Neulektüren – New Readings Festschrift für Gerd Labroisse zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Norbert Otto Eke Martha B. Helfer Gerhard P. Knapp Gerd Labroisse
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2009
AMSTERDAMER BEITRÄGE ZUR NEUEREN GERMANISTIK
Neulektüren – New Readings Festschrift für Gerd Labroisse zum 80. Geburtstag
Herausgegeben von
Norbert Otto Eke und Gerhard P. Knapp
Amsterdam - New York, NY 2009
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. Dr. Norbert Otto Eke Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften, Warburger Str. 100, D - 33098 Paderborn, Deutschland, E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Martha B. Helfer Rutgers University 172 College Avenue, New Brunswick, NJ 08901 Tel.: (732) 932-7201, Fax: (732) 932-1111, E-mail:
[email protected] Prof. Dr. Gerhard P. Knapp University of Utah Dept. of Languages and Literature, 255 S. Central Campus Dr. Rm. 1400 Salt Lake City, UT 84112, USA Tel.: (1)801 581 7561, Fax (1)801 581 7581 (dienstl.) bzw. Tel./Fax: (1)801 474 0869 (privat) E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Gerd Labroisse Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland Tel./Fax: (49)30 89724235 E-Mail:
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Cover: Anonym: “La Tentation de Saint Antoine” (erstes Viertel des 16. Jahrhunderts: Öl auf Holz, 24x16,5 cm; Museé Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel). All titles in the Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (from 1999 onwards) are available online: See www.rodopi.nl Electronic access is included in print subscriptions. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 978-90-420-2524-0 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2009 Printed in The Netherlands
Table of Contents Vorwort Anna Chiarloni: Images of Medea: From Ancient Ceramic Art to Eugène Delacroix Erika Tunner: Die Blumen des Bösen im Schlosspark. Angst- und Ordnungsphantasien in der Erzählung Das Schädliche von Marie von Ebner-Eschenbach Martha B. Helfer: The Fairy Tale Jew Heinz-Peter Preußer: Narratologische und denotative Präfigurationen des Semantischen. Eine Relektüre der Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals Anke Gilleir: “Wir überschlagen den Schiffskatalog der Ilias und halten uns an die Feldherren”. Betrachtungen über “die Romantikerinnenrezeption” aus der Genderperspektive Gerhard P. Knapp: Von der Macht und der Ohnmacht der Worte. Franz Kafkas Das Urteil wiedergelesen Jaak De Vos: Autorität und Servilität. Die Dialektik der Macht – ideologisch und textstrategisch – in Robert Walsers Erzählung Tobold (II) Anne Hartmann: Abgründige Vernunft – Lion Feuchtwangers Moskau 1937 Hans Wagener: Spuren des Exils im Werk Franz Werfels Jörg Thunecke: “Love the words, love the words”: Erich Frieds Nachdichtung von Dylan Thomas’ Under Milk Wood (1954) Hans-Christian Stillmark: Komplexe Raumkonzepte in der Prosa Volker Brauns Heidy Margrit Müller: “ein schwankender Busch im Niemandsland” – Sprache und Identität in Eli Amirs Roman Nuri. Vom Irak ins Land der Väter Roswitha Skare: “Unsere Freunde, die Maler.” Zum Verhältnis von Text und Bild in Christa Wolfs Sommerstück Henk Harbers: Orpheus, Ödipus, Odysseus. Urs Widmers Spiel mit dem Mythos in der Erzählung Der blaue Siphon Christopher B. Balme: Christoph Marthalers Stunde Null oder die Kunst des Servierens (1995) Anthonya Visser: “Wo war ich? Wo bin ich?” Zur Lyrik Heinz Czechowskis Monika Shafi: Housebound: Selfhood and Domestic Space in Narratives by Judith Hermann and Susanne Fischer Norbert Otto Eke: Einsenkungen in Finsternisse oder: Flossenbürg liegt (nicht nur) in der Oberpfalz. Werner Fritschs Grabungen Elrud Ibsch: Neulektüren oder: die Verlegenheit des Wissens um den Autor
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273 293 309 319 341 359 377
Anschriften der Autorinnen und Autoren/ List of Contributors Prof. Dr. Christopher B. Balme (
[email protected]) Institut für Theaterwissenschaft Ludwig-Maximilians-Universität Schellingstasse 9 D-80799 München Prof. Dr. Anna Chiarloni (
[email protected]) Letteratura Tedesca Facoltà di Lettere Universita di Torino Via S. Ottavio 20 I - 10124 Turin Prof. Dr. Norbert Otto Eke (
[email protected]) Universität Paderborn Fakultät für Kulturwissenschaften Warburger Strasse 100 D-33098 Paderborn Dr. Anke Gilleir (Anke.
[email protected]) Tekst en Interpretatie Blijde-Inkomststraat 21 - bus 3311 B-3000 Leuven, België Dr. Henk Harbers (h.harbers@rug,nl) Afdeling Duitse Taal en Cultuur Universiteit Groningen Postbus 716 NL-9700 AS Groningen Dr. Anne Hartmann (
[email protected]) Ruhr-Universität Bochum
Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur Universitätsstr. 150 D-44801 Bochum Prof. Dr. Martha B. Helfer (
[email protected]) Dept. of Germanic, Russian and E. European Languages and Literatures Rutgers University 172 College Avenue USA-New Brunswick, NJ 08901 Prof. Dr. Elrud Ibsch (
[email protected]) Kastanjelaan 177 NL-1185 MV Amstelveen Prof. Dr. Gerhard P. Knapp (
[email protected]) Dept. of Languages & Literature University of Utah 255 S. Central Campus Dr., Rm. 1400 USA-Salt Lake City, UT 84112 Prof. Dr. Heidy Margrit Müller (
[email protected]) Vrije Universiteit Brussel Vakgroep Taal- en Letterkunde 5 B 413, Pleinlaan 2 B-1050 Brussel Prof. Dr. Heinz-Peter Preußer (
[email protected]) Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen Postfach 33 04 40 D-28 334 Bremen Bibliothekstraße 1
6 Prof. Dr. Monika Shafi (
[email protected]) Director of Women's Studies Dept. of Foreign Languages & Literatures University of Delaware USA-Newark, DE 19716 Dr. Roswitha Skare (
[email protected]) Universität Tromsø Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft Breivika N-9037 Tromsø Dr. Hans-Christian Stillmark (
[email protected]) Institut für Germanistik Universität Potsdam Am Neuen Palais 10 D-14469 Potsdam Prof. Dr. Jörg Thunecke (
[email protected]) Marsiliusstr. 20 D-50937 Köln
Prof. Dr. Erika Tunner (
[email protected]) 12, rue du Regard F-75006 Paris Prof. Dr. Anthonya Visser (
[email protected]) Duitse taal en cultuur Faculteit der letteren Universiteit Leiden Postbus 9515 NL-2300 RA Leiden Prof. Dr. Jaak De Vos (
[email protected]) Vakgroep Duits en Algemene Taalwetenschap Universiteit Gent Blandijnberg 2 B-9000 Gent Prof. Dr. Hans Wagener (
[email protected]) Dept. of German University of California Los Angeles 212 Royce Hall, Box 951539 USA-Los Angeles, CA 90095-1539
Vorwort Vorworte sind, wie man weiß, Glückssache, und Vorworte zu Festschriften sind es allemal. Dem Gefeierten gegenüber kann eine öffentliche und im Druck zur Permanenz verurteilte Würdigung seiner wissenschaftlichen Verdienste letztlich nur Symbolcharakter besitzen. Die geistige und wissenschaftliche Laufbahn eines geschätzten Kollegen in aller Breite nachzuzeichnen, ist oft ein verfehltes – um nicht zu sagen: vermessenes – Unternehmen, das dem Leben, dem Kontinuum und der Persönlichkeit, die für diese Laufbahn stehen, kaum im Ansatz gerecht zu werden vermag. Zudem verfehlen solche Laudationes eben doch zumeist das Wichtigste: ein Gelehrtenleben ist und bleibt immer ein work in progress. Auch wenn man innehält zur Bestandsaufnahme, zur Feier des Vollbrachten, anlässlich bestimmter “runder” Daten, geht derweilen dieses geistige Leben weiter, denn wissenschaftliche Jubilare setzen sich eigentlich nicht “zur Ruhe”, sie legen die Feder nicht hin, solange ihnen das vergönnt ist. Wenn wir uns also mit diesem Band zusammenfinden, um Gerd Labroisse ein kleines Geburtstagsgeschenk zu seinem 80. Geburtstag zu überreichen, so geschieht das zuallererst im Geist der Bescheidenheit gegenüber seinem Wirken und seinen Leistungen – einer Bescheidenheit, die für ihn selbst immer Richtschnur war in seiner Arbeit als Forscher und als akademischer Lehrer, als Förderer von jüngeren KollegInnen und als spiritus rector mehrerer Generationen von Autoren in der von ihm begründeten Reihe der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik und andernorts. Gerd Labroisse ist gebürtiger und leidenschaftlicher Berliner. In Berlin studierte er Germanistik, Niederlandistik, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität und promovierte 1956 mit einer vergleichenden Arbeit über die deutsche und die niederländische Sprache, und dort war er gute 10 Jahre im Schuldienst des Landes Berlin tätig, bis er 1967 eine Stelle als DAAD-Lektor und Leiter der Deutschabteilung an der Universitas Indonesia in Jakarta annahm. Er blieb bis 1968 in Indonesien. Ab 1969 war er dann an der Vrije Universiteit Amsterdam tätig, zuerst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Deutschen Abteilung, ab 1974 als ordentlicher Lektor – das entsprach etwa dem Status eines Hochschuldozenten oder apl. Professors im deutschen Universitätssystem. 1980 wurde er an der Vrije Universiteit Amsterdam zum ordentlichen Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft berufen, und dieses Amt hatte er inne bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994. Keiner seiner Freunde und Kollegen war überrascht, als er und seine Frau Dorothée (die übrigens charmante Münchnerin ist: les extrèmes se touchent) sich nach seiner Entpflichtung entschlossen, nach Berlin überzusiedeln, um dort das geistige und kulturelle, vor allem auch das musikalische, Leben in vollen Zügen zu genießen.
8 Will man die wissenschaftliche Laufbahn von Gerd Labroisse ebenso bündig in ihren Umrissen nachzeichnen wie seine berufliche (Lebens) Bahn, so drängt sich der Begriff der Pionierarbeit in diversen Bereichen seiner Fachrichtung förmlich auf. Zu einer Zeit, als noch nicht allzu viele Literaturwissenschaftler über die realpolitischen Hintergründe zeitgenössischer literarischer Produktionsprozesse ernsthaft nachdachten, veröffentlichte er seine ersten Studien zur Deutschlandpolitik (ab 1970), und noch bevor die Literatur der DDR in großem Stil zum Modeartikel bundesdeutscher und transatlantischer Germanistik avancierte, setzte seine Arbeit seit 1973 mit Studien zu diesem Gebiet ein. Von 1976 bis 1994 hatte er an der Vrije Universiteit Amsterdam die Leitung des Forschungsprojekts zur DDRLiteratur inne. Er fungierte auch als Herausgeber der Forschungsberichte zur DDR-Literatur (1980–1986) und gehört seit 1988 bis heute noch immer dem wissenschaftlichen Beirat des GDR Monitor an. Unorthodoxe Pionierarbeit zur Theorie literaturwissenschaftlicher Interpretation stellen auch seine diversen Veröffentlichungen (seit 1974) zu diesem Themenkomplex dar, ab 1976 hat er sich zudem intensiv mit der Rezeptionsforschung literarischer Texte befasst und dort ebenfalls manches Neuland betreten. Es führte zu weit, seine Veröffentlichungen zu einzelnen Autoren hier individuell zu würdigen und es mag genügen, auf sein besonderes Verhältnis zu den Texten von Volker Braun, Heiner Müller und vor allem Günter Grass hinzuweisen. Vielleicht ist nicht zuletzt der gemeinsame historische und kulturelle Gedächtnis-Raum Berlin hier auch als genius loci im Spiel? Aber die Antwort auf diese Frage wäre in der Tat ein “weites Feld”, und zu diesem Thema sollte man doch lieber die neueste Buchveröffentlichung des Jubilars lesen. An dieser Stelle brechen wir unsere bio-bibliographische Skizze ab, aber nicht ohne eines der wissenschaftlichen Lieblingskinder des Gefeierten ausdrücklich zu erwähnen: die 1972 von Gerd Labroisse begründete Reihe von Themenbänden Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, die in dem guten Vierteljahrhundert ihres Bestehens sich rasch zu einem Publikationsforum von internationalem Rang und Prestige entwickelte und die seit langem zu den prominenten Stimmen unseres Fachgebiets zählt. Ohne den selbstlosen Einsatz und die unermüdliche Tatkraft von Elfi Labroisse und ohne die langjährige, in ihrer Kompetenz unschätzbare editorische Arbeit von Anthonya Visser wäre das nicht möglich gewesen. Viele der Titel sind inzwischen zu Standardwerken geworden, viele sind zur Zeit ihrer Veröffentlichung mit neuen und aufsehenerregenden Themen an ihr fachliches Leserpublikum herangetreten, und die Liste der BandherausgeberInnen und BeiträgerInnen liest sich wie ein längerer Auszug des Verzeichnisses derer, die Rang und Namen haben auf diversen Gebieten der Textwissenschaft. Wir vermeiden jetzt ganz bewusst den Begriff der ‘Germanistik’ (er hat sich seit der Gründung der Reihe vielfach gemausert) und auch den der ‘Literaturwissenschaft’, denn Theorie, bildende Künste, Film und andere Gegenstände der Cultural Studies gehören heute ebenso
9 selbstverständlich zum Erkenntnisinteresse und dem Repertoire der Reihe wie transdisziplinäre und komparatistische Themenstellungen. Gerd Labroisse hat jeden der bald 70 Bände der Reihe mit Rat und Tat, mit fachlicher Expertise, mit Energie und Kollegialität vom Konzeptionsstadium bis zum Erscheinen begleitet. Es versteht sich von selbst, dass die vorliegende Festgabe in dieser Reihe erscheint: als Zeichen des Dankes und zugleich als Ausdruck der Hoffnung, dass der Jubilar dieser seiner Reihe noch lange verpflichtet bleiben wird. Zum Thema des Bandes. Im Blick auf die wissenschaftliche Pionierarbeit von Gerd Labroisse, die immer dem Neuen offen ist, und gleichermaßen auf den beständigen Paradigmawechsel in der Literatur- und Kulturwissenschaft schien es den Herausgebern ein reizvolles Unternehmen, eine Sammlung von Studien anzuregen, die jeweils Neulektüren bzw. neue Lektüren von Texten, Autoren und Motiven vollziehen und das im spezifischen Untersuchungsgegenstand neu oder wieder Entdeckte in Form einer quasi-modellhaften Annäherung vorstellen. Leitgedanke des Projekts war derart nicht nur eine Hommage an den passionierten und vielfach bestechenden Neuleser Gerd Labroisse, sondern darüber hinaus auch das Zusammenstellen eines ausgesprochen methodenbewussten und epochenübergreifenden Studienbuchs, das ein möglichst großes und in seiner Orientierung diverses fachwissenschaftliches Leserpublikum ansprechen möchte. Ob dieses Ziel erreicht worden ist, werden die geneigten LeserInnen entscheiden, allen voran natürlich der Jubilar. Allen am Zustandekommen des Projekts Beteiligten sei herzlich gedankt: den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie dem Verlag Rodopi mit Fred van der Zee, Marieke Schilling (die das Unternehmen in seinen frühen Stadien betreute) und Esther Roth. Paderborn /Salt Lake City im Januar 2009 Norbert Otto Eke und Gerhard P. Knapp
Anna Chiarloni
Images of Medea: From Ancient Ceramic Art to Eugène Delacroix Representations of Médéa were frequent in ceramic art from as early as 630 BC and changed radically around the 5th century BC. One of the most striking examples of this change is the lekythos dating from 530 BC (British Museum). This paper addresses the problem of the diverse significance of this and other subsequent representations, correlated, on the one hand, with the possible divine origin of Medea, and, on the other, with the stigma of violent emotion and brutality attached to her after the 5th century. The theme of infanticide, present from Euripide onwards, is examined in all its variations of image which served to stress the ethnic diversity of the figure of Medea. In the images central to the myth of the rejuvenation of Pelias, the problem remains the connection between the domestic sphere and the world of ritual. What we find is an overlap – through the use of food vessels and drink – between the domestic world and ritual sacrifice, between the family dining table and the secret wisdom of the temple. This has remained a recurrent theme in literature up to modern times (cf. Medea by Corrado Alvaro and the recent work by Adriano Guerrieri – 2003). With the fall of the Roman Empire, the figure of Medea disappears from the culture of the ancient world, to re-emerge in a variety of forms during the Renaissance. But it is not until the period of Romanticism and the new questions of conscience it raises, that we find images of Medea portrayed as a tragic figure torn by overwhelming emotions. Essential elements of the original theme are brought to light in the work of French painter Eugène Delacroix. The second part of this paper will be dedicated to an analysis of his painting, Médée Furieuse.
Colchida respersam puerorum sanguine culpant Ovid, Amores 2.14.29
I. Representations of Medea were frequent in ancient ceramic art from as early as ca. 630 BC and changed radically around the fifth century BC. One of the best known examples of this early period, which can be identified with certainty thanks to the name appearing on other copies from the same period, is the black figure lekythos from Boethia dated at ca. 530 BC (now in the British Museum). The image is the head of a woman wearing a diadem (or head band), among floral motifs, dominating the space on the funerary urn. Medea’s head is shown in profile between two vertical serpents which almost frame the image. The symbolism of the serpent, from the earliest cosmologies onwards represented frequently as being in symbiosis with man, is complex and fluid in its meaning. However, all commentators agree that here the snakes assume a positive role,
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Medea 1: before Euripides. Lekythos from Boethia dated at c.530 BC (now in the British Museum).
linked to medicine in the ancient world, a positive function which re-emerges in images from the Christian era right up to Tiepolo, if not, indeed, beyond. The deus ex machina devised by Euripides to end his tragedy was, in fact, a triumphal chariot drawn by serpents. It is, then, a creature of many meanings, which can be interpreted in different ways. In the image on the Boethian lekythos, as with those on other similar vases from the same period, we cannot exclude a possible allusion to chthonic powers, to the subterranean world, and therefore to the magical lore and propitiatory rituals linked to the funerary purpose for which the vase was intended. Is Cornelia Isler-Kerényi correct when she asserts that the prominence given to this head is an allusion to a divine or supernatural being?1 This theory is supported by the elegant ornaments on her neck and ears and the emphasis given to the lips: lips left open to breathe forth the oracle, as Pindar describes her in the Pythians – lending Medea the epic resonance of epithritic dactyls. Moreover, these are not the only sources confirming Medea’s divine status, as daughter, or rather granddaughter, of Helios. But the centre of our interest here is the striking appearance of this image, powerful, almost aggressive, in its imposing style reminiscent of an imperial emblem, a far cry from later images 1
Cornelia Isler-Kerényi: Immagini di Medea. In: Medea nella letteratura e nell’arte. Ed. by Bruno Gentili-Franca Perusino. Venezia: Marsilio 2000. P. 99.
13 of the infanticidal Medea. Because this is the point that remains obscure, notwithstanding Christa Wolf’s recent revisitation of this myth: the shifting significance within the mythography of the ancient world of a figure who was, after all, marginal – healer or sorceress, vestal virgin or prophetess of divine descent 2 – but who would come to be an image of excessive and barbarous brutality.3 It could be said that Medea is one of a number of female figures transiting between Greece, the Orient and Phoenicia: from Io to Europa to Helen, to mention only the most famous. Figures with a unique destiny, called upon to fulfil different functions in the chequered map of the ancient world’s collective imagination. Within this framework there exist many variations on the story of how Medea herself travels between Colchis and Greece. According to Pausanias, she flees from Corinth with her son Medus to the region of Persia, whose inhabitants will be later named Medes for this very reason. In this version, as in others, Medea returns to the Orient: she is a triumphant founding heroine, not a symbol of annihilation as Euripides portrays her. It would seem, then, that we are justified in supposing that the definition of Medea as treacherous and barbaric is related historically and politically to the conflict between Greece and Persia – she thus represents both Persian hostility, and a distinct dramatic otherness, a mysterious element in the anthropology of human passions.4 In the figure of Medea we see the stormy passions of a human soul converge with the drama of history, the inner life of a single person with events affecting whole peoples. Let us now return to the Colchian princess’ changing image. On this point Georg Simon is categorical: prior to Euripides and the festival of Athens of 431 BC, an infanticidal Medea was inconceivable.5 His conviction arises from his perception of the influence exerted by Greek theatre on the culture of that time and of the images it generated. There is indeed some evidence to support Simon’s theory: many subsequent representations portray Medea surrounded by
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Depending on the respective source, Medea is the daughter, or granddaughter, of Helios. 3 For representations of Medea following and in contrast with Euripides, see studies published with reference to the work of Christa Wolf, in particular Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild. Ed. by Marianne Hochgeschurz. Berlin: Janus Press 1998. 4 Bachofen links the myth of the Argonauts with Athens’ opposition to the Orient and the exuberance and voluptuousness of Oriental life. What the myth condenses into one single heroic endeavor could be seen as “a long protracted struggle”. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. P. 591. 5 Georg Simon: Die Typen der Medeadarstellung in der antiken Kunst. In: Gymnasium 61 (1954). Pp. 219ff.
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Roman marble sarcophagus, mid-2nd c. CE. Pergamon Museum, Berlin.
Other Medea vase. Medea killing one of her sons. Italian vase painting found at Cumae, 340-320 BCE (Musee de Louvre, Paris).
15 the same characters we see in Euripides’ play – Creon, the Nurse, the Tutor – sometimes even with a stage backdrop drawn behind them. Thus, from the second half of the fifth century, the iconography shows us a Medea who is totally different from previous representations: particularly common in the figurative art of Southern Italy, it is the horrific figure of a woman who kills her own children to avenge her betrayal by her lover. Among the many examples we can observe the vase found at Cumae. Here we see the spurned bride with arm upraised over the fragile body of a child. This is the “matrix figure” who moves through European literature and becomes the symbol of unbridled passion, a symbol interpreted in various ways, as we will show. We also need to point out another important feature of the representations. It is significant that only after Euripides we find an insistence on the ethnic difference in dress in images of Medea. One of the most striking examples is the bas-relief from 420-410 BC (Museo Lateranense) representing the Colchian woman among the Peliades, with a box of potions to be used for restoring youth.
Medea and the Daughters of Pelias, c. 420-410 BCE, Berlin. Berlin, Antikensammlung, StaatlicheMuseen zu Berlin. Foto: Jürgen Liepe. © 2005. Foto Scala, Firenze/BPK, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin
16 While the sorceress of earlier years was portrayed in Greek dress, with a short-sleeved chiton, here she is clearly wearing a long-sleeved kàndys, the Persian dress for women. The oriental richness of her dress in other later images makes the difference even more explicit. We must also note that Medea’s dress is a mobile ethnic signifier: its style varies between the two identities according to the artist’s intentions, depending on the emotional register to be evoked. As Christiane Sourvinou-Inwood observes, this is because the oriental costume stresses Medea’s exotic quality, while the Greek dress brings her closer to the audience – in those days mainly, though not exclusively, male – underlining the horror of the infanticide, with a faint allusion to a possible disquieting “hic et nunc” in the soul of the spectator.6
Medea and Chariot. Lucanian calyx krater, c. 400 BCE (Cleveland Museum of Art). 6
Christiane Sourvinou-Inwood: Medea at Shifting Distance. Images and Euripidean Tragedy. In: Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy and Art. Ed. by James J. Clauss and Sarah Iles Johnston. Princeton: Princeton University Press 1996. Pp. 262ff.
17 Before proceeding with the analysis of individual texts, we should retrace our steps in order to identify the elements found in the more recent stage productions. Casting an eye on Greek iconography brings to light the intervening stages of the transformation, which can also be found in the written tradition of the myth and its variations. These are the succession of episodes occurring after Medea’s flight from Colchis, in particular the ritual intended to rejuvenate Pelias and her dealings with Aegeas. The decorated vessels are basins, buccheri, amphorae and kraters. If we examine the recurrent setting of the most common representations, we find the following elements: in the centre a fire under a cauldron from which animal or human figures emerge; beside the cauldron, the Colchian princess, clearly identifiable since in several cases her name, Medeia, appears. Knives and cooking pots, furniture and actions, all seem to indicate a primordial link, a continuity between the domestic and the ritual spheres. We thus sense that the use of vessels intended for serving food and drink creates an overlap between the everyday world and ritual sacrifice, between the family dining table and the secret wisdom of the temple. The fire on which the food is cooked is also a domestic altar and denotes a circumscribed space, both closed and sacred – a guarantee of conviviality and exclusion.7
Medea and Ram. Red figure vase, ca. 470 B.C.
7 A similar view is expressed by Jean-Pierre Vernant in his observations on the organisation of space within the Greek home in: Mito e pensiero presso i Greci. Studi di psicologia storica. Torino: Einaudi 1970 (original edition 1965). Pp. 168ff.
18 An interesting reworking of this aspect of the myth, present also in La lunga notte di Medea (1949) by the Italian writer Corrado Alvaro,8 has been developed into the recent production Medea, a video-opera by Adriano Guarnieri presented at the Fenice Theatre in Venice. The music runs parallel with a video that sets the tragedy in the heart of a middle-class home, between the living room, kitchen and washing machine. Dramatic chromatic effects create an association between the neurosis of the modern housewife and the violence of Medea.9 Snatches of sound and music swirl around repeated “pivotal notes”, accompanying images of red cloth spilling over onto the floor into a pool of blood. Through the pulsing beat of the kettledrum and the bass drum, played with the knuckles, Guarnieri evokes the image of a life led “behind closed doors”. Here the observing eye of the Nurse is the window on the washing machine door: a metaphor of the modern oikos, of the closed and compact space inhabitated by the nuclear family, driven towards a finale that comes as an anguished gasp, a moan now faint and far from any ancient desire for revenge.
II. Over the centuries representations of Medea became less frequent. With the fall of the Roman Empire the very form of tragedy, one of the key elements of ancient culture, is lost from sight until, at least, the Renaissance. The sense of tragedy seems to find its sole expression in the sacrifice of Christ. This is the icon that expresses anxiety about human destiny; the image of a mother killing her own children is completely foreign to the culture of devout Christians. Not that the images of violent women disappear: there are many representations of Judith decapitating Holofernes, but the context is that of the biblical narrative. Despite the rediscovery of great dramatic figures, even mythological figures, by humanistic theatre, in Renaissance images, Medea’s act of infanticide can be deduced from the inscription rather than from any specific action of the personage. For example, in the Medea e i suoi figli by Ercole de’ Roberti, the background is painted in four sections recalling a cross and there is a total lack of savage violence in the virginal female figure who, stricken with grief, leads two rosy-cheeked, frightened children by the hand. The painting recalls standard depictions of the flight from Herod rather than infanticide.10 Similarly, the 17th century representations, contemporary with Corneille’s play Médée, portray the pomp and splendour of the Baroque court: with Medea
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Corrado Alvaro: La lunga notte di Medea. Milan: Bompiani 1966. Adriano Guarnirei: Medea. First staging: Venezia, Teatro La Fenice, 2002. See AA.VV, Theatre programme for the Teatro La Fenice, 2002. 10 Ercole de’ Roberti: Medea e i suoi figli. Richmond: Galleria Cook. 9
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Pelias. British Museum.
rising into heaven in the finale, they seem to celebrate a grandiose and aristocratic triumph that transcends the violence of her actions by her glorious ascent. “Moi: moi, dis-je, et c’est assez”, seems to be the imperious comment of these Médées, clearly inspired by the model of the autocratic courtly lady, nestled in the brocade lining of a celestial chariot that seems more like a throne than a simple carriage.11 It is not until the end of the 18th century when the Romantic movement begins to raise new questions about conscience that we again meet an iconography portraying tragic affliction. And Eugène Delacroix’ painting holds the image that enables us to rediscover some essential elements of the matrix of the original narrative.12 The Médée Furieuse by this romantic painter depicts Medea hiding with her infant children – barely able to keep them in her arms – in a dark cave that opens out on to a wild natural landscape. The dynamism of the figure and the use of light suggest a twofold reading of the image, which could be seen as a tableau vivant in two stages. If we examine the painting without considering the title, what do we see? A woman in flight, barefoot, her dark curly hair gathered like a horse’s tail, with dagger in hand. To defend or to kill her offspring? The diadem and bracelet, the dominant central position of the powerful matronly figure denote the prestige of her royal origins. Her face is turned to the west – towards Corinth? – and is veiled by a shadow that hides her eyes. 11
Cf. Etching by Van Loo for Hilaire-Bernard de Longepierre’s Medea and the costume design by Martin Corneille’s Médée (Paris: Bibliothèque de l’Arsenal) both reproduced in the Theatre Programme of the Teatro Fenice, op.cit. pp. 60, 92. 12 E. Delacroix: Médée Furieuse. Lille: Musée des Beaux-Arts.
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Ercole de’ Roberti: Medea e i suoi figli. Richmond: Cook Gallery.
A sightless gaze: imploring or vengeful, we cannot tell. Who is Medea in this picture? The bare torso recalls the iconic images of the Amazons, as does the diagonal line of the strap across her chest (for a quiver?). We also recall her otherness, stressed by the way she holds the dagger: in her left hand, the hand of the passive force of nature, as in the fresco at Pompeii.13 Her black robe, which has slipped down over her hips to hide the lower part of her body completely, is folded back to reveal the lining, adding an exotic touch: it is bright red, the colour still worn today by oriental brides. This painting can be read on two levels, as I have already explained. Because if one studies the picture from a certain distance, the carefully created play of light and shade will allow the spectator to glimpse another image. Delacroix transfigures the first interpretation of the canvas. The eye will follow a continuous line, created by colour and light, extending from Medea’s bare torso 13
Compare, for example, the Dipinto pompeiano con Medea che medita l’uccisione dei figli. Napoli: Museo Nazionale. Bachofen relates the dominance of the left hand over the right to the rights of the mother and to cults of Isis. Cf. p. 12.
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Etienne Dauvergne, Médée, Musée de Paris, 1765.
through the bare flesh of her children, which in their movement take on the form of their mother’s lower limbs, hidden by her robe. Thus the background colouring allows another image to emerge: an irregular, primordial female nude, with legs spread wide, a body no longer enslaved by the “real”. A woman capable of receiving but also of killing the male’s semen, ripping it out of her entrails with a knife, like Seneca’s Medea.14 The dagger itself then assumes a double meaning: in vertical position at the centre of the nude figure it recalls
14
Seneca: Medea. “In matre si quod pignus etiamnunc latet, / scrutabor ense viscera et ferro extraham”. Senecae tragoediae. Ed. by Otto Zwierlein. Oxford: Biblioteca Augustana 1986. V. 1012f.
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Medea about to Kill her Children. Eugène Delacroix, 1838. Musée du Louvre.
Jason’s penetrating force, and is also linked symbolically with Medea’s gaze towards the west.15 In the painting the action is suspended. We know that the dagger could represent the uncontrollable furor, the murderous infanticidal impulse of this lefthanded, barbaric princess. But here lies Delacroix’ profound insight: if the Médée Furieuse takes up the dagger to kill her sons, with this weapon she will only mutilate her own female body. We can thus assign to this painting by Delacroix, one of the great interpreters of literature, a central place in the debate between the authors of the various reworkings of the Medea myth. The varied and changing versions of the classical myth, the blending of contrasting themes in Delacroix’ canvas have over the centuries inspired the dynamics of new adaptations of the Medea myth. 15
The direction of Medea’s gaze and the position of the dagger contain echoes of a fragment of a fresco preserved in Herculanum and probably familiar to Delacroix: Medea. Museo Nazionale Napoli. However, we should note that here Medea holds the point of a sword towards her groin: swords were traditionally reserved for royalty. From a psychoanalitical point of view, the image of a blade, whether sword or dagger, can be considered a figuration of the act of castration.
Erika Tunner
Die Blumen des Bösen im Schlosspark. Angst- und Ordnungsphantasien in der Erzählung Das Schädliche von Marie von Ebner-Eschenbach Marie von Ebner-Eschenbach’s narrative Das Schädliche has been so far vastly – and unjustifiably – neglected in related research. This new reading shows the central position of the fascination with evil and the catastrophical consequences of the “detrimental” (das “Schädliche”) within the text. The latter can arise from societal pressures, or it may be determined by ahistorical forces as well as by biological circumstance. The narrative is informed by the intent to establish a set of criteria to recognize the “detrimental” and its causes which may be rooted in the power of sexuality or, conversely, in the rigid terror of virtue. The text raises the question whether humans actually have the right or even the duty to extinguish the “detrimental” without running the risk of inflicting irreversible damage on the individuals concerned.
Auch Marie von Ebner-Eschenbach gehört zu jenen “merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzählern”, zu denen Thomas Mann bekanntlich Adalbert Stifter gerechnet hat.1 In ihren Geschichten stößt sie oft genug ins Extreme, ja selbst ins Pathologische vor. Gertrud Fussenegger wies 1966 auf das Dunkle und Abgründige in Ebners Schriften hin.2 Helmut Koopman hat 1991 als einer der ersten entschieden dafür plädiert, in ihrem Werk kein “harmoniesüchtiges Gespinst aus edlem Gewebe” zu sehen; er bezeichnet ihre literarische Welt als eine “Katastrophenlandschaft” und meint, man tue gut daran, sich “die Abstrusitäten und Anomalien, die grotesken Verwirrungen und das Outsidertum” vor Augen zu halten, welche das Gelände abstecken, in dem Ebner-Eschenbach sich bewegt.3 Man müsse endlich aufräumen mit der immer noch weit verbreiteten Vorstellung, in ihr die Vertreterin von biedermeierlichen Dorf- und Schlossgeschichten zu sehen, welche die alte Adelsgesellschaft in den Ländern der k.u.k.-Monarchie verherrlicht und zeitweise sozialkritische Aspekte zu setzen versteht. An einer überwältigenden
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Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt a.M.: Fischer 1963. S. 774. 2 Gertrud Fussenegger: Marie von Ebner-Eschenbach oder Der gute Mensch von Zdisslawitz. München: Delp’sche Verlagsbuchhandlung 1967. S. 13. 3 Helmut Koopmann: Spätherbst einer Gesellschaft. Soziale Erzählkunst in Marie von Ebner-Eschenbachs Novellen. In: Marie von Ebner-Eschenbach. Ein Bonner Symposion zu ihrem 75. Todesjahr. Hg. von Karl Konrad Polheim. Bern: Peter Lang 1994. S. 160.
24 Fülle von Beispielen weist Koopmann auf die Elemente der Zerstörung und des Verfalls hin, welche ihre Schriften beherrschen. Seltsamerweise findet dabei die Erzählung Das Schädliche keine Erwähnung, der bis heute überhaupt nur eine sehr beschränkte Aufmerksamkeit entgegengebracht worden ist, obwohl sie in ihrer Problematik wie auch in ihrem Handlungsablauf zu den wohl zwielichtigsten und subtilsten Texten von Ebner-Eschenbach gezählt werden kann, die immer noch Geltung und Ausdrucksstärke besitzen. Auf diese Erzählung möchte ich näher eingehen, wenngleich sie keineswegs die einzige ist, in der Ordnungsund Angstphantasien ein bestimmendes Thema darstellen. Drei Frauen spielen darin eine beherrschende Rolle, doch widmet ihnen Ulrike Tanzer keine Untersuchung in ihrer innovativen Studie über Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs.4 Eine eingehendere Beurteilung wurde ihr erst 2001 durch Peter C. Pfeiffer von der University of Washington zuteil unter dem Aspekt der Verbindung von Geschlecht, Geschichte und Kreativität, eine aufschlussreiche Interpretation, die zum Teil mit meinen eigenen Überlegungen zu dieser Erzählung übereinstimmt,5 welche jedoch hauptsächlich die Fragen nach dem Wie und Warum des Schädlichen aufwerfen und in weiterem Sinne auf die Paradoxie des Lebens einzugehen versuchen. Das Schädliche erschien 1894. Es handelt sich um eine Lebensbeichte, die ein todkranker österreichischer Landadeliger in Form einer gerafften Biographie in einem langen Brief ablegt, den er auf seinem Schloss Niedernbach verfasst und an seinen im Militär stehenden Freund richtet, von dem er sich Lossprechung erhofft für einen Mord, den er im Kampf gegen das Schädliche begangen zu haben meint. Berichtet wird somit aus einer dezidiert männlichen Perspektive. Erst nach geraumer Weile erfährt man den Namen, genauer: den Vornamen des Schreibers. Er heißt Franz, wie übrigens auch der Vater der Autorin. Sehr sachlich, geradezu protokollarisch setzt der Lebensrückblick mit der Angabe des Geburtsdatums ein: “Ich bin im Jahre 1829 geboren auf unserem Schlosse Niedernbach” (S. 291).6 Marie von EbnerEschenbach kam 1830 zur Welt. Diese zeitliche Nähe kann zufällig gewählt worden sein, unauffällig ist sie jedenfalls nicht. Ebenfalls nicht unauffällig bleibt die Erwähnung eines zweiten Datums, das in die lineare chronologische Ordnung eine gewisse Verwirrung bringt: am 12. Juli 1853 übermittelt Franz 4
Ulrike Tanzer: Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs. Stuttgart: Akademischer Verlag 1997. 5 Peter C. Pfeiffer: Geschlecht, Geschichte, Kreativität: zu einer neuen Beurteilung der Schriften Marie von Ebner-Eschenbachs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001). S. 73–89. 6 Marie von Ebner-Eschenbach: Das Schädliche. In: Marie von Ebner-Eschenbach. Meistererzählungen. Zürich: Manesse Verlag 1997. Bei allen Zitaten im Text wird jeweils in Klammern auf die entsprechende Seitenzahl dieser Ausgabe verwiesen.
25 seiner zukünftigen Frau Edith und deren Mutter, Frau von C., eine Einladung auf Schloss Niedernbach, um sie bei seiner eigenen Mutter einzuführen. Gleichzeitig berichtet er, dass er zu diesem Zeitpunkt schon über 30 Jahre alt gewesen sei, die Begegnung hätte also koheränterweise in den Jahren 1859/1860, vielleicht sogar noch etwas später, stattfinden müssen. Wenn man einen Druckfehler oder sogar einen Erzählfehler ausschließt, so möchte man annehmen, dass diese Begegnung von vornherein unter dem Zeichen einer Veränderung steht, die auf eine entscheidende Störung der Ordnung verweist. – In der Ehe von Franz und Edith wird eine Tochter geboren, Lore, die mit 19 Jahren durch einen Schuss das Leben verliert. Die eigentliche, höchst dramatische Handlung der Erzählung erstreckt sich auf etwa 20 Jahre, die von individuellen traumatischen Erlebnissen geprägt sind, ohne dass die geschichtlichen Ereignisse eine Rolle spielen oder überhaupt nur näher in Betracht gezogen werden. Franz ist in geregelten, aber nicht unbedingt konfliktlosen Verhältnissen aufgewachsen. Die Ehe seiner Eltern ist eine unglückliche Verbindung zweier Menschen, die nicht zueinander passen. Franz ist der einzige Sohn. Der Vater wird als eine Kämpfernatur dargestellt, die Mutter hat sich in Leid und Entsagung gefügt. Franz erinnert sich besonders an ihren “Abscheu vor allem Unreinen”, den er von ihr übernommen hat und der ihn als fünfzehnjährigen Jungen, also gerade in der Pubertät, dem Gespött seiner Mitschüler ausgesetzt hatte (S. 291). Sein Vater bestimmt ihn zu einer staatsmännischen Laufbahn. Während der ersten acht Studienjahre wohnt er bei einem Gymnasialprofessor, der ganz von seiner jungen Gattin beherrscht wird, die Franz rückblickend als “albern und missgünstig” (S. 292) bezeichnet, und von der er behauptet, dass sie sowohl ihrem Mann wie auch ihm, Franz, das Leben schwer gemacht habe. Außer diesen beiden gegensätzlichen Frauen, zu denen eine intimere Beziehung zumindest realiter nicht infrage kommt, scheint Franz keinen weitern weiblichen Umgang gekannt zu haben. Franz ist 26 als er das qualvolle, von Reue und Todesangst bestimmte Sterben seines Vaters miterlebt. Er kehrt daraufhin zu seiner Mutter auf Schloss Niedernbach zurück, wo er nun, laut seinem eigenen Bekenntnis, die fünf glücklichsten Jahres seines Lebens verbringt. Er widmet sich der Landwirtschaft, zum einen, um das väterliche Gut erfolgreich zu verwalten, zum andern vielleicht auch aufgrund des durch die Schriften von Justus Liebig seit 1840 eingeleiteten Interesses für die Agrarkultur, das Marie von Ebner-Eschenbach kaum entgangen sein mag.7 Die Bevölkerung ist friedfertig und arbeitsam, Pfarrer und Lehrer üben ihr Amt in untadeliger Weise aus, Franz führt eine bis zur Monotonie geregelte Lebensweise und wird schließlich
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Vgl. u.a. Justus Liebig: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf die Agrikulturchemie und die Physiologie. Braunschweig: Vieweg 1840.
26 zum Bürgermeister gewählt. In Niedernbach herrscht Ordnung, eine Ordnung, die freilich in ihrer Vorbildlichkeit von beunruhigenden Zügen durchaus nicht frei ist: “[…] Ordnung hielten wir: die ehrlichen Leute waren obenauf, und die Lumpen mussten kuschen” (S. 294).8 Wer die ehrlichen Leute sind und wer die Lumpen, darüber ist man sich offenbar einig, das bedarf weiter keiner Diskussion. Die einzige Bezugsperson von Franz ist seine Mutter, zu der sich seine Bindung noch verstärkt als sie ernsthaft zu kränkeln anfängt. Da beginnt plötzlich in dem Schlosspark von Niedernbach, einem locus amoenus, die erste Blume des Bösen zu wachsen. In der Nachbarschaft hat sich ein ehemaliger Grossindustrieller, Herr von C., mit seiner Familie angesiedelt. Er gehört zu den Leuten, die “obenauf ” sind, er gilt als ein Mann von “strengster Redlichkeit” (S. 295), dem es überdies gelungen ist, in England ein ansehnliches Vermögen zu erwerben. Ein Kaufmann großen Stils, ist er nebenbei ein bienenfleißiger Kleinmaler, dessen Bilder sogar einigen Anklang finden, so sehr mögen sie den Erwartungen entsprechen, welche die ordentlichen “ObenaufLeute” an die Kunst stellen. Damit nicht genug: Herr von C. führt die beste Ehe mit einer Frau, die einem alten schottischen Adelsgeschlecht entstammt. Ihre drei Töchter, Maud, Edith und Ethel, sind von außerordentlicher Schönheit. Trotz all dieser unleugbaren Vorzüge, die in der Ordnungsgesellschaft von Niedernbach für ein problemloses Familiendasein sprechen könnten, herrscht keineswegs eitel Sonnenschein. Edith, die schönste und begabteste unter den Schwestern, ist dennoch das “zurückgesetzteste Kind” (S. 296), an dem die Eltern keine rechte Freude haben, was sie auch unverhüllt in Blick und Rede zu verstehen geben. Sie gilt für verschlossen und eigenwillig, zeichnet und malt mit Talent, doch jede Arbeit bleibt Entwurf, nichts wird zu Ende geführt. Für Franz stellt sie ein “verkörpertes Geheimnis” dar, ein “wunderbares, lockendes Rätsel” (S. 296). Ihr leicht fremdländisches Aussehen, ihre Augen und ihre Stimme faszinieren ihn, bringen sie doch eine Gefühlsskala zum Ausdruck, die auf eine intensive Phantasietätigkeit schließen lässt. In Edith begegnet Franz das ganz Andere, das Verheißungsvolle und zugleich seltsam Angsterregende, dem er bedingungslos und rettungslos verfällt. Die erste Begegnung zwischen Edith und der Mutter von Franz setzt bereits die Weichen für das Kommende. Es ist ein brütend heißer Tag. Extrem wie die Hitze ist auch die Unruhe von Franz. Er hat auf einem entlegenen Hof zu tun, ist nicht bei der Sache, gibt verkehrte Befehle, die Leute sehen ihn “ängstlich” an. Schließlich jagt er auf seinem Pferd nach Hause, wo seine Mutter leichenblass und erschöpft wie noch nie auf ihrem Ruhebett liegt, obwohl der Besuch nur sehr kurze Zeit geblieben war. Wir erfahren nichts von dem Inhalt des Gesprächs, auch nicht von dem Ton, in dem es geführt wurde. Nur die besorgte
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Die Hervorhebungen sind von mir.
27 Frage von Franz: “Mutter, wie findest du Edith […]”. “Unheimlich. Lieber Franz, nur die nicht”. (S. 305) Die Angstphantasien schleichen langsam heran, im Schatten der Ordnungsphantasien. Edith versteht es, allmählich die Liebe der Mutter zu gewinnen, zumindest gelingt es ihr, diesen Eindruck bei Franz zu erwecken, der seiner Verklärungsintention entspricht. Doch ist der Konflikt keineswegs behoben und bestimmt von nun an die Dynamik der ganzen Erzählung, in der jetzt zwei Handlungsstränge dominieren: die Geschichte Ediths und die Geschichte ihrer Tochter Lore. Beide Male wird das Schädliche, seine Konzeption und seine Auswirkung, in den Mittelpunkt gerückt. Den Konventionen entsprechend wirbt Franz um Edith bei ihren Eltern, die ihm das Bild einer friedlichen Zweisamkeit bieten, so dass er meint, einen Blick in die eigene Zukunft zu tun. “Ein Menschenalter und wir sitzen ebenso stillvergnügt und glücklich beieinander, Edith und ich.” (S. 306) Wer sich Edith “stillvergnügt” in einer Art Philemon und Baucis-Existenz vorstellen kann, verkennt sie allerdings in gefährlicher Weise. Starke Ichbezogenheit, unkontrollierte Emotionen, ein maßloses Bedürfnis nach Anerkennung, das Alternieren von Herrschsucht und Unterwürfigkeit kennzeichnen ihre Erlebens- und Verhaltensstörungen, die offenbar die permanenten Eigenschaften ihres Charakters ausmachen. Psychologie und Psychoanalyse sind mit diesem Phänomen vertraut und hören nicht auf, sich damit zu beschäftigen. Eine der neuesten Untersuchungen zu diesem Thema stammt von Pierre Marie, der sie bereits in die Kategorie einer “folie ordinaire” (eines ganz gewöhnlichen Wahnsinns) einreiht.9 Aufgrund unserer Sucht, uns bemerkbar zu machen, uns in den Vordergrund zu spielen, machen sich die üblichen Symptome der Hysterie bemerkbar – eine zwar “ganz gewöhnliche”, also ziemlich weit verbreitete, wenngleich immer noch einigermaßen beängstigende Tatsache. Von Franz erwartet Edith eine Liebe, die den menschenmöglichen Erfahrungsbereich weit überschreitet: “Deine Liebe hätte nicht sein dürfen wie die eines Mannes zu einem Weibe”, gesteht sie ihm, “sie hätte sein müssen grenzenlos, göttlich, wie die des Heilands für die Sünderin, für den armen Zöllner” (S. 351). Man kann nicht umhin, an Stifters Erzählung Brigitta zu denken. Beide Frauengestalten stellen zwei diametral entgegengesetzte Extremfälle dar, Edith in ihrer Schönheit, Brigitta in ihrer Hässlichkeit. Von beiden geht eine unwiderstehliche Bannkraft aus. Als der schöne und erfolgreiche Stephan Murai um Brigitta wirbt, erhält er zur Antwort: “[…] werben Sie nicht um mich, Sie würden es bereuen […]. Weil ich […] keine andere Liebe fordern kann, als die allerhöchste. Ich weiss, dass ich hässlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern, als das schönste Mädchen dieser Erde.
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Pierre Maire: Les Fous d’en face. Lecture de la folie ordinaire. Paris: Denoël 2005.
28 Ich weiss nicht, wie hoch, aber mir ist, als sollte sie ohne Mass und Ende sein.”10 Das schönste Mädchen und das hässlichste Mädchen: Edith und Brigitta. Beide, abgelehnt von ihren Eltern und weniger geliebt als ihre Geschwister, gehen später eine Ehe ein, in welcher der Partner vollkommen überfordert wird. Beide Ehen scheitern, Brigitta-Murais Ehe vorübergehend, die von Edith und Franz endgültig. In beiden Fällen stellt der Ausschließlichkeitsanspruch der Frauen ein Element des Schädlichen dar, das bei Stifter zuletzt konstruktiv überwunden wird, bei Marie von Ebner-Eschenbach unaufhaltsam zur Zerstörung führt. Die Unduldsamkeit jedem Rivalitätsverhältnis gegenüber kulminiert bei Brigitta in Murais Begegnung mit der jungen und äußerst attraktiven Gabriele, bei Edith in Franzens enger Bindung an seine Mutter. Das Mutter-Thema in Ebners Werken ist bekanntlich ein sehr komplexes und hat immer wieder zu Interpretationen herausgefordert.11 Die Mutter von Franz gehört zu dem leidenden Muttertyp. Nur Sanftmut. Nur Nachsicht. Nur Selbstüberwindung. Geschwächt und krank überdies. Von Franz umsorgt. Zu viel ist zu viel. Edith liebt die bösen Scherze. Eines Tages wird sie von Franz überrascht, als sie vor ihrer Schwester Ethel die leidende Mutter nachäfft: ausgestreckt auf dem Kanapee, ein Spitzentaschentuch wie eine Haube auf den Kopf gestülpt, das Gesicht in Falten gezogen. “ ‘Ich hasse deine Mutter’, sagte Edith langsam […], ‘ich hasse sie, weil du sie mehr liebst als mich. Ich hab’s immer gefürchtet, jetzt weiss ich’s’ .” (S. 312) Zur Faschingszeit sind Edith und Franz in Wien. Edith gehört zu den gefeiertesten Frauen der Gesellschaft. Ein Telegramm von Ediths Schwester Maud ruft die beiden dringend nach Niedernbach zurück: der Gesundheitszustand der Mutter hat sich bedenklich verschlechtert. Edith unterschlägt das Telegramm, um den letzten Ball nicht zu versäumen. Als Franz nach Haus kommt, ist seine Mutter bereits gestorben. Gleichzeitig hält allerdings noch ein anderer Tod Einzug ins Schloss: durch Ediths Handlungsweise stirbt in Franz die Liebe zu seiner Frau. Durch eine Reihe von neurotischen Fehlentwicklungen wird die Scheidung unumgänglich. Edith zieht nach Paris. Ihre kleine Tochter bleibt bei Franz in Niedernbach, wo Ediths bigotte Schwester Maud sich ihrer annimmt. Sie trägt zwar den Vornamen der Mutter von Franz, Eleonore bzw. Lore, ist aber in allem ihr beängstigendes Gegenbild. Als Abbild von Edith, steht sie dieser nicht nach an Schönheit und Einfallsreichtum, scheint sie aber an physischer und seelischer Grausamkeit noch zu übertreffen: “Edith
10
Adalbert Stifter: Brigitta. Stuttgart: Reclam 1970 (UB 3911). S. 44. Dazu vor allem: Heidy M. Müller: Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München: Iudicium 1991, sowie Gudrun Gorla: Marie von Ebner Eschenbach: 100 Jahre später. Bern: Peter Lang 1999.
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29 wiederholte sich in jedem Blutstropfen ihres Kindes. Lores Fehler waren die Fehler ihrer Mutter, nur zu Potenz erhoben” (S. 364), berichtet Franz. Beispielhaft dafür steht Lores Klavierspiel, in dem sie, wie es heißt, von ihrem eigenen Wesen mehr verriet als sie wollte: “Grosse Kälte bei grosser Sinnlichkeit. Eine unvergleichliche Kunst, Feuer anzulegen, ohne selbst Feuer zu fangen. Moralische Mordbrennerei” (S. 359). Mit Lore wächst im Schlossgarten die zweite Blume des Bösen heran. – In der Geschichte von Lore wird von Maire von Ebner-Eschenbach das Schädliche ausdrücklich gleichgesetzt mit dem Bösen. Dabei gerät freilich auch der Erzähler selbst, als Vertreter der häuslichen und gesellschaftlichen Autorität, zunehmend in einen höchst ambivalenten Grenzbereich. Franz ist nicht nur Gutsherr und Landwirt, sondern auch Jäger und handelt als solcher den Tieren und schließlich auch dem Menschen gegenüber. Als siebenjähriges Kind erlebt Lore, wie ihr Vater einen Marder erschießt. Die Szene nimmt gewissermaßen prophetisch ihren eigenen Tod vorweg. Sie ist empört und untröstlich über eine Tat, die für sie einem unbarmherzigen Mord gleichkommt. “Wie bös bist du, o wie bös!”, ruft sie ihrem Vater entgegen, “Du hast ihn erschossen, und er war so schön und so jung” (S. 345). Der Vater erklärt ihr, dass der Marder ein schädliches Tier sei und verkündet: “Es ist gut und recht, das Schädliche wegzuschaffen aus dieser Welt” (S. 345).12 Zwei Aussagen stehen einander gegenüber und ergänzen sich. Symbolisch dienen sie als Projektionsflächen für die Angstphantasien einer weiblich orientierten und die Ordnungsphantasien einer männlich orientierten Blickrichtung. Darüberhinaus können sie, von aller geschlechtsspezifischen Differenz abgesehen, implizit als eine Warnung betrachtet werden: lauert das Böse nicht auch im Terror der Tugend, verbirgt es sich nicht etwa hinter dem Anschein von Ordentlichkeit und Pflichtbewusstsein, im engsten Familienkreis? Etwas von dieser Doppeldeutigkeit der Moral scheint das Kind zu ahnen: “Du bist also das Schädliche, und ich bin das Schädliche”, sagt Lore zu ihrem Vater. “Wir essen ja Hühner, Eier, Fasanen, Hasen und Rehe” (S. 346). Lore empfindet immer mehr eine gewisse Lust daran, andere zu quälen oder mit ihrem Spott zu verfolgen, und sie macht auch kein Hehl daraus. Je älter sie wird, desto mehr Unheil richtet sie an. “Wo Lores Einfluss waltete, entsprang ein Quell des Bösen” (S. 382), muss der Vater feststellen. Liegt etwa eine erbliche Belastung vor? Für Franz ist Lore nicht geworden wie sie ist, sondern sie ist so geboren: sie “hat sich ihren innersten Gesetzen gemäss entfaltet […] allen äusseren Einwirkungen zum Trotze” (S. 364f.). Ein Hinweis auf die Genetik und die problematische Vererbungslehre, die den Keim zu einer Ordnungsphantasie enthält, welche die Rechtfertigung der Ausmerzung des Schädlichen nicht ausschließt. 12
Die Hervorhebungen sind von mir.
30 Mit 19 ist Lore fest entschlossen, einen nicht mehr jungen, aber begüterten Fürsten zu heiraten, doch schon im voraus wird sie ihn betrügen. Zwei Tage vor der Vermählung begibt sie sich zu einem galanten Stelldichein mit ihrem Liebhaber, einem weltgewandten Künstler, mit dem sie sich regelmäßig in einer Waldhütte trifft. Der Wald, locus funestus. Der Vater eilt ihr nach, hat er doch erfahren, dass dort noch ein anderer auf Lore wartet, Rupert, ein etwas tumber Bursche aus der Nachbarschaft, bei dem die Eifersucht die Rachsucht schürt. Ein warnender Ruf von Franz hätte Lore retten können. Aber will er sie wirklich retten? Sein Zögern kostet Lore das Leben: “Sie lebt zum Unheil eines jeden, der ihr naht, ist das Schädliche; fort mit dem Schädlichen aus der Welt. Das Schicksal walte! Lass es geschehn!” (S. 385), ruft Franz aus. Ein Schuss von Rupert setzt Lores Leben ein Ende. Führt er aus, was der Vater herbeiwünscht, auch wenn er es im allerletzten Augenblick doch noch – vergeblich – zu verhindern sucht? Vor der wachsenden Qual des Zweifels rettet sich Franz in einen feurigen Aufruf zum Vernichtungskampf gegen das Böse und in ein leidenschaftliches Plädoyer für die Todesstrafe. Als der Freund den Bekenntnisbrief von Franz zu Ende gelesen hat, eilt er zu ihm, findet ihn aber nicht mehr am Leben. Ist er seiner Krankheit erlegen oder hat er an seine Existenz freiwillig einen Schlusspunkt gesetzt? Die Frage wird in der Erzählung nicht gestellt, die Hypothesen bleiben dem Leser überlassen. “Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die beste”, schreibt Heinrich von Kleist aus Paris an Wilhelmine von Zenge am 15. August 1801.13 Kleist selbst hat die Bedrohung durch das Schädliche, das auch er mit dem Bösen gleichsetzt, beispielhaft in seiner Erzählung Der Findling dargestellt. Sowohl von Kleist wie von Ebner-Eschenbach werden experimentierend Extremhaltungen erprobt. Ist Kleist das größere Kunstwerk gelungen, weil er den größeren Kunstverstand besaß? Bei beiden Autoren geht es letztlich nicht nur um die Problematik von Zerstörung und Selbstzerstörung, nicht nur um den Einbruch des Schädlichen in eine scheinbar geordnete Welt, es geht vor allem um die Einsicht in die Grenzen der Deutbarkeit des Existierenden, es geht um die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche, um das Rätsel Mensch, das wir stets nur mit unsicheren Bewertungen versehen können. Ein Aphorismus von Ebner-Eschenbach lautet: “Die verstehen sehr wenig, die nur das verstehen, was sich erklären lässt”.14
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In: Kleist. Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis der Briefe. Hg. von Helmut Sembner. Frankfurt a.M.: Insel 1980. S. 228. 14 Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen. Leipzig: Insel 1941. S. 5.
Martha B. Helfer
The Fairy Tale Jew This essay examines the figure of the Jew in three fairy tales by the Brothers Grimm and two by Clemens Brentano and argues that the surface antisemitism of these texts is reinforced by a series of rhetorical gestures that derive from an Enlightenment paradigm. This Enlightenment troping is both programmatic and political in nature. Written against the backdrop of the debate about the “Jewish question” – the debate about Jews’ legal and civil status in Germany – these tales present a moral exemplar in which Enlightenment becomes synonymous with antisemitism. In these texts to be Enlightened is to be antisemitic.
The character of the evil Jew figures prominently in numerous fairy tales and folktales from the German Romantic tradition. The typecasting of the Jew in this role is significant. Unlike other nefarious figures that populate the fairy tale world (trolls, giants, ogres, witches, phantoms, and the like), the fairy tale Jew has a real-world referent, a fact exploited by the Nazis during the “Third Reich” when they promoted the Grimms’ fairy tales as folk literature. There can be no doubt that fairy tales played a subliminal role in shaping the antisemitic consciousness of a nation. The Grimms’ Kinder- und Hausmärchen (Children’s and Household Tales) was second only to the Bible in book sales by the early 20-century Germany,1 and the Nazis systematically capitalized on the Tales’ popularity to advance their Aryan agenda. In 1938 the Journal for Racial Political Pedagogy proclaimed: “No German childhood without fairy tales; no folk-specific and racial education without them!”2 Moreover, in the “Third Reich” the Grimms’ Tales was officially recognized as a “sacred book”, schools were required to use the Tales as a textbook, and all German households were required to own a copy.3 Nazi ideologists celebrated the few overtly
1 Jack Zipes: Once There Were Two Brothers Named Grimm. In: The Complete Fairy Tales of the Brothers Grimm, trans. Jack Zipes. New York: Bantam 1987. Pp. xvii– xxxi. Here: p. xxix. 2 Quoted in Ruth B. Bottigheimer: Grimms’ Bad Girls and Bold Boys: The Moral and Social Vision of the Tales. New Haven and London: Yale UP 1987. Pp. 21–22. 3 Linda Dégh: Grimm’s [sic] Household Tales and its Place in the Household: The Social Relevance of a Controversial Classic. In: Fairy Tales as Ways of Knowing: Essays on Märchen in Psychology, Society and Literature. Ed. Michael M. Metzger and Katharina Mommsen. Bern: Peter Lang 1981. Pp. 21–45. Here: p. 35. See also Maria Tatar: The Hard Facts of the Grimms’ Fairy Tales. Princeton, New Jersey: Princeton UP 1987. P. 41.
32 antisemitic tales in the collection, and perverted other tales to promote Nazi cultural values. Little Red Riding Hood, for example, was interpreted as a symbol of the innocent German people, terrorized by the evil “Jewish” wolf and liberated by Hitler, the huntsman.4 Similarly, Cinderella was seen as the embodiment of racial purity, while her evil stepmother and stepsisters were condemned as ‘rassenfremd’, “racially foreign”.5 As significant as the Nazis’ corruption of fairy tales into “Jewish” tales is, those fairy tales from the German Romantic tradition that originally contain Jewish characters comprise an even more compelling area of research from a cultural-historical perspective, from the perspective of the history of antisemitism in German letters. These are the texts – represented here by in-depth analyses of three well-known tales by the Brothers Grimm and brief readings of two tales by their erstwhile collaborator, Clemens Brentano – that are the topic of this essay. The figure of the Jew has remained curiously unexplored in most studies of these Romantic texts; the few scholars who have noted these tales are antisemitic have not analyzed in any detail the discursive strategies from which the texts derive their force. Perhaps this is because the anti-Jewish rhetoric in the tales is so crass – so obvious – that an extensive investigation would seem unnecessary. However, a structural analysis of this fairy tale corpus indicates the surface antisemitism of these texts is reinforced by a series of rhetorical gestures that derive from an Enlightenment paradigm. This Enlightenment troping, I will argue, is both programmatic and political in nature. Written against the backdrop of the debate about the “Jewish question” – the debate about Jews’ legal and civil status in Germany – these tales present a moral exemplar in which Enlightenment becomes synonymous with antisemitism. In these texts to be Enlightened is to be antisemitic.
I. A conscious anti-Jewish agenda arguably informs the Grimms’ Kinder- und Hausmärchen (Children’s and Household Tales), to a small but significant degree. (To be sure, this anti-Jewish agenda is not the driving force behind the collection as a whole.) Of the 211 tales published in the final edition of 1857, three have Jewish main characters: “Der gute Handel” (“The Good Bargain”, no. 7), “Der Jude im Dorn” (“The Jew in [the] Thorns”, no. 110), and “Die klare Sonne bringt’s an den Tag” (“The Clear Sun Will Bring it to Light”, no. 115). Two of these tales, “The Good Bargain” and “The Jew in Thorns” are overtly antisemitic; the third, “The Clear Sun Will Bring it to Light”, is ambiguous in its depiction of the Jew. On a first reading, one might be tempted to think that “the 4 5
Dégh (note 3). P. 36 and Tatar (note 3). P. 41. Bottigheimer (note 2). P. 22.
33 Jew” as theme plays an almost negligible role in the Grimms’ Tales; indeed, many readers and scholars of the Tales have overlooked the Jewish theme completely. Proportionately, three out of 211 tales is a relatively small number, but the proportions change considerably in the Small Edition, Die kleine Ausgabe, first published in 1825 in an attempt to popularize the collection and to increase book sales. The two overtly antisemitic tales figure prominently in the fifty tales Wilhelm Grimm selected to print in the Small Edition intended primarily for children, while the third tale, with its ambiguous depiction of the Jew, appears only in the Large Edition, Die grosse Ausgabe.6 Moreover, in the course of its publishing history, Wilhelm Grimm intentionally edited at least one of the tales, “The Jew in Thorns”, to be increasingly antisemitic, systematically making the Jew into a worse and worse character, while making his Christian counterpart better and better.7 Finally, it is significant that the Grimms chose to include three tales about Jews in their collection, when variants of all three tales exist in which there are no Jewish characters. In short, the educational program laid out in the tales – in the collection the Grimms themselves regarded a primer designed to construct a German national spirit – contains an overt anti-Jewish agenda. Disturbingly, the Grimms inscribe this anti-Jewish agenda in the German Enlightenment tradition, as the German Enlightenment tradition. The same figuration also occurs in the fairy tales of Clemens Brentano. Before turning to the tales, I would like to broach three methodological considerations. First, in limiting my analysis of the Grimms’ collection to the few tales that feature Jews, I am intentionally fragmenting the text, not considering the Tales as a whole, a textual analytic strategy that is potentially problematic. As Ruth Bottigheimer warns: “Virtually any point of view, from serious to outrageous, can be – and has been – proven with isolated examples from the collection”.8 Still, any grouping of the tales is perforce somewhat arbitrary, and the Jewish theme links these tales in a coherent corpus that must be framed in a broader context: the discourse of antisemitism in 19th-century Germany.9 From this perspective it strikes me as entirely justified to consider the tales that
6
Bottigheimer (note 2). P. 140. See Bottigheimer for a discussion of Wilhelm Grimm’s decision to include the antisemitic version of the tale in the collection, while other authors and publishers consciously omitted it. Bottigheimer surmises this decision may have been influenced by Wilhelm Grimm’s connections to members of the Christlich-Deutsche Tischgesellschaft. Bottigheimer (note 2). Pp. 139–141. 8 Bottigheimer (note 2). P. xi. 9 This line of analysis is in keeping with Bottigheimer’s argument that the Tales should be interpreted as an “historical document with its roots firmly rooted in 19thcentury Germany”. Bottigheimer (note 2). P. 4. 7
34 feature Jews in isolation from the rest of the collection.10 The second methodological consideration concerns my reading of the tales as literary texts. Maria Tatar has suggested that close textual analysis is of limited value in interpreting fairy tales as a genre, and that it is crucial for literary critics in particular to bear in mind that literature and folklore, despite some cross-contamination, are “separate in their genesis, intentions, and structure”.11 Conscious though I am of the importance of this distinction, it seems to me not entirely valid in the case of the Grimms’ Tales for two reasons. First, the Tales clearly were read as literature in 19th-century Germany, as they are today. Second, Wilhelm Grimm’s programmatic editing and embellishment of the tales imbues them with an inherent literariness. Precisely these rhetorical strategies are of interest to me in analyzing the structure and function of the figure of the Jew in the tales. The fact that there is nothing specifically “German” about the appearance of negative Jewish figures in these tales brings me to my final methodological consideration. Certainly evil Jews appear in the folktales of many other national literatures; indeed, at least one of the Grimms’ tales under consideration here is not German in origin. At issue in my analysis is not the putative “Germanness” of these tales, but the function of these tales in German culture. Historically, the fairy tale genre has been instrumental in the formation of German cultural mores – perhaps more so, Jack Zipes has suggested, than for any other country in the western world.12 Zipes cites the fact that the Nazis created a policy on folk and fairy tales as evidence of a general awareness of the cultural impact these tales had on the German population.13 Jakob Grimm and Wilhelm Grimm intended to shape German social, religious, and moral values with their collection: the 1819 edition of the Grimms’ Tales was published explicitly as an “Erziehungsbuch”, an “educational book” or primer. The pedagogical mandate of the Grimms’ Tales quickly was realized, often with an overt nationalistic agenda. The Grimms’ Tales were incorporated into Prussian school syllabi as early as 1850; in 1888 Wilhelm Eick praised the value of the fairy tale for “moral, religious [education] and ultimately for rearing [children]
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For a different approach see Bottigheimer, who groups together the motifs of “work, money, and anti-Semitism”. Bottigheimer (note 2). Pp. 123–142. 11 Tatar (note 3). P. xix. 12 “Though it is not wise to attribute too much influence to any culture product in the formation of national customs and consciousness, there is no doubt that folk and fairy tales participated heavily in the creation of beliefs and norms and symbolically reflected changes in the social order of Germany”. Jack Zipes: Fairy Tales and the Art of Subversion. New York: Routledge 1991. P. 134. 13 Zipes (note 12). P. 135.
35 for the fatherland”14; And in the “Third Reich” the Nazis used the Tales to advance their racial political agenda. A full analysis of the history of the Tales and their reception lies beyond the scope of this essay. Read solely in their early Romantic context, the Tales narrate a metatextual story of how antisemitism develops as a positive cultural value in Germany: in the Tales to be Enlightened is to be antisemitic.
II. To begin with, consider the ambiguous depiction of the Jew in the Grimm Brothers’ “Die klare Sonne bringt’s an den Tag”, “The Clear Sun Will Bring it to Light”. Both title and plot underscore the tale’s Enlightenment agenda. A journeyman tailor travels in the world plying his trade. One day he cannot find work and becomes utterly destitute. On meeting a Jew, he thinks to himself that the Jew must have a lot of money. Pushing God from his heart, he threatens the Jew, saying: “Gib mir dein Geld, oder ich schlag dich tot” (“Give me your money or I’ll kill you” [149]).15 The Jew protests that he has no money, only eight farthings. The tailor does not believe the Jew, and beats him to death. The Jew’s last words are a prophetic warning: “Die klare Sonne wird es an den Tag bringen!” (“The clear sun will bring it to light” [149]). Rifling through the dead man’s pockets, the tailor discovers the Jew in fact was telling the truth: he had only eight farthings. The tailor drags the Jew’s body behind a bush, and continues on his way. The tailor then finds employment, marries, and enjoys a happy, fulfilled life. As the tailor drinks coffee one day, the sun reflects circles from the coffee on the wall. The tailor interprets this reflection as the sun trying to bring something to light, and tells his wife about killing the Jew. Despite his warning to keep mum about his crime, the tailor’s wife spreads the story throughout the town. The tailor is then brought to justice and condemned for his transgression. The narrator concludes the tale with the simple statement: “Da brachte es doch die klare Sonne an den Tag” (“The clear sun did indeed bring it to light” [150]). Two diametrically opposed interpretations of the function of the Jew in this tale are possible. Bottigheimer has argued that this is the only one of the Grimms’ tales in which the Jew is depicted in a positive light.16 While she does not elaborate on this assertion, a positive reading of the tale’s portrayal of the
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Wilhelm Eick: Das Märchen und seine Stellung im Volksunterricht, quoted in: Bottigheimer (note 2). Pp. 21f. 15 Page references are to Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Vol 2. Stuttgart: Reclam 1980. 16 Bottigheimer (note 2). P. 140.
36 Jew presumably would proceed along the following lines: Jews don’t all have money; Jews don’t all lie; you shouldn’t kill Jews; and you will be punished if you do. But if the Jew is depicted in a positive light here, it is only ex negativo: Jews don’t all conform to negative stereotypes, and Christians shouldn’t act badly toward Jews. Even in its most positive reading, the tale is not pro-Jewish, but anti-antisemitic. And even the most positive reading cannot disregard the fact that the tale underscores the stereotypical identification of Jews with money and lying, and arguably also with supernatural powers or sorcery. The tailor assumes the Jew qua Jew has money and will lie about it. Although this assumption proves incorrect, the association still is made. Similarly, the Jew’s prophetic warning that the bright sun will bring the tailor’s crime to light proves true, and there are two ways to interpret this: either the Jew is the moral compass of the tale, or the Jew has supernatural powers. Read in its most positive light, the tale’s message of Enlightenment tolerance toward Jews is qualified at best. From a different vantage, the tale reads as a diatribe against “Jewish” behavior in Christian society. Importantly, the tale’s narrative force derives from the stereotypical typecasting of the Jew, yet it is the tailor, not the Jew, who proves to be the “Jew”. The tailor “stieß Gott aus seinem Herzen” (“pushed God from his heart” [149]) before mortally threatening and then killing the Jew, and hence is marked as “Godless” or unchristian (read “Jewish”) from the start of the text. This is the true function of the Jew in the text – to define what is unchristian as “Jewish” – and this is why it is important that the tailor murders a Jew, rather than, say, a farmer in the tale. In fact, the tailor exhibits “Jewish” traits throughout the tale. He travels, Wandering Jew-like, in the world plying his trade; he will do anything for money; he threatens innocent people; he murders; he deceives even his closest relatives; and he tries to hide his true nature. Analyzed from this perspective, the tale enacts a subtle, insidious antisemitism: the extortionist, murderous, duplicitous tailor is a “Jew”, and therefore must be punished for his unchristian deeds. The clear sun brings to light the tailor’s “Jewishness” and condemns him accordingly: in this tale Enlightenment is equated with antisemitism.
III. In “Der gute Handel” (“The Good Bargain”) both Christian and Jew exhibit “Jewish” traits, but only the Jew is punished for his behavior. Moreover, the text presents its pronounced antisemitism as humorous, just, and ethical. In this extraordinarily long-winded tale a dim-witted peasant acts dumber and dumber, yet proves to be smarter than the crafty, calculating Jew. At the beginning of the tale the peasant sells a cow for seven taler. On the way home, he passes frogs in a pond and hears them croak “ak, ak, ak”. The peasant thinks the frogs are
37 saying “acht, acht, acht” (“eight, eight, eight” [63]17) and throws his money in the water so that the frogs can count the seven coins for themselves. He waits in vain until evening for the frogs to return his money, and then returns home, cursing the frogs as thick-headed smugglers with bulging eyes and big mouths (64). (Note that the peasant implicitly characterizes the frogs as “Jews” in his invective: shady trade behavior or “smuggling”, bulging eyes, and big mouths all are stock antisemitic stereotypes.) Some time later the peasant decides to sell a second cow, reckoning that if he drives a good bargain, he can make enough money to cover both cows, and will have the cow’s hide to boot. (This calculating behavior is not remarked on in the text.) But when the peasant brings the meat to market, he encounters a pack of dogs. The pack leader sniffs the meat, and barks: “was, was, was” (“arf ”, “arf ”, “arf ” [64]). The dumb peasant thinks the dog is asking for “etwas”, “something”, and gives him the meat, thinking he can trust the dog to complete the transaction for him. After three days he goes to the butcher to demand his money, and the butcher chases him away with a broomstick. The dumb peasant then goes to the king to demand justice. On hearing his story, the king’s daughter bursts out laughing for the first time in her life. The king rewards the peasant by offering him her hand in marriage. The peasant declines, saying he already has a wife at home, and doesn’t need one in each corner. Enraged by his coarseness, the king orders the peasant to return in three days to receive a different reward: 500 will be meted out to him. (It is unclear at this point whether the peasant understands that he is to receive 500 blows, rather than 500 taler.) The peasant then gives away his “reward” to two unsuspecting bystanders who clamor for his money: 200 to a soldier, and 300 to a Jew who promises to convert the money for him at a favorable rate. The peasant agrees to the exchange, but demands his money right away. The Jew deceives him, and gives him “bad” coins (“schlechte Groschen” [66]) worth only two-thirds of the promised sum. When the soldier and the Jew show up to receive their “reward” from the king, the soldier endures his blows patiently, but the Jew complains bitterly. The king, amused, offers the peasant a real reward: he may go into the king’s treasury and take as much money as he wants. Counting his money afterwards at an inn, the peasant grumbles that the king is a “Spitzbube” or rogue (67): because the king did not give him the reward directly, the peasant can’t be sure how much money he really has. The Jew, who has “slunk” (67) into the inn, overhears the peasant. Importantly, the language the Jew uses to describe the peasant’s grumbling introduces a theological register into the text: “‘Gott bewahre,’ sprach der Jude für sich, ‘der spricht despektierlich von unserm Herrn’ ” (“‘God forbid,’ said
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Page references are to Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Vol 1. Stuttgart: Reclam 1980.
38 the Jew to himself, ‘he’s speaking disrespectfully about our ruler/Lord’ ”[67]). Sensing an opportunity for both revenge and reward, the Jew goes to the king to report the peasant’s disrespectful behavior. The king sends the Jew to fetch the “sinner” (67) but the peasant refuses to appear before the king wearing a shabby coat. The Jew lends the peasant his coat, saying he is doing so out of friendship and love. Appearing before the king in the Jew’s coat, the peasant denies he had spoken disrespectfully of the king: “Was ein Jude sagt, ist immer gelogen, dem geht kein wahres Wort aus dem Munde; der Kerl da ist imstand und behauptet, ich hätte seinen Rock an” (“What a Jew says is always a lie, no true word ever leaves his lips; why, he’d even say I’m wearing his coat!” [68]). The Jew protests that he has indeed lent the peasant his coat out of friendship, so that he can appear before the king suitably attired. The king, who knows the Jew has already denounced the peasant to him and is now presenting himself as the peasant’s friend, concludes that the Jew has either deceived the king or the peasant, and commands the Jew be beaten again. The peasant goes home in the Jew’s good coat, with good money in his pocket, pleased that he finally has “done it” (68). The tale’s title indicates what the peasant finally has done: the dumb peasant, unable to trade his two cows for gain, finally has completed a “good bargain”, “ein guter Handel” opposed to the deceitful Handel of the Jew. In its very title the tale hence invokes a stock antisemitic stereotype, the negative association of Jews with handeln, bargaining. The tale’s overt antisemitism is reinforced on the linguistic level of the text by a series of semantic markers designed to highlight the difference between the upright Christian and the base Jew. In the course of the tale both the peasant and the Jew are depicted as greedy, deceitful, calculating, revengeful, and lying, but only the Jew’s behavior is explicitly identified as such, and only the slinking Jew, the true “sinner”, is punished for his behavior by the “Herr”, the “Lord”. The peasant goes home “good”, pleased that he has finally closed a good deal, with good money in his pocket and a good coat on his back. The Jew, in contrast, deals in “bad” coins and remains “bad” throughout the text, structurally on a par with the peasant’s other trade partners: the dishonest, thick-headed frogs with big mouths and bulging eyes, and the thieving dogs. But unlike the frogs and dogs, who get the better of the dumb peasant, the dumb peasant outwits the “smart” Jew. In short, the tale uses semantic markers derived from theological and moral registers to present antisemitism as amusing and just, as entirely in keeping with a Christian ethos.
IV. Like “Der gute Handel”, “Der Jude im Dorn” (“The Jew in [the] Thorns”) is motored by a Tausch-Täuschung problematic typical of many Enlightenment texts: true Christian morality is constructed through a series of narrative trades or exchanges
39 (Tausch[e]) that expose deception (Täuschung), and in both tales Täuschung, deception, is coded as the quintessential “Jewish” trait. As in “Der gute Handel”, both Christian and Jewish characters exhibit “Jewish” traits in “Der Jude im Dorn”, but only the Jew is punished for his crimes. Both tales thus suggest that it is not so much his behavior, but his very nature that damns the Jew. “Der Jude im Dorn”, the most popular and profoundly antisemitic of the three tales under consideration here, specifies precisely what makes the Jews by nature so very bad. “Der Jude im Dorn” addresses the very root of theological antisemitism: the allegation that the Jews crucified Jesus and must be punished in return. “Der Jude im Dorn” relates the adventures of an honest, upright, hard-working servant – a good, cheerful, pleasant person – who willingly works for a rich but miserly man for three years without pay. When he finally demands his wages (a fair Tausch or exchange), the miser completes the transaction by giving the servant three farthings in exchange for his service. (This Täuschung or deception, carried out by a presumably Christian character, is of no explicit consequence to the tale.) The good servant proceeds merrily along his way, unaware he has been duped. The servant then meets a dwarf who claims to be poor and needy, and asks him for his money. The servant willingly agrees, “weil der Knecht ein großes Herz hatte und Mitleid mit dem Männchen fühlte” (“since the servant had a good heart and felt sympathy for the dwarf ” [125]18). To feel sympathy or Mitleid is one of the strongest Enlightenment virtues. As Lessing famously puts it: “der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch” (“the most sympathetic person is the best person”).19 Stating that God will provide for him, the good servant gives the dwarf his money. In exchange the dwarf grants him three wishes: a fowling gun that always meets its mark, a fiddle that will make everyone dance, and the power to make people give him whatever he requests (the second fair Tausch or exchange). The servant then meets a Jew “mit einem langen Ziegenbart” (“with a long goat beard” [126]), a stereotypical derogatory characterization. The Jew is enchanted by a bird’s song, and the good servant gladly shoots down the bird for the Jew. He then tells the Jew, a “Spitzbube”, a “rogue” or “deceiver”, to retrieve his quarry (126). The Jew, while objecting to the moniker, obeys, and crawls into a thornbush to retrieve the bird’s corpse. The good-hearted servant is overcome by a mischievous spirit and begins to play his magic fiddle, compelling the Jew to dance in the thornbush. (The servant’s mischievous act is not coded negatively in the semantics of the narrative.) The good servant continues to fiddle while the thorns shred 18
Page references are to Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Vol 2. Stuttgart: Reclam 1980. 19 Lessing, letter to Friedrich Nicolai, November 1756. In: Jochen Schulte-Sasse (ed.): Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel [1756/57]. München: Winkler 1972. P. 55.
40 the Jew’s coat, comb his goat beard, and scratch his entire body. The servant rejects the Jew’s pleas to stop fiddling, reasoning that the Jew’s punishment is a just exchange (Tausch): “Du hast die Leute genug geschunden, nun soll dir’s die Dornhecke nicht besser machen” (“You have gruesomely tortured [literally: skinned] the people enough, the thornbush should do the same to you” [127]). The Jew then offers the servant a bag of gold to stop fiddling, and the servant accepts the trade. But the Jew tries to denounce this fair trade (Tausch) as deception (Täuschung). The Jew cowardly waits for the servant to be out of earshot before cursing him (“cowardliness” is another stock antisemitic stereotype). He then runs to a judge to complain his money has been stolen by a “godless man”. The good servant denies he is a thief, claiming the Jew willingly gave him the money. The Jew retorts that the servant is a liar. Reasoning that no Jew would ever willingly give up money, the judge sides with the Jew, and sentences the servant to die on the gallows. The servant requests that he be allowed to play one more song before he dies, forcing everyone to dance uncontrollably. The judge offers to commute the servant’s death sentence in exchange for the cessation of his fiddling. The good servant agrees to the Tausch, the trade, but demands that the Jew, the “Spitzbube” (rogue or deceiver [129]) confess where he has gotten the money. The Jew admits to stealing, revealing his true core, deception or Täuschung, and in the text’s final exchange (Tausch), the Jew replaces the good servant on the gallows and is hanged as a thief. The tale’s title suggests there is much more at stake here than the simple exposure of the title figure as a lying, thieving, cowardly, duplicitous Jew who must be punished for these crimes. As we have seen in all three tales under consideration, such moral shortcomings are traits shared by Christians and Jews alike: in the case of “Der Jude im Dorn” (“The Jew in [the] Thorns”) the miser, the good servant, the judge, and the Jew all display bad behavior. But there is something about the Jew by his very nature that makes him morally reprehensible. This is why it is significant that the Jew, rather than the “good servant”, is the title figure in the tale. The Jew’s true crime is revealed when he is badly scratched while dancing in the thorns and the “good servant” remarks that this is fair treatment because the Jew has gruesomely tortured “the people” and now must be tortured in return. The “good servant” serves “the people” by torturing the Jew with thorns. Tellingly, this thorn imagery reveals the Jew’s true crime. “Der Jude im Dorn” (“The Jew in Thorns”) invokes the figure of another Jew famously crowned in thorns: the Jew is hanged as just retribution for deicide. (An even exchange or Tausch underscored by both the tale’s title and on the metaphorical level of the text: hangings were referred to as crucifixions in some 19th-century German dialects.20) In short, “Der Jude im Dorn” enacts an 20
Karin Doerr: The Specter of Anti-Semitism in and around Annette von DrosteHülshoff’s Judenbuche. In: German Studies Review 17 (1994). Pp. 447–471. Here: p. 457.
41 enlightenment narrative in which truth is constructed through a series of narrative exchanges that expose the ultimate “Jewish” deception: the betrayal and crucifixion of Jesus. The just punishment, the tale suggests, is hanging or crucifying the Jew in return. To reformulate the tale’s moral more pointedly, the tale indicates that the just punishment for the Jew for allegedly crucifying Jesus is the elimination of the Jew from Christian society.
V. Brentano’s “Märchen vom Schneider Siebentodt auf einen Schlag”, “The Tale of The Tailor Seven-in-One-Blow”, casts the Jews – quite literally – as antiEnlightenment figures whose religion presents a profound threat to the commonweal of Christian society.21 The tale enacts its anti-Jewish enlightenment agenda thematically, using a clever linguistic device: the literalization of metaphor. (To understand what follows, keep in mind that Yom Kippur is sometimes referred to as “der lange Tag”, “the long day”, in German.) Brentano prefaces the folktale about the tailor who killed seven flies in one blow with a bizarre account of how the tailor’s father had single-handedly defeated the Jewish community of Amsterdam, which was holding “The Long Day” (i.e., Yom Kippur) hostage in a schoolhouse, thereby causing the entire city of Amsterdam to be plunged into darkness. This anti-Enlightenment terrorist gesture has a profound effect on the economic and religious welfare of the city: the herring fishermen cannot go to sea and the Seelenverkäufer (“soul sellers”, dealers in mercenaries) cannot sell their wares. The Jews are holding “The Long Day” hostage to keep him from marrying “The Long Night” (the evening on which Yom Kippur begins) because a famed Jewish necromancer (Rabbi Süß Oppenheimer Meyer Löb Rothschild Schnapper Robert) has predicted their union will produce “The Youngest Day” (der jüngste Tag, Judgment Day). In other words, in holding The Long Day hostage the Jews are attempting to ward off their own damnation and to keep the Christians from salvation. The tailor’s father overthrows the Jews by outwitting their scapegoat (a real goat) and flooding the Jewish quarter with pigs. The Long Day is liberated and enlightenment (daylight) restored to Amsterdam. (Needless to say, this part of the tale makes a mockery of the Jews and the holiest of Jewish holidays; the antisemitism enacted here is both theological and economic in nature.) The tailor then goes on to relate his own daring feat – killing seven flies in one blow and eventually settling down with a good German woman in Mainz to beget the 21
Clemens Brentano: “Märchen vom Schneider Siebentodt auf einen Schlag”. In: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe. Vol. 17. Ed. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald, and Detlev Lüders. Stuttgart: Kohlhammer 1983. Pp. 302–331.
42 next generation of illustrious tailors. On a very obvious level, Brentano’s tale suggests killing seven flies in one blow is on a par with defeating the Jewish community of Amsterdam, and both feats are prerequisite to the “living happily ever after in Mainz” ending that imbues the tale with an overt nationalist agenda. Importantly, the word plays that animate the text are tremendously fun to read, which makes the tale’s antisemitism all the more insidious. Both the Grimm Brothers and Brentano thus consciously equate antisemitism with Enlightenment, a figuration that also informs Brentano’s “Das Märchen von Gockel und Hinkel”, “The Tale of Gockel and Hinkel”.22 In this poignantly amusing tale three Jews cause the downfall of a good German family; the family sacrifices their Christlike rooster, who then redeems them. The plotline revolves around a magic Jewish ring, the ring of Solomon and its counterfeit: Brentano arguably invokes Lessing’s celebrated ring parable in this lighthearted story, a story that concludes by transforming the Jews into asses. At the same time he celebrates his linguistic virtuosity in a refrain that resonates throughout the text: “es ist nur eine schöne Kunstfigur” (“it’s only a beautiful artistic figure / trick figure”). Eine schöne Kunstfigur in which the rhetoric of antisemitism becomes dangerously beautiful.
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Clemens Brentano: “Das Märchen von Gockel und Hinkel”. In: Clemens Brentano: Italienische Märchen. Frankfurt a.M.: Insel 1983. Pp. 218-306.
Heinz-Peter Preußer
Narratologische und denotative Präfigurationen des Semantischen. Eine Relektüre der Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals There are many reasons for the ambiguity of the Reitergeschichte. One of them is the guidance of the reader by narrative procedures and denotative attributions. These techniques provide signals for the reader’s attention, signals which manage the text’s paradigmatic combination by means of substitutions and sequences. This benefits readings of the text that aspire to the solving of hermeneutic riddles or that see it as a realisation of psychoanalytical models of agency. The reason for these denotations, however, is much less complex. Any stretching of time, any interior view of the protagonists, any direct speech functions as a signifier of meaning. The shift from the many to the few, from landscape to architectural space, from authorial to personal narration serves as an indicator of how to understand the text. In contrast, the ambivalences of ugly vs. beautiful, military vs. private are ‘ironic’ gestures that simultaneously deny meaning. The text’s obvious oxymoronic structure suggests the validity of either of its constituents, something that undermines the philosophical law of identity. Ultimately, the indecisive hovering of the text between structural oppositions and a dissemination of meaning reveals itself to be the consequence of a criss-crossing of various serial patterns which will be developed in a meta-analysis.
1. Die so genannte Sprachkrise: Der Brief des Lord Chandos Anno Domini 1603,1 genau den 22. August, schreibt Philipp Lord Chandos einen Brief an Francis Bacon, den Politiker, Philosophen und Naturwissenschaftler. Der Adressat ist in dieser fiktionalen Konstruktion mit Bedacht gewählt. Der reale Bacon nämlich hatte wenige Jahre zuvor, 1597, seine Essays, Moral, Economical, and Political vorlegt, unemotionale, nüchterne Aphorismen, die häufig von unpersönlich distanziertem Beobachten menschlichen Verhaltens ausgehen. Fern von allem Idealismus, also auch von normativen Moralvorstellungen, bedeutet Politik für Bacon Pragmatismus und Utilitarismus, Machbarkeit und
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Auf die Signifikanz des Datums macht Aleida Assmann aufmerksam. 1603 ist das Todesjahr Elizabeths I. sowie das Jahr der Uraufführung und Erstpublikation des Hamlet. Aleida Assmann: Hofmannsthals Chandos-Brief und die Hieroglyphen der Moderne. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 11. Hg. von Gerhard Neumann u. a. Freiburg: Rombach 2003. S. 267–279. Hier: S. 268–270.
44 Nützlichkeit. Erlaubt ist, was dem zu erreichenden Ziel dient.2 Und das Ziel aller Wissenschaft ist ebenso folgerichtig die Beherrschung der Natur zum Wohle der Gesellschaft: Wissen ist Macht. In späteren Jahren hat man diese Auffassung als instrumentelle Rationalität gekennzeichnet und gegeißelt.3 Wenn Wissenschaft und Vernunft nur Handlanger sind zu Machtzwecken, dann haben sie ihre Unschuld offensichtlich verloren. Machiavelli wusste das schon früher. Aber Bacon ist nicht allein Utilitarist, sondern auch erster Kritiker der menschlichen Vorurteile. Seine Idolenlehre untersucht die verfälschenden Vorstellungen, die einer adäquaten Abbildung der Natur entgegenstehen: solche der menschlichen Gattung (also anthropologische), solche des Individuums (in seiner je eigenen Beschränktheit) und solche der unterschiedlichen philosophischen Schulen, also der (geschichtlich bedingten) Tradierung des Wissens. Letztlich, so Bacon, führe uns die Sprache aber selbst zu Irrtümern, indem sie den Dingen falsche Bedeutungen beilege. Man streitet über bloße Bezeichnungen, statt zum Wesen des Bezeichneten selbst vorzustoßen. Die Worte stellen sich vor die Dinge. Die Kritik der Trugbilder oder Idole impliziert freilich, es könne einen Weg zu wahrer Erkenntnis geben, der die Trugbilder auflöst. Das Verfahren dazu heißt Induktion. Methodisch experimentell, nicht etwa deduktiv von vorgegebenen Axiomen ausgehend oder gar durch Spekulation, wird gesammelt und verglichen, um in sukzessiver Verallgemeinerung zu den tatsächlichen Formen der Natur zu gelangen.4
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Hofmannsthal hat sich offensichtlich mit seinem Brief auf eine andere Ausgabe bezogen, wie H. Stefan Schultz herausstellt, darüber hinaus auch auf Novalis. Der Verweis findet sich in Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Bd. 31. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt/M.: Fischer 1991. S. 280f., auch 277 und 279. Seine Bibliothek enthält den Dünndruckband Essay or Counsels, Civil & Moral aus dem Jahr 1902. Vgl. H. Stefan Schultz: Hofmannsthal and Bacon. The Sources of the Chandos Letter. In: Comparative Literature 13 (1961). S. 1–15. 3 Max Horkheimer und Theodor W[iesengrund] Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/47]. Frankfurt/M.: Fischer 1986. Hier insb. die Kap.: Begriff der Aufklärung, S. 9–49, und Odysseus oder Mythos und Aufklärung, S. 50–87. Dazu auch Assmann: Hieroglyphen der Moderne (Anm. 1). S. 269f. 4 Vgl. Francis Bacon: Essays. Eingeleitet und übers. aus d. Engl. von Paul Melchers. Warendorf: Hoff 2003. Hier die Einleitung, insb. S. 14f., auch mit Hinweisen auf die Publikationsgeschichte. Außerdem Manfred Pfister: Francis Bacon, “Essays” sowie Alfons Uhl: Francis Bacon, “Instauratio magna”. Beide in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hg. von Walter Jens. München: Kindler 1988. Bd. 2. S. 38f. bzw. 39–42. Siehe auch Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkard und Franz Wiedmann: dtv-Atlas zur Philosophie. 6. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996. S. 95. Und Hans Joachim Störing: Kleine Weltgeschichte der Philosophie in 2 Bdn. Bd. 1. Frankfurt/M.: Fischer 1975. S. 307–313.
45 Bacon, auch Systematiker der Wissenschaften, ist Zeitgenosse Shakespeares wie Cervantes, Tycho Brahes, Galileis und Keplers, Monteverdis und Caravaggios. Die Renaissance befindet sich im Umbruch. Das Mikroskop eröffnet neue Welten wie wenige Jahre später, 1611, das Fernrohr. Und in diesem Epochenumbruch schreibt eben jene fiktive Figur des Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Sir Francis Bacon, “um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen”.5 Ein “zweijähriges Stillschweigen” gilt es zu begründen von dem “nun Sechsundzwanzigjährigen”, der mit neunzehn Jahren – und mythologischen Themen – bereits erste literarische Triumphe feiern konnte (B 45). Die Mittel aber der konventionellen Rhetorik, so erkennt Lord Chandos nun, reichten nicht hin, ins Innere der Dinge zu dringen. Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere. (B 46)
Geplant war ein Werk über “die ersten Regierungsjahre unseres verstorbenen glorreichen Souveräns, des achten Heinrich”. Aber die “gemeinsamen Tage […] schöner Begeisterung”, deren sich der Schreiber gern erinnert, sind vergangen und mit ihnen die, wie es heißt, Erkenntnis der Form […], jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. (B 46)
Der Briefsteller wollte, so bekennt er, die Fabeln und mythischen Erzählungen “aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit” (B 46f.). Dieser Genuss des Geistes wird freilich eindeutig sinnlich grundiert. “Wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten, glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, Perseus und Aktäon: verschwinden wollte ich in ihnen und aus ihnen heraus mit Zungen reden” (B 47). Chandos entwirft einen Eros der
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Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In ders.: Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Bd. 31. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt/M.: Fischer 1991. S. 45–55. Hier: S 45. Im Folgenden als Sigle B, anschließend Seitenzahl, fortlaufend im Text.
46 Verschmelzung und überlässt sich in der Rückerinnerung noch einmal ganz dem magischen Weltverständnis. Sinnliches und Intelligibles, Musik und Mathematik fließen phantasmatisch zusammen und weisen zurück zu dem Urquell allen Seins. Die schöne Form ist Körper und Geist zugleich: so wie das Beispiel der Antike lehrt. Das ganze Dasein bildet eine große Einheit und lässt Gegensätze nicht mehr zu – “höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur” (B 47), “überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr”. Wenn alles zu einem sich verbindet, müssen die Einzelteile untereinander korrespondieren: “alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der andern” (B 48). Das Seiende bestätigt sich wechselseitig, nur am Einen zu partizipieren. Das Einzelne deutet und erklärt das Andere. Die Welt versteht sich als Zusammenhang. Der sich erinnernde Lord Chandos schreibt aus dem Denken des Ähnlichen heraus, das in der Renaissance auch im Diskurs der Wissenschaften noch vorherrschte, und für deren Verschwinden – neben Descartes – kein geringerer verantwortlich gemacht wird als Francis Bacon. Michel Foucault argumentiert so in seiner Ordnung der Dinge.6 Das Denken in Ähnlichkeiten und symbolischen Verweisungen habe bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts die Organisation des Wissens geprägt (OD 46). Foucault meint hier Autoren wie Tommaso Campanella, Paracelsus, Giambattista della Porta. “Das ganze Volumen der Welt, alle übereinstimmenden Nachbarschaften, alle Echos der aemulatio, alle Verkettungen der Analogie werden unterstützt, aufrechterhalten und verdoppelt durch den Raum der Sympathie und Antipathie, der die Dinge unablässig einander annähert und sie auf Entfernung hält. Durch dieses Spiel bleibt die Welt identisch, die Ähnlichkeiten […] bleiben einander ähnlich. Das Gleiche bleibt das Gleiche und in sich geschlossen” (OD 55f.). “Den Sinn zu suchen” hieß für das sechzehnte Jahrhundert, “an den Tag zu bringen, was sich ähnelt” (OD 60). Zu diesem Zeitpunkt noch “hat die Ähnlichkeit im Denken der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt. Sie hat zu einem großen Teil die Exegese und Interpretation der Texte geleitet, das Spiel der Symbole organisiert, die Erkenntnis der sichtbaren und unsichtbaren Dinge gestattet und die Kunst ihrer Repräsentation bestimmt. Die Welt drehte sich in sich selbst”. Alles ist Wiederholung, ein unendliches “Theater des Lebens”, und alles Geschaffene fungiert als Spiegel der Welt (OD 46).
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Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. Übers. aus d. Frz. von Ulrich Köppen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974. Im Folgenden als Sigle OD, anschließend Seitenzahl, fortlaufend im Text.
47 Seit dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, mit Beginn des Rationalismus und Empirismus allerdings, “hört das Denken auf, sich in dem Element des Ähnlichen zu bewegen. Die Ähnlichkeit ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Ort der Konfusionen nicht prüft.” Mit Francis Bacon und René Descartes endet das “Zeitalter des Ähnlichen” (OD 83f.); an dessen Stelle treten nun Identität und Unterschied (OD 82, 87). Die “murmelnde Ähnlichkeit der Dinge”, ihre Unmittelbarkeit, die “spontane […] Bewegung der Vorstellungskraft”, die sie hervorzurufen versteht, wird überführt in eine “Wissenschaft der Ordnung”, in eine “Theorie der Einteilungen und der Klassifikationen” (OD 91). Don Quijote ist der tragikomische Held dieser Welt, in der sich die Schrift und die Dinge nicht mehr ähneln sollen. Er spürt diese Differenz am eigenen Leib. Sein Handeln wird abgedrängt in die Reiche der Unvernunft und Imagination, weil es immer noch, und gegen die moderne Welt, in der er lebt, gerichtet, auf Ähnlichkeit gründet (OD 80f.). Das Denken des Ähnlichen wird wild und irr; es unterliegt dem Ausschluss (OD 85). Und so wie sein fiktionaler Zeitgenosse Don Quijote scheint auch Lord Chandos abgedrängt in die, wie er selbst sagt, “Krankheit [s]eines Geistes” (B 46), nach der “aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmut und Kraftlosigkeit” zusammengesunken, “welches nun die bleibende Verfassung [s]eines Innern ist” (B 48). Chandos pathologisiert und analysiert sich zugleich. Er ist auf erstaunliche Weise hinfällig und doch formgewandt, sprachkritisch und doch eloquent. Dieser Widerspruch ist in der Sekundärliteratur häufig bemerkt worden. Ein Brief ist das Zeugnis einer Sprachkrise, die sich in der gewähltesten Sprache präsentiert.7 Was krank und kraftlos sein soll, ist denn auch weniger die Sprache selbst als die in Sprache erreichte Erkenntnisleistung synthetischer Begriffe und die Fähigkeit, aus diesen Abstrakta zu Urteilen fortzuschreiten. Ich zitiere die berühmte, längere Passage im Zusammenhang: Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte “Geist”, “Seele” oder “Körper” nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur
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Vgl. Gregor Streim: Das ‘Leben’ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. S. 140.
48 Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. (B 48f.)
Es geht also, nochmals betont, nicht um Sprache schlechthin, sondern um Begriffsverwendung und Urteilsbildung. Im Begriff aber wird bereits das je Einzelne in seiner Singularität subsumiert unter ein Allgemeines. Alles, was nicht identisch ist am Begriff, wird im Denken des Abstraktums fortgelassen. Die Differenz wird übersehen, um zur Identität des Begriffs zu gelangen. Das eben sind die abstrakten Worte, die hier gemeint sind und die Unbehagen auslösen. Das eben sind die Urteile, die absehen vom komplexen Einzelfall, und die dem Lord Chandos “im Munde wie modrige Pilze” zerfallen. Das Wort, das sich aufschwingen will zum moralischen Urteil, nimmt hingegen im Scheitern des Sprechversuches wieder jene “schillernde Färbung” an, die dem Konkreten, das bezeichnet werden soll, von sich aus eignet (B 49). Das fehlende Distinktionsvermögen macht die “Anfechtung” aus, über die sich Chandos wortreich beklagt, und die sich verbreite wie “fressender Rost”. Selbst im “familiären und hausbackenen Gespräch” erscheinen ihm nun alle Urteile, zuvor mit “schlafwandelnder Sicherheit” abgegeben, “bedenklich”, “so unbeweisbar, so lügenhaft, so löchrig wie nur möglich”. “Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte”. Statt des Zusammenhangs sieht er das Einzelne als Vereinzeltes. Dazu führt ihn der neue Blick der Naturwissenschaften und ihr technisches Instrument, das Mikroskop. Die Hand löst sich so auf in ein Feld mit Furchen und Höhlen. Und ebenso geben die Handlungen der Menschen keine geschlossene Sinnstruktur ab: “Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.” (B 49) Stattdessen werde er zuweilen von irgendeiner Erscheinung seiner “alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß” erfüllt; und er nennt Beispiele, für deren “Albernheit” sich der Verfasser schämt und um Nachsicht bittet. “Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus”; all dies könne “ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen” (B 50). Als dialektisches Gegenstück zu diesem stillen Tableau kommt dem Briefsteller immer wieder ein Bild ins Gedächtnis von Ratten in ihrem Todeskampf, die an dem ausgiebig verstreuten Gift in einem Meierhof elend krepieren: Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühldumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen
49 Mauern brachen; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. (B 51)
Das Verhängnis dieser Tiere erscheint dem Lord ungeheuer, es erinnert ihn an die großen Untergänge der Historie, wie das brennende Karthago. Aber sein Empfinden, so der Briefschreiber, war “viel mehr und viel weniger als Mitleid: ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist” (B 51). Ekel, das wusste schon Kant, lässt sich nicht in eine Betrachtung des Schönen oder Erhabenen integrieren. Schlachtengemälde müssen sich davon freihalten, um die Distanz des Betrachters nicht zu unterminieren. Ansonsten lassen sich künstliche Vorstellung und Natur des Gegenstandes selbst nicht mehr unterscheiden.8 Mit der Verwischung von Objekt und Empfindung, wie sie den Ekel charakterisiert, schwindet zugleich die Gewissheit der Individuation. Der Ekel hat seine Ursache im genauen Hinsehen. In Bildern der Verwesung erkennen wir eine Antizipation der Auflösung, die uns als Subjekte noch ereilen wird. Georges Bataille hat die “Rückkehr zum gärenden Leben” theoretisiert: Ekel ist ein Vorgefühl der Vernichtung, die uns als Individuen bevorsteht. Wir sehen die Zersetzung des anderen und empfinden im Ekel das Ungeschiedene, das in uns selbst arbeitet.9 Insofern sind die Ekelbilder des Lord Chandos genau gewählt. Sie indizieren eher eine Krise des Subjekts als eine der Sprache. Mit dem Urteilsvermögen schwindet dem Lord die Ichgewissheit. Und im Ekelbild fällt beides zusammen. Moder ist sowohl im Sprachbild zerfallender Pilze im Munde, als auch im Keller der sterbenden Ratten das primäre Geruchs- und Geschmacksempfinden. Auch die stillen Bilder, eine “Zusammensetzung von Nichtigkeiten”, durchschauern Chandos “mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen”, dass er “in Worte ausbrechen möchte”, die er doch nicht zur Verfügung hat, um “das Nachgefühl des Wundervollen” festzuhalten (B 52). “In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist”. Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, […] etwas zu sein. […] ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich […]. Es ist mir dann, 8
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. Hg. von Karl Vorländer. Hamburg: Meiner 1974. S. 166, § 48. 9 Georges Bataille: Die Erotik. Übers. aus d. Frz. von Gerd Bergfleth. München: Matthes & Seitz 1994. S. 57, vgl. S. 55–59.
50 als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe […] (B 52).
Gegen diesen Rausch der Allverbundenheit fällt die Normalität umso krasser ab, wird leer und starr. Es scheint ein “aporetische[s] Verhältnis zwischen der Erlebnisfülle der erhöhten Augenblicke […] und dem Versagen der Sprache” zu geben, das Traumatisierungen ebenso umfasst wie die Verklärung dieses Prozesses zur ‘gottlosen Mystik’.10 Die Betriebsamkeit kaschiert den Verlust der Fülle, befindet Chandos, der doch nur darauf wartet, dass wieder irgendeine “unscheinbare Form […] zur Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens” werden wird (B 53), und dass “die stummen Dinge zu [ihm] sprechen” (B 54). Für Foucault ist es der “Dichter […], der unterhalb der […] Unterschiede die verborgenen Verwandtschaften der Dinge und ihre verstreuten Ähnlichkeiten wiederfindet”. Er “hört eine andere und viel tiefere Rede, die an die Zeit erinnert, in der die Worte in der universalen Ähnlichkeit der Dinge glitzerten”. An diese Welt des Ähnlichen reicht heute – außerhalb des Wahnsinns – nur noch eine Literatur im emphatischen Sinne des Wortes: eine moderne Literatur. Die Sprache muss sich selbst und ihrer Funktion gegenüber rätselhaft geworden sein, um Literatur werden zu können (OD 127). Genau das war (dem gedachten) Philipp Chandos noch nicht möglich, wohl aber dreihundert Jahre später, in der Prosa des Hugo von Hofmannsthal. So holt der moderne Text als Fiktion ein, was im Moment des konstruierten historischen Augenblicks gerade vom Ausschluss bedroht ist. Er inszeniert den Bedeutungskonflikt als adäquaten Zeitausdruck.11 10
Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen: Niemeyer 2006. S. 304. In diesem Kontext ausführlich Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn u. a.: Schöningh 1997. 11 Vgl. Schneider: Verheißung der Bilder (Anm. 10). S. 9–19; zu Ein Brief, insb. S. 9, 17. Dagegen wurde in der Sekundärliteratur lange Zeit die Selbstdeutung Hofmannsthals aus Ad me ipsum paraphrasiert, die den Brief “nicht nur als Dokument der Sprachskepsis und Sprachkrise” versteht, “sondern zugleich als Zeugnis ihrer Überwindung”, so wörtlich noch bei Hans-Albrecht Koch: Hugo von Hofmannsthal. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004. S. 81f. Der Zustand der “Praeexistenz” werde in der Wendung zum Sozialen aufgegeben und mithin die Gefahr gebannt, dass “die Poesie zum sterilen Selbstzweck verkümmern” könne. Vgl. ebd. S. 54–56. Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. Rudolf Helmstetter: Entwendet. Hofmannsthals “Chandos-Brief ”, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003). S. 446–480. Hier: S. 447f., 451–455, 479 insb.
51 2. Ich-Verlust und unscharfe Wirklichkeit Man hat den so genannten Chandos-Brief häufig im Kontext der Sprachskepsis und Sprachkrise der Jahrhundertwende gelesen, auch wenn der Text implizit Wege weist aus der Sprachlosigkeit.12 Das Verhältnis von Wort und Wirklichkeit ist dennoch zutiefst problematisch geworden. Damit zugleich wurde der Anspruch des Naturalismus obsolet, einer beobachteten Wirklichkeit in möglichst ungeschminkter, teils drastischer Darstellung nahe zu kommen, sie wiedergeben zu können. Dagegen zerfällt alles Empfundene in die Vielfältigkeit impressionistischer Bilder, verdichtet sich bestenfalls in den ahnungsvollen Tiefen des Symbolismus oder wird transzendiert in den Schönheitskult des Ästhetizismus. Die Moderne, die sich um 1900 ausprägt, bezieht ihr Weltbild, ähnlich der Zeit um 1600, wieder zu großen Teilen aus den Naturwissenschaften.13 Die Quantentheorie, entwickelt von Max Planck, datiert exakt 1900. Planck untersucht die Energie von Strahlung, die – entgegen früheren Annahmen von Stetigkeit – nicht gleichmäßig abgegeben, sondern in kleinen Mengen, den so genannten Quanten, gebündelt wird. Die Quanten selbst stellen keine unveränderliche Größe dar, sondern sind frequenzabhängig, bei Licht also von der Wellenlänge des Lichtes. Albert Einstein, der 1905 die Spezielle Relativitätstheorie vorlegte (und 1915 die Allgemeine), ließ den Konflikt, ob Licht denn nun Wellen- oder Teilchencharakter habe, begründet unentschieden. Ein für die klassische Physik völlig unakzeptabler Gedanke des sowohl als auch setzte sich durch. Auch das Atommodell des Dänen Niels Bohr, das, 1913 präsentiert, auf Planck zurückgreift, zerstörte die Vorstellung von der Stabilität der Materie nachhaltig. Die klassische Physik schien im atomaren Bereich ausgedient zu haben. Spätere Forschungsergebnisse Werner Heisenbergs, etwa die nach ihm benannte Unschärferelation (1927), irritierten jedes festgefügte 12
Dazu – mit Rekursen auf Novalis, Hamann und Nietzsche – Bettina Rutsch: Leiblichkeit der Sprache. Sprachlichkeit des Leibes. Wort, Gebärde, Tanz bei Hugo von Hofmannsthal. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1998. Hier: S. 60–89 zu Ein Brief, insb. 63f., 86f. Wellbery meint sogar, die so genannte Sprachkrise spiele “eine relativ nebensächliche Rolle im Chandos-Brief ”. David E. Wellbery: Die Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination. Anmerkungen zum Chandos-Brief und zur frühen Poetik Hofmannsthals. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 11 (Anm. 1). S. 281–310. Hier: S. 281f. Erneut in Hugo von Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung. Hg. von Elsbeth Dangel-Pelloquin. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. S. 186–212. Hier: S. 186f. 13 Das ist ein Topos der Literaturgeschichtsschreibung. Vgl., auch zum Folgenden: Ingo Leiß und Hermann Stadler: Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 8. Wege in die Moderne. 1890 – 1918 [1997]. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. Hier: S. 23–27.
52 Weltbild. Wenn im mikrophysikalischen Bereich ein Beobachter die Beobachtung verändert, also zu Abweichungen im Messergebnis führt, ist die herkömmliche Differenz von Objekt und Subjekt, Gegenstand der Untersuchung und Forscher nicht mehr strikt zu benennen. Für die Bewegungen eines Elektrons können deshalb nur noch Wahrscheinlichkeitserwartungen formuliert werden, keine exakten Berechnungen.14 Die Biologie erschüttert die christliche Weltanschauung. Ernst Haeckel, der Nachfolger Darwins, macht die Evolutionstheorie mit seinem Buch Die Welträthsel (1899) populär und bestreitet jeden Dualismus von Seele und Materie, von Geist und Natur. Der Mensch verliert seine bevorzugte Position, die ihm Gottes Plan einmal einräumen konnte. Er ist nur noch Resultat einer Verkettung von Zufall und Notwendigkeit,15 von Mutation und Selektion. Die einstige Krone der Schöpfung aber wird selbst noch im Inneren angegriffen. Im Hauptwerk Ernst Machs, Beiträge zur Analyse der Empfindungen von 1896, findet sich der berühmte Satz: “Das Ich ist unrettbar”, den Hermann Bahr, der wirkungsmächtige Kritiker, sich als Schlagwort zueigen machte. Das Selbst erscheint bei Mach reduziert auf die sinnlichen Wahrnehmungen und ihre Verbindungen zu Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen und Gedanken, die je anders strukturiert sein können. Also ist das Ich keine feste Größe, sondern seinerseits fluktuierend wie die Empfindungen, denen es ausgesetzt ist. Sogar die Welt besteht nur aus den Sinnesdaten, die ein Ich von ihr empfängt. Das “Junge Wien” nahm Machs Empfindungslehre dankbar auf. Neben Sigmund Freund war Ernst Mach der einflussreichste Wissenschaftler des Fin de siècle. Hugo von Hofmannsthal besuchte seine Vorlesungen, Robert Musil verstand und betitelte seine Dissertation als Beiträge zur Beurteilung der Lehren Machs.16
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Vgl. dazu Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925 – 1970). Berlin, New York: de Gruyter 1995. Hier: S. 25–63 insb. 15 So der Titel des Medizin-Nobelpreisträgers Jacques Mond: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie [1970]. Übers. aus d. Frz. von Friedrich Giese. 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979. 16 Ausführlich zu Hermann Bahr und “Jung Wien” Peter Sprengel und Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien u. a.: Böhlau 1998. S. 43–114. Siehe auch Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003. S. 309–317 sowie Leiß und Stadler: Wege in die Moderne (Anm. 13). S. 27–37. Den Bezug Bahrs zur Reitergeschichte erläutert Otfried Hoppe: Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte. In: Deutsche Novellen von Goethe bis Walser. Interpretationen für den Deutschunterricht. Bd. 2. Hg. von Jakob Lehmann. Königstein/Ts.: Scriptor 1980. S. 49–76. Hier: S. 59–63 insb.
53 Freud selbst veröffentlicht im Jahr 1900 Die Traumdeutung. Von ihm stammt als weiterer Merksatz zur Subjektsdissoziation, dass “das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus”.17 Aufbauend auf dem Schema von unbewusstem Es, bewusstem Ich und der Kontrollfunktion des gesellschaftlichen Über-Ich wird die Mittelposition von zwei Seiten bedroht. Insbesondere aber die Triebstruktur ist dem Ich nicht beherrschbar. Seine Träume geben, durch die Mechanismen von Verdichtung und Verschiebung zunächst verschleiert, Aufschluss über geheime Regungen, die im Traum verfälscht oder zensiert werden. Die Analyse des Traumes ist dann der Königsweg zurück zum Unbewussten, das sich selbst nicht ungeschützt artikulieren kann: Der latente Traumgedanke wird im manifesten Trauminhalt bloßgelegt, die Chiffrierung entziffert. Das Ich selbst aber verfügt nicht über den Klartext seiner Triebansprüche, es bleibt sich fremd in seiner Triebnatur.18 Letztlich bestätigt die Sprachskepsis der Jahrhundertwende die Relativierungen des Ichs, die von Physik, Biologie, Psychologie und Psychoanalyse ausgingen oder direkt formuliert wurden. Die Lebensphilosophie Nietzsches sah bereits alles im Flusse, wie bei Heraklit;19 und weil alles wird, ist eine Wahrheit – im wörtlichen Sinne – nicht ‘feststellbar’. Fritz Mauthner legt 1901 sein Hauptwerk Beiträge zu einer Kritik der Sprache vor, das die Untrennbarkeit von Sprache und Denken konstatiert. Was wir erkennen können, erkennen wir in und durch die Sprache. Weltkenntnis, “Wahrheit” scheint ihm deshalb unmöglich. Sie scheitert am “Unvermögen der Sprache”.20 Ferdinand de Saussure weist auf die Arbitrarität von Sprache hin. Sie ist Konvention, eine willkürliche Vereinbarung von Sprachbenutzern, mit bestimmten Lautmustern (und Zeichenfolgen) bestimmte Vorstellungsinhalte zu verbinden.21 Dass diese Vorstellungsbilder 17
Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917]. In ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hg. von Anna Freud u. a. 3. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 1966. S. 3–12. Hier: S. 11. Originale Hervorhebung gesperrt. 18 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900, Zusätze bis 1935]. Über den Traum [1901]. In: Ebd. Bde. 2 und 3. 4. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer 1968. 19 Nach Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Gr. und dt. Hg. von Walther Kranz. 6. veränd. Aufl. Berlin: Weidmann 1951. 22 B 91, vgl. 22 B 12, 22 B 49a. 20 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1. Sprache und Psychologie. Stuttgart: Cotta 1901. S. 134f. Siehe auch Schneider: Verheißung der Bilder (Anm. 10). S. 217. Mauthner reagiert sofort auf die Lektüre des Briefes. Vgl. die Varianten und Erläuterungen in Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 31 (Anm. 2). S. 286, mit der Replik Hofmannsthals. 21 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [1906 – 1911/1916]. Hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Unter Mitw. von Albert Riedlinger übers. aus d. Frz. von Herman Lommel. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 1967. Hier: S. 79f., 132–146. Vgl. dazu auch Assmann: Hieroglyphen der Moderne (Anm. 1). S. 271–275.
54 eine Wirklichkeit meinen, dass diese gar in und durch Sprache zu erkennen sei, interessierte den Linguisten aus Genf nicht im Mindesten.
3. Reitergeschichte – Sequenzen und Plot Vier Jahre vor der angeblichen Sprachkrise des Chandos-Briefes entsteht die Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals,22 ein Jahr später, am 24. Dezember 1899 in der Neuen Freien Presse publiziert und danach in dem Sammelband Das Märchen der 672. Nacht und andere Erzählungen erschienen.23 Wie sich der Brief als Illustration und Inszenierung der Sprachkrise deuten ließ, so hat man versucht, in der Reitergeschichte den Ich-Zerfall zum beherrschenden Gegenstand der Interpretation zu machen. Hofmannsthal selbst hat die Erzählung als eine Schreibübung abtun wollen.24 Tatsächlich aber gehört die kurze Narration zum faszinierendsten, was die deutsche Literatur zu bieten hat.25 Die Erzählung erzeugt Sinngehalte und unterläuft sie zugleich. Sie häuft scheinbar Bedeutendes an und dekonstruiert wieder die Erwartungshaltungen, die sie selbst zuvor generiert hat. Gerade deshalb, meine ich, ist die Reitergeschichte so häufig zum Gegenstand konkurrierender und so vieler Interpretationen geworden. Darin ähnelt ihr auch das Märchen der 672. Nacht. Wie generell im Ästhetizismus finden sich paradoxe Wendungen und Oxymora in ungewöhnlicher Häufung.26 Sie intendieren die Aufhebung des
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Marianne Burkhard bezieht Chandos-Brief und Reitergeschichte antagonistisch aufeinander. Während Form und Formlosigkeit im ersten Fall als versöhnliche Einheit gefasst würden, triumphiere im zweiten die starre Form über das ‘Leben’. Vgl. Hofmannsthals “Reitergeschichte”, ein Gegenstück zum Chandosbrief. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 4 (1975). S. 27–53. Hier: S. 27, 35, 45f., 53 insb. 23 Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Heinz Otto Burger u. a. Bd. 28. Erzählungen 1. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt/M.: Fischer 1975. S. 37–48. Im Folgenden als Sigle R, anschließend Seitenzahl, fortlaufend im Text. 24 Brief an Anton Kippenberg [1919]. In: Ebd. S. 218. Vgl. Rudolf Hirsch: Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt/M.: Fischer 1995. S. 22. 25 Vgl. Rüdiger Steinlein: Hugo von Hofmannsthals “Reitergeschichte”. Versuch einer struktural-psychoanalytischen Lektüre. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110 (1991). S. 208–230. Hier: S. 209. Erneut in: Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung (Anm. 12). S. 17–40. Hier: S. 17. Siehe auch Ritchie Robertson: The Dual Structure of Hofmannsthal’s “Reitergeschichte”. In: Forum for Modern Language Studies 14 (1978). S. 316–331. Hier: S. 316. 26 Zur Verwendung von Paradoxa und Oxymora in den Schriften des jungen Hofmannsthal vgl. Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1965. S. 60f.
55 Satzes der Identität, um aber auf einer zweiten Sinnebene Sinn zu generieren;27 und sei dieser Sinn nur die Sinnverweigerung. Gesetzt wird die Selbstidentität nicht als A ⫽ A,28 sondern als A ⫽ A/B. Das Selbst verweist auf sich und ein ihm Fremdes zugleich. Es ist und ist nicht; ja es behauptet sich gerade nur in der Ambivalenz des Einen und Anderen. Paradoxa und Oxymora intendieren deshalb, wie die ironische Rede, eine “Versprachlichung der Welt in Form einer gleichzeitigen Gegenrede”.29 Sie durchkreuzen die Idee der Identität, ohne das Zeitalter des Ähnlichen restituieren zu können. Zwei oppositionelle Redeweisen, gegenläufige denotative Codes, tragen die Atmosphäre der gesamten Geschichte: Schönes und Gepflegtes steht neben und gegen Hässliches, Schmutziges, Niederes, Ekelerregendes; das Militärische neben und gegen Ziviles,30 ja sogar gegen die Privatsphäre einzelner Personen. Auffällig sind ebenfalls die Versatzstücke psychoanalytischer Symbolik in dieser Geschichte; mehr oder minder unverstellter Benennungen des Unbewussten in der Dichotomie von Mangel und Begehren. Natürlich ist es ein Gemeinplatz, auf die Beeinflussung der Schriftsteller des Fin de siècle – gerade in Wien – durch die neuaufkommende Disziplin der Psychoanalyse hinzuweisen.31 Da ist insbesondere die idealtypische Konstellation eines weiblich konnotierten, aber 27
Lotmann definiert die Literatur allgemein als ein ‘sekundäres semiotisches System’; das heißt Literatur (oder Literarizität) kann als eigenständiger Code begriffen werden, der in der Umgangssprache sich ausschließende Wendungen zulässt. Vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 1977. S. 65–85. 28 Die Gleichung ist selbst nicht identisch, sondern muss als Satz gelesen werden; A ist A. Uwe Japp: Theorie der Ironie. Frankfurt/M.: Klostermann 1983. S. 27. Japp bezieht sich auf Martin Heidegger: Identität und Differenz. 4. Aufl. Pfullingen: Neske 1957. S. 10. 29 Japp: Theorie der Ironie (Anm. 28). S. 18, 327. Fiedler sieht “Ironie als das zentrale Strukturprinzip” der Reitergeschichte an. Vgl. Theodore Fiedler: Hofmannsthals “Reitergeschichte” und ihre Leser. Zur Politik der Ironie. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 26 (1976). S. 140–163. Hier: S. 141; vgl. S. 147, 157. 30 Csúri beschreibt die wechselseitige Durchdringung der grundlegenden Oppositionselemente Soldat/Zivilist. Karoly Csúri: Die frühen Erzählungen Hugo von Hofmannsthals. Eine generativ-poetische Untersuchung. Kronberg/Ts.: Scriptor 1978. Hier: S. 47–65. 31 Erst ab 1903 lässt sich eine genauere Lektüre psychoanalytischer Werke bei Hofmannsthal nachweisen. Dennoch grundiert sie auch das Frühwerk, quasi “nicht begrifflich[..]”, wie Bernd Urban formuliert: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Quellenkundliche Untersuchungen. Frankfurt/M.: Lang 1978. S. 8. Vgl. zum Gegenstand auch: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Bd. 1. Einleitung und Wiener Moderne. Hg. von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann. Marburg: Literaturwissenschaft.de 2006. S. 13, 36, 105–128 insb. zu Hofmannsthal.
56 abgeschlossenen Raumes, der von einer Sohnesfigur begehrt wird – im Märchen wie in der Reitergeschichte gleichermaßen. Und schließlich prägt letztere ihr auffälliger, abrupter Übergang von Zeitraffungen zu Zeitdehnungen, das Changieren zwischen auktorialem Erzählerbericht einerseits und personaler Erzählsituation andererseits. Fiktive Realität und fiktive Phantasmagorie, heterodiegetische und homodiegetische Anteile, Nullfokalisierung und interne Fokalisierung treten gleichberechtigt und unvermittelt nebeneinander.32 Das Geschehen prägt keine Kausalität aus. Der Satz vom Grunde gilt hier nicht, nicht einmal für die Mechanismen des Unbewussten. Was geschieht? 1848 kämpfen Truppen der k. u. k. Monarchie Österreichs und Ungarns gegen italienische Nationalisten in der Gegend um Mailand. Vor 6 Uhr morgens verlässt das Streifkommando unter Führung des Rittmeisters Baron Rofrano mit einhundertsieben Reitern das Kasino San Alessandro. Schon die Landschaft, die durchmessen wird, birgt die Ambivalenz des Schönen wie Bedrohlichen in sich. Weiblich konnotiert, als pars pro toto der Erdmutter Gaia, verlockt sie und erschrickt zugleich. Ihr Glanz, ihre geheimnisvolle Stille verführt, aber zugleich birgt sie Gefahr, wenn etwa in den Maisfeldern “Waffen” aufblitzen. So bringt die Schwadron, “überschwirrt” von “fast miauenden Kugeln” unterwegs “Leute der Legion Manaras” auf und nimmt sie nach kurzem Gefecht gefangen, ja treibt sie “wie die Wachteln vor sich her”, als ginge man zur Jagd (R 39). Der Wachtmeister Anton Lerch, hier erstmals erwähnt, nimmt mit einem kleinen Trupp in einer “schönen Villa” “achtzehn Studenten der Pisaner Legion gefangen, wohlerzogene und hübsche junge Leute mit weißen Händen und halblangem Haar”. Dann wird ein verdächtiger Bergamask gestellt, der Detailpläne mit sich führt, die “Kooperation mit der piemontesischen Armee betreffend”. Vieh fällt ihnen in die Hände, eine Haubitze wird erbeutet und wegen des Rücktransports verkleinert sich die Eskadron. Die Schwadron beklagt einen Toten und Verwundete; ansonsten aber wird der Vormittag als eine Ansammlung von “Glücksfälle[n]” verbucht (R 39f.).
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Eine strikte Aufteilung der Erzählsituation nach ihren auktorialen und personalen Anteilen hat nur geringen Erklärungswert für die Reitergeschichte. Die Bedeutung dieser Trennung tritt mit der Auflösung des auktorialen Erzählers gegen Ende des 19. Jh. ohnedies zurück; sie wird abgelöst von einem “auktorial-personalen Kontinuum”, wie Stanzel vermerkt. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 3. durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. S. 242f. Die letztgenannten Begriffe oben bei Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. aus d. Frz. von Andreas Knop. 2. Aufl. München: Fink 1998. S. 134–138, 174–181. Siehe dazu auch Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl. München: Beck 2007. S. 82, 92, 94f.
57 Das alles ereignet sich auf nur zwei Seiten Text. Sechs Stunden erzählter Zeit also werden, mal mehr, mal weniger, insgesamt aber stark gerafft präsentiert. Dennoch findet die Novelle Zeit für die zitierten hübschen, jungen Studenten, deren Gefangennahme das Glück des Wachtmeisters Lerch ausmacht. Weniger gerafft berichtet die Erzählung dann anschließend vom Siegeszug durch Mailand: “achtundsiebzig Kürasse, achtundsiebzig aufgestemmte nackte Klingen” (R 40). Die phallische Konnotation scheint gewollt; die Stadt repräsentiert dann das eroberte Weibliche, das zwar in Besitz genommen wird, aber zugleich fremd und bedrohlich bleibt wie die Landschaft zuvor. Die Stadt liegt “schön[…]” und “wehrlos” da; so kann es sich die Schwadron nicht “versagen”, unter dem Geläute der Mittagsglocken “einzureiten”. Nur Wahrnehmungsfetzen lassen sich bei diesem Durchritt einsammeln, “fluchende und erbleichende Gestalten hinter Haustoren verschwindend” einerseits, “entblößte[…] Arme schöner Unbekannter” andererseits; Erwartungsangst vor verdeckten Schüssen hier, Reichtum und ausgesuchte Schönheit der Stadt dort. Die erste Sequenz endet mit der tautologischen Bekräftigung: “so ritt die schöne Schwadron durch Mailand” (R 40f.). Die zweite Sequenz beginnt außerhalb der Stadt, nicht “weit vom letztgenannten Stadttor”, als Anton Lerch ein “ihm bekanntes weibliches Gesicht zu sehen” glaubt. Hier verzögert sich das Erzähltempo merklich. Erstmals führt uns die Erzählung in eine Innenperspektive, sehen und erleben wir mit dem Wachtmeister. War zuvor alles von außen, von einem nicht genannten Chronisten berichtet worden, der vieles auktorial überblickt, so beschränkt sich die Erzählhaltung jetzt genau auf den Horizont des Protagonisten, wird also personal. Der Personenkreis verengt sich zugleich von einer Hundertschaft auf nur zwei, drei weitere Akteure. Mit Lerch tut sich für uns eine Tür auf, sehen wir die “beinahe noch junge” Frauengestalt in ihrem “etwas zerstörten Morgenanzug”, das Interieur des kleinbürgerlichen Hauses und jenen rätselhaften beleibten, “vollständig rasierte[n]” älteren Mann, der sich im selben Augenblick zurückzieht.33 Wie zu dem Vorgesetzten Baron Rofrano deutet sich hier, durch den Altersunterschied, eine ödipale Konstellation an, die allerdings unausgeführt bleibt.34 Lerch erkennt jene Frau wieder, mit der er “vor neun oder zehn Jahren in Wien in Gesellschaft eines anderen, ihres damaligen eigentlichen Liebhabers, einige Abende und halbe Nächte verbracht hatte” (R 41). Zur Zeitdehnung in der Schilderung kommt also auch der erste Rückgriff 33
Vgl. zur Bedeutung des Augenblicks Gerhard Träbing: Hugo von Hofmannsthals “Reitergeschichte”. Beitrag zu einer Phänomenologie der deutschen Augenblicksgeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43 (1969). S. 707–725. Hier: S. 710f., vgl. S. 716, 718f. 34 Dazu ausführlich Steinlein: Versuch einer struktural-psychoanalytischen Lektüre (Anm. 25). Insb. S. 216–219.
58 auf Vergangenes hinzu, eine Überblendung und ein Vergleich von unmittelbar sich Zeigendem und dem einstmals Erlebten: eine Analepse. Als Lerch seine Hand auf den Nacken der Frau legt, erfüllt ihn “das Bewußtsein der heute bestandenen Gefechte und anderer Glücksfälle von oben bis unten”: Nun haben wir also eine Rückwendung, die sich im Rahmen des zuvor Berichteten, also dieses einen Tages, bewegt. Der Wachtmeister nennt ihren Namen, “Vuic” (ein slawisches Wort, das Wölfin, aber auch Hure bedeutet),35 greift dann voraus auf seine bevorstehende Einquartierung und deutet zugleich seinen Besitzanspruch für Haus und Frau, wie zu vermuten ist, an. Dann kehrt der zuvor Ausgescherte wieder in die Reihe seiner Schwadron zurück. “Das gesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend” (R 42). Etwas seitwärts reitend träumt sich Lerch nun in das zuvor gesehene Zimmer hinein, “eine Atmosphäre von Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis”, erinnert sich des beleibten älteren Herren, des großen Bettes und der weißen Haut der Vuic; und in vielfältigen Spiegelungen wird der Rasierte einerseits unterworfen, andererseits als bedrohlich erlebt. Macht- und Ohnmachtfantasien lösen einander ab. Der Beleibte wächst so zu einer “schwammigen Riesengestalt”, die alles und nichts bedeuten kann. In diesen Nachmittagsstunden, Sequenz drei, geschieht militärisch nichts und so finden die Phantasmagorien freien Lauf, werden freilich auch hier nur gerafft wiedergegeben, stichwortartig angerissen. Alles bleibt, wie auch im Verhältnis Lerch/Vuic im Bereich der Andeutungen (R 42). Gegen Abend ändert sich die Szenerie wieder grundlegend. In Sequenz vier ist der Wachtmeister erneut versucht auszuscheren. Ein “von der Landstraße abliegendes Dorf, mit halbverfallenem Glockenturm in einer dunkelnden Mulde gelagert” schien ihm “auf verlockende Weise verdächtig”. Er nimmt die Gemeinen Holl und Scarmolin mit sich und biegt seitlich ab. Unschwer erkennt man die Transformation des Mailanddurchrittes (seinerseits Replik der Landschaftsdurchquerung) mit veränderten Konnotationen. Hier hofft Lerch, sich ein “ganz außerordentliches Prämium zu verdienen”, “so aufgeregt war seine Einbildung”. Aber das Dorf bleibt “totenstill; kein Kind, kein Vogel, kein Lufthauch”. Und ganz anders als Mailand bietet das Dorf nur Verfall und Hässlichkeit: “hie und da eine faule, halbnackte Gestalt auf einer Bettstatt”
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Siehe zur Namenherleitung und zur erotischen Grundierung der Erzählung Wolfram Mauser: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psychosoziologische Interpretation. München: Fink 1977. S. 101–117, 189–191, 103–106, insb. 104. Ausführlich zum realgeschichtlichen und symbolischen Gehalt poetischer Namengebung in der Novelle Colin Fewster: The Onomastics of Order in Hofmannsthal’s “Reitergeschichte”. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 38 (2002). Heft 1. S. 32–45.
59 lungernd (R 43). Lerch kann das Dorf nicht im Galopp passieren, da auf der Straße glitschiges Fett ausgegossen ist. So sieht er verlangsamt – und wir mit ihm – auch jene nur halb angekleidete Frauensperson mit ihrem schmutzigen, abgerissenen Rock. Hier verdoppelt sich die Begegnung mit der Vuic, allerdings ins Abstoßende getrieben. Die Zeit dehnt sich immer beängstigender, je ekelerregender die Bilder werden. Mit Lerch sehen wir “zwei ineinander verbissene blutende Ratten”, von denen eine, wie im Brief, “jämmerlich” schreit (R 43f.). Solcherart abgelenkt, verschwindet die Frau im Hausflur, ohne von Lerch bemerkt zu werden. Dann sieht er “eine weiße unreine Hündin mit hängenden Zitzen”, die Knochen verscharrt; weitere Hunde kommen hinzu. Bei einem lichtgelben Windspiel mit aufgeschwollenem Leib registriert der Wachtmeister einen “entsetzliche[n] Ausdruck von Schmerz und Beklemmung”. Gierige Hässlichkeit zeichnet die Tiere, deren Anblick Lerch, wie benommen, lange auf sich wirken lässt. Wieder nimmt die Beschreibung mehr Zeit in Anspruch als der reine Vorgang, wie er sich abspielen könnte. Selbst das Pferd scheint von der Szenerie affiziert und kann keinen Schritt mehr tun. In der Verlangsamung und Dehnung misslingt ein Schuss auf die Hunde, dann gibt unser Held seinem Pferd die Sporen und dröhnt “über das Steinpflaster hin”. Schon aber versperrt eine Kuh, die zur Schlachtbank gezerrt werden soll, neuerlich seinen Weg (R 44). Als Lerch endlich das “widerwärtige[..] Dorf ” verlassen hat, ist es ihm, als hätte er dort eine “unmeßbare Zeit” verbracht. Er besinnt sich der Szenerie – wieder eine Analepse innerhalb der chronologisch erzählten Zeit – vor allem weil sein Pferd immer noch gehemmt scheint und eine “unbeschreibliche Schwere, ein solches Nichtvorwärtskommen” in seinem Gang vermittelt. Wieder bekommen wir Wahrnehmungsgehalte nur über die Person Lerchs vermittelt, als er jenseits einer Steinbrücke “einen Reiter des eigenen Regiments auf sich zukommen” sieht, “und zwar einen Wachtmeister, und zwar auf einem Braunen mit weißgestiefelten Vorderbeinen”. Durch die Wiederholung des spezifizierenden “und zwar” werden wir in die Erwartungsposition Lerchs versetzt, ahnen bereits, was dieser befürchtet und sehen uns bestätigt. Auf der Brücke angekommen wie sein Gegenüber, erkennt der Wachtmeister das Gesicht des Anderen und darin sich selbst. Der Moment allerdings ist absichtsvoll hinausgezögert. Erschreckt von seinem Spiegelbild, reißt er, “wie sinnlos”, sein Pferd zurück – und “plötzlich” ist der Gegenüber verschwunden, die Gemeinen Holl und Scarmolin aber sind wieder da, während man von Ferne das Signal zur Attacke vernehmen kann (R 45). Naturgemäß ist gerade diese Begegnung Gegenstand heftiger Spekulationen geworden. Man wird hier aber weniger eine Psychopathologie der Ich-Spaltung anzunehmen haben. Vielmehr erreicht die Täuschung des Lerch, sich abseits der Truppe (wie bei der Gefangennahme der schönen Studenten) auszeichnen zu
60 können, ihren Höhepunkt.36 Schon in Mailand fließen ihm der Glanz der Stadt und die Beschränkung des Interieurs im Hause der Viuc ineinander, ohne dass er recht die Differenz bemerkte. Im Dorf schließlich ist die Idee, sich dieses Prämium zu erwerben, bereits ad absurdum geführt und wird dennoch, bei jeder Gelegenheit, weiterverfolgt. Weil sich ihm aber zunächst kein Gegner anbietet, fantasiert sich Lerch selbst an dessen Stelle; Anspruch und Erfüllung laufen so rekursiv ineinander. Der Wunsch bestätigt sich – als Illusion. Bis dann das Gemetzel tatsächlich losbricht. Mit dem Signal wechselt die Szene zur Hutweide und unvermittelt in die neuerliche Schlacht. Wir zählen inzwischen Sequenz fünf. Im Kampfgetümmel wird wieder überwiegend stark gerafft erzählt mit zum Teil verwegenen hypotaktischen Satzkonstruktionen (R 45),37 wenn auch einzelne Bilder prägnant herausragen, wie jenes des Rittmeisters (also Baron Rofranos), der “dicht neben” Lerch unvermittelt auftaucht “mit weit aufgerissenen Augen und grimmig entblößten Zähnen”. Hier völlig unmotiviert eingesetzt, erweist es sich später als Vorausdeutung einer so noch nicht denkbaren Konfrontation (R 46). Zunächst aber erleben wir eine neuerliche Substitution, als Anton Lerch, “auf einmal allein”, wie es unumwunden heißt, einen feindlichen Offizier am Rand eines kleinen Baches ausmacht. Lerch, selbst von diesem “junge[n], sehr bleiche[n] Gesicht” durch eine Pistole bedroht, stößt ihm seinen Säbel “in den Mund”, “in dessen kleiner Spitze die Wucht eines galoppierenden Pferdes zusammengedrängt” ist. Den Eisenschimmel führt er als Beute, wie eine persönliche Auszeichnung, mit sich. Der “schwere[…] Dunst” der untergehenden Sonne wirft nun “eine ungeheure Röte über die Hutweide” (R 46). Wieder transformiert der Text eine vorige Szene. Der frühe Morgen, mit seiner “glänzenden Landschaft” (R 39), wird im Sonnenuntergang negiert. Der
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Dazu Gero von Wilpert: Anton Lerch – geduppelt? Zum sogenannten “Doppelgänger” in Hofmannsthals “Reitergeschichte”. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 29 (1993). S. 125–137. Siehe auch Hans Richard Brittnacher: Der Doppelgänger als Rivale. Zum Unheimlichen in Hofmannsthals “Reitergeschichte”. In: Der Deutschunterricht (2006). Heft 3. S. 42–50, 47 insb. Schmidt deutet die Erscheinung des Doppelgängers noch als einen “Teil des völlig stagnierten Innenlebens Lerchs”, der “ins extrem Subjektive degeneriert” und “autistisch geworden” sei. Hugo Schmidt: Zum Symbolgehalt der “Reitergeschichte” Hofmannsthals. In: Views and Reviews of Modern German Literature. Festschrift for Adolf D. Klarmann. Hg. von Karl S. Weimar. München: Delp 1974. S. 70–83. Hier: S. 80. Als Weigerung der Selbstwerdung sieht die Brückenszene auch Ulrich Heimrath: Hugo von Hofmannsthals “Reitergeschichte”. Eine Interpretation. In: Wirkendes Wort 21 (1971). S. 313–318. Hier: S. 316. 37 Siehe Robertson: The Dual Structure (Anm. 25). S. 320f.; vgl. auch Burkhard: “Reitergeschichte”, ein Gegenstück zum Chandosbrief (Anm. 22). S. 37.
