Jochen Eckert Eva-Maria Biermann-Ratjen Diether Höger (Hrsg.) Gesprächspsychotherapie Lehrbuch für die Praxis
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Jochen Eckert Eva-Maria Biermann-Ratjen Diether Höger (Hrsg.) Gesprächspsychotherapie Lehrbuch für die Praxis
Jochen Eckert Eva-Maria Biermann-Ratjen Diether Höger (Hrsg.)
Gesprächspsychotherapie Lehrbuch für die Praxis
123
Prof. Dr. phil. Jochen Eckert Universität Hamburg Institut für Psychotherapie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg
Dipl.-Psych. Eva-Maria Biermann-Ratjen Psychotherapeutische Praxis Loehrsweg 1 20249 Hamburg
Prof. Dr. phil. em. Diether Höger Universität Bielefeld Abt. für Psychologie der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften Postfach 100131 33501 Bielefeld
ISBN-10: 3-540-28463-X ISBN-13: 978-3-540-28463-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschlandvom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Copy Editing: Ursula Illig, Stockdorf Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Umschlaggestaltung: deblik Berlin SPIN 10939949 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126-5 4 3 2 1 0
V
Autorenverzeichnis Herausgeber
Mitautoren
Eckert, Jochen, Prof. Dr. phil.
Berger, Franz, Dr. phil.
Universität Hamburg Institut für Psychotherapie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg
Laupenring 163 CH-4001 Basel
Biermann-Ratjen, Eva-Maria, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Loehrsweg 1 20249 Hamburg
Höger, Diether, Prof. Dr. phil. em. Universität Bielefeld Abt. für Psychologie der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften Postfach 100131 33501 Bielefeld
Brossi, Rosina, lic. phil. Psychotherapeutische Praxis Grenzacherstrasse 10 CH-4058 Basel
Laleik, Sigrid, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Gneisenaustraße 12 27105 Kiel
Petersen, Henriette, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Elbchaussee 548 22587 Hamburg
Reisel, Barbara, Dr. phil. Psychotherapeutische Praxis Leegasse 9/11 A-1140 Wien
Schmeling-Kludas, Christoph, Prof. Dr. med. Psychosomatische Medizin Segeberger Kliniken GmbH Am Kurpark 1 23795 Bad Segeberg
Schützmann, Karsten, Dipl.-Psych. Dr. phil. Klinikum Nord 4. Psychiatrische Abteilung Behandlungseinheit Schizophrenie Langenhorner Chaussee 560 22419 Hamburg
Wakolbinger, Christine, Mag. Psychotherapeutische Praxis Fillgradergasse 9/9 A-1060 Wien
VII
Vorwort Wir behandeln in diesem Lehrbuch die Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie und ihre Entwicklung durch den amerikanischen Psychologen Carl Rogers in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Warum und warum in dieser Zeit? »Wer neuere Literatur zur Klinischen Psychologie und zur Psychotherapie aus der Perspektive einer Gesprächspsychotherapeutin1 oder eines Gesprächspsychotherapeuten liest, wird einerseits Belege für eine zunehmende Distanzierung von der Gesprächspsychotherapie finden, kann andererseits aber auch den Eindruck gewinnen, dass die Gesprächspsychotherapie noch nie so anerkannt war wie gerade jetzt« (Auckenthaler, 2001, S. 98). Auckenthaler hält die Distanzierung der Klinischen Psychologie und Psychotherapie von der Gesprächspsychotherapie für eine »verständliche« Konsequenz von deren fortschreitender Medikalisierung. Heute werde z. B. Fachpsychotherapie als etablierte Methode zur Behandlung von Krankheit entschieden von Lebenshilfe abgegrenzt (Senf & Broda, 2000, S. 4). Und Gesprächspsychotherapie sei nicht wie die sog. Richtlinienverfahren in diesem Sinne »etabliert«. Auf der konzeptuellen Ebene würden medizinische Begriffe zur Einordnung und zum Verstehen von klinisch psychologischen und psychotherapeutischen Problemen verwendet, ein »organisiertes, medizinisch legitimiertes Herangehen« (Forster, 1997, S. 154) an diese charakterisiere die institutionelle Ebene, und die Ausbreitung der Gleichsetzung von Psychotherapie mit der Behandlung von Krankheiten führe auf der interaktiven Ebene dazu, dass unter »Berufung auf ein ätiologisches Paradigma der individuellen Störung und ein prozessuales Paradigma der indikativen Behandlung« (Bruns, 1992, S. 510) die Interaktionen zwischen Psychotherapeut und Klient störungsspezifisch und manualgeleitet sind, ausgehend von der Modellvorstellung, dass die Symptome des Patienten Ausdruck einer bestimmten Erkrankung sind, die mit bestimmten Eingriffen – im Idealfall wie mit bestimmten Medikamenten – in einer bestimmten Reihenfolge vorgenommen zum Verschwinden gebracht werden können. Im Gegensatz dazu wird betont, dass die neuesten Ergebnisse der Forschung zur Wirkungsweise von Psychotherapie den Wirkannahmen von Rogers sehr nahe kommen. Ganz im Sinne der von Rogers formulierten sechs Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess und anders, als es mit der Annahme von den drei therapeutischen Basisvariablen Echtheit, Akzeptanz und Empathie (die im übrigen z. B. von Verhaltentherapeuten ganz anders verstanden und dann auch definiert worden sind als im Klientenzentrierten Konzept; Auckenthaler & Bischkopf, 2004) in der empirischen Forschung in früheren Jahren postuliert worden ist, beinhalten die neuesten Ergebnisse zur Wirkungsweise von Psychotherapie, dass »die gute therapeutische Beziehung, wahrgenommen aus der Perspektive des Klienten, der zuverlässigste Prädiktor für psychotherapeutische Erfolge ist, dass es Klienten bei ihren Therapeuten vor allem auf Empathie, Respekt, Wertschätzung, Engagement, Glaubwürdigkeit und Echtheit ankommt (Orlinsky, Grawe & Parks, 1994; Orlinsky & Howard, 1986; Miller, Duncan & Hubble, 2000). Der Beitrag des Klienten hat sich als für den Therapieerfolg wichtiger erwiesen als ein bestimmter Ansatz oder eine bestimmte Technik der Therapeuten (z. B. Bohart & Tallman, 1996; Lambert, 1992; Miller et al., 2000)« (Auckenthaler, 2001, S. 100). »Rogers Auffassung der therapeutischen Beziehung gilt als ›bahnbrechend‹; sie habe ›die klinische Praxis für immer verändert‹ und sei ›Grundlage eines Großteils der Psychotherapieforschung‹ der vergangenen vierzig Jahre gewesen (Miller, Duncan & Hubble, 2000, S. 102)« (Auckenthaler, 2001, S. 100). 1
Wir benutzen in diesem Buch aus Gründen der Leserfreundlichkeit die männliche/neutrale Form. Von dieser Regelung ausgenommen sind Zitate.
VIII
Vorwort
Vor diesem Hintergrund stellen wir mit diesem Lehrbuch der Gesprächspsychotherapie nicht nur eine Therapieschule vor, sondern eine psychotherapeutische Grundorientierung, nämlich das humanistische Paradigma, das sich von anderen Paradigmen, von denen vor allem das psychoanalytische, das behavioristische und das systemische genannt seien, in wesentlichen Annahmen über das Wesen und Werden des Menschen und über die Entwicklung und Möglichkeiten zur Behebung von psychischen Krankheiten unterscheidet. Und wir plädieren auf der Grundlage des derzeitigen Standes der empirischen Forschung für eine differenzielle Therapieindikation bzw. eine differenzielle Psychotherapie. Es hat sich bis heute kein psychotherapeutisches Verfahren als den anderen in ihrer Wirksamkeit empirisch überprüften Verfahren generell überlegen herausgestellt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Äquivalenzparadoxon. Es ist offenbar möglich, ein und dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen bzw. mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen. Das hat sicher auch dazu beigetragen, dass die Entwicklung neuer Therapieformen und -schulen nicht dazu geführt hat, dass die schon länger bestehenden Schulen an Bedeutung verloren oder sich gar aufgelöst hätten. Die neuen Therapieschulen weisen zwar andere Wege auf, können aber nicht den Nachweis erbringen, dass sie auch deutlich wirksamer behandeln als die älteren Verfahren. Und offenbar brauchen auch Psychotherapeuten eine »Identität«, möchten sich nicht nur mit etwas identifizieren können, sondern auch von etwas abgrenzen können. Therapieschulen haben etwas Identität Stiftendes. Sie bieten eine innere und im therapeutischen Handeln sichtbar werdende Übereinstimmung einer »Theorie« mit einem Verfahren. In Auswahlgesprächen mit Kandidaten für eine Ausbildung zum Psychotherapeuten ist immer wieder unmissverständlich zu hören, dass sie die Schule wählen, deren Paradigma ihren eigenen Erfahrungen und Auffassungen von menschlichen Entwicklungen und ihren Bedingungen am nächsten kommt. Sie wollen, dass ihre »persönliche« zu ihrer »therapeutischen« Identität passt. Die Idee einer Differenziellen Psychotherapie2 und einer entsprechenden Therapieindikation ist auch ausgeführt im Allgemeinen Modell von Psychotherapie (AMP), das die amerikanischen Therapieforscher Howard und Orlinsky (7 Kap. 8.4) auf der Grundlage vieler empirischer Prozess-Outcome-Studien entwickelt haben. In diesem Modell gilt der Therapieerfolg als wesentlich abhängig davon, dass vier Faktoren zueinander passen: Die Person des Therapeuten, die Person des Patienten, das Behandlungsmodell (Verfahren) des Therapeuten und die Art der Störung des Patienten. Sie sollten eine Rolle bei der differenziellen Indikationsstellung spielen, denn ihre Passungen haben Einfluss auf den Therapieprozess und darüber auch auf das Therapieergebnis. Für viele Patienten ist eine Gesprächspsychotherapie »passender« als eine Verhaltenstherapie, eine systemische Familientherapie, ein psychoanalytisches oder ein anderes Verfahren. Es könnte sein, dass soeben »ein Jahrhundert des Gehirns« (Grawe, 2004, S. 16) begonnen hat, in dem sich herausstellen wird, dass Griesinger (1817–1868) vor 200 Jahren recht hatte, als er postulierte: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«. Es könnte sein, dass wir uns in naher Zukunft bei der Behandlung psychischer Störungen den Umweg über die Psyche – und eine psychotherapeutische Identität sowie eine differenzielle Indikation – sparen und direkt auf das Gehirn einwirken können, wobei sich Psychopharmaka und Psychochirurgie vermutlich als preiswerter als irgendeine Form von Psychotherapie herausstellen werden. Wir sind auf die zukünftigen Entwicklungen sehr gespannt. Bis zu ihrem Eintreten bleiben wir in unserer beschriebenen Position, weil wir uns darin durch die neuesten Ergebnisse der 2
Feste Fachbegriffe wie Differenzielle Psychotherapie werden in diesem Buch wie Eigennamen behandelt und groß geschrieben.
IX Vorwort
Psychotherapieforschung (7 oben) bestätigt sehen, und in Übereinstimmung mit dem amerikanischen Psychiater, Psychotherapeuten, Gruppentherapieforscher und Romancier Irvin D. Yalom, der in seinem Buch »Was Hemingway von Freud hätte lernen können« schreibt: »Jede Untersuchung der Natur der therapeutischen Beziehung führt früher oder später zu dem Diktum von Carl Rogers: Es ist die Beziehung, die heilt. Diese Vorstellung, das vielleicht grundlegendste Axiom der Psychotherapie - und Axiom ist durchaus kein zu starker Begriff - postuliert, daß die mutative Kraft, die den Prozeß der persönlichen Veränderung bestimmt, auf der Art der Beziehung zwischen Patienten und Therapeut beruht. Andere Überlegungen sind dem gegenüber durchaus zweitrangig«. (Yalom, 2003, S. 237). Die therapeutische Beziehung ist das zentrale Prozessmerkmal einer Gesprächspsychotherapie. Und Beziehungen sind etwas Wechselseitiges. Der Therapeut kann ein Beziehungsangebot machen, aber, ob eine therapeutisch hilfreiche Beziehung zustande kommt, ist davon abhängig, ob der Patient es auch wahr- und annimmt. Insofern ist Gesprächspsychotherapie nicht durch eine spezifische Technik definiert, sondern durch eine Theorie, die das therapeutische Handeln leitet. Danksagung. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die jede bzw. jeder auf ihre bzw.
seine Weise einen Beitrag zu diesem Buch geleistet haben, vor allem den Studierenden, die sich mit Gesprächspsychotherapie im Fach Interventionsmethoden – auch kritisch – auseinandergesetzt haben, und den Supervionsgruppenmitgliedern, die immer wieder mit ihren Fällen aus der Praxis Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens deutlich gemacht haben. Namentlich und sehr herzlich möchten wir Svenja Wahl vom Springer-Verlag für das Verlegen und Ursula Illig für das Lektorat und Melanie Schacht, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsbereiches Gesprächspsychotherapie an der Universität Hamburg, für das »interne Lektorat« bei der Manuskripterstellung des Buches danken. Hamburg und Bielefeld, im Frühjahr 2006 Jochen Eckert, Eva-Maria Biermann-Ratjen und Diether Höger
XI
Inhaltsverzeichnis 1
1.1 1.2
2
2.1
2.2
2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
3
Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . .
1
E.-M. Biermann-Ratjen Was ist Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 3
4.3 4.4
Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . 11
4.5
D. Höger Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen? . . . . . . . . . . . . . Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschung . . . Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten . . . . . . . . . . . . . Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie . . . . . . . . . . . . . . . Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . . Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
4.6
4.2
12
4.7 4.8 4.9 4.10
. 74 . 76 . 76 . 77 . . . . .
77 82 86 88 91
14
5 17 23
5.1
25
5.2
26 5.3 27 5.4 32 34 34
Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
5.5 5.6
5.7 5.8
3.4
D. Höger Organismus . . . . . . . . . . . . . Aktualisierungstendenz . . . . . Die Repräsentation der Welt in der Person . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . .
4
Klientenzentrierte Entwicklungslehre
73
6.3
4.1
E.M. Biermann-Ratjen Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
6.4
3.1 3.2 3.3
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen des Selbst . . . . . . . . . . . Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept . . Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . Die Selbsterhaltungstendenz . . . . . . . Phasen der Selbstkonzeptentwicklung . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
. . . . . . . 38 . . . . . . . 39
6 6.1
. . . . . . . 58 . . . . . . . 72
6.2
Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 93 E.M. Biermann-Ratjen Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungtendenz Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Störungskonzepten . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
93
. 96 . 99 . 103 . 114
. 114 . 115 . 116
Klientenzentrierte Therapietheorie . . 117 D. Höger Wie therapeutische Veränderungen entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
. . 118 . . 131 . . 133 . . 138
XII
Inhaltsverzeichnis
7
Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
10.3
. . 147 . . 148
11.1
7.4
J. Eckert Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen Sechs Therapieziele . . . . . . . . . . . . . Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
8
Indikationsstellung . . . . . . . . . . . . . . 149
11.2 11.3
7.1 7.2 7.3
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
9
10.4 . . 139 . . 142
J. Eckert Anwendungsbereiche für Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Indikation für Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P. . . . . . . . . . . . . Differenzielle Indikation . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
149
11.4
152
11.5
188 203 211 217
. . . .
. 296 . 301 . . 305
. . 306
. . 316 . . 322 . . 332
219 226 229
12.5 12.6
13
Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . 373
10
Evaluation und Qualitätssicherung . . . 267
10.1 10.2
J. Eckert, D. Höger, E.-M. Biermann-Ratjen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Verfahren zur Messung des Therapieprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
9.5 9.6 9.7 9.8 9.9
12
. . 295
12.1 12.2 12.3 12.4
Der therapeutische Prozess in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
9.10
9.3 9.4
11.6 11.7
Kinder und Jugendliche . . . . . . . . B. Reisel, C. Wakolbinger Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie« – Entwicklung und aktueller Stand . . . . . . . . . . . . . . . . Klientel und Indikation . . . . . . . . . . . Spezielle Anforderungen an den Kinder psychotherapeuten . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
Personzentrierte Beratung . . . . . . . . F. Berger Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der Personzentrierten Beratung . . . Klientel und Indikationen . . . . . . . . . . . Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personzentrierte Beratung im Wandel . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . .
J. Eckert Die therapeutische Beziehung . . . . . . . . Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Handlungsregeln . . . . . . Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: Kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf einer Gesprächspsychotherapie . . Therapieabschluss . . . . . . . . . . . . . . . Typische Behandlungsprobleme . . . . . . Störungsspezifisches Vorgehen . . . . . . . Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
9.1 9.2
11
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
239 249 258 260 263
13.1
263 266
14
13.2 13.3 13.4
14.1 14.2 14.3 14.4
R. Brossi Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was in Krisen hilfreich ist . . . . . . . . . . . Chancen und Gefahren von Krisen . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
. . . .
333 333 344 346 348 370 372
374 382 387 391
Gesprächstherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden . . . . . . . . . 393 C. Schmeling-Kludas Patienten und Indikationen . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen . . . . Weiterführende Literatur . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
393 398 399 407
XIII Inhaltsverzeichnis
15
Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen . . . . . . . . . . . . . 409
19.3 19.4
Focusing und Gesprächspsychotherapie . . 438 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . 439
20
Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
410
20.2
412 414
20.3
15.5
J. Eckert Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann ist eine stationäre Psychotherapie einer ambulanten vorzuziehen? . . . . . . . Besondere Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten in der stationären Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
16
Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . 415
20.4
15.1 15.2 15.3
15.4
409 410
20.1
16.6
J. Eckert Zur Geschichte der Klientenzentrierten Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation für Gruppenpsychotherapie . Differenzielle Indikation zur Einzel- oder Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . .
17
Paartherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
16.1 16.2
16.3 16.4 16.5
21 . 415
17.3 17.4
18
Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 429
17.1 17.2
18.1 18.2 18.3 18.4
19 19.1 19.2
J. Eckert Geschichte und Definition . . . . . . . . Klientenzentrierte Familientherapie . . Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
423 423 426 427
Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie . . . . . . 449
Das Differenzielle Inkongruenzmodell 457
21.3
22.1 22.2 22.3 22.4
23
. . 429 . . 430
23.1
. . 433 . . 434
23.2
Focusing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 D. Höger Focusing als Prozess . . . . . . . . . . . . . . 435 Focusing als Methode . . . . . . . . . . . . . 437
. . 447 . . 448
22
21.2
J. Eckert Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung eines Konzepts Klientenzentrierter Psychotherapie mit Paaren . . . Klientenzentrierte Paartherapie . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
. . 445
21.4
. 417
. 421 . 421
. . 441
Eva-Maria Biermann-Ratjen Therapieziele und therapeutische Wirkfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annahmen über die Zusammenhänge von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . .
21.1
. 420 . 420
J. Eckert Die Emotionstheorie von Greenberg und anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Praxis der Prozess-Erlebnisorientierten Therapie . . . . . . . . . . . . Welche Unterschiede gibt es zwischen der PET und der klassischen Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
24
E.-M. Biermann-Ratjen Persönlichkeitstheoretische Annahmen Annahmen zur Entstehung von Inkongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkongruenzanalyse und therapietheoretische Annahmen . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
450 451 453 456
. . 457 . . 458 . . 459 . . 460
Behandlungsleitlinien . . . . . . . . . . . . 461 E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert, S. Laleik, K. Schützmann Leitlinien für die gesprächspsychotherapeutische Behandlung von Anpassungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bei Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . 464 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
XIV
Inhaltsverzeichnis
25
Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 503
25.1
Ausbildung und Ausbildungsstätten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG zum Psychologischen Psychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
25.2
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
1 1 Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie? E.-M. Biermann-Ratjen 1.1
Was ist Psychotherapie?
1.1.1 1.1.2
Eine Definition von Psychotherapie – 1 Psychotherapie ist ein Prozess zur Beeinflussung – 2 Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter Prozess – 3 Psychotherapie ist Beeinflussung in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel – 4
1.1.3 1.1.4
1.1
–1
Was ist Psychotherapie?
Die Dienst habende Ärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eines Universitätskrankenhauses wird in den Zentralen Aufnahmedienst (ZAD) gerufen. Später berichtet sie in der Morgenkonferenz: Eine 20 Jahre alte, ledige, bei der Mutter lebende Studentin im ersten Semester ist während des Unterrichts ohnmächtig zu Boden gestürzt und von zwei Kommilitoninnen in den ZAD gebracht worden. Die junge Frau habe »abwehrend-agierend« mitgeteilt, dass sie seit mindestens drei Jahren immer wieder »Anfälle« von Luftnot und Herzrasen erlebe, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen könne, auch nicht sprechen. Der Vater habe die Familie verlassen, in der es Suizidalität und Drogenabusus gebe, »alles zusammengebrochen« sei. Es komme am ehestens in geschlossenen Räumen zu diesen Anfällen. Die Patientin zeige aber keine Tendenz, diese zu meiden. Sie (die Ärztin) habe die Verdachtsdiagnose: Angststörung mit hysterischer Ausgestaltung gestellt und die Differenzialdiagnose: Dissoziative Störung und die Patientin mit der Frage, ob eine psychotherapeutische Behandlung indiziert ist, in die Poliklinik überwiesen.
1.1.5
1.1.8
Psychotherapie ist Krankenbehandlung auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens – 5 Psychotherapie beeinflusst mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) – 6 Psychotherapie beeinflusst mittels lehrbarer Techniken – 8 Was ist Gesprächpsychotherapie? – 9
1.2
Literatur
1.1.1
Eine Definition von Psychotherapie
1.1.6 1.1.7
– 10
Vor einem halben Jahrhundert hat Strotzka definiert, was aber schon lange galt und heute noch gilt: »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.« (Strotzka, 1975, S. 4) Diese Definition ist z. B. dem Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes (Meyer, Richter, Grawe, Graf v. d. Schulenburg & Schulte, 1991) zu Grunde gelegt worden.
2
1
Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
Wir nehmen an, dass auch die erwähnte Psychiaterin von dieser oder einer ähnlichen Definition von Psychotherapie ausgeht. Der Ohnmachtsanfall stellt eine Verhaltensstörung bzw. einen Leidenszustand dar – er hat dazu geführt, dass die Studentin in den ZAD gebracht worden ist, und die Patientin erleidet immer wieder »Anfälle« von Luftnot und Herzrasen, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen könne, auch nicht sprechen. Der Ohnmachtsanfall ist also wahrscheinlich nur eines der Symptome einer dahinter liegenden Störung. Die Studentin berichtet, dass der Vater die Familie verlassen habe, und deutet damit an, dass sie daran denkt, dass ihre Störungen psychogen sein könnten. Die Ärztin hält das offenbar auch für möglich und möchte prüfen lassen, ob andere Ärzte und/ oder Psychologen das auch so sehen bzw. mit der Patientin einen Konsens darüber herstellen können, dass die verschiedenen Anfälle behandlungsbedürftig sind, und zwar nicht als Symptom einer körperlichen Erkrankung mit medizinischen Mitteln, sondern mit psychologischen Mitteln.
1.1.2
Psychotherapie ist ein Prozess zur Beeinflussung
Strotzka nennt Psychotherapie einen »Prozess zur Beeinflussung … mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation)«. Beeinflusst zu werden ist für viele Menschen eine erschreckende Vorstellung. Sie wollen nicht beeinflusst werden, schon gar nicht mit psychologischen Mitteln, auch wenn sie dadurch von einem Leiden befreit werden könnten. Sie stellen sich unter Beeinflussung durch psychologische Mittel etwas vor, das im Extrem eine Gehirnwäsche ist. Dazu ist zu sagen: Die psychologischen Mittel in der Psychotherapie bestehen in Kommunikation. Psychotherapie ist ein interaktioneller Prozess, d. h. ein Prozess, an dem immer mindestens zwei Personen beteiligt sind. In der Psychotherapie sind das der Therapeut und der Patient, der deshalb auch gerne Klient genannt wird, so wie eine Person, die ihre Rechte durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, ein Klient ist. Psychotherapie geschieht nicht im Patienten, sondern zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. Psychotherapie ist kein passives Geschehen. Psychotherapeutisch behandelt zu werden
heißt, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Es gibt kaum ein Thema, dem in der Psychotherapiediskussion soviel Raum gewidmet worden ist, wie der Therapiemotivation: Wie kann ermöglicht werden, dass der Patient sich für das Kommunikationsangebot Psychotherapie öffnet und so mitarbeitet, dass Psychotherapie überhaupt möglich wird? ! Mit den psychologischen Mitteln einer Psychotherapie kann ein Mensch nicht ohne sein eigenes Zutun beeinflusst werden. Ein Mensch ist psychologisch nicht ohne seine eigene Mitwirkung zu erreichen. Er ist immer auch Autor seiner Erfahrung.
Das gilt übrigens nicht nur für den Bereich der Psychotherapie. Eine Blume z. B. kann mich nicht direkt erreichen. Sie kann nur – beispielsweise – so auf mich einwirken, dass ich die Wahrnehmung einer bestimmten Form und Farbe entwickle – was nur unter der Bedingung möglich ist, dass ich nicht farbenblind bin –, oder dass ich Lavendelduft rieche. Das Erkennen von Lavendelduft wiederum ist nicht möglich, wenn ich ihn nicht schon einmal gerochen habe, und auch nicht, wenn ich mich daran nicht erinnern kann. Ich werde auch dann nicht merken, dass ich etwas rieche, das meine Mutter Lavendel genannt hat, als es mir zum ersten Mal in die Nase stieg, wenn es dem Duft oder meiner Mutter damals nicht gelungen ist, mich affektiv zu erreichen, mich zu interessieren z. B. oder mir als mehr oder weniger angenehm zu erscheinen. Allein die Wahrnehmung des Psychotherapeuten durch den Patienten ist also schon ein höchst komplizierter und höchst persönlicher und selbstorganisierter Prozess. Nicht nur die Sinnesorgane, ihre Funktionsweise und Funktionstüchtigkeit spielen in ihm eine Rolle, sondern auch frühere Wahrnehmungen und die Erinnerung an sie, die Bewertungen dieser Wahrnehmungen früher und heute, sowie Nervenbahnen und Gehirnstrukturen, die daran beteiligt waren und sind – was man heute sogar sichtbar machen kann, wenn aus sinnlichen Reaktionen, deren Interpretation und Bewertung Erfahrungen werden – unter bestimmten Bedingungen. Das Gänseblümchen am Straßenrand hat auch dann, wenn es meine Lieblingsblume ist, in dem Augenblick keine Chance, ein besonderer Erlebnisinhalt in meinem Wahrnehmungsfeld zu werden, in dem
3 1.1 · Was ist Psychotherapie?
meine ganze Aufmerksamkeit von einem vorbeirasenden Laster gefesselt wird. Genau so begrenzt bzw. an Bedingungen gebunden ist der Einfluss der psychotherapeutischen Mittel des Psychotherapeuten auf den Patienten und auf dessen zukünftiges Verhalten und Erleben. ! Von Beeinflussung durch Psychotherapie kann nur dann die Rede sein, wenn der Patient in eine Interaktion mit dem Psychotherapeuten eintritt, in dem sie sich gegenseitig beeinflussen im Sinne von zunächst einmal überhaupt wahrnehmen.
Der Patient, der sich mit dem Psychiater darüber unterhält, dass sich sein Kleinheitswahn zurückgebildet hat und dass er sich selbst nicht länger für arm und klein und unbedeutend wie eine Kirchenmaus hält und auch sicher ist, dass der Psychiater ihn jetzt wertschätzt, im Türrahmen aber fragt: »Und weiß das die Katze auch?« hat seinen Psychiater wahrscheinlich nicht in dem eben beschriebenen Sinn wahrgenommen. Im Gespräch in der Poliklinik mit der Patientin aus dem ZAD wird es ganz wesentlich auch darum gehen: Kann sich die Patientin vorstellen und ist sie in der Lage, über ihre Symptome und deren Geschichte, aber auch über sich selbst und ihre Geschichte in ihrer Familie und unter den anderen Bedingungen, die Psychotherapeuten als entscheidend für die Entwicklung einer Person und ihrer Störung ansehen, zu sprechen und nachzudenken? Und es wird um die Frage gehen: Zu den Annahmen welchen psychotherapeutischen Modells über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen passt das Krankheitsmodell der Patientin am besten? Auf welche psychologischen Mittel könnte sie sich einlassen unter der Vorstellung, von ihnen zu profitieren, und mit welcher Begründung?
1.1.3
Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter Prozess
In der Definition von Strotzka wird Psychotherapie ferner als ein bewusster und geplanter Prozess bezeichnet. Der psychotherapeutische Prozess ist das, was in der Interaktion zwischen den an einer Psychotherapie beteiligten Personen geschieht. Er ist, wenn wir Strotzka folgen, bewusst und geplant,
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und zwar auf der Seite des Therapeuten, während für den Patienten – wie wir zu zeigen versucht haben – gilt, dass er den Interaktionsprozess zulassen muss, zumindest in der Form, dass er seine Interaktionspartner – den Therapeuten in der Einzeltherapie, den oder die Therapeuten und die anderen Beteiligten in der Gruppen- und/oder Familientherapie – wahrnehmen möchte und kann und das auch tut. Für den Therapeuten gilt: Man kann nur planen, was man auch meint, in einem bestimmten Ausmaß vorhersagen zu können und/oder auf dessen Zustandekommen man in irgendeiner Weise meint, Einfluss nehmen zu können. Ein Therapeut muss Vorstellungen davon haben, wie (seine) Psychotherapie funktioniert und welche seine Rolle in der therapeutischen Interaktion ist. Er muss selbst davon überzeugt sein, dass seine Psychotherapie hilfreich ist, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im jeweiligen Fall. Er muss Kriterien haben, an denen er selbst und möglichst auch andere ermessen können, ob und wie gut er die Rolle des Psychotherapeuten ausfüllt. ! Therapie ist ein bewusster Prozess, das bedeutet: Der Therapeut muss sich seiner für die Therapie relevanten Verhaltensweisen, Gedanken oder Gefühle bewusst werden können, muss sie unter dem Gesichtspunkt reflektieren können, ob sie zu seiner Rolle als Therapeut in der Interaktion mit dem Patienten gehören oder nicht und diese und damit den therapeutischen Prozess befördern oder nicht.
Jeder Therapeut muss in diesem Sinne eine Psychotherapietheorie haben. Bewusst und geplant mit dem Patienten interagieren heißt also nicht nur, Pläne zu haben und sich dieser bewusst zu sein. Bewusst und geplant handeln heißt für den Therapeuten vor allem, sich bewusst machen bzw. reflektieren zu können, ob er seine Rolle ausfüllt. Ein Therapeut könnte z. B. die Vorstellung haben, dass die Studentin diese Anfälle, in denen sie auch »gelähmt« ist, nicht hören und nicht sehen und auch nicht sprechen kann, nur in bestimmten Situationen in der Reaktion auf bestimmte Reize einer bestimmten Intensität hat, die ihr in anderen Situationen nur sehr viel Angst machen. Er könnte sie dann dadurch behandeln, dass er sie in einem entspannten Zustand
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1
Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
mit den bedrohlichen Reizen konfrontiert und sie erleben lässt, dass die Angst sie nicht in jeder Situation total umwirft bzw. »lähmt«. Was ein Neuropsychotherapeut (Grawe, 2004) in der Behandlung dieser Patientin planen und sich bewusst machen würde, soll an dieser Stelle nicht ausphantasiert werden. Es könnte aber dem, was vor 100 Jahren geplant und wie es reflektiert und evaluiert worden ist, nicht ganz unähnlich sein. Wir lesen bei Grawe (2004, S. 18): »Wenn allen psychischen Prozessen neuronale Vorgänge zu Grunde liegen, dann liegen veränderten psychischen Prozessen veränderte neuronale Vorgänge zu Grunde. Wir können als nachgewiesen ansehen, dass psychische Prozesse durch Psychotherapie wirksam und dauerhaft verändert werden können. Daraus ergibt sich, dass Psychotherapie dauerhaft neuronale Prozesse und Strukturen verändern kann. Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert. Wenn sie das Gehirn nicht verändert, ist sie auch nicht wirksam. Oder, in LeDouxs Worten: ›Psychotherapy is fundamentally a learning process for its patients, and as such is a way to rewire the brain. In this sense, psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to treat mental illness‹ (Le Doux, 2002, S. 299)«. In seinem Roman »Und Nietzsche weinte« lässt Yalom (1994, S. 57) den Wiener Arzt Breuer dem jungen Freud aus seiner Behandlung der Patientin Anna O. berichten: »Bald schon nahmen wir uns des nächsten Symptoms in der gleichen systematischen Weise an. Mehrere Symptome – die Armparese z. B. oder ihre Gesichtshalluzinationen von Totenköpfen und Schlangen – wurzelten im psychischen Trauma des Todes ihres Vaters. Nachdem sie alle Einzelheiten und Affekte dieses Erlebnisses beschrieben hatte – um ihrem Erinnerungsvermögen nachzuhelfen, hatte ich sie sogar gebeten, die Möbel exakt so anzuordnen, wie sie bei seinem Tode gestanden hatten –, lösten sich auch diese Symptome auf.«
Dazu sagt in dem Roman Freud: »Aber das ist ja grandios! ... Die theoretischen Implikationen sind atemberaubend. Und stimmen vollkommen mit Helmholtzens Theorie überein! Sind die überschüssigen, für derlei Symptome verantwortlichen Hirnströme erst durch affektive Katharsis abgeleitet, dann verschwinden auch brav die Symptome! Das ist doch eine wegweisende Entdeckung! Sie müssen den Fall unbedingt veröffentlichen!« Geplant ist in beiden Fällen ein »rewiring« des Gehirns. Einmal durch einen Prozess mit wesentlicher Beteiligung von Gehirnfunktionen, der Katharsis genannt wird – das ist ein starker Gefühlsausdruck –, dem dadurch »nachgeholfen« werden kann, dass Einfluss darauf genommen wird, welche Reize auf die Patientin einwirken; das andere Mal durch einen Prozess, der Lernen genannt wird, und bei dem ebenfalls über die Reize, die auf den Patienten einwirken, Einfluss genommen wird.
1.1.4
Psychotherapie ist Beeinflussung in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel
! Das Ziel des bewussten und geplanten psychotherapeutischen Prozesses ist nach der Definition von Strotzka die Minimalisierung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen (Symptomen) und/ oder eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur.
Der Psychotherapeut sollte also nicht nur seine Rolle kennen und reflektieren können. Er sollte auch und vor allem den psychotherapeutischen Prozess im Hinblick auf die Erreichung von Symptomminimalisierung und/oder Veränderung der Struktur der Persönlichkeit, als deren Ausdruck manche Symptome gelten, planen und beobachten können. Der bewusst und geplant mit dem Patienten interagierende Psychotherapeut hat also auch eine Vorstellung davon, was als gestörtes Verhalten anzusehen ist und was als Leidenszustand im Sinne eines Symptoms einer psychotherapeutisch behandelbaren und behandlungswürdigen Erkrankung. In der Definition von Psychotherapie nach Strotzka hat er auch eine
5 1.1 · Was ist Psychotherapie?