61 Tag schließt sich; der unbefangene Anfang läuft auf sein bedrohlich und düster ausgemaltes Ende zu: “Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und den lachenden Gesichtern” (R 46): Die Todesdrohung des Chthonischen – mit der Farbensymbolik des Roten – greift auf das Weiß der Unschuld über. Passend zu dieser Farbenlehre – auch die Bäume sind rotgefleckt – streifen die wiederum lachenden Soldaten “die Blutrinnen ihrer Säbel” an den Blättern kleiner Feigenbäume ab. – Die Feige ist in der Natursymbolik ein privilegierter Baum. Er bezeichnet im antiken Kreta einen Kultort der Großen Göttin und Vegetationsmutter Eileithyia oder den symbolischen “Schoß der Erde”.38 Ähnlich wie im phallisch konnotierten Ritt durch Mailand richtet sich die männliche Eroberungsgeste gegen das Weibliche und ihre Symbole. So macht sich auch eine “nicht ganz gewöhnliche Stimmung” unter den Soldaten breit, “durch die Erregung von vier an einem Tage glücklich bestandenen Gefechten erklärlich” (R 47). Auch die Pferde sind unruhig. Einzig der Rittmeister scheint nicht affiziert. Im Gegenteil: Die Meldung des Lerch hört er nur “zerstreut” (R 46) – ordnet dann aber an, die eroberte Haubitze in einem Sumpf zu versenken und die erbeuteten Handpferde – auch den Eisenschimmel des Wachtmeisters – auszulassen. Wir sind inzwischen in der sechsten und letzten Sequenz angelangt, welche die dritte (mit der kurzen Spiegelbildszene wäre es die vierte) Dehnungsphase enthält: denn das Kommando wird von Lerch nicht befolgt. Baron Rofrano muss also seinen Befehl wiederholen, zieht dazu seine Pistole und zählt gleich darauf “eins” und “zwei”. Nachdem er das “zwei” gezählt hatte, heftete er seinen verschleierten Blick auf den Wachtmeister, der regungslos vor ihm im Sattel saß und ihm starr ins Gesicht sah. Während Anton Lerchs starr aushaltender Blick, in dem nur dann und wann etwas Gedrücktes, Hündisches aufflackerte und wieder verschwand, eine gewisse Art devoten, aus vieljährigem Dienstverhältnisse hervorgegangenen Zutrauens ausdrücken mochte, war sein Bewußtsein von der ungeheuren Gespanntheit dieses Augenblicks fast gar nicht erfüllt, sondern von vielfältigen Bildern einer fremdartigen Behaglichkeit ganz überschwemmt, und aus einer ihm selbst völlig unbekannten Tiefe seines Innern stieg ein bestialischer Zorn gegen den Menschen da vor ihm auf, der ihm das Pferd wegnehmen wollte, ein so entsetzlicher Zorn über das ganze Gesicht, die Stimme, die Haltung und das ganze Dasein dieses Menschen, wie er nur durch jahrelanges enges Zusammenleben auf geheimnisvolle Weise entstehen kann. (R 47f.)
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Ausführlicher Heinz-Peter Preußer: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2000. Hier: S. 148 insb. Bachofens Mutterrecht, aus dem vergleichbare Symboldeutungen stammen, war für Hofmannsthal eines der “entscheidenden Bücher”. Dazu Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von W. V. [1967]. Reinbek: Rowohlt 1985. S. 63.
62 Wie sonst nur in der Begegnung von Lerch und Vuic haben wir in dieser Sequenz direkte Personenrede. Und hier wie dort geht es um Machtansprüche. Während Lerch sich in eine Machtposition fantasiert, die fernab eines Dienstverhältnisses liegt – eine (ihm?) angenehme Gewalttätigkeit in einer Atmosphäre von Behaglichkeit –, wird er hier, durch das ausgesprochene Kommando, in eben jenes Dienstverhältnis zurückbefohlen, das ihm nur Subordination gestattet. Gegen dieses ödipale Zurückverweisen auf die Sohnesrolle richtet sich sein ganzer Zorn. Eine sozialgeschichtliche Interpretation kann hier die Klassenstruktur spätfeudaler Hierarchien ausmachen, die letztlich im Todesschuss wieder restauriert werden.39 In jedem Fall erreicht der Baron durch das Exempel sein Ziel, bändigt die allzu erregte Truppe und kann sie abermals dem Feind zuführen, auch wenn der die neuerliche Attacke nicht annimmt (R 48). Der letzte Zirkelschluss also bleibt dem strikten Gebäude oppositioneller Relationen verwehrt. Die Novelle endet scheinbar offen, mit einer ‘Dissemination’ des Sinns, der doch aufgebaut werden sollte.
4. Semantische Rekonstruktion – Sinnverlust und Polysemie Die Reitergeschichte potenziert einerseits Sinn. Dafür steht schon die Vielzahl an Interpretationen zu diesem Text.40 Dennoch lässt sich dieser Sinn andererseits nicht fixieren.41 Er bleibt umstritten. Das macht den offenen Werkcharakter der Novelle aus. Offensichtlich funktioniert die Erzählung nach binär oppositionellen Strukturen. Und doch wird die mögliche Bedeutung immer wieder untergraben, dekonstruiert sich der Text fortwährend selbst.42 Wie lässt sich dieser Wechsel beschreiben? Im Folgenden will ich versuchen, die Ebene aufzufinden, an der dieser Konflikt ausgetragen wird. Es sind spezifische, nicht sonderlich komplexe Muster, die eine Sinnsuche generieren, ohne 39
Volker O. Dürr: Der Tod des Wachtmeisters Anton Lerch und die Revolution von 1848: Zu Hofmannsthals “Reitergeschichte”. In: The German Quarterly 45 (1972). S. 33–46. Hier: S. 33, 36f., 39f. insb. 40 Immer wieder gibt es neue Stände der Forschung zu vermelden. So bei Steinlein: Versuch einer struktural-psychoanalytischen Lektüre (Anm. 25) und zuvor bei Gerhard Träbing: Hofmannsthals “Reitergeschichte”. Interpretationen und Observationen 1949 – 1979. In: Sprache im technischen Zeitalter 21 (1981). S. 221–236, beide passim. Gerade in den letzten Jahren sind einige weitere hinzugekommen wie 2006 Brittnacher: Doppelgänger als Rivale (Anm. 36). 41 Siehe Robertson: The Dual Structure (Anm. 25). S. 329. 42 Der Begriff der Dekonstruktion meint in Derridas Grammatologie [1967] eine analytische Tätigkeit. Literaturwissenschaftler wenden den Begriff in der Regel auf den vorgefundenen Text selbst an und spüren die schon angelegten dekonstruktiven Mechanismen auf. In diesem (nicht unproblematischen) Sinn wird hier von einer ‘Dekonstruktion im Text’ gesprochen. Auch der oben genannte Begriff ‘Dissemination’ geht auf Jacques Derridas gleichnamigen Buchtitel zurück [1972].
63 den Leser je zu einem zufrieden stellenden Ergebnis kommen zu lassen. Das Ziel wäre also, die Ausgangspunkte zu markieren, an denen das Semantische allem Anschein nach generiert werden soll und die doch nur, sehr gewollt, in die Irre führen. Hofmannsthal inszeniert Sprachskepsis, hatte ich behauptet, statt von ihr affiziert zu sein. Wir sollten die Mittel erkennen, die zu dieser Inszenierung notwendig sind. Wieso folgen wir den Zumutungen der offensichtlichen Inkohärenz des Erzählten? Warum kapitulieren die Rezipienten der Reitergeschichte nicht, sondern versuchen immer wieder, eine Kohärenz zu synthetisieren, die doch nirgends manifest vorhanden ist? Die schöne Rede der Erzählung, ihr feinnerviger Ästhetizismus,43 der vordergründig Sinn stiftet, kollidiert letztlich mit der Sinnverweigerung. Das aber ist nicht gleichzusetzen mit einer Dekonstruktion jedweden Sinns. In der Reitergeschichte scheint die Syntagmatik aufs Engste mit der Semantik verbunden. Sie ist der Motor des Sinnverlusts. Zeichen, die separiert Bedeutungsfunktion wahrnehmen, verlieren im Voranschreiten der Erzählung ihre feststellbaren Denotate und die objektivierbaren konnotativen Elemente. Als Beispiel für viele kann der Fall des Bergamasken in der Reitergeschichte dienen. Zwei Sätze bietet die Erzählung dem Rezipienten an; sie lauten: “Eine halbe Stunde später hob die Schwadron einen Mann auf, der in der Tracht eines Bergamasken vorüberging und durch sein allzu harmloses und unscheinbares Auftreten verdächtig wurde. Der Mann trug im Rockfutter eingenäht die wichtigsten Detailpläne, die Errichtung von Freikorps in den Giudikarien und deren Kooperation mit der piemontesischen Armee betreffend.” (R 39) Diese Andeutungen sind als Rätselsetzungen zu begreifen, als hermeneutische Codes im Sinne von Barthes.44 Anders als in der ‘klassischen’ Erzählung Sarrasine von Balzac handelt es sich hier aber um Rätsel, die nie eingelöst werden, ja nicht einmal eine Querverbindung zu anderen Motiven der Novelle gestatten.
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Zur Relativierung eines pejorativ verstandenen Ästhetizismus-Begriffs vgl. die Arbeit von Gisa Briese-Neumann: Ästhet – Dilettant – Narziss. Untersuchungen zur Reflexion der Fin-de-siècle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1980. Insb. S. 27–53. Zum Begriff des Ästhetizismus vgl. den Band: Naturalismus / Ästhetizismus. Hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. In seiner Einleitung zum Sammelband, Naturalismus und Ästhetizismus als rivalisierende Institutionalisierungen der Literatur, S. 10–17, deutet Peter Bürger den Ästhetizismus als eine Reaktion der Subjekte auf den Modernisierungsprozess, S. 16. Eine kritische Begriffsgeschichte des Ästhetizismus leistet Streim: Das ‘Leben’ in der Kunst (Anm. 7). S. 22–35, 95–114. 44 Vgl. Roland Barthes: S/Z [1970]. Übers. aus d. Frz. von Jürgen Hoch. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1976. S. 21, 23f.
64 Er geht allein um eine Aura des Geheimnisvollen, die mit der angesprochenen Figur in Verbindung zu bringen ist. Im Kontext der Reitergeschichte wird die Frage nach dem Bergamasken obsolet: kein einziger Verweisungsstrang führt zurück zur verdächtigen Gestalt, kein Indiz wird aufgebracht, um die Verdachtsmomente zu entkräften. Zwar kann der Zusammenhang des Bergamasken mit der piemontesischen Armee als vager Bezug auf die späteren Phantasmagorien Lerchs verstanden werden, der in dem rasierten und beleibten Mann unter anderem einen piemontesischen Vertrauten zu erkennen glaubt. Zur Konstruktion von Zugehörigkeiten oder gar zu Substitutionen der Figuren reicht dieses minimale Reaktivieren spezifischer Signifikanten allerdings nicht aus. Die sinnstiftenden Unternehmungen des Rezipienten, der bemüht ist, die Leerstellen45 des Textes auszufüllen, verpuffen im Raum der Polysemie. Aufs Textganze gerichtet, verflüchtigt sich das Denotat gewissermaßen zu einer – nur atmosphärisch zu verdichtenden – Gemütsregung. Dennoch gibt der Text nicht vor, unverstanden bleiben zu wollen. Es gilt, die Irritationen zu rekonstruieren. Sonst verbleibt die Interpretation im Intuitiven: Die frustrierte Rezeptionserwartung wird dann nicht Gegenstand der Analyse, sondern, schlimmstenfalls, verklärt zum ewig Rätselhaften.46 Auffällig ist auch, wie wenig mit Kategorien des Fiktiven operiert wird, um zu den Ursachen der Irritationen der Reitergeschichte zu gelangen. Dies trifft keineswegs ausschließlich für die Werkimmanenz oder ästhetizistische Literaturbetrachtungen zu, sondern auch für strukturale Analyseverfahren, die mit Aktantenmodellen operieren und/oder eine psychologisierende Ausdeutung vorschlagen.47 Fiktionale Figuren werden konkreten Personen gleichgestellt, bzw. ihre Unterschiedenheit wird gar nicht erst zum Thema. Im Falle der Reitergeschichte verschließt ein solches Vorgehen mögliche, wenn nicht gar die entscheidenden Verständnisebenen. Die gern zitierten Fragen
45 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976]. 2., durchges. u. verb. Aufl. München: Fink 1984. S. 284–315. 46 Alewyn schließt sein Nachwort zur Ausgabe der drei Erzählungen (mit Bezug auf die Reitergeschichte und den Bassompierre) mit den geradezu beschwörenden Worten: “Und eben dieser Widerspruch ist es, an dem die beiden Erzählungen uns zu rätseln und vor dem sie uns zu schaudern aufgeben.” In: Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht – Reitergeschichte – Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre. Frankfurt/M.: Fischer 1985. S. 81–108. Hier: S. 108. 47 Aktantenmodelle werden erst jüngst mit etablierten Erzähltheorien verbunden. Dazu Taehwan Kim: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. Tübingen: Narr 2002. Hier: S. 175–232. Vgl. wieder Steinlein: Versuch einer struktural-psychoanalytischen Lektüre (Anm. 25). Hier: S. 210, 217, 219f.
65 Alewyns: “Warum muß Anton Lerch sterben? Warum muß er so sterben?” sind dafür paradigmatisch.48 Wer so fragen will, setzt hinreichendes Datenmaterial voraus, welches es gestattet, Motivationen als psychische Größen zu eruieren. Die Reitergeschichte dagegen kennt keine psychologisch ausgebildeten Charaktere, ja nicht einmal deren Skizze oder Typologisierung, gemessen etwa an den Möglichkeiten des psychologischen Romans. Weil aber Bruchstücke geliefert werden, wird eine Psyche rekonstruiert, die es nicht gibt. Im Bereich der Figurenzeichnung erfüllt diese Fragmentierung dieselbe Funktion des hermeneutischen Codes: Rätsel zu setzen, die unbeantwortet bleiben müssen. Eine solche Individualisierung verwischt auf unzulässige Weise den Erzählverlauf, um eine Ganzheit stiftende Summe – sei es als die Frage oder die Antwort der Reitergeschichte – zu ziehen. Diesem Dilemma entgeht Rolf Tarot nicht,49 der nahezu alle bisherigen ‘Fehlinterpretationen’ begründet sieht im Missverstehen “der Erzählweise dieser Novelle”. Wie er von dieser Annahme zur Feststellung gelangt, die Novelle habe “zwar einen Autor, aber keinen Erzähler”,50 bleibt allerdings verwunderlich. Die Exekution des Erzählers wird nämlich zurückgeführt auf die Wiedergabe innerer Vorgänge, seien sie nun auf Lerch, den Baron Rofrano oder auch aufs Gesamt der Schwadron gerichtet. Das aber ist nichts weiter als ein Wechsel von externer zu interner Fokalisierung oder zwischen auktorialer und personaler Erzählsituation.51 Gegen 48
Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. 4. verm. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968. S. 79, vgl. S. 86. Peter Mollenhauer macht das zum Ausgangspunkt seiner Analyse: Wahrnehmung und Wirklichkeitsbewusstsein in Hofmannsthals “Reitergeschichte”. In: The German Quarterly 50 (1977). S. 283–297. Hier: S. 283, 295f. 49 Für Tarot liegt der gemeinsame Nenner in der Verallgemeinerung der Innenperspektive. Daraus leitet er die normativ gemeinte Behauptung eminenter Modernität und Meisterschaft Hofmannsthalscher Prosa ab. Rolf Tarot: Hugo von Hofmannsthal. Daseinsformen und dichterische Struktur. Tübingen: Niemeyer 1970. S. 353. 50 Ebd. S. 332f. Dazu auch Françoise Meltzer. Reiter- (Writer- Reader-) Geschichte. In: Monatshefte 77 (1985). S. 38–46. Hier: S. 43 insb. Siehe ebenfalls in diesem Sinne Lilian Hoverland: Hofmannsthal’s “Reitergeschichte”. Culmination of the Novelle of the Nineteenth Century. In: Focus on Vienna 1900. Change and Continuity in Literature, Music, Art and Intellectual History. Hg. von Erika Nielsen. München: Fink 1982. S. 72–76. Hier: S. 76. 51 Das Problem ist primär ein terminologisches. Während Hamburger, auf die Tarot: Daseinsformen und dichterische Struktur (Anm. 49). S. 332f., ausschließlich rekurriert, die ‘Erzählfunktion’ gegen einen personifizierten Erzähler setzt, greift Franz Stanzel mit seinem Begriff der Erzählsituation auf eine im Lektürevorgang konstituierte Erzählerinstanz zurück. Den Konflikt pointiert Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa [1972]. 5. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984. S. 24–26. Siehe auch Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung [1957]. München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Klett-Cotta 1987. S. 121–128.
66 die Tendenz zur Summe wird im Folgenden immer wieder das Datenmaterial offen zu legen sein. Narrative Strukturen und semantische Denotate sollen, soweit möglich, isoliert werden. Jeder einzelne Datenvermerk umgeht das Problem des Vielbedeutens – sei es auf der Ebene der Texthandlung oder der Erzählsituation – um Zugang zu finden zu den Anfängen der Irritationen.
5. Dehnungen und Raffungen52 des Zeitkontinuums Die Aufmerksamkeit, vom Text gezielt gelenkt, richtet sich zunächst auf das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. Die Bildung von insgesamt 6 Sequenzen wurde maßgeblich an dieser Rubrik des Zeitgerüsts orientiert. Die Sequenzen 1, 3 und 5 sind überwiegend stark und sehr stark gerafft, nur in 4 von 65, rein quantitativen Schnitten durch den Gesamttext nähert sich die Raffungsintensität der Gleiche von Erzählzeit und erzählter Zeit an. In den Sequenzen 2, 4 und 6 finden sich ausschließlich die Dehnungen der Reitergeschichte, insgesamt 8 von 65. Nur in 5 von 65 Schnitten wird in den geraden Sequenzen gerafft erzählt. Dabei nimmt die Prägnanz der Abgrenzung im Verlauf der Geschichte ab; auf Sequenz 2 fallen keine, auf 4 eine und auf 6 letztlich 4 Raffungsschnitte. Wir haben mit diesen Sequenzbildungen im Bereich der Zeitstruktur also ein erstes oppositionelles Schema etabliert. Ein Blick auf das Geschehen zeigt die Gewichtung der Dehnungen für den Verlauf der Reitergeschichte: alle vier Dehnungsphasen haben je eine Konfrontation des Protagonisten Lerch mit Zweiten zum Thema, die einander substituieren können. Anders als bei der Aushebung der achtzehn Studenten der Pisaner Legion oder der Tötung eines feindlichen Offiziers zeigt sich der Erzähler bei der Beschreibung der Dehnungspassagen involviert. Verbunden mit der Innensicht Lerchs wird in drei Fällen auf psychologische Motivation rekurriert. Sowohl die erste, als auch die letzte Dehnung nehmen wiederum Sonderstellungen ein. In der ersten Dehnungsphase überschwemmen Erinnerungsbilder Lerch mit einem Glücksgefühl, ja lassen ihn erstmals und zudem unmittelbar körperlich reagieren auf die heute “bestandenen Gefechte” (R 40, vgl. 47), die sich zuvor scheinbar ohne handelnde Personen ereignet hatten. Umrahmt wird diese erste Dehnungsphase aber von weiter zurückreichenden Erinnerungen an jenen kroatischen Rechnungsunteroffizier, dem früheren (geschiedenen oder verwitweten) Mann der Vuic, und Lerch entsinnt sich, dass “er mit ihr vor neun oder zehn Jahren in Wien in Gesellschaft eines anderen, ihres damaligen eigentlichen Liebhabers, einige Abende und halbe Nächte verbracht hatte” (R 41). Mit Nennung der Frau registriert Lerch gleichzeitig: “diesen ihren Namen hatte er gewiß seit 10 Jahren nicht wieder in den Mund 52
Vgl. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens [1955]. 8. Aufl. Stuttgart: Metzler 1983. S. 82–94.
67 genommen und ihren Taufnamen vollständig vergessen”: Warum sollte Lerch gegenwärtig sein, wie sehr er die Vuic verdrängt hatte? Syntagmatisch werden Erinnerungsbilder wie Begehrensartikulationen, die sich in diesen wenigen Zeilen, aber auch über die Sequenzen 2 und 3 verteilt zeigen, nicht eingelöst. Anders als im Falle des Bergamasken, wird aber an dieser Stelle eine Erwartungshaltung nicht nur generiert, sondern potenziert: Die Summe des signifikanten Materials scheint zu übermächtig, zu ausladend werden Schicksal und Fortgang der Erzählung an diese Begegnung geknüpft. Der Rezipient sieht sich aufgefordert, das scheinbar sinnkonstitutive Moment dieses Einhaltens, dieses Ausscherens aus dem zeitlichen wie militärischen Ordnungsgefüge, diesen ‘Gesetzesbruch’ paradigmatisch aufzulösen.53 Schon durch die Tempi, aber auch durch die Modalitäten des Erzählens sind einem solchen möglichen Leser Wege der Substitutionen gewiesen. Mit der ersten ist die letzte Dehnungsphase in allen Spezifika des Zeitgerüstes und der Erzählsituation verbunden: Es ist zugleich die todbringende Konfrontation Lerchs mit seinem Rittmeister Baron Rofrano. Nannte Lerch noch den Namen “Vuic” und kündigte in direkter Personenrede sein künftiges Quartier in deren Räumlichkeiten an, so spricht nun der Rittmeister im Befehlston und in direkter Personenrede. Das Kommando: “Handpferde auslassen!” und das Zählen von eins bis drei stehen wieder wie ein Rahmen um die in der vierten Dehnungsphase geschilderte existenzielle Konfrontation. An keiner weiteren Stelle der Reitergeschichte werden Handlung, Konversation, Wahrnehmung oder Imagination in direkter Personenrede gefasst. Auch die Rückwendung (Analepse)54 auf eine erlebte Zeit vor der erzählten Zeit entspricht sich exklusiv in der ersten und der vierten Dehnungsphase, in letzterer allerdings wandelt sich der wissende Ton des Erzählers zum fragenden. Mutmaßungen über ein “jahrelanges enges Zusammenleben” lösen den Blick ab, der sich auf Lerchs Unbewusstes richtete. Mit dem sanften Herausführen aus der Innenschau des Wachtmeisters, deutlich nur in der letzten Wendung des Nebensatzes, tritt der Erzähler selbst aus dem Kontinuum der Geschichte, um sich dann, in nur einem Satz, in der Gegenwärtigkeit des Schreibenden vorzustellen. Hier wird der sukzessiv erfolgende Abbau
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Exner macht hier eine Kritik der “militärisch-maskulinen” Ordnung durch den Autor aus. Richard Exner: Ordnung und Chaos in Hofmannsthals “Reitergeschichte”. Strukturelle und semiotische Möglichkeiten der Interpretation. In: Im Dialog mit der Moderne. Festschrift für Jacob Steiner. Hg. von Roland Jost und Hansgeorg SchmidtBergmann. Frankfurt/M.: Athenäum 1986. S. 46–59. Hier: S. 55. 54 Rückwendung und Vorausdeutung sind Termini bei Günther Müller und insb. bei Lämmert: Bauformen des Erzählens (Anm. 52). S. 100–175. Genette: Die Erzählung (Anm. 32). S. 33–54 spricht von Analepse und Prolepse. Zur Zeitstruktur der Reitergeschichte erste Hinweise bei Exner: Ordnung und Chaos (Anm. 53). S. 50f.
68 bezugnehmenden Erzählens pointiert. Der letzte Satz schließlich bindet sich zurück an den ersten der Erzählung. Die Ordnung des Militärberichts ist – wie die Ordnung des Militärs selbst – wieder hergestellt.55 Doch zurück zu den Dehnungen. In die Auseinandersetzung mit dem Rittmeister mischen sich “vielfältige[…] Bilder[…] einer fremdartigen Behaglichkeit”, die – ebenfalls aus Lerchs Innenperspektive geschildert – an die Projektionen Lerchs im Anschluss an die Begegnung mit der Vuic erinnern; es ist “eine Zivilatmosphäre” oder “eine Atmosphäre von Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis, eine Existenz in Hausschuhen”, die ihn, Lerch, “ganz überschwemmt”. Von der auktorialen Omnipräsenz verschiebt sich der Blick des Erzählers personal zu der Figur. Aber auch die zweite und die dritte Dehnungsphase sind rudimentär als Erlebnis- oder Tagtraumreste präsent: in Lerchs Blick flackert etwas Hündisches auf, Verweis auf den Dorfdurchritt und die unglaubliche Verlangsamung des Geschehens, gerade bei der Begegnung Lerchs mit den insgesamt sechs Hunden. Ja selbst das Spiegelbild des Wachtmeisters ist gegenwärtig, und zwar in der Person Rofranos, der schon zuvor als bedrohlich und zuweilen den feindlichen Truppen zugehörig erschien, sich andererseits – hier als Spekulation des Erzählers kenntlich gemacht – durch “jahrelanges enges Zusammenleben” Lerch verbunden erweist. Anders als in den Dehnungsphasen 1 und 4 geht der Erzähler – insbesondere in der zweiten Dehnungsphase – auf Distanz zum Geschehenen; hier wird ein Höchstmaß an Befremden artikuliert, das nur an einer Stelle zurückgenommen wird, nämlich als Lerch sich der traumatischen Situation mit einem Schuss auf eines der Tiere zu erwehren versucht. Diese Distanziertheit färbt ab auf die gesamte Erzählhaltung: Wiederum wird einsträngig im epischen Präteritum erzählt, keine Person wird aus der Innenperspektive gezeigt, der Erzähler bringt keine direkte Personenrede. All dies wirkt präfigurierend für mögliche Substitutionen. Die paradigmatische Reihe ‘Durchritt’ etwa wird in der Reitergeschichte in drei Transformationen vorgeführt. Zunächst als Ritt durch eine freie Landschaft, dann als Siegesritt durch Mailand und zuletzt als der beschriebene Ritt des Wachtmeisters Anton Lerch durch ein namenloses Dorf. Im Moment des thematisierten Durchritts ist kein Feind zu gewärtigen, sosehr auch alle Regungen, alles Wahrnehmbare feindlich konnotierbar sind. Mit der jeweils folgenden Transformation der Reihe nimmt die Intensität der Schilderung zweifach zu. Zum einen zeigt sich dies in der aufsteigenden Anzahl der sich
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Carl V. Hansen untersucht die implizite militärische Logik der Tötung durch Rofrano – “He must regain control of the unit at once”: The Death of First Sergeant Anton Lerch in Hofmannsthal’s “Reitergeschichte”. A Military Analysis. In: Modern Austrian Literature 13 (1980). Heft 2. S. 17–26. Hier: S. 17f., 23f. insb. 24.
69 explizit auf den ‘Durchritt’ beziehenden quantitativen Schnitte und ihrer jeweiligen Verbindungen zur Raffungsintensität. Im ersten Fall wird in nur einem Schnitt der Durchritt durch freie Landschaft, der ohne weitere Vorkommnisse zu einem Stimmungsbild verdichtet werden kann, in stärkster Raffung zusammengefasst. Im zweiten reduziert sich, mit dem dreimal größeren Umfang der Passage, auch die Raffungsintensität. Im dritten Fall verdreifacht sich die Erzählzeit wiederum auf nunmehr 10 Schnitte, darunter die Dehnungsphase 2 mit ihren zwei Schnitten; siebenmal ist die Erzählzeit gleich der erzählten Zeit (zeitdeckendes Erzählen), nur einmal wird eine Beobachtung in mittlerer Raffung wiedergegeben. Der zweite Strang aufsteigender Intensität bei der Darstellung des ‘Durchritts’ betrifft die Personen. Wird der Ritt durch die “freie[…], glänzende[…] Landschaft” noch an einen anonymen Befehlsgeber rückgebunden, der das Streifkommando “gegen Mailand” ausreiten lässt, so ist es später der Rittmeister Baron Rofrano, der es “sich selbst und der Schwadron nicht versagen [konnte], in diese große und schöne, wehrlos daliegende Stadt einzureiten” (R 40): bemerkenswerter Weise die einzige Stelle, in welcher der Erzähler über die Innensicht Rofranos verfügt. Eine ähnliche Motivation wird für Lerchs Dorfdurchritt angeführt: “auf verlockende Weise verdächtig” ist ihm “ein von der Landstraße abliegendes Dorf, mit halbverfallenem Glockenturm in einer dunkelnden Mulde gelagert” (R 43). Während die Beweggründe Rofranos nur in einem Halbsatz genannt werden, fällt die Darstellung der Motivationen Lerchs ans Ende einer langen, ja der weitaus längsten Passage der Reitergeschichte, in der neben der Er-Erzählhaltung Innenschau durchgängig notiert werden kann. Sie umfasst insgesamt die Sequenzen 2 und 3. Der Rezipient wird so veranlasst, den Entschluss, das abgelegene Dorf zu durchreiten, in Verbindung zu bringen mit der Begegnung Lerch/Vuic und den sich bei Lerch anschließenden Phantasmagorien. Die Motivation des Protagonisten wird nach vorne verlängert. Stand die bisherige Betrachtung der Reihe ‘Durchritt’ unter der Frage nach den Äquivalenzen der drei Transformationen und ihrer jeweiligen Abschwächung oder Intensivierung, so lässt sich nun ein weiteres erzählsituatives Oppositionspaar erkennen. Im Zeitgerüst über weite Bereiche äquivalent treten sich die Sequenz 2 (Haus der Vuic) und der Dorfdurchritt in Sequenz 4 als Negationen der je anderen Erzählhaltung gegenüber: Motivation der Figur und Distanziertheit zum Helden, Innensicht oder reine Außensicht der Figur, direkte Personenrede und ihre Abwesenheit. Gegenläufigkeit und Äquivalenz deuten hier auf eine Substitution mit negativen Vorzeichen, die zudem von diversen denotativsemantischen Entsprechungen unterstützt wird. Dem begehrten Haus der Vuic, das den Blick ins private Innere partiell gestattet und gerade dadurch Begehren weckt, stehen die hässlichen und abstoßenden Bauten des abgelegenen Dorfes gegenüber: Der Vuic selbst entspricht die
70 schmutzige Frauensperson, teils in Analogie (dem zerstörten Morgenrock korrespondiert der abgerissene Rock), teils in logischer Negation (begehrlich/abstoßend).56 Die mit Lerchs Glücksgefühl im Bild zusammengebrachte Fliege verweist als Kulturfolger, Schmarotzer und Überträger von Krankheiten auf die ekelerregenden Ratten. Ein kurzer Vorgriff auf die ‘lexikalischen Codes’ unterstützt die hier vorgenommene Bildung eines sekundären Oppositionspaares: den Prädikationen des Hässlichen im Dorfdurchritt korrespondiert nicht dessen logische Negation, nämlich die Prädikationen des Schönen, sondern die des Privaten im Haus der Vuic. Sich nicht unmittelbar ausschließend, bilden sie in ihrer exklusiven Reinheit allerdings einen merklichen Kontrast, zumal der Code des Privaten mit der Wunschseite des Traumhaft-Unbewussten korreliert. Ausgenommen wurde bislang die dritte Dehnungsphase, in der Lerch auf sein Spiegelbild trifft. Die Dehnung umfasst nur einen Schnitt, die gesamte Szenerie außerhalb des Dorfes bis zur Begegnung an der Steinbrücke insgesamt fünf Schnitte. Die Distanz des Erzählers zu seinem Gegenstand verringert sich sukzessive und schlägt schließlich um zur erregten Anteilnahme am Schicksal des Protagonisten, der seit Verlassen des Dorfes wieder aus der Innenperspektive gezeigt wird.
6. Räume und Personen Die Zeitdehnungen innerhalb der Reitergeschichte und ihre Korrelationen mit personalen Innensichten des Erzählers strukturieren die Rezeptionserwartung. Was bedeutsam sein soll, wird genau betrachtet, hinterfragt und in Ansätzen motiviert. Aus dem Zeitgerüst ergab sich eine Aufteilung der Novelle in sechs Sequenzen zu zwei Serien, wobei ‘ungerade’ Sequenzen (1, 3, 5) zu ‘geraden’ Sequenzen (2, 4, 6) je eine Serie bilden. Anders betrachtet folgen je zwei Sequenzen antithetisch-alternierend aufeinander (1 vs. 2; 3 vs. 4; 5 vs. 6). Als sekundäres, untergeordnetes Oppositionspaar wurden Sequenz 2 (Haus der Vuic) und Sequenz 4 (Dorfdurchritt) auf einander bezogen. Äquivalenzen waren zwischen erster und letzter Dehnung, also zwischen Sequenz 2 und Sequenz 6 auffällig. An der Reihe ‘Durchritt’ konnte die dreimalige Substitution auch als sukzessive Entfaltung von der stärksten Raffung zur Dehnung innerhalb der Sequenz 4 mit den häufigsten Dehnungspassagen oder zeitdeckendem Erzählen (insgesamt 14 Schnitte) ermittelt werden. Mit der Bestimmung zweier topografischer Fixpunkte markiert der fingierte Wirklichkeitsbericht des ersten Satzes der Reitergeschichte zugleich das
56
Vgl. Benno von Wiese: Die deutsche Novelle. Von Goethe bis Kafka. Interpretationen [1956]. Düsseldorf: Bagel 1971. Bd. 1. S. 284–303 zur Reitergeschichte. Hier: S. 295.
71 Programm des Erzählens wie den militärischen Auftrag: Verlassen wird das Kasino San Alessandro und der Ritt geht gegen Mailand. Nach nur einem Fünftel der gesamten Erzählung jedoch werden mit dem Halbsatz “so ritt die schöne Schwadron durch Mailand” (R 41) Auftrag und Programm scheinbar erfüllt. Dominant bleibt dennoch auf diesen ersten beiden Seiten der Eindruck eines Ritts durch freie Landschaft. Geografisch ist diese ‘Landschaft’ der 1. Sequenz nicht situierbar. In ihrer Indifferenz nimmt sie schon das letzte Drittel der Erzählung vorweg. In Sequenz 1 finden sich Einsprengsel behauster Zivilisation, eine schöne Villa, der Friedhof, die Kirche, Landhäuser, eingebettet von stets präsenter Natur, von Gehölz, von Mais, von Baumgruppen und flankierenden Zypressen. Die Landschaft des Schlusses dagegen – nach dem Gemetzel in Blut getaucht – zeigt nicht einmal solche Versatzstücke und erlaubt nur noch den Wechsel zwischen Hutweide, Gehölz, Bachrand, wiederum Hutweide und Sumpfwasser, um dann abermals mit der Hutweide den Schauplatz der Erschießung des Wachtmeisters Anton Lerch abzugeben. Mit Erreichen der eigenen Vorpostenaufstellung wird dann im letzten Satz wieder an den schützenden Ort des Kasinos San Alessandro angeknüpft. Zwischen den Landschaftsbeschreibungen der Sequenzen 1, 5 und 6 liegt eine weitere, von den Phantasmagorien Lerchs freilich weitgehend überlagerte in der 3. Sequenz (R 42). Die Bewegungen des Streifkommandos durch einen nicht einmal mehr ansatzweise skizzierten Raum nehmen immerhin die Nachmittagsstunden in Anspruch und erst gegen Abend werden mit Lodi und der Addabrücke zwei konkrete Räume gegeben (R 43). Der Rezipient allerdings wird noch im gleichen Satz von diesen Fixpunkten abgelenkt und auf das dem Wachtmeister so verlockende Dorf der 4. Sequenz verwiesen. Der Reihe ‘Architektur’ (als Opposition zur Landschaft’) kann die Sequenz 3 aber vor allem wegen der Tagträumereien Lerchs zugerechnet werden, die sich auf den Ort seines Begehrens richten: das “Quartier”, welches er sich im Haus der Vuic einzurichten gedenkt. Um diesen Raum gruppieren sich die vielfältigen Transformationen des Begehrlichen, die Privatheit und Militär nicht als Gegensätze präsentieren, sondern als die beiden Seiten der “Behaglichkeit” (R 42). Mit dem Siegesdurchritt durch Mailand, so hatte ich behauptet, werden Erzählprogramm und militärischer Auftrag erfüllt. Er ist aber zugleich auch die Einlösung der einzigen, uns durch Innensicht vermittelten Motivation der 1. Sequenz, Rittmeister Baron Rofranos Verlangen nämlich nach der schönen Stadt (R 40). Bis zum Ende des Durchritts verbleibt die Erzählung einsträngig im Epischen Präteritum und bringt die Chronologie der durchaus wirren Ereignisse in durchschnittlicher Raffung, so schnell von einem zum anderen Schauplatz wechselnd aber, dass eindeutige Zuordnungen für den Rezipienten schwer, ja geradezu unmöglich werden. Nach Mailand wird die Geschichte neu – und anders – erzählt: Es zerbricht das Kontinuum des Erzählens, die Einheit des Streifkommandos gerät entweder völlig aus dem Blick oder ist bestenfalls
72 schwierig zu entziffern, der Protagonist Lerch tritt als Hauptfigur heraus aus dem Trupp der vielen Namenlosen, aus dem unbestimmbar Kollektiven wird nunmehr individuenbezogene Unbestimmtheit. Statt des unnahbaren Rofrano, dessen Ziel das große Mailand war, wird Lerch zum Zentrum und mit ihm die Gegenstände seiner Aufmerksamkeit, die Räume seines Begehrens. Dem Schauplatz von Geschichte, auf dem sich die öffentlichen Zeugnisse der Religiosität aneinander reihen wie Perlen auf einem Faden, entspricht jetzt als Negation das Namenlose eines hellgelben Hauses, eines totenstillen Dorfes oder einer Steinbrücke. Die Topografie Mailands ist klar umrissen; es geht von Osten nach Süden, von der Porta Venezia zur Porta Ticinese “vorbei an Santa Babila, an San Fedele, an San Carlo, am weltberühmten marmornen Dom, an San Satiro, San Giorgio, San Lorenzo, San Eustorgio” (R 40). Die Topografie der anderen architektonischen Räume dagegen bleibt im Dunkeln oder Unbenennbaren. Mit dem Schwenk aufs Nahe wird zugleich das zuvor ungebundene Befremden des Erzählers personifiziert und partiell motiviert. Im Kleinen (Mailand vs. Haus) wird das Begehren Rofranos durch dessen untergeordneten Wachtmeister substituiert. Es ist eine fingierte Nähe. Überschaubarkeit gehört zu den objektivierbaren Konnotationen des Häuslichen und Dörflichen, wird aber in der Reitergeschichte beständig dem Undurchdringlichen an die Seite gestellt und dadurch ambivalent gehalten. Der erste neugierige Blick Lerchs geht vorbei an einer “beinahe noch junge[n] Frau” ins neugebaute hellgelbe Haus, in “ein helles Zimmer mit Gartenfenstern, worauf ein paar Töpfchen Basilikum und rote Pelargonien, ferner mit einem Mahagonischrank und einer mythologischen Gruppe aus Biskuit dem Wachtmeister sich zeigte, während seinem scharfen Blick noch gleichzeitig in einem Pfeilerspiegel die Gegenwand des Zimmers sich verriet, ausgefüllt von einem großen weißen Bette und einer Tapetentür, durch welche sich ein beleibter vollständig rasierter älterer Mann im Augenblicke zurückzog”. (R 41) Ambiguität markiert hier in eindeutiger Symbolik die Tapetentür: Das Verborgene hinter der Wand, die vorgibt, keine Tür zu haben, wird aber nicht in einer kontradiktorischen Relation gegen das Offenliegende angeführt, sondern das vermeintlich Zugängliche selbst ist der schon abgezirkelte Bereich des Nahen und doch Verbotenen, somit Begehrlichen. Bereits im Abschnitt über die Dehnungen wurden Äquivalenzen der Sequenzen 2 und 4 als Substitutionen mit negativen Vorzeichen gefasst. Für die Korrespondenzen von Nähe und Ferne und die durch sie evozierten Begehrensmomente kann diese These nun bekräftigt werden. Im Dorf heißt es über Lerchs Wahrnehmung von Innenräumen: “zwischen bloßgelegten Türpfosten ins Innere schauend, sah der Wachtmeister hie und da eine faule, halbnackte Gestalt auf einer Bettstatt lungern oder schleppend, wie mit ausgerenkten Hüften, durchs Zimmer gehen” (R 43). Offenheit und Einblick geraten hier an Krankes wie Obszönes; der Reiz in Sequenz 2 lag ja
73 im Verborgensein und Hinweisen, hier tritt dagegen zutage, was besser verborgen bleiben sollte. Wenn sich etwas zeigt, vergeht die Neugierde. Der Protagonist, der – so konnte uns der Erzähler in den Sequenzen 2 und 3 noch versichern – das Wünschen in Handeln überführen wollte, wird jetzt von einer traumatischen Realität jeder Handlungsmöglichkeit beraubt. Verspäteter Reflex und Versagen (R 44) charakterisieren diesen erstarrten ‘Helden’. In der spiegelbildlichen Begegnung auf der Steinbrücke zeigt sich die gleiche Bewegung: Das scheinbar Nahe, weil Vertraute (der Reiter des eigenen Regiments) wird verstellt durch logische Exklusion. Nur einen “Braunen mit weißgestiefelten Vorderbeinen” (R 45) gibt es im Regiment, seinen eigenen. Aus dieser Verstellung entwickelt sich wiederum Ungeduld, eine Neugierde, das Paradoxon aufzulösen. Was sich dann zeigt, fällt abermals zusammen mit dem Verlust eingreifenden Handelns. In dem Moment, da Lerch in der Erscheinung sich selbst zu erkennen glaubt, verschwindet das Bild des Gegenübers gleich einer Phantasmagorie; die Innensicht der fünf Schnitte währenden SpiegelbildSzene wird gekappt, der architektonische Binnenraum des Geschehens endgültig und abrupt verlassen. Das Spiegelbild selbst scheint in nuce den Ritt von Haus zu Dorf zu rekapitulieren und entlässt ins Finale, in die unbebaute Landschaft, den chaotischen, kriegerischen Raum. Nur noch in einer Szene folgt dann – innerhalb der letzten Dehnung – eine Innensicht, die sogar Konnotationen von Häuslichkeit einschließt. Es sind die Spekulationen des Erzählers, der aus dem zornverzerrten Gesicht, der dem gemäßen Stimme und Haltung Lerchs auf ein “jahrelanges, enges Zusammenleben” des Wachtmeisters mit dem Rittmeister schließt (R 48). Ein Kausalzusammenhang wird konstruiert, nicht aber (etwa mit Verweis auf weiteres biografisches Material) als ein in der fiktiven Realität tatsächlich stattgefundener dargestellt. Evoziert wird diese persönliche Nähe auch durch die nur in Sequenz 6 auftretenden individuellen Züge Rofranos, der mit “schläfrigen blauen Augen” und “verschleierte[m] Blick” (R 47) beschrieben wird. Der Erzähler erfasst hier ausschließlich Lerch und Rofrano (5 Schnitte), hebt sie heraus aus dem unübersichtlich Allgemeinen der eben noch kämpfenden Truppe. Die besondere Position der Schlussphase in Sequenz 6 wird auch deutlich an der Entwicklung der Personenanzahl, die jeweils im Blickfeld des Erzählers erscheint. Sequenz 1 bleibt durchgängig am Gesamt der Schwadron orientiert, die zunächst 107, später nur noch 78 Reiter und jeweils den Rittmeister umfasst; hinzu kommen eine teils bekannte (18 ⫹ 27 ⫽ 45), teils unbekannt bleibende Anzahl von Gefangenen, die noch vor dem Siegesdurchritt durch Mailand von einem von der Einheit der Eskadron abgetrennten Teil ins Hauptquartier verbracht werden. Dezimiert wurde die Schwadron zuvor durch einen Toten (R 40). Der Blick wendet sich – aus der ersten Innenschau Lerchs gezeigt – in Sequenz 2 weg von der Schwadron hin zu einem weiblichen Gesicht; Lerch
74 schert aus dem Verband aus und wird in den nächsten 6 Schnitten nur noch mit Vuic zusammen gesehen. Hinzu treten der nur flüchtig beobachtete ‘Rasierte’, der in den Imaginationen Lerchs eine so entscheidende Rolle einnehmen wird, und die erinnerten Gestalten des kroatischen Rechnungsunteroffiziers, des mutmaßlich ehemaligen Ehemanns der Vuic und ihres “damaligen eigentlichen Liebhabers” (R 41). Hier sind militärische Redeweise wie Handlung ausgeblendet: nochmals eine idealtypische Opposition zur 1. Sequenz. Erst die Ankündigung des “Quartier[s]” (R 42), eine militärische Redeweise also, reißt Lerch aus dem traumhaften Verwobensein in Erinnerung, lässt ihn die Ungeduld des Pferdes als die eigene erkennen und veranlasst ihn schließlich, der Schwadron nachzutraben. Der Wechsel von der 2. zur 3. Sequenz wird nicht nur durch das Zusammenfallen zweier Topografien (Haus und Landschaft) – als fiktive Imagination einerseits und fiktive Realität andererseits – verwischt, sondern auch durch die partielle Fortführung der Kleingruppe. In den anderen ungeraden Sequenzen (also 1 und 5) ist nämlich ohne Ausnahme der Blick aufs Gesamt gerichtet, und zwar als kämpfender Truppe. In Sequenz 3 kommt es zu keinen Kampfeshandlungen; Lerch füllt die Zeit mit den schon zuvor beschriebenen Fantasien, in denen nur drei Personen agieren: Lerch selbst, die Vuic und der ‘Rasierte’. Wenngleich auffällig, sprengt der Einbruch des Individuellen ins Allgemeine dennoch nicht die antithetische Grundkonstruktion der Sequenzen: nicht einmal bezogen auf die Personenzahl. Der sehr markanten Zäsur des Individuellen (2 Schnitte) entspricht die dreifache Quantität des Kollektiven (6 Schnitte). Lerch bleibt umgeben von seinem Streifkommando und versinkt nur partiell in die individualisierte Traumwelt. Der Dorfdurchritt präsentiert als einzige Sequenz durchgängig das Einzelindividuum. Lerch begegnen, während insgesamt 15 Schnitten, lediglich zwei Personen, eine “Frauensperson, deren Gesicht er nicht sehen konnte” (R 43), die bald darauf wieder in einem Hausflur verschwindet, und ein Bursche, der eine Kuh zur Schlachtbank führt (R 44). Um so abrupter wird die Auflösung des Individuellen ins Allgemeine gestaltet. Aus der Selbstbegegnung im Spiegelbild wird Lerch unvermittelt, eben “plötzlich” (R 45) herausgerissen, mitten im Satz: der härteste Bruch der Erzählung. Analog, wenngleich nicht äquivalent zum Übergang der Sequenzen von 4 nach 5 ließe sich die gleichsam gebremste Plötzlichkeit des Ausscherens aus der Schwadron, also von Sequenz 1 nach Sequenz 2, beschreiben. Individualität und architektonischer Raum bilden nach dem Vorgenannten eine Gruppe zusammengehöriger Sequenzen (2, 3 und 4). Neben dem antithetisch-alternierenden (primären) Serienschema A/B (⫽ Sequenzen 1/2, 3/4, 5/6) lässt sich also ein sekundäres Serienschema darstellen, das sich an Räumlichkeit und Personenzahl orientiert: Sequenz 1 spiegelt dann – genau wie in dem primären Serienschema – immer noch Sequenz 5; die Sequenzen 2, 3
75 und 4 können aber nun stärker als zusammengehörig, ja als Einheit des Dörflichen und Individuellen erscheinen, in der die militärische Aktion suspendiert ist.57 Ein solches, an Räumen und Personen orientiertes, sekundäres Serienschema kann als Wechsel von Rahmenserie und Binnenserie charakterisiert werden. Die Sequenzen 1 und 5 umfassen die zur Binnenserie vereinigten Sequenzen 2, 3 und 4. Mit ausschließlichem Bezug auf die Raumstruktur schließt Sequenz 6 – als Verlängerung von 5 – den Rahmen.
7. Die lexikalischen, denotativen Codes Mit der Formel der Suspendierung militärischer Aktion für den Bereich der Binnenserie (Sequenzen 2, 3 und 4) wurde bereits indirekt übergeleitet zur Frage nach der Bedeutung der verschiedenen lexikalischen Codes. Vom Militär ist zumindest partiell immer die Rede. Selbst in Sequenz 2, wo der militärische Code in nur 2 Schnitten zu verzeichnen ist, bleibt er gegenwärtig; es ist der markante Punkt des Aus- (und später wieder Ein-) Scherens Lerchs aus dem (und in den) geordneten Verband der Schwadron, der den radikalen Wechsel zur Redeweise des Privaten und Traumhaften verdeutlicht. Aber nur in zwei Sequenzen, nämlich 1 und 5 wiederum, artikuliert sich der lexikalische Code des Militärischen dominant, ja fast lückenlos. Aus dieser Beobachtung will ich die Fragestellung für ein tertiäres Serienschema entwickeln: Gibt es sequenzentypische, je dominant ausgeprägte Realisationen der vier verschiedenen Redeweisen? Dominanz kann – ich operiere immer noch auf dem Gebiet der Lexik – hier nur quantitativ zu ermitteln sein. Genauer: durch die kontinuierliche Aufeinanderfolge möglichst vieler Schnitte gleichartiger Redeweise. Lexikalische Codes werden hier rein denotativ erfasst ohne die Konnotate, die ihnen anhängen mögen oder durch ambige Konstellationen entstehen. Bevor solche ‘Leitcodes’ in ihren Relationen untersucht werden, zunächst eine Übersicht: Der Leitcode M (Militärisches) in Sequenz 1 wird vom Leitcode P (Privates, als Teilmenge des Zivilen) abgelöst, der die Sequenzen 2 und 3 dominiert. M gilt dabei als logische Negation (vs.) von P. In Sequenz 4 wird der Leitcode P von H (Hässliches) abgelöst; P und H bilden eine Relation der Ungleichheit (#). H wiederum wird in Sequenz 5 von M abgelöst (abermals #). Für die letzte Sequenz 6 lässt sich kein eindeutiger Leitcode bestimmen. Doch nicht nur das beinah gegebene Gleichgewicht beider Codes (M und P) erschwert die Ermittlung eines Leitcodes. Die vier zuvor erwähnten Leitcodes zeichnen sich zudem durch Kontinuität aus. Mit Einschränkungen ließe sich die 6. Sequenz mit Sequenz 3 vergleichen; es fehlt der deutlich hervortretende Leitcode, die Codes P und M fallen aber, 57
Unter semantischen Gesichtspunkten (Räume: begehrlich/abstoßend) bilden die Sequenzen 2 und 4 ebenfalls eine Opposition.
76 wie in Sequenz 3 und zum Teil auch für die Sequenz 2, als die einzig markanten ins Auge. Nur in 2 Schnitten der Sequenz 6 vermischen sich die beiden gleichstarken Codes mit der Redeweise des Schönen. Es ist dies eine der wenigen Schnittstellen dreier verschiedener Codes, die einzige zudem, in der das Schöne neben Privates wie Militärisches tritt. Die Spannung dieser Codes trägt auf semantischer Seite die erregte Stimmung der Eskadron zwischen dem Versenken der Haubitze einerseits und dem Kommando “Handpferde auslassen!” andererseits (R 47). Wie um die Rahmenserie der Raum- und Personen-Relationen zu unterstreichen, finden sich die anderen zwei Beispiele einer Koinzidenz dreier verschiedener Codes in den Sequenzen 1 und 5, und zwar jeweils in der Kombination H, M und S. Auch sie stehen an prägnanten Punkten innerhalb der Reitergeschichte: Siegesritt durch Mailand hier (Sequenz 1) und Tötung eines feindlichen Offiziers durch Lerch, der zudem dessen Eisenschimmel als Beutepferd mit sich führt, dort (Sequenz 5). Auch diese Beobachtung führt, wie die Frage nach militärischer Aktion, auf das eben entwickelte Rahmen-Serienschema. Doch die knappen und unsauberen Äquivalenz-Relationen zwischen den Sequenzen 2, 3 und 6 machen eine neuerliche Serieneinteilung plausibel. Wir haben es nun mit einem partiell wiederholenden Serienschema zu tun. Auf M folgt P und darauf H als Leitcode (Sequenzen 1, 2/3, 4). Die Serie wird ansatzweise wiederholt durch die Folge M (Sequenz 5) und P (Sequenz 6), letztere mit Einschränkungen zu versehen. So lautet denn die tertiäre Serienfolge der Codes: M vs. P # H # M vs. (P). Der einzige der vier auftretenden Codes, der nicht in einer der 6 Sequenzen die Funktion des Leitcodes übernimmt, ist die Redeweise des Schönen. Von Schönem wird erzählt zu (genau) allen drei Tageszeiten: am frühen Morgen, noch vor 6.30 Uhr, dann zur Mittagszeit, Schlag 12, und letztlich um den – nicht auf die Uhrzeit konkretisierten – Sonnenuntergang.58 Dabei gehen Schönheit und Militär eine Symbiose ein. In nur einem Schnitt bleibt auf der Seite der Lexik der Code M bei Erscheinen von S ausgespart: Es ist exakt der zweite Satz, der somit schon dem ersten als Ungleichheitsrelation antwortet. “Über der freien, glänzenden Landschaft lag eine unbeschreibliche Stille; von den Gipfeln der fernen Berge stiegen Morgenwolken wie stille Rauchwolken gegen den leuchtenden Himmel; der Mais stand regungslos, und zwischen Baumgruppen, die aussahen wie gewaschen, glänzten Landhäuser und Kirchen her” (R 39). Konnotiert werden allerdings weiter reichende und vor allem: unschöne Assoziationen, die gleichwohl rückführen zum Militärischen, und zwar als Bedrohung.
58
Donop sieht hinter der zyklischen Struktur kosmische und archetypische Intentionen. William R. Donop: Archetypal Vision in Hofmannsthal’s “Reitergeschichte”. In: German Life and Letters 22 (1968/69). S. 126–134. Hier: S. 126, 132.
77 Zwei der drei Tageszeiten mit Attributierungen des Schönen sind bereits in der 1. Sequenz aufzufinden; die Erzählung erreicht also nicht nur im Hinblick auf militärisches und erzählerisches Programm ihren Zenit im Siegesritt durch Mailand, sondern auch in der Zeitspanne von einem Tag, bis der letzte Satz nach Sonnenuntergang dem ersten vor 6 Uhr morgens antwortet. Das Licht der Tageswende zeigt – unter einem “funkelnden Himmel” – eine “schöne […] Stadt”, “schöne[..] Unbekannte[..]” und die “schöne Schwadron” selbst, wie sie durch Mailand reitet (R 40f.). So konzentriert, und auf alle Gruppen zugleich verteilt, findet sich das Adjektiv schön an keiner anderen Stelle der Reitergeschichte. In Sequenz 5 wird noch zweimal explizit vom “schönen Beutepferd” gesprochen, beziehungsweise vom “schöne[n] und eitle[n] Pferd”, umgeben von der rehhaften Zierlichkeit seiner Bewegungen und den lachenden Gesichtern der siegreichen Soldaten (R 46). Auffallend ist hier wie dort, in den beiden zentralen Siegesbildern, die Ambivalenz von Schönem und Hässlichem, die ausschließlich an diesen Stellen als lexikalische Opposition zu verzeichnen ist. Der Sieg Rofranos über Mailand wird also schon mit Blick auf die denotative Verwendung des Schönen substituiert durch den Sieg Anton Lerchs über einen feindlichen Offizier. Hatten die ersten, zufälligen Siege der Erzählung, bei denen die Feinde lediglich gefangengenommen werden mussten, immerhin ein Todesopfer in den Reihen der Schwadron gefordert und Mailand sich als eine militärisch bedeutungslose Aktion erwiesen (R 39f.), so wird in Sequenz 5 ohne eigene Verluste und mit unbewusster Triebenergie unter den Feindlichen ein Blutbad angerichtet, sodass dem feindlichen Offizier in der beschriebenen Passage nur mehr “ein Säbel in den Mund fuhr, in dessen kleiner Spitze die Wucht eines galoppierenden Pferdes zusammengedrängt war” (R 46). Lerch wird später – durch Rofranos Hand – zum zweiten, nun aber erzählerisch individualisierten Toten der Schwadron (R 48). Ein Abglanz der postulierten Schönheit findet sich noch zu Beginn der 6. Sequenz. Konfrontiert wird das Schöne dort aber nicht mit dem Hässlichen, sondern mit dem Traumhaften und Privaten. Die “nicht ganz gewöhnliche Stimmung”, als “Erregung” gedeutet, die “von vier an einem Tage glücklich bestandenen Gefechten” herrührt (R 47), wird nur hier kollektiv gewendet. Zwar strukturiert der Code P die Sequenzen 2 und 3 durchgängig, Emotionalität wird aber nur beim Wachtmeister zugelassen. In Sequenz 6 dagegen ergreift sie das ganze Kommando. Unterstützt wird dieser Wechsel durch die partiell angelegte Innensicht des Erzählers, die hier, in Sequenz 6, ebenfalls ausschließlich ein Kollektiv umfasst und deshalb Einblick gibt in Regungen sowie Motivationen der Soldaten. So zeigt sich auch in dieser Detailbetrachtung sowohl Weiterführendes aus Sequenz 5, die Codekombination M und S nämlich, als auch Konterkarierendes, ja selbst für die gesamte Erzählung Neues. Das Konkrete macht abermals das Dilemma offenkundig. Insgesamt wird auch hier die oben angeführte These bekräftigt, die Reitergeschichte zerfalle nach anfänglich klarer Oppositionalität (Sequenz 1 vs. Sequenz 2) zu immer geringerer Ordnung ihrer negierenden Relationen. Die Rückbezüge werden sukzessive vielfältiger und zergliedern sich.
78 8. Diskontinuität versus Kontinuität Wenn in diesem Aufsatz narratologische und denotative Präfigurationen des Semantischen in Aussicht gestellt wurden, so ist das Ergebnis notwendigerweise weit entfernt von Erklärungsmustern, seien sie nun auf Sinnverstehen oder auf Korrelation mit alles determinierenden Hyperstrukturen gerichtet. Dennoch will ich einen Schritt machen aus der zergliedernden Analyse des Datenmaterials hin zu Makrostrukturen der Präfiguration des Semantischen; ein solcher Schritt allerdings wird den Text abermals und deutlicher noch in den Hintergrund verweisen und zugleich verkürzen. Ich will deshalb noch einmal bekräftigen, dass es die Gegenläufigkeiten innerhalb der Mikrostruktur des Textes Reitergeschichte sind, die maßgeblich dessen Faszinosum ausmachen. Die Gegenläufigkeiten der Makrostruktur hingegen sind Summen der analytisch-strukturalen Tätigkeit, vermutlich weit entfernt von möglichen Leseeindrücken des Textes. Angelegt wurde die makrostrukturale Relationierung der Erzählung durch die Bildung der sechs Sequenzen und der aus ihnen hervorgehenden, insgesamt drei Serienschemata nach den vorrangigen Relationen. So stehen im primären Serienschema Zeitgerüst vor Erzählsituation, im sekundären Räume vor Personenanzahl, im tertiären schließlich Leitcode vor Art und Anzahl der Code-Relationen. Die Serien wurden dabei wie folgt charakterisiert: I. die Narration als (primäres) antithetisch-alternierendes Serienschema; II. die Raumstruktur als (sekundäres) Rahmen-Serienschema; III. die lexikalischen Codes als (tertiäres) partiell rekapitulierendes Serienschema. Entsprechen sich die je verschiedenen oppositionellen Relationen der seriellen Gruppierungen hinsichtlich ihres Textumfangs sowohl für Narration (mit je einem Drittel) als auch Raumstruktur (mit je der Hälfte), so antwortet die Rekapitulation nur noch partiell, das heißt verkürzend (zwei Drittel zu ein Drittel). Das tertiäre ist zugleich das Schwächste der drei seriellen Schemata. Serienschema
serielle Gruppe
Sequenzen
Schnitte*
I. Antithetisch-Alternierend
Oppositionspaar 1
1 vs. 2
22
Narration
Oppositionspaar 2 Oppositionspaar 3
3 vs. 4 5 vs. 6
23 20
I. Dasselbe als
Ungerade Serie
1+3+5
30
Äquivalenz-Relation
Gerade Serie
2+4+6
35
II. Rahmend
Rahmenserie
1+5+6
33
Räume
Binnenserie
2+3+4
32
III. Partiell rekapitulierend
Ausgangsserie
1+2+3+4
45
Codes
Rekapitulation
5+6
20
* Anzahl der Schnitte (insgesamt 65 auf 10 Seiten Text, je 6 bis 7 Zeilen), rein quantifizierend
79 Ein eindeutig ausgebauter und noch dazu regelmäßig wiederkehrender Oppositionscharakter ist ausschließlich dem Bereich der Narration (I) eigen. Da es sich primär um das Auf und Ab von Raffungen bzw. Dehnungen handelt, also um Zeitstrukturen, ist eine Anbindung an Semantisches nur mittelbar möglich. Aber gerade der Rhythmus der Reitergeschichte prägt die Aufnahme denotativ-semantischen Materials, steuert die Aufmerksamkeit des Lesers. Der scharfe Kontrast der Tempi muss als generalisierbare Oppositionsstruktur, als Dualismus begriffen werden. Dem steht der vereinheitlichende Charakter eines geschlossenen Rahmens entgegen (II). Im Kleinen weist ja schon der letzte Satz zurück auf den ersten der Geschichte; umso stärker tritt der Rahmen hervor, wenn nach der Dichotomie Landschaft vs. Architektur oder nach vollzogener vs. ausbleibender militärischer Aktion gefragt wird. Unabgeschlossenheit zeigt sich als dritte Variante bei der Frage nach den lexikalischen Codes (III). Die Ausgangsserie wird nur noch als Bruchstück wiederholt, die Geschichte läuft aus ohne Rückbezug oder abgeschlossene Oppositionsstruktur. So ließe sich ein allgemeines Organisationsprinzip im Werk Hofmannsthals auch für die Reitergeschichte nachweisen: das Auseinanderfallen in antagonistischdualistische Grundfiguren einerseits und der Zusammenhalt des Widerstrebenden im ästhetischen Ganzen andererseits.59 Was ich hier die Unabgeschlossenheit des tertiären Serienschemas genannt habe, wäre gleichsam ein Anstoß der Bewegung, die der Rezipient nachzuvollziehen hätte zwischen Oppositionalität und Einheitlichkeit. Die Reihe Oppositionalität (I), Einheitlichkeit (II) und Unabgeschlossenheit (III) verdankt sich einem Reduktionismus, der Disparates ausgrenzen muss, um zur Abstraktion übergreifender Begrifflichkeit zu gelangen. Genau das war das Problem des Lords Chandos, das nicht gelöst, sondern nur dargestellt werden konnte. Diesem Dilemma wird gerade nicht durch Bildung eines 59
Resch bestätigt dies: “Hofmannsthals Werk ist durchzogen von dualistischen Prinzipien wie Tod und Leben, Traum und Wirklichkeit, Vergessen und Erinnern. Derartige Antipoden finden sich als Spannungsmomente […] in sämtlichen Elementen seines Werkes. […] Die meisten Forscher werten diese Dualismen nicht als unverstehliche Antipoden, sondern als komplementäre Kontraste. Hofmannsthal selbst sah die negativen und positiven Pole in seinem Werk als Kontrapunkte eines einheitlichen Ganzen […]. Er glaubte, man müsse nur tief genug in ein Kunstwerk eindringen, um auf seine Einheitlichkeit zu stoßen.” Margit Resch: Das Symbol als Prozeß bei Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts.: Forum Academicum 1980. S. 1f. Botterman sieht die durchgängige Ambivalenz auch als einen Widerstreit von realistischem und symbolischem Erzählen, dem zufolge in einem historischen Geschehen der Grund für eine metaphysische Konfrontation liege. John Botterman: History and Metaphysics. Hofmannsthal’s “Reitergeschichte” as a Realistic and Symbolic Novella. In: Modern Austrian Literature 21 (1988). Heft 1. S. 1–15. Hier: S. 12.
80 Serienschemas, das als oppositionell gekennzeichnet wurde, abgeholfen; es wird in der strukturalen Analyse vielmehr verstärkt. In einem letzten Versuch will ich zeigen, dass auch auf der hier konstruierten Ebene metasystematischer Korrelationen der Einzelergebnisse untereinander das Diskontinuierliche nicht verschwindet. Ich wähle bewusst eine tabellarische Darstellung für die zusammenfassende Charakteristik der drei Serienschemata. Zur Erinnerung: Im Serienschema I stehen Raffung gegen Dehnung wie A zu B, und zwar in dreimaliger Folge. Im Schema II sind Landschaft (A) und architektonischer Raum (B) die Oppositionspaare. Schema III schließlich zeigt die Konfrontation dreier Leitcodes, nämlich Militärisches (A), Privates (B) und Hässliches (C). Aus dieser Zuweisung resultiert folgende Tabelle:
Serienschema I II III
Sequenz 1
2
3
4
5
6
A A A
B B B
A B B
B B C
A A A
B A (B)
Eine neue, vertikale Lesart dieser Tabelle markiert sowohl Auffälligkeiten, die in der Analyse bereits vermerkt wurden, als auch Gegenläufigkeiten, Diskontinuitäten der Strukturen. Nur einer Oppositions-Relation, dem Bruch von Sequenz 1 zu Sequenz 2 (⫽ 3 A vs. 3 B), zwischen alter und neuer Geschichte, Einlösung des Programms und Auflösung der Erzählung, steht nur eine Äquivalenz-Relation entgegen: Sequenz 1 und Sequenz 5, die nach allen Seiten gewendet nahezu immer als gleichartig beschrieben werden konnten / (3 A ⫹ 3 A). Dazwischen, und stärker noch am Schluss der Reitergeschichte, signalisieren schon die drei konträren Serienschemata das Ausbrechen der Diskontinuitäten aus den ordnenden Strukturen. Im Changieren von Opposition und Differenz, zwischen dem genuin modernen Strukturalismus und dem nachmodernen Poststrukturalismus etwa der Dekonstruktion, mit dem Wechsel von Kontinuität und Diskontinuität sind aber genau die Mechanismen bezeichnet, die eine komplexe Totalität entfalten und das Universum der Interpretation eröffnen. Der Text sieht den Leser vor. Er ist “nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner […] Interpretationen konstituiert”.60 Dass dies zielgerichtet inszeniert werden kann durch die Steuerung des Rezipienten, wollte die vorliegende Studie zeigen. Sie erweist die Novelle Hofmannsthals als modern61 im Sinne Foucaults: eine
60
Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten [1979]. Übers. aus d. Ital. von Heinz-Georg Held. München – Wien: Hanser 1987. S. 73. 61 Vgl. etwa Botterman: History and Metaphysics (Anm. 59). S. 1.
81 Moderne aber, die ihre Öffnung zur Diskontinuität taktisch einsetzt; eine Moderne, die deshalb noch keine Postmoderne (oder ihr Vorgriff) sein muss; eine Moderne schließlich, die auch keinen Zugang mehr findet zum ‘rohen Sein der Sprache’ oder zu einer Zeit vor der (nur) so genannten Sprachkrise. Die Reitergeschichte wäre damit auch eine Ergänzung zum Chandos-Brief.62
62
Und nicht etwa seine logische Negation. Vgl. Burkhard: “Reitergeschichte”, ein Gegenstück zum Chandosbrief (Anm. 22). S. 37. Zur Modernität des Briefes als “Möglichkeit einer Offenheit des Bedeutens” vgl. Andreas Härter: Der Anstand des Schweigens. Bedingungen des Redens in Hofmannsthals “Brief”. Bonn: Bouvier 1989. S. 123.
Anke Gilleir
“Wir überschlagen den Schiffskatalog der Ilias und halten uns an die Feldherren”. Betrachtungen über “die Romantikerinnenrezeption” aus der Genderperspektive Although gender studies and women’s studies have become an aknowledged part of the academic curriculum in the humanities over the last decades, their presence has not necessarily lead to major changes in general scholarly knowledge. Whereas the word gender becomes worn out and loses significance, the major presence of women in the fields of gender studies and women’s studies seems to nurture the old idea of women’s natural inclination to be occupied among their own sex. In reply to Joan Scott’s call to analyse the “epistemologies, institutions and practices” in order to trace the impact of our highly gendered knowledge, this article proposes an investigation into the reception of women of early German romanticism in the historiography of literature around 1900: who wrote about whom, what were the socio-institutional circumstances, which epistemes dominated the writing of literary history, who survied and became part of the national literary heritage.
I. Ein flüchtiger Blick auf die Genderforschung und Frauenforschung in der Literaturwissenschaft genügt um festzustellen, dass in diesem Teilfeld vor allem Forscherinnen tätig sind.1 Die Gründe für die ungleiche Verteilung der Geschlechter in jenen Wissenschafts(teil)bereichen sind divers und sie bedürfen alles andere als einer einfältigen Antwort. Einige historische Begebenheiten leuchten indes ein. So die Tatsache, dass Frauen seit der Spätaufklärung nicht als geistig-autonome, sondern als primär-geschlechtliche Subjekte definiert 1
Inge Stephan hat theoretisch grundsätzlich recht, wenn sie zu folgender Schlussfolgerung kommt: “[…] die gender-Kategorie [stellt] stärker als die Feminismus-Kategorie […] ein Aufgebot auch an männliche Wissenschaftler dar, sich mit der Konstruiertheit ihrer eigenen und der in Texten vermittelten Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen. Damit kann die ungute ‘Arbeitsteilung’ zwischen Frauen, die Frauenforschung bzw. feministische Forschung betreiben, und Männern, die sich der ‘richtigen’ Wissenschaft widmen, aufgehoben werden […].” Inge Stephan: ‘Gender’. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Germanistik. 9 (1999). S. 23–35. Hier: S. 33. Die Praxis der Wissenschaft aber bestätigt das Bild der “unguten ‘Arbeitsteilung’”; in Stephans und von Brauns Einführung in die Genderstudien gibt es unter fünfundzwanzig wissenschaftlichen Beiträgern zwei Männer. Siehe: Gender Studien. Eine Einführung. Hg. v. Inge Stephan u. Christina von Braun. Stuttgart – Weimar: Metzler 2. Aufl. 2006.
84 wurden und ihnen demensprechend in allen wesentlichen Dimensionen der Öffentlichkeit, auch der Literatur, ein Nischenplatz zukam. Es sind dann vor allem Frauen, die die Illusion allgemeinmenschlicher Kultur und universeller Freiheit enttarnt haben, als sie sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts in der Forschung etablierten. In der theoretischen Literaturwissenschaft und in der Literaturgeschichtsschreibung sind es seitdem aber immer wieder Frauen, die sich mit Genderthemen oder mit weiblicher Autorschaft befassen. Ironisches Ergebnis dieser gendered Verteilung der Literaturforschung ist, dass die Wörter ‘Geschlecht’ und ‘Frau’ zu einem Begriff werden, und dass so etwas wie eine ‘weibliche’ Forschungstradition entsteht, die letztendlich die historische Nischenexistenz weiterzuführen droht. Der vorliegende Aufsatz ist keineswegs die Synthese eines breiten Forschungsprojekts über diese Thematik. Eine eingehende wissenschaftshistorische und soziologische (und vorzugsweise komparatistische) Übersicht über die institutionelle Position von Frauenforschung und Genderstudies in Literaturwissenschaft und Germanistik bis heute steht m.E. aus.2 Skizzenhaft wird ein Aspekt dieser Problematik aufgegriffen, indem die Rezeptionsgeschichte der ‘Romantikerin’ Caroline Schlegel-Schelling in den Jahrzehnten vor und nach 1900 beleuchtet wird. Genauer gesagt: es wird der Frage nachgegangen, wer sich wann mit ihr befasste und in welchem Verhältnis diese unterschiedlichen historischen Deutungen von Schlegel-Schelling zur Überlieferung des (nationalen) Literaturvermächtnisses stehen.
II. Am 15. Oktober 1909 hält der Germanist Erich Schmidt (1853–1913) eine Rede anlässlich seines Antritts als Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin.3 Das Thema seines Vortrags, die literarische Persönlichkeit, liegt ihm in mehr als einer Hinsicht nahe am Herzen. Als Geisteswissenschaftler profiliert er sich ausdrücklich 2 Zur Geschichte der Frauen in Wissenschaft und an der Universität siehe z.B.: Frauen in Akademie und Wissenschaften. Arbeitsorte und Forschungspraktiken. Hg. von Theresa Wobbe. Berlin: Akademieverlag 2002; Wissen, Gender, Professionalisierung: historisch-soziologische Studien. Hg. von Claudia Honegger. Zürich: Chronos Verlag 2003; Barbara Hahn: Frauen in den Kulturwissenschaften.Von Lou Andreas-Salome bis Hannah Arendt. München: Verlag C.H. Beck 1994. Die Feststellung, dass “Gender Studies […] markt- und diskussionsbeherrschend sind” mag stimmen, aber ist m.E. im Hinblick auf institutionelle und kultursoziologische Wissenschaftsgeschichte zu nuancieren. Vgl. Claudia Breger, Dorothea Dornhof und Dagmar von Hoff: Gender Studies/Gender Trouble. Tendenzen und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik. 9 (1999). S. 72–113. 3 Erich Schmidt: Die literarische Persönlichkeit. Rede zum Antritt des Rektorates der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Berlin: Universitätsdruckerei Gustav Schade 1909.
85 in einer immer mehr durch die Naturwissenschaften dominierten Wissenswelt. Als zeitgenössischer Literaturwissenschaftler distanziert er sich in seinem Plädoyer für die Beachtung der literarischen Persönlichkeit von Wissenschaftstendenzen, deren Hang zu Kollektiverklärungen in wahllose Datenansammlung – “arena sine calce” – mündet und Literaturgeschichte in “Herbarien” verwandelt. Mit Vergnügen stellt Schmidt fest, dass im Garten der Universität neben dem Denkmal des Naturwissenschaftlers Hermann von Helmholtz “endlich das Standbild Heinrich von Treitschkes sich gesellt[e] […] und demnächst Theodor Mommsen hinzutreten wird.”4 Denn mittels dieser Symbolik wird offiziell anerkannt, dass die Geisteswissenschaften grundsätzlich Teil der Universität sind und es wird ihre potenzielle gesellschaftspolitische Bedeutung hervorgehoben. Darüber hinaus haben für Schmidt als fachwissenschaftlichen Germanisten gerade diese zwei Historiker eine besondere Bedeutung, handelt es sich – allen Differenzen zum Trotz – doch in beiden Fällen um “Künstler des historischen Porträts.”5 Vorliebe für die “literarische Persönlichkeit” bedeutet für Schmidt aber nicht, sich der Reihe jener Literaturhistoriker anzuschließen, die einen Kult des “venerare maronem” betreiben, einige wenige Dichter zum Maßstab aller Literatur machen und überhaupt sich durch “eine richtende Strenge des Urteils” auszeichnen: Man begreift, daß dieser äusserste Gegner hypomnematischer Annalen [Carlyle, Emerson u. Hermann Grimm] auf der Bahn des Goetheschen “Winckelmann” wandeln und eigensinnig in einer Zeit zudringender Urkunden- und Erkenntnisfülle vom Berge zu Berge schreitend seinen Blick nur auf ein paar höchsten Höhen der Weltliteratur, deren Namen und Umgebungen den Geistesaristokraten nicht schierten, ruhen lassen wollte.6
Nicht ohne Ironie gesteht Schmidt, “wir überschlagen den Schiffskatalog der Ilias und halten uns an die Feldherren”, weil er nicht wie Wilhelm Grimm ein Literaturwissenschaftler sein will, der “schroff [die] Hemisphären der Dichtung absteckt”. Erstrebt wird bei Schmidt aber ein Kompromiss zwischen der Anerkennung dessen, was Herder das “Genie” nannte und der positivistischen Erkenntnis, dass “das einzelne Werk […] nach Zeit, Ort, Verfasser schmiegsam zu empfangen [ist], ohne deshalb auf Abschätzung der Werte zu verzichten, die uns eine vergleichende Entwicklungsgeschichte ergibt.”7 Wörter wie “schmiegsam empfangen”, “Entwicklungsgeschichte” und “Wert” sind Fremdkörper im heutigen literaturwissenschaftlichen Diskurs: Schmidts Rhetorik entstammt einer Wissenschaft, die sich als “législateur de Parnasse” sah und einen “ästhetischen Historismus” (Kruckis) betrieb, dessen Ausschlussmechanismen in Bezug auf 4
Ebd. S. 3. Ebd. 6 Ebd. S. 11. 7 Ebd. S. 7. 5
86 Frauen und ihr literarisches Œuvre genügsam bekannt, dennoch bis zum heutigen Tag, jedenfalls was literarische Schulkenntnisse betrifft, besonders wirksam sind.8 Die feministische Literaturwissenschaft hat sich von jener sich als metaphysische Wahrheit offenbarenden, heroisch-ästhetischen Geschichtsschreibung losgerissen. In ihren unterschiedlichen theoretischen Orientierungen hat sie den ideologischen und eklektischen Charakter dieser Form der Kulturüberlieferung enttarnt, in der ‘höchste’ Individualität – ob staatspolitisch oder künstlerisch – nur von Männern verkörpert wird bzw. werden kann.9 In dem Zusammenhang kann diese frühe Phase der Literaturgeschichtsschreibung als Spiegelbild der modernen Staatsordnung betrachtet werden, die auf der Anerkennung des Individuums beruht, einer Anerkennung jedoch, die durch Nichtanerkennung ‘der Frauen’ als Gesamtkategorie konstituiert wird, und die damit in ihren Grundsätzen paradox ist. Wie die Historikerin Joan Scott nachweist, dominiert in den Frühphasen der Demokratie in verschiedenen Variationen die Rousseau’sche (und im deutschen Sprachgebiet die Herder’sche) Idee, dass “[a]ll women fall into the same category, whereas each man is an individual unto himself; the physiognomy of the former conforms to a generalized standard; that of the latter is in each case unique.”10 Heute gibt es in allen europäischen Sprachen ‘Geschichten der Frauen’ und ‘Geschichten der Frauenliteratur’, die das mainstream Wissen über die literarische Kultur vergangener Epochen ergänzen, korrigieren und aus der Genderperspektive umschreiben.11 Ob damit das ‘allgemeine Wissen’ tatsächlich verändert dasteht,
8
Eine Ausnahme ist Annette von Droste-Hülshoff, die als Dichterin schon zu Lebzeiten dem literarischen Kanon zugerechnet wurde. Annette Runte weist allerdings darauf hin, dass Droste-Hülshoff im Rezeptionsdiskurs als männliche Autorin vereinnahmt wird. Siehe: Annette Runte: Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005. S. 83. 9 Siehe dazu: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1979. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1858. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1991. 10 Cesare Lombroso zitiert in: Joan Wallach Scott: Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1996. S. 9. 11 Das Forschungsfeld in Bezug auf Gender und Frauenliteratur ist besonders weit geworden in den letzten Jahrzehnten, so dass eine Aufzählung relevanter Studien hier nicht unmöglich ist. Besonders einleuchtend als Beispiel einer aus Genderperspektive ‘umgeschriebenen’ Literaturgeschichte ist: Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 1997 und: Dies.: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner 2006.
87 ist keineswegs so sicher,12 trotzdem hat die feministische und gendered Literaturgeschichte sich einiger Kritik ausgesetzt, weil es ihr als wesentlich theoretisch begründete Gegenbewegung nicht immer gelungen ist, sich aus der Epistemologie der ‘traditionellen’ Geschichtsschreibung zu lösen. Sie entwirft Genealogien identitätsstiftender Geschichtsbilder, basiert auf evolutionsgeschichtlichen Prämissen oder zeigt ein Anliegen, historische Fälle ‘authentischer Weiblichkeit’ greifbar machen zu wollen.13 Ein Beispiel dieser Kritik ist Jutta Schlichs scharfsinnige, vielleicht etwas zu scharfe Analyse der feministischen “Romantikerinnenrezeption”. Im Rahmen eines “feministischen Authentizitätskonzepts” offenbart sich diese Rezeption als schlichte Wiederaufnahme oder höchstens “Neufärbung” jenes Weiblichkeitsparadigmas, das seit dem späten 18. Jahrhundert das Wesen und damit die gesellschaftliche Verdrängung der Frauen bestimmt. Schlich spricht von einem “ahistorischen und damit wenig sachdienlichen feministischen Schulterschluss im Zeichen weiblicher Authentizität […]”, der sich als unplausibel weil ausgesprochen ideologisch erweist. Als umgekehrtes Schema des ehemaligen Kults des Ästhetischen habe die zweite feministische Welle in den sechziger Jahren eine “kulturkritische Entsublimierung ästhetischer Formen” betrieben. Schlüsselfigur für diese “äußerst problematische” Rezeption ist Christa Wolf, “die literaturwissenschaftliche Annährung durch opferorientierte Identifikationsmuster” ersetzte, welches letztendlich einen Mangel an Selbstbewusstsein verrät.14 Ähnlich kritisch äußerte 12 “Bislang wurden deren Forschungsergebnisse, wie z.B. die Beiträge, welche die historische Genderforschung zu Entstehung und Genese des Nationalstaats präsentiert hat, dennoch nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Wenn überhaupt, so lassen sich Gender-Aspekte noch am besten in “Teil”-Geschichten (Familiengeschichte, Geschichte der Sexualität usw.) integrieren.” Claudia Opitz: Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Gender – die Tücken einer Kategorie. Hg. von Claudia Honegger u. Caroline Arni. Zürich: Chronos Verlag 2001. S. 97–113. Hier: S. 107. 13 “Es gibt sogar Lexika und Literaturgeschichten, die ausschließlich über Autorinnen und ihre Werke informieren. So wichtig solche Arbeiten auch sind, so problematisch sind sie, wenn sie nur als Ergänzung oder schlichte Umkehrung oder Umwertung des gängigen Konzepts konzipiert sind.” Inge Stephan (Anm. 1). S. 31. 14 Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2002. S. 24–46. Hier: S. 42. Mandelkows Analyse der Romantikerrezeption nuanciert Schlichs Kritik an Christa Wolf, indem er auf die problematische Rezeption der historischen Romantik im Rahmen der marxistischen Kulturpolitik der DDR hinweist. Kennzeichnend ist andererseits, dass Mandelkow die feministische Dimension von Christa Wolfs Darstellung der Romantikerinnen übersieht. Siehe: Karl Robert Mandelkow: Vom Kaiserreich zur Neuen Bundesrepublik. Romantikrezeption im Spiegel der Wandelungen von Staat und Gesellschaft in Deutschland. In: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Klassik- und Romantikrezeption in Deutschland. Peter Lang: Frankfurt – Bern – Berlin 2001. S. 341–361. Hier: S. 360.
88 sich Joan Scott, immerhin die ‘Gründerin’der feministischen Geschichtsforschung, am Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts über die Enwicklung und Wirkung der ausufernden Gender- und Frauenforschung und zeigte Skepsis über Projektionen ‘weiblicher Identität’, die sich wie ein roter Faden durch die Frauenforschung ziehen: “Was there a stable female subject whose story we could tell despite the different contexts within which she lived? Were we producing that subject through our research and writing or did she preexist our interest in her?”15 Eines der Probleme, um die es hier geht, ist, dass in feministischer Geschichtsund Kulturforschung häufig weibliche Genealogien generiert werden, wobei biologisch-genetische und sozio-kulturelle Episteme amalgamiert werden.16 Genealogie als Rechtfertigungsstrategie gesellschaftlicher Positionen enhält eine essentialistische und zugleich evolutionäre Tendenz, die nicht nur paradox erscheint im Hinblick auf historische Geschlechtertheorien, die die Frau als anthropologische Sonderkategorie sui generis definiert, sondern auch auf der Folie gegenwärtiger Evolutionsbiologie und Genetikforschung die erstrebte Subjektemanzipation der Frauen eher bedroht.17 Eine ‘Lösung’ bietet Scott in ihren historischen Fallstudien französischer Feministinnen, was einerseits, wie Claudia Opitz bemerkt, ein überraschendes Thema ist im Hinblick auf die von Scott kritisierte Tendenz zu genealogisch-historischer Frauenforschung.18 Aber ihre Studie von unterschiedlichen historischen Feministinnen ist keine identifikatorische Biografie, wie so häufig im Bereich des Themas ‘Frau’, sondern eine Lektüre der Texte und dominanten Diskurse, mit geschärftem Blick für
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Joan Scott: Millenial Phantasies. The future of ‘gender’ in the 21st Century. In: Gender – die Tücken einer Kategorie (Anm. 12). S. 19–38. 16 “[…] history of feminism, one inherited from nineteenth-century feminists [who] constructed a history to parallel the great evolutionary histories of their day.” Joan Scott (Anm. 15). S. 1. 17 Unbehagen in Bezug auf neueste Wissenschaftstrends zeigt sich in Scotts weit rezipiertem Aufsatz Millenial Phantasies, in dem die Historikerin unter Druck von Wissenschaftstrends wie dem Human Genome Project oder dem Neodarwinismus fast verzweifelt eine Lösung für das vielfach vereinnahmte Wort ‘Gender’ sucht. 18 “Es gibt für Scott kein Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Sinne von direkten Vorläufern oder Präzedenzfällen. Damit werden Geschichte und Gegenwart getrennt, und die Gegenwart wird historisiert. […] Aus einer solchen Konzeption von Geschichte folgt für Scott die Notwendigkeit, Geschichtsschreibung als Interpretation von Differenzierungsprozessen oder genauer von Identifizierungsprozessen zu begreifen. […] In ihrem jüngsten Buch zur Geschichte des Feminismus in Frankreich wählte Joan Scott überraschenderweise dennoch ‘concrete historical women’, nämlich eine Korona von Feministinnen und ihre (frauen-)politischen Schriften […]”. Claudia Opitz (Anm. 12). S. 108.
89 Widersprüche, Bedeutungsrisse und historisch variierende Episteme, “[a] close and detailed reading that focusses on individuals, however idiosyncratic”: Instead of assuming that agency follows from an innate human will, I want to understand feminism in terms of discursive processes – the epistemologies, institutions and practices – that produce political subjects, that make agency (in this case the agency of feminists) possible, even when it is forbidden or denied.19
III. Joan Scotts French Feminists and the Rights of Man verknüpft insofern Frauenund Genderforschung, als Gender und Frauen nicht in eins gesetzt werden. Mittels eines diskursanalytischen Verfahrens erforscht sie, wie die Vergeschlechtlichung und damit gesellschaftliche Verdrängung von Frauen in historisch verschiedenen Kontexten geschieht und wie Frauen dies beantwortet haben.20 Scott beschreibt eine Geschichte der politischen Frauenemanzipation vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, die, wie bekannt, in ihrem Aufruf zur universellen Freiheit tiefe Widersprüche enthält. Die Prinzipien der “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” hatten aber im Feld der Literatur – oder in der Literaturforschung – niemals Legitimität. Eher im Gegenteil. Bourdieu weist in seiner soziologischen Analyse der französischen literarischen Kultur seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach, wie Ausschluss und Konkurrenz die Konstitutionsprinzipien einer literarischen Elite sind, die sich von der ‘Nivellierung’ des übrigen Literaturbetriebs und der Öffentlichkeit distanziert.21 Aufrufe zur universellen Gleichberechtigung können im literarischen Raum nur absurd sein, ist es doch universell anerkannt, wie André Gides bekanntes Diktum zusammenfasst, dass mit guten Gefühlen keine gute Literatur gemacht wird.22 Was allerdings die symbolisch dominante 19
Joan Scott: Only Paradoxes to Offer (Anm. 15). S. 16. Dass Scott keine weibliche Identität in ihrer Frauenforschung umreißt, bestätigt auch die Philosophin Rosi Braidotti: “The affirmation of a common symbolic condition is, however, only a partial starting point because women are not, in any way, the same. Feminist theory is a philosophy of multiple location and of multiple differences among women, rejecting thus global statements in favour of more situated and consequentrly more partial perspectives.” Rosi Braidotti: On conceptual Personae and Historical Narratives. A Comment on History and Poststructuralist Philosophy. In: Gender – die Tücken einer Kategorie (Anm. 12). S. 68. 21 Ein anerkannter Künstler und Schriftsteller ist nicht nur Urheber eines Œuvres, sondern er schafft auch sich selber den (ungeschriebenen) Regeln des künstlerischen Feldes entsprechend und versichert damit seine Überlieferung. Siehe: Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Génese et structure du champ littéraire. Paris: Seuil 1992. 22 Zitiert in: Benoit Denis: Littérature et engament: de Pascal à Sartre. Paris: Seuil 2000. S. 33. 20
90 Kultur mit der ‘verpönten’ – ob nun akademischen oder politischen – Öffentlichkeit nolens volens verbindet, ist die Nichtanerkennung der Frau als (schöpferisches) Subjekt.23 Die Tatsache, dass das literarische Leben eine Arena ist, in der jede(r) seine Chance wahrnehmen kann, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier Ausschlussmechanismen für Frauen gelten. Zu fragen ist aber nicht, wie im politischen Bereich, nach expliziten Ausschlussdiktaten, sondern es geht um den Ausschluss aus dem Ausschluss. Die Frage nach dem Freiheitsverbot, wie Scott sie für die Bürgerrechte verfolgt, wird zu derjenigen nach dem Teilnahmeverbot am literarischen Wettbewerb, ein Verbot, das sowohl a priori – im literarischen Leben selbst – wie a posteriori – in der Rezeption und Überlieferung der Literatur – zu beobachten ist. Dass im letzten Fall neben poetologischen, kulturkritischen und wisenschaftlichen Diskursen durchaus auch die Geschichte der Institutionen zu beachten ist, hat Barbara Hahn in Frauen in den Kulturwissenschaften (1994) nachgewiesen. Obwohl Hahns Werk von historischen Frauen handelt, wird auch hier keine ‘Genealogie’ von Vorgängerinnen präsentiert. Die Geschichte weiblicher Akademikerinnen in Deutschland vor 1933 besteht aus Einzelporträts, die große Unterschiede aufzeigen, denen jedoch gemein ist, dass ihre “Arbeiten […] aus der Überlieferung wissenschaftlicher ebenso wie theoretischer Debatten […] häufig ausgespart blieben.”24 Die Unbekanntheit (älterer) wissenschaftlicher Werke von Frauen ist kein Zufall und lässt sich nicht durch ihren Mangel an Talent oder Intelligenz begründen. Sie ist das Symptom einer geschlechtlichen Doxa, die in allen möglichen gesellschaftlichen Einrichtungen spürbar ist, nicht zuletzt im akademischen Bereich und seiner ritualisierten Wissensüberlieferung, in der “Lehrer-Schüler-Beziehungen […] von kaum zu unterschätzender Bedeutung sind [denn] sie gründen auf einer anthropologischen Konstante, nach der Wissensbewahrung und -weitergabe in vorschriftlichen wie in Schrift-kulturen vor sich geht.”25 Dieser Logik entspricht jedenfalls die Tatsache, dass die Überlieferung des ‘weiblichen Erbes’ in diversen Kultur- und Wissensfeldern erst mit der etablierten Anwesenheit von Frauen in Forschungsinstitutionen in den Blick kommt: “[…] erst in den zwanziger
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Siehe dazu: Anke Gilleir: Johanna Schopenhauer und die Weimarer Klassik. Betrachtungen über die Selbstpositionierung weiblichen Schreibens. Hildesheim: Olms Verlag 2000. 24 Barbara Hahn (Anm. 2). S. 11. (Hahn beschränkt sich nicht auf Lebensläufe, sondern rückt ausdrücklich die wissenschaftliche Arbeit und die Theorien der verschiedenen Frauen in den Blick). 25 Eberhard Lämmert zitiert in Barbara Hahn (Anm. 2). S. 17.
91 Jahren beginnen Frauen, sich intensiv mit theoretischen Texten anderer Frauen zu beschäftigen. Es ist erstaunlich, daß über diese Konstellation so wenig nachgedacht wurde.”26
IV. Erich Schmidts Antrittsrede bringt die bisher gesponnenen Fäden zusammen. Sein Vortrag über das “Vermächtnis der vorausgegangenen Persönlichkeiten” findet genau ein Jahr, nachdem in Preußen den Frauen das Hochschulstudium genehmigt wurde, statt.27 Dieses Ereignis bleibt aber unerwähnt: die Rede gilt den “werten Kollegen, lieben Kommilitonen” und lässt sich über die neuangekommenen Frauen nicht aus. Der “renommierte Hauptvertreter der germanistischen Literaturwissenschaft im Kaiserreich”28 spricht stattdessen über die Signifikanz der literarischen Persönlichkeit, die, im Hinblick auf seine Forschungsschwerpunkte Goethe, Lessing, Kleist, eine ‘klassische’ Galerie großer Männer ist und damit die literaturwissenschaftliche Bestätigung der innerhalb der literarischen Kultur selbst durchgeführten Verdrängung der Frauen.29 Damit ist aber nicht alles gesagt. Wenige Jahre nach seiner Rede befasst sich Erich Schmidt mit einer neuen Textedition, die alles mit weiblichem Vermächtnis zu tun hat und zum Schlussstein seines wissenschaftlichen Oeuvres wird. Es handelt sich um die Briefe Caroline Schlegel-Schellings, die Schmidt 1913, im Jahr seines Todes, veröffentlicht. Schmidts Caroline. Briefe aus der Frühromantik ist das Fragment einer geplanten umfassenden Monografie über die Romantik, die aber nicht zustande kommt.30 Sie basiert auf der älteren Briefausgabe von Schellings Schwiegersohn Georg Waitz, der, wie Schmidt bemerkt, neben seinen gewichtigen Leistungen als Historiker in jahrelanger liebevoller Erholungsarbeit, die Unzähligen zum Gewinn und Genuß ward, aus dem
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Barbara Hahn (Anm. 2). S. 25 und S. 331. (Hahn unterscheidet zwischen dem Feld der Literatur und dem akademischen Bereich, dessen Grenzen gegen Frauen institutionell bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts festgelegt waren. Dennoch kennzeichnet das grundsätzlich nicht-institutionalisierte literarische Leben eine nicht weniger starke Verdrängungsgeschichte.) 27 Ebd. S. 13. 28 Karl Robert Mandelkow (Anm. 14). S. 341. 29 In einem Brief an Burdach vom 10.9.1888 schreibt Schmidt irritiert: “Die verfluchte Corrigirerei des Faust und eines bösen Weiberbuchs über die Gans v. Lesbos, Amalia Imhoff!”. Konrad Burdach – Erich Schmidt. Briefwechsel 1884–1912. Hg. v. Agnes Ziegengeist. Stuttgart-Leipzig: Hirschl Verlag 1998. S. 67. 30 Ebd. S. 138.
92 Familiennachlass und anderen Quellen ungeahnte Schätze von Urkunden der Lebensgefährtin A.W. Schlegels und Schellings geschöpft [hat].31
Die Hervorhebung, dass Waitz’ Arbeit am Nachlass Caroline SchlegelSchellings keine professionelle Beschäftigung war, mag als Entschuldigung für wissenschaftliche Schwächen im Werk fungieren, auf die Schmidt nicht detailliert eingeht. Nur am Ende seines Vorworts weist er darauf hin, dass Waitz “bei Errichtung des Denkmals kürzend [verfuhr]”. Das hängt, so Schmidt, mit der Übermenge an Material zusammen wie aber auch mit Waitz’ “Familienpietät”, die ihn dazu brachte “ein[en] Schleier über die schlimmste Episode in diesem Frauenleben [zu breiten]”.32 Diese Strategie war aber ein grundsätzlicher Fehler, denn Bald aber trat, nicht ohne strenges Pathos, Haym auf den Plan und enthüllte aus Briefen Friedrich Schlegels das Mainzer Abenteuer samt seinen Folgen, ohne die Begeisterung dämpfen zu können, die namentlich W. Scherer laut bekannt hatte.33
Die Anekdote über Rudolf Haym und Wilhelm Scherer ist interessant in Bezug auf die Art und Weise, wie Frauen innerhalb der historischen literarischen Kultur in der damaligen akademischen Literaturwissenschaft rezipiert werden: mehr als ihrem geistigen Beitrag widmet sich die Überlieferung sittlichen oder pikanten Details, die Frauen nach jenem Ethos des privat-bürgerlichen Lebens beurteilt, dessen Legitimität im öffentlichen Raum – und überhaupt im Feld der Kultur – eigentlich keine Geltungskraft hat. In seinen Deutschen Bildnissen malt Scherer ein begeistertes Bild von Caroline Schlegel-Schelling, das sich weniger als wissenschaftliche Betrachtung denn als das Bekenntnis eines Verliebten ausnimmt, der sich aufgefordert fühlt, “zum Ritter der hart Angefochtenen zu werden”.34 Hayms Strenge und Scherers Rittertum bestätigen beide das Verbot der expliziten Anwesenheit von Frauen in der Öffentlichkeit: ein Gesetz, das
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Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz. Hg. von Erich Schmidt. Leipzig: Insel Verlag 1913. S. xi. 32 Ebd. S. xx. Caroline Schlegel-Schelling hat den Germanisten durch seine gesamte Laufbahn interessiert. Schon in einem Brief an seinen Lehrer Wilhelm Scherer vom 19. März 1875 heißt es: “Hier ist es jetzt öde – doch ich sollte das nicht sagen, denn vor mir liegen anziehende Bücher aufgeschlagen, vor allem Caroline.” Wilhelm Scherer – Erich Schmidt. Briefwechsel. Hg. v. Werner Richter u. Eberhard Lämmert. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1963. S. 59. 33 Caroline (Anm. 31). S. xx. 34 Wilhelm Scherer: Caroline Michaelis. In: Deutsche Bildnisse. Dichter- und Gelehrtenporträts. Berlin: Deutsche Bibliothek. S.d. S. 209–225. Hier: S. 212.
93 Caroline Schlegel-Schelling übertreten hat, weshalb sie (und ihre Nachkommen) zur öffentlichen Prangerstrafe verurteilt werden.35 Erich Schmidts Briefausgabe ist im Gegensatz dazu ein streng wissenschaftliches Werk, das sich durch einen mehr als hundert Seiten umfassenden, akribischen Notenapparat auszeichnet und sich von jeglicher “liebevolle[r] Erholungsarbeit” oder Schwärmerei im Sinne Wilhelm Scherers distanziert. Das Wort “Denkmal” und die begrifflich damit verknüpfte Assoziation der öffentlichen Anerkennung erhält in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Der Nexus von Schmidts literaturtheoretischer Grundlage, die literarische Persönlichkeit oder die “schöne Individualität”,36 erlaubt den Eintritt einer “höchst interessanten Frau” in die Annalen der nationalen Kulturgeschichte, die kein literarisches Erbe im engen Sinn des Worts zurückgelassen hat, sondern als “seltene deutsche Briefkünstlerin” zu erinnern ist. Um Sittlichkeit kümmert sich der Germanist nicht, eben nach dem Gesetz der kulturellen Öffentlichkeit, dass “diese einzige Frau stark genug ist, sich allein zu behaupten. […] Diese volle Mitteilung ihrer Briefe verstößt nicht gegen den Freisinn, mit dem sie geschrieben und bewahrt worden sind.”37 Indes öffnet Schmidt der Literatur von Frauen oder Frauen tout court nicht die Tür der Akademie. Man kann sich bei der Lektüre seiner Einleitung des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm eine Erleichterung ist, dass Caroline Schlegel-Schelling sich nicht als Autorin erprobt hat und sie daher dem Schicksal entgeht, in die Kategorie der ‘Dilettantinnen’ eingereiht zu werden, die Goethe und Schiller a priori für Frauen entwarfen. Schmidt fand im Nachlass zwar einen Romanentwurf von Schlegel-Schelling, “den Ansatz zu einem frauenhaften Roman […], der offenbar mit geringer Erfindung verhüllte autobiografische Züge, aus dem Vaterhaus, der ersten Ehe, der Liebe zu Tatter, analytisch darbringen wollte.”38 Doch das Projekt wurde nicht ausgeführt, während “Dorothea […] ihren Florentin wenigstens als Torso mit artigem Dilettantismus auf die Messe schickte.”39 Gibt es keinen Zweifel über Scharfsinn, Sprachgewandheit und künstlerisches Urteil von Seiten einer Frau, “die alles Talent zur Schriftstellerei besaß, ohne es selbständig auszuführen”, so bemerkt Schmidt, wie “schön” es ist, dass Friedrich Schlegel, der sich 35
Siehe dazu auch: Anke Gilleir: Therese war klug, während Forster genial war. Therese Huber zwischen gelegter Erinnerung und historischem Gedächtnis. In: Georg-Forster-Studien. 13 (im Druck). 36 Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart: Metzler 1994. S. 550–575. Hier: S. 563. 37 Caroline (Anm. 31). S. xx. Der Frage, inwiefern diese wissenschaftliche Arbeit auch ihren Weg in seine Lehrtätigkeit findet und Teil der Germanistikausbildung wird, ist weiter nachzugehen. 38 Ebd. S. xiii. 39 Ebd. S. xiii.
94 Carolines Urteil immer unterwarf, “sie zu eigner schöpferischer und kritischer Schriftstellerei treiben möchte und doch diese Frau nur bedauernd auf den Markt der Litteratur hinaustreten sähe, als würde sie dadurch entheiligt.”40 Man könnte darüber hinaus sagen, dass Erich Schmidt sich dennoch nicht völlig vom gendered moralisierenden Habitus losgerissen zu haben scheint, wenn er sich weigert, den Skandal des Dreiecksverhältnisses zwischen Friedrich Schelling, Caroline Schlegel und ihrer Tochter Auguste, zu glauben: “Die behauptete Liebe Schellings und Augustens ist ein Mythus.”41 Statt leicht darüber hinwegzugehen, wird es ihm wirklich zum Thema, das im Anhang durch Briefzitate und Kommentare ausführlich belegt wird. Das verhemente Beweisverfahren offenbart Schmidt indes nicht nur als (ritterlichen) Moralisten, sondern ebenso als Protagonist im Feld der Wissenschaft, der sich vis-à-vis anderer Werke über die Romantik profiliert, sich mit neuen Quellen und neuen Argumenten Raum schafft im akademischen Betrieb. So gibt es die vorangegangene Generation von Germanisten, wie den bekannten Halleschen Romantikforscher Rudolf Haym (1821–1901), einen ehemaligen 48er, nationalliberalen Abgeordneten des Preußischen Landtags und Mitbegründer der Preußischen Jahrbücher, dessen Romantische Schule Schmidt als “Meisterwerk” im ersten Satz seiner Einführung hervorhebt, aber der gerade in dem Punkt, wie erwähnt, eine entgegengesetzte Position einnimmt.42 Haym nennt Caroline Schlegel-Schellings Tochter unumwunden Schellings “Geliebte” und schildert Caroline in der zweiten Auflage seines Opus Magnum als eine in persönlichen Angelegenheiten skrupellose Frau.43 Der Unterschied zu Waitz’ Edition und diesem selektivem biografischen Porträt ist groß.
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Ebd. S. xi. Ebd. S. xvi. 42 Im Vorwort zur sechsten Auflage der Romantischen Schule heißt es: “Als der richterliche Geschichtsschreiber einer in ihrem Ideenreichtum und ihrer Problematik die Nachwelt stets neu angehende Epoche hat Rudolf Haym selbst Anspruch darauf, in die Reihe der großen Gelehrten und Denker des neunzehnten Jahrhunderts aufgenommen zu werden wie Mommsen und Burckhardt […]. Sein Amt als Führer durch die deutsche Romantik erscheint wie unter höherem Gesetz dieser Bewegung zugehörig […].” Rudolf Haym: Die Romantische Schule. Hg. von Erwin Redslob. Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1949. S. xii. Siehe auch: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hg. v. Ralf König. Berlin: de Gruyter 2003 [CD-Rom]. 43 Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 2. Aufl. 1906. S. 871 u. S. 715. 1871 veröffentlichte Rudolf Haym in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz über Caroline aufgrund neuaufgefundener Briefe, die die Geschichte ihres Mainzer Abenteuers “in den Armen eines Franzosen” und ihre daraus folgende Schwangerschaft offenbarten. (Rudolf Haym: Ein deutsches Frauenleben aus der Zeit unserer Literaturblüthe. In: Preußische Jahrbücher 28 [1871]. S. 457–506. Hier: S. 477.) Die Reaktion Wilhelm Scherers ist die des betrogenen Liebhabers: “abscheulich! unverzeihlich! ich hatte kein anderes Wort dafür.” Wilhelm Scherer (Anm. 34). S. 221. 41
95 V. Ein anderes Werk, mit dem Schmidt betont nicht in diesen Diskurs eingreift, ist Ricarda Huchs Die Romantik, das 1899 veröffentlicht wurde und es in den nächsten zwei Jahrzehten zu mehr als zehn Neuauflagen brachte.44 Erich Schmidt setzt sich, soweit nachweisbar, nicht direkt mit Huch auseinander, aber zugleich ist es kaum vorstellbar, dass ihr Werk ihm als Literaturforscher nicht bekannt war.45 Dass es zu keiner Gelehrtendiskussion über Die Romantik kam, hängt mit Ricarda Huchs Position außerhalb des akademischen Betriebs zusammen, wodurch sie als Diskussionspartnerin nicht existierte.46 Huch war bekanntlich durch den Ausschluss der Frauen am Hochschulstudium in Deutschland gezwungen, nach Zürich auszuweichen, wo sie ihr Studium als Historikerin 1891 mit der Promotion abschloss.47 Eine wissenschaftliche Karriere war indes auch hier nur am Rande des Establishments möglich, und Huch zog sich aus der Universität zurück, um letztendlich als freie Schriftstellerin zu arbeiten. Der Begriff der ‘gelehrten Frau’ war seit der Frühaufklärung aus der deutschen Kultur verschwunden.48 Mit der Kombination eines akademischen Werdegangs und einer freiberuflichen Position als literarischer wie wissenschaftlicher Autorin entsprach Huch keiner einzigen sozial (an)erkannten Schablone für Frauen, und diese Hybridität befördert um die Jahrhundertwende ihren Ausschluss aus dem Wissenschaftsdiskurs. Im Vorwort zur Erstausgabe 1899 bestätigt Huch diese Außenseiterposition selbst. Weil es heutzutage in Deutschland ein romantisches 44
Ricarda Huch Bibliographie. Hg. von Michael Meyer. Wien: Verlag für Literaturund Sprachwissenschaft 2005. S. 58–60. 45 Jedenfalls hat er Huchs Werk nicht rezensiert. Siehe dazu: Werner Gläser, Harro Torneck u. Ulrich Pretzel: Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt. In: Wilhelm Scherer – Erich Schmidt (Anm. 32). S. 325–362. 46 Der innovierende Literaturwissenschaftler Oskar Walzel (1864–1944), der zu der Zeit der Veröffentlichung an der T.U. Dresden lehrte, rezensierte Huchs Romantikbuch und setzte sich mehrmals mit ihrem – auch dem literarischen – Werk auseinander. Walzel ist auch der Herausgeber von Hayms Schule der Romantik in dritter Auflage und bemüht sich im Vorwort, Hayms strenges Urteil über die Romantik aus historischen Gründen zu erklären, und hat sich “ein Paar Eingriffe gestattet [um] Hayms ganzen Text leichter und rascher zugänglich zu machen.” Rudolf Haym. Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Hg. von Oskar Walzel. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1914. S. vii. 47 Ulrike Vedder: Ricarda Huch. In: Metzler Autorinnen Lexikon. Hg. von Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stephan u. Flora Veit-Wild. Stuttgart – Weimar: Metzler 1998. S. 233–234. Ab 1896 konnten die ersten Frauen sich an der Friedrich-WilhelmUniversität in Berlin als Gasthörerinnen einschreiben. Siehe: Angela Reinthal: ‘Vom Ausschluss zum Abschluss’: Berliner Germanistinnen von 1900 bis 1945. Studienalltag und Lebenswege. Ausstellung vom 6. April bis 8. Mai 2004 an der Humboldtuniversität Berlin. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen. 24/25 (2004). S. 95. 48 Siehe dazu: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit (Anm. 9).
96 Revival gibt, so Huch, spürt man im Gegensatz zur vergangenen Epoche ein “größeres Verständnis für [die romantischen Ideen]”: In dieser Meinung habe ich das Buch geschrieben, das sich den über den selben Gegenstand bereits bestehenden Werken nicht an die Seite stellen, geschweige denn sie verdrängen soll. Denn ich beabsichtige nur den Sinn der Romantik darzustellen, das Denken der Romantiker, wie es aus ihrem Wesen hervorging, und habe deshalb versucht, ein Bild der Menschen, die in Betracht kommen, zu geben und dann ihrer Ideen. Meine Quellen waren einzig die Werke der Romantiker, ihre Briefe und sonstiges Biographisches miteingeschlossen.49
Die Inspiration des Werkes liegt nicht in der rastlosen Quellenforschung und -erschließung, die die germanistische Literaturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert kennzeichnet und als Katalysator der sich gegenseitig ergänzenden, kritisierenden und überbietenden Protagonisten des Wissenschaftsbetriebs fungiert. Es ist das Kultur- und Ideenleben im weitesten Sinn des Wortes, das Huchs Romantikforschung fördert. Die Autorin distanziert sich von der akademischen Doxa mit einer Bescheidenheitsgeste, die aber zugleich die Eigencharakteristik ihres Werks fixiert und offenbart, dass ihr das Werk von Erich Schmidts Vorgängern durchaus bekannt ist. Statt aber in die akademische Arena zu treten, schuf sie sich – erfolgreich – eine eigene Gattung und einen eigenen Resonanzraum. Ihre Vorgehensweise aber, das Denken der Romantiker aus ihrem “Wesen” zu verstehen und darum “Bild[er] der Menschen” zu schildern, beinhaltet indes ein starkes Echo der germanistischen Schule Scherers, Hayms, Diltheys und Schmidts.50 “Caroline” bildet in Ricarda Huchs umfassender Romantikgeschichte ein eigenes Kapitel, kommt aber im übrigen Teil der historischen Schilderung nicht mehr prominent in den Blick, es sei denn im Zusammenhang mit der Geselligkeitskultur, die als Grundlage der Romantik erscheint. Als zweites von siebzehn Kapiteln wird Carolines zentrale Rolle für diese Kulturbewegung schlichtweg formal betont, ohne dass die Autorin sich in Lobpreisungen über die geistigen Fähigkeiten von Schlegel-Schelling ergeht. Zitate und Einzelheiten in Huchs Schilderung von Caroline Schlegel-Schelling verweisen auf die Quellen, die Waitz und Haym veröffentlicht bzw. verwendet haben. Die Autorin entfernt sich aber in ihrer Darstellung von den Quellentexten und entwirft ein homogenliterarisches Bild, dessen abstrahierender Charakter mehr der Idee einer ‘Wesensschilderung’entspricht als einer Aufzählung von Zitaten und biografischen Details. Der Skandal des Dreiecksverhältnisses mit Schelling und Auguste bleibt 49 Ricarda Huch: Die Romantik. In: Dies. Gesammelte Werke. Bd. 6 Literaturgeschichte und Literaturkritik. Hg. von Wilhelm Emrich. Berlin-Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969. S. 17–646. Hier: S. 21. 50 Siehe dazu: Hans Martin Kruckis (Anm. 36).
97 schlicht unerwähnt. Nach einem langen Zitat aus einem Brief von Caroline an Schelling, mit dem das Porträt beendet wird, beschreibt Huch zusammenfassend dieses Leben wechselnder Liebesverhältnisse: “Sie war treu, weil sie sich selbst treu war und, was für Umwege sie auch einschlug, die rechte Richtung unerschütterlich im Sinne behielt.”51 Aus Genderperspektive erscheint Huchs Protagonistin als hybrides Wesen, das ‘männliche’ und ‘weibliche’ Eigenschaften in sich vereint: “Das war es gerade, was ihrer Schwachheit das Verächtliche nahm, daß sie bei aller Weichheit die edle männliche Eigenschaft besaß, nach einem Sturze unverletzt aufstehen und ebensostark und sicher wie vorher ihres Weges weitergehen zu können.”52 Obgleich Huch das durchaus gelungene, d.h. um Pflege, Liebe und geistige Komplementarität zentrierte Frauenleben der Caroline Schlegel-Schelling hervorhebt, tritt diese zugleich als ausgesprochen maskuliner Charakter in den Blick. Der Austausch anerkannter Geschlechtereigenschaften und Rollenverschiebungen betrifft nicht nur Caroline als Ausnahme, sondern kennzeichnet die gesamte romantische Bewegung. Friedrich Schlegel wird zu einer femininen Gestalt, der im Ausbau einer erfolgreichen literarisch-geistigen Laufbahn durch “seine weibisch-träge Sinnlichkeit” gehemmt wird und überhaupt zur Attitüde eines “Haremweibes” neigt.53 Entsprechend dieser geschlechtlich-hybriden Eigenart ist auch sein Verhältnis zu Schleiermacher: Dieser Verschiedenheit waren sich beide auch bewußt und nannten ihr Verhältnis scherzweise eine Ehe, in der Schleiermacher die Frau war. Mit weiblicher Innigkeit hing der kleine, zarte, etwas verwachsene Jüngling an dem schönen, stattlichen Freunde. […] Friedrich hatte ein sinnliches, Schleiermacher ein moralisches Übergewicht.54
Das menschliche Ideal ist das der Zweigeschlechtlichkeit, ein Wesen, in dem sich “die beiden Wesenshälften, Mann und Weib, Tier und Engel, gleichmäßig [entwickeln], so daß sie in guter Kameradschaft nebeneinander aushalten können.”55 Auch wenn die Frühromantiker dieses Gleichgewicht kaum verkörpern, spielt sich dennoch der Kampf der Geschlechter bei ihnen im Inneren eines Jeden ab, während ein äußeres Gleichheitsverhältnis gewahrt bleibt. Darin unterscheiden sich allerdings die späteren Romantiker – Brentano, Arnim, Hoffmann –: Sie wollten nicht mehr, wie die älteren Romantiker, “Frauen, die zunächst Menschen, sondern solche, die wesentlich Weib waren […].”56 51
Ricarda Huch: Die Romantik (Anm. 49). S. 56. Ebd. S. 52. 53 Ebd. S. 32. 54 Ebd. S. 39. 55 Ebd. S. 121. 56 Ebd. S. 427. 52
98 Einen direkten Bezug zu Erich Schmidt gibt es in Ricarda Huchs Vorwort einer neuen Briefausgabe der Caroline Schlegel-Schelling, die 1914, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Erich Schmidts Briefedition erscheint und “ausgewählt nach der vollständigen Ausgabe Erich Schmidts” ist.57 Herausgeber ist Reinhardt Buchwald, ein promovierter Germanist, dessen Laufbahn sich am Rande des Akademischen ansiedelte. Buchwald war Lektor beim Insel Verlag und dem ‘Romantikverlag’ Eugen Diederichs, widmete daneben sein Leben der Erwachsenenbildung und galt in dieser Hinsicht als Wissenschaftsvermittler.58 In diesem Zusammenhang ist die Briefedition zu verstehen, die ja schon ein Jahr nach Schmidts Veröffentlichung erscheint und nahezu das gleiche Quellenmaterial verwendet. Aber die Briefausgabe Buchwalds ist wesentlich kürzer; es handelt sich um eine Auswahl von Briefen ohne wissenschaftlichen Apparat, die damit dem Zweck der breiten Rezeption angepasst ist. Obwohl Huch als Historikerin keine populärwissenschaftlichen Werke verfasst, lässt sich vor dem Hintergrund des akademischen Establishments ihre ungewöhnliche Position als ‘gelehrte Autorin’ mit der Buchwalds vergleichen. Das Vorwort beginnt Huch mit dem Argument, dass das Briefschreiben ein den Frauen sehr geeignetes Genre ist; Frauen drücken sich darin “am leichtesten und besten aus”, weil es “keinen Zwang auf[erlegt], weder Konstruktion noch Gehalt [verlangt]: je weniger Tatsächliches und Greifbares der Brief enthält, desto reizvoller ist er; hat er alles Kompakte in Zierat aufgelöst und erscheint als anmutige Plauderei über nichts, so hat er seine Aufgabe am Besten erfüllt.59
Auf den ersten Blick hat es den Eindruck, dass Huch hier die Briefe von Schlegel-Schelling, immerhin “anmutige Plauderei”, banalisiert und damit die Erwartungen ihrer Zeit bestätigt, in der die Schriftproduktion von Frauen fast a priori mit dem Stigma der Trivialisierung versehen wird. Ihre Gattungsbezeichnung “Kunst der Damen” und “Damenbriefe” bestätigt die Idee einer weiblichen Sonderkategorie – zierlich, anmutig, reizvoll – innerhalb der Schriftkultur. Die Evokation charmanter Weiblichkeit in der Schrift, die sich keinen Formregeln fügen kann und sich im Kreis der Alltäglichkeit bewegt, verschwindet aber nach den Eröffnungsparagraphen. Immer mehr durchzieht philosophischer Jargon die biografische Darstellung, immer ausgeprägter erscheint das Bild der maskulinen Frau mit dem außerordentlichen Denkvermögen und Charakter. Obwohl Caroline Schlegel-Schelling als Person des “Geschmacks” 57
Carolinens Leben in ihren Briefen. Hg. von Reinhard Buchwald. Eingel. von Ricarda Huch. Leipzig: Insel Verlag 1914. S. v–xviii. 58 Internationales Germanistenlexikon [CD-Rom]; Karl Robert Mandelkow (Anm. 14). S. 350. 59 Ricarda Huch: Einleitung. In: Carolinens Leben in ihren Briefen (Anm. 57). S. v.
99 bezeichnet wird und mit einem solch ausgesprochenen Genderkriterium außerhalb der Kategorie der professionellen Denker angesiedelt wird, schreibt Huchs Rhetorik – Vergleiche, Namenverwendungen, Symbolik – sie wieder darin ein. Immer ausdrücklicher offenbart sich die Zugehörigkeit der Huch’schen Einführung zum historisch-wissenschaftlichen Persönlichkeitsdenken der akademischen Schule, deren Fortsetzung Erich Schmidt vertrat: Möge der Leser ihrer Briefe […] auch im Stil ihrer schriftlichen Mitteilung vernehmen und sich dadurch den Eindruck ihrer Persönlichkeit vermitteln lassen, die allein zuletzt alle Rätsel und scheinbaren Widersprüche eines Lebens erklären kann.60
Ein “Rätsel” aus dem Leben Carolines löst Ricarda Huch in diesem Text schon. Darin unterscheidet er sich von ihrem Romantikbuch und offenbart im Hinblick auf Erich Schmidt eine Stellungnahme. Das Dreieicksverhältnis Schelling-Caroline-Auguste wird hier auf einmal deutlich konturiert und neu bewertet. Obwohl ein “Halbdunkel” diese Liebeskonstellation verhüllt, spricht die Autorin klare Worte: “Es ist nicht erstaunlich, daß Schelling gleichzeitig und gleich stark durch beide angezogen wurde.” Caroline, so Huch, löste den Konflikt, indem sie sich aus dem Verhältnis zurückzog und der Tochter Schelling ließ, “um die über alles geliebte Tochter an der Seite des geliebten Mannes glücklich zu sehen.”61
VI. Im Vorwort zur Neuauflage seines Buch der Lieder 1838 schreibt Heinrich Heine: Es war eine große Tat von August Varnhagen, dass er, jedes kleinlich Bedenken abweisend, jene Briefe veröffentlichte, worin sich Rahel mit ihrer ganzen Persönlichkeit offenbart. […] Es ist, als ob Rahel wusste, welche posthume Sendung ihr beschieden war. Sie glaubte freilich, es würde besser werden und wartete: doch als das Warten kein Ende nahm, schüttelte sie den Kopf, sah Varnhagen an und starb schnell – um desto schneller auferstehen zu können.62
Die Überlieferung Rahel Varnhagens hat eine andere Geschichte als die der Caroline Schlegel-Schelling. Handelt es sich ebenfalls um eine Frau, die nicht durch ihre Literatur, sondern durch Persönlichkeit und Verstand das kulturelle Leben ihrer Zeit beeinflusst, so gleicht die Art, wie diese selber die Überlieferung ihres schriftlichen Nachlasses anordnet der Selbstregie Goethes. Statt 60
Ebd. S. xviii. Ebd. S. xiv. 62 Heinrich Heine zitiert in: Rahel und ihre Zeit. Briefe und Zeugnisse. Hg. v. Bertha Badt. München 1912. S. 128f. 61
100 Kontroversen ausgeliefert zu sein und aus dem Blick zu geraten, wird noch im Jahr ihres Todes durch Varnhagen das Buch des Andenkens veröffentlicht, das den Anfang einer breiten, wenngleich auch ungleichmäßigen Rahel-Rezeption bildet.63 Unter denjenigen, die sich mit den Briefen Rahel Varnhagens befasst haben, gibt es viele Frauen. Jedoch auch in diesem Fall handelt es sich um jeweils unterschiedliche Konstellationen und Diskurse, die die Rezeption bestimmt haben.64 ‘Caroline’ und ‘Rahel’ sind beide dem kollektiven Kulturwissen durch den gendered Doxa der Überlieferung abhanden gekommen. Um diese ‘natürliche’ Vereinheitlichung der Ausschlussmechanismen nicht zu wiederholen, gilt es, statt von selbstverständlicher Identifikation bei Forscherinnen und ihren Themen auszugehen, immer wieder “epistemologies, institutions and practices – that produce political subjects, that make agency” (Joan Scott) zu beachten.65 Eine der ersten wissenschaftlich ausgebildeten Rahel-Forscherinnen war die Germanistin Bertha Badt (1885–1970).66 Sie promoviert 1908 in Breslau mit einer Dissertation über den Einfluss der englischen Literatur im Werk Annette von Droste-Hülshoffs unter Leitung des Komparatisten Max Koch.67 Liest man ihre Dissertation aus der Genderperspektive, so fällt vor allem die strenge Genderneutralität auf, die Badt in bezug auf Drostes Autorschaft handhabt. Droste 63
Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hg. v. Karl August von Varnhagen von Ense. Berlin: Trowitzsch & Sohn 1833. Die Rahel-Rezeption ist sehr umfassend und variiert von trivialen Biografien bis zu wissenschaftlich-editorischen Briefveröffentlichungen (Hahn, Feilchenfeld), Editionskommentaren (Gatter) und philosophischen Auseinandersetzungen (Susman, Arendt). Einen Überblick bietet z. B. Claudia Christophersen:“…es ist mit dem Leben etwas gemeint…”Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2002. S. 106–117. 64 Abermals sei hier auf die einleuchtende Wissenschaftsgeschichte Frauen in den Kulturwissenschaften von Barbara Hahn hingewiesen. 65 Die Erforschung der ‘Romantikerinnen’ als Kollektivum charakterisiert die ersten Phasen der feministischen Literaturwissenschaft und lässt sich in der Auseinandersetzung mit dem Stand der etablierten Wissenschaft durchaus begreifen. Margretmary Daleys 1998 veröffentlichte Studie über ‘die Romantikerinnen’ mutet im Hinblick auf die Forschungslage altmodisch an. Margretmary Daley: Women of Letters. A Study of Self and Genre in the Personal Writing of Caroline-SchlegelSchelling, Rahel Levin Varnhagen, and Bettina von Arnim. Columbia: Camden House 1998. (So heißt es in der Einführung: “in spite of their continued popularity, the current generation of feminist critics has only just began to work on properly appreciating the letters of these women. As I have observed, generations of literary critics treated the work of Schlegel-Schelling, Varnhagen, and Arnim, as footnotes to the work of their famous literary intimates.” (xi).) 66 Barbara Hahn: Bertha Badt-Strauss (1885–1970). Die Lust am Unzeitgemäßen. In: Dies.: Frauen in den Kulturwissenschaften (Anm. 2). S. 152–165 u. 330–338. 67 Bertha Badt: Annette von Droste-Hülshoff in ihren Beziehungen zur englischen Literatur. Breslau 1908 (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte 17).
101 heißt zwar eine “Dichterin”, aber diesem Femininum wird nicht nachgegangen und es wird immer wieder durch Badts Rhetorik in einem geschlechtlichem Gleichgewicht gehalten.68 Von weiblicher Genealogie ist nicht die Rede – Badt spürt allen möglichen englischen Quellen nach, Walter Scott und Byron wie Fanny Burney – , doch erscheint in Badts Schilderung des Verhältnisses zwischen DrosteHülshoff und Adele Schopenhauer das Bild einer gelungenen literarischen Kultur unter Frauen.69 Als Badt sich als Jüdin im Laufe der Zeit zunehmend der jüdischdeutschen Literatur zuwendet, befasst sie sich zuerst mit einer Neuausgabe von Rahels Briefen.70 In der Einführung zu den Briefen beschreibt Badt die schwierige sozial-kulturelle Lage der Juden in Preußen. Zu einer ‘natürlich-ethnischen’ Einordnung von Rahels Briefen als ‘Sonderkategorie’ innerhalb (oder vielleicht eher außerhalb) der dominanten Kultur führt dies nicht, eher im Gegenteil. Rahel will mit ihren Briefen, so Badt, “das Porträt des Augenblicks” liefern: Auch Werthers Briefe sind Bilder einer Augenblicksstimmung; aber sie gehorchen neben dieser Porträtierkunst noch jenen künstlerischen Gesetzen, von denen Rahel mit einem Bewusstsein, das dem Mangel in ihrer eigenen Natur auf halbem Wege entgegenkommt, sich offen lossagt. Die Briefe Werthers sind Gemälde, Rahels Briefe sind Photographien.71
Bertha Badts Doktorvater war Max Koch, Professor für Komparatistik in Breslau und überzeugter Deutschnationalist; er war der Verfasser einer erfolgreichen Geschichte der deutschen Literatur, die 1918 eine achte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage erreichte.72 Im Exemplar der Berliner Staatsbibliothek dieser 68
So heißt es zum Beispiel, Droste gleiche “einem Schatzgräber. Schon zeigt ihr die Wünschelrute, wo die verborgenen Schätze liegen; aber noch ist ihr Arm nicht stark genug, um das vergrabene Gold aus den Tiefen der Erde ans Licht zu schaffen.” Ebd. S. 26. 69 “Die feinsinnigste von Annettes Freundinnen, Adele Schopenhauer, findet bei der Besprechung von Annettes zweitem Epos, dem “Vermächtnis des Arztes”, daß “Byron ihrem Genius nahestehe” und nimmt an, daß die Freundin ihn, wie ihr scheint, mit großem Glück studiert habe.” 70 Barbara Hahn: Frauen in den Kulturwissenschaften (Anm. 2). S. 154f.; Rahel und ihre Zeit. Briefe und Zeugnisse. Hg. v. Bertha Badt. München 1912. 71 Rahel und ihre Zeit (Anm. 62). S. 33. 72 Das Deutschnationale zeigt sich am Ende von Kochs Literaturgeschichte, wo er sich direkt auf die Kriegsumstände bezieht und geradezu als Vorbote der Dolchstoßlegende 1918 die Kampffähigkeit der deutschen Armee hervorhebt. Seine Abkehr vom Modernismus (und Pazifismus) sind entsprechend, Antisemitismus lässt sich jedoch in diesem Werk nicht nachweisen. Autoren wie Heine, Rahel, Börne oder Ernst Raupach werden nicht auf ihre jüdische Herkunft bezogen. Über Heine schreibt er im Sinne Karl Kraus’: “Die Dichtung war ihm eben nur Mittel zu selbstsüchtigen Zwecken. […] Heines lottrige, in Briefen geradezu undeutsche und durchaus schädlich wirkende Prosa steht hinter Börnes vom Ernst der Gesinnung gehobener Sprache weit zurück.” Max Koch: Geschichte der deutschen Literatur. Breslau 8. Aufl. 1918. S. 98.
102 neuen Auflage hat ein Leser mit Bleistift – und in Fraktur – an unterschiedlichen Stellen Autoren mit der Bezeichnung “Jude” vermerkt. Wenn Koch die romantische Schule beschreibt und auf die Frauen zu sprechen kommt, die sich am Denken und Schaffen beteiligt haben, zählt der unbekannte Leser die Zahl der Jüdinnen auf. Seine Liste fängt auf Seite 59 an mit Caroline Schlegel-Schelling (“1. Jüdin!”), eine Seite weiter bei Rahel Levin steht “2. Jüdin!” und auf Seite 63, bei Kochs Vorstellung von “Dorothea Veit, Mendelssohns Tochter” heißt es “noch eine Jüdin! (Nr. 3)”. Dass dem Registrierenden in seinem Identifikationseifer Fehler unterlaufen, ist nicht nur ein Zeichen seines Banausentums, sondern es wirkt auch wie eine (zynische) Karikatur jener Tendenzen kollektiver Vereinheitlichung und Genealogisierung, die allen Ausschlussmechanismen zu Grunde liegen und von der guten Wissenschaft – zumal Literaturwissenschaft – meilenweit entfernt sind.
Gerhard P. Knapp
Von der Macht und der Ohnmacht der Worte. Franz Kafkas Das Urteil wiedergelesen Franz Kafka’s short narrative Das Urteil ranks very high – perhaps even highest – among the most-interpreted works in modern world literature. Critical approaches are legion, ranging from author-biographical through theological, psychoanalytical, hermeneutical and, more recently, to deconstructive readings. The narrative, however, appears to be remarkably resistant to a variety of critical strategies and equally reluctant to yield cogent explications. This is due in part to certain gaps in the narration which withhold vital information, depriving the reader of straightforward, categorical conclusions about causalities and motivations. The present reading proposes to examine Das Urteil as the struggle of two inimical texts: Georg Bendemann’s legitimate – but intrinsically fragile – attempt at emancipation and passage to adulthood, and his father’s infinitely more powerful – albeit by no means logical – text of bereavement, betrayal, and suffering. Close readings of these texts and the dynamics involved in their collision reveal some of the narrative’s hidden strands and undercurrents in the lifeand-death struggle between father and son and the latter’s subsequent scandalous victimization by an abominable patriarchy.
I. Kafka neu zu lesen scheint ein Ding der Unmöglichkeit. In dieser Lage dürfte sich allein der – keineswegs alltägliche – junge Mensch befinden, der im Buchladen spontan ein Taschenbuch ersteht und das dann unbefangen rezipiert, ohne durch Schule und soziales Umfeld zu dieser Lektüre angeregt und für sie programmiert zu sein. Für diejenigen aber, die sich wissenschaftlich mit Kafka befasst haben, ist jeder seiner Texte überlagert mit vielfältigen, einander widersprechenden oder sich gegenseitig ins Wort fallenden Schriftzeichen von Generationen von Forschern, die sich daran abgearbeitet haben, diesen Texten ‘gültige’ oder zumindest ‘sinnvolle’ Deutungen abzufordern. Ruth V. Gross gebraucht das schöne Bild einer Kruste von Muscheln, die dem Text anhaftet, wie dem Rumpf eines Schiffes, und derart den Zugang der eigenen Lektüre erschwert.1 Natürlich ist es nicht möglich, diese Kruste abzutragen, den Text 1
Ruth V. Gross: Hunting Kafka out of Season: Enigmatics in the Short Fictions. In: A Companion to the Works of Franz Kafka. Hg. von James Rolleston. Rochester, N.Y. 2002. S. 247–262. Hier: S. 253: “These meanings, readings, accumulate like barnacles around the texts themselves. We cannot read them innocently, cleanly.” Schon 1981 weist Gerhard Neumann auf die “beinahe unübersehbar[e]” Anzahl der Deutungen hin. Vgl. Ders.: Franz Kafka: Das Urteil. Text, Materialien, Kommentar. München 1981. S. 66.
104 frei zu legen wie einen restaurierten Schiffsrumpf und neu zu beginnen mit der Kafkalektüre. Das Nachdenken über Kafkatexte bleibt also notgedrungen informiert von bereits vorhandenen Diskussionen und Diskurselementen, und kein anderer Klassiker der Moderne ist nach wie vor derart umstritten. Dagegen ist es aber durchaus möglich und an der Zeit, sich behutsam zu distanzieren von den Debatten über den Text und diesen wieder beim Wort zu nehmen, ihn gleichsam für sich selbst sprechen zu lassen. Sicher wäre dies ein erster Schritt zur Rehabilitierung des Texts, von seinem Autor ganz zu schweigen, dessen Profil oft kaum mehr auszumachen ist in dem Wust der ihm seit Max Brod zugeschriebenen Attribute. Aber das wäre eine andere, umfassendere Studie wert. Als erfreulicher Befund der vergangenen zwei Jahrzehnte lässt sich immerhin festhalten, dass die noch immer ungemein rege Kafkaforschung ein wenig abzurücken scheint von den monolithischen, oftmals doktrinären und eingleisigen Deutungsschablonen, die nicht erst seit den fünfziger Jahren das Feld beherrschten.2 Gestärkt durch die Impulse des Poststrukturalismus und getragen von einer heilsamen Skepsis gegenüber hermeneutischen Zirkelschlüssen, ist man heute eher geneigt, der offenen Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit dieser Texte Rechnung zu tragen und ihnen mit der Bescheidenheit zu begegnen, die sie auch von fachwissenschaftlicher Annäherung beanspruchen können. Als Beitrag zu diesem neuen Paradigma der Leser-Bescheidenheit möchte der vorliegende Versuch einer Lektüre des Urteils verstanden sein. Es geht ihm in erster Linie um den Nachweis der am Erzählvorgang abzulesenden Dynamik einander entgegengesetzter und per definitionem feindlicher Texte, deren Kollision zu dem führt, was man mit aller gebotenen Vorsicht einen Familienstreit mit tödlichem Ausgang nennen kann. Auf das Einbringen externer und in der Forschung noch vielfach fortgeschriebener Deutungsschablonen wird, so weit das eben möglich ist, verzichtet. Verzichtet wird auch auf die Annäherung an den Text über die Autorbiographie: ein von vornherein missliches Vorgehen, das oft zur Kolportage ausgeartet ist und der autonomen Integrität der Texte einfach nicht gerecht wird. Auf der anderen Seite wird dem für Kafka typischen, enigmatischen und oft gezielt auf Lücke gearbeiteten Schreibverfahren insofern Rechnung getragen, als das Fehlende weder abgeglättet noch in seiner Bedeutung unterschätzt wird. Wie in einer
2 Auf Belege zu den Kafka-Großforschern der Zeit – genannt seien nur Friedrich Beißner, Wilhelm Emrich, Heinz Politzer und Walter H. Sokel – und ihren vielfältigen Ablegern kann verzichtet werden. Als Beispiele der hier skizzierten, freilich nicht durchgängigen, Neuorientierung seien genannt die von Rolleston (Anm. 1) und Heinz Ludwig Arnold (Franz Kafka. Sonderband Text ⫹ Kritik. Zweite, gründlich überarbeitete Auflage. München 2006) herausgegebenen Bände.
105 musikalischen Partitur die Pausen, so haben die Leerstellen eines literarischen Texts ihren Sinn darin, dass sie eine Resonanz des Vorangegangenen im Leserbewusstsein bewirken und zugleich den unterschwellig vorhandenen Zusammenhang des Nichtgesagten zumindest erahnen lassen. Bei Kafka bildet oft gerade dieses Nichtgesagte die Zentrifugalkraft seines Erzählens. Das “Weiße zwischen den Worten”, wie es Max Frisch einmal genannt hat, ist in der literarischen Moderne ebenso wichtig wie die Worte selbst. Unter den “kanonisierten”, in den Schul- und Universitätscurricula fest etablierten Kafkatexten steht Das Urteil, im Verein mit Die Verwandlung, obenan. Das Urteil, niedergeschrieben im Verlauf einer Nacht (der Nacht vom 22. auf den 23.9.1912 und, wie man weiß, im Umkreis des Feiertags Jom Kippur3), signalisiert den Durchbruch des Autors zu, relativ gesprochen, längeren Erzähltexten und den Beginn der ersten Phase seiner Produktion, die mit Der Proceß endet. Das Urteil zählt zu den meistinterpretierten Texten der Weltliteratur und fordert einerseits immer neue Deutungsanstrengungen heraus, andererseits aber erweist es sich als auffallend resistent gegenüber einem breiten Spektrum von Methoden der Textanalyse.4 Es ist der Verwandlung
3
Tatsächlich fiel Jom Kippur 1912 auf den 21.9. Den Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Harris Lenowitz, ebenfalls den Verweis auf die Studie von Arnold J. Band (The Beilis Trial in Literature: Notes on History and Fiction. In: Ders.: Studies in Modern Jewish Literature. Philadelphia 2003. S. 33–50. Hier: S. 45), in der die Annahme widerlegt wird, Kafka habe 1912 zu Jom Kippur die Synagoge besucht. Unter den landläufigen Deutungsschlüsseln hat sich der Komplex von Kafkas jüdischer Identität bis heute gehalten, aber im Hinblick auf Das Urteil gibt er nichts her. Vgl. unter den jüngsten Studien etwa Ritchie Robertson: Kafka as Anti-Christian: “Das Urteil,” “Die Verwandlung,” and the Aphorisms. In: Rolleston (Anm. 1). S. 101–122. Hier: S. 106: “Kafka deploys Christian imagery to question the values of Christianity, particularly through the figures of the Russian priest and Georg himself.” Noch eingehender Russell A. Berman: Tradition and Betrayal in “Das Urteil”. In: Rolleston (Anm. 1). S. 85–99. Hier: S. 86: “A further, related potential source is the liturgy for the Jewish Day of Atonement, the Yom Kippur holiday […]. We know that he [Kafka] attended the synagogue that year, so the associated liturgical tropes were presumably on his mind, including most importantly the imminence of a divine judgment to be rendered […].” 4 Vgl. den außerordentlich illustrativen Band Kafkas “Urteil” und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Hg. von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus. Stuttgart 2002 (Reclams Universalbibliothek 17636). Vgl. andererseits Gerhard Rieck: Franz Kafka und die Literaturwissenschaft. Aufsätze zu einem kafkaesken Verhältnis. Würzburg 2002. Riecks 3. und 5. These haben u.a. der vorliegenden Neulektüre einige Legitimation gegeben: “3. These: Die Literaturwissenschaft vernachlässigt das Ergründbare zugunsten des Unergründbaren” (S. 63); “5. These: Die Literaturwissenschaft vernachlässigt das Einfache zugunsten des Komplizierten” (S. 67).