Persönlichkeitstheorie, in der zwischen der gesunden und der zu verbessernden Persönlichkeitsstruktur unterschieden wird und in der es Vorstellungen von den Beziehungen zwischen Leidenszuständen und Verhaltensstörungen und verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen gibt und davon, welchen Einfluss sein Anteil am Interaktionsverhalten auf diese Beziehungen im Patienten unter welchen Umständen haben kann. Dass das alles auch im Gehirn repräsentiert ist, spielt dabei nicht notwendigerweise eine Rolle. In der Poliklinik wird also nicht nur zu prüfen sein, ob es zwischen der Medizinstudentin und der Ärztin oder Psychologin eine Übereinstimmung darüber gibt, dass die Anfälle der Patientin nicht Ausdruck einer organischen Erkrankung sind. Es wird auch darum gehen, ob die Studentin und die Poliklinikmitarbeiterin gemeinsam zu der Auffassung gelangen, dass eventuell bei der Entwicklung der Anfälle eine verbesserungswürdige Persönlichkeitsstruktur eine Rolle spielt, die es z. B. der Patientin erschwert, sich an persönlich belastende Situationen anzupassen. Einen Hinweis auf eine persönliche Belastung hat die Patientin schon der Psychiaterin im Zentralen Aufnahmedienst gegeben, indem sie erwähnt hat, dass der Vater die Familie verlassen habe. Die Mitteilung, dass es Suizidalität und Drogenabusus in der Familie gebe, könnte als ein weiterer Hinweis auf persönliche Belastungen angesehen werden. Die Patientin könnte damit aber auch angedeutet haben, dass sie überlegt, ob sie vielleicht in einer Familie aufgewachsen ist, in der auch andere Mitglieder Symptome einer mangelnden Belastbarkeit oder verbesserungswürdigen Persönlichkeitsstruktur aufweisen. Was unter Persönlichkeitsstörungen verstanden wird, ist heute auf der beschreibenden Ebene in den Diagnosesystemen DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, APA, 1996) und ICD (International Classification of Diseases, WHO, 2000) verbindlich geregelt. Darüber, wie sie entstehen, gibt es weniger Einigkeit und entsprechend weniger Übereinstimmung darüber, wie sie und ihre Symptome zu behandeln sind, durch welche Behandlungsmethoden welche Behandlungserfolge erreicht werden bzw. welche Zusammenhänge zwischen Behandlungsmethoden und -erfolgen tatsächlich bestehen und wie sie zu erklären sind. Bevor ein Poliklinikmitarbeiter vor dem Hintergrund seines Wissens und seiner Überzeugung von
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den Zusammenhängen zwischen Verhaltensstörungen und Leidenszuständen auf der einen Seite und der Struktur einer Persönlichkeit auf der anderen Seite und davon, welche Symptome mit welchen Behandlungsmethoden und warum zum Verschwinden gebracht werden können, in Abstimmung mit dem Patienten zu dem Ergebnis kommt, dass bei ihm und seinem Symptom eine bestimmte Psychotherapie indiziert ist, d. h. die Behandlung der Wahl wäre, muss er auch noch prüfen, ob die »Bezugsgruppe« diese Verhaltensstörung oder diesen Leidenszustand auch für behandlungsbedürftig im Sinne von behandlungswürdig hält. Es gibt Leidenszustände – z. B. in der Folge von schlechten Prüfungsergebnissen entsprechende Ängste vor der nächsten Prüfung –, die mit psychologischen Mitteln bzw. in bestimmten geplanten und bewussten interaktionellen Prozessen beeinflusst werden können. Aber diese Mittel müssen nicht psychotherapeutische sein. Sie können z. B. auch Nachhilfestunden sein. Man kann nicht nur darüber streiten, ob die Anwendung bestimmter Methoden, die Lernen ermöglichen – z. B. kann das selbstbewusste Auftreten in einer Bewerbungssituation im Rollenspiel erlernt werden –, überhaupt den Namen Psychotherapie verdient. Viel wichtiger ist, dass die Beurteilung einer Verhaltensstörung oder eines Leidens, aber auch einer Persönlichkeitsstruktur als behandlungswürdig zur Voraussetzung hat – und das ist auch ein politisches Problem! –, dass die Gesellschaft in ihnen ein Problem sieht, das durch Psychotherapie zu lösen ist. Sie kann es auch zu einem Problem für den Strafvollzug erklären oder für die Pädagogik, die Selbstbeherrschung oder die Magie.
1.1.5
Psychotherapie ist Krankenbehandlung auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens
Die Beurteilung eines Problems als einer Behandlung durch Psychotherapie würdig, setzt eigentlich eine Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens voraus, zu der eine Definition dessen, was krank ist, gehört. Eine solche allgemein anerkannte Theorie gibt es aber nicht. Mangels verbindlicher medizinischer oder psychologischer Definitionen
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
von psychischer Krankheit und damit auch von Behandlungsbedürftigkeit hat sich in Deutschland der »Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen für die Durchführung von Psychotherapie« (der heute »Gemeinsamer Bundesausschuss« – »G-BA« – heißt) jahrzehntelang mit einem juristischen Begriff (z. B. in Faber & Haarstrick, 1991) beholfen, den das Oberlandesgericht Celle in einem Urteil geliefert hat (Faber, 1981): »Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintritt entweder lediglich die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat«. Als es das Psychotherapeutengesetz noch nicht gab, ist diese Definition immer wieder dann bemüht worden, wenn es um die Frage ging, ob Verhaltensstörungen und psychisch bedingte Leidenszustände Ausdruck einer Krankheit waren bzw. die Notwendigkeit einer Heilbehandlung begründen konnten oder nicht, d. h., ob die Krankenkassen zahlen mussten. Poliklinikärzte z. B. haben deshalb, wenn sie einem Patienten eine Psychotherapie »verschreiben« wollten, diesem attestiert, dass er, wenn er nicht psychotherapeutisch behandelt würde, arbeitsunfähig würde und/oder sogar in ein Krankenhaus eingewiesen werden müsste. Wer die Krankheit und damit die Notwendigkeit einer Heilbehandlung, also z. B. einer Psychotherapie, feststellen und beurteilen darf, ob eine bestimmte Art von Behandlung eine Heilbehandlung darstellt bzw. die Problemlösungsmethode der Wahl bei bestimmten Leidenszuständen ist – ob nicht z. B. eher Strafvollzug oder Psychoedukation indiziert sind –, das sind und bleiben aber politische Fragen, die mit solchen Definitionen von Krankheit natürlich nicht zu beantworten sind. Es hat noch nie einen Mangel an Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens, wie sie in der Definition von Strotzka gefordert werden, gegeben. Viele von ihnen haben Überprüfungen nicht Stand gehalten, mussten modifiziert oder aufgegeben werden, z. B. die Theorie von der Genese von spezifischen Störungen in der Folge von Fixierungen an bestimmte Phasen der psychosexuellen Entwicklung in der Psychoanalyse oder die verhaltenstherapeutische Erklärung therapeutischer Veränderungen durch Konditionierungsprozesse, z. B. bei der Systematischen Desensibilisierung.
Das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) enthält als Forderung an ein Psychotherapeutisches Verfahren, dass es »wissenschaftlich anerkannt« sein muss, damit Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichentherapeuten darin ausgebildet und approbiert werden dürfen. In Zweifelsfällen sieht der § 11 des PsychThG vor, dass ein Wissenschaftlicher Beirat das Vorliegen der »wissenschaftlichen Anerkennung« prüft. Für Senf und Broda geht es bei dieser Prüfung darum, »ob für ein bestimmtes Verfahren ein hinreichender Wirksamkeits- und Unbedenklichkeitsnachweis als Krankenbehandlungsmethode erbracht wurde. Prinzipiell wird für jedes psychotherapeutische Verfahren und für jede psychotherapeutische Technik die empirische Überprüfung und Absicherung in kontrollierten Studien gefordert« (2005, S. 4). Nach dieser Auslegung steht für den Nachweis der wissenschaftlichen Anerkennung eines Psychotherapieverfahrens der Nachweis der Wirksamkeit im Vordergrund. Sie führen ferner aus, der Begriff Psychotherapie beschreibe »zum einen einen medizinischen Versorgungsbereich im Rahmen und nach den Regeln des öffentlichen Gesundheitswesens und zum anderen psychotherapeutische Verfahren zur Krankenbehandlung, wobei letzteres auch als Fachpsychotherapie bezeichnet werde« (a. a. O.). Eine politisches Problem ist sie also nach wie vor: die Forderung nach einer Theorie des normalen und des pathologischen Verhaltens als Basis für die Psychotherapie.
1.1.6
Psychotherapie beeinflusst mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation)
Die psychologischen Mittel, das sind die meist verbalen Mittel der Kommunikation, mit denen Psychotherapie beeinflusst, die in Vorlesungen über Klinische Psychologie oft auch Interventionsmethoden genannt und in einem eigenen Prüfungsfach in der Diplom-Prüfung für Psychologie abgefragt werden, sind das zentrale Thema der Psychotherapieforschung in den letzten Jahrzehnten gewesen. Psychotherapieforscher haben Patienten und ihre Veränderungen, die nach der Behandlung mit
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bestimmten Methoden zu beobachten waren, verglichen mit Patienten und ihren Veränderungen, die nicht mit diesen Methoden behandelt worden waren. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist nicht unproblematisch, denn es gibt z. B. den Placeboeffekt: Auch die Einnahme von Tabletten ohne wirksame Substanz kann wirken. Das basiert aber wahrscheinlich auch auf psychologischen Mitteln, wahrscheinlich sogar auf kommunikativen. Es kann sein, dass sich die Vertrauenswürdigkeit des Arztes mitteilt und die unwirksamen Pillen wirksam werden lässt oder dass sich der Glaube des Patienten an die Wirksamkeit der Medizin durchsetzt, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen. Auch in der Psychotherapie könnte ein Placeboeffekt in diesem Sinne eine Rolle spielen. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Therapieforschung der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist die Erkenntnis, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Patient der zentrale Wirkfaktor in der psychotherapeutischen Behandlung ist. Ist es deshalb zwingend, in der therapeutischen Beziehung ein psychologisches Mittel im Sinne einer Interventionsmethode zu sehen? Die Frage nach den psychologischen Mitteln, die therapeutische Wirkfaktoren genannt werden, stammt aus der Erforschung der Gruppenpsychotherapie. Definition Wirkfaktoren werden die Kräfte genannt, die den psychotherapeutischen Prozess zu einem wirksamen machen.
Zunächst wurde von Wirkfaktoren als von den Erfahrungen gesprochen, die Gruppenpsychotherapiepatienten im Verlauf der Therapie als hilfreich erlebt hatten bzw. denen sie ihre Veränderungen durch die Psychotherapie zuschrieben. Zu diesen Erfahrungen gehörten vor allem, sich in der Gruppe wohl zu fühlen, sie als wichtig und attraktiv zu erleben, sehen und davon lernen zu können, wie andere Personen mit ihren Problemen umgehen, sich selbst in der Gruppe öffnen zu können und die seit der Kindheit in der Familie altbekannten Probleme in der Gruppe wiedererleben zu können (Eckert & BiermannRatjen, 1985; Yalom, 1996). Sie stellen sozusagen ein
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Klassifikationssystem oder eine Taxonomie im Erleben von Patienten dar, in das diese ihre Erfahrungen in der Gruppenpsychotherapie einordnen und das sie gleichsam in sich selbst entdecken, wenn sie gefragt werden, was an der Gruppentherapie ihnen gut getan hat. Die nächste Frage war, was Therapeuten dazu beitragen können, dass die Patienten solche hilfreichen Erfahrungen während ihrer Behandlung machen. Und daraus erwuchs sehr schnell die Frage, ob in verschiedenen Psychotherapieverfahren – in denen unterschiedliche psychologische Mittel oder Interventionsmethoden auf der Grundlage unterschiedlicher Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens eingesetzt werden – die einzelnen Wirkfaktoren in unterschiedlichem Ausmaß erlebt oder gar »verwirklicht« werden. Auch die Ergebnisse dieser Forschung sind nicht leicht zu interpretieren. Wir wissen z. B., dass die sog. Kohäsion einer Gruppe – das ist das Ausmaß, in dem die Mitglieder einer psychotherapeutischen Gruppe diese und sich gegenseitig schätzen und nutzen – einen Einfluss nicht nur auf die Effekte der Gruppentherapie, sondern auch auf die Ausprägung anderer Wirkfaktoren hat, z. B. darauf, wie viel Lernen von anderen in dieser Gruppe erlebt wird. Das könnte daran liegen, dass nicht alle therapeutischen Gruppen gleichermaßen heilsam sind, die einzelnen Gruppenmitglieder tatsächlich füreinander unterschiedlich wertvoll und nützlich sind. Es kann aber auch daran liegen, dass eine Gruppe von ihren Mitgliedern zunächst als wertvoll eingeschätzt und dann entsprechend genutzt wird. Man kann diese aber auch für überflüssige Fragen halten: Wichtig sei nur, dass man feststellen kann, dass eine kohäsive Gruppe die besseren Therapieeffekte aufweist. Es wäre dann die Aufgabe des Therapeuten dafür zu sorgen, dass seine Gruppe so kohäsiv wie möglich wird. Dazu müsste der Therapeut aber wissen, was eine Gruppe kohäsiv macht: ob es seine Interventionen sind und welche, oder ob es das Verhalten der Patienten oder die Bewertungen der Gruppe durch die Patienten sind und wie das entsprechend zu fördern ist, oder ob alles zusammen und in Interaktion miteinander eine Rolle spielt. Es ist also gar nicht so leicht, die psychologischen Mittel zu benennen, mit denen Psychotherapie beeinflusst. Und es ist noch schwerer, herauszufinden,
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
wo in der Interaktion von Therapeut und Patienten und von Patienten miteinander nach ihnen zu suchen ist: in den Patienten, die sich auf den psychotherapeutischen Prozess einlassen, im psychotherapeutischen Prozess selbst, in den Interventionsmethoden des Psychotherapeuten, in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient, im Glauben des Therapeuten an deren Wirksamkeit oder im Glauben der Patienten an den Therapeuten, die Methode usw. Dementsprechend problematisch ist die Antwort auf die Frage, was der Psychotherapeut dazu tun kann, dass sich ein psychotherapeutischer Prozess so entwickelt, dass ein bestimmtes therapeutisches Ziel erreicht wird. ! Es bedarf nicht nur eines Konsenses von Patient und Therapeut, sondern auch mit der Bezugsgruppe, um eine Verhaltensstörung oder einen Leidenszustand psychotherapeutisch zu behandeln. Wie wir zu zeigen versucht haben, ist es nicht nur eine medizinische oder psychologische Frage, sondern auch eine der politischen Verhältnisse, ob eine Verhaltensstörung oder ein Leidenszustand als Symptom oder ein bestimmtes Symptom einer Persönlichkeitsstruktur als Ausdruck einer Erkrankung angesehen werden können und als einer Psychotherapie zugänglich und würdig.
Die politischen Verhältnisse haben es in der letzten Zeit nahe gelegt und ermöglicht, dass es in der Psychotherapieforschung vornehmlich um die störungsspezifische Differenzierung gegangen ist, die Akkumulation des Wissen und »Know-hows« um bestimmte Störungen und Probleme herum und Methoden zu ihrer Behandlung. Unter Störung wurde dabei das Phänomen (das in Erscheinung Treten) eines Syndroms verstanden, d. h. einer Anzahl von Verhaltens- und Erlebnisweisen, die oft zusammen auftreten und auch einen gemeinsamen Verlauf nehmen. Die störungsspezifische Perspektive sieht die Aufgabe der Psychotherapie darin, solche Störungen zu behandeln, und die der Psychotherapieforschung darin, die besonderen Interventionsmethoden zu identifizieren oder zu entwickeln, mit denen die Symptome der verschiedenen Störungen in der kürzesten Zeit und am nachhaltigsten zum Verschwinden gebracht werden können. Persönlichkeitsstrukturen gelten in diesem Zusammenhang als Persönlichkeitsstörungen, d. h. über die Zeit beson-
ders stabile Lieferanten von gemeinsam auftretenden Verhaltensstörungen und Leidenszuständen bzw. Syndromen. Dass es auch andere Vorstellungen von Persönlichkeitsstrukturen und entsprechenden Vorgehensweisen zu ihrer Veränderung gibt als die, die sich aus der störungsspezifischen Perspektive ergeben, werden wir in diesem Buch noch wiederholt zu zeigen haben.
1.1.7
Psychotherapie beeinflusst mittels lehrbarer Techniken
Es sind also verschiedene Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens als Basis für psychologische therapeutisch wirksame Mittel denkbar, und einige von denen, die ausformuliert worden sind, haben wissenschaftlichen Prüfungen nicht standgehalten. Manche sind auch sehr alt und gelten allein schon deshalb als durch neue zu ersetzen. Das Alter einer Theorie sagt aber nichts über ihre Qualität aus, es sei denn die Forschung hat Erkenntnisse zu Tage gefördert, die wesentliche ihrer Annahmen unhaltbar machen oder es nahe legen, sie durch neue, weil besser zur Erklärung bestimmter Phänomene geeignete, zu ersetzen. ! Wir haben ausgeführt, dass eine Theorie der Therapie die Voraussetzung dafür ist, dass der Therapeut geplant und bewusst handelt. Die Forschung hat zudem zeigen können, dass Therapeuten, die im Einklang mit ihrer eigenen Therapietheorie vorgehen – man nennt das konzeptkonform handeln – die größeren Therapieerfolge erzielen als die Therapeuten, die das nicht tun (Luborsky, McLellan, Woody, O’Brien & Auerbach, 1985). Und es hat sich herausgestellt, dass Patienten dann besonders viel von einer Psychotherapie haben, wenn ihre Vorstellungen von den Ursachen ihrer Erkrankung und den Mitteln dagegen mit der Theorie des Therapeuten übereinstimmen (Eckert & BiermannRatjen, 1990).
Strotzkas Forderung, dass die psychologischen Mittel der Psychotherapie und des Psychotherapeuten auch lehrbar bzw. erlernbar sein sollen, sei hier so interpretiert, dass ihre Anwendung, ihre Wirkungsweise und ihre Effekte vorstellbar, denkend und auch
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experimentell nachvollziehbar und damit auch verstehbar sein müssen. Das ist nur möglich im Rahmen einer Theorie. Psychotherapie ist in diesem Sinn nicht Kunst – außer im Sinne von Kennen und damit Können – und auch nicht Magie.
1.1.8
Was ist Gesprächpsychotherapie?
Nach jahrelanger Erfahrung in der psychotherapeutischen Behandlung – auch von sehr schwer gestörten – verhaltensauffälligen und auch straffällig gewordenen Kindern und in der Beratung von deren Eltern hat Carl Rogers 1957 die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das in Gang Setzen und die Aufrechterhaltung eines psychotherapeutischen Prozesses, der zu einer konstruktiven Persönlichkeitsveränderung führt, formuliert.
Gesprächspsychotherapie beschreibt Psychotherapie als Bedingung für einen Prozess, in dem es zu konstruktiven Veränderungen des Klienten kommt, die, wie es bei Rogers heißt, mehr Reife bedeuten oder mehr psychische Anpassung. Heute nennen wir das mehr psychische Gesundheit. Die psychotherapeutische Situation wird als eine Konstellation von Bedingungen definiert, die in einer bestimmten Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten bestehen. Der Therapeut macht ein Beziehungsangebot, und Psychotherapie findet statt – bzw. es kommt zu den angestrebten Veränderungen in Richtung auf ein bestimmtes Ziel, wenn der Patient in der Lage ist, dieses Beziehungsangebot wahrzunehmen und wenn er es auch annimmt. Dann stellen Patient und Therapeut gemeinsam das psychologische Mittel eines interaktionellen kommunikativen Prozesses her, in dem der Patient wahrnimmt und damit auch annimmt, dass ihn der Therapeut bedingungsfrei
Notwendige und hinreichende Bedindungen für einen psychotherapeutischen Prozess nach Rogers 1. Zwei Menschen haben einen psychologischen Kontakt, d. h. sie nehmen einander wahr: »each makes some perceived difference in the experiential field of the other« (Rogers, 1957a, S. 96). 2. Der eine Mensch, Rogers nennt ihn den Klienten, ist inkongruent. Das heißt im Rahmen der Gesprächspsychotherapie1: Er ist mit Erfahrung beschäftigt, die nicht zu seinem Selbstbild passt. Die inkongruente Person ist mit sich selbst uneins und fühlt das auch, ist z. B. verletzlich oder ängstlich. 3. Der andere Mensch, der Therapeut, ist in der Beziehung zum Klienten kongruent. Er kann in der Interaktion mit dem Klienten wirklich er selbst (»genuine«) sein. Er verbirgt sich nicht hinter einer »Fassade«. Er erlebt nichts, was er nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann und dessen er sich deshalb nicht bewusst werden kann. 4. »Der Therapeut erlebt sich als den Klienten bedingungsfrei positiv beachtend« (Rogers, 1957a, S. 96, Übersetzung v. Verf.). Er kann den Klienten annehmen und wertschätzen, und
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zwar unbedingt. Das Gegenteil wäre, den Klienten zu bewerten, ihn in der einen Erfahrung anzuerkennen und in einer anderen abzulehnen. 5. Der Therapeut fühlt sich empathisch in den Inneren Bezugsrahmen des Klienten ein und bemüht sich, dem Klienten die Erfahrungen, die er dabei macht, mitzuteilen. Die Einfühlung des Therapeuten führt zu einem so genauen Verstehen dessen, was der Klient von seinen Erfahrungen wahrnimmt, als seien sie Erfahrungen des Therapeuten selbst, ist aber von dem klaren Bewusstsein begleitet, dass es eben nicht die eigenen Erfahrungen, sondern die eines anderen Menschen sind. 6. Der Klient nimmt zumindest in Ansätzen wahr, dass ihn der Therapeut empathisch versteht und bedingungslos wertschätzt. (vgl. Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 13 f.) 1
anders als bei Grawe (2004), der von Inkongruenz im Sinne von unbefriedigt sein in den Grundbedürfnissen, zu denen unter anderen ein Bindungs- und ein Kontrollund ein Selbstwertbedürfnis gehörten, spricht.
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
positiv beachtet und empathisch in seinem Bezugsrahmen so genau versteht, als handele es sich bei dem empathisch Verstandenen um seine eigenen Gefühle, ohne aber jemals zu übersehen, dass sie eben nicht seine, sondern die des Patienten sind. Der Inhalt der Kommunikation in diesem interaktionellen Prozess, in dem sich der Therapeut seiner eigenen Befindlichkeit jederzeit bewusst werden kann und der auch auf seiner Seite immer ein intendierter und geplanter zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen ist, ist die Beschäftigung des Klienten mit seiner Inkongruenz, mit seinen Erfahrungen, die er nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann. Die Verringerung dieser Inkongruenz ist das definierte und nach Möglichkeit gemeinsam mit dem Patienten erarbeitete Ziel der Therapie. Verringerung der Inkongruenz, d. h. Abnahme der Menge der Erfahrungen, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden können und/oder deswegen abgewehrt, d. h. dem Bewusstsein vorenthalten werden, bedeutet im Klientenzentrierten Konzept Symptomminimalisierung und/ oder Strukturänderung der Persönlichkeit. ! Gesprächspsychotherapie erfolgt auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens in einer therapeutischen Beziehung, die als Bedingung für den therapeutischen Prozess, in dem sich konstruktive Veränderungen entwickeln, definiert ist. Sie hat die Qualität einer tragfähigen emotionalen Bindung. Die Forschung hat zeigen können, dass Empathisches Verstehen und Bedingungsfrei Positives Beachten und nicht Bewerten der Erfahrungen einer anderen Person lehrbar im oben beschriebenen Sinne und trainierbar sind.
Dieses Buch wird schildern, dass und warum die erwähnte Studentin, wenn sie sich in gesprächspsychotherapeutische Behandlung begeben wird, ein immer differenzierteres Bild von sich selbst und ihren Beziehungen zu ihrer Umwelt entwickeln wird, und dass, je differenzierter dieses Selbstbild wird, sie umso mehr auch das Bedürfnis spüren wird, sich vor Erfahrungen zu schützen, die sie in ihrem Selbstbild und ihrem Selbstwert bedrohen, und erleben wird, wie sie sich schützt bzw. in welchen Symptomen sich zeigt, dass sie sich schützt bzw. gegen bestimmte Erfahrungen verteidigt, z. B. indem sie diese gar nicht wahrnimmt.
Sie wird die Erfahrung der Aufhebung von Inkongruenz machen, wenn sie solche bisher bedrohliche Erfahrung in ihre Selbsterfahrung integrieren kann. Das wird ihr unter der Bedingung möglich werden, dass der Therapeut sie auch in Erfahrungen versteht und ohne sie zu bewerten positiv beachtet, in denen sie sich selbst nicht annehmen kann. Der Studentin wird sich selbst und ihrer Erfahrung immer mehr so begegnen können, wie der Therapeut es tut. Dadurch wird es nicht nur dazu kommen, dass die Symptome verschwinden. Es wird sich auch die Struktur der Persönlichkeit der Patientin ändern. Sie wird offener für ihre Erfahrung werden, fähiger zur Selbstexploration, kongruenter und das heißt auch angstfreier und weniger auf der Flucht vor der Erfahrung. Sie wird dadurch auch kognitiv flexibler und freier im Denken werden, ihr Leben immer mehr als ihr eigenes ansehen und immer mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen. ? Übungsfragen 5 5 5 5
Wie definiert Strotzka Psychotherapie? Gibt es eine verbindliche Definition von »krank«? Was ist der psychotherapeutische Prozess? Was versteht man unter therapeutischen Wirkfaktoren? 5 Was bedeutet »störungsspezifisch« in der Psychotherapie? 5 Was sind nach Rogers die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess?
1.2
Literatur
Rogers, C. R. (1957a). The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. Journal of Consulting Psychology, 21, 95-103. (Deutsch: Rogers, C. R. (1991). Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie. In: C. R. Rogers & P. F. Schmid, Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Carl R. Rogers, S. 165-184. Mainz: MatthiasGrünewald-Verlag, 1991) Yalom, I. D. (1996). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch (4., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl.). München: Pfeiffer.
2 2 Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts D. Höger 2.1
Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen? – 12
2.1.1
Das Problem der mehrdeutigen Sprache – 12 Über die wechselseitige Verbundenheit von Theorie und Praxis – 13 Erkenntnistheoretische Aspekte – 13
2.1.2 2.1.3
2.3.9
Nicht-Direktivität als Merkmal des Klientenzentrierten Ansatzes – 21 2.3.10 Vorläufiges Fazit – 23
2.4
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie – 23
2.4.1
Rogers als Bahnbrecher für die Psychotherapieforschung – 23 Anerkennung in der Fachwelt – 24
2.4.2
2.2
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschung – 14 Die Anfänge – 14 Erste Erfahrungen mit den Anforderungen der klinisch-psychologischen Praxis – 14 Drei für die weitere Entwicklung wesentliche Episoden – 15 Konsequenzen aus den Erfahrungen – 16
2.3
Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten – 17
2.3.1
Wachstum in einer therapeutischen Beziehung – 17 Die Behandlung von Problemkindern – 17 Die Professur an der Ohio State University – 18 Das konkrete Therapeutenverhalten als Gegenstand der Ausbildung von Therapeuten – 18 Die neue Art der Therapieforschung – 18 Das neue Therapiekonzept – 19 Der erste geschlossene Ansatz: »Counseling and Psychotherapy« – 19 »Klient« oder »Patient«? – 20
2.3.2 2.3.3 2.3.4
2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
2.5
Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie – 25
2.5.1 2.5.2
Client-centered therapy – 25 Übertragung des Klientenzentrierten Konzepts auf andere Anwendungsbereiche – 25 Ausbildung von Psychotherapeuten – 26
2.5.3
2.6
Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts – 26
2.7
Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts – 27
2.7.1 2.7.2
Ist der Mensch »gut«? – 27 Wie lässt sich die skeptische Sicht Freuds erklären? – 29 Die Kontroverse mit Skinner – 30
2.7.3
2.8
Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft – 32
2.9
Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland – 34
2.10 Weiterführende Literatur – 34
12
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
In diesem Kapitel wird die Entstehung der Gesprächspsychotherapie bzw. des Klientenzentrierten Konzepts aus der Verknüpfung von therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschungsmethodik dargestellt. Das ihr zugrunde liegende Menschenbild wird erörtert und dem der Psychoanalyse und dem des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes gegenüber gestellt. Ein Blick auf das wissenschaftstheoretische Konzept des Paradigmas nach Kuhn (1967, 1977) verdeutlicht, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind und welche Bedeutung ihnen für die gegenwärtige und zukünftige Theorie der Psychotherapie zukommt. Schließlich wird kurz die Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland geschildert.
2.1
Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen?
Wäre es nicht zweckmäßiger, sich auf den neuesten Stand der Gesprächspsychotherapie zu beschränken und ihn genau und verständlich darzustellen, anstatt sich mit ihrer Vergangenheit zu befassen, die ohnehin überholt ist? Wenn in diesem Kapitel dennoch die Geschichte des Klientenzentrierten Konzepts behandelt wird, dann hat dies gute Gründe. Zunächst erleichtert es unter methodisch-didaktischen Gesichtspunkten den Zugang zu einer Theorie bzw. einem Konzept beträchtlich, wenn deutlich wird, aus welchem Zusammenhang heraus und mit welchen konkreten Fragen und Problemen sie entstanden ist. Sie wird damit anschaulicher und greifbarer. Zudem kursieren in den Vorstellungen von Laien – aber auch von Fachleuten – Vorstellungen von und über die Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie, die auf Fehlinformationen und Missverständnissen beruhen. Beispiele dafür sind die Behauptungen, der Kern von Rogers’ Menschenbild bestünde in der naiven Annahme, dass der Mensch von Natur aus gut sei, und Gesprächspsychotherapeuten behandeln alle Patienten gleich. Sicher können Missverständnisse durch geeignete Informationen geklärt werden, wie sie in den Kapiteln dieses Lehrbuchs auch enthalten sind. Darüber hinaus aber kann das Wissen über die Entstehungszusammenhänge des Klientenzentrierten Konzepts den Bezug herstellen,
aus dem heraus das Entstehen und die Weitergabe solcher Missverständnisse eher vermieden werden kann. Aber es gibt auch noch andere Gründe.
2.1.1
Das Problem der mehrdeutigen Sprache
Der historische Kontext der Entstehung einer Theorie ist unabdingbar, um die Begriffe und Modellvorstellungen, aus denen eine Theorie besteht, wirklich genau zu vermitteln. Die für wissenschaftliche Darstellung erhobene Forderung, dass sie möglichst eindeutig zu sein habe, ist anders nicht zu erreichen. Sprache für sich allein ist vieldeutig, erst Zusammenhänge können deutlich machen, was jeweils gemeint ist. So hat das Wort »Kraft« im Alltag viele Bedeutungen (Muskelkraft, Macht, Stärke, Energie usw.). Erst der Zusammenhang mit der Physik und die Definition »Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung« kann Eindeutigkeit darüber herstellen, was gemeint ist. Anders als die Physik verfügt die Psychologie zusammen mit ihren Anwendungsgebieten nicht über eine solche eindeutige Begrifflichkeit. Ihre Sprache ist weitgehend an die Alltagssprache angelehnt und verleitet deshalb auch Fachleute zu einer unpräzisen Ausdrucksweise. So weit Fachbegriffe verwendet werden, geschieht dies nur allzu oft in nicht eindeutiger Weise. Als besonders krasses Beispiel mag hier der Begriff »kognitiv« dienen, von dem Dörner schrieb, er sei fast nicht mehr verwendbar, weil er nur noch die Bedeutung »irgendwie innen und nicht direkt sichtbar« habe (Dörner, 1984, S. 10). Daran hat sich seither kaum etwas geändert. Diese fehlende Eindeutigkeit der Begriffe hat Konsequenzen für die Rezeption psychologischer Literatur ganz allgemein, auch und im Besonderen für die der Schriften von Carl R. Rogers, dem Begründer des Klientenzentrierten Ansatzes, die die theoretische wie auch therapeutisch-praktische Basis der Gesprächspsychotherapie bilden. Die meisten der in seiner Theorie verwendeten zentralen Begriffe haben zwar eine definierte Bedeutung. Sie wird aber in der Sekundärliteratur oft ignoriert und durch ein beliebiges Alltagsverständnis ersetzt, was immer wieder zu die Diskussion störenden Missverständnissen geführt hat und immer noch führt.
13 2.1 · Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie
Als Beispiel mag der Begriff »nicht-direktiv« (»non directive«) dienen, eine von Rogers gewählte Beschreibung für die von ihm entwickelte Therapieform. Er hat ihn, wie wir noch in diesem Kapitel sehen werden, damit begründet, dass der Therapeut gegenüber seinem Patienten nicht als der Experte auftritt, der kraft seines Fachwissens weiß, was für ihn gut ist und wie sein weiterer Weg aussehen sollte. Stattdessen fördert der Therapeut beim Patienten mit geeigneten Interventionen – die in späteren Kapiteln noch eingehend beschrieben werden – den Prozess einer eigenständigen und konstruktiven Entwicklung, die ihn zur Lösung seiner Probleme befähigt. Ohne sich um diese Begründungen zu kümmern, wurde »nicht-direktiv« nach dem Alltagsverständnisses aufgefasst im Sinne von »keine Direktiven geben« bzw. »keine Anweisungen«. Und das bedeutet doch wohl, dass der Therapeut am ehesten »nicht-direktiv« ist, wenn er gar nichts tut. Und so etwas soll wirken?? Erschrocken über dieses Missverständnis änderte Rogers die Bezeichnung seines Verfahrens in »Klientenzentrierte Therapie«1 (»client centered therapy«), wodurch sich allerdings kaum etwas besserte, denn nun kam es – wieder dem naiven Alltagsverständnis folgend – zu dem Einwand, »klientenzentriert« bedeute ja wohl, dass der Klient im Mittelpunkt steht. Und das ist doch bei jeder Therapie der Fall, also machen doch letztlich alle Psychotherapeuten »Klientenzentrierte Therapie«. Was soll also das Besondere daran sein?? ! Es führt nichts daran vorbei, sich nicht nur dem Klientenzentrierten Konzept, seinen Begriffen und Modellvorstellungen genauer zu widmen, sondern insbesondere auch seiner Entwicklung und den Zusammenhängen, aus denen heraus es entstanden ist. Wer diese Zusammenhänge kennt, hat verstanden, worum es geht. Kurz gesagt: Sprachliche Äußerungen, auch wissenschaftlicher Art, bedürfen der Interpretation. Und ihre Interpretation bedarf des Kontexts, in dem sie stehen. 1
Dennoch war der Begriff »nicht-direktiv« nun einmal in der Welt, und die Korrektur von Rogers wurde nur wenig zur Kenntnis genommen. Bezeichnend dafür ist, dass die im Jahre 1972 – also mehr als 20 Jahre nach seinem im Jahre 1951 erfolgten Widerruf – veröffentlichte deutsche Übersetzung seines Buches »Counseling and Psychotherapy« unter dem Titel »Die nicht-direktive Beratung« anstatt der korrekten Übersetzung »Beratung und Psychotherapie« erschien.
2.1.2
2
Über die wechselseitige Verbundenheit von Theorie und Praxis
Und es gibt noch einen weiteren Grund, sich näher mit der Geschichte des Klientenzentrierten Konzepts zu befassen: Diese Theorie der Psychotherapie ist das Ergebnis der Auswertung von systematischen Beobachtungen und Erfahrungen, die in abstrakten Begriffen und Modellvorstellungen zusammengefasst sind. Um sie so zu verstehen, dass sie in therapeutisches Handeln umgesetzt werden können, müssen wir auch den Weg zurück vom unanschaulichen Abstraktum zur konkreten Vorstellung gehen können. Dieses flüssige Hin und Her zwischen Theorie und Praxis ist eine Voraussetzung kompetenten und professionellen therapeutischen Handelns. Es wird durch Beispiele gefördert, insbesondere aber auch, wenn wir uns die Entstehungszusammenhänge der Begriffe und Modellvorstellungen immer wieder vergegenwärtigen. Nicht zuletzt wird die Relation zwischen der Theorie und der Praxis eines Konzepts deutlicher, wenn ihre Entwicklungsgeschichte nachvollziehbar ist. Das Klientenzentrierte Konzept ist nicht das Ergebnis einer Eingebung, sondern eines stetigen, geduldig und konsequent betriebenen Prozesses der Auseinandersetzung zwischen der beobachteten therapeutischen Praxis und dem Versuch, die dabei gemachten Erfahrungen theoretisch einzuordnen. Zu Beginn dieses Prozesses war Rogers zwar die zentrale Figur, zugleich aber auch eingebunden in das Netzwerk der damals aktuellen therapeutischen Konzepte und ihrer Diskussion und in ein Team von Mitarbeitern und Diskussionspartnern.
2.1.3
Erkenntnistheoretische Aspekte
»Wissenschaftlichkeit« genießt in unserer Gesellschaft den Ruf der eindeutigen Wahrheit. Wenn etwas »wissenschaftlich geprüft« ist, gilt es als unumstößlich wahr. Wer genauer hinsieht, und genau das haben vor allem engagierte Wissenschaftler getan, kann erkennen, dass dem nicht so ist. Dahinter steckt keine Wissenschaftsfeindlichkeit. Vielmehr gilt es, darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Aussagen auf Voraussetzungen und Methoden beruhen,
14
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
die ihren Hintergrund in ihrer Geschichte und ihren Entstehungsbedingungen haben. Nur wer sie kennt, kann wissenschaftliche Ergebnisse richtig einordnen und ihre Gültigkeit für den jeweiligen Verwendungszusammenhang abschätzen. Last but not least: Es ist einfach interessant zu fragen, wie jemand dazu kommt, eine bestimmte Theorie über Psychotherapie so und nicht anders zu konzipieren, und welche Umstände ihn dazu gebracht haben.
2.2
Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirischpsychologischer Forschung
2.2.1
Die Anfänge
Die erste Berührung mit der Klinischen Psychologie hatte Rogers (geb. 1902), als er 1926, in der Endphase seines Studiums der Psychologie am Teachers College der Columbia University, in dem direkt gegenüber liegenden, damals neu eingerichteten Institute for Child Guidance (Institut für Erziehungsberatung) eine Assistentenstelle bekam. Die Tätigkeit in dieser Einrichtung brachte ihn nicht nur direkt mit den vielfältigen Problemen von Menschen in Berührung, die Rat und Hilfe suchten, sondern sie konfrontierte ihn zugleich mit dem Gegensatz zwischen den damals relevanten psychologischen Konzeptionen: Am Teachers College (an dem damals immerhin Edward Lee Thorndike, einer der prominentesten Begründer der klassischen Lernpsychologie, forschte und lehrte) hatte er das Lehr- und Forschungsprogramm der akademischen Psychologie kennen gelernt und sich weitgehend zu eigen gemacht. Dessen Kern bildeten dort das exakt methodische, auf Messung beruhende experimentellstatistische Vorgehen und die damit erarbeiteten Theorien. Durch die neuen Kollegen in der Erziehungsberatung wurde er nun mit dem psychoanalytischen Gedankengut bekannt gemacht, das deren Arbeit bestimmte und in dem Emotionen und Persönlichkeitsdynamik betont wurden. Er glaubte damals, in zwei völlig verschiedenen Welten zu arbeiten, die sich nie begegnen könnten. In späteren Jahren war er dann der Ansicht, dass die Notwendigkeit,
diesen Konflikt in sich zu lösen, eine höchst wertvolle Lernerfahrung für ihn gewesen sei (Rogers, 1973a, S. 25).
2.2.2
Erste Erfahrungen mit den Anforderungen der klinischpsychologischen Praxis
In der entwicklungspsychologischen Abteilung der Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children (Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern), in der Rogers später (1928) eine Anstellung als Psychologe bekam und deren Direktor er im Jahr darauf wurde, war es sein oberstes Ziel, mit den unterprivilegierten und häufig straffällig gewordenen Kindern sowie deren mit Problemen überforderten Eltern möglichst effektiv zu arbeiten. Was die Methoden betraf, mit ihnen umzugehen, so gab es für ihn letztlich nur ein Kriterium: »Klappt es? Ist die Methode effektiv?« (Rogers, 1973a, S. 26). Diese Aufgabe ging weit über das hinaus, was er zuvor in seinem Studium der Psychologie gelernt hatte. Also war er gezwungen, sich anderweitig nach geeigneten Verfahrensweisen umzusehen. Die Grundlage seiner Arbeit war die damals herrschende Ansicht, dass der erste Schritt, den Kindern zu helfen, darin bestehe, die Art ihres Problems genau zu verstehen. Er beschrieb damals seine Institution als »ziemlich ähnlich einer Autowerkstatt – Sie bringen ein Problem dort hin, erhalten die Diagnose eines Experten und erhalten eine Empfehlung, wie die Schwierigkeit korrigiert werden kann« (Kirschenbaum, 1979, S. 67; Übersetzung v. Verf.). Seiner Ausbildung folgend, bediente sich Rogers bei seinen Diagnosen der Exploration der Eltern, des Gesprächs mit dem Kind bzw. Jugendlichen, psychologischer Tests und der aus den Akten ersichtlichen Fallgeschichte. Anschließend berieten in einer Fallkonferenz die Mitglieder des Teams (Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegeeltern, Heimerzieher, Lehrer, Arzt usw.) über die Hintergründe, die zu dem Problem geführt hatten, sowie über geeignete Maßnahmen zur Korrektur. Eine wesentliche Grundlage für diese Problemanalyse waren psychoanalytische Vorstellungen, und die dann folgende Behandlung beruhte u. a. auf der Erwartung, Probleme ließen sich am besten bewälti-
15 2.2 · Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis
gen, wenn ein Patient zur Einsicht in die Hintergründe seiner Probleme gebracht werde.
2.2.3
Drei für die weitere Entwicklung wesentliche Episoden
Wegen der hohen Ansprüche, die Rogers an die Effektivität seines Handelns gestellt hatte, kümmerte er sich intensiv um die Ergebnisse dieser Bemühungen, und so konnte es nicht ausbleiben, dass er rasch und nachdrücklich mit den Grenzen seiner Vorgehensweise konfrontiert wurde. Über eine besonders eindrucksvolle Fallgeschichte hat er selber berichtet: »Während meiner Ausbildung faszinierten mich William Healys2 Schriften, die den Schluss nahe legen, jugendliche Kriminalität basiere oft auf sexuellen Konflikten und höre auf, wenn diese Konflikte aufgedeckt würden. Während meines ersten oder zweiten Jahres in Rochester arbeitete ich sehr intensiv mit einem Jugendlichen, der einen unerklärlichen Trieb hatte, Feuer anzuzünden – ein Pyromane. Nach vielen Gesprächen im Erziehungsheim stellte sich mir sein Drang als sexuelles Verlangen im Zusammenhang mit Masturbation dar. Heureka! Der Fall war gelöst. Allerdings, nachdem der Jugendliche auf Bewährung entlassen war, wurde er wieder rückfällig. Ich erinnere mich noch an den Stoß, den mir das gab. Healy hatte vielleicht nicht Recht. Vielleicht war ich dabei, etwas herauszufinden, was Healy nicht wusste. Irgendwie beeindruckte mich dieser Vorfall, er zeigte mir die Möglichkeit, dass es in den anerkannten Lehrgebäuden Mängel und dass es noch neues Wissen zu entdecken gab.« (Rogers, 1973a, S. 26) Die Episode sowie die Reaktion von Rogers auf sie zeigen exemplarisch zweierlei: Zum einen seine Unzufriedenheit mit dem theoretischen Rüstzeug, das er in der damaligen einschlägigen Literatur vorfand. Er hatte sie ebenso wie seine Mitarbeiter wesentlich 2
William Healy war seinerzeit in den USA eine anerkannte Autorität für die Behandlung von delinquenten und Problemkindern.
2
eingehender durchgearbeitet, als dies in dem Einzelbeispiel deutlich wird. Damit war er also gescheitert. Zum anderen wird deutlich, dass er sich nicht darauf verließ, irgendwann doch noch eine Lösung in der Literatur bei Autoritäten zu finden. Stattdessen sah er sich aufgerufen, eigenständig nach Neuem zu suchen. An derselben Stelle berichtet Rogers über eine weitere, für seine professionelle Entwicklung wichtige Begebenheit: »Die zweite naive Entdeckung war anderer Art. Bald nach meiner Ankunft in Rochester leitete ich eine Diskussionsgruppe über die Durchführung von Behandlungsgesprächen. Als ein Beispiel für gute Gesprächstechnik brachte ich einen Bericht, den ich in einer Veröffentlichung gefunden hatte. Ein Gespräch mit einer Mutter war in etwa wörtlich wiedergegeben, in dem der Interviewer scharfsinnig, einsichtig und klug das Gespräch schnell auf den Kern der Schwierigkeiten hinführte. Einige Jahre später bekam ich eine ähnliche Aufgabe und erinnerte mich an dieses ausgezeichnete Material. Ich suchte es heraus und las es wieder: Ich war erschrocken. Jetzt schien es mir eher eine clevere, spitzfindige Art des Fragens seitens des Gesprächsleiters zu sein, die diese Mutter ihrer unbewussten Motive überführte und ihr ein Eingeständnis ihrer Schuld abrang. Ich wusste mittlerweile aus meiner Erfahrung, dass ein solches Gespräch weder der Mutter noch dem Kind eine dauernde Hilfe bieten würde. Dadurch erkannte ich, dass ich mich von jedem Ansatz, der darauf hinauslief, innerhalb einer klinischen Beziehung den anderen zu zwingen oder zu drängen, entfernt hatte, nicht aus philosophischen Gründen, sondern weil solche Ansätze nie mehr als oberflächlich wirksam werden.« (Rogers, 1973a, S. 26 f.) In diesem Bericht, der sich vor allem auf die Methodik von beratenden und therapeutischen Gesprächen bezieht, wird bereits die durch seine Erfahrungen bestimmte Entwicklung deutlich, die Rogers in den Jahren in Rochester genommen hatte. Zunächst von Methoden tief beeindruckt und überzeugt, die dem Experten argumentativ und zwingend die Ein-
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2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
sicht in die Hintergründe von Problemen vermitteln, hatte er inzwischen gelernt, dass eine solche Rhetorik zwar für den Therapeuten selber – oder auch für ein eventuelles Publikum – ihre intellektuell-ästhetischen Reize haben mag. Für konstruktive Veränderungen bei den Patienten ist sie jedoch so gut wie wertlos. Er war also vorsichtiger und kritischer geworden. Rogers berichtet dann noch über eine dritte Begebenheit in einem Fall, bei dem er sich zwar bereits umsichtiger verhielt, aber dennoch wieder die Grenzen seines Vorgehens aufgezeigt bekam. Er nahm jedoch eine Wendung, die für sein weiteres Vorgehen entscheidend sein sollte: »Der dritte Vorfall ereignete sich einige Jahre später. Ich hatte gelernt, feinfühliger und geduldiger zu sein, wenn ich einem Klienten sein Verhalten deutete; ich versuchte, die Interpretation behutsam und zeitlich so zu bringen, dass sie angenommen wurde. Ich hatte mit einer hochintelligenten Mutter gearbeitet, deren Junge ein rechter kleiner Teufel war. Das Problem lag eindeutig in ihrer frühen Ablehnung des Jungen, aber ich konnte ihr im Laufe vieler Gespräche nicht zu dieser Einsicht verhelfen. Ich half ihr, aus sich herauszugehen, fasste die von ihr gegebenen Hinweise vorsichtig zusammen, versuchte, ihr zu helfen, die Struktur zu erkennen. Aber wir kamen nicht voran. Schließlich gab ich auf. Ich erklärte ihr, dass es so aussähe, als hätten wir beide alles versucht, doch letztlich versagt, und dass wir genauso gut unsere Treffen aufgeben könnten. Sie stimmte zu, und so beendeten wir das Gespräch; wir schüttelten uns die Hände, und sie ging zur Sprechzimmertür. Dort drehte sie sich um und fragte: ›Nehmen Sie auch Erwachsene zur Beratung an?‹ Als ich zustimmte, sagte sie: ›Also, ich brauche Hilfe.‹ Sie kehrte zu dem Stuhl zurück, den sie eben verlassen hatte und begann, eruptiv die Verzweiflung über ihre Ehe, das gestörte Verhältnis zum Ehemann, das Gefühl des Versagens und der Verwirrung mitzuteilen – alles ganz anders als die sterile ›Fallgeschichte‹, die sie früher vorgebracht hatte. Die wirkliche Therapie setzte in diesem Moment ein und führte schließlich zum Erfolg.« (Rogers, 1973a, S. 27)
2.2.4
Konsequenzen aus den Erfahrungen
Der Kommentar, den Rogers selbst zu diesen Episoden gibt, lautet: »Dieser Vorfall war einer von mehreren, die mir zu der Erfahrung verhalfen – erst später erkannte ich sie völlig –, dass der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtungen einzuschlagen, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind. Langsam merkte ich, dass, wenn ich es nicht nötig hätte, meine Cleverness und Gelehrsamkeit zu demonstrieren, ich besser daran täte, mich auf den Klienten zu verlassen, was die Richtung des Prozessablaufs anging.« (Rogers, 1973a, S. 27 f.) Damit hatte er die entscheidende Erkenntnis des Klientenzentrierten Konzepts gewonnen: So merkwürdig es für eine Gesellschaft auch klingen mag, die daran gewöhnt war (und immer noch ist), sich auf das Wissen wissenschaftlich geschulter Experten zu verlassen: Die besten Experten für die Lösung ihrer Probleme des Verhaltens und Erlebens sind die Patienten selber. Sie treten damit aus ihrer ausschließlich passiven Rolle der Empfänger des professionellen Expertenwissens heraus, um ihre eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zu entdecken und weiter zu entwickeln. Und das Ergebnis dabei war, dass nicht nur ihre Symptome verschwanden und sie ihre Probleme bewältigten, sondern dass sich in einem therapeutischen Entwicklungsprozess auch stabilisierende Veränderungen der Persönlichkeit ergaben. Drei Aufgaben stellten sich nun für Rogers und seine Mitarbeiter:
Zukünftige Aufgaben 1. Zu erkunden, welche Bedingungen es sind, die solche eigenständigen Entwicklungsprozesse stattfinden lassen. Auf diese Weise müsste es möglich sein, Richtlinien für effizientes Therapeutenverhalten zu formulieren,
6
17 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
2. Empirisch zu belegen, dass sich mit einem solchen Vorgehen bei den behandelten Personen die behaupteten Veränderungen auch tatsächlich ergeben – eine Aufgabe, die für Rogers als empirisch-methodisch ausgebildeten Psychologen unabdingbar und selbstverständlich war – sowie 3. Eine Theorie der Persönlichkeit zu entwickeln und zu formulieren, die in der Lage ist, zu erklären, warum sich bei einem Therapeutenverhalten, das sich an den Ergebnissen der Punkte 1 und 2 orientiert, bei einem Menschen konstruktive Veränderungen einstellen können.
sich stattdessen auf die Einsicht des Patienten in sich selbst sowie auf seine Selbstakzeptanz in der therapeutischen Beziehung zu konzentrieren. Während es in der klassischen Psychoanalyse das Ziel war, dass der Patient, indem er seinen Widerstand und seine Übertragung durcharbeitet, lernt, die eigene psychische Entwicklung zu verstehen, war in der Rankschen Schule die therapeutische Beziehung selbst das hauptsächliche therapeutische Agens. Ihre Vertreter meinten: Wenn der Patient in der Therapiestunde die Fähigkeit entwickelt, als gesundes Individuum zu leben, dann würde er dies anschließend auf sein tägliches Leben übertragen (Kirschenbaum, 1979).
2.3.2
2.3
Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
Entscheidend für die Ergebnisse der Suche nach einer brauchbaren Methode für die psychotherapeutische Behandlung war zum einen, dass sich Rogers und seine Mitarbeiter so gut wie in der gesamten einschlägigen Literatur jener Zeit nach Anregungen für ein geeignetes Vorgehen umsahen, zum anderen, dass die erkennbare Wirksamkeit des Vorgehens das primäre Kriterium für die Auswahl war.
2.3.1
Wachstum in einer therapeutischen Beziehung
Bei dieser Auseinandersetzung mit den verschiedenen therapeutischen Richtungen stieß Rogers u. a. auf das Konzept von Rank. Zwar waren für ihn, der vor allem nach konkreten therapeutischen Handlungsmöglichkeiten suchte, dessen eigene Arbeiten wenig ergiebig. Jedoch wurde er durch die Schriften von Ranks Schülern Jessie Taft und Frederick Allen stark beeinflusst, zumal er darin seine eigenen Ideen bestätigt fand: sich nicht einzumischen, sondern auf die dem Individuum eigene Tendenz in Richtung auf Wachstum zu vertrauen. Vor allem aber galt es, die Aufmerksamkeit nicht – wie in der klassischen Psychoanalyse – auf die Interpretation des Vergangenen zu richten, sondern
2
Die Behandlung von Problemkindern
Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung mit den therapeutischen Richtungen der damaligen Zeit gingen in das erste größere Buch von Rogers mit dem Titel »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) ein. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass der Erfolg einer therapeutischen Behandlung in erster Linie von der Qualifikation des Therapeuten abhängt, für die er vier Merkmale als maßgeblich ansah: 1. Objektivität: Sie ist im klinischen Zusammenhang allerdings anders definiert als im streng (natur-)wissenschaftlichen Bereich, und zwar als eine authentisch aufgeschlossene und interessierte Einstellung, eine »kontrollierte Identifikation« im Sinne eines tiefen Verstehens des Anderen, die jedoch insofern eine Distanz wahrt, als der Therapeut darauf achtet, dass er das Erleben des Anderen nicht zu seinem Eigenen macht. Zu einem so gearteten Verstehen passt es auch nicht, über den Anderen moralische Urteile zu fällen oder über ihn geschockt oder entsetzt zu sein. 2. Respekt gegenüber dem Individuum: Eine tiefsitzende Achtung gegenüber der Integrität des Anderen, die ihn so akzeptiert, wie er ist, und die ihm dabei hilft, seinen eigenständigen Weg der Entwicklung gemäß den ihm eigenen Zielen zu gehen und dabei die speziell für ihn passende Form der Anpassung zu finden. 3. Verstehen des eigenen Selbst: Der Therapeut muss ein intaktes Verständnis seiner selbst, sei-
18
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
ner besonderen emotionalen Muster sowie seiner eigenen Grenzen und Fehler besitzen. Ohne einen beträchtlichen Grad an Einsicht in sich selbst wird er nicht in der Lage sein, Situationen zu erkennen, in denen er zur Befangenheit und Voreingenommenheit neigt. 4. Psychologisches Wissen: Eine solide Kenntnis des menschlichen Verhaltens und seiner physischen, sozialen und psychischen Determinanten. Allerdings ist dieses Wissen allein, ohne dass die ersten drei Punkte erfüllt sind, für ein effizientes therapeutisches Handeln nicht hinreichend.
2.3.3
Die Professur an der Ohio State University
Rogers vermutete, dass dieses Buch entscheidend für seine Berufung im Jahre 1940 auf eine Professur für Psychologie an der Ohio State University war. Zu seinen Aufgaben dort gehörte die Leitung von Seminaren über Psychotherapie und Beratung, die bei den Studierenden begeisterten Zuspruch fanden. Immerhin waren sie nicht nur bereit, auch am unbeliebten Sonnabend die morgens um acht Uhr angesetzten Seminare zu besuchen (für heutige akademische Verhältnisse fast undenkbar), sondern sogar über die angesetzten Stunden hinaus auch am Nachmittag weiter zu arbeiteten.
2.3.4
Das konkrete Therapeutenverhalten als Gegenstand der Ausbildung von Therapeuten
Zu den Besonderheiten dieser Seminare gehörten nicht nur die Gedanken von Rogers zur Psychotherapie und Beratung, sondern auch, dass er die damals neu gegebenen Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zu nutzen verstand: Mit dem inzwischen verfügbaren »Phonographen« wurden die therapeutischen Gespräche der Studierenden (natürlich mit Einverständnis der Patienten) aufgenommen, und die Arbeit in den Seminaren bestand dann darin, die Gespräche gemeinsam anzuhören und zu diskutieren. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie in dem jeweiligen Gespräch das therapeutische Vorgehen verbessert werden könnte.
Diese Art von Supervision, bei der das konkrete therapeutische Handeln unmittelbar analysiert und diskutiert wurde, war im universitären Bereich einzigartig. Kein anderer Therapeut hatte bis dahin die supervidierte Erfahrung in der therapeutischen Beziehung zu einem Bestandteil der akademischen Ausbildung gemacht.
2.3.5
Die neue Art der Therapieforschung
Diese Tonaufzeichnungen waren ein ausgezeichneter Spiegel für die Therapeuten. Sie mussten sich nicht mehr mit ihrer täuschungsanfälligen Selbstwahrnehmung bzw. -erinnerung zufrieden geben, sondern konnten gemeinsam mit anderen unmittelbar hören, wie sie sich als Therapeuten tatsächlich verhielten. Und im Hinblick auf die Forschung ermöglichten die Tonaufzeichnungen zudem, einzelne Passagen wiederholt abzuhören und die Wirkungen der verschiedenen therapeutischen Interventionen auf das nachfolgende Verhalten der Patienten direkt zu beobachten. Rogers selbst hatte dadurch die Gelegenheit, in ständiger Diskussion mit Studierenden und Mitarbeitern aus diesen Beobachtungen Schlussfolgerungen zu ziehen und sie in psychologische Konzepte einzuordnen, diese wiederum auf die folgenden therapeutischen Gespräche anzuwenden, erneut deren Wirkung zu überprüfen usw. Dieser Kreislauf war für die damalige Zeit absolut ungewöhnlich, ja revolutionär. Im Anfang der Psychoanalyse war es sogar üblich gewesen, auch die Patienten zu strengstem Stillschweigen über das Geschehen in den Therapiestunden zu verpflichten. Das war inzwischen nicht mehr aufrecht zu erhalten, obwohl die Therapeuten aller Richtungen sich (zumeist auch heute noch) nicht gerne in die Karten sehen lassen. Dieser direkte Zugang zum konkreten Geschehen in der Psychotherapie ermöglichte nicht nur die stetige Verfeinerung des therapeutischen Vorgehens. Er war vor allem geeignet, die Theorie der Psychotherapie vom Kopf auf die Füße zu stellen.
19 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
2.3.6
Das neue Therapiekonzept
Zu Beginn seiner Tätigkeit an der Ohio State University hatte sich Rogers auf die in seinem Buch »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) formulierten Grundlagen des therapeutischen Vorgehens bezogen. »Aber die graduierten Studierenden an der Ohio State Universität verlangten mehr als das Für und Wider der verschiedenen Therapieschulen. Sie wollten, dass ihr Professor sie lehrte, wie man ein guter Therapeut sein kann, und das bedeutete, dass er sein eigenes Konzept einer guten Therapie formulieren musste« (Kirschenbaum, 1979, S. 111; Übersetzung v. Verf.). Rogers selbst fand seine Ansichten nicht sonderlich originell. Er war der Meinung, nur das zusammengefasst zu haben, was die meisten der seinerzeit modernen Therapeuten mit ihm teilten. Ein einschneidendes Ereignis sollte ihn jedoch eines Besseren belehren. Am 11. Dezember 1940 hielt er an der University of Minnesota, einem der damals führenden Zentren der Therapeutenausbildung, einen Vortrag über »Newer Concepts in Psychotherapy«. Zu Anfang gab er eine kurze Beschreibung und Kritik der traditionellen Ansätze und Vorgehensweisen der Psychotherapie und Beratung: Erteilen von Anordnungen und Verboten, Ermahnungen, Vorschlägen, Ratschlägen und intellektuellen Interpretationen, was allerdings viele seiner Zuhörer praktizierten. Daran anschließend beschrieb er die neueren Vorgehensweisen, wobei er seine Quellen (Rank und dessen Schüler Taft, Allen und Robinson sowie die NeuFreudianischen Analytiker, insbesondere Karen Horney) offen legte und gebührend würdigte: ! Grundannahmen für eine neue, an der Erfah-
rung orientierte Therapietheorie 1. Es gehe nicht darum, ein spezifisches Problem zu lösen, sondern darum, dem Individuum bei seinem Wachstum zu helfen. Dadurch werde es als Person besser integriert und könne dann nicht nur seine gegenwärtigen sondern auch seine künftigen Probleme effizienter bewältigen. Grundlage dafür sei das Vertrauen des Therapeuten in die bei jeder Person bestehende Tendenz, zu wachsen.
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2. Den emotionalen Elementen, insbesondere den gefühlsmäßigen Aspekten der gegenwärtigen Situation, komme eine größere Bedeutung zu als den intellektuellen. 3. Dem jeweils in der Therapie gegenwärtigen Augenblick komme eine größere Bedeutung zu als der Vergangenheit. 4. Das entscheidende Moment einer Therapie sei die therapeutische Beziehung als wachstumsfördernde Erfahrung.
Der Effekt, den er damit bei den Zuhörern auslöste, kam für Rogers völlig überraschend: Er wurde kritisiert, gelobt, angegriffen und erntete entgeisterte Blicke. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht, wie er gemeint hatte, lediglich die bei Therapeuten ohnehin gängigen Ansichten zusammengefasst, sondern etwas Eigenes dargestellt hatte. Und bei ihm reifte der Entschluss, dies in einem eigenen Buch darzustellen, das 1942 erschien.
2.3.7
Der erste geschlossene Ansatz: »Counseling and Psychotherapy«
Der Titel der deutschen Übersetzung dieses Buches (»Die nicht-direktive Beratung«; Rogers, 1972b) greift – abgesehen von der inzwischen von Rogers als unangemessen erkannten Bezeichnung »nicht-direktiv« – insofern zu kurz, als sich das darin dargestellte Konzept nicht auf die Beratung (counseling) beschränkte, sondern explizit auch die Psychotherapie einbezog. Und im Unterschied zu dem vorhergehenden Buch »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) ging es jetzt um die Behandlung Erwachsener. Vor allem enthält dieses Buch eine in sich geschlossene Konzeption psychologischer Behandlung, in der Rogers genau das tat, was er ursprünglich bei Rank vermisst hatte und was seine Studierenden von ihm verlangten: Er befasste sich eingehend und speziell mit dem psychotherapeutischen Handeln. Sämtliche konzeptionellen Aussagen in diesem Buch sind von konkreten Beispielen, vorwiegend aus Tonbandprotokollen, begleitet und können deshalb unmittelbar nachvollzogen werden. Aus diesem Grunde ist seine Lektüre, auch wenn sich seither maßgebliche Präzisierungen und Erweiterungen der Klientenzentrierten
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
Theorie ergeben haben, immer noch äußerst lohnend. Seine ersten drei Teile bestehen erstens aus einem Überblick (über die Bedeutung von Beratung und Psychotherapie sowie eine Gegenüberstellung alter und neuer Methoden), zweitens werden Probleme zu Beginn einer Therapie behandelt (Indikation, Herstellen einer therapeutischen Beziehung) und drittens geht es um den Prozess der Beratung/ Therapie. Den vierten und letzten Teil bildet das komplette, von Rogers selbst kritisch kommentierte Transkript des Tonbandprotokolls einer therapeutischen Behandlung – für die damalige Zeit ein absolutes Novum und auch heute noch eine Rarität.
2.3.8
»Klient« oder »Patient«?
Zu den von Rogers (1972) präsentierten inhaltlichen Neuerungen gehört, dass er nicht mehr von Patienten spricht, sondern von Klienten. Diese Terminologie ist programmatisch zu verstehen. Er weist damit dem Gegenüber des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung eine neue, spezifische Rolle zu, für die die aus der ärztlich-psychiatrischen Praxis stammende Bezeichnung »Patient« nicht mehr angemessen ist. Mit »Patient« ist die Vorstellung von einer kranken Person der Art verbunden, dass sie vom Arzt erwartet, dass dieser weitgehend die Verantwortung für den Patienten übernimmt, etwas mit ihm macht und ihn auf diese Weise heilt. Auch heute noch wird diese Sichtweise deutlich, wenn in der deutschen ärztlichen Fachsprache die Mitarbeit des Patienten in der Arzt-Patient-Beziehung mit dem Fachausdruck »Compliance« bezeichnet wird, einem aus dem Englischen übernommenen Wort, das dem Wörterbuch nach so viel bedeutet wie: Einwilligung, Befolgung, Willfährigkeit. Dahinter steht die als selbstverständlich erachtete und daher nicht weiter reflektierte Annahme, dass der Arzt/Therapeut kraft seiner Ausbildung besser als der Patient weiß, was diesem fehlt und was zu tun ist, damit es ihm danach besser geht. Eine an diesen Prinzipien orientierte »therapeutenzentrierte« Methode besteht darin, dass sich der Fachmann durch Befragung, Tests usw. die notwendigen Informationen verschafft, um zu beurteilen,
worin die Schwierigkeiten seines Patienten liegen, um dann zu entscheiden, was zu tun ist, und dem Patienten dieses mitzuteilen, z. B. wie er sein Studium gestalten oder mit seinen Eltern umgehen sollte und was eine angemessene Einstellung zum Leben ist. Ein solches Vorgehen erfordert genau genommen ein geradezu übernatürliches Wissen. Dem Kriterium der Wirksamkeit in der Praxis folgend, kam Rogers zu dem Ergebnis, dass sich eine solche Haltung in der Psychotherapie nicht bewährt. Klienten wehren sich in der Regel gegen eine solche Bevormundung oder sie geraten in eine Abhängigkeit von der Autorität des sie leitenden Therapeuten. Rogers setzte stattdessen auf die Eigenverantwortung des Klienten. Er allein ist es, der über sich und sein Leben Bescheid weiß, und er ist auch in der Lage, seine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und aktiv zu gestalten. Das gilt auch dann, wenn er an seine Grenzen gekommen ist und deshalb Hilfe sucht. Auch dann wird der Therapeut nicht besser über ihn Bescheid wissen als er über sich selber. Damit wandelt sich die Aufgabe des Therapeuten entsprechend. Ihm kommt nun die Aufgabe zu, für diejenigen Bedingungen zu sorgen, unter denen derjenige, der Hilfe sucht, in die Lage versetzt wird, den speziell für ihn passenden Weg zu finden. Und für eine solche Beziehung ist die Bezeichnung »Klient« in der Tat passender als »Patient«. Verbunden mit dieser Auffassung ist auch die Erwartung, dass ein in dieser Weise behandelter Klient sich auch nach Beendigung der Therapie in günstiger Weise weiter entwickeln wird. Vor kurzem hat Frohburg (2004) in einer Synopse von Katamnesestudien zur Gesprächspsychotherapie gezeigt, dass diese Erwartung auch empirisch bestätigt worden ist: Der therapeutische Gewinn, den Klienten aus einer Gesprächspsychotherapie gezogen haben, ist zum Zeitpunkt der Katamnese – 1 bis 12 Jahre nach Behandlungsende – weiterhin vorhanden oder es sind weitere Verbesserung zu verzeichnen. Dieser von Rogers eingeführte Gebrauch der Bezeichnung Klient ist inzwischen in der internationalen psychotherapeutischen Literatur unabhängig vom jeweiligen speziellen therapeutischen Verfahren weitgehend übernommen worden. Leider ist er in Deutschland in der berufspolitisch bestimmten Debatte über die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als wissenschaftlich begründetes und
21 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
durch die Krankenversicherung erstattungsfähiges Verfahren von ihren Gegnern instrumentalisiert worden. Das Argument war, mit der Gesprächspsychotherapie könnten gar keine Störungen mit Krankheitswert behandelt werden, da ihre Vertreter selbst »nur« (!) von »Klienten« sprechen und nicht von »Patienten«, also kranken Menschen. Zwar wird diese Behauptung durch die vorliegenden Wirksamkeitsstudien bei Kranken vielfach widerlegt (7 Kap. 10.1). Dennoch zeigte diese Polemik bei den fachlich zumeist nicht näher informierten Entscheidungsträgern in der Politik und bei den Krankenkassen ihre Wirkung. Und um die unguten Konsequenzen dieser realen Gegebenheiten und den sich ständig wiederholenden zermürbenden Diskussionen zu entgehen, wird inzwischen in Deutschland auch im Zusammenhang mit der Gesprächspsychotherapie von »Patienten« gesprochen. Dabei ist umso mehr zu beachten, dass deren Rolle in der therapeutischen Beziehung nach wie vor im Sinne einer eigenverantwortlichen Person gesehen wird.
2.3.9
Nicht-Direktivität als Merkmal des Klientenzentrierten Ansatzes
Eine weitere Neuerung war, dass Rogers, wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, die von ihm vorgeschlagene Art von Psychotherapie als »nichtdirektiv« bezeichnete. Dass dies mit Passivität nichts zu tun hat, wird schon daraus ersichtlich, dass er die therapeutische Beziehung nicht nur als gewährend, sondern zugleich explizit als eindeutig strukturiert (Rogers, 1972b, S. 28) kennzeichnete. Nur ist die Art der Strukturierung anders als beim direktiven Vorgehen. Sie ergibt sich aus dem grundlegend Andersartigen des Klientenzentrierten Ansatzes. Bei ihm stehen nicht das Problem bzw. Symptom im Mittelpunkt der Beachtung, sondern das Individuum und dessen Erleben. Weiterhin besteht das unmittelbare (!) Ziel des therapeutischen Handelns nicht darin, das Problem des Patienten zu lösen bzw. die Symptome zu beseitigen, sondern dem Individuum dabei zu helfen, sich eigenständig zu entwickeln und dadurch eine bessere Integration in sich und in seine Umgebung zu erreichen. Damit wird es in die Lage versetzt, seine gegenwärtigen wie auch künftigen
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Problemen besser zu bewältigen, wobei die Symptome verschwinden oder sich zumindest wesentlich bessern (7 Kap. 7).