106 insofern vergleichbar, als beide Texte ein Erzählverfahren verwenden, das mit realistischen Mitteln Vorgänge beschreibt, die sich einer Erklärung durch die empirische Realität sperren und das zugleich, vermittels der übergeordneten Erzählerpräsenz, einen Mangel an Parteilichkeit suggeriert, der sich bei genauer Betrachtung als falsch erweist. Beide Erzählungen sind jedoch auch insofern Gegentexte, als Die Verwandlung den für Kafka typischen Eklat – das Aufsprengen der Lesererwartung gegenüber den erzählten Ereignissen – als fait accompli an bzw. bereits vor den Beginn der Erzählung stellt: Gregor Samsa erwacht und findet sich in ein “Ungeziefer” verwandelt, ob man diese Verwandlung nun buchstäblich nehmen will oder nicht. Im Urteil wird dagegen die Entwicklung gezeigt, die auf den Eklat hinführt, und ganz am Ende stehen die Verkündigung des skandalösen Urteils und dessen sofortige Vollstreckung. Die Lesererfahrung ist allerdings prinzipiell die gleiche: man folgt einer anscheinend plausiblen Kette von Vorgängen, die mit äußerster Präzision und verführerischer Sachlichkeit erzählt werden, und sieht sich in eine Welt transportiert, in der herkömmliche Wahrscheinlichkeit suspendiert ist und buchstäblich alles passieren kann. Das Vertraute und das Absurde stehen unmittelbar nebeneinander.
II. Bevor man sich auf die Lektüre des Urteils selbst einlässt, sollte man die beiden der Erzählung vorangestellten narrativen Wegweiser bedenken, die durchaus rezeptionssteuernd wirken können: den Untertitel “Eine Geschichte” und die Widmung “Für F.”5 Die Designation “eine Geschichte” etabliert zumindest im Ansatz ein autoreflexives System des Erzählens, vielleicht sogar die Andeutung eines Erzählrahmens, der einer Distanzierung des Lesers vom Erzählten dienen könnte. Dass diese “Geschichte”, die hier erzählt wird, zudem noch eine Widmung trägt, unterstreicht ihren Charakter als Artefakt und entbindet sie potentiell von dem Anspruch, der empirischen Wahrscheinlichkeit auf Schritt und Tritt verpflichtet zu sein.6 Entsprechend folgt auch der Einstieg 5 Der Text wird hier zitiert nach der am meisten aufgelegten Ausgabe (Frankfurt/M. 1999 [Fischer Taschenbuch 1290]), die wiederum dem Wortlaut der Frankfurter Ausgabe folgt: Franz Kafka. Drucke zu Lebzeiten. Kritische Ausgabe. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt/M. 1994. Bd. 1. S. 43–61. Seitenzahlen folgen in Klammern dem jeweiligen Zitat. 6 Wie man weiß, bezieht sich die Widmung auf Felice Bauer, Kafkas nachmalige Verlobte. Den Briefen an Felice entnimmt man auch diverse und viel zitierte Äußerungen des Autors zum Text, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Im südostdeutschen Sprachraum der Zeit konnotiert der Begriff “Geschichte” etwas erfundenes, nicht der “Wahrheit” entsprechendes (vgl. die Redewendung “erzähl mir keine Geschichten”).
107 ins Geschehen, der erste Teil der Erzählung, die hier zum Zweck der Analyse in fünf Teile gegliedert wird – Einstieg, Georgs erste Reflexionen zum Freund, Erweiterung der Reflexionen und Entwurf des eigenen Lebenstexts, Konfrontation mit dem Vater, Schluss – narrativen Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts. Der Eingangssatz “Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr” (7) vermittelt eine limitierte kalendarische Fixierung. Diese, wie die folgende Einführung Georg Bendemanns, der in “seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser” (ibid.) am Schreibtisch sitzt, scheint eine recht exakte Situierung des Geschehens zu ermöglichen, die durch die Lage der Häuser und Bendemanns Blick aus dem Fenster auf “den Fluß” und “die Anhöhen” am jenseitigen Ufer weiter verfestigt wird. Bendemann hat gerade einen Brief an einen “sich im Ausland befindenden” Jugendfreund geschrieben und lässt seine Gedanken zu diesem hin schweifen. Nichts deutet auf die entscheidende Rolle hin, die dieser Brief als materialer Auslöser der folgenden Auseinandersetzung haben wird. Und nichts bereitet den Leser auf die katalytische Funktion des abwesenden Freundes im Kampf zwischen Vater und Sohn vor. Wie dies oft in Kafkatexten anzutreffen ist, verflüchtigt sich jedoch der eingangs suggerierte Detailrealismus einer zeitlichen und räumlichen Fixierung der Handlung sogleich, wenn die Erzählerpräsenz sukzessive aus der übergeordneten Beobachterfunktion heraustritt und in die Gedankenwelt der Figur einsteigt. Der zweite Teil, wiederum in einen einzigen Absatz gedrängt, referiert Georgs Position gegenüber dem Freund zunächst nur oberflächlich. Hier gleitet die Erzählperspektive vollends über ins Subjektive: Bendemanns Reflexionen zeichnen ein weder unbeteiligtes noch unbefangenes Bild des Freundes, der seit langem in Russland lebt, wo er den beruflichen Erfolg gesucht hatte, der ihm zuhause versagt geblieben war. Das Motiv der beiden Freunde – des zuhause gebliebenen und des auf der Glückssuche ausgewanderten – gemahnt wiederum an Erzähltraditionen des neunzehnten Jahrhunderts, nur dass der namenlose Freund, geschäftlich erfolglos, von mutmaßlicher Krankheit gezeichnet und gesellschaftlich isoliert, in der Sicht Georgs offenbar Mitleid verdient. Bereits hier fällt eine gewisse Unsicherheit Bendemanns (das zweifache “schien”) gegenüber dem Ergehen des Freundes auf. Der folgende, erheblich längere dritte Teil, der sich teils des inneren Monologs, teils der erlebten Rede bedient, dann aber wieder in die übergeordnete Erzählerposition zurückläuft, beginnt mit der rhetorischen Frage: “Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte” (7). Hier halten sich Mitleid und eine gewisse, zunächst noch unterschwellige, Herablassung gegenüber dem Freund die Waage. Könnte “man” ihm raten, in die Heimat zurückzukehren, ohne ihn zu verletzen? Und würde er es, gesetzt den Fall seiner Rückkehr, “hier tatsächlich vorwärts bringen?” (8) Da der Freund nun
108 schon länger als drei Jahre nicht auf Besuch gekommen war, könnte “man” ihm wirklich unbefangen, wiederum ohne den Anschein der “Beschämung” (ibid.), vom eigenen Wohlergehen berichten, das “man” ihm soweit – wohl aus Gründen der Schonung – verschwiegen hat? Immer deutlicher wird jetzt die Unsicherheit Bendemanns in seiner Einstellung zum Freund und in seiner Zeichnung von dessen Lebenslage: die rhetorischen und die tatsächlichen Fragen häufen sich, konjunktivische Wendungen (verbunden mit dem unpersönlichen “man” bzw. “es”) verraten zunehmendes Unbehagen, das auch in der mühsamen, hölzernen Syntax durchkommt. Bendemann versteigt sich zum topischen Bild des “alten Kindes” (8), um die vermeintliche Hilflosigkeit des Freundes zu illustrieren, er verrät aber damit zugleich seine Herablassung gegenüber diesem selbst entworfenen, keineswegs faktisch abgesicherten Bild. Wenn er dann – aus “diesen Gründen” (8), die keine Gründe, sondern bestenfalls Annahmen sind – die lückenhafte und unoffene Korrespondenz vor sich selbst rechtfertigt, schwankt er zwischen dem impliziten Vorwurf der langen Abwesenheit des Freundes (“während hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren” [9]) und der abermaligen Vorgabe, jenen schonen zu wollen: “Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl [!] gemacht und mit welcher er sich abgefunden [?] hatte” (10). Georg dürfte freilich diese “Vorstellung” nicht kennen – es sei denn als das Resultat seiner eigenen, sorgsam gefilterten Mitteilungen. Nichts berechtigt den Leser jedoch, den Freund als “Georgs alter ego” oder den Brief als einen “verdeckte[n] Kampf ” mit jenem anzusehen.7 Aus dem schwankenden Bild des Freundes wird aber dann sukzessive, noch immer ausschließlich aus der Erfahrungsperspektive bzw. “internen Fokalisierung” (Genette) Bendemanns – und ohne jegliche Korrektur durch die Erzählerinstanz – ein Text der eigenen gegenwärtigen glückhaften Lebenslage Georgs entworfen. Dieser Lebenstext erscheint allerdings derart gelungen nur als subjektiver Gegenentwurf zum glücklosen Dasein des Freundes: einer Negativfolie, der es am geschäftlichen Erfolg, der Zweisamkeit in einer (vor)ehelichen Beziehung, gesellschaftlichem “Verkehr” und an Gesundheit mangelt. Die Fragilität dieses Texts wird sich im Folgenden weiter herausstellen. In der Zeit der Abwesenheit seines Freundes haben sich entscheidende Veränderungen in Bendemanns Leben ergeben: der Tod der Mutter “vor etwa zwei Jahren” (auf den der Freund mit einem spröden Kondolenzbrief reagiert hatte) und ein starker geschäftlicher Aufschwung (das “Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz sich verfünffacht”), den Georg letzten Endes wohl der eigenen Initiative zuschreiben möchte. Einige Zweifel hat er daran 7 Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse. Stuttgart 1980. S. 168 bzw. 169.
109 doch, und wieder ist sein Text durchsetzt von einer nagenden Unschlüssigkeit, die das wiederholte “vielleicht” zum Vorschein bringt: Nun hatte Georg seit jener Zeit […] auch sein Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert. Vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten – was sogar sehr wahrscheinlich war – glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle […]. (9, Hervorhebungen vom Verf.)
Dem Freund hatte Georg diesen Erfolg nicht mitgeteilt. Er schrieb ihm stattdessen “immer nur über bedeutungslose Vorfälle” (10), sieht sich aber jetzt schließlich gezwungen, nicht zuletzt auf seltsam heftiges Drängen der Braut,8 ihm seine kürzliche Verlobung mitzuteilen: “Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie […]”. (11) Er beschließt den teils verbatim zitierten Brief mit einer halbherzigen, bestenfalls lauwarmen Einladung zur Hochzeit. Sein introspektives Verharren nach Abschluss des Briefes – “sein Zustand der Stasis”9 – verrät, dass er sich seiner Sache keineswegs sicher ist. Und sollte er das sein? Denn bei aller Rhetorik der Selbstbeschwichtigung bleibt die Frage offen, ob es in der Tat allein Takt und Rücksichtnahme dem Freund gegenüber waren, die einen offenen Austausch blockierten – oder ob Georg den erfolglosen Freund schon seit längerem emotional abgeschrieben hat, da er nicht ins Bild des eigenen Erfolgs passt, und er nunmehr versucht, sein Gewissen zu beruhigen. Es entsteht ein schiefes Bild von dieser Freundschaft, denn unter Freunden ist es zu erwarten, dass man am wechselseitigen Wohlergehen und Missgeschick Anteil nimmt. Kommunikation bzw. unterlassene und durch Verschweigen unterlaufene Kommunikation erweist sich hier erstmals als einer der Brennpunkte der Erzählung. Mehr noch: nicht nur Bendemann hat dem Freund wichtige Informationen verschwiegen, auch der Text – Georgs selbstentworfener Lebenstext wie der Erzähltext in seiner parteilich-subjektiven Perspektive – enthält dem Leser Informationen vor, die eine abgewogene Beurteilung der
8 Der erstaunlich heftige Wortwechsel mit der Verlobten über die Einladung des Freundes zur Hochzeit gipfelt in ihrer Feststellung: “Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen” (10). Georgs ausweichendes Verhalten (“Ich will ihn nicht stören […]”) und sein Hinweis auf das “besondere Korrespondenzverhältnis” mit dem Freund sowie auf dessen Alleinsein deutet das Vorhandensein eines Subtexts an, den Georg verschweigt. 9 Vgl. Ronald Speirs: “Das Urteil” oder die Macht der Schwäche. In: Arnold (Anm. 2). S. 93–108. Hier: S. 102.
110 Sachlage erst möglich machten. Das Erzählverfahren Kafkas, das man auch an anderen Texten beobachten kann, ist auf Lücke gearbeitet: bei allem Anschein quasi-realistischer Präzision erhält der Leser vielfach keinerlei Aufklärung über entscheidende Zusammenhänge und Motivationen, die dem Geschehen zugrunde liegen. Hierdurch entsteht Verrätselung beim Leser, dem durch die Leerstellen der Erzählung weiterhin die Möglichkeit genommen ist, eindeutig Partei zu ergreifen und auf binäre oder kategorische Oppositionen wie ‘falsch’ oder ‘richtig’ zurückzufallen. Vieles bleibt in der Schwebe, es entsteht kein außertextueller Sinnzusammenhang, den der Text nicht unmittelbar selbst wieder in Frage stellte. Insofern ist es richtig, wenn Oliver Jahraus feststellt: “Kafkas Texte […] sind Literatur gewordene Dekonstruktion”.10 Der vom Verfasser unschlüssig reflektierte Brief mit all seinen unterschwelligen Vorbehalten gegenüber dem Empfänger und dem eigenen Vorgehen bildet die erste größere Leerstelle im Erzählverfahren, zugleich deutet er voraus auf Bendemanns labile geistige Verfassung und ihren raschen Zusammenbruch in der folgenden Konfrontation mit dem Vater. Die hintergründige Ambivalenz von Bendemanns Einstellung zum Freund – man kann sie nicht einfach als “lügenhaftes Urteil”11 abtun – spiegelt in ihrer Fluidität ein Persönlichkeitsbild, dem es an festen Konturen mangelt. Nicht umsonst ist sie die Achillesferse Georgs, die der Vater wenig später zuerst angreift. Es wird aber immerhin klar, dass Bendemanns Lebenstext sich aus dem Akzessoir bürgerlicher Wunschvorstellungen zusammensetzt: aus materiellem Wohlstand, einer nunmehr leitenden Stellung im Geschäft, das er nach dem Abgang des Vaters zu übernehmen hofft, aus sexueller Erfüllung in der Beziehung mit der Verlobten (“sie […] rasch atmend unter seinen Küssen” [10]), die zudem “aus einer wohlhabenden Familie” stammt, aus der Aussicht auf die baldige Gründung einer Familie. Deutet man das Urteil als sozioökonomische Pathologie des aufstrebenden Bürgertums, dann findet man hier Anhaltspunkte für diese Interpretation: Georgs vermeintliches Glück gründet sich letzten Endes auf Besitz, Einfluss und auf die Hoffnung der Vermehrung von Eigentum. Gerade das – und der sich darin enthüllende Mangel an Substanz – macht aber seine Glücksvorstellung so anfällig gegenüber den Angriffen des Vaters. Auch das Raster einer psychoanalytischen Lektüre – die auf eine zweifellos vorhandene ödipale Konstellation abhebt – bringt zum
10
Oliver Jahraus: Zeichen-Verschiebungen: vom Brief zum Urteil, von Georg zum Freund. Kafkas Das Urteil aus poststrukturalistischer / dekonstruktivistischer Sicht. In: Jahraus / Neuhaus (Anm. 4). S. 241–262. Der Studie verdankt meine Lektüre eine Reihe von Anregungen. 11 Berman (Anm. 3). S. 94: “[…] Georg’s judgment of his friend is patently fraudulent […]”.
111 Vorschein, dass Georg mit der Summe des von ihm ‘Erreichten’ nunmehr auf der Schwelle zur männlich-erwachsenen bürgerlichen Existenz steht und damit die väterliche Vormachtstellung bedrohen muss.12 Um es jedoch gleich vorwegzunehmen: die genannten Aspekte sind lediglich Einzelschichten im vielschichtigeren Erzählgefüge. Natürlich sind sie leitmotivisch in Kafkas Texten angelegt, denn sie sind unmittelbar der Prager Lebenswelt der Zeit und den dominanten kulturellen und literarischen Diskursen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts (Psychoanalyse, Generationenkonflikt, Rebellion gegen das Patriarchat etc.) abgezogen, mit denen Kafka bestens vertraut ist. Als Passepartout zum Verständnis des Textganzen geben sie einfach zu wenig her.
III. Bendemann erwacht aus seinem Tagtraum, steckt den Brief in die Tasche und rüstet sich mit dieser Verschriftlichung seines Lebenstexts für die Begegnung mit dem Vater. Er geht aus der Helle seines Zimmers durch einen Flur in das dunkle Zimmer des Vaters, das er “schon seit Monaten” nicht betreten hat, denn, so reflektiert er, es “bestand auch sonst keine Nötigung dazu” (12). Im Gegensatz zu dem eigenen, das ihm Ausblick auf Fluss und Landschaft gewährt, gibt das Hinterzimmer des Vaters den Blick nur frei auf den kleinen Hof und eine “hohe Mauer”: ein klaustrophobischer Eindruck entsteht, der sich im Folgenden verstärkt. Mit diesem Übergang in die dunkle väterliche Welt setzt die vierte Erzählsequenz ein. Die Handlung, die bis dahin empirisch nachvollziehbar war, nimmt nun zusehends bedrohliche und surreale Züge an. Der Vater, der eine alte Zeitung gelesen hat, geht auf Georg zu, und dieser denkt unwillkürlich: “mein Vater ist noch immer ein Riese” (12). Diese Beobachtung nimmt die folgende erstaunliche Metamorphose des Vaters vom nahezu hilflosen, kindhaften Greis zum überlebensgroßen “Schreckbild” in einem Augenblick vorweg. Es ist wichtig, schon hier festzustellen, dass die Erzählperspektive im Folgenden keinerlei Einblick in das Erleben des Vaters gewährt: sie betrachtet ihn durchgängig aus übergeordneter Sicht oder aus dem Blickpunkt des Sohnes. Georg informiert den Vater über seinen Brief an den Freund in Petersburg, dem er nach längerem Zögern jetzt seine Verlobung “angezeigt” hat. Bendemann senior wechselt zunächst scheinbar das Thema und verlangt vom Sohn, dass er von seinen Täuschungsmanövern ablässt und ihm “die volle Wahrheit” sagt: Aber es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren, die nicht hierher gehören. Seit dem Tode 12
Hierzu die gelungene Studie von Thomas Anz: Praktiken und Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation – am Beispiel von Kafkas Erzählung Das Urteil. In: Jahraus/Neuhaus (Anm. 4). S. 126–151.
112 unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen. […] Ich habe nicht mehr den Blick für alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als dich. – Aber weil wir gerade bei dieser Sache sind, bei diesem Brief, so bitte ich dich Georg, täusche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg? (13f.)
Die Ermahnung des Vaters enthüllt diverse wichtige Punkte. Einmal besteht Misstrauen auf seiner Seite gegenüber der Wahrhaftigkeit und dem Verhalten Georgs. Die “gewisse[n] unschöne[n] Dinge” wird er wenig später zur Sprache bringen. Der folgende Vorwurf jedoch, dass Georg den Verlust der Mutter (“unseres Mütterchens”13) weniger schwer trägt als sein Vater, ist wohl berechtigt. Bendemann sen. zeigt bestimmte Symptome einer depressiven Regression, die sicher von seiner Verwitwung herrührt: Isolierung im dunklen Raum, Appetitlosigkeit, Mangel an Körperpflege, Leben in der Vergangenheit, eingestandene nachlassende Geistespräsenz, vielleicht auch senil-paranoide Anwandlungen. Insbesondere dass er darauf besteht, von Georg “getäuscht” zu werden, könnte für paranoide Demenz sprechen. Es könnte jedoch ebenfalls – und die weitere Lektüre wird das bestätigen – einen für ihn einschneidenden Zerfall der kommunikativen und lebensweltlichen Gemeinschaft von Vater und Sohn anzeigen. Nichts deutet soweit darauf hin, dass der Vater bewusst die Unwahrheit sagt. Überhaupt vermittelt die Erzählerinstanz keinerlei Einblick in etwaige Zweifel des Vaters an seinen Aussagen: sein Text ist durchgängig lapidar formuliert, Widersprüche und abrupte Wendungen werden nahtlos vom Erzählvorgang absorbiert. Seine provokant insistierende Frage nach der Existenz des Freundes führt Georg den desolaten Zustand des alten Mannes vor Augen und er reflektiert zunächst über Maßnahmen für seine Gesundung. Der Vater bleibt jedoch hartnäckig beim Thema des Freundes: Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben. (15)
Derweilen bemüht sich Georg darum, seinen Vater auszuziehen und zu Bett zu bringen. Er ruft ihm eine Begebenheit vom letzten Besuch des Freundes (“diese Geschichte”) in Erinnerung, während er an der schmutzigen Unterwäsche das 13
Das Possessivpronomen im Plural (S. 13, 14, 17, im Gegensatz dazu das neutralere “die Mutter” S. 18, 19) hat die psychoanalytische Forschung, besonders im angelsächsischen Raum, vielfach in der Annahme eines prädominanten ödipalen Konflikts bestärkt. Tatsache ist jedoch, dass im südostdeutschen Sprachraum und insbesondere im kleinbürgerlichen Milieu der Zeit die Eltern sich vor ihren Kindern nicht mit den Vornamen, sondern mit “Mutter” und “Vater” anredeten. Bildungen wie “unsere Mutter” oder “unser Vater” sind noch heute gebräuchlich.
113 Ausmaß der Vernachlässigung seines Vaters erkennt und sich – entgegen der stillschweigenden Übereinkunft mit der Verlobten – vornimmt, ihn in den zukünftigen gemeinsamen Haushalt zu bringen. Hier ergibt sich eine zeitweilige Beruhigung des Erzählvorgangs. Nachdem Georg den Vater ins Bett getragen hat, und dieser seine Uhrkette (das Statussymbol des erwachsenen, erfolgreichen Sohnes) endlich losgelassen hat,14 “schien alles gut” (16). Die temporäre “Stasis” ist allerdings von kurzer Dauer. Der Text schlägt nunmehr ins Groteske um, jedweder Anschein von Normalität geht verloren und der Kampf um Sein oder Nichtsein beginnt. Es ist auffallend, dass die folgende Konfrontation nicht nur verbal, sondern oft auch körpersprachlich in Szene gesetzt wird und visuelle Elemente fast filmisch bei der Lektüre ins Auge springen: man erinnert sich an die Vorliebe Kafkas für Kinobesuche. Primäres Gravitationszentrum und zugleich die ostentative Projektionsfläche dieses Kampfes ist der Freund. Die Mutter und die Verlobte sind weitgehende Statistinnen, deren sich der Vater bei seinem Totalangriff auf den Sohn rücksichtslos bedient. Man hat viel spekuliert über die Gründe dieser Rolle des abwesenden Freundes als eine Art von Transferenzfigur des Vater-SohnKonflikts. Wie oben bereits angedeutet, besitzt der Freund im Unterbewussten Georgs eine weitaus komplexere, instabilere – von Georg verschwiegene oder verdrängte – Funktion, als die Erzählung das zutage fördert.15 Denn der Freund ist einerseits, wie gesagt, als glückloses Gegenbild ex negativo der zweifelhafte Maßstab für Georgs eigenen glückhaften Lebenstext, andererseits darf man annehmen, dass er, der Verdrängte und Vernachlässigte und sogar dem Vater gegenüber zweifach “verleugnet[e]” (15), in seiner Rolle als verkörpertes schlechtes Gewissen diesen Lebenstext in den Gedanken Georgs bereits früher unterminiert und verunsichert hat. An seinen Reflexionen zum Briefwechsel bzw. zum “besondere[n] Korrespondenzverhältnis” (10) wurde schon einsichtig, wie das “Abrutschen von intendierter zu unterschwellig assoziierter
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“Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte” (16). Wiederum findet sich hier eine Leerstelle: das “schreckliche Gefühl” Georgs könnte aus der Annahme resultieren, dass sein Vater kindisch und senil sei, es könnte aber auch auf Schuldgefühle wegen seiner Vernachlässigung des Vaters hindeuten. Vielleicht geht es noch tiefer, da ja der scheinbar hilflose Vater und der erwachsene Sohn hier eine Figuration des “verkehrten” Patriarchats abgeben. Die Annahme, es sei begründet in Georgs “Ahnung, daß auch der Vater mit ihm spielt […]” (Kurz, Anm. 7. S. 170), scheint abwegig. 15 Die verschiedentlich in der jüngeren Forschung geäußerte These einer möglichen homosexuellen Fixierung Georgs auf den Freund oder unterschwelliger homosexueller Tendenzen zwischen Vater und Sohn ist nicht durch den Text zu erhärten.
114 Signifikanz […] symptomatisch [ist] für Georgs Lebenssituation, die ja durchdrungen ist von einer inneren Unruhe […]”.16 Ein quasi-dramatischer, plötzlicher Umschlag der Beruhigung des Erzählvorgangs in wilde Turbulenz erfolgt, wenn der Vater, gerade eben noch vom Sohn eingebettet und zugedeckt, aufspringt, die Decke von sich wirft und hochgereckt auf dem Bett steht: ein riesiges “Schreckbild” in drohender, fast schwereloser Positur: “Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond.” (16) Wiederum entsteht in dieser blitzartigen Transformation ein Moment visueller Dichte, der Kafkas Stummfilmrezeption abgeschaut sein könnte und der zugleich nicht jener grotesken Komik entbehrt, die man lange in seinen Texten übersehen hat. Man hat sich nun vorzustellen, dass Bendemann sen. während der ganzen folgenden Debatte seine Vorhaltungen auf den Sohn buchstäblich herunterschleudert, die körpersprachliche Konfiguration also durchaus derjenigen vom Richter und vom Angeklagten entspricht.17 Was sind nun die Anwürfe des Vaters, die er Georg mit Blickrichtung auf den Freund macht? Man erinnert sich an seine den Leser und Georg düpierende Frage nach der Existenz dieses Freundes (14), dann an die oben zitierte Verleugnung (15). Nun aber heißt es lapidar in totaler Kehrtwendung: Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. […] Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen. (17)
Auch wenn Georg hier ganz akut vom Mitleid mit der Epiphanie des Freundes im vorrevolutionären, tumultuösen Russland erfasst wird, sollte ihm klar werden, dass es dem Vater mit der kruden Metapher der Unterdrückung durch das ‘Aufsitzen’ zumindest ebenso sehr um sich selbst geht, wie um den Freund. Der Prätext des betrogenen Freundes, der ein besserer Sohn wäre, verschmilzt dann auch sogleich mit dem größeren Kontext von Georgs angeblichem Verrat an den Eltern, zu dem ihn nur die Braut verleitet haben kann: […] weil sie die Röcke so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du dich an ihr ohne Störung befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt,
16
Speirs (Anm. 9). S. 101. Für die von Brod angeregte und lange tradierte Deutung, dass der Vater eine rächende Gottesfigur darstellt, ergibt der Text wiederum keinerlei Anhalt. Im Gegenteil: die inhärenten Widersprüche seiner Argumentation verweisen auf eine ontologische oder zumindest epistemologische Unzuverlässigkeit von Sprache, die sich nicht vereinbaren lässt mit der Apodiktik und Klarsicht eines göttlichen Wesens.
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115 damit er sich nicht rühren kann. […] Aber der Freund ist nun doch nicht verraten! […] Ich war sein Vertreter hier am Ort. (17f.) […] mit deinem Freund habe ich mich herrlich verbunden […] Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst. Deine Briefe zerknüllt er ungelesen mit der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält! (19)
Des Vaters grobschlächtige Anklage stützt sich also nur partiell auf Georgs angeblichen “Verrat” am Freund, sie umfasst darüber hinaus alle Bereiche, in denen dieser seinen eigenen Glücksaufschwung begründet sieht: seine Beziehung zur Verlobten – die der Vater als rein sexuell motiviert abtut und zudem als “Schändung” des Andenkens an die Mutter denunziert –, seinen geschäftlichen Erfolg – den er angeblich auf Kosten des Vaters zu betreiben sucht – und schließlich die vermeintlich als Fürsorge bemäntelte Marginalisierung des Vaters selbst. Es liegt auf der Hand, dass dieses in diverse Tropen gefasste Konglomerat von Anwürfen voller Risse und Widersprüche ist. Denn Georgs Verlobung hat an sich nichts zu tun mit dem Andenken seiner Mutter und der Trauer um ihren Verlust, die man aus seiner Enttäuschung über den distanzierten Kondolenzbrief des Freundes schließen konnte. Auch sein verstärkter Einsatz im Geschäft wie die vermutlich selbst betriebene Isolierung des Vaters sind ihm nicht direkt anzulasten,18 ebenso wenig wie die briefliche Schonung des Freundes ein Delikt darstellt. Dennoch sollte man diese Anklagen nicht ohne weiteres als unhaltbar oder bösartig von der Hand weisen.19 Es wurde schon festgestellt, dass der Text fortwährend kategorische Oppositionen (wie ‘richtig’ und ‘falsch’) unterläuft und dem Leser die Ableitung eines “geraden” Sinnes vielfach nicht erlaubt. Folglich wird man nicht umhin können, den mit Wucht und ohne jede Unschlüssigkeit vorgetragenen Anklagetext des Vaters im “ungeraden” Sinn als von dessen Sicht aus durchaus sinn-volle Äußerung zu lesen, umso mehr deshalb, weil Georg, der ihm durchweg mit Ironie und Sarkasmus begegnet, mit keinerlei sachlichen, relevanten Gegenargumenten kontern kann. In der leidenschaftlichen Anklage des Vaters enthüllt sich – logisch kaum haltbar, aber dennoch zwingend – sein eigener Leidens- bzw. Unglückstext,
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Neumann (Anm. 1. S. 80) zufolge sind Georgs Initiativen nicht mehr und nicht weniger als ein “emanzipativer Akt im Kontext der Familie”. Noch schärfer stellt dies schon Evelyn T. Beck (Kafka and the Yiddish Theater: Its Impact on His Work. Madison 1971. Hier: S. 80) fest: “Georg is judged wrong for actions that are essentially natural and normal.” 19 Vgl. etwa Berman (Anm. 3). S. 95: “[…] the father’s judgment on Georg’s character is equally oxymoronic. […] we simply face the blatant untenability of the several assertions.” Oder Speirs (Anm. 9). S. 96: “[…] die offenkundige Schadenfreude und Hinterhältigkeit des rachsüchtigen alten Mannes […]”.
116 den er samt und sonders dem Sohn zur Last legt. Wäre dieser nicht zwingend, ginge die “Geschichte” anders aus und sie trüge auch nicht den Titel Das Urteil. Worin besteht nun im Einzelnen das Unglück des Vaters, die ungeheure Verletzung, die ihn zum Totalangriff auf den Sohn veranlasst? Es ist klar, dass der Freund als Prätext herhalten muss, um sozusagen als Hebel dieses Angriffs zu fungieren und ihn überhaupt erst zu ermöglichen. Die Solidarität des Vaters mit dem fernen Freund ergibt sich zwangsläufig, da er jenen als Leidensgenossen betrachtet und in seinem mutmaßlichen Verkümmern in Russland die Figuration der eigenen Lage sieht. Der Freund ist in der Tat die “größte Gemeinsamkeit”20 der beiden Bendemanns, nachdem beinahe alle andere Gemeinsamkeit verloren, zerbröckelt oder “verraten” ist. Die Mutter, als emotionale Mittlerin zwischen Vater und Sohn, ist tot. Der Vater hat ihren Verlust nicht verwunden. Der Versuch des Sohnes, sie zumindest in seinem eigenen Leben zu “ersetzen” durch die Braut – eine neue weibliche Bezugsperson – schlägt dem Vater eine erneute Wunde: er empfindet dies als Verrat am Andenken der Mutter. Die Zusammenarbeit im Geschäft hat sich, durch Georgs verstärkten Einsatz und die depressive Schwächung des Vaters, in dessen Augen zum heimlichen Konkurrenzkampf gewandelt: ein neuerlicher Verrat. Schließlich wird Georgs verspätete Fürsorge, sein Akt des Zudeckens, als Versuch gedeutet, den Vater endgültig zu begraben (“Du wolltest mich zudecken, mein Früchtchen,21 aber zugedeckt bin ich noch nicht” [16]). Die Metapher des Vaters drückt tiefe Verwundung aus: er fühlt sich vom Sohn in seiner gesamten Existenz aufs äußerste bedroht und nimmt nun den Kampf auf Leben und Tod auf.22 Auch wenn sich in alledem kein “gerader” Sinn für den
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Franz Kafka: Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/M. 1990. S. 491: “Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemeinsamkeit. […] Die Entwicklung der Geschichte zeigt nun, wie aus dem Gemeinsamen, dem Freund, der Vater hervorsteigt und sich als Gegensatz Georg gegenüber aufstellt, verstärkt durch andere Gemeinsamkeiten, nämlich durch die Liebe, Anhänglichkeit der Mutter durch die treue Erinnerung an sie […] Georg hat nichts, die Braut […] wird vom Vater leicht vertrieben. […] und nur weil er selbst nichts mehr hat, als den Blick auf den Vater, wirkt das Urteil, das ihm den Vater gänzlich verschließt, so stark auf ihn.” 21 Auch an der Bezeichnung “Früchtchen” hat man zuviel herumgedeutelt (vgl. Berman [Anm. 3. S. 95]). Im süddeutschen Dialekt ist der Ausdruck noch heute gebräuchlich. Er bedeutet nichts anderes als ein ungezogenes Kind. 22 Kurz (Anm. 7. S. 169) deutet den Vorgang so: “Das fürsorgliche Ausziehen und ‘Zudecken’ des Vaters im Bett […] ist der körperliche Ausdruck eines Tötungswunsches und des Wunsches, eine Aufforderung zum eigenen Tod zu verdecken.” Der erste Teil des Satzes wäre denkbar aus der Perspektive des Vaters, wenn diese von der Erzählerinstanz eröffnet würde. Der zweite Teil ist nicht am Text zu belegen.
117 Leser ergibt, ist dieser Unglückstext für den Vater mindestens ebenso real wie und – bedenkt man den Ausgang der “Geschichte” – weitaus potenter als zuvor der Glückstext seines Lebens für Georg. Zwischen beiden Texten liegt jedoch eine Kluft, die allein mit logischer Argumentation nicht zu überbrücken wäre. Aber Georg argumentiert noch nicht einmal logisch, denn er versteht den Text des Vaters ebenso wenig wie dieser den seinen, sogar sein Versuch der räumlichen Annäherung, “um alles zu fassen, stockte […] in der Mitte des Weges” (17). Er wird im Verlauf der Auseinandersetzung zusehends konfus und verliert (um im Bild der Metapher zu bleiben) vollkommen den Faden.23 Wenig später heißt es: “denn immerfort vergaß er alles” (19). Deshalb bleibt seine ineffektive Verteidigung weitgehend auf das Verhältnis zwischen Vater und Freund fixiert, und auch da spottet er an der Substanz der Anklage vorbei. Das erschütternde Aneinandervorbeireden von Vater und Sohn, deren Texte einander nur in einem Aspekt – der Person des Freundes – tangieren, führt schließlich zum fatalen Ausgang für beide.
IV. Verschiedene Zuspitzungsmomente auf dem Weg zum Urteil sind noch genauer zu betrachten. Vom Sohn – den er selbst kurz zuvor als “Spaßmacher” titulierte – als “Komödiant” (18) verspottet, antwortet der Vater: Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! […] Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater? […] was blieb mir übrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte, überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du, ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst? (18, Hervorhebung vom Verf.)
Hier schüttet der Vater, nicht ohne Selbstmitleid, seinen ganzen Schmerz unverstellt aus. Inmitten vom uneigentlichen Sprechen in Bildern24 bricht in seinem Text jetzt erstmals das volle Ausmaß seiner Enttäuschung und seines Verlassenseins wortwörtlich durch, bis zum unerwarteten Eingeständnis seiner Liebe, von der allerdings nur ihre Kehrseite, der Hass, geblieben scheint. Georgs Reaktion – so nachvollziehbar sie sein könnte bei der totalen Eskalation des Streits – verrät nur, dass er kein Wort aufgenommen hat von 23
“Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau zu beobachten […] Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluß und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht.” (18) 24 Vgl. die Metapher vom Zudecken, die Zitate auf S. 17, und im folgenden “hat mir die Mutter ihre Kraft gegeben, mit deinem Freund habe ich mich verbündet, deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche” (18f.) usw.
118 dem, was ihm da gesagt wird. Stattdessen “durchzischte” ihn der Gedanke: “Jetzt wird er sich vorbeugen […] wenn er fiele und zerschmetterte!” (18) Vertan ist damit nicht nur die Chance der physischen Hilfeleistung (Georg macht keine Bewegung, um seinen Vater zu stützen), sondern auch der wohl einzige Augenblick, in dem es noch möglich wäre, die fehlgehende Kommunikation endlich zu durchbrechen und sich auf den Diskurs des Vaters spontan und mitempfindend einzulassen. Für Georg scheint die Zeit stillzustehen. Es fehlen ihm die Worte, er verharrt in der Zimmerecke und schneidet ungläubige “Grimassen” (19). Der Vater hebt zum Schlussverdikt an: “Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter mußte sterben […] der Freund geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen!” (19f.) Der Sohn, der in seiner Konfusion gerade nicht sieht, wie es steht um seinen Vater, kann nur erwidern: “Du hast mir also aufgelauert!” Man sieht: da besteht keine Brücke zum gegenseitigen Verständnis. Georg, der offenbar dem Vater vor lauter Vergesslichkeit nicht folgen kann, argumentiert noch immer – wie ein ertapptes Kind – über das (reale oder angebliche) Bündnis zwischen Freund und Vater, während dieser das Urteil ausspricht: Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens! (20)
Mit dem Eklat dieses ungeheuerlichen Urteils, das in der kulturellen und der literarischen Tradition seinesgleichen sucht und das jede Lesererwartung sprengt, endet die vierte Erzählsequenz. Die fünfte, der Schluss der “Geschichte”, setzt atemlos und ohne Verzug, fast wie ein filmischer Szenenschnitt, ein. Georg stürzt aus dem Zimmer, hört gerade noch den “Schlag”, mit dem der Vater auf dem Bett zusammenbricht, “überrumpelt” auf der Treppe die (bis dahin unsichtbare) “Bedienerin”, die in ihrem Schock “Jesus!” ausruft,25 läuft aus dem Hoftor, überquert die Straße, “zum Wasser
25 Der Ausruf ist vielfach als Kritik Kafkas am Christentum oder als Hinweis auf einen religiösen Subtext verstanden worden. Vgl. neuerdings wiederum Robertson (Anm. 3. S. 106): “Kafka deploys Christian imagery to question the values of Christianity […].” Entgegengesetzt dazu: Rolf Selbmann: Hermeneutik. Kafka als Hermeneutiker. Das Urteil im Zirkel der Interpretation. In: Jahraus / Neuhaus (Anm. 4). S. 36–58. Hier: S. 54: “[…] rückt die Verdammung Georgs als ‘teuflischer Mensch’ in einen christlichen, keinen jüdischen Kontext, den die Bedienerin mit ihrem Ausruf ‘Jesus!’ gleichsam bestätigt.” Auch hier liest man zuviel in der Text hinein. Im süddeutschen Sprachraum ist die Exklamation (“Jessas!” ausgesprochen) bei Christen und Nichtchristen gleichermaßen gebräuchlich und besitzt nicht notwendig religiöse oder sakrale Konnotationen.
119 trieb es ihn”. Er ergreift das Geländer “wie ein Hungriger die Nahrung”, schwingt sich darüber, sieht einen “Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: ‘Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt’, und ließ sich hinabfallen.” (20) Der lakonische Schlusssatz lautet: “In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.” Was das letzte Wort, “Verkehr”, angeht, sollte man sich ruhig mit der Bedeutung des Straßenverkehrs zufrieden geben.26 Denn dieser hat Kafka nicht nur bei seinen beiden Paris-Reisen (1910 und 1911) beeindruckt, er bleibt ein Faszinosum in der frühen Phase der Motorisierung mit den dazwischen einherrasselnden Pferdefuhrwerken. Deuten lässt sich der ungebrochene Verkehr als Metonymie einer geschäftigen Menschheit, die, nichtsahnend gegenüber dem, was Georg gerade widerfahren ist, ihren Zielen zueilt. Das ‘Leben geht weiter’, der Erzählrahmen der “Geschichte” schließt sich bündig, der Erzähler tritt aus dem Geschehen aus mit dem sich weitenden Blick auf die anonyme und indifferente Gesellschaft in der modernen Metropole.27 Natürlich hat der Schluss, in dem Georg das haarsträubende Urteil wortlos hinnimmt und es dann, im panischen Automatismus, unmittelbar vollstreckt, viele Deutungen angeregt. Man sollte aber, wenn man ihn genauer betrachtet, bedenken, was in Sekundenschnelle in Georgs Bewusstsein geschehen sein muss, um diese Reaktion auszulösen, und was sich schon vorher während der Konfrontation mit dem Vater abgespielt hat. Denn wiederum ist der Text auf Lücke gearbeitet. Wesentliche Zusammenhänge werden nicht vom Erzählvorgang erklärt, und die während der Konfrontation sukzessive sporadischer noch auf Georgs Gedanken und seine Perzeption einschwenkende Perspektive lässt den Leser gegen das Ende weitgehend im Stich. Es ist, als ob die eingangs vorhandene Parteilichkeit der Erzählerinstanz für Georg sich nach und nach verflüchtigte und ihn, besonders am Schluss, seinem Geschick überließe: der Erzähler der “Geschichte” distanziert sich resigniert von seiner Figur. Das entspricht durchaus dem erzählerischen Desinteresse an Georgs Verbleib nach seinem Fall in den Fluss. Wir erfahren nicht, ob er tatsächlich ertrinkt, wie anzunehmen wäre. Letztlich macht es keinen fundamentalen Unterschied für den Leser, denn wäre er ans Ufer gezogen worden, hätte das am Gewicht des
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Die zuerst von Max Brod inspirierte und seit Stanley Corngold (The Hermeneutic of ‘The Judgment’. In: The Problem of the Judgment: Eleven Approaches to Kafka’s Story. Hg. von Angel Flores. New York 1977. S. 39–62. Hier: S. 40) verbreitete Deutung des Begriffs als “Geschlechtsverkehr” (vgl. auch Berman [Anm. 3. S. 90]) ist wiederum nicht durch den Text oder den Kontext zu stützen. Vgl. jetzt ebenso Stanley Corngold: Lambent Traces. Franz Kafka. Princeton 2004. S. 35. 27 Unverständlich erscheint folgende Deutung des Schlusssatzes: “Der letzte Satz […] evoziert den Tod als erlösende, überirdische Liebesvereinigung und erklärt den Jubel endlicher Existenz zur Nichtigkeit” (Kurz, Anm. 7. S. 172).
120 Urteils nichts geändert. Auch vom weiteren Ergehen des Vaters nach seinem Zusammenbruch wird nichts berichtet.28 Was sich aber, vielleicht gerade an den Lücken und Brüchen des Erzählvorgangs, bereits recht genau ablesen ließ, ist der Prozess des systematischen Zerfalls von Georgs Sprachvermögen (bis hin zur zeitweiligen Aphasie) und damit seiner Persönlichkeit im Disput mit seinem Vater.29 Der Erzählduktus reflektiert derart das Zerbröckeln der geistigen Kompetenz Georgs. Während der Vater den Glückstext des Sohnes unbarmherzig destruiert und ihm immer übermächtiger den eigenen Leidenstext auflastet, verliert Georg die eingangs – mit allen unterschwelligen Zweifeln – noch vorhandene relative Kohärenz seines Lebensbildes: er wird buchstäblich zur Unperson demoliert.30 Hier erweist sich auch die schon erwähnte Dürftigkeit der Konstruktion seiner gerade erwachsenen Identität, die sich bloß an Maßstäben des bürgerlichen Erfolgsdenkens orientiert und die keine eigene Substanz besitzt. Die Erzählung deutet es an: Georg leidet an der Krankheit der Selbstsucht. Wie man weiß, eignet diese Krankheit häufig dem bürgerlichen Subjekt in kapitalistischen Systemen. Evident wird sie jedoch an Georg erst, wenn er im Streit um den Freund (der die erste akute Weichstelle seines Lebenstexts verkörpert) und um sein eigenes Verhalten dem Vater gegenüber gewahr wird, dass dieser ihn gnadenlos verdammt für das, was er sich nicht ohne Mühe und nur durch das Verdrängen und Verschweigen von “Vorfällen” aufgebaut hat. Selbstsucht ist im Kindesstadium etwas ganz natürliches, im erwachsenen Alter muss sie – wenn sie sich auf Kosten anderer auslebt – destruktiv wirken. Das ist der Hintersinn des väterlichen Verdikts, das bezeichnenderweise bereits im Präteritum formuliert ist: “Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!” (20) Die missglückte Steigerung “noch eigentlicher” verrät hier das Ringen des
28
Zu diesen Fragen vgl. Peter von Matt: Eine Nacht verändert die Weltliteratur. In: Franz Kafka. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Claudia Liebrand. Darmstadt 2006. S. 102–115. Der ebenso intelligenten wie anregenden, letztlich aber autorzentrierten Deutung kann ich mich nicht anschließen. 29 Vgl. Bermans sehr gute Einsicht in die “progressive decomposition of Georg’s subjectivity […] he [Georg] is described as increasingly forgetful, losing the coherence of consciousness that would be necessary to mount a defense. […] Georg’s presentation entails a gradual repression of the past; if there is a judgmental moral to be drawn from his execution, it is that the loss of a past implies the loss of a future as well” (Anm. 3. S. 95f.). 30 Auf die besonders in der Frührezeption verbreiteten Fehldeutungen einer in Georgs Vater ausbrechenden Psychose geht Speirs (Anm. 9. S. 93) ein. Diese und ähnliche untaugliche Annäherungen sind heute kaum mehr anzutreffen.
121 alten Mannes um den treffenden Ausdruck. Georg hat dem nichts zu entgegnen: er ist jetzt buchstäblich auf den Nullpunkt seines Daseins reduziert. Er hat aufgehört, als autonomes Subjekt zu existieren und ist nichts mehr als eine Verlängerung des väterlichen Willens und das ausführende Organ der väterlichen Autorität. Als solchem bleibt ihm nur, das bizarre Urteil schweigend zu akzeptieren und es zu vollstrecken. Sein hilfloser Schlusssatz “Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt” (der erste zusammenhängende Satz, den er äußert seit längerer Zeit) klingt wie ein dünnes Echo der verlorenen Kindheit, aus der er nicht in ein stabiles Erwachsenenleben hinüberfinden konnte. Er klingt aber auch wie eine verspätete Kapitulation vor der elterlichen Autorität, die ihn verstoßen hat.31 Soll man also die “Geschichte” lesen als eine Parabel des nicht gelungenen Aufwachsens, das verhindert wird durch Selbstsucht, Selbsttäuschung, mangelnde, fehlgelaufene und am Ende fatale Kommunikation? Das Urteil und sein Vollzug wäre somit in der Tat ein Akt der “poetischen Gerechtigkeit”.32 Dieser Akt gehörte dann in die Sphäre der “Gleichnisse”, in denen laut Kafka das “Unfaßbare” geschildert und das gemeinsprachliche – geradlinige – Verständnis von “gewinnen” und “verlieren” auf den Kopf gestellt wird.33 Georg verliert alles das, was er glaubte gewonnen zu haben, weil er es aus dem selbsterdachten Gleichnis seines Lebens nicht in die vom Vater konstruierte Realität einbringen darf.
V. Bevor man sich jedoch damit zufrieden stellt, ist noch ein Blick geboten auf die Frage der Schuld. Wo immer ein Urteil ergeht, und sei es noch so hypertroph, sollte es durch die nachgewiesene Schuld des Angeklagten begründet sein. 31
Wenig spricht für die seit Sokel (Walter H. Sokel: Franz Kafka – Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst. München 1964. Hier: S. 63f.) vertretene These, Georgs Selbstmord symbolisiere seine Rückkehr zu den Eltern. 32 Speirs (Anm. 9. S. 104) weist zu Recht darauf hin, dass bei Kafka “[…] die ‘Strafe’ das ‘Vergehen’ oft maßlos übersteigt”, er benennt jedoch das “Vergehen” nicht exakt. Es ist auch am Text nicht zu belegen, dass der Vater Georg belügt: “Durch den betrügerischen Vater wird ihm das Trugbild des eigenen Lebens enthüllt” (ibid. S. 105). 33 Vgl. den kurzen Text “Von den Gleichnissen”: “Alle Gleichnissse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. / Darauf sagte einer: ‘Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und somit der täglichen Mühe frei.’ / Ein anderer sagte: ‘Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.’ / Der erste sagte: ‘Du hast gewonnen.’ / Der zweite sagte: ‘Aber leider nur im Gleichnis.’ / Der erste sagte: ‘Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.’ ” In: Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt/M. 1975. Hier: S. 359.
122 Tatsächlich umgibt der Disput zwischen Vater und Sohn diesen erzähltechnisch mit einer sich beständig verdichtenden Aura von Schuld, die zwar nicht durchgängig tangibel und genau zu benennen ist (sie besteht ja allein in der Sicht des Vaters), sich aber zählebig im Leserbewusstsein über das Ende der Lektüre hinaus erhält. Denn, fühlte Georg sich nicht schuldig, hätte er das ungeheuerliche Urteil wirklich akzeptiert und vollstreckt? Über diese Schuldfrage hat das Interpretieren seltsame und vielfältige Blüten getrieben. Das Spektrum der Georg von der Forschung zugeschriebenen Schuldhaftigkeiten reicht von seiner vermeintlich vermessenen Emanzipation gegenüber der “höchsten Autorität” des Vaters, die wiederum in der Erbsünde – dem Verstoß gegen die göttliche Autorität im Garten Eden – wurzelt, über diverse ödipale und freudianisch verschlüsselte Verwundungen, ganz zu schweigen vom Reflex von Kafkas eigener problematischer Vaterbeziehung, bis hin zu einer “universalen Komplizität” der Schuld, die Vater und Sohn eingehen, wenn sie beide “urteilen”, sowohl über den Freund als auch über einander.34 Am anderen Ende des Spektrums heißt es dagegen: “Im Rahmen der erzählten Welt gibt es keine konsistente Begründung für das Urteil des Vaters, aus der sich eine Schuld des Sohnes ableiten ließe.”35 Der Akzent liegt hier sicher auf “konsistente Begründung”. Aber Bendemann sen. ist ein alternder Kaufmann, kein Jurist (wie der Autor), er befindet sich zudem im Ausnahmezustand verzweifelter Erregung, und was da aus ihm herausbricht, ist keine wohlgeordnete Klageschrift, sondern der mühsame, nicht kohärente, durch uneigentliches Sprechen verstellte Komplex seiner Verletzung. Es geht ihm um Transgressionen, Verfehlungen, Unterlassungen, die ihn ebenso schwer betreffen wie sie Georg unbegreiflich bleiben: den Verrat am Familiengefüge durch das Einbringen der Braut, das Überflügeln des Vaters im Geschäft und dessen Ausgrenzung aus dem Lebenskreis des Sohnes, die Nichtachtung derer, die ihn brauchten. Das schließt natürlich den Freund ein, auf den der Vater seine Verletzung projiziert. Kurzum: es geht dem Vater um einen eklatanten Mangel an Liebe und Bindung. Der Text verschweigt jedoch, ob diese subjektive Schuld, die der Vater ausschließlich aus seinem eigenen Empfinden einklagt, auch objektiv zu begründen wäre. Allein schon Georgs Schweigen zur Sache macht dem Leser die Entscheidung unmöglich. 34
Berman (Anm. 3. S. 96) spricht von “a necessity of judgment and a universal complicity in guilt”. Er stellt aber dann ganz richtig fest: “The ultimate problem of ‘Das Urteil’ is not the dubious quality of the father’s pronouncement […] but rather Georg’s acquiescence. What sort of culture produces a personality so willing to conform, even to the point of self-destruction?” (ibid. S. 97). 35 Michael Scheffel: Strukturalismus. Das Urteil – Eine Erzählung ohne “geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn”? In: Jahraus / Neuhaus (Anm. 4). S. 59–77. Hier: S. 76.
123 Die Provokation und das Rätsel, das der Text dem Leser noch vor dem Urteil aufgibt, ist folglich die Tatsache, dass Georg das Leiden des Vaters überhaupt nicht versteht. Er ist wie taub im Angesicht von dessen verzweifelter Anklage. Ist er tatsächlich vollkommen unberührt von dem Schmerz, der ihm da entblößt wird? Dann wäre er wohl in seiner Gefühllosigkeit nicht “ein unschuldiges Kind”, sondern eher ein “teuflischer Mensch”. Aber er verspürt ja eingangs durchaus einen Anflug von Mitgefühl, bevor er den Vater zu Bett bringt. Ist es dann der Schock über dessen Transformation in ein “Schreckbild” – die drohende Riesengestalt seiner Kindheit? – und über den sich rasch eskalierenden Konflikt, der ihn derart verwirrt, dass er, wie im Stupor, dumm und stumm in seiner Ecke steht? Wir wissen es nicht. Was der Leser mitansieht, ist das Zerbrechen der Konstruktion eines von der insgeheim geahnten Selbstsucht durchsetzten “halbherzigen Lebens”36 unter dem Gewicht der väterlichen Anklage. Am Ende hat der Sohn dann buchstäblich das eigene Selbstsein verloren: er ist ein Vakuum, das im Handumdrehen angefüllt wird vom Willen des Anderen und der ihm zugeschriebenen Schuld. Die Leerstelle im Text ist wiederum offensichtlich. Mit einiger Legitimation durch die vorangegangene Lektüre lässt sich aber folgendes schließen: In diesem Augenblick überfällt Georg offenbar ein kolossales Schuldgefühl, das wiederum aus einem nicht reflektierten, prärationalen Schuldbedürfnis resultieren muss.37 Dieses, so darf man weiterhin folgern, ist einerseits der Preis für den Glückstext und das darin Verschwiegene, andererseits für das Wagnis des Erwachsenwerdens zwischen unverbrüchlicher, repressiv-patriarchalischer Hierarchie und der notwendigen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Als Erwachsener, der sich zur Familiengründung anschickt und die Stelle des Vaters im Geschäft mehr und mehr übernommen hat, kann Georg kaum von unbewussten Schuldgefühlen gegenüber dem schwindenden Primat des Vaters frei sein. Man braucht da noch nicht einmal das vielbesprochene, sicherlich mitspielende “ödipale Drama”38 zu bemühen, der Verweis auf die patriarchalische Sozial- bzw. Familienstruktur
36
Speirs (Anm. 9). S. 106. Freud zufolge ist das Schuldgefühl Teil des Über-Ich. Die Tiefenpsychologie hat aber erst in jüngster Zeit sich der Frage von Schuld und Schuldverlangen und ihren Ursachen in der kindlichen und adoleszenten Sozialisation angenommen. Dagegen wurde das Problem der Schuld und ihrer Verdrängung bzw. das Bedürfnis nach Schuld als kollektives Phänomen vielfach im Kontext des (deutschen) kulturellen Gedächtnisses untersucht. 38 Vgl. Anz (Anm. 12). S. 132: “Vor allem aber sind die Themen, Motive und Konstellationen, für die sich Psychoanalyse bevorzugt interessiert, hier leicht zu finden: die familialen Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Mutter mitsamt jener Mischung von Liebe, Hass, Schuldbewusstsein und Bestrafungsphantasie, die für das ödipale Drama kennzeichnend sind.” 37
124 der Zeit im jüdisch-christlichen Kulturraum und die sie stützende rigide, deformative Sozialisation genügt. Auf die emotionale Verkrüppelung, die häufig aus dieser Sozialisation resultierte, braucht kaum eingegangen zu werden. Georg ist ihr mit Sicherheit nicht entgangen. Solange ein Vater am Leben ist, kann ein Sohn dessen ‘Nachfolge’ nur auf eigenes Risiko und mit mehr oder weniger bewussten Skrupeln, Vorbehalten und Befürchtungen antreten. Georg hat jene – zusammen mit dem Geschick der gemeinsamen Projektionsfigur des Freundes – zumindest partiell verdrängt oder beschwichtigt. Noch während des Duells mit dem Vater klammert er sich – vielleicht zunehmend wider besseres Wissen – an seine Verdrängungsstrategien und er sieht das Urteil nicht kommen, bevor es ihn wie ein Blitzschlag trifft. Der Text kann also durchaus als die Parabel eines gründlich gescheiterten Versuchs gelesen werden, das patriarchalische Machtsystem zu unterlaufen, an ihm vorbei zu manövrieren, und sich davon unabhängig (mit allen genannten Einschränkungen) einen Lebenstext zu entwerfen, der zunächst an den Freund schriftlich niedergelegt wird und dann mündlich mit dem Vater verhandelt werden sollte. Dazu kommt es jedoch nicht. Georg versagt auf der ganzen Linie: zuerst als Verfechter der eigenen Sache – er kann noch nicht einmal die Braut verteidigen – , dann angesichts der fundamentalen Anklagen des Vaters. Er kommt nicht heraus aus dem Teufelskreis der festgeschriebenen Hierarchie. Weder die eingangs demonstrierte Fürsorglichkeit noch sein folgender Spott beeindruckt den Vater, und eine spontan mitfühlende, erwachsene Reaktion auf dessen Leiden hat Georg nicht in sich. Aber auch die ihm implizit abgeforderte Unterwerfung unter das patriarchalische Diktat kommt nicht zustande: er erbittet nicht den väterlichen Segen für sein Verlöbnis und die Billigung seines Lebensplans. Er leistet nur eines: er unterzieht sich fraglos dem Urteil, das in keinem Verhältnis steht zu den ihm angelasteten Verfehlungen. Dieses Urteil versinnbildlicht aber in sich die ganze Schändlichkeit repressiver patriarchalischer und – allgemeiner gesprochen – vertikaler Herrschaftsstrukturen.39 Ob man es buchstäblich nimmt oder nicht, ob Georg tatsächlich in den Fluss gleitet
39
Es ist nicht anzunehmen, dass Georgs Selbstmord die Konsequenz seiner Einsicht in die höhere Ordnung des Patriarchats darstellt. So etwa David Pan: The Persistence of Patriarchy in Franz Kafka’s “Judgment”. In: Orbis Litterarum 55 (2000). S. 135–160. Hier: S. 153f.: “Through his suicide, Georg demonstrates that he now recognizes something outside of and greater than himself […] Georg subordinates his physical well-being [!] to a higher goal. This goal is a patriarchal one in the story”. Wenig einleuchtend ist auch die Annahme, “dass das Urteil eine symbolische Abnabelung vom Elternhaus begründet […]”, wie Stefan Neuhaus vorschlägt. Vgl. Ders.: Rezeptionsästhetik. Im Namen des Lesers. Kafkas Das Urteil aus rezeptionsästhetischer Sicht. In: Jahraus / Neuhaus (Anm. 4). S. 78–100. Hier: S. 96f.
125 und darin ertrinkt, ist letzten Endes für die Lektüre der “Geschichte” nicht entscheidend. Auch am Ende wäre es verfehlt, auf einen “geraden” Sinn zu pochen, den der Text bestenfalls vordergründig liefert. In Kafkatexten wird häufig figürlich gesprochen und das in Allegorien und Tropen mitgeteilt, was der empirischen Realität zuwiderläuft, aber durchaus denkbar ist. Tödlicher Missbrauch elterlicher Autorität ist nicht nur denkbar, er geschieht noch immer jeden Tag aufs Neue.
Jaak De Vos
Autorität und Servilität. Die Dialektik der Macht – ideologisch und textstrategisch – in Robert Walsers Erzählung Tobold (II) Though the character Tobold appears in several different texts and constellations, rather little attention has been paid so far to Robert Walser’s curious figure. Research has mostly confined its findings to autobiographical correspondences. This paper concentrates upon the Tobold (II)-Fragment. An effort is made to discern and analyze what seems to be/stands out as the most apparent and effective feature of what might be called the Tobold-Type: through a strategic and subversive combination of authoritarian and submissive impulses, a servant or pupil not only gains power and dominance over superiors and rulers, but also manages to fulfill the self’s ambivalent aspirations. Tobold’s identity is a staged one, built upon fantasies, role-playing, and stereotyped representations of the social context. Especially in the interaction with stylistic, narrative and rhetoric characteristics (irony, paradoxes, tautological abundance, fragmentation, anecdotic, erratic and drifting narration), the text’s ideological strategy becomes obvious: Tobold (II), through its insurgent, rebellious agent, is subverting a social and moral order, as it is manipulating and deregulating the reader’s system: Walser’s tendency to balance, neutralize and compensate all tensions creates a permanent deconstructive strain which leads inevitably to ambiguity and indecision.
1. Faktisches zur Entstehung Tobold (II) erschien zuerst im Februar 1917 in der Neuen Rundschau; die etwas ungewöhnliche Bezifferung (bei Walser aber ein geläufiges Phänomen) suggeriert eine frühere Fassung Tobold (I); die gibt es auch, nur handelt es sich bei diesem Text (mit ungewisser Entstehungszeit, vermutlich um 1912) um ein “Dramolett”, einen kurzen dialogischen Text, in Versen geschrieben, mit verteilten Rollen (der Schurke, Tobold, der Bedrängte, die Verlassene, der Gebieter). Der interessante Name hat seine eigene Geschichte: in Berlin als Familienname belegt, taucht er auch im Prosastück Der fremde Geselle auf (Dezember 1912: “Ich habe bereits dem unbekannten Menschen, der zu mir hinaufgeschaut hat, einen Namen gegeben. Ich nenne ihn, wenn ich an ihn denke, Tobold” – Das Gesamtwerk I, 367), mit Walsers Erläuterung, der Name sei ihm “zwischen Schlafen und Wachen eingefallen”).1 Auch weiterhin hat 1
Robert Walser. Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. Band I. Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. S. 367. Vgl. Jochen Grevens Anmerkungen in Robert Walser. Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. Band II. Kleine Dichtungen. Prosastücke. Kleine Prosa. Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. S. 367.
128 Walser den Namen benutzt: die Bezugsgestalt der Skizze Spazieren heißt Tobold, und in Poetenleben findet sich ein Fragment “Aus Tobolds Leben” (gedruckt 1915). Ein Roman mit dem Namen als Titel, im März 1919 abgeschlossen, muss als verschollen gelten. “Tobold” bildet also offensichtlich einen figurativen Komplex, dessen Verbindlichkeit nicht nur aus dem Umfang und der Frequenz der einschlägigen Textmomente spricht, sondern auch auf eine aufschlussreiche, zugleich etwas abwegige biographisch-ideologische Dimension verweist. Aus Walsers Biographie ist bekannt, wie Robert im Herbst des Jahres 1905 (nach vorausgegangenem Besuch einer Dienerschule in Berlin) für einige Monate eine Stellung als Diener innehatte auf dem oberschlesischen Schloss Dambrau.2 Greven erblickt darin die Erfüllung einer alten Wunschidee, “in der sich offenbar romantische Phantasie und sozialkritisches Denken, Lust an der Verkleidung und ein inneres Bedürfnis nach Unterwerfung” verbinden.3 Abgesehen davon, erscheint der “Typus” Tobold – jeweils in einer anderen Maske und Gestalt – in mehreren Texten, immer als Figuration des Autors, manchmal fast mythisch aufgeplustert, manchmal realistisch-biographisch begründet, als Entwurf einer möglichen Existenz. Dass eine solche sich so obstinat um die Diener-Idee zentriert, stellt die Forschung vor Rätsel; nicht selten wird sie auf eine frühe, tief existentielle Krise zurückgeführt, “von der biographisch nichts bekannt ist”.4
2. Ideologische und textstrategische Lektüre “Tobold” darf ruhig als weitgehend relativ unerforscht gelten5 – was wundernehmen könnte, angesichts der ausgewiesenen Konsistenz und Folgerichtigkeit, mit der fast ein “Komplex” um die Tobold-Figur erzeugt wird, der überdies Walser längere Zeit 2
Vgl. Robert Mächler: Das Leben Robert Walsers:eine dokumentarische Biographie. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1978. 3 Jochen Grevens Anmerkungen in Robert Walser. Das Gesamtwerk. Band III. Poetenleben. Seeland. Die Rose. Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. S. 449. 4 Greven: Nachwort zu Das Gesamtwerk. Band II. Kleine Dichtungen. Prosastücke. Kleine Prosa (Anm. 1). S. 374. 5 Daran ändert auch Grevens spielerisch inszeniertes “Gespräch in einer Bibliothek” nichts, in dem er Walser einen Abschnitt lang über Dienerschule, Grafenschloss und Tobold berichten lässt. Vgl. Jochen Greven: Gespräch in einer Bibliothek. In: Text ⫹ Kritik. Robert Walser. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Heft 12/12a. Vierte Auflage: Neufassung (Oktober 2004). München: edition text ⫹ kritik. S. 21–41. Hier: S. 28. Auszunehmen von dem etwas harschem Befund sind die Beiträge von Marian Holona: Zur Sozialethik in Robert Walsers Kleinprosa. Mediocritas – oder die Aufhebung des Rollenspiels. In: Robert Walser. Hg. von Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. S. 152–166, und von Hartmut Vollmer: “Durch den Tod hindurch ging ich hinein ins Leben” – Robert Walsers Tobold-Texte. In: Etudes Germaniques 54 (1999). S. 585–606.
129 beschäftigt hat, und in dem sich zumindest einige der “festen” Motive und Themen wieder finden lassen. Jede Forschungsarbeit am Tobold-Text wäre also gewissermaßen als Exploration einzustufen (behaftet mit allen Gefahren und Risiken, Mühseligkeiten und Problemen, die einer solchen quasi Erstbegegnung wohl inhärent sind).
2.1. Identität und Rollenspiel Schon der Einsatz der Geschichte stiftet – mehrfach – Verwirrung: betontermaßen setzt sie mit einer Ich-Perspektive ein, gestaltet sich also als Ich-Bericht, und wird noch im selben Satz zur Er-Geschichte gemacht (“erzählte mir”), deren Erzählinstanz doch oszilliert zwischen Ich und Er.6 Der Ich-Erzähler (“mir”) verschwindet schon im ersten Satz als Erzählinstanz hinter seiner Er-Figur, der er die Erzählfunktion übergibt. Der Erzähler ist da, und ist nicht da. Ähnlich verschwommen, schwankend, ungewiss ist die Identität der Erzählfigur (“Ich hieß früher Peter” vs. “namens Tobold”). Der Name, sonst das erste Identitätsmerkmal, das die Persönlichkeit, die Individualität eines Menschen definiert, charakterisiert und fixiert, erscheint hier wie ein durchaus fließendes, unstabiles Medium, fast wie ein Kleidungsstück, das man beliebig anlegt oder ablegt. Man vergleiche: “Die Gedichte, die ich als Peter schrieb, gab ich viel später unter dem Namen Oskar […] heraus”, und “zu Zeiten, wo ich sehr gut aufgelegt war, nannte ich mich Wenzel” (318). Ein “sonderbarer” Mensch muss es also wohl sein. Ist der Namenswechsel Anzeichen einer psychischen Krise, eines Identitätskonfliktes, einer Selbstinszenierung? Auf eine verstörende Krise scheint wenig hinzuweisen, jedenfalls nicht der “stille Mensch”, der “mit ruhiger Stimme” erzählt. Die Erklärung scheint zugleich banaler und komplexer. Eine Traum- und Zauberwelt, erfüllt von Wunschvorstellungen und Phantasien, schöpfend aus der Natur, der Literatur, vielleicht sogar der Geschichte, ließe auf eine spontan-unbefangene, etwas pubertär-naive Einstellung schließen, wären nicht auch manchmal erschütternd reife Einsichten und Spuren einer gründlichen Selbstanalyse da. Nicht, dass daraus eine reife, ausgewogene, “kohärente” Persönlichkeit zum Vorschein käme, denn die überspannte Phantasie, die Ruhmsucht, die Sehnsucht “nach Gefahr, nach Größe, nach Romantik” (318), das Gefühl als Selbstzweck (“Aber mein unbestimmtes Sehnen liebte ich leidenschaftlich”) begleitet ein kognitives, rationales Vakuum (“Ich wußte es und wußte es wieder nicht” – 318), eine fundamentale Unbestimmtheit, ein Versagen angesichts der (zu) hohen Selbstansprüche. Starke Gefühle und Nicht-Wissen halten sich die Waage. Gebrochen gestaltet sich entsprechend der Schreibstil, diskontinuierlich die Erzählhaltung, um diesen Widerspruch (zumindest diese Diskrepanz) zwischen 6
Zitiert wird nach Robert Walser: Das Gesamtwerk. Band II (Anm. 1). S. 318–352.
130 Einbildung und Realität wiederzugeben. Logische Gedankengänge bilden sozusagen kleine Inseln in einem Diskurs, der sich keine Mühe gibt, zwischen diesen Inseln Brücken zu schlagen: die Übergänge geben sich abrupt, unerwartet, verlangen vom Leser ständig gedankliche Umstellungen, ein assoziatives Schließen der Lücken, die Walser hinterlässt. Fetzen aus einem auseinandergefallenen Bewusstsein, Erinnerungsbilder und Reflexionen wechseln auf undurchschaubare Weise ab, paradoxerweise ohne der Transparenz des Textes insgesamt zu schaden. Tobolds Rollenspiel, seine imaginierte, großangelegte Karriere, schwankt – zumindest zeitweilig – zwischen Dichter und Feldherrn (zwischen Kontemplation und Aktivität?). Die quasi archetypische Opposition dürfte aber (auch) einen autobiographischen Hintergrund haben, einen zeitgenössischen moralischen Konflikt problematisieren (wie verhält sich der Intellektuelle zum Krieg?), der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in abgewandelter Form noch ein paar Mal wiederholt hat. Der 1917 erschienene Text ist schließlich im Schlagschatten des Ersten Weltkrieges entstanden, im dem auch Walser “Militärdienst” zu absolvieren hatte.7 Walsers Haltung zum Krieg und zum Militär überhaupt lässt sich erneut nicht ohne ambivalente, durch ironische Reflexe eingegebene Hintergedanken beschreiben. In “Der Arbeiter” (aus Poetenleben), geschrieben im August 1915, findet sich – in einem der zwei dem jungen Arbeiter zugeschriebenen Prosastücke – die Stelle: Der Krieg brach aus. Alles eilte nach den Sammelplätzen, um die Waffen zu ergreifen. Auch unser Arbeiter eilte hin, ohne viel zu bedenken. Was gibt es zu bedenken, wo es dem Vaterland zu dienen gilt? Der Dienst für das Vaterland zerstreut alle Gedanken. Bald stand er in Reih und Glied, und kräftig, wie er von Natur war, fand er es göttlich schön, mit den Kameraden auf staubiger Straße gegen den Feind zu marschieren. Lieder singend ging es fort, und bald kam es zur Schlacht, und wer weiß, vielleicht war der Arbeiter einer unter denen, die für das Vaterland fielen.8
An anderen Stellen (“Etwas über den Soldaten”, “Beim Militär”, “Der Soldat”) hört man das Spöttische, Ironische, Satirische sogar heller heraus: Was denkt ein Soldat viel so den ganzen Tag? Er hat ja überhaupt, damit das Ding klappt, das man Militarismus nennt, gar nichts oder absichtlich wenig zu denken (Beim Militär).9 7
Vgl. Mächler (Anm. 2). S. 97. Zitiert nach Robert Walser: Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. Band III. Poetenleben. Seeland. Die Rose. Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1978. S. 115f. 9 Robert Walser: Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. Band VIII. Verstreute Prosa I (1907–1919). Zürich und Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1978. S. 332. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Maron Gees: “So, so? Verloren?” Zur Poetik des Verschwindens in Robert Walsers Bieler Prosa. In: Robert Walsers “Ferne Nähe”. Neue Beiträge zur Forschung. Hg. von Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz und Karl Wagner. München: Wilhelm Fink Verlag 2007. S. 83–95. Hier: S. 91ff. 8
131 Auffällig daran ist wohl, wie Kriegseinsatz immer mit Gedankenlosigkeit assoziiert wird – und mit “Dienst”. Auf eine andere Art auffällig ist aber, dass Walser in keinem der vier von ihm selbst entworfenen Tobold-Lebensläufe dem Krieg mit einem einzigen Wort Erwähnung tut, während in zumindest zwei davon ausdrücklich vom Dieneraufenthalt im gräflichen Schloss die Rede ist. Dennoch fungiert der Krieg durchgängig auch bei ihm als “Elementarereignis”, durch das schlagartig die Realität in die umfriedete, beschützte Eigenwelt (etwa des Dieners, des Studenten) hereinbricht, die mühsam angestrebte – keineswegs schon erreichte – Balance aus dem Lot bringt. Was bei anderen (Franz, Hermann, Heinrich10) das Hereinbrechen des Krieges bewirkt (Umkehr-Allegorie, Emanzipation aus der Einbildungswelt in die aktive Berufswelt), gestaltet sich bei Tobold in der Begegnung mit einer symbolischen Todesgestalt im Wald als fast mystische Wiedergeburt. Der alte Mensch wird abgelegt (auch da fehlt merkwürdigerweise nicht die Aggressivität und Gewalt – “um mich in seinen Armen zu erdrücken”; “die arme unglückliche Brust zerbrach” (319) – ein neuer ersteht auf, der seltsamerweise einen neuen Namen erhält (eben Tobold11), aber kaum ein “Ich”: ausgerechnet die neue Menschwerdung wird mit auffälliger Distanz beschrieben (Er-Perspektive: “welcher vor dir ist”; bestimmter Artikel: “Die Brust, das Wesen”; erneut Vexierspiel Erzähler-Figur). Erst mit der Namensnennung (“Als Tobold kam ich mir wie neugeboren vor”) wird das neue Ich “offizialisiert”, es erscheint dann auf einmal – nach Frequenz und Intensität – besonders prominent und profiliert. Betont wird übrigens auch sehr stark das “Neue”, die Dynamik, die Kehrtwendung, der Reifeprozess, die Transgression und Emanzipation aus dem (geistigen) Tod, aus der Wüste der Gedankenlosigkeit in das neue Leben (“Ich hatte als Peter noch keinen Lebensgedanken, keine eigentliche Lebensauffassung gehabt, und darum starb ich” (319). Die Epiphanie, so vital und produktiv sie dargestellt wird, ist alles andere als selbstverständlich oder konsequent. Denn die neugewonnenen Einsichten, der Austritt aus einer Art “Prä-Existenz” der Einbildung, verbürgen im Grunde nur die Regression in das Kleine, unter Verzicht auf Ruhm, Ehrgeiz, Größe, Strebertum.12 Ein Ideal des einfachen (fast auch: einfältigen) Lebens, der 10
Vollmer (Anm. 5. S. 594) deutet die “aufgegebenen und verlorenen Lebenspläne und erfüllten Existenzwünsche” der “Kameraden” ebenfalls als “Zukunftsträume” Tobolds – obwohl der sich ausdrücklich und doppelt (in Absicht und Reaktion) davon abhebt. 11 Während Greven (vgl. Anm. 1) “Tobold” als Familiennamen in Berlin nachweist, riskiert Vollmer (“Durch den Tod hindurch…”. S. 595) eine originelle, aber kaum dingfest zu machende Konstruktion aus “Kobold” und “Tod”. 12 Hier wäre sinnvoll an Holonas Befund anzuknüpfen, dass die Diener-Gestalten, wie u.a. auch der Arbeiter und der Poet, “jene soziale Gruppe bilden, die dem Besitzbürgertum gegenübergestellt ist”. Vgl. Holona (Anm. 5). S. 153.
132 Selbstaufgabe und des Verzichts wird propagiert, als ob dadurch das Lebensglück und der Lebensgenuss gewährleistet wären. Die praktischkonkrete Konsequenz der neuen Einstellung wird ebenso lakonisch, kategorisch, wie selbstverständlich gezogen: “Eines Tages wurde ich Diener und kam als solcher in ein Schloß zu einem Grafen” (320). Wie wenn sich der Erzähler selber über den abrupten Charakter der Schlussfolgerung verwundert, folgt nachher eine ausführliche, disproportionale Erklärung und Rechtfertigung, eine fast psychologisch-philosophische Begründung hinterher, wie der “spielende Gedanke” sich zu einer “fixen Idee” entwickelt hatte. Darin interessiert namentlich der abstrakt-theoretische Einschub, der zugleich wie ein poetologischer Programmpunkt anmutet: “Ideen streben nach Vergegenwärtigung, nach Versinnbildlichung; ein lebhafter Gedanke will früher oder später in lebendiger Wirklichkeit, in Körperlichkeit verwandelt sein” (320). Bei näherem Hinsehen wird klar, wie der Ich-Erzähler im Grunde erfüllt und vollzieht, was hier als Maxime und Aufgabe hingestellt wird: er verkörpert weniger den Typus, die “Idee” eines Dieners – dazu scheint er, wie er selber eingestehen muss, “absolut nicht geeignet” –, sondern vielmehr die Idee, dass “wunderliche Einfälle” wegen der “inneren Ehre” ausgeführt werden sollen. Dass redliche, legitime Fragen (tauglich oder nicht, dumm oder nicht) dabei bewusst ausgeklammert werden, legt nahe, dass der Impuls zu diesem Entschluss eher ein moralischer, psychischer als ein rationell-kognitiver, d.h. auch: utilitärer ist. Eine Art “kategorischer Imperativ” (“will und muß”, “soll und muß”) diktiert sein Handeln (“und dieser inneren Ehre gilt es durchaus Genugtuung zu verschaffen” – 320). Paradox wie es scheint, die Diener-Rolle bezweckt eher eine Ich-Erfüllung, dient eher einer Prüfung des eigenen “Mutes” und des “Willens”, als dass sie auf vollkommene Dienstleistung, im Dienste der “Anderen” gerichtet wäre. So entsteht ein ganz eigenes Wertesystem, in dem der Vorsatz, nicht die Aussicht auf Gelingen, ausschlaggebend ist. Erlangung des Glücks wird nicht länger von den traditionellen Tugenden (an erster Stelle der Klugheit) abhängig gemacht, wohl im Gegenteil: das Abwegige, Ausgefallene, “Sonderbare” und “Verrückte” werden zur Grundlage des wahrhaften Lebensglücks gemacht – und Don Quichote, “der Ritter von der traurigen Gestalt”, zum nachahmenswerten Vorbild. Merkwürdig übrigens, wie “logisch” und konsistent argumentiert wird, um gerade die “kluge Belehrung”, die auf Vernunft setzt, aus den Angeln zu heben. Noch merkwürdiger: die untertänige, das Selbst verflüchtigende Formulierung, mit der Demut und Selbstbewusstsein wieder in paradoxen Einklang gebracht werden (die Worte, “die mir vorzubringen beliebte” [321]) – ironische Zurücknahme, Bescheidenheitstopos, hierarchisches Bewusstsein, sozialer Respekt, textstrategisches Verwirrspiel: alle diese Komponenten treffen aufeinander. Dazu passt auch das anspruchslose Protzen mit Wissen und Bildung (Wedekind, Verlaine, Gemäldeausstellungen), die aber eher mittelbar “erworben”
133 werden, über gesellschaftliche Kontakte mit “zeitgenössischen” Leuten von einer “hochentwickelten Intelligenz”. Walsers ironische Relativierungstendenz stellt klar heraus, wie er im angeblichen Loben und Preisen nachgerade die Oberflächlichkeit der “Mode”, des “in”-Seins attackiert. Die Suche nach einer “Bedeutung” – “irgendwelcher” (322)! – verknüpft ihn mit und entfernt ihn von seinen Zeitgenossen. Er hat Bestimmteres, Eigenes im Sinn (vgl. “Entschluß”, “Entschiedenes”, “bestimmte Schule”, “kräftigen Schritt”), das er ohne Fremdbestimmung ausführen kann (aber woher dann die Schule? Widerspricht das nicht dem früher eingenommenen Standpunkt “Probieren – sagt man – geht über Studieren”? [321]). Allein: was das genau ist, bleibt unausgesprochen, und wird nur abrupt, verschleiert, angedeutet in der Beschreibung der Ankunft auf dem gräflichen Schloss, wo er seinen “Dienst” ausführen soll. Weshalb diese Lücke? Eine Art Tabu-Scheu vor der wenig ruhmreichen Abweichung von seiner geplanten, phantasierten Laufbahn? Verstrickt er sich in seine eigenen Widersprüche? Ist es wohl eine Lücke? Wird nicht angeknüpft an “Eines Tages” (320)? Oder ist ihm die vorausgegangene Überlegung zu banal (oder zu evident), sie ausführlich wiederzugeben? Merkwürdig (aber symptomatisch) ist, wie die großen Entscheidungen ausgeklammert, dafür die winzigsten Vorgänge in Hülle und Fülle, mit allen Details geschildert werden. Im Zeichen des Trivialen, des Anekdotischen, des Überexpliziten (“eine nette Mamsell oder Jungfer”; “auf unserem Leiterwagen oder grobem Lastfuhrwerk”, “nämlich einen Schloßhof ” [322]) steht auch der “Anfang”, der eine auffällige Gegensatzstruktur aufweist. Nicht nur werden Mamsell und Tobold auf stark unterschiedliche Weise empfangen (“graziös, zierlich, vornehm” vs. “grob, barsch”), der dänische Sekretär und der polnische Verwalter benehmen sich wie Tag und Nacht, stellen – kombiniert – die Wesenszüge des “Systems” heraus: Hierarchie und Servilität (“Der Kastellan war mein Vorgesetzter und damit basta!” [323]), und deren unterschwellige, manchmal aggressive Dialektik. Das vorgeschriebene Rollenspiel wird fast als naturgegeben betrachtet, bedenkenlos interiorisiert und gefügig akzeptiert (“den ich […] gerade wegen seiner Grobheit lieb gewann”). Eigene Regungen und Gedanken werden entweder selbstzensierend unterdrückt (“glaubte ich murmeln zu müssen”, “der ich da Betrachtungen anzustellen für gut fand”) oder brutal untersagt (“aus allen nützlichen oder nutzlosen Nachdenklichkeiten”). Blind gehorchen, ohne nachzudenken, und hierarchisches Bewusstsein – es erinnert alles stark an Walsers Beschreibung des Kriegserlebnisses. Fungiert der Dienst auf dem Grafenschloss als Ersatz, eventuell als Sublimierung des Dienstes fürs Vaterland? Die Bipolarität hat Walser sichtbar auch im Schreibstil festgehalten: die “oder” und “und”-Konstruktionen sind allgegenwärtig, markieren nicht nur Nebengeordnetes, verknüpfen nicht nur Synonyme, sondern manchmal auch
134 Gegensätzliches (“flink und untertänig” [323]). Auch die geforderte, zugleich praktizierte Unterwürfigkeit findet in der Formulierung einen Ausdruck (“den ich soeben die außerordentliche Ehre gehabt habe anzuführen”). Aber zugleich schwebt über dem Ganzen doch auch eine Sphäre des Verschwommenen, des Unbestimmten, eine Sphäre, die an erster Stelle auf eine durchaus ausgefallene Psychologie zurückschlägt: wie kann – realistisch gedacht – ein Mensch sich so erniedrigen, sich mit dieser Selbstverständlichkeit erniedrigen lassen.13
2.2. Hierarchie und Servilität Mit dieser mentalen Einstellung versehen, kommt Tobold in die neue Welt: er entwickelt sie nicht erst in (und während) der Dienerzeit. Er widerspricht mit anderen Worten der früher ausgesprochenen Auffassung, dass er zum Diener nicht geeignet sei (vgl. noch die “natürliche” Begabung, die er am Ende des Aufnahmegesprächs zur Schau trägt: “Durchaus schloßmäßig und stilvoll, ungefähr wie ein Mann aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert, verbeugte ich mich und verließ das Zimmer auf den Zehen” [324]). Zwar wird die gräfliche Herrschaftswelt von Anfang an als Ausnahmesituation erfasst (“wie man sie gewiß nur in Schlössern zu hören bekommt”), aber im Grunde ist er von Anfang an ebenso abwegig wie das Milieu, in das er jetzt eintritt. Voraussichtlich wird er denn auch vollkommen dem strengen, anspruchsvollen Diener-Kodex entsprechen (“fleißig, treulich, pünktlich, artig, höflich, ehrlich, arbeitsam, pflichteifrig und allezeit folgsam”). Benehmen, das richtige Verhalten, scheint – wie beim Hofmeister im 18. Jahrhundert (vgl. J.M.R. Lenz, Der Hofmeister I, 3) – die Hauptsache zu sein.14 Verfeinerung und Leisetreten sind die Parolen. Seinen Bericht strukturiert Tobold gerade deshalb wohl zuerst nach Personen, nachher konzentriert er sich auf die Räume und schließlich beschreibt er die Aktivitäten. Darin hält die Gegensatzstruktur zwischen dem Sekretär (einem Dänen) und dem Kastellan (einem Polen) an, wie auch das
13
Hinzuweisen wäre auf jeden Fall auf einen faszinierenden Parallelfall – mit ähnlichem biographischem Substrat (z.B. Anstalten!) – in der niederländischen Literatur: der Dichter Jan Arends (1925–1974) kultiviert eine ganz ähnliche Diener-Haltung, ist auch, immer während einer ganz kurzen Zeit, etwa hundertmal Diener gewesen, im In- und Ausland. Bei Arends wird dieser “Trieb” auf pubertären Masochismus zurückgeführt (Dick van de Pol: De barre˚ wereld van een huisknecht. In: C.J. Aarts & Thijs Wierema: Jan Arends (1925–1974). In: De Engelbewaarder 4. Nr. 15. April 1979. Amsterdam. S. 91–104. Hier: S. 93). Auch im Literarischen liegen Berührungspunkte vor: wie Walser schreibt Arends – buchstäblich – schmale Gedichte, in einfachster Sprache, die ein “schrumpfendes”, verschwindendes Ich darstellen, in einem extrem reduzierten Schriftbild. 14 Vgl. auch Holona (Anm. 5). S. 158.
135 widersprüchliche Bild beibehalten wird (“Aber er war nichtsdestoweniger ein ganz braver, netter, guter Kerl dabei” [325]), zumindest in der subjektiven, durch ihre Prädisposition allerdings stark gefärbten Wahrnehmung der Hauptgestalt. Im Verwalter steht eine Autoritätsgestalt auf, die in lauter Imperativen spricht, vom “Schüler” unbedingten Gehorsam verlangt, ein ständiges zur-Verfügung-Stehen fordert, und sogar das Talent, Befehle im Voraus erahnen zu können. Auch der Pole vertritt eine Machtinstanz, dominiert eindeutig das Herr-Diener-Verhältnis, bis – ein bekanntes Walser’sches Verfahren – ein einziger Akt der Subversivität die angebliche Autorität untergräbt. Das System ist also an den Rändern durchlässig: Tobolds Vergehen (Zigaretten rauchen im Zimmer), das offenkundige Pflichtversäumnis, zeitigt keineswegs die vorgesehene, systemimmanente Sanktion. Wohl im Gegenteil: der Spieß wird umgedreht, die Verhältnisse umgekrempelt: der Untergeordnete (der Schuldige) lehnt sich auf, bedroht seinerseits den Vorgesetzten, würdigt den Tyrannen herab, macht ihn fast verschwinden (“wurde mit einmal ganz zart und behutsam, ja er wurde sogar weinerlich” [325f.]). “Sacht” und “klein” einerseits, “durchbohrte” und “flammend” andererseits – die epitheta dieser kleinen Szene – variieren eigentlich bloß die seltsam gemischte, diskrepante Existenzweise im Schloss (wie in der Schule, wie auch wohl – nach Walsers Auffassung – in der Gesellschaft). Auch dem Kleinen, Sanften wird eine Macht zuerkannt. Der Diener macht aus dem Vorgesetzten einen Untergebenen, nur auf welcher Grundlage? Psychische Überlegenheit? Hypnotisches Charisma? Hintergründige Gewaltpotenz? Oder einfach Einsicht in die Mechanismen des Systems (des Verwalters Auftreten wäre als Verstoß gegen die Schlosssitten zu betrachten, “abgetönte” und “verfeinerte” Bewegungen hat er nicht vorzuführen, “grob und hart” wird wohl sein Bestrafungsvorgehen sein – also ein Grund, ihn beim Sekretär zu verleumden, was Tobold – obwohl eigentlich nichts geschehen ist – auch tut). Offensichtlich ist also auch das moralische “System” eher durchlässig, wohl weil es von Opportunismus und Machtdenken gelenkt wird. Dass diese Frechheit dann hinter Entschiedenheit und Geradlinigkeit, vorgeschützter Integrität also, versteckt wird, wirkt nur noch problematischer. Das eigenwillige, dezidierte Auftreten des Dieners – ebenfalls durchaus nicht im Stil des Schlosses – resultiert in einem ähnlichen Ergebnis wie zuvor: Positionswechsel, Umkehrung der “natürlichen” Hierarchie: sogar der Sekretär verschwindet unter dem schneidigen Ton (“wurde gefragt”, “Man entgegnete”), er wird in die Defensive gedrängt (“fein und zurückhaltend”, “weiter nichts als” [326]). Das unerwartete, deregulierende Auftreten – auch in der Lektüre! – funktioniert gewissermaßen als impulsive, momentane Tat, welche die nachfolgende, prozessuale Besinnung antizipiert. Mit der “Einkleidung” (der Frack als Uniform, also Zeichen des Dienstverhältnisses, aber auch als vestimentäres
136 Würde-Symbol) wachsen “nach und nach” der Stolz, aber auch das Selbstbewusstsein, der Übermut, die Dreistigkeit. In kleinen anekdotischen Vorfällen wird vorgespielt, wie das Spannungsfeld zwischen Frechheit und Schüchternheit, “Kühnheit” und “Würde” immer wieder aufgezogen wird. Sogar im Kleinsten wirkt die ursprüngliche, angeblich abgelegte Ruhmsucht noch nach. Das Kunststück mit den Tellern illustriert erneut, wie “ungeeignet” der Diener in seiner Umgebung funktioniert. Der (wohl “zweite”) Diener, der hierarchisch Niedrigste – der doch “jederzeit sehr gut begriff ”, dass er keineswegs “als mustergültig betrachtet werden konnte” (327) – maßt sich ein Benehmen an, das gegen alles, “was schicklich in Schlössern ist”, energisch verstößt. Dementsprechend wird dem Überheblichen mit “Verachtung, Zorn und Mißbilligung” begegnet, er zu einem Unwürdigen herabgesetzt. Aber gleich darauf, im nächsten “kleinen Vorfall komischer Natur” (327), erhebt er sich wieder, lässt sich in die Rolle einer “herrschaftlichen Person” hineinversetzen, wird “ehrfurchtsvoll, also ganz entschieden viel zu höflich” (328) gegrüßt. So erleben sein Selbstverständnis, sein Selbstgefühl und sein Selbstwert sowohl Triumphe als auch Niederlagen, die beide auf ziemlich unauthentischer Grundlage basieren (Pose bzw. Irrtum). Durchgängig verrät auch der etwas gespreizt-preziöse, geziert-gekünstelte Schreibstil diese “Maskerade”, diese Pose (vgl. “nicht zu erwähnen vergessen”, “eine geringfügige Unannehmlichkeit” [327]). Fast als ob eine Angst, eine Scheu existierte, gleich Bestimmtes, Wahres, Eindeutiges auszusprechen, häufen sich außerdem auch die vielen Modalkonstruktionen – Adverbien (“verhältnismäßig”, “nie ganz”, “geringfügig”, “ziemlich”), Verbalgefüge (“zu veranlassen schien”) und sonstige, analog wirkende Formulierungen (“nicht die geringste wahre Ursache”), die im selben Augenblick etwas behaupten und das Behauptete zurücknehmen (vgl. noch “Mit dem Grafen selber kam ich nie in eine eigentliche Berührung, was mir selbstverständlich ziemlich gleichgültig war” [328]). Zu dieser unfesten, driftenden Erzählhaltung gehört auch das fortwährende Verschieben des Erzählobjektes; durch das Fragmentarisch-Diskontinuierliche, nicht nur in der Aufeinanderfolge der thematischen Abschnitte (z.B. abrupter Übergang Jäger-Graf), sondern auch innerhalb einer einzigen Erzähleinheit, verlagert Walser ständig das Interesse, mit dem – wohl intendierten – Effekt, dass eine Art ‘dissémination’ entsteht, ein Aussäen und Zerstreuen semantischer Eindeutigkeit. Die Folge dieses Erzählverfahrens ist vorauszusehen: die Unmöglichkeit, die “Essenz” der Aussage, den Sinn eindeutig festzulegen. Der Leser steht wie im Treibsand, steht unter Beschuss, hängt schwebend im leeren Raum – egal welche Metaphorik man bemüht, am Ende steht er verunsichert, unschlüssig, verwirrt, halt- und orientierungslos da. Welche logische Linie wäre zu erblicken in der Reihe mit thematischen Schwerpunkten – vorausgesetzt, das wären solche – wie “Grafen – mein Zimmer – ein Engländer”? Freies Assoziieren? Traum(a)logik? Walser selber
137 unterlässt nicht, gelegentlich ausdrücklich dieses Unwissen im Text selber zu thematisieren. Schönstes Beispiel: der Satz, der mit “Ich weiß nicht sicher” anfängt, und im weiteren Verlauf – über die Konjunktion “oder” – ständig (d.h. mindestens dreimal) Ungewissheit einfließen lässt (“gab oder gibt”, “steht oder stand”, “genoß oder genießt” [328]). Walsers Erzählerfigur ist sich also seiner Erzählhaltung sehr bewusst, ventiliert gelegentlich sogar – posenhaft oder aufrichtig – einen inneren Schreibzwang, den er stilistisch-rhetorisch in eine Art unpersönlicher Abwandlung des Bescheidenheitstopos einkleidet (“fühle mich deswegen verbunden, zu erklären” [328]). Die Zimmer-Parenthese war offensichtlich wieder einmal bloß Anlauf, Vorbote, Vorwegnahme einer gezielten Auseinandersetzung mit der Raumstruktur der Arbeitsumgebung (“Das Schloß selber” [328]). Betontermaßen enthält die Raumdarstellung vor allem Besonderheiten, die auf die Vergangenheit, die Geschichte, die Tradition anspielen (“Antiquitäten”).15 Das “Zeitalter der Zierlichkeit und der Galanterie” gibt dabei den Ton an (also wohl Rokoko-Stil), wenngleich andere Merkmale sich dieser Situierung widersetzen: wie ist zu verstehen, dass ein “kräftiger” Geschmack trotzdem “längst untergegangen” ist? Wie kommt der “Kunstkenner” dazu, den faden, langweiligen, behäbigen (und außerdem bürgerlichen!) Biedermeierstil (1815–1848) ohne Bedenken mit dem (pseudo-adligen) Empirestil (Napoleon-Zeit, 1800–1830) zu verknüpfen, und beide als “Epochen der Nervosität und des genialen Empfindens” zu charakterisieren? Der “Stil”-Bruch – wortspielerisch in mehreren Bedeutungen des Wortes zu vollziehen – etwa zwischen den üppigen Wohn- und Arbeitsräumen und dem asketisch-strengen, mönchisch-kahlen Schlafzimmer, wurde erzähltechnisch schon vorbereitet durch den unlogisch-abrupten Szenenwechsel zwischen Empfangshalle und Schlafzimmer. Die an eine Klosterzelle gemahnende, fast mittelalterliche Einrichtung – das religiöse Dekorum ist unübersehbar – wird zur “modernen” Nüchternheit und beabsichtigten Schmucklosigkeit umgedeutet. Anders formuliert: Die Gegenwart – d.h. der Graf an sich so gut wie die “moderne” Nüchternheit – bleibt irgendwie außer Blickweite, unsichtbar, verschwindet, fungiert als ein Fremdkörper in einer fülligen, traditionsreichen, an der Vergangenheit orientierten Umgebung. Ähnlich fremdkörperhaft erscheint die fast philosophische Überlegung über die Darstellbarkeit des NichtVorhandenen, oder der Hinweis auf die englische Lektüre des Grafen. Vom Raum wechselt die Beschreibung auf die “Obliegenheiten”, die Aufgaben hinüber: leicht einsehbar ist, wie die “Besorgung der zahlreichen 15
Vgl. dazu ebd. S. 155, die das “Relikt einer feudalen Zeit” auch auf den Dienerberuf ausweitet. Schon die Wahl, Diener zu werden, wäre dann als subversiver Akt zu lesen, der herausstellen soll, “wie fremd und unzulänglich die Werte eines gesellschaftlichen Systems empfunden werden” (S. 156). Vgl. auch noch S. 157.
138 Lampen” (330) als “hervorragendste”, die Heizung der Räume als entzückende Aufgabe empfunden werden kann: es spielt nicht nur die symbolisch überhöhte Selbststilisierung zu einem “Licht- und Wärmebringer” mit, mehr noch die Möglichkeit, in eine zauberhafte, phantastische Welt einzukehren (nach der er sich anfangs so sehnte). Die Selbst-Inszenierung findet gleich ein neues Zielobjekt vor (Aladin), das sich problemlos in die neu heraufbeschworene, phantasierte Umgebung integriert (vgl. “mit meinem leisen, vorsichtigen und behutsamen Lampenlicht”, “mit der Zauber- oder Wunderlampe” [330]). Auch jetzt wird die Stimmung nicht durchgehalten; erneut schleichen sich Widersprüche und Inkonsequenzen ein, die zwischen Realität (“An schönen Abenden”, “wenn ich so in den Zimmern herumschlich”) und Projektion (“eines Abends”, “hinaufspringt”) einen Keil treiben. Das Spiel von Aufstellen und (ironischem) Zurücknehmen, von Stolz und Bescheidenheit, gilt also auch hier. Ebenso wirkt – hintergründig – die Vorstellung von der “Macht” des Kleinen nach, hier herab gemildert zur “Meister- oder Künstlerschaft” (331) im durchaus Banalen, Alltäglichen, Einfachen, fast Primitiven.16 Daran “krankt” auch die ganze nachfolgende Beschreibung des Kaminfeuers (“halbstundenlang”, “die fröhlichen geistvollen, graziösen Flammen”, “beim sorgsamen Anblick des seltsamen Wesens”, “im vollen Umfang des Begriffes und im wahren Sinn des Wortes”). Stilisierte Inszenierung, artifizielle Überhöhung und Verschönerung, fast Ästhetisierung einer im Grunde durchaus zweideutigen Tätigkeit, wie die anschließende, paradoxerweise im Erzählen verschwiegene Kontrastschilderung (“derb”, “plump”, “ungefügig”, “schwarz”, “rügte”) klar macht (“will ich weiter nicht viel sagen” [331]). Gerade diese Kehrseite des Glücks stellt demontierend und deregulierend das Scheinhafte, Unwirkliche, Unechte, Gespielte und Posenhafte dieser ganzen Diener-Existenz heraus. Thematisiert wird im Grunde noch einmal die Unentschlossenheit und Ungewissheit (weshalb z.B. die ganze Reihe von Adjektiven, wo er doch befürchtet, dass “sonst der Worte und Andeutungen nur zu viele werden”? [331]). Abrupte und manchmal lange andauernde Stimmungswechsel lassen auf eine zwar poetisch-verträumte Natur, aber auch auf wenig Realitätssinn und emotionale Ausgewogenheit schließen. Oder müssen wir uns diesen Charakter, diese psychische Entität (?), als so komplex vorstellen, dass “übermutig, selbstbewusst und dreist” (326) mit “Mut, Trost und Zuversicht” (331) bruchlos ausgeglichen werden müssen? Schwebt und schwankt Tobold nach wie vor zwischen seinen Idealen (Dichter und Feldherr), zwischen Kontemplation und Aktion? Fungiert der “ungestüme Pole” (mit der tautologischen Überexplizierung “nämlich kein anderer als unser Herr Kastellan” [331]) als Bewusstseinsinstrument, das ihn daran erinnern muss, die “Arbeit” vor das “Lesen” zu stellen? Kann 16
Vgl. dazu übrigens noch die modale Unentschiedenheit dieser Aussage: “fast” vs. “offenkundig”; “durchaus” vs. “zu sein schien”.
139 sich – mit einem Wortspiel – die “Schwindsucht” dieses beschädigten, unvollendeten Ich einprägsamer äußern als in den Wendungen “eines gewissen sonstigen Menschen” und “bedeutenden oder unbedeutenden Persönlichkeiten” (332), mit denen der Berichterstatter sich selbst apostrophiert? Wird hier verhüllt, als fast wissenschaftliches Experiment (“geprüft”, “untersucht”, “erforscht”) euphemisiert ein Trinkgelage angedeutet (etwa aus Angst vor Entdeckung, oder aus Skrupeln wegen der wohl kaum geduldeten Verbrüderung zwischen Herrschaft und Dienerschaft – in beiden Fällen ein subversiver Akt gegen das “System”)? Stößt die Behutsamkeit, die Nachsicht, das schriftliche Sich-Auslöschen, nicht längst an die obere Grenze in einer Formulierung wie “werde ich mich hüten mehr Worte zu verlieren als diese wenigen” (332)?
2.3. “Studie über den Adel” Ein neuer Abschnitt im Text bemüht vom Titel her anscheinend eine andere Textsorte (“Studie”), im Grunde aber bleibt der Aufzeichnungscharakter beibehalten, wie auch die Erzählerinstanz (“Ich”) und der Schreibstil (erster Satz!). Hauptabsicht ist wohl, die eigene Lage zu objektivieren, die eigene Ausnahmeposition öffentlich bestätigen zu lassen. Die “Studie” vermittelt aber ein alles andere als gerechtes, zutreffendes Bild, weder über die Lage des Berichterstatters (“beschwerliche Arbeit” [332]) noch über das “Forschungsobjekt”. Der Adel wird gleichsam sakralisiert (“wie ein Gott oder zum mindesten wie ein Halbgott”). Es entsteht ja ein total nuancenloses Klischee-Bild des Adels (der “auf Burgen haust und in unnahbaren, uneinnehmbaren Schlössern sitzt” [333]), ein durchaus idealisiertes, superlativisches Bild auch, das – gerade wegen dieses Additivstils – fast peinlich-genant wirkt. Offensichtlich soll der herausgestellte Glanz auch auf die Dienerschaft abfärben, der Schreiber-Diener (doppelte Identität!) hat (nimmt) Anteil am Superlativstil (“auf das eilfertigste und zuvorkommendste” [333]). Stilbrüche offenbaren auch hier wieder die Demontage-Absicht, sie werden zunehmend weniger subtil. Dass der Adel ein proletarisches Gericht wie “Speck mit Ei” mit Vorliebe verzehrt, dass er “herzlich wenig” liest, dass er – kulinarisch (“schmeckt und mundet”) – die Wagner-Musik kostet und genießt, ist ihm nicht gerade als Glanzleistung anzurechnen. Wortwahl und Tonfall bestätigen einmal mehr die (angeblich?) selbstgenügsam-elitäre Position des Adels (Beispiel: “falls es ihm gefällig sein sollte, sich herabzulassen, uns hierüber einen Bescheid zu geben” [333]). Eine ähnliche Doppelbödigkeit liegt im Verhalten des Berichterstatters: er benimmt sich quasi zugleich ziemlich indiskret und zurückhaltend, frech und vornehm, impertinent und rücksichtsvoll (Beispiele: “beklemmend und niederschmetternd”, “verzehrt und vertilgt”; “Ei, die Wagnersche”). Die metaphorisch passend eingekleideten Umschweife im Frage- und Antwortspiel (“geschwind eilt die behende und graziöse Zofe Antwort herbei” [334]), die prägnante Brutalität mancher Repliken, das Aufhebungsspiel (die Antwort
140 “meldet: ich vermag nicht viel zu sagen”) dupliziert stilistisch im Grunde das Verhältnis zwischen Adel und Dienerschaft (vgl. namentlich “die ‘Zofe’ Antwort”). Aber auch dann noch spielt die Subversivität mit: “So viel kann ich immerhin sagen”, d.h. er unterläuft seine eigene Zurückhaltung, erstellt doch eine ad hoc-Typologie adliger Frauen, die (bis auf eine Ausnahme: “Fürstinnen dagegen sind sanft und bescheiden” [334]) sich vor allem durch Halbverbindlichkeit auszeichnet (“in der Regel”, “meist”, “mögen fast durchweg”, “sieht man”), also nicht auf authentischer, überprüfter Wahrnehmung beruht. Die Rückkehr in die Diener-Wirklichkeit hebt die Doppeldeutigkeit nicht auf: sein Selbstverständnis klebt gleichsam noch an der Autorschaft dieses Berichtes, löst sich erst mühsam vom alten Traum (vgl. Anfang), “ein großer Schriftsteller sein zu sollen” (334). Die Formulierung befremdet sehr: das Modalverb suggeriert einen starken moralischen Druck, unschlüssig bleibt man aber darüber, von wem, von welcher “Instanz” dieser Druck ausgeht. Von der Außenwelt? Von ihm selber? Mutmaßlich spielt wohl erneut der (ungeleistete, problematische?) Verzicht auf die “große” Karriere mit, fast als ob er diese subjektive Rechtfertigung braucht, um den objektiven “Reinfall” – “das Geistesprodukt blieb ungedruckt und wanderte wahrscheinlich in den jederlei derartige verschwendete Anstrengungen aufschnappenden Papierkorb” (334) – für sich selber und die “Umwelt” (die Leserschaft – falls überhaupt mit einer solchen gerechnet wird: für wen sind denn diese Aufzeichnungen gemeint?) akzeptabel zu machen. In der Hinsicht wäre noch einmal zu überprüfen, ob die “Papierkorb”-Ironie berechtigterweise als Selbstironie einzustufen wäre. Die beschönigende Kanzleisprache signalisiert eher die Gefühlsmischung, mit der diese späte Aufwallung, dieses Aufflackern, dieser “Rülpser” einer unverdauten Ruhmsucht, sowie dessen Ergebnislosigkeit, anerkannt und bedauert wird.17 17
Ein Legitimierungsbedürfnis spricht übrigens auch – stark verschleiert – aus dem sonst schwer verständlichen Exkurs über Nordamerika, das Gästebuch und den Namen Vanderbilt. Der Konnex bleibt unausgesprochen, der Kontext undurchschaubar; die anscheinend isolierte, unmotivierte Mitteilung lässt sich nur assoziativ einordnen, wohl über den Stammvater der Vanderbilt-Dynastie, Cornelius, der ‘klein’ begann (mit 16 kauft er sich einen Segler, mit dem er eine Fähre zwischen Staten Island und New York City organisiert), und schließlich in der Schifffahrt- und der Eisenbahn-Branche ein Imperium aufbaute. Noch schöner, chronologisch aber nicht plausibel, wirkte eine Assoziation über Cornelius Jr. (1898–1974), Sohn vom Urenkel Cornelius III., der sich als Schriftsteller versuchte, und zugleich eine Zeitungskette gründete. Passt aber dieses american dream-Syndrom wohl zur mentalen Einstellung Tobolds? Geht er deswegen nicht näher darauf ein? Ist es bloß rhetorische “Füllung” (wie übrigens auch die Stellen, an denen er den Mitteilungsakt als solchen ausdrücklich mitformuliert: “wenn ich berichte”, “Hier möchte ich nicht zu sagen verfehlen”)? Wenn die Begegnung ihn so “frappiert” (334), weshalb begründet er das nicht? Walsers Textstrategie scheint noch einmal darauf gerichtet, den Leser zu beunruhigen, zu frustrieren.
141 Erneut verschiebt sich dann das Erzählobjekt, diesmal auf den Grafen, der lange ausgespart blieb, jetzt aber in Hülle und Fülle dargestellt wird. Allerdings wieder nicht ohne Widersprüche: problemlos interpretiert Tobold die “Kälte”, den “Stolz” und die “Härte” (die er “fühlen ließ”, also nicht einmal zweifellos auch besaß!) zu einem “edlen, guten Charakter”, zu einem “schönen Herzen” (335) um, dadurch implizierend, wie sehr der Schein täuschen könnte. Desto merkwürdiger ist dann allerdings, wie eindringlich wenig später jede “Täuschung” verurteilt (“nichts Unsauberes, nichts Dumpfes und Dampfiges, nichts Schwindlerisches, Verräterisches, Scheinheiliges, Heuchlerisches ist an ihnen” [335]), und im selben Atemzug der Schein bestätigt wird (“Sie sind wahrhaftig in gar mancher Hinsicht durchaus nicht lieb und durchaus nicht süß, dafür kann man sich aber auf ihr Aussehen und Auftreten verlassen”). Erkennt man den Menschen denn nur – und nur gelegentlich (“hie und da”) und bedingt (“vielleicht”) – am Bruch zwischen Sein und Schein? Liegt das Wesen der Persönlichkeit im Widerspruch, in der Inkongruenz (“Nur hie und da fällt vielleicht aus ihrem harten bösen Mund ein Wort, das schön, gut und kostbar ist wie Gold, alsdann merkt man plötzlich, wer und was sie sind” [335])? Die Unfestigkeit der Persönlichkeit, das Vor- und Vertäuschungspotential im Menschen, wird im gleich anschließenden Vorfall noch einmal illustriert: ein Auftrag – zugleich “zart” und “schwierig”, ausgeführt in einer Mischung von Unterwürfigkeit und Überheblichkeit – veranlasst Tobold dazu, an die Stelle des Sekretärs zu treten, in dessen Namen eine subtile Art Werbung zu inszenieren. Die hyperbolische Dienstfertigkeit (bei gleichzeitiger Selbstherabsetzung), die feierliche, gespreizte Formulierung untergraben zweifach jede Authentizität, einmal indem die eigenen Empfindungen (“die ich ganz einfach anbetete” [336]) hinter dem Sekretär versteckt werden, zweitens indem die eingesetzte Phraseologie (und das verstümmelte Halbzitat von Nietzsche: “Nietzsche sagt gewiß mit Recht, dass Frauen, die klein und unansehnlich von Figur sind, unmöglich schön sein können”18) das Artifiziell-Unpersönliche des ganzen Auftretens manifest herausstellt und als lächerlich bloßstellt. Was ist wirklich, konkret, bewusst daran? Muss man nicht schon Bedenken anmelden beim sichtbaren Verlust der Kontrolle über die eigenen Aussagen (“mit folgenden scheinbar entweder sehr vorsichtigen und gewählten oder äußerst unvorsichtigen und überschwenglichen Worten” [336])? Oder bei dieser Selbstbefragung nach gehaltener 18 “Ein kleiner Mann ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, – aber die kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hochwüchsigen Frauen, von einem anderen Geschlechte zu sein – sagte ein alter Tanzmeister. Ein kleines Weib ist niemals schön – sagte der alte Aristoteles”, heißt es im 2. Buch, Abschnitt 75, der Fröhlichen Wissenschaft (“Das dritte Geschlecht”). Vgl. Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin – New York: Walter de Gruyter. 1973. Bd. V, 2. S. 107.
142 Rede, dem Gipfelpunkt der Unbestimmheit, in der er sich den Wirklichkeitsgrad seines Diskurses überlegt (“Ob ich die vermessene und verliebte Ansprache nun wirklich hielt oder nicht, ob ich sie nur phantasierte und träumte oder tatsächlich vom Stapel laufen ließ” [337])? Indessen darf nicht unterschlagen werden, dass diese “uneigentliche” Verfahrensweise erneut eine starke manipulative Wirkung zeitigt: der niedrige Diener eignet sich – verlogen – die Worte der Herrschaft zu (des Sekretärs wie der Baronin) und übt damit Macht, auf jeden Fall Einfluss aus auf den jeweiligen Gesprächspartner. Der Erfolg wird aber gleich relativiert: “Blick” und Dankeswort sind ihm bloß eine “Beute” (337), außerdem stört der eifersüchtige “Herr Gemahl” die Glücksstimmung; beim Sekretär genügt die Parenthese (“übrigens”, “nebenbei” [338]), um neue Indizien für das Spannungsverhältnis zwischen Ich und Außenwelt, für die zwanghafte Beziehung zum höhergestellten Mitmenschen vorzufinden (“insgeheim”; “sollte man nicht”).19 Verabsolutierung in der Vorstellung des Adels wird gleich kontrapunktiert durch ironische Zurücknahme, wie z.B. markiert in den winzigen, subtilen, dekonstruierenden Sprachentgleisungen (“heiß und graziös”, “Hochadel in Masse”; superlativische Addition, auch in der Selbstqualifizierung als Diener: “aufs feinste, schnellste und beste dargebracht und vorgesetzt”; “ein halber hoher Abkömmling”, “Mangel an Anwesenheit” [339]). Nicht “Freude durch Kraft”, sondern Freude durch Anpassung scheint Tobolds Devise zu sein; Verbeißen, Hinunterschlucken der “Mißlichkeiten” (“die ich täglich etwa auch miterlebte” [339f.]) und Opportunismus (“was für mich offenbar nur vorteilhaft war” [340]) erhalten ihn in seiner Schloss-Existenz. Hinzu kommt gewiss der Identifikationswunsch (“wie wenn es mein eigenes gewesen wäre” [339]), die Sucht, sich für das “unvollendete” Ich, für dieses psychische Vakuum ein “Gefäß” zu finden, die eigene Nichtigkeit in einen größeren “Raum” hineinstellen zu können, dessen Glanz auf ihn zurückstrahlte. Beide Komponenten dieses psychischen Substitutionsprozesses werden im anschließenden “Vorfall” wieder aufgenommen: der anonymisierende, unpersönliche Selbstbescheidenheitstopos (die “schlechten Achseln des Verfassers und Schreibers dieser Zeilen” (340) – eine Verdopplung der Funktion als artifizieller Versuch, sich selber einen “doppelten” Wert zuzuerkennen?) einerseits, das 19
Denselben Geist atmet die Formulierung im nächsten Abschnitt aus: wo banal-evidente Natur-Phänomene (“Schnee und Regen”) einmal neu definiert, d.h. anthropomorphisiert (“Gesellen”), und dem Systemdenken entsprechend gleich in ein hierarchisches Modell eingeordnet werden (“auf die vornehme Abstammung sowohl wie auf die hohe gesellschaftliche Stellung, auf Rang wie auf Reichtum stets ganz besonders Rücksicht genommen werden muß” [338]), lässt sich der Berichterstatter doch immer eine Rückzugsmöglichkeit offen, sagt im Grunde wenig Verbindliches, Eindeutiges aus (“oder meinetwegen auch”, “wie es scheint”, “sowohl wie”).
143 Heraufbeschwören einer phantasmagorischen, ins Unwirkliche und Märchenhafte überhöhten Atmosphäre (“Märchen aus Tausendundeiner Nacht” [340]) andererseits. Einzelne Stichworte heben diesen theatralischen, irrealen Bereich prominent hervor: “Märchen”, “Traum”, “Unwahrscheinlichkeiten”, “Vorstellung”, “Wunderbar”. Walser wäre aber nicht Walser, wenn er nicht gleich den Kontrapunkt dazu folgen ließe: ein frappierender Erzähl- und Stilbruch markiert wieder einmal die künstliche Konstruktion, das deregulierende Spiel mit dem Leser, die Manipulation des Leserinteresses, wie er im Grunde – objektiv (in der “gefärbten” Darstellung) und subjektiv (im Auftreten der Hauptgestalt) – auch die erzählte Welt manipuliert: Viele Worte dürfen jedoch wegen Platzmangel und Papiermangel nicht gemacht werden. Der Platz hier ist, wie Bauplatz, kostbar und teuer, und darum will ich mich mäßigen und beherrschen, was ich hoffentlich mühelos kann. (341)
Der Vorsatz, sich zu mäßigen wird – selbstverständlich – auf nahezu groteske Weise unterlaufen: nicht nur wird der Bericht bedenkenlos und mit viel Aufwand fortgesetzt, außerdem veranlasst der tautologisch-überexplizite Schreibstil einen Wortschwall, der manchmal – tatsächlich – zu viel ausdrücken will, zu viel Gegensätzliches sogar. Walsers Schreiben vollzieht sich aus der Defensive, verläuft indirekt, untergräbt jede Verbindlichkeit, mutet oft wie eine Art Stilübung im Negativen, im Unentschiedenen an (“Die offen abgedeckten Frauenbusen”, “mich zu keiner Zeit ein unangenehmer Anblick”, “Mittag- oder vielmehr Nachtessen” [341]). Dazu passt auch etwa der direkte Ausgleich eines Misserfolgs (Senf auf einer Gräfin Toilette herunterfallen lassen) durch einen Erfolg (Wurm auf dem Tischtuch geschickt erhaschen). So werden dauernd Spannungen, Reibungen, Konflikte, “Katastrophen” heraufbeschworen, die aber folgenlos bleiben, denn sie werden gleich aufgehoben und geglättet. Im Grunde sind es aber lauter Banalitäten, die auf künstliche Weise hochgeschraubt und “theatralisiert” (“Zauberschauspiel”, “seine Rolle spielenden Menschen”) werden, gemäß der Maxime “Spielen nicht Kleinigkeiten im Leben der Menschen oft eine große Rolle? Das will ich meinen!” (342). Philosophische Überlegungen geben dem Bericht den Anstrich einer souveränen Distanz, wie wenn der Erzähler von einer höheren Warte aus, von außerhalb quasi, seinen ironischen Kommentar zu seinen eigenen Aussagen liefert. Zu dieser Ansicht kommt man nicht zuletzt durch die Reflexion über den Subjekt- und Objekt-Status, über den (zurückgewiesenen) Tausch von Ansehen und Erleben (weil ihm dann “der schöne Gesamtüberblick” [342] verloren gehen müsste). Die Selbstpositionierung stempelt ihn zum bewussten Außenseiter, zum – kritisch-unkritischen – Beobachter einer Fassadenwelt, die sich schon längst überlebt hat. Gerade daraus schöpft er sein Glück und sein (Selbst)Bewusstsein (“mir meines Wertes, Standes und
144 Lebensgenusses stets bewußt” [342]), und nicht zuletzt seine Selbstzufriedenheit mit seinem “bescheidenen Dasein”.
2.4. Lebensmaximen Ausgleich, Aufhebung, Neutralität, Nullpunkt: darum bemüht sich – wie jetzt wohl klar geworden ist – Walsers Schreiben. Die Anekdote, in der ein banaler Vorfall zu einer Charakterprobe hochstilisiert und “Schlimmes” gleich mit “Gutem” und “Klugem” kompensiert wird, beweist das noch einmal. Noch einprägsamer, weil grotesk-verzerrt und übertrieben, geschieht das in der nachfolgenden unübersehbaren Auflistung verschiedenartigster Personen und Gegenstände – in einem einzigen Satz. Worauf will er hinaus? Ein Musterbeispiel, ein Konzentrat der ganzen Walser’schen Erzählweise liegt vor, mit allen schon herausgestellten Merkmalen: fragmentarisch, anekdotisch, diskontinuierlich, ohne Finalität. Einschließlich der ironischen Zurücknahme in der autoprogrammatischen Reflexion: der Abscheu vor Weitschweifigkeit und Umständlichkeit widerlegt sich gerade im Aussprechen, das proklamierte gezielte Interesse am Fortkommen setzt sich seine eigenen Hindernisse. Ähnlich dekonstruierend wirkt selbstverständlich die Selbstcharakterisierung seiner Aufzeichnungen als “tolle und wunderliche Erzählung” (345): ein kritisches Selbsturteil? ein Selbstvorwurf, dass er sich ständig im Disparaten, Zusammenhangslosen, Unbedeutenden verläuft? Wegwerfend mutet dann fast der Selbstappell an, über diese Dinge, “wie über Schutt, Geschmäus, Geröll und Trümmerhaufen energisch hinweg[zu]fegen und -[zu]fahren, um fortzukommen”. Implizit setzt diese Selbstbesinnung auch voraus, dass der Bericht einen roten Faden hätte, eine Art “Essenz”, ein Ziel (vgl. “Fortschreiten”, “Weitergehen”, “fortzukommen”). Dem widerspricht die bisherige Lektüre: Walser (wie Kafka) scheint eher der Weg das Ziel zu sein. Es sei denn, man nehme an, dass der eigentliche Grund dieses Erzählens in der Darstellung des eigenen Dienstes liege. Darauf wird denn auch konsequenterweise eingegangen, und zwar unter Betonung der besonderen “Geschicklichkeit und Besonnenheit” (345), der “Gewandtheit” auch, was ihm erlaubt, die Realität der Arbeitswelt mit seiner Phantasiewelt zu vermischen (“träumend und spielend”). Eine fast organisch daran anknüpfende politische Dimension (“Parteizank und Klassenkampf ”!) wird vorerst zwar ausdrücklich ausgeklammert (“weil ich nicht das geringste Interesse daran hatte” [345]), schleicht sich aber – z.T. moralisch umgedeutet (“Kampf der Guten gegen die Bösen” [346]), aber doch, auffälligerweise etwas nebenbei, am Schluss, mit eindeutigerem politischem Anklang (“der Fleißigen und Arbeitenden gegen die, die nichts tun und dennoch stets obenan stehen” [346]) – in den Diskurs wieder ein. Verwirrung allerseits, natürlich: welchen Standort nimmt Tobold ein? Woher die kriegerische Kampfeslust (“Hiebe und Schläge regnen” [346]), und gegen wen gerichtet? Theorie (oder: Ideologie) und Praxis gehen wieder einmal weit auseinander: in allem, was voranging,
145 wog prinzipielle Unterwürfigkeit und Respekt vor denen, “die stets obenan stehen”, dominant vor; dagegen zeigte er sich gerade in “kleinen Gehässigkeiten” subversiv und rebellisch. Das eigene Arbeitsethos scheint kaum weniger widersprüchlich: wie kann man etwas, das man “leidenschaftlich” liebt, “gedankenlos” verrichten, “fast mechanisch” ausführen? Fast will es den Anschein haben, als wolle Walser hier seine eigene Fassung der Marx’schen Entfremdungslehre darstellen. Nur lässt er seinen “Arbeiter” sich in eine Traumwelt entrücken, die Entfremdung von der Arbeit zeitigt keine schlimmen Folgen, wohl im Gegenteil: es findet zugleich eine Art Selbstentfremdung statt, in der sich Tobold – irrationell, ohne Überlegung: “aus irgendwelcher Ursache”, “ohne daß ich mir jedoch hierüber genaue Rechenschaft ablegte” [346]) – in eine Heldenrolle hineinphantasiert. Die Selbstanalyse schaltet paradoxerweise die eigene Persönlichkeit, das eigene Bewusstsein aus. An Eigenwert bleibt im Grunde nur eine Art bewusste Naivität übrig, die vollends in das Zeichen der Pflichterfüllung gestellt wird. Mit anderen Worten: gerade das Dienen (fast: Dienern!) steigert den Selbstwert, das Selbstgefühl (“hoch über die eigene Person hinausgehoben”, “Ich diente! Ich tat Dienst!” [347]). Die Euphorie über den im Untergeordnetsein bestätigten Status veranlasst ihn dazu, auch diese (zweite – vgl. 342: “Spielen nicht Kleinigkeiten im Leben der Menschen oft eine große Rolle?”) Lebensmaxime in Frageform zu formulieren – eine verabsolutierte, verallgemeinerte Vergrößerung des eigenen, privaten Schicksals: “Ist uns nicht erst dann eigentlich das Leben schön, sobald wir gelernt haben, ohne Anspruch zu sein […]?” (347). Die Argumentation dazu – so edel sie aussehen mag – ist faul, und zwar aus mehreren Gründen. An erster Stelle schon, weil zwischen “Entsagung” und “Lohn” eine klaffende Diskrepanz vorliegt; an zweiter, weil die Antwort auf die rhetorischen Fragen keineswegs so evident ist wie bei diesem Stil-Trick vorausgesetzt, eher Zweifel als Gewissheit suggeriert; an dritter, weil mit einem unmotivierten Gedankensprung von der ästhetischen Ebene auf eine ethische umgestiegen wird (wobei zentrale Kategorien wie “Schönheit” und “Himmel” alles andere als klar definiert werden); an vierter Stelle schließlich, weil wieder einmal paradoxe Formulierungen (“sanft und kühn”, Aufhebung der Verzicht-These in der Erwerb-These) beim Leser diese suspensive Spannung erwecken, diese Unentschlossenheit und Uneindeutigkeit. Die Essenz seines Verhaltens, offensichtlich der Kern seiner Persönlichkeit, liegt – nach eigener Ansicht – in diesen drei “Tugenden”: gutem Willen, Entsagung und rechtschaffenem Verhalten. Dass nach einer so wirksamen Herausstellung der “Essenz” der ganze Ernst mit einem einzigen ironischen Schlag zurückgenommen wird (“Immerhin [!] darf hier wohl flüchtig [!] erwähnt [!] sein” [347]) – wenigstens in der Annahme, dass die Konjunktion auch einen logischen Zusammenhang zum Vorangehenden auszudrücken hätte –, muss wohl
146 darauf hindeuten, wie die ganze Vorstellung bloß “Traum”, Illusion ist. Das chaotische Durcheinander des Traumberichts, das er dennoch “in einer durchdringenden Deutlichkeit” schaut, mit extra Betonung des Gegensätzlichen (“bald die schrecklichsten, bald wieder die liebenswürdigsten Dinge” [348]), verknüpft mit der logischen Erklärung (dem “starken Herrschafts- oder Grafenkaffee”), stellt noch einmal den Mischcharakter dieser Existenz heraus: dieses “Spieldasein” ist wirklichkeitsnah und wirklichkeitsfern (vgl. mit dem Anfang des nächsten Abschnittes: “gleichsam in Gedanken verloren, in Wirklichkeit jedoch ganz klar und unbefangen” [348]), das er sich ständig aufzuplustern sucht mit anekdotischen, veredelten ‘snapshots’, in denen sich – das geflügelte Wort Napoleons variierend – “le ridicule” und “le sublime” aufs engste berühren.20 Nach diesem Verfahren wird in einer neuen Schmeichelrede eine (weibliche) Adelsgestalt ins Übermenschliche, sogar Unmenschliche emporgehoben. Buchstäblich fast: dazu trägt die kosmische Bildsprache bei. Wo ein diskretes Auftreten wohl angemessen scheint, erfrecht Tobold sich zu einer neuen “Kühnheit”, welche die Grenzen seines Dienstes weitgehend überschreitet. Die grundsätzliche Ambivalenz liegt dann wieder darin, dass die ungehörige, wenn man will: subversive Tat zugleich die Hierarchie auf fast groteske Weise bestätigt. Die Kluft zwischen “Fürstinnen”, “reichen und mächtigen Menschen” und “Bettlern, Armen und Erniedrigten” wird nur noch tiefer ausgegraben. Die Rede mündet in einen Fehlschluss, der zugleich eine (dritte) Lebensmaxime präsentiert: “So ist also nichts in dieser von Stürmen und Heimsuchungen zerrütteten Welt fest” (349), und alles unsicher. Dass der Verlust eines Wertesystems, so tief (wenn auch als Pose) existentiell “erlebt”, an einer Bagatelle, ja vielleicht sogar an einer Fehlinterpretation festgemacht wird – die Tränen und die schwarze Kleidung werden als Symptome eines Trauerfalls gedeutet, nie aber als solche bestätigt, eher im Gegenteil: die Fürstin blickt ihn nach gehaltener Rede “groß, lang und verwundert” an –, wirkt zugleich befremdlich und bedenklich. Der Poseur beachtet auch nicht, dass seine Lobesrede im Grunde eher als Beleidigung aufgefasst werden könnte, hat doch der Adel seine Vorbildfunktion eingebüßt (“Ich habe das bisher stets für unmöglich gehalten” [349]). Faul wirkt der Diskurs auch wegen der Diskrepanz zwischen Anlass und Entschluss: die Fürstin weint, und er verliert jeden Sinn fürs Leben, weil ihm eine fundamentale Sicherheit abhanden gekommen ist – also muss das Grab vor dieser Unsicherheit schützen: So ist denn also nichts in dieser von Stürmen und Heimsuchungen zerrütteten Welt fest. So ist alles, alles schwach. Nun, dann sterbe ich eines Tages gerne und nehme 20
“Du sublime au ridicule, il n’y a qu’un pas”. [Napoléon Ier: Maximes de guerre et pensées, 5e édition revue et augmentée. Paris: Librairie militaire de J. Dumaine. 1874. S. 382].
147 mit Vergnügen von hoffnungsarmer, kranker, schwacher, angsterfüllter Welt Abschied, um im erquicklichen, lieben guten Grab von allen Unsicherheiten und von allen Mühseligkeiten auszuruhen. (349)
Der Wortschwall, der geschwollene Stil legen die Unverbindlichkeit, den Spielcharakter dieser Rede bloß. Übrigens wird gleich nachher das Rollenmäßige des ganzen Auftretens noch einmal bestätigt (“daß ein müßiges Stillstehen in Gegenwart der Fürstin keineswegs gut aussehen” konnte [350]); sogar die Rückkehr in die Alltagswelt (Lampen anzünden) – an sich schon eine spielerische, “zauberhafte” Beschäftigung – wirkt demystifizierend (“Aus einiger Entfernung hörte ich auch schon den Kastellan poltern und fluchen”). Gleich nach dem feierlichen Todeseid erfolgt eine abrupte Abschiedsszene, die extrem an der Unentschiedenheit krankt, welche im ganzen Text zu verfolgen gewesen war. Die Qualifikation im Zeugnis, z.B. (“recht sehr zuverlässig”), das Annehmen einer neuen, ebenso falschen Rolle (“Wie ein großer Herr saß ich im Wagen” [351]), stehen in einem polaren Gegensatz zur bisherigen Demutshaltung. Woher kommt auf einmal dieses Selbstbewusstsein, dieser Übermut, dieser Lebensmut? Produkte dieses “wundervollen Gestirns”, das “Einbildung, Illusion” heißt? Die Entlassung aus der einengenden Schlosswelt setzt schlagartig unvermutete Energien und Einsichten frei, darunter namentlich Entschlossenheit und sogar Stolz.21 Fast sieht es aus, als ob sich in diesem Ausbruch und Aufbruch seine (zweite) Maxime verwirklicht: die kultivierte und praktizierte Anspruchslosigkeit hat sich gelohnt, der “schönere Himmel” öffnet sich, das “lebhafte Leben” tut sich auf. Und die Begründung ist explizit genug: “etwas aushalten muß man, etwas ertragen. Durch munteres, kräftiges Dulden wird das Leben spielend leicht” (351f.). Überstehen ist alles, “mit festen Schritten und mit festem Blick”. Vorwärts heißt die Devise.
3. Schlussfragen Eine moralische Lehre? Oder eher eine ironische Warnung (à la Jakob von Gunten), dass solche Aufbrüche in die “Wirklichkeit” von vornherein gefährdet sind, schon weil die Grundlage – eine unauthentische Existenz in einer selbstkreierten Phantasiewelt – eine falsche sei? Walsers Deconstruction zwingt uns dazu, die zweite Hypothese ernsthaft in Betracht zu nehmen, die textstrategisch eingestreute Unentschiedenheit auch ideologisch zu verwerten. Walsers Identität gibt sich im Endeffekt als gebrochen zu erkennen. Eine multiple, komplexe Persönlichkeit ersteht, allerdings nicht im Wesen, sondern instrumentalisiert, inszeniert, weniger als Ausdruck einer psychischen Krise, vielmehr als subversives Spiel mit der Realität, mit dem sozialen “System”. 21
Vgl. Jochen Grevens Anmerkungen in Robert Walser. Das Gesamtwerk. Band II. (Anm. 1). S. 367.
Anne Hartmann
Abgründige Vernunft – Lion Feuchtwangers Moskau 1937 The intention to re-read Lion Feuchtwanger’s Moscow 1937 appears to be marginally promising, not to say presumptuous: because the book has been repeatedly received and analyzed – and judged a poor piece of work. With a unanimity rarely found among critics, the travelogue was assessed as politically misguided and considered literarily unconvincing. However, this text still carries significance – as a didactic work about the writer’s engagement with politics, the ambivalence of image production and the manipulation of perceptions and the predominant acceptance of these perceptions in opposition to his own doubts. The present attempt of a new approach toward Feuchtwanger’s book is based on the journey itself: the protocol of his visit and the host’s placating attitude toward the illustrious guest. The reports of the intelligence apparatus, which the interpreter produced about Feuchtwanger (his daily schedule, his requests and complaints, his encounters and remarks) as well as his interview with Stalin offer new insights into Feuchtwanger’s perceptions as they were formed during his stay in Moscow. The explanations of the Soviet prompters and finally the rationalization of the observed and reported events presented in his travelogue Moscow 1937 provide another source for further investigation of Feuchtwanger’s judgment on Soviet life.
Das Vorhaben, Lion Feuchtwangers Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde einer ‘Neu’lektüre zu unterziehen, scheint wenig aussichtsreich, ja vermessen zu sein. Hier gilt es weder, ein vergessenes Buch dem Schattendasein zu entreißen, noch kann es darum gehen, einem bisher verkannten Werk endlich zu seinem Recht zu verhelfen. Kaum ein anderes Werk jener Jahre ist so intensiv rezipiert und besprochen worden. Schon bei seinem Erscheinen im Amsterdamer Querido-Verlag im Frühsommer 19371 löste der schmale Band heftige Reaktionen aus, nicht als Reisebericht, sondern als prosowjetische politische Stellungnahme Feuchtwangers. Es ging nicht um Literatur, sondern um die Zwangsexistenz im Exil und mögliche Auswege aus dieser Situation. Wer auf die Volksfront setzte und der Sowjetunion als wichtigstem Widerpart des Nationalsozialismus vertraute, begrüßte Feuchtwangers Bekenntnis. “Die kleine Schrift kommt rechtzeitig an”, schrieb Ernst Bloch, habe sie doch ein “Stückchen Leuchtturm für die Irrenden gesetzt”.2 “Ihr De Russia finde ich das Beste, was von Seiten der europäischen Literatur bisher in
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Auch der Verleger hatte große Bedenken, den Band zu publizieren. Vgl. Fritz H. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag. Erinnerungen eines Verlegers. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2001. S. 78. 2 Ernst Bloch: Feuchtwangers “Moskau 1937”. In: Die neue Weltbühne 33 (1937), Nr. 30. S. 934 und 936.
150 dieser Sache erschienen ist”, lobte Brecht.3 Andere Kreise des Exils nahmen Anstoß, wie Erika und Klaus Mann behutsam formulierten, an dem “fast bedingungslosen Enthusiasmus” des Moskau-Buchs.4 “Ist doch merkwürdig zu lesen”, notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch.5 “Habe Moskau 37 kopfschüttelnd beblättert, auf d. Schiff. Will es aber erst sorgfältig in d. Schweiz lesen”, ließ Arnold Zweig seinen engen Freund Feuchtwanger wissen, um wenig später zu resümieren: “Leider, Feuchtwanger, geht uns Ihr MoskauBuch sauer ein”.6 Leopold Schwarzschild zeigte in einer pointierten und ausführlichen Abrechnung,7 “wie geschichtswidrig die brave Fibelmär ist”, mit welch “sublime[r] Ahnungslosigkeit […] einige Pseudo-Informationen aus Quellen” geschöpft werden, “deren Benutzung von vornherein unstatthaft ist”, und wie leichtfertig Feuchtwanger bereit ist, für den “Sperling auf dem Dach” namens Lebensstandard “Werte hinzugeben […], die Geschlechter und Geschlechter in Jahrhunderten erkämpften!”8
I. Konsens der Kritiker Der Fortgang der Geschichte und der entsprechende Erkenntniszuwachs haben Klarheit über jene Entwicklungen verschafft, die aus der Perspektive des Jahres 1937 noch nicht oder nicht zur Gänze absehbar waren: Im historischen Rückblick erscheint Stalin zweifelsfrei als Diktator, grausam gegen die eigene Bevölkerung und zynisch gegenüber den Sympathisanten im Ausland. Seitdem die Verfehlungen und Verbrechen Stalins in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar sind, hat sich das Urteil über Feuchtwangers Moskau-Bericht, von dem sich der
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Brecht an Feuchtwanger, August 1937. In: Bertolt Brecht: Briefe 1913–1956. Band 1: Texte. Hg. von Günter Glaeser. Berlin – Weimar: Aufbau Verlag 1983. S. 316. Noch 1949 betont Brecht in seinem “Gruß an Feuchtwanger” zu dessen 65. Geburtstag, dass ihm Feuchtwangers “kleiner taciteischer Bericht über seine Moskaureise immer als ein kleines Wunder erschienen ist”. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke Bd. 19: Schriften zur Literatur und Kunst 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967. S. 488. 4 Erika und Klaus Mann: Escape to Life. Deutsche Kultur im Exil [1939]. Hg. von Heribert Hoven. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001. S. 56. 5 Eintrag vom 8. Juli 1937. In: Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M.: S. Fischer 1980. S. 74. 6 Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger, 29.7.1937 und 21.8.1937. In: Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig: Briefwechsel 1933–1958. Hg. von Harold von Hofe. Bd. 1: 1933–1948. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1984. S. 163 und 166. 7 Leopold Schwarzschild: Feuchtwangers Botschaft. In: Das Neue Tage-Buch 5 (1937), Nr. 31 (31.7.1937 – Teil I–III), S. 730–734; Nr. 32 (7.8.1937 – Teil IV–VII), S. 752–759. Vgl. Ders.: Zwei Despotien. In: Das Neue Tage-Buch 5 (1937), Nr. 34 (21.8.1937 – Teil I–II), S. 800–805, Nr. 35 (28.8.1937 – Teil III–IV). S. 825–831. 8 Schwarzschild (Anm. 7). S. 733, 754 und 759.