Nicht-Direktivität bedeutet Aktivität Damit beim Patienten ein so gearteter Prozess in Gang kommen kann, ist seitens des Therapeuten ein hohes Maß an Aktivität notwendig. Sie besteht darin, dass der Therapeut den Patienten dazu anregt und ihn dabei begleitet, dass er sich dem eigenen Erleben, seinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Bedürfnissen, Motiven und Zielen zuwendet, um sie näher zu erkunden. Der Therapeut achtet dabei auf das, was der Patient sagt und in seinen nonverbalen Signalen ausdrückt, und er versucht, daraus zu erschließen, was im jeweiligen Moment im Patienten vorgeht, und teilt ihm das Ergebnis mit. Das Entscheidende dabei ist, dass er dies nicht als jemand tut, der als Experte über den Patienten Bescheid weiß und ihm sagen kann, was wirklich mit ihm los ist. Vielmehr tut er es als jemand, der sich bemüht, Kontakt mit dem Erleben des Patienten zu bekommen und zu behalten. Die Entscheidung, ob ihm dies gelungen ist, trifft stets der Patient. Deshalb schwingt auch in den Äußerungen des Therapeuten – sei es in der Art der Formulierung, sei es im Tonfall – stets die Frage mit: »Habe ich das richtig verstanden? Ist das so?« Die beobachtbare Folge beim Patienten ist, dass er allmählich mehr Gefühle ausdrückt, positive Impulse bei sich feststellt, Einsicht entwickelt, die er selbst erarbeitet hat und sich nicht auf von außen Entgegengebrachtes bezieht. Dabei kann er die ihm zur Wahl stehenden Möglichkeiten klären, in seinem Alltag zu mehr konstruktiven Handlungen kommen, wodurch wiederum die Einsicht weiter wächst, die Unabhängigkeit zunimmt, und die Hilfsbedürftigkeit nachlässt.
Es ist nicht einfach, nicht-direktiv zu handeln Die Konzentration auf das Erleben des Patienten erweist sich als äußert schwierig und bedarf intensiven und geduldigen Übens (ist aber erlernbar!). Wer Studierenden oder Ausbildungskandidaten, die noch keine einschlägigen Erfahrungen haben, mitteilt, sie könnten nicht zuhören, erntet in aller Regel ungläubiges Befremden, denn einfach »nur« zuhören kann
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
doch jeder. Wenn sie dann in konkreten Übungen versucht haben, sich darauf zu konzentrieren, was ihr Gegenüber wirklich sagt, ohne sich dabei von ihren eigenen Meinungen, Wertungen, möglichen Vorschlägen usw. ablenken zu lassen, stellen sie fest, dass Zuhören in der Tat schwierig ist und dass es einer besonderen Aktivität und Übung bedarf. ! Nicht-Direktivität »Nicht-direktiv« bedeutet, dass der Therapeut, um den Entwicklungsprozess beim Patienten nicht zu stören, seine eigenen Ideen über das, was der Patient im Hinblick auf die Gestaltung seines Lebens tun sollte, zugunsten von dessen Eigeninitiative zurückstellt. Er verzichtet darauf, die Themen festzulegen, über die gesprochen wird, er bewertet nicht das Verhalten und Erleben des Patienten, er hält sich mit Informationen zurück. Er vermeidet Interpretationen, die nicht den vom Patienten ausgedrückten Gefühlen gelten, sondern vom Therapeuten gesehenen Zusammenhängen oder sich auf dessen Einschätzung der Situation beziehen. An die Stelle all dessen tritt das Bemühen, sich der inneren Welt des Patienten zuzuwenden.
Was »darf« der Gesprächspsychotherapeut, was nicht? Diese Beschreibung des neuen Therapeutenverhaltens stand einer Tendenz entgegen, die auch heute noch bei vielen Therapeuten zu finden ist, nämlich Verantwortung für andere zu übernehmen. Das geschieht in der Regel unwillkürlich und unreflektiert. Im Klientenzentrierten Konzept gelten vertraute therapeutische (wie auch alltägliche zwischenmenschliche) Vorgehensweisen als nicht angebracht. Und wenn bei der Rezeption des Klientenzentrierten Konzepts der Begründungszusammenhang aus den Augen gerät – was nur zu oft der Fall ist – werden bestimmte Verhaltensweisen als »verboten« anstatt als »unzweckmäßig« aufgefasst. Es heißt dann, in der Gesprächspsychotherapie »darf« man nicht interpretieren, Informationen geben, Vorschläge für das Verhalten des Patienten machen usw. Ein System von »Verboten« von bestimmten Verhaltensweisen entspricht jedoch nicht dem Wesen des Klientenzentrierten Konzepts, das vor allem in dem Bestreben besteht, den Spielraum der per-
sönlichen Freiheit zu erweitern, und zwar sowohl für den Patienten als für den Therapeuten. Im Klientenzentrierten Konzept geht es um die Perspektive, unter der das therapeutische Handeln steht und an der es sich orientiert: ! Handlungsleitende Perspektive für
Gesprächspsychotherapeuten Es geht darum zu erkennen, was im gegebenen Moment geeignet ist, den Patienten im Wahrnehmen und Verstehen seiner selbst sowie in seiner Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Alles, was diesem grundsätzlichen Ziel dient, ist angebracht, und alles, was ihm nicht dient oder gar entgegensteht, ist nicht angezeigt (Höger, 2000).
Es geht beispielsweise nicht darum, ob der Therapeut Vorschläge für das Verhalten des Patienten macht oder nicht. Es geht vielmehr um den Zusammenhang und die dahinter stehende Intention. Ist die therapeutische Beziehung etabliert, und der Patient weiß, dass es um seine eigene Verantwortlichkeit geht: Warum sollte ein Therapeut einen Vorschlag, der ihm gerade als Idee durch den Kopf geht, nicht äußern, sofern er ihn klar als eine solche deklariert und sich anschließend gemeinsam mit dem Patienten anschaut, welche Gedanken, Gefühle und Intentionen diese Idee bei diesem auslöst? Sofern dies zu einer vertieften Selbstwahrnehmung seitens des Patienten führt, hat es dem therapeutischen Ziel gedient. Verspürt der Therapeut jedoch den Impuls, seinen Vorschlag gegen Einwände des Patienten zu verteidigen, oder gibt er ihm gar nach, dann hat sein Vorschlag wohl mehr mit ihm selbst und seinen Bedürfnissen zu tun als mit dem Patienten und ist für den therapeutischen Prozess zumindest nicht förderlich, vielleicht sogar hinderlich, also unangebracht. Wenn bei Gesprächspsychotherapeuten im Vergleich mit anderen Therapeuten bestimmte Interventionen häufig und andere seltener oder gar nicht vorkommen, dann beruht das nicht auf der Einhaltung quasi-moralischer Vorschriften oder Verbote, sondern auf Erfahrungen mit effizienten und ineffizienten Interventionen.
23 2.4 · Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie
! Nicht-Direktivität ist in der Gesprächspsychotherapie kein Selbstzweck, sondern ein Mittel: Sie soll bewirken, dass der Patient sich nicht mit den Ideen des Therapeuten befasst und dadurch von dem eigentlich therapeutisch wirksamen Prozess abgelenkt wird, nämlich sich mit seinem persönlichen Erleben eigenständig auseinander zu setzen. Nicht-Direktivität dient dem Zweck, den therapeutischen Prozess zu fördern anstatt ihn zu behindern.
2.3.10
Vorläufiges Fazit
Die Reaktionen auf das Buch »Counseling and Psychotherapy« waren ziemlich gegensätzlich. Zum einen machte es seinen Autor berühmt. Eine Vielzahl von Graduierten kam zur Columbus University, um bei Rogers zu lernen und mit ihm zu diskutieren. Anschließend gingen sie wieder zurück nach Hause und verbreiteten dort seine Ideen. Rogers bekam auch viele Einladungen zu Vorträgen und Workshops. Zum anderen wurde das Buch vom psychologischen Establishment überwiegend ignoriert. In den wichtigen psychologischen und psychiatrischen Zeitschriften wurde es nicht einmal rezensiert. Kirschenbaum (1979) hat sicher Recht und bestätigt auch einen Teil der Selbsteinschätzung von Rogers, wenn er über dessen Beitrag zur Psychotherapie schreibt: »(Er) lag nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern in seiner extremen und systematischen Art, wie er an Therapie heranging. In Wirklichkeit nahm er viele der neueren therapeutischen Konzepte und Vorgehensweisen der Therapie und baute sie in ein organisiertes System, das extremer war als jedes andere seiner unmittelbaren Vorgänger oder Zeitgenossen« (Kirschenbaum, 1979, S. 124; Übersetzung v. Verf.). Allerdings ist diese Konsequenz und Systematisierung nicht nur als spezifisch eigene sondern auch notwendige Leistung von Rogers zu sehen. Eine praktische Konsequenz hatte das Buch für den Ruf von Rogers als kompetenter Therapeut. Er wurde 1943 von der Regierung der USA dazu berufen, mit den Soldaten der US Air Force zu arbeiten, um sie bei der Verarbeitung ihrer Kriegserlebnisse zu unterstützen, ebenso nach Kriegsende zur Hilfe bei ihrer Wiedereingliederung.
2
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie
2.4
Nachdem Rogers bereits im Sommer 1944 als Gastprofessor an der Chicago University gelehrt hatte, wechselte er 1945 endgültig dort hin. Mit dieser neuen Stelle war der Auftrag verbunden, ein Therapie-Zentrum einzurichten und zu leiten. Im lebhaften Austausch mit seinen Mitarbeitern, von denen ihm viele aus Ohio gefolgt waren, und den Studierenden wurde das Klientenzentrierte Konzept weiter verfeinert und präzisiert. Dabei trat die Psychotherapie gegenüber der Beratung immer mehr in den Vordergrund.
2.4.1
Rogers als Bahnbrecher für die Psychotherapieforschung
Rogers selbst schreibt, dass die (empirische) Forschung für ihn eine immer größere Bedeutung gewonnen habe. ! Das klientenzentrierte Junktim von Heilen
und Forschen »Therapie ist die Erfahrung, in der ich mich subjektiv geben kann. Forschung ist eine andere Form, bei der ich zur Seite trete und versuche, diese reiche subjektive Erfahrung mit Objektivität zu betrachten, all die eleganten Methoden der Wissenschaft anzuwenden, um festzustellen, ob ich mich selbst betrogen habe« (Rogers, 1973a, S. 30).
In solchen Äußerungen macht sich seine akademische Ausbildung in den Forschungsmethoden der Psychologie bemerkbar, die bei ihm auf einen besonders fruchtbaren Boden gefallen war. Schon als Kind hatte er sich mit Naturbeobachtungen beschäftigt, und bereits im Alter von 14 Jahren war naturwissenschaftliches Vorgehen selbstverständlicher Bestandteil seines Denkens. Auf Anregung seines Vaters hatte er sich auf dessen Farm mit dem Einfluss bestimmter Futter- und Düngemittel auf die landwirtschaftliche Produktion befasst sowie eigene Versuche dazu geplant und durchgeführt. Und so waren ihm der Vergleich von Kontroll- mit Experimentalgruppen, das Konstanthalten von Bedingungen, die Prinzipien der Zufallsauswahl usw. von Jugend an vertraut. Für ihn war es daher selbstverständlich, nicht nur die Wirksamkeit der Klientenzentrierten Psy-
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
chotherapie entsprechend zu überprüfen, sondern außerdem anhand von Verlaufsdaten psychotherapeutische Prozessforschung zu betreiben. Dabei stützte er sich nicht nur auf die Mehrzahl der damals etablierten Testverfahren, sondern entwickelte zusammen mit seinen Mitarbeitern eigene Messmethoden, die wesentliche Aspekte des Klientenzentrierten Konzepts abbildeten. Die Stärke seines Vorgehens bestand in dessen Realitätsnähe, denn er und seine Mitarbeiter passten die Forschungsmethodik an die Erfahrungen aus den Therapien an, anstatt dass umgekehrt die geläufigen Forschungsmethoden bestimmten, welche der konkreten Erfahrungen wie untersucht wurden. Exkurs
Störungshomogene Patientengruppen? Ein Beispiel für letzteres ist das heute verbreitete und sogar geforderte Vorgehen, die Wirksamkeit von Therapien nur an störungshomogenen Patientengruppen (z. B. ausschließlich an depressiven Patienten, die keine anderen Symptome aufweisen) zu betreiben. Diese Methodik wurde aus der Pharmaforschung übernommen. Dabei wird allerdings ignoriert, dass in der psychotherapeutischen Praxis erwiesenermaßen Patienten mit mehreren Diagnosen (z. B. Depression und Bulimie) die Regel sind. Um »reine« Patientengruppen zu erhalten, müssten dann entweder Patienten mit Mischdiagnosen unbehandelt bleiben oder aber die Diagnosen unsauber gestellt werden (z. B. die Bulimie zugunsten der Depression vernachlässigt werden oder umgekehrt – je nachdem, welche Störung untersucht werden soll). Das Problem eines solchen »methodisch sauberen«, aber wissenschaftlich eigentlich nicht vertretbaren Vorgehens ist erstens, dass solche durch die Methodik bestimmten »Ergebnisse« letztlich nicht interpretierbar und dass sie zweitens für die therapeutische Praxis, in der Mehrfachdiagnosen weit überwiegen, fast bedeutungslos sind. Die Alternative wäre, nach Methoden zu suchen, die die Erfahrung, also das Wissen um die überwiegenden Mehrfachdiagnosen, berücksichtigen.
Die bedeutendste Veröffentlichung über die Methoden und Ergebnisse der Forschung zum Klientenzentrierten Ansatz war das von Rogers zusammen mit Dymond verfasste Buch »Psychotherapy and Personality Change. Co-ordinated Research Studies in the Client-centered Approach« (Rogers & Dymond, 1954), dem seinerzeit eine bahnbrechende Bedeutung für die weitere Psychotherapieforschung zukam. Es enthält eine Reihe von Studien, bei denen die systematisch zu Beginn, am Ende und während der Therapien erhobenen Daten aus den Tonaufzeichnungen der Therapien sowie den diagnostischen Tests statistisch analysiert wurden, erstmals auch in Designs mit Kontrollgruppen, d. h. eine der ersten RCT-Studien (Randomised Clinical Trial) in der Psychotherapieforschung.
2.4.2
Anerkennung in der Fachwelt
Diese und andere, teilweise vorangegangenen Veröffentlichungen brachten Rogers und damit auch der Klientenzentrierten Psychotherapie ein hohes Ausmaß an Bekanntheit und Anerkennung in der Fachwelt ein. Sie fand ihren Ausdruck darin, dass ihm zusammen mit Kenneth W. Spence und Wolfgang Köhler die erstmals vergebene höchste Auszeichnung der American Psychological Association (APA) verliehen wurde, der »Distinguished Scientific Contribution Award« (Preis für hervorragende wissenschaftliche Beiträge). In der Begründung heißt es: »Für die Entwicklung einer originellen Methode zur Beschreibung und Analyse des psychotherapeutischen Prozesses, für die Formulierung einer überprüfbaren Theorie der Psychotherapie und ihrer Wirkung auf die Persönlichkeit und das Verhalten, ebenso für die umfassende systematische Forschung, um die Bedeutung der Methode zu demonstrieren und die Implikationen der Theorie zu erkunden und zu überprüfen. Sein Einfallsreichtum, seine Beharrlichkeit und flexible Anpassung der wissenschaftlichen Methodik, womit er an die riesigen Probleme heranging, die das Verstehen und die Veränderung der Person mit sich bringen, haben diesen Bereich der wissenschaftlichen Psychologie voran gebracht« (zitiert nach Kirschenbaum, 1979, S. 221; Übersetzung v. Verf.).
25 2.5 · Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie
Außerdem wurde Rogers 1954 für die Amtsperiode 1956/57 zum Präsidenten der APA gewählt. Er wurde zu mehreren Gastprofessuren eingeladen, u. a. von der University of California in Los Angeles, der Harvard University und der University of California in Berkeley. Er war Vorsitzender zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen. Entsprechend groß war die Wirkung seiner Arbeiten für die Klinische Psychologie und darüber hinaus für die gesamte Psychologie.
2.5
Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie
2.5.1
Client-centered therapy
Die nächste größere Veröffentlichung von Rogers war im Jahre 1951 seine zweite Darstellung der Klientenzentrierten Psychotherapie: »Client-Centered Therapy« (Rogers, 1973b). Hatte die vorangegangene Darstellung »Counseling and Psychotherapy« (Rogers, 1972b) noch der Beratung (»counseling«) und der Psychotherapie gegolten und sich vor allem mit dem technischen Vorgehen befasst, so standen nunmehr im ersten Teil des Buches speziell die theoretischen Grundlagen der Psychotherapie im Vordergrund. Zu Beginn gibt Rogers einen Überblick über den damaligen Stand der Klientenzentrierten Psychotherapie, deren Theorie er ausdrücklich als ein nicht geschlossenes System bezeichnet. Vielmehr sei das Klientenzentrierte Konzept eine ständig in Entwicklung begriffene, für viele Bereiche der psychologischen Praxis fruchtbare Denkrichtung. Er kritisiert sein eigenes Vorgehen der ersten Zeit, in dem er zu sehr die therapeutische Technik als solche betont habe, und macht anschließend seine neue Sichtweise deutlich: Womit sich seine Theorie (wieder mit vielen Beispielen aus der therapeutischen Praxis) befasst, ist jetzt zum einen die Einstellung und Orientierung des Therapeuten, zum anderen die therapeutische Beziehung, und zwar aus der Sicht des Patienten. Er rückt damit, so weit es die Bedingungen für therapeutisch wirksame Prozesse betrifft, an die Stelle objektiver, außenstehenden Beobachtern zugänglicher Beobachtungs-
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daten die subjektiven Perspektiven der an der therapeutischen Beziehung direkt Beteiligten in das Zentrum der Forschung. In der späteren Psychotherapieforschung sollte sich für alle Therapierichtungen immer wieder zeigen: Am besten lässt sich der Erfolg von Psychotherapien anhand solcher Variablen vorhersagen, die das subjektive Erleben der therapeutischen Beziehung durch den Patienten wiedergeben. Bei den Analysen der Therapiegespräche hatte sich die Technik des Therapeuten immer dann als therapeutisch wirksam erwiesen, wenn sie der Ausdruck einer angemessen Einstellung gewesen war. Anders gesagt: eine bestimmte therapeutische Technik, die nicht von der entsprechenden Einstellung des Therapeuten begleitet wird, verzögert oder verhindert den therapeutischen Prozess. Damit wurde die Einstellung des Therapeuten zum Mittelpunkt des Interesses. Der Kern einer therapeutischen Einstellung bestand nach Rogers darin, dass der Therapeut die Verantwortung für das Handeln und Erleben des Patienten ausschließlich und konsequent diesem selbst überlässt (wobei er selbstverständlich und im gleichen Sinne die Verantwortung für sich und sein eigenes Verhalten in der Therapie behält). Damit werde nachweislich unnötiger Widerstand des Patienten vermieden. Auch dient diese Einstellung direkt dem Ziel der Therapie, den Patienten möglichst eigenverantwortlich und damit von der Person des Therapeuten unabhängig werden zu lassen.
2.5.2
Übertragung des Klientenzentrierten Konzepts auf andere Anwendungsbereiche
Im zweiten Teil dieses Buches lässt Rogers auch andere Autoren zu Wort kommen. Sie machen deutlich, dass sich die klientenzentrierte Denkrichtung auch in anderen Anwendungsbereichen als fruchtbar erwiesen hat: Während die Kapitel über Spieltherapie (Elaine Dorfman) und Gruppenpsychotherapie (Nicholas Hobbs) noch im Rahmen von Psychotherapie bleiben, wird der Bogen anschließend weiter gespannt. Mit der Führung und Verwaltung in Institutionen (Thomas Gordon) und
26
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
dem Verhalten von Lehrern in Schulen3 wird gezeigt, wie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zwischenmenschliche Beziehungen ganz allgemein konstruktiv und für die Beteiligten zufrieden stellend sein können.
2.5.3
Ausbildung von Psychotherapeuten
Neuartig sind die Vorschläge im Kapitel über die Ausbildung von Therapeuten. Auch sie sind konsequenterweise an den Prinzipien des Klientenzentrierten Konzepts orientiert. So war es beispielsweise für Rogers nicht das Ziel, dass die angehenden Therapeuten einer vorgegebenen therapeutischen Orientierung folgen sollen (auch nicht der klientenzentrierten!), sondern ihren eigenen Erfahrungen mit Menschen und deren Verhalten. Das mag zunächst nach einem Freibrief für subjektive Beliebigkeit aussehen, ist aber alles andere als das. Hier schlägt sich Rogers eigene Entwicklungsgeschichte als Therapeut nieder, in der er zwar die Prinzipien der gängigen therapeutischen Richtungen zur Kenntnis genommen hatte, sich aber letztlich nicht nach irgend welchen Autoritäten gerichtet hatte, sondern danach, was sich für ihn als wirksam erwiesen hatte. Dafür aber waren für ihn die methodischen Voraussetzungen und Kriterien empirischen Forschens maßgebend gewesen, ebenso die kritische Beobachtung des eigenen Verhaltens durch Tonaufnahmen der therapeutischen Gespräche zusammen mit dem ständigen Austausch mit den Mitarbeitern, also die kontinuierliche gegenseitige Supervision und Korrektur. All das diente dem stets vorhandenen Bestreben, Selbsttäuschungen zu vermeiden bzw. zu korrigieren. Dies waren auch die für die angehenden Therapeuten gültigen Maßstäbe. Ferner sollte den werdenden Therapeuten die eigene Erfahrung einer Psychotherapie vermittelt werden. Ziel dabei war weniger, sie für die Zukunft von Konflikten frei zu machen. Vielmehr sollten sie auf diesem Wege ihr Einfühlungsvermögen erweitern, empfänglicher werden für die Situation des Patien3
Mit »Lernen in Freiheit« (Rogers, 1974) hat Rogers später ein ganzes Buch dem Bereich von Schule und Unterricht gewidmet.
ten, für dessen Gefühle und Wahrnehmungen. Auch sollten sie möglichst früh (natürlich unter Supervision) selbst als Therapeuten tätig sein, um auf diese Weise so bald wie möglich ihre Kompetenz als Therapeuten durch eigene Erfahrungen auszubauen. Schließlich schlug auch hier seine empirischwissenschaftliche Orientierung durch, denn auch die Ausbildung als solche, ihr Prozess und die Veränderungen bei den Teilnehmern waren für Rogers ein Gegenstand der Forschung.
2.6
Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts
Bereits im dritten Teil seines Buches »Client-Centered Therapy« hatte Rogers auf der Grundlage von 19 Thesen den Grundriss einer Theorie der Persönlichkeit und des Verhaltens entworfen. Im Jahre 1959, nachdem er 1957 zur Universität Wisconsin gewechselt war, veröffentlichte er in dem von S. Koch herausgegebenen enzyklopädischen Werk »Psychology: A Study of a Science«, das im Auftrag der American Psychological Association (APA) den damaligen Stand und die Entwicklung der Psychologie in Amerika darstellen sollte, seinen Beitrag »A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework« (Eine Theorie der Therapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, entwickelt im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes; Rogers, 1959b). Zuvor hatte er in einem Aufsatz (Rogers, 1957a) den Teil davon bereits veröffentlicht, der sich mit den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen der Persönlichkeit befasst hatte. Bemerkenswert an dieser umfassenden Darstellung ist ihre streng systematische Struktur. In der Einführung zu Beginn gibt Rogers einen kurzen Abriss seines Lebenslaufs, benennt seine wichtigsten Quellen und legt seine wissenschaftstheoretische Position offen: Forschung ist für ihn »das beharrliche, disziplinierte Bemühen, Sinn und Ordnung in den Phänomenen der subjektiven Erfahrung zu finden« (Rogers, 1959b, S. 188; Übersetzung v. Verf.). Sie kann auf jeder Stufe der Entwicklung einsetzen und beginnt mit scharfem Beobachten, sorgfältigem
27 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
und kreativem Denken, und nicht mit dem Ansammeln von Geräten im Labor. Bedeutsam sei Forschung nur dann, wenn sie eine Weise des Erkundens sei, die sich auch ihrerseits entwickelt. Rogers macht weiter geltend, dass jede Theorie zum Zeitpunkt ihrer Formulierung eine unbekannte Anzahl von Irrtümern und Fehlschlüssen enthält. Deshalb komme den beobachteten Fakten stets mehr Gewicht zu als Theorien. Das mag trivial klingen, ist es vielleicht auch; aber nichtsdestoweniger fällt dem aufmerksamen Beobachter des alltäglichen Wissenschaftsbetriebes und seiner Anwendungsbereiche auf, wie oft und mit welcher Selbstverständlichkeit diese Einsicht ungerügt ignoriert wird. Schließlich bekennt sich Rogers zu seiner Überzeugung von der vorherrschenden Bedeutung des Subjektiven, das für alle seine Theorien maßgeblich ist. Der Mensch lebe hauptsächlich in seiner eigenen persönlichen und subjektiven Welt, und auch solche anscheinend objektiven Gebiete wie Naturwissenschaft, Mathematik usw. seien das Ergebnis von subjektiven Zielen und subjektiven Entscheidungen. Zwar seien die wissenschaftlichen Methoden der beste Weg, um Selbsttäuschungen zu vermeiden. Letztlich seien aber auch mit ihrer Hilfe nur Aussagen zu gewinnen, die einer oder mehreren Personen subjektiv als objektive Wahrheiten erscheinen. Interessant daran ist, dass Rogers damit das vorweg genommen hatte, was Kuhn acht Jahre später systematisch ausformulierte (7 Kap. 2.8). Nachdem er damit seinen Ausgangspunkt transparent gemacht hat, zeigt sich die Systematik seiner Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts, indem Rogers mit der Definition und Erläuterung der verwendeten Konstrukte (beispielsweise Aktualisierungstendenz, Erfahrung, Bewusstsein usw.) beginnt. Erst nachdem so die Terminologie geklärt ist, benutzt er sie bei der Formulierung der folgenden Theorien: 4 Der Therapie und der Veränderung der Persönlichkeit 4 Der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung 4 Der vollkommen funktionsfähigen Person 4 Der interpersonellen Beziehungen sowie von 4 Der Anwendung auf 5 Das Familienleben 5 Erziehung und Lernen 5 Gruppenführung 5 Gruppenspannung und -konflikt
2
Den Abschluss bildet die Erörterung von Forschungsproblemen. So weit diese Systematik für die Psychotherapie relevant ist, bildet sie eine der Grundlagen für die entsprechenden Kapitel dieses Lehrbuchs.
2.7
Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
Den Mittelpunkt des Klientenzentrierten Konzepts bildet die von Rogers entwickelte Vorstellung von der Natur des Menschen. Mit ihr distanzierte er sich nachdrücklich von der psychoanalytischen Sicht. Folgen wir Freud, so ist der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach wild, unsozial, selbstsüchtig und destruktiv. Sobald das Es sein Verhalten beherrscht, ist das Ergebnis asozial und zerstörerisch. Es wird lediglich durch die Gewissensfunktion des Überich in Schach gehalten, und das Ich entwickelt sich mit der Aufgabe, zwischen den Ansprüchen des Es, des Überich und den Gegebenheiten der Realität zu vermitteln (Freud, 1941). Dem setzte Rogers entgegen, dass der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach sozial, konstruktiv und vertrauenswürdig sei. Das hat ihm den Vorwurf der Naivität eingebracht, gegen den er sich vehement gewehrt hat: »Es stört mich, für einen Optimisten gehalten zu werden. Zu meiner gesamten beruflichen Erfahrung gehört die dunkle und oft schmutzige Seite des Lebens, und ich kenne besser als die meisten das unglaublich destruktive Verhalten, zu dem der Mensch fähig ist« (zitiert nach Kirschenbaum, 1979, S. 246 f.; Übersetzung v. Verf.). Dennoch hat er an seiner Sicht fest gehalten.
2.7.1
Ist der Mensch »gut«?
Rogers hat sich in einem eigenen Artikel mit dem »Wesen des Menschen« auseinander gesetzt (Rogers, 1957b). Er nennt darin Merkmale, die auf das eigentliche Wesen des Menschen nicht zutreffen, und solche, die darauf zutreffen. Danach 4 Ist der Mensch nicht feindselig, antisozial, destruktiv, böse. 4 Es fehlt ihm nicht an Eigenständigkeit, und er ist kein leeres Blatt (tabula rasa), auf das alles
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
geschrieben werden kann, oder Wachs, das sich in jede beliebige Form bringen lässt. 4 Er ist aber auch kein ursprünglich vollkommenes Wesen, das leider durch die Gesellschaft verfälscht und verdorben worden ist. Stattdessen kommen ihm die Eigenschaften positiv, vorwärts gerichtet, konstruktiv, realistisch, vertrauenswürdig zu. Rogers begründet diese Auffassung vom Wesen des Menschen mit seinen Erfahrungen als Psychotherapeut. Danach wird ein Patient in einer therapeutischen Beziehung, die ihm ein Maximum an Sicherheit und Freisein von Bedrohung bietet und die ihm die völlige Freiheit des Daseins und der Wahl lässt, u. a. alle Arten erbitterter und mörderischer Gefühle, abnormer Impulse, bizarrer und antisozialer Wünsche äußern. In einer so gearteten Beziehung zeige sich aber auch, je mehr er von sich selber ausdrücke und er selbst sei, umso deutlicher seine menschliche Natur. Und diese bestehe darin, ein grundsätzlich vertrauenswürdiges Mitglied der Spezies Mensch zu sein, dessen tiefste Tendenzen letztlich in Richtung Entwicklung, Differenzierung, kooperativer Beziehungen gehen, dessen Leben sich grundsätzlich von Abhängigkeit weg und in Richtung auf Unabhängigkeit bewege und dessen Impulse natürlicherweise ein komplexes und wechselndes Muster der Selbstregulation bilden. Sein ganzer Charakter strebe letztlich dahin, sich selbst ebenso wie Andere zu bewahren und zu fördern. Nach Rogers sind die aggressiven, die asozialen wie die antisozialen Handlungsweisen von Menschen das Ergebnis von Abwehrprozessen. Sobald jedoch einer Person ihr gesamtes Spektrum des Erlebens zugänglich sei, würde sich ihr Handeln aus der Balance sämtlicher Regungen ergeben und letztlich in eine positive Richtung gehen. Folgen wir den Ausführungen von Rogers, dann sind Menschen nicht einfach »gut«4 – eine ohnehin pauschale und damit nichtssagende Formulierung, denn ihr fehlen die für dieses Urteil maßgeblichen Kriterien. Vielmehr geht es darum, wie sich Men4
Ein Beispiel für eine entsprechende Fehlinterpretation ist, dass der kämpferische Titel des politisch motivierten Buches von Rogers »On personal Power – Inner Strength and its Revolutionary Impact« bei dessen deutscher Übersetzung in »Die Kraft des Guten« (Rogers, 1978) verwandelt wurde.
schen verhalten, sobald sie nicht nur vorübergehend, sondern überdauernd und wirklich frei von Kontrolle sind und sich unbehindert entfalten können: Ob sie sich dann als asozial, aggressiv und destruktiv erweisen oder ob sie dann ihre Bestimmung als Mensch finden, nämlich »einzutreten in den komplexen Prozess, eines der empfindsamsten, empfänglichsten, kreativsten und anpassungsfähigsten Geschöpfe auf diesem Planeten« zu sein (Rogers, 1957b, S. 201; Übersetzung v. Verf.). Exkurs
Wie fördert man »unmenschliches« Verhalten? Für die These, eine Person sei umso konstruktiver und sozial verantwortungsvoller, je umfassender sie Zugang zu ihrem gesamten Erleben habe – negativem wie positivem, sprechen u. a. die umfangreichen und intensiven Vorkehrungen, die getroffen werden müssen, um beispielsweise in kriegerischen Auseinandersetzungen Menschen zu möglichst hemmungslos aggressivem und destruktivem Handeln zu bringen: So werden dem »Feind« menschliche Züge aberkannt und es wird verhindert, dass er als Mitmensch erlebt werden kann, z. B. indem direkte Kontakte mit ihm unterbunden werden. Elitetruppen werden speziellen Trainingsprogrammen unterzogen, damit natürliche Reaktionen wie Mitgefühl und Mitleid gegenüber dem »Feind« erst gar nicht aufkommen. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung bildet das berühmte Gefängnisexperiment von Zimbardo, Haney, Banks und Jaffee (1973). Versuchspersonen, die zuvor hinsichtlich emotionaler Stabilität, körperlicher Gesundheit, Reife und Gesetztestreue überprüft worden waren, wurden per Zufall entweder der Gruppe der »Wärter« oder der »Gefangenen« zugeteilt, wobei den »Wärtern« lediglich die Aufgabe gestellt wurde, in dem als Gefängnis ausgestatteten Labor »für Ordnung zu sorgen«. Entgegen den Erwartungen von Zimbardo et al. geriet das Experiment schon nach wenigen Tagen außer Kontrolle und musste abgebrochen werden. Die »Gefangenen« waren von ihren »Wärtern« der-
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29 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
maßen aggressiv schikaniert und drangsaliert worden, dass ernsthafte Schäden zu befürchten waren. Das für unseren Punkt Wesentliche an diesem Experiment war, dass die Versuchsanordnung gezielt verhinderte, dass sich »Gefangene« und »Wärter« als Menschen wahrnehmen und begegnen konnten. Erstens war nach der »Gefängnisordnung«, die eingangs verlesen worden war, die Machtverteilung extrem einseitig gestaltet. Zweitens waren die Beteiligten ihrer Individualität beraubt worden: die »Wärter« durch Uniformen und spiegelnde Sonnenbrillen, die ihre Augen verdeckten, die »Gefangenen« trugen einheitliche Kittel ohne Unterkleidung sowie Mützen aus Nylonstrümpfen und durften einander nur mit ihrer Identitätsnummer und die »Wärter« mit »Herr Besserungsoffizier« (»correctional officer«) ansprechen. Ihre persönliche Habe war ihnen weggenommen worden. Allen Beteiligten war an sich klar, dass sie eigentlich »nur« an einem Experiment teilnahmen, zu dem sie zuvor ihre ausdrückliche Zustimmung gegeben hatten. Aber die experimentelle Situation war so gestaltet, dass »Wärter« wie »Gefangene« wechselseitig für einander bedrohlich waren und ihnen damit der Zugang zum gesamten Spektrum ihres Erlebens systematisch versperrt worden war, nämlich den jeweils Anderen als Mitmenschen wahrzunehmen. Das Fazit dieses Experiments ist: Wenn Menschen ihrer Menschlichkeit beraubt werden, verhalten sie sich unmenschlich.
2.7.2
Wie lässt sich die skeptische Sicht Freuds erklären?