151 Autor nie ausdrücklich distanziert hat,9 eher noch verschärft: Das Buch gilt inzwischen als “berüchtigt”10 und “monströs”,11 als “das egozentrische Glaubensbekenntnis eines parteigehenden Schriftstellers”.12 Feuchtwangers Unvermögen, die totalitären Züge der Sowjetunion wahrzunehmen oder wahrhaben zu wollen, wird als “praktikable Unwissenheit”,13 wenn nicht gar als “intellektuelle Unfähigkeit” und “moralische Verweigerung” charakterisiert.14 Während André Gide, damals wegen seiner behutsam kritischen Reisebilanz Zurück aus Sowjet-Russland (Retour de l’U.R.S.S., 1936) heftig geschmäht,15 heute als einer der wenigen hellsichtigen UdSSR-Besucher jener Jahre glänzend rehabilitiert ist, wird Feuchtwanger, dessen Buch über weite Passagen als ‘Anti-Gide’ konzipiert ist, “schreckliche”, “selbstauferlegte Blindheit” attestiert.16 Als besonders “skandalös”17 gelten Feuchtwangers Stellungnahme zum zweiten anti-trotzkistischen Schauprozess sowie seine “hemmungslose Stalin-Eloge”; hier versteige er sich zu “reinste[r] Hagiographie, verlogen in den Aussagen und unerträglich im Tonfall”.18 Mit seinem Eifer, Stalin gegenüber Trotzki zu verteidigen, habe der “Meister des politischen Porträts” noch die “Gesellen aus Stalins Schule der Falsifizierung” überboten.19 Eine “odiösere Verherrlichung des Stalinschen Regimes und 9
Dies wird in der Forschungsliteratur teils als starrsinnig kritisiert, teils als nicht opportunistische Haltung gewürdigt, zumal sich Feuchtwanger dadurch große Schwierigkeiten in den USA einhandelte. Zu weiteren prosowjetischen Statements Feuchtwangers vgl. Adrian Feuchtwanger: Russia’s Mythic Attraction: Lion Feuchtwanger in Moscow, 1937. In: Germano-Slavica 8 (1993). S. 97–101. 10 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945. München: C.H. Beck 2005. S. 315; vgl. Ders.: Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao-Tse-tung: Führerkultur und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Eichborn überarb. und erg. Neuausgabe 1991. S. 121–127. 11 Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart: Metzler 1991. S. 151. 12 Claus Leggewie: Zurück aus Sowjetrussland? Die Reiseberichte der radikalen Touristen André Gide und Lion Feuchtwanger 1936/37. In: Sinn und Form 44 (1992). S. 32. 13 Den Begriff hat Manès Sperber vorgeschlagen. Vgl. Rohrwasser (Anm. 11). S. 252. 14 Wolfgang Geier: Wahrnehmungen des Terrors. Der Fall Gide – Feuchtwanger. In: Moskau 1938. Szenarien des großen Terrors. Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 1999. S. 184. 15 Daraufhin verschärfte Gide bekanntlich die Kritik in seinen Retuschen zu meinem Russlandbuch (Retouches à mon Retour de l’U.R.S.S., 1937). 16 Vgl. Geier (Anm. 14). S. 183; Rohrwasser (Anm. 11). S. 151. 17 Detlef Grumbach: Moskau 1937. Lion Feuchtwangers Reisebericht für seine Freunde. Rundfunkfeature rb2: Forum Kultur ⬍http://193.97.251.33/rbtext/rb2/_ feature/1997/970303.shtml⬎. 18 Leggewie (Anm. 12). S. 33 und 34. . 19 Vadim Rogovin: Stalinskij Neone p. Moskva 1994. S. 323.
152 Rechtfertigung des schon manifesten Terrors durch einen ‘westlichen Augenzeugen’ sei schwerlich zu finden”.20 Auch literarische Qualität mag niemand dem Moskau-Buch zusprechen: “Schlecht, unliterarisch, ein intellektueller Verzicht ist dieser Bericht, weil er sich bis in die Sprache hinein der offiziellen Darstellung des ‘realen Sozialismus’ anpasst”, fasst Feuchtwangers Biograph Wilhelm von Sternburg zusammen.21 Auch wenn sich die Kritiken in Stil und Verve deutlich unterscheiden – einige sind im Gestus der Destruktion vorgetragen,22 andere ringen um Verständnis23 –, herrscht bei der Beurteilung von Moskau 1937, was bemerkenswert genug ist, seltene Einmütigkeit. Verteidigung gab es in der DDR, heute nur noch im Ausnahmefall,24 im Allgemeinen ist die Kritik vernichtend und – wie hinzuzufügen ist – durchweg wohlbegründet. Einige Kritiker unterstellen dem Erfolgsschriftsteller und Bücherliebhaber Feuchtwanger materielle Interessen: Man habe ihn mit attraktiven Publikationsangeboten und wertvollen Inkunabeln “gekauft”.25 Andere gehen von eher uneigennützigen Motiven aus: Moskau 1937 sei Feuchtwangers Tribut gewesen, um Karl Radek, einem der Hauptangeklagten im zweiten Trotzkistenprozess, die Todesstrafe zu ersparen.26 Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass der sowjetische Apparat der Desinformation und Propaganda, nicht zuletzt Stalin persönlich, im Falle Feuchtwangers wirkungsvolle Arbeit geleistet habe, was aber nur gelingen konnte,
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Feliks Gimel’farb: “Agitpunkt” Stalina. K 70-letiju vychoda knigi L. Fejchtvangera “Moskva 1937”. In: Evrejskaja gazeta, Februar 2007. 21 Wilhelm von Sternburg: Lion Feuchtwanger. Ein deutsches Schriftstellerleben. Frankfurt/M. – Berlin: Ullstein 1987. S. 274. 22 So besonders: Karl Kröhnke: Lion Feuchtwanger – Der Ästhet in der Sowjetunion. Ein Buch nicht nur für seine Freunde. Stuttgart: Metzler 1991. Vgl. die Rezension von Helmut Kiesel: Von Feuchtwanger bleibt nichts. Der Germanist Karl Kröhnke versucht eine restlose Destruktion. In: FAZ vom 18.7.1992. 23 Etwa die Biographien von W. von Sternburg (Anm. 21); Volker Skierka: Lion Feuchtwanger. Eine Biographie. Hg. von Stefan Jaeger. Berlin: Quadriga Verlag J. Severin 1984. S. 168–181. 24 So von Lazar’ Berenson: V zasˇcˇitu Fejchtvangera. In: Evrejskij Obozrevatel’, Januar 2004 http://www.jewukr.org/observer/eo2003/page_show_ru.php?id⫽462. 25 Vgl. Vladimir Papernyj: Glaube und Wahrheit. André Gide und Lion Feuchtwanger in Moskau. In: Osteuropa 53 (2003). H. 9–10. S. 1234. 26 Vgl. Ignatij Rajss: Po povodu Fejchtvangera. In. Bjulleten’ oppozicii (Paris) 9 (1937), Nr. 60–61. S. 14; Marta Feuchtwanger: Nur eine Frau. Jahre, Tage, Stunden. München: Langen Müller 1983. S. 259f.; Jean-François Fayet: Karl Radek (1885–1939). Biographie politique. Bern [u.a.]: Peter Lang 2004. S. 704. Tatsächlich wurde Radek “nur” zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, allerdings 1939 in der Haft ermordet.
153 weil er – wie auch andere linksbürgerliche Sympathisanten der Sowjetunion – verführt werden wollte.27 Die meisten Erklärungsversuche gehen indes von der politischen Lage, der Situation der Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit und der persönlichen Prädisposition des Juden, Schriftstellers und Emigranten Feuchtwanger aus: Von Hitler vertrieben und desillusioniert über die Demokratien des Westens, habe er alle Hoffnungen in die Volksfront und die UdSSR als einzig potenten Gegner des Nationalsozialismus gesetzt. Diese Absolutheit des antifaschistischen Bekenntnisses28 bedinge die Einseitigkeit des Moskau-Buchs: Feuchtwanger sei, wie viele Zeitgenossen mit ihm, von der Prämisse ausgegangen: Wer gegen Hitler ist, muss für Stalin optieren. In dieser “dezisionistische[n] Interpretation”29 der politischen Verhältnisse liege die Ursache seiner Fehlleistung. Einerseits sei er durch seine Reise und das Buch erst zum Intellektuellen im Sinne Zolas geworden, indem er Verantwortung übernahm und entschieden Stellung bezog, andererseits habe er sich zugleich vom Ideal des westeuropäischen Intellektuellentums abgewandt, indem er Wahrheit “nicht mit Geist, sondern mit Tat, nicht mit einer Idee, sondern mit der Kraft des Erfolges” verknüpfte.30 Moskau 1937 scheint also gründlich erledigt zu sein. Sollte man das Buch nicht als “Missgriff ” oder “Fehltritt” Feuchtwangers wieder jenem Halbschatten 27
Vgl. z.B. Roj Medvedev: Pisateli Evropy na prieme u Stalina. Pocˇemu generalissimus ljubil zarubezˇnych literatorov? In: Moskovskie novosti (2002). S. 28. Zu den Mechanismen der (Selbst)Täuschung vgl. Natan Ejdel’man: Gosti Stalina. In: Literaturnaja gazeta vom 27.6. und 4.7.1990. Ejdel’man weist aber auch darauf hin, dass die “Blindheit” der westlichen Intellektuellen nicht absolut war, sondern stets auch “Ablehnung, Widerstand und Zweifel” beigemischt waren. Auf die “techniques of hospitality” und ihre Wirksamkeit wurde im Anschluss an Paul Hollander (Political Pilgrims. Travels of Western Intellectuals to the Soviet Union, China and Cuba 1928–1978. New York – Oxford: Oxford University Press 1981), der diesen Begriff prägte, vielfach hingewiesen. 28 Das Dilemma, dass sich viele Intellektuelle als Antifaschisten verstanden, ohne zugleich antitotalitär zu sein, hat George Orwell schon 1944 benannt. Vgl. dazu David Caute: The Fellow-Travellers. A Postscript of the Enlightenment. London: Weidenfeld & Nicolson 1973. S. 108. 29 Stefan Reinecke: Mythos Stalin. Erbschaft dieser Zeit. In: taz vom 21.11.2007. Daraus resultierte die Neigung, “das Bestmögliche beim Anderen zu entdecken”. Vgl. dazu (am Beispiel des Ehepaars Bloch): Wolfgang Klein: “Zug von Abenteuer. Ständig Unerwartetes.” Marguerite und Jean-Richard Blochs Reise in die Sowjetunion von August bis Oktober 1934. In: Die Blicke der Anderen. Paris – Berlin – Moskau. Hg. von Wolfgang Asholt und Claude Leroy. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2006. S. 136. 30 Martina Winkler: Das Dilemma intellektuellen Engagements oder Der Fluch erfüllter Wünsche: Lion Feuchtwangers “Moskau 1937”. In: WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhundert? Hg. von M. Winkler. Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2001. S. 96.
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154 überantworten, in dem es – bis Anfang der 1990er Jahre nicht wieder aufgelegt – jahrzehntelang vor sich hin dämmerte?31 Ich meine nein: Zum einen gewinnt das Werk gerade heute an Aktualität: als Lehrstück über die Verstrickungen des Schriftstellers in die Politik, die Ambivalenzen von Imageproduktion und Blicklenkung, Beobachtungen und Erklärungsversuchen, Schreiben oder (Ver-) Schweigen, Selbstbetrug und Lesertäuschung. Zum anderen lohnt der Versuch, Moskau 1937 neu zu lesen, auch deshalb, weil hinter dem skizzierten Konsens der Kritiker der Text nahezu verblasst ist. Aber wie könnte man zu ihm gelangen, ohne sich sogleich im Dickicht der Interpretationen und Wertungen zu verfangen? Der im folgenden vorgeschlagene Versuch einer Annäherung setzt bei den eruierbaren Fakten von Feuchtwangers Sowjetunionreise und dem Untertitel des Moskau-Buchs ein: Inwieweit hat Feuchtwanger die Gattungsankündigung “Reisebericht” eingelöst und tatsächlich von dem erzählt, was er in der Sowjetunion erlebt hat? Weiter wird nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Rationalisierung gefragt sowie den Personen und Faktoren, die Feuchtwangers Sicht der sowjetischen Verhältnisse geprägt haben. Aufgrund von Briefen und Aufzeichnungen von Zeitzeugen, vor allem aber dank der geheimdienstlichen Rapporte, die die Dolmetscherin (anfangs täglich) über ihren Gast, sein Tagesprogramm, seine Wünsche und Beanstandungen, Begegnungen und Bemerkungen anfertigte,32 gewinnen wir einen Einblick in das Procedere des Besuchs, der Betreuung und der mit Feuchtwanger geführten Diskussionen aus anderen, ganz unterschiedlichen Perspektiven. Auch Feuchtwangers Interview mit Stalin liegt seit einigen Jahren in russischer
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Moskau 1937 erschien – auch in englischer und russischer Übersetzung – 1937 nur als Einzelausgabe und wurde später weder in der DDR noch in der Bundesrepublik in die Werkausgaben Feuchtwangers aufgenommen. 1989 erschien der Text in der Zeitschrift Zvezda (H. 8), 1990 wurde er zusammen mit Gides Zurück aus SowjetRussland russisch ediert, 1993 wurde der deutsche Text neu verlegt. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert (Seitenzahlen direkt im Text): Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Berlin: Aufbau 1993. 32 Die Rapporte sind größtenteils veröffentlicht: I.A. Al’tman: L. Fejchtvanger v Moskve [iz otcˇetov sotrudnikov VOKS]. In: Sovetskie Archivy (1989), 4, S. 55–63; s. auch Literaturnaja Gazeta vom 4.10.1989. Weitere Karavkina-Berichte befinden sich in verschiedenen Dossiers des Archivs der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS) im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF). Für die Vermittlung von Kopien aus dem GARF danke ich Andrej Doronin (Moskau) und Bernhard Bayerlein (Köln). Zu Karavkinas “story” vgl. auch Ludmilla Stern: Western Intellectuals and the Soviet Union, 1920–40. From Red Square to the Left Bank. London – New York: Routledge 2007. S. 162–174.
155 Sprache vor,33 so dass sich der Gesprächsverlauf und der Niederschlag der von Stalin vorgebrachten Argumente im Moskau-Buch überprüfen lassen.
II. Eine historische Reise Feuchtwanger, der mit seinen Romanen Jud Süß (1921), Erfolg (1930) und Die Geschwister Oppermann (1933)34 weltweite Berühmtheit erlangt hatte, plante bereits seit längerem eine Russlandreise. Doch erst im November 1936 brach er – auf Drängen Michail Kolzows und dessen deutscher Lebensgefährtin Maria Osten,35 die ihn im Sommer in seinem französischen Exil aufgesucht hatten – in die Sowjetunion auf.36 Zur Reisegesellschaft gehörten das Ehepaar Ludwig und Sascha Marcuse, die deutsch-amerikanische Karikaturistin Eva Herrmann und Maria Osten samt spanischem Findelkind.37 An der tschechisch-polnischen Grenze kam es zu einem Zwischenfall: Die spanischen Kronjuwelen waren gestohlen worden. Die Zöllner verdächtigten Feuchtwanger, er wolle sie nach Russland entführen, und zerbrachen sogar seinen Füllfederhalter, um das Gesuchte zu finden.38 An der russischen Grenze stand
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Das Interview (künftig: Interview Feuchtwanger – Stalin) wird zitiert nach der Dokumentation: Bol’sˇaja cenzura. Pisateli i zˇurnalisty v strane sovetov 1917–1956. Hg. von L.V. Maksimenkov. Moskva: Materik 2005. S. 446–460. Es ist auch abgedruckt in: Leonid Maksimenkov.: Ocˇerki nomenklaturnoj istorii. Cˇast’ I. In: Voprosy literatury (2004). 2, S. 250–271 (zum “Schicksal des Textes” vgl. ebd., S. 271–274) sowie in: Nezavisimaja gazeta vom 22.1.2008. Die Mitschrift des Gesprächs setzt unvermittelt ein und endet abrupt, so dass die Aufzeichnung womöglich nicht alles Gesagte wiedergibt. 34 Da ein SA-Führer namens Oppermann Feuchtwangers in Deutschland zurückgebliebenen Bruder Martin bedrohte, änderte der Autor kurz vor dem Erscheinen des Romans den Titel in Die Geschwister Oppenheim; spätere Auflagen erschienen wieder mit dem ursprünglichen Titel. 35 Zu Maria Osten, ihrer Rolle in Moskau und ihren Kontakten zu Feuchtwanger vgl. Reinhard Müller: Exil im “Wunderland” Sowjetunion – Maria Osten (1908–1942). In: Exil 25 (2007). H. 2. S. 73–95. 36 Schon am 1. Juni 1936 hatte der Sowjetische Schriftstellerverband in Moskau einen großen Feuchtwanger-Abend veranstaltet. 37 Feuchtwanger versuchte (auf M. Ostens Initiative hin), Marcuse in der Redaktion der Zeitschrift Das Wort, die von 1936 bis 1939 in Moskau erschien, unterzubringen, was allerdings misslang. Mit dem Staatsverlag verhandelte Feuchtwanger, um Eva Herrmann einen Auftrag für die Umschlaggestaltung der Gesamtausgabe seiner Werke zu verschaffen. Vgl. Rapport D. Karavkina vom 16.12.1936. – GARF 5283/1/334. 38 Vgl. Ludwig Marcuse: Eine Fahrt ins Blaue: in die rote Union. In: Ders.: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. Zürich: Diogenes 1975. S. 219; sowie Feuchtwanger an Zweig, 9.12.1936. In: Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 122.
156 ein Salon-Wagen für die Gruppe bereit; eine deutsch-russische Schriftstellerdelegation und ein Sonderkorrespondent der Iswestija waren eigens angereist, um Feuchtwanger auf russischem Boden zu begrüßen. Die sowjetische Presse hieß ihn, als er am 1. Dezember 1936 auf dem “Weißrussischen Bahnhof ” eintraf, herzlich willkommen und begleitete seinen Besuch mit großem publizistischem Aufwand. Feuchtwanger war Gast des Sowjetischen Schriftstellerverbands, doch auch die Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (WOKS) kümmerte sich um ihn und stellte ihm mit D. Karawkina eine versierte Dolmetscherin zur persönlichen Verfügung.39 Beide – rivalisierenden – Institutionen40 veranstalteten Empfänge zu seinen Ehren. Untergebracht war Feuchtwanger – wie George Bernard Shaw, André Gide und andere prominente Gäste vor ihm41 – im Luxushotel “Metropol”, doch blieb er nicht die gesamte Zeit in Moskau, sondern verbrachte auch einige Tage in einem Erholungsheim unweit von Moskau, in Leningrad und in der Ukraine auf dem Lande, wo er sich von Fieber und Ischias-Anfällen kurierte.42 In Moskau war sein Programm dicht gedrängt. Einen Schwerpunkt bildeten die Besichtigungen: Man führte dem illustren Gast neben den üblichen Sehenswürdigkeiten u.a. die Druckerei der Prawda, die StalinAutowerke, das Modell zur Rekonstruktion Moskaus und eine RembrandtAusstellung vor. Mit solchen Programmpunkten wollten die Gastgeber nicht nur touristische Attraktionen, sondern auch sozialistische Errungenschaften präsentieren. Feuchtwanger legte besonderen Wert auf den Besuch von Kinos und Theatern und vor allem seine beruflichen Angelegenheiten: Verhandlungen mit Institutionen und Einzelpersonen, Leserkonferenzen, Zeitungsartikel, Radioansprachen, die Arbeit am Drehbuch für einen Film Die Geschwister
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Zu den von D. Karavkina betreuten Gästen gehörte auch Martin Andersen Nexø (1935). Vgl. Aldo Keel: Martin Andersen Nexø. Der trotzige Däne. Eine Biographie. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2004. S. 217. 40 Vgl. Stern (Anm. 32). S. 92–201; zur VOKS ferner: Jean-François Fayet: Entre culture, politique et lobyying diplomatique: la Société pansoviétique d’échanges culturels avec l’étranger. In: Relations internationales, échanges culturels et réseaux intellectuels. Hg. von Hans Ulrich Jost und Stéfanie Prezioso. Lausanne: Antipodes 2002. S. 97–113; Ders.: La société pour les échanges culturels entre l’URSS et l’étranger (VOKS). In: Relations Internationales n° 115 (2003). S. 411–423. 41 Zu den berühmten Reisenden jener Jahre und ihrem Empfang in der Sowjetunion vgl. Anne Hartmann: Literarische Staatsbesuche. Prominente Autoren des Westens zu Gast in Stalins Sowjetunion (1931–1937). In: Die Ost-West Problematik in den europäischen Kulturen und Literaturen. Hg. von Helena Ulbrechtova und Siegfried Ulbrecht. Prag – Dresden 2009 (im Druck). 42 Vgl. Skierka (Anm. 23). S. 171.
157 Oppenheim,43 die redaktionelle Planung der 1936 gegründeten Zeitschrift Das Wort, für die Brecht, Feuchtwanger und Bredel als Herausgeber zeichneten, etc. Auch an der Begegnung mit bestimmten sowjetischen Künstlern und Schriftstellern war ihm sehr gelegen; er trug der Dolmetscherin den Wunsch vor, Alexej Tolstoj, Isaak Babel, Boris Pasternak, Ilf und Petrow, I. Anissimow und Sergej Eisenstein zu treffen. Dem wurde teilweise entsprochen: Am 2. Januar wurde ein Mittagessen mit Ilf und Petrow, Kataew und Babel arrangiert,44 und am 19. Januar wurden Feuchtwanger – offenbar in Anwesenheit des Regisseurs – Ausschnitte aus Eisensteins umstrittenem Film Die Beshin-Wiese gezeigt.45 Andere Künstler traf Feuchtwanger, worüber er sich sehr zufrieden äußerte, bei den von WOKS und dem Schriftstellerverband gegebenen Empfängen. Am 5. Januar kam es im “Metropol” zu einem offiziellen Treffen mit prominenten deutschen und ungarischen Emigranten, darunter Johannes R. Becher, Willi Bredel, Erich Weinert, Georg Lukács, Andor Gábor, Julius Hay.46 Doch auch ungebetene Gäste, “die einen äußerst schädlichen Einfluss auf ihn haben”, drangen zu ihm ins “Metropol” vor, obwohl Michail Apletin seitens des Schriftstellerverbands und Karawkina für die WOKS “auf jegliche Weise die Besuche Feuchtwangers zu kontrollieren” suchten. So “schlüpfte” die russische Lebensgefährtin Erwin Piscators Vera Janukowa durch, die Feuchtwanger eindrücklich die Gräuel des Moskauer Wohnungsmangels schilderte.47 Auch Zenzl Mühsam – gerade aus monatelanger Haft im Moskauer LubjankaGefängnis entlassen – verschaffte sich Zutritt zu Feuchtwangers Hotelzimmer,
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Für das Drehbuch hatte das Politbüro am 23. Juli 1936 eine Auszahlung von bis zu 5000 Dollar an den deutschen Schriftsteller bewilligt. – Vgl. Leonid Maksimenkov: Ocˇerki nomenklaturnoj istorii sovetskoj literatury. Zapadnye piligrimy u Stalinskogo prestola (Fejchtvanger i drugie). Cˇast’ II. In: Voprosy literatury (2004), 3. S. 332. Auch Feuchtwangers Bekannte Lilo Dammert war – allerdings glücklos – in die Arbeit am Drehbuch involviert. Der Film unter der Regie von Grigorij Rosˇal’ (Grigorij und Serafima Rosˇal’ firmieren als Drehbuchautoren, Hans Rodenberg als Berater) mit dem Titel Sem’ja Oppengejm kam am 5. Januar 1939 in die sowjetischen Kinos; nach Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts wurde der Film allerdings aus dem Verleih entfernt. 44 Vgl. Rapporte D. Karavkina vom 13.12.1936 und vom 3.1.1937. – GARF 5283/5/745. 45 Vgl. die Memoranden Boris Sˇumjackijs, Leiter der Staatlichen Verwaltung für Kinematographie und Fotographie, an das Politbüro bzw. Molotov vom 5.2.1937 und 28.3.1937. In: Vlast’ i chudozˇestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP (b) – VKP (b), VCˇK – OGPU – NKVD o kul’turnoj politike 1917–1953. Hg. von Andrej Artizov und Oleg Naumov. Moskva: MFD 2002. S. 351f. und 357f. 46 Vgl. Tagebucheintrag Hugo Huppert vom 5.1.1937. – AdK: Hugo-Huppert-Archiv 64–65. 47 Vgl. Rapport D. Karavkina vom 3.1.1937. – GARF 5283/5/745 [dort fälschlich: Jakulowa].
158 aus Sorge um den Nachlass ihres Mannes, des Anarchisten und KZ-Opfers Erich Mühsam.48 Aber Feuchtwanger war auch mit politischen Anliegen nach Moskau gekommen: Der erste Schauprozess hatte unter den deutschen Emigranten im französischen Exilort Sanary-sur-Mer heftige Debatten ausgelöst. Bald nach der Ankunft drängte Feuchtwanger auf ein Treffen mit Komintern-Chef Dimitroff: “Er müsse mit ihm über den Trotzkistenprozess sprechen”, berichtet Karawkina am 17. Dezember, “weil dieser Prozess Europa erschüttert und die Sowjetunion zwei Drittel ihrer Anhänger gekostet habe. Deshalb müsse man jetzt unbedingt Aufklärung betreiben, um die Situation zu retten.”49 Schon tags darauf stattete Feuchtwanger Dimitroff einen ersten, am 2. Januar einen zweiten Besuch ab, beide Male in Begleitung Maria Ostens. Offenbar wollte Feuchtwanger auch etwas für die “unglücklichen Kollegen” tun.50 Wer mit dieser Formulierung Marta Feuchtwangers gemeint war, lässt sich bislang allerdings nicht konkretisieren. Neben Dimitroff gehörten Marschall Woroschilow, Außenminister Litwinow und Boris Tal, stellvertretender Leiter der Abteilung für Presse und Verlagswesen beim ZK der Kommunistischen Partei, zu Feuchtwangers illustren Gesprächspartnern. Politische Höhepunkte der Reise waren jedoch zweifellos die Unterredung mit Stalin am 8. Januar und 48
Vgl. Rapport D. Karavkina vom 15.12.1936. – GARF 5283/8/290. Feuchtwanger war allerdings – so Karavkina – nicht willens, sich in Zenzl Mühsams “trotzkistische Affäre” verwickeln zu lassen und unterstellte ihr nach der Reise übertriebene Ansprüche an den Staatsverlag. – Vgl. Lion Feuchtwanger berichtigt André Gide. In: Basler NationalZeitung Nr. 353 vom 3.8.1937. Zenzl Mühsam wurde 1938 erneut verhaftet und verbrachte die Jahre 1938–1946 sowie 1949–1955 in sowjetischen Straflagern bzw. in der Verbannung. Zum “Fall” Zenzl Mühsam vgl. Reinhard Müller: Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung. Hamburg: Hamburger Edition 2001. S. 147–168, 241–286; Uschi Otten: Überleben für das Werk Erich Mühsams – Zenzl Mühsam in der Falle des Exils. In: Jahrhundertschicksale. Frauen im sowjetischen Exil. Hg. von Simone Barck [u.a.]. Berlin: Lukas Verlag 2003. S. 128–141. 49 Rapport D. Karavkina vom 17.12.1936. – GARF: 5283/1/354. 50 Diese Formulierung benutzt Marta Feuchtwanger, mit dem Nachsatz “ich meine nicht nur die Emigranten”, in einem Brief an Familie Zweig, 21.1.1937. Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 134. Möglicherweise war u.a. die mit Feuchtwanger und Brecht befreundete Schauspielerin Carola Neher gemeint, die im Juli 1936 verhaftet worden war (zu Brechts halbherzigen Erkundigungen nach ihrem Verbleib vgl. Rohrwasser [Anm. 11]. S. 162–164). Als Feuchtwanger schon in Moskau war, wurde er von Zweig gebeten, für zwei inzwischen nach Sibirien verbrachte jüdische Schriftsteller die Ausreise nach Palästina zu erwirken. – Zweig an Feuchtwanger, 4.1.1937. In: Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 138. Zu den Hoffnungen, die Zweig in Feuchtwangers Treffen mit Stalin setzte, vgl. auch: Zweig an Marta Feuchtwanger, 22.1.1937. In: Ebd. S. 136.
159 die Zulassung zu dem kurz darauf stattfindenden Schauprozess.51 Gemeinsam mit dem österreichischen Schriftsteller und Komintern-Funktionär Ernst Fischer, dem dänischen Autor Martin Andersen Nexø und dem amerikanischen Botschafter Joseph Davies durfte Feuchtwanger den Prozess beobachten,52 wobei Julia Anenkowa, damals Chefredakteurin der Deutschen ZentralZeitung, für ihn dolmetschte.53 Bei seiner Abreise am 6. Februar 1937 verabschiedete sich Feuchtwanger von Stalin mit einem loyalen Grußtelegramm,54 von der sowjetischen Öffentlichkeit mit dem Versprechen: “Ich kam, ich sah, ich werde schreiben.”55
III. Statt eines Reiseberichts In dem Buch, mit dem Feuchtwanger dieses Versprechen einlöste, gibt er dem Erlebten wenig Raum. Er lässt den Leser nicht die Stationen der Anreise und den Moment der Grenzüberschreitung nachvollziehen oder das Hotel und Zimmer in Augenschein nehmen. Wir erfahren allenfalls ansatzweise, wie er seine Tage verbrachte, wie sein Befinden und seine Gefühle in jenen Wochen waren. Leningrad, die Ukraine und andere von ihm aufgesuchte Orte würdigt der Autor mit keinem Wort. Aber er lässt auch keine Bilder der winterlichen Straßen, der Häuser und Läden Moskaus erstehen. Feuchtwanger nimmt uns nicht zu einer Fahrt in der 1934 eingeweihten Metro mit, sondern räsoniert über ihre Vorzüge und das Funktionieren der öffentlichen Verkehrsmittel; wir sehen keine Wohnung, Schule oder Universität von innen, sondern werden über die Wohnverhältnisse und Bildungseinrichtungen unterrichtet; statt von einzelnen 51
Der Prozess gegen das “sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum” fand vom 23. bis zum 30. Januar 1937 statt. Zu Details vgl. Wladislaw Hedeler: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Berlin: Akademie Verlag 2003. S. 142–148. 52 Zur Absicht, den zweiten Schauprozess durch die ausländischen Gäste ‘ideologisch zertifizieren’ zu lassen, vgl. Maksimenkov II (Anm. 43). S. 296. Siehe die Schilderungen bei: Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1994. S. 423; Joseph Davies: Als USA-Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjet-Union bis Oktober 1941. Zürich: Steinberg 1943. S. 29–34. Zu Nexøs Stellungnahmen zum Prozess vgl. Keel (Anm. 39). S. 226–233. 53 Dies vermerkt Huppert am 27.1.1937 in seinem Tagebuch. – AdK: Hugo-HuppertArchiv 64–65. Julia Anenkowa wurde am 31. Mai/1. Juni 1937 verhaftet und starb 1939 in einem Arbeitslager. Laut Boris Efimov [d.i. der Bruder Michail Kol’covs] begleitete Maria Osten Feuchtwanger als Übersetzerin bei dem Prozess. – Vgl. Boris Efimov: Desjat’ desjatiletij. O tom, cˇto videl, perezˇil, zapomnil. Moskva: Vagrius 2000. S. 271 (ebd. auch zur Begegnung Feuchtwanger – Radek). 54 In: Pravda bzw. dt. in Deutsche Zentral-Zeitung vom 6.2.1937. 55 Abreise Lion Feuchtwanger. In: Deutsche Zentral-Zeitung vom 6.2.1937.
160 Gebäuden ist vom Bauwesen und der Stadtplanung Moskaus die Rede. Die Menschen begegnen im Text zumeist als Kollektiv: als “jedermann”, Durchschnittsbürger, Moskauer, Sowjetleser, Sowjetjugend oder Bevölkerung. Einzelne sind nur beispielhaft (“eine junge Studentin” etc.), aber nicht als Personen hervorgehoben. Auch wenn “ein kleines Erlebnis” erzählt wird, dient dies meist als Exemplum. So wird der Besuch der Prawda-Druckerei zum Lehrstück über den Lesehunger der “Sowjetmenschen” (S. 32), eine Fabrikbesichtigung zur Studie über die “Arbeitsamkeit” (S. 42) der Moskauer. In der Regel verzichtet der Romancier auf jede Szenerie und alles Anekdotische: So schildert er weder die spannungsträchtige Durchsuchung beim russischen Zoll noch die Ovationen, die ihm im Wachtangow-Theater bereitet wurden,56 oder den Silvesterabend, als die gesellige Runde im “Haus des Journalisten” plötzlich dem berühmten Polarflieger Waleri Tschkalow begegnete.57 Die Mitreisenden Eva Herrmann und die Marcuses werden im Moskau-Buch ebenso wenig erwähnt wie Maria Osten, ständige Betreuerin der Moskauer Tage, oder Michail Kolzow, der als Chef des Jourgaz-Verlagsimperiums auch Das Wort unterstützte. Auf diese Moskauer Exilzeitschrift geht ihr Herausgeber Feuchtwanger nicht ein und übergeht auch die Begegnungen mit den in Moskau ansässigen deutschen Emigranten.58 Doch auch von den Treffen mit den sowjetischen Schriftstellern, mit Dimitroff und anderen prominenten Persönlichkeiten erfahren wir nicht konkret, allenfalls indirekt: sie bleiben anonym als “ein führender Staatsmann”, “ein hoher Funktionär”, “ein Sowjetphilolog” oder “ein Moskauer Schriftsteller”. Nur ein Gegenüber bekommt ein Gesicht und einen Namen: Stalin. Als “Reisebericht” taugt Moskau 1937 also kaum. Wer eine Einführung in den sowjetischen Alltag oder eine mit Erlebnissen, Porträts und Impressionen gesättigte Schilderung fremder Schauplätze erwartet, wird enttäuscht. Doch ist die Verschiebung vom Konkreten zur Abstraktion, von der anschaulichen Szene zur Verallgemeinerung, von “sinnliche[r] Präsenz” zu “Informationen aus zweiter Hand”59 nicht literarisches Unvermögen, sondern bewusst gewählte Methode des Schriftstellers Feuchtwanger, der sich in seinem Moskau-Buch ganz als politischer Reisender und Autor entwirft. “ ‘Was halten Sie von Moskau? Was haben Sie in Moskau gesehen?’ ” nennt er in seinem Vorwort als Leitfragen der für seine “Freunde” aufgezeichneten “persönlichen 56
Vgl. dazu den Rapport D. Karavkina vom 24.12.1936. – GARF 5283/8/290. Vgl. Efimov (Anm. 53). S. 265f. 58 Vgl. den Rückblick Willi Bredels auf Feuchtwangers Besuch: Lion Feuchtwanger in Moskau. In: Neue Deutsche Literatur (1959). H. 2. S. 144–146. 59 Bernhard Furler: Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917–1939. Frankfurt/M.: Athenäum 1987. S. 141. 57
161 Eindrücke” (S. 7), doch geht es im Grunde weder, wie aus dem Folgenden deutlich wird, um Moskau noch um Subjektivität oder private Mitteilung: Vielmehr hat sich Feuchtwanger auf den Weg gemacht, um das “Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf Basis der Vernunft aufzubauen”, zu begutachten (S. 7). “Moskau” steht als pars pro toto für die sowjetische Gesellschaftsordnung, das “Sehen” in Moskau für deren Einschätzung durch den Augenzeugen. Die Niederschrift der Eindrücke für die “Freunde” hat eine politische Funktion: Feuchtwangers “Zeugnis” soll die Bundesgenossen der Sowjetunion in ihrem “Kampf mit vielen Feinden” (S. 11) stärken. Feuchtwanger beschreibt sich als “Sympathisierenden”, beseelt von dem Wunsch, das Experiment möge geglückt sein (S. 7), aber auch als Zweifelnden, “bei aller Neigung doch auch misstrauisch gegen Moskau” (S. 8); schließlich sei die Sowjetunion “auch ein Diktaturstaat” (S. 8). Feuchtwanger verschweigt nicht seine “Unsicherheit”, die Erschwerung des Urteils durch Ehrungen, aber auch durch kleine Unbequemlichkeiten, die “den Blick auf das Bedeutende verstellen” (S. 9): “Ich hatte also in Moskau meine liebe Not, meine Anschauungen immerfort zu kontrollieren und sie bald nach der einen, bald nach der anderen Seite zu berichtigen” (S. 9). Doch dokumentiert allein die Abfassung des Textes Feuchtwangers Überzeugung, “das rechte, abgewogene Urteil” gefunden zu haben. Dieses Urteil ist eindeutig prosowjetisch und prägt das Moskau-Buch vom Beginn bis zur berühmt-berüchtigten Schlusspassage: “Es tut wohl, nach all der Halbheit des Westens ein solches Werk zu sehen, zu dem man von Herzen ja, ja, ja sagen kann. […].” (S. 111)
IV. Wider Gide und die eigenen Vorbehalte Profiliert wird diese Bejahung gegen das kritischere Russland-Resümee André Gides, aber auch gegen die eigenen Zweifel. Die Wahrnehmungen Gides und Feuchtwangers liegen gar nicht weit auseinander:60 Beide registrieren z.B. den niedrigen Lebensstandard und die Wohnungsnot, den Mangel an Komfort und an Dingen des täglichen Gebrauchs, die Geschmacklosigkeit vieler Waren, die unansehnliche Kleidung und die Schlangen vor den Läden. Übereinstimmend und voller Verständnis verzeichnen sie, dass die Nachfrage das Angebot weit übersteigt und dass Qualität erst nach Quantität kommen kann. Doch ordnen 60
Zu diesen Übereinstimmungen vgl. besonders Wulf Köpke: Das dreifache Ja zur Sowjetunion. Lion Feuchtwangers Antwort an die Enttäuschten und Zweifelnden. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 1: Stalin und die Intellektuellen und andere Themen. München: edition text ⫹ kritik 1983. S. 61–72; siehe auch: Papernyj (Anm. 25). S. 1239. Die Unterschiede arbeitet heraus: Al’bert Plutnik: Anatomija takich raznych ubezˇdenij. In: Dva vzgljada iz-za rubezˇa. Andre Zˇid: Vozvrasˇcˇenie iz SSSR. Lion Fejchtvanger: Moskva 1937. Moskva: Izdatel’stvo politicˇeskoj literatury 1990. S. 3–60.
162 beide Autoren ihre Beobachtungen unterschiedlich ein. Gide bedauert “ein Publikum, dem jeder Anhalt zum Vergleichen […] genommen ist”, das keine Wahl hat, dem aber weis gemacht wird, “dass die Leute überall anderswo weniger glücklich sind, als sie selbst”: “Das Glück des russischen Arbeiters besteht aus Hoffnung, Vertrauen und Unwissenheit.”61 Bei Feuchtwanger hingegen beruht die Zufriedenheit und das “glückliche Leben” der sowjetischen Bevölkerung auf der “einleuchtende[n] Planmäßigkeit der Wirtschaft, des ganzen Staatsgefüges”, die “den Einzelnen über die Mängel des privaten Lebens” hinwegtröste (S. 16) und Zukunftsgewissheit stifte: Und der Moskauer geht in seine Warenhäuser wie ein Gärtner, der Mannigfaches gesät hat und nun nachschauen will, was heute wieder aufgegangen ist. […] So genau die Moskauer wissen: der Zug nach Leningrad geht um soundso viel Uhr, so genau wissen sie: in zwei Jahren werden wir Kleider haben, welche und soviel wir wollen, und in zehn Jahren Wohnungen, welche und soviel wir wollen. (S. 17)
Gide geht es nicht um eine Kritik von Lebensstil und Konsumverhalten; er warnt vielmehr vor dem Konformismus, jenem “Geist der Unterwerfung” (S. 74), der allenthalben zu beobachten sei – im Habitus, im gesellschaftlichen Leben, im Kunstbetrieb und im politischen Denken. Dem muss Feuchtwanger – widerstrebend – beipflichten, nur dass er den Konformismus auf drei Punkte reduziert und damit entschärft: “auf Gleichheit der Meinungen in Bezug auf die Grundprinzipien des Kommunismus, auf die gemeinsame Liebe zur Sowjet-Union und auf die von allen geteilte Zuversicht, dass die Sowjet-Union in naher Zukunft das glücklichste und mächtigste Land der Erde sein werde” (S. 37). Erneut gelangt er zu einem anderen Ausblick. Während Gide die Gefahr “einer Vereinfachung, Vereinheitlichung, Verdürftigung”62 erkennt, sieht Feuchtwanger “mit der Zunahme der Bildung de[n] berüchtigte[n] Konformismus” (S. 110) verschwinden. Auch hinsichtlich anderer Punkte – so der Herausbildung einer neuen Klassengesellschaft und Kleinbürgermentalität aufgrund der zunehmenden Einkommensunterschiede und nicht zuletzt der diktatorischen Züge der Sowjetgesellschaft – unterscheiden sich die Notate der beiden Autoren nicht grundsätzlich, aber perspektivisch: Wo Gide das sozialistische Experiment im Kern bedroht sieht, registriert Feuchtwanger vorübergehende, leicht erklärbare Mängel, die bald behoben sein werden. Die sowjetischen Gastgeber, von Gides Zurück aus Sowjet-Russland negativ überrascht, monierten, dass der Franzose während der Sowjetunionreise alles gelobt habe, um es im Nachhinein herabzusetzen.63 Im Falle Feuchtwangers 61
André Gide: Zurück aus Sowjet-Russland. Aus dem Franz. von Ferdinand Hardekopf. Zürich: Jean-Christophe-Verlag 1937. S. 48 und 49. 62 Ebd. S. 75. 63 Darüber mokierte sich auch Feuchtwanger in einem Brief an Zweig vom 15.4.1937. – Vgl. Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 156.
163 verhielt sich dies genau umgekehrt. Die Dolmetscherin D. Karawkina schildert in ihren Rapporten einen schwierigen, unzufriedenen Gast: “Seit dem frühen Morgen erging sich Feuchtwanger in endlosen Gesprächen über die Unbequemlichkeiten des Lebens in der Sowjetunion, beklagte sich über den Service im Hotel, die schlampige Postzustellung und eine ganze Reihe weiterer Missstände”, notiert sie am 29. Dezember.64 Schon zuvor hatte sie eine lange Liste mit den Beanstandungen Feuchtwangers aufgesetzt und dessen Seitenhieb einstecken müssen, dass sich solche organisatorischen Mängel “vermutlich stark auf die Stimmung von André Gide, eines empfindsamen Menschen und Künstlers, ausgewirkt hätten.”65 In Bezug auf den sowjetischen Lebensstandard zitiert Karawkina Feuchtwanger mit der Meinung, “dass die Sache des Sozialismus dann in der ganzen Welt siegreich sein werde, wenn der Lebensstandard der Bevölkerung in der UdSSR das französische Lebensniveau erreicht haben werde”.66 Doch solche Auffassungen dürften wohl kaum öffentlich vertreten werden, muss Feuchtwanger ebenfalls geäußert haben: “Er meinte ironisch zu mir, dass er gerne sehen würde, wie man in der UdSSR Sachen von ihm drucken würde, in denen er unser Leben ‘so ungemütlich schildert, wie es sich ihm darstellt’, und dass er es vorziehen würde, in Europa zu leben, so schön es in der Sowjetunion auch sei.”67 Feuchtwanger publizierte Ende Dezember in der Prawda einen höchst abfälligen Artikel über André Gide:68 Gides Bekehrung zum Kommunismus denunziert er als “ästhetische Angelegenheit”, als “sentimentale Anwandlung des reizbaren Schriftstellers”, um solcher Haltung das – man darf ergänzen: eigene – Bekenntnis zum Kommunismus als “Resultat logischer Erwägungen” entgegenzuhalten. Der “Pariser, geschmäcklerisch, mäklerisch, überaus egozentrisch”, sei daher an der Oberfläche der sowjetischen Wirklichkeit geblieben und habe nicht 64
GARF 5283/8/290. Rapport D. Karavkina vom 11.12.1936. – GARF 5283/8/290. 66 Zusammenfassender Rapport D. Karavkinas über “Einige Äußerungen” Feuchtwangers (undatiert). – GARF 5283/8/290. 67 Rapport D. Karavkina vom 4.1.1937. – GARF 5283/5/745. 68 Der Artikel sollte ursprünglich am 25. Dezember erscheinen, wurde dann aber erst . fünf Tage später gedruckt: Lion Fejchtvanger: Estet o Sovetskom Sojuze. In: Pravda vom 30.12.1936. Zitiert wird nach der deutschen Fassung: Der Ästhet in der Sowjetunion. In: Das Wort 2 (1937). H. 2. S. 86–88. Die russische Version weicht an einigen Stellen ab: So sind die “tausend kleinen, unleugbaren Geschmacklosigkeiten” (S. 86) zu “einigen […] Geschmacklosigkeiten” abgeschwächt. Der Satz “Er vergisst, dass hier eine Kultur in ihren Anfängen steckt” (S. 87), lautet in der russischen Fassung: “Er vergisst, dass hier eine völlig neue Kultur geschaffen wird”. Eine längere Passage des Pravda-Textes fehlt im Wort: Nach Ausführungen über das literarische Misslingen des Buchs von Gide kommt Feuchtwanger zu dem Fazit: “Entstanden ist ein schwaches, zusammengewürfeltes Pamphlet, das des großen Stilisten Gide nicht würdig ist.” 65
164 vermocht, hinter der fehlenden Meinungs- und Pressefreiheit die “sachliche Demokratie” zu erkennen, hinter den “tausend kleinen Unebenheiten” die “große, erhabene Planmäßigkeit des Ganzen”, hinter der “Vergötzung” Stalins die Dankbarkeit der Bevölkerung gegenüber dem Repräsentanten des Sozialismus. Doch im Vorfeld der Publikation kam es fast zu einem Eklat, bei dem Feuchtwanger größtes Verständnis für den von ihm so heftig geschmähten Franzosen bekundete. “Heute war ein schwerer Tag”, schreibt Karawkina am 27. Dezember: Denn Feuchtwanger ergoss eilends seine ganze Empörung über mich, weil die Prawda Änderungen in seinem Gide-Artikel verlangt. So würden sich die Worte Gides bewahrheiten, dass es bei uns keine Meinungsfreiheit gebe, dass man seine Gedanken nicht äußern dürfe usw. Mechlis69 schlug ihm vor, einige Stellen abzuändern, besonders über den ‘Stalinkult’. Ich erklärte ihm, worin das Wesen der Beziehungen der Sowjetvölker zum Genossen Stalin besteht, woher dies kommt, und dass es völlig falsch sei, dies als ‘Kult’ zu bezeichnen.70
In seinem Moskau-Buch betonte Feuchtwanger indes ausdrücklich, “dass die Zeitungen des Landes an Artikeln von mir, auch wenn sie die Intoleranz auf gewissen Gebieten beklagten oder den übermäßigen Kult Stalins […], keinerlei Zensur übten. Nicht nur das, sie waren bemüht, in der Übersetzung gerade dieser negativen Stellen jede Nuance aufs treueste wiederzugeben” (S. 38; vgl. S. 10). Feuchtwanger hat also in der Sowjetunion vieles kritisiert, um es öffentlich bzw. anschließend zu loben. Die geheimdienstlichen Berichte der Dolmetscherin dürfen als verlässliche Quelle gelten, was das Auftreten Feuchtwangers in Moskau betrifft; sie werden etwa durch das Tagebuch des österreichischen Emigranten Hugo Huppert gestützt, der am 30. Januar 1937 zu einer Rede von Wsewolod Wischnewski im Schriftstellerverband notierte: “herzhafte Ausfälle gegen Feuchtwanger, den ‘westlichen Bazillenträger der Skepsis’, welch letztere übrigens von der Versammlung so überaus lebhaft beklatscht wurden, dass nunmehr eindeutig feststeht: Feuchtwanger hat sich unbeliebt gemacht, er wird hier wenig Freunde zurücklassen. Wischnewski stellte ihn fast auf eine Stufe mit André Gide”.71 In Moskau kursierte denn auch ein Spottgedicht, ob
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Lev Mechlis (1889–1953) war damals Chefredakteur der Pravda. Rapport D. Karavkina vom 27.12.1936. – GARF 5283/8/290. 71 Tagebucheintrag vom 30.1.1937. – Akademie der Künste (AdK), Berlin, HugoHuppert-Archiv 64–65; vgl. Feuchtwanger, Moskau 1937 (Anm. 31). S. 98. Auch Aleksandr Arosev, damals Vorsitzender der VOKS und Vorgesetzter Karavkinas, warnte Stalin, Molotov und Ezˇov vor, dass man es bei Feuchtwanger mit einem zweiten Gide zu tun haben könne. Man müsse sehr besorgt sein, wie er nach seiner Rückkehr auftreten werde. – Vgl. Stern (Anm. 32). S. 163. 70
165 sich dieser “Jidd” nicht wohl auch als “Gide” entpuppen würde.72 Doch in seinem Reisebericht Moskau 1937 entschied sich Feuchtwanger dafür, seine Vorbehalte durch unbedingte Zustimmung zu überblenden. Immerhin attestiert Feuchtwanger den Behauptungen Gides “ein Körnchen Wahrheit” (S. 36, 109) und sind die Zweifel in seinem Text stets präsent, auch wenn sie der Autor regelmäßig außer Kraft zu setzen sucht. Das Abwägen des Für und Wider verleiht seinem Text eine doppelte Kontur: Die Apologie der Verhältnisse, die sich ergibt, wenn man den Beurteilungen Feuchtwangers folgt, ist unterlegt mit Bedenken, gegen die sich der Autor offenbar selbst zu wappnen suchte. Feuchtwangers erörternde Schreibweise73 bekommt dort politische Brisanz, wo er auf die Feindschaft zwischen Stalin und Trotzki zu sprechen kommt.74 Zwar f ällt das Urteil, aus heutiger Sicht ein krasses Fehlurteil, klar zugunsten Stalins aus. Trotzki wird von Feuchtwanger als “ein großer Schriftsteller” (S. 77)75 und blendender Redner abgefertigt, als “Nur-Revolutionär” (S. 76), der f ür den planvollen Aufbau nicht mehr zu brauchen sei. Der “zänkische Doktrinär”(S. 77) sei “nie ein russischer Patriot” (S. 89) gewesen, so dass dem von Hass und Verachtung f ür Stalin Getriebenen jedes Mittel, jeder Weg recht sei, um seine Ziele durchzusetzen. Stalin hingegen wird von Feuchtwanger als “der ins Genialische gesteigerte Typ des russischen Bauern und Arbeiters” (S. 84) gefeiert, als “Schöpfer des Planes” (S. 88), der zum “Mehrer” der Sowjetunion in jeder Hinsicht wurde (S. 81). Doch immerhin gibt Feuchtwanger, wenn auch als gegnerisches “Geschwätz” abgetan, noch eine ganz andere Charakteristik Stalins: “Der Grund [f ür die Prozesse] ist, behaupten die Gegner, Stalins wüste Despotie, seine Freude am Terror. Klar: dieser Mensch Stalin, voll von Minderwertigkeitsgefühlen, von Herrschsucht und maßloser Rachgier, will sich an allen denjenigen rächen, die ihn irgendwann kränkten, und alle diejenigen beseitigen, die auf irgend eine Art gef ährlich werden können.” (S. 103). Ähnlich argumentiert Feuchtwanger in Bezug auf die Geständnisse der Angeklagten. Er will 72
Das Wortspiel beruht darauf, dass “Gide” und “Jidd” im Russischen homonym sind (“Zˇid”). Bislang ist nicht zweifelsfrei geklärt, wer den Vierzeiler verfasst hat; politisch belangt wurde dafür der Dichter Michail Svetlov. – Vgl. die f ür Stalin angefertigte geheimdienstliche Auskunft über Svetlov. In: Vlast’ i chudozˇestvennaja intelligencija (Anm. 45). S. 419. 73 Es wäre zu fragen, inwieweit dieses Schreibverfahren in der jüdischen Tradition des Pilpul steht, jener dialektischen Methode des Talmudstudiums, durch die Widersprüche und textliche Ambivalenzen in der Überlieferung erörtert und ausgeglichen werden sollten (ich danke Hans-Volkmar Findeisen für den Hinweis). 74 Zu den antisemitischen Implikationen dieser Gegenüberstellung, die auch bei Feuchtwanger anklingen, vgl. Michail Vajskopf: Pisatel’ Stalin. Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie 2001. S. 254–257. 75 Die abwertende Charakterisierung Gides als “Ästhet” und Trotzkis als “Schriftsteller” identifiziert Karl Kröhnke als “intellektuellen Selbsthass”. Kröhnke (Anm. 22). S. 103.
166 das “Nächstliegende” glauben, “nämlich, dass die Angeklagten überf ührt waren und ihre Geständnisse auf Wahrheit beruhten” (S. 92), gibt aber zugleich den “Zweiflern” und “Skeptikern” das Wort, die von Folterung, Erpressung und Unglaubwürdigkeit der Verschwörungstheorien ausgehen. Ja, Feuchtwanger räumt sogar ein: “Ich muss gestehen, dass, obwohl mich der Prozess von der Schuld der Angeklagten überzeugt hat, ihr Verhalten vor Gericht mir trotz der Argumente der Sowjetleute nicht bis ins letzte klargeworden ist.” (S. 97f.)76 Nur bei einem Thema: der Kunst, gewinnt der Einwand eindeutig die Oberhand über die positive, dem sowjetischen Selbstbild entsprechende Behauptung. Zwar schwärmt Feuchtwanger von der Hochschätzung des Buches in der Sowjetunion, von den Darbietungen und dem Publikum: “Die Sowjetleute sind die besten, verantwortungsvollsten, kühnsten Regisseure und Musiker der Welt.” (S. 43) Ja nirgends sei der “Traum der deutschen Klassiker von einer ‘Universalliteratur’ und einer ‘Gelehrtenrepublik’ […] der Wirklichkeit so weit entgegengeführt wie in der Sowjet-Union” (S. 46). Doch befremdet ihn der standardisierte, heroische Optimismus, der das “Repertoire des Sowjettheaters und des Sowjetfilms dürftig” mache (S. 48). Ein “Schriftsteller, der von der Generallinie abzuweichen wagt”, habe es nicht leicht: Feuchtwanger spielt auf Pasternak an,77 aber auch – beide Male ohne Namensnennung – auf seine eigene Erzählung Höhenflugrekord, die ob des abstürzenden Fliegers von dem “überängstlichen Redakteur als ‘zu pessimistisch’ ” aus einer Sammlung mit Erzählungen gestrichen wurde (S. 46f.). Für die “Gängelei und Bevormundung der Künstler durch den Staat” (S. 49) vermag Feuchtwanger keine hinreichende Erklärung oder Rechtfertigung zu finden. Es waren vermutlich solche Passagen, die bei den zeitgenössischen Lesern in der UdSSR f ür Aufsehen sorgten, als das Buch im November 1937 in einer Auflage von 200.000 Exemplaren in Moskau erschien. Vorsorglich hieß es in einer redaktionellen Vorbemerkung: “Das Büchlein enthält eine Reihe von Fehlern und falscher Einschätzungen. In diesen Fehlern findet sich der sowjetische Leser leicht zurecht. Dennoch ist das Büchlein von Interesse und Bedeutung,
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Auch in einer am Tag der Urteilsverkündung für die Sowjetpresse abgegeben Erklärung, die er in seinem Buch zitiert (S. 98) hielt Feuchtwanger an seinen . Zweifeln fest. – Pervye vpecˇatlenija ob etom processe. In: Pravda vom 30.1.1937. Vor allem durch den Abdruck dieser Erklärung in der sowjetischen Presse sah Feuchtwanger Gides Haupteinwand widerlegt. – Vgl. seinen Brief an Zweig vom 15.4.1937. In: Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 156. 77 Vgl. Rapport D. Karavkina vom 3.1.1937. – GARF 5283/5/745: “Heute fragte er mich plötzlich: Stimmt es, dass Pasternak ‘in Ungnade’ gefallen ist, weil sein Werk ‘nicht mit der Generallinie der Partei übereinstimmt’? Dann erzählte er eine antisowjetische Anekdote. Als ich ihn erstaunt fragte, wer ihn mit solchen ‘Informationen’ versorge, gab er keine Antwort.”
167 als Versuch, die Sowjetunion ehrlich und gewissenhaft zu studieren.”78 Doch muss in einer Zeit, als Trotzkis Name aus allen Texten getilgt wurde, sein Konterfei aus den Publikationen und Filmen verschwand, allein die häufige Erwähnung seines Namens (124-mal) sensationell gewirkt haben. Dasselbe gilt für die ausführlichen Erörterungen darüber, wie die Geständnisse zustande gekommen sein mögen. Wo sonst hätte man damals in der Sowjetunion lesen können, dass Stalins “Humor gef ährlich” werden kann, dass er “ein leises, dumpfiges, verschlagenes Lachen” (S. 83) lacht? Wer hätte damals, inmitten des Großen Terrors, Begriffe wie “Schädlingspsychose” (S. 36), “Kriegsmentalität” und “Rachefest” (S. 103) überhaupt nur erwähnen dürfen? So heißt es denn auch in einem Bericht über die Situation im Schriftstellerverband, dass das Feuchtwanger-Buch bei einer bestimmten Gruppe von Schriftstellern auf viel Sympathie gestoßen sei: “Feuchtwanger konnte das sagen, was uns verboten ist.” Umgekehrt f ühlte sich der Schriftsteller Nikolaj Pogodin durch das Buch “tief gekränkt; daher habe ich die Skizze Genosse Stalin geschrieben. Stalin ist der Stolz unserer Epoche.”79 Es scheint nur folgerichtig, dass die russische Fassung des im skizzierten Sinne ‘anstößigen’ Feuchtwangerbuchs bald verboten wurde – jedenfalls verschwand es schon nach wenigen Monaten aus Buchhandel und Bibliotheken. Doch war seine Entfernung nicht politische Absicht, sondern eine Fehlleistung des Zensurapparats, der zu jener Hochzeit der Retuschen, Streichungen, Verbote und Bibliothekssäuberungen nicht mehr Herr der von ihm selbst geschaffenen Maßnahmen war.80
V. Sowjetische Souffleure Bei der Anreise überwog bei Feuchtwanger die Skepsis, während seines Aufenthalts hatte er vielerlei an den sowjetischen Lebensbedingungen auszusetzen, doch schon dort und im Nachhinein entschloss er sich dazu, das Land, seine Menschen und seine Führung vehement zu verteidigen. Wer oder was hat – abgesehen von Feuchtwangers politischer Grundsatzentscheidung – diesen Wandel bewirkt? 78
Lion Fejchtvanger: Moskva 1937. Otcˇet o poezdke dlja moich druzej. Moskva: Goslitizdat 1937. S. 3. Als Redakteur des Bandes ist I. Anisimov angegeben (ebd. S. 96), der Übersetzer wird nicht genannt. Zur sowjetischen Publikation und Stalins Kommentar vgl. Maksimenkov I (Anm. 33). S. 277f. und Maksimenkov II (Anm. 43). S. 328f. 79 Bericht von O.S. Vojtinskaja, Redakteurin der Literaturnaja Gazeta, an A.A. Zˇdanov über die Situation im Schriftstellerverband der UdSSR (vor dem 15. März 1938). In: Vlast’ i chudozˇestvennaja intelligencija (Anm. 45). S. 409. 80 Vgl. das geheime Rundschreiben des stellvertretenden Leiters von Glavlit, A. Samochvalov, an die Abteilungsleiter der Zensurbehörde in den Regionen und Bezirken vom 27.1.1938. – GARF 9425/1/312. Ich danke meinem Kollegen Klaus Waschik, der dieses Dokument entdeckt und mir zugänglich gemacht hat.
168 Zum einen müssen Aufmerksamkeit und Großzügigkeit, mit der man den von den Nationalsozialisten enteigneten und ins Exil vertriebenen Autor in der UdSSR aufnahm, ihre Wirkung getan haben: “In Moskau wurde ich so triumphal empfangen”, schrieb Feuchtwanger am 9. Dezember 1936 an Arnold Zweig, “dass es schwer hält, nicht größenwahnsinnig zu werden.”81 Damit ist nicht Bestechung gemeint, sondern Überwindung von Marginalisierung und Isolation, Erfolg und Wirkungsmöglichkeit als Schriftsteller. “Nach Jahren der Entbehrung bekam er wieder Tuchfühlung mit normalen Lesern seiner Bücher”,82 riss man sich um ihn, war er “Tag und Nacht umlagert von Theaterund Filmleuten”.83 Diese Begegnung mit dem Kulturbetrieb, dem Leser und der Jugend als “stärkste[m] Aktivposten der Sowjet-Union” (S. 19)84 begeisterte Feuchtwanger: “Für den Schriftsteller ist es eine Herzensfreude, seine Bücher in den Bibliotheken dieser jungen Sowjetmenschen zu wissen.” (S. 21f.) Und seinem Freund Zweig schrieb er: “Es ist alles weit, großartig und ungeheuer jung. Ich bin tief überzeugt, dass hier die Zukunft liegt, und zwar die nahe Zukunft, vor allem für den Schriftsteller.”85 Zum anderen hat die von den sowjetischen Medien, aber auch den sowjetischen Gesprächspartnern erzeugte “Fiktion einer Meta-Realität”86 – die Suggestion von Überlegenheit, stetigem Fortschritt und allseitigem Glück – ihre Wirkung nicht verfehlt. Während einige von Gides Mitreisenden Russlanderfahrung hatten und so fähig waren, für ihn die Oberfläche zu durchstoßen,87 fehlte Feuchtwanger eine Begleitung, die für ein Korrektiv der offiziellen Sprachregelungen gesorgt hätte.88 Seine Dolmetscherin D. Karawkina konnte und wollte ihn keinen 81
Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 122. Skierka (Anm. 23). S. 170. 83 Feuchtwanger an Brecht, 27.3.[1937]. In: Lion Feuchtwanger: Briefwechsel mit Freunden 1933–1958. Hg. von Harold von Hofe und Sigrid Washburn. Bd. I. Berlin – Weimar: Aufbau Verlag 1991. S. 35. 84 Die sowjetische Jugend wurde auch von Gide bewundert. Vgl. Gide, Zurück aus Sowjet-Russland (Anm. 61). S. 26, 43. 85 9.12.1936. Lion Feuchtwanger – Arnold Zweig, Briefwechsel I (Anm. 6). S. 122. 86 Gábor T. Rittersporn: Die sowjetische Welt als Verschwörung. In: Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten. Hg. von Ute Caumanns und Mathias Niendorf. Osnabrück: fibre Verlag 2001. S. 104. Auch die meisten Sowjetmenschen waren, trotz der Widrigkeiten des sowjetischen Alltags, geneigt, das offizielle Deutungsmuster anzunehmen (vgl. ebd. S. 105). 87 Zu seiner Reisegruppe gehörten u.a. der russischstämmige Verleger Jacques Schiffrin und Pierre Herbart, der ab November 1935 acht Monate lang in Moskau für die französische Ausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur gearbeitet hatte und Gide mit aktuellen Informationen über die politische und kulturelle Situation versorgte. 88 Auch hatte sich Feuchtwanger, im Unterschied zu Gide, nicht gründlich vorinformiert; anders als etwa Romain Rolland hatte er sich selbst auf das Gespräch mit Stalin nicht eigens vorbereitet. 82
169 Blick hinter die Kulissen werfen lassen, sondern betrachtete es als ihre “Pflicht”, Feuchtwanger im gewünschten Sinn “zu orientieren”.89 Die Übergänge von der Übersetzung zur Überwachung und Manipulation waren bei den von der WOKS gestellten Dolmetschern fließend, denn sie waren rechenschaftspflichtig und hatten nicht nur minutiös Auskunft zu geben über Verhalten, Gespräche und Besuche des von ihnen betreuten Gastes, sondern sollten auch den sowjetischen Alltag für ihn ins richtige Bild setzen und alles Irritierende von ihm fernhalten bzw. durch glättende Interpretationen entschärfen.90 Aussagen wie “ich versicherte ihm”, “dagegen wand ich ein”, “ich weiß nicht, ob meine Beweise des Gegenteils ihn überzeugt haben”, durchziehen denn auch die Berichte von Karawkina, die von Feuchtwanger als “Lokalpatriotin” tituliert wird. Ihre Version der Verhältnisse hat oftmals Eingang in seinen Text gefunden. So muss Feuchtwanger über eine von ihm beobachtete Kundgebung zurückhaltend geäußert haben, dass es “wahrscheinlich sehr anstrengend” sei, “mehrere Stunden ununterbrochen zu laufen”. Karawkina erklärte ihm daraufhin, “dass wir keine Müdigkeit verspüren, wenn solch eine begeisterte Stimmung herrscht”91 – eine Aussage, die sich in folgender Passage des Moskau-Buchs widerspiegelt: “Man weiß, welche Mühe und wieviel Vorbereitungen es faschistische Staaten kostet, ihren widerwilligen Massen ‘spontane Kundgebungen’ abzuringen; ich habe an hundert kleinen Beispielen die naive Freude beobachtet, mit der sich die Moskauer zu ihren Demonstrationen drängen.” (S. 18) Auf die Frage, “wie ihm die Metro gefallen habe”, antwortete Feuchtwanger im Gespräch mit der Dolmetscherin, “dass er nicht vergleichen könne – in anderen Ländern sei er nie mit der U-Bahn gefahren (sondern stets nur mit dem Auto).”92 Im Buch heißt es indes, superlativisch überhöht: “[…] der naive Stolz der Lokalpatrioten auf ihre Untergrundbahn ist berechtigt; sie ist wirklich die schönste und bequemste der Welt” (S. 14). Noch größeren und gewichtigeren Einfluss hatten die Gespräche mit hohen Funktionären und Politikern. Zwar zeigte sich Feuchtwanger weder nach dem
89
Rapport D. Karavkina vom 29.12.1936. – GARF 5283/8/290. Aufzeichnungen über die “Bedienung der Ausländer”, Charakterisierungen der Besucher und ihres Verhaltens, Rapporte und Denunziationen der Dolmetscher, Besuchsprogramme, Listen mit Vorzeigeobjekten sowie häufig gestellten Fragen und passenden Antworten befinden sich im VOKS-Archiv; GARF, fond 5283. Vgl. auch A.V. Golubev, V. Nevezˇin: VOKS v 1930 – 1940-e gody. In: Minuvsˇee. Istoricˇeskij a’manach 14 (1993). S. 313–363; A.V. Golubev: “Osnovnaja cel’ ego priezda…” Otcˇety sotrudnikov VOKSa o prebyvanii v SSSR dejatelej nauki i kul’tury Velikobritanii. 1934–1936 gg. In: Istoricˇeskij archiv (1996), 3. S. 134–159. 91 Rapport D. Karavkina vom 9.12.1936. – GARF 5283/8/290. 92 Ebd. 90
170 Gespräch mit Boris Tal,93 mit dem er über die Pressefreiheit diskutierte, noch nach den Unterredungen mit Dimitroff 94 zum Thema der Prozesse überzeugt. Und doch blieben diese Begegnungen nicht wirkungslos. Zum einen wusste Feuchtwanger zu schätzen, dass sich “die führenden Männer des Landes empfänglich für Kritik” zeigten und “Offenheit um Offenheit” gaben (S. 10). Zum anderen formten ihre Argumente, die so entschlossen wie einhellig vorgetragen wurden, letztlich doch seine Einstellung. Karawkina gegenüber verteidigte Feuchtwanger noch die Pressefreiheit als “Recht eines jeden Menschen, in der Presse alles frei zu äußern, was er denkt”, und wies ihren Einwand zurück, “dass die Pressefreiheit in den kapitalistischen Ländern eine hohle Phrase bleibe, weil das Proletariat, das weder über Druckereien noch über Papier verfügt, keine Chance hat, seine Meinung zu äußern”.95 Doch in seinem Buch diskriminierte er die westliche parlamentarische und journalistische Praxis: “Das ganze Resultat des sogenannten demokratischen Parlamentarismus und der sogenannten demokratischen Pressefreiheit besteht darin, dass jeder, der in der Öffentlichkeit steht, sich entweder immerzu mit Schmutz überschütten lassen oder sein Leben daran setzen muss, gegenstandslose Beleidigungen zu widerlegen.” (S. 51) Bezüglich der Prozesse beunruhigte Feuchtwanger, wie Dimitroff in seinem Tagebuch festhält, “warum die Angeklagten solche Verbrechen begangen haben”, “warum alle Angeklagten alles gestehen” und “warum außer dem Geständnis der Angeklagten keine Beweise vorgelegt wurden”.96 In seinem Buch wusste er jedoch auf all diese Fragen eine Antwort zu geben: Das Motiv der Verbrechen sieht Feuchtwanger in “persönlichen Interessen” der Angeklagten und in dem Ziel, den “ ‘Stalinstaat’, ein Zerrbild dessen, was sie hatten erreichen wollen, in Trotzkis und ihrem Sinn zu korrigieren” (S. 90). Warum ausnahmslos alle Angeklagten gestanden hätten, erkläre sich daraus, dass man nur diejenigen vor Gericht gestellt habe, die “bis ins letzte überführt waren” (S. 97). Das Beweismaterial schließlich sei so erdrückend, dass man sich im Hauptverfahren
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Vgl. Rapport D. Karavkina vom 4.1.1937. – GARF F 5283/5/745. Vgl. Rapport D. Karavkina vom 19.12.1936. – GARF 5283/1/354. 95 Zusammenfassender Rapport D. Karavkinas über “Einige Äußerungen” Feuchtwangers (undatiert). – GARF 5283/8/290. 96 Eintrag vom 18.12.1936. In: Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933–1943. Hg. von Bernhard H. Bayerlein. Berlin: Aufbau Verlag 2000. Bd. I. S. 140; vgl. Dimitroffs Eintrag vom 2.2.1937 über den zweiten Besuch Feuchtwangers (ebd. S. 148). Feuchtwanger fragte auch Stalin, ob man neben dem Geständnis Zinov’evs und der anderen Angeklagten des Ersten Schauprozesses nicht auch weitere Dokumente zugänglich machen sollte, gab im Interview allerdings seine Bedenken als die Meinung anderer aus: “Die Kritiker im Ausland (nicht ich) sagen, dass sie die Psychologie der Angeklagten nicht verstehen, warum sie ihre Ansichten nicht verteidigen, sondern alles zugeben”. Interview Feuchtwanger – Stalin (Anm. 33). S. 453. 94
171 mit den Geständnissen habe begnügen können: “Detaillierte Indizien, Dokumente, Zeugenaussagen”, zitiert Feuchtwanger “die Sowjetleute”, “mögen den Juristen, den Kriminalisten, den Historiker interessieren, unsere Sowjetbürger hätten wir durch die Aufrollung vielerlei Details nur verwirrt.” (S. 91) Diese Einsichten verdanken sich nicht nur Dimitroff, sondern auch dem Gespräch mit Stalin97 und der Teilnahme am Schauprozess, wobei neben der höchst ehrenvollen Einladung und den vorgebrachten Argumenten auch die persönliche Begegnung bzw. das Erlebnis des Tribunals größten Eindruck auf ihn machten. Der Schriftsteller Feuchtwanger, hier ganz Theatermann, beschreibt das Gerichtsverfahren als überzeugendes Schauspiel, das allerdings – in dieser Paradoxie bewegt sich die Schilderung – nichts “Gemachtes, Gekünsteltes” (S. 93) an sich gehabt habe: “in dem sinnlichen Eindruck dessen, was diese Angeschuldigten und wie sie es sagten, [zergingen] meine Bedenken, wie sich Salz in Wasser löst. Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist.” (S. 87) Detailliert werden die Bühne, die Auftritte, Gebärden, Posen und Aktionen geschildert: “Brüsk etwa schob er [d.i. Radek] Pjatakow fort vom Mikrophon und stellte sich selber hin, manchmal schlug er mit der Zeitung auf die Barriere, oder er nahm sein Teeglas, warf ein Scheibchen Zitrone hinein, rührte herum, und während er die ungeheuerlichsten Dinge vorbrachte, trank er in kleinen Schlucken.” (S. 95) Gleichwohl konnte nicht sein, was nicht sein durfte: Feuchtwanger schließt – erneut mit einem Theaterargument – aus, dass diese “Gerichtsszenen” arrangiert worden seien; denn “um die Angeklagten so einzuspielen” hätte es “jahrelanger Proben bedurft” (S. 93). Es gäbe “nur mehr wenig Ungläubige”, so sein Fazit, hätte man der Weltöffentlichkeit “ihren Tonfall, ihre Gesichter” (S. 94) vorgeführt. Auch das Treffen mit Stalin im Kreml war ein Erlebnis für alle Sinne: Feuchtwangers Schilderung setzt bei dem optischen Eindruck ein (anders als auf den Bildern sei Stalin in Wahrheit “eher klein, schmächtig”), geht dann zur Beschreibung von Stimme, Gestik und Ausdrucksweise über, um schließlich Persönlichkeit und politisches Profil seines Gegenübers zu charakterisieren und auf das Interview selbst einzugehen. Anfangs redete man, langatmig und wenig ergiebig, “von der Funktion des Schriftstellers in der sozialistischen Gesellschaft, von der revolutionären Wirkung, die manchmal auch reaktionäre Schriftsteller haben, […] von der Klassenlosigkeit oder Klassenbedingtheit des Intellektuellen, von der Freiheit der Rede und des Schrifttums in der SowjetUnion” (S. 82). Wie Feuchtwanger einräumt, drückte sich Stalin zu Beginn der Unterredung “allgemein aus und gebrauchte gewisse schablonierte Wendungen des Parteivokabulars” (S. 83). 97
L. Stern bezeichnet dieses Gespräch als das mutmaßlich entscheidende Ereignis, das den Sinneswandel Feuchtwangers ausgelöst habe. Stern (Anm. 32). S. 171; so auch Efimov (Anm. 53). S. 267.
172 Aufschlussreich wurde die Unterredung erst, als Feuchtwanger den Kult um Stalin und die juristische Prozesskultur thematisierte. Der Personenkult irritiert den deutschen Autor als ästhetisches und politisches Phänomen, das den gesamten öffentlichen Raum beherrscht. Doch Stalin weiß Feuchtwangers Bedenken zu zerstreuen: In den Huldigungen seiner Person, die zugegeben übertrieben und zum Teil geschmacklos seien, feiere die Bevölkerung stellvertretend die “Befreiung von der Ausbeutung” und die Begeisterung über die errungenen großen Siege.98 Ihm selbst seien die ekstatischen Sympathiebekundungen lästig und unangenehm, doch ließen sie sich schließlich nicht verbieten. Wenn allerdings hässliche Büsten aufgestellt würden und dies an unsinnigen Orten (etwa in der Rembrandt-Ausstellung) habe man es mit “ ‘Selbstverteidigung’ der Bürokraten” zu tun: “Damit man sie nicht anrührt, stellen sie eine Stalinbüste auf.”99 In seinem Moskau-Buch hat Feuchtwanger willig die ihm von Stalin offerierten Erklärungen übernommen: Die “Vergötzung” (S. 58) gelte nicht dem “einzelnen Manne Stalin”, sondern “dem Repräsentanten des sichtlich geglückten wirtschaftlichen Aufbaus” (S. 59) und müsse daher als Ausdruck “grenzenlose[r] Bewunderung” (S. 57) verstanden werden. Keine Toleranz zeige Stalin, selbst schlicht und zurückhaltend, allerdings bei falscher Beflissenheit und Übertreibung, hinter der die “Absicht von Schädlingen” stecken könne, “welche ihn auf solche Art zu diskreditieren suchten” (S. 63). Auf die Prozesse angesprochen, reagierte Stalin im Interview wenig souverän; bei seinen Erläuterungen von Konspiration und Konterrevolution redete er sich regelrecht in Rage. Feuchtwanger erwähnt die Erregung Stalins (S. 83), gibt dessen Ausführungen aber nur bedingt wieder. Er referiert zwar Stalins Verächtlichmachung jener, die bei dem Sinowjew-Prozess die Veröffentlichung schriftlicher Dokumente verlangten, da geübte Verschwörer nur selten Dokumente hinterlassen würden (S. 83); Feuchtwanger akzeptiert, dass die wirtschaftlich und sozial “Entmachteten” sowie die Trotzki-Anhänger Sabotage zur Unterminierung des sowjetischen Staates betrieben hätten (S. 36, 100); er schließt nicht einmal ein Paktieren Trotzkis mit den Faschisten aus (S. 89) und sieht dessen Hauptziel darin, “wieder ins Land hinein, um jeden Preis, wieder an die Macht zu kommen” (S. 89). Doch Stalins apokalyptisches Szenario übernimmt Feuchtwanger nicht. Danach waren viele Unglücke (wie das Entgleisen eines Militärzugs bei Schumicha) in Wahrheit keine Unfälle, sondern von Trotzkisten zusammen mit japanischen Agenten bewusst herbeigeführte Katastrophen, um den Staat zu destabilisieren. Auch mit Rudolf Hess habe Trotzki “ein Bündnis geschlossen, um Brücken und Züge explodieren
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Gemäß dieser Sprachregelung hatten schon Karavkina und Mechlis argumentiert, um Feuchtwanger zu Änderungen in seinem Artikel über Gide zu bewegen. 99 Interview Feuchtwanger – Stalin (Anm. 33). S. 449.
173 zu lassen, wenn Hitler gegen uns ins Feld zieht. Denn Trotzki kann nicht ohne eine Niederlage der UdSSR im Krieg zurückkehren.” Stalin weiter: Damit Trotzkis Anhänger nicht mit uns gemeinsam untergehen, müssen sie Abkommen mit den mächtigsten faschistischen Staaten schließen, um ihre Kader und jene Macht zu retten, die sie mit Bewilligung der faschistischen Staaten erhalten. Ich gebe das wieder, was Radek und Pjatakow jetzt offen äußern. Für die stärksten faschistischen Staaten hielten sie Deutschland und Japan. Sie verhandelten mit Hess in Berlin und mit dem japanischen Vertreter in Berlin. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Macht, die sie in Folge der Kriegsniederlage der UdSSR erhalten, dem Kapitalismus Zugeständnisse machen muss: Deutschland das Territorium der Ukraine ganz oder zu Teilen abzutreten, Japan den Fernen Osten oder einen Teil von ihm […]. Der Faschismus – das ist Unsinn, eine vorübergehende Erscheinung. Sie sind in Panik und erfinden deshalb solche ‘Konzeptionen’. Sie sind für die Niederlage der UdSSR im Krieg gegen Hitler und die Japaner. Eben weil sie eine Niederlage der UdSSR befürworten, haben sie die Aufmerksamkeit der Hitlerleute und Japaner gewonnen, denen sie Informationen über jede Explosion, über jeden Schädlingsakt schicken.100
Diese paranoiden ‘Enthüllungen’ gingen Feuchtwanger offenbar zu weit und am Wesen jenes Faschismus vorbei, den er zu Recht fürchtete. Wie mag es auf ihn gewirkt haben, als Stalin seine Phantasien eines ubiquitären Verrats in eine wahrhaft biblische Begründung der Geständnisse und den Hinweis auf die Urgestalt des Verräters, Judas, münden ließ? Die Antwort Radeks und der anderen Angeklagten auf die Frage, “warum sie ein Geständnis ablegen” sei, so Stalin: “Wir sind all dessen überdrüssig, glauben nicht mehr an die Legitimität unserer Sache, es ist unmöglich, gegen das Volk – diesen Ozean – anzugehen. Wir wollen vor unserem Tod zur Erkenntnis der Wahrheit verhelfen, auf dass wir nicht so verflucht, solche Judasse sind. Das sind keine gewöhnlichen Verbrecher, keine Diebe, sie haben einen Rest Gewissen bewahrt. Auch Judas hat sich, nachdem er Verrat begangen hat, erhängt.” Als Feuchtwanger einwendet: “Über Judas – das ist eine Legende”, widerspricht Stalin: “Das ist keine einfache Legende. In diese Legende hat das jüdische Volk die große Weisheit seines Volkes gelegt.”101 Feuchtwanger zitiert in seinem Buch – im Zusammenhang mit Radek, aber ohne den Kontext der Sühne – nur diesen letzten Satz (“Ihr Juden […] habt eine ewig wahre Legende geschaffen, die von Judas”) und kommentiert einigermaßen ratlos: “es war seltsam, den sonst so nüchternen, logischen Mann diese simpel pathetischen Worte sprechen zu hören” (S. 83). 100
Ebd. Dass Feuchtwanger tatsächlich Stalin gebeten hätte, Radek zu begnadigen (so Marta Feuchtwanger, Nur eine Frau [Anm. 26]. S. 259), geht aus der veröffentlichten Fassung des Interviews nicht hervor. 101 Ebd. S. 454. Der “Verrat” Trotzkis, Sinowjews, Radeks u.a. war also in Stalins Augen bereits in ihrem Judentum angelegt. – Vgl. Vajskopf (Anm. 74). S. 256.
174 Feuchtwangers Buch ist das Bestreben abzulesen, dem westlichen Leser Vergehen und Geständnis der vor Gericht stehenden Parteifunktionäre in den Kategorien politischer Logik darzulegen: Er spricht vom Bankrott Trotzkis (S. 100), dessen falsche Konzeption der Weltrevolution durch das Faktum des sozialistischen Aufbaus in einem Land widerlegt worden sei; als überzeugte Sozialisten hätten die Angeklagten, als sie ihren Irrtum erkannten, eingestehen müssen, dass der Weg Stalins der richtige gewesen sei (S. 102), was ihren “Hymnus auf das Regime Stalins” (S. 100) plausibel mache. Als Feuchtwanger die innere Situation Trotzkis imaginiert, erliegt er jedoch selbst der Versuchung zur Dämonisierung: Hier spricht er nicht von politischer Gegnerschaft, sondern vom “Hass” des Unterlegenen auf den “falschen Messias” (S. 88). Statt justitiable Fakten beizubringen, flüchtet sich Feuchtwanger in historische und literarische Analogien: “Wenn Alkibiades zu den Persern ging, warum nicht Trotzki zu den Faschisten?” (S. 89)102 Dass Shakespeare seinen Dramenhelden Coriolan zu Roms Gegnern überlaufen ließ, um seinen “ ‘Neidern alles wett zu machen’ ”, lässt Feuchtwanger schließen: “So urteilt Shakespeare über die Möglichkeit, ob Trotzki mit den Faschisten paktiert hat”. Diese bedeutungsschwere Formulierung wird – eine religiöse Reminiszenz – noch zweimal wiederholt: als fiktives Urteil Lenins103 und Trotzkis selber (S. 89f.).
VI. Herz und Hirn Dass Shakespeares Coriolan als Beleg für Trotzkis mutmaßliches Bündnis mit dem Feind bemüht wird, ist ebenso absurd wie als Textverfahren aufschlussreich. Die literarische Anspielung oder das Zitat müssen da aushelfen, wo dem Autor die eigene Rede und die Argumente ausgehen.104 Der Reisebericht, ohnehin ein hybrides Gebilde, “was die Grenzen zwischen dem ‘effet de réel’ und der ‘Fiktionalität’ betrifft”,105 wird bei Feuchtwanger zu einem Text, in dem die fremden Stimmen oftmals mehr zu sagen haben als das Ich des Augenzeugen. Zu der Prozessführung und ihren Ergebnissen zitiert Feuchtwanger “nach dem Vorbild
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Vgl. Michail Ryklin: Lion Feuchtwanger. Radeks Lächeln. In: Ders.: Kommunismus als Weltreligion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Frankfurt/M. – Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2008. S. 108. 103 Feuchtwanger zitiert hier (S. 85) in einseitiger Auslegung Lenins Testament, das vor allem vor Stalin warnte und deshalb von diesem unterdrückt wurde. 104 Übrigens auch im Interview, wo Feuchtwanger auf Stalins dramatische Schilderung der Sabotageakte einigermaßen hilflos reagiert und auf sein Stück Warren Hastings (1915, 1925 umgearbeitet zu Kalkutta, 4. Mai ) verweist; das Stück erwähnt er auch in Moskau 1937. S. 108. 105 Wolfgang Asholt: Reiseliteratur und Fiktion. In: Die Blicke der Anderen (Anm. 29). S. 83.
175 des gescheiten Essayisten Ernst Bloch”, was Sokrates über “gewisse Dunkelheiten des Heraklit” geäußert haben soll: “ ‘Was ich verstanden habe, ist vortrefflich. Daraus schließe ich, dass das andere, was ich nicht verstanden habe, auch vortrefflich ist.’ ” (S. 98) Die Grenzen bzw. das Versagen der eigenen Urteilskraft gesteht Feuchtwanger auch in Bezug auf das gesamte sowjetische Staatswesen ein, diesmal unter Berufung auf Goethe: “ ‘Ein Bedeutendes weiß uns immer für sich einzunehmen, und wenn wir seine Vorzüge anerkennen, so lassen wir das, was wir an ihm problematisch finden, auf sich beruhen.’ ” (S. 110) Überhaupt ist Moskau 1937 ein Text voller literarischer Ausweichmanöver und Informationen aus zweiter Hand: So bezieht Feuchtwanger sein Wissen über die “jüdische sozialistische Republik Birobidschan” aus Gesprächen und Briefen, weiß aber, dass “aus der angeblichen Utopie Wirklichkeit geworden ist” (S. 69). Die langen Referate aus der gerade verabschiedeten Verfassung geben ebenfalls der virtuellen Realität den Vorrang vor der beobachteten Wirklichkeit. Zwar konzediert Feuchtwanger, dass noch nicht “alle 146 Artikel der Sowjetverfassung verwirklicht” sein mögen (S. 30) und kritisiert ausdrücklich, dass es um das Recht auf Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit “noch lange nicht ideal bestellt ist” (S. 55), doch sieht er die Sowjetunion insgesamt nur noch ein “Restchen Weg […] von der Erfüllung des sozialistischen Staates” getrennt (S. 55). Mehrfach behilft sich Feuchtwanger auch mit Statistiken, die die in den letzten Jahren erzielten Steigerungen im Nahrungsmittelangebot und Bekleidungswesen, beim Wasserverbrauch und Reallohn beziffern; sie sollen die Erfolge der sowjetischen Wirtschaft, wenn schon nicht vorführen, so wenigstens quasi amtlich bestätigen. Behände navigiert Feuchtwanger durch die Zeit, um den “Unterschied zwischen dem trostlosen Früher und dem glücklichen Heute” (S. 17) zu vermitteln. Doch eigentlich ist die Gegenwart, in der der sowjetische Durchschnittsbürger “vorläufig unbehaglicher [lebt] als der mancher anderer Länder” (S. 31) nur Übergang: Entscheidend ist die Zukunftsgewissheit, die Feuchtwanger den Sowjetbürgern zuschreibt und seinem Text einschreiben möchte. Nicht von ungefähr trägt Moskau 1937 daher Züge einer Staatsutopie: Wie alle utopischen Gegenden ist auch die sowjetische abgeschieden von der übrigen Welt, zugleich von ihr abgehoben durch die überlegene Gesellschaftsverfassung. Dem Besucher – allein der Zugang ist ein Privileg – wird das Funktionieren dieser Staatsmaschinerie vorgeführt, wobei weder das Zeigen noch der eigene Eindruck ausreichen, sondern alles vom richtigen Begreifen abhängt. Dies ist dem Menschen mit ‘altem’ oder ‘falschem’ Bewusstsein nur möglich durch die Hilfe eines Mentors, der dem Fremden die ihm unverständlichen Erscheinungen ‘übersetzt’. Zurückgekehrt gibt der Besucher Kunde von diesem fortgeschrittenen Gemeinwesen: Wahrhaft utopisch ist das Lob der “Führer von ungewöhnlichem Talent” (S. 33), die Überordnung des Gemeinwohls über die Interessen des Einzelnen und die
176 patriotische Gewissheit vom “glücklichen Leben” (16), auch wenn das die Ausschaltung jener bedeutet, die das harmonische Gleichgewicht stören. Gegen Anarchie und Chaos setzt die Utopie Planmäßigkeit, gegen das Irrationale die Vernunft. Beides sind Schlüsselwörter in Feuchtwangers Buch; sie potenzieren sich in jener Passage, in der er über den Umbau Moskaus spricht, gehören doch architektonische Visionen seit jeher zum Kernbereich der utopischen Entwürfe: “Ja, das Mathematische, Vernünftige, das dem ganzen Leben der Sowjet-Union den Stempel aufdrückt, zeigt sich besonders augenfällig in dem großartigen Plan der Rekonstruktion Moskaus. Vielleicht gewinnt man auf keine Art einen schnelleren, tieferen Einblick in das Wesen der Sowjet-Union als durch die Besichtigung jenes Modells auf der Bauausstellung, welches das zukünftige Moskau zeigt.” (S. 23) Worin aber bestünde dieses “Wesen”? Darin, dass die gesamte Anlage “mit geometrischer Vernunft”, nach den “Gesetzen der Zweckmäßigkeit und der Schönheit” konstruiert wird (S. 25), also ohne Rücksicht auf Vorhandenes “alles von Anfang an Sinn, Zweck, Plan, Vernunft” (S. 26) ist. Darin aber auch, dass in der Sowjetunion eine “nüchterne Ethik [herrscht], wirklich ‘more geometrica constructa’, und diese ethische Vernunft allein den Plan [bestimmt], nach welchem man die Union aufbaut” (S. 111). Doch bleibt die Utopie und ihre Schilderung kalt,106 ohne Glanz, ohne Leuchten, ohne Begeisterung.107 Wider den Willen des Autors kommt die totalitäre Kehrseite der “schönen neuen Welt” zum Vorschein. Um sich und den Leser davon zu überzeugen, dass das “allein auf Basis der Vernunft” (S. 7) errichtete Reich gut und gelungen sei, lässt sich auch der Schriftsteller Feuchtwanger von der Maxime Vernunft leiten: In dem weltgeschichtlichen “Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt” (S. 8), distanziert er sich in Moskau 1937 von jenen Intellektuellen, bei denen das “Herz verneint, was ihr Hirn bejaht” (S. 105). Wie abgründig indes Vernunft wird, wenn sie zu Konzessionen an die Wahrheit und das Gefühl genötigt wird, wenn sie die Zweifel unterdrückt und das Leben “auf nackte Logik” (S. 7) gegründet ist, wusste Feuchtwanger auch. In seinem Roman Exil (1940) lässt er diesen Zwiespalt zu – in Gestalt eines doppelten alter ego: Der junge Hanns Trautwein wird Kommunist und bricht in die Sowjetunion auf, um dort Architektur zu studieren und eine neue Welt zu bauen; sein Vater Sepp, Exilant in Paris, konzediert zwar, dass sich “eine gerechte Ordnung” ohne Gewalt nicht herstellen lasse, akzeptiert indes diese Erkenntnis nicht als Maxime für sein eigenes Leben: “Ihr sitzt in eurer
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Es fehlt nicht einmal der Hinweis darauf, “dass Plato die Dichter aus seinem Staat […] verbannt wissen wollte” (S. 55). 107 Vgl. Ryklin (Anm. 102). S. 158f.
177 Weltanschauung wie der Dotter im Ei, ihr messt die ganze Welt an euern Prinzipien ab wie an einem Zentimeterstab […]. Ich habe begriffen, dass eure Grundprinzipien richtig sind: aber ich hab es eben nur begriffen, mein Hirn sieht es ein, aber mein Gefühl geht nicht mit, mein Herz sagt nicht ja. Ich fühle mich nicht heimisch in deiner Welt, in der alles Vernunft und Mathematik ist. Ich möchte in ihr nicht leben. […] Ich hänge an meiner altmodischen Freiheit.”108
108
Lion Feuchtwanger: Exil. Roman. Amsterdam: Querido 1940. S. 875f.
Hans Wagener
Spuren des Exils im Werk Franz Werfels The theme of ‘exile’ runs like a red thread through Franz Werfel’s works which he wrote between 1938 and 1945: Cella, or, The Survivors (1938), Embezzled Heaven (1939), the introduction to The Song of Bernadette (1941), Jacobowsky and the Colonel (1944), and Star of the Unborn (1946). The way the theme is treated, is almost exclusively determined by Werfel’s own situation as an exile in France and in the United States. The novellas The Priest’s Tale of the Righted Cross (1938) and A Pale Blue Woman’s Writing (1941), in addition, deal with the antisemitism of the First Austrian Republic and its violent outbreak immediately after the annexation of Austria by Nazi Germany.
Bereits im Jahre 1932 schrieb Franz Werfel eine “Planskizze” für künftige Werke mit dem Titel “Der Staatenlose”, in dem das Thema des Exils in der Zeit unmittelbar vor dem Sieg des Nationalsozialismus auf geradezu prophetische Art vorweggenommen ist: Ich bin nicht geboren. Mama hat mich geworfen [sic], eh sie starb. Mein Vaterhaus ist eine Bahnstation. Ich habe keinen Pass. Kontrabande. Schub. Der Wahrheit die Ehre, ich habe nirgends optiert. Ich sehe oft Menschen, die sich küssen. Bei Demonstrationen rufen sie Heil und Nieder. Mich fasst ein Neid, denn nicht einmal zu denen, die verrecken sollen, gehöre ich. Ich bin ein Findling der ganzen Erde. Jeder Schotterstein blickt mich überheblich an, da er seine Zuständigkeit besitzt. Wirklich, mir bleibt nur Gott übrig, in dem auch ich zu Hause bin. (Will ich heiraten, hapert’s mit dem Papier.) Bin ich ein Ausnahmefall? Bin ich ein Mensch?1
Wenn von Demonstrationen die Rede ist, bei denen “Heil und Nieder” gerufen wird und von Menschen, “die verrecken sollen” – der Leser denkt sofort an den brutalen Ruf “Juda, verrecke!” –, so wird damit eindeutig auf den Nationalsozialismus hingewiesen. Passprobleme, Mangel an Zuständigkeit der Behörden, das Gefühl, kein Mensch mehr zu sein, wie sie schon Staatenlose der Vorhitlerzeit hatten: all das weist auf die Probleme des Exils der Hitlerflüchtlinge voraus. Es verwundert nicht, dass ‘Exil’ im Werk von Franz Werfel vor allem nach 1938 zum Thema werden sollte, war doch der 1890 im habsburgischen Prag als Sohn jüdischer Eltern geborene Autor selbst zum Exilanten geworden, der sein Leben 1945 im fernen Beverly Hills in Kalifornien beschließen sollte.2 Der 1
Franz Werfel: Der Staatenlose. In: Ders.: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. Hg. von Adolf D. Klarmann. München – Wien: Langen Müller 1975. S. 788. 2 Zu den biographischen Fakten und dem Inhalt der Werke Werfels siehe Hans Wagener: Understanding Franz Werfel. Columbia, SC 1993.
180 Lyriker, Dramatiker, Romancier und Essayist Werfel war einer der meistgefeierten Autoren der Ersten Republik Österreich, der 1937 aus der Hand des Kanzlers Kurt von Schuschnigg den Österreichischen Verdienstorden für Kunst und Wissenschaft empfing. Die österreichischen Größen in Kultur und Politik verkehrten im großzügigen Hause der Werfels auf der vornehmen Hohen Warte, wo vor allem seine Frau Alma in alter Salontradition Hof hielt. Werfel selbst arbeitete jedoch meist in Almas Landhaus in Breitenstein. Umso härter musste ihn der ‘Anschluss’ Österreichs treffen, wodurch er als Autor jüdischer Abstammung im Gebiet des Dritten Reiches keine Publikationsmöglichkeiten mehr hatte. Dabei hatte er noch Glück insofern, als er sich zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches, also am 12. März 1938, selbst nicht in Österreich aufhielt, denn er hatte mit Alma den Februar 1938 auf Capri verbracht. Als Schuschnigg von Hitler nach Berchtesgaden zitiert wurde, machte sich Alma derartig große Sorgen um ihre und Werfels Zukunft in Österreich, dass sie nach Wien zurückkehrte, wodurch es ihr gelang, einen Teil ihres Vermögens und ihrer Wertgegenstände zu retten. Am 13. März hörte Österreich auf, als selbständiger Staat zu existieren. Am selben Tage verließen Alma und ihre Tochter Anna Mahler das Land und reisten über Prag und Budapest nach Mailand, wo sie sich mit Werfel trafen. Dieser war auf Capri geblieben, weil er an einer lästigen Halsentzündung litt, und wurde infolgedessen nicht Zeuge des deutschen Einmarsches und der Verhaftungswelle in Wien. Er sollte Zeit seines Lebens nicht mehr nach Österreich zurückkehren und schrieb schon am 13. März 1938 in sein Notizbuch aus dieser Zeit: “Heute am Sonntag, den 13ten März will mein Herz vor Leid fast brechen, obwohl Österr. nicht meine Heimat ist. Oh Haus in Breitenstein, wo ich 20 Jahre gearbeitet habe, soll ich Dich nie mehr wiedersehn?”3 Die Werfels reisten von Mailand über Zürich, wo Werfels jüngere Schwester Marianne mit Ferdinand Rieser, dem Direktor des Zürcher Schauspielhauses, verheiratet war. Von dort fuhren sie bald darauf nach Paris weiter, ließen sich aber schließlich in Sanary-sur-Mer an der französischen Riviera nieder. Dort hatte sich bereits eine ganze Kolonie deutschsprachiger Exilschriftsteller gebildet, der u.a. Lion Feuchtwanger, Ludwig Marcuse, Robert Neumann und Arnold Zweig angehörten. Im Juni 1940, rund einen Monat nach Beginn des deutschen Angriffs auf Frankreich, verließen die Werfels Sanary-sur-Mer und flohen vor den deutschen Truppen, um Spanien und Portugal zu erreichen, zumal Werfel an die Spitze der Auslieferungsliste der Deutschen gesetzt worden war. Sie fuhren mit gemieteten Autos kreuz und quer durch Frankreich, überquerten im November 1940 gemeinsam mit Heinrich Mann, seiner Frau Nelly und Thomas Manns Sohn Golo die Pyrenäen und gelangten schließlich 3
Franz Werfel: Notizbuch 1938/39 im Department of Special Collections der University of California, Los Angeles.
181 über Madrid und Lissabon in die Vereinigten Staaten, wo sie am 13. Oktober ankamen. Nach kurzem Aufenthalt in New York ließen sie sich zuerst in Hollywood und schließlich in Beverly Hills nieder, wo Werfel am 26. August 1945 an einer Herzattacke verstarb. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Exilschriftstellern war Werfel auch in seinem amerikanischen Exil erfolgreich. Sein Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh (The Forty Days of Musa Dagh; 1934) hatte dort bereits seinen Ruf begründet. Der veruntreute Himmel erschien unter dem Titel Embezzled Heaven im November 1940 in englischer Übersetzung und erreichte in kurzer Zeit ebenfalls hohe Verkaufsziffern. Das Lied von Bernadette (The Song of Bernadette; 1941) wurde ein weltweiter Bestseller, seine Verfilmung (1943) ein Triumph. Werfels Drama Jacobowsky und der Oberst (Jacobowsky and the Colonel; 1944) wurde in der Bearbeitung von Samuel N. Behrman am 14. März 1944 am Broadway uraufgeführt und hatte ebenfalls großen Erfolg. Damit war Werfel in Amerika ähnlich erfolgreich wie Erich Maria Remarque, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann und Vicky Baum, und das Exil barg für ihn zumindest keine finanziellen Schrecken. Nachdem Werfel im Frühjahr 1938 in Paris eine erste Herzattacke erlitten hatte, erzählte ihm Alma von ihrer tschechischen Köchin Anezka Hvizdowá, die über 25 Jahre lang für sie gearbeitet hatte. Werfel beschloss sofort, aus dieser Geschichte ein Buch zu machen: Der veruntreute Himmel (1939) sollte das erste Buch werden, das er im Exil veröffentlichte. Der Inhalt ist einfach: Die Magd Teta Linek hat der Familie Argan viele Jahre lang gedient und jeden Groschen beiseite gelegt, um Mojmir, den Sohn ihres verstorbenen Bruders, zur höheren Schule und zum Priesterseminar zu schicken in der Erwartung, sich durch seine Fürsprache einen Platz im Himmel zu sichern. Nach vielen Jahren stellt sich heraus, dass der Neffe keinesfalls Priester geworden ist, sondern sie um ihr Geld betrogen hat. Auf einer Pilgerfahrt nach Rom lernt Teta den jungen Kaplan Johannes Seydel kennen, der sich ihrer annimmt, wie sie es von ihrem Neffen erwartet hätte. Während einer Audienz beim Papst erleidet sie einen Schlaganfall und stirbt wenig später. Der Erzähler namens Theo, ein Freund der Argans, ist wie Werfel Schriftsteller. Er schreibt die Geschichte Tetas im Vorfrühling 1939 im Exil in Paris nieder, wobei er als Grund für den Akt des Schreibens die Bewahrung der Erinnerung an die erlebte Zeit in seiner Heimat angibt: “ ‘Angefangen hab ich damit, um hier im Exil eine Weile wieder mit meinen Freunden zu leben und in ihrem Haus in Grafenegg, mit dem ich auch sehr viel verloren hab […]’ ”.4 4
Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1992. S. 319. Im Folgenden im Text abgekürzt als VH, gefolgt von der Seitenzahl.
182 Auch der Kaplan Johannes Seydel befindet sich im Exil in Paris: “Sehr mager sah er aus, blass und fast gelbsüchtig, und hatte nichts mehr von einem Athleten an sich. Wahrscheinlich war er ziemlich verhungert. Wovon soll auch ein nicht inkorporierter Geistlicher im Exil leben?”(VH, 317). Leopold Argan, das Oberhaupt der Familie, wird nach einem Jahr im Konzentrationslager Dachau ebenfalls bald nach Frankreich kommen. Theo hat das Angebot einer Filmgesellschaft, ein Filmszenarium zu bearbeiten, ein Angebot, das er, trotz seiner Abneigung dagegen, annehmen wird – die typische Situation eines exilierten Schriftstellers, der dankbar sein muss, eine berufsnahe einträgliche Arbeit zu finden, wie beispielsweise die deutschen Autoren, die einen Vertrag bei einem großen Studio in Hollywood bekamen, um ihnen die legale Einreise in die USA zu ermöglichen. Die Situation des Icherzählers im Exil wird bereits auf der ersten Seite des Romans deutlich, wo es heißt: “Nun aber sitze ich da, an einem fremden Tisch in einem fremden Land, und rufe sorgfältig die sehr schmerzliche Erinnerung an eine vergangene Welt empor, in welcher freilich meine Heldin nur eine schattenhafte Dienerrolle spielte.”(VH, 13) Wenige Seiten später bezieht er sich noch einmal auf die Exilsituation des Niederschreibens: Ich empfinde das Exil als einen Schicksalsruf zur Erneuerung. An alle Verbannten und Emigranten ergeht ja der Auftrag zum erbarmungslosen Neubeginn, gleichgültig welche frühe oder späte Stunde das eigene Leben geschlagen hat. Diesem Auftrag kann sich keiner entziehen, und von Tag zu Tag wirds für unsereins klarer, wie sehr alles Gewesene und Erworbene verwirkt ist. Dennoch will ich die Wehmut nicht verleugnen, die mich jetzt und hier erfasst, wenn ich an das Haus in Grafenegg denke und an mein schönes eigenes Zimmer dort. Es ist wirklich nicht der materielle Verlust meiner Manuskripte, der mich verstört, es ist vielmehr das von mir abgespaltene Leben, es sind die aus meinem Innern hervorgetretenen Geister, die ich dort in einem unbefriedigt-zwielichtigen Zustand umgehen fühle. (VH, 17)
Auch der Kaplan Seydel, mit dem der Icherzähler in Paris Freundschaft schließen wird, tritt bereits im ersten Kapitel in Erscheinung. Obwohl es auch im Hauptteil des Romans wiederholt Hinweise auf die Exilsituation des Icherzählers gibt, kann man deshalb das erste Kapitel mit dem Schlusskapitel des Romans mit der Überschrift: “Kleiner Epilog in einem Park” zusammennehmen und von einer Rahmenhandlung im französischen Exil sprechen, in die die Geschichte der Magd Teta Linek eingebettet ist. (VH, 313–325) Die Exilsituation des Erzählers Theo spiegelt natürlich die Erzählsituation Franz Werfels zur Zeit der Niederschrift des Romans wider, obwohl es einige gravierende Unterschiede gibt: Der Erzähler Theo ist ein alter Junggeselle, der sich mit seiner Schriftstellerei auch in Österreich nur mit Mühe über Wasser hielt und von der großzügigen Gastfreundschaft der Familie Argan lebte. Wenn auch Werfel seine Werke in Breitenstein im Haus seiner Frau Alma schrieb, so leistete er sowohl in Österreich als auch im Exil einen ungleich größeren
183 Beitrag zur gemeinsamen Lebensführung. Er hat damit seine eigene atypische Exilsituation eines gut verdienenden Autors durch die typische eines um seine Existenz kämpfenden exilierten Schriftstellers ersetzt. Bleibt die Frage offen, warum er die Geschichte Tetas in die Exilsituation seines vorgeschobenen Erzählers eingebettet hat: Außer der autobiographischen Zeitbezogenheit war es wohl der Kontrast zwischen der ehemals ‘heilen Welt’ der Familie Argan und ihres Freundes Theo und der Welt der Erzählgegenwart, der Zeit des Exils und der Konzentrationslager des Naziregimes. Da es bei Werfel immer auch um eine geistige, metaphysische Interpretation des Geschehens geht, steht auch hier der Kontrast zwischen der alten Welt des Glaubens, wie sie Teta Linek verkörpert, und den “Greueln dieses Zeitalters” (VH, 292) im Mittelpunkt, von denen Johannes Seydel spricht: dem “Faschismus in all seinen Formen, diese[r] teuflische[n] Revolte der internationalen Jeunesse dorée”, den “satanistischsten Irrlehren seit den großen Konzilien” (VH, 296).5 Zur Zeit des ‘Rahmens’, im März 1939, die mit der Zeit der Abfassung des Romans identisch ist, ist die “satanistische Irrlehre” des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich in die Tat umgesetzt worden. Die Vertreter echter christlicher Nächstenliebe (Johannes Seydel) und konservativer Humanität (Erzähler und Argans) existieren nur noch als Exilanten. Den Roman Cella oder Die Überwinder, der erst 1982 als Buch veröffentlicht wurde, schrieb Werfel vom September 1938 bis März 1939 während der ersten Monate seines Exils in Frankreich. Es überrascht deshalb nicht, dass er damit einen Roman schrieb, in dessen Mittelpunkt ein Mann steht, der mit ihm selbst vieles gemeinsam hat – ein assimilierter österreichischer Jude, der zum Zeugen des ‘Anschlusses’ wird und gezwungen ist, ins Exil zu gehen. Cella ist damit Werfels politischstes Werk, das in der ganz konkreten Erzählgegenwart angesiedelt ist, wo die Ereignisse konkret beim Namen genannt werden, und nicht in einer zeitlich weit entfernten Geschichte. Um den Inhalt kurz zusammenzufassen: Der fiktionale Icherzähler des Romans ist der Rechtsanwalt Dr. Hans Bodenheim aus Eisenstadt im österreichischen Burgenland nahe der ungarischen Grenze. Selbst jüdischer Abstammung, ist er mit der Nichtjüdin Gretl verheiratet, mit der er eine Tochter namens Cella hat, eine Art Wunderkind, die durch die Vermittlung von Zsoltan Nagy, einem ehemaligen Offizier und Freund der Familie, bald als Pianistin in einer musikalischen Akademie des Prinzen Ernst Esterhazy der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Die Nazis marschieren in Österreich ein, 5
Auch Papst Pius XI. spricht bei der Audienz davon, dass in den deutschsprachigen Ländern “der tückische Verführer [laure], der das Unterste der von Gott eingesetzten Werte zuoberst kehren wolle und das Evangelium der Liebe in ein Evangelium des Hasses verwandle, schwache Seelen durch die Lust der Überheblichkeit an sich lockend.” (VH, 297)
184 Bodenheim, der als Mitglied eines Verbandes ehemaliger Frontkämpfer an der Organisation des Widerstandes beteiligt war, wird verhaftet und kommt ins Gefängnis. Als er sich bereits im Zug zum Konzentrationslager Dachau befindet, wird er von Nagy, der sich als hochrangiger Nazi entpuppt, gerettet und über die Schweizer Grenze geschmuggelt. An diesem Punkt bricht der Roman ab und ist damit Fragment geblieben. Wie aus Werfels Notizbüchern, die der Herausgeber des Romans, Werfels Freund Adolf D. Klarmann, in seinen Schlussanmerkungen zitiert, deutlich wird, hatte er einen zweiten Band mit dem Titel “Das Brot der Fremde” geplant, der vom Exil in Frankreich handeln sollte. Unter der Überschrift “Story” schreibt Werfel darüber in seinem Notizbuch von 1938/39: Nagy kommt nach Paris. Unklar warum. Redet fremd her. Besucht nur gewisse Caffes. Bodenheims Verdacht. Erkenntnis der Vaterschaft Z[slotan]’s und Cella. – Die Krankheit. In der Krankheit Mordgedanken gegen Zs[oltan]. Mit übermenschlicher Kraft überwindet Bodenheim seine Seele, sagt nichts. Eine Zeitlang weiß er gar nicht, wo Grete und Cella sich aufhalten. Er beschließt, mit Nagy abzurechnen. Sucht ihn auf. N. tot. Spion.6
Ferner enthält das Notizbuch eine Auflistung der geplanten Kapitelfolge.7 Klarmann schreibt dazu in seinen Anmerkungen: Aus Werfels Notizen ist ersichtlich, dass Cella und ihre Mutter ebenfalls entkommen und dass Nagy, der auch nach Paris kommt – als Spion – und dort den Tod findet, Cellas eigentlicher Vater war. Am Ende sollte Cella ein großes Konzert in Carnegie Hall in New York geben, womit der Kreislauf der Geschichte ein Ende fände. Am Anfang und Schluss Vorbereitungen auf das Konzert.8
Was Klarmann nicht deutlich macht, ist die Tatsache, dass Werfel den Roman nicht auf zwei, sondern auf drei “Teile oder Bücher” angelegt hatte, denn in seinem Notizbuch zum Roman schreibt er zur “Architektur” des Romans: 3 Teile oder Bücher I.) Eisenstadt und Wien Vom November bis April 1938 Der Nazis Umsturz II.) Paris Die Emigration III.) New York Cellas Triumpf9 6
Franz Werfel: Notizbuch 1938/39 (Anm. 3). Ebd. 8 Adolf D. Klarmann: ANMERKUNGEN. In: Franz Werfel: Cella oder die Überwinder. Versuch eines Romans. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1982. S. 239. Im Folgenden im Text abgekürzt als C, gefolgt von der Seitenzahl. 9 Franz Werfel: Notizbuch 1938/39 (Anm. 3). 7
185 Die erhaltenen Kapitelüberschriften des zweiten Buches sowie diese “Architektur” des Gesamtwerkes machen deutlich, dass Werfel damit einen wirklichen Exilroman geschrieben hätte, bei dem der erste, weitgehend erhaltene Teil nur ein Drittel des Gesamttexts gebildet hätte. Die Frage, die auch in der Sekundärliteratur aufgeworfen wurde, ist natürlich, warum er den Roman nicht vollendet hat. Klarmann meint: “Werfel unterbrach die Arbeit an diesem Romanfragment, weil, wie er selbst sagte, die Zeit das Werk überholt habe.”10 Obwohl diese Aussage auf eine – von Klarmann nicht identifizierte – angebliche Aussage Werfels selbst zurückgeht, darf man sie ruhig in Frage stellen: Die Zeit hatte den Roman und seine Handlung nicht überholt, sondern, zumindest zur Zeit der Abfassung, waren die historischen Ereignisse, die ihm zugrunde liegen, noch in Bewegung, unabgeschlossen: Der Zweite Weltkrieg hatte noch nicht begonnen, die deutsche Invasion in Frankreich hatte noch nicht stattgefunden, und die Emigranten aus Deutschland und Österreich hielten sich zum großen Teil noch in Paris und in Sanary-sur-Mer an der französischen Riviera auf. Der weitere Exodus u.a. nach England und vor allem nach Amerika – auch für Werfel – stand noch bevor. Wie Lionel B. Steiman schreibt, der Roman “could not be concluded in the social and political terms in which it was so effectively presented”: Schließlich sei “no subject […] ‘taken over by events’ unless it is so predisposed by its own limitations. It was the course of events that disclosed the bankruptcy of Cella’s vision and rendered further development of the novel pointless.”11 Diese Erklärung für Werfels Entscheidung, den Roman unvollendet zu lassen, klingt wahrscheinlicher als Leopold Zahns in Form einer rhetorischen Frage vorsichtig ausgedrückte Annahme: “Ist die Vermutung zulässig, dass Werfel den zweiten Teil von Cella unausgeführt ließ, weil ihm Lion Feuchtwanger (mit dem er sich nicht gut stand) in der Behandlung des Emigrationsthemas durch seinen 1939 erschienenen Roman Exil zuvorgekommen war?”12 Dies klingt schon deshalb nicht wahrscheinlich, weil schließlich auch andere Autoren sich dadurch nicht haben entmutigen lassen, das Thema zu behandeln. Erich Maria Remarques Erfolgsroman Arc de Triomphe von 1945 (engl.; 1946 dt.) handelt beispielsweise ebenfalls in Paris. Tatsache ist, dass Werfels Cella nur den ersten Teil, gleichsam das Vorspiel eines großangelegten Exilromans darstellt. Vorspiel ist der Roman insofern, als das Hauptthema der Zusammenbruch der Republik Österreich und der ‘Anschluss’ Österreichs an das Dritte Reich ist, dargestellt anhand des assimilierten Juden Hans Bodenheim, dem dadurch, wie seinem Autor Werfel, die Illusion der erfolgreichen Assimilation genommen wird. 10
Ebd. Lionel B. Steiman: Franz Werfel. The Faith of an Exile. From Prague to Beverly Hills. Waterloo, Ontario: Wilfrid Laurier University Press 1985. S. 104. 12 Leopold Zahn: Franz Werfel. Berlin 1966. S. 51. 11
186 ‘Vorspiel’ heißt aber nicht, dass das Thema Exil in Cella noch nicht angeschlagen wäre: Bereits im zweiten Kapitel legt Gretl ihrem Mann nahe, wegzuziehen, “gänzlich wegzuziehen… Irgendwohin… Ins Ausland…” (C, 27) Scherber, der jüdische Klavierlehrer Cellas, hat die feste Absicht, nach Amerika auszuwandern und dabei Cella mitzunehmen (C, 54). Auch Bodenheim sieht vor seinem inneren Auge bereits New York vor sich (C, 66), kann sich aber zur Emigration nicht entschließen. Erst als er erfährt, dass der österreichische Kanzler Schuschnigg sich mit Hitler in Berchtesgaden trifft (am 12. Februar 1938), wird ihm blitzartig klar: “Nach Hause mit uns! Die Sachen gepackt, noch heute Nacht! Und fort aus diesem verlorenen Land, wir drei!” (C, 83) Leider währt diese klare Eingebung aber nur einen Augenblick. Auch der Industrielle von Weil ist nun der Ansicht: “Für unsereins ist es das Klügste, dieses Land zu verlassen, und zwar, ohne einen Tag zuzuwarten […]” (C, 101), tut es aber nicht, weil er seine Brüder nicht im Stich lassen will. Als Bodenheim zur Flucht bereit ist, will er zu diesem Zweck Scherber aufsuchen, geht durch die Straßen Wiens und lässt sich sogar einen Moment lang von der trunkenen Begeisterung der Massen nach dem Einmarsch der Nazis mitreißen. Die Erfahrung der inneren Fremdheit inmitten Wiens zwingt ihn zu dem Bewusstsein: “In diesem Augenblick begann mein Exil. Um mich war Fremde, eisiger als Grönland.” (C, 114) Er macht sich konkrete Gedanken über die Flucht (C, 122), will sich “mit Gottes Hilfe vielleicht dort drüben einen neuen Beruf aufbauen” (C, 127), findet dann aber Scherber, der “sein Affidavit für Amerika schon in der Tasche gehabt” hat (C, 131) mit zerschmettertem Kopf auf der Straße vor seinem Haus. Scherber hatte fälschlicherweise geglaubt, die Gestapo wolle ihn abholen, und beging deshalb Selbstmord, indem er sich aus dem Fenster stürzte, – wobei Werfel offensichtlich der Selbstmord des österreichischen Kulturphilosophen und Kritikers Egon Friedell als historisches Vorbild diente. Als er im Gefängnis ist, glaubt Bodenheim, bald mit einer Verwarnung entlassen zu werden und danach die Ausreise mit seiner Frau und Tochter ruhig vorbereiten zu können (C, 152). Er muss stattdessen froh sein, selbst in die Schweiz fliehen zu können. Im Eisenbahnabteil auf der Fahrt in Richtung Schweiz berichtet ihm der ihm bekannte Musikkritiker Lateiner von seinen negativen Erfahrungen mit den österreichischen Ämtern bei der Vorbereitung seiner Auswanderung, von der Schikane der Beibringung von allen möglichen Bescheinungen, von der Steuer-Unbedenklichkeitsbescheinigung, bis zur Hundesteuerbescheinigung, Wasserzinsabgabe, Portalsteuer, Konzessionsabgabe, Fürsorgeabgabe, Lustbarkeitsabgabe, Anzeigenabgabe und Hausgehilfenabgabe (C, 223ff.). Das habe sich “der gute Dante Alighieri, der wütende Emigrant aus Florenz, nicht träumen lassen.” (C, 22) Wir kennen diese Ämterhölle der Exilanten genauso auch aus den Romanen Feuchtwangers, Remarques und Anna Seghers’. Mit Bodenheims Ausspruch beim Aufbruch in Richtung
187 Schweizer Grenze: “Und es hob an unser Auszug aus dem Hause der Knechtschaft in die Länder, die uns nicht angelobt waren” (C, 231) wird der Auszug Bodenheims und seiner jüdischen Leidensgenossen sprachlich gar auf die Ebene des Alten Testaments erhoben. So zeigt sich immer wieder, dass das Thema ‘Exil’ bereits diesen ersten Romanteil Cella wie ein Netz durchzieht. In zugespitzter Form ist das Thema Exil auch in der Gefängniserzählung “Die Geschichte des Kaplans vom wiederhergestellten Kreuz” (C, 159–179) vorhanden. Darin berichtet der Pater Ottokar Felix seinen Mitgefangenen die Geschichte des Rabbi Aladar Fürst, der in dem kleinen Dorf Parndorf im Burgenland lebt und zusammen mit seinen jüdischen Mitbewohnern unmittelbar nach dem ‘Anschluss’ aus seiner Heimat vertrieben wird. Als Fürst von seinen Verfolgern aufgefordert wird, das hölzerne Hakenkreuz zu küssen, das sie durch an ein Grabkreuz genagelte dünne Querleisten hergestellt haben, stellt er das Kreuz wieder her, indem er die Querleisten abknickt. Als man ihn dann auffordert, zur ungarischen Grenze zu laufen, wird er von den Nazis erschossen. Seine Glaubensbrüder werden deshalb schließlich von den ungarischen Grenzwachen ins Land gelassen: “Durch seinen Tod rettete Fürst den größten Teil seiner Gemeinde.” (C, 176) Sicherlich ist diese Geschichte eine Erzählung von der Austreibung der Juden im Dritten Reich, einschließlich der zögerlichen, wenn auch letztlich humanen Haltung mancher Grenzsoldaten anderer Länder, aber primär ist sie eine Erzählung von dem christusähnlichen Selbstopfer eines jüdischen Rabbis für seine Nächsten. 1942, also lange vor der Erstveröffentlichung von Cella, veröffentlichte Werfel die Erzählung separat unter dem Titel Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz.13 Hier wird der Pater Felix nicht, wie in Cella, schließlich nach Dachau geschickt, sondern entkommt mit dem Rest der Juden über die slowakische Grenze: “Seitdem wandere ich mit den Kindern Israel von Land zu Land.”14 Mit diesen Worten wird das Exil der Juden im Dritten Reich ebenfalls in den Zusammenhang mit der alttestamentarischen Geschichte der Juden gestellt. Die Novelle Eine blassblaue Frauenschrift, die zuerst 1941 in Argentinien erschien, ist in mancher Hinsicht ein Gegenstück zu Cella, weil hier ein österreichischer Nichtjude in der Zeit wenige Jahre vor dem ‘Anschluss’ im Mittelpunkt steht: Leonidas, ein hoher Beamter (Sektionschef) des österreichischen Ministeriums für Kultus und Unterricht, erhält im Oktober 1936 einen Brief von Vera Wormser, einer Jüdin, die er vor 18 Jahren, kurz nach 13
Franz Werfel: Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz. Los Angeles: Privatdruck der Pazifischen Presse 1942. Die Auflage betrug insgesamt 250 Exemplare. 14 Ebd. S. 48.
188 seiner Eheschließung mit der reichen Amelie, nach einer Affäre trotz ihrer Schwangerschaft verlassen hatte. Vera Wormser bittet ihn zu erwirken, dass der siebzehnjährige jüdische Sohn einer deutschen Freundin das Abitur in Österreich machen kann, da in Deutschland jüdische Schüler keine öffentlichen Schulen mehr besuchen dürfen. Leonidas nimmt an, dass es sich um seinen eigenen Sohn handelt. Er versucht, mit sich über seine eigene Schuld ins Klare zu kommen, und setzt sich bei der Stellenbesetzung für eine Professur sogar spontan für einen jüdischen Kandidaten ein. Als er am nächsten Tag Vera trifft, erfährt er, dass es sich tatsächlich um den Sohn einer Freundin handelt. Infolgedessen braucht er seiner Frau nichts zu gestehen und kann sein früheres Leben der Unaufrichtigkeit weiterleben. Vera Wormser ist auf dem Wege über Paris nach Le Havre, um auszuwandern, und zwar ins Exil nach Montevideo, denn “endlich möchte auch unsereins freie und reine Luft atmen…”.15 Nach New York, wie Leonidas annimmt, geht sie nicht. “Gott behüte, das ist nicht so einfach. So hoch will ich gar nicht hinaus”,16 womit auf die Schwierigkeiten, ein amerikanisches Visum zu bekommen und sich im Exil eine Existenz sichern zu können, hingewiesen wird. Sie ist froh, in Montevideo eine Lehranstellung an einem College gefunden zu haben: “Unsereins muss hoch zufrieden sein, wenn er irgendwo Zuflucht findet und sogar eine Arbeit […]”.17 Auf Leonidas’ Einwand: “Montevideo […] das ist ja entsetzlich weit”, erwidert sie ruhig: “ ‘Weit von wo?’ […]”. Sie zitiert damit die melancholische Scherzfrage der Exilierten, die ihren geographischen Schwerpunkt verloren haben.18 Die Novelle zeigt nicht nur den offensichtlichen Antisemitismus der österreichischen Behörden, sondern auch ihre Furcht, kurz vor dem ‘Anschluss’ das Naziregime in Deutschland durch die Besetzung einer höheren Position mit einem Juden zu provozieren. Die positivste Gestalt ist zweifellos Vera Wormser, eine realistische, gebildete Frau voller Selbstvertrauen, die noch in dieser Notlage zeigt, dass sie ihrem feigen ehemaligen Geliebten, Leonidas, charakterlich weit überlegen ist. Fazit: Streber, Heuchler und Feiglinge wie Leonidas machen in ihrer Heimat Karriere, während anständige Menschen mit Charakter und Prinzipien nur wegen ihrer jüdischen Abstammung ins Exil getrieben werden. Im Dezember 1941 erschien die deutsche Ausgabe des Romans Das Lied von Bernadette in Stockholm, am 11. Mai 1942 die amerikanische Ausgabe. Es handelt sich dabei um die Geschichte der jungen Bernadette Soubirous aus 15
Franz Werfel: Eine blassblaue Frauenschrift. Erzählung. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995. S. 127. 16 Ebd. S. 129. 17 Ebd. 18 Ebd.
189 Lourdes in den Pyrenäen, die dort 1958 in der Grotte von Massabielle 18 Erscheinungen der Jungfrau Maria hatte. Der Roman beschreibt nicht nur das Leben Bernadettes bis zu ihrem Tode und ihre Visionen, sondern auch den Sieg ihrer geliebten “Dame” über alle rationalistischen Zweifler. Wie Werfel in einem Essay mit dem Titel “Writing Bernadette” sagt, ging es ihm in dem Roman darum, den religiösen, metaphysischen Sinn der Welt und des menschlichen Lebens nachzuweisen: “ ‘The Song of Bernadette’ is a jubilant hymn to the spiritual meaning of the universe.”19 In seinem “Persönlichen Vorwort” beschreibt er, wie es angeblich zur Abfassung des Romans kam: In den letzten Junitagen des Jahres 1940, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, seien er und seine Frau auf der Flucht von Sanary-sur-Mer nach Lourdes gekommen: Wir verbargen uns mehrere Wochen in der Pyrenäenstadt. Es war eine angstvolle Zeit. Es war aber zugleich auch eine hochbedeutsame Zeit für mich, denn ich lernte die wundersame Geschichte des Mädchens Bernadette Soubirous und die wundersamen Tatsachen der Heilungen von Lourdes. Eines Tages in meiner großen Bedrängnis legte ich ein Gelübde ab. Werde ich herausgeführt aus dieser verzweifelten Lage und darf die rettende Küste Amerikas erreichen – so gelobte ich –, dann will ich als erstes vor jeder anderen Arbeit das Lied von Bernadette singen, so gut ich es kann. Dieses Buch ist ein erfülltes Gelübde.20
Diese Behauptungen klingen etwas kategorischer, als sich belegen lässt, denn auf der Reise von Lissabon nach New York notierte Werfel beispielsweise in seinem Notizbuch: “Zur Bernadette fast entschlossen”,21 eine Feststellung, die längst nicht so bestimmt klingt wie das spätere “Persönliche Vorwort”. Andererseits wird allerdings seine Behauptung, den Roman in Erfüllung eines Gelübdes geschrieben zu haben, dadurch gestützt, dass er zunächst nicht an einen großen Erfolg des Romans glaubte. So hat er während der Abfassung mehrmals Alma gegenüber bemerkt, er glaube nicht daran, dass sich irgendjemand für Bernadette interessieren würde. Diese Annahme war zumindest schon deshalb berechtigt, weil die Vereinigten Staaten ein weitgehend protestantisches Land waren und sind. Infolgedessen war der enorme Erfolg des Romans – Werfels größter Bucherfolg – völlig überraschend für ihn. 19
Siehe Franz Werfel: Writing Bernadette. In: The Commonweal (29. Mai 1942). S. 125f. Zu Deutsch: “ ‘Das Lied von Bernadette’ ist ein jubelnder Hymnus auf diesen geistigen Sinn der Welt”. Franz Werfel: Zum Lied von Bernadette. In: Ders.: Zwischen Oben und Unten (Anm. 1). S. 618–620. Hier: S. 620. 20 Franz Werfel: Das Lied von Bernadette. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1991. S. 11f. 21 Zitiert nach Peter Stephan Jungk: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1987. S. 289.
190 Angesichts des historischen Stoffes kommt das Wort ‘Exil’ im Roman selbst nicht vor. Ähnlich wie in Der veruntreute Himmel kommt Papst Pius XI. bei der Heiligsprechung Bernadettes im Jahre 1933 zwar auch auf die “rasenden Irrlehren” seiner Zeit zu sprechen, die “den menschlichen Geist in blutigen Wahnsinn zu stürzen” drohen, und: “Unter dem Himmel Roms, wo alle Heiligen versammelt sind und die neue Heilige feiern, dröhnt ein Militärflugzeug”;22 mit diesen Hinweisen sind jedoch die Zeitbezüge erschöpft. “Szenen aus dem Exil” könnte man Werfels Komödie nennen, die er schrieb, nachdem ihm der Stuttgarter Bankier Stefan S. Jakobowicz, den er schon in Lourdes kennengelernt hatte, bei einer Dinnerparty in Los Angeles von seiner Flucht vor den Deutschen aus Frankreich erzählt hatte: Jacobowsky und der Oberst: Komödie einer Tragödie (1944). Im Mai 1940 müssen angesichts der deutschen Invasion zwei Männer aus Paris fliehen: der jüdische Geschäftsmann Jacobowsky und der polnische Oberst Stjerbinsky. Jacobowsky fürchtet, als Jude in ein deutsches Konzentrationslager zu kommen, und Stjerbinsky hat den Befehl, Papiere mit den Adressen des polnischen Widerstands nach London zu bringen. Jacobowsky kauft ein vornehmes altes Auto, aber da er selbst nicht Auto fahren kann, nimmt er Stjerbinsky als Fahrer mit. Dieser besteht darauf, zunächst seine geliebte Marianne abzuholen. Auf der Flucht gelingt es dem findigen Jacobowsky immer wieder, Benzin und Nahrungsmittel zu beschaffen und die Verhaftung der Gruppe durch eine deutsche Vorhut zu vereiteln. Am Ende nimmt ein britischer Commander Stjerbinsky und Jacobowsky mit nach England. Jacobowsky ist ein ehemals polnischer Jude, der nach einem Pogrom des Zaren als Kind mit seiner Mutter aus Polen nach Deutschland geflohen war, von dort vor den Nazis nach Wien, dann nach Prag und weiter nach Paris. Seine Geschichte ist damit die gar nicht so untypische Geschichte eines jüdischen Emigranten, der von den Nazis von Land zu Land getrieben wird und dabei die von damaligen Emigranten immer wieder berichteten Schikanen der entsprechenden Behörden erleiden muss. Er ist “keines Landes Inländer und aller Länder Ausländer…”,23 “ein Emigrant auf dem ganzen Planeten”. (JO, 103) Wie ihm der ihn zur Rede stellende französische Brigadier erklärt, benötigt er zum Verlassen Frankreichs ein Visa de Sortie. Zu diesem Zwecke müssen Sie bei der nächsten Sous-Préfecture, in Pontivy, um ein solches Visa de Sortie nachsuchen, nach Ausfüllung von drei Fragebogen mit je einer Photographie, Profil, rechtes Ohr sichtbar, nebst Einzahlung 22
Franz Werfel: Das Lied von Bernadette (Anm. 20). S. 484f. Ich zitiere nach der Erstausgabe: Franz Werfel: Jacobowsky und der Oberst. Komödie einer Tragödie in drei Akten. Edited with introduction, notes, and vocabulary by Gustave O. Arlt. New York: Appleton-Century-Crofts, Inc. 1945 u.ö. S. 67. Im Folgenden im Text abgekürzt als JO, gefolgt von der Seitenzahl.
23
191 von siebenundzwanzig Francs fünfundsiebzig Centimes. Die Sous-Préfecture setzt sich mit der Préfecture Ihres Grundaufenthaltsortes, Paris, in Verbindung und errichtet durch eingehende Korrespondenz ein Dossier über Ihren Fall, der nach einigen Wochen dem Ministerium des Inneren zur weiteren Behandlung vorgelegt wird. (JO, 69).
Um beispielsweise ein anderes Land zu erreichen, muss der Emigrant andere Länder durchqueren. Dazu braucht er Transitvisa. In Bayonne hatten Jacobowsky und der Dirigent Kamnitzer, der schließlich, ähnlich wie Werfels Freund Walter Hasenclever und der deutsche Kulturphilosoph Walter Benjamin, aus Verzweiflung Selbstmord begeht, letztendlich Pässe für ein exotisches Land erworben: Einige Staaten aber liegen zwischen mir und meinem vermutlich reizenden neuen Vaterland. Um sie zu durchqueren, bedürfen wir ihrer Visa, der Visa von Transitania Numero Eins, Numero Zwei, Numero Drei… […] Transitania Eins gibt die Erlaubnis zur Durchreise nur dann, wenn Transitania Drei und Zwei sie vorher erteilt haben. […] Doch immer wenn ich das Visum eines Transitanias erkämpft hatte, wurden die anderen für ungültig erklärt. Ein Karussell der Vergeblichkeit. (JO, 112f.)
In Frankreich werden die deutschen Emigranten nach der deutschen Invasion von der französischen Polizei verhaftet und in Lager eingewiesen, wo ihnen die Auslieferung an die Deutschen bevorsteht. Wir wissen von diesen Lagern – das berüchtigte Lager Gurs wird von Werfel ausdrücklich erwähnt (JO, 126) – aus Berichten wie Lion Feuchtwangers Unholdes Frankreich (1942). Werfels Komödie wurde als solche rezipiert, ist aber in Wirklichkeit die “Komödie einer Tragödie”, wie es im Untertitel heißt, oder, genauer gesagt: eine Tragikomödie, in der die Schrecken und das Elend der Emigranten, wie sie Werfel selbst auf seiner Flucht aus Frankreich erfahren musste, thematisiert sind. Zeitbezüge gibt es eine ganze Reihe in dem von Werfel zwischen Mai 1943 und August 1945, also unmittelbar vor seinem Tode, fertig gestellten utopischen Roman Stern der Ungeborenen (1946). Darin wird der längst verstorbene Werfel durch eine Séance von seinem alten Freund B.H. (Willy/Billy Haas) im Jahre 101.943 in der astromentalen Kultur der Zukunft zum Leben erweckt. Die Astromentalen leben in einer unterirdischen Metropolis in einer Welt mit nur einem Staat und einer Sprache. Die Probleme sind trotz der hohen Entwicklung der Zivilisation die gleichen wie im zwanzigsten Jahrhundert: die jüngere Generation rebelliert gegen die ältere. Ein Schuss aus einem alten Revolver löst – ähnlich wie die Schüsse von Sarajewo 1914 – den Krieg zwischen den Astromentalen und den Bewohnern des sogenannten Dschungels aus, deren Gesellschaft an die europäische des 19. Jahrhunderts erinnert. Die astromentale Kultur wird zerstört. F.W. begleitet seinen Freund B.H. in den sogenannten Wintergarten tief in der Erde, wo die Menschen, statt zu sterben, in das Stadium von Babys regeneriert und schließlich in Margueriten verwandelt werden. Es gelingt F.W., aus dem Wintergarten zu fliehen und im April 1943 in sein Haus in 610 North Bedford Drive in Beverly Hills zurückzukehren.
192 Es gibt in dem Roman eine ganze Reihe von Anspielungen auf die Gegenwart des Autors: Die jungen Rebellen werden beispielsweise von Werfel mit Faschisten verglichen,24 der Wintergarten mit dem Euthanasieprogramm des Dritten Reiches und die Fehlentwicklungen bei der Retrogenese mit den Konzentrationslagern Buchenwald und Maidanek (SU, 634, 655). ‘Exil’ ist natürlich nicht das Thema des Romans, aber die Wirklichkeit von Werfels Exil ist nicht nur in seiner realen Adresse aus dem Jahre 1943 präsent, sondern auch in der Tatsache, dass sich die astromentale Welt ebenfalls in “California” befindet. B.H. ist, wie sein Vorbild Willy Haas, im Exil in Nordindien gewesen und hat angeblich in Tibet die Reinkarnationslehre kennengelernt. Werfel hatte ihn seit 1939 nicht mehr gesehen. Auch F.W. selbst stellt sich als Verfolgter, also Emigrant vor. (SU, 20, 66) Er berichtet kurz von seiner letzten Begegnung mit Willy Haas in Südfrankreich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und von seiner Flucht aus Europa nach “California” (SU, 26, 643): Ich war wirklich einmal nahe daran gewesen, als Mönch vor erbarmungslosen Verfolgern zu fliehen. Marseille Juli 1940. Die Deutschen hatten zwei Drittel von Frankreich besetzt. Sie werden in wenigen Tagen das ganze Land okkupieren, so heißt es. Dann aber bin ich verloren, denn laut Paragraph 19 des Waffenstillstandsvertrages müssen die Franzosen mich und meinesgleichen ausliefern. Ich sitze im Kloster der Dominikaner. Man berät, ob man die Gefährdeten in Kutten stecken und über die spanische Grenze schaffen könnte. (SU, 667)
Das Wort ‘Exil’ selbst taucht in der Beschreibung der sogenannten astromentalen Fremdfühler oder Xenopasten auf, die nach langen Reisen im Weltraum heimgekehrt sind und nun unter Anfällen von Fremdfühlen, sogenannten Xenospasmen, leiden: Die Sehnsucht nach einem entfernten Ort und als Verlangen nach einer vergangenen Zeit, ist ein typischer Xenospasmus. […] Das Heimweh eines Flüchtlings nach seinem Vaterland ist schon viel komplizierter, weil dieser Flüchtling genau weiß, dass mit jeder vergehenden Stunde das Verlorene sich wandelt und daher unwiederbringlicher wird. Die Unmöglichkeit seiner wirklichen Stillung ist geradezu die Würze jedes besseren Heimwehs, sowie die Aussichtslosigkeit, Vergangenes und Verlorenes wiederherzustellen, die brennende Wunde des Exils ist. (SU, 400)
Werfels eigene Gefühle als Emigrant werden damit unmittelbar angesprochen. Zum Thema ‘Exil’ in diesem Roman gehört schließlich auch, dass F.W., wie sein Schöpfer, glaubt, von Amerika werde in Zukunft eine christliche Erneuerung ausgehen. (SU, 220) Amerika ist damit für den Emigranten Werfel das Land einer Zukunft, wie er sie sich angesichts des Krieges zwischen dem europäischen Faschismus und den westlichen Demokratien erträumte. 24
Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1992. S. 497. Im Folgenden im Text abgekürzt als SU, gefolgt von der Seitenzahl.
193 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich das Thema ‘Exil’ wie ein roter Faden durch die zwischen 1938 und 1945 entstandenen Werke Franz Werfels zieht. Abgesehen von dem Plan von 1932, ein Werk über einen Staatenlosen zu schreiben, ist das Thema dabei fast ausschließlich zumeist durch seine eigene Situation als Exilant bestimmt: In Cella steht das Ende der Ersten Republik Österreich im Mittelpunkt und die Flucht eines assimilierten Juden vor den Nazis. In Der Veruntreute Himmel ist Werfels eigene Situation in der des vor den Nazis nach Paris geflohenen Erzählers gespiegelt. In Das Lied von Bernadette dient ihm ein auf der Flucht vor den Nazis in Lourdes geleistetes Gelübde dazu, im Vorwort die Abfassung des Romans zu rechtfertigen. In Jacobowsky und der Oberst entspricht die Flucht der beiden Titelhelden der Flucht Werfels und seiner Frau Alma aus dem Frankreich nach der deutschen Invasion und in Stern der Ungeborenen wird wiederholt auf seine eigene Exilsituation in Kalifornien verwiesen. Lediglich die Erzählungen Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz und Die blassblaue Frauenschrift enthalten keine autobiographischen Elemente. Sie belegen aber zusätzlich zum Thema ‘Exil’ das antisemitische Potential in der Ersten Österreichischen Republik bzw. den Ausbruch dieses Antisemitismus in Form von offener Gewalt unmittelbar nach dem ‘Anschluss’.
Jörg Thunecke
“Love the words, love the words”:1 Erich Frieds Nachdichtung von Dylan Thomas’ Under Milk Wood (1954) In early 1954 Erich Fried (1921–1988), an Austrian exile, who emigrated to England in 1938, was given the task by the London BBC to translate Dylan Thomas’ radio play Under Milk Wood, a reading of which had taken place in New York shortly before the Welsh poet (1914–1953) died in November 1953, and which was subsequently published simultaneously in both England and the USA in 1954. Fried, who was already an accomplished poet in his own right (Deutschland [1944] and Österreich [1945]), succeeded in translating Under Milk Wood in a week’s time, after which the ‘Hörspiel’ was broadcast in German first by the BBC in spring 1954 in the British Occupation Zone, and later that year by the NWDR in Hamburg. About the same time it was also published in German by the Drei Brücken Verlag (Wiesbaden). For Fried, who later became famous for his translation of most of Shakespeare’s plays, the ‘Nachdichtung’, as he called it, of Thomas’ radio play was a first and established him as a major translator. In Unter dem Milchwald he quite adequately managed to convey the intricate lyrical quality of Thomas’ work, including the Welsh poet’s numerous sexual insinuations, closely maintaining his rhyme patterns and consonant / vowel sequences. Thus, on the whole, Fried was quite successful in conveying the meaning of Thomas’ work to his German listeners and readers. However, due to the immense pressure of time and insufficient knowledge of certain aspects of Thomas’ language – above all his use of ‘Wenglish’ and other Welsh cultural and geographical expressions – Fried’s translation of Under Milk Wood is far from flawless, as can be gleaned from a detailed analysis of his linguistic approach and a lengthy list of faulty renderings. Regardless of all pros and cons: Erich Fried’s translation of Dylan Thomas’ Under Milk Wood offers refreshing new insights into the great Welsh poet’s achievement in his ‘Play for Voices’.
There by the window in the old house Perched on the bluff, overlooking miles of valley, My days of labor closed, sitting out life’s decline, Day by day did I look in my memory, As one who gazes in an enchantress’ crystal globe, And I saw the figures of the past, As if in a pageant glassed by a shining dream,
1
Walford Davies: Einleitung zur ‘Definitive Edition’ von Dylan Thomas: Under Milk Wood. London: Everyman 1996. S. XI–XLVIII. Hier: S. XLVI.
196 Move through the incredible sphere of time. […] Edgar Lee Masters: Spoon River Anthology (1915)2
Einer der ältesten und besten – jedoch wenig bekannten – Beiträge zur Übersetzungstheorie stammt von dem englischen Anglisten F. L. Lucas.3 Gleich eingangs weist dieser darauf hin, dass Übersetzer meist einen schlechten Ruf hätten: ‘translators are traitors’,4 so laute das gängige Urteil. Anschließend führt Lucas aus, dass “[t]ranslation is sometimes a craft, sometimes an art”:5 denn “all handling of words is difficult” und die Tätigkeit eines Übersetzers ähnelt oft einem “croquet-match in Alice [in Wonderland; JT] played with living hedgehogs and flamingoes”.6 Insbesondere hinsichtlich “the translation of works of art […] the traps and pitfalls multiply many-fold [sic].”7 Dementsprechend unterscheidet der Autor zwischen drei Arten von Übersetzung: ‘translation’, ‘paraphrase’ und ‘adaptation’,8 wobei die Hauptgefahren einer jeden Übersetzung “infidelity on the one hand, servility on the other”9 seien. Folglich sollten – so Lucas – für alle Übersetzungen folgende Kriterien gelten: (1) “Translation should be true in meaning – no ideas added, none omitted – so that, ideally, it should be conceivable [Hervorh. im Original] for the translation, if retranslated, to give back the original text.” (2) “It should be true in rhythm, so far as the difference of languages admits.” (3) “A translation should try to be true to the tone, the character, of the original author […].” (4) “A translation should try to be true to the historic atmosphere, the spirit of a period.”10
2 Davies, ebd. S. XXX schreibt: “[…] Thomas greatly admired […] Edgar Lee Master’s Spoon River Anthology (1915). […] Thomas himself chose the book as the subject for a radio feature.” Laut Ralph Maud (Dylan Thomas on Edgar Lee Masters. In: Harper’s Bazaar 30 [Juni 1963], 9, S. 68–69, 115. Hier: S. 115) hat Dylan Thomas bei einer posthumen Lesung der BBC am 23. Januar 1955 von Gedichten aus Masters Spoon River Anthology (New York: Macmillan 1915) dieses Gedicht (‘William H. Herndon’ [S. 198]) allerdings nicht verwendet. 3 F. L. Lucas: Translation. In: Ders.: The Greatest Problem and Other Essays. New York: Macmillan 1961. S. 45–77. 4 Ebd. S. 45: S. das italienische Wortspiel: ‘traduttori’ ⫽ ‘traditori’. 5 Ebd. S. 47. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. S. 54. 9 Ebd. S. 76. 10 Ebd. S. 75.
197 Ferner sollten – so Lucas’ Forderung – Übersetzer klipp und klar darlegen, welcher der drei weiter oben genannten Übersetzungskategorien sie sich verschrieben haben: What I do suggest, however, is simply that every translator, to whatever school he belongs, should always prefix a preface, however brief, stating his own principles in the matter, so that his public can know how strictly, or how freely, he is at least trying to treat his original [and] let them […] say in their prefaces, far more candidly than most of them do, what they are at.11
Erich Fried hat sich wiederholt und ausführlich zu seiner Tätigkeit als Übersetzer geäußert.12 Zwar wurde in der ersten Ausgabe seiner Übertragung von Dylan Thomas’ Hörspiel Under Milk Wood (Unter dem Milchwald) beim Heidelberger Drei Brücken Verlag 195413 sowie in der Neuausgabe in Band V der Suhrkamp-Reihe ‘Spectaculum’ 1962 lediglich der Text abgedruckt,14 und auch im Vorspann von Am frühen Morgen (1957; Quite Early One Morning [1954]) fehlen Angaben zur Übersetzungstätigkeit. Spätestens jedoch in seinem kurzen Vorwort zur Übersetzung von Thomas’ A Prospect of the Sea (1955; Ein Blick aufs Meer [1961]) von August 1960 hat Fried Lucas’ obiger Forderung Rechnung getragen, indem er anmerkte: Viele dieser Geschichten oder Prosagedichte […] gehören zu den eigenwilligsten, stärksten und schönsten englischen Prosadichtungen des Jahrhunderts. Bei der Übersetzung dieser zum Teil auf Klangassoziationen beruhenden Arbeiten waren die gleichen Probleme zu lösen wie bei meinen früheren Thomas-Übersetzungen. Vor allem durfte womöglich die Dichte der Texte nicht verringert werden. Wo sich ein ernsthaftes oder scherzhaftes Wortspiel nicht an Ort und Stelle zwanglos übertragen ließ, dort wurde es an einer möglichst wenig entfernten Textstelle durch ein anderes ersetzt.15 11
Ebd. S. 76–77. Steven W. Lawrie (“Das grosse Turnierfeld auf dem sie sich versuchen”. Erich Fried’s Work for German Radio. In: German Life and Letters NS 51 [1998]. S. 121–146) recherchierte zu diesem Thema, dass Unter dem Milchwald, in Frieds Übersetzung, zuerst im Frühjahr 1954 vom BBC German Service in der britischen Besatzungszone ausgestrahlt, jedoch ein wesentlich größeres Publikum erreichte, als das Hörspiel am 20. September 1954, und erneut am 8. Dezember d. J., vom NWDR (Hamburg) gesendet wurde (ebd. S. 122): “Fried’s rendering of the play”, betont Lawrie, “was enormously popular with the listeners.” (Ebd. S. 123 sowie Anm. 12). 13 Dylan Thomas: Unter dem Milchwald. Ein Spiel für Stimmen. Heidelberg: Drei Brücken Verlag 1954; aus dieser Ausgabe wird – falls nicht anders vermerkt – hier durchgehend zitiert (⫽ UDM plus Seitenzahl). 14 Dylan Thomas: Unter dem Milchwald. Ein Spiel für Stimmen in: Spectaculum V. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962. S. 223–266. 15 Dylan Thomas: Ein Blick aufs Meer. Heidelberg: Drei Brücken Verlag 1961. S. 5. 12
198 Er fügt dann noch hinzu, dass bei der Übertragung von A Prospect of the Sea “auf jeden Versuch einer Eindeutschung oder Transplantation des walisischen Milieus verzichtet [wurde].”16 Richtig zur Sache kam Fried dann erstmalig 1967 in einem dreiseitigen ‘Nachwort des Übersetzers’am Ende der Ausgewählten Gedichte von Thomas. Dort heißt es zunächst, im Zusammenhang mit der ‘Eigenart’von Dylan Thomas’Versen: Das Ineinander von kunstvollem Versbau, Assonanzen, Reimen, Halbreimen und assoziativen Querverbindungen ähnlich klingender Worte hat etwas von Surrealismus und etwas von alten lyrischen und hymnischen Traditionen der engeren walisischen Heimat des Dichters.17
Ferner: Eine solche Technik […] könnte leicht zur bloßen Manier werden. Bei Thomas aber entspringt sie der Erkenntnis, daß sein eigenes Denken und seine Phantasie wirklich mit solchen Querverbindungen arbeiten. So ist das Wortspiel und das besonders charakteristische Kunstmittel, dichterische Bilder und Symbole ineinanderzuschieben wie die Rohre eines Teleskops […], für Dylan Thomas zur Möglichkeit geworden, durch neue, teils analoge Querverbindungen eine Intensitätssteigerung zu erzielen, die nicht darauf aus ist, dem Instrumentarium dichterischer Ausdrucksmittel einige besonders wirksame Kniffe hinzuzufügen, sondern die Intensität und Verzahntheit der eigenen Phantasie durch Entsprechungen in den Worten wiedergeben will.18
Anschließend an diesen kurzen, aber höchst einfühlsamen und einleuchtenden Exkurs über die dichterische Verfahrensweise von Dylan Thomas geht Erich Fried dann auf seine eigene Vorgangsweise bei der Übersetzung derart komplexer literarischer Texte ein. Er schreibt: “Aber gerade die besonderen Vorzüge der Gedichte von Dylan Thomas [und das gilt gleichermaßen für ‘Prosaarbeiten’ wie das Hörspiel Under Milk Wood; JT] machen diese Verse so gut wie unübersetzbar.”19 Er begründet dies anschließend ausführlich: Das Zusammentreffen schlagender Wortspiele mit sorglich erarbeiteten Vers- und Reimformen, die alogischen Querverbindungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Syntax, das alles macht die genaue Wiedergabe in einer anderen Sprache ohne Verarmung des dichterischen Textes fast unmöglich. Ich habe deshalb, ohne mit allzu freien Nachdichtungen’ zu helfen, doch, um die Dichte dieser Verse nicht zu verdünnen, oft von einer philologisch genauen Übersetzung Abstand genommen.20 16
Ebd. Dylan Thomas: Ausgewählte Gedichte. München: Carl Hanser 1967. S. 75–77. Hier: S. 75. 18 Ebd. S. 75–76. 19 Ebd. S. 76. 20 Ebd. 17
199 Nach weiteren detaillierten Ausführungen zur genauen Verfahrensweise vermerkt Fried zudem ausdrücklich, dass er “[d]ie prinzipielle Zustimmung zu diesem Vorgehen noch von ihm [d.h. Dylan Thomas; JT] selbst eingeholt [habe]”.21 Natürlich habe er sich dabei bemüht, “solche Abweichungen auf ein Mindestmaß zu beschränken” und glaube, dadurch “dem Original immer noch wesentlich näher geblieben zu sein, als dies heute bei Lyrikübersetzungen üblich ist”:22 Eine noch wortgetreuere Übersetzung jedoch, die dafür aber auf die dichterische Form verzichtet hätte, wäre nicht nur Dylan Thomas selbst ein Greuel gewesen, sondern der bloße Gedanke einer anspruchsloseren Interlinearversion führt sich bei ihm schon dadurch ad absurdum, daß ihm die assoziativen und klanglichen Querverbindungen nicht minder wichtig waren als die durch Wortfolgen und Syntax gegebenen Zusammenhänge.23
Wenn Fried dann abschließend noch hinzufügt, dass – obwohl er natürlich stets die größtmögliche Annäherung ans Original gesucht habe – “es geradezu in den Versen von Thomas manchmal unvermeidlich [sei], sich scheinbar vom Original zu entfernen”,24 so wird deutlich, dass der Übersetzer hier indirekt Lucas’These beherzigte, sich auf ‘paraphrase’ und ‘adaptation’ zu beschränken, wenn es denn nicht anders ging. Lucas hatte nämlich betont, dass “rendering the music of foreign verse is one of the translator’s hardest problems”25 und zudem, dass “[t]ranslation should faithfully convey, as far as possible, […] not only the meaning, but also the tone and overtones of what he said; even, so far as practicable, the general rhythm of what he said”; andererseits hatte er jedoch hinzugefügt, “it should never interpolate, nor omit, nor distort, nor transpose.”26 In diesem Sinne hätte Erich Fried daher bestimmt auch Lucas’ Klage über die Praxis kontemporärer literarischer Übersetzungstätigkeit unterstrichen, wonach “[t]he two main weaknesses of modern translation [are] disregard for truth and disregard for beauty”.27 Erst zwei Jahrzehnte später, kurz vor seinem Lebensende, hat Erich Fried sich erneut zu Fragen seiner Übersetzungstätigkeit geäußert, am ausführlichsten 21
Ebd.; s. ferner Angelika Heimanns Behauptung (In: “Bless Thee! Thou Art Translated.” Erich Fried als Übersetzer moderner englischsprachiger Lyrik. Amsterdam: Verlag B. R. Grüner 1987. S. 64), es sei zwischen Erich Fried und Dylan Thomas “bezüglich der Übersetzungen zu einem regen Briefwechsel [gekommen]”, entbehrt jeder Grundlage. 22 Dylan Thomas: Ausgewählte Gedichte (Anm. 17). S. 76. 23 Ebd. S. 76f. 24 Ebd. S. 77. 25 Lucas (Anm. 3). S. 70. 26 Ebd. S. 49. 27 Ebd. S. 75.
200 in einem Interview mit Wolfgang Görtschacher im Sommer 1987,28 kürzer in einem Vortrag an der Universität Düsseldorf Anfang 1988. In dem Interview mit Görtschacher am 25. August 1987 in London äußerte sich Fried u. a. detailliert zu seinen Übersetzungen von Shakespeare und Dylan Thomas, wobei hier lediglich auf letztere eingegangen werden kann. Er gab dabei zu verstehen, dass die Übertragung von Under Milk Wood (1954) eine Auftragsarbeit für die BBC gewesen sei und dass er unter großem Zeitdruck habe arbeiten müssen: Dann trat die literarische Abteilung [der BBC; JT] an mich heran und hat gesagt: Wenn du Under Milk Wood in einer Woche übersetzen kannst, dann können wir das aufführen [als Hörspiel; JT]. […] Da habe ich gesagt: Okay, gebt mir die beste Sekretärin. Und dann habe ich übersetzt. Aber später dann natürlich noch ein bißchen korrigiert. Ich hatte viel zu wenig Zeit dazu, und das merkt man auch. Da gibt es an sich viele Übersetzungsfehler drinnen. Aber ich habe doch versucht, auch Wortspiele möglichst sorgfältig wiederzugeben. Wenn ich Wortspiele nicht dort wiedergeben konnte, wo er sie gemacht hatte, dann habe ich versucht, sie möglichst nahe der Stelle in seinem Sinn wiederzugeben, damit der Text nicht verarmt. Also eine nicht philologisch einwandfreie, aber eine dichterisch mögliche Übersetzung.29
Fried wiederholte damit im Prinzip das, was er bereits 1967 im ‘Nachwort’ zu seiner Übertragung der Ausgewählten Gedichte von Dylan Thomas thematisiert hatte (s. o.); auf Einzelheiten, die er zusätzlich erwähnte, wird später noch einzugehen sein, ebenso auf seine obige Feststellung, es wimmele in Unter dem Milchwald von Übersetzungsfehlern. In einem Festvortrag an der Universität Düsseldorf mit dem Titel ‘Übersetzen oder Nachdichten’ vom 26. Januar 1988 hat Fried die meisten von ihm im vorjährigen Interview mit Görtschacher erörterten Themen erneut aufgegriffen, diese allerdings auch in einigen Punkten vertieft.30 So hat er z. B. hinsichtlich der nie endenden Kontroverse, ob man strengen Übersetzungen oder Nachdichtungen den Vorrang einräumen sollte, einmal mehr Lucas Recht gegeben, indem er ausdrücklich hervorhob: “Nachdichten hat oft die größere Ehre gehabt als das bloße Übersetzen, im allgemeinen zu unrecht. Ich glaube, Übersetzer sollten den Ehrgeiz haben, möglichst getreu zu übersetzen.”31 Und in der Zusammenfassung seines Vortrags legte er diesbezüglich noch nach, indem er folgende Faustregel 28
Wolfgang Görtschacher: Nur die Schattenseiten des Dichters. Erich Fried als Übersetzer von Dylan Thomas. In: Österreichische Dichter als Übersetzer. Hg. von Wolfgang Pöckl. Wien: Verlag d. Österreichischen Akademie d. Wissenschaften 1991. S.123–186, das Interview S. 127–155. 29 Ebd. S. 128–129. 30 Erich Fried: Festvortrag: Übersetzen oder Nachdichten? In: Ist Literaturübersetzen lehrbar? Hg. von Fritz Nies et al.. Tübingen: Gunter Narr 1989. S. 29–44. 31 Ebd. S. 29.
201 aufstellte: “Ein Übersetzer sollte versuchen, solange Ziel- und Ausgangssprache verwandt sind, eher zu übersetzen als nachzudichten.”32 Bezüglich Erich Frieds ‘Nachdichtung’ von Dylan Thomas’ Under Milk Wood (1954) – in der späteren Überarbeitung der Druckfassung der Ausgabe beim Drei Brücken Verlag hat er den Ausdruck ‘Nachdichtung’ nachträglich in ‘Übersetzung’ geändert,33 was jedoch in der Hanser-Ausgabe nicht übernommen wurde – ergibt ein detaillierter Vergleich des englischen Originals mit der Übersetzung ins Deutsche, dass streng unterschieden werden muss zwischen gelungenen und misslungenen Stellen. Dabei soll allerdings gleich zu Beginn ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass im Folgenden alles andere als eine ‘denunziatorische’ Übersetzungskritik intendiert wird34 und dass es dem Verfasser fern liegt, Schadenfreude zu zeigen angesichts zahlreicher faux pas, die Fried bei der Übertragung unterlaufen sind. Vielmehr soll im Rahmen der Auflistung derartiger Fehler nach Gründen gesucht werden, warum dem Übersetzer derartige Schnitzer, oft handwerklicher Art – die er, wie bereits oben zitiert, ja pauschal selber zugegeben hat35 – unterlaufen sind. Bei den poetisch gelungenen Übertragungen sollen hier insbesondere Wortspiele und Assoziationsketten, Aufzählungen sowie Anspielungen Erwähnung finden. Auch auf Frieds Versuch, Dylan Thomas’ teils obszöne Sprache einigermaßen wortgetreu wiederzugeben, soll hier im Zusammenhang des Abschnittes über Anspielungen eingegangen werden. Das mit Abstand gelungenste Beispiel für die Übertragung von Wortspielen in Under Milk Wood – Walford Davies spricht von Thomas’ “verbal inventiveness”36 – ist die unheimlich witzige, aber auch sarkastische Abwandlung des in England üblichen Schlusssatzes der offiziellen kirchlichen Trauungszeremonie; denn wo es normalerweise heißen müsste: “[w]ill you take this woman Matti Richards […] [t]o be your lawful[ly] wedded wife”, legt Thomas dem Prediger die Worte: “[t]o be your awful wedded wife”37 in den Mund, eine fast unmögliche Aufgabe für den Übersetzer, die Fried jedoch auf brilliante Weise gelöst hat, indem er übertrug: “heimgeführt als dein entsetzlich angetrautes Eheweib [Hervorh. jew. v. Verf.]” (UDM, 17), statt ‘gesetzlich’. Ähnliches gilt 32
Ebd. S. 44. Vgl. dazu das Titelblatt des korrigierten Exemplars von Unter dem Milchwald (1954) im Nachlass des Dichters (ÖLA, Wien). 34 Vgl. dazu Klaus Reichert: Die Herausforderung des Fremden. Erich Fried als Übersetzer. In: Übersetzen. Hg. von Waltraud Kolb et al.. Wien: Verlag d. Dokumentarstelle f. neuere österreichische Literatur / Literaturhaus Wien 2007. S. 26–35. Hier: S. 26 ( Zirkular Sondernummer 67). 35 Siehe Anm. 29. 36 Davies (Anm. 1). S. XIII. 37 Dylan Thomas: Under Milk Wood. London: J. M. Dent 1954. S. 13; aus dieser Ausgabe wird im Folgenden durchgehend zitiert (⫽ UMW plus Seitenzahl). 33
202 auch für den folgenden Dialog zwischen der ersten, zweiten und dritten Frau in Under Milk Wood: Third Woman: Seen Mrs Butcher Beynon? Second Woman: she said Beynon put dogs in the mincer First Woman: go on, he’s pulling her leg Third Woman: now don’t you dare tell her that, there’s a dear Second Woman: or she’ll think he’s trying to pull it off and eat it [Hervorh. jew. v. Verf.]. (UMW, 45)
Die Unterstellung, die in diesem kurzem Gespräch der Nachbarsfrauen Ausdruck findet, Schlachter Beynon habe immer wieder alle möglichen (Haus-)Tiere durch den Wolf gedreht und der Familie zum Mahl vorgesetzt, lässt sich natürlich nicht wörtlich übertragen, da es dafür im Deutschen kein Gegenstück gibt; nichtsdestoweniger ist es Fried auch hier gelungen, das Problem äußerst elegant zu lösen: Dritte Frau: Habt ihr Frau Metzger Beynon gesehen? Zweite Frau: Sie hat gesagt, Metzger Beynon dreht Hunde durch den Wolf. Erste Frau: Aber wo, er führt sie doch nur an der Nase herum; Dritte Frau: Sagt ihr das ja nicht, sonst ist es aus mit der Freundschaft! Zweite Frau: Oder sie glaubt gar, er will ihr auch noch die Nase abreißen und essen! [Hervorh. jew. v. Verf.]. (UDM, 47–48)
Ein drittes Beispiel dieser Art – obwohl etwas anders gelagert, da hier Dialekt, nämlich das so genannte ‘Wenglisch’ (⫽ Waliser Englisch), eine Rolle spielt – ist der begeisterte Ausruf von Orgel-Morgan, der zum Entsetzen seiner Frau Cherry Owen Tag und Nacht Orgel spielt:38 “Johann Sebastian mighty Bach. Oh, Bach fach.” (UMW, 85) Bei dem Wort ‘fach’ handelt es sich im Walisischen um ein Diminutiv, worauf bereits Douglas Cleverdon in einer Anmerkung zu The Growth of Milk Wood hingewiesen hat: “The Welsh word for ‘little’ (as a term of endearment) is ‘bach’ in the masculine gender, ‘fach’ in the feminine: pronounced as ‘Bach’ .”39 John Edwards hat das neuerdings in seinem Wörterbuch für ‘Wenglish’ dahingehend ergänzt, dass dieser Ausdruck mit ‘lieber Bach’ übersetzt werden sollte: “As in Welsh usage, ‘Jim Bach’ or
38
Orgel-Morgans Besessenheit, die – wie Davies (Anm. 1. S. XXII) zu recht betonte – eine Art von Manie (“eccentricity”) darstellt, die droht in “idiocy” umzuschlagen, weist wohl auf ‘The Town That Was Mad’, eine Vorstufe von Under Milk Wood, zurück. 39 Douglas Cleverdon: The Growth of Milk Wood. New York: New Directions 1969. S. 122, Anm. 2; allerdings hatte Terence Hawkes bereits ein Jahrzehnt früher darauf hingewiesen (Dylan Thomas’s Welsh. In: College English 21 [März 1960]. S. 345–347. Hier: S. 345–346).
203 ‘Mair fach’ are used to mean ‘dear Jim’ or ‘dear Mair.”40 Erich Fried dürften derartige linguistische Feinheiten mit Sicherheit nicht bekannt gewesen sein; trotzdem hat er sich mit einem Kniff aus der Affäre gezogen, indem er – selbst den Binnenreim gewährleistend – übersetzte: “Johannes Bach, hinreißender Bach!41 Ach, Bach, Bach!” (UDW, 86) Er hat seine Vorgangsweise in diesem spezifischen Fall später folgendermaßen erläutert: “Es war außerdem das Problem, wie man das walisische Englisch übersetzt. Es ist ja kein englischer Dialekt sondern eine Hochsprache, die einige walisische Worte in sich aufnimmt. ‘Bach’ und ‘Fach’ zum Beispiel, aber die ein bißchen die Sprachmelodie des Walisischen hat, also das was sie den ‘lilt’42 nennen.”43 Generell hat Erich Fried in seinem Düsseldorfer Festvortrag folgende programmatische Erklärung hinsichtlich seiner Handhabung von Wortspielen abgegeben: Wenn man Wortspiele unbedingt retten möchte, so kann man in einer künstlerischen Übersetzung natürlich auf eigene Gefahr auch frei verfahren. So ist es etwa möglich, um den Text nicht verarmen zu lassen, ein anderes Wortspiel einzufügen, das kurz vor oder nach der problematischen Ursprungsstelle steht und von dem angenommen werden kann, daß es im Sinne des Dichters sei. Darum ist es immer eine Gratwanderung, zu entscheiden, ob man einen Text wirklich verändert oder ob man ihn im Sinne einer Interlinear-Interpretation korrekt wiedergeben will und dabei in Kauf nimmt, daß er dichterisch verarmt.44
Er mag sich hinsichtlich dieser Verfahrensweise zudem von Dylan Thomas selbst bestätigt gefühlt haben; denn als die beiden sich – durch Vermittlung Michael
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John Edwards: ‘Talk Tidy’: The art of speaking Wenglish. Creigiau: Tidyprint Publications 2003; 1985. S. 8. 41 Erich Fried hat hier – sicher absichtlich – sogar noch ein kleines Wortspiel eigener Provenienz eingebaut, indem er beim ‘hinreißenden Bach’ einen ‘reißenden Bach’ insinuierte! 42 Vgl. dazu Lucas (Anm. 3). 43 Görtschacher (Anm. 28). S. 129; vgl. hierzu auch Lucas (Anm. 3. S. 71): “My own prejudice is that in translating lyrics one had better, as a rule, to stick to rhyme – without rhyme it is hard to keep the lilt and swing that are the very life of the lyric form [Hervorh. v. Verf.].” 44 Fried: Festvortrag (Anm. 30). S. 36; s. dazu auch Frieds Statement im Görtschacher-Interview: “Als ich das Wortspiel – nämlich das ‘ernsthafte Wortspiel’, wie ich es nannte – um Kriegsende herum entdeckt habe, habe ich Gedichte geschrieben […], die viel mehr Wortspiele enthielten als meine späteren Gedichte. Obwohl ich nie davon überzeugt war, daß es falsch ist, sie zu machen, habe ich es dann weniger gedrängt gemacht. Und so habe ich auch beim Übersetzen auf das Wortspiel wahrscheinlich in meinen früheren Übersetzungen etwas mehr Wert gelegt als in meinen späteren.” (Görtschacher [Anm. 28]. S. 138)
204 Hamburgers – ein einziges Mal 1953 in Bayswater (London) trafen45 und Fried Thomas zu verstehen gab: “Ich kann nicht jedes Wortspiel wiedergeben. Was ist Ihnen wichtiger: Daß man versucht, dem Text inhaltlich ganz getreu zu folgen, oder daß man die Struktur, die Wortspiele möglichst nahe in ihrem Sinn wiedergibt”, da hat dieser – laut Fried – erwidert, “daß das letztere eine gute Idee wäre. Er würde es auch so machen, wenn er übersetzen könnte.”46 Bei der Übertragung gelungener Assoziationsketten in Under Milk Wood führt kein Weg an einer Passage im Eingangsmonolog von Dylan Thomas’ Hörspiel vorbei, insbesondere da Fried hierauf wiederholt selber hingewiesen hat. Gemeint ist dabei ein Abschnitt in der Exposition, wo die Erste Stimme dem Zuhörer u. a. mitteilt: “[…] the hunched, courters’-and-rabbits’ wood limping invisibly down to the sloeblack, slow, black, crowblack, fishingboatbobbing sea [Hervorh. v. Verf.].” (UMW, 1) Fried ist es in seiner Übersetzung außergewöhnlich gut gelungen, die Assoziationsreihe der ‘o-’ und ‘a-’ Vokale wiederzugeben: “hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen fischerbootschaukelnden See [Hervorh. v. Verf.]” (UDM, 5). Allerdings hat er sich mit dieser Version schwer getan, wie er des Öfteren erläutert hat. Im Düsseldorfer Festvortrag führte er z. B. aus: Ich habe es also versucht und stieß gleich zu Anfang auf eine Stelle, wo es heißt: “down to the sloeblack, slow, black, crowblack fisherboatbobbing sea”. “Slow” bedeutet “langsam”, “sloe” ist “Schlehe”, und ich wollte zuerst die Vokalmusik retten und übersetzen: “hinab zur kohlenschwarzen, dohlenschwarzen, kohlenschwarzen See”. Doch anschließend beschloß ich, dem Inhalt treu zu bleiben und von der “schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen See” zu sprechen. Beim Fischerboot-“bobbing” habe ich die Alliteration nicht hinkriegen können und “fischerboot-schaukelnd” geschrieben. Es kommt beim Übersetzen nämlich auch darauf an, die Assoziationsketten nicht zu zerstören. Man könnte natürlich mit “fischerkahnkenternd” übersetzen, aber das wäre sinnstörend […].47
Ebenfalls bemerkenswert ist Frieds Übersetzung des Traumes von Miss Price, Damenschneiderin und Besitzerin eines Süßwarenladens, über die physischen Eigenschaften ihres Liebhabers, vorgetragen von der Ersten Stimme: her lover, tall as the town clock tower, Samson-syrup-gold-maned, whacking thighed and piping hot, thunderbolt-bass’d and barnacle-breasted, flailing up the cockles with his eyes like blowlamps and scooping low over her lonely loving hotwaterbottled body [Hervorh. v. Verf.]. (UMW, 6) 45
Auch hier entbehrt Heimanns Behauptung, Fried habe Thomas “beim BBC in London kennen gelernt” (Anm. 21. S. 64), jeder Grundlage. 46 Görtschacher (Anm. 28). S. 137. 47 Fried: Festvortrag (Anm. 30). S. 31; im Interview mit Wolfgang Görtschacher (Anm. 28. S. 129) war er auf diese Passage ebenfalls eingegangen, allerdings weniger ausführlich.
205 In der Friedschen Übertragung heißt das: ihrem Herzallerliebsten, der aufragt, stattlich wie der Stadtglockenturm, mit Simsons sirupgoldener Mähne, gewaltigen Lenden und siedeheiß; mit Donnerkeilbaß und muschelbewachsener Brust, mit Augen wie Lötlampen peitscht er die Herzmuskeln auf und schwebt nieder und streicht dicht über ihren einsam liegenden, wärmflascheliebenden Leib […] [Hervorh. v. Verf.]. (UDM, 10)
Ferner seien im Folgenden vier weitere Beispiele angeführt, wo es Fried gelungen ist, Konsonantenassoziationen der Vorgabe erfolgreich wiederzugeben, was sicher nicht immer leicht war (Hervorh. jew. v. Verf.): Listen. It is night in the chill, squat chapel, hymning in bonnet and brooch and bombazine black, butterfly choker and bootlace bow […]. (UMW, 2) Horch. Es ist Nacht im kalten vierschrötigen Bethaus. Sie singt ihre Hymnen in Haube und Brosche, in Bombasinschwarz, mit Schmetterlingsbinde und Schnürsenkelschleife […]. (UDM, 6) herring gulls heckling down to the harbour (UMW, 50) Heringsmöven, die hinunter zum Hafen kreischen […]. (UDM, 52) The sunny slow lulling afternoon yawns and moons through the dozy town. The sea lolls, laps and idles in, with fishes sleeping in its lap. (UMW, 66) Der sonnige, langsam lullende Nachmittag geht gähnend durch die nickende Stadt. Die See leckt und läppert und flutet träge mit schlafenden Fischen in ihrem Schoß. (UDM, 68)
Auch bei der Übertragung der von Dylan Thomas sehr häufig als Stilmittel eingesetzten Auflistungen von Gegenständen jedweder Art48 zwecks Charakterisierung verschiedener Protagonisten hat sich Erich Fried hervorgetan. Derek Stanford hatte bereits in den 50er Jahren ausdrücklich auf dieses Kunstmittel hingewiesen, indem er ausführte, dass der Anreiz von Under Milk Wood u. a “the charm of accumulation – the recital of an inventory of objects”49 sei; und Angelika Heimann hat in ihrer Arbeit über Erich Fried als Übersetzer ebenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass das “herausragend charakteristische[s] Stilmittel Dylan Thomas’ […] die Anhäufung von Worten” sei.50 Ein gutes Beispiel dafür, was ein anderer Kritiker Dylan Thomas’ als dessen “eye
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Beispiele hierfür lassen sich bereits in der Titelgeschichte von Quite Early One Morning, einer Sammlung von Rundfunksendungen von Dylan Thomas (London: J. M. Dent 1954. S. 16–17), einer Frühform von Under Milk Wood, nachweisen. 49 Derek Stanford: Dylan Thomas. New York: Citadel Press 1954. S. 184. 50 Heimann (Anm. 21). S. 67.
206 for detail”51 bezeichnete, findet man schon ziemlich am Anfang des Hörspiels, als der erste Erzähler über die Bewohner der fiktiven walisischen Kleinstadt Llaregyb – Fried benutzt übrigens in seiner Übersetzung durchgehend den Namen Llareggub, ein Palindrom, wovon später noch die Rede sein wird – berichtet: Hush, the babies are sleeping, the farmers, the fishers, the trademen and pensioners, cobbler, schoolteacher, postman and publican, the undertaker and the fancy woman, drunkard, dressmaker, preacher, policeman, the webfoot cocklewomen and the tidy wives [Hervorh. v. Verf.]. (UMW, 1)
Mit anderen Worten, fast alle Personen des Hörspiels werden hier bereits indirekt vorgestellt. Erich Fried hat bei der Übersetzung dieser Passage zudem einmal mehr genau auf die Alliterationen in der Vorgabe geachtet und ist diesen – allerdings ‘versetzt’, wie oben angedeutet – durchaus gerecht geworden: Sst! Die Babies schlafen, die Bauern, die Fischer, die Händler und Rentner, der Schuster, Schullehrer, Schankwirt und Briefträger, der Leichenbestatter und das leichte Weib, Säufer und Schneider, Pfarrer und Polizist, die schwimmfüßigen Muschelweiber und reinlichen Hausfrauen. (UDM, 5)
Entsprechend wird in Thomas’ Hörspiel versucht, durch das örtlich angeschwemmte Strandgut indirekt ein Bild von der am Meer gelegenen walisischen Kleinstadt zu zeichnen: titbits and topsyturvies, bobs and buttontops, bags and bones, ash and rind and dandruff and nailparings, saliva and snowflakes and moulted feathers of dreams, the wrecks and sprats and shells and fishbones, whale-juice and moonshine and small salt fry dished up by the hidden sea. (UMW, 20)
Fried ist dieser Vielfalt angelandeter Objekte durchaus gerecht geworden (und hat auch hier versucht, den Alliterationen des Originals – erneut ‘versetzt’ – gerecht zu werden): Leckerbissen und Kuddelmuddel, Kringel und Knöpfe, Gepäck und Gebein, Asche, Schorf, Schuppen und abgeschnittenen Nägeln, Speichel und Schneeflocken und gemauserte Federn von Träumen, die Wracke und Sprotten und Muscheln und Fischgräten, Walfischtran und Mondschein und salzige Kleinfische, ausgeworfen und aufgetischt von der verborgenen See. (UDM, 23)
An zwei anderen Stellen macht der Kurzwarenhändler Mog Edwards seiner Phantomgeliebten Miss Price – wie jeden Tag – in einem Brief Liebeserklärungen,
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Jacob Korg: Dylan Thomas. New York: Twayne 1992. S. 141.
207 in denen die Aufzählung seiner einschlägigen Handelswaren in nicht geringem Maße dazu beiträgt, dem Hörer ein Bild des Ladenbesitzers (⫽ Manchester House) zu vermitteln: I am a draper mad with love. I love you more than all the flannelette and calico, candlewick, dimity, crash and merino, tussore, cretonne, crepon, muslin, poplin, ticking and twill in the whole Cloth Hall of the world [Hervorh. v. Verf.]. (UMW, 6–7)
was in Frieds Übertragung so lautet (Alliterationen erneut ‘versetzt’wiedergegeben, teils auch mittels Ablauten): Ein Tuchhändler bin ich, und liebestoll! Ich liebe dich mehr als alles Flanell und Kaliko, Steppfutter, Barchent, Drell, Merino, Rohseide, Kretonne, Krepp, Musselin, Popelin, Drilch und Zwilch [sic] in der ganzen Tuchmarkthalle der Welt [Hervorh. v. Verf.]. (UDM, 10)
An anderer Stelle heißt es bei Thomas über das Geschäft derselben Person: From Manchester House, Llaregyb. Sole Prop: Mr Mog Edwards late of Twll, Linendraper, Haberdasher, Master Tailor, Costumier. For West End Negligee, Lingerie, Teagowns, Evening Dress, Trousseaux, Layettes. Also Ready to Wear for All Occasions. Economical Outfitting for Agricultural Employment Our Speciality, Wardrobes Bought. (UMW, 49)
Frieds Übersetzung spiegelt diese Vielfalt eines damaligen kleinstädtischen Kurzwarengeschäfts um die Mitte des 20. Jahrhunderts, deren Existenz uns heute abhanden gekommen ist, durchaus adäquat wider: Von Manchesterhaus, Llareggub. Alleiniger Besitzer Mr. Mog Edwards (vormals in Twll), Leinen- und Schnittwarenhändler, Herrenschneider, Kostümier. Feines Negligé, Unterwäsche, Nachmittags- und Abendkleider, Brautausstattungen, Windeln und Babywäsche. Fertigkleidung für alle Anlässe. Billige Ausstattung für landwirtschaftliche Arbeiten unsere Spezialität. Ankauf gebrauchter Kleidung. (UDM, 51)
Um die Mitte des Hörspiels, um ein weiteres Beispiel zu zitieren, teilt der örtliche Postbote Willy Nilly – der, gemeinsam mit seiner Frau, sämtliche Briefe und Pakete öffnet und somit deren Inhalt bereits vor der Zustellung kennt – Mr. Edwards Einzelheiten von Miss Price Geschäftsablauf mit: Miss Price loves you with all her heart. Smelling of lavender to-day. She’s down to the last elderflower wine but the quince jam’s bearing up and she’s knitting roses on the doilies. Last week she sold three jars of boiled sweets, pound of humbugs, half a box of jellybabies and six coloured photos of Llareggub. Yours for ever. Then twenty-one X’s. (UMW, 41)
208 wobei diese Anhäufung von Süßigkeiten aller Art, wie in Mr. Edwards’ Fall, auch hier einen wunderbaren Einblick in den Charakter derjenigen Frau bietet, die diesen Laden führt. Bei Erich Fried heißt das entsprechend: Miß Price liebt Sie von ganzem Herzen. Heut riecht er [der Brief; JT52] nach Lavendel. Der Holunderwein ist beinahe zu Ende, aber die Quittenmarmelade wird gut, und sie stickt Rosen auf die kleinen Deckchen. Vorige Woche hat sie verkauft: drei Büchsen saure Drops, ein Pfund Malzzucker, eine halbe Schachtel Gummibonbons und sechs farbige Photos von Llareggub. (UDM, 43–44)
Ganz ähnlich verfährt Thomas bei der Beschreibung von Mrs. Orgel-Morgan, deren Tante- Emma-Laden ein Spiegelbild ist von der Frau, die ihn führt: […] in Mrs Organ Morgan’s general shop where everything is sold: custard, buckets, henna, rat-traps, shrimp-nets, sugar, stamps, confetti, paraffin, hatchets, whistles. (UMW, 44)
Erich Fried folgte seiner Vorlage einmal mehr sehr genau: Mrs. Orgel-Morgens Kramladen, der alles führt, Vanillesoße, Eimer, Henna, Rattenfallen, Garnelennetze, Zucker, Briefmarken, Konfetti, Paraffin, Äxte, Pfeifen. (UDM, 46–47)
Schließlich entwirft eine derartige Anhäufung von Gegenständen – um noch ein letztes Beispiel von Dylan Thomas’ Vorgangsweise bei der Personencharakterisierung in Under Milk Wood anzuführen – ein einzigartiges Bild von den Jugendlichen, die ja in diesem Hörspiel eine fast ebenso wichtige Rolle wie die Erwachsenen spielen; denn die von ihnen konsumierten Süßigkeiten erlauben einen Einblick in die von Thomas anvisierte Kinderwelt, die keine direkte Personbeschreibung besser hätte leisten können: […] gobstoppers big as wens that rainbow as you suck, brandyballs, winegums, hundreds and thousands, liquorice sweet as sick, nougat to tug and ribbon out like another red rubbery tongue, gum to glue in girls’ curls, crimson coughdrops to spit blood, ice-cream cornets, dandelion-and-burdock raspberry and cherryade, pop goes the weasel and the wind. (UMW, 60)
Gerade hierbei handelt es sich aber gleichzeitig auch um eine Passage in Dylan Thomas’ Hörspiel, die höchste Anforderungen an den Übersetzer stellte: er benötigte nämlich nicht nur Kenntnisse vom kindlichen Naschwerk der Engländer, was für jemanden, der nicht im Lande aufgewachsen ist, durchaus nicht selbstverständlich war, sondern er musste zudem mit den deutschen Äquivalenten vertraut sein. Fried ist es – wie die folgende Übersetzung zeigt – in fast 52
Ob hier jedoch wirklich der Brief gemeint ist und nicht die Briefschreiberin selber, ist nicht mit absoluter Sicherheit zu bestimmen!
209 allen Fällen gelungen,53 dieses Problem zufriedenstellend zu lösen, wobei ihm vielleicht auch seine englische Sekretärin zu Hilfe gekommen sein mag: […] Lutschkugeln groß wie Beulen zu kaufen, die in allen Regenbogenfarben leuchten, wenn man leckt, und Likörkugeln, Weinbonbons, hundert und tausende, Lakritzenstangen, so süß, daß dir schlecht wird, Nougat, das man dehnen kann, in Streifen wie eine zweite roten Zunge aus Kautschuk, Kaugummi, der klebt gut in Mädchenlocken, hochrote Hustenpastillen, um Blut zu spucken, Eistüten, Löwenzahn- und Klettensaft, damit das Geld alle wird, Zitronenlimonade, Kirschen- und Himbeerbrause, und Sodawasserknall und Schaum und Wind. (UDM, 62)
Anspielungen jedweder Art im Ausgangstext stellen besondere Herausforderungen an einen Übersetzer; denn nicht nur müssen versteckte Andeutungen in erster Instanz als solche erkannt werden, sondern sie müssen – was zumindest ebenso schwierig ist – angemessen übertragen werden, so dass dem Leser des Zieltextes ebenfalls die Möglichkeit geboten wird, derartige Hinweise zu erkennen, sie einzuordnen in den Kontext und die verborgene Botschaft zu eruieren. Dylan Thomas war bekannt für seine gewagte, teils frivole, teils sogar obszöne Darstellung sexueller Details, wofür Under Milk Wood serienweise markante Beispiele liefert. Terence Hawkes hat bereits vor einem halben Jahrhundert darauf hingewiesen, dass des Dichters Walisisch “usually bawdy” (d. h. vulgär) sei, aber abschwächend hinzugefügt: “As such, it is usually subtly humorous too, enabling Thomas both to get away with a vulgarity that would be intolerable these days in English […].”54 Schon der Titel des Hörspiels deutet versteckt auf diese Tatsache; denn ‘Milch’ – insbesondere Muttermilch für Babies (Polly Garter) – ist ein Symbol für ‘Unschuld’ wie Laurence Lerners Stichwort ‘Sex in Arcadia’ dargetan hat,55 wohingegen ‘Wald’56 – d. h. genau 53
Siehe dazu einschränkend Anm. 116 bezüglich der letzten Passage: “Sodawasserknall und Schaum und Wind”. 54 Hawkes (Anm. 39). S. 346; auch in dieser Hinsicht liefert die ‘live recording’ der Lesung vom Mai 1954 in New York einen wichtigen Fingerzeig; denn das jeweilige Gelächter des Publikums lässt gut erkennen, welche Anspielungen – auch sexueller Art – angekommen sind und als lustig empfunden wurden. 55 Laurence Lerner: Sex in Arcadia: “Under Milk Wood”. In: Dylan Thomas. New Critical Essays. Hg. von Walford Davies. London: J. M. Dent 1972. S. 262–282. Hier: insbes. S. 269–276; Davies führt ferner aus (Anm. 1. S. XXXVI), dass sich einem von Dylan Thomas’ Notizblättern zu Under Milk Wood (die sich heute im Henry Ransom Humanities Research Center der Univerity of Texas [Austin] befinden) entnehmen lässt, dass das Hörspiel einerseits als “a comic paradise” geplant war, Llareggub andererseits aber durchaus kein utopischer Ort sein sollte (ebd. S. XXXVIII). 56 Siehe dazu auch die folgende Passage bei Thomas: “[…] this place of love” (UMW, 76), die Fried meines Erachtens nicht ganz glücklich mit “dieser Ortschaft der Liebe” (UDM, 78) übertragen hat.
210 genommen die einzelnen Bäume (⫽ phallische Symbole)57 – für ‘Erfahrung’ (insbesondere sexuelle) steht, im Sinne von Thomas’ Lieblingsdichter William Blake58 und dessen Songs of Innocence and Experience,59 namentlich in dem berühmten Gedicht ‘The Clod and the Pebble’. Sune Jørgensen hat es richtig getroffen, als er Llareggub mit einer Stadt verglich, “[that] presents the paradox of innocence and sexuality.”60 Trotz ursprünglich widersprüchlicher Konzeptionen wurde aus Under Milk Wood letztendlich nämlich doch eine Art von Utopie, “an Eden, an Arcadia, a sexual and satiric one,” allerdings – wie Walford Davies betonte – “with a moral force that does not depend on having its air of fun and unreality darkly sabotaged.”61 In der Ära um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts, d. h. während des Zeitabschnitts als Under Milk Wood entstand, herrschten – zumindest offiziell – noch gänzlich andere moralische Vorstellungen: Prüderie war – im Gegensatz zu heute – weit verbreitet, und es darf deshalb nicht verwundern, dass Thomas’ “innocent voyeurism”62 damals viele Leute konsternierte und sich einerseits der Londoner J. M. Dent Verlag zunächst weigerte, Under Milk Wood zu publizieren, bis Chairman Martin Dent ein Machtwort sprach,63 andererseits die BBC zögerte, Thomas’ Hörspiel zu übertragen, bis auch dort an höchster Stelle positiv darüber entschieden wurde.64 Douglas Cleverdon weiß über die Umstände der ersten Sendung bei der BBC folgendes zu berichten: It was highly probable, in the climate of 1954, that Under Milk Wood would upset a number of listeners and expose the Third Programme to sanctimonious attack from the Press. I had a telephone call myself from a national newspaper, enquiring whether the children singing the songs would be in the studio during the rehearsals; with the clear implication that innocent children should not be exposed to the immoral influences of Llareggub.65 57
Diesen Hinweis verdanke ich Sune Jørgensen: Dichotomies Reconciled. The Work of Dylan Thomas. Odense: Syddansk University, Center for Engelsk 2003. S. 78; allerdings ist dessen Behauptung (S. 77, Anm. 87), Under Milk Wood sei Freudianisch zu interpretieren, mit Vorsicht zu geniessen (vgl. dazu auch Dylan Thomas’ ‘Poetic Manifesto’ [s. Anm. 58], S. 49–50). 58 Vgl. hierzu Dylan Thomas’ so genanntes ‘Poetic Manifesto’ aus dem Jahre 1951, abgedruckt und mit einer kurzen Einleitung von Richard Jones versehen in: The Texas Quarterly 10 (1961). S. 44–53. Hier: S. 47, wo der Autor von “incomparable and inimitable masters like Blake” spricht. 59 Ebd. S. 48. 60 Jørgensen (Anm. 57). S. 85. 61 Davies (Anm. 1). S. XXXIX. 62 Ebd. S. XXVII. 63 Andrew Lycett: Dylan Thomas. A New Life. London: Weidenfeld & Nicolson 2003. S. 355–356. 64 Cleverdon (Anm. 39). S. 42–43. 65 Ebd. S. 43; Fitzgibbon merkt seinerseits an, dass “[n]othing endears a writer to English high-brows more than a charge of obscenity.” (Constantine Fitzgibbon: The Life of Dylan Thomas. Boston – Toronto: Little, Brown & Co.21965, S. 115.)
211 Trotzdem – nachdem einige kleinere Kürzungen vorgenommen worden waren (“two tits and a bum”66) – erfolgte die Sendung am 25. Januar 1954 und erregte derartige Begeisterung, dass – laut Cleverdon – “no voices of protest could be heard”,67 obwohl das Stück in Wales selbst zunächst verpönt war und erst im Zuge einer Bühnendarbietung anlässlich des Edinburgh Festivals im August 195668 auch in Swansea und Cardiff zur Aufführung gelangte,69 um dann seinen Siegeszug rund um die Welt anzutreten (vgl. dazu die erste deutsche Aufführung 1957/58 am Berliner Schiller-Theater unter der Intendantur von Boleslaw Barlog, wobei als Textvorlage Erich Frieds ‘Nachdichtung’ verwendet wurde).70 Dylan Thomas’ sprachliche Wiedergabe leicht anrüchiger und insbesondere sexueller Vorgänge würde man heute als ‘schlüpfrig’ bezeichnen, ohne ihnen besonders negative Züge zuzuweisen. In den meisten Fällen war das Gemeinte sowieso durchsichtig genug, wozu man die bereits oben zitierte Stelle über die physischen Vorzüge von Miss Prices Liebhaber zum Vergleich heranziehe bzw. die sehr unverhohlene Beschreibung von Mrs. Dai Brot Zwei: Me, Mrs Dai Bread Two, gypsied to kill in a silky scarlet petticoat above my knees, dirty pretty knees, see my body through my petticoat brown as a berry, high-heel shoes with one heel missing, tortoiseshell comb in my bright black slinky hair, nothing else at all but a dab of scent, lolling gaudy at the doorway […]. (UMW, 30) Und mich, Mrs. Dai Brot Zwei, zigeunermäßig geputzt, unwiderstehlich im seidigen scharlachroten Unterrock, der die Knie freiläßt; schmuddelige, hübsche Knie; seht ihr mich, durch meinen Unterrock, braun wie eine Beere?! Schuhe mit hohen Absätzen, und der eine Absatz fehlt,71 Schildpattkamm in meinem glänzend schwarzen, strähligen [sic] Haar, und sonst gar nichts an, nur einen Tropfen Parfüm, und ich räkle mich geputzt in der Haustür […]. (UDM, 32–33)
Oder, um ein weiteres Beispiel dieser Art von leicht durchschaubarer Sexualität zu zitieren: Jack Black prepares once more to meet his Satan in the Wood. He grinds his night-teeth, closes his eyes, climbs into his religious trousers, their flies sewn up with cobbler’s thread, and pads out, torched and bibled, grimly, joyfully, into the already sinning dusk. (UMW, 69)
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Cleverdon (Anm. 39). S. 43. Ebd. S. 45. 68 Vgl. dazu Kenneth Tynan: Welsh Wizzardry. In: The Observer 26. August 1956, S. 10. 69 Ebd. S. 47–48. 70 Vgl. Programmheft 61 des Schiller-Theaters (Berlin-Charlottenburg); in dieser Aufführung wurden übrigens die beiden separaten Stimmen in der Person eines Erzählers zusammengefasst. 71 Siehe dazu auch Jack Blacks Kommentar: “There is no leg belonging to this foot that belongs to this shoe” (UMW, 48), was bei Fried – übrigens unter Beibehaltung der Wiederholung des Verbs! – heißt: “Zum Fuß, der zu diesem Schuh gehört, gehört kein Frauenbein!” (UDM, 50) 67
212 Jack Black, der Schuster, bereitet sich abermals darauf vor, im Wald seinem Satan zu begegnen. Er schärft seine Nachtzähne, schließt seine Augen, steigt in seine frommen Hosen, deren Schlitz mit Schustergarn fest vernäht ist, und stapft hinaus, mit Fackel und Bibel bewehrt, grimmig und freudig in die Dunkelheit, die schon zu sündigen begonnen hat. (UDM, 80–81)
Erich Fried hatte scheinbar relativ geringe Probleme, obige Passagen überzeugend zu übersetzen.72 Jedoch sind bei weitem nicht alle sexuellen Anspielungen in Under Milk Wood dermaßen leicht zu erkennen bzw. zu deuten. Als ein erstes Beispiel solcher eher versteckter Hinweise betrachte man etwa folgende Szene: In Butcher Beynon’s, Gossamer Beynon, daughter, school teacher, dreaming deep, daintily ferrets under a fluttering hummock of chicken’s feathers in a slaughterhouse that has chintz curtains and a three-pieced suite, and finds, with no surprise, a small rough ready man with a bushy tail winking in a paper carrier. […] At last, my love, sighs Gossamer Beynon. […] And the bushy tail wags rude and ginger. (UMW, 16) Bei Metzger Beynon liegt tief im Traum die Tochter, Gossamer Beynon, Schullehrin, räkelt sich zierlich unter einem flatternden Federbett aus Hühnerfedern, in einem Schlachthaus, das Zitzvorhänge hat und eine dreiteilige Garnitur und findet ohne zu staunen in einer Papiertüte einen kleinen fix und fertigen Mann mit buschigem Schweif, der ihr zuzwinkert. […] Endlich Geliebter, […] seufzt Gossamer Beynon. Und der buschige Schweif wedelt derb und fuchsrot. (UDM, 19–20)
Hier werden andeutungsweise die sexuellen Träume und Wunschvorstellungen von Gossamer Beynon – ‘gossamer’ bedeutet hier übrigens soviel wie ‘Jungfernhäutchen’, was Fried scheinbar nicht erkannt hat – dargelegt, wobei der – wie Fried übersetzt – ‘buschige’, ‘fuchsrote’ Schweif des erträumten Mannes zweifelsohne als Phallus zu verstehen ist. Und da schon einmal die Rede von Gossamer Beynon und ihrer verdrängten Sexualität ist, hier ein weiteres Beispiel: Gossamer Beynon high-heels out of school. The sun hums down through the cotton flowers of her dress into the bell of her heart and buzzes in the honey there and couches and kisses, lazy-loving and boozed, In her redberried breast. Eyes run from the trees and windows of the street, steaming ‘Gossamer,’ and strip her to the nipples and the bees. She blazes naked past the Sailors Arms, the only woman on the DaiAdamed earth.73 Sinbad Sailors places on her thighs still dewdamp from the first mangrowing cock-crow garden his reverent goat-bearded hands. […] I don’t care If 72
Siehe dazu auch: “And Mr Waldo, who is thinking of a woman soft as Eve and sharp as sciatica to share his bread-pudding bed […]” (UMW, 55), was in Frieds Übersetzung heißt: “Und Mr. Waldo, der sich eine Frau vorstellt, sanft wie Eva und scharf wie Ischias, die sein Brotpuddingbett mit ihm teilen soll […].” (UDM, 58) 73 Es handelt sich hierbei wohl um ein komplexes Wortspiel: mit einerseits Anspielung auf ‘diademed’ ⫽ ‘gekrönt’ (vgl. Grooms [wie Anm. 99]), andererseits auf Adam und Eva sowie letztendlich wohl sogar auf den Erfinder des Asphalts, John McAdam (1756–1836).
213 he is common, […] I want to gobble him up. I don’t care if he does drop his aitches, […] she tells the stripped and mother-of-the-world big-beamed and Eve-hipped spring of her self, […] so long as he’s all cucumber and hooves. […] Sinbad Sailors watches her go by, demure and proud and schoolmam in her crisp flower dress and sun-defying hat, with never a look or lilt or wriggle, the butcher’s unmelting icemaiden daughter veiled for ever from the hungry hug of his eyes. […] Oh, beautiful beautiful Gossamer B, I wish I wish that you were for me. I wish you were not so educated. [sighs Sinbad Sailors; JT] […] She feels his goatbeard tickle her in the middle of the world like a tuft of wiry fire, and she turns in a terror of delight away from his whips and whiskery conflagration […]. (UMW, 60–61) Gossamer Beynon stelzt hoch zu Absatz zur Schule hinaus. Die Sonne summt nieder, durch die Baumwollblumen auf ihrem Kleid schnurstracks in ihre Herzglocke, und summt im Honig dort drinnen und küßt und schmiegt sich träg liebend und trunken in ihre Brust mit den roten Beeren. Augen laufen von den Bäumen und Straßenfenstern, in deren heißem Hauch das Wort ‘Gossamer’ steht, und ziehen sie aus bis auf die Beeren und Bienen. Sie lodert nackt vorbei an der Seefahrerschenke, die einzige Frau auf dem Adamsapfel des Erdballs. Sinbad Seefahrer legt seine andächtig ziegenbärtigen Hände74 auf ihre Lenden, die immer noch taufeucht sind vom ersten Hahnenschreigarten, wo Manna und Männertreu wachsen. […] Und wenn er auch gewöhnlich ist, das macht mir gar nichts aus! […] Ich will ihn auffressen, mit Stumpf und Stiel! Und wenn er auch Dialekt spricht. […] sagt sie zum weltmutter-splitternackten, starkknochig evahüftigen Springbrunnen ihres Ich […] solange er nur ganz aus Gurke und Hufen besteht! […] Sinbad Seefahrer sieht sie vorbeigehen, sittsam und stolz und ganz Lehrerin, in ihrem gestärkten geblümten Kleid, im Schatten ihres Hutes, und ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen oder sich zu wiegen und zu schlenkern, des Metzgers nie schmelzende Eisjungfrautochter, auf immer verschleiert vor der hungrigen Umarmung seiner Augen. […] Oh, schöne, schöne Gossamer Be, / ich wollte, ich wollte, ich hätt’ dich zur Eh. / Ich wollte, du wärst nicht so studiert! [seufzt Sinbad Seefahrer; JT] […] Sie fühlt, wie sein Geißbockbart sie in der Mitte der Welt kitzelt wie eine Strähne von drahtigem Feuer, und sie wendet sich wonneschauernd ab von seinem Geißbart und den Geißeln seiner feurigen Brunst […]. (UDM, 63–64)
Hier sind wesentlich verborgenere und sprachlich weitaus raffiniertere sexuelle Andeutungen eingeflossen. Zwar ist der allgemeine Kontext deutlich genug, sowohl seitens der zahlreichen Männer – und insbesondere Sinbad Seefahrer –, die die sexuell verklemmte junge Frau im Vorbeigehen quasi im Geiste entkleiden, bis sie nackt dasteht; und auch Ausdrücke wie ‘Gurke’ bzw. einen Mann mit ‘Stumpf und Stiel’ verschlingen, sollten eigentlich kein Problem darstellen (Fried konnte also die phallischen Symbole getrost wörtlich übertragen). An einer Stelle dieser Passage jedoch ist Vorsicht geboten, wenn es nämlich im Original heißt: “Sinbad Sailors places on her thighs still dewdamp from the first mangrowing cock-crow garden his reverent goat-bearded hands [Hervorh. v. Verf.]”; denn die Bedeutung von “mangrowing cock- / crow garden” – insbesondere so, wie es in den beiden Erstausgaben des Textes gedruckt wurde (s.o.) – ist durchaus nicht auf den ersten Blick ersichtlich und 74
Vgl. dazu die sexuellen Abenteuer des griechischen Hirtengottes Pan.
214 bedarf genaueren Hinschauens, um zu erkennen, dass Thomas hier nicht einfach den morgendlichen Hahnenschrei im Garten gemeint hatte, sondern dass er vielmehr auf das anschwellende männliche Glied und die ziegenbärtigen Hände des Hirtengottes Pan abzielte! Ich bin mir hier durchaus nicht sicher, ob Erich Fried dieses ‘word-play’ durchschaut hat; die Pflanzennamen “Manna und Männertreu” lassen diesbezüglich zumindest Zweifel aufkommen, und sollte er damit wirklich sexuelle Andeutungen verbunden haben, so scheinen sie mir nicht besonders glücklich gewählt! Undurchsichtig sind auf den ersten Blick auch die Anspielungen von Kapitän Cat gegenüber Rosie Probert, seiner längst verstorbenen Geliebten: I’ll tell you no lies. The only sea I saw Was the seesaw sea With you riding on it. Lie down, lie easy. Let me shipwreck in your thighs [Hervorh. v. Verf.]. (UMW, 70)
In diesem Fall hat Fried Dylan Thomas’ sexuelle Andeutungen jedoch durchaus durchschaut, und es ist ihm – wie bereits im oben zitierten Beispiel der Heiratszeremonie – auf beeindruckende Weise gelungen, das überaus schwierige Wortspiel nicht nur zu übertragen, sondern – so meine ich – es sogar noch zu verbessern! Ich will dich nicht belügen, ich sah nur ein Meer; das Immermehr, und du reitest die Wogen! Leg dich nieder, laß mich landen, laß mich scheitern in deinen Lenden [Hervorh. im Original]. (UDM, 72)
Denn das Wortspiel von ‘Meer’ und ‘mehr’, kombiniert mit ‘immer’, um einerseits der ‘Wippe’ des englischen Originals, andererseits dem sexuellen Akt des Beischlafes Ausdruck zu verleihen, ist ein Geniestreich, der nur einem Wortkünstler wie Fried gelingen konnte. Erich Fried ist es also bei seiner Übertragung von Under Milk Wood in den meisten – aber nicht allen – Fällen gelungen, Anspielungen, von denen es in Dylan Thomas’ Hörspiel nur so wimmelt, adäquat zu übertragen.75 Nicht alle 75
So fragt man sich z. B. auch, ob Fried die schelmische Anspielung der folgenden Passage voll verstanden hat: “P.C. Attila Rees lumps out of bed, dead to the dark and still foghorning, and drags out his helmet from under the bed; but deep in the backyard lock-up of his sleep a mean voice murmurs […] You’ll be sorry for this in the morning” (UMW, 18); denn die Übersetzung von “backyard lock-up” mit “Verschlag im Hinterhof ” (21) lässt offen, ob Fried effektiv begriffen hat, dass der Wachtmeister seinen Helm als Nachtgeschirr benutzte, statt das Klo im Hinterhof aufzusuchen.
215 Beispiele waren schließlich so komplex wie die beiden eben zitierten; so wenn es etwa von Miss Myfanwy Price heißt, sie sei “cocky and neat as a puffbosomed robin and her small round buttocks tight as ticks […]” (UMW, 60), was von Fried wortgetreu im Bild eines Frauenzimmers nachgezeichnet wurde, das “sich geputzt brüstet wie ein aufgeplustertes Rotkehlchen, mit kleinen runden Hinterbacken prall wie Zecken […].” (UDM, 62) Oder, um noch ein weiteres Beispiel solch eher durchsichtiger sexueller Anspielungen zu nennen, sei Mr. Waldos Lied76 über sein Vorleben als Schornsteinfegerlehrling zitiert: I wept through Pembroke City Poor and barefoot in the snow Till a kind young woman took pity. Poor little chimbley sweep she said Black as the ace of spades O nobody’s swept my chimbley Since my husband went his ways. Come and sweep my chimbley Come and sweep my chimbley She sighed to me with a blush Come and sweep my chimbley Come and sweep my chimbley Bring along your chimbley brush! (UMW, 83)
Was Fried folgendermaßen übersetzte: “Feg, Schornsteinfeger, feg!” So weint’ ich zu Pembroke, der Stadt, barfuß im Schnee, bis ’ne junge Frau sich meiner erbarmt hat. “Armer kleiner Schornsteinfeger, du, du bist schwarz wie’s Pik-As” sie sprach, “seit mein Mann von mir fort ist, sieht keiner meinen Schornstein nach. Komm und feg meinen Schornstein! Komm und feg meinen Schornstein!” So seufzte sie und ward rot. “Komm und feg meinen Schornstein! Komm und feg meinen Schornstein! Dein Besen, der tut mir not!” (UDM, 84–85)
Und ähnliches gilt für folgende Passage, wo Mrs. Roses älteste Tochter, Mae Rose Cottage, ihrer sexuellen Phantasie freien Lauf lässt: Mrs Rose Cottage’s eldest, Mae, peals off her pink-and-white skin in a furnace in a tower in a cave in a waterfall in a wood and waits there raw as an onion for Mister 76
Im Film aus dem Jahr 1972 (mit Richard Burton, Elizabeth Taylor, Peter O’Toole, Glynis Johns, Vivien Merchant u. Ryan Davies) trägt Mr. Waldo das Lied zum Amüsement der anderen Gäste im örtlichen Pub vor.
216 Right to leap up the burning tall hollow splashes of leaves like a brilliantined trout. (UMW, 17) Mrs. Rose Cottages Älteste, Mae, streift ihre rosigweiße Haut ab, in einem Feuerofen in einem Turm in einer Höhle in einem Wasserfall in einem Wald, und wartet roh wie eine Zwiebel, daß Herr Geraderecht mit einem einzigen Satz durch die brennenden hohen hohlen Fälle von Waldlaub zu ihr herausspringt, wie eine geölte Forelle. (UDM, 22)
Bei weitem am komplexesten sind die versteckten sexuellen Anspielungen in der Schlusspassage von Under Milk Wood, die dem Übersetzer durch die ihr angediehene poetische Verdichtung enorme zusätzliche Schwierigkeiten verursacht haben müssen: The thin night darkens. A breeze from the creased water sighs the streets close under Milk waking Wood. The Wood, whose every tree-Foot’s cloven in the black glad sight of the hunters of lovers, that is a God-built garden to Mary Ann Sailors who knows there is Heaven on earth and the chosen people of His kind fire in Llaregyb’s land, that is the fairday farmhands’ wantoning ignorant chapel of bridesbeds, and, to the Reverend Eli Jenkins, a greenleaved sermon on the innocence of men, the suddenly wind-shaken wood springs awake tor the second dark time this one Spring day [Hervorh. v. Verf.]. (UMW, 86)
Ein Abschnitt wie “that is the fairday farmhands’ wantoning ignorant chapel of bridesbeds” hat es wirklich in sich, Fried ist es jedoch einmal mehr gelungen – u. a. unter Beibehaltung der Alliteration mittels ‘Versetzung’ – dieser durchaus gerecht zu werden: Die dünne Nacht wird dunkler. Eine Brise vom gekräuselten Wasser her seufzt durch die Gassen dicht unter dem milchwachen Wald. Dem Wald, in dem jede Baumwurzel ein gespaltener Huf ist im schwarzen lauernden Auge der Jäger der Liebenden. Das ist der Wald, der ein von Gott erbauter Garten ist für Mary Ann Seefahrer, die weiß, daß der Himmel auf Erden ist, und das auserwählte Volk seines liebenden Feuers im Llareggubland; der Wald, für die Farmknechte am Kirmesabend das wollüstige unbedachte Bethaus voller Brautbetten, und für Ehrwürden Eli Jenkins eine grünbelaubte Predigt von der Unschuld des Menschengeschlechts – der plötzlich vom Wind gerüttelte Wald erwacht zum zweiten dunklen Male an diesem einen Frühlingstag [Hervorh. v. Verf.]. (UDM, 87)
Hinsichtlich Erich Frieds Übertragung verschiedener Gedichte und Lieder aus Under Milk Wood sei an dieser Stelle auf die Ausführungen in Angelika Heimanns Fried-Buch verwiesen, worin allerdings einleitend ausdrücklich betont wird, dass dort “ausschließlich die poetische Qualität der Übersetzung diskutiert werden [soll]”.77 Erich Fried hat sich bei den in Betracht kommenden Gedichten und 77
Heimann (Anm. 21). S. 113.
217 Liedern,78 d. h. Eli Jenkins Morgen- und Abendgedicht (UMW, 24–25 bzw. 79; UDM, 27–28 bzw. 80), zwei Gedichten und Liedern von Polly Garter (UMW 54 bzw. 66; UDM, 56 bzw. 68), eins jeweils von Kapitän Cat (UMW, 51; UDM, 53) und Mr. Waldo (UMW, 83; UDM, 84) sowie verschiedenen kindlichen (UMW, 56–59; UDM, 59–62), u. a. auch so genannten ‘nursery rhymes’ (z. B. UMW, 8–9; UDM, 12)79 – Walford Davies spricht in diesem Zusammenhang von “low-keyed poetry”80 – wie nicht anders zu erwarten gewisse poetische Freiheiten erlaubt. Dies insbesondere, um den jeweiligen Endreim beibehalten zu können, ohne den Versen ansonsten irgendwelche Gewalt anzutun! Interessant sind in diesem Zusammenhang, besonders im Übergang zu Frieds Handhabung walisischer Ausdrücke (‘Wenglish’) in Under Milk Wood, Teile von Pfarrer Jenkins’ alltäglichem Morgengedicht, worin – nach der Lobpreisung “Dear Gwalia” (Fried übersetzt das etwas ironisch mit “Lieb Heimatland Wales”81) – serienweise relativ obskure walisische Ortsnamen Verwendung fanden: By Cader Idris, tempest torn, Or Moel yr Wyddfa’s glory, Carnedd Llewelyn beauty born, Plinlimmon old in story, By mountains where King Arthur dreams, By Penmaenmawr defiant, Llaregyb Hilla molehill seems, A pygmy to a giant. By Sawdde, Senny, Dovey, Dee, Edw, Eden, Aled, all, Taff and Towy broad and free, Llyfnant with its waterfall. Claerwen, Cleddau, Dulais, Daw, Ely, Gwili, Ogwr, Nedd, Small is out River Dewi, Lord, A baby on a rushy bed. (UMW, 24–25)
und so noch einige Strophen mehr.82 78
Siehe dazu Raymond Williams Einteilung des Stückes in “narrative, dialogue, song” (Dylan Thomas’s Play for Voices. In: The Critical Quarterly 1 [1959]. S. 18–26. Hier: S. 20). 79 In Betracht gezogen werden könnte hier auch der poetisch gehaltene Dialog zwischen der verstorbenen Rosie Probert und dem blinden Kapitän Cat (UMW, 69–70; UDM, 71–72), obwohl hier nur teilweise Reim Verwendung fand. 80 Davies (Anm. 1). S. XXIV. 81 Vgl. dazu das bekannte deutsche Volkslied ‘Nun ade du mein lieb Heimatland’. 82 Siehe dazu Davies (Anm. 1). S. 90.
218 Terence Hawkes hat diesbezüglich mit einiger Berechtigung angemerkt, dass es sich hierbei nicht einfach um patriotische Lobhudelei handele, sondern dass im Gegenteil “[t]he alliterative devices of classical Welsh verse are made fun of […].”83 Erich Fried hat in seiner Übersetzung – was blieb ihm auch anderes übrig! – die zahlreichen Ortsnamen beibehalten; trotzdem ist es ihm einigermaßen geglückt, das Reimmuster wiederzugeben. Hawkes weist übrigens in seinem oben erwähnten Beitrag außerdem auf Dylan Thomas’ “sprinkling of the play with demotic words and phrases [d. h. walisischen Ausdrücken; JT]”84 hin, was einen geeigneten Übergang bietet, um die Rede auf diese Eigenart von Thomas’ Hörspiel, sowie Erich Frieds Lösungsversuche eines nicht ganz trivialen Problems, zu bringen. Wie bereits oben angedeutet, ist Fried den zahlreichen walisischen Ausdrücken in Thomas’ Hörspiel in seiner Übertragung ins Deutsche – sehr wahrscheinlich aus Unkenntnis – durchaus nicht immer gerecht geworden. An erster Stelle sei dabei der Name des walisischen Ortes genannt, der gleich im Eingangsmonolog von Under Milk Wood Erwähnung findet. Fried übernahm hier nicht die Version der englischen Erstausgabe: Llaregyb,85 sondern Llareggub, den von Dylan Thomas ursprünglichen gewählten Namen,86 der auch in der amerikanischen Erstausgabe benutzt wurde,87 ein witziges Palindrom des Slangausdrucks ‘bugger all’ (⫽ ‘nichts’).88 Terence Hawkes hat überzeugend erklärt, warum dieser etwas vulgäre Ausdruck, womit der Autor “an authentic-looking (and sounding) Welsh place-name” kreierte, in der DentAusgabe ersetzt wurde: “The English edition of the play”, schreibt er, “neatly skirts this embarrassment, orthographically if not phonologically, by the modified spelling ‘Llareggyb’ .”89 Da Fried in seiner Übersetzung durchgehend 83
Terence Hawkes: Some “Sources” of “Under Milk Wood”. In: Notes and Queries 12 (7/1965). S. 273–275. Hier: S. 274. 84 Ebd. 85 Vgl. dazu Dylan Thomas: Under Milk Wood. London: J. M. Dent 1954. S. 2. 86 Der ursprüngliche Titel des Stückes – so wie er für die New Yorker Urlesung vorgesehen war – lautete Llareggub Hill. John Malcolm Brinnin, dem Veranstalter der Lesung, schien dieser Titel jedoch unpassend: “When I suggested”, schreibt Brinnin in seinen Erinnerungen, “that perhaps he might find a better title than Llareggub Hill for his ‘play for voices,’ he agreed at once. The joke in the present title [ein Palindrom, das sich ‘bugger all’ rückwärts liest; JT] was a small and childish one, he felt; beyond that, the word Llareggub would be too thick and forbidding to attract American audiences. ‘What about Under Milk Wood?’ he said, and I said, ‘Fine,’ and the new work was christened on the spot.” (John Malcolm Brinnin: Dylan Thomas in America. An Intimate Journal. Boston: Little Brown & Co 1955. S.183). 87 Cleverdon (Anm. 39). S. 54. 88 Vgl. dazu Dylan Thomas: Under Milk Wood. New York: New Directions. 1954. S. 2. 89 Hawkes (Anm. 39). S. 346.
219 Llareggub verwendet und da im Impressum der Drei Brücken-Ausgabe als Copyright-Inhaber ausdrücklich J. M. Dent (1954) genannt wird, lässt sich aus diesen kuriosen Umständen – quasi als Nebenprodukt dieser Abhandlung – schlussfolgern, dass ihm als Vorlage weder die englische noch die amerikanische Ausgabe von Under Milk Wood zur Verfügung gestanden haben können. Die New Directions-Ausgabe von 1954 verwendet zwar den ursprünglichen Ortnamen Llareggub, aber beiden Ausgaben fehlt eine Passage im zweiten Teil des Hörspiels, wo Lehrerin Gossamer Beynon die Aussprache einiger Kinder korrigiert: “Es wor a Knobe und sein Lieb / mit A und O und A-Nonnino …” […] “Aber nain, Kinder, nain, eure Aussprache! / Es war ain Knabe und sain Lieb / mit hai und ho und hai nonino […]” (UDM, 58). Da diese Passage, wie gesagt, in beiden Erstausgaben fehlte,90 kann Fried also unmöglich Llareggub aus der US-Ausgabe übernommen haben. Dank der minutiösen Textanalysen von Douglas Cleverdon (in: The Growth of Milk Wood91) lässt sich allerdings erschließen, dass – während die englische und amerikanische Erstausgabe quasi identisch waren (der Ortname ist ein wesentlicher Unterschied) – sowohl Dylan Thomas’ Manuskript (Oktober 1953) als auch die Vorlagen N1 (Aufführungs-Manuskript in New York im Mai 1953), N2 (das von Ruthven Todd und Elizabeth Reitell überarbeitete Bühnenmanuskript) und das zweite BBC-Typoskript mit der Caedmon-Aufnahme der Lesung am 14. Mai 1953 im New Yorker Poetry Center der Young Men’s and Young Women’s Hebrew Association (92nd Street in Manhattan) identisch waren,92 welche die oben zitierte Passage – wie Cleverdon ausdrücklich vermerkt93 – einschlossen (und wo auch der Ortsname Llareggub verwendet wurde94). Mit anderen Worten, man kann mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Erich Fried bei seiner Übertragung von Under Milk Wood mit einer Kopie des zweiten BBC-Typoskripts (B2) gearbeitet hat,95 was auch insofern Sinn gibt, weil zum Zeitpunkt seiner Übersetzungstätigkeit zu Beginn des Jahres 1954 noch keine der beiden Druckausgaben des Hörspiels vorlagen.96 90
In der ‘Definitive Edition’ (Anm. 1. S. 42) wurde diese Passage abgedruckt: “Children’s Voices: It was a luvver and his lars / With a a and a o and a a nonino […] / Gossamer Beynon: Naow, naow, naow, your accents, children! / It was a lover and his less / With a hey and a hao and a hey nonino […]”. 91 Douglas Cleverdon: The Growth of Milk Wood. New York: New Directions 1969. 92 Ebd. S. 49f. 93 Ebd. S. 100f. 94 Ebd. S. 54. 95 Ebd. S. 50. 96 Vgl. hierzu J. Alexander Rolph: Dylan Thomas. A Bibliography. London: J. M. Dent 1956. S. 58–60 (Rolph verzeichnet übrigens auch Erich Frieds Übersetzung von Under Milk Wood [ebd., S. 95]) und Ralph Maud: Dylan Thomas in Print. A Biographical History. London: J. M. Dent 1970. S. 22.
220 Ein weiteres Problem präsentiert die Übersetzung des Titels der walisischen Hymne ‘Aberysthwyth’, der in der Erstausgabe von 1954 durch ‘Bread of Heaven’ (UMW, 33) ersetzt wurde, was Walford Davies in einer Anmerkung zur ‘Definivite Edition’ folgendermaßen kommentierte: “The hymn title ‘Aberysthwyth’ (Joseph Parr) […] was changed in the Jones edition without manuscript authority.”97 Erich Fried übersetzte entsprechend seiner Vorlage “Brot des Himmels” (UDM, 36), ohne dass man erkennen könnte, worum es sich bei diesem Gesangstext in Wirklichkeit handelte: nämlich eine der berühmtesten walisischen Hymnen! Von den von Dylan Thomas in Under Milk Wood verwendeten walisischen Ausdrücken wurde auf “Gwalia” (UMW, 24; UDM 27) – was ja soviel wie Wales bedeutet – oben bereits hingewiesen, desgleichen auf das Wortspiel “Bach fach” (UMW, 85; UDM 86). Das walisische Schimpfwort “Ach y fi! (UMW, 8) hat Fried richtig mit “Pfuideibel” (UDM, 11) übertragen. Auch die walisische Spezialität “laverbread” (UME, 5) – wobei es sich um einen aus Seetang hergestellten Brotaufschnitt handelt – wurde korrekt mit “Tang” (UDM, 8) übertragen, wobei allerdings offen bleibt, ob Fried effektiv wusste, dass es sich hierbei um ein einheimisches Nahrungsmittel handelt.98 Ebenfalls richtig ist die Übersetzung von “parchs” mit “geistliche[n] Herren” (UME, 20; UDM, 24), falsch hingegen die von “cawl” mit “Porree” (UMW, 59; UDM, 62): es ist damit nämlich eine in Wales übliche Brühe gemeint. Etwas schief liegt Fried ferner mit seiner Übersetzung des Ausdrucks “playing mwchin” (UMW, 12); denn es handelt sich hierbei genau genommen um Schulschwänzerei und nicht einfach ‘Rumtreiberei’ (UDM, 16), d. h. das, was im Standardenglisch als ‘playing truant’ und im Amerikanischen mit ‘playing hookey’ bezeichnet wird.99 Gar nicht bemüht hat sich Fried bei der Übersetzung der beiden typisch walisischen Instrumente, ‘crwth’ und ‘pibgorn’ (UMW, 20; UDM, 24), die im 97
Davies (Anm. 1). S. 93. Gleiches gilt auch für Frieds wörtliche Übertragung von “Welsh cakes” (UMW, 8) mit “Waliser Kuchen” (UDM, 12); es handelt sich hierbei um ein traditionelles walisisches Gebäck, auch ‘bakestones’ genannt, d. h. kleine runde Kuchenteilchen aus Mehl, Zucker, Butter und Rosinen / Korinthen gebacken (vgl. dazu auch die Szene, wo Toten-Evans, der Leichenbestatter, im kindlichen Traum seiner Mutter Korinthen stiehlt [UDM, 12], die diese zum Backen von ‘Waliser Kuchen’ [‘welsh-cakes’; UMW, 8] zu verwenden beabsichtigt). Zweifel ist angesagt, ob Fried diesen Zusammenhang wirklich durchschaut hat. 99 Vgl. dazu Walford Davies’ ‘Textual Notes’ im Anhang der ‘Definitive Edition’ von Under Milk Wood (Anm. 1. S. 86) sowie Chris Grooms’ ‘Online Glossary’ zu Under Milk Wood (Chris Grooms: Dylan Thomas’s Under Milk Wood – Notes on Words / Allusion [pp. 1–29] ⫽ http://jade.cccd.edu/grooms/geirn1.htm bzw. Chris Grooms: Dylan Thomas’s Under Milk Wood – Notes on Words / Allusion [pp. 30–94] ⫽ http:// jade.cccd.edu/ grooms/geirn2.htm). 98
221 Zusammenhang mit dem alljährlichen Waliser Dichtertreffen ‘Eisteddfodau’ (UMW, 20; UDM, 24) Erwähnung finden, wobei es sich um ein Saiten- bzw. ein Blasinstrument handelt. Man kann nur vermuten, dass der Übersetzer hier der Ansicht war, dass sich diese Namen nicht ohne große Umschreibungen adäquat ins Deutsche übertragen lassen. Ähnliches gilt natürlich auch für den Ortsnamen Twll, wo Mog Edwards einst lebte. Allerdings gilt es hier zu bemängeln, dass Fried die zweifelsohne von Dylan Thomas intendierte Doppeldeutigkeit dieses Wortes garantiert nicht er-/gekannt hat; denn ‘twll’ bedeutet im Walisischen soviel wie ‘hole’, d. h. ‘Loch’, was dann in der Vulgärsprache auch mit ‘Arschloch’ gleichgesetzt wird. Mit anderen Worten, Dylan Thomas hat sich hier einen üblen Spaß erlaubt, indem er dem örtlichen Käseblatt, worin Mog Edwards seine Waren inserierte, den Namen Twell Bugle (UMW, 49) zuwies. Erich Fried hat diese Anspielung ganz offensichtlich nicht erkannt und brav: “Posaune von Twll” (UDM, 51) übersetzt, wobei – leider – der von Thomas beabsichtigte Ulk (die Engländer sprechen hier von ‘tongue in cheek’) verloren gegangen ist; denn ‘twll bugle’ bedeutet schlicht und ergreifend ‘Arschposaune’, mit anderen Worten, es ist eine ‘Furzkanone’ gemeint!100 Auch bei der Übertragung Waliser Eigennamen hat sich Erich Fried gelegentlich etwas schwer getan. Prinzipiell hat er fast alle Waliser Nachnamen – wie ja nahe lag – einfach beibehalten: Mog Edwards, Mr. & Mrs. Floyd, Eli Jenkins, Mr. & Mrs. Willy Nilly, Mr. Ogmore, Mrs. Ogmore-Pritchard, Miss Myfanwy Price, Mr. Pritchard, Lilly Smalls, Cherry Owen & Mrs. Cherry Owen, Mrs. Rosie Probert, Mr. & Mrs. Pugh, Attila Rees, Mr. & Mrs. Waldo sowie Mr. & Mrs. Utah Watkins. Die meisten ‘sprechenden’ Namen hat er jedoch ins Deutsche übertragen, insbesondere, wenn mit den Namen eine Berufsbezeichnung verbunden war, wie im Falle von: Kapitän Cat, Sinbad Seefahrer, Orgel-Morgan (und seine Frau), Toten-Evans, Metzger Beynon, Dai Brot (und seine zwei Frauen) sowie Ocky Milchmann. In anderen Fällen war er jedoch eher inkonsequent; denn es wurden zwar folgende Nachnamen übersetzt: Bessie Grosskopf, Mary Ann Seefahrer, Lord Kristallglass, bei anderen jedoch, wo die Namenskonvertierung ebenfalls möglich gewesen wäre, dies unterlassen, so dass es z. B. bei Jack Black bzw. Mae Rose Cottage blieb (vielleicht waren Fried Namen wie Schwarz oder Hütte auch einfach zu gewöhnlich). Besonders gravierend ist dieser Umstand allerdings bei Polly Garter und Gossamer Beynon; denn in beiden Fällen hätte eine wörtliche Übersetzung ihres Nach- bzw. Vornamens Wesentliches zur Personenbeschreibung beigetragen (wie dies ja auch im englischen Original der Fall ist). Für ‘Garter’ hat Fried sogar in der Fahnenkorrektur den Versuch unternommen, den Namen durch ‘Strumpfband’ 100 Vgl. dazu Hawkes (Anm. 39). S. 346: “One’s suspicions are confirmed by the reference to a newspaper […], aptly called the ‘Twll Bugle’ .”
222 zu ersetzen, diese Änderung jedoch letztendlich nicht übernommen.101 Noch treffender – obwohl sehr schwerfällig – hätte auf Miss Beynon der Vorname ‘Jungfernhäutchen’, oder zumindest ‘Häutchen’, gepasst; aber Fried hat in diesem Fall nicht einmal ansatzweise einen Versuch gewagt.102 Etwas leger ist Fried letztendlich auch bei der Konvertierung einiger empirischer Maße in metrische verfahren: die ‘fourteen miles’ (UMW, 18), die der Postbote Willy Nilly täglich zurücklegt, sind z. B. nicht ‘zwanzig’ (UDM, 21–22), sondern zweiundzwanzig Kilometer; ein ‘pint’ Bier (UDM, 36 bzw. 42) entspricht im Deutschen ‘ein Halber’ (Fried hat sich hier für ‘Seidel’103 bzw. einfach ‘Glas’ entschieden [UDM, 39 bzw. 44]; und lediglich die Konvertierung der Schuhgrösse von ‘size twelveses’ (UDM, 39) auf ‘sechsundvierziger’ stimmen einigermaßen. Aber vielleicht sollte man in derartigen Fällen wirklich nicht zu pingelig sein! Abschließend noch ein kurioses Beispiel, wie bei Übersetzungen, trotz aller Sorgfalt, Sachen verkehrt laufen können. Fried hatte nämlich in der Fahnenkorrektur handschriftlich hinter den Satz: “Und dann kommt noch ein Gummistempel, auf dem steht: Kauft nur bei Mog” (UDM, 52) verbatim “drei Rufzeichen” vermerkt; denn schließlich handelt es sich ja hier um einen Imperativ und der Satz hieß im Original: “And then a little message with a rubber stamp. Shop at Mog’s!!!” (UMW, 50) Der damalige Setzer nahm diesen Hiweis jedoch lustigerweise wörtlich und schloß den Satz mit “Drei Rufzeichen” ab. War bisher – mit einigen Ausnahmen (s.o.) – fast ausschließlich von gelungenen Übersetzungen Erich Frieds hinsichtlich Dylan Thomas Hörspiel Under Milk Wood die Rede, so muss fairerhalber abschließend auch noch auf einige 101 Vgl. dazu Frieds handschriftliche Änderung (S. 20) im Typoskript der Übersetzung (ÖLA, Wien); s. dazu ferner einen Brief eines Lektors des Heidelberger Drei Brücken Verlags an Erich Fried vom 19. Mai 1954, worin es u. a. heißt: “Der Polly Strumpfband lassen Sie doch ihren deutschen Namen!” Diesem Schreiben ist zudem zu entnehmen, dass der Band sich im Frühsommer noch in Vorbereitung befand: “Was ich Ihnen mitteilen wollte,” schreibt der Lektor an anderer Stelle, “ist vor allem, dass Sie zur druckreifen Fassung des Manuskriptes ‘Unter dem Milchwald’ sich so viel Zeit lassen können, bis Sie das glückliche Gefühl haben, dass jetzt gar nichts mehr geändert werden braucht.” Fried hat diesen Rat scheinbar nicht zu Herzen genommen und keine grundlegende Revision gegenüber dem BBC-Typoskript vorgenommen (Brief im Fried-Nachlass, ÖLA, Wien). 102 Ähnliche Kompromisse ist Fried auch bei einigen typisch englischen Begriffen eingegangen: so hat er etwa einmal ‘porridge’ (UMW, 31; UDM 34) wörtlich übersetzt, an anderer Stelle stattdessen jedoch ‘Haferbrei’ (UMW, 63; UDM, 65) geschrieben; ‘cottage pie’ (UMW, 62) wiederum hat er mit ‘Auflauf’ (UDM 64) übertragen. Auch der Kuh ‘Daisy’ (UMW, 75) blieb ihr Name erhalten, statt dass sie in ‘Gänseblümchen’ umgetauft wurde (UDM, 77). 103 Ein Seidel ist ein kleines Bier, etwas mehr als die Hälfte einer englischen Pinte.
223 misslungene Übertragungen eingegangen werden. Auf gezielte Veränderungen bei der Übertragung des Ausgangstextes im Fall von Gedichten wurde ja bereits oben hingewiesen; keine dieser Änderungen hat meines Erachtens gravierende Auswirkungen auf den Sinn der jeweiligen Textvorlage gehabt. Das gleiche gilt – mit Einschränkungen – auch für Übertragungen einzelner Wörter aus dem so genannten ‘Wenglish’ (s. o.): Fried fehlten hier ganz offensichtlich die nötigen Kenntnisse, und er scheint aufgrund des enormen Zeitdrucks auch keine Gelegenheit gehabt zu haben, bei Kennern der walisischen Sprache die einschlägigen Informationen einzuholen. Allerdings muss diesbezüglich einschränkend hinzugefügt werden, dass Fried auch bei späteren Überarbeitungen der Übersetzung – sowohl im Typoskript als auch in der Druckfassung – weder im Falle von fehlerhaft übersetzten Wörtern aus dem Walisischen noch bei den gleich noch abzuhandelnden ‘Flüchtigkeitsfehlern’ Korrekturen vorgenommen hat. Mit anderen Worten, man muss davon ausgehen, dass diese Korrekturen entweder nicht sorgfältig erfolgten oder dass der Übersetzer die Fehler auch später nicht als solche erkannt hat. Fried hat jedoch insofern Glück gehabt, dass keiner der Schnitzer nachhaltigen Einfluss auf den Sinn des Originals hatte. Zwar sind einige dieser Fehler peinlich – es ist die Rede von Verwechslungen bzw. so genannten ‘false friends’ –, sie lassen sich jedoch großteils aus der Hast, mit der die Übersetzung des über 80seitigen komplizierten Textes erfolgte (d. h. innerhalb einer Wochenfrist!) erklären, obwohl man sich anhand der im Folgenden aufgelisteten Mankos gelegentlich schon fragt, wie gut Frieds Englischkenntnisse – zumindest zu diesem Zeitpunkt (nach 15jährigem Aufenthalt in Großbritannien) – eigentlich wirklich waren. Gravierende Fehler – obwohl selbst diese den Ausgangstext nur geringfügig verfälschten – sind u. a. folgende: Mr. Edwards, in der Beschreibung seines Kurzwarengeschäftes, spricht an einer Stelle davon, dass bei seinem “Emporium on the hill […] the change hums on wires.” (UMW, 7) Fried hat dies mit: “wo das Wechselgeld durch die Rohrpost flutscht” (UDM, 10) übersetzt, d. h. er hat das Wort ‘change’ mit Kleingeld gleichgesetzt. Damit ist er allerdings einer Verwechslung (d. h. einer Art von ‘false friend’) aufgesessen; denn ‘change’ ist hier wörtlich zu verstehen, wie Walford Davies in seinem ausführlichen Vorwort zur ‘Definitive Edition’ von Under Milk Wood erklärte; dort heißt es: “Slightly more puzzling might be Mog Edwards’s boast that he will take Myfanwy Price away to his Emporium on the hill ‘where the change hums on wires’ […], an image that memorialises a feature of the posh shops of an era that was coming to an end with the play itself.”104 Bestätigung für diese These liefert Mog Edwards an
104
Walford Davies: Introduction. In: Dylan Thomas: Under Milk Wood. London: Everyman 1995. S. XI-XLVIII. Hier: S. XLV.
224 einer anderen Stelle des Hörspiels selbst, als er seiner ‘Geliebten’ schreibt: “Business is very poorly. […] If this goes on I shall be in the workhouse.” (UMW, 49), was von Fried auch richtig mit “Die Geschäfte gehen sehr schlecht. […] Wenn die Geschäfte so weitergehen, komme ich noch ins Armenhaus” (UDM, 51–52) übertragen wurde. Mit anderen Worten, das hier beschriebene Geschäftsmodell, das auf dem Verkauf zahlreicher kleiner Einzelartikel basierte, neigte sich – wie ja auch die Tante-Emma-Läden – seinem Ende zu, sie waren nicht länger profitabel, eine Tatsache, die die Spatzen quasi vom Dach pfiffen (eine Redewendung, die hier übrigens wesentlich besser gepasst hätte): mit ‘Wechselgeld’ und ‘Rohrpost’ hat das alles absolut nichts zu tun! Erich Fried ist hier der gleiche Fehler unterlaufen, den er später in Schlegels Shakespeare-Übersetzungen anprangerte: “Er [August Wilhelm Schlegel; JT] hat gewissenhaft und langsam übersetzt,” monierte Fried im Interview mit Görtschacher, “und dadurch hat er vergessen, wenn im vierten oder fünften Akt dieselbe Formulierung vorkommt wie im ersten Akt, daß man dann womöglich gleich übersetzen soll […].”105 An einer anderen Stelle wird von der ersten und zweiten Stimme der örtliche Chor vorgestellt, wobei es bei Thomas heißt: “A glee-party sings in Bethesda Graveyard, gay but muffled. […] Vegetables make love above the tenors.” (UMW, 51) Fried übersetzte diese Passage folgendermaßen: “Ein Gesangverein singt auf dem Friedhof von Bethesda, fröhlich aber gedämpft. […] Die grünen Gräser feiern Hochzeit über den Tenören.” (UDM, 53–54) Was sich der Übersetzer hierbei gedacht haben mag (abgesehen von der Alliteration), ist völlig unklar außer der Tatsache, dass das so nicht stimmen kann. Denn unter der Annahme, dass hier mit ‘vegetables’‘cabagge’ gemeint ist, handelt es sich einmal mehr um eine versteckte sexuelle Anspielung: ‘cabbage’ ist nämlich englischer Slang für ‘cunt’ ⫽ ‘Möse’, d. h. es handelt sich in dieser Passage um einen Liebesakt, wobei die Frauen scheinbar auf den Männern liegen. Als letztes Beispiel eines eher gravierenden Fehlers sei an eine der Kinderszenen erinnert, wo die erste Stimme Billys Spießrutenlauf kommentiert: Und die schrillen Mädchen kichern und herrschen ihn an und quieken und packen und schlagen drein, und er plärrt davon, den Hügel hinunter, und verliert seine geflickte Hose, und sein tränenfleckiges Hochrot brennt den ganzen Weg entlang, denn die siegesjohlenden Schwestern kreischen wie Krähen mit Knöpfen in den Krallen, und ihre Rabenbrüder schreien ihm Spitznamen nach […] [Hervor. v. Verf.]. (UDM, 62)
In Under Milk Wood lautet der letzte Satzabschnitt jedoch: “[…] and the bully brothers hoot after him nicknames […].” (UMW, 59) ‘Rabenbrüder’, so fragt man sich, was soll das? Denn ein ‘bully’ ist im Englischen ganz schlicht und 105
Görtschacher (Anm. 28). S.132.
225 ergreifend ein ‘Quälgeist’, der – meist im schulischen Kontext – einen Mitschüler nie in Ruhe lässt und ihn oft bis aufs Blut piesackt! Frieds Übersetzung – im Sinne von ‘Rabenmutter’ – vermittelt hier den Eindruck, als hätten die bösen Brüder mit ihren Schwestern gemeinsame Sache gemacht in der Verfolgung des armen Billy, was so sicher nicht gemeint war! Es sollen nunmehr zum Abschluss noch eine ganze Reihe von Einzelfehlern der Friedschen Übersetzung von Under Milk Wood aufgelistet werden, wobei der Verfasser der Ansicht ist, dass in keinem der folgenden Einzelfälle der Schnitzer schwerwiegend genug war – obwohl schon teils etwas peinlich –, dass die Übersetzung die Bedeutung der jeweiligen Passage im Ausgangstext fundamental verändert hätte und einem deutschen Leser ohne Englischkenntnisse dadurch ein falsches Verständnis des vom Autor Gemeinten vermittelt worden wäre: Thomas: combs (3)106 – Fried: Kämme (7) – richtig: Hemdhose (d. h. Unterwäsche) Thomas: seas (3) – Fried: Seen (7) – richtig: Meere Thomas: Davy dark (3) – Fried: Klabauternacht (7) – richtig: stockfinster107 Thomas: sweet shop (6) – Fried: Schokoladenladen (10) – richtig: Süßigkeitenladen108 Thomas: gooseberried (7) – Fried: johannisbeerstrauchelnd (11) – richtig: stachelbeerstrauchelnd Thomas: lamp-post (11) – Fried: Laterne (14) – richtig: Laternenpfahl Thomas: fences (17) – Fried: Hürden (20) – richtig: Zäune Thomas: moonshine (20) – Fried: S. 23: Mondschein (23) – richtig: illegaler Schnaps109 Thomas: dormouse (21) – Fried: Murmeltier (24) – richtig: Haselmaus Thomas: clogs – Fried: Holzschuhe (25) – richtig(er): Holzpantinen Thomas: [trout] poaching (23) – Fried: auf unsportliche Art [Forellen] fangen (27) – richtig: wildern bzw. illegal angeln Thomas: there’s wives for you (29) – Fried: dazu hat man Frauen! (32) – richtig: typisch Frauen! Thomas: drunk as a deacon (33 bzw. 82) – Fried: betrunken wie ein Abt (36), aber [betrunken] wie ein Loch (81) – richtig: blau wie ein Veilchen110 106
Gemeint ist ‘combinations’ d. h. eine einteilige Hemdhose mit langen Ärmeln und Beinen (vgl. dazu auch “in long combinations” [UMW, 64], was Fried fast richtig mit “in lange Unterhosen” [UDM, 66] übersetzt hat). 107 Eine ‘Davy lamp’ war eine Bergarbeiterlampe – in Wales gab es einst viele Kohlebergwerke –, die kaum Licht abgab. 108 Miss Prices Laden war ein so genannter ‘tuck shop’, wo es nicht nur Schokolade, sondern Süßigkeiten jedweder Art gab (s. dazu UMW, 60; UDM, 63). 109 Vgl. dazu den in Irland illegal destillierten Schnaps namens ‘poteen’ (Keltisch ‘poitín’). 110 Beide Versionen sind eigentlich falsch; außerdem hat Fried hier gegen seine eigene Regel verstoßen (s. o.), innerhalb eines Textes bei gleichen Ausdrücken im Ausgangstext stets folgerichtig vorzugehen. Die gängige Version heißt im Englischen ‘drunk as a Lord’.
226 Thomas: clock (36) – Fried: Schiffschronometer (39) – richtig: Uhr Thomas: green lathered trees (37) – Fried: grünlederne Bäume (40) – richtig: grün schäumende Bäume Thomas: stamped and addressed envelope (39) – Fried: 41 bezahlte Rückantwort (41) – richtig: adressierter und frankierter Rückumschlag Thomas: covered with feathers (39) – Fried: eingetunkt in Federn – richtig: mit Federn übersät Thomas: curlew cry (44) – Fried: Schnepfenschreie[n] (46) – richtig: Brachvogelschreie[n] Thomas: beargarden school (44) – Fried: Bärenzwingerschule (47) – richtig: Bärengartenschule111 Thomas: hatchets (44) – Fried: Äxte (47) – richtig: Beile Thomas: there’s a dear (45) – Fried: sonst ist es aus mit der Freundschaft (48) – richtig: sei so lieb! Thomas: jig-jig (48) – Fried: jig-jig (50) – richtig: fick-fick Thomas: Ready to Wear (49) – Fried: Fertigkleidung (51) – richtig: von der Stange112 Thomas: [Willy Nilly] rumbling (50) – Fried: [Willy Nilly] stößt auf (52) – richtig: [Willy Nilly] knurrt [der Magen] Thomas: wall eye (52) – Fried: Glasauge (55) – richtig: er [d. h. Dai Brot] schielt Thomas: cherry (54) – Fried: Sherry (56) – richtig: Kirsche113 Thomas: schooner’s porthole (56) – Fried: Schonerstückpforte (59) – richtig: Bullauge eines Schoners Thomas: dandelion-and-burdock, raspberry and cherryade, pop goes the weasel114 and the wind (60) – Fried: Löwenzahn- und Klettensaft, damit das Geld alle wird [Hervorh.v.Verf.],115 Zitronenlimonade, Kirsch- und Himbeerbrause, und Sodawasserknall und Schaum und Wind. (62) – richtig: Löwenzahn- und Klettensaft, Kirsch- und Himbeerbrause, der Knall beim Öffnen von Sodawasserflaschen sowie Rülpsen116 Thomas: I don’t care if he does drop his aitches (61)117 – Fried: und wenn er auch Dialekt spricht (63) – richtig: und wenn er auch über einen spitzen Stein stolpert Thomas: chips (61) – Fried: Bratkartoffeln (64) – richtig: Pommes frites Thomas: cruet (62) – Fried: Salzfaß (65) – richtig: Gewürzständer Thomas: ebony beards (65) – Fried: elfenbeinbärtigem [Chronos] (67) – richtig: ebenholzbärtigem [Chronos]118 111
Wie auch immer Thomas das genau gemeint haben mag, ein Bärenzwinger wäre im Englischen ein ‘bear cage’. 112 Gemeint ist hier, was im Englischen als ‘off the peg’ bezeichnet wird. 113 Allerdings handelt es sich hierbei um ein Gedicht, und Fried hat offensichtlich versucht, den Endreim zu bewahren, was man ihm zugute halten sollte. 114 Es handelt sich hier um die Anspielung auf einen bekannten ‘nursery rhyme’. 115 Den kursiv gedruckten Rest hat Fried dazu gedichtet! 116 ‘Wind’ ist hier nicht wörtlich zu nehmen. 117 Wie ein Cockney im Londoner East End. 118 Fried hat hier ‘ivory’ und ‘ebony’ verwechselt!
227 Thomas: grandfather [clocks] (65) – Fried: Großvateruhren (67) – richtig(er): Standuhren Thomas: Sixty-six different times in his fish-slimy kitchen ping, strike, tick, chime, and tock (65) – Fried: Sechundsechzig verschiedene Zeiten in seiner fischleimigen Küche halten Wache [Hervorh. v. Verf.].119 Kling und Schlag, und Tick und Klang und Tack (68) – richtig: Sechundsechzig verschiedene Zeiten in seiner fischleimigen Küche klingen und schlagen, ticken und läuten und tacken Thomas: His fawning measly quarter-smile freezes (67) – Fried: Sein schmeichelndes, schmächtiges Viertellächeln friert ein (69) – richtig: Sein kriecherisches, schmächtiges Viertellächeln friert ein Thomas: by the dozen (68) – Fried: haufenweise (70) – richtig: dutzendweise Thomas: passages (71) – Fried: stillen Stellen (73) – richtig: Durchgänge Thomas: up the silences and echoes of the passages of the eternal night (71) – Fried: hinauf durch die stillen Stellen und durch das Echohallen in allen steilen Stollen der ewigen Nacht (73) – richtig: hinauf durch die Stille und die Echos der Durchgangshallen der ewigen Nacht Thomas: in the bloodshot centre of his eye (72) – Fried: mitten im blutdurchschossenen Bullauge seines Auges (74) – richtig: mitten im blutdurchschossenen Zentrum seines Auges120 Thomas: undogcollared (74) – Fried: des Predigerrockes entkleidet (76) – richtig(er): in den Laienstand versetzt Thomas: in the lakes of their [the cows] great eyes (75) – Fried: in den tiefen Teichen ihrer großen Augen (77) – richtig: in den tiefen Seen ihrer großen Augen121 Thomas: thoroughfare (76) – Fried: Torweg (78) – richtig: Durchgangsstraße Thomas: their glass widow (77) – Fried: ihrer peinlichen, reinlichen Witwe (78) – richtig: ihre herzlose Witwe122 Thomas: acid love (77) – Fried: saure Liebe (79) – richtig: ätzende Liebe Thomas: circles of lipstick round her nipples (78) – Fried: mit Lippenstift Kreise auf ihre Brüste (79) – richtig: mit Lippenstift Kreise um ihre Brustwarzen Thomas: Oh let us see another day (79) – Fried: Oh, laß uns den morgenden Tag noch sehen (80) – richtig: Oh, laß uns den morgigen Tag noch sehen Thomas: The windy town (81) – Fried: Die finstere Stadt (82) – richtig: Die windige Stadt Thomas: beady-eyed (81) – Fried: mit glasigen Augen (83) – richtig: mit wachsamen Augen Thomas: A farmer’s lantern glimmers (82) – Fried: Eines Farmers Laterne glitzert – richtig: Eines Farmers Laterne flackert
119
Dieser Zusatz ist unnötig. Sowohl die Wiederholung des Wortes ‘Auge’ als auch die Alliteration ist hier unnötig, da in der Vorlage nicht vorhanden. 121 Das gleiche gilt genau genommen auch für den Ausdruck ‘teichäugig’ (UDM, 77), obwohl man Fried in beiden Fällen poetische Freiheit zugestehen mag. 122 Vgl. dazu ‘glassy’ ⫽ ‘void of warmth’, ‘lacking emotions’. 120
228 Thomas: a jug of parsnip gin (83) – Fried: Glas Rübenschnaps (84) – richtig: ein Krug mit Rübenschnaps123 Thomas: Like a cat, he sees in the dark (84) – Fried: Wie ein Kater sieht er nur im Dunkeln (85) – richtig: Wie eine Katze kann er im Dunkeln sehen Thomas: the […] farmhands’ wantoning ignorant chapel of bridesbeds (86) – Fried: das wollüstige, ahnungslose124 Bethaus voller Brautbetten (87) – richtig: das wollüstige, unwissende Bethaus voller Brautbetten
Kein geringerer als der Herausgeber der beiden Erstausgaben von Under Milk Wood, Daniel Jones, hat 1984, im Vorwort zur zweiten Auflage von Dylan Thomas’ Hörspiel – obwohl er dort Frieds Unterfangen als “ordeal of translation” bezeichnete –, insgesamt ein positives Urteil abgegeben, indem er meinte “[t]he success of Under Milk Wood in translation is significant.”125 Und Angelika Heimann hat dem hinzugefügt, dass alles in allem bei Erich Frieds Übersetzung von keinem ‘Verlustgeschäft’ die Rede sein könne.126 Zurück also zum Ausgangspunkt. Erich Fried ist sich stets der Problematik seiner Aufgabe bewusst gewesen. Wenn er gleich eingangs in seinem Düsseldorfer Festvortrag zu verstehen gab, dass das Übersetzen von Dichtern wie Shakespeare, Rimbaud oder Dylan Thomas “eine unumgänglich notwendige und zugleich eine, streng genommen, unmögliche Aufgabe [sei]” und hinzusetzte, dass “[m]an nie ganz ans Original heran[komme]”, dass “man die Näherungswerte zu erreichen versuchen [müsse]”,127 so hat er damit seiner Tätigkeit einen strengen Rahmen gesetzt, den er noch dadurch verstärkte, indem er etwas später hinzufügte, Übersetzen dürfe nicht in dem Versuch gipfeln, einen Autor zu verbessern: “Ein Übersetzer”, so betonte er ausdrücklich, “sollte sich seine literarische Originalität für seine eigenen literarischen Arbeiten aufheben.”128 In Betracht gezogen werden sollte ferner, dass sich Dylan Thomas selbst der Schwierigkeiten beim Übersetzen seiner Arbeiten bewusst war und meinte – wie er Fried persönlich mitteilte – dass er nicht “wirklich übersetzbar sei […], und zwar wegen des ‘telescoping of images’. Dem entspreche manchmal etwas nicht.”129
123
‘jugs’ haben einen Griff, im Gegensatz zu den meisten Gläsern. ‘unbedacht’ ist unglücklich gewählt hier, da es den Eindruck erweckt – was ja auch stimmt –, dass der Beischlaf im Freien stattfindet! 125 Vgl. Daniel Jones’ Vorwort zur 2. Auflage von Dylan Thomas’ Under Milk Wood. London: J. M. Dent 1984. S. XII. 126 Angelika Heimann (Anm. 21). S. 113. 127 Fried: Festvortrag (Anm. 30). S. 29f. 128 Ebd. S. 32. 129 Görtschacher (Anm. 28). S. 137. 124
229 Fried hielt Under Milk Wood für “ein geniales Stück”,130 was für ihn ein wichtiger Aspekt war; denn schließlich lautete eins seiner Kriterien beim Übersetzen: Wenn auch bei mehrmaligem Lesen der Brechreiz nicht zu stark wird, dann geht es halbwegs. Und manchmal gibt es Stellen, über die man denkt, daß man es besonders gut hinbekommen hat, und bei denen man sich fragt, ob einem jemals wieder so etwas Gutes gelingen wird. Das sind dann Passagen, über die man sich wirklich freut.131
Andererseits hat er aber auch offen zugegeben: Natürlich übersetzt man nicht immer gleich gut. Wenn man schlecht übersetzt hat, dann muß man doch noch soviel Selbstkritik haben, um im wesentlichen überall dort einen Haken zu machen, wo man es nicht hinbekommen hat und dann eben desto mehr korrigieren. Übersetzen ist aber auch eine sehr gute Beschäftigungstherapie, während das Dichten etwas ganz anderes ist.132
Und er hat sich auch nicht gescheut, dies ausführlich an einigen Beispielen aus der Übersetzung von Under Milk Wood zu demonstrieren: Man erinnert sich seiner Erfolge viel besser als seiner Fehler. Einiges würde ich heute ändern. Zum Beispiel bei wie riecht bloß Petersilie habe ich später gefunden, noch wäre besser gewesen. Über dem Laden von Jack Black, dem Schuster, da hab ich mir gedacht über dem Laden Jack Blacks, des Schusters. Das hab ich aber dann nicht gemacht, weil Jack Blacks, des Schusters zu sehr zischt. Da habe ich mir mein süddeutsches von beibehalten. Es war außerdem das Problem, wie man das walisische Englisch übersetzt. Es ist ja kein englischer Dialekt sondern eine Hochsprache, die einige walisische Worte in sich aufnimmt. “Bach” und “Fach” zum Beispiel, aber die ein bißchen die Sprachmelodie des Walisischen hat, also das was sie den “lilt” nennen. Er hat ja englisch gedichtet, nicht walisisch. Er konnte kaum Walisisch. Das habe ich zum Beispiel nicht beachtet. Weiter bei den Änderungen: Statt statt nie solche Seen wie die habe ich nie noch solche Seen wie die geschrieben. Das noch ist wichtig. Man könnte auch noch nie solche Seen schreiben. Aber das nie noch war mir lieber als das noch nie. Statt Brosche wäre mir Spange lieber gewesen. Bei wo “Zanzibar” und “Rhiannon”, der “Freibeuter”, der “Kormoran” und der “Stern von Wales” auf den Wellen schaukeln und reiten scheint mir dieses wo poetisch im Sinne von Dylan Thomas, der es in einem durchgezogen hat. In der Leichenbestatter und das leichte Weib hätte ich gerne das leichte Liebchen gehabt, damit es alliteriert und weil Weib vielleicht zu bösartig klingt im Moment.133
Wichtig ist in Frieds Fall zudem sein eigener Hinweis, dass er sich bei seiner Tätigkeit nie von irgendwelchen Übersetzungstheorien habe beeinflussen 130
Ebd. S. 141. Ebd. S. 155. 132 Ebd. S. 150. 133 Ebd. S. 129. 131
230 lassen.134 Diesbezüglich von Görtschacher befragt, meinte er, diese Frage sei gar nicht einfach zu beantworten: “Man übersetzt ja nicht so ungeheuer bewußt von einer Theorie ausgehend, sondern letzten Endes hängt es immer vom jeweiligen Text ab.”135 In diesem Zusammenhang spiele zudem eine Rolle, ob – und in wie weit – ein Dichter-Übersetzer fähig sei, sich bei seiner Übersetzungstätigkeit im Hintergrund zu halten. Erich Fried war diesbezüglich der Meinung, “ein Dichter hat als Übersetzer zu versuchen, zu übersetzen was der Dichter geschrieben hat und nicht den Dichter zu verbessern, denn meistens geht das schief, weil er dann nicht weiß, warum der Dichter das so und nicht anders gemacht hat.”136 Er folgte damit einmal mehr Lucas’ Rat, der Übersetzern die folgende Maxime ans Herz gelegt hatte: “It follows that the translator must watch like a dragon to see that his own character does not mask the character of his original. […] unless watched, a translator’s own personality can perilously blur and disfigure the truth”137; denn es sei schlecht “that a translator should let the character of his original be distorted by his own character […]”.138 Allerdings hat Erich Fried auch hier – Pragmatiker, der er nun einmal war – einschränkend hinzugefügt, dass er stets vom Einzelfall ausgegangen sei: Die Theorie war, daß man so etwas nur dann tut, wenn dadurch der Text nicht allzusehr verarmt. Das ist die größte Sünde. Und natürlich völlig anderes zu sagen als der Dichter wollte, ist auch eine Sünde. Aber etwas, was der Dichter wollte, manchmal mit etwas anderen Worten zu sagen, wenn dadurch die Besonderheit des Gedichtes erhalten bleibt, habe ich mir manchmal gestattet.139
Prinzipiell habe er immer versucht, “Thomas gerecht zu werden” und würde sich freuen, wenn die Nachwelt ihm bestätigen würde, dass ihm dies “einigermaßen gelungen [sei].140 Geholfen hat dabei sicher, dass Dylan Thomas – wie Fried selber – “ein Künstler des Sinnlichen und der sinnlichen Wahrnehmung der Welt 134 Interessanterweise stimmen Fried und Thomas in diesem Punkt völlig überein; denn letzterer betonte am Ende seines ‘Literarischen Manifestos’: “You can tear a poem apart to see what makes it technically tick, and say to yourself, when the works are laid out before you, the vowels, the consonants, the rhymes & rhythms, Yes, this is it. This is why the poem moves me so. It is because of the craftsmanship.’ But you’re back again where you began. You’re back with the mystery of having been moved by words. The best craftsmanship always leaves holes & gaps in the works of the poem so that something that is not in the poem can creep, crawl, flash, or thunder in [für kursiv stehen Unterstreichungen im Original; JT].” (Anm. 58. S. 53). 135 Görtschacher (Anm. 28). S. 138. 136 Ebd. S. 142. 137 Lucas (Anm. 3). S. 60. 138 Görtschacher (Anm. 28). S. 63. 139 Ebd. S. 146. 140 Ebd. S. 147.
231 und auch der menschlichen Beziehungen [war], der sich nicht davor fürchtete,” – auch hierin Fried vergleichbar, der nie Konfrontationen aus dem Wege ging141 – “in seinen Gedichten zu erschrecken und andere zu erschrecken.”142 Nichtsdestoweniger ist Fried seiner Vorlage nicht immer gerecht geworden, was hier einschränkend ohne wenn und aber noch einmal betont werden soll. Denn Dylan Thomas hatte – wie Ralph Maud einmal meinte – stets “about common things in a most common way,” geschrieben und “always (or almost always) gives the necessary clues to the reader.” Mit anderen Worten: “The extraordinary is subject to ordinary interpretation.”143 Aber Fried war bei seiner Übersetzung zu Beginn des Jahres 1954 in viel zu großer Eile gewesen, um auf alle Feinheiten acht zu geben; und leider hat er auch bei späteren Revisionen nicht die notwendige Sorgfalt walten lassen, zumindest Flüchtigkeitsfehler auszumerzen. In Frieds Fall darf man daher mit einiger Berechtigung das von Lucas zitierte Wort Lord Alfred Tennysons aus dem Gedicht ‘Lancelot and Elaine’ (1859) zur Anwendung bringen: “Faith unfaithful kept him falsely true”.144
141
Vgl. dazu u. a. die folgenden Gedichtbände: und Vietnam und (1966) u. Höre Israel (1974). 142 Ebd. S.154. 143 Ralph Maud: Introduction. In: Ders.: Entrances to Dylan Thomas’ Poetry. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2.Aufl. 1966. S. 8. 144 Lucas (Anm. 3). S. 57.
Hans-Christian Stillmark
Komplexe Raumkonzepte in der Prosa Volker Brauns This essay provides close readings of selections from Volker Braun’s narratives with a focus on the aspect of spatial conceptions. The analyses demonstrate that a variety of (inter)actions are possible for the fictional characters within their specific spaces and that these actions, in turn, provide figurations for a non-literal reading of the texts. The actions within the narrative space and the resulting figurations lend insights into the affective and emotional sphere of the characters. Braun’s precisely crafted spatial structures are thus an integral part of his narrative aesthetics. In a broader sense and beyond the immediate context of the respective narrative, they also respond to the given political and social conditions represented and they critically engage with these conditions.
An Raumsituationen gebundene Fragestellungen stellen für die Erhellung von poetischen Positionen im Werke Volker Brauns eine überaus ergiebige Sonde dar. Mit ihr kann man spezifische künstlerische Entwicklungen nachzeichnen und ästhetische Standpunkte verdeutlichen, die auf andere Weise schwer oder auch nicht fassbar sind. Das in diesem Zusammenhang unterstellte Raumkonzept geht nicht davon aus, dass Raum lediglich ein unabhängig vom Menschen existierender Behälter für Dinge und Lebewesen ist. Raum wird vielmehr erst durch menschliches Handeln konstituiert. Dieses Handeln geht von einer aktiven Wahrnehmung aus, die eine Verstehensleistung generiert, mit der sich ein Horizont entfaltet, der von einem prä-rationalen und prä-begrifflichen Agieren und Reagieren auf Dinge und Atmosphären bis zur verstehenden Zuordnung, hermeneutischen Interpretation und Sinnstiftung reicht. Die Konstellationen von belebten und unbelebten Körpern im Raum, einschließlich der Bewegungen im Raum als mobile Konfigurationen, sind ebenso in dieses Handeln einbezogen. Nicht zuletzt schlägt sich dieses Handeln in kommunizierbaren und kommunizierten Vorstellungen, Gestaltungen und Modellierungen von Räumen nieder, die als Medien zugleich Figurationen mit Mentalitäten, Gefühlskulturen, Wissensordnungen und Lebensstilen miteinander verschränken und aufeinander beziehen. Es wird hier darauf ankommen, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Räumen, Affekten und Mentalitäten zu beobachten, die in unterschiedlichen Schaffensphasen des Autors Volker Braun eine Ausprägung erhalten haben und die über eine gewisse Stabilität verfügen. Somit geht es darum, Einsichten des “spatial turns” der Kultur- und Literaturwissenschaften auf die innovativen Seiten der jeweiligen literarisch verfassten Konstellation und Konfiguration zu beziehen und diese als Erkundung im Sinne Volker Brauns als ästhetische und soziale Innovation zu verdeutlichen.
234 Dass hier vor allem auf die Prosa eingegangen wird, ergibt sich aus gattungsspezifischen Gründen. Ich gehe davon aus, dass Raumkonzepte im oben beschriebenen Sinne in der Prosa ausführlicher dargestellt und problematisiert werden können als sie in der Lyrik oder Dramatik ausgeführt sind. Nebenbei bemerkt: Es bleibt ohnehin ein Wagnis, in den Texten Brauns die konventionellen Gattungsgrenzen genau zu markieren. Im Verlauf der Braunschen Schreibpraxis lässt sich ein Prozess der Auflösung und der Verwischung dieser Gattungsbegrenzungen beobachten, der wiederum konstituierend für die prinzipiell als ‘offen’ verstandene Arbeitshaltung des Autors ist. Dies trifft auch und gerade auf die Formation seines Materials, die poetische Sprache zu. Ungeachtet aber der tendenziellen Überschreitung und Nivellierung der Gattungsgrenzen: Die Prosa und auch der bei Volker Braun nicht selten verfasste poetologische Essay können sich reflektierter zu ihrem eigenen Standort als der sie tragenden räumlichen Konstituente verhalten, als es etwa die Dramatik kann. Die Sprengung der dramatischen Räume wäre in Brauns Schaffen zum Beispiel in Iphigenie in Freiheit nachzuvollziehen, wo sich die Textsegmente nur schwer zur Konstituierung von Personen (Charakteren) fügen lassen und auch einmal inszenierte Spiel- und Aktionsräume sich durch den nächsten Textabschnitt nicht aufrecht erhalten lassen. Hier sprengt der Text den vorausgehend etablierten Raum. Eine Bewegung der Umarbeitung der Räume (und Personen) ist die Folge, die einem theatralisch konventionellen Raum-Zeit(-Charakter)-Kontinuum entgegen steht. Nur am Rande: Auch dies ist ein Grund für die zögerliche Aufnahme der neuen Dramen auf den Bühnen. Die Lyrik wäre zwar auch dazu in der Lage, paradoxe Raumsituationen zu erstellen, allerdings widersprechen in ihr das Bemühen um Prägnanz, Kürze, Lakonie und Dichte einem komplexen Raumkonzept. Gerade da, wo die Komplexität (und damit verbunden die Unüberschaubarkeit) der räumlichen Strukturbeziehungen thematisiert ist, wie später bei der “durchgearbeiteten Landschaft” im Bodenlosen Satz oder im Eisenwagen zu sehen sein wird, bekommt das “Verhandeln” von Subjekten und Räumen eine besondere qualitative und quantitative Dimension. Die Prosa, so die Hypothese, der diese Ausführungen folgen, problematisiert komplexe Raumstrukturen umfassender als lyrische oder dramatische Texte. Eine zweite Prämisse ergibt sich von einem anderen Blickpunkt her. Es kommt mir in diesen Darlegungen nicht allein darauf an, eine Bewegung der Braunschen Raumsituation nachzuzeichnen und zu erfassen, wie sie etwa in der Linie von den Kippern zu Guevara (oder zu Großer Frieden) vorzufinden ist. Hier wäre die Ausweitung des dramatischen Raums von der Verortung in der DDR hin zu einer globalen Perspektive sofort augenfällig. Dieser Raumauffassung folgend würde durch die Füllung des Raums in historischer Tiefe und Schichtung ergänzt werden, wie sie in einer nächsten Schaffensphase Brauns etwa in Simplex Deutsch, Dmitri oder Lenins Tod ausgeführt ist, wo die
235 Ebenen der “durchgearbeiteten Landschaft” eigene Parzellierungen und Zonen aufweisen, die vom politisch-geschichtlichen Handeln der Menschen Zeugnis ablegen. Die hier nur angedeutete Entwicklung, die einer geographischen und historischen Erweiterung und Vertiefung entspricht, lässt sich in den räumlichen Perspektiven der Prosa und Lyrik Brauns gleichermaßen auffinden. Darauf soll es, wie gesagt, nur bedingt ankommen, die Fragestellung reicht eben weiter, indem, wie zu zeigen ist, differente Lebensformen und Einstellungen verbunden mit Affekten sprachlich zur Aufführung gebracht werden, die über das oberflächlich aristotelisch erfassbare Raum-Zeit-Kontinuum hinaus reichen. Die in den Gedichten anzutreffenden Raumsituationen tragen jene Bewegung bereits sehr früh in sich und sind insofern schwer voneinander abzuheben. Es lassen sich erst in der Prosa diese komplexen Konzepte nachvollziehen, die in den lyrischen Texten als Kerne vorliegen und dann zur Entfaltung gebracht werden. Praktikabel ist dies meiner Ansicht nach am Beispiel von Brauns vierteiliger Erzählfolge Das ungezwungne Leben Kasts nachvollziehbar. Die Folge ist in einem Zeitraum von 15 Jahren entstanden und trägt in den jeweiligen Titeln (Der Schlamm, Der Hörsaal, Die Bühne und Die Tribüne) charakteristische Räume, die sich einer solchen Untersuchung geradezu aufdrängen. Der hier vorgetragene Ansatz plädiert für eine in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeit noch selten vollzogene Synthese von Untersuchungen zu Räumen und den mit ihnen verbunden Emotionen und Affekten im Hinblick auf Handlungen, Verhaltensweisen und Lebensstile. In Augenschein genommen werden auf diese Weise Konzepte von Räumen, die sich als affektgeladene Umwelten auf Individuen (und Gruppen) figurieren sowie Figurationen, die von Einzelnen und Gruppen ausgehend sich in von ihnen “gemachten” Räumen realisieren. Die Differenzen, die sich aus dem Widerspruch von Absichten und Resultaten – nicht nur Menschen, auch Räume sind hier intentional aufgefasst – ergeben, sind in diese Untersuchungen als Konstituenten des Untersuchungsgegenstandes einzubeziehen. Die Dynamik von Räumen und damit auch deren Eigenbewegung und Eigenleben konnte ich anlässlich einer früheren Arbeit, die sich mit Wieland Försters Prosa beschäftigte, bereits erprobend beobachten.1 In Försters Erzählung Vollständiger Bericht für Dr. Krull wurde fiktional von einer nicht so fern liegenden utopischen Gesellschaft durch eine perfektionistische Stadtplanung eine Zukunftsstadt gebaut, die durch ihren vernunftgeladenen Rationalismus die Bewohner terrorisierte und schließlich vertrieb. Das 1 Vgl. Hans-Christian Stillmark: Zu einer “Schreibübung” Wieland Försters. In: Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Hg. von Hans Esselborn. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. S. 157–168.
236 Eigenleben der kommunizierenden Architektur war hier in einem zerstörerischen Maße tätig. Das neu erbaute Wohngebiet entwürdigte und überwältigte die eigenen Bewohner und machte aus ihnen Gefangene einer angeblich “befreiten” Gesellschaft. Der Umschlag von der Utopie in die Dystopie konnte hier eindrucksvoll nachvollzogen werden. Eben solche und ähnliche Fragestellungen mit verwandten Konsequenzen sind es, die im Folgenden anhand des Braunschen Werkes zu erörtern sind. Betrachtet man die bevorzugten Raumsituationen in Brauns früher Prosa und Dramatik, so ist am Ende der 1950er bis zum Beginn der 1960er Jahre ein relativ konstant zu beobachtendes Verhältnis von Mensch und Landschaft charakteristisch: Die in Der Schlamm, dem 1959 geschriebenen ersten Teil von Brauns Erzählfolge Das ungezwungne Leben Kasts, anzutreffende Wüste aus Sand, Wasser und Schlamm ist Schauplatz unsäglicher und teilweise (vor allem im späteren, thematisch verwandten Stück Die Kipper) sinnentleerter Maloche. Die Arbeit steht zwar noch in der Signatur des Aufbaus, die Zeit des Auferstehens aus Ruinen ist aber eigentlich bereits vorbei. Waren in den 1950er Jahren Trümmer zu beseitigen, Kriegsschäden zu beheben und gerade in der SBZ/DDR die Folgen von alliierten Demontagen im Wiederaufbau zu bewerkstelligen (wobei das “Alte” der deutschen Gesellschaft und Kultur in der DDR einer mitunter schonungslosen Kritik unterzogen wurde), so reifte ab Mitte der 1960er Jahre der “Bau” von Industrieanlagen und insbesondere von Kombinaten zu einer gesellschaftlich dominanten Metapher des “Neuen Deutschlands” heran. Braun protokolliert diesen Prozess auf seine unnachahmliche Weise bereits im erwähnten Frühwerk: Alles floß in das Kombinat. Menschen, junge, alte, Goldgräber, Neuerer, Stahl, Kräne, Dumper, Lkws, Stahl, Zement, Menschen, Menschen. Glas, Holz, Wasser, Schreibtische, vorläufig noch Energie. Es floß, versank im Strudel, Dreck flog auf, verklebte die Poren. Und aus dem Kreisen und Strudeln und aus dem Dreck und dem Schweiß, an dem er klebte, hob sich eine Landschaft aus der anderen.2
Wenn überhaupt, so lässt sich der Eingriff in die Tagebaulandschaft, deren Umbau und die wie auch immer geartete Kultivierung (auch von den Erbauern selbst) nur als Entwurf erfassen. Paraphrasiert ist in diesem Umbau Heraklits “Panta rhei” – “alles fließt”/“alles floß” – das für die materialistische Weltauffassung Brauns von zentraler Bedeutung ist. In die Bewegung des Fließens ist alles einbezogen, was an Veränderung und Transformation bezeichenbar erscheint. Die Aufzählung, die zwischen Produktionsmitteln und Produktivkräften keinen Unterschied zulässt, arbeitet auf eine Klimax zu, die 2 Volker Braun: Das ungezwungene Leben Kasts. Berlin – Weimar: Aufbau-Verlag 1979. S. 11. (Signum Kast ⫹ Seitenzahl) In den Zitaten wird die originale Rechtschreibung mit all den Braunschen Eigenwilligkeiten beibehalten.
237 in der Mischung von Dreck und Schweiß zum Material der neuen Landschaft wird. An diesen Schöpfungsprozess ist zugleich eine neue Qualität der sozialen Organisation gekoppelt. Die Bildung sozialistischer Brigaden ist in Brauns Erzählung beinahe noch gewichtiger als die Erfüllung der gestellten Arbeitsaufgaben. In der Theorie der sozialistischen Soziallehre ist das eine die Voraussetzung für das andere, d. h. erst wenn die Menschen sich in sozialistischen Kollektiven organisiert haben, werden sie auch den Bau des “Neuen” bewerkstelligen können. In der Praxis sind sie mit der gleichzeitigen Realisierbarkeit beider Zielstellungen überfordert. Der Ausgangspunkt Kasts ist einleitend ohne Umschweife umrissen: “Am Montag früh fuhr ich mit dem Bus nach Norden. Die Sonne warm auf den Feldern, der Himmel hell, leuchtend, der Asphalt blank in das Land hin, das alles ging mich nichts an.”3 Mit einer fast nihilistisch zu charakterisierenden Haltung ist hier der Beginn von Kasts Lebensbericht umrissen. Seine “Ungezwungenheit” wird in diesem Anfang betont und, wie zu lesen ist, im Folgenden noch verstärkt Die Felder wurden größer, Dörfer, Fabriken im Rauch. Die Menschen strömten über den Rand der Siedlungen, die Landschaft beulte aus wie von vielen Schritten, die alten niedrigen Wälder hatten an den Stämmen Ziegeltöpfe, in die das Harz floß. Die Wälder bluteten aus, sie waren gezeichnet von ihrem Ende, das Land war nur ein Entwurf gewesen, die ganze verstaubte Oberfläche; die Tagebaue würden über die Fernstraße weg und die Städte ihre Strossen ausschwenken. Ich war völlig leer, gleichgültig; ich sah alles an wie eine fremde, unbekannte Gegend.4
Wenn es den Begriff damals schon gegeben hätte, müsste man von “Coolness” sprechen, mit der der junge Protagonist auf die von Partei und Staat ansonsten mit Pathos propagierte Schaffung des Neuen reagiert. Vielleicht ist aber auch die am Ende der 1950er /Anfang der 1960er Jahre überaus populäre Stilart des Cool-Jazz für die Haltung Kasts prägend. Bekanntlich war in den frühen 1960er Jahren die “Lyrikwelle” in der DDR, die u. a. auch Lyrik, Jazz und Prosa5 miteinander in Beziehung brachte, für den jungen Volker Braun von entscheidender stilistischer Bedeutung. Dass Braun 1962 in seinem Gedicht Jazz6 eine einprägsame Formulierung für die sozialen Seiten dieser Musizierweise fand, steht im besonderen Gegensatz zu dem von Partei und Staat kritisierten 3
Ebd. S. 7. Ebd. 5 “Lyrik – Jazz – Prosa” nannte sich auch eine Veranstaltungsreihe, die der Verlag Volk und Welt gemeinsam mit Jazz-Musikern und bekannten Schauspielern in über hundert Auftritten ab 1963 organisierte. Einige Ausschnitte waren auf einer Schallplatte des gleichen Titels publiziert worden. 6 Volker Braun: Jazz. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge Bd. 1. Halle – Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1989. S. 60. Das Gedicht war dem Debütband Brauns Provokationen für mich aus dem Jahre 1965 zugeordnet. 4
238 westlichen Lebensstil, den man damals im Jazz erblickte. Der Zwiespalt, mit dem die Partei einerseits kritisch den Jazz nieder zu halten suchte, und die Förderung, die er andererseits in der massenkulturellen Veranstaltungspraxis und bei der Publikation von Schallplatten des Jazz erfuhr, kann hier nur konstatiert werden. Eine differenzierte Studie zur kulturellen Praxis und den Einflüssen westlicher, zumal amerikanischer Lebensstile müsste diese Problematik ausführlicher darstellen.7 Mit knappen Worten und also wenig Beredsamkeit ist in der Erzählung eine landschaftsverändernde Utopie angezeigt, die sich mit dem Projekt Sozialismus als gesellschaftsverändernder Komponente auf das innigste kurz zu schließen versucht. Kultivierung der Natur und Sozialisierung der Gesellschaft finden auf neuer historischer Stufe in eigener Qualität zueinander – dies ist der Plan, dem sich der Autor Volker Braun, wie auch sein Protagonist Kast, verschrieben haben. Wenn Braun in seinen wenigen Dialogen auf Lakonie und Kürze Wert legt, so steht das in auffälligem Gegensatz zu den rhetorischen Tiraden, wie sie in der Agitation und Propaganda des sozialistischen Staates und des generell pathetischen öffentlichen Redens in der deutschen Vergangenheit üblich waren. Gerade in der Arbeiterschaft begegnete man diesen Reden mit einem tiefen Misstrauen. Als der jugendliche Hans Kast, die Hauptfigur des Lebensberichtes, seine Kollegen für die Bildung einer sozialistischen Brigade zu gewinnen sucht, wird ihm von seinen Kollegen barsch eine Abfuhr erteilt: “ ‘Student, nimm die Schippe voll’ sagte einer”.8 Es fällt auf, wie hier die gebräuchliche Redewendung ‘den Mund nicht so voll zu nehmen’ variiert wird. Dies leitet fast unmerklich zu einem zentralen Thema der gesamten Erzählfolge über: dem Diskurs in der Öffentlichkeit. Das Reden, bzw. die Weltveränderung durch Reden, war Kast früher selbst missfallen. Seine lautstarke Kritik daran trug wesentlich dazu bei, dass er sein letztes Schuljahr und damit das Abitur nicht beenden konnte. Als er sich von einem Spitzel belauscht fühlte, kritisierte Kast in herausfordernder Weise nicht nur dies, sondern auch das Vorenthalten der Wahrheit in den Zeitungen und im öffentlichen Leben. Später rechtfertigt er seinen Schulabgang, den er trotzig selbst herbeigeführt hatte, vor seinen ehemaligen Mitschülern: […] die Arbeit sei in der Schule ein Gegenstand des Redens, sie hieße für uns nicht aufbaun, sondern zuschaun. Vier Jahre Lippenbekenntnisse – wir würden, notwendigerweise, zu Heuchlern, ohne uns dessen bewußt zu sein, es würden nichts 7 Es gibt hier durchaus bereits Arbeiten, die diese Problematik aufgreifen. Die Beziehung von Jazz zur Literatur steht allerdings in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung noch aus. Vgl. Werner Josh Sellhorn: Jazz – DDR – Fakten. Buch mit CD. Berlin: Neunplus / Edition Kunst 2005 oder: Freie Töne Die Jazzszene in der DDR. Hg. von Rainer Bratfisch. Berlin: Ch. Links Verlag 2005. 8 Kast, S. 9.