Rogers, der Freud als scharfsichtig beobachtenden Wissenschaftler außerordentlich schätzte, fragte sich, wie es sein könne, dass zwei Forscher bei der gleichen Tätigkeit zu dermaßen unterschiedlichen Ergebnissen über die Natur des Menschen kommen können. Zwei Hypothesen bot er als Erklärung an:
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Nach der ersten war Freud verständlicherweise von seiner für seine Zeit gewaltigen Entdeckung hochgradig beeindruckt, wonach der Mensch unterhalb einer konventionellen bzw. »guten« Oberfläche jede Art aggressiver und sexueller Gefühle hegte, die er erfolgreich vor sich selbst und den anderen verbarg. Diese Entdeckung war für die damalige Zeit dermaßen schockierend, dass sowohl Freud als auch seine Kritiker sich auf diese »bösen« Gefühle konzentrierten. Obwohl Freud bei seinen Patienten gesehen haben müsste, dass man ihnen als normalen selbstgesteuerten und sozial orientierten Person vertrauen konnte, sobald sie diese »bösen« Gefühle erkannt, akzeptiert und verstanden hatten, nahm er dies nicht zur Kenntnis. Dieser Gesichtspunkt wurde auch angesichts der heftigen Kontroverse über die Psychoanalyse übersehen, und Freud blieb bei seiner – nach der Ansicht von Rogers – allzu oberflächlichen Sicht über die Natur des Menschen stehen. Diese sei allerdings wesentlich fundierter gewesen als die seiner Zeitgenossen, wenn auch nicht so umfassend, wie es seine eigene Erfahrung gerechtfertigt hätte, meinte Rogers. Bei der zweiten Hypothese geht Rogers davon aus, dass nach seinen Erfahrungen Patienten einige ihrer verleugneten und unterdrückten »schrecklichen« Gefühle bis zu einem gewissen Grade selbst entdecken, nicht aber aus eigenem Vermögen voll akzeptieren können. Dies geschehe erst in einer fürsorglichen Beziehung, in der diese Gefühle zuerst vom Therapeuten akzeptiert werden und danach vom Patienten selbst. Bei seiner Selbstanalyse habe Freud jedoch einer solchen warmen akzeptierenden Beziehung entbehrt. Deshalb dürfte er die verborgenen und verleugneten Aspekte seiner selbst zwar selbst gesehen und bis zu einem gewissen Grad auch verstanden haben. Es sei aber fraglich, ob er sie auch als einen bedeutsamen, akzeptablen und konstruktiven Teil seiner selbst habe voll anerkennen können. Viel eher habe er sie vermutlich auch weiterhin als unannehmbare und feindliche, der Kontrolle bedürfende Aspekte seiner selbst gesehen, anstatt als Impulse, die, wenn sie in freier Balance mit seinen anderen Impulsen stünden, konstruktiv wären (Rogers, 1957b).
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30
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
2.7.3
Die Kontroverse mit Skinner
Neben der Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Psychoanalyse, so weit es dort von Freud bestimmt war, wird die Position von Rogers in einer anderen Debatte deutlich, die er mit B.F. Skinner, einem der prominentesten Vertreter der behavioristischen Lerntheorie direkt führen konnte. Bemerkenswert an dieser Diskussion ist, dass die beiden Kontrahenten einander nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Personen ausgesprochen wertschätzten. Beide, Rogers als Therapeut und Skinner als Lerntheoretiker, hatten ihren Ansatz auch auf Fragen der Erziehung und der Gesellschaft erweitert. Insofern waren ihre gegensätzlichen Sichtweisen vom Wesen des Menschen auch besonders deutlich geworden. Skinner hatte die Pädagogik mit dem Prinzip der Programmierten Unterweisung maßgeblich beeinflusst (auch wenn damals die damit verbundenen Erwartungen im Vergleich zu heute wesentlich höher gespannt waren). Seine Vorstellungen von einer durch die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft bestimmten Gesellschaft hatte er in einem utopischen Roman (»Walden Two«) beschrieben (Skinner, 1948). Die beiden unterschiedlichen Standpunkte über die Steuerbarkeit des menschlichen Verhaltens und die Nutzung psychologischer Erkenntnisse dafür beschäftigten damals die amerikanische Psychologie in hohem Maße, sodass die APA (American Psychological Association) anlässlich ihrer jährlichen Mitgliederversammlung im September 1956 ein Symposium mit dem Titel »Some issues concerning the control of human behavior« organisierte, das anschließend in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht wurde (Rogers & Skinner, 1956; Braun, 1983). Skinners Auffassung. Nach Skinner ist das mensch-
liche Verhalten absolut von außen gesteuert und deshalb auch von dort her kontrollierbar. Zwar gebe es Widerstand gegen diese Einsicht, dieser beruhe jedoch auf vorgefassten nichtwissenschaftlichen Meinungen und störe die wissenschaftliche Analyse. Die äußere Verhaltenskontrolle sei keine Erfindung der Verhaltenswissenschaft, sondern von je her be-
nutzt worden und auch wirksam gewesen, beispielsweise privat in den persönlichen Beziehungen wie der Familie, unter Freunden oder in Gruppen durch Belohung (Anerkennung, Bewunderung, Lob, Liebe) bzw. Bestrafung (Tadel, Missachtung), wodurch erwünschtes Verhalten wahrscheinlicher, unerwünschtes unwahrscheinlicher werde. Gleiches gelte für die Pädagogik, die Beratung oder die Psychotherapie, ebenso finde sie sich in der staatlichen Kontrolle. Das menschliche Verhalten sei die Konsequenz der in der bisherigen Lebensgeschichte erfahrenen Belohnungen und Bestrafungen. Begriffe wie Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit seien ohne eigenen Hintergrund und würden lediglich benutzt, um strafende Kontrolltechniken zu rechtfertigen. Die früher allgemein akzeptierte weil unreflektierte Kontrolle ließe sich durch die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft in zweierlei Hinsicht optimieren: Zum einen könnten die Techniken verfeinert werden, um Lernen leichter und effizienter zu machen, zum anderen könnte und müsse deren Anwendung verantwortungsbewusst erfolgen angesichts des möglichen Missbrauchs eines solchen Machtpotentials. Der utopische Roman »Walden Two« (Skinner, 1948) enthält Skinners Entwurf einer Gesellschaft, in der eine wissenschaftlich begründete Verhaltenstechnologie angewendet wird, die ohne Strafen auskommt, um eine praktizierbare und produktive Staatsform zu schaffen. Es sei dies eine »Welt, in der es Nahrung, Kleidung und Wohnraum für alle gibt, in der jeder seine eigene Arbeit aussucht und im Durchschnitt nur vier Stunden pro Tag arbeitet, in der Musik und die Künste blühen, in der sich die interpersonellen Beziehungen unter den günstigsten Umständen entwickeln, in der die Erziehung jedes Kind auf das vor ihm liegende soziale und intellektuelle Leben vorbereitet, in der – kurz gesagt – die Menschen wirklich glücklich, sicher, produktiv, kreativ und fortschrittlich sind. Was ist falsch daran? Offenbar nur eines, nämlich dass jemand es so geplant hat.« (Rogers & Skinner, 1956, S. 1059; Übersetzung v. Verf.)
31 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
Rogers Auffassung. Rogers setzt an den Anfang sei-
ner Replik die Punkte, in denen er mit Skinner übereinstimmt: 4 Schon immer haben Menschen versucht, das Verhalten anderer ebenso wie das eigene zu verstehen, vorherzusagen, zu beeinflussen und zu kontrollieren. 4 Jetzt und in Zukunft werden die Fortschritte der Verhaltenswissenschaften die Möglichkeiten, menschliches Verhalten zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren rasch und in hohem Maße zunehmen. 4 Das enorme Machtpotential einer Wissenschaft, die es erlaubt, das Verhalten vorherzusagen und zu kontrollieren, könnte missbraucht werden und ist eine ernste Bedrohung. 4 Die wissenschaftliche Verhaltenskontrolle ist ein ernsthaftes Problem, mit dem sich die Psychologenschaft und die Öffentlichkeit dringend befassen müssen. Rogers zog also die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft bzw. der Lerntheorie nicht in Zweifel. Worum es ihm ging, war deren Interpretation und Bedeutung sowie die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen. Die für Rogers strittigen Punkten waren: Die Frage nach der Macht. In Skinners Konzept sei Mehreres nicht geklärt: Wer soll kontrollieren? Wer soll kontrolliert werden? Welcher Art soll die Kontrolle sein? Skinner habe das Problem der Macht unterschätzt, denn die Verhaltensforscher werden stets denen dienen, die die Macht haben. Ein Beispiel dafür seien die deutschen Raketenforscher. Sie hätten im zweiten Weltkrieg unter Hitler hingebungsvoll daran gearbeitet, die Sowjetunion und die USA zu zerstören. Nach ihrer Gefangennahme hätten sie jeweils für die gearbeitet, von denen sie abhängig waren: in den USA, um die Sowjetunion zu zerstören, und in der Sowjetunion, um die USA zu zerstören. Die Subjektivität der Wahl einer wissenschaftlichen Fragestellung. Rogers betonte, dass die Wahl,
Planung und Durchführung eines wissenschaftlichen Vorhabens nicht objektiv aus derjenigen Wissenschaftsdisziplin heraus begründet werden kann, der es angehört:
2
»Der springende Punkt, um den es mir geht, ist …, dass jedes wissenschaftliche Vorhaben, sei es der Grundlagen- oder der Anwendungsforschung, betrieben wird, um einen Zweck oder einen Wert zu verfolgen, der von Menschen subjektiv gewählt wurde. Wichtig ist, diese Wahl offen zu legen, denn der in ihr angestrebte Wert kann niemals durch das wissenschaftliche Vorhaben, das er hervorbringt, geprüft oder bewertet, bestätigt oder bestritten werden.« (Rogers & Skinner, 1956, S. 1062) Deshalb müsse sich jede Diskussion über die Kontrolle von Menschen durch die Verhaltenswissenschaften zuerst und gründlich mit den stets subjektiv gewählten Zielen befassen, die durch ein solches wissenschaftliches Unternehmen verwirklicht werden sollen. Und eben diese Diskussion fehle bei Skinner. Wenn wir beispielsweise Lesen, Schreiben und Rechnen als Ziele einer guten Schulbildung setzen, dann könne die Wissenschaft zeigen, wie diese Ziele am besten zu erreichen sind. Ähnlich liege es, wenn wir Problemlösen als Ziel setzen. Sofern wir dann aber wissen wollen, ob Lesen, Schreiben und Rechnen »besser« sei als Problemlösen, kann die Forschung dies zwar ebenfalls überprüfen, allerdings nur hinsichtlich anderer Werte, für die wir uns zuvor subjektiv entschieden haben: In welcher Hinsicht »besser« oder »wichtiger«? Die Frage nach den Zielen. Im Hinblick auf Skinners Konzept sei diese Frage unabdingbar: Mit welchem Ziel, zu welchem Zweck und nach welchen Werten soll die Kontrolle ausgerichtet sein? Die Frage nach den Zielen offen zu legen und öffentlich zu diskutieren sei in einer demokratischen und humanen Gesellschaft unerlässlich. Skinner hatte in seinem Beitrag explizit keine Ziele genannt, allerdings erkennen lassen, dass nach seinen Vorstellungen die Menschen seines Gesellschaftsentwurfs die Merkmale »glücklich« (»happy«), »sicher«, »produktiv«, »kreativ« und »fortschrittlich« (»forward-looking«)« (7 oben) aufweisen sollten. Rogers hatte aus anderen Schriften Skinners außerdem noch »gebildet« (»informed«), »geschickt« (»skillful«) und »wohlerzogen« (»wellbehaved«) entnommen.
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2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
Hier liegt nun, was das klientenzentrierte Menschenbild betrifft, der eigentliche kritische Punkt, denn Rogers bezeichnet diese Ziele als starr und festgelegt und setzt ihnen als Alternative dynamische Ziele entgegen, und zwar solche, die dem Wesen des Menschen mehr entsprächen. Für ihn gilt »der Mensch als ein Prozess des Werdens, als ein Prozess des Erlangens von Wert und Würde durch die Entwicklung seiner Möglichkeiten; das individuelle menschliche Wesen als ein sich selbst verwirklichender Prozess, der voranstrebt zu immer mehr herausfordernden und bereichernden Erfahrungen; der Prozess, durch den sich das Individuum in kreativer Weise an eine stets neue und sich ändernde Welt anpasst; der Prozess, durch den die Erkenntnis über sich hinauswächst, wie beispielsweise die Relativitätstheorie über Newtons Physik hinausreichte, um selbst künftig durch einen neue Sichtweise überboten zu werden« (a. a. O., S. 1063). Werte, die aus dieser Sicht erwachsen, richten andere Fragen an die Wissenschaft, und zwar die nach den Möglichkeiten, diesen Prozess zu fördern, beispielsweise nach Wegen, befriedigende Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen zu erreichen, Kreativität freizusetzen, effiziente individuelle Anpassung zu erzielen usw. Dass dies möglich sei, zeige die Entwicklung der Klientenzentrierten Therapie. Auch dort werde, genau wie bei Skinner, Verhalten vorhergesagt und beeinflusst; ohne dass der Patient darüber mitbestimme, würden von außen Bedingungen gesetzt. Dann aber komme der entscheidende Unterschied: Unter diesen Bedingungen bestimme der Patient immer mehr über sich selber, er werde weniger rigide, offener für das, was ihm seine Sinne zeigen, besser organisiert und integriert und seine Idealvorstellung von sich werde der ähnlicher, die er für sich gewählt habe. ! Fakt sei: Das Verhalten des menschlichen Organismus könne durch die äußeren Bedingungen, denen er ausgesetzt war, maßgeblich beeinflusst werden. Aber es könne auch durch verantwortungsvolle persönliche Entscheidungen bestimmt werden, die auf einer kreativen und integrativen Einsicht des Organismus selbst beruhen. Damit leugnet Rogers in keiner Weise die Gültigkeit von
6
Skinners Forschungsergebnissen, ebenso wenig ihre Bedeutsamkeit, aber er betont, dass sie nicht die ganze Wahrheit sind.
2.8
Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft
Die Ansicht von Rogers, dass jegliche Wissenschaft von subjektiven, wissenschaftlich nicht begründbaren Vorentscheidungen bestimmt sei, war bald danach der Kernpunkt der viel beachteten wissenschaftstheoretischen Ausführungen des Physikers und Philosophen Kuhn (1967, 1977). Er benutzt den Begriff »Paradigma« und versteht darunter Definition Paradigmen sind »…das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, und nur ihnen, gemeinsam ist. Umgekehrt macht der Besitz eines gemeinsamen Paradigmas aus einer Gruppe sonst unverbundener Menschen eine wissenschaftliche Gemeinschaft« (Kuhn, 1977, S. 390).
Paradigmen, so Kuhn weiter, haben die Funktion, innerhalb der Gemeinschaft die fachliche Kommunikation zu erleichtern und verhältnismäßig einhellige fachliche Urteile zu ermöglichen. Solche Elemente ergeben sich nach Kuhn aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen und werden dann zu formgebenden Bestandteilen eines Paradigmas, d. h. der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gruppe in einer bestimmten Zeit geteilt werden und deren wissenschaftliche Arbeit leiten. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung irrte also Skinner, wenn er seine »Einsichten« in ihrem Ursprung für »wissenschaftlich begründet« hielt. In den frühen Entwicklungsstadien einer Wissenschaft – und die Psychologie, und mit ihr die Psychotherapieforschung, befindet sich nach wie vor in ihrem Anfangsstadium – besteht nach Kuhn (1967) ein dauernder Wettstreit zwischen einer Anzahl von deutlich unterschiedlichen Ansichten über die Natur ihres Gegenstandes. Und weil sie alle aus wissen-
33 2.8 · Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft
Exkurs
Was kennzeichnet Paradigmen? Sie bestehen aus einer »disziplinären Matrix« (Kuhn, 1977). »Disziplinär« bedeutet, dass es sich um den gemeinsamen Besitz der Vertreter einer Fachdisziplin handelt, und »Matrix« verdeutlicht, dass ein Paradigma aus Elementen verschiedener Art besteht. Zu ihnen gehören bestimmte Festlegungen der Gruppe, z. B. 5 Symbolische Verallgemeinerungen, d. h. Ausdrücke, die von ihren Mitgliedern ohne Zögern angewandt werden und sich leicht in eine logische Form bringen lassen, beispielsweise bestimmte Begriffe (z. B. Reiz, Reaktion, Verstärker, Empathie). 5 Modelle, das sind von der Gruppe bevorzugte Analogien, die, wenn sie von großer Überzeugung getragen sind, zu Ontologien werden, d. h. den Charakter von etwas tatsächlich Existierendem annehmen. Letzteres ist beispielsweise dann der Fall, wenn »das Unbewusste« seinen Charakter als Metapher verliert und als etwas aufgefasst wird, das es tatsächlich im Menschen »gibt«. 5 Musterbeispiele, d. h. konkrete Problemlösungen, die von der Gruppe in einem ganz gewöhnlichen Sinne als paradigmatisch angesehen werden. In der Psychologie ist eines davon das statistische Verfahren der Faktorenanalyse. Diese Art der Problemlösung wird z. B. dann angewendet, wenn in einem Beobachtungsbereich wegen der großen Anzahl der erfassten Variablen die Übersicht verloren geht. Sie soll durch die mathematische Methode der Hauptachsentransformation wieder gewonnen werden, die die Variablen auf die ihnen »eigentlich« zugrunde liegenden Dimensionen (Hauptachsen bzw. »Faktoren«) reduziert. Wer die dabei geltenden Regeln einhält, kann damit rechnen, dass seine Ergebnisse von der Fachwelt akzeptiert werden.
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schaftlichen Beobachtungen unter Verwendung von Methoden abgeleitet sind, repräsentiert jede von ihnen ein Paradigma. Was solche »Schulen« unterscheidet, sind nicht bestimmte Schwächen der Methode. So weit sie Methoden folgen, sind sie alle »wissenschaftlich«. Was sie unterscheidet, ist ihre grundlegend unterschiedliche Art, die Welt zu sehen und Wissenschaft in ihr auszuüben. Das bedeutet, dass jeder von ihnen bestimmte Einsichten zugänglich sind, andere nicht. Und der eigentliche wissenschaftliche Fortschritt beruht letztlich nicht im Zusammentragen von immer neuen Ergebnissen innerhalb bestehender Paradigmen, sondern in wissenschaftlichen Revolutionen, d. h. im Aufkommen eines neuen Paradigmas, einer neuen Art, die Welt zu sehen. So gesehen stellen auch die wissenschaftlich begründeten Psychotherapieverfahren wie die Psychoanalyse bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die Verhaltenstherapie und das Klientenzentrierte Konzept der Gesprächspsychotherapie verschiedenartige Paradigmen dar, die letztlich alle aus zufälligen persönlichen und historischen Konstellationen entstanden sind. Und es kann – unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten – nicht ihre Aufgabe sein, die Vorherrschaft gegenüber den anderen anzustreben. Ebenso wenig ist es sinnvoll, Elemente der einzelnen Paradigmen »eklektisch« zusammenzurühren. Die Zukunft liegt vielmehr in einem übergreifenden Paradigma. Ein solches könnte auf der Grundlage eines wechselseitigen, für die Sicht der Anderen offenen Austausches entstehen. ! So lange ein solches übergreifendes Paradigma jedoch noch nicht in Sicht ist bzw. genügend breite Anerkennung gefunden hat, bleibt für die Gesprächspsychotherapie die Aufgabe, ihr Paradigma klar zu formulieren und in die Diskussion einzubringen. Gerade weil sie in der direkten Analyse effizienter therapeutischer Prozesse ihren Ursprung hat (7 Kap. 2.1) und ihre Wirksamkeit belegt ist (7 Kap. 10.1), kommt ihr dabei eine besondere Bedeutung zu.
(Es mag an dieser Stelle angebracht sein, die obigen 7 Kap. 2.1 und 2.2 unter dem Aspekt des Paradigmas nach Kuhn nochmals anzusehen.)
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
2.9
Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland
2 Dem Ehepaar Anne-Marie und Reinhard Tausch kommt das Verdienst zu, dem Klientenzentrierten Konzept, das sie während eines Forschungsaufenthalt in den USA näher kennen gelernt hatten, in der Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung »Gesprächspsychotherapie« (Tausch, 1960, 1968) Geltung und Ansehen verschafft zu haben. Dieser Erfolg war nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass beide eine Fülle von empirischen Arbeiten zur allgemeinen Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie sowie zu Verhaltensmerkmalen von Therapeuten und Patienten anregten und auch selbst durchführten. Außerdem gaben sie den Anstoß für eine fundierte Ausbildung von Psychotherapeuten in Deutschland. Damit setzten sie die von Rogers begründete Tradition fort und trugen wesentlich dazu bei, dass die Psychotherapie, die bis dahin ausschließlich den Ärzten vorbehalten war, nunmehr auch von Psychologen durchgeführt werden konnte. Mit dem Psychotherapeutengesetz fand dies schließlich 1999 seine rechtliche Grundlage. Allerdings arbeiteten Tausch und Tausch auf der Grundlage des vorwiegend der allgemeinen Psychologie entstammenden experimentalpsychologischen Paradigmas, was gewisse Einschränkungen mit sich brachte, sodass mehrere Aspekte des originalen Klientenzentrierten Ansatzes, wie ihn Rogers formuliert hatte, in den Hintergrund traten. So blieb der Begriff der Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2) der von ihnen vertretenen Richtung fremd, und das komplexe Erleben in der Psychotherapie und die Wechselwirkungen zwischen Therapeut und Patient wurden weit gehend auf linearkausale Vorstellungen reduziert, wonach bestimmte Verhaltensmerkmale seitens des Therapeuten bestimmte Verhaltensweisen beim Patienten bedingen. Kwiatkowski (1980) hatte demgegenüber versucht, die ursprüngliche Sicht von Rogers wieder ins Spiel zu bringen und eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Prozesse durch sozialwissenschaftliche Methoden angemahnt. Sie blieb jedoch letztlich wenig beachtet.
Erfolgreicher waren bei diesen Bemühungen Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (1979/2003), die mit ihrem vielbeachteten Buch über mehrere Auflagen hinweg das ursprüngliche Klientenzentrierte Konzept weiterentwickelten, indem sie 4 es mit den vorliegenden empirischen Befunden in Beziehung setzten, 4 wesentliche Aspekte der konkreten klinischen Praxis berücksichtigten und 4 neuere Entwicklungen der Psychologie mit einbezogen. Andere Konzeptionen, von denen einige in 7 Kap. 21 und 22 dargestellt werden, weichen zum Teil explizit und deutlich vom ursprünglichen Ansatz von Rogers ab. Verglichen damit war die Aufnahme des Klientenzentrierten Konzepts in Österreich weniger heterogen, nicht zuletzt weil Doug Land, ein enger Mitarbeiter von Rogers, über viele Jahre hinweg regelmäßig dort zu Besuch war, 1991 bis 1994 in Wien lebte und dort als Therapeut und Ausbilder arbeitete. ? Übungsfragen 5 Weshalb ist es für das Verstehen des Klientenzentrierten Konzepts erforderlich, dessen Entstehungsgeschichte zu kennen? 5 Welche psychologischen Vorgehensweisen und Theorien waren bei Rogers der Ausgangspunkt seines therapeutischen Handelns? 5 Was veranlasste Rogers, von »Klienten« zu sprechen und nicht von »Patienten«? 5 Was sind die Kennzeichen von »Nicht-Direktivität« und wie ist sie begründet? 5 Wie lässt sich das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts kurz charakterisieren? 5 Was versteht Kuhn unter einem Paradigma und welche Bedeutung hat es für die unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren?
2.10
Weiterführende Literatur
Kirschenbaum, H. (1979). On becoming Carl Rogers. New York: Delacorte Press. (Eine ausführliche Darstellung der Biographie von Rogers und der Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts) Kriz, J., Lück, H.E. & Heidbrink, H. (2000). Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: eine Einführung für Psychologen und
35 2.10 · Weiterführende Literatur
Humanwissenschaftler (4. überarb. Aufl.). Opladen: Leske & Budrich. (Eine kompetente und gut verständliche Einführung in für Psychotherapeuten wichtige wissenschaftstheoretische Fragen) Rogers, C.R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett. (Original erschienen 1961: On becoming a person). (Eine Sammlung verschiedener Artikel von Rogers zu seiner Entwicklung und der des Klientenzentrierten Konzepts)
2
3 3 Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie D. Höger 3.1
Organismus – 38
3.2
Aktualisierungstendenz – 39
3.2.1
Definition und Begriff der Aktualisierungstendenz bei Rogers – 39 Die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz: Erhaltung und Entfaltung – 41 Die Aktualisierungstendenz als Selbstorganisation – 43 Konsequenzen für das Verständnis der Aktualisierungstendenz – 54
3.2.2 3.2.3 3.2.4
Nach der Definition von Strotzka (1975; 7 Kap. 1) ist Psychotherapie ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess. Das bedeutet u. a., dass der Therapeut theoretische Vorstellungen von der menschlichen Person und ihrer Funktionsweise hat. Nur vor diesem Hintergrund kann er Verhalten und Reaktionsweisen seines Patienten einordnen und daraus wiederum Schlüsse für sein angemessenes Verhalten in der Therapie ziehen1. Wie in 7 Kap. 2 beschrieben, sind die theoretischen Vorstellungen des Klientenzentrierten Konzepts primär das Ergebnis aus den Erfahrungen, die Rogers und seine Mitarbeiter als Therapeuten bei der Interaktion mit ihren Patienten gemacht haben. Bei ihrer Formulierung hat Rogers in vielen Fällen explizit die Vorstellungen anderer Autoren aufgegriffen, sei es aus der Literatur zur Psychotherapie, sei es aus der psychologischen Grundlagenforschung. Rogers hat das Ergebnis dieser seiner Theorieentwicklung 1959 in einer streng formalisierten Form dargestellt (Rogers, 1959b/1987). Diese Veröffentlichung bildet den Ausgangspunkt unserer Darstellung. 1
Neben einer Persönlichkeitstheorie benötigt er theoretische Vorstellungen über den therapeutischen Prozess, wie sie für das Klientenzentrierte Konzept in 7 Kap. 6 dargestellt werden.
3.2.5
Aktualisierungstendenz und therapeutisches Handeln – 56
3.3
Die Repräsentation der Welt in der Person – 58
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Erfahrung – 58 Symbolisierung – 61 Selbst – 64 Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung – 70
3.4
Weiterführende Literatur – 72
Was die Persönlichkeitstheorie betrifft, so geht Rogers vom Menschen als einem Organismus aus, der sich in einer Koevolution mit seiner Umgebung befindet, d. h. sich in ihr erhält und mit ihr weiterentwickelt. In welcher Weise dies geschieht, hat Rogers mit dem Konzept der Aktualisierungstendenz beschrieben. Sie stellt die für das Klientenzentrierte Konzept und das gesprächspsychotherapeutische Handeln entscheidende Eigenschaft des Organismus dar. Mit den Begriffen Erfahrung, Symbolisierung und Selbst werden Funktionen und Orientierungspunkte des menschlichen Organismus beschrieben, seine Informationsgrundlage für all seine Aktivitäten. Sie gewährleisten gemeinsam seine Orientierung über seine Umwelt, über sich selbst und über die Relation zwischen sich selbst und der Umwelt. Je nach der Angemessenheit und Funktionsfähigkeit dieser Orientierung ist der Organismus mit seinen Aktivitäten mehr oder weniger effizient, treibt er seine eigene Entwicklung voran – oder ist dabei beeinträchtigt und anfällig für psychische Störungen und Erkrankungen. In ihren Grundzügen entspricht die Auffassung, die Rogers vom Wesen der Person hatte, der Definition des amerikanischen Psychologen Gordon W. Allport (1937/1959), der wie Rogers ein Vertreter der humanistischen Psychologie war.
38
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Definition »Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die seine einzigartigen Anpassungen (adjustments) an seine Umwelt bestimmen« (Allport, 1937/1959, S. 49).
3
Mit der Bezeichnung »dynamisch« wollte Allport zum Ausdruck bringen, dass an eine aktive Ordnung »in dauernder Entwicklung und Wandlung als motivierend und selbstregulierend gedacht werden« muss (Allport, 1937/1959, S. 50). Wie wir sehen werden, ist dieser Aspekt im Konzept der Aktualisierungstendenz näher beschrieben. Der Ausdruck »psychophysisch« sollte daran erinnern, »dass Persönlichkeit weder ausschließlich geistig noch ausschließlich nervlich ist. Die Ordnung legt die Wirkung von Leib und Seele fest, die beide untrennbar in eine personale Einheit verschmolzen sind« (a. a. O.). Und »Anpassung« ist nach Allport nicht als rein reaktives Sich-Anpassen zu verstehen, denn in ihr steckt seiner Auffassung nach viel gewolltes, schöpferisches Verhalten in der Beziehung zur Umwelt, sowohl das aktive Meistern als auch die passive Adaptation. Diese erfolge sowohl an die physische (reale) als auch an die gedachte (subjektive) Welt des Individuums und müsse weit genug aufgefasst werden, um auch verfehlte Anpassungen mit einzuschließen. »Anpassung« ist also in keiner Weise, wie von einigen Psychologen, Soziologen oder Pädagogen (im Unterschied zu Biologen oder mit dem biologischen Denken Vertrauten) oftmals unterstellt, lediglich als ein passives Sich Angleichen an die gegebenen Umweltbedingungen gedacht2. Allport ging es im Sinne der Persönlichkeitspsychologie um eine allgemeine Definition von Persönlichkeit. Bei Rogers kommen darüber hinaus weitere Aspekte zum Tragen, die speziell für die Entstehung von Fehlfunktionen und deren Überwindung durch Psychotherapie bedeutsam sind. 2
Die Übersetzer von Rogers (1959/1987) hatten eben in diesem Sinne mit dem Begriff »Anpassung« im Deutschen eine deutlich einseitige negative Konnotation verbunden und deshalb »psychological adjustment« mit »psychische Ausgeglichenheit« übersetzt (a. a. O., S. 33).
3.1
Organismus
Der Betriff »Organismus« steht in den theoretischen Schriften von Rogers an zentraler Stelle. Offenbar war seine Vorstellung vom Menschen und den ihn ausmachenden Prozessen durch diesen Begriff entscheidend bestimmt. Er hat ihn zunächst nicht eigens definiert, vermutlich weil er ihn für allgemein gebräuchlich und bekannt hielt. Auf eine explizite Frage hat er später geantwortet: »Ich verwende den Ausdruck Organismus für das biologische Wesen« (Schmid, 1991, S. 128). »Biologisch« hat dabei allerdings nicht die Bedeutung, die sich inzwischen in der psychologischen Literatur eingebürgert hat und in dem beliebten Terminus »bio-psycho-sozial« zum Ausdruck kommt. Nach dieser Lesart ist »bio« von »psycho« und »sozial« getrennt und steht speziell für die körperlichen (physiologischen) Anteile des Menschen. Dabei wird vergessen, dass die Biologie die Wissenschaft von den Phänomenen des Lebens ist, zu denen auch – wie allein schon ihre Teildisziplin, die Vergleichende Verhaltensforschung zeigt – das Verhalten und Erleben gehören. Dass Rogers eine derart umfassende Vorstellung vom Organismus hatte, wird deutlich, wenn er kurz nach dem oben zitierten Satz präzisiert: »Im traditionellen europäischen Sprachgebrauch würde man wohl an vielen Stellen von der (physischen und psychischen) menschlichen Natur sprechen« (Schmid, 1991, S. 129). Er meint also mit dem Begriff Organismus explizit die integrative Einheit der physischen und psychischen Aspekte der Natur des Menschen. Definition Organismus im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist die Bezeichnung für die Natur, die integrierte Gesamtheit aller physischen und psychischen Funktionen des Menschen. Er ist der Ort aller Vollzüge des lebendigen Daseins eines Individuums, wie sie sich in der Interaktion zwischen ihm und der ihn umgebenden Welt entfalten, mit der er sich in ständigem Austausch befindet. Alle zu ihm gehörenden Organe, Funktionen, Merkmale usw., wie sie als Phänomene oder in theoretischen Konstrukten beschrieben werden, sind jeweils Ausdruck seiner Lebensvollzüge.
39 3.2 · Aktualisierungstendenz
Ein wesentliches Merkmal des Organismus ist, dass er als »organisiertes Ganzes« reagiert (Rogers, 1951/1973b, S. 421). »Ganzes« bedeutet, dass jeder seiner Teile mit den anderen so verbunden ist, dass eine Änderung in ihm zu Änderungen in einer Vielzahl der übrigen Teile führt und damit prinzipiell das ganze System bzw. den ganzen Organismus betrifft3. »Organisiert« verweist darauf, dass der Organismus eine in sich geordnete funktionale Einheit ist, die, auch wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen ist, als solche bestehen bleibt, so lange der Organismus existiert. Charakteristisch für den Organismus ist weiterhin, dass er auf das ihm über seine Rezeptoren und Wahrnehmungsfunktionen von der Welt vermittelte Bild – und nur auf dieses – reagiert. Der Fußgänger, der in Gedanken versunken auf die Straße tritt, vor dem herannahenden Auto erschrickt und zurück auf den Gehweg springt, hat subjektiv den Eindruck, knapp einem Unfall entgangen zu sein und reagiert mit Herzklopfen, wird blass, bekommt zitternde Knie usw., auch wenn objektiv gesehen gar keine Gefahr bestand, weil der Fahrer des Autos ihn samt seiner Zerstreutheit längst bemerkt, die Geschwindigkeit gedrosselt und den Fuß schon auf der Bremse hatte. ! Menschliches Verhalten und Handeln ist subjektiv begründet, es wird gesteuert durch die Erfahrungen, die vom Organismus als bewertete Erfahrungen gespeichert worden sind. Der Organismus ist der zentrale Begriff der Klientenzentrierten Theorie. Alle übrigen Begriffe, wie sie in den Grundlagen des Klientenzentrierten Konzepts dargestellt werden, dienen seiner näheren Charakterisierung und sind ihm insofern untergeordnet.
3.2
Aktualisierungstendenz
Rogers beobachtete immer wieder, dass seine Psychotherapiepatienten, ohne dass er einen direkten
3
Häufig wird Ganzheit so definiert, dass die Veränderung in einem ihrer Teile zu Veränderungen in sämtlichen anderen führt (Watzlawick et al., 2003). Bezogen auf den Organismus ginge dies jedoch zu weit. Beispielsweise muss eine Stimulierung der Netzhaut des Auges nicht unbedingt eine Veränderung im großen Zeh zur Folge haben.
3
Einfluss auf ihre Person und ihre Symptomatik genommen hatte, im Laufe der Psychotherapie größere Flexibilität, größere Autonomie, mehr Selbstwertschätzung, mehr sozial reife Verhaltensweisen usw. entwickelten. Parallel dazu verschwanden ihre Symptome oder sie besserten sich zumindest deutlich. Sein Beitrag als Therapeut zu dieser Entwicklung hatte lediglich darin bestanden, dass er versucht hatte, authentisch zu sein, seine Patienten zu verstehen und sie zugleich bedingungsfrei wertzuschätzen. Seither haben Generationen von Gesprächspsychotherapeuten die gleiche Erfahrung gemacht, und Grawe, Donati und Bernauer (1994) haben die »gute Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie (als) ein herausforderndes Faktum für die Theorienbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie« bezeichnet (S. 744). Bemerkenswert ist für die an solchen Entwicklungen beteiligten Therapeuten nicht nur, dass diese Veränderungen bzw. Problemlösungen offenbar vom jeweiligen Patienten selbst hervorgebracht werden, sozusagen aus ihm selbst heraus entstehen. Diese Veränderungen sind darüber hinaus in ihrer spezifischen Eigenart sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten selbst oft überraschend, weil in ihrer Art unvorhergesehen, originell und obendrein auch noch »stimmig«, denn sie »passen« genau zur Person des Patienten und seiner persönlichen Situation.
3.2.1
Definition und Begriff der Aktualisierungstendenz bei Rogers
Als Hintergrund für diese beobachteten Entwicklungen postulierte Rogers die Aktualisierungstendenz. Er hat diesen Begriff von dem Neurologen und Gestalttheoretiker Goldstein (1939) übernommen. Die Aktualisierungstendenz hatte für ihn die Qualität eines Axioms, d. h. eines Grundsatzes, der im strengen Sinne nicht beweisbar ist. Er bezieht seine Evidenz aus Beobachtungen von Phänomenen der Realität, die plausibel mit einer Aktualisierungstendenz in Zusammenhang gebracht werden können. Außerdem und vor allem hat sich die Aktualisierungstendenz als Richtschnur therapeutischen Handelns bewährt. Rogers definierte sie wie folgt:
40
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Definition
3
»Aktualisierungstendenz ist die dem Organismus eigene Tendenz, all seine Kapazitäten so zu entwickeln, dass sie dazu dienen, den Organismus zu erhalten oder zu erweitern (enhance)« (Rogers, 1959b/1987, S. 196; Übersetzung v. Verf.).
Die Aktualisierungstendenz ist nach Rogers ein grundlegendes und universelles Prinzip alles Lebendigen, gültig für jeden Organismus und zu jeder Zeit, ob Pflanze, Tier oder Mensch. Er führt dazu weiter aus, dass sie nicht lediglich darin besteht, dem genüge zu tun, was Maslow (1954/1978) als »Defizitbedürfnisse« nach Luft, Nahrung, Wasser oder dergleichen bezeichnet, sondern darüber hinaus allgemeinere Aktivitäten des Organismus umfasst: die Entwicklung in Richtung auf die Differenzierung von Organen und Funktionen, die Ausweitung im Sinne von Wachstum, die Steigerung der Wirksamkeit (»effectiveness«) durch den Gebrauch von Werkzeugen und Geräten, die Vermehrung und Steigerung (»enhancement«) durch Fortpflanzung. Weiterhin besteht sie für Rogers in einer Entwicklung hin zu Autonomie und weg von Fremdbestimmtheit oder Steuerung durch äußere Zwänge. Rogers beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf Angyal (1941), der das Leben als ein autonomes Geschehen kennzeichnet, das sich zwischen dem Organismus und seiner Umwelt abspielt. Auch nach Angyal beschränken sich Lebensvorgänge nicht darauf, das Leben lediglich zu bewahren. Vielmehr reichen sie über den augenblicklichen Zustand des Organismus hinaus, indem sie gewährleisten, dass er sich ständig erweitert und den Bereich, über den er autonom bestimmt, immer mehr ausdehnt. ! Die Annahme einer Aktualisierungstendenz ist leitend für das Handeln von Gesprächpsychotherapeuten. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Gestaltpsychologie und spielt, was seinen Inhalt betrifft, nicht nur im Klientenzentrierten Konzept sondern ebenso in anderen Bereichen der Wissenschaft eine wesentliche Rolle.
Wir werden im Folgenden auf die Aktualisierungstendenz besonders ausführlich eingehen, denn sie spielt in der Gesprächspsychotherapie eine besondere
Exkurs
Die Aktualisierungstendenz ist für viele Menschen schwer zu verstehen und zu akzeptieren Bei der Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland hat die Aktualisierungstendenz manchen Autoren große Probleme bereitet, auch einigen Vertretern der Gesprächspsychotherapie selbst. So taucht dieser Begriff bei dem in vielen Auflagen mehrfach überarbeiteten und weit verbreiteten Buch von Tausch und Tausch (1990) im Stichwortverzeichnis nicht auf, ebenso wenig bei Minsel (1974). Für Bommert (1987) war die Aktualisierungstendenz sogar Gegenstand heftiger Kritik. Seiner Ansicht nach werde bei diesem Konzept übersehen, dass sich der Mensch nicht aus sich selbst heraus entfalten könne, sondern von Geburt an auf die Interaktion mit Bezugspersonen aus seiner sozialen Umwelt angewiesen sei, die ihm Anregungen verschaffen und Anforderungen an ihn stellen würden. Konstruktive wie destruktive Verhaltensweisen seien zumindest zum Teil das Ergebnis sozialer Lernvorgänge und nicht auf die biologische Grundausstattung zurückzuführen. Zudem sei ihre Bewertung in starkem Maße vom gesellschaftlichen Umfeld bedingt. Solche Kritik ist insofern unberechtigt, als der Einfluss des sozialen Umfeldes, Lernvorgänge und gesellschaftliche Wertungen Fakten sind, die Rogers nie bestritten, sondern in seinem System explizit berücksichtigt hat – wenn auch mit anderen Vorstellungen über die Funktionsweise von Organismen und damit auch von Menschen. Während die Argumentation von Bommert offenbar der Umwelt einen für den Menschen determinierenden Einfluss im Sinne einer linearen Kausalität zuschreibt, denkt Rogers in Beziehungen, d. h. Rogers geht von einem Modell der Interaktion aus, in dem Personen im Austausch mit ihrer Umwelt stehen und dabei sich selbst organisieren. Sie sind zwar von ihrer Umwelt abhängig, bestimmen aber aufgrund der Art, wie sie als Organismen organisiert sind, jeweils selbst, wie sie auf die sie umgebende Welt reagieren.
41 3.2 · Aktualisierungstendenz
Rolle. In seiner zentralen Darstellung der Theorie des Klientenzentrieren Konzepts hat Rogers sie an erster Stelle der Begriffsdefinitionen genannt und seinem »theoretischen System als Axiom vorausgesetzt« (Rogers, 1959b/1987, S. 22). Wie die Erfahrung beim Vermitteln des Klientenzentrierten Konzepts bei Studierenden zeigt, ist vieles am Konzept der Aktualisierungstendenz auch unserem Alltagsdenken fremd, obgleich wir von dem, was für sie charakteristisch ist, alltäglich umgeben sind. Die folgenden Ausführungen zur Aktualisierungstendenz sollen 1. mit wesentlichen Details zum Begriff der Aktualisierungstendenz bekannt machen, 2. die Wahrnehmung für Phänomene der Selbstorganisation insbesondere von lebenden Organismen sensibilisieren, 3. mit ausgewählten Bereichen der Wissenschaft und deren Modellvorstellungen bekannt machen, die Phänomene der Selbstorganisation zum Gegenstand haben, 4. Begriffe für das Verstehen und Beschreiben solcher Phänomene zur Verfügung stellen, 5. dazu veranlassen, einengende Muster der Wahrnehmung und des Denkens (Paradigmen) – seien es eigene, solche des Alltagsdenkens oder auch solche in der Psychologie – zu erkennen und zu hinterfragen, 6. dazu anregen, eigenes und fremdes Handeln zu reflektieren, um zu erkennen, wo Phänomene der Selbstorganisation daran gehindert werden, in Erscheinung zu treten. Dazu werden wir uns nach einer Erörterung der in der Aktualisierungstendenz enthaltenen Aspekte Erhaltung und Entfaltung speziell mit der Selbstorganisation von Organismen befassen und an ausgewählten Beispielen zeigen, wie die Selbstorganisation im Alltag zu erkennen ist, wie sie in der Psychologie gesehen wurde und welche Modellvorstellungen in den modernen Naturwissenschaften existieren. Auf dieser Grundlage werden wir das Konzept der Aktualisierungstendenz und seine Bedeutung für das therapeutische Handeln erneut diskutieren.
3.2.2
3
Die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz: Erhaltung und Entfaltung
Rogers hat zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Stellen versucht, den Begriff und die Funktion der Aktualisierungstendenz näher zu erläutern. Beim Lesen dieser Darstellungen fallen Widersprüche auf. So steht an der einen Stelle, dass sie sich in jedem Falle Bahn bricht »ob die Umwelt diese Tendenz nun begünstigt oder nicht« (Rogers & Wood, 1977, S. 136). »Man kann sich darauf verlassen, dass die Verhaltensweisen eines Organismus in die Richtung gehen, sich selbst zu erhalten, zu erhöhen (enhance) und zu reproduzieren« (Rogers, 1963, S. 3; Übersetzung v. Verf.). Demnach wäre die Aktualisierungstendenz immer wirksam. Ganz anders klingt es, wenn Rogers schreibt, »dass es eine Unzahl von Umständen in der Umwelt gibt, die den menschlichen Organismus davon abhalten, sich in Richtung auf Aktualisierung hin zu bewegen,« es könne sein, »dass die Aktualisierungstendenz im Wachstum behindert oder gänzlich zum Stillstand gebracht wird; dass sie eher sozial destruktive als konstruktive Wege einschlägt. In dieser Hinsicht ist der Mensch wenig von anderen Organismen verschieden, abgesehen davon, dass es für den Menschen, weil er komplexer ist, zahlreichere Möglichkeiten gibt, durch die normale Neigungen verdreht oder blockiert werden können« (Rogers, 1980/1991b, S. 212). Nach einer noch anderen Formulierung bewirkt die Aktualisierungstendenz erst dann Wachstum, Reife und Bereicherung des Lebens, »wenn sie nicht behindert wird«, diese Tendenz werde wirksam, »…sobald Gelegenheit zur eindeutigen Wahl zwischen Vorwärts-Bewegung und regressivem Verhalten geboten wird« (Rogers, 1951/1973b, S. 424). Wenn man aber genauer hinsieht, dann entdeckt man, dass Rogers offenbar bei diesen widersprüchlich erscheinenden Aussagen jeweils unterschiedliche Aspekte der Aktualisierungstendenz vor Augen gehabt, das aber nicht immer explizit gemacht hat. Geht man von der Aktualisierungstendenz in ihrer der Definition gemäß vollständigen Bedeutung aus, nämlich als Tendenz, den Organismus sowohl zu erhalten als auch zu erweitern/erhöhen (»enhance«), so steht sie als Potenzial stets zur Verfügung. Wenn Rogers aber davon spricht, dass sie sozial eher des-
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
truktive als konstruktive Wege einschlägt, dann tut er dies im Zusammenhang mit widrigen Umständen, unter denen speziell das Wachstum des Organismus beeinträchtigt oder gänzlich zum Stillstand gebracht werden kann. Es ist also sinnvoll und notwendig, die Bedeutungen der beiden in der Definition nebeneinander stehenden Aspekte »erhalten« und »erweitern/erhöhen« als zwei unterschiedliche Aspekte deutlich voneinander zu unterscheiden. Exkurs
Erhaltung und Entfaltung: zwei verschiedene Aspekte der Aktualisierungstendenz Der Aspekt Erhaltung besteht in der Aktivierung all jener Möglichkeiten (Fertigkeiten, Mechanismen, Potenziale usw.), über die ein Organismus verfügt, um sich selbst auch unter widrigen Gegebenheiten zu bewahren und die eigene Existenz zu sichern. Die Mechanismen der Erhaltung können sich anlässlich einer Bedrohung aktuell herausbilden. Sie können aber auch im Sinne von Lerneffekten beibehalten werden als spezifische Organisation der Kognitionen, Emotionen und Handlungsweisen in ähnlichen Situationen. Solche Anpassungen können die Qualität von Persönlichkeitsmerkmalen annehmen. Dabei begrenzt sich – zumindest beim Menschen – »Erhaltung« nicht nur auf seine physische Existenz, sondern sie bezieht sich weit darüber hinaus auf all das, was seine Identität ausmacht, d. h. seine persönliche Art zu leben, zu denken, zu fühlen, zu handeln, sich im inneren Gleichgewicht zu halten usw. Der Aspekt Entfaltung kommt dann ins Spiel, wenn sich der Organismus in einer für ihn nicht bedrohlichen Situation im Zusammenspiel mit seiner Umwelt weiterentwickelt. Offenbar hatte Rogers diesen Aspekt vor Augen, wenn er über die Aktualisierungstendenz schrieb: »Dies ist eine zuverlässige Tendenz, die, wenn sie frei wirken kann, eine Person auf das hin bewegt, was mit den Begriffen Wachstum, Reife, Lebensbereicherung bezeichnet wird« (Rogers, 1980/ 1991b, S. 211; Hervorhebung v. Verf.). Differenzierung, Erweiterung der Möglichkeiten, Selbstverantwortlichkeit, sozial konstruktives Verhal-
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ten (Rogers, 1951/1973b) sind Manifestationen dieses Aspekts der Entfaltung. Die Aussage, dass sich die Aktualisierungstendenz als übergreifendes und umfassendes Lebensprinzip in jedem Falle Bahn bricht, »ob die Umwelt diese Tendenz nun begünstigt oder nicht« (Rogers & Wood, 1977, S. 136), ist dann so zu verstehen, dass auch noch unter dem Regime des Aspekts Erhaltung der Aspekt Entfaltung ständig bereitsteht und spontan wirksam wird, sobald die dafür notwendigen Bedingungen gegeben sind.
Das unter für den Organismus bedrohlichen Bedingungen vorherrschende Regime des erhaltenden Aspekts und die Blockierung des entfaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz sind offensichtlich gemeint, wenn es bei Rogers heißt, dass »… unzählige Umweltfaktoren den menschlichen Organismus auch darin hindern können, sich von seiner Aktualisierungstendenz leiten zu lassen. Seine physische und psychologische Umgebung kann sich in der Weise auswirken, dass seine Aktualisierungstendenz gehemmt oder vollkommen blockiert wird, dass sie nur auf verzerrte, absonderliche oder ›anomale‹ Weise geäußert werden kann; dass sie sich in sozial destruktive statt in konstruktive Bahnen ergießt« (Rogers, 1977, S. 41). Vor diesem Hintergrund sind Störungen des Verhaltens und Erlebens (Symptome) Produkte des erhaltenden, ihre Überwindung – sei es im Rahmen einer Psychotherapie, sei es spontan – das Ergebnis des entfaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz. In der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie wie auch im Alltag zeigt sich einerseits immer wieder, dass Menschen (wie Organismen allgemein) sich aufgrund ihres eigenen Potenzials eigenständig konstruktiv in Richtung auf ein (für sie) sinnhaftes Ziel hin entwickeln können. Und sie tun dies genau so, wie es ihrer individuellen Eigenart und Situation entspricht. Gleichermaßen zeigt aber auch die Existenz von Krankheit und Entstellung im körperlichen wie im psychischen Bereich die prinzipielle Störbarkeit solcher konstruktiver Wachstums- bzw. Lebensprozesse – und oft zugleich die Wirkung des erhaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz (7 Kap. 5).
43 3.2 · Aktualisierungstendenz
3.2.3
Die Aktualisierungstendenz als Selbstorganisation
Der Gedanke der Selbstorganisation von Organismen ist keineswegs auf das Klientenzentrierte Konzept beschränkt. Sie tritt uns, wenn wir nur darauf achten, ständig im Alltag entgegen, hat auch in der Psychologie ihre Tradition und ist in den modernen Naturwissenschaften fest etabliert (Kriz, 1999). Die These, dass der Organismus in seinem Normalzustand nach Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle strebt (Rogers, 1977/1978), können wir im Alltag erkennen, wenn wir u. a. darauf achten, wie wenig Menschen letztlich von außen determinierbar sind. Sie verhalten sich nicht nur eigenständig, sondern streben, wenn sich Hindernisse ergeben, sogar gezielt nach Selbstbestimmung (auch wenn sie dies nicht immer explizit erklären). Es kann beispielsweise sein, dass sie um Rat oder Hilfe bitten; vor allem Psychologen (oder Studierende der Psychologie), sind sie erst einmal als solche erkannt, werden oft um Ratschläge in mehr oder weniger wichtigen persönlichen Dingen gebeten. Merkwürdig ist nur, dass ihre Ratschläge meistens zurückgewiesen werden, oft beginnend mit »ja, aber …«, worauf viele Gründe für die Ablehnung folgen. Und wenn sie stillschweigend oder auch zustimmend entgegengenommen worden sind, stellt sich später in der Regel heraus, dass sie dann doch nicht befolgt worden sind. In der Tat kennt sich jeder Mensch in seinen eigenen Angelegenheiten besser aus als jeder andere, und seine innere Welt ist nur ihm selbst direkt zugänglich. Jeder ist für sich selber der beste Experte. Vor allem aber legen wir Wert darauf, uns letztlich eigenständig zu entscheiden. Selbst wenn wir jemanden fragen: was wir dann aus Tipps und Hinweisen Anderer machen, wollen wir selber bestimmen. Exkurs
3
(Brehm, 1966, 1972; einen kurzen Überblick geben West & Wicklund, 1985). Die Reaktanztheorie besagt, dass Menschen davon ausgehen frei zu sein in ihren äußeren Entscheidungen (z. B. in der Wahl von Freunden, Beruf, Nahrung), ihren inneren Einstellungen, Interessen, Bedürfnissen, Emotionen usw. und ebenso in der Art, wie sie diese zum Ausdruck bringen. Reaktanz tritt immer dann auf, wenn Menschen sich durch sozialen Einfluss oder andere Bedingungen in ihrer Wahlfreiheit bedroht sehen. Als konkrete Beispiele dafür werden genannt: Jemand, der gerne Äpfel, Birnen, Weintrauben und Pfirsiche isst, Appetit auf Obst verspürt und in einen Laden geht, in dem es nur Birnen, Weintrauben und Pfirsiche gibt, wird als Reaktion auf den Umstand, dass er sich in seiner Wahlfreiheit beeinträchtigt sieht, in diesem Moment mehr Appetit speziell auf die nicht vorhandenen Äpfel verspüren. Versucht jemand, auf einen anderen Druck auszuüben, dann nimmt mit der Intensität dieses Drucks die Neigung des anderen zu, sich diesem Einfluss genau entgegengesetzt zu verhalten. Deshalb werden Versuche, so die Reaktanztheorie, auf jemanden, der im Januar frische Erdbeeren essen möchte, Druck auszuüben, indem man ihm wegen seines ökologisch fragwürdigen Verhaltens Vorwürfe macht, dazu führen, dass sein Konsum an Erdbeeren eher zunimmt. Reaktanz bezeichnet also die Anstrengung, die als bedroht erlebte Entscheidungsfreiheit wieder herzustellen, indem die Tendenz zu genau dem Verhalten ansteigt, das unmöglich zu werden droht (vgl. die Liedzeile von Wolf Biermann: »Keiner tut gern tun, was er tun darf, doch was verboten ist, das macht uns gerade scharf«).
Reaktanz als Folge des Bedürfnisses nach Eigenständigkeit Ein Beispiel für das im Rahmen der Aktualisierungstendenz bzw. Selbstorganisation postulierte Autonomiebedürfnis finden wir in dem in der Sozialpsychologie etablierten, durch viele Experimente belegten Phänomen der Reaktanz
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Menschen bestehen aber nicht nur darauf, selbst über sich zu bestimmen. Sie zeigen auch die Tendenz, sich aus sich selbst heraus in eine konstruktive Richtung zu entwickeln, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erweitern. Besonders deutlich lässt sich dies bei Kindern beobachten, für die die Erweiterung ihres Aktionsraumes und das »selber
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
machen/können« ein mächtiges Motiv ist, wie die folgende Episode zeigt: Exkurs
Ein Kind strebt nach oben
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Vor einer mehrstufigen Freitreppe, die zu einem Restaurant führt, steht ein kleiner Junge (knapp 1½ Jahre alt) mit seinem Vater. Der Kleine läuft zur Treppe und versucht, auf allen Vieren hinaufzukrabbeln, fällt dabei hin und weint. Sein Vater geht zu ihm, hebt ihn auf, nimmt ihn auf den Arm und tröstet ihn. Sobald sich das Kind beruhigt hat, strebt es wieder hinunter und läuft erneut zur Treppe, um wieder hinauf zu krabbeln.
Dieses Beispiel zeigt, wie (nicht nur!) Kleinkinder in ihrem Streben nach Erweiterung ihrer Fähigkeiten und ihres Aktionsraumes Schmerzen und Rückschläge in Kauf nehmen. Würden wir der klassischen Lerntheorie folgen, so müssten sie eigentlich aufgrund solcher »Strafreize« aversiv konditioniert werden und die entsprechenden Situationen meiden anstatt sie – oft auch gegen Widerstände – erneut aufzusuchen. Ebenso müssten die Verhaltensweisen gelöscht werden, auf die Unbehagen und Schmerz folgt. Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall. Kinder probieren immer wieder, Misserfolge zu überwinden, bis sie es schließlich geschafft haben. Und wenn sie irgendwann doch aufgeben, dann tun sie das meistens nur vorübergehend und starten später einen erneuten Versuch. Jeder Spielplatz ist dafür ein reichhaltiges Beobachtungsfeld. Exkurs
Die behinderte, aber eigensinnig-expansive Margarete Steiff (Erhard, 2000) Dass nicht nur Kinder sondern auch Erwachsene sich auch angesichts von Widrigkeiten eigenständig weiter entwickeln, zeigt eindrucksvoll die Lebensgeschichte von Margarete Steiff (geb. 1847), der Erfinderin der Steiff-Tiere und Gründerin des Unternehmens, in denen sie herstellt werden. Im Alter von einem Jahr war sie an Kinderlähmung erkrankt und dadurch zeitlebens an den Rollstuhl gefesselt. Temperamentvoll wie
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sie war, sauste sie in ihrer Heimatstadt Giengen an der Brenz mit ihrem Rollstuhl zum Entsetzen ihrer kreuzbraven Mitbürger in halsbrecherischem Tempo die abschüssigen Straßen hinab, ohne auf die damit verbundenen Gefahren zu achten. Mit 23 Jahren geschah es dann, dass sie bei einer solchen Fahrt einen bösen Sturz erlitt, bei dem sie sich auch noch den gelähmten Fuß brach. Die Leute, die sie aufheben, sparen denn auch nicht mit Vorwürfen: »So hat’s kommen müssen, du lässt dir ja auch nichts sagen!« Ihr eigener Kommentar dazu: »Es war halt so schön, auch einmal schnell vorwärts zu kommen.« Auch ihr persönliches Schicksal nahm sie nicht einfach hin. Anstatt sich passiv ihrer Behinderung zu fügen, nahm sie es als (nach den damaligen Verhältnissen!) »unverheiratbare« und damit in ihrer materiellen Existenz bedrohte Frau entschlossen in die Hand und gründete später sogar die bereits erwähnte Fabrik.
Margarete Steiff hatte sich mit ihrem Rollstuhl höchst riskant verhalten und dabei auch prompt schwer verletzt; es hätte auch wesentlich schlimmer ausgehen können. Kurzfristig gesehen hat sie sich geschadet. Aber längerfristig betrachtet ist ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Art zu sehen, wie auch sonst ihr Schicksal bewältigte: aktiv und selbstbestimmt. Es wird aber zugleich deutlich, wie die Beurteilung eines Verhaltens aus einem fremden Bezugsrahmen (wie dem der Mitbürger) und aus dem Augenblick heraus, bezogen auf die Gesamtentwicklung eines Lebens, viel zu kurz greift.
Selbstorganisation in der Psychologie Die Psychologie hat sich mit Phänomenen der Selbstorganisation vor allem zu Anfang schwer getan und sie nicht weiter beachtet. Auch später, als Selbstorganisation in verschiedenen psychologischen Bereichen unübersehbar wurde, spielte sie eine eher randständige Rolle. Und bis heute gehört die Selbstorganisation von Organismen – und vor allem deren Konsequenzen – nicht zu den allgemeinen Selbstverständlichkeiten der Psychologie. Das hat nicht zuletzt historische Gründe.
45 3.2 · Aktualisierungstendenz
Als die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, sich von der Philosophie zu lösen, um eine eigenständige empirische Wissenschaft zu werden, lag es nahe, die Physik, den Inbegriff von Naturwissenschaft und damit von Wissenschaftlichkeit überhaupt, zum Vorbild zu nehmen. Zweierlei war damit verbunden: die Übernahme ihrer Forschungsmethodik, des Experiments als Königsweg der Erkenntnis, und die Übernahme ihres Weltbildes, das durch zwei Denkmodelle bestimmt war, die klassische Mechanik (Newton) und die Thermodynamik. Die klassische Mechanik. Ihr liegen zwei elementare Vorstellungen zugrunde. Die eine ist die der Reversibilität (Umkehrbarkeit) aller Vorgänge bzw. Bewegungen. Entsprechend hat in den Gleichungen der Mechanik die Zeit keine ausgezeichnete Richtung. So ist beispielweise die Bewegung eines Teilchens im Raum von einem Punkt A zu einem Punkt B absolut umkehrbar. Die andere elementare Vorstellung bestand in der wie selbstverständlichen Annahme, dass jeder Impuls für eine Bewegung bzw. Veränderung von außen kommen muss. Die Vorstellung von Selbstorganisation, die Idee, dass etwas aus sich selber heraus geschehen kann, war (und ist) in diesem Weltbild nicht vorgesehen und damit einfach undenkbar. ! In der klassischen Mechanik ist alles Ge-
schehen von außen determiniert Nach der klassischen Physik ist die Flugbahn eines geworfenen Steines ebenso wie die Stelle, an der er auftrifft, durch den Ort des Abwurfs, das Gewicht des Steines, die aufgewendete Kraft, die Abwurfrichtung, den Luftwiderstand usw. bestimmt. Werden diese (z. B. die aufgewendete Kraft) oder der Ablauf der Prozesse (z. B. durch einen heftigen Windstoß) verändert, so verändert sich auch die Flugbahn und damit auch der Endzustand (d. h. der Ort des Auftreffens). Die Ausgangsbedingungen bestimmen also das Ergebnis eines Prozesses, und die Art der Einwirkungen von außen bestimmt, wie sich dieser und damit auch das Gesamtergebnis verändert.
Natürlich sind diese physikalischen Gesetzmäßigkeiten keinesfalls »überholt«, sondern nach wie vor gültig. Allerdings haben sie – wie alle Theorien – ihren speziellen Gültigkeitsbereich. Vorstellungen
3
der klassischen Physik auf lebendige Prozesse zu übertragen, bedeutet, dass ihr Gültigkeitsbereich verlassen wird. Sie müssten dann erneut auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Wenn das nicht geschieht, sind alle Aussagen ungültig, die solche Vorstellungen zur Grundlage haben. Im Rahmen eines herrschenden Paradigmas (7 Kap. 2.8) wird das oft nicht bedacht. Watzlawick, Beavin und Jackson (2003, S. 30) veranschaulichen plastisch, dass sich Lebewesen nicht nach den Gesetzen der Mechanik verhalten: Stößt man mit dem Fuß gegen einen Stein, so rollt er ein Stück und bleibt je nach Kraft des Stoßes, seinem Gewicht usw. irgendwo liegen. Stößt man jedoch gegen einen Hund, so wird dieser je nach seinem momentanen inneren Zustand aufspringen und zubeißen, jaulend wegrennen usw. ! Bei wissenschaftlichen Theorien ist stets deren Gültigkeitsbereich kenntlich zu machen. Bei ihrer Anwendung ist zu prüfen, inwieweit der Anwendungsbereich ihrem Gültigkeitsbereich entspricht.
Die klassische Mechanik ist ein hochgradig idealisiertes Modell, das sich in vielen Anwendungsfällen (z. B. bei der Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper) hervorragend bewährt und daraus seine Überzeugungskraft gewonnen hat – sofern sie nicht ihrerseits ihren Erfolg auch daraus bezog, dass sie in ein in unserem Kulturkreis allgemein herrschendes Weltbild der Außengesteuertheit hervorragend passte und auch noch passt. Die vielen in der Wirklichkeit vorhandenen Phänomene, die mit einem solchen Weltbild nicht vereinbar sind, werden dabei zumeist ausgeblendet. Die Thermodynamik. Die Thermodynamik, ein an-
derer bedeutsamer Bereich der klassischen Physik, befasst sich im makroskopischen Bereich mit großen Mengen von Teilchen und den darin bestehenden Wärmeströmen und Diffusionsprozessen. Typische Phänomene sind z. B. Temperatur und Druck (von Gasen), die jeweils Mittelwerte aus Bewegungen der jeweiligen Teilchenmengen darstellen. Ein weit über die Physik im engeren Sinne hinausgehender und bis in unsere Zeit wirksamer Einfluss auf das wissenschaftliche und auch das alltägliche Weltbild kommt dem Mitte des 19. Jahrhundert formulierten zweiten Hauptsatz der Wärmelehre zu. Er behandelt die
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Richtung thermodynamischer Zustandsänderungen und relativiert die ideale Welt der Mechanik: Ein ideales Pendel (das den Pendelgesetzen der Mechanik zugrunde liegt) hat keine Reibung und keinen Luftwiderstand, deshalb pendelt es ewig. Bei einem realen Pendel hingegen werden dank des Luftwiderstandes und der Reibung die Ausschläge immer geringer, bis es schließlich stehen bleibt, und zwar unumkehrbar. Wieder bewegen wird es sich nur durch erneute Energiezufuhr, also wenn es wieder angestoßen wird. Jedes Kind auf einer Schaukel kann das unmittelbar erleben. Nach dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre kann die Entropie (ein Begriff der Wärmelehre, der das Ausmaß des Verlusts an Energie und Komplexität/Ordnung bzw. die Nichtumkehrbarkeit in der Zeit beschreibt) im Inneren eines thermodynamischen Systems nicht ab- sondern nur zunehmen, bis es schließlich sein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht hat und die Prozesse zum Stillstand kommen. Anders gesagt: Alle irreversiblen Prozesse erzeugen Entropie. ! Im thermodynamischen Weltbild unterliegt eine bestehende Ordnung dem Zerfall und kann ohne Eingriff von außen nicht wieder hergestellt werden.
Der ziemlich abstrakte Begriff der Entropie lässt sich so veranschaulichen: In einem Gefäß mit zwei voneinander luftdicht getrennten Hälften wird die eine luftleer gepumpt. Öffnet man nun die Trennwand, findet ein Ausgleich des Luftdrucks statt und zwar so, dass schließlich in beiden Hälften der gleiche Druck herrscht und ein thermodynamisches Gleichgewicht hergestellt ist. Das Wesentliche daran ist, dass sich eine vorher bestehende Ordnung, und zwar der Druckunterschied zwischen den beiden Kammern, aufgelöst hat und nie mehr »von allein«, sondern nur durch Eingriffe von außen wieder (erneutes Leerpumpen) hergestellt werden kann. Diesen zweiten Hauptsatz der Wärmelehre interpretierte der österreichische Physiker Boltzmann (1896) in dem Sinne, dass sich das gesamte Universum mit allem, was sich darin befindet, unaufhaltsam desorganisiere, dass sich die darin vorzufindenden mehr oder weniger geordneten Zustände nur in Richtung auf den Zustand maximaler Unordnung hin entwickeln könnten. Am Ende stehe der unausweichliche »Wärmetod« des Universums.
Eine der Schlussfolgerungen hieraus war, dass lebendige Organismen, die ja hoch komplexe und damit geordnete Strukturen darstellen, nur zerfallen, keinesfalls jedoch aus sich selbst heraus entstehen oder sich gar in Richtung größerer Komplexität und Ordnung weiterentwickeln könnten. Selbstorganisation ist also auch nach dieser Weltsicht nicht denkbar. Rätselhaft blieb, wie es dann überhaupt möglich ist, dass lebendige Organismen, die ja offensichtlich und unzweifelhaft existieren, überhaupt entstehen, sich erhalten und weiter entwickeln können. Exkurs
Vitalismus Einen Lösungsvorschlag für das Problem, wie lebende Organismen in einer dem Zerfall unterliegenden Welt überhaupt entstehen und existieren können, schien der »Vitalismus« zu bieten. Dessen Vertreter (u. a. Driesch, 1912) gingen von der Annahme einer seelenartigen Entelechie (d. h. einer im Organismus liegenden zielgerichteten Kraft), der »Lebenskraft« (»élan vital«) aus, die die Lebenserscheinungen in der toten Materie hervorbringt. Der Vitalismus hat allerdings einen Schönheitsfehler: Er enthält einen Zirkelschluss. Denn mit ihm wird ein Phänomen (das »Leben«) durch sich selbst (die »Lebenskraft«) erklärt. Ebenso gut könnte man die »Pauvreté« als die Ursache von Armut postulieren. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Vitalismus letztlich im Rahmen des traditionellen physikalischen Weltbildes bleibt, denn auch er sieht die Selbstorganisation als Prinzip nicht vor, sondern postuliert statt dessen eine zusätzliche, quasi von »außen« wirkende Kraft zur Erklärung organisierter Lebensprozesse. Fazit: Eine unzureichende, aber im Alltagsdenken durchaus geläufige »Erklärung« für die Selbstorganisation lebender Organismen.
Auch im thermodynamischen Weltbild wurde der Grundsatz eines Gültigkeitsbereiches von Theorien nicht hinreichend beachtet, denn der zweite Hauptsatz der Wärmelehre gilt für geschlossene Systeme, d. h. solche, die mit ihrer Umgebung keine Energie oder Materie austauschen. Lebende Organismen, die Stoffwechsel betreiben, sind hingegen sogenannte
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offene Systeme, denn sie tauschen mit ihrer Umgebung Energie und/oder Materie aus. Eine Eigenschaft vieler solcher offener Systeme, mit denen sich die moderne Naturwissenschaft befasst (7 unten), ist die Selbstorganisation. Die Sicht der Gestaltpsychologie. Metzger, der sich als prominenter Gestaltpsychologe eingehend mit Phänomenen der Selbstorganisation befasste, hat die – auch heute noch maßgeblichen – Grundannahmen der Psychologie seit der Einführung des Experiments einer eingehenden Analyse unterzogen (Metzger, 1975, S. 199 ff.). Er legt dar, dass die inhaltlichen Voraussetzungen der traditionellen Psychologie genau dem Weltbild der Physik des 18. und 19. Jahrhunderts entsprechen und dass es auch für die Psychologie (mit wenigen Ausnahmen) nicht denkbar war, dass ein natürliches Geschehen Ordnungen entwickeln kann, die nicht von außen gesetzt werden. Frei sich selbst überlassen, so war bzw. ist die Sichtweise, geht es früher oder später in chaotische Zustände über. Ordnung, wie wir sie an Vorgängen oder unstarren Gebilden vorfinden und die über das zufällige Zusammentreffen eines Augenblicks hinaus bestehen bleibt, kann ihnen danach nur von außen aufgezwungen sein. Entweder geht sie auf 4 die Ordnung starrer Gebilde zurück, die in Analogie zu Formen, Gefäßen, Schienen usw. bewegliche und formbare Gegebenheiten (Organismen, lebendige Prozesse) innerhalb bestimmter Grenzen festhalten oder in bestimmte Bahnen leiten, oder sie wird 4 durch festgesetzte Eingriffe eines überwachenden Geistes aufrecht erhalten.