239 als Worte verlangt, die wären leicht zu sagen, die zögen keine Konsequenz für uns nach sich, die würden uns abgenommen aus dem kalten Herzen […].9
Der öffentliche Diskurs wird auf diese Weise als Nahtstelle und Fügung betrachtet, mit der der zu verändernde geographische wie soziale Raum zu beeinflussen ist. Auch in den weiteren Teilen von Kasts keineswegs ungezwungenem Leben wird diese Verflechtung von Diskurs und politischer Veränderung thematisiert. Die Bildung einer sozialistischen Brigade ist im Teil Der Schlamm jedoch nicht den offiziellen Ideologemen oder einer “Parteilinie” geschuldet, sondern vielmehr der Provokation durch das Nachbarkollektiv. Nachdem sich Kasts Truppe mit J.’s Leuten gerauft hatte und die Arbeit in der folgenden Schicht ziemlich erfolgreich verlief, reift der Entschluss zur Brigadenbildung heran: Dieter brüllte heiser: ‘Was J.’s Leute schaffen wollen, werden wir auch!’ Jetzt merkten alle, dass sie das anging, Löbau antwortete: ‘Macht was ihr wollt. Wenn wir so eine Brigade sein wollen, dann mache ich mit. Aber ich habe euch nicht dazu geraten. […] J. war erstaunt, dass es so schnell ging; R. schwieg da und war anders als sonst und schlug Dieter auf die Schultern und sagte: ‘Geschieht uns recht’.10
Genaugenommen betrifft der Zusammenhang von wahrhaftiger Rede und authentischem Handeln auch eine dritte Herausforderung in Kasts Leben. In alle Teile der Erzählreihe ist in die Veränderungen des landschaftlichen und sozialen Raumes auch eine individuelle Liebesgeschichte Kasts eingearbeitet. Im Teil “Der Schlamm” wird Kasts jugendlich-männliches Bedürfnis nach Nähe, Zärtlichkeit, Sex, Eroberung und Besitz kontrastiert mit Ankas weiblichem Verlangen nach Freiheit, Selbstbestimmtheit und ungebundener Bindung: “Sie war ausgelassen wie immer und ich hin- und hergerissen”.11 Im Gegensatz zu vielen anderen Liebes-Geschichten um die in der DDR-Literatur häufig gestalteten Sozialismuserbauer und deren Beziehungen, werden Kasts (auch in allen weiteren Teilen sind diese Partnerbeziehungen problematisch) erotische Emotionen und Affekte von seiner unerreichbaren Geliebten Anka trotz einer scheinbaren Geneigtheit nicht erwidert. Braun paraphrasiert hier eine bekannte literaturgeschichtlich bereits mit großem Erfolg eingeführte Gestalt: Er modelliert hier einen anderen Werther, dem im Spätwerk Ein anderer Woyzeck12 folgen wird. Anders als Goethes Werther bindet Brauns Hauptgestalt in seinen Träumen die gelungene Liebesbeziehung mit den Veränderungen von Land und Gesellschaft ineinander. Er drängt ebenso auf
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Ebd. S. 22. Ebd. S. 44. 11 Ebd. S. 48. 12 Vgl. Volker Braun : Der berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck. Frankfurt/M. und Leipzig: Insel Verlag 2004. 10
240 eine Vereinigung mit dem geliebten weiblichen Körper wie mit dem sozialen Körper der ganzen Gesellschaft. Hier überschreitet Kast auch in seinem Anspruch den Helden des Sturm und Drangs. Als das individuelle Glück sich nicht einstellt, kann sich dieser Werther auf seine lakonische Art (wahrscheinlich) retten: “Zerschlagen, ganz trostlos stieg ich ein. Ich liebe sie! Konnt nicht schlafen, nicht denken. Saß kalt da, nicht mehr mit mir beschäftigt. Kam dann zurück zur Arbeit. Das war mein Leben.”13 Im zweiten Teil Der Hörsaal von 1964 kehrt sich das Problem der Beziehung zwischen dem Philosophiestudenten Kast und der ihn bedingungslos liebenden Linde um. Kast kann ohne große Anstrengung seinem Nebenbuhler Achim die Geliebte ausspannen. Bezeichnenderweise geschieht dies im Hörsaal der Universität Leipzig während einer Vorlesung über Goethes Urfaust. Der Vorlesende R., der die Züge Hans Mayers trägt, wird im Stile einer VorlesungsMitschrift zitiert: “Damalige Ungleichheit von Mann und Frau, plant mit Hilfe dieser Werke eine Gesellschaftsveränderung […] ergebnislos, achselzuckendes Mitleid. […] Faust will bindungsloser Mensch sein, will alles inbesitz nehmen. Wissen!”14 Analog wie das literaturhistorische Vorbild kann Kast mit der ihm entgegengebrachten Liebe aber nichts anfangen. Er posiert eher den Liebenden und wartet fast ängstlich darauf, dass andere ihm seine Entscheidung für oder gegen eine Bindung abnehmen. Eingebettet ist Kasts Bindungsproblem allerdings in mehrere andere kontrastierende Beziehungen. Neben dem Studienkollegen Hagen, der eine kinderreiche Ehe in verantwortungsvoller Weise vorlebt, ist der “Skandal” mit dem Dozenten L., der seine Frau zugunsten einer Assistentin hat sitzenlassen, hier von besonderer Bedeutung. Eine öffentliche Parteiversammlung richtet über die “Verfehlungen”. Der Dozent wird schließlich einstimmig des Institutes verwiesen, während die Assistentin ohne Reue beichtet: “ ‘Genossen, ich kann nur sagen: es war sehr schön.’ ”15 Für den hier zur Debatte stehenden Zusammenhang ergibt sich die Beobachtung, dass die Räume, in denen sich intime zwischenmenschliche Beziehungen vollziehen, an mehreren Stellen der Erzählung durch die Kollegen, Vermieter, Genossen und Mitstudierenden überwacht und somit zum öffentlichen Schauplatz werden. Aus dem “Hörsaal”, so könnte man kalauern, ist ein “Mithörsaal” geworden. Ähnlich wie Erik Neutschs Roman Die Spur der Steine aus dem Jahr 1963, wo eine unerlaubte Beziehung zwischen dem Parteisekretär Horrath und der Ingenieurin Kathrin Schlee vor der Parteikontrollkommission verhandelt wird, muss Kast seine Funktion als Parteigruppenorganisator nach einer Denunziation niederlegen. Listigerweise lässt Volker Braun seinen wenig
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Kast, S. 50. Ebd. S. 58. 15 Ebd. S. 87. 14
241 vorbildlichen Philosophiestudenten freizügige Gedanken und tabubrechende Auffassungen aus Friedrich Engels’ Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats zitieren.16 Er unterzieht mit dem Machtwort des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus die Prüderie des sozialistischen Alltags einer deutlichen satirischen Kritik und leistet mit einer für die damaligen Verhältnisse unerhört deutlichen und klaren Sprache über die sexuellen Bedürfnisse und emotionalen Bewegungen Arbeit im doppelten Sinne der Aufklärung. Der Philosophiestudent Kast ist im zweiten Teil der Erzählfolge gewissermaßen eine Gegenfigur zum Bauarbeiter Kast aus Der Schlamm. Seine Liebesbeziehung zu Linde gestaltet sich ganz nach seinen Wünschen. Aber er übernimmt für seine Partnerin keinerlei wirkliche Verantwortung. Angesichts Lindes Schwangerschaft verhält er sich ignorant. Insofern bleiben seine Worte, die er über die Theorie und Praxis des sozialistischen Lebens findet, reine Luftschlösser. Kast ergeht sich im Schwadronieren über “das ganz große Experiment der neuen Gesellschaftsordnung”,17 das vergleichsweise kleine Experiment der sozialen Bindung besteht er aber nicht. Ihn ergreifen Ängste, er verfällt gegenüber Linde ins Dozieren und ergreift sogar die Flucht vor ihr. In seiner Tätigkeit als Maler fühlt sich Kast von der Parteileitung gründlich missverstanden. Dass Kast unter anderem auch als Maler tätig ist, verdankt sich nicht zuletzt dem von Marx geprägten kommunistischen Bild der befreiten Arbeit, wo man, so der Marxsche Entwurf, aus der Borniertheit der spezialisierten entfremdeten Monotonie in eine Pluralität unterschiedlichster Tätigkeiten emanzipiert werde. Als Maler jedoch wird Kast verkannt. Seine Bilder seien “schädlich”, “philosophisch nicht zuende gedacht” und “antirevolutionär”.18 Insbesondere das Porträt eines Mädchens mit offener Bluse wird vom Parteisekretär K. in einer extra beorderten Aussprache als subjektivistischundialektisches Bild verdammt. Kast versteht die Kritik überhaupt nicht. Wieder stößt sein offener Umgang mit erotischen und sexuellen Phänomenen an die Grenzen der herrschenden Prüderie. Er wird auf Grund seiner Bilder als Parteigruppenorganisator abgelöst und empfindet seine Maßregelung als einen Fehler der Parteileitung. Hier, so lässt Kasts Einspruch erkennen, kollidiere die Marxsche Auffassung vom zukünftigen Menschen mit einem politisch opportunistischen Menschenbild, das den ganzen Menschen den unfertigen Verhältnissen zuliebe nur in Teilen benötigt. Aus einer heutigen Sicht wird das einem Leser kaum auffallen, für die Entstehungszeit kam jedoch Brauns offener Umgang mit Sexualität und Geschlechterbeziehungen fast einem Tabubruch gleich. Kasts Auffassung vom “ganzen Menschen” lässt sich nicht mehr aufspalten
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Ebd. Ebd. S. 73. 18 Ebd. S. 80. 17
242 in diese oder jene Seite.19 Gerade der Hörsaal war in dieser Hinsicht ein “starker” Text, der seine Wirkung von dieser Provokation her bezog. Betrachtet man die spezifische Raumsituation in diesem Teil, so ist der titelgebende Raum fast irreführend. Zwar bezeichnet “Der Hörsaal” deutlich einen anderen Raum als der vorausgehende “Schlamm” oder die nachfolgenden “Bühne” und “Tribüne”, eine handlungsleitende Rolle spielt die Besonderheit dieses Raumes für den Erzähltext nur bedingt. War im Schlamm das Element der Raum- und gar der Landschaftsveränderung besonders groß und schwergewichtig platziert, so wäre nach dieser Logik im Hörsaal sehr viel über die Bildung und Selbstveränderung durch Studieren und Lehren zu erwarten. Der Topos des Lernens und Lehrens bleibt aber in der Erzählung eher an der Peripherie. Im Zentrum befindet sich m. E. die Geschichte der Liebe zwischen Kast und Linde. Sie wird in besonderer Weise aus der intimen Sphäre des Privaten in die Öffentlichkeit transferiert und, wie bereits angedeutet, mit analogen Partnerbeziehungen und deren Qualität einem Vergleich ausgesetzt. Immer noch in der Haltung des Stürmers und Drängers – eine in jener Zeit weit verbreitete Pose des sozialistischen Selbsthelfers, wie sie als Balla, Moritz Tassow oder als Paul Bauch wirkungsästhetisch zur “Vorgangsfigur”20 qualifiziert wurde –, wird aber Kast seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Sein Streben nach unbedingter Ganzheit im Namen eines neuen Menschentums fällt zumindest in der Beziehung zu Linde in den alten bürgerlichen Egoismus á la Urfaust zurück. Mit Walt Whitmans Versen auf Amerika auf den Lippen besichtigt das Paar Lindes zukünftigen Arbeitsort H. Für Kast stellt sich schnell heraus: Schön, aber alles war etwas klein: der Bach, die Hügel, die Häuser, die Hunde, auch mein Genuß an dieser Idylle. Hier sollte man also leben. Wo sich nichts weiter bewegte als ein paar Fahrräder im Sand und der Qualm am Himmel. An diesem zufälligen Ort! In diesem Mekka für Mücken oder Forum für Fliegen. In diesem Rest einer erledigten Industrie, der wir bald den Rest geben.21
Abschätzig, herablassend und großspurig, wie Kast den künftigen Lebensort seiner Freundin verurteilt, ist auch seine Sicht auf “diese schwächlichen Ehen, wie sie dahinkrochen zwischen ihren Töpfen, und auseinanderfielen zwischen den Bettpfosten”.22 Kast läuft im Zeichen eines zukünftigen Lebens vor der Gegenwart davon, konsequent ist deshalb das Scheitern seiner Beziehung zu Linde. Dort, wo er die Ehen verortet, zwischen “Töpfen” und “Bettpfosten”, spielt sich bekanntlich nur ein Teil der familialen und Partnerbeziehungen ab. 19
Vgl. ebd. S. 82. Vgl. Dieter Schlenstedt: Wirkungsästhetische Analysen. Berlin: Akademie Verlag 1979. 21 Kast, S. 92. 22 Ebd. S. 94 20
243 Sein Blick aufs Ganze, ansonsten sein Lieblingseinwand gegen jegliche Art von Beschränkung und Begrenzung, ist hier von merkwürdiger Blindheit geschlagen. Braun führt seinen Protagonisten Kast in seinem Widerspruch zwischen ungezügeltem Anspruch bei gleichzeitiger Selektion von bestimmten Verbindlichkeiten als einen Scheiternden vor. Am Ende des Hörsaals befindet sich Kast auf einem “eiskalten” Bahnhof, während Linde (ohne sich umzuschauen) mit einem Zug davonfährt. Sie entfernt sich, ist in Bewegung, während er “wie zerrissen”23 in Erstarrung zurückbleibt. Das “ungezwungne” Leben erweist sich als praxisferne Projektion eines männlichen Egoismus. In der DDR-Literatur waren solche aus der Ich-Perspektive erzählende Gestalten, die mit ihren Fehlern an den Bruchstellen der Gesellschaft auf deren Widersprüche oder, wie Braun es formulierte, “offene Enden”, verwiesen, zwar nicht selten anzutreffen. Sie waren aber in der öffentlichen Debatte nur ungern geduldete Abweichler. Was sie in jedem Falle leisteten: Sie eröffneten ein Diskussionsfeld, das dazu einlud, die Grenzen und Möglichkeiten der sozialistischen Handlungsräume zu bestimmen und sich bestimmter Perspektiven weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen zu vergewissern. In der Literaturkritik wurde ihnen eher widersprochen und ihr Fehlverhalten mitunter auch als Schwäche des Autors bei der realistischen Gestaltung der Gegenwart geziehen. Das Wort vom “anarchischen Helden” war dafür in der Dramatik gefunden worden, der im Gegensatz zum “richtigen” Leben unfähig zum Kompromiss seinen Illusionen erliegt. Wie sich zeigt, ist Volker Brauns Protagonist Hans Kast, obgleich gewisse biographische Details übereinstimmen, eben doch keine autobiographische Übermalung des Autors. Anhand der literaturgeschichtlichen Ausbeute und intertextuellen Verflechtung (im erzählerischen Auftakt vor allem Lamettrie, Haller, Goethe, Marx, Engels, Whitman) lässt sich erkennen, dass Braun wohl kalkuliert hier ein Forum zur Diskussion eröffnet hat, das nicht einfache Anleitungen zum richtigen Handeln bereitstellt, sondern Problemstellungen in die Gesellschaft implantieren will. Die kritische Abrechnung mit illusionären, verantwortungslosen, egoistischen, aber auch kollektivistischen, prüden, leidenschaftslosen, vermeintlich wissenschaftlichen Standpunkten leitet er mit seiner Erzählung ein. Bezogen auf das Raumkonzept lässt sich feststellen, dass in den ersten beiden Teilen ein revolutionärer Veränderungsanspruch zugrunde liegt, den sich die Mittelpunktsfigur selbst auferlegt hat. In der Einlösung dieses Anspruchs werden jedoch Überforderungen, Brüche und Risse deutlich, die die Figur zerstört und sie so in einer schmerzhaften Weise am eigenen Körper als revolutionäre Therapie erlebt. In Der Schlamm endet Kast “zerschlagen”, im Hörsaal ist er “zerrissen”. Im Gegensatz zum ersten Teil gelingt Kast im zweiten die Vereinigung mit der Geliebten. Als jedoch Verantwortung für ein mögliches 23
Ebd. S. 103.
244 Kind auf ihn zukommt, versagt er. Beide Male sind es die Schmerzen einer unglücklichen Liebe, die Kast im Innern treffen. Das Thema der sozialen Veränderung und der Umgestaltung des Landes, mithin die sozialistische Revolution ist bei den “Mühen der Ebenen” (Brecht) angekommen. Steht im ersten Teil die Vereinigung der Individuen zur Bildung eines “sozialen Körpers” im Vordergrund, so verliert sich dieser Erzählstrang im Hörsaal. Hier ist die Differenz von Theorie und Praxis des alltäglichen Sozialismus hervorgehoben. Kasts rückblickendes Urteil: “eine höchst merkwürdige Sprache benutzten wir hier”24 wird vor allem aber im dritten Teil der Erzählfolge zum zentralen Problem. In Die Bühne ist Kast als Autor eines Stückes bei der Erarbeitung der Uraufführung durch eine Bühne der DDR im August 1968 beteiligt. Wenn man so will: die Anspielungen des biographischen Materials zielen auf die Erprobung des Dramas Hinze und Kunze, das Volker Braun anlässlich seiner Uraufführung in Weimar dramaturgisch begleitete. Die “Bühne” als Handlungsraum sollte, zumal in der sozialistischen Gesellschaft, ein Ort sein, in dem die Öffentlichkeit sich über die sie bewegenden Fragen, Konflikte und die Perspektiven ihrer Entwicklung austauscht. Argumente, Positionen, Wertungen und Gefühlslagen sollten mit den theatralischen (oder generell künstlerischen) Möglichkeiten stellvertretend für relevante soziale Gruppen und deren Interessen verhandelt werden. All dies sollte als Korrektiv zum politischen Diskurs die Gesellschaft begleiten, formen und beeinflussen. Wie sind aber in Brauns Erzählung die kommunikativen Beziehungen der sozialistischen Öffentlichkeit und besonders jene zwischen Kunst und Politik beschaffen? Was leistet Die Bühne als öffentlicher Raum? Verglichen mit dem ersten Teil haben sich die Beziehungen der im Mittelpunkt stehenden Figuren von der revolutionären Praxis auf der Bühne nun noch weiter entfernt. Das Abbild des gesellschaftlichen Umbaus auf dem Theater sollte die Widersprüche veranschaulichen, die die eigene Geschichte in Bewegung bringen. “Damit sich womöglich die Zuschauer selber nichts zu leicht machen, an ihren Orten”25 – so schlicht formuliert Kast seinen Anspruch als Autor. Für das Theater stellt sich das Verhältnis der Theaterfiguren Fritz und Kurt als wechselseitig Führende und Geführte im Prozess des Werdens einer neuen Gesellschaft als unlösbares Problem heraus. Realistische Dramatik und politische Wirklichkeit waren nicht miteinander zu vereinen. Bekanntlich veränderte Braun seine Adaption von Goethes Faust, die besonders nach den Handlungsantrieben und Impulsen der beiden Hauptgestalten in der sich ausprägenden sozialistischen Gesellschaft fragte, mehrfach. Aus der Goethe-Überarbeitung wurde über mehrere Stufen schließlich dann bekanntlich der HinzeKunze-Roman. Im Stück hatte Gretchen / Ulla eine historisch völlig neue Rolle in dieser Konstellation einzunehmen. Kasts Stück wollte den sozialen 24 25
Ebd. S. 63. Ebd. S. 106.
245 Lernprozess ausloten. In der Probenarbeit und in den Diskussionen um die Aufführbarkeit des Stücks werden aber vor allem die Grenzen der Ulbricht-Ära in philosophischer, politischer und ästhetischer Hinsicht sichtbar. Der Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes in die Cˇ SSR und das Ende des Prager Frühlings sind wie ein Katalysator, der die Probleme der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft auf den Punkt bringt. Das Verhältnis von Führern und Geführten zu diskutieren wird läppisch, wenn der Machtanspruch der herrschenden Partei die Diskutanten mit Gewalt zum Schweigen verurteilt. Die militärische Lösung, die die große Diskussion um die Perspektiven des Sozialismus beendet, schlägt auch auf die Arbeit im Theater durch. Kast möge bestimmte Szenen ändern, ansonsten könne das Stück nicht aufgeführt werden. Zwar werden die Entschärfungswünsche hinsichtlich einiger Szenen seitens leitender Genossen und das gewaltpolitische Vorgehen der Partei und Staatsführung nicht unmittelbar aufeinander bezogen, atmosphärisch sind die Verhältnisse aber von großen Verstörungen gekennzeichnet. Entscheidend ist in diesem Teil, ob von Braun beabsichtigt oder nicht, dass die kommunikativen Beziehungen in der Gesellschaft durch das Anwenden roher Gewalt genaugenommen ausgeschaltet sind. Es gibt nur noch die Beschlusslinie von oben nach unten. Zu diesen Beschlüssen sind als demokratische Bemäntelung nur gleichgeschaltete Zustimmungen erlaubt. Der öffentliche Raum ist damit zu einer Einbahnstraße pervertiert. Die Beteiligten erhalten außer wenigen dürren offiziellen Verlautbarungen keine Informationen. Ein Kamerateam holt zustimmende Meinungen von den Hauptdarstellern und dem Regisseur zur Invasion ein. In Susannes (Kasts Ehefrau) Werk, d.h. auf einer anderen “Baustelle” des Sozialismus, werden den Werktätigen wichtige Informationen ebenfalls vorenthalten, so dass Susanne sich zur Kündigung entschlossen hat. Kast versucht seinen Schock über die Vorgänge in Prag in Worte zu fassen, bleibt aber: […] aufs erste sehr allgemein. Das geschieht da nebenan, fast an meiner Haut, aber ich hör und seh nichts davon, ich kann mir kein Bild machen, und: es geschieht durch uns mit, aber wir (wenigstens viele) sind in unseren Gefühlen und Erwartungen überrollt.26
Als auf einer späteren Probe die Schauspieler nicht mehr bereit sind, den geänderten Text zu spielen, bricht der aufgestaute Zorn offen aus. Sogleich wird dies als Beweis gegen das Stück instrumentiert. Kast versucht die verfahrene Lage mit dem unentwickelten Zustand des Theaters zu erklären: Den Zuschauern eine kritische Haltung, – das genügt nicht mehr. Es muß eine praktische sein. Die Zuschauer, und nicht nur im Saal, müssen einbezogen sein – in ein ständiges öffentliches Proben gesellschaftlicher Lösungen. Kein Vorspielen und Ansehn von “Abbildern” – sie müssen es mit machen, sich das Bild machen. Vorweggenommene Praxis, eine Praxis im Versuchsstadium, wo die Kosten der 26
Ebd. S. 116.
246 Experimente ertragbar sind. Ja, große und kleine Gruppen können ihre Möglichkeiten durchspielen und üben, alles übrige ist Museum.27
So einleuchtend Kasts Argumentation erscheinen mag, es sind leere Worte, an denen er sich hier berauscht, denn gerade ist seitens der Macht demonstriert worden, was man von praktischen Experimenten hält und wie man gedenkt, gegen sie vorzugehen. Der Aufruf, sich nicht abzuschotten, nicht zu kündigen bzw. sich nun erst recht einzubringen, ist unhaltbar. Bereits Brecht hatte aus den Niederlagen, die ihm und seiner Theaterauffassung in der DDR beigebracht wurden, den Schluss gezogen, dass solange die “Große Pädagogik” (Umbau der ganzen Gesellschaft) nicht funktioniere, er sich mit der “kleinen Pädagogik” (Veränderungen in der Praxis des eigenen Theaters) begnüge. Der Preis des Experiments war aber selbst dort mit einer Reihe von Gängeleien und Bevormundungen sehr hoch erkauft. Mitunter mussten die Experimente (LuxemburgProjekt, Büsching-Fragment, Dessaus Lukullus, Eislers Faust) vertagt oder abgebrochen werden. Der “ungezwungne” Kast wird Ende der 1960er Jahre unglaubwürdig. Er nimmt die Rolle eines Opportunisten ein. Die wichtigsten Fragen der Gesellschaft, nämlich die der Glaubwürdigkeit und Wahrheit im Umgang von Partei und Volk werden in dieser Erzählung umgangen bzw. in Wunschdenken aufgelöst “Das ‘Wunder’ schaffen nur noch alle […]”28 heißt es im Schlussabschnitt der “Bühne”. Gerade eine Landschaftsbeschreibung überführt Kast als harmoniesüchtigen Idylliker. Seine Ausbrüche gegen die Idyllen im “Hörsaal” sind dem Leser noch halbwegs im Ohr, während gegen Ende des dritten Teils ein Waldspaziergang so endet: Am Ausgang [eines dunklen Waldes – HCS] standen wir geblendet, das Land öffnete sich in Tälern, die durchdringend leuchteten, ganz unzerstückte Flächen, die riesigen gelben Schläge der LPG, die Allee wie das Fließband, von aus alle zu bedienen sind. Das lag lieblich da und doch groß, eine Kooperation von Gelände, Witterung und Planung. Wir gingen rasch durch ein Dorf, blickten hinunter auf die alte künstliche Landschaft, die zur Natur geworden war, die Wiesen mit Gruppen von Blumen, die wie Freunde im Gespräch stehn. Wir stellten uns auch so oder setzten uns an die Tische. Das konnten wir also haben. Die Landschaft, Gespräche, die Freunde mit ihrem ähnlichen Leben. Mit ihren beruhigend ähnlichen Geschichten.29
Der letzte Satz der Erzählung “Ich war bis ins Innerste ruhig”30 bildet einen denkwürdigen Kontrast zu den Befindlichkeiten, die Kast am Ende der vorangegangen Teile zu bestehen hatte. Obwohl sein Stück in Gefahr ist, bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbessert zu werden, bleibt seine Gegenwehr kraftlos. 27
Ebd. S. 129 Ebd. S. 139. 29 Ebd. S. 137. 30 Ebd. S. 139. 28
247 Es taucht das Selbstbild einer “defekten Maschine” auf, das sich acht Jahre später in Heiner Müllers Hamletmaschine wiederfindet. Dort ist das ehemalige Subjekt der Geschichte zu einer fatalistischen Figur geronnen, die sich selbst im Wege steht und ihren Ausstieg aus der Politik und Geschichte postuliert. Anders aber wird noch in Brauns Text der Verlust der männlichen Subjektposition immerhin noch von der Hoffnung auf die im Emanzipationskampf befindliche weibliche Protagonistin aufgehoben. So ist es einzig Susannes tränenreichem Ausbruch zu danken, dass in der entscheidenden Besprechung über das Stück der Ernst der Lage allen deutlich wird. Sie ist auch die aktivere von beiden, die um den Bestand des Stückes kämpft. Da Susanne ihre Kündigung zurückzieht, scheint die Geschichte auf ein versöhnliches Ende zuzusteuern. Genaugenommen hat sich aber außer einer kämpferischen Rhetorik nichts wirklich verändert. Weder wird das Problem des Verhältnisses von Führern und Geführten im Stück genau markiert, noch wird der Einmarsch in die Cˇ SSR problematisiert. Im Gegenteil: zu der Intervention ins “sozialistische Bruderland” werden durchweg positive Stellungnahmen abgegeben. Der Theaterkrach bringt nur atmosphärisch die abweichenden Ansichten und die Kritik an den Entscheidungen der Parteiführung zum Ausdruck. Der Autor weicht hier aus, seine Protagonisten räumen die Bühne und delegieren die Arbeit an die Zuschauer.31 Der Handlungsraum ist den eigenen Verantwortlichkeiten der Akteure entzogen, er ist militärisch umstelltes Gelände, das sowohl im Leben wie auf der Bühne indiskutabel ist. Die Partei als die Instanz, die hier eine kommunikative Vermittlung eröffnen könnte, hat sich für die militärische Intervention und das Ende der Experimente entschieden. Sie tritt demgemäß auch in der Erzählung gar nicht in Erscheinung. Gewissermaßen konsequent schließt die fragmentarisch zerklüftete Prosa des letzten Teils an die gestörten kommunikativen Verhältnisse des dritten Teils an, obwohl der Kast in Die Tribüne mit seinen gleichnamigen Vorgängern nichts mehr gemein zu haben scheint. Als in die Jahre gekommener Funktionär schießt er sich schließlich mit einer Fahrt gegen den Baum aus der Geschichte. Der selbstzerstörerische Akt steht für mehr als nur eine tödliche Mischung aus Depression und zu viel Alkohol. Bereits der Einsatz von zwei Erzählinstanzen deutet die Dezentrierung der (geschichtlichen und historischen) Perspektiven an. Kast, der Funktionär und unglückliche Liebhaber, “in zwei Wesen gerissen”, verdöst schließlich “zwischen Skatspielern und Biertrinkern”. Seine Visionen – es sind dies die Reste von einstigen Entwürfen des Neuen – sind zu Satzanfängen geschrumpft. Die letzten Aufzeichnungen Kasts demonstrieren das Stottern seiner Grammatik: Die vertagten Fragen der neuen Produktionsweise … Die Herrschaft der Arbeiterklasse nur über neue Qualität der Produktion zu sichern, das “Politische” greift nicht in die 31
Vgl. ebd. 9.
248 Tiefe … Von daher alles durchdenken, Rang der Aufgaben – bis zum Charakter dieser gemachten Epoche. Wo sind wir denn. Das dumpfe Gefühl: haben uns nur Grundbegriffe, ein ABC eingelernt, aber das wirkliche Studium. Jede Niederlage ist immer weniger entmutigend als die ermutigendste Lüge. (Ignazio Silone)32
Auf der Tribüne nahmen an bestimmten Feiertagen die Funktionäre von Partei und Staat Aufstellung. Sie sollten eigentlich das Volk repräsentieren und dessen Interessen politisch vertreten. In der Praxis, die die Erzählung meint, sind die Beziehungen zwischen den Machthabern auf der Tribüne und den vorbeimarschierenden Werktätigen zu einer Huldigung der Beherrschten an die Herrscher pervertiert. Die Ebene der Planer und Leiter, der auch Kast angehört, hat sich zu einer oligarchischen Diktatur gewandelt, in der die demokratischen Ideale, mit denen die Partei einst ihren Führungsanpruch legitimierte, zur reinen Machtpolitik instrumentiert sind . Dem Parteisekretär Kast wird sein vergebliches Wirken für eine sozialistische Gesellschaft neuer Qualität an einem 7. Oktober, dem Tag der Republik, bewusst: Ich hatte einen Platz auf der Tribüne und applaudierte den Transparenten. […] Und selbst wir hier oben waren nach unserer Stellung geordnet. […] Ich hatte einen Posten, ich hatte ihn angenommen, um mich mit vielen zu vereinen für unser aller Sache. Aber jetzt sah ich mich; erst recht unterschieden und getrennt von den meisten.33
Sein Einsatz für mehr Demokratie und Diskussion kostet ihn die Stellung. Er verliert gleichzeitig zu den beruflichen Niederlagen auch seine Frau Susanne an einen anderen Mann. Er wird zum Quertreiber in der Partei, seine Ablehnung der Nomenklatur bringt ihm eine Vorladung zur Parteikontrollkommission und die Entbindung von seiner Arbeitsaufgabe. Das Projekt, mit seiner geliebten Frau Susanne ein freieres selbstbestimmtes Verhältnis zu leben, misslingt. Die großen Entwürfe verbleiben in einem unausgeführten Zustand. Sie erweisen sich als Utopie im Sinne des Kein Ort Nirgends. Christa Wolfs literaturhistorische Gestalten Günderode und Kleist wird die Perspektive der Ohnmacht fünf Jahre später zum Selbstmord treiben. Brauns letzter Kast-Text, in dem kurzen kulturpolitischen Tauwetter am Beginn der Ära Honecker verfasst (aber auch erst fünf Jahr später publiziert), nimmt den Endpunkt der Fehlentwicklung der revolutionären Partei vorweg. Das Besondere am Genossen Kast besteht in seiner Gewissensnot. Im Unterschied zu denen, die keine “Fehlerdiskussionen” zuließen, weiß er, dass die Partei sich von der Wirklichkeit entfernt hat, dass es ihr nur noch um den Erhalt ihrer Macht geht und dass sie an wirklicher sozialer Veränderung desinteressiert ist. Sein Aufbegehren dagegen ist ohne Ergebnis. Selbst mit Macht im Apparat 32 33
Ebd. S. 189. Ebd. S. 176.
249 ausgestattet zu sein, bedeutet nichts, denn die Macht hat ihren Wert nur im Hinblick auf das höchste Organ der Partei. Als er diese diktatorischen Bezüge, die parteiintern als “demokratischer Zentralismus” bezeichnet werden, in Frage stellt, isoliert er sich. Die Maßregelungen seiner Genossen verschärfen diesen Konflikt. Braun kann in diesem letzten Teil vorführen, wie aus überzeugten Sozialisten Dissidenten werden. Kast ist in der Paradoxie gelähmt, einerseits für die Gesellschaft zu sein und diese zugleich mit derselben Energie ändern zu wollen. Sätze wie: “[…] es stimmte nichts in der Welt. […] Ein Strich hindurch, ein Strich durchs Ganze. […] Ich sehe keine Lösung, Geliebte […] Du richtest dich mit Absicht zugrunde […] Ein für die Zeitung unbrauchbares Leben”34 unterstreichen den Endzeitcharakter von Kasts nunmehr zwanghaftem Leben. Die Gestalt hat sich über einen Zeitraum von 15 Jahren völlig verwandelt. Es sind in ihr Einsichten gewachsen, die ihr den Blick auf die “wirklichen” Verhältnisse erlauben. Allerdings wird er zunehmend von seinen mächtigen Kontrahenten aus der Verantwortung gedrängt und nimmt sich angesichts seiner Ent-Täuschungen und Isolation schließlich das Leben. Aus dem einstigen Stürmer und Dränger ist ein müder, desillusionierter Selbstmörder geworden. Verstoßen, vom Körper der Gesellschaft, der Partei und der Geliebten entfernt, angeekelt durch das “abstrakte Geseich” und die “zynische Weltanschauungsroutine”35 der Dozenten auf dem Lehrgang, zu dem man ihn zwecks “Runderneuerung” geschickt hat, endet die Figur mit “gebrochenem Genick”. Noch stehen die eigentlichen kulturpolitischen Spannungen der Honeckerzeit aus, der Text entsteht vor der Biermann-Krise und ist auf dem Höhepunkt einer Reformulierung des Sozialismus in der DDR verfasst worden. Als er veröffentlicht wird, ist die liberale Phase bereits vorüber, der Riss, der mit der Biermann-Ausweisung offenbar wurde, ist bis zum Ende der DDR nicht mehr zu kitten. Brauns Reaktion auf die Stagnation und auf die Politik der reinen Machterhaltung ist unter anderem ein Text von 1981, den er als Der Eisenwagen nach dem Hinze-und-Kunze-Roman publizierte. Gerade dieser Text demonstriert den Neuansatz des Braunschen Verhältnisses zur Geschichte und damit auch zum Raum-Zeitkontinuum, in das er sich als beteiligtes Subjekt gleichsam einschrieb. Der Wagen, der anfangs noch als eine “Karre”, ein “flaches unbequemes […] Wägelchen”,36 fast wie ein aus dem Gerümpel gezogenes Kinderspielzeug beschrieben ist, erfährt im Laufe seiner Beschreibung eine
34
Ebd. S. 173ff. Ebd. S. 186. 36 Vgl. Volker Braun: Der Eisenwagen. In: Ders.: Stücke 2. Berlin: Henschelverlag 1989. S. 7. 35
250 Verwandlung, die in einigen Stationen hier nur kurz referiert werden kann. Nachdem die Mitfahrenden ihn durch Sand, Lehm, Steppe, Regen, Eis, Grundwasser bugsiert haben, werden sie beschossen und sind gezwungen, ihn mit Eisenplatten zu panzern. Der nicht weiter kenntlich gemachte Ich-Erzähler wurde in die Lunge getroffen. Im (nunmehr) dröhnenden Panzer verpackt, muss er, wie seine Mitfahrer, ausharren, “solange dieser Kampf dauerte”.37 Es ist eine Einschließung oder aber auch eine Gefängnissituation, die die Insassen erleben. Angesprochen ist in diesem Bild das Szenarium der Hochrüstung am Beginn der 1980er Jahre, das mit den Stationierungen von immer gefährlicheren Waffen in Mitteleuropa die Politik und Gesellschaft dominierte. Eine auffällige Analogie ergibt sich im Verlauf des Textes zu Heiner Müllers 1972 geschriebenen Text Herakles 2 oder die Hydra.38 Dort befand sich der antike Heros auf dem Weg zu dem Untier und musste erkennen, dass nicht nur der Wald, den er durchschritt, um auf seinen Gegner zu treffen, sondern er selbst das Tier war, das er zu besiegen suchte. Eine Autopoiesis von Antipoden, die sich in die eigene Figur verwandelt, ist auch in Brauns Text zu erleben: War ich mein Feind? Ich entfernte mich experimentell von mir, d.h. ich stellte mir einen Mann vor, der mir von draußen zusah. Wo befand ich mich? War das ein Wagen. Traktor, Pflug, Jauchekutsche, Drehbank, Schrottberg Höllenmaschine. Ein sagenhaftes ominöses Gefährt. Eine Apparatur, die alle Funktionen aller Geräte in sich vereinigte und knirschend rasselnd öl- und kottriefend vom Zentrum bis an die ferne reine Küste ratterte.39
Die Verwandlung des Ich- bzw. Wir- Erzählers in den Eisenwagen, sein Tod im Moment der Erkenntnis sind die Endstationen, die Brauns Text von der Individualgeschichte in eine universale Gattungsgeschichte überführen. Die bisher die unterschiedlichen Seiten stützenden Ideologien sind anscheinend im Laufe der Zeiten austauschbar geworden. Vielmehr ist ein ökologisches Argument, damals ja durchaus neu, in den gattungsgeschichtlichen Kämpfen von besonderem Gewicht: “Zu den Lebenden traten die Toten. Zu den Kriegen traten die Landschaften, die wir gebaut und zerstört hatten. Die Frage wer wen, aus dem Spielchen der letzten Jahrtausende hatte eine Antwort vorweggenommen, die keine ist.”40 In den Hintergrund getreten bzw. außer Sicht geraten ist schließlich auch die geschlechtsspezifische Dimension, die Brauns Texte bis dahin noch als hoffnungsgeladene Unruhezentren auszeichnete.
37
Ebd. Vgl. Heiner Müller: Herakles 2 oder Die Hydra. In. Ders.: Werke 2. Die Prosa. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1999. S. 94–98. 39 Der Eisenwagen (Anm. 36). S. 9. 40 Ebd. S. 10. 38
251 Anders als in Müllers Herakles-Text, wo der Er-Erzähler sich die schmerzhafte bis tödliche Geschichte noch vom Leibe halten kann, indem er die Funktion eines scheinbar außen stehenden Chronisten ausübt, kann sich Brauns Ich-Erzähler mit seinen Gefährten nicht der Geschichte entziehen. Brauns Erzähler ist Subjekt und Objekt seiner ihn zugleich übersteigenden Geschichte. Der militärische Raum mit seinen für die Bewohner tödlichen Konsequenzen ist im Eisenwagen zur Einhalt gebietenden Metapher gestaltet. Emanzipation? Befreiung? Liebe? Nicht einmal mehr als Impulsgeber oder als Handlungsmotiv spielen sie in der Zeit des Überlebenskampfes eine Rolle. Im ersten Heft von Sinn und Form, das auf die Wende 1989 Bezug nahm, wurde im Dezember des gleichen Jahres ein Text Volker Brauns publiziert, der in besonderer Weise einen Einschnitt darstellt. Brauns Bodenloser Satz41 gliedert sich in einen Auftakt, der eine traumgesichtige erotische Phantasie eines Ich-Erzählers zum Inhalt hat und in einen fortlaufenden weiteren Text übergeht, der ohne Absätze, gleichsam atemlos sich der Thematik des Umbaus der Landschaft widmet, die Braun dreißig Jahre zuvor in der ersten KastGeschichte aufgegriffen hatte. Durchsetzt ist der Bodenlose Satz mit Versalien, die Anspielungen bereit halten, die die jeweiligen Kontexte erweitern. So liest sich die Tätigkeit des “UMBETTEN(S)”, die das Verbringen eines Friedhofs im Abrissgebiet eines Tagebaus erfasst, als “ARBEIT MIT DEM MENSCHEN”,42 was auch als eine Aufforderung an die Genossen der SED verstanden wurde, sich nicht mit Beschlüssen über die Köpfe hinweg, sondern konkret mit dem einzelnen Menschen auseinanderzusetzen. Dass die Welt nun “VON GRUND AUS ANDERS” werde, oder dass die “VERBRANNTE ERDE” bis in die Tiefe der ausgekohlten Tagebaue reiche, bekommt in Brauns Text einen vielschichtigen Sinn. So wächst bestimmten Phrasen ein metaphorischer Gehalt zu, der bestimmte, bisher getrennte Diskurse auf neue Weise synthetisiert. Erreicht wird durch dieses Verfahren, dass die Sätze aus ihren bisherigen Kontexten heraus in eine widerspruchsvolle Beziehung zu anderen Zusammenhängen gebracht werden, wobei sich eine komplexe Historizität ergibt, die zu gegenseitigen Erhellungen führt. Der Erzähler wird von Tagträumen ergriffen, er “sieht” plötzlich in der historischen Landschaft die “alte Substanz”. Er erblickt unter anderem den Mord der SS an den Häftlingen, erlebt sich beim Schaufeln seines Grabes und ist doch von Tiefbauarbeitern misstrauisch beäugt. Ihn erfasst Schwindel angesichts der “AUSSIEDLUNG”, er weiß sich “ausgelöscht mit der vergangenen Gegend”, umgeben von der “Weite des Vergessens, der Karst der Gleichgültigkeit, der Gestank der Verwesung der Zukunft in der Wüste der Sieger; wo wird der Satz enden […].”43 41
Volker Braun: Bodenloser Satz. In: Sinn und Form 41 (1989). S. 1235–1246. Ebd. S. 1240. 43 Ebd. S. 1421. 42
252 Die bisherige Geschichte des Abbruchgebiets lässt Braun seinen Erzähler Revue passieren. Dabei gerät er sprachlich in Delirien, die stichwortartig die Vergangenheit bezeichnen und die die Vergewaltigung einer Frau mit der der Natur engführen. Die “FRIEDLICHE ARBEIT” stellt sich als Krieg gegen die Landschaft heraus: und der Abbruch glich der Demontage nach dem Krieg, nur demontierten wir jetzt die Bäche und Berge, und die Zerstörungen des Friedens […] dieses Kriegs […] des Friedens waren gewaltiger, die den Boden beraubten für alle Zeit […] des Blitzkriegs […] die das Erbe der Enkel verbrannten.44
Die Kohle unterm Dorf wird gerade ausreichen, um das Kraftwerk zwanzig Stunden mit Energie zu versorgen – ein Hohn auf die Industrialisierung, oder zynisch und mit Lenin: Kommunismus das ist Elektrizität plus Sowjetmacht. Brauns Abrechnung mit dem unkontrollierten ökologischen Raubbau an der Substanz des Lebens ist umfassend. Seine Abrechnung über die Kontinente hinweg zeigt auf eine neue Internationale, die Globalisierung der Ausbeutung des Planeten. Die Wucht mit der der Bodenlose Satz seine eigene Grundlage in Frage stellt, ist vergleichbar mit Wolfgang Hilbigs Text Alte Abdeckerei. Auch dort ist eine Situation beschrieben, in der sich die Schöpfung zurücknimmt und sich die Kosmologie in ihr Gegenteil verkehrt. Die weltgeschichtlichen und historischen Auf- oder Ausbrüche Brauns mit seinen Stücken, aber auch seine Reden und Essays nach 1989 können hier nicht ausführlich bilanziert werden. Sie unterstreichen aber die Flucht des Autors aus den bisher vertrauten Räumen. Räume, die sich nicht öffnen lassen. Gefangenschaften, mit allen Folgen des Hospitalismus und der Verrohung. Der Eisenwagen und der Bodenlose Satz erkundeten in komprimierter Weise die Grundierungen dieser entfremdeten Verhältnisse in den Farben der DDR. “Spiegelzelt”, “Antikensaal” und “Geländespiel” markieren als Aktbezeichnung die Räume von Iphigenie in Freiheit aus dem Jahre 1990. Die Phase, in der Braun den “demokratischen Aufbruch ins / Nichts”45 kennzeichnet, muss als eigenes Kapitel der Wendeliteratur behandelt werden. Treffend als übergreifende Gestalt ist nun der sich kastrierende Mann, der “MANN DER NEBEN DER STARTBAHN WOHNT”; ein ehemaliger Arbeitskollege aus Kasts Schlamm gerät im “Antikensaal” zum Schatten.46 Hier ist der viel zitierte Verlust des “Eigentums” von besonderem Gewicht. Übergreifend sind die von
44
Ebd. S. 1245. Vgl. Volker Braun: Glasnost. In: Grenzfallgedichte. Hg. von Anna Chiarloni und Helga Pankoke. Berlin – Weimar: Aufbau-Verlag 1991. S. 57. 46 Vgl. Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1992. S. 29f. 45
253 Volker Braun beschriebenen Räume als Gefängnisse, Kolonien, militärische Aufmarschgebiete und pervertierte Märkte nach wie vor der Wende präsent geblieben. Erst mit der Rückgewinnung von Familiengeschichte und dem Entdecken des Unbesetzten Gebiets, bzw. Im schwarzen Berg erfährt Brauns Raumkonzept eine erneute Wendung. Nach den Überlegungen zu der zeitweiligen demokratischen Enklave Schwarzenberg, dem “Epitaph auf Franz Fühmann”, der Im Berg seine böhmische Heimat in ihrer Verkehrung wiederfand, nach Überlegungen zu Peter Weiss, Rudolf Bahro, Carl Friedrich Claus, nach “Bergaltar” und “Theaterhölle” ist auf der letzten Seite des Buches entgegen den suizidalen Neigungen seiner literarischen Gestalten formuliert: “Die Ausbeute schien schier unerschöpflich, und plötzlich war das Erz fort. Einem träumte, er hätte nur noch allein im Schacht gehaun. Da rief ihm eine Stimme zu, glückauf. Der Berggeist riet ihm, die Arbeit aufzugeben, da ihr Glück sie hier verlassen habe. Sie sollten weiter ins Gebirge gehen, bis zu einem Ort, den er nicht näher beschrieb.”47
47
Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet. Im schwarzen Berg. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2004. S. 130.
Heidy Margrit Müller
“ein schwankender Busch im Niemandsland” – Sprache und Identität in Eli Amirs Roman Nuri. Vom Irak ins Land der Väter Eli Amir (born in 1937 in Baghdad, immigrated to Israel in 1950) belongs to the relatively large group of Jewish writers born in Iraq. Due to the negative attitude of the leading Ashkenazi Hebrew culture toward Arabic language and culture, Iraqi-Jewish immigrants living in Israel had (and their children still have) to reject their own roots. Eli Amir decided to publish his literary works in Hebrew. Three of his four novels are semi-autobiographic. They give insight into the difficult situation of upper middle class Iraqi-Jewish people before and after migration from Baghdad to Israel. This article emphasizes Amir’s first novel (in Hebrew: Tarnegol kaparot, 1983; in English: Scapegoat, 1987), a book that describes the life of Iraqi-Jewish immigrants after their arrival in Israel in 1950 from the point of view of a teenager who is separated from his family and brought up in a special school for immigrants and in a kibbutz. The young hero learns to cope with the expectations of his Israeli-Zionist teachers, the wishes of his parents, who feel deeply humiliated because they have to stay in a primitive tent camp for immigrants, and the pressure put on him by his peer group. He successfully adapts to the norms and the language of his new environment and turns into a mediator between the life styles, mentalities and languages of the different groups to which he belongs, proving the secret surplus value of a hybrid identity.
Bis zur Gründung des Staates Israel gab es in Mesopotamien verhältnismäßig viele Juden. Ihre Vorfahren lebten schon seit zweieinhalb Jahrtausenden am Tigris und am Euphrat – seitdem Nebukadnezar II. 586/87 vor Beginn der christlichen Zeitrechnung das Reich Juda und dessen Hauptstadt Jerusalem erobert hatte und einen großen Teil der Bevölkerung, und zwar insbesondere die Oberschicht, nach Babylon hatte deportieren lassen.1 Die Geschichte der Juden in Mesopotamien ist ein Sonderfall; weder in Ägypten noch in Marokko gab es seit so langer Zeit jüdische Gemeinden.
Die Vertreibung der Juden aus Mesopotamien In den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts machten die Juden und Jüdinnen einen ansehnlichen Teil des mesopotamischen bzw. irakischen Bildungsbürgertums, der auf kulturellem Gebiet und im Geschäftsleben aktiven 1
Nathan Weinstock: Une si longue présence. Comment le monde arabe a perdu ses Juifs 1947–1967. Paris: Plon 2008. S. 204f.
256 Bevölkerung, aus; die irakischen Juden gehörten zu den wohlhabendsten2 und den am besten integrierten unter den orientalischen Juden,3 wobei freilich ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung arm war.4 In den Jahren 1941 bis 1973 wurden fast alle Juden aus dem Irak vertrieben. Was ging der Vertreibung voraus? 1932 wurde der Irak von den Briten in die Unabhängigkeit entlassen. 1933 starb König Faisal; sein Sohn Ghazi wurde sein Nachfolger. Als die Volksstämme die Macht wieder zu übernehmen versuchten, kam es zu mehreren Putschversuchen. Zum Opfer des erstarkenden arabischen Nationalismus und der aufgehetzten Stimmung im Lande wurden, da man den Engländern nicht viel anhaben konnte, die Juden. Ihre Vertreibung aus dem Irak erfolgte in mehreren Wellen. Ein besonders einschneidendes und traumatisierendes Ereignis waren die Unruhen vom Frühsommer 1941 in Bagdad, der so genannte ‘Farhud’. Im Verlauf der brutalen Ausschreitungen wurden ungefähr 180 Juden getötet und viele gefoltert und verletzt.5 Unter den Kindern, die den ‘Farhud’ in Bagdad als Angehörige betroffener jüdischer Familien oder als ohnmächtige kleine Statisten miterlebten, befanden sich mehrere, die später Schriftsteller wurden. So wurden denn der ‘Farhud’ und seine Folgen zu einem zentralen Thema in den Romanen jüdischer Autoren aus dem Irak. 1947 lebten zwischen 118.000 und 130.0006 Juden und Jüdinnen im Irak, die meisten von ihnen in Bagdad. Die jüdische Bevölkerung entsprach damals etwa sieben Prozent der städtischen Bevölkerung des Landes, wenn auch nur ca. 2,6 Prozent der gesamten Einwohnerschaft des Iraks.7 Nach der Proklamation der Staatsgründung Israels vom 15. Mai 1948 erhöhte sich der Druck
2 “The economic position of the Jews in Baghdad was flourishing to such an extent that they virtually monopolized the local trade, and neither Muslims nor Christians could compete with them.” (Maurice M. Sawdayee: The Baghdad Connection. Sawdayee Publ. 1991. [⫽ Revidierte Fassung der 1977 vollendeten Abhandlung The Impact of Western European Education on the Jewish Millet of Baghdad: 1860–1950 desselben Verfassers.] S. 59.) 3 Kamal Y. Odisho Kolo: Yesterday Jews – Today Aramaic Christians. Strategies of Expulsion of Minorities from Iraq. Vortrag, gehalten am 17.10.2007 im Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel. 4 Abbas Shiblak: Iraqi Jews: A History of Mass Exodus. London: SAQI 2005. (First published as The Lure of Zion. London 1986). S. 2f. 5 Nissim Rejwan: The Jews of Iraq: 3000 Years of History and Culture. London: Weidenfeld & Nicolson 1985. S. 222. 6 Die Zahlenangaben variieren je nach Quelle. Ben-Porat erwähnt, dass gemäß Towfik El-Suweidi, dem damaligen Premierminister des Irak, 1947 im Irak 130.000 Juden gelebt hätten. Vgl. Mordechai Ben-Porat: To Baghdad and Back. The Miraculous 2.000 Year Homecoming of the Iraqi Jews. Jerusalem – New York: Gefen 1998. S. 282. 7 Shiblak (Anm. 4). S. 32.
257 auf die Juden, die in islamisierten Ländern lebten; dies galt auch für den Irak.8 Als 1951 ein legaler Weg eröffnet wurde, den Irak unter Verzicht auf die irakische Staatsangehörigkeit und auf Grundbesitz zu verlassen, emigrierten innerhalb von anderthalb Jahren – bis zum Februar 1952 – etwa 104.000 Juden aus dem Irak.9 Im Rahmen der “Operation Ezra und Nehemiah” wurden sie nach Israel geflogen.10 Einige tausend jüdische Iraker harrten indessen noch bis in die sechziger Jahre im Irak aus. Nach dem Sechstagekrieg (5.-10. Juni 1967) wurde die Lage jedoch so bedrohlich, dass bis 1973 fast alle noch im Irak lebenden Juden flüchteten. Im Jahr 2002 wohnten weniger als hundert Juden im Irak;11 die letzte noch benützte Synagoge in Bagdad wurde 2002 aus Sicherheitsgründen geschlossen.12 Viele Flüchtlinge blieben dem Irak als dem Heimatland ihrer Kindheit wie auch ihrer Vorfahren emotional verhaftet, wie nicht zuletzt in den literarischen Werken von Betroffenen oder ihren Kindern zum Ausdruck kommt. Die irakischen Juden mussten feststellen, dass sie in Israel von ashkenasischen Juden europäischer Herkunft als ‘orientalisch’ und somit als rückständig und minderwertig eingeschätzt wurden. Von den Freuden der Kindheit im Irak, dem Trauma der Verfolgung und den Schwierigkeiten der Ankunft und des Lebens in Israel oder in anderen Ländern handeln viele Romane der aus dem Irak emigrierten jüdischen Autoren. Nancy F. Berg, die 1996 eine erste größere Untersuchung über irakisch-jüdische Autoren und ihre literarischen Werke veröffentlicht hat, konstatiert, dass die Vertreibung aus Mesopotamien bzw. Babylon, wohin ihre Vorfahren verschleppt worden waren, für die meisten zu einem Exil im Exil wurde,13 was sich auch bei einem jahrzehntelangen Aufenthalt am Zufluchtsort kaum änderte – nicht einmal für diejenigen, die nach Israel flohen, in das Heimatland der Vorväter. Den 8
Ebd. S. 86. Zahlenangaben nach Shlomo Hillel: Operation Babylon. The Story of the Rescue of the Jews of Iraq. Translated by Ina Friedman. New York: Doubleday 1987. S. 261 und S. 284. Andere Quellen nennen etwas höhere Zahlen. Nach Ben Segenreich benützten etwa 110.000 Juden die Gelegenheit, den Irak unter Verzicht auf die irakische Staatsangehörigkeit auszuwandern. (Nachwort. In: Sami Michael: Eine Liebe in Bagdad. Wien: Gabriel Verlag 2000. S. 281). 10 Zvi Ben-Dor: Invisible Exile: Iraqi Jews in Israel. In: Journal of the Interdisciplinary Crossroads. Thematic Issue: The Limits of Exile 3. Nr. 1. April 2006. S. 145: “The Jewish community of Iraq virtually disappeared by air within a span of nine months.” 11 Moise Rahmani: Réfugiés juifs des pays arabes. L’exode oublié. Bruxelles: Editions Luc Pire 2006. S. 21. 12 Lital Levy: Self and the City. Literary Representations of Jewish Baghdad. In: Prooftexts 26 (2006). S. 167. 13 Nancy E. Berg: Exile from Exile. Israeli Writers from Iraq. State University of New York Press 1996. 9
258 Interviews14 des Filmregisseurs Samir mit mehreren irakisch-jüdischen Autoren wie auch diversen Romanen von Schriftstellern irakischer Herkunft – so etwa den Werken Samir Naqqashs,15 Shimon Ballas’,16 Nissim Rejwans,17 Mona Yahias,18 Sami Michaels19 und Eli Amirs20 – ist zu entnehmen, dass gerade für Juden, die im ‘Gelobten Land’ einen Zufluchtsort fanden, die Exilsituation mit schweren Identitätskrisen verbunden war. Die Protagonisten finden in Israel weder ihre alte noch eine neue Heimat, sondern verharren nach heftigem Kulturschock bei der Ankunft monate- oder jahrelang in tiefer Verunsicherung, erfüllt von Abneigung gegen das, was ihnen in ‘Erez Israel’ widerfährt.
Die sprachliche ‘Wahlfreiheit’ der jüdisch-irakischen Schriftsteller im Exil Die meisten aus dem Irak vertriebenen Juden mussten sich im Exil sprachlich umorientieren. Besonders gravierende Folgen hat das Leben an einem anderssprachigen Ort des Exils bekanntlich für Schriftsteller, denn sie verlieren, wenn 14
Samir: Forget Baghdad. Dschoint Ventschr Filmproduktion. Schweiz 2002. (www. dschointventschr.ch). (⫽ Kinofilm auf DVD über Samir Naqqash, Sami Michael, Mosche (Moussa) Houri, Ella Habiba Schohat und Schimon Ballas, der Interviews des Regisseurs mit den erwähnten Persönlichkeiten irakisch-jüdischer Herkunft enthält.) 15 Samir Naqqash: Shlomo al-kurdi wa ana wa al-zaman (Shlomo der Kurde, ich selbst und die Zeit). Kuluniya (Köln): Manshurat al-Jamal 2004. 16 Shimon Ballas: Outcast. Translated from Hebrew by Ammiel Alcalay and Oz Shelach. San Francisco: City Light Books 2007. 17 Nissim Rejwan: The Last Jews in Baghdad: Remembering a Lost Homeland. Austin: University of Texas Press 2004. – Ders.: Outsider in the Promised Land. An Iraqi Jew in Israel. Austin: University of Texas Press 2006. – Ders.: Israel’s Years of Bogus Grandeur. From the Six-Day War to the First Intifada. Austin: University of Texas Press 2006. 18 Mona Yahia: Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004. (Englische Originalausg.: Dies.: When the Grey Beetles Took over Bagdad. London: Peter Halban 2000.) 19 Sami Michael: Bagdad. Sturm über der Stadt. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 1998. (Hebräische Originalausgabe: Ders.: Sufa bein hadekalim. Tel Aviv: Am Oved Publishers 1975.) – Ders.: Eine Liebe in Bagdad. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. München: C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, Bd. 30084. (Hebräische Originalausgabe: Ders.: Ahawa bein hadekalim. Jerusalem: Domino Press 1991.) – Ders.: Refuge. Translated from Hebrew by Edward Grossmann. Philadelphia: The Jewish Publication Society 2003. (Hebräische Originalausgabe: Ders.: Hasut. Tel-Aviv: Am Oved Publishers 1977.) 20 Eli Amir: Nuri. Vom Irak ins Land der Väter. Roman. Hg. von den Freunden des Schweizer Kinderdorfs Kirjath Jearim. Übersetzt von Lore Hartmann-von Monakow. Zürich: Genossenschaftsdruckerei 1988. (Hebräische Originalausgabe: Ders.: Tarnegol kaparot. Tel Aviv: Am Oved Publishers 1983.) – Ders.: Der Taubenzüchter von Bagdad. Roman. München: Europa Verlag 1998. (Hebräische Originalausgabe: 1992.)
259 sie sich für eine neue Schreibsprache entscheiden müssen, mit dieser in der Regel auch ihr bisheriges Leserpublikum. Wenn die aus dem Irak geflohenen Schriftsteller in Israel weiterhin auf Arabisch schrieben, wurden ihre Werke kaum zur Kenntnis genommen, da die meisten Juden in Israel keine arabischen Bücher lesen konnten und da Arabisch von Zionisten als Sprache des Feindes betrachtet wurde. Araber waren kaum an der Lektüre literarischer Werke von Juden interessiert, und zwar nicht einmal dann, wenn deren Bücher arabischsprachig waren. Trotz der aussichtslosen Lage hielten mehrere aus dem Irak emigrierte Juden am Arabischen als ihrer Schreibsprache fest: so beispielsweise die Schriftsteller Samir Naqqash, Ishaq Bar-Moshe und Me’ir Basri. Mehrere Autoren, die im Kindesalter aus dem Irak vertrieben und in Israel erwachsen wurden, gingen nach einiger Zeit zum Hebräischen über. Shalom Darwish und Sami Michael schrieben anfangs arabische Erzählungen; später entschieden sie sich für das Hebräische. Sami Michael ist heute einer der erfolgreichsten und bekanntesten Autoren Israels. Seit den neunziger Jahren sind seine Werke auch ins Deutsche übersetzt worden. Von diesem Erfolgsautor ist die sarkastische, jedoch ernstzunehmende Einschätzung überliefert, dass der Wechsel der Sprache schwieriger sei als der Wechsel des Geschlechts.21 Das Ende seines Schreibens auf Arabisch charakterisierte er als eine Scheidung voller Sehnsucht (“divorce with longings”22), und der Gebrauch des Hebräischen ist selbst bei diesem erfolgreichen Schriftsteller auch nach Jahrzehnten noch mit großen Anstrengungen verbunden: It is hard for me with Hebrew; it’s not my mother tongue. I want a word, and it comes to me in Arabic or English. In Hebrew I have to think. It takes time, like a stutterer who parachutes and by the time he counts to three he has already crashed to the ground.23
Die künstlich geschaffene Sprache des modernen Israel bleibt für Autoren, die nach dem Ende ihrer Kindheit in dieser Sprache schreiben gelernt haben, ein artifizielles Zuhause, das immer wieder geistig erobert werden muss, ohne je zur vollkommen vertrauten Heimat zu werden. So überrascht es nicht, dass die Sprache(n) wie auch verschiedenartige Dialekte und Ausspracheweisen in den Romanen der irakisch-jüdischen Schriftsteller von großer Wichtigkeit sind und häufig thematisiert werden. Dies gilt nicht nur für die nach Israel immigrierten Autoren, die sich für Ivrith entschieden haben, sondern auch für Nissim Rejwan, der seine dreibändige Autobiographie auf Englisch veröffentlicht hat,24 und für 21
Nancy E. Berg: More and More Equal. The Literary Works of Sami Michael. Lexington: Lanham 2005. S. 47. 22 Ebd. 23 Ebd. S. 47f. 24 Vgl. Anm. 17.
260 Naim Kattan,25 einen international erfolgreichen Autor irakisch-jüdischer Herkunft, der in Kanada lebt und seine Bücher auf Französisch schreibt. Eli Amir, der 1937 in Bagdad geboren und 1950 als Dreizehnjähriger mit seinen Angehörigen nach Israel geflohen war, entschied sich für das Hebräische26 und publizierte seine Romane in dieser Sprache. Ähnlich wie der Protagonist seines ersten Romans Tarnegol kaparot (Sündenbock), der im Folgenden eingehend kommentiert werden soll, wurde Amir, der einer begüterten großbürgerlichen Familie entstammte, nach der Ankunft in Israel in ein Zeltlager eingewiesen, wo seine (im Irak vor der Abreise enteigneten) Angehörigen monatelang in misslichen Umständen und großer Armut ihr Leben zu fristen hatten. Wie viele andere Halbwüchsige aus Immigrantenfamilien wurde auch Eli Amir von den Eltern getrennt und in einem Ausbildungslager für Jugendliche unter Leitung von überzeugten kommunistischen Zionisten auf ein Leben der Arbeit im Kibbuz vorbereitet. An der Hebrew University in Jerusalem studierte er später arabische Sprache und Literatur sowie Geschichte des Mittleren Ostens. Nach seinen Studien arbeitete er in verschiedenen hohen Funktionen im Staatsdienst, wobei er intensiv mit der Integration von Immigranten und mit Erziehungsfragen zu tun hatte; er war “leitender Direktor im Ministerium für Integration und […] Direktor der Abteilung für Jugendeinwanderung bei der ‘Jewish Agency’ ”.27 Eine Zeitlang war er auch als Berater des israelischen Premierministers tätig. Als Dozent ist er mit der Ben-Gurion-Universität in Jerusalem verbunden.
Eli Amirs Romane Erst mit sechsundvierzig Jahren veröffentlichte Eli Amir seinen ersten Roman, und zwar auf Ivrith. Das teilweise autobiographische Werk war sehr erfolgreich. 1987 wurde es unter dem Titel Scapegoat auf Englisch veröffentlicht;28 1988 erschien es unter dem Titel Nuri. Vom Irak ins Land der Väter als Übersetzung der englischen Ausgabe erstmals auf Deutsch.29 In Israel gehört das Werk zum Lesestoff der Mittelschulstufe.30 25
Naim Kattan: Farewell, Babylon. Coming of Age in Jewish Baghdad. Translated from the French by Sheila Fishman. Vancouver: Raincoast Books 2005. (Französische Originalausg.: Ders.: Adieu, Babylone. Montréal: La Presse 1975.) 26 Nancy E. Berg erfuhr in einem Interview (Jerusalem, 30. Mai 1989) mit Eli Amir von diesem, dass er nie erwogen habe, in einer anderen Sprache als auf Ivrith zu schreiben. (Anm. 13. S. 52 u. 172.) 27 Moderne hebräische Literatur. Ein Handbuch. Hg. von Anat Feinberg. München: edition text + kritik 2005. S. 223. 28 Eli Amir: Scapegoat. A Novel by Eli Amir. Translated by Dalia Bilu. London: Weidenfeld and Nicolson 1987. 29 Eli Amir: Nuri (Anm. 20). – Eine überarbeitete Version dieser Fassung erschien 1994 unter dem Titel Nuris Vorstellung. Roman im Alibaba-Verlag in Frankfurt/M.
261 Im Zentrum dieses Werkes stehen soziale, kulturelle und politische Konflikte zwischen jüdischen Überlieferungen unterschiedlicher Provenienz, insbesondere zwischen Juden aus arabischen Ländern und Juden aus Europa, die sich schon zur Zeit der Staatsgründung Israels abzeichneten und die israelische Gesellschaft bis heute prägen. Nuri, der halbwüchsige Protagonist, wird zunächst in ein Durchgangslager für Immigranten verbracht und später in einem Kibbuz erzogen, wobei die Kluft zwischen den Normen und Bräuchen seiner Eltern und den Lebensformen und Zielsetzungen der Kibbuz-Bewohner einen anhaltenden Identitätskonflikt bewirkt. Aus der Sicht eines Burschen, der noch fast ein Kind ist und erst nach und nach begreift, was ihm widerfährt, wird die komplexe Lebenssituation jüdischer Einwanderer aus arabischen Ländern, die nach der Ankunft im ‘Gelobten Land’ als rückständig deklassiert und (im Sinne einer Übergangsmaßnahme) in Zeltlagern gehalten wurden, auf eindrucksvolle und nuancierte Weise porträtiert. 1992 erschien Eli Amirs zweiter hebräischer Roman (Mafriach Ha-Yonim). Der Titel der 1998 veröffentlichten deutschen Übersetzung lautet Der Taubenzüchter von Bagdad.31 Die deutsche Übersetzung hatte großen Erfolg; kurz hintereinander erschienen mehrere Auflagen. In diesem Roman wird die jüdische Gemeinschaft im Bagdad der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts thematisiert, besonders die Schikanierung, Verfolgung und Vertreibung vieler irakischer Juden, die nach der Staatsgründung Israels eskalierte und, wie einleitend dargelegt wurde, zur Vertreibung der Juden aus einer Region führten, in der ihre Vorfahren jahrtausendelang gelebt hatten.32 Der Protagonist ist ein kleiner Junge namens Kabi, der Sohn eines vom Regime verfolgten zionistischen
Main. Zehn Jahre danach erschien als Taschenbuch der Verlagsgruppe Lübbe in Bergisch Gladbach unter dem Titel Im Schatten der Orangenhaine. Roman eine neue, direkt aus dem Hebräischen übersetzte deutsche Fassung des Werkes von Stefan Siebers. Dass das Werk auf Deutsch gleich dreimal verlegt wurde, ist ein Indiz für seine anhaltende Faszinationskraft bzw. seinen Erfolg. 30 Eetta Prince-Gibson: Scent of Jasmine, taste of the east, sounds of J’lem. In: The Jerusalem Post, 27. April 2006. (Updated: 30.4.2006.) ⬍http://www.jpost.com/servlet/ Satellite?cid⫽1145961238163&pagename⫽JPost%2FJPArticle%2FShowFull⬎ 31 Auf der autorisierten englischen Übersetzung von Hillel Halkin basiert die deutsche Übertragung von Karina Of, Petra Post und Andres von Struve, die zuerst 1998 im Münchner Europa Verlag publiziert wurde: Der Taubenzüchter von Bagdad. Roman. Aus dem Englischen von Karina Of, Petra Post und Andrea von Struve. München: Europa Verlag. (Hebräische Originalausg.: Ders.: Mafriach Hayonim. Tel Aviv: Am Oved Publishers 1992.) Im Jahr 2000 erschien im Lübbe Verlag in Bergisch Gladbach als Lizenzausgabe eine Taschenbuchausgabe dieses Werkes. 32 Bereits 1975 war in arabischer Sprache ein Roman von Ishaq Bar-Moshe erschienen, der das Ende der traditionsreichen jüdischen Gemeinschaft im Irak (in Form von Memoiren) beschrieb: Al-Khuruj min al-Iraq: Dhikrayat 1945–1950
262 Aktivisten. Der Roman endet am Vorabend der Emigration nach Israel. Kabi ist (wie Jasmin, dem neuesten Roman Eli Amirs, zu entnehmen ist) der ältere Bruder Nuris; so enthält Amirs zweiter Roman gewissermaßen die Vorgeschichte dessen, was dem jugendlichen Helden im Erstlingsroman des Autors – nach der Flucht von Bagdad nach Israel – widerfährt. Allerdings sind Nuris Eltern (im Unterschied zu Kabis Vater) nicht Zionisten; dadurch vergrößert sich die Fallhöhe der Erwartungen bei der Immigration nach Israel, das von nichtzionistischen religiösen irakischen Juden vor allem als ‘Heiliges Land’ verehrt worden war, sich bei der Immigration jedoch als säkularisiertes, zerstörerisches Monstrum entpuppte. Mit dem Roman Shauls Liebe33 (hebr. Ahavat Shaul, 1998) griff Eli Amir erneut ein brisantes Thema auf: das Zusammenleben von Arabern und Juden auf engem Raum im Israel der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts sowie die Fragilität und Bedrohlichkeit ihrer gegenseitigen Beziehungen. Die Liebesbeziehung zwischen einem sephardischen Juden, dessen Vorfahren schon seit mehreren Generationen in Palästina lebten, und einer Jüdin aus Polen, die dem Holocaust entronnen ist und sich in der Erzählgegenwart intensiv mit dem Prozess gegen Eichmann beschäftigt, gibt Anlass zur Analyse der komplexen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen israelischer Juden. Mit Rücksicht auf ihre Eltern verzichtet die ashkenasische Jüdin schließlich auf eine dauerhafte Verbindung mit dem Sepharden, dem Protagonisten des Romans, obwohl dieser als Informatiker beruflich sehr erfolgreich ist und eine Familie zu ernähren vermöchte. Als Sepharde kommt er für die potenziellen Schwiegereltern prinzipiell nicht in Frage. Die überhebliche Geringschätzung ashkenasischer Juden für ihre sephardischen oder ‘orientalischen’Landsleute ist in diesem Roman ein zentrales Thema. Wie im Erstlingsroman wählt Amir auch in diesem Werk einen Vertreter der diskreditierten Gruppe als Perspektivfigur bzw. Fokalisator – eine erzähltechnische Maßnahme, die Anteilnahme und Sympathie für die Befindlichkeit des Benachteiligten generiert. Jasmin, Eli Amirs vierter Roman, erschien 2005 auf Hebräisch und 2007 auf Deutsch. Dass der zeitliche Abstand zwischen der Originalausgabe und der deutschen Übersetzung von Amirs Romanen im Laufe der Jahre abgenommen hat, ist ein Erfolgsindiz. Auch der Umstand, dass der dritte und der vierte Roman im Unterschied zu den ersten beiden Werken in einer Hardcover-Ausgabe veröffentlicht worden ist, deutet auf zunehmende Akzeptanz im deutschsprachigen Gebiet bzw. auf wachsende finanzielle Einsatzbereitschaft der Verlage für die
[Exodus aus dem Irak: Erinnerungen 1945–1960]. (Reuven Snir: Arabic Literature by Iraqi Jews in the Twentieth Century: The Case of Ishaq Bar-Moshe [1927–2003]. In: Middle Eastern Studies 41 [2005]. Nr. 1. S. 17.) 33 Eli Amir: Shauls Liebe. Roman. Aus dem Hebräischen von Stefan Siebers. Bergisch Gladbach: Lübbe 2000.
263 Werke Eli Amirs hin. Der Protagonist des Romans Jasmin trägt ebenso wie der Held von Amirs Erstlingswerk den (arabischen) Namen Nuri; hier wie dort geht es um ein (teilweise neu gestaltetes) alter ego des Verfassers. In Jasmin ist der Protagonist ein Mann mittleren Alters, der in Israel lebt, ein hohes staatliches Amt wahrnimmt und sich in eine Palästinenserin christlicher Herkunft verliebt. Obwohl die Liebe gegenseitig ist, trennt sich die Palästinenserin am Ende des Romans von ihrem jüdischen Freund, da ihr die politisch-gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den israelischen Juden und den ‘Arabern’, zu denen sie als palästinensische Christin gerechnet wird, unüberbrückbar vorkommen; sie sieht keine Möglichkeit, sich in das Land zu integrieren, das als Land ihrer Vorfahren und ihrer Kindheit eigentlich ihr Heimatland ist. Dass der Freund aus dem Irak stammt und ursprünglich selbst arabischsprachig war, vertieft zwar die Affinität zwischen den beiden Liebenden, genügt aber nicht als dauerhafte Basis der Beziehung, zumal auch der Freund, Nuri, sich selbst zerrissen fühlt zwischen den verschiedenen Kulturen und Lebenswelten, mit denen er verbunden ist: Ich bin ein arabischstämmiger Jude, der die Wunder des Westens schätzt. Ich höre klassische Musik am Morgen und arabische Musik am Abend. Ein Wanderer zwischen zwei Welten, mit einem Bein hier und einem dort, und manchmal bringe ich die Füße durcheinander.34
Erst am Ende des Romans ringt sich der Held zu einer völlig positiven Einschätzung seiner hybriden kulturellen Identität35 durch. Für einen kurzen Besuch, der mit einem Gastvortrag verbunden ist, kehrt Nuri in den Kibbuz Kirjath Oranim zurück, in dem er einst als Jugendlicher lebte und wo er, wie dem Erstlingsroman Amirs zu entnehmen ist, unter der Geringschätzung von Gleichaltrigen, die in Israel aufgewachsen waren, wie auch unter Minderwertigkeitsgefühlen zu leiden hatte. Als reifer Mann, der sich menschlich und beruflich vielfach bewährt hat, findet er schließlich zu einer positiven Selbsteinschätzung seiner besonderen Geschichte und Persönlichkeit: Ich stand ebenbürtig vor ihnen, nicht wie ein Immigrantenjunge, der ihrem Schutz anheimgestellt worden war. Mein Hintergrund und meine Arabischkenntnisse waren diesmal eine Quelle der Kraft und Ehre für mich. 34
Eli Amir: Jasmin. Roman. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. München: C. Bertelsmann 2007. S. 405. 35 Reuven Snir, der zahlreiche Studien über die Beiträge der Juden irakischer Herkunft zur Literatur- und Kulturgeschichte veröffentlicht und wiederholt die Geringschätzung und Marginalisierung der Juden aus arabischen Ländern in Israel kritisiert hat, betont, dass die hybride Identität ‘arabischer Juden’ schon vor der Islamisierung bestanden habe. (Reuven Snir: “Arabs of the Mosaic Faith”: Chronicle or a Cultural Extinction Foretold. In: Die Welt des Islams 46 (2006). H. 1. S. 49.)
264 Zwischen dieser positiven Selbstbeurteilung des hohen Staatsbeamten mittleren Alters und dem miserablen Lebensgefühl des halbwüchsigen Immigrantenkindes liegen komplexe Lebenserfahrungen und ständige Wanderungen in den Grenzbereichen zwischen den verschiedenen Kulturen, in denen sich der Protagonist bewegt und von denen er sich bald angezogen, bald abgestoßen fühlt.
Identitätskonflikte Anhand des Erstlingsromans von Eli Amir sollen nun die Konflikte, die sich aus dem unfreiwilligen Exil des Protagonisten wie auch mehrerer seiner Bezugspersonen ergeben, analysiert und kommentiert werden. Als heranwachsender junger Bursche gerät Nuri in dem neu gegründeten Staat Israel in den Mittelpunkt des Konfliktfeldes zwischen gegensätzlichen kulturellen Bereichen. Die Konfrontation unterminiert sein bisheriges Selbstverständnis auf drastische, ja lebensgefährliche Weise. Zwischen zeitweiliger Überanpassung an die ‘siegreichen’ neuen Normen und immer wieder aufflammendem Verantwortungsgefühl für seine jüdisch-irakischen Angehörigen, die den ‘unterlegenen’ Normen anhängen, ringt er unter großem Druck der peer group, deren Angehörige selbst starker Repression ausgesetzt sind, um Akzeptanz in den verschiedenen ideologisch-kulturellen ‘Lagern’ seiner Umgebung. Dabei wächst er – wie Eli Amir selbst, der sich beruflich zum Spezialisten für die Integration von Immigranten entwickelte – zu einem Vermittler zwischen den verschiedenen Gruppierungen heran. In der Kleidung der Kibbuzbewohner geht er gegen Ende des Romans in das Übergangslager zurück, um den noch immer in Zeltlagern lebenden Immigranten durch Schulung und Beratung als eine aus ihrer Mitte stammende Vertrauensperson beizustehen. Der Ausgang des Romans ist offen, aber es können kaum Zweifel darüber aufkommen, dass der Protagonist gelernt hat, sich auch in höchst komplexen Situationen mutig zu verhalten und konstruktive Fähigkeiten zu entwickeln, die auch vielen Menschen in seiner Umgebung zugute kommen. Worin bestehen die Hauptprobleme der im Roman dargestellten irakischen Immigranten in dem jungen Staat Israel? Sie gruppieren sich um fünf Konfliktherde, die miteinander verbunden sind und einander im Handlungsgewebe des Romans so überlagern können, dass die Situation für einige der Jugendlichen lebensbedrohlich wird: – (die Übereinstimmung zwischen negativer) Selbst- und Fremdeinschätzung, – die Erinnerung an die verlorene Heimat, – musikalische Diversität, – der Umgang mit der Sexualität, – die Einstellung zu körperlicher Arbeit.
265 Selbst- und Fremdeinschätzung Amirs Roman zeigt deutlich, dass der Staat Israel für viele jüdische Immigranten aus dem Irak keineswegs ein Wunschziel war, was sich auch den Werken anderer irakisch-jüdischer Autoren – beispielsweise Samir Naqqashs und Sami Michels – entnehmen lässt. Die meisten irakischen Juden waren keine Zionisten und hatten gar nicht den Wunsch verspürt, den Irak dauerhaft zu verlassen, als sie sich unter dem Druck der politischen Entwicklung in den späten vierziger oder frühen fünfziger Jahren zur Emigration entschlossen. Manche hatten in Bagdad als Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht – als Ärzte, Richter, Kaufleute oder Bankiers – in luxuriösen Villen gelebt, die von weiträumigen Gartenanlagen umgeben waren. Bei der Ankunft in Israel wurden die irakischen Einwanderer aber zunächst einmal desinfiziert: Kaum waren wir in Lod angekommen, hatten sich die Desinfektoren auf uns gestürzt, ihr Sprühgerät in der Hand. Der weisse Dunst brannte mir in den Augen […] Und plötzlich sah ich den Vater, in seinem Schabbat-Anzug, gekommen, um die langersehnte Braut zu begrüssen, das Land, nach dem er dreimal täglich sein Gesicht gewandt hatte – und nun war sein blaugestreifter Anzug übersät mit weissen Spritzern, die auch das schwarze Haar seines Bartes bespritzt hatten. So ratlos war er, dass ich am liebsten geweint hätte über das, was sie meinem Vater antaten, meinem Vater! Und dann wandte er den Blick seinem Jüngsten zu, von dem der Schaum in dünnen Rinnsalen herabrann, und in dem Augenblick, als das Gesicht des Buben sich zu einer weinerlichen Grimasse verziehen wollte, brach Vater über den Anblick in dröhnendes Lachen aus, und die ganze Halle, besprayt und stöhnend, stimmte in das Gelächter ein. (S. 40f.)
Die sanitären Maßnahmen erniedrigten und kränkten die Einwanderer, da sie offenkundig auf der Voraussetzung basierten, dass von Einwanderern aus ‘orientalischen’ Ländern prinzipiell ein Mangel an Hygiene und medizinische Gefahren für die Einheimischen zu erwarten seien. In Amirs Roman ist die Passage über die Desinfizierung der Einwanderer eine Schlüsselszene. Sie illustriert, mit welcher Radikalität den irakischen Immigranten alles aberkannt wurde, worauf sich ihr Selbstvertrauen gründete. Die Kluft zwischen der Fremdeinschätzung durch die Immigrationsbehörden wie auch die bereits ortsansässigen Juden einerseits und den mitgebrachten Wertvorstellungen der Immigranten andererseits, die von Vertretern des jungen Staates Israel wie eine störende Dreckschicht beseitigt werden, wird hier durch das Gelächter der gedemütigten Erwachsenen für einige Augenblicke überbrückt. Nach der Desinfektion wurden die eingewanderten irakischen Juden jedoch in ein Zeltlager (eine Ma’abarah) eingewiesen, wo sie auf Monate oder sogar Jahre in primitiven Lebensumständen ausharren mussten. Dabei gab es für die Jugendlichen, die sobald wie möglich von den Eltern getrennt und in ein Einschulungslager für Immigrantenkinder aufgenommen wurden, wie auch für die erwachsenen Immigranten zahllose weitere Demütigungen, die weder durch Selbstironie noch durch Selbstverteidigung zu minimalisieren waren.
266 So hatte sich wohl kaum jemand die Ankunft und das Leben im ‘Gelobten Land’ vorgestellt. Der Kulturschock traf die – mehrheitlich nicht zionistischen, sehr religiösen und konservativen – eingewanderten irakischen Juden unvorbereitet. Dem Sturz in das existenzielle wie auch materielle Elend konnten sie sich kaum entziehen, da sie das moderne Hebräisch nicht beherrschten und aufgrund ihrer Sozialisation im Irak weder gewohnt noch gewillt waren, grobe körperliche Arbeit zu leisten. Andere Arbeit als solche im Bau und in der Landwirtschaft war im Immigrationsland jedoch kaum zu bekommen; im jungen Staat Israel, der vorwiegend von ashkenasischen Juden aufgebaut worden war, hatten irakische Rechtsanwälte, Rabbiner und Kaufleute kaum eine Möglichkeit, ihren Beruf weiter auszuüben. Amirs jugendlicher Protagonist begegnet im Zeltlager erwachsenen irakischen Bezugspersonen, die physisch wie auch psychisch völlig heruntergekommen sind und verzweifelt miterleben, wie ihre Kinder ihnen durch die Aufnahme in säkularisierte Schulungslager entfremdet werden. Nuri selbst fühlt sich hin und her gerissen zwischen den Erwartungen der teils von zionistischen, teils von sozialistischen Ideen erfüllten Schulungsleiter und Kibbuzniks, den Ansichten der sephardischen peer group und den konservativ-religiösen Normen seiner Eltern. Wiederholt wählt er die Flucht nach vorne, indem er die Zielnormen der neuen Umwelt vorschnell und auffallend gut zu erreichen versucht. Dabei nimmt er Konflikte mit der peer group wie auch eine Distanzierung von den Wertvorstellungen seiner Familie in Kauf.36 Am Ende des Romans scheint Nuri eine teilweise Überbrückung der kulturellen Gegensätze möglich zu werden, indem er – als Vertreter des Kibbuz – zu seinen Eltern in das Zeltlager zurückkehrt und mittels seiner Arabischkenntnisse und seiner Einsicht in das Stimulations- und Versöhnungspotenzial der (arabischen wie auch der abendländischen) Musik junge Iraker der Ausbildung in Schulungslagern und somit einer besseren Integration in Israel entgegenführt. Dabei versucht er den Ambivalenzen seiner Selbsteinschätzung zu entgehen, indem er die Zielnormen seiner neuen Umgebung übernimmt, sie aber dem Wohl der irakischen Immigranten dienstbar zu machen versucht. Wenn er seinen irakischen Landsleuten den Erwartungshorizont der schon längere Zeit ortsansässigen Israelis voller Sympathie und Verständnis für die kulturspezifischen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Immigranten in deren eigener Sprache – auf Arabisch – schmackhaft zu machen versucht, gelingt es ihm, für sich selbst eine Kongruenz von Fremd- und Selbsteinschätzung zu bewerkstelligen, denn die Angehörigen beider ‘Lager’ begegnen ihm, dem Vermittler und mit beiden Kulturen vertrauten Übersetzer, voller Respekt und Wertschätzung, was seinem Ehrgeiz, sich in jeder Hinsicht auszuzeichnen, entgegenkommt. 36
Die Distanzierung der Kinder von ihren in Auffanglagern für Immigranten lebenden Eltern wurde von der Jugendabteilung der Jewish Agency um der besseren Integration der Jugendlichen willen gezielt herbeigeführt. (Lore Hartmann-von Monakow: Einführung. In: Amir [Anm. 20]. S. 9.)
267 Die Erinnerung an die verlorene Heimat Mit ihrem Herkunftsland verbinden die Jugendlichen in Amirs Erstlingsroman tiefe Sehnsucht und intensive, leuchtende Erinnerungen. Da sie nach der Emigration ihrer Familie nach Israel im Zeltlager unter desolaten sanitären und versorgungstechnischen Verhältnissen der Witterung gnadenlos ausgesetzt sind und überdies das Elend ihrer todunglücklichen Eltern mit ansehen müssen, erscheint das frühere Leben im Irak im Rückblick als Paradies. Nuri erinnert sich wehmütig an einen weiträumigen Garten mit Dattelpalmen, durch den er als kleiner Junge an der Hand seines Vaters spazierte. Der Alltag in Israel, einem Land, das zunächst einmal fruchtbar gemacht und dessen Infrastruktur (um 1950) noch aufgebaut werden musste, ist für die erwachsenen jüdischen Iraker voller Schrecken. Sie sehen vor allem den Sittenverfall und die starke Tendenz zur Säkularisation an dem Ort, der in ihrer Vorstellung, der religiösen Überlieferung entsprechend, als das ‘Heilige Land’ zu gelten hätte. Selbst Nuri, der bei der Integration voller Ehrgeiz eine Führungsrolle anstrebt, vermisst im Schulungszentrum und im Kibbuz anfangs die Synagoge. Die irakischen Jugendlichen lernen zwar Ivrith; unter sich halten sie aber am Arabischen fest, besonders wenn es um Themen geht, über die im Gastland und im Herkunftsland unterschiedliche Auffassungen herrschen: über Frauen, Sexualität, Tanzmusik und körperliche Arbeit. Sie bleiben innerlich Iraker, auch wenn einige nach und nach die Kleidung, Umgangsformen und einige Wertvorstellungen der neuen Umgebung übernehmen. Der Protagonist hat sich bereits im Zeltlager mit Hilfe eines Wörterbuchs elementare Hebräischkenntnisse angeeignet. Mit den sephardischen Jugendlichen spricht er aber weiterhin Arabisch. Bei der Ankunft der Iraker in Israel fällt diesen sofort die Dürftigkeit des kulinarischen Angebots auf: Das Eipulver, das als nahrhaftes Basisprodukt in Teigform auf den Tisch kommt, wird von Nuris Mutter, einer sonst sehr duldsamen Frau, sarkastisch als Ei nach der Art des Heiligen Landes (“Maison Erez Hakodesch”) umschrieben.37 Die Mahlzeiten und Essensgewohnheiten der Kibbuzniks erscheinen Nuri anfangs befremdlich. Doch ist er der Erste, der auf kulinarischem Gebiet demonstrativ zu Konzessionen bereit ist, indem er wie die Kibbuzniks gesalzenen Hering isst, auch wenn ihm davor ekelt und die übrigen sephardischen Jugendlichen ihn verspotten. Die sehnsüchtige Erinnerung an Düfte irakischer Gerichte und an landesspezifische Rezepte ist an mehreren Stellen des Romans eine die Bindung zwischen den Immigranten konsolidierende Erinnerungsbasis. Bezeichnenderweise wird dem Protagonisten bei dessen Rückkehr in das Zeltlager, wo er als Werber und Schulungsleiter tätig werden soll, von der Mutter ein duftendes Fladenbrot angeboten, das nach
37
Amir (Anm. 20). S. 17.
268 irakischer Art hergestellt wurde. Die einfache, aber zutiefst symbolische Geste bekräftigt, ohne dass Worte darüber gewechselt werden müssten, die gegenseitige Verbundenheit und beschwört den Duft der verlorenen, in der gemeinsamen Erinnerung aber lebendigen Heimat herauf.
Musikalische Diversität Den kulinarischen Gegensätzen zwischen den verschiedenen Kulturen, mit denen der Protagonist sich auseinanderzusetzen hat, korrespondieren unterschiedliche musikalische Präferenzen und Hörgewohnheiten. Nuris Integrationsbereitschaft zeigt sich nicht zuletzt auf dem Gebiet der Musik. Anfänglich sind ihm die musikalischen Ratespiele der ashkenasischen Jugendlichen ein großes Rätsel, denn zwischen Musikstücken Beethovens und Mozarts hört er keinen Unterschied. Wie seine irakischen Kollegen liebt er die altvertrauten arabischen Melodien und die Klänge des Oud, der arabischen Laute. Die unterschiedlichen musikalischen Gewohnheiten und Vorlieben werden zum willkommenen Anlass, um die jeweils andere Gruppe verächtlich zu machen. Nuri aber zwingt sich dazu, so ausdauernd und intensiv westliche Musik zu hören, bis er sie nach und nach kennen und schätzen lernt. Dabei verleugnet er seine bisherige Vorliebe für die arabische Musik nicht. Ein von einem irakischen Kollegen im Kibbuz intoniertes arabisches Hochzeitslied löst einen Strom intensiver Erinnerungen an die verlorene Heimat aus: Nuri sinnt über die Hochzeitsfeste seiner Kindheit in Bagdad nach und vergisst über der Vergegenwärtigung all der Köstlichkeiten, der zauberhaften Musik, der festlichen Gewänder und der Schönheit des nächtlichen Sternenhimmels seine Umwelt.38 Am Ende des Romans setzt Nuri bewusst arabische Musik als Lockmittel ein, um jüngere irakische Jugendliche aus dem Zeltlager in die Einschulungslager zu holen; so wird die Musik zu einem wichtigen Integrationsfaktor. Zugleich verdeutlicht der Umstand, dass der Protagonist die beiden sehr unterschiedlichen musikalischen Traditionen schätzt und propagiert, dass es Wege universeller Verständigung geben könnte und dass das Prestige einer bestimmten musikalischen Überlieferung andere Traditionen keineswegs zu marginalisieren braucht.
Unterschiedliche Einstellungen zur Sexualität Abschreckend und zugleich faszinierend wirkt auf die sephardischen Jugendlichen in Amirs Erstlingsroman die freizügige Kleidermode der in Israel herangewachsenen Jugendlichen wie auch der Kibbuzniks. Vollends schockiert sind sie anfangs von abendlichen Tanzvergnügungen des Schulungszentrums, an 38
Ebd. S. 135–137.
269 denen sich Burschen wie auch Mädchen beteiligen. Im Irak waren die Frauen verhüllt, und Berührungen zwischen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit wurden (auch unter Juden und Christen39) in der Öffentlichkeit vermieden. Die Jugendlichen, die Amir porträtiert, halten auch im Schulungslager noch lange an Wertvorstellungen und Gewohnheiten aus dem Irak fest. So kostet es die irakisch-jüdischen Mädchen große Selbstüberwindung und überdies einen Bruch mit den Erwartungen der Eltern, wenn sie – wie die Sabras, die in Israel aufgewachsenen jungen Leute – Hosen oder gar Shorts statt der aus Bagdad mitgebrachten traditionellen langen Röcke tragen sollen. Der Protagonist erlebt zusammen mit seinen sephardischen Kumpanen eine allmähliche Initiation in die landesüblichen Umgangsformen. Für die jungen Frauen irakischer Herkunft ist der Sprung zwischen den überlieferten, von den Eltern weiterhin hochgehaltenen Wertvorstellungen und den neuen Verhaltensweisen womöglich noch größer als für die Burschen. Sowie eines der irakischen Mädchen unbeabsichtigt schwanger wird, eskaliert ein Konflikt zwischen den Vertretern der beiden gegensätzlichen Welten: Die im Zeltlager lebenden Eltern des Mädchens sind tiefreligiöse, konservativ gesinnte Leute. Wenn ihnen die Nachricht von der Schwangerschaft ihrer Tochter überbracht wird, sehen sie sich am Grab aller guten Hoffnungen und sitzen Schiwa, d.h. sie zelebrieren ein religiöses Ritual, das demonstriert, dass die Tochter für sie gestorben ist.40 Nuri, der als Vermittler eingesetzt wird, empört sich zunächst selbst nach altväterlicher Manier über das Verhalten des Mädchens, bereitet dann aber mit einigen älteren Kibbuzniks zusammen eine Kompromisslösung vor, wobei für das junge Paar eine rasche Heirat angeordnet und die anfänglich renitenten Eltern nach der Geburt des Enkels als Gäste in den Kibbuz eingeladen werden. Die ältere Generation der irakisch-jüdischen Immigranten ist bei Konflikten stets in der Lage von Verlierern. Im Roman wird dieser Aspekt zwar nicht ausgeblendet, aber als Nebenerscheinung erwähnt, während vor allem die Anliegen der jüngeren und jüngsten Generation thematisiert werden.
Die Einschätzung körperlicher Arbeit Zu Konflikten führt nicht zuletzt die verschiedenartige Einstellung zu körperlicher Arbeit: Die irakischen Immigranten verachten schwere körperliche Arbeit, während diese für Kibbuzniks von größter Bedeutung für den Aufbau des Landes Israel ist. Schon bevor die schulische Ausbildung anfängt, werden die irakischen Burschen bei der Tomatenernte eingesetzt, einer Aufgabe, der 39
Kamal Y. Odisho Kolo: Perspektiven des Christentums im Mittleren Osten: Fallstudie zum historischen und heutigen Überlebenskampf der aramäischen Christinnen im Irak. In: Archiv orientáln’ 75 (2007). S. 171–189. Hier: S. 177. 40 Eli Amir: Nuri (Anm. 20). S. 181.
270 sie sich nur widerstrebend fügen. Nuri wählt auch hier die Flucht nach vorne: Er meldet sich freiwillig für die am meisten verabscheute, härteste Arbeit: für die Leerung der Abwassergruben und den Misttransport. Dadurch sinkt er in den Augen der irakischen Gleichaltrigen auf die niedrigste gesellschaftliche Ebene, wird jedoch gleichzeitig in den Augen der Kibbuzniks zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft. Unerwartet zeitigt die harte körperliche Arbeit Ergebnisse, die auch der irakisch-jüdischen peer group imponieren: Nuri zeichnet sich durch wachsende Körperkraft, eine gute Körperhaltung, schwellende Muskeln und eine gute Gesundheit aus, so dass sein Beispiel schließlich Schule macht. Eli Amirs Erstlingsroman thematisiert die inneren Konflikte, denen sich die irakischen Juden nach der Einwanderung in Israel ausgesetzt sahen. Der befremdete und oft sehr missbilligende Blick der Immigranten auf die Verhältnisse im Einwanderungsland rückt diese in kritische Distanz, doch ist Kritik an Israel nicht das Hauptthema; vielmehr steht die tiefe Verbundenheit der irakischen Juden mit dem Land ihrer Herkunft, den hergebrachten Wertvorstellungen und der ornatreichen, klangvollen arabischen Sprache im Vordergrund. Aus der Perspektive Nuris, des jugendlichen Protagonisten, erleben die Lesenden mit, wie es sich anfühlt, “nicht hier und nicht dort, ein schwankender Busch im Niemandsland”41 zu sein. Durch seine Versuche, sich rasch den neuen Regeln und Verhaltensnormen anzupassen, gerät der jugendliche Held in ein mehrfaches Exil. Eigentlich sind die Juden aus dem Irak in die Region zurückgekehrt, aus der ihre Vorfahren vor Jahrtausenden in das Babylonische Exil geführt worden waren. Die Heimat, der sie in Israel nachtrauern, ist aber der Irak, in dem sie sprachlich und hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen verwurzelt sind. Somit ist Israel, das ihnen einen Empfang bereitet, wie sie ihn ihren eigenen Gästen niemals zugemutet hätten, für sie ein Ort des Exils. Die Jugendlichen, die im Schulungszentrum auf ein Leben als Kibbuzniks vorbereitet werden, werden aus dem Zeltlager der gedemütigten irakischen Immigranten in ein weiteres Exil geführt: in eine Welt, die auf anderen als den ihnen geläufigen Voraussetzungen und Zielsetzungen basiert. Zwischen den beiden Bereichen laviert unter großem Leidensdruck die peer group der gleichaltrigen sephardischen Jugendlichen, die bei Konfrontationen mit jugendlichen ‘Sabras’, die sich in Israel völlig zu Hause fühlen und auf die Einwanderer herabschauen, unter zusätzlichen Druck gerät. Durch die Existenz der ‘Sabras’ droht sich die Exilsituation der jugendlichen jüdischen Iraker im Kibbuz ein weiteres Mal zu verschärfen und zu potenzieren. Der offene Schluss des Romans erlaubt aber die Annahme, dass der Protagonist auch in Zukunft als Wanderer zwischen einander misstrauisch beobachtenden Lagern und Gruppierungen eine Vermittlerrolle übernehmen und so zum Wohl 41
Ebd. S. 146.
271 aller beitragen könnte. Dass er sich dabei mit Erfolg der arabischen Sprache seiner verlorenen Heimat wie auch des modernen Hebräischen, das er im Exil erlernt hat, bedient, versinnbildlicht die Hoffnung auf eine beständige Zukunft beider Sprachen und der in ihnen verwurzelten Volksgruppen in Israel, wie sie Eli Amir in Jasmin, seinem 2005 veröffentlichten letzten Roman, von dem (längst erwachsenen) Protagonisten Nuri nach dem Sechstagekrieg von 1967 als politisches Wunschprogramm für die Zukunft des Landes Israel vortragen lässt. In einem Interview mit Eetta Prince-Gibson hat der Autor seine utopischen Vorstellungen noch expliziter formuliert, als er sie seinem alter ego Nuri im Roman Jasmin in den Mund legte: People like Nuri, and especially like his father and uncle, could have created peace in this region. They understood the Arab culture, they were part of it. But they were ridiculed and marginalized. […] And that is part of the tragedy we face today. […] We must stop acting as a Western colonial conqueror. We must be a part of the Middle East. Our children must learn Arabic as well as Hebrew.42
Die Heimat erweist sich in Eli Amirs Romanen als ein mentales Konzept, das vorwiegend von der Erinnerung und von religiösen Mythen lebt und zu der konkret erlebten Gegenwart in der betreffenden Region im schrillen Kontrast steht. Nuri, der Protagonist des ersten wie auch des letzten Romans des Schriftstellers, hat seine ‘Heimat’, den Irak, verlassen müssen. Er trägt sie aber als sprachliches und geistiges Substrat in sich und mit sich. Indem er eine Vermittlerrolle zwischen Ortsansässigen und Immigranten übernimmt und auf der Basis des Respekts vor den Vertretern teilweise gegensätzlicher Überlieferungen und Interessen Brücken zu bauen versucht, lebt er konstruktive Antworten auf den erfahrenen Verlust der Welt seiner Kindheit vor. Außer der Akzeptanz des (unangenehm) Andersartigen, zu der er sich im Laufe seines Anpassungsprozesses durchringt, verwirklicht er ein weiteres Konzept, das im Alltag Israels (wie auch in anderen Nationen), wenn es um den Kontakt mit Arabern geht, nur ausnahmsweise, nicht als generelle Regel oder gar mit Selbstverständlichkeit Anwendung findet: die Pflege der Zweisprachigkeit (in linguistischer wie auch mentalitätstypologischer Hinsicht), die für eine Brückenbildung und möglicherweise erfolgreiche Vermittlung zwischen Gegnern unabdingbar ist. Für Nuri, der sich als Immigrant anfangs wie “[…] ein schwankender Busch im Niemandsland”43 vorkommt, wird die in Israel erworbene Mehrsprachigkeit und kommunikative Gewandtheit zu einer neuen Heimat, einem ‘babylonischen’ Exil im mehrfachen Sinne des Wortes. 42
Eetta Prince-Gibson: Scent of Jasmine, taste of the east, sounds of J’lem. In: The Jerusalem Post. 27. April 2006. 43 Vgl. Amir (Anm. 40/41).
Roswitha Skare
“Unsere Freunde, die Maler.” Zum Verhältnis von Text und Bild in Christa Wolfs Sommerstück Christa Wolf’s Sommerstück was published in March 1989, just in time to celebrate the 60th birthday of the author in both East and West Germany. In the years after 1989, different paperback editions followed. Interesting to note is that pictures by Hartwig Hamer were included only in the original edition by Aufbau. Accordingly, I would like to focus in this paper on paratextual elements – using the term coined by Gérard Genette in his work Paratexts: Thresholds of Interpretation – before I turn my attention to the word-image relationship between Christa Wolf’s text and Hartwig Hamer’s pictures.
Bereits seit den siebziger Jahren hatten Christa Wolf und ihr Mann Gerhard Wolf engen Kontakt zu Künstlern, da beide an dem Miteinander von Literatur und bildender Kunst interessiert sind. Dies kommt in der Zusammenarbeit Christa Wolfs mit Künstlern in der Gestaltung ihrer Bücher zum Ausdruck,1 bei Lesungen,2 aber auch in Gerhard Wolfs Verlag Janus press, und nicht zuletzt in Ausstellungen3 und den dazugehörigen Publikationen. Peter Böthig beschreibt dieses Verhältnis folgendermaßen: Es geht ihnen [Gerhard und Christa Wolf, R.S.] immer um das “Verstehen” eines Bildes, eines ästhetischen Ansatzes, und um jenen Rest an künstlerischer Energie, der beim Verstehen, also beim Sprache-Werden, offen bleiben muß und so als Provokation in die schriftstellerische Arbeit hineinragt. Die unterschiedlichen ästhetischen Wahrnehmungen von Literatur und bildender Kunst werden einander konfrontiert. (Böthig 1996, 7)
1
Ich denke hier an Künstlerbücher wie Was nicht in den Tagebüchern steht (1994), Im Stein (1998) und Wüstenfahrt (1999), aber auch an die Radierungen Nuria Quevedos in der Kassandra-Ausgabe bei Reclam (1984) oder die Grafiken Hartwig Hamers in der Aufbau-Ausgabe von Sommerstück (1989). Vgl. außerdem Böthig 2004. 2 Durch ihre Zusammenarbeit mit Künstlern hat Christa Wolf in den letzten Jahren wiederholt in ihren Lesungen gesprochenes bzw. gelesenes Wort mit Bild und Musik zu multimedialen Veranstaltungen verbunden. Vgl. beispielsweise die Bilder von Christa Wolfs Medea-Lesung im Berliner Ensemble vom 21. November 2002. ⬍http://www.gezett.de/_lesungen/web-20021121-lit-medea-wolf-christa/index. htm⬎, 21. März 2008. Eine ähnliche Performance fand bereits im Januar 2000 statt, als Christa Wolf im Schloßtheater Rheinsberg ihren Text Im Stein las und Helge Leiberg am Overhead-Projektor malte. Vgl. Böthig 2004, 213. 3 Zum Beispiel die Ausstellung Unsere Freunde, die Maler und die dazugehörige Publikation. Vgl. Böthig 1996.
274 Sommerstück erschien zum 60. Geburtstag Christa Wolfs im März 1989 im Ostberliner Aufbau-Verlag und als Lizenzausgabe im westdeutschen Luchterhand Literaturverlag. In den folgenden Jahren wurde Sommerstück als Taschenbuch in den unterschiedlichen Serien bei dtv und Luchterhand neu aufgelegt.4 2001 erschien Sommerstück gemeinsam mit Was bleibt im Band 10 der von Sonja Hilzinger bei Luchterhand herausgegebenen, kommentierten und mit einem Nachwort versehenen gesammelten Werke; im Januar 2008 als Taschenbuch in einer neuen Serie bei Suhrkamp. Nun ist es keineswegs ungewöhnlich, dass die Werke Christa Wolfs bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 zumeist zeitgleich in Ost und West erschienen und dass in den darauf folgenden Jahren andere Ausgaben – sei es Übersetzungen oder Neuauflagen – folgen. Auffallend für Christa Wolfs Sommerstück ist jedoch, dass lediglich die Originalausgabe des AufbauVerlages Grafiken Hartwig Hamers enthält. Literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Sommerstück gehen meines Wissens weder auf die unterschiedlichen Umschläge der verschiedenen Ausgaben ein, noch berücksichtigt man die Grafiken Hamers im Zusammenhang mit der Textarbeit. Dies ist überraschend, da man zumindest für die achtziger Jahre davon ausgehen kann, dass Christa Wolf relativ großen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Bücher hatte. Dies betrifft die Wahl der Grafiken, aber auch solche Aspekte wie Umschlaggestaltung und Layout. Dass ihr dabei ästhetische wie auch materielle Anliegen wichtig waren, verdeutlichen Christa Wolfs Briefe an ihre Lektorin beim Aufbau-Verlag Angela Drescher vom 21. November 1988 und vom 14. März 1989, in denen sie sowohl auf Satzspiegel als auch auf die Papierqualität und den Einband von Sommerstück eingeht.5 Im Folgenden soll mit Gérard Genettes Begrifflichkeit vom Paratext zunächst auf ausgewählte Elemente in den verschiedenen Ausgaben von Sommerstück eingegangen werden, bevor ich auf das Verhältnis von Christa Wolfs literarischen Text und Hartwig Hamers Grafiken zurückkomme. In seiner Studie Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (in Französisch bereits 1987 unter dem Titel Seuils) zeigt Genette mit Hilfe zahlreicher Beispiele, welche Rolle Titel, Untertitel, Vorworte, Umschlagtexte, aber auch der 4
Der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) übernahm 1993 die “Sammlung Luchterhand” für 8 Jahre als Reihe komplett und integrierte die vorhandenen Titel in den dtv-Vertrieb. Neuauflagen dieser Titel haben dann ein “dtv-Kleid” bekommen, zunächst mit dem Hinweis “Sammlung Luchterhand”, worauf man dann später in beiderseitigem Einvernehmen verzichtet hat. Vgl. elektronische Post von Helga Dick im Deutschen Taschenbuchverlag vom 15. Februar 2007. 5 Die Briefe Christa Wolfs befinden sich im Verlags-Archiv des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. Handschriftenabteilung (Mappe 2607: Depositum 38). Zitiert sind die Briefe mit Genehmigung der Staatsbibliothek in Skare 2007, 110.
275 Bekanntheitsgrad des Autors, sein Alter und Geschlecht, sowie Preise, Ehrendoktorwürden u.ä. für eine Interpretation haben. Genette teilt den Paratext in den Peritext, der – wie Schutzumschlag, Titel, Gattungsangabe, Vor- und Nachwort oder auch verschiedene Motti – relativ fest mit dem Buch verbunden ist, und in den Epitext, der Mitteilungen über das Buch enthält, die in der Regel an einem anderen Ort plaziert sind wie Interviews, Briefwechsel oder Tagebücher. Paratext Peritext (innerhalb des Buches)
Epitext (außerhalb des Buches)
• Der verlegerische Peritext: • Formate • Reihen • Umschlag und Zubehör (u.a. Schutzumschlag und Umschlagseite eins, zwei, drei und vier) • Titelseite und Zubehör • Satz (typographische Entscheidungen) • Auflagen • Name des Autors • Titel und Zwischentitel • Inhaltsverzeichnis, Register • Waschzettel • Widmungen • Mottos • Vorworte und Nachworte • Anmerkungen
• Der öffentliche Epitext: • Besprechungen • Vorträge • Reklame (Plakate, Prospekte u.ä.) • Gespräche • Kolloquien, Debatten • Interviews • Selbstkommentare • Lesung • Der private (vertraulich oder intim) Epitext: • Briefwechsel • Mündliche Mitteilungen • Tagebücher • Vortexte
Indem Genette die räumliche Anordnung zum Kriterium dafür macht, ob es sich um peri-bzw. epitextuelle Elemente handelt, ist die Anzahl der jeweiligen Elemente keineswegs stabil, sondern kann sich von Ausgabe zu Ausgabe verändern. Obwohl viele dieser Elemente textbasiert sind, geht Genette auch auf nicht-textliche Elemente wie Format und Umschlaggestaltung ein: Meistens ist also der Paratext selbst ein Text: Er ist zwar noch nicht der Text, aber bereits Text. Doch muß man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typographischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buches mitunter sehr bedeutsam sind) oder rein faktische. Als faktisch bezeichne ich einen Paratext, der aus einem Faktum, dessen bloße Existenz, wenn diese der Öffentlichkeit bekannt ist, dem Text irgendeinen Kommentar hinzufügt oder auf seiner Rezeption lastet. (Genette 1989, 14. Hervorh. i. Orig.)
276 Obwohl typographische Entscheidungen, das Format eines Buches oder auch die Umschlaggestaltung “im modernen Verlagswesen durch eine wohl unumkehrbare Tendenz zur Standardisierung immer weniger zum Tragen kommen” (ebd., 39), kann die Buchform nicht als selbstverständlich gegeben betrachtet und damit übersehen werden: When a literary work interrogates the inscription technology that produces it, it mobilizes reflexive loops between its imaginative world and the material apparatus embodying that creation as a physical presence. Not all literary works make this move, of course, but even for those that do not, my claim is that the physical form of the literary artifact always affects what the words (and other semiotic components) mean. (Hayles 2002, 25. Hervorh. i. Orig.)
So steht das größere Format (14,8 ⫻ 21,7) bei Aufbau offensichtlich im Zusammenhang mit der Größe der reproduzierten Grafiken,6 hat aber auch Konsequenzen für die Seitenzahl (191 Seiten) des Buches. Neben dem unterschiedlichen Format und der damit verbundenen Seitenzahl fällt im Vergleich der beiden Ausgaben aus dem Jahr 1989 – neben den fehlenden Bildern bei Luchterhand – vor allem die unterschiedliche Umschlaggestaltung auf.7 Ein Aquarell Hartwig Hamers wurde vom Aufbau-Verlag sowohl für die Gestaltung des Pappeinbandes als auch des Schutzumschlages verwendet. Dieses Aquarell nimmt den gesamten Umschlag ein; der wenige Text – Name und Titel, sowie ISBN-Nummer klein links unten auf der Rückseite – wirkt dadurch untergeordnet, hebt sich jedoch gleichzeitig durch die Farbwahl vom Hintergrund ab. Der Strich unter dem Titel begrenzt den Text zusätzlich auf diesen linken oberen Teil des Umschlages. Für den Leser des Buches ist es unmöglich zu wissen, inwieweit es sich hier um einen Ausschnitt oder um das gesamte Aquarell handelt und inwieweit die Farbwiedergabe dem Original entspricht, zumal sich die Farbnuancen des Schutzumschlages vom Pappeinband unterscheiden. In der Luchterhand-Ausgabe nimmt eine schwarz-weiße, mit dunkelgrün unterlegte Landschaftsfotografie den größten Teil des Umschlages ein. Der dunkelgrüne Leineneinband wiederholt dabei die grüne Farbe des Umschlages. Ein weißer Streifen ober- und unterhalb der Fotografie dient als Hintergrund und Kontrast zur schwarzen Schrift: Wie in der Aufbau-Ausgabe finden wir hier den Namen Christa Wolfs und den Titel des Buches, jedoch auch den Namen des Verlages, Wenn auch in kleineren Buchstaben weniger hervorgehoben. Die 6
Vgl. dazu Böthig 1996, 54 u. 203. Hier sind zwei Radierungen Hamers zu Sommerstück mit Entstehungsjahr (1988) und Größe (12,4 ⫻ 16,3) wiedergegeben. Im Buch fehlen Signatur, Jahresangabe und Titel. 7 Die Umschläge sind unter Rückgriff auf das deutsche Urheberrechtsgesetz § 51, Absatz 1 abgebildet.
277
Landschaft wirkt menschenleer, lediglich am Horizont sehen wir eine Landstraße mit Bäumen, Stromleitungen und einem Haus, was die Anwesenheit von Menschen andeutet. Durch die eher düsteren Farben und die tief hängenden Wolken am Horizont, weckt dieses Bild Assoziationen an ein bevorstehendes Gewitter. Die Fotografie nimmt zudem nur einen kleinen Teil der Rückseite ein und gibt so Platz für einen Text, der durch Anführungszeichen als Zitat gekennzeichnet ist, jedoch ohne Quellenangabe. Auf dem Klappentext beider Ausgaben wird Sommerstück präsentiert, wobei in der Luchterhand-Ausgabe mehrere Zitate aus dem Text verwendet werden. Der Klappentext als moderne Form des Waschzettels steht in unmittelbarer Nähe zum Text und ist – so Genette – nur einer “eingeschränkten Schicht des Publikums zugänglich, die die Buchhandlungen aufsucht und die Umschläge betrachtet” (Genette 1989, 109). Insgesamt kann man davon ausgehen, dass potentielle Leser/Käufer sich mit Hilfe des Klappentextes einen ersten Eindruck vom Inhalt des Buches verschaffen. Obwohl der Kauf eines Buches sicherlich nicht allein von dessen Umschlag abhängt, kann man trotzdem annehmen, dass die unterschiedlichen Umschläge beim Betrachter/Leser unterschiedliche Assoziationen und Erwartungen auslösen. Da Hamers Aquarell ohne Titelangabe verwendet wird, ist der Leser relativ frei in seiner Interpretation. Inwieweit der Leser Hartwig Hamer und seine Werke kennt und von seiner Zusammenarbeit mit Christa Wolf weiß, kann dabei durchaus von Bedeutung für die Interpretation sein.
278 Der Umschlag der Aufbau-Ausgabe ist durch Hamers Aquarell weniger konkret als der der Luchterhand-Ausgabe und gibt dadurch dem Leser vermutlich weniger Anhaltspunkte für den Inhalt des Textes. Gerade diese Offenheit, die unterschiedliche Interpretationen und Annäherungen an den Umschlag ermöglicht, wird von Gerhard Wolf für Hamers Aquarelle als Qualität hervorgehoben: Das ist auch das Geheimnis der Aquarelle von Hartwig Hamer, bei dem immer weniger “Konkretes” zu sehen ist, außer Luft und Wasser und die Horizontlinie. Das geht bei ihm zunehmend in die fast abstrakte, metaphysische Bewegung. Hamer ist dabei ein ganz seßhafter, echter Mecklenburger, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. (Böthig 1996, 49)
Und: Hartwig Hamer nimmt alles Schwelgerische zurück. Wenn er auf seinem JapanPapier die Farben zerfließen läßt, die er nur mit der Feder anskizziert hat, geht das fast bis hin in abstrakte Strukturen, wo die Elemente Wasser, Luft, Erde ineinander übergehen oder in Kontrast stehen. (Ebd., 53)
Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass Christa Wolf ihrem ostdeutschen Publikum bestens bekannt war; eine Rezeptionssteuerung durch Umschlag und Klappentext war dadurch offenbar weniger notwendig. Für die Umschläge der Taschenbuchserien bei dtv (1995) und Sammlung Luchterhand (2002) wurden Bilder Angela Hampels gewählt. Angela Hampels Zeichnungen wurden nicht besonders für diese Serien angefertigt, sondern von Christa und Gerhard Wolf gemeinsam mit Angela Hampel “aus einem größeren (in etwa zum Thema des jeweiligen Buches passenden) Konvolut von Arbeiten ausgesucht.”8 Neben dieser Zusammenarbeit war Angela Hampel sowohl an früheren als auch späteren Projekten Christa Wolfs – wie Kassandra (vgl. Böthig 1996, 46; 63ff.) und Medea (Hochgeschurz 1998, 136; 159ff.) – beteiligt. Dabei ging die Idee zu einer Kassandra-Ausstellung 1987 in Halle von Künstlern wie Angela Hampel aus: Angela Hampel hatte ihre sehr kühnen Kassandra-Interpretationen gemacht, wo sie das Kassandra-Thema ganz gegenwärtig auf ihre Situation bezogen auffaßte. In ihrem Zyklus waren die Kassandra’s junge Punkerinnen. Sie hat ganz eigene Entwürfe aus diesem Thema entwickelt, verwandt mit ihrem Penthesilea-Zyklus, und fortgesetzt mit Undine. So entstand eine enge Freundschaft. (Böthig 1996, 63)9
Hampels Zeichnung zeigt das Gesicht einer Frau im Profil, ihr Oberkörper ist lediglich angedeutet. Die Frau trägt einen schwarzen Hut, der unsere
8
Elektronische Post Angela Hampels vom 23. Februar 2007. An anderer Stelle spricht Christa Wolf von einer “intensive[n] Freundschaft mit Angela Hampel” (Böthig 1996, 46). 9
279 Aufmerksamkeit auf den oberen Bildteil und das Gesicht der Frau zieht. Über dem Kopf der Frau sehen wir einen dunklen Fleck, bei dem es sich um ein Tier handeln könnte, da Hampel häufig Tiere zusammen mit Menschen – was bei ihr meist Frauen sind – abbildet. Obwohl Hampels Zeichnung unabhängig vom Text entstand,10 kann man trotzdem davon ausgehen, dass die Bilder Hampels beim Betrachter bestimmte Assoziationen und Erwartungen an den Text auslösen und nach der Lektüre des Textes mit diesem in Verbindung gebracht werden. Wie auch Hamers Aquarell ist das Bild Angela Hampels ohne Titel wiedergegeben. Der Umschlag eines Buches mit dem Bild eines Künstlers dient hier offenbar lediglich als Blickfang und lenkt die Aufmerksamkeit des Käufers bzw. Lesers auf einen bestimmten Text, gleichzeitig weckt es beim Betrachter jedoch auch – gemeinsam mit dem Titel des Textes – Erwartungen an den Inhalt, die beim Lesen bestätigt oder enttäuscht werden können. Vergleicht man die beiden Umschläge,11 fallen zunächst die unterschiedlichen Farben auf: Während braun in der dtv-Ausgabe dominiert, handelt es sich in der späteren Ausgabe um einen grünen Hintergrund, der im Verlagslogo und -namen wiederholt wird. Zudem ist in der späteren Ausgabe nur ein Ausschnitt des Bildes gewählt und im oberen Teil des Umschlages platziert. Dadurch dient das Bild eher als Blickfang, durch die Wiederholung der Farbe wird jedoch auch eine Verbindung zum unteren Teil des Umschlages und zum Verlag hergestellt. In der dtv-Ausgabe fällt uns dagegen zuerst der Name Christa Wolf auf, der durch einen größeren Font als der Titel hervorgehoben ist. Die Dimension der Namensangabe variiert – so Genette – nach dem Bekanntheitsgrad des Autors: Diese Variationen folgen einem offenbar simplen Prinzip: Je bekannter der Autor, desto mehr breitet sich sein Name aus, aber dieser Grundsatz ist nur unter zwei Vorbehalten gültig: Erstens kann ein Autor aus außerliterarischen Gründen berühmt sein, bevor er überhaupt etwas veröffentlicht hat; zweitens betreibt der Verleger mitunter eine Werbung magischen Typs (so tun als ob, um zu erreichen, daß) und kommt dem Ruhm zuvor, indem er dessen Auswirkungen vortäuscht. (Genette 1989, 42f.)
Zwischen 1999 und 2001 erscheinen Christa Wolfs gesammelte Werke in zwölf Bänden bei Luchterhand. Die zwölfbändige Werkausgabe Christa Wolfs erschien sowohl gebunden als auch in Paperback (im Schuber), allerdings mit 10
Christa Wolf und ihr Mann haben auch in anderen Zusammenhängen dazu beigetragen, die Werke Angela Hampels einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vgl. Wolf 2005 und das bei Janus press herausgegebene Buch Angela Hampel. Eine Künstlerin in Dresden. 1982 bis 1992 (1993). 11 Sucht man im Internet nach Christa Wolfs Sommerstück, findet man die unterschiedlichen Umschläge. Vgl. beispielsweise ⬍www.amazon.de⬎, 15. Mai 2008.
280 jeweils gleicher Umschlaggestaltung. Da sich die Bände in ihrem chronologischen Aufbau auf die Erstveröffentlichung der einzelnen Werke beziehen, enthält der 2001 erschienene Band 10 die Werke der Jahre 1989 und 1990: Sommerstück und Was bleibt. Alle Bände haben die gleiche Umschlaggestaltung – Christa Wolfs Unterschrift auf grauem Hintergrund – und haben ungefähr den gleichen Umfang. Der Schutzumschlag der gebundenen Ausgabe präsentiert im Klappentext sowohl Sommerstück und Was bleibt als auch die Autorin. Dabei ist auffallend, dass sich der Klappentext offenbar lediglich auf Ausgaben in der Sammlung Luchterhand bezieht: “Sommerstück erschien im März 1993, die Erzählung Was bleibt erschien ein Jahr danach und wurde Anlaß für den sogenannten Literaturstreit […].” Jeder der zwölf Bände ist zudem mit einem Kommentar und einem Nachwort der Herausgeberin Sonja Hilzinger versehen, in dem der Leser über Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption informiert wird. Im Gegensatz zum Vorwort richten sich Genette zufolge Nachworte “nicht mehr an einen potentiellen, sondern an den tatsächlichen Leser” und gewährleisten “sicherlich eine logischere und tiefgehendere Lektüre” (Genette 1989, 228f.). Band zehn sammelt im Anhang außerdem Texte und Gedichte Christa Wolfs, die an anderer Stelle veröffentlicht wurden und durch deren Nachdruck ein literarischer Kontext zu Sommerstück und Was bleibt hergestellt wird. Eine Kommentierung ausgewählter Textpassagen und eine kurze Bibliographie beenden zusammen mit drei Faksimiles mit Vorarbeiten bzw. Notizen zu Sommerstück den Anhang. 2008 erschien Sommerstück in einer neuen Serie von Christa Wolfs Texten im Suhrkamp Verlag.12 Für die Umschläge dieser Serie wurden Fotografien Christa Wolfs verwendet, die ungefähr zu dem Zeitpunkt gemacht wurden, als Christa Wolf den jeweiligen Text schrieb bzw. veröffentlichte. Die für Sommerstück gewählte Fotografie zeigt Christa Wolf vor einer flachen, weitläufigen Landschaft, offenbar in den 1980er Jahren. Eine Fotografie der Autorin lädt den Leser zur Identifikation ein; der Name der Autorin wird durch ihre Abbildung personifiziert, gleichzeitig wie die Autorin vor einer Landschaft fotografiert ist, die offenbar Ähnlichkeiten mit der im Text beschrieben hat. Bereits der Autorenname auf der Titelseite kann als paratextuelles Element gedeutet werden, das “verschiedene […] Merkmale der Identität des Autors” (Genette 1989, 44) angibt. Christa Wolf ist ihrem Publikum als Autorin fiktionaler Texte bekannt, der Gattungsvertrag entsteht jedoch – so Genette – “durch die Gesamtheit des Paratextes und, umfassender, durch die Beziehung
Für den Umschlag vgl. die Internetseiten des Suhrkamp Verlages ⬍www.suhrkamp. de⬎, 15. Mai 2008. 12
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zwischen Text und Paratext” (ebd., 45). Weder die ost- noch die westdeutsche Ausgabe hat eine Genrebezeichnung, die auf die Fiktionalität des Textes ausdrücklich aufmerksam machen könnte, und entsprechen dadurch eher Christa Wolfs Poetik einer subjektiven Authentizität,13 in der sich Wirkliches und Erfundenes miteinander vermischt. Genette weist jedoch auch darauf hin, dass die Frage inwieweit es sich um einen fiktionalen Text handelt, in vielen Fällen nur durch einen Rückgriff auf die “Ressourcen des Paratexts” beantwortet werden kann (vgl. Genette 1992, 61). Dabei müssen die Intentionen des Autors nicht unbedingt vom Empfänger als solche wahrgenommen und verstanden werden. Die von Christa Wolf proklamierte Poetik einer subjektiven Authentizität hat sicherlich dazu beigetragen, dass viele ihrer Texte eng im Verhältnis zur Wirklichkeit gelesen wurden. Gleichzeitig mögen die Existenz der Zensur und deren Eingriffe das Lesen zwischen den Zeilen und den Wunsch nach Dechiffrierung noch verstärkt haben.
13 Christa Wolf formulierte ihre Poetik der subjektiven Authentizität erstmals 1974 in einem Gespräch mit Hans Kaufmann: “Die Suche nach einer Methode, dieser Realität schreibend gerecht zu werden, möchte ich vorläufig ‘subjektive Authentizität’ nennen – und ich kann nur hoffen, deutlich gemacht zu haben, daß sie die Existenz der objektiven Realität nicht nur nicht bestreitet, sondern gerade eine Bemühung darstellt, sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen.” (Kaufmann 1974, 95).
282 So ist man im Bezug auf die Stimmentechnik in Sommerstück in der Sekundärliteratur beispielsweise darum bemüht, die einzelnen Stimmen konkreten historischen Personen zuzuordnen.14 Dies geschieht trotz des ausdrücklichen Hinweises Christa Wolfs in einem nachgestellten Satz, dass keine der Figuren mit lebenden oder toten Personen identisch ist, und dass sich die beschriebenen Episoden nicht mit tatsächlichen Vorgängen decken: Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen der Erzählerin, keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. (Wolf 1989, 191)
Wie Annette Firsching bereits gezeigt hat, verweist dieser Nachtrag auf das Spiel Christa Wolfs mit den Begriffen Erfindung und Wirklichkeit (vgl. Firsching 1996, 173f.). Zwar beteuert Wolf die Fiktionalität des Textes, setzt jedoch dem Text die hintergründige Widmung “Allen Freunden jenes Sommers” voran. Außerdem unterzeichnet sie den Nachtrag mit ihren Initialen “C.W.” und ist so als Autorin im Paratext anwesend.15 Dabei bleibt offen, ob es sich bei dieser Erzählerin um die Erzählerin/Ellen im Text handelt oder aber um die Autorin/Christa Wolf als Erzählerin. Da dieser Nachtrag kein Teil des fiktionalen Textes ist, sind Ich-Erzählerin und Autorin nicht automatisch identisch. Tatsächlich hat aber die Ich-Erzählerin, wie immer bei Wolf, vermutlich viele Gedanken und Gefühle der Autorin. Bei der Widmung “Allen Freunden jenes Sommers” handelt es sich natürlich keineswegs um eine Huldigung, “die entweder durch die Protektion feudalen Typs oder, eher bürgerlich (oder proletarisch), in Gestalt klingender Münze entlohnt wird” (Genette 1989, 117), sondern eher um eine Danksagung an Freunde, die durch ihre Anwesenheit diesen Sommer zum literarischen Gegenstand werden ließen und nicht zuletzt im Text anwesend sind. Die unterschiedlichen Signale bezüglich der Fiktionalität von Sommerstück kommen auch in Christa Wolfs Notizen zum Arbeitsprozess zum Ausdruck. Wie auch beim Schreiben anderer Texte war die Frage nach der Erzählform
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Vgl. dazu Firsching 1995 und Chiarloni 1989. Vgl. dazu auch den Vorspann zu Kindheitsmuster: “Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. Wer Ähnlichkeiten zwischen einem Charakter der Erzählung und sich selbst oder ihm bekannten Menschen zu erkennen glaubt, sei auf den merkwürdigen Mangel an Eigentümlichkeit verwiesen, der dem Verhalten vieler Zeitgenossen anhaftet. Man müßte die Verhältnisse beschuldigen, weil sie Verhaltensweisen hervorbringen, die man wiedererkennt.” Auch dieser Vorspann ist mit den Initialen der Autorin “C.W.” unterzeichnet.
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283 unter dem Aspekt der Verfremdung bzw. Authentizität und Autobiographie wichtig.16 So notiert sie im Juni 1976: Wie bekommt man die Subjektivität hinein, ohne allzu subjektivistisch (ich-bezogen) zu werden? Andere Erzählpersonen? Annette – Sonja? In Ich-Form? Die Leute müßten sich fast wie historische Personen von einem leuchtenden Hintergrund abheben. (Hilzinger 2001, 315f.)
Und im März 1978: “Sommerstück. – Unverstellt schreiben, die richtigen Namen, nichts erfinden. […] Diese unheimliche Sehnsucht nach Aufrichtigkeit.” (Ebd. 318) Christa Wolfs Wunsch nach Aufrichtigkeit und Unverstelltheit muss sicherlich auch im Zusammenhang mit den Öffentlichkeitsbedingungen in der DDR und den sich daraus ergebenden Schreibbedingungen gesehen werden. Die Schwierigkeit ‘ich’ zu sagen, also die Frage nach individueller Identität, spielte in den Texten Christa Wolfs, aber auch in der DDR-Literatur seit den siebziger Jahren insgesamt, eine zunehmend wichtige Rolle. Nicht selten sind literarische Figuren wie die Ich-Erzählerin in Wolfs Erzählung Was bleibt in unterschiedliche Wesen gespalten, was der Doppelexistenz der meisten DDR-Bürger als öffentlicher und privater Person durchaus entspricht. Die Forderung nach Authentizität nahm deshalb in der DDR einen ausgesprochen wichtigen Platz ein, ging es doch um die Überwindung solcher schizophrenen Zustände. Die Widmung kann deshalb auch als eine Art Entschuldigung an die Freunde aufgefasst werden,17 zumal das Ziel einer Werkzueignung nie eindeutig ist und sich an “wenigstens zwei Adressaten” (Genette 1989, 131) wendet: den Zueignungsadressaten, aber auch den Leser, da es sich um einen öffentlichen Akt handelt, bei dem der Leser sozusagen stets als Zeuge geladen ist. […] Die Werkzueignung ist also immer demonstrativ, ostentativ, exhibitionistisch: Sie stellt eine intellektuelle oder private, wirkliche oder symbolische Beziehung zur Schau […]. (Ebd. 131f.) 16
Für Kassandra, einen Text, der ebenfalls über längere Zeit und in unterschiedlichen Fassungen entstand, experimentiert Christa Wolf in Lesungen sogar mit den unterschiedlichen Formen, um die Wirkung auf ihr Publikum zu testen. Für eine Lesung im September 1981 vermerkt sie die unterschiedlichen Reaktionen der Zuhörer in einem Erinnerungsprotokoll: “Zunächst über Ich- oder ⬎Sie⬍-Form. Ich-Form als intensiver empfunden, Identifikation mit mir stärker, Identifikationsmöglichkeiten des Lesers mit der Figur stärker. Suggestivere Form – was auch Gefahren mit sich bringt: Die Autorin zu stark mit der Figur – der ⬎Seherin⬍ – zu identifizieren.” (Hilzinger: 2000, 434f.) 17 Vgl. Wolf 1990, 149: “Ich zögerte sehr, es zu veröffentlichen, weil es mein persönlichstes Buch ist. Ich hatte auch Hemmungen gegenüber meinen Freunden, obwohl ich sie alle in dem Buch verändert und viel dazuerfunden habe.”
284 Der Adressat der Zueignung bekommt jedoch – so Genette – ein besonderes Verhältnis zum Werk: Erwähnt man als Auftakt oder Schlußtakt eines Werkes eine Person oder eine Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen und auf die eine oder andere Weise angerufen, wie einst der Sänger die Muse anrief. “Für Soundso” enthält immer ein gewisses “Durch Soundso”. Der Adressat der Zueignung ist gewissermaßen immer verantwortlich für das ihm zugeeignete Werk, dem er nolens volens ein Quentchen seiner Unterstützung und damit seiner Anteilnahme zukommen läßt. (Ebd., 133. Hervorh. i. Orig.)
Wie bereits erwähnt, ist die Sekundärliteratur darum bemüht, die unterschiedlichen Stimmen in Sommerstück bestimmten Personen aus dem Freundeskreis Christa Wolfs zuzuordnen. Fotografien aus den 1970er Jahren zeigen zudem Christa und Gerhard Wolf vor ihrem Haus in Meteln zusammen mit Familie und Freunden wie Helga Schubert und Sarah Kirsch (vgl. Böthig 2004, 98f.). Die Freunde jenes Sommers sind zudem in literarischen Zitaten im Text anwesend. So ist Sommerstück – wie vielen anderen Werken Christa Wolfs – ein literarisches Zitat vorangestellt. Sarah Kirschs Gedicht “Raubvogel süß ist die Luft” ist das letzte im Band Rückenwind, der 1976 in der DDR bei Aufbau erschien. In Rückenwind geht es – so Sarah Kirsch selbst – um den Versuch, ein Liebeserlebnis zu verarbeiten.18 Die erste und dritte Gedichtzeile werden zudem später im Text nochmals zitiert (Wolf 1989, 108) und als Zitat durch Großbuchstaben,19 jedoch ohne Nennung von Sarah Kirsch, kenntlich gemacht, während die zweite Zeile umschrieben den Abschnitt des Prosatextes einleitet. Durch diese Wiederholung wird eine Verbindung zwischen Peritext und Text hergestellt, gleichzeitig werden die Gedichtzeilen jedoch auch umgedeutet. So kann der Vogel als Bild für Kirschs Zentralmotiv des Fliegens gelesen werden, d.h. dem “Über-den-Dingen-Sein” (vgl. Cosentino 1981, 115). Dieses Motiv gibt dem Text eine optimistische Stimmung, kann jedoch in der Wiederholung und Umformung im Text anders gelesen werden. Wie Annette Firsching ausführt, erscheinen “die Figuren im Text alle als Gejagte, die auf die Tatsache der Jagd nur unterschiedlich reagieren” (Firsching 1996, 183). Das Motto befindet sich auf der ersten rechten Seite, im Falle von Sommerstück noch vor der Zueignung. Letztere steht in der Ausgabe des AufbauVerlages auf der linken Seite nach dem Motto, gegenüber dem ersten Bild. 18
Vgl. Cosentino 1981, 108. Anmerkung 13. In der Ausgabe von Luchterhand sind die Gedichtzeilen durch Kursivierung als Zitat kenntlich gemacht (S. 123).
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286 Erst auf Seite 9 beginnt der Text mit dem ersten von neunzehn Kapiteln. Sämtliche peritextuelle Elemente wie Titel, Umschlag, Motto und Widmung machen gemeinsam mit dem ersten Bild die Schwelle aus, die ein potentieller Leser übertreten muß, um in den Text zu gelangen. Sowohl Motto als auch Bild können dabei als Kommentar zum Text gelesen werden, dessen Bedeutung indirekt präzisiert und hervorgehoben wird. Die Interpretation bleibt jedoch dem Leser überlassen (vgl. Genette 1989, 152), und ist nicht zuletzt davon abhängig, inwieweit der Leser diese Elemente bewusst oder unbewusst zur Kenntnis nimmt. Während das Motto im Allgemeinen als original betrachtet werden kann und “von der ersten Ausgabe an immer enthalten” (ebd. 146) ist, entfällt die Widmung zumindest in einigen späteren Übersetzungen von Sommerstück.20 Inwieweit die Bilder Hartwig Hamers zu den peritextuellen Elementen gerechnet werden können, ist fraglich, da sie nicht nur den Text umgeben, sondern auch innerhalb des Textes zu finden sind. Allerdings sind die Bilder jeweils zwischen den Kapiteln plaziert und damit nicht in den Text integriert. Ein Bild am Anfang und ein Bild am Ende rahmen den Text ein. Da keine Informationen genauren Informationen zur Zusammenarbeit von Autorin und Künstler zugänglich sind, muss man annehmen dass Word and image are not presented on the same page but refer, independently from each other, to the same event or thing in the natural world. […] the artists have workes seperately, and the verbal-visual relation between their works exists only in the mind of the reader-beholder. (Varga 1989, 42)
Wie andere paratextuelle Elemente können Bilder – zumeist lediglich als schmückendes Element betrachtet – in späteren Ausgaben fehlen oder nach längerer Abwesenheit wieder in eine Ausgabe aufgenommen werden. Wie bereits erwähnt finden sich Hamers Bilder lediglich in der Ausgabe des Aufbau-Verlages. Warum gerade Sommerstück so verhältnismäßig aufwendig gestaltet wurde, kann sicherlich mit dem Erscheinen des Textes zu Christa Wolfs 60. Geburtstag im März 1989 in Verbindung gebracht werden. Christa Wolf hat zudem von Sommerstück als ihrem persönlichsten Werk gesprochen (vgl. Wolf 1990, 149). Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die gewählte Kombination von Text und Bildern mit der Wichtigkeit des Textes für Christa Wolf persönlich in Verbindung steht, gleichzeitig wie der Verlag vermutlich anlässlich ihres runden Geburtstages ihren Wünschen entgegenkam. Die Grafiken Hartwig Hamers sind im Sommerstück ohne Signatur, Jahresangabe, eventuellen Titel und Nummerierung abgebildet; lediglich auf der Kolophonseite finden wir einen Hinweis auf den Künstler: “Mit Grafiken von Hartwig Hamer”. Aus dem Werkverzeichnis Hartwig Hamers erfahren wir, dass es sich bei seinen Radierungen 20
Die Widmung fehlt in der dänischen und norwegischen Übersetzung, in der finnischen Ausgabe wurde die Widmung unter das Motto gestellt.
287 durchweg um Ätzradierungen handelt. Verwendet wurden Zink-, Kupfer- und in jüngerer Zeit vermehrt Messingplatten. Gedruckt wurde auf weißem bis gelblichen Kupferdruckpapier oder -karton, seltener auf Bütten und vereinzelt auf Japanpapier. (Hamer 2003, 33)
Inwieweit die Reihenfolge der acht Grafiken und deren Anordnung zwischen den Kapiteln in Zusammenarbeit zwischen Autorin, Künstler und Verlag festgelegt wurde, geht nicht aus der Publikation hervor. Sicherlich spielten drucktechnische Faktoren und damit verbundene Kosten eine wesentliche Rolle. Da der Text überwiegt, erleben wir die Bilder als untergeordnete Elemente, die wir aber beim Lesen keineswegs übersehen. Weder ein eventueller Titel noch der Text Christa Wolfs erklären die Bilder für den Leser; durch den Text liegt jedoch die Vermutung nahe, dass die Landschaft im Text mit der auf den Bildern in Verbindung miteinander steht. Beschäftigt man sich näher mit Hartwig Hamer, findet man im Werkverzeichnis der Radierungen die acht Motive in nummerierter Reihenfolge mit Titel (vgl. Hamer 2003, 38f.). Durch Titel wie “Haus hinter Bäumen”, “Baum” oder “Einsames Gehöft” wird die Rezeption gelenkt und konkretisiert. Die im Werkverzeichnis wiedergegebene Reihenfolge der Bilder entspricht weitgehend der im Sommerstück; lediglich das vierte und fünfte Bild haben ihre Plätze getauscht. Unsere Erwartungen an Bilder hängen von deren Umfeld ab. Im Sommerstück sind die Bilder zunächst – wie auch der Text – durch peritextuelle Elemente wie Titel, Widmung und Motto bestimmt, innerhalb des Textes sind sie von den sie umgebenen Textteilen abhängig. Die Bedeutung der Landschaft wird im Text wiederholt hervorgehoben: Zwei Welten, das sagt man so. Aber wenn es buchstäblich zutrifft? Wenn wir lange das Gefühl nicht loswerden konnten, wir würden in ein fernes, fremdes Land eindringen, uns von ihm umschließen lassen, daß man am Ende nicht wußte, wer wen einnahm, wer wen eroberte. Aber was war es denn wirklich, und woher diese Gefühle. Die Natur, das schon, die wir zu lange kaum wahrgenommen hatten und die uns in unerwarteter Weise zu schaffen machte. Die Landschaft, gewiß, die uns ergriff. (Wolf 1989, 69)
Sämtliche Grafiken zeigen offenbar norddeutsche Landschaften ohne Personen, obwohl gerade das Motto “Allen Freunden jenes Sommers” eine sommerliche Landschaft mit Personen erwarten lässt. Auf den Bildern sind jedoch keine Personen anwesend und auch die Jahreszeiten lassen sich nur bedingt ablesen. Nur auf dem ersten, dem Text vorangestellten, und dem vorletzten Bild erkennen wir ein Haus. Bereits im ersten Abschnitt des ersten Kapitels erfahren wir jedoch, dass jetzt “alles zu Ende ist” und “die Häuser zerstört sind” (ebd. 9). Das vorangestellte Bild wird so zu einem vergangenen. Indem die Bilder eine weitgehend von Menschen unberührte Landschaft darstellen, stehen sie in gewisser Weise im Gegensatz zum Text, in dem die
288 Personen ihren Sommer in dieser Landschaft verbringen. Sogar die im Text von den Personen beobachteten Tiere fehlen: Irene und Clemens kamen den Weg herunter. Die Männer begannen, die Vogelwelt des Weihers zu benennen. Doch, vom anderen Ufer konnte man das scheue Schwanenpaar mit seiner Brut ausmachen, im Wassergesträuch. Fünf Junge waren es, zweifelsfrei fünf. Ein Junges hielt sich so dicht hinter der Mutter, daß man es leicht übersah. (Wolf 1989, 119)
Die dargestellten Landschaften wirken dadurch abstrakter und stehen dem Leser für eigene Interpretationen offen. Sie scheinen die “heilen Flecken” (ebd. 120) zu verkörpern, die jedoch in ständiger Gefahr sind, vom Feuer zerstört zu werden: “Dann setzte eine der Feuersirenen ein, die wir in der zweiten Sommerhälfte beinahe täglich aus den umliegenden Dörfern hörten. Ununterbrochen schien es irgendwo zu brennen. Manchmal sahen wir die Rauchsäulen aufsteigen.” (Ebd.) Durch die fehlenden Titel wird dieser Interpretationsspielraum weiter vergrößert, denn Titel wie “Feld mit Weiden”, “Weg nach Hause” oder “Ackerfurchen” verweisen durchaus auf die Anwesenheit von Menschen in dieser Landschaft (vgl. Hamer 2003, 39); Menschen, durch deren Hilfe ein Haus durchaus auch vor dem Feuer beschützt werden kann (vgl. Wolf 1989, 170ff.). Die Kombination von Text und Bild scheint der Einsicht Christa Wolfs zu entsprechen, dass daraus etwas Neues und Anderes entsteht, etwas, “das man mit Sprache allein nicht mehr sagen kann” (ebd. 46). Die unterschiedlichen Medien ergänzen vielmehr einander, ohne dass sie notwendigerweise in Abhängigkeit voneinander geschaffen wurden: Die Grafiken von Hamer zum Sommerstück hatten wir übrigens eigens von ihm erbeten, da wir Übereinstimmungen sahen, ohne daß er sich konkret auf den Text bezog. Es gab einen bestimmten norddeutschen Stil, der sich aus der Tradition der niederdeutschen Malerei speiste, über Niemeyer-Holstein, den fast alle Mecklenburger kannten und aufsuchten. (Böthig 1996, 54)
Inwieweit Hamers Bilder aus seiner Kenntnis des Textes entstanden oder lediglich auf der Grundlage von Gesprächen mit Christa und Gerhard Wolf, geht nicht aus diesem Zitat hervor. Immerhin wird deutlich, dass es sich bei Hamers Bildern nicht unbedingt um Interpretationen zum Text handelt, so dass es schwierig ist, Aussagen zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Text und Bild zu machen, obwohl sie eigens für Christa Wolfs Sommerstück geschaffen wurden.21 Immerhin kann man sich vorstellen, dass andere Künstler andere 21
Vgl. Hamer 2003, 38f. Durch die technischen Angaben erfahren wir, dass es sich um Radierungen handelt, die 1988 zu Sommerstück in einer Auflage von jeweils 40 bzw. 50 Exemplaren entstanden.
289 Bilder zum Text schaffen können, so wie dies beispielsweise im Falle von Medea geschah (vgl. Hochgeschurz 1998). Dann würde eher zutreffen, dass “[w]hat comes first is necessarily unique; what comes after can be multiplied. One image can be the source of many texts, and one text can inspire many painters.” (Varga 1989, 44) Natürlich war Christa Wolfs Wahl nicht zufällig, denn das norddeutsche Element war offensichtlich wichtig und wird so zur Verbindung zwischen Text und Bild.22 Hamers Landschaften sind offen, der Horizont nimmt nicht selten einen großen Teil des Bildes ein. Besonders die letzten beiden Bilder ziehen den Betrachter in das Bild und damit in die Landschaft hinein und intensivieren dadurch auch die Verbindung zwischen Text und Leser. Obwohl in allen Bildern Landschaften zu erkennen sind, handelt es sich zum Teil doch um recht abstrakte Bilder, so dass es für den Betrachter schwierig sein kann, Gegenständliches zu erkennen, nicht zuletzt weil die Bilder in Sommerstück ohne Titel wiedergegeben werden: Der Zeichner hält nur fest, was ihm aufzuheben wesentlich erscheint, was vor seinen Augen besteht. Sein sicheres Gefühl für diese Landschaft, die wir anzuschauen und im Wechsel der Jahreszeiten sich wandeln zu sehen nicht müde werden, kommt so auf das Blatt. Landschaft, die nichts Beschauliches oder Kleinliches kennt, die sich unserem Blick öffnet und zugleich auch wieder verschließt, mit dem elementaren Zug, den sie bis heute hat. (Ebd. 203)
Wie auch Christa Wolfs Text in späteren Ausgaben ohne Hamers Bilder veröffentlicht wurde, waren Hamers Bilder als selbständige Kunstwerke ebenfalls unabhängig vom Text seinem Publikum zugänglich, sei es in Ausstellungen, Katalogen oder durch Verkauf. Hamers Radierungen in Sommerstück haben dabei auch Ähnlichkeiten zu anderen Arbeiten wie beispielsweise einer Radierung aus dem Jahre 1987 mit dem Titel “Landeinwärts” (vgl. Böthig 1996, 54) oder einer Radierung mit dem Titel “Dieses Land also”, die offensichtlich direkt zu einem Text von Christa Wolf entstand und auf den Seiten des Janus-Verlages zusammen mit dem Text zu finden ist.23 In einem “Exkurs zur ‘Niederdeutschen Malerei’ ” (Böthig 1996, 53f.) beschreibt Gerhard Wolf Hartwig Hamer als “Landschafter”, der “alles Schwelgerische zurück[nimmt]” (ebd.). Gerade Hamers Art, die mecklenburgische
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Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass Bilder zum Text entstehen, ohne dass eine Zusammenarbeit zwischen Autorin und Künstler stattgefunden hat. Vgl. beispielsweise die Literaturbilder von Alexander Steffes ⬍http://www.ub.unisiegen.de/expo/steffes/5-6.htm⬎, 14. April 2008. 23 Orginalradierung von Hartwig Hamer “Dieses Land also…” zu einem Text von Christa Wolf: ⬍http://www.januspress.de/shop/popup_hamer_1.html⬎, 17. März 2008.
290 Landschaft darzustellen, mag für Christa Wolf Anlass gewesen sein, seine Bilder für Sommerstück zu wählen: Mich [Christa Wolf, R.S.] fasziniert immer, wenn einer nicht anders kann und überhaupt nicht zu verrücken ist. Der Hamer ist so einer, da kann man lange dran schubsen von allen Seiten, der wird immer diese Landschaften machen, auf seine Weise […]. Dieses Absolute an ihrem Leben und an ihrer Arbeit ist es, das mich, vom Menschlichen her, aber auch vom Politischen, am meisten beeindruckt hat; abgesehen vom künstlerischen Genuß, den ich an ihren Arbeiten habe. (ebd., 53)
Literatur Böthig, Peter (Hg.): Unsere Freunde, die Maler. Bilder, Essays, Dokumente. Berlin 1996. – (Hg.): Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten. München 2004. Cosentino, Christine: Sarah Kirschs Dichtung in der DDR: Ein Rückblick. In: German Studies Review 4 (1981). H. 1, S. 105–116. Firsching, Annette: Kontinuität und Wandel im Werk von Christa Wolf. Würzburg 1996 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 16). Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1989. – Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München 1992 (Bild und Text). Hamer, Hartwig: Meine Landschaft. Grafische Blätter. Mit einem Werkverzeichnis der Radierungen. Hg. von Detlef Hamer. Berlin 2003. Hayles, Katherine N.: Writing Machines. Cambridge u. London 2002 (MEDIAWORK pamphlet). Hilzinger, Sonja: Anhang. In: Christa Wolf: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. München 2000 (Werke 7). S. 399–450. – Anhang. In: Christa Wolf: Sommerstück. Was bleibt. München 2001 (Werke 10). S. 293–346. Hochgeschurz, Marianne (Hg.): Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild. Berlin 1998. Kaufmann, Hans: Gespräch mit Christa Wolf. In: Weimarer Beiträge 20 (1974). H. 6. S. 90–112. Kuhmlehn, Thomas (Hg.): Angela Hampel. Eine Künstlerin in Dresden. 1982 bis 1992. Berlin 1993. Skare, Roswitha: Christa Wolfs Was bleibt. Kontext – Paratext – Text. Tromsø 2007. ⬍http://hdl.handle.net/10037/1412⬎ Varga, Kibedi A.: Criteria for Describing Word-and-Image Relations. In: Poetics Today 10 (1989). H. 1. S. 31–53. Wolf, Christa: Sommerstück. Berlin u. Weimar 1989. – Sommerstück. Frankfurt/M. 1989. – Reden im Herbst. Berlin 1990. – Sommerstück. München 1995 (dtv 12003). – Sommerstück. Was bleibt. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 2001 (Werke 10). – Sommerstück. München 2002 (SL 2037).
291 – Gestalten im Spannungsfeld. Über Angela Hampel. In: Künstler in Dresden im 20. Jahrhundert. Literarische Porträts. Hg. von Wulf Kirsten u. Hans-Peter Lühr. Dresden 2005, S. 248–249. – Sommerstück. Frankfurt/M. 2008 (suhrkamp taschenbuch 3941).
Internet-Quellen Christa Wolf liest Medea im Berliner Ensemble. 21. November 2002. ⬍http:// www.gezett.de/_lesungen/web-20021121-lit-medea-wolf-christa/index.htm⬎. Literaturbilder von Alexander Steffes ⬍http://www.ub.uni-siegen.de/expo/steffes/ 5-6.htm⬎. Orginalradierung von Hartwig Hamer “Dieses Land also …” zu einem Text von Christa Wolf. ⬍http://www.januspress.de/shop/popup_hamer_1.html⬎.
Henk Harbers
Orpheus, Ödipus, Odysseus. Urs Widmers Spiel mit dem Mythos in der Erzählung Der blaue Siphon Literary texts are often mythographic: they provide variations on the old mythic stories, thus re-writing, re-inventing and extending the meanings of these myths. Literature also allows – by means of its specific form and aesthetics – a mythical, non-discursive way of thinking. Both apply to a high degree to Urs Widmers story Der blaue Siphon which combines the myths of Orpheus, Oedipus and Odysseus to a new and original complex of meaning.
Urs Widmer ist ein Autor, der durchaus wahrgenommen und gelesen wird. Fast alle seine Werke sind im Buchhandel erhältlich, seine Romane und Erzählungen werden in allen angesehenen Zeitungen ausführlich (und meist positiv) rezensiert, seine Theaterstücke werden aufgeführt, manche (wie Top Dogs) sind zu einem regelrechten Erfolg geworden. Die Literaturwissenschaft aber hat sich bis jetzt nicht sonderlich um sein Werk gekümmert. Neben einem Essay im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur und einer Nummer von Text ⫹ Kritik (140, 1998) gibt es nur noch einige Beiträge zu Einzelwerken. Zu der Erzählung Der blaue Siphon1 (1992) findet man gerade einen wissenschaftlichen Aufsatz2 und eine Schulausgabe mit einem kurzen Kommentar.3 Dabei lohnt es sich wirklich, diesen Text genau zu analysieren. Der blaue Siphon ist nach meinem Dafürhalten ein kleines Meisterwerk, das in einem leichten Ton, auf fast spielerische Weise die großen Themen von Krieg, Tod und Schicksal mit individualpsychologischen Konstellationen verbindet – und zwar indem es zwei, vielleicht sogar drei klassische Mythen miteinander verknüpft: den Mythos von Orpheus, von Ödipus und von Odysseus. Wie das genau geschieht, ist Gegenstand der folgenden Analyse.
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Urs Widmer: Der blaue Siphon. Erzählung. Zürich: Diogenes 1992; im Folgenden zitiert unter der Sigle BS. 2 Hans-Peter Ecker: Die fragile Zitadelle. Zur Reflexion medialer Vermittlung von Realität in Urs Widmers Erzählung Der blaue Siphon. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 232 (1995). S. 1–22. Der Aufsatz untersucht die Funktion der Filme (im Gegensatz zum Fernsehen) in Widmers Erzählung, argumentiert aber, wie mir scheint, mehr mit textexternen Theorien als mit einer Analyse des Textes selber. 3 Urs Widmer: Der blaue Siphon. Erarbeitet von Anna Luise Benner. Bamberg: Buchner 2002.
294 Nun betritt man, wenn man über das Verhältnis von Literatur und Mythos nachdenken will, ein enorm weites Feld. Allein schon über Mythen und ihre Bedeutung ist inzwischen so viel gedacht und geschrieben, dass eine ‘Einführung in die Philosophie des Mythos’ schon zwei (ausgezeichnete) Bände umfasst.4 Von Platos Zeiten bis heute wird darüber nachgedacht und wird erforscht, welche Funktion Mythen hatten, wie sie entstanden sind, wie man sie lesen und auslegen kann, ob Mythen bestimmte menschliche Grunderfahrungen zum Ausdruck bringen und ob sie das in einer eigenen Art und Weise tun. Die letzte Frage wird im Allgemeinen bejahend beantwortet: Seit Plato wird der Mythos vom Logos, wird das mythische Denken vom diskursiven, logischwissenschaftlichen Denken unterschieden. Besonders einflussreich sind dabei etwa die Untersuchungen von Ernst Cassirer,5 der in neukantianischer Art die Anschauungs- und Denkformen des Mythos untersucht und dabei das nicht abstrakte, nicht logisch-kausale Einheitsdenken des Mythos betont, aber auch die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss,6 der nach grundlegenden Modellen von Lebensordnung in Mythen sucht, oder auch die Untersuchungen von Hans Blumenberg,7 die den Mythos als Stiftung von Bedeutsamkeit (auch und vor allem desjenigen, was im diskursiv-wissenschaftlichen Denken als gleichgültig erscheint) mit dem Zweck der Bewältigung der ursprünglichen Daseinsangst des Menschen interpretieren. Alle betonen, dass Mythen auf ihre eigene Weise versuchen, der Erfahrungswelt Sinn und Ordnung zu verleihen. (Über die Frage allerdings, ob beide Arten des Denkens, das mythische Denken und das logischdiskursive Denken, nun auch erkenntnistheoretisch gleichwertig sind, oder ob man in der menschlichen Kultur von einem Fortschritt vom – prälogischen8 – Mythos zum modernen wissenschaftlichen Logos sprechen muss, gehen die Meinungen bis heute auseinander. Die Antworten auf die Frage nach der Gleichwertigkeit von Mythos und Logos variieren von einem deutlichen Nein – von Plato bis Habermas – über eine gewisse Ambivalenz, etwa bei Cassirer und Lévy-Strauss, bis zu einem ganz entschiedenen Ja wie bei Kurt Hübner.9 Die Literatur, die in ihrer bildlichen, nicht- oder wenigstens nur teilweise diskursiven Eigenart ohnehin dem Mythos verwandt ist, hat sich immer gern 4 Luc Brisson: Einführung in die Philosophie des Mythos. Band I: Antike, Mittelalter und Renaissance. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996; Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Band II: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991. 5 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Hamburg: Felix Meiner 2002 (⫽ Gesammelte Werke Band 12). 6 Siehe zum Beispiel Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Texte zur modernen Mythentheorie. Hg. von Wilfried Barner u.a. Stuttgart: Reclam 2003. S. 59–74. 7 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 8 Der Begriff entstammt den Theorien von Lucien Lévy-Bruhl. 9 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München: Beck 1985.
295 mythischer Inhalte bedient. Und gerade in der Literatur der Moderne, die wenigstens seit der Romantik immer wieder die Gefahren eines einseitigrationalen, entfremdenden Denkens betont und nach anderen als rationalbegrifflichen Erkenntnisweisen sucht, übt die nicht diskursiv-logische Art des mythischen Denkens eine große Anziehungskraft aus: “Die Literatursprache als Ausdruck der gesamten Erfahrungspalette menschlicher Existenz bleibt auch im Zeitalter der Moderne dem Mythos verwandt.”10 Diese Verwandtschaft zeigt sich sowohl im Inhalt als auch in der Form. Inhaltlich greift die Literatur immer wieder auf mythische Stoffe zurück, die Literatur ist mythographisch tätig, sie arbeitet – im Sinne von Hans Blumenberg – am Mythos, sie erzählt die alten Mythen neu und bereichert so zugleich ihr Bedeutungsspektrum. Blumenberg zeigt das am Beispiel des Prometheus, der durch die Jahrhunderte hindurch in immer neuen Gestaltungen für den Widerstand gegen eine übermächtige Wirklichkeit steht. Ein anderes Beispiel gibt Manfred Frank,11 der die Funktion von Mythen als Gemeinschaft stiftende Beglaubigung von gesellschaftlichen Ordnungen versteht und der zeigt, wie in der Moderne die Gestalt des Dionysos als Korrektivfigur zu einer einseitig rational orientierten Gesellschaft funktioniert. Übrigens wird in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dieses mythische Denken immer mit den nötigen Vorbehalten versehen: Die Gefahren einer in den Irrationalismus abdriftenden Kritik an der modernen Rationalität sind durch die Erfahrungen mit der Nazizeit besonders deutlich geworden. So ist Cassirers Zurückhaltung gegenüber dem mythischen Denken deutlich gewachsen,12 warnt Silvio Vietta ausdrücklich vor einer “unheiligen Form der Mythisierung der Macht”13 und spricht Manfred Frank von dem notwendigen Korrelat des ‘Dionysischen’ im ‘Apollinischen’, bei Nietzsche, aber auch schon in der späten Romantik. Bernd Hüppauf plädiert für eine Wiederbelebung des Mythos in der heutigen Literatur in der Tradition von Musil, Broch und Thomas Mann, einer Tradition, in der rationales und mythisches Denken gerade miteinander verbunden werden, in der es, mit dem Begriff von Thomas Mann, um die ‘Humanisierung des Mythos’ gehe.14 In dieser Tradition schreibt, wie mir scheint, auch Widmer, der in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen davon spricht, dass
10
Silvio Vietta: Mythos in der Moderne – Möglichkeiten und Grenzen. In: Moderne und Mythos. Hg. von Silvio Vietta und Herbert Uerlings. München: Fink 2006. S. 21. 11 Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. I. Teil. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. 12 Siehe Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates. In: Texte zur modernen Mythentheorie. Hg. von Wilfried Barner u.a. Stuttgart: Reclam 2003. S. 39–55. 13 Vietta: Mythos in der Moderne (Anm. 10). S. 22. 14 Bernd Hüppauf: Mythisches Denken und Krisen der deutschen Literatur und Gesellschaft. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. von Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. S. 508–527.
296 Literatur auf metaphorische Weise und unter Zuhilfenahme von mythischen Stoffen jene Bereiche ausleuchtet, die von der Wissenschaft noch unerforscht sind, zugleich aber hinzufügt, dass das keinen “Freibrief für Beliebigkeit” bedeute, sondern dass Literatur “auf der Höhe ihrer Zeit” sein und “die Welt der Begriffe integriert haben” muss.15 Aber die Verwandtschaft von Literatur und Mythos beschränkt sich nicht auf den inhaltlichen, mythographischen Aspekt. In jüngster Zeit sind Theorieansätze entwickelt worden, die diese Verwandschaft gerade auch in der literarischen Form suchen. Den Anstoß gaben Überlegungen von Heinz Schlaffer,16 die von Matias Martinez zu einer Art Forschungsprogramm weiterentwickelt wurden.17 Wichtig dabei war die Neuentdeckung der Dissertation von Clemens Lugowski aus dem Jahre 1932.18 Lugowski untersucht Romane aus der frühen Neuzeit und stellt, beeinflusst durch Ernst Cassirers einige Jahre zuvor erschienene Analysen des mythischen Denkens, die These auf, dass bestimmte Erzählstrukturen, die den modernen Leser zunächst befremden, als bewusst gehandhabte Kunstgriffe zu verstehen sind. Diese Strukturen bezeichnet Lugowski als ‘mythisches Analogon’, als ein Weiterleben mythischer Denkweisen in literarischen Formen. Dieser Gedanke wird von Schlaffer und Martinez auf die Literatur der Moderne ausgeweitet: Auch in der modernen und postmodernen Literatur könnten mythische Denkweisen, die im rational-wissenschaftlichen Diskurs keine Gültigkeit mehr beanspruchen können, weiterleben, und zwar in der ästhetischen Form, also als Fiktion. Diese Ansätze sind kürzlich von Herwig Gottwald in einer sehr lesenswerten Habilitationsschrift systematisiert und erweitert worden.19 Mit einer kritischen Analyse von Werken von Cassirer, Lugowski, Bachtin, Eco und Blumenberg versucht Gottwald das Instrumentarium bereitzustellen, mit dem Literatur als ästhetisches Refugium für mythische Denkweisen untersucht werden kann. Kurz zusammengefasst geht es im Kern darum, dass literarische Mittel wie die nicht an empirisch-logische Wahrscheinlichkeit gebundene Repräsentation von Raum, Zeit, Kausalität, wie auch das Spiel mit Leitmotiven und Wiederholungen, eine bedeutungsvolle und mythos-analoge Welt schaffen
15
Urs Widmer: Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes 2007. S. 42. 16 Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 17 Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hg. von Matias Martinez. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1996. 18 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. 19 Herwig Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
297 können, die als fiktives Spiel vom modernen Leser akzeptiert wird. Auf diese Weise können, so Gottwald, literarische Werke auf Aspekte des menschlichen Lebens hinweisen, die in einer ausschließlich wissenschaftlichen Weltauffassung leicht außer Sicht geraten. Genau darum geht es auch Widmer. Und in der Erzählung Der blaue Siphon spielen in der Tat beide Elemente, das mythographische Neu-Erzählen und die formale Analogie zum mythischen Denken, eine wichtige Rolle. Um das in einer detaillierten Analyse nachvollziehen zu können, gebe ich zunächst kurz den Handlungsverlauf wieder. Die Erzählung besteht aus zwei Teilen, die genau parallel aufgebaut sind. Der erste Teil fängt damit an, dass die Ich-Figur, ein 53-jähriger Schriftsteller in Zürich (der Urs Widmer bis in die Details ähnlich sieht) von einer blauen Siphonflasche träumt. Er denkt nicht lange an den Traum, sondern wird vom Alltag in Zürich im Jahr 1991 vereinnahmt, wo der erste Golfkrieg – und damit das Thema Krieg überhaupt – vorherrschend ist. Dann geht er ins Kino. Der Film, den er da sieht, handelt von einem Wahrsager auf dem Dach eines Hauses irgendwo in Indien oder Pakistan oder Bangladesch, der einem jungen Europäer eine nicht besonders angenehme Wahrheit sagt. Dieser aber hört kaum zu, weil er nur Augen für eine junge Frau neben dem Wahrsager hat. Unmittelbar nach dem Besuch beim Wahrsager wird die Ehefrau des Europäers vom einem politischen Fanatiker erschossen. Der Mann sucht danach sein Leben lang vergeblich nach der Frau, die er beim Wahrsager gesehen hatte. Als der Ich-Erzähler das Kino verlässt, ist die Szenerie in Zürich merkwürdig verändert, in seiner Wohnung befindet sich ein fremder Mann, und in seiner Verwirrung geht er zum Bahnhof und steigt in den Zug nach Basel ein. Kurz vor Basel verlässt er den Zug und versteht plötzlich, was geschehen ist: Er befindet sich im Jahr 1941, in der Zeit seiner Kindheit, als er drei Jahre alt war, und er ist nun auf dem Weg zu seinem Elternhaus. Da wird er begeistert von dem Hund Jimmy begrüßt, da trifft er seine Eltern (die wesentlich jünger sind als er) und sein früheres Kindermädchen Lisette. Er fährt auf dem Rad seines Vaters in die Gegend, verbringt eine Nacht in einer Wirtschaft, spricht unterwegs ein kleines Mädchen an (das später seine Frau werden wird) und kehrt wieder zurück zum Elternhaus. Dort herrscht inzwischen Panik: Der kleine Sohn ist verschwunden. Lisette hat ihn vor zwei Tagen ins Kino gebracht, und als sie ihn wieder abholen wollte, war er nicht mehr da. Der Ich-Erzähler errät den Zusammenhang: Das Kind muss nach dem Kinobesuch in die Jetztzeit versetzt worden sein, genau wie er in die frühere Zeit. Er verspricht den Eltern, das Kind zurückzuholen. Dafür geht er nun wieder ins Kino. Da sieht er einen Film, der von einem Jungen irgendwo in Indien oder Bangladesch berichtet, dessen Mutter stirbt und der nun mit seinem Vater in die Großstadt gerät, wo er als Anhänger einer radikalen politischen Gruppe eine junge englische Frau erschießt (wohl die Frau aus dem ersten Film), sich auf dem Dach eines Hauses versteckt, dann nach England kommt, dort
298 studiert und ein berühmter Schriftsteller wird.20 Mittels eines Kinobesuchs (genau wie in der Haupthandlung) wird er in seine Heimat und in die Zeit seiner Kindheit versetzt, wo er wieder auf dem Dach des Hauses lebt (nun mit seinem ehemaligen Kindermädchen) und wo er zum Wahrsager wird. Wie erwartet, findet die Ich-Figur sich nach dem Kinobesuch wieder in der Jetztzeit in Zürich (bloß der Hund Jimmy ist aus Versehen mit ihm in die heutige Zeit gerutscht). In der Wohnung befinden sich auch wieder seine Frau und seine Tochter, die ihm sagen, dass er etwa drei Stunden weg war. Mara, die Tochter, erzählt noch von einem dreijährigen Jungen, der ums Haus gestrichen sei. Ihr Vater schenkt ihr den Hund; Vater, Mutter und Tochter tanzen zu der Musik aus Maras Stereoanlage. Der erste Teil endet mit einer kurzen Reflexion über die Atombombe, die auf Hiroshima abgeworfen wurde. Der zweite Teil wird von demselben Ich-Erzähler erzählt, nun aber – als Erinnerung – aus der Perspektive des dreijährigen Kindes. Der Vater versieht in diesen Kriegsjahren als Soldat seinen Wehrdienst, das Kind lebt mit der Mutter (und dem Kindermädchen) im Elternhaus und empfindet diese Zeit als paradiesisch. Dann platzt der Vater, der gegen die Dienstvorschrift einen Abstecher zur eigenen Familie macht, in das Idyll herein, übersieht den kleinen Jungen, geht mit der Mutter ins elterliche Schlafzimmer und schickt anschließend Lisette mit dem Kind ins Kino. Dort sieht der Junge einen Film mit einer komplexen Handlung: Ein kleiner Junge lebt in Kriegszeiten, irgendwo in Indien oder einem benachbarten Land, in einem friedlichen Idyll mit seiner Mutter. Und dann, wie eben im Elternhaus des dreijährigen Kinobesuchers, kommt der Vater unerwartet nach Hause, schläft mit der Mutter und stört das Idyll des Jungen. Der Vater geht wieder in den Krieg, der Junge ist wieder glücklich – bis der Krieg vorbei ist und der Vater endgültig zurückkommt. Nun stirbt auch noch die Mutter, und der Junge ist untröstlich. Er kommt zum Schluss, dass die sichtbare Welt ein Betrug sein muss, dass die Menschen durch sie verführt werden zu glauben, dass das Leben herrlich sei, während das Gegenteil der Fall ist. Er ist davon überzeugt, dass es hinter dieser schönen Scheinwelt ein Jenseits geben muss, das ihm die Rätsel offenbaren könne. Auf ungeklärte Weise kommt er dann in dieses Jenseits: ins Reich der Toten. Hier singt er ein Lied von einem Prinzen, der mit seinem Gesang seine Prinzessin aus dem Totenreich zurückholt. Im eigenen Fall aber nützt weder Gesang noch Flötenspiel: Die Toten bleiben tot, seine Mutter bekommt er nicht zurück. Als er aus dem Kino kommt, ist Lisette nicht da und er befindet sich in einer fremden Stadt in einer fremden Zeit: in Zürich, wo er wie in einem Traum von selbst zur Wohnung geht, in der er später leben wird und wo er auf ein Mädchen trifft, das später seine Tochter sein wird – natürlich ohne dies alles zu wissen. 20
Die Biographie weist hier einige Ähnlichkeiten mit der Salman Rushdies auf.
299 Anschließend geht er wieder ins Kino, sieht da einen Film “mit Krieg und Toten”, in dem die ehemaligen Geliebten sich nicht wiedererkennen. Als er das Kino verlässt, ist er wieder in seiner eigenen Zeit, Lisette ist da, um ihn abzuholen, sie fahren ins Elternhaus, wo die ängstlichen Eltern warten und beim Anblick des wiedergefundenen Sohnes mit den Polizisten einen Freudentanz tanzen – genau wie die wiedervereinigte Familie in Zürich am Ende des ersten Teils. Und auch der zweite Teil schließt mit dem Gedanken an die Möglichkeit einer fallenden Bombe, die alles zerstören wird. Aus der kurzen Wiedergabe des Inhalts geht schon deutlich hervor, dass das Orpheus-Motiv – in den eingeschobenen Filmhandlungen – mehr oder weniger explizit angedeutet wird. Und es fällt auch nicht schwer, in den Szenen, wo das idyllische Zusammenleben von Mutter und Sohn durch den hereinbrechenden Vater gestört wird, eine ödipale Konstellation zu erkennen. Wie ist nun die Funktion und Bedeutung dieser Mythenhinweise im Gesamttext zu verstehen? In diesem Zusammenhang lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Texte zu werfen, in denen Widmer über sein eigenes Schreiben und über Literatur im Allgemeinen reflektiert. Schon im programmatischen Titel eines frühen Bandes mit Essays und Erzählungen, Das Normale und die Sehnsucht (1972),21 kommt das zentrale Thema im Werk Widmers prägnant zum Ausdruck. Es geht um das romantische Thema der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und der Sehnsucht nach einem Besseren, nach dem Paradies. Widmer formuliert hier seine Auffassungen in der Form von Fragen: Spiegelt die Kunst dagegen vor allem die triste Tatsache, daß die menschliche Phantasie und die Wirklichkeit auseinanderklaffen? Entwickelt sie insgeheim die wahnsinnige Hoffnung, den Graben zwischen Wunsch und Realität zuzuschütten: sozusagen die Entfremdung abzuschaffen? Ist die Entfremdung das Thema der Kunst überhaupt, weil allein schon die Tatsache, daß die wie auch immer gearteten Sehnsüchte immer wieder aufgeschrieben werden statt gelebt, ein Hinweis auf den entfremdeten Zustand der Existenz aller ist?22
In den Grazer Poetikvorlesungen23 aus dem Jahre 1991 (also in derselben Zeit entstanden wie Der blaue Siphon) greift er dieses Thema wieder auf. Die erste Dichtung, so Widmer, muss gewiss “Zauberdichtung” gewesen sein, mit dem Ziel, “der schrecklichen Natur Herr zu werden”, Dichtung, “die etwas bewirken sollte […], was außerhalb jeder ‘normalen’ Macht lag. Den Tod bannen 21
Urs Widmer: Das Normale und die Sehnsucht. Essays und Geschichten. Zürich: Diogenes 1972. 22 Ebd. S. 13. 23 Urs Widmer: Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesungen. Graz – Wien: Droschl 1991.
300 zumeist.”24 Denn das Bewusstsein des Todes, so Widmer, vertreibt den Menschen aus dem Paradies. “Es gibt ein Paradies auf Erden, da man den Tod noch nicht begriffen hat. Inzwischen denke ich, daß alles Schreiben der Versuch ist, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.”25 Dabei weiß Widmer natürlich genau, dass all diese Versuche vergeblich sein werden und dass Literatur, die sich das nicht bewusst macht, in einer “rosenroten Idylle” endet. Zwar geht es immer wieder um die Sehnsucht und die Utopie (deshalb, so Widmer, sind seine Romanfiguren so oft Reisende26), aber jeder Versuch, das Paradies zurückzugewinnen, muss notwendigerweise scheitern. Deswegen wird ihm der Mythos des Orpheus, der mit seiner Kunst den Tod besiegen wollte und auch tatsächlich besiegte, aber dann doch scheiterte, zum Inbegriff der Literatur: Orpheus ist der erste Zaubersänger, und er ist bis heute so anrührend, weil er – gleich als erster – scheiterte. Er lebte uns in den mythischen Urzeiten eine Erfahrung vor, die immer noch unsere ist: daß wir zwar immer wieder zaubern, nie aber wirklich erfolgreich. Das Scheitern ist, von Orpheus bis Beckett, das Thema der Literatur überhaupt geworden.27
Auch in den 2007 erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen28 spricht Widmer wiederholt von diesem Scheitern der Literatur im Zusammenhang mit dem Orpheus-Motiv. In dieser Schrift steht aber nicht die Orpheus-Geschichte im Zentrum, sondern der Mythos von Ödipus. Widmer nennt die bekannten Mythen – wie den vom Ödipus – “Geschichten, die seit immer erzählt und in kaum verwandelter Form über die Jahrtausende hinweg weitervermittelt werden, weil irgendetwas an ihnen die Menschen jenseits aller Zeitströmungen so sehr erregt, dass sie ihnen einfach nicht aus dem Kopf wollen und immer wieder erzählt werden müssen”.29 Die letzte Vorlesung besteht sogar zur Gänze aus einer Nacherzählung des Ödipus-Mythos, in der Bearbeitung durch Sophokles. Was Widmer in dieser Vorlesung vor allem herausarbeitet, sind die Prozesse von Verdrängung und Abwehr in der Selbsterkenntnis und ihre Gestaltung in einem literarischen Text. Aber offensichtlich interessiert ihn auch der psychologische Kerninhalt dieses Mythos: “dass Ödipus seinen Vater tötet und mit seiner Mutter schläft”,30 ebensosehr. Als er in der dritten Vorlesung auf das Werk Gottfried Kellers eingeht, ist es genau diese ödipale Konstellation in der Erzählung Frau Regel Amrain, die er unter die Lupe nimmt. Und in der zweiten Vorlesung spricht er von der enormen Wirkung Freuds auf die Literatur und von der großen Übereinstimmung zwischen den Theorien Freuds und den Einsichten der Literatur. 24
Ebd. S. 26. Ebd. S. 38. 26 Ebd. S. 42. 27 Ebd. S. 27. 28 Urs Widmer: Vom Leben (Anm. 15). 29 Ebd. S. 121. 30 Ebd. S. 123. 25
301 Wie hängen nun in Der blaue Siphon die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die Versuche, dieses Paradies zurückzugewinnen und das notwendige Scheitern dieser Versuche, kurz: der ganze Orpheus-Komplex, mit dem Ödipus-Komplex zusammen? Die Erzählung fängt mit dem Traum von der Siphonflasche an, von der der Leser später erfährt, dass sie im Elternhaus des Ichs stand. Unmittelbar danach – und scheinbar ohne jede erzählerische Logik – wird von fallenden Bomben, vom Golfkrieg und von anderen Kriegen berichtet. Ähnlich unvermittelt sind die Übergänge am Ende der beiden Teile der Erzählung: vom Freudentanz in den Familien zur Reflexion über Tod und Krieg. Die Logik dieser scheinbaren Brüche erschließt sich erst aus dem Bedeutungsganzen der Erzählung. In diesem Ganzen spielen die eingebauten Filmhandlungen eine wichtige Rolle. Die Filme haben eine doppelte Funktion. In der Handlung fungieren sie als das magische Medium, durch das man in eine andere Zeit und Welt geraten kann. Und in ihrem Inhalt sind sie vor allem Spiegelungen des Geschehens um das erwachsene Ich und das Kind-Ich. Alle Filme handeln von Krieg und Tod, die ersten zwei kreisen auch um das Motiv des Wahrsagers. Bei weitem am ausführlichsten wird der Inhalt des dritten Films wiedergegeben. Die Spiegelungen sind hier auch am deutlichsten. Der Junge im Film sieht dem dreijährigen Ich, das den Film sieht, so erschreckend ähnlich (BS, 77), dass dessen Herz “wie rasend zu schlagen” beginnt. (Ebd.) Das sind genau dieselben Worte, die der Erzähler im ersten Teil benutzt, wenn er erzählt, dass er als erwachsener Besucher im früheren Elternhaus plötzlich die Siphonflasche wieder erblickt. (BS, 45) Angedeutet wird so, dass es in diesem Film um denselben Kern des Geschehens wie in der Haupthandlung geht. Auch die Ausgangssituation ist dieselbe; der Junge im Film befindet sich ebenfalls in Kriegszeiten, der Vater ist fort, irgendwo im Krieg, er lebt ganz glücklich allein mit seiner Mutter. Sogar die Tätigkeiten sind ähnlich: Das Kind-Ich sammelt, wie später wieder das erwachsene Ich (BS, 23), Kartoffelkäfer (BS, 74), der Junge im Film klaubt “Würmer von den Pflanzen” (BS, 78). Auch dass das Idyll vielleicht von Gewalt und Tod bedroht werden könnte, wird in beiden Fällen auf vergleichbare Weise angedeutet:31 Das Kind-Ich erblickt durch das Fernrohr eines der Soldaten32 einen Wildhüter mit Gewehr und schaut dann auf die deutsche Seite der Grenze, “zu den Feinden hinüber, den Mördern” (BS, 71); der Junge im Film 31
Beim Kind-Ich kommen vielleicht noch die “drei alte[n] Damen”, deren Gespräch über ihre “Gebrechen” der Junge belauscht (BS, 69), hinzu; wenn man will, kann man hier einen Hinweis auf die drei Erinnyen lesen. 32 Das Bedrohliche wird für den genauen Leser leitmotivisch noch verstärkt: Der Soldat ist wenig später für den Dreijährigen, der mit Lisette auf dem Wasserturm steht, zu einem “schwarze[n] Punkt” (BS, 73) geworden. Das ist genau die Bezeichnung, die einige Male für die schon fallende, aber noch nicht wahrgenommene Bombe benutzt wird. (BS, 5, 102)
302 sieht voller Schreck einem Jagdaufseher zu, der einen Hasen erschlägt. (BS, 78) Die wirkliche Störung des Idylls geschieht – in der Haupthandlung wie im Film – dann durch den Vater, der für einen Augenblick nach Hause kommt und die Mutter völlig für sich in Anspruch nimmt. In der Haupthandlung geht der Junge danach ins Kino, im Film geht der Vater zurück in den Krieg und der Junge sitzt “gleich wieder auf dem Ochsen wie ein Sultan auf dem Rücken seines Elephanten”. (BS, 79) Der Vater (im Film) kommt dann endgültig zurück, die Mutter stirbt und der Junge macht den vergeblichen Versuch, sie aus dem Totenreich zurückzuholen. Hier wird das Thema von der Vertreibung aus dem Paradies und dem Versuch das Paradies zurückzugewinnen in deutlicher Anlehnung an den Orpheusmythos gestaltet. Und der Zusammenhang mit der Haupthandlung wird allmählich auch deutlich: Die erwachsene Ich-Figur kehrt in die Zeit des idyllischen Lebens mit seiner Mutter zurück, genauer noch, in dem Augenblick, wo dieses Idyll vom Vater zerstört wird. Hier kommt nun der zweite Mythos ins Bild: der Mythos von Ödipus – und zwar vor allem in der gängig gewordenen tiefenpsychologischen Deutung. Es geht um die erotisch geladene Mutter-Kind-Dyade und um das Konkurrenzverhältnis des Sohnes zum Vater, das sich bis in Gewaltphantasien äußern kann. Und gerade der Bezug zu diesem Mythos wird durch das zentrale Symbol der Erzählung hergestellt: die Siphonflasche. Mit dem Traum von der Siphonflasche fängt die Erzählung an; als das erwachsene Ich sie dann wieder sieht, bekommt er Herzklopfen, und es heißt, dass er wegen ihr “die ganze Reise unternahm”. (BS, 45) An dieser Stelle wird die Flasche auch zum ersten Mal genauer beschrieben. Ihr Glas leuchtet blau, und neben der Flasche liegen die schwarzen Kohlensäurekapseln, mit denen das Wasser oder der Saft in der Flasche mit Kohlensäure angereichert werden kann. Und dann denkt der Erzähler: “Sie hießen ‘Bomben’. Solche Bomben, hatte ich einst gedacht, fielen von den Himmeln und auf uns Menschen und richteten jene Verheerungen an.” (BS, 45) Diese ‘Bomben’ werden in der Schlussreflexion des ersten Teils mit der über Hiroshima abgeworfenen Atombombe verbunden – und mit dem Kind-Ich: “Jene Bombe übrigens, die den Siphonkapseln auf dem blauen Kasten am meisten glich, hieß Little Boy.” (BS, 65) Diese Bemerkung33 wird in ihrem vollen Bedeutungsumfang erst deutlich, wenn man sie auf die Szenen bezieht, in denen das Kind-Ich und das erwachsene Ich mit seinem Vater konfrontiert wird. Als im zweiten Teil (also im Jahr 1941) der Vater einen unerlaubten Urlaubsbesuch macht und sofort mit der Mutter schläft, setzt sich der dreijährige Sohn den Helm des Vaters auf. Als dann die Eltern wieder aus dem Schlafzimmer kommen, reißt der Vater ihm
33
Sie ist übrigens historisch stimmig: “Little Boy” wurde die Atombombe genannt, die am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde.
303 den Helm wieder herunter, während die Mutter “Augen nur für den Papa” hat. (BS, 75) Der Junge rennt ins Wohnzimmer, greift sich die Siphonfasche (die mit einer ‘Bombe’ versehen ist) und spritzt die Mutter damit nass. Der Geschlechtsakt wird symbolisch wiederholt. Im ersten Teil wurde schon berichtet, wie die Mutter dem Vater das Verschwinden des Sohnes vorwirft, weil er ihn unbeaufsichtigt ins Kino geschickt habe, und wie der Vater extra beteuern muss, dass auch er seinen Sohn liebe. (BS, 40) Dann fällt dem erwachsenen Ich ein, wo der verschwundene Sohn sein kann. Er fühlt sich, einem Ödipus nicht unähnlich, “der Lösung aller Weltenrätsel auf der Spur” (BS, 40) und fängt einen merkwürdigen Tanz mit seinem (jüngeren) Vater an: [Ich] packte meinen Vater an der Gurgel und brüllte ihm ins Ohr, daß wir den kleinen Kerl schon fänden, wir zwei. Ich lachte, während mein Vater noch roter im Gesicht wurde, endgültig rot, auch nach meiner Gurgel faßte und sie ebenfalls drückte, so daß wir wie ein Tanzpaar durch den Saal taumelten, mein kleiner Vater und ich. […] Meine Mutter stürzte hinter uns drein, riß mich von hinten am Hemd und schrie, ich sei ein Mörder, ein Mörder, ein Mörder, […]. (BS, 41)
Die Szene endet im Slapstick (der Polizist trifft mit seiner Faust den Vater statt den Erzähler), wobei der erwachsene Sohn “mit gespreizten Beinen” über dem bewusstlosen Vater steht und die Mutter nochmals “Mörder” ruft, nun allerdings zum Polizisten. In aller ironischen Heiterkeit wird hier von einem Konflikt mit potentiell mörderischer Sprengkraft erzählt: Der kleine Junge, ‘little boy’, könnte zur gefährlichen Bombe werden. Diese Lesart wird bestätigt durch die Szene direkt vor dem zweiten Kinobesuch durch das erwachsene Ich, wonach er also wieder in die eigene Zeit zurückkehren wird. Lisette, das Kindermädchen, begleitet ihn, um auf den kleinen Jungen zu warten, der, wie das erwachsene Ich weiß, anschließend wieder erscheinen wird. Er küsst sie dann zum Abschied und beteuert, dass er sie seit neunundvierzig Jahren liebe.34 Aus dem Abschiedskuss wird eine leidenschaftliche Liebesszene, aus der das erwachsene Ich sich förmlich losreißen muss. “Hätte ich es nicht getan, wären wir verloren gewesen. Meine Eltern ohne Sohn, Isabelle Witwe, meine Tochter Waise, und Lisette mit einer lebenslangen Schuld beladen.” (BS, 52). Lisette bekommt hier eine ähnliche Rolle wie die Mutter: leidenschaftliches Sehnsuchtsobjekt aus der Jugend. Und in diesem Augenblick könnte er sie wiederbekommen und weiter mit ihr zusammenleben – genau wie der Mann aus dem zweiten Film mit seiner nanny lebt. (BS, 56) Die leidenschaftliche Liebe, die Sehnsucht nach dem Paradies der Jugend würde aber wie eine Bombe wirken. 34
Lisette hat dasselbe “Fliehkinn” (BS, 19) wie es seine spätere Frau Isabelle als Kind hatte. (BS, 33)
304 Eine weitere Bestätigung dieses Bedeutungskomplexes ist das Motiv der Frau, die sich umbringt, indem sie vom Turm springt. Schon gleich am Anfang wird das angedeutet, als das eben zurückgekehrte erwachsene Ich auf dem Wasserturm mit einer Frau spricht, die offenbar große Liebesprobleme hat. Danach hört er, den Turm im Rücken, hinter sich einen Schrei, und wenig später stürzt Lisette in die Wohnung und erzählt, was er aus seiner Jugend schon weiß: Die Frau ist vom Turm gesprungen. (BS, 17–24) Im dritten Film kehrt das Motiv zurück. Als der Junge im Film beim Turm spielt, starren die Leute um ihn (genau wie die Menschen im Golfkrieg, oder früher in Coventry und Dresden, BS, 5) in den Himmel, und es stürzt ein “schwarzer Schatten” neben ihm auf den Boden: “Eine Bäuerin war vom Turm gesprungen und hätte ihn erschlagen, wäre er stehengeblieben.” (BS, 81) Die Liebe wird wieder zur Bombe, auch diese Frau hatte Liebesprobleme, hatte sich zwar noch – vergeblich – mit einer Orpheusähnlichen Geschichte zu trösten versucht, war nun aber am Ende. So kommt durch die Verschachtelung zweier Mythen eine unerwartete Verbindung von individualpsychologischer und gesellschaftspolitischer Problematik zustande. Der Traum von der Siphonflasche am Anfang der Erzählung, der einen Wunsch nach Rückkehr ins Paradies zum Ausdruck bringt, wird offenbar ausgelöst durch die bedrohliche Situation des Golfkriegs. Die Atmosphäre des Kriegs (“jede Stunde Nachrichten hören”, BS, 6) ruft sowohl Erinnerungen an die eigene Kindheit in Kriegszeiten wach als auch den Wunsch, dieser bedrohlichen Situation (in den Reflexionen der Ich-Figur über Krieg und Tod noch verstärkt) zu entkommen. Die ganze weitere Handlung mit dem zweitägigen Besuch im früheren Elternhaus dauert in der realen Welt von Isabella und Mara nur etwa drei Stunden (BS, 61), die Dauer eines Kinobesuchs eben. Das Ganze kann eigentlich nur ein großer Traum gewesen sein – wenn da nicht die “Panne” (BS, 58) Jimmy wäre. Dieser Traum nun ist eine mythische Reise, ermöglicht durch die Kunst – in diesem Fall den Film –, jene Kunst, die ja in der Figur des Orpheus die Überwindung des Todes ermöglichen will. Und die Kunst, die mythische Reise, zeigt vieles zugleich. Sie zeigt, wie Widmer in seinen Vorlesungen schon sagte, den Wunsch, dem Tod zu entkommen, und sie zeigt zugleich die Vergeblichkeit dieses Wunsches, die Schicksalhaftigkeit des menschlichen Lebens – eines der mythischen Urthemen. Der Ich-Erzähler lernt in diesen zwei Tagen, dass er das Schicksal nicht beeinflussen kann; er weiß, dass seine Elten sterben werden und sogar woran, aber er widersetzt sich dem nicht mehr. Zum Vater, der an Lungenkrebs sterben wird, sagt er beim Abschied: “Genießen Sie Ihre Zigaretten. Irgendwas bringt uns Menschen so oder so um” (BS, 46), und von der Frau auf dem Turm, die aus Liebeskummer Selbstmord begeht, heißt es nun, dass er sie “nicht hatte retten wollen. Jetzt nicht mehr.” (BS, 48) Aber neben dieser dunklen Seite des Mythos, die hier besonders durch die (schwarzweißen) Filme repräsentiert wird, gibt es in der Haupthandlung auch einen helleren: Die Ich-Figur lernt, dass nicht alles Schicksal zu sein braucht, dass nicht jeder Krieg unvermeidlich ist. Nur
305 wenn das erwachsene Ich in der Welt des kleinen Jungen geblieben wäre, zum ‘little boy’ geworden wäre, würde er zur alles bedrohenden Bombe werden, “wären wir verloren gewesen”. (BS, 52) Die Ich-Figur muss lernen, dass der Wunsch, das Paradies zurückerobern zu wollen, kindisch, unerwachsen ist, dass gerade dieser Wunsch die Bombe, also Gewalt und Zerstörung bedeutet. Die Siphonflasche ist von einem leuchtenden, paradiesischen Blau (BS, 5, 45), genau wie die Anhöhe beim Elternhaus (BS, 14) oder der blaue Himmel im Mutter-Kind-Idyll (BS, 15, 67) – im Gegensatz zu den Schwarzweißfilmen (BS 7, 77), die “ohne jedes Blau” (BS, 7) sind. Aber diese blaue Flasche enthält eben auch die schwarze ‘Bombe’, wie die realen schwarzen Bomben aus dem blauen Himmel fallen. (BS, 65, 102) Erst als die Ich-Figur dies einsieht und auf das absolute Kind-Paradies verzichtet, kann sie die Katastrophe vermeiden und ins relative Paradies der eigenen Familie zurückkehren. Damit kommt – so könnte man jedenfalls interpretieren – noch eine dritte mythische Geschichte ins Spiel: die Geschichte von Odysseus als dem Rückkehrer. Eine explizite Anspielung auf diesen Mythos ist der Hund Jimmy, der als Einziger im Erwachsenen-Ich das Kind-Ich wiedererkennt – genau wie Odysseus bei seiner Rückkehr nur von seinem Hund Argos wiedererkannt wird. Das Motiv des Rückkehrers ist in der Erzählung mit dem Motiv des Wahrsagers verbunden. Der Wahrsager im zweiten Film ist aus England zurückgekehrt in das Land und die Zeit seiner Jugend, und kann nun, genau wie die in seine Kindheit zurückgekehrte Ich-Figur, die Zukunft voraussagen – eben weil beide schon in dieser zukünftigen Zeit lebten: “Alle Wahrsager, sagte er, sind in Wirklichkeit Rückkehrer.” (BS, 56) Aber die Ich-Figur (die die Frage des Polizisten, ob er ein Wahrsager sei, bejaht; BS, 43) kehrt eben nicht nur in seine ihre Kindheit zurück, sie kehrt auch von der Reise in die Kindheit zurück, zurück in die erwachsene Welt der eigenen Familie. Um die Wahrheit zu erkennen, um zum Wahr-Sager zu werden, muss man in die Kindheit, in die tiefsten Sehnsüchte zurückkehren – nicht aber zum ‘little boy’ werden, sondern auch wieder erwachsen werden, von der Rückkehr zurückkehren: Orpheus muss nicht Ödipus werden, er kann auch Odysseus werden. Dieses Zusammenspiel mit und von mehreren Mythen verstärkt die Suggestion, die immer schon von mythischem Erzählen ausgeht: dass es hier um allgemein menschliche Erfahrungen geht, die nicht (wesentlich) abhängig sind von Ort und Zeit. Diese Suggestion kann – abgesehen vom Inhalt der Mythen – durch die Art und Weise des Erzählens noch verstärkt werden. Dann entsteht das, was Martinez und Gottwald (nach dem Vorbild Lugowskis) ein ‘mythisches Analogon’ genannt haben: das Fortsetzen des mythischen Denkens in der literarischen Form. Genau das geschieht auch in Widmers Erzählung. Als Erstes natürlich durch das Erzählen des real-empirisch unmöglichen Zeitenwechsels, eine Unmöglichkeit, die mit dem (in der Fiktion der Erzählung) aus der Vergangenheit herübergekommenen Hund realpsychologisch (das Ganze wäre
306 nur ein Traum) nicht ganz aufgelöst wird. Und dann entsteht allein schon durch die wiederholten Spiegelungen von Film und Haupthandlung das Gefühl von einem universalen Geschehen, das auf diese Weise – im Sinne von Blumenberg – an lebensordnender ‘Bedeutsamkeit’ gewinnt. Dazu trägt auch das Verwischen von Ort und Zeit bei. Auf der ersten Seite ist die Zeitangabe noch ganz konkret: der erste Golfkrieg, 1991. Aber schon diese Erfahrung wird in der darauffolgenden Reflexion auf alle Kriege, von den Hunnen bis zum Vietnamkrieg, ausgeweitet. (BS, 6) Und so genau ist die Zeitangabe im Heute auch wieder nicht: Der Kinobesuch nach dem Traum fand “Am Abend jenes Tags, eines Freitags” statt – aber: “Vielleicht war doch ein Montag.” (BS, 6) Die Filme spiegeln, manchmal bis ins Detail, die Haupthandlung, aber finden an ganz anderen Orten und in anderen Zeiten statt, wobei Ort und Zeit oft bewusst unbestimmt gehalten werden.35 Die ersten zwei Filme spielen sich irgendwo in Asien ab, in “Indien oder Pakistan oder Bangladesch” (BS, 7), “falls es nicht doch Surinam war” (BS, 54), in der Kolonialzeit im früheren 20. Jahrhundert; der dritte Film in “Indien oder Siam” (BS, 77), anscheinend in einer noch (viel?) früheren Zeit. Beim vierten Film sind Ort und Zeit völlig unbekannt, er handelt nur von “Krieg und Toten” (BS, 98) und von endgültiger Trennung. Auf diese Weise entsteht die Suggestion einer universal gültigen, Zeit und Ort übersteigenden Erklärung von fundamentalen menschlichen Angelegenheiten. Der Leser kann den Eindruck bekommen, wie auch das erwachsene Ich aus der Erzählung, “der Lösung aller Weltenrätsel auf der Spur” zu sein. (BS, 40) Zugleich ironisiert schon diese etwas überzogene Formulierung einen solchen Anspruch: Es ist alles eben nur ein literarisches Spiel, wo Hunde als fiktionale ‘Panne’ in der falschen Zeit landen, wo die Kunst die Grenzen von Zeit und Ort aufhebt – aber eben nur weil sie Kunst, Fiktion ist. Der Erzählton ist durchweg heiter-ironisch, Widmer spielt ein tongue-in-cheek-Spiel mit dem Leser: etwa wenn das erwachsene Ich, “so cool wie es eben ging” zum Kondukteur aus 1941 sagt: “Basel einfach mit Halbtax” und anschließend aus dem Zug geworfen wird (BS, 13), oder wenn die 1991-Tochter Mara aufschreit, wenn das dreijährige Kind-Ich ein T-Shirt ein “Leibchen” (BS, 91) nennt. Die Theorie von der Literatur als ‘mythischem Analogon’ könnte noch gewinnen, wenn sie mit dem Begriff der literarischen Ironie verbunden würde. So hat zum Beispiel der mexikanische Dichter Octavio Paz schon 1974 in einem großen Essay36 die Geschichte der modernen Lyrik mit der Formel ‘Analogie und Ironie’ beschrieben, wobei der Begriff ‘Analogie’ dem von Gottwald und Martinez analysierten mythos-analogen Denken erstaunlich nahe steht. Mit dem konträren Begriff der Ironie nun vermag Paz sehr genau die rationale Skepsis zu beschreiben 35
Im ersten Film ist sogar das Geschlecht des Wahrsagers unbestimmt. (BS, 8) Octavio Paz: Children of the Mire. Modern Poetry from Romanticism to the Avantgarde. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1974.
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307 und zu erklären, die in fast allen modernen literarischen Texten den Versuch, mythisches Denken zu evozieren, begleitet. Diese Skepsis zeigt sich im theoretischen Modell von Martinez und Gottwald implizit in der Tatsache, dass mythosanaloges Denken in der modernen Zeit nur in fiktiv-ästhetischer Form akzeptabel ist. Die Hineinnahme des Ironie-Begriffs in die Theorie könnte hier aber den Blick schärfen für die bewusst und explizit gehandhabte, spielerische Reflexion der Zweifelhaftigkeit aller Rettungsversuche eines mythischen Denkens, wie sie so oft in modernen literarischen Texten vorkommt – von E.T.A Hoffmanns Goldenem Topf bis eben auch zu Urs Widmers Blauem Siphon.
Christopher B. Balme
Christoph Marthalers Stunde Null oder die Kunst des Servierens (1995) Christoph Marthaler’s production, Stunde Null oder die Kunst des Servierens (1995), has proven to be one of the most successful and widely seen German theatre productions of the 1990s. Although its point of departure was the 50th anniversary of the end of the Second World War and the idea of a putative new beginning after 1945 (Stunde Null), the reasons for its critical and popular acclaim have less to do with the political-historical thematics than with the virtuosic performative elements employed in the production. We are ‘served’ a series of training routines for political leaders (‘Führungskräfte’) such as cutting ribbons, shaking hands and rolling out the red carpet. These largely nonverbal procedures are interspersed with historical texts and speeches to create a verbal and performative collage. The main focus of the article is on one particular speech, performed by the Scottish actor, Graham Valentine. It is argued that this particular performance is characteristic of a general move in the production to replace the referential function of language and actions by their performative demonstration. We focus more on a display of bodies, on music and rhythm than on the actual meanings generated. At the same time the link to Germany’s problematic past is never lost sight of.
Die vermutlich erfolgreichste deutschsprachige Inszenierung der ausgehenden neunziger Jahre, Christoph Marthalers Stunde Null oder die Kunst des Servierens, bietet auf den ersten Blick kaum Material für eine ‘Erfolgsinszenierung’.1 Hier wird weder ein bekannter Klassiker dekonstruiert noch basiert die Aufführung auf einem neuen, den Zeitgeist reflektierenden Theaterstück. Streng genommen ist Stunde Null keine Inszenierung eines alten oder neuen Werks, sondern eine Aufführung, die auf der Grundlage einer Textcollage sprachliche, körperliche und musikalische Vorgänge vorführt, deren Verknüpfung miteinander bestenfalls vage bleibt. Versucht man, diese Vorgänge zu beschreiben, so mutet das Ergebnis ebenfalls etwas seltsam an: Sieben Führungskräfte, vermutlich Politiker, halten im Rahmen eines ‘Betroffenheitstrainings’ Reden über Deutschland, singen deutsche Volkslieder und führen allerlei merkwürdige körperliche Übungen aus. Zur Seite stehen ihnen dabei eine Dame, “Frau Stunde Null”, sowie ein Pianist. Der Ort des Geschehens bleibt unbestimmt, scheinbar sind die Figuren in einem Sendesaal oder Bunker eingesperrt. Dort sollen sie das Gedenken an das Jahr 1945 üben. Genau 1
Christoph Marthaler: Stunde Null oder die Kunst des Servierens. Ein Gedenktraining für Führungskräfte von Christoph Marthaler und Stefanie Carp. Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Bühne und Kostüm: Anna Viebrock, Dramaturgie: Stefanie Carp, Licht: Dierk Breimeier. Mit: Eva Brumby, Jean-Pierre Cornu, Wilfried Hauri, André Jung, Klaus Mertens, Josef Ostendorf, Martin Pawlowsky, Siggi Schwientek, Clemens Sienknecht, Graham F. Valentine. Premiere: 20. Oktober 1995.
310 genommen üben sie Redenhalten, Händeschütteln, Auftritte, Abtritte, Rote-TeppicheAusrollen, Einweihungen. Zum Schluss versuchen alle Männer mühsam, Betten aufzuschlagen. Das gelingt ihnen auf äußerst komische Weise überhaupt nicht. Sie finden keine Ruhe, schlafen aber schlussendlich irgendwie ein. Trotz dieses kaum viel versprechenden Materials und einer zunächst gespaltenen Reaktion bei Presse und Publikum bei der Uraufführung am 20.10.1995 im Hamburger Schauspielhaus verzeichnete Stunde Null Erfolge, die im deutschsprachigen Theater selten sind. Zahlreiche Gastspiele im In- und Ausland sowie Aufzeichnungen und Ausstrahlungen im Fernsehen haben zu einer überregionalen Verbreitung beigetragen. Ohne Zweifel gehört Stunde Null zu den markantesten und kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen Inszenierungen der ausgehenden 1990er Jahre. Im Folgenden werde ich versuchen, der besonderen Ästhetik der Inszenierung nachzugehen. Nach einer Kurzcharakterisierung des Regisseurs Christoph Marthaler und des berühmten ‘Marthaler Stils’ sowie der wichtigsten Stationen seines Werdegangs sollen Genese und Struktur der Inszenierung skizziert werden. Anhand einer detaillierten Analyse einer Schlüsselszene werden die bühnenästhetischen Schwerpunkte der Inszenierung dargelegt werden, wie z.B. Fragen der Körpersprache, der Musikalität von Sprache und der satirischen Stoßrichtung des Werks. Der Regisseur, Komponist und neuerdings Intendant Christoph Marthaler wurde 1951 in Erlenbach (Schweiz) geboren. Mitte der siebziger Jahre arbeitete er als Theatermusiker in Zürich und brachte eigene Liederabende und Choreographien heraus. Außerdem komponierte er Bühnenmusiken und arbeitete als Regisseur in der freien Szene. In den siebziger Jahren besuchte er die berühmte Schauspielschule von Jacques Lecoq in Paris. Von 1988 bis 1993 war er kontinuierlich am Basler Theater beschäftigt, ab 1993 inszenierte Marthaler regelmäßig am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an der Berliner Volksbühne. Er arbeitete auch an verschiedenen Schauspiel- und Opernbühnen. Seit der Spielzeit 1999/2000 leitet Christoph Marthaler das Schauspielhaus Zürich. Spätestens seit den Inszenierungen Murx den Europäer!… an der Berliner Volksbühne und Goethes Faust 1 und 2 am Hamburger Schauspielhaus, beide 1993, hat sich Marthaler nicht nur als Regisseur, sondern auch als ‘Autor’ eines unverwechselbaren Theaterstils etabliert. Zu den Stilmerkmalen gehören in erster Linie eine von beinahe allen Kritikern konstatierte Musikalität sowie ein somnambul wirkendes Spieltempo, die keineswegs gegensätzlich, sondern eher wechselseitig bestätigend wirken. Hinzu kommt eine Vorliebe für bestimmte Schauspieler, die in mehreren Inszenierungen mitwirken, so dass man durchaus von intertextuellen Verknüpfungen zwischen den Inszenierungen sprechen kann. Egal ob er eine Oper (Fidelio), Operette (Pariser Leben), moderne Dramatik (Horváth, Beckett) oder eigene auf Textcollagen basierende Werke inszeniert, diese Stilelemente werden so dominant, dass man inzwischen von einem unverwechselbaren ‘Marthaler Stil’ oder gar von einer ‘Marthalerisierung’ eines Stücks spricht.
311 Ausgangspunkt für Stunde Null war das Gedenkjahr 1995, im Rahmen dessen 50 Jahren Bundesrepublik oder 50 Jahren unzureichend bewältigter Vergangenheit ‘gedacht’ bzw. diese gefeiert werden sollten. Der Kontext war also eine politisch aufoktroyierte Feierlichkeit, auf die das Marthaler-Team mit einem Gegenentwurf antworten wollte. Mit dem Ausdruck ‘Stunde Null’ bezeichnet man heutzutage im Deutschen den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutschland lag ökonomisch, politisch und, nach dem alliierten Luftkrieg, tatsächlich in Trümmern. Im übertragenen Sinne bedeutet ‘Stunde Null’ sowohl eine heroische gesellschaftliche Leistung als auch einen deutlichen Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es gehört zur Mythologie der Bundesrepublik, dass dem neuen politischen System mit Hilfe der alliierten Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion tatsächlich ein Neuanfang gelungen ist. Die materielle Zerstörung des Landes und die damit verknüpfte geistige Erneuerung des politischen Systems werden als genutzte Chance dargestellt. Da kein fertiges Stück vorlag, musste auf der Grundlage einer von der Dramaturgin Stefanie Carp vorbereiteten Textcollage improvisiert werden. Dieser ‘Theatertext’ bestand größtenteils aus amtlichen Verlautbarungen der damaligen Regierung von Groß-Berlin, wie beispielsweise mehrsprachige Verordnungen, aber auch Ausschnitte aus Reden Winston Churchills und deutscher Nachkriegspolitiker. Angereichert wurden diese politischen Texte durch Auszüge aus Gedichten Kurt Schwitters. Die Aneinanderreihung von Politikerreden und dadaistischen Texten verleiht beiden ‘Textsorten’ einen surrealen Charakter, der vor allem den politischen Diskurs in einem ‘besonderen’ Licht erscheinen lässt.
Abb.1 Bühnenbild zu Stunde Null.
312 Das Bühnenbild von Anna Viebrock, Marthalers langjähriger Mitarbeiterin, wurde nicht speziell für die Inszenierung entworfen, sondern aus einer vorhergehenden Aufführung von Shakespeares Sturm am Hamburger Schauspielhaus übernommen und adaptiert. Im Programmheft wird der Raum als “ein gutbürgerlicher Bunker zwischen 0 und 50 nach 1945” bezeichnet. (Vgl. Abb. 1) Links und rechts stehen hohe getäfelte Wände aus edlem, glänzendem Holz (deutscher Eiche?); die Eingangstüren sind von zwei neoklassizistischen Säulen leicht faschistischer Provenienz gerahmt. Über den Türen ist ein Wandteil, der an ein Rundfunkstudio erinnert. Eingelassen in die Wände sind Mikrophone, in die die ‘Führungskräfte’ mal im kakophonischen Durcheinander, mal in chorischer Einstimmigkeit sprechen. Die spärlichen Dekorationen (Lampen, Aschenbecher) erinnern an die vierziger und fünfziger Jahre. Die Wirkung ist die einer altmodischen Solidität. Die Bezeichnung ‘Bunker’ setzt gewiss vielfältige Assoziationen frei. Zum einen ist an den ‘Führerbunker’ zu denken, wo Adolf Hitler die letzten Tage des Dritten Reichs verbrachte und der zu einem Synonym für eine weltabgewandte Untergangsmentalität geworden ist. Zum anderen lässt sich der Raum keiner bekannten Raumart zuordnen: Er bleibt letzten Endes in seiner Funktionalität unbestimmt. Das Personal besteht aus sieben ‘Führungskräften’ sowie Frau ‘Stunde Null’, einem Saalpianisten und einem Saaldiener. Die sieben männlichen Führungskräfte bleiben für das Publikum ohne Namen. Nach ihrem Kostüm und ihrer Maske (Anzug und Hornbrille) entsprechen sie dem Typ ‘Politiker’ und können in etwa der Adenauerära bzw. den fünfziger Jahren zugeordnet werden. Frau ‘Stunde Null’ (sie wird beim Namen genannt) suggeriert den Typ resolute ‘Frau Lehrerin’ oder, in der Turnstunde, ‘Dompteurin’. Der Saalpianist, durch Frack und offensichtliche Perücke abgesetzt, fügt sich ab und zu beim Gesang in die Gruppe, begleitet ansonsten mit dem Klavier die Führungskräfte. Der Saaldiener, ein altes Männlein, zeichnet sich in seinen seltenen Auftritten vor allem durch unmotiviertes Lachen aus. Der erste Abschnitt der Inszenierung wird durch chorische Elemente dominiert: In allem steht die Individualität der Figuren hinter dem Gruppeneindruck: Alle üben dieselbe Rede, singen die gleichen Lieder, tragen die gleichen Anzüge und Hornbrillen und führen die gleichen körperlichen Aktionen aus. Die chorischen Elemente unterstreichen den Eindruck einer homogenen Gruppe, die bar jeglicher Individualität oder gar Subjektautonomie agiert. Die Reden, die die Männer teils verstümmelt, teils ausführlich halten, sind dokumentarischen Ursprungs. Fast alles, was an diesem Abend gesagt wird, ist in den Jahren 1945 bis 1949 oder im Gedenkjahr 1995 gesagt oder geschrieben worden. Unklar und letzten Endes unbedeutend ist jedoch, von welchem Politiker oder welchem Schriftsteller die jeweiligen Sätze stammen. Wichtig ist eher der beherrschende Eindruck einer sich in Sentimentalität und Selbstmitleid ergehenden Polit-Rhetorik, die sich der immergleichen Stunde-Null-Metaphern und anderer Phrasen von Freiheit, Sicherheit, Wohlstand für Westeuropa bedient.
313 Die Inszenierung lässt sich in vier Hauptabschnitte gliedern: die politische Unterrichtsstunde; die Turnstunde; Reden über Deutschland; Schlafengehen. Diese Hauptblöcke lassen sich wiederum untergliedern. Die Feinstruktur des ersten Teils – die politische Unterrichtsstunde – sieht folgendermaßen aus: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Overtüre: politische Rede vor dem Vorhang Sprechübungen (in die Wandmikrophone sprechen) Messungen Gesang Sprechübungen Kaffeepause Sprechübungen Baden (Singen, Weinen) Sprechübungen Gesang Sprechübungen Höhlenunterricht durch Frau Stunde Null Umziehen zur Turnstunde
Die ‘Turnstunde’ selbst ist eine Mischung aus lustlos ausgeführten Turnübungen und Polit-Training: Händeschütteln, Band-Schneiden, Lächeln für die Kamera werden in einem mehr oder weniger sportlichen Rahmen eingeübt. Mollige Körper jenseits des besten Mannesalters werden in Unterhemd und kurze Hosen gezwängt, um die Absurdität und Inkongruität dieser Art von politischer Lektion hervorzuheben. Als “Herzstück” der Inszenierung, so David Roesner,2 gilt die Rede des schottischen Schauspielers Graham Valentine, der wie Marthaler ein Absolvent der Schauspielschule Lecoq ist. Die ‘Führungskraft’ Valentine figuriert im Programmheft unter der Bezeichnung ‘Heimatloser Alliierter’, was einerseits auf die biographische Herkunft des Schauspielers selbst hinweist, andererseits auf den Inhalt der eigentlichen Rede anspielt. Die Ansprache Valentines ist die letzte der sieben Politikerreden, die der Inszenierung eine Art Höhe- und Wendepunkt verleihen. In einem autobiographischen Artikel beschreibt Valentine die Genese seiner Rede: In der Stunde Null halte ich eine lange Rede. Diese Rede habe ich aus Texten zusammengebastelt, die von der damaligen Regierung von Groß-Berlin stammten. Es waren Verordnungen, die über die Deutschen verfügt wurden, damit sie sich nach 2
David Roesner: Ribible Riddle. Motivik und musikalische Form im Theater Christoph Marthalers Stunde Null. In: Theater als Paradigma der Moderne. Hg. von Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel. Tübingen 2004. S. 365–374. Hier: S. 368.
314 dem Krieg besser benehmen. Auch Auszüge aus Texten von Kurt Schwitters und aus Reden von Winston Churchill sind in meinen Stunde-Null-Monolog eingeflossen. Dabei habe ich immer wieder den gleichen Text in einer anderen Sprache wiederholt. Wie es in den Dokumenten geschrieben stand – in einer französischen, englischen, russischen und deutschen Spalte. Manchmal sage ich die Texte in allen vier Sprachen. Ich animiere diese Texte durch Dynamik, wodurch sich ein dadaistischer Eindruck ergibt. […] Ich mache aus diesen Verordnungen eine Arie, die nicht unbedingt satirisch gemeint ist.3
Aufgrund des dadaistischen Collage-Verfahrens ergeben die Texte keinen durchgehenden Sinn und schon gar keine narrative Entwicklungslinie. Am ehesten könnte man von einem sich intensivierenden Prozess des ‘Textverfalls’ sprechen, wobei die destruktiven Kräfte gleichermaßen aus den spielerischperformativen wie aus den textuellen Elementen resultieren. Ein Textbeispiel aus dem Anfang der Rede sei hier angeführt, um einen Eindruck zu vermitteln: Ladies and Gentlemen. I am profoundly concerned about the European situation. Ten ancient capitals of Europe are behind the Iron Curtain. We do not know what is going on behind. The voice of the German translator follows the prosecutor’s voice. A shrill vengeful echo. There’s a look of horror on her face. Few are able to laugh, what could be called laughing, but only sniff but only sniff and titter – should you have the misfortune to injure either the person or feelings of your neighbour; the formal – I beg your pardon should suffice – from the throat outwards as if laughing through wool […].4
Es ist einfacher, die Rede in ihrer performativen Verlaufsstruktur zu beschreiben als die einzelnen Textteile deutend zu erklären. Valentine beginnt zunächst sachlich, mit auffällig britischem, fast überdeutlich artikuliertem Englisch (Abb. 2). Bereits in der Akzentuierung (im wörtlichen Sinne) verschiebt er die Aufmerksamkeit von den semantischen auf die klanglichen Aspekte des Textes. Beispielsweise bei den Satzteilen “but only sniff and titter – should you have the misfortune to injure…” betont er die Konsonanten. Nach knapp eineinhalb Minuten taucht zum ersten Mal das viermal wiederholte Nonsenswort Ribble, das man klanglich mit dem englischen riddle (⫽ Rätsel) assoziieren könnte, auf. Allmählich beginnt Valentine, die bisher ausschließlich englische Rede zuerst mit deutschen, dann französischen und schließlich russischen Zitaten zu durchmischen, manchmal in vollständigen Formulierungen, meist aber übergangslos mitten im Satz.
3
Valentine in: Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen. Hg. von Klaus Dermutz. Salzburg 2000. S. 80; zitiert nach Roesner (Anm. 2). S. 368. 4 Alle Zitate aus der Rede entstammen der Fernsehaufzeichnung der Premiere am 20. Oktober 1995, die von arte ausgestrahlt wurde.
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Abb.2 Graham Valentine in der ‘Rolle’ des ‘heimatlosen Alliierten’.
Im Laufe der Rede wird der Text immer unverständlicher, der Stimmeinsatz immer extremer und körperbetonter und immer häufiger “emanzipieren sich Nonsens-Partikel und daraus entwickelte rein geräuschhafte Passagen von einer ursprünglich mitteilenden Intention der Rede”.5 Gestik und Mimik Valentines sind der körperlichen Anstrengung des artistischen Sprechakts geschuldet. David Roesner beschreibt die wachsende körperliche Überformung der Rede: “Mit gerötetem Gesicht, hervortretenden Adern, zur Überartikulation verzerrter Mundpartie und bisweilen beinahe spastisch sich krümmendem Körper transformiert er sich vom distinguierten Redner zur lautsprachlichen Artillerie.”6 Am Ende verliert die Rede jegliche semantische Kohärenz; Valentine spuckt nur noch Konsonanten und Vokale aus, aber kaum verständliche Worte oder gar Sätze. Um bei Roesners militärischer Metaphorik zu bleiben – der offizielle Diskurs der Verordnungen und Politiker-Reden wird regelrecht unterminiert und zur Explosion gebracht, bis nur noch ein sprachliches und physisches Trümmerfeld übrig geblieben ist. 5 6
Roesner (Anm. 2). S. 372. Ebd. S. 373.
316 Die wohl explosivste Mine auf der textuellen Ebene ist das bereits erwähnte Nonsens-Gedicht von Kurt Schwitters Ribble Bobble Pimlico (1946).7 Das Gedicht bzw. Teile davon kehren im Laufe der Rede immer wieder, bis sie regelrecht Besitz ergreifen von den diskursiven Textstellen. Auf die Frage nach der Funktion des Textes argumentiert Roesner, dass das Gedicht vor allem unter musikalischen und weniger unter semantischen Gesichtspunkten betrachtet werden sollte. Das Gedicht sei eine Art Motiv, das in erweiterter und zunehmend destruktiver Form immer wiederkehrt. In der Tat bleiben am Ende nur noch Textfetzen des Gedichts übrig. Die Schlussphase der Rede beginnt mit dem englischen Abzählvers umpa, umpa, stick it up your jumper. Schließlich löst sich die Rede in kurze pft-Plopplaute am Mikrofon auf. Das pft wird zur letzten Vorstufe der Stille, des Schweigens, der Negation von Rede. Die Stille tritt aber erst ein, nachdem das letzte Wort gesprochen ist, hervorgequetscht zwischen den Störlauten: Atombomb. Um Roesner noch einmal zu zitieren: “Valentine komponiert sprachsymbolisch ein Kriegsende, das zwischen absurd bürokratischer Abwicklung des nazifizierten Deutschlands und lautsprachlichem Nachhall der Kriegsgräuel in abrupten Wechseln hin und her springt.”8 “Ich mache aus diesen Verordnungen eine Arie, die nicht unbedingt satirisch gemeint ist”, erläutert Valentine selbst die Intention der Rede. Damit ist eine zentrale Frage angesprochen, die an diese Inszenierung geknüpft ist: diejenige nach der Funktion und der generischen Einordnung. Valentines eigene Gattungszuordnung (Arie statt Rede) sowie Roesners Betonung der musikalischen Aspekte beschreiben sicherlich ein dominantes Stilmerkmal der Inszenierung und der Theaterarbeit Marthalers insgesamt. Die einfache Negation einer satirischen Intention ist jedoch angesichts des komplexen Einsatzes von Sprach- und Körperkomik sowie des politischen Anlasses (der Fünfzigjahr-Feier des Kriegsendes) letztlich nicht ganz haltbar. Auch wenn die Inszenierung nicht als ‘Satire’ abgetan oder erschöpfend beschrieben werden kann, so bleiben doch satirische Elemente. In Stunde Null wird jedoch nicht eine Person oder Institution, sondern, was viel komplexer ist, der Diskurs des Politischen, in diesem Fall die Bloßlegung der Phrasen und Attitüden des Politischen und auch einer besonderen politischen Haltung – der Mythos des Neubeginns – satirisiert. Die Rede Valentines lässt zumindest ahnen, dass diese Fassade innerlich zerrüttet ist, und enthält daher ein innewohnendes Selbstzerstörungspotential, das die Inszenierung gleichsam vorführt.
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Dieses Lautgedicht von Kurt Schwitters hat Christoph Marthaler bereits 1988 in Zürich inszeniert. Valentine benutzt noch einen weiteren Prosatext von Schwitters in seiner Rede, und zwar den 1945–1947 entstandenen kurzen englischen Text For Exhibition, der leicht gekürzt das Ende der Rede darstellt. 8 Roesner (Anm. 2). S. 374.
317 Fazit Stunde Null ist durch ein interessantes Paradoxon gekennzeichnet. Einerseits verweisen Titel und textueller Inhalt auf konkrete historische und politische Kontexte. Andererseits entzieht sich die theatralische Umsetzung dieses Inhalts jedweder klaren Zuordnung und Referentialität. Die Inszenierung ist damit ein gelungenes Beispiel für das, was Erika Fischer-Lichte “die performative Wende” genannt hat: “Die Betonung des Performativen […], das aus ihr resultierende neue Spannungsverhältnis zwischen referentieller und performativer Funktion eröffnet […] dem Zuschauer Spiel- und Freiräume, um völlig neue Arten der Wahrnehmung zu erproben.”9 Letzten Endes sind es die performativen Aspekte der Inszenierung, die überwiegen: die Materialität der zwischen Mager- und Fettsucht schwankenden Leiber; die Musikalität und Virtuosität der Stimmkunst; die vordergründige ‘Sinnlosigkeit’ der meisten Handlungen. Es ist aber die besondere ästhetische Leistung von Marthaler und seinem Team, dass die performativen Dimensionen nie gänzlich obsiegen: Bei allem absurden Gerede und Tun bleibt zumindest dem deutschen Zuschauer klar, dass hier auch die eigene Geschichte und Vergangenheit verhandelt werden, wenn auch in einem gänzlich anderen Modus als gewöhnlich. Denn das Verhältnis zwischen Performativität und Referentialität bleibt immer spannungsgeladen, was vermutlich im Theater schon immer der Schlüssel zum Erfolg war.
Bibliographie Dermutz, Klaus (Hg.): Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen. Salzburg 2000. Hiß, Guido: Marthalers Musiktheater. In: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft. Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1999. S. 210–224. Primavesi, Patrick: Geräusch, Apparat, Landschaft: Die Stimme auf der Bühne als theatraler Prozeß. In: Forum Modernes Theater (14) 2/1999. S. 144–172. Roesner, David: Ribible Riddle. Motivik und musikalische Form im Theater Christoph Marthalers Stunde Null. In: Theater als Paradigma der Moderne. Hg. von Christopher Balme, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel. Tübingen 2004. S. 365–374. Schulz, Susanne: Die Figur im Theater Christoph Marthalers. Diss. Universität Frankfurt/M. Sankt Augustin 2002.
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Erika Fischer-Lichte: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. In: Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (1/1998). S. 19.
Anthonya Visser
“Wo war ich? Wo bin ich?” Zur Lyrik Heinz Czechowskis Heinz Czechowski’s lyrical poetry since the ‘Wende’ has been read predominantly with a fairly narrow focus on its potential autobiographical content. Such readings are usually characterized by a lack of careful textual analysis to support their respective results. This contribution follows the point of departure provided by Gerd Labroisse’s 1994 study on Czechowski’s immediate post-‘Wende’ poems. Through close readings of individual poems and exemplary analysis, this article examines the aesthetics and the intricate interaction of various layers of meaning in Czechowski’s poetry. As a result, it becomes quite evident that seemingly ‘simple’ and, at first glance, ostensibly ‘autobiographic’ poems on everyday life are part of a larger and much more complex poetical concept. The texts reveal an interplay of personal remembrance and trains of thought which are indeed frequently triggered by observations of the immediate surroundings, but are equally well informed by various elements of ‘big history’ and larger contemporary discourses, including literature and the arts. Czechowski thus constructs a textual fabric interwoven with remembrance and forgetting, past and future, ‘big’ and ‘small’ history, in which the lyrical ‘I’ functions as an axis and a centrifugal force. The essence and the position of this lyrical persona define a highly transient ‘present’.
Zur Einführung “Jedes dieser Gedichte – wie könnte es anders sein? – ist ein Stück Autobiografie.”1 Heinz Czechowskis Lyrik wird seit der ‘Wende’ vor allem auf ihren autobiografischen Gehalt hin befragt. Das liegt daran, dass die Texte des letzten Jahrzehnts einen stark “diaristischen” Charakter haben,2 wie von einigen Rezipienten betont wird. Der Autor selbst hält mit Auskunft über den Zusammenhang von Text und Leben außerdem nicht hinter dem Berg. In den 1998 erschienen Band Mein westfälischer Frieden ist zudem ein Nachwort von
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Günter Kunert: Wo wir nicht sind, ist Leere. Neue Gedichte von Heinz Czechowski. In: Die Welt vom 8. April 2000. 2 Wolfgang Ertl: Aufbruch in die Vergangenheit: Zu Heinz Czechowskis autobiographischer und diaristischer Lyrik seit der Wende. In: Glossen. Literatur und Kultur in den deutschsprachigen Ländern nach 1945. H. 18/2003. (http://alpha.dickinson.edu/departments/germn/glossen/supertitel2.html; Stand 19.05.2008). Anna Chiarloni spricht vom “Potential des offenen, diaristischen Dichtens”. In: Zwischen den Zeiten. Zur jüngsten Lyrik von Heinz Czechowski. In: German Monitor 69/2007: Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog. Hg. von Karen Leeder. S. 37–53. Hier: S. 49.
320 Walter Gödden aufgenommen,3 der betont, dass es bei Czechowskis Lyrik um ein “inneres Tagebuch”, um “[w]ohltemperierte Gedankenlyrik” gehe, um “das Ich in seiner geschichtlichen Situation und seiner verqueren Befindlichkeit”, ein Ich, das uns mit diesem Band “[e]eine Generalabrechnung mit sich selbst und der Vergangenheit” präsentiere.4 Nicht nur Göddens Nachwort, sondern auch andere Aufsätze zu Czechowskis Texten geben sich leider mitunter wenig Mühe mehr zu leisten als eine – mehr oder weniger ausführlich geratene – Skizzierung dieses Zusammenhangs.5 Das ist schade, weil eine solche oberflächliche Betrachtungsweise den Texten meines Erachtens kaum gerecht werden kann. Für die literaturkritische und -wissenschaftliche Rezeption von Czechowskis Lyrik kurz vor und unmittelbar nach der ‘Wende’ stellte Gerd Labroisse 1994 exemplarisch anhand der Ausführungen vor allem von Ursula Heukenkamp aus den Jahren 1988 und 1991 noch schonungsloser fest, sie beruhe “auf nicht
3 Die Webseite des Mentis Verlags meldet über ihn: “Walter Gödden, geb. 1955, ist Geschäftsführer der Literaturkommission für Westfalen beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Münster. Er war langjähriger Redakteur der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Zudem ist er Herausgeber des Westfälischen Autorenlexikons und der Buchreihe »Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung«. Als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften Westfalens koordiniert er die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gesellschaften. Er betreut zudem die Literaturseiten der Zeitschrift »Westfalenspiegel«.” (auf: http://www.mentis.de/index.php?id=00000057&article_id=00000028&category=&author_id=00000 250. Stand 4.5.2008) 4 Walter Gödden: Nachwort. Wendemarken. Ich, Landschaft, Horizonte. Heinz Czechowskis Westfälischer Frieden. In: Heinz Czechowski: Mein westfälischer Frieden. Ein Zyklus 1996–1998. Mit einem Nachwort von Walter Gödden. Köln 1998. S. 123–132. Hier: S. 123 und S. 127. Vgl. auch: H.C.: Mein westfälischer Frieden. In: Die Pole der Erinnerung. Autobiographie. Mit einem Nachwort von Sascha Kirchner. Düsseldorf 2006. S. 250–260, dessen Aussage auf S. 256: “Ich habe es als mein Nacht- und Sorgebuch bezeichnet. […] ich hatte gewußt, was ich tat, indem ich fast in der Art eines Tagebuchs den Ausdruck meiner Situation suchte.” 5 Als einleuchtendes Beispiel mag “Heinz Czechowski und die überstandene Wende?” fungieren, in dem Ian Hilton Czechowskis Texte hauptsächlich als Illustrationen zu biografischen Daten anführt. Eine Textanalyse findet nicht statt (in: German Life and Letters 50 [1997]. S. 214–226). Ähnlich geht Hilton vor in: Heinz Czechowski: ‘Streit mit dem weißen Papier’. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976–1990. Hg. von Robert Atkins und Martin Kane. Amsterdam – Atlanta 1997. S. 209–225. Jürgen Serkes Buch Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Mit Fotos von Christian G. Irrgang ist hingegen von vornherein ganz anders, nämlich als eine Art literaturorientierte Biographie, angelegt (Beitrag: Heinz Czechowski: Gefangen in den Ruinen des Anfangs, auf S. 187–215). München – Zürich 1998. Trotzdem bedeutet sein Konzept zum größten Teil ebenfalls Verzicht auf Textanalyse.
321 weiter diskutierten Vor-Entscheidungen”.6 Ihre Lesart befreie die Texte des Lyrikers “zwar […] von vereinfachender Politisierung, auch von zu kurz ausgelegter Abbild-Funktion”, sie würden “aber auch ‘befreit’ von ihrer gesellschaftlichen (teilweise auch noch ihrer sprachlichen) Wirklichkeits-Dimension.”7 Selbst zeigt er in detaillierten Textanalysen gerade dieses “Zeitgeschichtlich-Politische” vor allem an Texten aus dem ein Jahr vor dem Fall der Mauer erschienenen Band Kein näheres Zeichen8 und dem 1993 publizierten Nachtspur9 auf10 und legt an Nachtspur dar, “wie eng bei Czechowski ‘direkte’ Aussagen zusammenzugehen vermögen mit lyrischen.” Betrachtet im Kontext des bis dahin erschienenen lyrischen Werks kommt Labroisse zur Schlussfolgerung, der 1993er Band bringe nicht nur eine Weiterführung, eine Ausfaltung autobiographischer Komponenten (Dresden; Reiseberichte) und von Überlegungen zur Schreib-Problematik, sondern eine starke, im Ton kräftigere Ausgestaltung der zeitgeschichtlich-politischen Stellungnahmen. […] Vor allem seine Texte aus den 90er Jahren haben eher eine sarkastische als eine elegische Note.11
Im Vergleich zu den noch zu DDR-Zeiten veröffentlichten Gedichten enthielten die neuen Texte “Weiterungen”, sie warteten auf mit: ganz direkt politischen Aussagen (mehr als bloß einem Ausbau der Geschichts/Zeitgeschichts-Bezüge) und verschiedenen stark variierenden sprachlichen wie formalen Mitteln. So ist der Ironie-Gebrauch weit verbreitet; sprachliche Doppel/Mehrdeutigkeiten werden eingesetzt zur Erzeugung einer zusätzlichen, verstärkenden Aussageschicht (vorher eher erfolgend über direkte Bezugnahmen auf Geschichte/Zeitgeschichte); lyrische Formalia werden verfremdend oder zur Prononcierung gebraucht […]. 6
Gerd Labroisse: Verwortete Zeit-Verflechtungen. Zu Heinz Czechowskis neuen Texten. In: G.L. und Anthonya Visser: Im Blick behalten: Lyrik der DDR. Neue Beiträge des Forschungsprojekts DDR-Literatur an der Vrije Universiteit Amsterdam (German Monitor 32). Amsterdam – Atlanta 1994. S. 29–85. Hier: S. 51. Labroisses Urteil gilt am stärksten für Ursula Heukenkamp (Unsere Sprache ist nicht die eigentliche. Der Lyriker Heinz Czechowski. In: Weimarer Beiträge 1988. H. 5. S. 825–840; Von Utopia nach Afrika. Utopisches Denken in der Krise der Utopie. In: Literatur der DDR. Rückblicke. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke MeyerGosau. München 1991 [Text ⫹ Kritik. Sonderband]), in abgemilderter Form aber auch für Bernd Leistner (Wider das Gespenst der Vergeblichkeit. Czechowskis Gedichtband “Kein näheres Zeichen”. In: DDR-Literatur 87 im Gespräch. Hg. von Siegfried Rönisch. Berlin – Weimar 1988) und Wolfgang Emmerich (Heinz Czechowski. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur/KLG. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff. 33. Nlg. Stand 1.8.1989). 7 Labroisse (Anm. 6). S. 43. 8 Heinz Czechowski: Kein näheres Zeichen.Gedichte. Halle – Leipzig 1987. 9 Heinz Czechowski: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987–1992. Zürich 1993. 10 Labroisse (Anm. 6). S. 42. 11 Ebd. S. 83.
322 Diesem Mehr an literarischen Mitteln steht ein Weniger gegenüber: Bedeutend geringer als in den Bänden davor sind Reise- und Landschaftsgedichte und solche über Alltagserfahrungen (Älterwerden, Lebensalter schlechthin). Erscheinen solche, sind sie z.T. sprachlich interessant, oft mit Sprachwitz gemacht.12
Letzteres scheint in unmittelbarem Gegensatz zu den oben erwähnten Einschätzungen der nach Nachtspur publizierten Lyrik Czechowskis zu stehen. In seiner Rezension des Bandes Nachtspur meinte der Kritiker Jürgen Engler aber ebenfalls, dass Czechowskis Gedichte “nur scheinbar […] en passant geschrieben [sind], Kunstanspruch zeigt sich gerade in dessen Herabsetzung, in der Herabstimmung der ‘hohen Töne der Bücher’ ”.13 Vorliegender Aufsatz will deswegen Labroisses Schlussfolgerung aufgreifen und hauptsächlich an zwei späteren Bänden den Textstrategien nachgehen, dabei eruieren, ob und wie sich der von ihm festgestellte Trend in Czechowskis Lyrik durchgesetzt hat oder aber abgebrochen wurde. Da es um eine Analyse der Schreibweise des Lyrikers geht, scheint es mir unabdingbar, die Gedichttexte mit aufzunehmen. Zum Teil werden meine Analysen in einer, von Labroisse 1994 scharf monierten, “radikale[n] Ausformung von textimmanenter Interpretation” stehen.14 Ich hoffe aber nachweisen zu können, dass ein solches genaues Lesen – mit gelegentlichen abhebenden Bezügen zu anderen Lesarten und unter Heranziehung anderer Texte – zu einer größeren Einsicht in den Zusammenhang von Form und Inhalt der Lyrik Czechowskis führt als Hinweise auf dessen Biografie, die mit einer Reihe zitierter Stellen aus seinen Gedichten ‘belegt’ werden.
Von der ‘wüsten Mark’… Die Titel der beiden nach Nachtspur erschienenen Gedichtbände markieren einen Gang vom Osten in den Westen Deutschlands: von Sachsen nach Westfalen. Das Gedicht, das dem Band Wüste Mark Kolmen seinen Titel gibt, hebt markiert das Berichtete bereits in der Überschrift als lebensgeschichtliches Ereignis hervor: ‘Entwurf einer Biografie’.15 Trotzdem ist von einem Ich 12
Ebd. S. 84. Jürgen Engler: Das Maß der Unordnung. In: ndl 41, H. 487 (Juli 1993). S. 146–148. Hier: S. 148. Holger Helbig meint in seiner Rezension von Seumes Brille (Düsseldorf 2002): “Daß es dem Dichter nicht gut geht und seine Liebesbriefe unerhört bleiben, ist nur interessant wegen der Art und Weise, in der das mitgeteilt wird, nämlich im Gedicht. Nur unter dieser Voraussetzung, einer ästhetischen, ist die biographische Information von Interesse.” (In: Zersplittertes Ich. Heinz Czechowskis versammelte Rückblicke. In: ndl 51, H. 547 [Januar/Februar 2003]. S.186–189. Hier: S. 187.) 14 Labroisse (Anm. 6). S. 43. 15 Heinz Czechowski: Wüste Mark Kolmen. Gedichte. Zürich 1997. Darin: Entwurf einer Biografie, S. 33–35. 13
323 explizit erst in der dritten Strophe die Rede, die einsetzt mit den Worten: “Bin ich hier / Eingewiesen, um /Alt zu werden?” In Nachtspur war der ganze Gedichttext bereits in Fragmenten in den Prosatext “Im Schatten des Denkmals” aufgenommen. Gerd Labroisse meinte dazu: “die lyrischen Partien artikulieren die Schatten, die das Völkerschlachtdenkmal bis heute wirft […]; die umfangreicheren Prosateile diskutieren jüngste Vergangenheit und Gegenwart,”16 was sich ihm zufolge auch in der Schreibweise niederschlug, in einer: “Wechselwirkung von (nüchternem) Bericht und (überhöhtem) Bild”.17 Für den vier Jahre später erschienenen Band wurde der Prosateil weggelassen, der lyrische Teil außerdem um einiges gekürzt und mit einem neuen Titel versehen, der die expliziten Ausführungen des nun ausgelassenen Prosateils gewissermaßen, allerdings implizit bleibend, zusammenfasst. Die beiden ersten Strophen scheinen von einer Art auktorialer Erzählinstanz berichtet, wobei aber die Gegenwart in der Ortsangabe “hier” im dritten Wort des Textes sowie durch Alliteration mit dem ersten ausdrücklich betont wird: “Halbruinen auch hier.” – So setzt das Gedicht ein: ENTWURF EINER BIOGRAFIE Halbruinen auch hier. Und der Totenbunker Hoch überragend den Ort. Straßennamen Um 1900: Nachts Schwimmen die Häuser In grauer Soße. Kein Licht In den Kneipen. Der Heerwurm Schlug seine Zelte auf, Batterien Spien in die Dörfer, lebende Fackeln, Bauern, Hauslos, zu Spanndiensten abkommandiert. Lenin kam, Lenin ging: ein Mythos, Aufgelöst Wie in einem Getränk. Die Stille jetzt Hackt in den Ohren. Der Nachbarin Schrei.
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Das Schlachtfeld, Bebaut im Gründerzeitstil und Mit Siedlungen: Eigenheime, die Ihre Erbauer vergaßen. NaPoleonstein, MonArchenhügel: Geschichte Als Wille und Vorstellung, die Welt Eine brennende Kugel (auch sie Erinnert an etwas, das Ich vergaß). Auf dem Eis Vor dem Bunker die Kinder von Bruegel: Winterbilder, Die an die Kindheit erinnern, So fern, Als hätte es sie Niemals gegeben. Am Abend Den Ölberg besteigen
Heinz Czechowski: Nachtspur. (Anm. 9). S. 301–311; vgl. Labroisse (Anm. 6). S. 67. Er fügt hinzu: “Beide werden zusammengehalten und mitbestimmt vom Motto, in dem es – 1913 – von der Völkerschlacht heißt, sie habe ‘die deutschen Stämme wieder zu einem Brudervolk [vereinigt]’”. Vgl. auch H.C.: Die Pole der Erinnerung (Anm. 4). 17 Ebd. S. 70.
324 Bin ich hier Eingewiesen, um Alt zu werden? Mein Körper, Manchmal noch Von Begierde geplagt, Zerrissen die, Was man nennt, Seele. Der Schornstein der Bäckerei im Hof: gekrümmt Wie eine Sattlernadel. Die Dörfer Umzingeln den Ort. Was Von ihnen blieb: Zeichen Der Anstrengung und Der Vergeblichkeit. Trauer, mein Wort, In die Steine geritzt, dahinter Ein Feldweg in Sachsen, die Mühle Mit Brettern beschlagen, das Hundegekläff, das Meinen Spaziergang begleitet.
Hinter dem Heizhaus Zerbrochene Särge, raschelndes Weißes Papier. In Lauchhammerguß Rostende Tafeln, ein großes Jahrhundert verkündend, die Auferstehung Einprogrammiert: Gletschersteinpyramide. Die Geschichte Hat uns überholt, Grinsende Radfahrer Auf der Straße nach Baalsdorf. Letzter Gruß Aus der Flasche. Einziger Ort Zum Aufbruch in die Vergangenheit: Wüste Mark Kolmen.
Der Text besteht in dieser Fassung aus acht Strophen unterschiedlicher Länge, von denen lediglich die dritte ausschließlich dem (Zustand des) Ich gewidmet ist. Das ‘hier’, von dem das Ich sich fragt, ob bzw. wozu es sich dort befindet, ist in den beiden ersten Strophen als geschichtsträchtiger Ort gekennzeichnet. Über den “Halbruinen” dort befindet sich “der Totenbunker” – Indizien dafür, so scheint es, dass die Geschichte, die diesen Ort heimgesucht hat, nicht immer glücklich ausgegangen ist. Das Adverb “Hier” ist Orts- und Zeitangabe zugleich; die Zeichen des Vergangenen markieren die Gegenwart, eine Gegenwart, die nach dem anscheinend bewegten Beginn des nun ausgehenden Jahrhunderts heißt – “Straßennamen / Um 1900”18 –, in der sich aber jetzt nichts mehr tut: “Nachts / Schwimmen die Häuser / In grauer Soße. Kein Licht / In den Kneipen.” – als würde niemand dort leben und der Ort lediglich aus Vergangenem bestehen. Dieses Vergangene wird in der zweiten Strophe ausgeführt, indem auf die Völkerschlacht, die 1813 die Entscheidung der Befreiungskriege unter gewaltigen Verlusten sowohl auf Seiten der Verbündeten als auch auf französischer
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Die Straßennamen, um die es geht, werden im Text von 1993 explizit genannt.
325 Seite brachte, Bezug genommen wird, und deren Ausgang mit der Erwähnung des “Totenbunker[s]”, nämlich des Völkerschlachtdenkmals in LeipzigStötteritz, in der ersten Strophe bereits vorweggenommen war.19 Das Substantiv “Heerwurm” für die langen Reihen von Soldaten, die damals wie eine Plage das Straßendorf Probstheida füllten, überführt die metaphorische Bezeichnung für die Trauermückenart Sciara militaris, deren Larvenzüge bis zu zehn Meter lang werden können, wieder in den sprachlichen Bereich, dem es einst entnommen wurde – und wo es nun wiederum metaphorische Ladung erhält. Abgesehen von der Allusion an die Völkerschlacht wird mit den Worten “Lenin kam, / Lenin ging” noch einmal auf das schon in der ersten Strophe erwähnte Jahr 1900 verwiesen, als in der sozialdemokratischen Druckerei in Probstheida die erste Nummer von Lenins Zeitschrift Iskra (‘der Funke’) gedruckt wurde, ein Vorgang, bei dem Lenin selbst wohl anwesend war.20 Die nun folgenden Worte müssen sich nicht unbedingt auf die 1957 eingerichtete Gedenkstätte beziehen, die nach der ‘Wende’ 1993 geschlossen wurde, wobei der Bestand dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig übergeben wurde, das ihn aufgelöst und die Exponate in Außendepots untergebracht hat:21 “Ein Mythos, / Aufgelöst / Wie in einem Getränk.” Sie können genau so gut auf die Ideologie des Leninismus verweisen, die (vielleicht nicht erst) mit der Auflösung der DDR verschwunden ist. Die Dunkelheit, die in der ersten Strophe den Eindruck der Ausgestorbenheit weckt, wird in der zweiten von einer “Stille” verstärkt, die lediglich von einem Schrei (“der Nachbarin”) gebrochen wird. Die historischen Perioden, auf die verwiesen wird, sind, folgen wir der Darstellung, mit der durch sie skizzierten Region untrennbar verbunden und wenn das Ich hier verortet ist, sind sie ebenso Teil seiner Lage, so scheint es. Die dritte Strophe setzt allerdings mit einem Fragezeichen ein: “Bin ich hier / 19
Dazu braucht der Leser also nicht den Text von 1993, in dem Entstehung und Bedeutungmöglichkeiten des Völkerschlachtdenkmals elaboriert werden. 20 Es war sein erster von insgesamt vier Leipzig-Aufenthalten bis 1914. Vgl.: Ein Museum fehlt noch. In: Die Zeit vom 23.5.1957. Vgl. auch das Gedicht “Dorfanger Leipzig-Probstheida” in dem Band Mein Venedig. Gedichte und andere Prosa (Berlin 1989). S. 89 u. 92 sowie die Erläuterung in Nachtspur: “daß Lenin mit dem Fahrrad durch die Naunhofer Straße nach Probstheida zu der kleinen Druckerei gefahren sein könnte, also zur jetzigen Iskra-Gedenkstätte (gibt es die noch?), soll in den Bereich jener Legenden gehören, welche die Geschichte mitunter stiftet.” (Anm. 9. S. 309) und Gerd Labroisses Ausführungen dazu (Anm. 6. S. 64f.). Zur Gedenkstätte vgl. Hans-Joachim Bernhard: Die ISKRA Gedenkstätte in Leipzig. Leipzig 31979. 21 Laut telefonischer Auskunft des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig am 6.5.2008 soll aber ab 2010 die Druckerpresse und vielleicht auch der Setzkasten in der Dauerausstellung im Obergeschoss des Alten Rathauses wieder zu sehen sein.
326 Eingewiesen, um / Alt zu werden?” Eingewiesen wird man für gewöhnlich in z.B. ein Krankenhaus, was mit der Zustandsbeschreibung der Seele durchaus vereinbar ist: “Zerrissen die, / Was man nennt, / Seele.”22 Der Körper des Ich funktioniert noch halbwegs ‘normal’, was der “Seele” aber anscheinend lästig ist (“Von Begierde geplagt”). Das “auch” im Eingangsvers des Gedichts dürfte sich somit in übertragenem Sinne ebenfalls auf das Ich selbst beziehen. Dafür spricht der Umstand, dass beide Aussagen aus drei Worten bestehen, von denen das dritte jeweils “hier” lautet: “Halbruinen auch hier” vs. “Bin ich hier”. Ohne allerdings auf dessen mögliche konkrete (private) Beschwerden einzugehen, wird zur nächsten Strophe übergeleitet, die wieder mit einer neutral anmutenden Beschreibung einsetzt: Der Schornstein der Bäckerei im Hof: gekrümmt Wie eine Sattlernadel. Die Dörfer Umzingeln den Ort.
Die beiden Verben in diesen drei Versen werden normalerweise für Lebewesen benutzt und personifizieren die geschilderte Umgebung gewissermaßen. Sie führen den Eindruck von Bedrückendem und Krieg fort. Und so heißt es dann in der Fortsetzung: […] Was Von Ihnen blieb: Zeichen Der Anstrengung und Der Vergeblichkeit. […]
Die drei Substantive führen die Personifizierung fort, denn spätestens mit dem Wort “Zeichen” muss dem Rezipienten deutlich werden, dass die wiedergegebene Wahrnehmung der Umgebung eine Interpretation ist:23 ob wir z.B. Dörfer um einen bestimmten Ort herum als eine ‘Umzingelung’ empfinden, hängt mitnichten
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In Probstheida befindet sich tatsächlich ein Klinikkomplex mit Herzzentrum, Suchtbehandlungszentrum und einer psychiatrischen Klinik (www.klinikum.unileipzig.de, Stand 6.5.2008). Der Prosateil in Nachtspur verrät, dass das Ich (dort eindeutig der Autor) in diesem Viertel wohnte: “ich erhielt meine Wohnung zugewiesen” (Anm. 9. S. 308). Die Gedichtfassung von 1997 verzichtet also auf eine solche biografische Eindeutigkeit – was den Text offener und dadurch m.E. stärker macht. 23 Dorothea von Törne verweist bereits in ihrer Rezension auf die Rolle der Wahrnehmung in den Texten, die sie allerdings ‘Sinnlichkeit’ nennt: “[n]eben dem Sehen bestimmt mehr denn je das Hören die Verse Czechowskis. […] Und ein drittes Element des Sinnlichen bestimmt die Gedichte: Sie werden durchweht von allerlei Gerüchen.” (in: Blick, wenn du kannst. In: ndl 45, H. 514 [Juli/August 1997]. S. 137–140. Hier: S. 138).
327 ausschließlich von der Anordnung der Dörfer, sondern größtenteils von der psychischen Verfasstheit des Betrachters ab. Bevor es im Text wieder zur Beschreibung der Umgebung übergeht, weist sich das Ich als der ‘Zeichensetzer’ aus: “Trauer, mein Wort, / In die Steine geritzt”. Labroisse ist auch für dieses Gedicht beizupflichten, wenn er hinsichtlich des Wortes “Trauer” meint, das: “scheint mir bei diesem Kontext auf eine bestimmte Lebenshaltung und nicht bloß Stimmung zu weisen”, allerdings wurde der Kontext in Wüste Mark Kolmen um die ursprünglich sehr konkreten Nach’Wende’-Bezüge gekürzt. Dadurch ist nun nicht mehr so eindeutig, ob es, wie Labroisse mit Blick auf den 1993er Text sagt, um: “Trauer in Hinblick auf das in der Geschichte immer wieder, zumal auf Dauer sich zeigende Versagen der Bemühungen um anderes, Besseres” geht.24 Der historische Kontext, der im späteren Gedicht geschildert wird, besteht aus Indizien, die das Ich in der Landschaft für Krieg, Tod und ideologische Verblendung findet. Von einem Bemühen um Besseres zeugen die Spuren in diesem Text kaum: die “Anstrengung” gilt hier höchstens den Bauten, die nach einer Zerstörung25 zum Überleben immer wieder errichtet wurden und werden (ob “Ort”, “Straßen[…]”, “Dörfer”, “Bäckerei”, “Hof ”). Die unmittelbare Landschaft wird nun, nachdem “Das Schlachtfeld” erwähnt wurde, im Enjambement auch gebrochen repräsentiert: “Na-/Poleonstein” sowie “Mon-/Archenhügel” – als Ergebnis der Schlacht erfolgte Napoleons endgültige Niederlage. Abgesehen von der gebrochenen Macht des Kaisers, die die Abtrennungen der ihn meinenden Substantive andeuten, geben sie die Bedeutungslosigkeit, die sie für die heutigen Bewohner der Gegend wohl haben, wieder (“Eigenheime , die / Ihre Erbauer vergaßen.”). Der Bezug auf Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung erfolgt nicht nur “in Brechung” (Labroisse),26 sondern auch als Präzision, denn die Satzstellung von ‘Welt’ wird hier durch das Substantiv ‘Geschichte’ eingenommen,27 steht durch das Enjambement allerdings in der Zeile vor “Als Wille und Vorstellung”, während das ursprünglich an erster Stelle stehende ‘Welt’ zwar nach hinten gerückt ist, aber in derselben Zeile gleich anschließt. Nachdem in der vorigen Strophe mit den Substantiven ‘Zeichen’ und ‘Wort’ auf menschliche Kommunikation verwiesen wurde, thematisiert diese Strophe in dem Rahmen explizit Wahrnehmung, Bedeutungszuschreibung, auch durch 24
Labroisse (Anm. 6). S. 68. Die Zerstörer sind immer nur für kurze Zeit da und bauen folglich “Zelte”. 26 Ebd. 27 Statt “Die Welt ist meine Vorstellung” müsste der Eingangssatz aus Schopenhauers wichtigstem Werk also für Czechowski lauten “Die Geschichte ist meine Vorstellung” (vgl. Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Stuttgart/Frankfurt/M. 1960. S. 31). 25
328 (ver)bildende Kunst, sowie, als menschlicher Kommunikation zugrunde liegend: Erinnerung (und damit verbunden das Vergessen). Das “weiße […] Papier”, mit dem die nächste Strophe abgeschlossen wird, nachdem mit dem “Ölberg” auf den Park und das 1913 erbaute Krematorium von Görlitz Bezug genommen ist, lenkt das Thema Kommunikation poetologisch wieder auf das Schreiben. Das reine Papier kontrastiert mit den Worten auf den rostenden Tafeln auf der Gletschersteinpyramide,28 “ein großes / Jahrhundert verkündend”, ein Jahrhundert, von dem wir heute aber wissen, dass es das nur zum Teil war. Zu seinem Beginn konnte man allerdings noch auf eine “Auferstehung” nach überstandenem Leid hoffen: Die Geschichte hat uns überholt, Grinsende Radfahrer Auf der Straße nach Baalsdorf. Letzter Gruß Aus der Flasche. Einziger Ort Zum Aufbruch in die Vergangenheit: Wüste Mark Kolmen.
Es ist unklar, ob die Radfahrer mit dem “uns” identisch sind, ein letzter Gruß als Flaschenpost (das Gedicht?) mag als Bild für die gedankliche Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gedeutet werden. Wolfgang Ertl liest darin einen Widerspruch: “Das Gedicht endet mit einer paradoxen Geschichtsbetrachtung, indem die Rückbesinnung auf die Geschichte der heimatlichen Landschaft als Aufbruch des Dichters verstanden wird”29 – aber genau das ist das immer wiederkehrende Thema in Czechowskis Lyrik: die buchstäbliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit, die mal als Landschaft, mitunter als Privates, manchmal auch als Text daherkommt. Die
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Die 1903 errichtete Gletschersteinpyramide befindet sich in Görlitz, in der Nähe des Leipziger Völkerschlachtdenkmals. Die Tafelinschrift lautet: “In der um Jahrtausende zurückliegenden Eiszeit haben die gewaltigen Gletscher Skandinaviens ihre südlichen Ausläufer bis in diese Gegend erstreckt und zahlreiche Steine aus Schweden mit sich geführt und hier abgelagert. Aus solchen Steinen ist im Jahre 1903 von der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN CREDITANSTALT und DER LEIPZIGER IMMOBILIEN GESELLSCHAFT IN LEIPZIG in deren Felder sie zerstreut eingebettet lagen dies Denkmal hier am Fundort errichtet worden. Das Denkmal steht im Schutze edler Menschen” (vgl. http://www.uni-leipzig.de/~minkrist/pdf/IMKM_pyramide.pdf. Stand 19.05.2008). 29 Ertl (Anm.2).
329 “Wüste Mark Kolmen” dieses Gedichts fungiert wie der Text selbst in dieser Hinsicht als Sinnbild. Es ist der Ort, der nicht erst von Napoleon 1813, wie Ertl suggeriert, zu einer verlassenen weil zerstörten Örtlichkeit gemacht wird,30 sondern die “Ortswüstung im SO der Flur Holzhausen”31 wurde als Kolmyn bereits 1335 “von seinen Bauern aufgegeben”.32 1377 bestand die Bevölkerung dann wieder aus 14 Hufen, aber zu einer wirtschaftlich blühenden Landschaft hat die ‘wüste Mark’ sich nicht mehr entwickelt. Auch wenn das desolate Bild des Textendes sich in der Namensnennung auf den Anfang des 20. Jahrhunderts bezieht (als noch “die Auferstehung / Einprogrammiert” schien) und dieses Bild mit dem des Textbeginns als deckungsgleich erscheint, liegt doch dazwischen die Geschichte – des 20. Jahrhunderts, aber auch die längere, die, nimmt man die Ortsbezeichnung als Indiz, seit dem vierzehnten Jahrhundert währt. Mit der des 20. Jahrhunderts verbindet sich auch die Lebensgeschichte des Ich, das sich als Zeichensetzer und mit einer “Kindheit […], / So fern, / Als hätte es sie / Niemals gegeben” explizit einbringt. Anders als Gerd Labroisse, der diese das Gedicht abschließenden Zeilen im Kontext der früheren Prosateile lesen musste (und der dabei den Bezug zur Leipziger Gegend hier nicht aktivierte), kann ich in ihnen keine “angedeutete Verweigerung”, keine “Chance” sehen, “nicht in diese Vergangenheit aufzubrechen und sich damit in ein Abseits zu stellen.”33 Denn in dieser Fassung des Gedichts wird gerade demonstriert, wie wichtig die Vergangenheit ist, um die Gegenwart kennen zu lernen. Gegenwart ist das “hier” der ersten Zeile, in dem allerdings die Spuren einer langen Geschichte – zumindest für das Ich unübersehbar – sichtbar sind. Gegenwart ist so betrachtet ein beliebiger Punkt zwischen einer schier unendlichen Vergangenheit und einer unüberschaubaren Zukunft, für die das ‘hier’ auch bereits wieder Geschichte sein wird. Anders als andere, vorangegangene Texte wie Schopenhauers oder der auf dem Denkmal präsentiert sich dieses Gedicht eher als vor allem dem sorgfältigen Betrachter auffallende ‘Flaschenpost’ denn in einem Gestus mit großem auf die Zukunft gerichtetem Anspruch. 30
Ertl: “Der Titel des Bandes stammt aus dem mehrstrophigen Gedicht ‘Entwurf einer Biografie’ und bezieht sich auf eine 1813 durch Truppen Napoleons zerstörte wüste Mark in der Nähe von Leipzig” (ebd). 31 Vgl.: Digitales Historisches Ortsverzeichnis Sachsen (http://hov.isgv.de/Kolmen; Stand 20.05.2008). Eine Flur ist laut Duden eine “nutzbare Landfläche”, während Kolm oder Kulm eine “abgerundete [Berg]kuppe” bezeichnet. 32 http://www.holzhausen-sachsen.de/orts-chronik/index.htm (Stand 21.05.2008). Spätere Ortsnamenformen lauteten dann: 1350: villa Koln desolata, Kolmen ; 1377: Kolmen, daz wuste Dorf; 1379: in villa Colme, quae rustici de Holczhusen et Syfrishayn colunt (CDS II/9/124); 1524: Kolmer marck; FN: Wüste Mark Kolmen (um 1900). Vgl. Digitales Historisches Ortsverzeichnis Sachsen, a.a.O. 33 Labroisse (Anm. 6). S. 69f.
330 … nach Westfalen Ein Vergleich zwischen dem Titelgedicht des 1997er und dem des 1998er Bandes bringt textstrategische Unterschiede und Übereinstimmungen an den Tag. Auch in ‘Mein westfälischer Frieden’34 ergibt sich Bedeutung aus einem Zusammenspiel von an große Geschichte alludierenden Partien, Landschaftsbeschreibungen, Gegenwartsbezügen und Ich-Zustandsbeschreibung. Hier dauert es allerdings bis zur letzten, achten Strophe, bis das Ich sich explizit selbst einbringt. Implizit könnte bereits die erste von ihm sprechen, wenn nicht ihre letzte Zeile deutlich macht, dass stattdessen die Gegend, Westfalen eben, gemeint ist: Eine lastende Müdigkeit, vermischt Mit Lachsalven, Himmelsgewölk, darin, Aufblitzend, Gucklöcher Ins Jenseits: Bier und Korn, Holländisch Als Fremdsprache Numero eins.
Das wird dann in der zweiten bestätigt, auch die Verbindung zwischen dieser äußerst westdeutschen Region und dem Nachbarland Niederlande wird noch einmal herausgestellt: Einmal, Man hat es vergessen, Wäre Westfalen Fast eine niederländische Provinz Und damit spanisch geworden.
Die Allusion an die zum Westfälischen Frieden (1648) führende politische Konstellation in Europa erinnert an etwas, das zwar vom “man” “vergessen” ist, vom lyrischen Ich aber, sofern es sich später als Fokalisator erweist, mitnichten. Die Suche nach Zeichen in der Landschaft, die an diese historische Episode erinnern, ist, so macht die dritte Strophe klar, wenig ergiebig: lediglich Hünengräber aus einem sehr viel älteren Geschichtsabschnitt und “bestenfalls noch ein paar Kirchen” aus der besagten Zeit bilden die Auffälligkeiten dieses “platte[n] Land[es]”. Die Gegenwart macht sich in Form von “Gestank von Schweinekadavern”, bemerkbar, der von dem “angeblich größten / Schweineschlachters Europas” herübergeweht kommt. Die sechste Strophe nimmt wieder Bezug auf die Vergangenheit, diesmal auf die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts, die Holländer, Friesen und Münsteraner im von ihnen ‘Neues Jerusalem’ genannten Münster versammelte und die die Stadt 1534/5 anderthalb Jahre lang zu einem unabhängigen Stadt-Staat machte, in der die Gütergemeinschaft sowie 34
In: Mein westfälischer Frieden (siehe Anm. 4). S. 90f.
331 Vielweiberei eingeführt wurden.35 Vom “Traum der Gleichheit”, durch ein Fragezeichnen ohnehin schon angezweifelt, ist heute nichts mehr zu erkennen, die “Vielweiberei” lediglich dann noch eine “Vision”, so das Gedicht ironisch, wenn sich auf dem Schützenfest “[d]ie Leiber vermischen”. Ansonsten erinnert noch das grinsende “Conterfey” des Schöppinger Täuferführers “Krechting[…]” an die damalige ‘Utopie’. In der letzten Strophe wird das Wort “Traum” aus der sechsten Strophe noch einmal aufgegriffen und auf das lyrische Ich bezogen: […] Manchmal Träume auch ich, Ein paar Jahrhunderte später, Den Traum Von meinem westfälischen Frieden.
Die ironische Bitterkeit, mit der in den Strophen vor dieser abschließenden bereits über den “Traum von der Gleichheit” (im Namen einer totalitären – sozialistischen oder theokratischen – Ideologie) geschrieben wurde, sowie die Erkenntnis, dass es in der konkreten Landschaft sichtbare und damit unmittelbar im Alltagsleben erfahrbare Folgen des politischen Westfälischen Friedens für die Gegenwart kaum noch gibt, sorgt dafür, dass diese abschließenden Zeilen nicht unbedingt positiv gelesen werden, sondern im Gegenteil mit einiger Skepsis in Bezug auf das Gelingen des Projekts des privaten westfälischen Friedens. Im Vergleich mit ‘Entwurf einer Biografie’ fällt der eher distanzierte Gestus dieses Textes auf; zwar ist das Ich – durch die letzte Strophe auch rückwirkend – als Fokalisator zu betrachten, explizit als ‘Zeichensetzer’/ Schriftsteller bringt es sich aber nicht ein. Die Zeichen der Landschaft sind, so hat es den Eindruck, nicht seine, und die vergessene Geschichte ist die anderer: “Man hat es vergessen” (Kursivierung von mir, A.V.). So erscheint die Spurensuche nach gelebter Vergangenheit in diesem Gedicht eher als Versuch einer Aneignung denn als Ausdruck einer erfahrenen Erinnerung. Wir Leser können u.a. durch dessen Autobiografie wissen, dass der Lyriker Heinz Czechowski tatsächlich von Sachsen nach Schöppingen, Westfalen gezogen ist, in einem Versuch, sich dort anzusiedeln.36 Das ist aber an sich kein Grund, diesen lyrischen Text vorschnell und ausschließlich auf den das Leben des Autors betreffenden Gehalt festzulegen. Gerade ein Vergleich zweier Texte, 35
Vgl. u.a. Thomas Seifert: Die Täufer zu Münster. Münster 1993 sowie Hubertus Lutterbach: Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt (Geschichte des Bistums Münster Bd. 3). Münster 2006. 36 Siehe Anm. 4.
332 die ähnliche Ingredienzien einsetzen, zeigt Unterschiede, wenn es um die Thematisierung von Erinnern und Vergessen, von ‘großer’ und ‘kleiner’ Geschichte geht. Und es ist schließlich die Machart, die Art und Weise, wie ein Thema umgesetzt wird, die das Gedicht ausmacht. Die beiden hier analysierten Gedichte zeigen auf unterschiedliche Weise eine Verflechtung von regionaler, autobiografischer und (über)nationaler Geschichte. Schnittpunkt dieser drei Ebenen ist in beiden Fällen das lyrische Ich.37 Wenn dieses Ich sich mit Nachdruck als in der Landschaft – wenn vielleicht auch ‘eingewiesenen’ – Heimischen zu erkennen gibt, stellt sich ein über die konkrete Erfahrung hergestelltes Erinnern ein, das allgemeinere Gültigkeit beansprucht. Wenn das lyrische Ich sich in Bezug auf die Umgebung aber auf Distanz hält, ist ein Abstand zwischen Ich und großer Geschichte ebenso vorhanden. In ‘Mein Westfälischer Frieden’ erschöpft sich diese Distanznahme denn auch keineswegs im Privaten, wird doch, wie bereits ausgeführt, eine Skepsis dem “Traum von der Gleichheit” gegenüber zum Ausdruck gebracht, die umfassend ist. Der Band Mein Westfälischer Frieden macht, und das ist in unserem Zusammenhang von Interesse, auch ohne dass man die Autobiografie zu Rate ziehen oder andere Äußerungen zur Kenntnis nehmen würde, die das Privatleben des Lyrikers ausplaudern, deutlich, dass Westfalen dem Ich fremd ist:38 “hier / steht keiner der Füße / In der Vergangenheit.”39 Das soll nicht aus rigider Abneigung gegen biografische Lesarten betont werden, sondern will ausdrücklich verstanden sein als Hinweis auf das ästhetische Konzept des Gedichtbands, das – bei allen möglichen Bezügen auf das Leben des Autors – Ernst genommen werden sollte. Wie bereits in früheren fungieren auch in
37
So ist das m.E. präziser formuliert als es Ian Hilton in Bezug auf das Gedicht ‘In aller Stille’ tut: “Czechowskis close identification with the regional landscape enables the poet therefore to contemplate the course of European history (and, by extension, world events) in his hearthland from earliest times” (in: Heinz Czechowski: The Darkened Face of Nature. In: German Literature at a Time of Change 1989–1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective. Hg. von Arthur Williams et. al. Bern u.a. 1991. S. 401–412. Hier: S. 409. Auch Wolfgang Ertl bleibt für meine Begriffe zu allgemein, wenn er in Bezug auf Nachtspur sagt: “Es ist kein Tagebuch, sondern eine in sieben größere thematische Abschnitte untergliederte Sammlung von Texten, die tagebuchähnlichen Charakter aufweisen, da sie, meist datiert, zum Tagesgeschehen Stellung beziehen, dieses […] vor dem Hintergrund persönlicher Lebenserfahrungen und im weiteren historischen und politischen Kontext reflektieren.” (In: Sonnenhang und Nachtspur: Reiner Kunzes und Heinz Czechowskis poetische Positionen im Zeitgeschehen um die Wende. In: The Germanic Review 70 [1995]. S. 145–152. Hier: S. 148.) 38 Das kommt u.a. in den Texten auf den Seiten 24, 35, 44, 88f., 92, 93ff. – aber durchaus auch in anderen – zum Ausdruck. 39 ‘Auch hier in Westfalen’. In: Mein Westfälischer Frieden (Anm. 4). S. 93.
333 diesem Band häufig Texte und Leben vergangener Autoren als historische Zugangsmöglichkeiten zur Gegenwart:40 “Nur die Droste, / Die auch mit sich / Keinen Frieden fand, / Rufe ich ab und zu an” – allerdings ist der Erfolg nicht immer gegeben: “Ihre Antworten, / Freilich, / Stehen dahin.”41 Das Gedicht kommt so gesehen dann als private Mitteilung daher, wenn das Ich komplett losgelöst ist von allem Zugang zur großen Geschichte. Beispiele dafür finden sich in ausreichendem Maße.42 Hin und wieder gelingt es diesem Ich aber durchaus, sich in eine ‘Umgebung’ aus Kunst – aus Büchern und Musik – einzufinden und Künstlerleben als Identifikationsangebote wahrzunehmen. Dann sind Texte zu lesen wie ‘Nehmen wir an’:43
NEHMEN WIR AN, Liszt zeugte Cosima Mit der Gräfin D’Agoult Vielleicht während einer Siestastunde in Bellagio; Nehmen wir an, Marinetti Starb im Jahre 1944 unweit der Villa, In der Liszt mit der Gräfin D’Agoult Cosima zeugte in einem Mit weißen Schleiern verhangenen Bett, Die später Bülow heiratete und mit Wagner Einen saftigen Ehebruch beging; Nehmen wir an, Du und ich Sitzen an einem Tisch Am Ufer des Sees und sprechen Über die Liebe, die Poesie und andere Ziemlich gleichgültige Dinge – ich jedenfalls Muß in dieser Stunde begriffen haben, Wie sehr ich dich liebe und auch, Wie im Angesicht von Cadenabbia Dem Tode schon anheimgegeben, Wer die Schönheit geschaut, Wie es Platen vorausgesagt hat… Das ganze
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Gestern Haben sie mir Einen Todeskandidaten Ins Zimmer gelegt, Dem das Wasser Schon buchstäblich Bis zur Herzspitze stand. Heute Fühle ich mich Den ganze Tag schon gezeichnet und Von Gott und der Welt Verlassen wie nie, Selbstmitleid Ist dafür Das geläufige Wort. Ach, ich verstehe, Wie schlimm es ist, Aus der Welt gehen zu müssen, Wenn der Altweibersommer Über den Wiesen steht Und der weiße holländische Kirchturm Aus der Ferne leuchtet und man weiß, Daß man nun endgültig nie Einen Alfa Romeo fahren wird.
Annette von Droste-Hülshoff wird in Mein Westfälischer Frieden als westfälische Autorin häufiger bemüht. 41 Ebd. 42 So z.B. auf den Seiten 30, 50f., 57, 58f., 70, 71, 78, 82, 83, 84, 85f., 96. 43 ’Nehmen wir an’. In: Mein Westfälischer Frieden (Anm. 4). S. 62–64.
334 Leben, So scheint es mir jetzt Im Krankenbett, Ist ein intertextueller Bezug: Wie Soll ich reden, ohne zu schweigen, wie Schweigen, ohne zu reden… Wittgenstein Hatte gut reden vom Schweigen, ich aber, Ein Mann, der am Tropf hängt, Kann kaum eine Frau überzeugen, Daß ich auch Geliebt werden will inmitten Meiner westfälischen Abgeschiedenheit, Den Knopf im Ohr, aus dem Das a-moll-Konzert von Schumann erklingt, Den Wagner Einen süßlichen Sachsen genannt hat. Alles Unerhebliche Ist nur ein Gleichnis: am Rande des Grabes Wird der Blick schärfer, auch Entlegene Dinge erhalten Kontur. Von Hans-Erich Nossack Habe ich wenig gelesen, Erfurt Ist mir im Augenblick Eine zu ferne Stadt, aber ich hätte Sie gerne noch einmal Wiedergesehen mit ihren Stasidurchschwitzten Gemäuern. Komm doch, o Komm – gesungen Von einer Sopranistin In der Thomaskirche zu Leipzig… Welch Netz, Gewoben Aus den heterogensten Fäden Des Weltaugenblicks, von dem Im Fall von Chopin Überliefert wurde: Er Erkältete sich und starb… Das Ist alles, meine Damen und Herren,
Das Schlimmste im Leben ist, Allein sterben zu müssen Und von keinem Menschen Die Hand gehalten zu bekommen, Vielleicht, Weil es Sonntag ist Und die Fenster Geputzt werden müssen Oder Tante Lilo In Bad Bevensen Geburtstag hat oder An der Dissertation Über die Rolle der Hämorrhoiden Im Hause der Hohenzollern Gearbeitet werden muß, im übrigen Sowieso niemand Zeit hat, daran zu denken, Was Sterben Für eine verdammt harte Arbeit ist… Am Ende fragt man sich doch, Was man falsch gemacht hat, Wenn die Freunde ausbleiben… Aber bin ich denn An gewisse Krankenhausbetten gefahren, Habe ich denn die Hände Meiner sterbenden Mutter Und meines sterbenden Vaters gehalten? Wo war ich? Wo Bin ich? Daß es hinüber geht, Wußten die Alten schon. Doch wohin? Daß der Tod keine Sinnkrise ist, Ist gewiß. – Statt ins Gras Beißen wir jetzt ins Mundstück Des Atemgeräts, statt mit wehender Flagge Sinken wir Mit eingezogenem Schwanz In das Nichts. Die gekreuzten Schwerter Finden die Erben bestenfalls Auf einem Stück
335 Insbesondere Sie, Mylady, Ob in Bregenz, Düsseldorf oder Schöppingen, Wollte ich damit erreichen, so lang die Hand Noch nicht ihren Dienst verweigert.
Meißischen Porzellans, Wenn es gut geht…
Ohne eine vollständige Interpretation dieses langen Gedichts leisten zu wollen, möchte ich auf ein paar für meine Ausführungen relevante Aspekte doch eingehen. Das vorherrschende Thema des Gedichts wäre auf den ersten Blick als die große Liebe und der (Liebes-)Tod zu bezeichnen: Liszt und Marie D’Agoult, Cosima und Wagner (für den sie Bülow verließ) und dann in der Literatur selbstverständlich Tristan und Isolde, das Liebespaar, auf das nicht nur durch die beiden Letzterwähnten, sondern auch durch das leicht veränderte Zitat von Platen verwiesen wird: “Wer die Schönheit geschaut, / Wie es Platen vorausgesagt hat…”. In Platens Gedicht ‘Tristan’, das für Wagners Oper Tristan und Isolde aus dem Jahr 1825 eins der Leitbilder war, bezieht sich die Vorhersage auf den Tod: “Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben”. Das ist in Czechowskis Text etwas verdeckter, ist doch bei ihm das Angeschaute doppeldeutig: es geht nicht nur um die Schönheit des ‘Du’, sondern zumindest auch um die des Ortes Cadenabbia. Wagner und seine Oper fungieren durch den Rest des Textes hindurch als eine Art Leitmotiv, es ergeben sich stets wiederkehrende Assoziationen, die mit Wagners Leben und Werk locker verbunden sind. Das ‘Wir’, mit dem der Leser sich bereits in der ersten Zeile angesprochen meint, spaltet sich in der 13. Zeile in ein ‘Du’ und das lyrische ‘Ich’ auf. Dieses zumindest im Nachhinein vom Ich so betrachtete Liebespaar, in dem das Ich sich mit dem Bezug auf den Platen-Text mit Tristan gleichsetzt, kann, so decken die restlichen Zeilen allmählich auf, lediglich als Parallele zu Tristan und Isolde funktionieren, indem das Ich seinen wie er annimmt nahen Tod mit Rückblick auf eine Begegnung mit dem ‘Du’ am Comersee als Liebestod umgestaltet. Witzig oder ironisch ist es in diesem Zusammenhang, wenn von dem Gespräch zwischen den beiden gesagt wird, es hätte sich um “die Liebe, die Poesie und andere / Ziemlich gleichgültige Dinge” gehandelt (Kursivierung von mir, A.V.). Wie lange das her ist, ist nicht angegeben: “ich jedenfalls / Muß in dieser Stunde begriffen haben, / Wie sehr ich dich liebe” – wonach der
336 Bezug zum Platen-Text hergestellt wird. Das Präsens und der identische Wortlaut der beiden Wortgruppen “Nehmen wir an” geben vor, es handele sich hier wie bei den vorangehenden Zeilen über Cosima (und Wagner) um vermutete Begleitumstände zu feststehenden Tatsachen. Interessant ist nun, dass die in den ersten Zeilen angeführten Fakten Cosimas Lebenslauf folgten, das – wohl weibliche – ‘Du’ aber abgesehen von einer vom ‘Ich’ vor Augen geführten Szene (“Nehmen wir an”) völlig abwesend bleibt. Um ihr Leben, um ihre Liebe geht es nicht – das ‘Ich’ braucht seine angenommene Liebe vor allem, um sich und seinen Tod als Tristan inszenieren zu können – als Phantasie über die Identifikation mit in der Kunst aufgegangenen Leben: “Das ganze Leben […] ein intertextueller Bezug”. Faktenähnliche Informationen sind hier nicht auszumachen. Im nun folgenden Teil entsteht ein Netz aus romantischer Musik, weltlicher und religiöser Liebe (Mystik) und Todesahnung, in das das gegenwärtige – todkranke – Ich sich mit seiner – ebenfalls ‘kranken’ – Vergangenheit wie eine Spinne selbst einwebt. Das hochromantische “a-moll-Konzert von Schumann” wird abgelöst durch das von Zumsteeg 1803 vertonte ‘Trudchen’ des Annette von Droste-Hülshoff-Förderers Anton Mathias Sprickmann, in dem ein hinterbliebener Liebhaber seine tote Geliebte besingt und in den letzen Zeilen auf seinen eigenen baldigen Tod hofft: “so komm doch, o komm / du Freund mit der Sense, ich lebe ja fromm”, während der dritte Komponist, der in diesem Teil erwähnt wird, keine Musik, sondern nur noch seinen von der Form her undramatischen Tod beisteuern kann: “Er / Erkältete sich und starb…”.44 Wenn angeführt wird, dass Schumann “Einen süßlichen Sachsen” genannt wurde – nicht von Wagner übrigens, sondern von Nietzsche45 –, so ist das zugleich ein Hinweis auf das Ich selbst, das sich damit implizit in die Reihe der genannten Künstler fügt. Mit den Städten Leipzig (wo die von ihm gehörte Aufnahme der Zumsteeg-Vertonung angeblich aufgenommen wurde) und Erfurt sind weitere Andeutungen auf das Leben des Ich gegeben. Im Falle Erfurt geschieht das ohne Bezug zur Kunst, sondern im Gegenteil ausschließlich durch Nennung einer hässlichen Seite der unmittelbaren DDR-Vergangenheit: die Stasihaftanstalt in der Andreasstraße. Mit dem aus Anti-Hitler-Gesinnung der KPD beigetretenen Hans-Erich Nossack ist der Autor erwähnt, der 1948 mit seinem Roman Bombenkrieg als einer der ersten die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte literarisch verarbeitete – wenn wir das Ich dieses Gedichts 44
In Wirklichkeit war Liszt bereits lange krank. Im vierten Teil von Ecce homo: “Die Deutschen sind unfähig jedes Begriffs von Grösse: Beweis Schumann. Ich habe eigens, aus Ingrimm gegen diesen süsslichen Sachsen, eine Gegenouvertüre zum Manfred componirt, von der Hans von Bülow sagte, dergleichen habe er nie auf Notenpapier gesehen: das sei Nothzucht an der Euterpe.”
45
337 mit anderen Ichs in Czechowskis Lyrik gleichsetzen (oder mit dem Autor selbst), ergibt sich daraus eine Allusion an den Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945, ein immer wiederkehrendes Thema Czechowskis.46 Es hat fast den Anschein, als wäre das Gedicht mit den nachfolgenden Zeilen zu Ende, in denen das Ich sich nicht nur als Autor zu erkennen gibt, sondern ausdrücklich auch um die Aufmerksamkeit der Leser bittet. Es erweckt den Eindruck, als ginge der zuvor geäußerte inbrünstige, allerdings wohl vergebliche Wunsch, in seiner momentanen Situation von einer Frau geliebt zu werden, nun in einen anderen über, nämlich von den Lesern geliebt oder zumindest wahrgenommen zu werden. Die zweite Hälfte des Textes verlässt bis kurz vor dem Ende die Ebene der kanonisch-romantischen Literatur und Musik und verwortet die banale Krankenhausgegenwart des Ichs. Die sich anbahnende Sterbestunde hat in Wirklichkeit nichts Heroisches, sondern ist durchdrungen von Selbstmitleid und dem Gefühl des Bedauerns (“Daß man nun endgültig nie / Einen Alfa Romeo fahren wird”, heißt es selbstironisch). Bis dann der Faden zum ersten Teil in abgewandelter Form wieder aufgegriffen wird: “Das schlimmste im Leben ist, / Allein sterben zu müssen”. Mit diesen Zeilen wird nicht nur eine einfache und konkrete Mitteilung gemacht, die in den nächsten Zeilen fast sarkastisch weitergeführt wird, sondern mit ihnen erfolgt ebenfalls ein Interpretationsangebot des in der Kunst tradierten Liebestods: Vielleicht ist es mitnichten die absolute, bedingungslose Liebe, die die Liebenden mit- und füreinander sterben lässt, sondern ‘ganz einfach’ die Angst vor dem einsamen Tod, die nur so oder in der Gemeinsamkeit mit Gott zu umgehen ist. Die Zeilen “Wo war ich? Wo / Bin ich?” kombinieren als Zitat genau diese beiden Optionen. Zum einen geht es hier um ein Zitat des Mystikers in der Nachfolge von Meister Eckhart, Heinrich Seuse, aus dessen “Entrückung”: “O weh, Gott, wo war ich? Wo bin ich nun?”, während der zweite Teil zugleich Tristans Ausruf aus dem 3. Aufzug, 1. Szene der Wagner-Oper zitiert, wenn er sich in der Tristanburg befindet, nachdem er sich von Merlot absichtlich hat verwunden lassen: “wo bin ich?”. Am Ende bleibt aber im Gegensatz die Feststellung, dass dem Tod, dem eigenen Tod (das “wir” verallgemeinert die zunächst auf das lyrische Ich bezogene Aussage) nichts Heldenhaftes anhaftet: “statt mit wehender Flagge / Sinken wir / Mit eingezogenem Schwanz in das Nichts.” Wenn das Zeichen der gekreuzten Schwerter in der Genealogie traditionell für den Soldatentod und damit für einen mutigen Tod im Dienste von etwas Großem steht (‘gefallen’ – für das Vaterland, für die Freiheit usw.), finden die Erben es höchstens als Markenzeichen auf dem Meißner Porzellan – “Wenn es gut geht…” 46
Er hat diesem Thema ein ganzes Buch (mit Texten aus den Jahren 1958–1989 und mit Zeichnungen von Claus Weidensdorfer) gewidmet: Auf eine im Feuer versunkene Stadt. Halle-Leipzig 1990.
338 Czechowskis Brille Auch wenn dieser Text nicht der letzte des Bandes ist, dürfte es den biografisch orientierten Leser doch wundern (oder besser: erfreuen), dass Wüste Mark Kolmen durchaus nicht die lyrische Produktion des Autors abschloss. Es folgte 2002 z.B. Seumes Brille. Noch mehr wird es manchen zum Staunen bringen, dass dessen Titelgedicht mit dem Ausruf beginnt: “Ja, ich glaube noch immer, / Daß sich das Gute durchsetzt”.47 Doch so eindeutig, wie es den Anschein hat, ist diese Aussage nicht. Sie wird gefolgt von einem Doppelpunkt, nach dem die restliche Strophe heißt: Am Ufer der Mulde Ist Seume gegangen, seine Brille Lag auf dem Arbeitstisch In Göschens Landsitz Hohenhaus, so Konnte er dies und das Nicht erkennen.