Ändert sich der Verlauf dieses von außen geformten Geschehens, dann nähert es sich der Unordnung, dem Chaos, es sei denn, diese Änderungen sind durch besondere Eingriffe eines überwachenden Geistes veranlasst. Nach diesem »Grundsatz der Unordnung des Natürlichen« gibt es keine eigene, innere, natürliche Ordnung, sondern nur eine äußere, fremde, aufgezwungene. Die unvermeidliche Konsequenz ist der »Satz von der Fremdbedingtheit aller sachlichen Ordnung« (Metzger, 1975, S. 200). Diese von Metzger beschriebene explizite oder implizite Vorstellung von der Fremdbedingtheit
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von Ordnung lässt sich beispielsweise unschwer in der klassischen Lernpsychologie wiedererkennen: Es ist die von außen vorgegebene, wiederholte raumzeitliche Verknüpfung eines unkonditionierten mit einem neutralen Reiz, die das klassisch konditionierte Lernen bestimmt und dem Organismus die Ordnung der Welt übermittelt, in der er lebt. Und es sind die von außen kommenden Verstärker und deren Ordnung, die beim operanten Konditionieren das Verhalten des Organismus formen (shaping of behavior, Skinner, 1938). Typischerweise gelten in diesem Konzept die vom Organismus spontan hervorgebrachten Aktivitäten, die »operants«, als »zufällig«, also ungeordnet. Erst die von außen kommenden Verstärker vermitteln dem Verhalten eine angemessen geordnete Form. Ebenso verhält es sich beim Modelllernen, bei dem die von einem Vorbild, also ebenfalls eine von außen kommende, vorgegebene Ordnung übernommen wird. Und selbst das Lernen durch Einsicht wird so interpretiert, dass dem Organismus eine äußere Ordnung vorgegeben werde, die er im Prozess der Einsicht übernehme. Metzger (1975) stellt dieser »Zwangsordnung« als zweites Prinzip die »natürliche Ordnung« gegenüber (a. a. O., S. 204), die beispielsweise bei unseren Wahrnehmungsprozessen erkennbar wird. Die Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zeigen, dass sich im Wahrnehmungsakt selbst eine Ordnung herstellt, die so nicht von außen kommt. Metzger verweist auf Arten des Geschehens, bei denen, wenn sie frei sich selbst überlassen bleiben, ohne das Eingreifen eines äußeren ordnenden Geistes eine ihnen gemäße Ordnung entsteht, erhalten bleibt und sich ausdifferenzieren kann. Und diese Ordnung kann sich unter veränderten Umständen ohne äußeren Eingriff auch wieder ändern. Gerade auch im Zusammenhang mit der Lernforschung hat sich gezeigt, dass Versuchstiere bei Lernprozessen spontan und beharrlich ihre eigene Ordnung bildeten, und zwar unabhängig von der von außen vorgegebenen. Typischerweise haben diese Befunde keinen großen Einfluss auf die Theorienbildung gehabt. Vielmehr wurden sie in der Regel nicht weiter verfolgt und es wurden auch kaum Konsequenzen aus ihnen gezogen.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Exkurs
Exkurs
Ratten bilden beim Lernen im Labyrinth ihre eigene Ordnung
Wie Organismen sich nach Verstümmelungen selbst wieder reorganisieren
Nach Tolman (1932), der gestaltpsychologische Hypothesen mit behavioristischen Methoden untersuchte, zeigen Versuche, dass Ratten, die in einem Labyrinth gelernt hatten, wo sie Futter finden, sich nicht in erster Linie die vorgegebenen Ketten von sukzessiven Einzelreaktionen eingeprägt hatten (z. B. erste Kreuzung nach rechts, die nächste links, dann wieder links, anschließend geradeaus usw.), sondern eine innere Landkarte (»cognitive map«) der gesamten räumlichen Situation des Labyrinths. Damit konnten sie, wenn der ursprüngliche Weg versperrt war, eben auf Umwegen das Futter finden. Lashley beobachtete sogar, dass eine Gruppe von Ratten, die das Durchlaufen des Labyrinths gelernt hatten, den Deckel über ihrem Startplatz zur Seite schob, hinauskletterte, über die Holzdecke des Labyrinths direkt zum Futterplatz lief und dort wieder einstieg (zitiert nach Haseloff & Jorswieck, 1970, S. 110). Ganz offensichtlich hatten sie selbst eine eigene, bessere, weil effizientere Ordnung der Situation und ihres Verhaltens darin entwickelt und an die Stelle von derjenigen gesetzt, die ihnen der Weg durch das Labyrinth von außen vorgegeben hatte.
Katz (1969) beschreibt, wie Organismen nach Verletzungen, Verstümmelungen oder sonstigen Beeinträchtigungen spontan und ohne längere Lernphasen in der Lage sind, sich zweckmäßig neu zu organisieren. So koordinierten Tiere (z. B. Hunde, Meerschweinchen) nach dem Verlust von Gliedmaßen ihre Fortbewegungsformen in effizienter und zweckmäßiger Weise völlig neu, ohne dass eine dazwischenliegende Lernphase erforderlich war und ohne dass sie auf früher erworbene Bewegungsmuster zurückgreifen konnten. Ein Hund, der beide Hinterbeine verloren hatte, lief spontan und ohne vorheriges Üben auf den beiden verbliebenen Vorderbeinen, indem er gleichzeitig den Hinterleib nach oben reckte. Käfer koordinierten nach dem Verlust eines Beines die verbliebenen spontan neu; hatten sie gar keine Beine mehr, so benutzten sie ihre Mandibeln (Fresswerkzeuge) zur Fortbewegung.
Während die Vorgänge, die auf die Selbstorganisation lebendiger Organismen schließen lassen, in der Gestaltpsychologie besondere Beachtung gefunden haben, sind sie von anderen Richtungen der Psychologie mehr oder weniger ausgeklammert worden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Rogers (1951/1973b, S. 423) sich bei der Konzeption seiner theoretischen Vorstellungen explizit u. a. auf den Gestalttheoretiker Goldstein und dessen Begriff der »selfactualization« (Goldstein, 1939) berufen hat. (Der Begriff der »Selbstaktualisierung« hat allerdings bei Rogers eine andere Bedeutung und muss von der »Aktualisierung« klar unterschieden werden – 7 Kap. 3.3). Katz (1969), ebenfalls ein Gestalttheoretiker, sprach von dem herausfordernden, weil allenthalben präsenten Phänomen der »dynamischen Selbst-
steuerung des Organismus«, das sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bei lebendigen Prozessen vorfinden und beschreiben lasse. Ein anderes von der Gestaltpsychologie als Beleg für die dynamische Selbstorganisation angeführtes Beispiel ist die instinktive Nahrungswahl. Bei Tieren wie bei Menschen lässt sich beobachten, dass sie, ohne dass sie auf frühere Erfahrungen zurückgreifen könnten, Vorlieben oder Abneigungen gegenüber bestimmten Speisen entwickeln, und zwar so, dass sie damit ihre Nahrung »instinktiv« so wählen, dass bei Mangelzuständen bzw. erhöhtem Bedarf an bestimmten Substanzen ein Ausgleich geschaffen wird. Davis (1928) berichtet von drei Kleinkindern, denen nach dem Abstillen über 6 bzw. 12 Monate freie Nahrungswahl gewährt worden war. Sie wählten eigenständig eine optimal zusammengestellte Kost. Als eines von ihnen an Rachitis erkrankte, bevorzugte es sogar spontan Lebertran, für Kinder seinerzeit der Inbegriff des Übelschmeckenden (die wesentlich wohlschmeckenderen Emulsionen waren damals noch nicht erhältlich) und daher heftig verabscheut (Gniech, 1990).
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Inzwischen nimmt auch innerhalb der Psychologie das Interesse an Prozessen der Selbstorganisation bzw. selbstorganisierten Systemen deutlich zu, sei es auf interdisziplinärer Ebene (Krohn & Kueppers, 1992), sei es in der Psychologie allgemein (Barton, 1994; Höger, 1992) oder in Teilgebieten wie z. B. der Handlungsregulation (Schaub, 1993), der Sozialpsychologie (Langthaler & Schiepek, 1995; Tschacher & Brunner, 1995) oder der Klinischen Psychologie (Cicchetti & Tucker, 1994; Schiepek, 1997; Tschacher, Schiepek & Brunner, 1992, Schiepek et al., 2003). Allerdings ist der Einfluss dieser Konzepte insbesondere im Bereich des psychologisch begründeten Handelns immer noch begrenzt. Das mag u. a. daran liegen, dass damit von den klassischen Zielen von Wissenschaft, nämlich Beschreiben, Erklären und Eingreifen/Verändern, insbesondere das letztere besonders betroffen ist. Konzepte der Selbstorganisation in sein Denken und Handeln konsequent aufzunehmen, bedeutet per definitionem für einen Wissenschaftler, zu erkennen und zu akzeptieren, dass seine Möglichkeiten klar begrenzt sind, durch Interventionen auf Gruppen, Paare oder Personen direkt korrigierend, regulierend und ordnend einzuwirken. Für eine Wissenschaft, die sich als ein Unternehmen zur Kontrolle der Vorgänge in der Welt versteht, bedeutet Selbstregulation eine direkte Bedrohung ihres Selbstverständnisses. Sie muss deshalb Konzepte der Selbstorganisation entweder ignorieren oder aber sie nur halbherzig und inkonsequent aufnehmen. Modelle der Selbstorganisation hingegen sind geradezu prototypisch für eine Wissenschaft mit dem Ziel, die Welt und ihre Zusammenhänge zu verstehen, um mit und in ihr leben zu können. Wir sind hier mit einem Sachverhalt konfrontiert, den Kuhn (1962/1967) in den Begriff des Paradigmas gefasst hat (7 Kap. 2.8). Paradigmen sind »ein System grundlegender Annahmen, eine allgemeine Perspektive, die festlegt, wie ein Gegenstand in Begriffe zu fassen und zu untersuchen ist, wie die entsprechenden Daten zu erheben und zu interpretieren sind, ja sogar wie über einen bestimmten Gegenstand zu denken ist« (Davison & Neale, 2002, S. 15). Die Autoren vergleichen ein Paradigma mit einer allgemeinen, auf den Gesetzen der Wahrnehmungspsychologie beruhenden Einstellung, be-
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stimmte Faktoren zu sehen und andere nicht. Paradigmen beeinflussen jedoch nicht nur, welche Daten registriert und gesammelt werden, sondern vor allem auch deren Interpretation. Das Wissen um die Existenz unterschiedlicher Paradigmen bedeutet nicht mehr und nicht weniger als anzuerkennen, dass es auch bei aller Beachtung der Regeln wissenschaftlichen Vorgehens eine objektive und damit allgemein gültige Wissenschaft nicht geben kann. Wie das Handeln auf der Grundlage vorgefasster Einstellungen die eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten nachhaltig beeinflussen kann, zeigt das folgende Beispiel aus dem Alltag: Fallvignette
Unser Handeln beeinflusst nachhaltig das, was wir sehen Ein kleines Mädchen kommt mit völlig verdreckten Gummistiefeln auf die Terrasse ihres Elternhauses und geht zu der ins Wohnzimmer führenden Tür. Die Mutter, in Sorge um den Teppichboden, bittet den Vater, der sich gerade in der Nähe der Türe befindet, der Tochter zu sagen, dass sie die Stiefel ausziehen solle. Der Vater öffnet die Tür, sagt aber nichts. Das Mädchen, das von all dem nichts mitbekommen hat, zieht noch auf der Terrasse von sich aus seine Gummistiefel aus und kommt in Strümpfen herein.
Was zeigt diese Episode? Zunächst belegt sie, dass das kleine Mädchen von alleine daran gedacht hat, die Stiefel auszuziehen. Vor allem aber: Mit einem Hinweis auf die verschmutzen Stiefel hätte der Vater sich selbst daran gehindert, die Selbstständigkeit des Kindes überhaupt zu bemerken.
Selbstorganisation in den modernen Naturwissenschaften Phänomene der Selbstorganisation wurden zuerst und vor allem in denjenigen Disziplinen der Naturwissenschaften aufgegriffen und beschrieben, die sich mit lebenden Organismen befassen, wie der Biologie. So zitiert der Physiologe Cannon (1932, S. 21) in seinem Buch mit dem programmatischen Titel »The Wisdom of the Body« u. a. den belgischen Physiologen Léon Frédéricq, der bereits 1885 das Lebe-
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
wesen als eine Instanz beschrieb, die alle störenden Einflüsse aus sich selbst heraus (Hervorhebung durch d. Verf.) mit kompensierenden Aktivitäten beantworte, welche die jeweilige Störung neutralisieren bzw. beseitigen. Je höher der Entwicklungsstand eines Organismus in der Rangreihe der Lebewesen sei, desto zahlreicher, perfekter und komplexer würden diese Instanzen. Sie befreiten den Organismus von den für ihn ungünstigen Einflüssen und Veränderungen der Umwelt. Cannon selbst betont die Stabilität von Organismen, die als offene Systeme in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Den Verschleiß, der mit ihrer Aktivität verbunden ist, würden sie ständig durch Reparaturprozesse im Austausch mit der Umwelt wieder aufbauen: Lebewesen seien in der Lage, ihre eigene Beständigkeit selbst aufrecht zu erhalten.
Das Prinzip Äquifinalität Dass sich Organismen nicht nur selbst erhalten, sondern auch gemäß den ihnen eigenen Regeln (weiter)entwickeln, zeigt der seinerzeit und auch später noch Aufsehen erregende Versuch von Driesch. Er trennte nach der ersten Teilung eines befruchtetes Seeigeleis die beiden Zellen voneinander und verfolgte das weitere Geschehen. Gemäß dem damaligen (und auch heute nicht selten anzutreffenden) Weltbild müssten entweder beide Zellen zugrunde gehen, es könnten zwei halbe Seeigel entstehen oder sonst irgend etwas. Was sich jedoch überraschender Weise herausstellte, war, dass sich zwei komplette Seeigel-Exemplare bildeten (Driesch, 1891). Das Bemerkenswerte an diesem Versuch ist, dass der Entwicklungsprozess nicht nur weiterging, sondern sich auch durch den Eingriff von außen in seiner spezifischen Bahn nicht ablenken ließ, ganz im Widerspruch zu den traditionellen und damals noch als für derartige Prozesse gültig angesehenen physikalischen Theorien. ! Entwicklungsprozesse können auch bei äußeren Störeinflüssen zu ihrem ursprünglichen Ziel finden.
Aber nicht nur bei der embryonalen Entwicklung primitiver Organismen wie Seeigeln konnten derartige Phänomene beobachtet werden, sondern ebenso bei hochentwickelten und differenzierten. Aus der Vielzahl von Beispielen sei eines herausgegriffen:
Bei zwei Stichproben junger Ratten wurde für die Experimentalgruppe die Gewichtszunahme ab dem 50. Lebenstag durch induzierten Vitaminmangel gestoppt, während die Kontrollgruppe weiterhin normal gefüttert wurde und dementsprechend an Gewicht zunahm. Nach einiger Zeit, als die Tiere der Kontrollgruppe im Vergleich zur Experimentalgruppe etwa das doppelte Gewicht erreicht hatten, wurden beide wieder gleich normal gefüttert. In der Folge blieben die Tiere der Experimentalgruppe gegenüber den anderen nicht etwa kleiner und leichter. Vielmehr beschleunigten sie ihre Gewichtszunahme, bis sie schließlich das Gewicht der Kontrollgruppe erreicht hatten, um sich danach wieder so wie die Kontrollgruppe ganz normal weiter zu entwickeln (von Bertalanffy, 1968, S. 142). In der allgemeinen Systemtheorie wird das in diesen Beispielen deutlich werdende Phänomen als »Äquifinalität« bezeichnet. Definition »Äquifinalität bedeutet, dass ein bestimmter Endzustand irgendeines lebenden Systems von unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus und auf verschiedenartigen Wegen erreicht werden kann« (Miller, 1978, S. 41; Übersetzung v. Verf.).
Das lebenden Organismen eigene Prinzip der Äquifinalität hat einschneidende Konsequenzen, nicht zuletzt auch für die Erklärung von Störungen und Symptomen des Verhaltens und Erlebens. Denn prinzipiell ist damit zu rechnen, dass ein und dasselbe Symptom, wie z. B. eine Anorexia nervosa, von verschiedenartigen Ausgangsbedingungen und auf unterschiedlichen Wegen entstehen – also verschiedenartige »Ursachen« haben – kann. Ebenso kann sich aus ähnlichen Ausgangsbedingungen eine verschiedenartige Symptomatik entwickeln, z. B. außer einer Anorexia nervosa auch eine Depression, eine Zwangsstörung usw. Wenn daher in Bezug auf Psychotherapieverfahren die Forderung erhoben wird, für spezielle Symptome jeweils eine spezifische Ätiologie sowie eine darauf aufbauende spezifische Behandlungsweise in Form eines detaillierten Manuals zu entwickeln und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, bleibt die
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Äquifinalität als Prinzip lebender Organismen unberücksichtigt, d. h. es werden Annahmen über die Natur von menschlichen Veränderungsprozessen zugrunde gelegt, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind.
Das Konzept der Autopoiese Das der biologischen Grundlagenforschung entstammendes Konzept der Autopoiese (»Selbstherstellung«) beschreibt weitere wesentliche Aspekte der Selbstorganisation lebendiger Organismen. Es ist von den Biologen Maturana und Varela entworfen worden (Maturana, 1985). Roth (1986, 1987) hat es weitergeführt und in wesentlichen Teilen präzisiert. Definition »Ein autopoietisches System ist … ein System, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält« (Roth, 1987, S. 52).
Das bedeutet, dass ein Organismus, so lange er existiert, diejenigen Bestandteile, aus denen er besteht, in einem kontinuierlichen kreisförmigen Prozess selbst herstellt und so seine eigene Existenz aufrecht erhält. Damit eng verbunden ist eine weitere Charakteristik lebender bzw. autopoietischer Systeme, die Selbstreferenzialität. Definition Selbstreferenzielle Systeme sind so organisiert, dass ihre »Zustände zyklisch interagieren, sodass jeder Zustand des Systems an der Hervorbringung des jeweils nächsten Zustandes konstitutiv beteiligt ist« (Roth, 1986, S. 157).
Dieser zyklische Prozess, bei dem jeder Zustand eines Organismus aus den jeweils vorangehenden hervorgeht, hat eine Reihe von Konsequenzen: 1. Jeder Organismus, der sich in einem bestimmten Zustand befindet, ist durch den voraufgehenden Zustand seiner selbst bestimmt und bestimmt seinerseits wiederum den jeweils auf ihn folgenden.
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2. Die Regeln, nach denen ein Organismus sich in dieser Weise fortlaufend selbst produziert, sind in ihm selbst begründet. 3. Autopoietische Systeme sind »hinsichtlich ihrer Zustände operational abgeschlossen. Sie sind zwar – zumindest teilweise – durch externe Ereignisse modulierbar oder beeinflussbar, aber nicht steuerbar. Sie definieren selbst, welche Umweltereignisse in welcher Weise auf die Erzeugung ihrer Zustandsfolgen einwirken können« (Roth, 1986, S. 157 ff.; Hervorhebung durch d. Verf.). Mit anderen Worten: Die in einem Organismus bestehende Ordnung, die sich in seinen Lebensvollzügen zeigt, wird nicht von außen bestimmt, sondern durch dessen eigene Produktionsregeln hergestellt. Von außen an ihn herangetragene Einflüsse – ob sie ihrerseits eine spezifische Ordnung darstellen oder nicht – werden jeweils so in den Organismus integriert, wie es dessen eigener Ordnung entspricht. Organismen werden zwar durch ihre Umwelt beeinflusst, doch welche Wirkung diese Einflüsse auf sie haben, wie ein Organismus auf sie reagiert, bestimmt er selbst, und zwar nach seinen eigenen Regeln. Lebende Organismen stellen sich zwar nach dem Prinzip der Selbstreferenzialität selbst her und sind »operational abgeschlossen« und reagieren auf die Gegebenheiten ihrer Umwelt nach ihren eigenen Regeln. Gleichwohl sind sie ohne diese Umwelt nicht existenzfähig. Vielmehr müssen sie bei dem Prozess der Selbstherstellung auf deren Ressourcen zurückgreifen. Außerdem müssen die Ressourcen der Umwelt und die Selbstherstellungsregeln des Organismus so aufeinander abgestimmt sein, dass sich der lebendige Organismus in allen seinen Teilen unter den gegeben Bedingungen selbst herstellen, d. h. aufrechterhalten und fortentwickeln kann. Dieser Sachverhalt wird im Konzept der Autopoiese als strukturelle Koppelung bezeichnet. Definition Strukturelle Koppelung ist »die effektive raumzeitliche Abstimmung der Zustandsveränderungen des Organismus mit den rekurrenten Zustandsveränderungen des Mediums, so lange der Organismus autopoietisch bleibt« (Maturana, 1985, S. 144).
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Fallvignette
Menschen haben ihre eigenen Wege auf äußere Einflüsse zu reagieren
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Das folgende Beispiel dafür, dass Menschen über ihre eigene Reaktion auf äußere Ereignisse selbst bestimmen, entstammt einem Versuch, der ursprünglich etwas ganz anderes beweisen sollte. Meichenbaum (1979, S. 109 ff.) wollte die Effizienz des verhaltenstherapeutischen Standardverfahrens zur Beseitigung von (spezifischen) Phobien (z. B. Schlangenphobien) von Wolpe und Lazarus (1966) durch eine Erweiterung der Intervention durch kognitive Anteile steigern. Zur Überprüfung der Wirksamkeit dieses Vorgehens wendete er sein Verfahren bei einer Patientengruppe an, und zwar mit dem folgenden Arrangement: 5 Der Therapeut präsentiert die Schlange. 5 Der Patient sagt: »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen!« 5 Der Therapeut schaltet einen elektrischen Strafreiz ein. 5 Der Patient sagt: »Ich entspanne mich, ich kann sie anfassen«. 5 Der Therapeut schaltet als Belohnung den Strafreiz aus. 5 Der Patient entspannt sich. Neben der üblichen Kontrollgruppe sowie einer Gruppe, die nach dem originalen Standardverfahren nach Wolpe und Lazarus behandelt wurde, führte Meichenbaum aus nicht näher genannten Gründen eine weitere Gruppe mit einem umgekehrten Behandlungsprogramm ein: 5 Der Therapeut präsentiert die Schlange. 5 Der Klient sagt: »Ich entspanne mich, ich kann sie anfassen«. 5 Der Therapeut schaltet einen elektrischen Strafreiz ein. 5 Der Klient sagt: »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen!«
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5 Der Therapeut schaltet den Strafreiz aus. 5 Der Klient entspannt sich. Nach den Regeln der klassischen Lerntheorie müsste bei der letzteren Gruppe eigentlich Folgendes passieren: Durch die Bestrafung der kontraphobischen und die Bekräftigung der phobischen Äußerung müsste sich die Schlangenphobie stabilisieren, wenn nicht gar verschlimmern. Tatsächlich jedoch erwies sich dieses merkwürdige »umgekehrte« Behandlungsprogramm als genau so wirksam wie das kognitiv erweitere Verfahren Meichenbaums. Und beide waren im Vergleich mit dem Standardverfahren wirksamer. Meichenbaum, über dieses unerwartete Ergebnis überrascht, fragte die Klienten des »umgekehrten« Arrangements, was während der Behandlung in ihnen vorgegangen sei. Sie berichteten, dass sie, sobald ihnen die Schlange präsentiert worden war, spontan und eigenständig Anweisungen an sich selbst produziert hätten, mit denen sie sich auf den elektrischen Schock vorbereiteten. Sie hatten damit von sich aus nicht nur eigene sondern vor allem auch noch erfolgreiche Bewältigungsmethoden entwickelt, indem sie die Bedeutung der angeblich angsterzeugenden Selbstanweisung (»Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen«) umdefinierten. Sie verstanden sie als Aufforderung an den Therapeuten, den Strom abzuschalten. Fazit: Wir haben es hier nicht nur mit einem klaren Beispiel für die Selbstorganisation von Organismen zur effizienten Bewältigung von Stresssituationen zu tun. Darüber hinaus bestimmten die Patienten nach ihren eigenen Regeln und nicht nach denen der Lerntheorie, wie sie auf die äußeren Einflüsse reagierten. Und sie reagierten nicht nur anders, sondern vor allem auch konstruktiv, d. h. im Sinne einer besseren Problembewältigung.
53 3.2 · Aktualisierungstendenz
Mit anderen Worten: Zwischen den Regeln der Selbstherstellung eines autopoietischen Systems und den Bedingungen seiner Umwelt besteht eine komplementäre Abstimmung. Das bedeutet: Lebendige Systeme müssen so beschaffen sein und ihre Prozesse so gestalten, dass sie den Prozess ihrer Selbstherstellung (Autopoiese) in ihrer jeweiligen Umwelt kontinuierlich und ohne Unterbrechung fortsetzen können. Menschen können nicht weiterleben, wenn sie in ihrer Umgebung nicht die für ihre Selbstherstellung notwendigen strukturellen Bedingungen Sauerstoff, Nahrung, Schutz, Sozialpartner usw. vorfinden. Und in dem Maße, in dem sich die Umwelt eines autopoietischen Systems – nicht zuletzt durch dessen eigene Aktivität – ändert, muss es, um zu überleben, seine eigenen Prozessregeln immer von Neuem auf die geänderten Bedingungen abstimmen. Die beiden einander scheinbar ausschließenden Prinzipien Kontinuität und Veränderung setzen sich also wechselseitig voraus. Entsprechend besitzt jedes autopoietische System, um seine Existenz zu wahren, in sich selbst das Potenzial zu seiner eigenen konstruktiven Veränderung. Die für einen bestimmten Organismus gültigen Merkmale der Strukturellen Koppelung haben sich im Verlauf seiner phylo- und ontogenetischen Evolution entwickelt und umfassen eine Vielzahl unterschiedlichster Funktionen und Mechanismen, wie sie beim Menschen im Bereich des Physischen und des Psychischen gegeben sind. Kriz (1999, S. 84 ff.) hat die Bedeutung des Autopoiesekonzepts sehr kritisch bewertet. Er macht dabei u. a. geltend: 4 Die Erklärungsfunktion des Autopoiesekonzepts sei sehr begrenzt. 4 Im Vergleich zu anderen Konzepten (z. B. der mathematisch formulierten Synergetik; 7 unten) erlaube es keine Vorhersagen, speziell auch über Veränderungsprozesse. Dieser Einwand trifft zweifellos zu. Dennoch gewähren wir diesem Konzept im Zusammenhang mit der Aktualisierungstendenz einen relativ breiten Raum. Der Grund ist: Es ist zwar unabhängig vom klientenzentriert-psychotherapeutischen Zusammenhang entwickelt worden, beschreibt aber wesentliche Merkmale dessen, was im Rahmen der Gesprächspsychotherapie mit dem Begriff der Aktualisierungs-
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tendenz erfasst werden soll. Zudem bietet es einen begrifflichen Rahmen, der es erlaubt, wesentliche Aspekte der Aktualisierungstendenz besser zu differenzieren und explizit zu benennen, nämlich 4 die Selbstherstellung des Organismus nach dessen eigenen Produktionsregeln, daraus folgend, 4 dessen operationale Abgeschlossenheit nach außen bei 4 gleichzeitig gegebener struktureller Koppelung des Organismus an seine Umgebung, als das Ergebnis und die Voraussetzung für seine phylogenetische und ontogenetische Evolution. Nicht zuletzt macht das Konzept der Autopoiese komplexe Sachverhalte vor allem auch für mathematisch nicht speziell Bewanderte relativ anschaulich.
Andere Modelle der Selbstorganisation Inzwischen existieren in der Physik, Chemie, Biologie und Medizin eine Reihe von Modellen zur Beschreibung und vor allem Erklärung von Selbstorganisationsprozessen, die teilweise ebenfalls mit Nobelpreisen bedacht worden sind. In erster Linie sind zu nennen 4 die Theorie dissipativer Strukturen von Prigogine (Nicolis & Prigogine, 1987; Prigogine & Stengers, 1980), 4 das Konzept der Hyperzyklen von Manfred Eigen (Küppers, 1986) und 4 das interdisziplinäre Modell der Synergetik (Haken, 1981). Näheres hierzu findet sich bei Kriz (1999). In diesen unterschiedlichen Modellen, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen, zeigt sich übereinstimmend, dass es in den modernen Naturwissenschaften längst keine Frage mehr ist, ob sich in Systemen spontan per Selbstorganisation spezifische Ordnungsmuster bilden können. Vielmehr hat sich die Forschung inzwischen auf breiter Front daran gemacht zu erforschen, wie Selbstorganisation funktioniert. Zum Teil konkurrieren die verschiedenen Erklärungsmodelle miteinander, zum Teil beziehen sie sich auf unterschiedliche Arten von sich selbst organisierenden Systemen. Fasst man sie zusammen, so stellen sich bestimmte Charakteristika dieser Systeme heraus:
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
4 Sie lassen sich in der belebten wie in der unbelebten Natur beobachten. 4 Es handelt sich um Systeme, die aus einer Vielzahl von Einzelelementen bestehen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. 4 Die Analyse des Zusammenwirkens der Elemente dieser Systeme erfolgt, soll sie erfolgreich sein, nicht von den Elementen aus hin zum Gesamtsystem, also »von unten nach oben«, sondern umgekehrt, von »oben nach unten«, ausgehend von der Gesamtdynamik des Systems in der Interaktion mit seiner Umgebung. 4 Auf der Ebene des Gesamtsystems treten Phänomene auf, die sich von denen auf der Ebene der Elemente grundlegend unterscheiden. 4 Die in diesen Systemen vorfindbaren Ordnungsmuster werden nicht von außen vorgegeben, sondern entwickeln sich aus dem Zusammenspiel der Einzelelemente unter den gegebenen Randbedingungen selbst. 4 Konstituierend für diese Systeme sind iterative Prozesse, d. h. aufeinanderfolgende Operationen von Operationen von Operationen usw.
Ganz im Sinne des einleitenden Zitats von Piaget bezeichnete Rogers (1951/1973b) die Aktualisierungstendenz als grundlegendes Merkmal allen organischen Lebens, und zwar als dessen »Neigung zur totalen, organisierten, zielgerichteten Reaktion« (a. a. O., S. 421), sowohl was die physiologischen als auch was die psychischen Reaktionen betrifft. Wie bereits betont, hat die Aktualisierungstendenz im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes die Bedeutung eines Axioms und einer Arbeitshypothese. Ihre Annahme stützt sich auf die Ergebnisse Klientenzentrierter Psychotherapie ebenso wie auf die Beobachtung von Phänomenen des Lebens. Das bedeutet aber nicht, dass ihr die Funktion einer Erklärung zukommen könnte, denn dies wäre ganz wie im Vitalismus (s. oben) ein Zirkelschluss (die Annahme, dass die Aktualisierungstendenz den Lebensvorgängen zugrunde liegt und anschließend diese mittels der Aktualisierungstendenz zu erklären). Sinnvoll und wünschenswert hingegen wäre es, sie als übergreifendes Prinzip in spezifische Einzelhypothesen über funktionale Wirkzusammenhänge aufzulösen und diese empirisch zu überprüfen.
Ist die Aktualisierungstendenz ein Motiv? 3.2.4
Konsequenzen für das Verständnis der Aktualisierungstendenz
»Das Leben ist je tatsächlich eine fortwährende Neuschöpfung von immer komplexeren Formen und die Verwirklichung eines stets besseren Gleichgewichts zwischen diesen Formen und der Umwelt.« (Piaget, 1936/69, S. 14)
Die Aktualisierungstendenz als allgemeines Lebensprinzip Es ist wohl genügend deutlich geworden, dass die Selbstorganisation von lebenden Organismen, wie sie mit der Aktualisierungstendenz in dem der Gesprächspsychotherapie zugrunde liegenden Klientenzentrierten Konzept postuliert wird, in weiten Bereichen der empirisch orientierten Wissenschaft nicht in Frage gestellt wird. Vielmehr ist sie Gegenstand intensiver und umfangreicher Forschungsbemühungen (u. a. die Reihe »Springer Series in Synergetics«).
Rogers (1951/1973b) hat die Aktualisierungstendenz als Motiv bezeichnet und von einer Richtungstendenz gesprochen. Damit folgte er den seinerzeit geläufigen Metaphern und wohl auch der Diktion Goldsteins, auf den der Begriff zurückgeht und der bei der entsprechenden Kapitelüberschrift explizit von »only one drive« (Goldstein, 1939, S. 197) gesprochen hat. Die Bedeutung des Begriffs »Motiv« ist in der Allgemeinen Psychologie jedoch bereits anderweitig belegt, und das kann zu Missverständnissen führen. Definition Ein Motiv ist ein Konstrukt zur Erklärung des Einsetzens, der Intensität und des Andauerns spezifischer Verhaltensweisen und impliziert deren spezifische Gerichtetheit und Selektivität. Motive sind verbunden mit Zielvorstellungen von dem zu Erreichenden.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Weshalb setzt sich ein Student an einem Samstagnachmittag hin
55 3.2 · Aktualisierungstendenz
und schreibt an seiner Diplomarbeit? (Einsetzen des spezifischen Verhaltens). Er arbeitet konzentriert (Intensität des Verhaltens) und folgt einer Kommilitonin nicht, die vorbeikommt und ihn fragt, ob er Lust hat, mit ins Kino zu gehen (Andauern des Verhaltens). Bei all dem hat er entsprechende Zielvorstellungen (»Ich will dieses Kapitel heute zumindest im Entwurf fertig haben« oder »Ich möchte die Arbeit endlich fertig und gebunden vor mir sehen«). Solche spezifischen, umschriebenen Verhaltensweisen und Zielvorstellungen gibt es im Hinblick auf die Aktualisierungstendenz nicht. ! Die Aktualisierungstendenz ist kein Motiv, sondern ein übergeordnetes und zusammenfassendes Prinzip der menschlichen Motivation und Verhaltensorganisation in ihrer Gesamtheit.
Dieser Auffassung hat Rogers später auch entsprochen, wenn er die Aktualisierungstendenz als »Substrat aller menschlichen Motivation« (Rogers, 1977/ 1978, S. 270) bezeichnete, in welchem alle organischen Funktionen und psychischen Bedürfnisse als dessen Teilaspekte zusammengefasst seien. Er hat ihr damit die zusammenfassende Bedeutung eines übergeordneten Prinzips der menschlichen Verhaltensorganisation gegeben. Diese Sichtweise entspricht auch der neueren Biologie, insbesondere der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Ihr zu Folge ist das gesamte Verhalten eines Organismus in einer Vielzahl von Verhaltenssystemen organisiert, die untereinander koordiniert und integriert sind und so den übergeordneten Zweck von dessen Erhaltung und Weiterentwicklung erfüllen. In diesem Gesamt und durch ihr Zusammenwirken erhalten die einzelnen Motive als dessen Teilkomponenten erst ihren übergeordneten Sinn.
Entwicklungsaufgaben als thematische Kristallisationspunkte der Aktualisierungstendenz In der Entwicklungspsychologie werden unter dem Begriff Entwicklungsaufgaben Prozesse der Selbstorganisation behandelt, die als für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsame Manifestationen der Aktualisierungstendenz anzusehen sind.
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Definition Entwicklungsaufgaben sind Themen, die »das Verhalten einer Person mehr oder weniger unbewusst in einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens« beherrschen (Havighurst, 1963, S. 28).