Entweder ist also die Eröffnungsaussage dem Fußreisenden, Schriftsteller und Klopstock-Herausgeber Johann Gottfried Seume zuzuschreiben, dann ist ihr allerdings kaum zu trauen, da Seume aufgrund seiner vergessenen Brille “dies und das / Nicht erkennen” konnte und somit durchaus gegen falsche Einschätzungen nicht gefeit war.48 Oder aber Seume samt vergessener Brille stehen Pate für eine dem lyrischen Ich zuzuschreibende Aussage – dann müsste in etwa die gleiche Einschränkung gelten, und dies mit den Schlusszeilen des Textes einmal mehr. Die mit der fehlenden Brille thematisierte Ungenauigkeit fungiert als Running-Gag des Gedichts. Nach meiner Kenntnis heißt das Göschen-Haus in Grimma-Höhnstadt (zugleich Seume-Gedenkstätte) nicht “Hohenhaus”, und das Ich zweifelt zurecht an der Korrektheit seiner Angaben (“wenn ich mich nicht täusche”), wenn es von der Eheschließung Luthers und Katarinas von Bora angeblich in Grimma spricht. Denn nicht in Grimma, sondern in 47
‘SEUMES BRILLE’. In: Heinz Czechowski: Seumes Brille.Gedichte. Düsseldorf 2002. S. 66f. Kai Köhler meinte in seiner Rezension für literaturkritik.de, im Titelgedicht seien “wesentliche Motive des ganzen Bandes angesprochen” (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5981&ausgabe=200305, Nr. 5, Stand 21.5.2008). 48 Ich habe den optimistischen Auftakt des Textes nicht als direktes Seume-Zitat identifizieren können, aber im Ton entspricht es dessen Einstellung durchaus. Vgl. z.B. die Zeilen im 2. Teil seines Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (Braunschweig und Leipzig 1803): “Wenn auch zuweilen eine Kakophonie mit unter läuft, tut nichts; sie können das Gute doch nicht ganz verderben, ebensowenig man es in der Welt durch Verkehrtheit und Unvernunft ganz ausrotten kann.”
339 Wittenberg fand die Trauung statt. Allerdings muss man dem lyrischen Sprecher seine Ungenauigkeit wohl verzeihen, denn Ich hätte Seumes Brille schon lange vergessen, Wär mir die eigene Nicht gerade zerbrochen…
so schließt das Gedicht. Mit diesem Ende stellen sich ein paar Daten zu Seumes Leben und Wirken generell als Identifikationsmomente für das lyrische Ich in Czechowskis Texten dar: sie haben die Gänge durch die Landschaften gemeinsam (auch wenn das lyrische Ich es nicht so weit wie Seume geschafft hat, der mit der Beschreibung seiner Fußreise von Grimma nach Syrakus bekannt wurde), beide geben sich mitunter als “Melancholiker und Hypochonder” zu erkennen, auch wenn Seume selbst den Begriff “Murrsinn” für seine Schwermut verwendete.49 Die, so die Inszenierung des Gedichts, durch die zerbrochene Brille verursachte ‘Unschärfe’ in der Darstellung des Göschen-Herausgebers und kulturhistorischen Schriftstellers Seume betrifft auch dessen Lebensende, das der Sprecher vorgibt nicht zu kennen: “Wo aber, / Frage ich mich, / Ist Seume begraben?”50 Die Lehre, nach der das Ich in der Mitte des Textes fragt, wäre wohl die, dass die spätere Erinnerung an einen Autor von Zufälligkeiten und Ungenauigkeiten bestimmt wird – nicht unbedingt sind es die Texte, die sie bestimmen.
Zum Abschluss Ausgewählt habe ich für die Analyse die Texte, die den Titel des jeweiligen Bandes markierten und somit als mehr oder weniger programmatisch angesehen werden können. Dazu genommen habe ich weiterhin solche, die für die Thematik von Schriftstellerbiografie und Ästhetik der Lyrik aussagekräftig sind. Aufgrund des beschränkten Umfangs dieses Beitrags kann die Zahl der Gedichte darüber hinaus selbstverständlich keine statistische Repräsentanz beanspruchen. Trotzdem meine ich dargelegt zu haben, dass eine einseitig biografische Lektüre von Czechowskis Lyrik weder angemessen noch besonders ergiebig ist, auch wenn die Gedichte diesen Zusammenhang nicht selten implizit oder explizit thematisieren. Außerdem habe ich gezeigt, dass scheinbar eindimensional auf das Alltägliche bezogenen Texten – die im Gegensatz zum 1994 von Labroisse festgestellten Trend nicht weniger geworden sind51 – im
49
Ebd. S. 42. Seume starb während einer Kur in Teplice (heute Treplitz), wo er auf dem katholischen Friedhof, heute ein Park, auch begraben ist. 51 Der von Labroisse benannte Trend des Zurückgehens von direkt politischen Aussagen hat sich hingegen gehalten. 50
340 Gesamtkonzept eines Bandes durchaus eine ästhetische Funktion beigemessen werden muss, die über dieses Triviale hinaus geht. Und das ist noch einmal abgesehen von solchen Gedichten, die lediglich vorgeben trivial zu sein. Ansonsten ist dem durchaus komplexen Zusammenspiel von persönlicher Erinnerung und von durch die Wahrnehmung der Umgebung ausgelösten Gedankengängen in die (über)nationale Geschichte, die die Literatur durchaus einschließt, soviel literarisch-ästhetischer sowie inhaltlicher Reiz abzugewinnen, dass es für noch viele eingehende Betrachtungen professioneller Leser reichen dürfte.
Monika Shafi
Housebound: Selfhood and Domestic Space in Narratives by Judith Hermann and Susanne Fischer This article examines the depiction and role of domestic space and houses in the short stories “Zuhälter” (2003) and “Sommerhaus, später” (1998) by Judith Hermann and the novel Die Platzanweiserin (2006) by Susanne Fischer. It argues that the focus on home and houses grates against the characters’ urban mobility and mindset and that these texts attempt to invert the dichotomy of private and public space by endowing the city with “homely” features and portraying the home as alienating. Moreover, the quest for shelter and selfhood is also associated with the dilapidated, ugly or haunted house. By appropriating the haunted house motif, these narratives rework Romantic and Gothic traditions that reveal the women characters’ deep-seated lack of selfhood that relates to contemporary patterns of commitment and autonomy.
Houses are powerful objects that impact and shape an impressive range of personal and public interests. Providing for our most basic needs, offering both shelter and identity, and representing specific historical formations, houses virtually touch upon all aspects of individual needs and collective organization. As an intensely emotional experience, a major financial investment and a material reality embedded in architectural, aesthetic, and social traditions, the house, in the words of two critics “simply is society, is history, is life itself in all its contradictions and confusions”.1 To understand these contradictions and confusions, they argue, one must analyze domestic space “for it is here […] that the human subject is constantly constructed and deconstructed” (Smyth and Croft, 25). Despite this almost primordial quality of house and housing, German Cultural Studies has not paid too much attention to the study of domestic space. Its current focus on issues of migration and memory privileges more overtly political, historical, and urban topics, such as Berlin’s shifting metropolitan landscape, reconfigurations of national past and identity or multiculturalism.2 1
Gerry Smyth and Jo Croft: Introduction: Culture and Domestic Space. In: Our House: The Representation of Domestic Space in Modern Culture. Ed. by Gerry Smyth and Jo Croft. Amsterdam 2006. P. 25. 2 See, for example, the recent studies German Culture, Politics, and Literature into the Twenty-First Century: Beyond Normalization. Ed. by Stuart Taberner and Paul Cooke. Rochester: Camden 2006; Recasting German Identity: Culture, Politics and Literature in the Berlin Republic. Ed. by Stuart Taberner and Frank Finlay. Rochester – New York: Camden 2003; Stephen Brockmann: Literature and German Reunification. Cambridge: Cambridge University Press 1999.
342 Yet each instance of migration or displacement corresponds to a prior placement, however fraught or tentative, and studying this placement can complement our understanding of movements across time and place.3 Also memories of the past, of loss hinge on the placement of people or objects, often located in the house of childhood. Overlooking the house, a crucial point of origin and orientation, thus risks ignoring how personal space represents and constructs selfhood and how it interacts with gendered, cultural or national identity. Like its counterpart urban space, domestic space can, in a different key, powerfully register changing conditions of contemporary existence. Domestic space is, of course, intimate and deeply gendered space, and it is closely linked to the history of the bourgeois family. One could thus assume that contemporary women authors such as Judith Hermann, Karen Duve, Zoë Jenny or Susanne Fischer known for featuring cool characters, i.e. women protagonists who want no truck with the domestic middle class life of their parents and its entanglements in routine and responsibility, keep far away from the house. Surprisingly, however, houses are given a significant role in their work. The novels Regenroman (1999) by Karen Duve and Die Platzanweiserin (2006) by Susanne Fischer elevate houses almost to the status of protagonists, Jenny and Hermann feature houses and rooms already in the titles of their texts (Blütenstaubzimmer, 1997, Sommerhaus, später, 1998) and a wave of family and (auto)biographical narratives of recent years are equally invested in housing issues.4 How then to explain this persistent interest in rooms, apartments and houses that goes well beyond the pragmatics that fictional characters, too, need a place to live? Specifically, how do women writers appropriate houses and domestic space and how are these connected to gendered selfhood at the beginning of the twenty-first century? To answer some of these questions, I would like to take readers on a brief house tour and show a few dwellings that allow us to gain insight into some current cultural, social, and literary trends. There are many houses to choose from in the literary real estate market, but the most intriguing ones are the odd homes that defy standards of comfort and beauty. These are the ugly or decrepit places, the run-down house in the countryside, the bleak apartment or the shabby postwar row house evoking the uncanny and the haunted house of the gothic. Such places appear prominently in Hermann’s two short-story collections (Sommerhaus, 3 See Erica L. Johnson’s comparative study, Home, Maison, Casa. Madison: Fairleigh Dickinson University Press 2003. Johnson emphasizes the complimentary relationship between displacement and placement. Here: p. 19. 4 Examples include Arno Geiger: Es geht uns gut. Frankfurt a.M.: Deutscher Taschenbch Verlag 2007; Zafer S¸enocak: Gefährliche Verwandtschaft. Bonn: Babel 1998. Monika Maron: Endmoränen. Frankfurt a.M.: Fischer 2002. See also Gregor Hens: Himmelssturz. München: Goldmann 2004.
343 später and Nichts als Gespenster, 2003) as well as in Susanne Fischer’s recent novel Die Platzanweiserin (2006) and they will thus be the focus of this article. Their strangeness, reminiscent of the abject, reflects both contemporary conditions of globalization and also Romantic and fin-de-siècle literary traditions.5 I will argue that both authors invert the dichotomy of private and public space and the values associated with them. Public venues, the city, its roads and underground lines or the darkened cinema are often endowed with domestic features such as intimacy and shelter while the domestic realm appears as uncomfortable, alienating, and even haunted. Yet, the public arena is not equipped to fulfill such prospects, and the quest for authenticity and selfhood continues to persist and is projected onto the “other” house, the dilapidated, the haunted house. However, this “house of horror”, evoking one of gothic’s favorite locales, is no longer haunted by ghosts from the past but by the horror of the ennui and the everyday. Reminiscent of the “architectural uncanny”, as Anthony Vidler called the anxiety of the bourgeois of not being at home in his own house,6 the uncanny today appears as the fear of a pervasive, limitless void and tedium and a profound inability to face commitment. In this contemporary form of estrangement, anxiety does not stem from the unsure footing in newly formed social structures or the fear of losing newly acquired stability. In contrast to these nineteenth-century uncertainties, today’s concerns seem to ride on the inability to produce meaning from any of the traditional identity markers, such as profession, political engagement and especially relationships. Yet, the refusal to engage with bourgeois standards, as represented by the parental generations, goes along with maintaining the old grammar of social distinction that also guided their predecessors. The protagonists in Hermann’s and Fischer’s narratives despise the routine mediocrity of those anchored in fixed spaces and schedules which they wish to replace with free-lancing, free-living, free-loving lifestyles, but their insistence on arbitrary choices remains wedded to the very bourgeois values of hierarchy, social class, and perhaps most importantly, cultural capital, all of which are powerfully negotiated through house terms. Among the young generation of contemporary German women writers, the cohort born in the early seventies which has developed into an influential and innovative force in the Berlin Republic, Judith Hermann appears to have attracted the most scholarly interest.7 Although her œuvre is slim, comprising 5
An excellent discussion of the Romantic affinities in Hermann’s narratives is provided by Thomas Borgstedt: Wunschwelten: Judith Hermann und die Neuromantik der Gegenwart In: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch 5/2006. Hg. von Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler. Tübingen 2006. Pp. 207–233. 6 Anthony Vidler: The Architectual Uncanny: essays in the modern unhomely. Cambridge, Mass.: MIT Press 1992. P. 4. 7 Examples include: Günter Blamberger: Poetik der Unentschiedenheit: Zum Beispiel Judith Hermanns Prosa. In: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch 5/2006.
344 so far only two short-story collections, it is considered to be one of the most perceptive and remarkable depictions of how her generation fares in the brave new world of globalization, event culture, and constant mobility. Her protagonists, mostly unattached, urban women, have been seen as quintessential global characters, moving in and out of relationships and locales, engaged in a relentless search for meaning, human connection and stability that leaves them for the most part lonely and alienated. These itinerant postmodern bohemians are like their fellow-travelers, the tourists and consumers, plagued by the double bind of the constant search for the new and the different only to discover that it brings more of the same.8 The near limitless choices available to them lead not to fulfilled desire but to forgetting and frustration. Many of Hermann’s characters are so decoupled from social matrices that it would be difficult to characterize them based on profession, family background or personal interests. As a result, the protagonists of the different stories, melancholic, tired, solitary figures, are almost interchangeable and neither their relationships nor their travels go anywhere. These young women and men appear to embody the cultural critique articulated by scholars like Homi Bhaba who has argued that established form of representation as well as idea(l)s of truth, authenticity, and history have lost much of their power and persuasion and are being superseded by a diffuse sense of belatedness, instability, and change.9 Similarly, Andreas Huyssen regards the current intense preoccupation with memory as “energized by the desire to anchor ourselves in a world characterized by an increasing instability of time and the
Hg. von Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler. Tübingen 2006. Pp. 186–206; Anke S. Biendarra: Gen(d)eration Next: Prose by Julia Franck and Judith Hermann. In: Studies in Twentieth and Twentieth-First Century Literature 28.1 (2004). Pp. 211–239; Andrea Köhler: “Is that all there is?” Judith Hermann oder Die Geschichte eines Erfolgs. In: Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. Hg. von Thomas Kraft. München: Piper 2000. Pp. 83–89; Katja Stopka: Aus nächster Nähe so fern. Zu den Erzählungen von Terézia Mora und Judith Hermann. In: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Hg. von Matthias Harder. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. Pp. 147–166; Uta Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit oder die Paradoxien der modernen Sinnsuche. Judith Hermanns Erzählungen Nichts als Gespenster. In: Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hg. von Christiane Caemmerer, Walter Delabar und Helga Meise. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2005. Pp. 37–52; Magnus Schlette: Ästhetische Differenzierung und flüchtiges Glück. Berliner Großstadtleben bei T. Dückers und J. Hermann. In: Text der Stadt – Reden von Berlin: Literatur und Metropole seit 1989. Hg. von Erhard Schütz und Jörg Döring. Berlin: Weidler 1999. Pp.71–94. 8 See Zygmunt Bauman: Globalization: The Human Consequences. New York: Columbia University Press 1998. Pp. 81–85. 9 Homi K. Bhabha: The Location of Culture. Oxford: Routledge 2004.
345 fracturing of lived space.”10 While the detached attitude and the aimless travel identify these protagonists as members of a global generation, they are equally indebted to Romantic traditions (Borgstedt 212–218). For the most part, Hermann’s protagonists belong to an artistic bohème and their mobility is not fueled by career-driven ambition. On the contrary, floating through jobs and assignments these characters take a laisser faire attitude to vocation and future that is far removed from hard-working global elites. Moreover, the issues Hermann’s thirty-some things are dealing with, longing, melancholia, unhappy relationships and an unfulfilled yearning for stability and grounding, also recall a Romantic ‘Lebensgefühl’ and artistic sensibility which provide her narratives with an intertextual depth and range that belies their seemingly superficial popcultural simplicity and narcissistic self-centeredness.11 Framed by descriptions of moods, places and objects, many of the stories probe in their core relationships between self and past, self and others, favorite topics of the Romantic as well as fin-de-siècle authors. Characters in both short stories collections certainly travel a great deal. They vacation on a Caribbean island, take a grand tour of the United States, visit well-known tourist destinations in Europe such as Venice or Prague or commute between German cities. Yet they hardly pay attention to the particulars of locale and customs because for them places have lost their distinctiveness, appearing merely as backdrops for their changing relationships. In the critical literature this constant movement has been rightly emphasized and interpreted as the self-conscious search for an authenticity lost in a global world of neartotal choice and commodification.12 While drawing on these analyses, I wish to approach the specter of globalization and attendant alienation in Hermann’s narratives from the perspective opposite to travel and movement, namely houses and dwellings. Though Hermann’s cast outwardly shows little interest in the apartments or homes in which they live, detests the bourgeois lifestyle associated with property and domesticity and spends a great deal of time on the road, these characters and their stories are at the same time deeply connected to domestic space. They are housebound not in the sense of searching for the perfect place, decorating or improving it but by trying to understand both their own self and their relationships through space. Because figures experience such profound alienation as well as spatial and temporal displacement, location takes on a crucial role as indicated from the start by the Beach Boy song lines introducing Nichts als Gespenster, “Wouldn’t it be nice / if we could live here / make
10
Andreas Huyssen: Present Pasts: Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford: Stanford University Press 2003. P. 18. 11 See Iris Radisch: Berliner Jugendstil. In: Die Zeit 6/2003. 12 See Biendarra (note 7). Pp. 232–236.
346 this the kind of place / where we belong” which point to the close relationship between identity and place.13 Stories in both collections thus frequently link emotions and moods to domestic space. “Rote Korallen”, the opening text in Sommerhaus, später mirrors the protagonist’s loneliness and alludes to the Romantic Undine figure through the dream-like underwater world of her apartment in Petersburg, Russia.14 In Nichts als Gespenster the sterile perfection of the couple’s apartment in the story “Kaltblau” with its completely unadorned walls is suggestive of the desolation and lifelessness of their relationship; the dirty, messy rooms in “Wohin des Wegs” appear as casual and haphazard as the people who drop in and out of them. However, the story “Zuhälter” with its manifold allusions to fairy tales, Romantic spells and Gothic frights, as well as the title story “Sommerhaus, später” of the 1998 publication offer perhaps the most intriguing examples for the importance of domestic space in Hermann’s narratives and they will thus be the focus of my analysis. “Zuhälter”, the fourth story in Nichts als Gespenster, depicts a female, nameless first-person narrator, forlorn, bored and unbound by fixed work schedules or commitments. She visits her former lover Johannes, a modestly successful painter in Karlovy Vary (formerly Karlsbad), the famous spa in the Czech Republic where he is house-sitting for a few weeks in the summer. Johannes had invited her to join him in Karlsbad, in order to write a catalogue entry for a large painting on which he is currently working. Although she has “weder Zeit noch Lust”15 for the visit, she follows his call and drives form Berlin to Karlsbad. While staying with Johannes in the apartment, he informs her that he no longer needs the catalogue entry and it is also evident that he has no interest in rekindling the relationship. After a few days spent mostly indoors the narrator returns to Berlin. Like most short stories by Hermann, “Zuhälter” features a rather uneventful plot, and much of the narrative’s focus lies instead on mood and introspection mirrored through the dual locations, Karlsbad and the apartment. Johannes insists, however, as she informs us in the story’s very first sentence that she needs to call it, “Karlovy Vary […] Nicht Karlsbad. Auf keinen Fall Karlsbad. Es war ihm so etwas wie eine Frage der Ehre, ein Tribut an die Vergangenheit” (“Zuhälter” 153). She is reluctant to do so, sensing perhaps a degree of pretentiousness in Johannes’s request that is intended to convey superior cultural 13
Biendarra also provides an interpretation of the motto. Ibid. P. 238. See Inge Stephan: Undine an der Newa und am Suzhou River. WasserfrauenPhantasien im interkulturellen und intermedialen Vergleich. In: Zeitschrift für Germanistik 12 (2002). Pp. 547–563. 15 Judith Hermann: “Zuhälter”. In: Nichts als Gespenster. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. P. 155. 14
347 knowledge. Yet, since the different names evoke distinct histories, she might also subtly be indicating her own difficulties with the past. During the AustrioHungarian monarchy, Karlsbad was one of its most famous spas, a place of refinement and luxury frequented by aristocrats and an international upperclasses clientele. As Karlovy Vary in the Czech Republic it appears to be only a shadow of its former glory visited by rich old Germans or the Russian nouveau riche. The narrator experiences it as a beautiful but dated town whose history is packaged into tourist-friendly nostalgia and turned into a heritage site complete with the spa orchestra playing only “Strauß, Walzer, die ganze Sehnsuchtsmusik” (“Zuhälter” 164). Although she would like to enjoy the place, Johannes’s reticence leaves her weary and impassive, her sensations fragmented and dulled: Die Welt war zusammengeschrumpft auf dieses Karlovy Vary, nichts mehr außer warmem Salzwasser und ein südliches Licht und der vage Gedanke, daß mir im Grunde alles egal sein könnte, vollständig egal, und vielleicht war es das auch, für einen Augenblick (“Zuhälter” 165).
While Karlovy Vary appropriates its history as packaged commodity yielding a lucrative tourist-business, the narrator’s encounters with the past occur mostly in the apartment, and these are profoundly troubling, haunting her dreams and her imagination. In the apartment, the past lives on, unsettles the present and challenges her to examine her own life and memories. The story’s spatial movement also highlights the significance of this location. Progressing in a linear fashion, it follows the protagonist’s drive from Berlin to Karlovy Vary, then tracks her time spent in the apartment where she finally goes into the “Atelierzimmer. Ritter Blaubarts Zimmer. Das siebte Zimmer” (“Zuhälter” 182) and discovers the secret that she knew all along. This movement from outer to inner space, from the town to the apartment and its secret core and then back to Berlin also mirrors the path taken by the young bride in the Bluebeard fairytale, for she journeys from home to Bluebeard’s castle and back to her home. The dusty, antique-filled rooms of the apartment in which the narrator and Johannes stay thus provide not only the background for much of the plot but they are also a site of doubling and haunting, turning the apartment into a space of the architectural uncanny in Anthony Vidler’s terms that allows the protagonist to recognize and confront her fears (ix–x). Located “im fünften Stock eines weißgestrichenen Hauses im Jugendstil” (“Zuhälter” 158), the apartment had belonged to the recently deceased mother of one of Johannes’s friends. The narrator is as much troubled by the presence of the dead woman, a Chinese, as by the ornate décor of these rooms. […] ich war selten in Wohnungen wie dieser gewesen. Alle Wände waren eierschalenfarben lackiert, glänzten matt, warfen das Licht zurück. Die Zimmer standen voller Antiquitäten. Empireschreibtische und Rokokostühlchen und chinesische Vasen, Wandteppiche, Federzeichnungen in dunklen Rahmen, Brokatdecken über schweren Eßtischen und tiefe Samtsessel vor einem Kamin, Kristallvasen voll
348 verwelkter Blumen auf hochbeinigen Beistelltischen und immer wieder chinesische oder asiatische Möbel [...] und geschnitzte Sitzhocker vor blinden Spiegeln (“Zuhälter” 160).
The detailed description signals both the importance of this particular environment and the complex history it evokes. The mixture of old-fashioned Western and Eastern furniture hints at colonial times, at travel and migration and also at aging and death. The rooms show no trace of the modern and appear to evoke more wealth than taste and refinement, since they are crammed and overly decorated. To the narrator they present not only a bygone era but also a self-enclosed, dead space from which signs of life (flowers, mirrors reflecting human beings) have long disappeared. The overabundance of chairs and tables could suggest that these surroundings once witnessed a rich social life, but we are never given any information about the former owner’s life. Her story is only told through her apartment, her belongings and the epithet “dead Chinese woman” turning her into a multiple oddity. Like in a Gothic tale, the identity of the house and its owner are merged and, at times,16 the narrator even imagines the Chinese woman sitting at the table and nodding to her. Since the Chinese had died only two months ago, all her belongings, closets full of clothes, her make-up and medicines, even her tooth brush are still present; she thus seems to be both dead and alive, a ghost who simultaneously haunts the narrator’s imagination and appears to comfort her. As a wealthy, single Chinese woman in Karlovy Vary she pictures her as an exotic stranger, particularly since the reasons for her stay are not known. The Chinese woman is a figure out of place and time, and thus a kindred spirit for the narrator, who feels equally out of time and place and is unable to find a sense of connection. Yet whereas for the dead Chinese woman, origin, culture, history and geography turned her into outsider, such place-bound connections are not relevant for the German visitor. To her foreigners, be it the dead Chinese or the Russian and German tourists, are either exotic or loathed strangers, living in a world apart from her own privileged position of which she is vaguely aware. The narrator seeks to ground herself primarily through relationships, yet she is constantly torn between longing for Johannes’s companionship and indifference toward him. Sitting one evening at the table with him, she muses: “ich dachte, über irgendetwas sollten wir sprechen, es ist noch nicht spät, […] Und eigentlich war es mir auch egal, ich war dankbar dafür, daß es mir egal war” (“Zuhälter” 174). But staying in the apartment, a material rendition of the Chinese woman’s story, feeling both uneasy about the dead woman’s presence and wanting to come to know her, she begins to examine her own past with 16
See Elizabeth MacAndrew: Gothic Tradition in Fiction. New York: Columbia University Press 1979. P. 14.
349 Johannes and in the process acknowledges his betrayal of her. To this end, she also imagines the Chinese as a secret ally, a friend and witness who, like a good fairy, guides her path to self-knowledge. During the brief stay, she and Johannes even sleep in the same bed, but he shows no interest in her or her work. This indifference camouflages, however, a profound domination in which she willingly participates. She almost constantly thinks about Johannes and most actions are either caused or influenced by him. He calls her to Karlovy Vary, shelves the common project, leaves her stranded in a strange place, offers no guidance or help in critical situations, and, worst of all, lets her discover his lover Miriam’s sexually explicit letters. Letters which confirm her suspicion, if not knowledge, that he was involved with Miriam even during their own relationship. Johannes appears to be a manipulating force she had been so far unable to challenge. This power links him to the “Zuhälter” of the title, an allusion to which I will return shortly, for like him/them he is a figure representing control, desire, and sexuality. It is as if Johannes had lured her to Karlovy Vary, into this apartment with its morbid atmosphere, but this time his spell is broken, for the narrator finally decides to go into the “Atelierzimmer. Ritter Blaubarts Zimmer. Das siebte Zimmer” (182). Here she finds Miriam’s letters and, after having read them, she states: “Ich ging hinaus aus dem Atelierzimmer, Ritter Blaubarts Zimmer, dem siebten Zimmer [...] Ich sagte laut [...] ‘Ich wünschte, ich hätte ihre Briefe nie gelesen. Ich wünschte, ich wäre nicht hier’, aber ich wußte, ich log” (“Zuhälter” 185). The repetitive, slow-motion description of entering and leaving the forbidden room that harbors the dark, murderous secret equally evoke the (title) theme of power and sexuality and the importance of its spatial reflection. Like the young wife in the Bluebeard fairy tale, the narrator is driven by curiosity to the fatal chamber, is transgressing a prohibition and making a horrible find, letters that are “[o]bszön, sexuell, pornographisch, haltlos” (“Zuhälter” 184) that allow her to finally sever her dependence on Johannes. According to Maria Tatar, the Bluebeard fairy tale addresses “fears about violence, death, and sexuality. The heroine’s discovery that even the most exalted and noble personage can prove capable of beastlike behavior stands as the central horror of the tale.”17 Framing this development through the fairy tale allows Hermann to depict the cruelty and ruthlessness of the relationship which is also reminiscent of Ingeborg Bachmann’s dictum of the fascism hiding in human interactions.18 Staging this encounter in the 17
Maria Tatar: The Hard Facts of the Grimm’s Fairy Tales. Princeton: Princeton University Press 1987. P. 171. 18 See Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München: Piper 1978. P. 144: “Faschismus fängt nicht an mit den ersten Bomben, die geworfen werden, er fängt nicht an mit dem Terror, über den man schreiben kann, in jeder Zeitung. Er fängt an in Beziehungen zwischen Menschen. Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau.”
350 closed-off space of the apartment also echoes Gothic devices of secret manuscripts, haunted houses, ghosts and forbidden desire, but Hermann avoids a crescendo into spectacle and disaster. By going into the room and reading the letters, the narrator experiences the uncanny which according to Freud is in reality nothing new or alien, but something which is familiar and old-established in the mind and which has become alienated from it only through the process of repression. […] the uncanny as something which ought to have remained hidden but has come to light.19
The narrator, too, “knew” all along about Miriam whom she had even met in Johannes’s room in Berlin, and though she is hesitant to admit to a lasting change in the story’s final scene, the fog through which she is driving has lifted and she is rather happy to be on her way home. Literally and metaphorically the dead Chinese woman’s apartment had allowed her to confront and work through betrayal and dependence. As a space, devoted to the past, rich in imagination and speculation, and blurring the line between fantasy and reality, it helped her recognize the narrative in which she was trapped. The story’s title “Zuhälter” references, however, not only sexuality and control but also the more public milieu of the red-light district thus alluding to the topic in a more political manner. In contrast to prostitutes, the favorite representations of the forbidden world of lust and desire, pimps evoke primarily revulsion and fear since they are the debased merchants and mediators of sex. Shortly after crossing the Czech border, she narrator is suddenly confronted by numerous prostitutes, dancing naked in the street or in small wooden huts with large picture windows. The sight confuses and embarrasses her and she thinks that Johannes should have warned her. Similarly, on her last evening, she and Johannes visit the Belle Etage, Karlovy Vary’s only night club, frequented by prostitutes and eager customers. The narrator is accosted by the German Rudi who is visiting the bar together with his Czech wife, and again Johannes is of no help to her. Disgusted she throws up before stumbling back to Johannes’s apartment. These scenes present sexuality and place in a very different light, for they show how geo-political location is linked to poverty and exploitation. Both the “cheap” prostitutes working on the streets and the high-class ones entertaining the Russian nouveau riche clientele hint at the global sex trade. Though the narrator does not explicitly comment on distinct social and economic features or takes a political stance – a restraint that is typical for Hermann’s narratives – beneath the narrator’s private experience, the wider implications of power, sexuality and exploitation become visible. 19
Sigmund Freud: The Uncanny (1919). In: Writings on Art and Literature. Hg. von Werner Hamacher and David Wellbery. Stanford: Stanford University Press 1997. P. 217.
351 In Sex and Real Estate: Why We Love Houses Marjorie Garber contends that houses are first and foremost love objects, intensely erotically charged, and the focus of a desire that is destined to remain unfulfilled. Dream houses are just that – the stuff of dreams that in their very futility sets us on a never-ending chase. Similar to Smyth and Croft, Garber sees houses as an all-encompassing emotional multitude, calling them “the repository of histories, memories, fantasies, selfimage, aspirations and dreams. That is why our romance with houses is – in every sense – such a consuming passion.”20 Such romance presupposes, of course, a certain amount of cash and cultivation which allow for such choices in the first place. Garber’s arguments follow Gaston Bachelard’s influential study The Poetics of Space, but such poetics is always linked to the “politics of space”.21 At first glance, the female narrator in Hermann’s title story “Sommerhaus, später” could not be further removed from such dream house longing. Her own apartment is a non-descript place, as sterile and dull as her life. Bored, lonely and drifting aimlessly through relationships and cities, for which the almost constant movement renders a fitting symbolism, the protagonist belongs to a motley crew of modestly talented artists languishing in twenty-first century fin-de-siècle ennui. These highly self-absorbed, impassive women and men of Berlin’s artistic counterculture have come to be regarded as expressing the emotional and spiritual malaise of a generation shaped by the twin forces of postmodernity and globalization. These are not fast-track careerists focused on work or profit but thirty-something figures to whom professional aspirations and goals hardly seem to matter. The same detachment, ennui, and lethargy that characterized the firstperson narrator in “Zuhälter” are present in the earlier narrative, and it, too, features the attendant symbolic gestures of resting, smoking or drinking tea. Both women appear to take little interest in their lives or engage with reality, but objects, such as letters or keys, kept to secure feelings and memories, acquire a crucial function. Equally pronounced is the figures’ disdain of bourgeois lifestyle. At one point, the nameless protagonist in “Sommerhaus, später” has a brief affair with a character named Stein, a cab driver, who subsequently becomes part of her circle of friends. He is their silent spectator, unable to contribute to discussions about art or recent premieres, but who empties the ashtrays and clears the wine bottles after their parties. Stein is the group’s proletarian, available for both labor and sex, neither of which makes him one of them. The narrator characterizes his silent presence as, “Er war dabei. Und auch nicht.”22 Yet, precisely this sideline 20
Marjorie Garber: Sex and Real Estate: Why We Love Houses. New York: Pantheon 2000. P. 204. 21 Joe Moran: Houses, Habit and Memory. In: Our House (note 1). P. 31. 22 Judith Hermann: “Sommerhaus, später”. In: Sommerhaus, später. Frankfurt a.M.: Fischer 1998. P. 148.
352 figure sets the story in motion through his surprise purchase of a run-down manor house in Canitz, a forlorn, God-forsaken village in Saxony. On a miserable winter’s day, he insists on showing it to the narrator, but she could not care less; annoyed and cold she stumbles through house and the adjacent garden. Stein hopes the group will use this “Sommerhaus” for their gatherings and over the next months sets out to renovate it. Through brief postcards he regularly updates the narrator about his progress but she never acknowledges his efforts or visits him. In the end she receives a letter with a newspaper clipping about a burnt-down house identifiable as Stein’s. Arson cannot be excluded. Stein had wanted to offer the group a way of life that would provide for some anchoring and thereby perhaps stabilizing relationships. To him the house represents “a space of and for fantasy” (Garber 69) that would allow returning to a meaningful place, but the narrator is unable or unwilling to commit to this ideal. She is both attracted to and repulsed by the implication of permanence, represented through the house, and her final word “later” indicates the realization of her loss as well the continual suspension of such permanence. This failed house story suggests an inability to form and to sustain attachments, an inability to commit to a place and the story, to the routine it would demand. This inability to commit has been seen as paradigmatic for Hermann’s stories, and “Sommerhaus, später” with its melancholic deferral of time, is a prime example of this mode.23 The story also blurs, as Uta Stuhr has shown, the boundaries between places and non-places, terms that Marc Augé used in order to distinguish between a traditional concept of space as historically anchored, authentic and generating identity and the deluge of contemporary non-places such as airports, malls, or underground stations that are devoid of such meaningful markers.24 Through this juxtaposition of the traditional pursuit of the dream house, on the one hand, and an inability to value, let alone, pursue the dream, on the other, Hermann both confirms and questions the importance of the house. In the process, she also undercuts distinctions between public and private, a point to which I will return shortly. Why did Stein select an old manor house that predated GDR-times and whose architecture described as a “großes, zweistöckiges Gutshaus aus rotem Ziegelstein [...] skelettiertes Giebeldach mit zwei hölzernen Pferdeköpfen” (“Sommerhaus, später” 148) is reminiscent of times long past? Also, in a story that is generally void of description, this house is captured in surprising detail. Beginning with the long drive from Berlin to the countryside, to picking up the keys from a former tenant, and to the final moment of presentation, “Das ist es” (“Sommerhaus, später” 148), Hermann uses this long rapproachment to build up suspense, geared to impress, even to overwhelm the unsuspecting observer, but the climax is immediately deflated: “Das Haus war schön. Es war das
23 24
See also Schlette’s interpretation of “Sommerhaus, später” (note 7. Pp. 91f.). Stuhr (note 7). P. 37–52.
353 Haus. Und es war eine Ruine” (“Sommerhaus, später” 148). Doors and windows collapse upon entering, thick ivy blocks out almost all light and the walls are full of obscene graffiti. Yet, Stein, excited and agitated, describes the future, the dream house that he is willing to create for the protagonist and her friends: Ich mach euch hier’nen Salon und n’ Billardzimer und n’ Raucherzimmer und jedem seinen eigenen Raum und großer Tisch hinterm Haus für Scheißessen und Dreck, und dann kannste aufstehen und zur Oder laufen und dir da Koks einfahren, bis dir der Schädel platzt (“Sommerhaus, später” 150).
The house and life style Stein is imagining evoke part privileged upper-class existence of the landed gentry, part counter-culture artistic colony, both German communities that have long vanished. Buildings are, however, as Malcolm Pender reminds us, never entirely static for they are related to previous history and memories, and Stein’s description also points to the evocative power of those traditions.25 The keys on the key ring, twenty-three different keys, “ganz kleine und sehr große, alle alt und mit schöngeschwungenem Griff ” (“Sommerhaus, später” 147), which the narrator has kept, are neither needed to unlock doors in the house – most doors no longer have a lock – nor can they symbolically unlock the “possibility” Stein had so ardently worked for. Kept in a drawer, the only reminder of the house’s former splendor and grandeur, beautiful but useless, an antique object now void of function, they symbolize a nostalgia here understood as the futile desire to return to a past imagined as both beautiful and meaningful. Stein and the narrator long for the manor house with its craftsmanship and aesthetics and the discourse of wealth, power, and taste associated with it.26 Yet, she, in particular, is divided between a selfhood that embraces complete independence and self-sufficiency – her current lifestyle – and an older model that acknowledges dependence and commitment, a contradiction that is spelled out and enacted through the summer house. The protagonist is attracted to the house and, at the same time, associates it in its present form with a domesticity she disdains. The summer house thus symbolizes both safety and threat. Not surprisingly, she responds with complete disgust to the summer house’s former tenants, an apron-wearing housewife with a pale child who is hinted at as being disabled. “Die sind doch ekelhaft” (“Sommerhaus, später” 147), she tells Stein. Similarly, it is a fringe figure like Stein, portrayed as inarticulate working class, who commits to the emotional and financial investment in the house she is unable to make. In the present, houses are associated with outside figures, but since houses are also made meaningful through the existence that takes place in them,27 the 25
Malcolm Pender: “Du musst das Haus abtragen”: The Motif of the House in Recent German-Swiss Fiction. In: The Modern Language Review. 88 (1993). Pp. 687–705. 26 See Moran (note 21). P. 37. 27 See Joseph Hillis Miller: Topographies. Stanford: Stanford University Press 1995. P. 21.
354 narrator, in effect, tries to divorce houses from living. Her contempt of those who restore houses, decorate or cook in them, rests as much on her own personal malaise as on entrenched social distinctions. Her alternative lifestyle, while outwardly rejecting bourgeois norms of work and domesticity, indirectly upholds the very same categories of class and aesthetic distinction that underwrote domestic middleclass traditions and concepts. In addition to the link between domestic space and relationships investigated so far, Hermann’s stories also invite analyzing the material elements of domesticity and domestic comfort created by objects such as sofas, cushions, or lights, all of which contribute to feeling at ease. According to Witwold Rybczynski, domestic comfort is a historical and social quality, a cultural idea which developed in tandem with “the appreciation of the house as a setting for an emerging interior life.”28 Rybczynski stresses the importance of such emotions as comfort, ease and intimacy because in tandem with technical innovations they prepared the way for the privacy and domesticity of the Bourgeois Age (75–77). The fact that almost all figures in Hermann’s stories are supremely uncomfortable in their quarters seems to indicate a profound change in this concept. Since bourgeois domestic comfort grew out of the duality of public versus private space which in turn helped create concepts of intimacy and domesticity, powerful ideas intimately linked to discourses of family, gender, and nation, the neglect of and indifference toward comfort to be observed in these stories is striking. If the evolution of intimacy and privacy in homes in European cities beginning in the seventeenth century, was, as Rybczynski states, “an unwitting, almost unconscious, reaction to the changing conditions of urban life” (51), would the disappearance of intimacy and privacy as seen in these texts then not suggest a similar turn in urban conditions, specifically that distinctions between public and private spaces no longer hold? Characters may still long for comfort, but they are either unwilling or unable to create it, substituting such place-bound activity with movement. On the road, in cars, trains or in hotel rooms, traditionally the very opposite of domestic space, they seek comfort in the very place that was conceived of as its opposite: the non-domestic public. Such shifts appear to go beyond the idiosyncrasies of select characters indicating instead a different manner of being in the world, namely of no longer being at home but being in constant transit. In Framing Attention: Windows on Modern German Culture (2007), an extensive and sophisticated study on the development of windows, Lutz Koepnick observes how in the twentieth century new windows (film, TV, computer) led to the breakdown of the “boundaries between public and private, past and present, here and there and in so doing established new modes of perception, belonging and identity.”29 These developments, 28
Witold Rybczynski: Home: A Short History of an Idea. New York: Viking 1987. P. 36. Lutz Koepnick: Framing Attention: Windows on Modern German Culture. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007. P. 6. 29
355 which are supported by Bhabha’s and Huyssen’s analyses cited earlier, can also be observed in Susanne Fischer’s novel Die Platzanweiserin (2006). Born in 1960, Susanne Fischer, author, journalist and editor, published Die Platzanweiserin to some critical acclaim.30 Told by the first-person narrator Christina Genthe, a thirty-two year old drop-out who most recently worked as a “Platzanweiserin” in a cinema, the novel narrates the story of her obsession with houses. Like Hermann’s protagonist, she seeks comfort in public spaces such as the cinema; homes are completely void of it. At the same time she is fascinated by houses, but in a manner that resembles an illness, “so, als seien die Häuser krank und ich wäre ihr Arzt.”31 This personification, indeed anthropomorphization of houses is one of the novel’s most unique features. Houses are not only sick, but exhausted, adversarial, nasty, or simply have bad breath, yet only the narrator is able to see, smell, or sense their discomfort. By endowing houses with human traits, shelter and selfhood are literalized in the house itself and this reverses the relationship between house and tenant. Houses have to like the people living in them, not the other way around, and most houses, the narrator tells us, despise their residents, an inversion that ironically highlights houses’ supreme importance. The chief example is the pre-war row-house owned by an elderly widow, Frau Hagen, and which is described as an ugly, horribly decorated and poorly renovated “Vorkriegskäseschachtel, die von innen her verfaulte und von außen verpflastert wurde” (Die Platzanweiserin 20). This house with its pretense of solidity and promise, of ownership pride and family happiness, imparts decay and the haphazard “improvement” is indicative of post-war Germany’s quick return to normality and stability. Houses, however, have better memories than people, they cannot be duped so easily and this row house, too, “sehnte sich nach einem anderen Rhythmus. Das konnte ich im Türrahmen fühlen […] Das Verkehrte im Haus ballte sich in der Ecke über der Schrankwand” (9). In the attic, however, is a room that surprises the narrator: “Ein chromblitzendes, verspiegeltes Zimmerchen. Niemand konnte wissen, wozu es gut sein sollte” (Die Platzanweiserin 16). The room does not fit the miserable lower middle-class narrative she detects everywhere else and it remains mysterious to her as well as to other visitors. They all fail to read it, I would argue, because they remain focused on its odd interior and ignore its location “im 30
Examples of her reception include: Stephan Sigg: Was Wände flüstern. In: Das Netzmagazin. Hg. von Rinaldo Kalbermatter. Bern 2006. ⬍http:www.netzmagazin.ch⬎; Rainer Moritz: Stille Beobachterin. In: Deutschlandradio Kultur. Hg. von Ernst Elitz. Berlin und Köln: Deutschlandfunk 2006. ⬍http://www.dradio.de⬎; Rainer Moritz: “Mit Hopper an der Elbe”. In: Lyrik und Prosa. Hg. von Doris und Hans Werner Gey. Hagen: 2006. ⬍http://lyrikwelt.de/⬎. 31 Susanne Fischer: Die Platzanweiserin. Frankfurt a.M.: Eichborn 2006. P. 6.
356 Dachgeschoss” (Die Platzanweiserin 16). The attic, however, is one of the most intriguing areas, both storage space for the past and lookout that can offer glimpses of the horizon. A meeting point for history and nature, the attic is, as Gubar and Gilbert and Rothe-Buddensieg have shown, an ambivalent realm whose contractions spell out the social and gender conflicts enacted in the rooms below.32 In the attic live the desires and ghosts that have been expelled from the house, such as “Freiheit von Ordnung, von drangvoller Enge, von Selbstverlust und Triebgefahr” (Rothe-Buddensieg 7–8). The deviant space of the attic corresponds to another, similarly liminal space, the cellar which in the novel is explored by five-year old Max, a neighbor’s child who regularly accompanies the narrator on her house excursions. Max likes basements because of the animals, dead or alive, he hopes to find there, and his forays into cellars evoke another threshold space, between house and nature, death and life, as well as between childhood and adulthood. Complementing and contrasting the pre-war row house is a pre-war mansion, an abandoned, delapidated villa formerly owned by a Jewish family which needs to be sold. Through the story of this house, Fischer touches upon issues of exile, guilt, and memory which remain as unresolved as the villa’s fate. Both the row house and the villa, the two houses anchoring the text, harbor unfulfilled desires, they are doom-laden, though for very different reasons, and incapable of offering shelter, be it in the past or in the present. In fact, all houses are portrayed as inhospitable and as miserable as the people they are accommodating. To the real estate agent Thomas, a childhood friend of the narrator, Germany contains only “Schrott. Bundesschrottublik Deutschschrott. All diese schiefen, öden Häuser für die öden, schiefen Leute” (Die Platzanweiserin 105). Ennui and alienation also characterize the narrator who in the course of the novel revisits her troubled adolescence and reacquaints former friends. For each character, the text shows the poetics and the politics of house as intimately linked to personal and social identity thereby also touching upon the specter of homelessness and the relationship between old age and loss of home. Since Western notions of personhood are based on separate space, as Jenny Hockey has argued, the loss of personal space, be it for economic, health or age-related reasons, undermines personhood and autonomy.33 32
Sandra M. Gilbert and Susan Gubar: The madwoman in the attic: the woman writer and the nineteenth-century literary imagination. New Haven : Yale University Press 1979; Margret Rothe-Buddensieg: Spuk im Bürgerhaus: Der Dachboden in der deutschen Prosaliteratur als Negation der gesellschaftlichen Identität. Kronberg/Ts.: Scriptor 1974. 33 See Jenny Hockey: Houses of Doom. In: Ideal Homes: Social Change and Domestic Life. Hg. von Tony Chapman and Jenny Hockey. London and New York: Routledge 1999. P. 149.
357 But can the narrator imagine an alternate place, a dream house that would allow self and home to exist in harmony? At the end of the novel, Genthe conjures such a vision, a perfect house as she had once seen in a painting by Edward Hopper.34 Da ist nichts, es ist ein perfektes Haus […] Kein Mensch, kein Blumentopf, kein Kinderspielzeug, das liegenblieb, kein Gemüsebeet, keine Lampe, kein Verandastuhl, kein Briefkasten, keine Klingel, kein Fußabstreifer. Nichts. Ein Außerirdischer könnte nicht ahnen, wozu das Ding gut sein soll. Es könnte genausogut eine Mondrakete sein. (Die Platzanweiserin 191)
This is indeed a description of tremendous isolation, of lifelessness, a house that is made meaningful not by the living that takes place in it but by the very absence of humans and interaction. Standing on its own in a large meadow, cut off from the outside world, it is an entity onto itself with no outside connection, signaling complete segregation and autonomy. In such a place, the narrator informs us, she could come to terms with herself and accept her unhappy past. In short, an utterly desolate, abandoned, non-homely house is selected as the perfect place. It contradicts the notion of home and domesticity because it is an empty space, void of all comfort and life. Yet, by simultaneously listing the very objects that turn houses into a livable social space, such as toys, lamps, or flowerpots, and celebrating their very lack, it pushes the ideal of home, self and autonomy to its extreme for house-perfection is achieved through the very negation of life and the everyday. This is a most radical representation of selfsufficiency and segregation and its relationship to spatial containment. The narrator’s house vision, while born out of her personal experiences, offers also an ironic comment on the paradox that the pursuit of autonomy ultimately undercuts the social network from which autonomy derives its meaning in the first place. Materially and symbolically houses manifest and express this pursuit, and it is little wonder that the dream house and the house of horror appear to resemble each other. Alternately depicted as comforting, frightening, stable or elusive places, houses show a problem whose roots lie not in poorly designed spaces but in a deeply conflicted selfhood. Houses as “felicitous space” – as Bachelard called houses’ memory-comfort zone – can clearly not be supported by the homes in Fischer’s prose.35 Void of meaning and social life, they resemble supermodernity’s non-places, for like them they have been caught in the suspension of identity, relationships, and past. Although Fischer’s protagonist like the women in Hermann’s stories women is free from the traditional restraints of the bourgeois home, they are still unable to 34
Though she does not name the painting, the description makes it identifiable as Hopper’s “Cape Cod Sunset” (1934). 35 See Smyth and Croft for a discussion of Bachelard’s concept (note 1. P. 21).
358 appropriate the house for themselves, though for reasons that transcend gender. Their disdain of those still clinging to domestic ideals, typically lower-class figures, resonates both with class privilege and with the persistent fantasy of the perfect house. The fantasy may have turned nightmarish as the fate that befalls houses in these narratives – neglect, destruction or uninhabited space – shows, but it still cannot undo the quest for shelter and identity and the characters remain housebound in more ways than they are willing to admit.
Norbert Otto Eke
Einsenkungen in Finsternisse oder: Flossenbürg liegt (nicht nur) in der Oberpfalz. Werner Fritschs Grabungen With stoical persistence the dramatist Werner Fritsch has stood up for a theatre of memory in the past years which does not turn away from the terrors of history and nevertheless does not give up the idea of redemption. The present contribution sketches the main features of this project, which declares the theatre a place of the Other: of silence, of concentration, of pausing and thinking as presuppositions of the new beginning that Fritsch grounds in Hannah Arendt’s concept of natality.
I. Hinabgestiegen in das Reich der Toten In ganz eigentümlicher Weise füllt der Dramatiker Werner Fritsch die abgeschriebene Idee der Bühne als moralischer Anstalt wieder mit Leben: als Form eines kollektiven “Sichversenken[s] in fremde Finsternis als augenblicklang auch eigene”.1 Weder gibt Fritsch die Idee der Freiheit noch die der Vernunft preis, wenn er sich mit seinen Stücken immer wieder regelrecht eingräbt in die Geschichte und solcherart buchstäblich hinabsteigt in das Reich der Toten (Jetzt – Hinabgestiegen in das Reich der Toten lautet der programmatische Titel eines von Fritschs Theatermonologen). Fritsch nimmt beide, die Idee der Freiheit und die der Vernunft, vielmehr moralisch ernst, indem er – auf den ersten Blick durchaus befremdlich – die eigene Theaterpraxis ganz dicht wieder an Vorstellungskonzepte der Erlösung heranrückt.2 “Mein Schreiben”, so Fritsch, “ist doch kein finsteres Herumwühlen in den Eingeweiden unserer Geschichte, sondern erfüllt von der Utopie, das Dunkel des Inhalts zu erlösen mit dem Licht der Form, der eigenen Formung!”3 Von hier aus wird in Fritschs 1
Werner Fritsch: Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1993. In: Werner Fritsch. Hieroglyphen des Jetzt. Materialien und Werkstattberichte. Hg. von Hans-Jürgen Drescher und Bert Scharpenberg. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. S. 189–193. Hier: S. 192. 2 Vgl. zu Fritschs Konzeption von Kunst als “Erlösungs- oder Heilungsprozeß” seine Ausführungen in “Überall brennt ein schönes Licht”. Hg. von Fritz Wiedemann. Passau 1993. Hier zitiert nach Programmheft zur Uraufführung von “Wondreber Totentanz” am Staatstheater Darmstadt, 17.1.1998. Programmheft Nr. 32. Hg. vom Staatstheater Darmstadt. Redaktion Werner Fritsch/Stephanie Junge. Darmstadt 1998. S. 25. 3 Sense & Sound. Werner Fritsch im Gespräch mit Markus Mayer. In: Werner Fritsch: Chroma. Farbenlehre für Chamäleons – Eulen:Spiegel. Deutsche Geschichte. Stücke und Materialien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. S. 184–193. Hier: S. 193.
360 Theater das – gut hegelianisch gesprochen – ‘wesenlos Negative’, das Böse also, zum Teil des moralischen Kosmos einer Kunst, die mit visionärer Bildund Sprachgewalt der Abgründigkeit der Welt auf den Grund geht. Ein Un-Ort markiert den Einfallswinkel dieser Einsenkungen und Versenkungen in die Geschichte auf der Spur der Erlösung: Flossenbürg. Das in der nördlichen Oberpfalz bei Neustadt an der Waldnaab gelegene Konzentrationslager Flossenbürg ist der Leittopos des Todes, der als fauler Atem der Geschichte durch die Stücke Werner Fritschs weht: Spiegel des kulturellen Bruchs, der inmitten des 20. Jahrhunderts die Ambivalenz der Moderne schlagartig erfahrbar hat werden lassen, und als solcher gedankliche Mitte des symbolischen Geschichtsraums, den Fritsch aus der oberpfälzischen Provinz heraus, dem Schauplatz für lange Zeit nahezu aller seiner Stücke, entwickelt hat.4 Wie Auschwitz ist Flossenbürg beides: konkrete Topographie des Todes und – in metonymischer Verschiebung – Archetypus für die Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung, von Folter und Tod im nationalsozialistischen Lagersystem. Flossenbürg liegt nicht allein in der Oberpfalz; Flossenbürg ist mit anderen Worten mehr als ein Ort und auch mehr als ein Ort. Es ist die – wie es in Fritschs 2004 in Bielefeld uraufgeführtem Hymnus Heilig Heilig Heilig von Auschwitz heißt – “Erbschuld im Kreuz”5 des Schreibenden und von daher Fluchtpunkt nicht allein entsetzter Erinnerungen, die Fritschs Theater in Gestalt individueller Traumata in immer neuen Variationen zur Sprache bringt, sondern Fluchtpunkt auch einer Kunsttheorie, die das Theater als – im Vergleich zum Alltag, aber auch zu den anderen Medien – schlechthin Anderes behauptet, das als Anderes anerkannt werden will. Kompromisslos in seinem Anspruch fordert Fritsch so, Theater als Kunst ernst zu nehmen: als einen Freiheits-Raum, dessen künstlerische Eigenart und dessen ethischer Impuls für ihn gleichermaßen im Bild der sakramentalen Vereinigung von allen am Theater Beteiligten “im Namen einer künstlerischen Vision”6 begreifbar wird. Zwar entwirft Fritsch seinen Begriff von Theater ganz explizit (und nicht nur hier) im Rückgriff auf Vorstellungsbilder aus dem Bereich der symbolischen Form Religion, wenn er in diesem Zusammenhang vom Theater als dem “letzte[n] Ort für Metaphysik” spricht.7 Die dahinter stehende Leitidee 4 Zur Bedeutung der Provinz als symbolischem Raum vgl. Jörg Lukas Matthaei: “Das Theater ist der letzte Ort für Metaphysik”. Gespräch mit Werner Fritsch über sein Schreiben fürs Theater und die beiden Lustspiele “Die lustigen Weiber von Wiesau” und “Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens”. In: Werner Fritsch: Die lustigen Weiber von Wiesau. Lustspiel. Stück und Materialien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. S. 166–182. Hier: S. 167f. 5 Werner Fritsch: Heilig Heilig Heilig. Das Theater des Jetzt. Frankfurt/M. 2004 (⫽ Suhrkamp Theatertext/Bühnenmanuskript). S. 36. 6 Jörg Lukas Matthaei: “Das Theater ist der letzte Ort für Metaphysik” (Anm. 4). S. 173. 7 Ebd.
361 allerdings ist keine sakrale, sondern eine – wenn man so will – eher profane, genauer gesagt eine philosophische und zugleich ästhetische: die Vorstellung vom Theater als Gedächtnisraum, womit sich zugleich die Bedeutung der Bühne von einer Spielstätte hin zu einer Produktionsstätte (von Geschichte, von Kreativität, von Phantasie) verschiebt. Das markiert über die sakrale Symbolik hinaus den gleichsam “theologischen Glutkern” (Benjamin) von Fritschs Traum vom Theater als einem Ausdrucksmedium und einem Instrument des Utopischen. Das “Theater des Jetzt” hat Fritsch dieses ‘andere’ Theater genannt, was erst in zweiter Linie auf die zeitliche Bestimmung seiner Gegenwart abhebt, vielmehr die Unmittelbarkeit des Theaters als Begegnungsstätte lebender Menschen vor Augen hat und von hier aus auf die performative Dimension von Theater zielt. Dem Schauspieler wird im Rahmen dieser Theaterkonzeption seine Rolle buchstäblich auf den Leib geschrieben. Der Körper des Schauspielers macht das Theater im Verständnis Fritschs einerseits zur sinnlichen Anstalt der ‘memoria’, die dem Zuschauer das Zuschauen und Zuhören zur eigenen Erfahrung werden lässt; aus den Präsenzeffekten seiner Leibhaftigkeit bezieht das Theater seinen ethischen Impuls im eigentlichen Sinn.8 Zugleich fungiert der Schauspieler als Laut-Sprecher sprachlicher Operationen, die idealerweise im Kopf des Zuschauers ein je eigenes Vorstellungstheater eröffnen. Bereits in der Vorbemerkung zu Fritschs Traumspiel Wondreber Totentanz (UA 1998, Staatstheater Darmstadt) sind im Rückgriff auf antike Tragödienkonzepte in dieser Hinsicht Vorstellungen zum Primat der Sprache gegenüber dem szenischen Geschehen ausgesprochen, die Fritsch später in den programmatischen Manifesten Jenseits dieses Jahrtausends (1999), Hieroglyphen des Jetzt (2000) und Natalität versus Fatalität (2005) zum Programm einer nicht-realistischen Theaterkunst ausgearbeitet hat, die ein anderes Sehen zu stimulieren, d.h.: die Produktion neuer Wahrnehmungsweisen sich zur Aufgabe macht (und im Übrigen nicht mehr der Vorstellung einer direkten, unmittelbaren gesellschaftlichen Wirkung von Theater nachhängt). “Das Geschehen”, heißt es hier, “findet – wie in der antiken Tragödie – zumeist in der Sprache, also im Kopf des Zuschauers, 8 Werner Fritsch: Natalität versus Fatalität. Einige Gedanken zum THEATER DES JETZT im Kontext der Inszenierung von DAS RAD DES GLÜCKS. In: Programmheft zur Uraufführung von “Das Rad des Glücks” am Bayerischen Staatsschauspiel München, 12.5.2005. Programmheft Nr. 64. Hg. vom Bayerischen Staatsschauspiel München. Redaktion: Werner Fritsch/Georg Holzer. München 2005. S. 8–15. Hier: S. 13: “Im Körper des Schauspielers ist das Wort, das dichterische, weltstiftende, Fleisch gewordener Geist, dem man mit hoher Konzentration zuhört, die jeden zu sich kommen lässt, gerade durch die friedliche Anwesenheit der Anderen. Theaterkunst ist Gesellschaftskunst. Und die höchste Gesellschaftskunst ist die Lebenskunst. Wer das Tiefste gedacht, liebt, wiederum mit Hölderlin gesprochen, das Lebendigste.”
362 statt. Denn ich glaube, daß im Zeitalter des Alleszeigens in Film und Fernsehen, dies dem Theater gut ansteht.”9 Häufig – wenn auch nicht ausschließlich – treten in Fritschs Theater so auch an die Stelle traditioneller dramaturgischer Formen des Spiels und Gegenspiels von durchgearbeiteten Spielfiguren, an die Stelle von Fabel und szenischem Zusammenhang, Mimesis und Illusion, Formen eines nicht mehr personalen Sprechens, das Erinnerungs- und Vorstellungsströme im Wortsinn zur Sprache bringt: Sprache erschafft durch das Arrangement der Stimme(n) Welt als Wirklichkeit eigener Ordnung. Damit setzt Fritschs Theaterkonzept auf die kreativen Möglichkeiten des Theaters gegenüber den Banalitäten einer Abspiegelungskunst, die Authentizität vortäuscht und damit die Kanäle der Phantasie eher verstopft als öffnet, gerade dadurch dass sie Wirklichkeit simuliert oder sich – Spielbergs Film Schindlers Liste liefert Fritsch ein prominentes Beispiel für diese These – mit dem Versuch einer Rekonstruktion objektiver Fakten durch das Medium Kunst überhebt. Für Fritsch ist diese Akkomodation des Theaters an das Reale ein Irrweg, der die genuinen Möglichkeiten der Kunst ungenutzt lässt.10 Der 2001 in Darmstadt uraufgeführte Monolog Nico. Sphinx aus Eis bietet ein signifikantes Beispiel für die Verfahren einer Rückführung des Theaters auf die leibhaftige Sprache, mit der Fritsch der “Eineindeutigkeit”11 der seit Auschwitz 9 Werner Fritsch: Wondreber Totentanz. Traumspiel. In: Werner Fritsch: Es gibt keine Sünde im Süden des Herzens. Stücke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. S. 139–213. Hier: S. 141. 10 Vgl. dazu Fritsch im Gespräch mit Jörg Lukas Matthaei: “Wir stehen an einer Schwelle, wo die Dokumente stürzen. Wenn wir Bilder des Holocaust sehen, wissen wir noch, daß da kein fake dabei ist. Aber Hollywood hat mit ‘Schindlers Liste’ den Anfang gemacht, Authentizität zu simulieren, und das geht jetzt immer leichter. Die Objektivität der Fotografie oder des Dokumentarfilms gibt es nicht mehr. Und da ist wieder, wie seit Jahrhunderten, die Dichtung als subjektiver, aber einer inneren Wahrhaftigkeit verpflichteter Umgang mit diesen Themen angesagt. Und das kann die Dichtung vielleicht späteren Generationen von dieser Tragödie erzählen, die dann nicht mehr an die Objektivität der Aufnahmen glauben – vielleicht glauben sie der Subjektivität einer Erzählung, ihrer Wahrhaftigkeit. […] Das wäre die Utopie: Ich drücke dir nicht meinen Schmarrn ins Gehirn, um Geld zu machen, um Erfolg zu haben, sondern mein Theater ist ein Ort wie ein Naturraum: Die Zeichen sind nicht auf Eindeutigkeit ausgerichtet, sondern auf Vieldeutigkeit.” (“Das Theater ist der letzte Ort für Metaphysik” [Anm. 4]. S. 179.) 11 Werner Fritsch: Natalität versus Fatalität (Anm. 8). S. 9: “Nur aus dem Konfliktherde zeitigenden Geist der Eineindeutigkeit heraus, kann Sprache als Medium für Gesetze, die Grundlage sind für Befehle, Dekrete, Verordnungen, instrumentalisiert werden: die Sprache der Jurisprudenz, die Sprache der politischen Rhetorik, die Sprache der Propaganda, die Sprache religiöser Dogmen, die Sprache der Bürokratie, die Sprache der Wissenschaft, die heute noch profitiert von den
363 vernutzten Sprache programmatisch “Vieldeutigkeit”12 und Offenheit entgegensetzt. Mehr als die Stimme der 1988 gestorbenen Sängerin Nico, die von einem nicht weiter definierten Ort aus in einer nicht definierten Zeit spricht, kennt das Stück nicht: keine Handlung im Sinne des Spiels und Gegenspiels durchgearbeiteter Spielfiguren, nicht einmal eine dramatis persona im traditionellen Verständnis. Der Text geht dahin, wo die Geschichte aufhört und die Mythen beginnen, verschmilzt dabei biographische Elemente (die Geschichte der Christa Päffgen, die als Nico die Enge ihres Elternhauses hinter sich gelassen hat), die Revolten der rebellischen Söhne und Töchter in der Aufbruchszeit der sechziger Jahre, die Erinnerung an – deutsche – Geschichte. Nico ist vom Ende her gesprochen. Nico, die rätselhafte ‘Sphinx aus Eis’, rekapituliert ihr Leben, ihre Begegnung mit den ‘Großen’ (Alain Delon, Jim Morrison), ihre Revolten und Selbstzerstörungen. Die Sätze fließen ineinander, die Lieder vermischen sich: Nicos Lieder und die Lieder des toten Geliebten – des legendären Sängers der “Doors” Jim Morrison. Wie die Biographie des ‘großen’ Schauspielers Gustaf Gründgens in Fritschs Traumspiel Chroma. Farbenlehre für Chamäleons (UA 2001, Staatstheater Darmstadt) ist auch das Leben der Sängerin Nico, die sich aus der realen Welt in die Scheinwelt der Drogen mit ihren illusionären Glücksversprechen geflüchtet hat und doch wie die Spielfigur Gründgens der Last der Geschichte in ihrem Rücken nie hat entkommen können, Prisma einer Auseinandersetzung mit Geschichte, die durch den Mythos hindurch von der Sehnsucht nach Erlösung, vom Versuch einer Rettung durch und in der Kunst erzählt. Aufgetragen nämlich ist der Rückblick Nicos auf die Geschichte von Orpheus und Eurydike, die dem Traum einer Versöhnung von Leben und Tod durch die Macht der Kunst Ausdruck verleiht. Als Übermalung der orphischen Hadesfahrt verbindet sich mit den Erinnerungen der verglühten Sängerin zum einen die Vorstellung, dass die Kunst die Toten zurückzuholen in der Lage ist: Nicos Gesang ist – in Umkehrung der alten Rollenverteilung – Versuch, den toten Geliebten (die Vergangenheit) aus dem Totenreich zu befreien, ihn erinnernd zu verlebendigen und damit gegenwärtig zu machen. Der Theatertext Nico ist darüber hinausgehend auf einer übergeordneten Ebene Probe aufs Exempel eben der poetischen Kommunion, die Fritschs
damaligen Forschungen am Menschen als Versuchskaninchen, die Sprache von Befehl und Gehorsam – all diese Verwendungsweisen von Sprache suchen, letzten Endes, die Eineindeutigkeit – die poetische Sprache, auf der allein das Theater des Jetzt beruht, hingegen sucht die Vieldeutigkeit, die Offenheit: auf dass, mit Hölderlin zu sprechen, der Mensch die Freiheit verstehe, aufzubrechen, wohin er will. / Die Erkenntnis, dass kaum jemand in unserer Kultur aus Auschwitz diese Erkenntnis gezogen hat, ist furchtbar.” 12 Ebd.
364 Theaterästhetik zum Ziel hat. Denn die da mit den Toten spricht, ist letztlich selbst Kunstwerk: Bild/Ikon (‘Nico’ ist ein Anagramm von ‘Icon’, was wiederum auf das griechische Ursprungswort ‘eikon’ zurückgeht), und ihrerseits damit Projektionsfläche für die Freiheitsoperationen des “Theaters des Jetzt”, das die Toten und mit ihnen die Vergangenheit zurückholt, das in einem aus Vergangenheit und Gegenwart gebildeten Kraftfeld die Oberflächenschichten der Wirklichkeit durchbricht, um so die Dinge wieder und auf nicht (mehr) gesehene Weise ins Spiel bringen. Der Sprachgestus von Theatertexten wie Nico, die den Zuschauer durch Sprachkatarakte hindurch gleichsam an den Nullpunkt der Wahrnehmung führen, dorthin, wo die (Medien-)Bilder implodieren, stattet den gesprochenen Text mit poietischer Kraft aus und behauptet das Theater als Gegen-Ort des Anderen: als Ort der Stille, der nicht durch die Schnelllebigkeit und Geschwindigkeit der Medien definiert ist, sondern durch Konzentration und dadurch dem Denken Raum lässt gerade auch für das, was nie ganz vereindeutigt werden kann. Nicht zufällig dominieren innerhalb von Fritschs Œuvre so, abgesehen von (und zum Teil auch in Verbindung mit) Bewusstseinsprozesse abbildenden Monologen, die Traumspiele (Wondreber Totentanz, Golgatha, Aller Seelen, Hydra Krieg, Bach zum Beispiel führen diese ‘Gattungsbezeichnung’ explizit im Titel). Das Traumspiel ist versetzter Spiegel der Welt, in dem die Zeit als Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre ordnende Bedeutung verloren hat, Tote und Lebende zugleich so auf der Bühne agieren können. Als der “gewöhnliche[n] Wortsprache” in mancher Hinsicht überlegene “Abbreviaturen- und Hieroglyphensprache” (Gotthilf Heinrich Schubert)13 öffnet der Traum den Raum diesseits der (Medien-)Bildern, die immer mehr jede Form der Wirklichkeitswahrnehmung umstellen.
II. Erinnerungsraum Theater Indem es sich die Freiheit des Traums zurückholt, hat Fritschs Theater teil an der Produktion bzw. der Rettung des Gedächtnisses – als Prozess und “Medium des Erlebten”14, wie Benjamin es in dem Abschnitt “Ausgraben und Erinnern” aus den “Denkbildern” bestimmt hat. Gedächtnis in Benjamins Vorstellung ist Archäologie, Grabung, bei der der Fundort genauso viel zur Erkenntnis beiträgt wie das Gefundene – und natürlich der Vorgang des Grabens selbst, der wiederum den nun geöffneten Ursprungs-Boden und damit 13
G[otthilf] H[einrich] Schubert: Die Symbolik des Traumes. Bamberg: Kunz 1814. S. 2. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV,1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. S. 400f. 14
365 das Medium verändert und auf der Spurensuche seinerseits Spuren hinterlässt. Im Zentrum dieser Grabungen, als gleichsam Herzstück des theatralen Erinnerungsprozesses, steht der Tod von Fritschs Großeltern, die kurz nach der Beendigung des Krieges und der Befreiung der Lager von ehemaligen KZHäftlingen während eines Plünderungszuges vor den Augen ihrer Kinder ermordet wurden. Dieses traumatische Geschehen im Schatten der deutschen Schuld bleibt unerklärlich. Im 2004 wiederum in Darmstadt uraufgeführten Traumspiel Bach formulieren das die Getöteten selbst, die am Bett ihres sterbenden Sohnes erscheinen: JOHANN Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht. Hab ich den Janusz nicht, in KZ-Montur noch, aufgenommen bei mir? Hab ich ihm nicht zu essen gegeben und zu trinken? Und hat er nicht ein Quartier gekriegt auf der Hechtmühl? Meinen Kindern hat der Janusz Pfeiferl geschnitzt – und Lieder gespielt auf der Geigen für sie. Ja, der hat meinem kleinen Heiner sogar das Leben gerettet. 45. Im August. Wie ihn, beim Steinblock unter der Blutbuche, die Kreuzotter gebissen hat! Ich versteh das nicht! Ich versteh das nicht! Ich versteh das nicht! Das Loch im Kopf. Und das Loch im Herz. Granateinschlag. Mehl stäubt herab. Elisabeth steht, zur Gänze voller Mehl, im Licht: Ein Schußloch im Kopf und eines auf Herzhöhe. […] ELISABETH Ich versteh das nicht: Das Loch im Kopf und das Loch im Herz. Dunkel.15
Dieses Unerklärliche, das Nicht-Verstehen-Können eines Geschehens, das buchstäblich nicht ins Bild passt, wird zum Fluchtpunkt von Fritschs immer neuen Einsenkungen in die Finsternisse der deutschen Geschichte, die grabend die Toten zurückholen, sie zum Sprechen und damit dazu bringen, ihre Geschichte herzugeben, sie zu erzählen. Dort wo Theaterarbeit – wie in Nico, wie hier in Bach – solcherart ‘Vergegenwärtigung’ im Sinne von ‘gegenwärtig machen’ bedeutet, erfüllt sich Walters Benjamins Bestimmung der Erinnerung als Mahlgemeinschaft von Lebenden und Toten, die dem Historiker die Rolle eines Herolds zuweist: “Die jeweils Lebenden erblicken sich am Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu richten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tisch lädt”.16 15
Werner Fritsch: Bach. Traumspiel. Frankfurt/M. 2004 (⫽Suhrkamp Theatertext/ Bühnenmanuskript). S. 17. 16 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 14). Bd. V,1: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. S. 603.
366 Im “Theater des Jetzt” übernimmt der Autor als Spielmacher die Rolle dieses Herolds der Toten. Indem es ganz in diesem Sinne und in gegenläufiger Bewegung etwas zu der hemdsärmeligen Wurstigkeit, die der Metzger Häcksler in Fritschs Komödie Die lustigen Weiber von Wiesau im Umgang mit der Geschichte an den Tag legt,17 die Toten/die Vergangenheit wenn nicht gerade zu Tisch, wohl aber – und dies in den ‘deutschen’Totentänzen Wondreber Totentanz, Aller Seelen und Bach auch ganz wörtlich – zum Tanz lädt,18 verwandelt das “Theater des Jetzt” die Bühne zur sinnlichen Anstalt einer kollektiven Erinnerung, die die Toten birgt: Opfer und Täter. Ohne alle Etikettierungen stehen die Toten in diesen Erinnerungsreigen zunächst einmal da: stellvertretend für das, was passiert ist – und was sie erlitten oder was sie zu verantworten haben. Fritsch verschafft damit nicht dem Wunschtraum einer Auslöschung von Differenz zwischen Opfern und Tätern eine Legitimation, wenn im Erinnerungsraum seines Theaters buchstäblich nichts ausgelassen wird, auch nicht die Tragik einer Konstellation, in der Opfer schuldig werden. Vielmehr erfolgen Fritschs Grabungen in der Perspektive der von der politischen Theologie ins Spiel gebrachten Idee einer “memoria passionis und resurrectionis”,19 also einer Leidenserinnerung, die einerseits den unabgegoltenen Anspruch der Toten und der Opfer der Geschichte auf Sinn (Gerechtigkeit, Freiheit usw.) reklamiert, in der andererseits aber auch Hoffnung ex negativo aufscheint (im theologischen Verständnis als in Tod und Auferstehung Christi symbolisierter Macht des Lebens über den Tod als eschatologischer Verheißung Gottes). 17
Während sich der Dorfarzt von Wiesau in diesem Lustspiel demonstrativ von der Vergangenheit abwendet (was nicht heißt, dass er sich mit ihr auseinandersetzen würde) und nun statt tödlicher Phenolspritzen im Rahmen des Euthanasieprogramms Aufbauspritzen an die weibliche Dorfbevölkerung ausgibt, hat der schlitzohrige Metzgermeisters Häcksler die Vergangenheit für sich regelrecht abgehakt. Vgl. dazu insbesondere folgenden Dialog zwischen Häcksler und dem opportunistischen Dorfpfarrer: “PFARRER [auch er hat eine Vergangenheit als Mitläufer] Ach … Herr Häcksler, das Elend, das uns der Herrgott gezeigt hat im Kriege. Wieviele junge Leute, die nur eine geringfügige Verfehlung sich hatten zuschulden kommen lassen, mußte ich auf dem letzten Gang zum Galgen begleiten. Auf der Wache kurz eingeschlafen – Wachvergehen: Tod durch den Strang … Einem hielt ich die Hände bis zum bitteren Ende … / HÄCKSLER Ja, der Krieg ist vergeigt. Aber da muß man ein gesundes Wurschtgefühl entwickeln … Prost! Sie trinken. (Werner Fritsch. Die lustigen Weiber [Anm. 6]. S. 85.) 18 Vgl. dazu ausführlich Norbert Otto Eke: “Im Kopf die Toten verwesen nicht”. Werner Fritschs “Theater des Todes”. In: Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Alo Allkemper und Norbert Otto Eke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006. S. 64–81. 19 Klaus Dermutz hat diesen Zusammenhang als erster hergestellt. Vgl. Klaus Dermutz: Umschmelzung gesprengter Fragmente – Zu einigen Motiven im Werk von Werner Fritsch. In: Werner Fritsch. Hieroglyphen des Jetzt (Anm. 1). S. 40–51. Hier: S. 46.
367 Fritschs Theater der Erinnerung birgt die Toten, gibt zumal den verbrannten, ihrer Leiblichkeit beraubten, körperlosen Toten einen (Sprach-)Körper; es leuchtet die Dunkelzonen der deutschen Geschichte aus, stellt ihre Schrecken aber weniger dar als vielmehr vor. Hier schließt sich der Kreis zu den beschriebenen ästhetischen und dramaturgischen Verfahren von Fritschs Grenzziehungen gegenüber den Ausdrucksformen eines vermeintlich authentischen Realismus. Geradezu apodiktisch hatte der Dramatiker Heiner Müller im Gespräch mit dem Philosophen Wolfgang Heise einst verneint, ein “Stück über Auschwitz schreiben” zu können, denn: “Wo der Schrecken versteint, hört das Spiel auf.”20 Er hatte damit für sich als Autor noch einmal ausdrücklich der Verschärfung von Adornos immer wieder nur verkürzt zur Kenntnis genommenem Einspruch gegenüber dem Schreiben von Gedichten21 zum Schweigegebot und Gestaltungsverbot zugestimmt, die der Kunst ‘nach Auschwitz’ immer noch Grenzen setzt.22 Auch Fritsch wahrt im Grunde genommen diese Grenze, wenn er das theatrale Spiel weitestgehend zurücknimmt in Bewegungen der Sprache. Fritschs Theater bebildert Auschwitz/Flossenbürg nicht (und wenn einmal doch wie in den KZ-Szenen von Aller Seelen, dann nur in surrealen Bildern); es spielt nicht Vernichtung, sondern erzählt sie durch den Rahmen versprachlichter Erinnerungen hindurch. Ein charakteristisches Beispiel für dieses Verfahren ist die Erinnerung des körperlich behinderten Bauernknechts Wenzel an seine Deportation, die in verschiedenen Metamorphosen immer wieder in Fritschs Prosatexten und Dramen begegnet. In dem 1998 in Mannheim uraufgeführten Theatermonolog Cherubim (nach Fritschs gleichnamigem Erinnerungs-Buch an den fürsorglichen Begleiter seiner Kindheit) ist diese Erinnerung, die der reale Wenzel Heindl selbst als Afrika-Aufenthalt ‘verdunkelt’ hat, um sie seinem primären Zuhörer, dem Kind Werner Fritsch gegenüber kommunizierbar zu machen, als Erzählung der performativen Ebene des Spiels entzogen. Diese Form indirekter Darstellung, die symptomatisch ist für Fritschs Umgang mit der Shoah, hat ein Vor-Bild im Mythos. Athene hatte Perseus bekanntlich den Rat gegeben, im bevorstehenden Kampf das Haupt der Medusa nicht direkt, sondern nur vermittelt über das Spiegelbild anzusehen, um seiner versteinernden Wirkung zu entgehen: das wahre Bild macht blind. So rückt die im Theater als Theater gesprochene Erinnerung Wenzels die Erfahrung des Schrecklichen als Fremdes weg – und 20
Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 1990. S. 69. 21 Die Pointe von Adornos Diktum besteht ja bekanntlich gerade darin, dass Auschwitz nicht nur die Kunst, sondern jede Erkenntnis in Frage stelle. 22 Vgl. dazu Norbert Otto Eke: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2006. S. 7–18.
368 holt sie gleichzeitig in dieser Fremdheit wieder zurück in die Mitte des Erinnerungsraums Bühne: Heimwärts zu ist einmal auch ein Wagen dahergeholpert gekommen. Sakrisch geschwind wie der Wind. Ein schlechter Weg wars, steinig, Schlaglöcher. Und wie ich droben sitzen tu und mitfahre, derweil denk ich, Ich weiß nicht, was das für ein Ding ist. Derweil hat es gesehen gehabt wie der Tod, was die Leute zusammenfährt. Lauter so Zeug. Wie ein Geistgerippe hat es ausgeschaut. Wie das Gerippzeug auf dem Hirschen. Auf der Wondreber Tafel. Da hab ich mir gedacht, Das ist eine schön hungrige Gegend. Wo die Leut so dürr werden zu Leichen. Und ist doch schon zugegangen auf daheim zu. Da können doch die Leut so gar zaundürr auch wieder nicht sein. Und bin heruntergesprungen und bin selber gegangen. Getal gegangen über die drei Berg. Und da bin ich reingekommen, als ob ich schon einmal dagewesen wär. Auf einen Ding bin ich gekommen. Auf einen Palast. Hat gesehen wie die Hölle. Hat können sein in einem Loch. Ein Loch war es schon gerade. Die drei Berge drinnen. Aber wie ich hinabgekommen bin ins Tal, wo es gestanden ist. Da war es wie ein Schloß. Alles zu. Kein Fenster und nichts drin. Und der Rauch ist rausgequollen, und die Leut haben dir geschrien. Und mein, hab wer Bekanntes herausgehört. Bin aber nicht draufgekommen, wer es gewesen wär. Wenn es der Rumänenbinder war, könnt es schon gewesen sein. Und außen Eisenbänder herumgemacht. Ich hab keine Tür gesehen. Hab ich gesagt, Da muß doch wo eine Tür hineingehen!? Und es hat geschrien, Ja, ja, ja! Dann haben sie da, wo eine Tür hineingeht, Die Tür wieder nicht aufgebracht. – Da kannst nicht herein, haben sie gesagt, Da ist lauter Feuer!23
369 III. Über den Tod hinaus Fritschs Theater der Erinnerung kommt vom Tod her, bleibt aber nicht bei den Toten stehen. Im Brückenschlag zu den auf die Kraft der Sprache setzenden Emanzipationskonzepten der Aufklärung richten Fritschs Grabungen zugleich über den ‘Zivilisationsbruch’ von Auschwitz hinweg noch einmal den Glauben auf an eine Kultur der Versöhnung. Nicht von ungefähr stellt Fritsch dem Reigen der Schreckensbilder in seinem Stück Aller Seelen (UA 2000, Thalia Theater Hamburg) mit den berühmten Schlusssätzen aus Kants Kritik der praktischen Vernunft einen geheimen Fingerzeig voran auf die Denkbarkeit eines moralischen Sittengesetzes und zugleich damit auf die Freiheit zur Moral als Ausweg aus den Fatalitäten der Geschichte: “Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.”24 Freiheit setzt (im Kantschen) Verständnis eine doppelte Grenze: nach unten (gegenüber dem Bösen) und von oben (der bestirnte Himmel des Sittengesetzes). Damit ist das Böse nicht aus der Welt geschafft, dessen Geschichte im Paradies mit einem “Betriebsunfall der Freiheit”25 (Safranski) beginnt und sich über das Drama des Brudermords und die Sintflut fortsetzt bis zu der Erkenntnis, dass das Böse nicht aus der Welt zu schaffen ist. Damit ist dieser “Wille zum Widersinn”26 nicht erledigt, wohl aber als Freiheitsphänomen mit dem anderen Freiheitsphänomen des Guten ins Verhältnis gesetzt. Immer wieder gestaltet Fritsch von hier aus seine Stückschlüsse in der Spur der Erlösung – ohne freilich seinen Einsenkungen in die Finsternisse der Geschichte damit eine teleologische Struktur zu unterschieben. Fritschs Grabungen öffnen sich allerdings gegenüber utopischen Vorstellungsbildern einer Anfänglichkeit, deren Voraussetzung in der Frage des sterbenden Bauern Heiner im Traumspiel Bach “Muß ich wirklich durch das alles durch”27 implizit benannt sind: erst die ungeteilte Erinnerung kann zur Freiheitserfahrung werden. Sie geben Zeichen so einer die Abgründigkeit der Welt überwindenden Hoffnung.
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Werner Fritsch: Cherubim. Monolog, in: Werner Fritsch: Es gibt keine Sünde (Anm. 9). S. 93–138. Hier: S. 135–137. 24 Werner Fritsch: Aller Seelen. Traumspiel. In. Werner Fritsch: Aller Seelen. Traumspiel – Golgatha. Stücke und Materialien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. S. 7–67. Hier: S. 12. 25 Rüdiger Safranksi: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München – Wien: Hanser 1997. S. 32. 26 Vgl. Günther Pöltner: Das Böse – Wille zum Widersinn. In: Das Böse. Fragmente aus einem Archiv der Kulturgeschichte. Hg. von Eugenio Spedicato. Bielefeld: Aisthesis 2001. S. 9–21. 27 Werner Fritsch: Bach (Anm. 15). S. 27.
370 Ein bekannter Einwand des Wallenstein-Lesers Hegel gegen Schillers Geschichtsdrama lautete, Schiller habe im Wallenstein allein das sinnlose Zerstörungswerk der Geschichte zum Ausdruck gebracht: “Wenn das Stück endigt, so ist alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodizee. […] Leben gegen Leben; aber es steht nur Tod gegen Leben auf, und unglaublich! abscheulich! der Tod siegt über das Leben! Dies ist nicht tragisch, sondern entsetzlich!”28 In Umkehrung dieses Einwands ließe sich gegen Fritsch Theater sagen, in ihm stehe das Leben gegen den Tod auf, wenn es im Ergebnis der Grabungen im Boden der Geschichte die Möglichkeit eines neuen Anfangs als Denkbares zulässt. Fritsch hat sich dafür auf Hannah Arendts politische Philosophie berufen, in deren Mittelpunkt der Begriff der ‘Natalität’, der Gebürtigkeit als Freiheit begründender Modus menschlicher Existenz in der Welt steht.29 Hier ist der Ansatzpunkt für die utopische Öffnung von Fritschs Einsenkungen “in fremde Finsternisse”, die auf eben die Anfänglichkeit des Menschen als jemandem setzt, von dem Augustinus sagt (Arendt selbst zitiert diese Stelle wiederholt) “damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab”.30 Solange es Menschen gibt, gibt es auch eine Kontinuität, d.h.: die Möglichkeit des Anfangs als Gegenentwurf zu der Geschichte ‘wie sie bisher gelaufen ist’ (Benjamin) – in Arendts Worten: “Dieses Anfang-Sein bestätigt sich in der menschlichen Existenz, insofern jeder Mensch wieder durch Geburt als etwas je ganz und gar Neues in die Welt kommt, die vor ihm war und nach ihm sein wird.”31 Der Gedanke dass mit den immer neuen Geburten immer wieder auch neues Denken, neuer Eigensinn in die Welt kommt, hat eine eminent politische und auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung, insofern durch das Bewegungsprinzip der Natalität sich auch die Fähigkeit individuellen Handelns beständig erneuert: Natalität schlägt Fatalität – oder wie Fritsch es in einer seiner jüngeren theatertheoretischen Programmschriften selbst zur Forderung des Tages erklärt hat: “Natalität versus Fatalität”. Der Epilog von Fritschs Komödie Schwejk? (UA 2003, Landestheater Linz) stellt nach einem Parforceritt durch vier Jahrzehnte deutscher Geschichte – von der Weimarer Republik bis in die sechziger Jahre – von hier aus am Ende in geradezu exemplarischer Weise alles wieder auf Anfang. Im Vorspiel des 28
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Über Wallenstein]. In: Ders.: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 1: Frühe Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. S. 618–620. 29 Vgl. Werner Fritsch: Natalität versus Fatalität (Anm. 8). 30 Zitiert nach Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hg. von Ursula Ludz. München – Zürich: Piper 1994. S. 125. 31 Ebd. S. 220.
371 Stückes hatte Fritsch den Bauernknecht Wenzel, neben der Roma Courasch und dem Metzger Häcksler eine der drei Figuren, auf die er das schwejkische Prinzip verteilt, vom Ursprung der Welt im Abfall von Gott erzählen lassen. Das Nachspiel kontert diesen ersten Schöpfungsmythos mit dem Bild des neuen Bundes zwischen Gott und Noah als zweitem Schöpfungsmythos – hier nun mit Wenzel und der Courage, die beide das Konzentrationslager überlebt haben, als neuen Stammeltern. Es kontert gleichzeitig damit den illusionslosen Blick auf die faule Idylle einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Opfer auf ihrem “Todesmarsch ins Leben” (so der Titel der Szene) im Biergarten ausgerechnet neben den Tätern und Mitläufern zu sitzen kommen, die sich selbstgerecht in ihren Lebenslügen und einem oberflächlichen Umgang mit der Vergangenheit eingerichtet haben. DER WENZEL Was tust denn du da, Herrgott noch mal? DER HERRGOTT Die Welt erschaffen. DER WENZEL Die Welt ist untergangen in Wasser wieder. Und das hat das Rutschen angefangen. In Böhmen war alles unter Wasser wieder. Und der Sündregen hat das Gebirge auf Geburt getauft. Und ich hab Gewitter gehört im Herzen, wo aus den Bergen nur so herausgekracht sind. Daß niemand mehr einen Weg gesehen hat. Vor Finsternis. Bis der Blitz kommen ist. Aber ich kann Schuld gewesen sein auch. Am Untergang! Weil alles allweil schneller allweil schlechter worden ist. Draußerhalb auf der Welt in mir. DER HERRGOTT Das ist gut gewesen! Weil alles böse war auf Erden! Von Jugend auf! DER WENZEL Es brennt überall ein schönes Licht. Da wünsch ich euch allen ein schönes Licht. Und eine Gesundheit und ein langes Leben. Bis in den Tod hinein. Und dem Tod eine gute Sterbestunde. DER HERRGOTT Ich fang wieder von vorne an. DER WENZEL Das geht doch wieder in den Graben! DER HERRGOTT Ein wenig gescheiter jetzt will ichs schon treiben! Ich überleg mir jedes Wort jetzt! Weil, was ich sage, kriegt gleich Gestalt. In einer Sprache ohne Thronen und Mächte und nichts wie Mordsheerscharenzeug fort.
372 DER WENZEL Hast ja keine Menschen mehr. Sind ja alle tot. DER HERRGOTT Du bist doch noch! Und da im Hintergrund ein Weib. Courasch kommt auf Wenzel zu. Das reicht doch für den Anfang.32
Die ‘Zigeunerin’ Courage ist Hauptfigur auch des Stückes Das Rad des Glücks (UA 2005, Bayerisches Staatsschauspiel München), in dem Tod und Geburt in sprechender Weise die beiden Pole bilden, zwischen denen Fritsch sein Erinnerungstheater aufgespannt hat. Dem Tod nahe ist die alte Roma Courasch, die im Heiliggeistspital von Waldsassen auf ihre stumme Enkelin Mira einredet, die sich in Erwartung der Geburt ihres Kindes zu ihrer Großmutter ins Altenheim geflüchtet hat. Während Mira stumm bleibt und auch die Identität des Kindsvaters hartnäckig verschweigt, durchwandert die Alte redend das Unglücksgelände ihrer traumatischen Erinnerungen. Tief senkt sich das Stück mit der Rückschau der alten Frau, die die Konzentrationslager von Auschwitz und Ravensbrück überlebt, dort aber ihre Kinder und fast alle Verwandten verloren hat, ein in die deutsche Geschichte, dokumentiert die unbändige Lebenskraft einer Davongekommenen, aber auch den unbändigen Hass der Überlebenden auf das deutsche Tätervolk (und seine Nachgeborenen), das nur wenig aus der Vergangenheit gelernt hat und der Roma noch immer die ‘alten’ Vorurteile nachträgt. Mit Gewitztheit und Klugheit ist die Courasch einst ihren Henkern entkommen, mit List und einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit hat sie sich durch die Anarchie der unmittelbaren Nachkriegszeit gerettet. Für sie ist die bevorstehende Geburt ihres Urenkels der letzte Triumph des Lebens über den Tod: des eigenen, vor allem aber auch desjenigen der von innen (Zerfall der Familien- und Clanstrukturen) und außen (soziale Ausgrenzung) gleichermaßen bedrohten Roma-Kultur, in deren allmählichem Verschwinden in der deutschen Wohlstandsgesellschaft sich das Vernichtungswerk der Nationalsozialisten mit historischer Verzögerung vollendet: “Alles ist zerfallen jetzt. Alles! Der Clan, die Familie. Alles!”33 Wenn der Courasch ein drogensüchtiger Roma als Vater des Kindes lieber ist als ein Deutscher – das zumindest hält sie ihrer Enkelin entgegen (“Hauptsach, kein Deutscher. Nein! Nein! Unser Blut muß sein rein!”34) –, reproduziert sie damit aber nur vordergründig die Sprache der Täter. Nicht ein 32
Werner Fritsch: Schwejk?. In: Werner Fritsch: Schwejk? – Hydra Krieg. Stücke und Materialien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. S. 7–105. Hier: S. 104f. 33 Werner Fritsch: Das Rad des Glücks. Monolog. Münchner Fassung. Frankfurt/M. 2005 (⫽ Suhrkamp Theatertext/Bühnenmanuskript). S. 6. 34 Ebd. S. 8.
373 gleichsam ‘verkehrter’ Rassismus treibt sie um, wenn sie Mira schon einmal hart als vermeintliche “Hitlerbraut”35 angeht, sondern die ihr vor Augen stehende Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses: der von Generation zu Generation leibhaftig weiter gegebenen, solcherart gelebten Erinnerung und damit die Voraussetzung für den Fortbestands der eigenen Geschichte der Roma: Unser Stamm ist tot. Ausgelöscht! Und der Stamm, wos jetzt gibt? Pfeif drauf! Unser Moral ist im Arsch. Unser Kinder sind Mischmasch. Früher nicht! Nie! Daß ich gehört hätt so ein Ding! Nie! Mädl! Ich könnt dich! Grün und blau! Grün und blau! Die Zigeunermänner sind heut auf Heroin! Zugegeben! Und so Kinder sind doch auch todsüchtig gleich, hab ich jüngst zu Gehör gekriegt! Und die Zigeunermädl nehmen heutzutag Deutsche zuhauf. Wie Hund und Katz! Wie Hund und Katz! Türken sind jetzt da. Alles ist da! Alles ist mir lieber als ein Deutscher! Weil durch die ist der Teufel gefahren in die ganz Welt!36
Der Titel des Monologs selbst ist doppelbödig. Er verweist zum einen auf das Rad der Fortuna, die “rota fortunae” als Symbol der Unberechenbarkeit und Wechselhaftigkeit des Lebens bzw. des Wechsels des Glücks vom Aufstieg bis zum Fall, wie es spätestens seit Boethius’ Consolatio philosophiae toposhaft begegnet – im Falle der Courasch heißt das auch: auf die Zufälligkeit des eigenen Überlebensglücks (“Und ich! Ich bin immer wieder dem Tod von der Schaufel geflogen! Ich bin immer im richtigen Transport gewesen. Räder rollen in den Tod. Oder rollen ins Glück.”37). Der Titel verweist zum anderen und vor allem aber auf eine Technik des Kartenlegens und -lesens (genau das tut die Courasch), bei der im Mittelpunkt des Glückrads eine sogenannte Problemkarte – Tod, Krankheit, Sehnsucht, Eifersucht etc. bedeutend – liegt, um die dann in zwei Halbkreisen jeweils sieben vom Ratsuchenden aus dem Kartenstapel gezogene Karten gelegt werden: der linke Halbkreis beleuchtet die Ursachen, die zu dem Problem geführt haben (das wäre die deutsche Geschichte), die rechte deutet die Zukunft an (das wären Mira und ihr Kind). Der Aufbau des Stückes wiederum erfolgt in Analogie zu diesem Rad des Glücks beim Kartenlegen in fünfzehn Abschnitten mit der Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses als gedanklicher Mitte. Mit der Geburt von Miras Kind stellt das Stück den nur noch bruchstückhaften Erinnerungen Couraschs, deren Gedächtnis seit einem Schlaganfall vom Vergessen bedroht ist, eine szenische Metapher an die Seite, die den Memoria-Diskurs der theatralischen Erinnerung in das Prinzip der Natalität einschreibt: Die Geburt ist Anfang und Wiederbelebung (Verleiblichung) der 35
Ebd. Ebd. S. 24. 37 Ebd. S. 17. 36
374 Toten. Mit Miras Kind wird so am Ende das in den Abortgruben von Auschwitz ertrunkene Kind der Courasch, die verlorene Tochter Puppa, wiedergeboren, zugleich der ‘brüllende Tornado’ der Geschichte, gegen den die ‘Persona’ ICH in Fritschs Hymnus Heilig Heilig Heilig, Auschwitz im Rücken, noch anschreit, buchstäblich ‘still’gestellt. Der Traum des im Bild der Generationenkette aufgerufenen (Weiter-)Lebens landet im Körper: Puppa! Meine Puppa! Meine Puppa! Ausgerutscht und untergetaucht. Und ich hab sie können nicht mehr ausherholen. Nicht mehr dürfen ausherholen! Da war die Schlangen zu lang bei der Abortgruben. Die ist ist direkt ersoffen in Auschwitz, meine Puppa! Du guter Gott! In der Scheiße! Wenns ein Mäderl wird, mußt du sie taufen auf Puppa! Meine Puppa! Regentropfen... Regentropfen... Wunder-, wunderschön! Drucken! Drucken! Drucken mußt, Mira! Drucken! Der Kopf! Der Kopf kommt. Tausend Rosen, das wird ein Mädl! Der Kopf ist schon da! Drucken! Drucken! Ja! Ja! Ja! Babygeschrei. Und jetzt die Brust! S T I L L E38
Das Bild der Stille schließt Fritschs Theater der Erinnerung, schließt seine Grabungen in einer Hoffnung ein, die über alle Finsternisse hinweg den Glauben nicht aufgibt – nicht an den Menschen, nicht an die von ihm gemachte und in Freiheit der sittlich-moralischen Entscheidung zu verantwortende Geschichte. Die Möglichkeit der Selbsterlösung durch die Moral (die Vernunft) bleibt für Fritsch mit anderen Worten eine Option. Die Hoffnung darauf allerdings ist grundlos, d.h.: sie begründet nichts und sie benennt auch keine guten Gründe. Sie geht nicht den Umweg über Gott – und sie kennt auch keine anderen Letztbegründungen als die Moral (die Vernunft) selbst, deren Letztbegründung bekanntlich nichts anderes ist als “der Wille zu ihr.”39 Mehr als das bleibt nicht – und die Pflicht zur Zuversicht. Was Rüdiger Safranski mit Blick auf Kant über diese Pflicht zur Zuversicht gesagt hat, lässt sich im Grunde genommen auch auf den Autor Werner Fritsch übertragen, dessen Werk letztlich in dieser Pflicht zur Zuversicht seine Mitte hat: “In prekären Situationen, sagt Kant einmal, gibt es eine Art Pflicht zur Zuversicht. Sie ist der kleine Lichtkegel inmitten der Dunkelheit, aus der man kommt und in die man geht. Eingedenk des Bösen, das man tun und das einem angetan werden kann,
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Ebd. S. 27. Rüdiger Safranksi: Das Böse (Anm. 25). S. 288.
375 kann man immerhin versuchen, so zu handeln, als ob ein Gott oder unsere eigene Natur es gut mit uns gemeint hätten.”40 Dass Fritschs Theater diese Pflicht zur Zuversicht aufrichtet, das markiert, wenn man so will, die “Spur des Heiligen”,41 die Fritsch dem Ursprungsboden der Geschichte im Zuge seiner Grabungen einschreibt.
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Ebd. S. 330. Ich schließe hier an einen Gedanken Günther Pöltners an. Vgl. Günther Pöltner: Das Böse (Anm. 26). S. 17f.: “Frei-sein-können heißt, zum Tun des Guten, des Sinnspendenden gewürdigt und berufen sein. In dieser inneren Ausrichtung und diesem bleibenden Aufgerufensein liegt das Wesen menschlicher Freiheit. Solch eine Erfahrung mit dem Wesen der Freiheit kann sich zu einer religiösen Erfahrung vertiefen, wenn sie sich dem Quellgrund öffnet, aus dem sowohl die Möglichkeiten des Guten als auch das Frei-sein-können entspringen. In der Offenheit für diesen ungreifbaren Quellgrund ereignet sich für das sittliche Bewusstsein der Aufgang des Heiligen. So heißt es z.B. bei Plinius dem Älteren: ‘Es ist Gott dem sterblichen Menschen, wenn der eine dem anderen hilft’ (Deus est mortali iuvare mortalem, Naturalis historia II, 18). Und von daher ist auch die zweite Frage des Boethius verstehbar: ‘Bona vero unde, si non est?’ (Das Gute aber woher, wenn Gott nicht ist?). Gut sein können, sich dazu ermächtigt erfahren, gut sein dürfen – in solcher Erfahrung, so lässt sich das Bekenntnis des Boethius deuten, ereignet sich die geheimnisvolle Anwesenheit Gottes. Und schließlich gehört hierher auch der berühmte Schluss von Kants Kritik der praktischen Vernunft: ‘Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir’ (Kp V 288).”
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Elrud Ibsch
Neulektüren oder: die Verlegenheit des Wissens um den Autor New readings in the sense of new interpretations of the same text are a phenomenon of all ages. This essay focuses in particular on recent theoretical approaches that have enhanced the active role of the reader, such as reception aesthetics, reader-response theory, radical conventionalism, the empirical study of literature, and poststructuralism. “The Death of the Author” as announced by Roland Barthes signalled a climax in this development that emancipated the reader at the expense of the author. At the same time a paradoxical situation emerged. Politically and morally committed readers who from their own point of view read a particular text may discover, perhaps to their surprise, that they cannot do so without considering the presence of the author. In many cases the inevitable question is: What is the ethical position of the author? Does the author condemn the wrongs he describes or does he excuse them? Two case studies elucidate the quandary with which readers and researchers can be confronted. The first case concerns the false identity of the author (Carl Friedman). Defective authenticity may have consequences for attributing a text to a specific genre or mode. The second case is based on a comparison between a novel and a political address, both by Martin Walser. It appeares that the literary ambiguity of the novel, behind which the author could conceal his own position, evaporates in the light of his more straightforward speech. Here, too, readers may decide to correct their initial reading.
I. Neulektüren sind seit vielen Jahrhunderten ein treuer Begleiter der Schriftlichkeit, mag es sich um religiöse, historische oder literarische Texte handeln. Begründung und Rechtfertigung erneuter Lektüren wurden zum Beispiel im Bemühen um den ursprünglichen Wortlaut gesucht und gefunden. Abschreibefehler in handschriftlicher Überlieferung, Druckfehler seit der Buchdruckkunst, verloren gewähnte und später aufgefundene Manuskripte verpflichteten den Philologen zur “Verbesserung” der überlieferten Textgestalt und zu Kommentaren von Text- und Kontextbezügen. Philologische Akribie und Treue gegenüber dem Ursprungstext bildeten die Grundlage der Neulektüre. Zu Zeiten der Regelpoetik wurden literarische Texte nach Maßgabe der Regeltreue gelesen und beurteilt. Die gleichen Texte konnten im Sturm und Drang und in der Romantik einer Neulektüre unterzogen werden, die sie zu Vorläufern der inzwischen hochbewerteten Regelwidrigkeit machten. Die Loslösung aus der Regelpoetik wurde in der sogenannten französischen “Querelle” (Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde
378 les Arts et les Sciences1) diskutiert, die nach Hans-Georg Gadamer gleichsam die letzte Form einer ungeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Tradition und dem Zeitalter der Moderne gewesen ist.2 Im Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts verschob sich die Neulektüre von der Philologie und/oder Poetik zur Autorbiografie. Die Lebenswelt des Autors und sein literarisches Œuvre wurden ursächlich miteinander in Verbindung gebracht, so dass die Geliebte im Gedicht Goethes gelesen wurde als Charlotte von Stein, Ulrike von Levetzow oder welche Frau auch immer, in die der Dichter zur Zeit der Entstehung seiner Verse gerade verliebt war. Lebensweltliche Konkretisierung als Hintergrund einer – wenigstens teilweise – neuen Lektüre. Ein weiterer Schritt zu Neulektüren wurde in der Blütezeit der philosophischen Hermeneutik vollzogen. Wilhelm Diltheys idealistische Identitätsphilosophie, derzufolge der verstehende Historiker seinem Gegenstand nicht gegenübersteht, sondern “von der gleichen Bewegung geschichtlichen Lebens getragen wird”,3 bindet den Verstehensprozess des Lesers noch an den Autor, allerdings gerade ohne die positivistische Nullposition der Historizität des Lesers zu übernehmen. Gadamer beschreibt den Prozess: “Die Grundlegung der Historik in einer Psychologie des Verstehens, wie sie Dilthey vorschwebte, versetzt den Historiker in eben jene ideelle Gleichzeitigkeit mit seinem Gegenstand, den wir ästhetisch nennen”.4 Dilthey konnte seine Position nur um den Preis der Annahme einer kontinuierlichen Gleichartigkeit und Kongenialität der menschlichen Natur durchhalten. Diese Voraussetzung hatte – zwar ohne Diskussion der philosophischen Hintergründe – auch noch Gültigkeit für die sogenannte “werkimmanente Interpretation” (in der deutschen Literaturwissenschaft insbesondere vertreten durch Roman Ingarden und Wolfgang Kayser). Eine Schriftkultur kennt aber auch die kommunikative Differenz zwischen Produktion und Rezeption, eben jene Differenz, die bereits in der Querelle angesprochen wurde, sich aber damals noch nicht durchsetzen konnte. Hans Robert Jauss, der Begründer der Rezeptionsästhetik, in der die kommunikative Differenz für die Neulektüre literarischer Texte wegweisend wurde, hat sich mit der Querelle auseinandergesetzt.5 Mit dem Aufkommen der Rezeptionsästhetik wurden Text und Autor aus ihrer Vorrangstellung bei der Lektüre/Interpretation vertrieben und die Position des 1
Originalausgabe Paris 1688–1697. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. [1960]. 4. Aufl. Tübingen: Mohr 1975. S. 503. 3 Ebd. S. 478. 4 Ebd. S. 218. 5 Hans Robert Jauss: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1970. S. 11–66. 2
379 Lesers kam bestimmend ins Bild. Dies geschah bei Jauss allerdings noch innerhalb der Grenzen der literaturhistorischen Expertise. Es ist der professionelle Leser, der in der Rekonstruktion des “Erwartungshorizontes” zum Zeitpunkt der Erstrezeption eines Textes, dem eine innovative Potenz eignet, die historische Differenz sichtbar macht. Damit wurde die literarische Öffentlichkeit zum Objekt professioneller Handlungen und konnte Jauss an die tschechische Tradition eines Jan Mukarˇovsky´ anknüpfen, der die Literarizität eines Textes darin sah, dass über unterschiedliche Wertsysteme von Lesergruppen neue Bedeutungen (Neulektüren) realisiert werden konnten. Aus dieser Perspektive wird dann auch verständlich, dass Jauss sich mit Vehemenz einer Forderung der didaktisch-psychologischen (empirischen) Vertreter der Literaturwissenschaft, die “Versuchspersonen zu beliebigen Äußerungen auffordert”, widersetzt hat.6 Nur der professionelle Leser (womöglich vom Typus eines Jauss selbst) sei imstande, das “gegen den Strich lesen” von klassischer Literatur, zum Beispiel Goethes Iphigenie, zu begründen und zu verantworten. Die empirische Variante der Rezeptionstheorie (mit den frühen Vertretern in Deutschland: Norbert Groeben und Siegfried Schmidt) zeigte sich denn auch nach anfänglicher Wertschätzung von der Konstanzer Theorie enttäuscht. Auch für die Empiriker waren “beliebige” Äußerungen von Versuchspersonen nicht das Ziel ihrer Forschung. Auch sie interessierten sich für größere Lesergruppen und Wertsysteme. Dabei waren spontane Bedeutungszuschreibungen jedoch zur Eruierung von Leservariablen aufgrund von Kategorien wie Ausbildung, soziale Position, Geschlechtszugehörigkeit, Leseerfahrung u.s.w. unentbehrlich. Zur Durchsetzung der Annahme einer Interaktivität von Text und Bezugsrahmen des Lesers für Bedeutungskonstituierung haben intensive Auseinandersetzungen beigetragen. Hieran waren die Rezeptionstheorie Konstanzer Prägung, radikal konventionalistische Vorstellungen von Interpretationsgemeinschaften im Sinne von Stanley Fish,7 psychologische sowie psychoanalytische Ansätze der amerikanischen “reader-response-theory” und die deutsche (wie auch niederländische) empirische Leserforschung beteiligt. Daneben – und teilweise in tangentialer Berührung – spielte der französische Poststrukturalismus mit seinen Hauptvertretern Roland Barthes, Jacques Derrida, Michel Foucault und Julia Kristeva eine wichtige Rolle. So wurde bei Barthes der “lisible” zu einem “scriptible” Text transformiert, das heißt der “Leser” potenzierte zum “Autor”, dessen “Tod” denn auch nicht lange auf sich warten ließ und von Barthes in einem aufsehenerregenden Aufsatz verkündet wurde.8 Derridas Attacke richtete 6 Hans Robert Jauss: Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur. In: Poetica 7 (1975). S. 325–344. Hier: S. 333. 7 Stanley Fish: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge (MA): Harvard UP 1980. 8 Roland Barthes: La Mort de l’auteur. In: R.B. Œuvres complètes. Tome II. Paris: Seuil 1994. S. 491–495.
380 sich gegen den Gültigkeitsanspruch der Textvorlage, die er aufgrund der von ihm vorausgesetzten disseminativen Tendenz jeder sprachlichen Äußerung einer gründlichen Dezentralisierung und Enthierarchisierung unterwarf: sprachliche Zeichen generieren unaufhaltsam neue Zeichen ohne Aussicht auf Bindung an ein Bezeichnetes. Foucault und Kristeva brachten den realen Autor zum Verschwinden, indem sie ihn zu einem “Schnittpunkt von Diskursen” (Foucault) umfunktionierten oder in eine ganz allgemein gefasste “Intertextualtität” auflösten (Kristeva). An Neulektüren, vor allem (post)moderner Texte, die sich zu Demonstrationszwecken besonders gut eignen, besteht kein Mangel!9 Der Leser als entscheidende Instanz für die Interpretation literarischer Texte beherrschte nunmehr das Feld und wurde zugleich für die Position eines Werkes im Kanon nationaler und internationaler Literatur verantwortlich. Ohne den Leser kann Literatur sich nicht behaupten. Darum ist Frank Kermode recht zu geben, wenn er feststellt, dass das Überleben von Literatur auf der Kombination eines unveränderlichen Textes und wechselnden Kommentaren beruht.10 Er sieht die Lektüre als eine normative Handlung, die kulturelle Werte bewahrt und sie an verschiedene historische Kontexte anpasst. Diese eingeforderte Adaptation ist zugleich der Schwanengesang eines jeden Anspruchs auf die eine “adäquate” Interpretation. Oder auch in den Worten von Liedeke Plate: “Seen in the light of canon formation, then, re-vision is a necessary and integral part of canonicity, adding to the canon’s cultural capital rather than transforming or overturning it.”11 Den Warnungen, die E.D. Hirsch und Umberto Eco12 gegen die unbeschränkte Freiheit des Lesers vorgebracht hatten und die darauf ausgerichtet waren zu verdeutlichen, dass in einer kommunikativen Situation auch der Senderseite gewisse – sogar ethisch zu verteidigende – Rechte in dem Bedeutungsaufbau
9 Vgl. zum Poststrukturalismus auch den Einführungsaufsatz der Herausgeber von Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Tübingen: Niemeyer 1999. S. 3–35. 10 Frank Kermode: The Genesis of Secrecy: On the Interpretation of Narrative. Cambridge (MA): Harvard UP 1979. 11 Liedeke Plate: Remembering the Future; or, Whatever Happened to RE-Vision? In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 2008/1. S. 389–411. Hier: S. 397. 12 E.D. Hirsch: Validity in Interpretation. New Haven and London: Yale UP. 1967. Umberto Eco: The Limits of Interpretation. Bloomington and Indianapolis: Indiana UP. 1990. Ders.: Interpretation and History. In: Interpretation and Overinterpretation. Ed. by Stefan Collini. Cambridge: Cambridge UP 1992. S. 23–43. Eco will an dieser Stelle vorsichtshalber übrigens nicht von der ‘intentio auctoris’ sprechen sondern wählt den Begriff der ‘intentio operis’, um die Historizität eines Textes gegen die unbegrenzte Freiheit des Interpreten in Stellung zu bringen.
381 eines Textes zugesprochen werden sollten, wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die Freiheit, die dem Leser eingeräumt wurde, zeitigte nun aber ein unerwartetes Paradox.
II. Das Paradox der Leserfreiheit: die Rückkehr des Autors Der Leser ist einerseits ein Individuum mit persönlichen Lebenserfahrungen und Lektürepräferenzen, andererseits aber gehört er einer historischgesellschaftlich geprägten Gemeinschaft an. Es ist diese letztere Rolle, die für den professionellen Leser/Literaturwissenschaftler13 Anlass sein kann, aus der Zielvorstellung gesellschaftlich notwendiger Umschichtungen heraus den literarischen Kanon, so wie er sich in Literaturgeschichten, Lehrbüchern und Vorlesungsverzeichnissen manifestiert, einer Revision zu unterziehen. Dazu hat er zwei Möglichkeiten: die erste besteht darin, die Berechtigung der Position bestimmter Kanonautoren kritisch zu hinterfragen; mit der zweiten beabsichtigt er, den Stimmen jener Schriftsteller Gehör zu verschaffen, die bisher nicht den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben. So berichtet Wayne C. Booth – ausgerechnet der Literaturwissenschaftler, der ungefähr zeitgleich mit den New Critics das Textkonstrukt des “implied author” lanciert hatte, mit dem Ziel, den realen Autor aus der Interpretation auszuschalten – von einem interessanten persönlichen Lektüreerlebnis, das ihm aus der Begegnung mit dem Feminismus erwachsen war.14 Als Antwort auf die Frage, ob Rabelais in seinem Gargantua Frauengestalten auf sexistische Weise dargestellt hat, führt er positive und negative Argumente an. Entschließt man sich zu einem historisierenden oder gattungsorientierten Bezugsrahmen, so wird man zu der Verteidigung von Rabelais neigen und die Beschuldigung des Sexismus entkräften wollen. Seine eigene Interpretationsbiografie zu Rabelais beschreibt Booth als den Weg von dieser historisierenden, feministische Probleme nicht berücksichtigenden Interpretation zu seiner späteren (1988) Neulektüre, die den sexistischen Charakter nicht mehr zu übersehen vermag. Dies ist für ihn, so muss er bekennen, zugleich der Weg, der von der reinen Freude an der karnevalesken Schreibweise des Autors zum Nachdenken über sie geführt hat.15 Einige weitere Beispiele mögen die persönliche und freiheitliche Positionierung des Lesers in seiner Gesellschaft als richtungweisend für Neulektüren und 13
Der Lesbarkeit des Textes kommt es m.E. zugute, nicht jeweils die weibliche Form auch zum Ausdruck zu bringen. Es ist selbstverständlich, dass die ‘Leserin’ und die ‘Literaturwissenschaftlerin’ mitgemeint sind. 14 Wayne C. Booth: The Company We Keep: An Ethics of Fiction. Berkeley – Los Angeles – London: University of California Press 1988. 15 Vgl. zu Neulektüren aus feministischer Sicht auch Judith Fetterley: The Resisting Reader: A Feminist Approach to American Fiction. Bloomington: Indiana UP 1978.
382 Umschichtung des Kanons und zugleich als Bedingung der Autorrückkehr erhellen: (1) Die Möglichkeiten und Grenzen der Identitätsfindung derer, die verschiedenen Kulturen angehören, führten zu erhöhter Interpretationsaktivität bezüglich der Werke von Schriftstellern wie Vladimir Nabokov, Saul Bellow, Salman Rushdie, Toni Morrison und vielen anderen, die aus der Perspektive der “doppelten Loyalität” neu gelesen wurden. (2) Die Arbeit an der Vergangenheit weckte in Deutschland Interesse für jüdische Kultur und regte Neulektüren von beispielsweise Franz Kafka und Paul Celan an. Auch wurde die Aufmerksamkeit auf deutschsprachige jüdische Vor- und Nachkriegsautoren gelenkt, darunter Edgar Hilsenrath, Robert Schindel, Robert Menasse, Maxim Biller, Rafael Seligmann. (3) Der Verdacht rassistischer Vorurteile generierte Neuinterpretationen zu Texten wie Shakespeares The Tempest und Merchant of Venice, Joseph Conrads Heart of Darkness und E.M. Forsters A Passage to India, die in Einzelfällen ein Neuüberdenken der Position ihrer Werke im Kanon der Weltliteratur zur Folge hatten.16 Der Leser, der seine Lektüre aufgrund seiner gesellschaftlichen Positionierung wählt, alte und neue Texte liest und, wie Booth, gegenliest, trifft unvermeidlich auf den Autor. Dies aber meine ich mit dem Begriff des Paradox: die Freiheit des Lesers, der – so hochgestimmt – den Autor als “tot” erklärt oder jedenfalls für eine quantité négligeable im Prozess der Bedeutungskonstituierung gehalten hatte, befindet sich plötzlich in einer unerwarteten Bindung an den empirischen Autor. Denn: dort, wo die Lektürepräferenz Texte betrifft, die Gerechtigkeit für bestimmte gesellschaftliche Gruppen einfordert oder aber Texte, die dieser Gerechtigkeit widersprechen (auch wenn sie sich zu ihrem Widerspruch nicht offen bekennen), ist plötzlich die Identität des Autors von großer Bedeutung. Gehört er zu jenen, die Opfer der Ungerechtigkeit (gewesen) sind oder aber zu jenen, die Ungerechtigkeit begangen haben? Die Gruppenzugehörigkeit des Autors ist unübersehbar geworden und betrifft ihn als Person, seine gesellschaftliche Haltung und – im Ernstfall – seine Authentizität. Der hier skizzierte Weg zur “Rückkehr des Autors” unterscheidet sich von dem, den Fotis Jannidis vorschlägt. In seinem Beitrag “Der nützliche Autor”17 argumentiert er aus der Perspektive einer wünschenswerten Begrenzung der 16
Vgl. zu diesen Beispielen auch Elrud Ibsch: Die Interpretation und kein Ende. Oder: Warum wir auch nach der Jahrtausendwende noch interpretieren. In: Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Hg. von Henk de Berg und Matthias Prangel. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1999. S. 15–29. 17 Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext. In: Rückkehr des Autors (Anm. 9). S. 353–389. Hier: S. 386 u. S. 389.
383 Leserfreiheit: “Ein wesentlicher Vorteil des Autorkonzepts besteht demnach darin, dass das Wissen um die Gebrauchsregeln und um das Weltwissen bedeutungslimitierend eingesetzt werden kann.” Oder, anders formuliert: “Der Begriff ‘Autor’ nimmt in wissenschaftlichen Darstellungen seinen Platz ein, weil es mit ihm möglich war und trotz der poststrukturalistischen Kritik immer noch ist, zahlreiche Probleme der Analyse und Darstellung in plausibler Weise zu lösen.” Jannidis betrachtet den Autor als eine “nützliche” Instanz zur Lösung der Probleme historischer Zuordnung und um den endlos wuchernden Zeichen im Sinne Derridas gegenzusteuern. In meinem Konzept, das sich allerdings auf die Literatur der Gegenwart konzentriert und daher chronologisch limitiert ist, erscheint der Autor als die gesellschaftlich moralische Instanz, die gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen werden kann. Das Wissen um diesen empirischen Autor kann zu unerwarteten und möglicherweise unerwünschten Neulektüren Anlass sein.
III. Die Verlegenheit des Wissens um den Autor: Carl Friedman In meinem Versuch, eine Entwicklungslinie der Literatur zur Shoah (größtenteils von jüdischen Autoren geschrieben) zu skizzieren, die vom Zeugnis zum postmodernen Experiment führt,18 habe ich der niederländischen Autorin Carl Friedman19 einen Abschnitt gewidmet. Friedman gehört zur sogenannten zweiten Generation jüdischer Schriftsteller. Meiner Einteilung zufolge, in der ich erlebte Geschichte (Zeugnisse/Memoiren), erinnerte Geschichte und erfundene Geschichte unterscheide, ist der Hintergrund ihrer Poetik nicht ihre eigene Geschichte von Verfolgung und Überleben, sondern die erinnerte Geschichte, die sie sich aufgrund der Erlebnisse ihrer Eltern und anderer Opfer, so wie aus Dokumenten und Bildern zueigen gemacht hat. Carl Friedman (1952) veröffentlichte ihre erste Erzählung Vater 20 im Jahre 1991. Während im allgemeinen in den Werken niederländischer Autoren der zweiten Generation das Schweigen der Eltern über die traumatische Vergangenheit und die aufgrund dieses Schweigens problematische Situation in den Familien ein durchgehendes Erzählmotiv ist, bildet der Vater in Friedmans Novelle gleichsam die Gegenstimme zu den Vätern in anderen Texten.21 Sein fortwährendes Reden über seine Lagervergangenheit wirft einen Schatten über 18
Elrud Ibsch: Die Shoah erzählt. Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen: Niemeyer Verlag 2004. 19 Es handelt sich trotz des Vornamens in der Tat um eine AutorIn. 20 Carl Friedman: Vater. Erzählung. Aus dem Niederländischen von Marlene MüllerHaas. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1997. (Originaltitel: Tralievader [wörtlich: “Vater hinter Gittern”]). Amsterdam: Van Oorschot 1991). 21 Ich erlaube mir an dieser Stelle für die Kurzanalyse der Erzählung zurückzugreifen auf Ibsch (Anm. 18). S. 154.
384 den Alltag der Kinder. Die Erzählung besteht aus kurzen Kapiteln, Skizzen aus dem Kinderleben, dessen unbesorgte Momente immer wieder durch die Berichte über des Vaters qualvolle Erfahrungen in Bestürzung umschlagen. Mahlzeiten, Autoausflüge, gemeinsame Spiele bieten ihm reichlich Anlass, über den Weg von Assoziationen Erlebnisse aus dem Lager einzubringen, wodurch die alltäglichen Dinge ihre Unschuld verlieren. Die Erzählperspektive liegt bei der Tochter, einem Mädchen im Grundschulalter. Der Vater dagegen spricht die Sprache des erwachsenen Überlebenden und bedient sich der Codeworte der geschlossenen Welt des Konzentrationslagers. Folglich kommt es notgedrungen zu Missverständnissen in der Kommunikation. Die Kinder fassen etwas wörtlich auf oder sie kennen die Bedeutung eines Ausdrucks nicht: “Vater hat ‘kamp’ (die Lagerkrankheit)” ist eine geflügelte Redewendung in der Familie, wodurch die Bedrängnis des Vaters als Krankheit konkretisiert und damit für die Kinder verständlich wird. Die Darstellung der Asymmetrie des kognitiven Niveaus der jungen Kinder einerseits und des Vaters andererseits ist ein sehr wirksames Erzählverfahren, da hierdurch der Abgrund, der das normale Leben von dem Lagerleben trennt, über die Sprache vermittelt wird. Dazu trägt auch noch ein anderes Verfahren bei: im Verlauf der Erzählung ist die Tochter immer weniger am Wort und übernimmt der Vater immer häufiger die Rolle des ‘Erzählers’. Die Worte und das Leben der Kinder verschwinden gleichsam hinter den Worten und der Vergangenheit des Vaters. In den letzten Kapiteln nimmt die Erzählung dann auch den Charakter eines Augenzeugenberichtes an. Die verstörte Jugend der Kinder wird am Ende der Novelle gemildert. Nach einer der vielen zornigen Entladungen des Vaters sind sie Zeugen der unerschütterlichen Liebe zwischen Vater und Mutter. Die Sprache der erdrückenden Präsenz eines Überlebenden, die zu Kommunikationsstörungen bei allen Anlass bietet, wird aufgehoben in einem – unerwarteten? – Lyrismus. Carl Friedmans Vater wurde sehr positiv aufgenommen. Die Autorin wurde zu Lesungen eingeladen und als Beispiel der erzählenden Potenz jüdischer Schriftsteller der zweiten Generation gebührend gewürdigt. Ihre Erzählung wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und fand Eingang in verschiedene Sammelbände zur jüdischen Literatur. So schreibt Elsje Shamir-de Leeuw in Holocaust Novelists: “She is internationally recognized as an important voice of the ‘second generation’” und sie fügt hinzu: “Most of her work is strongly autobiographical and focuses on what it means to be Jewish, on anti-Semitism, and on the trauma of the Holocaust.”22 Friedmans zweites Buch Zwei Koffer,23 das 1993 erschien, wurde im Jahre 1998 erfolgreich verfilmt unter dem Titel: Left Luggage (der deutsche Titel 22
Holocaust Novelists. Dictionary of Literary Biography. Vol. 299. Ed. by Efraim Sicher. Detroit: Thomson/Gale 2004. S. 84 und 88. 23 Carl Friedman: Zwei Koffer. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Neuauflage Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2005. (Originaltitel: Twee koffers vol. Amsterdam: Van Oorschot 1993).
385 lautete Kalmans Geheimnis). Das Regiedebüt von Jeroen Krabbé wurde mehrfach ausgezeichnet, sowohl in den Niederlanden als auch international; so auch auf den Berliner Filmfestspielen. Aus diesem Buch/Film spricht Friedmans Vertrautheit mit dem orthodoxen Judentum in Antwerpen und mit der Problematik, die dies in der Begegnung mit sowohl dem nicht-orthodoxen Judentum als auch der nicht-jüdischen Umwelt zeitigen kann. Friedmans Position war damit allseitig anerkannt. Sie trat hin und wieder gemeinsam mit Gerhard L. Durlacher auf, einem Überlebenden von Auschwitz, dessen Bücher zusammen mit den Tagebüchern und Erinnerungen von Abel Herzberg zu den wichtigsten Holocaust-Memoiren der niederländischen Sprache gehören. Die kulturelle Szene in den Niederlanden erlebte dann auch eine Erschütterung, als im Oktober 2005 Dokumente erschienen, die in aller Deutlichkeit Beweise erbrachten, dass Carl Friedman nicht die Tochter eines jüdischen Überlebenden ist, sondern dass ihr Name Carolina Klop lautet und sie als Kind katholischer Eltern in Brabant geboren wurde. Den Namen Friedman hatte sie nach ihrer Scheidung von ihrem amerikanischen Ehemann beibehalten. Carl Friedmans Bruder gab offen zu, dass seine Familie keinen jüdischen Hintergrund habe. Wohl habe sein Vater, Egbert Klop, am niederländischen Widerstand teilgenommen und sei auch eine Zeitlang in Sachsenhausen inhaftiert gewesen. Die Qualitätspresse in den Niederlanden (darunter NRC Handelsblad und de Volkskrant) brachte im Herbst 2005 und zu Beginn des Jahre 2006 regelmäßig Beiträge zu diesem Thema, wobei man auch den “Fall Binjamin Wilkomirski” aus dem deutschen Sprachraum und andere Fälle einer falschen Identität in Erinnerung rief. Es war Jessica Durlacher, die Tochter des bereits genannten Gerhard Durlacher und ihrerseits eine jüdische Autorin der zweiten Generation, die den “Fall Friedman” an die Öffentlichkeit gebracht hatte (de Volkskrant, 1. Oktober 2005). Am 15. Oktober 2005, in der Woche des Jom Kippur, des jüdischen Versöhnungstags, schreibt sie in der gleichen Zeitung eine Kolumne, in der sie die Frage stellt, ob sie ihr Wissen um Friedmans Identität nicht hätte verschweigen sollen. Wäre es nicht menschlicher gewesen, mit der Kollegin Mitleid zu haben, sie zu schützen? Doch schließlich verwirft sie diesen Gedanken: Geht die Lüge über ihre Identität, aufgrund derer Carl Friedman sich Rechte meinte anmaßen zu können, nämlich das Recht des Respekts vor dem Leiden, den Leser denn gar nichts an? Carl Friedmans Schuld (wenn man in diesem Fall von ‘Schuld’ sprechen will) bestand weniger darin, dass sie sich selbst als Jüdin ausgegeben hätte, sondern eher in ihrer anfänglich widerspruchslosen und später betont selbstsicheren Akzeptanz der ihr von der Umwelt zugeschriebenen jüdischen Identität. Ohne den geringsten Vorbehalt ließ sie es sich gefallen, dass die literarische Kritik und Literaturwissenschaft zur Autobiografie erklärte, was Fiktion war, und sie erhob keine Einwände gegen die Aufnahme ihrer Werke in internationale Enzyklopädien zur jüdischen Literatur der zweiten Generation.
386 Die Reaktionen auf die von Jessica Durlacher an die Öffentlichkeit gebrachte ‘Entdeckung’ blieben im Allgemeinen eher zurückhaltend. Wie ich nach eigener Sucharbeit und durch Mitteilungen von Kollegen erfahren habe, ist es in der deutschen Presse still geblieben. In den Niederlanden wurden als mögliche Ursachen der Identitätsfälschung die reiche Fantasie von Schriftstellern im Allgemeinen und das Verlangen nach Identifikation mit den Romanfiguren angeführt. Man erwog aber auch die Möglichkeit, dass die als selbstverständlich angenommene jüdische Identität zu dem Erfolg der Bücher Friedmans beigetragen habe. Pam Emmerik sprach in NRC Handelsblad vom 9. Dezember 2005 von dem “dramatischen Mehrwert der Opferrolle”. Andere Kritiker hielten dagegen, dass Vater zweifellos auch ohne die Identitätslüge als ein viel gelesenes und geschätztes Buch seinen Erfolg gefunden hätte. Der Schriftsteller Joost Zwagerman spricht von dem “pathologischen Verlangen” nach der Opferidentität (ebenfalls in NRC Handelsblad) und kommt damit der psychischen Konstellation Carl Friedmans womöglich recht nahe. Das Dilemma der Literaturwissenschaftlerin gestaltet sich einigermaßen anders. Die Frage ist dabei nicht, ob die Identitätslüge Friedmans eine persönliche Enttäuschung darstellt oder aber Mitleid und möglicherweise Verständnis für das Identifikationsbedürfnis der Schriftstellerin mit den von ihr geschaffenen Gestalten hervorruft. Auch geht es nicht so sehr darum, ob der literarische Wert der Erzählung Vater aufgrund der Entdeckungen geringer zu veranschlagen ist (die erzähltechnischen und stilistischen Eigenschaften des Buches geben keinen Anlass zu einem Widerruf).24 Problematischer aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist dagegen, ob die Kategorienzuweisung, die ich der Erzählung im Korpus der niederländisch-jüdischen Literatur von Schriftstellern der zweiten Generation zuerkannt habe, noch haltbar ist. Können assoziative Wahrnehmungen und Umsetzung von Alltagserfahrungen in die Sprache der Vernichtungslager sowie exzessives Redebedürfnis als Möglichkeit des Überlebens – die ‘Gegenstimme’ zum Schweigen – eine neue Kategorie andeuten, die möglicherweise mit anderen Romanen und Erzählungen zu ergänzen ist? Dabei geht es dann um die Verhaltensweisen von Überlebenden der Vernichtungslager; Arbeitslager wie das, in dem der Vater Friedmans eine Zeit verblieb, hatten bei allen Zwängen doch eine andere Funktion. Nach diesen Überlegungen bleibt die Frage: Ist mit dem Wissen um die Autorin Carl Friedman die Möglichkeit auszuschließen, dass Kinder von Holocaustüberlebenden in (fiktionalisierten) Autobiografien einen Vater oder 24
Prof. Dr. D.H. Schram, empirisch arbeitender Literaturwissenschaftler an der Vrije Universiteit Amsterdam, hat gelegentlich einer kleinen, nicht-repräsentativen Umfrage unter Schülern eines Gymnasiums feststellen können, dass die Schüler nach der Information über die Autorin die Erzählung nach wie vor hoch einschätzten (mündliche Mitteilung meines Kollegen).
387 eine Mutter beschreiben, die sprachlich ununterbrochen das Lagerleben evozieren? Oder müsste man einen solchen Erzähltypus als widerlegt betrachten? Unser Jubilar Gerd Labroisse hat in seinem Aufsatz “Konstruktives Relationieren versus Selbstreferentialität. Zur Problematik wissenschaftlicher Literaturinterpretation” theoretisch auf eindringliche und überzeugende Weise die Grenzen aber auch die Verpflichtungen wissenschaftlicher Vorgehensweisen in der Literaturwissenschaft dargestellt. Auch für die Geisteswissenschaften plädiert er trotz “der Nichtexistenz allgemeiner Gesetzlichkeiten” für das “falsifizierende Erstellen von Erklärungskonstrukten mit abschätzbaren Geltungen” und das “Ausschließen von Falschorientierungen”.25 Für die Fallstudie, die ich beschrieben habe, bedeutet ‘Rationalität’ sensu Labroisse beispielsweise die unermüdliche Suche nach Erzählungen (mit gesichertem biografischen Hintergrund) vom Typus Vater in verschiedenen europäischen Literaturen. Auch wäre zur Lösung dieser Frage die Expertise von (Trauma)Psychologen wünschenswert.
IV. Aufs Neue in Verlegenheit: Martin Walser Im Jahre 1999 hat Frank Schirrmacher, der Laudator Martin Walsers bei der Überreichung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1998), die Walser-Bubis-Kontroverse in einem umfangreichen Band versammelt.26 Die Diskussion war die Folge der Dankesrede Walsers, einer von ihm selbst als “kritisch” qualifizierten Rede. In seinem Dankwort nimmt er dagegen Stellung, dass kein Tag vergeht, ohne dass den Deutschen ihre geschichtliche Last, “die unvergängliche Schande” vorgehalten wird. Er gibt zu bedenken, dass die Intellektuellen “dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern”. Er spricht von einer “Routine des Beschuldigens” in den Medien: “Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz […]; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen”.27 Zur Wiedergewinnung eines “reineren und besseren Gewissens” rekurriert Walser auf Heidegger (“Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst”) und Hegel, “deren Sprachverstand nicht anzuzweifeln ist”, und für die “Gewissensfreiheit” zieht er 25
In: Interpretation 2000 (Anm. 16). S. 45–62. Hier: S. 55, 61, 58. Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Hg. von Frank Schirrmacher. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1999. 27 Ebd. S. 11–12. 26
388 den Prinzen von Homburg von Kleist heran, der selbst darüber zu urteilen hatte, ob sein Todesurteil gerecht sei und vollzogen werden solle. Auch Thomas Mann wird noch als Gewährsmann genannt: “Wie er wirklich dachte und empfand, seine Moralität also, teilt sich in seinen Romanen und Erzählungen unwillkürlich und vertrauenswürdiger mit als in den Texten, in denen er politisch-moralisch recht haben musste”.28 Auf die Beziehung zwischen Roman und Essays wird noch zurückzukommen sein. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass sich im Falle der Mehrzahl der Walserschen Gewährsleute (Goethe, Schiller, Hölderlin, Fichte, Hegel) nichts über ihr Verhalten in einer Post-Holocaust Situation sagen lässt. Ihnen ist der Zivilisationsbruch erspart geblieben, und was Heidegger betrifft, so kann er nicht als politisches Gewissen gelten. Die Argumente, die in der Walser-Bubis-Debatte ausgewechselt wurden, sind weitgehend bekannt. Interessant aber ist der Rezeptionsmechanismus, der den Argumenten zugrunde liegt. Während die Walser-Adepten aus der Rede vor allem die ihrer Meinung nach nur allzu berechtigte Furcht vor der Instrumentalisierung des Gedenkens lesen oder aber den “Schlussstrich” berufen und: “endlich können wir aufatmen”, fokussieren die Walser-Kritiker auf das “Wegschauen” und auf das private Gewissen, das ihnen allzu privat erscheint.29 Interpretationsdifferenzen sind aus der Kommunikation nicht wegzudenken und werden bezüglich der literarischen Kommunikation vielerorts als Differenzqualität von Literatur eingeklagt. Anlässlich einer Gesprächsrunde kann Walser dann auch Bubis von Herzen zustimmen, dass jeder aus der Rede “etwas anderes ableitet”. Doch erstaunt seine präzise Antwort, die lautet: “Das ist immer so bei literarischen Texten”.30 Diese Antwort ist erstaunlich: Hält Walser seine Rede für Literatur? Auf welche Gemeinsamkeiten zwischen politischer Rede und Literatur deutet diese Bemerkung möglicherweise hin? Das kann doch nichts anderes sein als die Ambiguität, von der im Gespräch mit Bubis bereits die Rede war, eine Ambiguität, die nach Wolfram Schütte bewirkt, dass man für keine Aussage “haftbar gemacht werden kann”.31 Walser-Kritiker meinten, dass die zum Teil kritische Rezeption seines Romans Ein springender Brunnen32 bei dem Autor zu Irritationen geführt habe. Von Auschwitz sei darin übrigens keine Rede, so wurde vermerkt. Dem sei, wie es wolle. Und doch ist der Roman in unserem Zusammenhang aufschlussreich. Kurz vor dem Ende der auf eigenen und fingierten Elementen beruhenden Entwicklungsgeschichte gibt es eine Szene, die zum Nachdenken anregt. Diese 28
Ebd. S. 13–15. Vgl. die Rezension der Walser-Bubis-Debatte von Elrud Ibsch. In: Deutsche Bücher. Forum für Literatur 30 (2000). S. 178–181. 30 Die Walser-Bubis-Debatte (Anm. 26). S. 458. 31 Ebd. S. 220. 32 Martin Walser: Ein springender Brunnen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1998. 29
389 Szene hat vieles mit der Rede zu tun. Es geht um die Begegnung des Protagonisten Johann mit dem früheren Schulkameraden Wolfgang, dessen Mutter, eine Jüdin, mit seinem Vater, einem Arzt, in “privilegierter Mischehe” gelebt hatte. Über den Verlauf der Familiengeschichte Wolfgangs wusste Johann nichts und… wollte er auch nichts wissen, denn: “Die Angst, in der Frau Landsmann gelebt hatte, engt ihn ein. Er will mit dieser Angst nichts zu tun haben”.33 Auch das Schicksal anderer jüdischer Einwohner der Stadt kennt er nicht: Vielleicht meinte Wolfgang, dass Johann ein Vorwurf zu machen sei, weil er all das nicht gewusst, nicht gemerkt hatte. Johann wehrte sich gegen diesen vermuteten Vorwurf. Woher hätte er wissen sollen, dass Frau Haensel Jüdin ist? Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selber hatte.34
Martin Walsers Diktum “Das ist immer so bei literarischen Texten” wird nunmehr von der Parallele der Formulierungen in Dankesrede und Roman her verständlich. Der Leser, der Rede und Roman etwa zur gleichen Zeit gelesen hat, ist damit in Verlegenheit gebracht. Der Schluss des Romans fordert nicht ohne weiteres dazu auf, die Gedanken Johanns als die des Autors Walser zu interpretieren. Im Zusammenhang mit der Rede und den Aussagen des Autors in der Debatte wird jedoch ein Neuüberdenken des Romanendes unvermeidlich. Ich habe das Wissen um den Autor an zwei Konfliktfällen zu illustrieren versucht. Es gibt deren viele (darunter auch den “Fall Grass”, der indessen mehr zur Kompetenz des Jubilars als zu der meinigen gehört). In anderen, nicht konfliktreichen Fällen führt dieses Wissen nicht zu Verlegenheiten, sondern zu vertieftem Verständnis des literarischen Werkes. Ein solches Erlebnis wurde mir hinsichtlich der Romane von Amos Oz nach der Lektüre seiner Autobiografie Eine Geschichte von Liebe und Finsternis35 zuteil. Doch hierüber ein andermal.
33
Ebd. S. 400. Ebd. S. 401. 35 Ursprünglich in hebräischer Sprache erschienen. Jerusalem: Keter 2004. 34