Es sind Aufgaben, deren Bewältigung zu bestimmten Zeiten des Lebenslaufs ansteht, sei es aufgrund äußerer Anforderungen, sei es, dass ihnen »intrinsische Entwicklungsmotive« (Grossmann, 1989), also im Organismus selbst vorhandene Motive zugrunde liegen. Die dazu notwendigen Anpassungen und damit die Bewältigung dieser Aufgaben kann mehr oder weniger gut gelingen bzw. misslingen. Sie erfolgt aber stets in irgendeiner Form, die für die betreffende Person charakteristisch ist. In diesem Sinne integrierte Thomae (1988, S. 55) dieses Konzept in seine Persönlichkeitstheorie. Die mit Entwicklungsaufgaben verbundene thematische Strukturierung des Erlebens zeigt sich insbesondere in Form von bestimmten Wünschen, Hoffnungen, Befürchtungen, Anstrengungen und Konflikten. Nach einer Erhebung dieser Grundthemen an 20.000 Menschen aus 13 Ländern (Cantril, 1965, zitiert nach Thomae, 1988) steht der Häufigkeit nach die Thematik des Überlebens an der Spitze. Es folgt die Thematik »Sicherung des Erreichten«, danach »Streben nach Ordnung und Gewissheit im eigenen Leben«, »Streben nach Erweiterung der Erfahrungen und des Genusses« bis hin zum Wunsch, »die eigene Identität und Integrität erleben zu können und zum Streben, das Gefühl des eigenen Wertes bewahren zu können« (Thomae, 1988, S. 57). Bemerkenswert an dieser Liste ist, dass sich in ihr Erhaltung und Entfaltung, die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz wiederfinden, so wie sie in der Definition von Rogers (7 Kap. 3.2.1) enthalten sind. Für die Gesprächspsychotherapie ist dieser Ansatz aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen ist das Gelingen bzw. Misslingen der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben mit einem geringeren bzw. größeren Risiko psychischer Erkrankungen verbunden. Zum anderen kommt der Psychotherapie im Falle solcher Erkrankung die Aufgabe zu – und genau dies entspricht den Zielen der Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 7) – dem Patienten die Mög-
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
lichkeit zu geben und ihn dabei zu unterstützen, nicht nur misslungene Bewältigungen von Entwicklungsaufgaben zu korrigieren, sondern außerdem seine Fähigkeiten zur Bewältigung der künftigen zu verbessern und ihn so gegen weitere Störungen zu immunisieren. ! Fazit 4 Die Aktualisierungstendenz hat die Funktion eines Axioms. 4 Inhaltlich stellt sie kein »Motiv« dar, sondern ein übergeordnetes, zusammenfassendes Prinzip menschlicher Motivation und Verhaltensorganisation. 4 Sie ist keine Erklärung im Sinne einer Theorie, sondern vielmehr eine Perspektive, die 5 durch die Beobachtung und Beschreibung lebendiger Organismen nahegelegt wird und 5 als leitendes Prinzip bei der Entwicklung von Theorien fungiert, mit denen sowohl therapeutische Veränderungen als auch Lebensprozesse allgemein, insbesondere Entwicklungsprozesse zu erklären sind. 4 Sie ist insbesondere in der Gesprächspsychotherapie eine zentrale Arbeitshypothese, die das therapeutische Handeln leitet. 4 Sie trennt sich in die beiden Unteraspekte der Entfaltung und der Erhaltung, die begrifflich strikt voneinander zu unterscheiden sind und denen unterschiedliche Funktionen zukommen. 4 Der Begriff der Aktualisierungstendenz impliziert die Verschränkung aller Lebensprozesse eines Organismus mit seiner Umwelt, an die er sich im Laufe der Phylo- und Ontogenese angepasst hat. 4 Bei der Entwicklung des Menschen thematisiert sich die Aktualisierungstendenz u. a. in Entwicklungsaufgaben, die teils durch die Umwelt, teils aufgrund intrinsischer Entwicklungsmotive auf ihn zukommen und die von ihm mehr oder weniger gut bewältigt werden.
3.2.5
Aktualisierungstendenz und therapeutisches Handeln
Die Aktualisierungstendenz ist das zentrale handlungsleitende Axiom der Gesprächspsychotherapie, die als unter günstigen Bedingungen geförderte Entwicklung der Person anzusehen ist. Wer nach diesem Prinzip therapeutisch arbeitet, geht nicht davon aus, dass er die Veränderungen beim Patienten hervorbringt, sondern dass diese das Ergebnis eigenständiger Entwicklungsprozesse im Patienten sind. Allerdings kommt dem Therapeuten im Sinne der strukturellen Koppelung zwischen Organismus und Umwelt, wie sie im Konzept der Autopoiese (7 oben) vorausgesetzt wird, eine für die Entwicklung der Person des Patienten bedeutsame Funktion zu. Er hat die Aufgabe, diejenigen Bedingungen zu fördern, unter denen die erweiternden Anteile der Aktualisierungstendenz wirksam werden können, d. h. solche, unter denen der Patient Sicherheit und Schutz erfährt und sich frei von Bedrohung fühlen und entwickeln kann. Welche das sind, bestimmt wiederum nicht der Therapeut oder sein theoretisches Konzept, sondern hängt ab von der spezifischen Eigenart des Patienten (Näheres hierzu 7 Kap. 6). Indem sich der Gesprächspsychotherapeut darauf beschränkt, die für eine konstruktive Entwicklung des Patienten erforderlichen Bedingungen bereitzustellen, verschafft er sowohl dem Patienten als auch sich selber die Gelegenheit, dessen Entwicklungspotenzial überhaupt erfahren zu können. Verfolgt der Therapeut hingegen direktiv einen eigenen Lösungsplan, gibt es zwei Möglichkeiten: 4 Er hindert den Patienten und sich selbst daran zu erkennen, dass dieser seine eigenen und für ihn optimalen Entwicklungswege zu finden und zu gehen in der Lage ist, und 4 er hält die Entwicklungen, die der Patient aus sich selbst heraus genommen hat, für den Effekt seiner eigenen therapeutischen Interventionen. Direktives Handeln entspringt oft dem Wunsch nach Wirksamkeit. Deshalb sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Direktivität des Therapeuten negativ mit dem Therapieerfolg korreliert (Schindler, 1991; Schulte, 1992). Für viele Therapeuten ist es ein ernsthaftes Problem, während einer Therapie das eigene Bedürfnis
57 3.2 · Aktualisierungstendenz
nach Kontrolle zugunsten der Aktualisierungstendenz des Patienten zurückzustellen. Das kann sich hinter einer »Sorge um den Patienten« verbergen. Beispiel: Ein Patient überfordert sich durch sein übergroßes Perfektionsbedürfnis in seiner Leistungsfähigkeit. Wiederholte Erschöpfungszustände sind die Folge. Der Therapeut sorgt sich um ihn und versucht (allerdings vergeblich) wiederholt ihn zu überreden, doch etwas kürzer zu treten. Vielen Menschen – also auch Therapeuten – fällt es bei Verhaltensweisen von Patienten, die ihnen schädlich erscheinen, schwer, nichts dagegen zu unternehmen. Die Vorgehensweise von Gesprächspsychotherapeuten, die sich einem solchen Verhalten und Erleben akzeptierend und verstehend zuwenden, erscheint ihnen geradezu schädlich, denn sie könnte ja den Patienten darin bestärken und damit alles nur noch schlimmer machen. Tatsächlich ist es jedoch so, dass 1. jeder Patient bedeutsame Gründe hat, sich eben auf seine Weise zu verhalten, die wir allerdings in der Regel ebenso wie er (noch) nicht kennen, 2. ihm die akzeptierende Zuwendung des Therapeuten die Möglichkeit verschafft, sich mit diesen Gründen bzw. mit den damit verbundenen Kognitionen, Emotionen, Befürchtungen und Wünschen auseinander zu setzen, 3. die Aktualisierungstendenz, sofern die Bedingungen hinreichend günstig sind und der Therapeut genügend Geduld aufbringt, eine Entwicklung des Organismus in die Richtung eines optimalen Funktionierens lenkt, sodass er ungerechtfertigte Dauerüberlastungen vermeidet, und 4. durch diese Art des Vorgehens sich dem Gesprächspsychotherapeuten eine beeindruckende Vielfalt menschlichen Verhaltens und Erlebens erschließt, die seine therapeutische Kompetenz maßgeblich erweitert. Gesprächspsychotherapeuten, wenn sie bei sich Impulse zum direktiv-steuernden Eingreifen bemerken, tun gut daran, sich (ggf. in der Supervision) zu fragen: 1. Inwieweit spiegeln sich in meinem Impuls direktiv einzugreifen meine eigenen Bedürfnisse, Befürchtungen usw. wider? (Fürchte ich, die Dinge könnten einen anderen Weg nehmen, als ich
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für gut halte? Geht die Therapie für mich nicht schnell genug voran? Bin ich als Therapeut evtl. nicht kompetent genug? Möchte ich, dass der Patient mit mir besonders zufrieden ist? usw.). 2. Habe ich vielleicht selber ein ähnliches, unzureichend bewältigtes Problem wie der Patient? 3. Inwieweit werde ich dem Patienten in seiner spezifischen Eigenart des Verhaltens und Erlebens gerecht? 4. Inwieweit ist der Patient überhaupt beeinflussbar oder ist nicht ohnehin zu erwarten, dass er sich gegen meine Vorschläge wehrt oder sie zumindest »vergisst«? Für Gesprächspsychotherapeuten geht es in solchen Fällen weniger darum, konzeptgetreu zu arbeiten, sondern vor allem um das Vermeiden unnötiger therapeutischer Umwege, die den Patienten lediglich daran hindern, seinen eigenen Weg zu finden. Auch dann, wenn es offensichtlich notwendig ist, direktiv und strukturierend einzugreifen, z. B. bei einem akut suizidalen Patienten, bleibt es die Aufgabe des Therapeuten, zu verstehen, welche Bedeutung dieses Verhalten des Patienten für ihn selbst und für die therapeutische Beziehung hat (7 Kap. 9). ? Übungsfragen 5 Inwiefern hat die Aktualisierungstendenz als handlungsleitendes Axiom der Gesprächspsychotherapie keine erklärende Funktion? 5 Welche Bedeutung haben die beiden Aspekte »Erhaltung« und »Entfaltung«? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? 5 Welche Rolle spielen die Aspekte »Erhaltung« und »Entfaltung« bei der Entstehung und der Therapie von Störungen bzw. Symptomen im Bereich des Verhaltens und Erlebens? 5 Inwiefern können Menschen – wie andere lebende Organismen auch – nicht durch äußere Einflüsse determiniert, d. h. in ihrem Verhalten und Erleben bestimmt werden? 5 Worin besteht das Prinzip der Äquifinalität? 5 Was bedeuten die Begriffe »Selbstreferenzialität« und »strukturelle Koppelung« im Konzept der Autopoiese? 5 Weshalb kann man bei der Aktualisierungstendenz nicht im strengen Sinne von einem Motiv sprechen?
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
3.3
Die Repräsentation der Welt in der Person
3.3.1
Erfahrung
Bedeutung im Klientenzentrierten Konzept
3
Im Kapitel über die Aktualisierungstendenz ging es um das übergeordnete Prinzip der Motivation von Organismen, nämlich sich zu erhalten und zu entfalten. In diesem Kapitel geht es darum, dass der Organismus, um in der Welt, in der er lebt, handlungsfähig zu sein, über ein Monitorsystem verfügen muss, das ihm die Beschaffenheit der Welt übermittelt und ihm so die Orientierung ermöglicht. Ein solches Monitorsystem eines Organismus besteht aus: 4 Sensoren, die ihm die notwendigen Informationen über seine äußere und innere Welt vermitteln (Sinnesorgane), 4 der Fähigkeit, diese Informationen mit Erinnerungen an frühere Erlebnisse zu verbinden (Gedächtnis), 4 der Fähigkeit, die Informationen und die Erinnerungen in Kategorien einzuordnen (kognitive Verarbeitung), 4 einem bewertenden System, das die eingehenden Informationen mit seinen aktuellen Bedürfnissen in Beziehung setzt und so ihre Bedeutung abschätzt, 4 beim Menschen zusätzlich aus der Fähigkeit zur bewussten Repräsentation der Welt und seiner selbst. Eine wesentliche Funktion der Fähigkeit zur bewussten Repräsentation für die Effizienz des Organismus ist die Fähigkeit zum inneren Probehandeln. In den folgenden Kapiteln sollen die Vorstellungen des Klientenzentrierten Konzepts über die verschiedenen Ebenen dieses Monitorsystems dargestellt und mit Ergebnissen der psychologischen Grundlagenforschung in Verbindung gebracht werden. Weiterhin soll gezeigt werden, wie und warum Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Repräsentationsebenen die Funktionsfähigkeit des Organismus beeinträchtigen und den Hintergrund für psychische Erkrankungen darstellen. 4
In den Anwendungsbereichen der Psychologie, die sich mit dem Verhalten und Erleben von Menschen in ihrem Alltag befassen, ist den Diskutierenden oft selbst nicht genügend gegenwärtig, ob sie nun die wissenschaftliche oder die Alltagssprache benutzen.
Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter »Erfahrungen« Erlebnisse aus der Vergangenheit, die der Erinnerung zur Verfügung stehen und geeignet sind, das aktuelle Verhalten und Erleben einer Person maßgeblich zu beeinflussen (vgl. die Redensart von »gemachten Erfahrungen« aus denen wir »Lehren gezogen haben«, oder »Meiner Erfahrung nach ist …«). Auch in der Psychologie wird dieser Begriff meistens in ähnlichem Sinne benutzt. Im Klientenzentrierten Konzept hat er jedoch eine grundsätzlich andere Bedeutung. Definition Erfahrung (»experience«) ist alles »was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potenziell der Gewahrwerdung zugänglich ist. Er schließt Ereignisse ein, deren sich das Individuum nicht gewahr ist, ebenso wie die Phänomene, die im Bewusstsein (»consciousness«) sind« (Rogers, 1959b/1987, S. 23).
Der wichtigste Unterschied zum alltäglichen Sprachgebrauch ist, dass sich »Erfahrung« im Klientenzentrierten Konzept nicht auf die Vergangenheit bezieht, sondern ausschließlich auf einen jeweils gegenwärtigen Prozess. Eine Erfahrung im hier definierten Sinne ist also nicht der Inhalt irgend eines »Speichers«, keine »Gedächtnisspur«, sondern ein durch einen spezifischen Inhalt charakterisierter gegenwärtiger Moment im Prozess des Erfahrens. ! Erfahrung im klientenzentrierten Sinne bezieht sich nicht auf ein Ereignis in der Vergangenheit, sondern vollzieht sich in der Gegenwart. Sie ist deshalb kein fester Bezugspunkt in der Erinnerung, sondern ein kontinuierlicher, sich ständig verändernder Prozess.
Unterschiede in dem, was z. B. unter Erfahrung verstanden wird, führen nicht selten zu Missverständnissen. Es ist deshalb zweckmäßig im Diskurs jeweils zu kennzeichnen, welcher Begriff von »Erfahrung« gerade gemeint ist4.
59 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Erfahrung im Klientenzentrierten Konzept ist die unmittelbare und kontinuierliche Verbindung eines Organismus mit seiner Welt. Rogers hat das so formuliert: »Jedes Individuum existiert in einer sich ständig ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt es ist« (Rogers, 1951/1973b, S. 418). Zum Bereich der Erfahrung gehört nach dieser Definition alles, was in einem gegebenen Augenblick dem Bewusstsein prinzipiell zugänglich sein kann, gleichgültig, ob es gerade bewusst ist, sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befindet, oder nicht. Erfahrung ist die Gesamtheit aller Reaktionen der Sinnesfunktionen auf die Einflüsse der Außenwelt (visuelle Eindrücke, Geräusche, Tastempfindungen usw.) ebenso die auf die Vorgänge im Organismus selbst (Muskelspannungen, Schmerzen an bestimmten Organen, Hunger, Durst, Herzschlag usw.). Nicht zur Erfahrung gehört, was sich zwar im Organismus abspielt, aber wegen der sensorischen Ausstattung des Menschen grundsätzlich nicht bewusst werden kann. Das sind beispielsweise die Prozesse der Zellteilung, Veränderungen des Blutzuckerspiegels, die elektrischen Potenziale der Nervenzellen usw. In Bezug auf die Funktion der Erfahrung schreibt Rogers: »Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum ›Realität‹ « (Rogers, 1951/1973b, S. 419). Eigentlich ist das eine allseits bekannte Tatsache. Sie wird allerdings immer wieder übersehen, z. B. wenn jemand versucht, einen anderen Menschen dazu zu bringen, zu sehen, wie die Dinge »wirklich« sind. Mit unserem Verhalten und Erleben reagieren wir alle nicht auf die »objektive« Welt, sondern darauf, wie wir sie wahrnehmen, d. h. wie sie in unserem Organismus repräsentiert wird. Und die Art und Weise, wie sie repräsentiert wird, hängt ab von unserem bisherigen Leben bzw. dem Ergebnis der bisherigen strukturellen Koppelung (7 Kap. 3.2.3) zwischen unserem Organismus und seiner Umwelt, so, wie sie sich in unserer philo- und ontogenetischen Entwicklung ergeben hat. Und weil niemand einen direkten Zugang zum Erleben eines anderen Menschen hat, ist es das Individuum allein, das um seine Erfahrungen wissen kann.
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! Erfahrung im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird, gleichgültig ob sie bewusst oder unbewusst ist. Erfahrungen sind für das Individuum Realität, bestimmen sein Verhalten und Erleben und sind nur ihm selbst zugänglich.
Unbewusste Prozesse im Klientenzentrierten Konzept und in der psychologischen Grundlagenforschung Wie schon erwähnt wurde, ist im Klientenzentrierten Konzept mit dem Begriff »Erfahrung« die Vorstellung von der Existenz unbewusster psychischer Prozesse verbunden. Vor allem durch Freud und die Psychoanalyse ist »das Unbewusste« in den allgemeinen Sprachgebrauch und das alltägliche Denken gelangt. Aber schon lange zuvor hatten u. a. Arthur Schopenhauer (1788–1860), Sören Kierkegaard (1813–1855) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) über unbewusste Vorgänge nachgedacht und geschrieben. Gleichwohl sind es die Vorstellungen der Psychoanalyse, die das allgemeine Verständnis des »Unbewussten« nachhaltig geprägt haben. Danach ist das Unbewusste eine seelische Instanz, die vor allem verdrängte Vorstellungen enthält. Für Rogers war hingegen »unbewusst« nicht mehr und nicht weniger als eine Qualität psychischer Prozesse. Er berief sich auf McCleary und Lazarus (1949), die im Rahmen der experimentellen psychologischen Grundlagenforschung belegen konnten, dass Versuchspersonen auch dann Stimuli unterscheiden konnten, wenn sie nicht in der Lage waren, sie bewusst wahrzunehmen. Rogers übernahm diese Ergebnisse und postulierte, dass aufgrund dieser Fähigkeit zur unterschwelligen Wahrnehmung (»subception«) Individuen eine Erfahrung auch dann als bedrohlich beurteilen können, wenn sie diese Bedrohung nicht bewusst wahrgenommen haben (Rogers, 1959b/1987, S. 25 ff.). ! Das »Unbewusste« im Klientenzentrierten Konzept besteht nicht aus verdrängten Inhalten oder Vorstellungen, sondern ist eine Qualität allgemeiner, für die Existenz des Organismus erforderlicher psychischer Prozesse.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Inzwischen hat sich die Forschung zur unterschwelligen Wahrnehmung (die auch unter den Stichwörtern unbewusste oder implizite Wahrnehmung abgehandelt wird) zu einem eigenen Bereich der Kognitionspsychologie entwickelt (Emrich, 1983; Hentschel, Smith & Draguns, 1986; Lewicki, Hill & Czyzewska, 1992; Perrig, 1996; Perrig, Wippich & Perrig-Chiello, 1993). Zusammengefasst ist das Ergebnis dieser Forschung, »dass mitteilbares oder explizites Wissen und bewusstes Wahrnehmen und Erkennen nur einen Bestandteil des Geschehens ausmacht, welches unserem Urteilen, Entscheiden, Planen und Verhalten zugrunde liegt, und dass diesem bewussten Erkennen Prozesse vorausgehen oder folgen, die introspektiv nicht erfassbar sind« (Perrig et al., 1993, S. 25). Es handelt sich also um Prozesse, denen die zusätzliche Komponente des Bewusstseins fehlt, die aber im Verhalten und Erleben dennoch wirksam sind. Perrig et al. (1993) berichten über eine Vielzahl durchdachter Demonstrationen und experimenteller Arrangements und kommen zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass »es heute nicht mehr nur um den Nachweis unbewusster Phänomene (geht), sondern um die Erklärung von Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Lernleistungen unter der Berücksichtigung bewusster und unbewusster Kognitionen« (a. a. O., S. 74). Unbewusste Vorgänge sind damit nichts Besonderes, sondern selbstverständliche Begleiter unseres Funktionierens. Nachweis unbewusster psychischer Prozesse. Im Rahmen der Kognitionspsychologie konnten unbewusste Prozesse beim Menschen nachgewiesen werden, vor allem für 4 Den Einfluss von Ereignissen, die das Verhalten beeinflussen, ohne dass sie bewusst wahrgenommen wurden bzw. werden konnten (unterschwellige Wahrnehmung) 4 Konzeptlernen durch den Erwerb von implizitem Wissen über Merkmalshäufigkeiten und Merkmalskombinationen (Begriffsbildung) 4 Das Erlernen und erfolgreiche Anwenden von komplexen Invarianzen und Regelhaftigkeiten unserer Umwelt, ohne dass wir ihrer beim Erlernen gewahr werden oder Einsicht in diese Regeln haben 4 Das Lösen von Problemen
4 Den Aufbau von Personenbewertungen und einer effizienten sozialen Verarbeitungs- und Handlungskompetenz (auch wenn sie sich im Endeffekt als irrig herausstellt) (vgl. Perrig, 1996; Perrig et al., 1993) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die lebenswichtigen Funktionen der Orientierung und der Handlungssteuerung unbewusst ablaufen können. »Unbewusst« ist keine abgegrenzte Instanz, sondern eine universelle Qualität psychischer Abläufe. Prinz (1996) spricht in ähnlichem Zusammenhang von der Realisierung verborgener kognitiver Prozesse durch das Gehirn.
Die Bewertung der Erfahrung Das Klientenzentrierte Konzept geht davon aus, dass Erfahrungen – unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst sind – vom Organismus bewertet werden. Der Maßgabe der Aktualisierungstendenz folgend, richtet sich diese Bewertung von Erfahrungen nach deren Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Entfaltung des Organismus. Erfahrungen, die diese beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen, lösen z. B. Angst aus und die Tendenz, sie bzw. die zugehörigen Situationen zu meiden. Erfahrungen, die für die Erhaltung und Entfaltung des Organismus förderlich sind, bedeuten hingegen z. B. Befriedigung und werden angestrebt. Im Klientenzentrierten Konzept wird dies als »organismische Bewertung« bezeichnet. Die Bewertung ist ein kontinuierlich ablaufender Prozess, dessen Ergebnis mit dem jeweiligen Zustand des Organismus variiert: Bei Hunger können wir auf eine bestimmte Speise Appetit haben, wenn wir gesättigt sind, mag sie uns sogar zuwider sein. Oder: In Gesellschaft lebhafter Menschen können wir uns wohl fühlen, sie können uns aber auch erheblich stören, z. B. wenn wir müde sind. Bewertungsprozesse und ihr Ergebnis können dem Bewusstsein zugänglich sein, erfolgen aber meistens ohne seine Beteiligung. In jedem Falle spielen in den Bewertungsprozessen Affekte eine herausragende Rolle. ! Erfahrungen werden auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz im Hinblick auf ihre Bedeutung
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61 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
fahrungen mehr oder weniger genau übereinstimmen. Erfahrungen können 5 Exakt symbolisiert sein, wenn sie vollständig und genau im bewussten Erleben abgebildet werden (Beispiel: Ein heftig verliebter junger Mann möchte seiner Freundin, die er erst seit kurzem kennt, zum Geburtstag etwas bestimmtes schenken und erfährt, wenn er sich fragt, ob sie sich wohl darüber freuen wird, eine Mischung aus gespannter Vorfreunde und Unsicherheit, die ihm beide klar und deutlich bewusst sind.) 5 Unvollständig symbolisiert sein, wenn nur ein Teil der bedeutsamen Erfahrungen im Bewusstsein repräsentiert wird (Z. B. erinnert sich ein Mann daran, wie er als Kind nachts bei einem heftigen Gewitter aus seinem Kinderzimmer ins Elternschlafzimmer hinübergegangen ist und sich dort auf den Teppich gelegt hat, ohne dass er sich an irgend ein Gefühl erinnern kann, das er dabei hatte.) 5 Verzerrt symbolisiert sein, wenn eine Erfahrung in entstellter Form symbolisiert wird, d. h. so, dass ihr ursprünglicher Inhalt dermaßen verfälscht wird, dass er nicht mehr wiederzuerkennen ist (Ein nicht seltenes Beispiel dafür ist, wenn Frauen, die sich in einer chronisch einengenden Lebenssituation befinden, ihre Wut als Niedergeschlagenheit und Depression erleben.) 5 Von der Symbolisierung ausgeschlossen und damit dem Bewusstsein unzugänglich sein (wenn z. B. eine Person in einer peinlichen Situation rot wird, gleichzeitig aber überzeugt ist, völlig unberührt geblieben zu sein).
für die Erhaltung und/oder Entfaltung des Organismus bewertet. Diese vor allem affektive Bewertung geschieht meistens unbewusst.
3.3.2
Symbolisierung
Zur Bedeutung des Begriffs im Klientenzentrierten Konzept Rogers hat den Begriff »Symbolisierung« (»symbolization«) mit den Begriffen »Gewahrwerden« (»awareness«) und »Bewusstsein« (»consciousness«) synonym verwendet (Rogers, 1959b/1987). Definition Bewusstsein (oder Gewahrwerden) ist »die Symbolisierung irgendeines Teils unserer Erfahrung. Bewusstsein wird somit als die symbolische Repräsentation (nicht notwendigerweise mit verbalen Symbolen) eines Bereichs unserer Erfahrung gesehen. Diese Repräsentation kann unterschiedliche Grade an Schärfe oder Lebhaftigkeit aufweisen, von einem undeutlichen Gewahrwerden von etwas, was als Hintergrund existiert, bis hin zu dem scharfen Gewahrwerden von etwas, was als Figur im Mittelpunkt steht« (Rogers, 1959b/1987, S. 198; Übersetzung v. Verf.).
Dass eine Symbolisierung nicht notwendigerweise verbal ist, bedeutet, dass sie auch andere Formen von Bewusstseinserscheinungen annehmen kann, z. B. Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen, Körpererlebnisse. Hinsichtlich der Qualität von Symbolisierungen lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden: 1. Das Ausmaß an Klarheit und Umrissenheit: Es reicht von einer undeutlichen, vagen Ahnung (wie z. B. ein undeutliches Unbehagen einer bestimmten Person gegenüber, bei dem wir nicht wissen, was es eigentlich bedeuten soll) bis hin zur klaren und eindeutigen Repräsentation (wenn beispielsweise klar ist, dass sie einer bestimmten anderen Person ähnlich sieht, mit der wir ganz bestimmte unangenehme Erfahrungen gemacht haben). 2. Inhaltliche Vollständigkeit: Symbolisierungen können mit den ihnen zugrundeliegenden Er-
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Die Symbolisierungen werden durch bedeutsame Sozialpartner vermittelt Im Klientenzentrierten Konzept gilt die Qualität, mit der Erfahrungen im Bewusstsein symbolisiert werden, als ein Ergebnis der Interaktion mit bedeutsamen Anderen, die in der bisherigen Entwicklung einer Person stattgefunden haben5. Rogers (1959b/ 5
Näheres zu dieser Thematik wird in 7 Kap. 4 ausführlich behandelt. An dieser Stelle soll dazu nur das in unserem Zusammenhang Notwendige dargestellt werden.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
1987) ging z. B., indem er Standal (1954) folgte, von einem basalen menschlichen Bedürfnis nach positiver Beachtung (»need for positive regard«) aus. Er ließ seinerzeit offen, ob es sich dabei um ein angeborenes (primäres) oder erlerntes (also sekundäres) Bedürfnis handelt. Inzwischen hat die entwicklungspsychologische Forschung belegt, dass es sich dabei um ein angeborenes Bedürfnis handelt, das insbesondere zu Beginn der menschlichen Entwicklung über alle anderen Bedürfnisse dominiert (Bowlby, 1969/1975; Cassidy & Shaver, 1999; Spangler & Zimmermann, 1995). Definition Das Bedürfnis nach positiver Beachtung ist »ein universales, vom ersten Lebenstag an zu beobachtendes und während des ganzen Lebens andauerndes menschliches Bedürfnis nach Anerkennung bzw. Beachtung im Sinne von Wahrgenommen- und Geliebtwerden von wichtigen Anderen« (Biermann-Ratjen, 2003, S. 41).
werden, aber die Erfahrung von Kummer, Not und Trostbedürftigkeit von der Symbolisierung ausgeschlossen bleiben. Verzerrte Symbolisierungen können aus der Übernahme von verfälschenden Deutungen durch wichtige Andere resultieren. Beispiel: Das Kind erfährt Ärger, der aber wiederholt als »Müdigkeit« deklariert wird. In der Folge würde es seinen Ärger verzerrt als Müdigkeit wahrnehmen bzw. im Bewusstsein repräsentieren (vgl. auch, wie manche Menschen in an sich ärgerlichen Situationen davon sprechen, »traurig« zu sein). Von der Symbolisierung ausgeschlossen werden Erfahrungen, die von bedeutsamen Anderen entweder ignoriert oder als der Person des Kindes nicht zugehörig deklariert worden sind. Beispiel: Das wütende Kind wird nicht beachtet oder ihm wird gesagt: »Das bist du ja gar nicht!« Oder: »Du gehst so lange vor die Tür, bis das Böckchen in Dir wieder draußen ist«.
Äquivalente in der psychologischen Grundlagenforschung Nach Rogers kann ein Kind in seiner Interaktion mit bedeutsamen Anderen (z. B. Eltern) erleben, dass bestimmte Teile seiner Erfahrung von diesen Anderen als der positiven Beachtung mehr oder weniger wert erachtet werden, dass also sein Bedürfnis nach positiver Beachtung mehr oder weniger befriedigt bzw. frustriert wird. In der Folge wird das Kind diese Bereiche der Erfahrung mit der entsprechenden erfahrenen Bewertung verbinden und diese für sich übernehmen. Exakt symbolisiert werden dann solche Erfahrungsbereiche, die von bedeutsamen Anderen verstanden und ohne dass daran irgendwelche Bedingungen geknüpft wurden, positiv beachtet worden sind. Unvollständig symbolisiert werden Erfahrungen, wenn nur Teile von ihnen von bedeutsamen Anderen verstanden und positiv beachtet wurden. Ein Beispiel: Ein Kind hat sich verletzt, seine Wunde wird auch von der Mutter angemessen versorgt, aber seine angesichts der Schmerzen bestehende Trostbedürftigkeit wird ignoriert oder zurückgewiesen (»Wegen dem bisschen weint man nicht; du hättest ja auch aufpassen können«). Bei späteren derartigen Episoden könnte die körperliche Verletzung gespürt
Mit der Vorstellung, dass die Erfahrungen des Organismus mehr oder weniger exakt im Bewusstsein symbolisiert werden, geht das Klientenzentrierte Konzept von zwei Ebenen der Repräsentation der Welt im Organismus aus: einer Ebene der zwar prinzipiell bewusstseinsfähigen aber möglicherweise auch unbewussten bzw. nicht bewussten Erfahrungen, und einer Ebene des Bewusstseins, welche die Erfahrungen in ihrer symbolisierten Form enthält. Es wird angenommen, dass die bewussten Symbolisierungen ein Produkt der sozialen Interaktion sind. Eine im Prinzip identische Sicht wurde in der Kognitionspsychologie von Prinz (1996) vorgeschlagen. Er fragte nach den Beziehungen zwischen Bewusstseinsvorgängen und Hirnprozessen und stellte zunächst fest, dass die Diskussion dieses Leib-SeeleProblems bisher in erster Linie von Philosophen und Neurobiologen geführt worden sei. Die Philosophen hätten dabei ihr Augenmerk in erster Linie auf die Bewusstseinserscheinungen gerichtet und sich und die Neurobiologen gefragt, wie diese vom Gehirn hervorgebracht würden. Die Neurobiologen hingegen seien von der Struktur und den Funktionen von Gehirnprozessen ausgegangen und hätten sich und
63 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
die Philosophen gefragt, wie sich aus der Tätigkeit dieses Organs Bewusstseinserscheinungen ergeben könnten. Nach Prinz gehen beide von falschen Dogmen aus: Der von der Neurobiologie vertretene Bewusstseinsnaturalismus fasst das Bewusstsein als eine vom Gehirn produzierte Qualität auf. Prinz stellte dazu die kritische Frage, ob die Gehirnprozesse nicht nur die notwendige, sondern auch die hinreichende Grundlage von Bewusstseinserscheinungen bilden. Zwar sei die Ausbildung von Bewusstsein an bestimmte neurobiologische Gegebenheiten als notwendige Voraussetzungen gebunden, jedoch seien diese für eine Erklärung der Ausbildung von Bewusstsein nicht hinreichend: »Die Entstehung von Bewusstsein kann nicht rein naturgeschichtlich erklärt werden, sondern erfordert eine Verbindung von naturgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Erklärungsansätzen« (a. a. O., S. 453). Nach dem Dogma der philosophisch orientierten Diskussion, dem Bewusstseinsfundamentalismus als spiegelbildlichem Gegenstück zum Bewusstseinsnaturalismus seien die Bewusstseinserscheinungen »fundamentale Gegebenheiten …, zu denen wir unmittelbaren, unvermittelten Zugang haben – im Unterschied zu den Erscheinungen der äußeren Welt, die uns lediglich durch Wahrnehmungsprozesse vermittelt sind« (a. a. O., S. 454). Da sie direkt zugänglich seien und nicht wie die äußeren Erscheinungen durch Abbildungsvorgänge vermittelt würden, sei nach dem Bewusstseinsfundamentalismus das, was wir über unsere psychischen Vorgänge wissen, notwendigerweise wahr. Prinz bezweifelt, dass die Struktur der Bewusstseinsinhalte ohne weiteres mit der Struktur der Prozesse, die sie erzeugen, gleichgesetzt werden kann. Er verweist auf die moderne psychologische Forschung, die dazu übergegangen sei, die Berichte von Personen über ihre Bewusstseinserscheinungen genauso zu behandeln wie die Berichte, die sie über die Außenwelt geben, nämlich als Berichte über die Wahrnehmung ihrer kognitiven Prozesse und nicht als Berichte über diese Prozesse selbst. »Nach diesem Arbeitsmodell stehen die Bewusstseinserscheinungen zu den ihnen zugrundeliegenden kognitiven Prozessen in genau dem gleichen indirekten Vermittlungsverhält6
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nis wie die Wahrnehmungseindrücke, die wir über die Außenwelt haben, zur Außenwelt selbst: Hier wie da enthalten die Bewusstseinseindrücke nur eine hochgradig selektive und kategorial überformte Repräsentation einzelner Aspekte der zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse – und keineswegs eine Repräsentation dieser Prozesse selbst.« (a. a. O., S. 455) Sie seien damit Produkte einer Interpretation dieser Prozesse, wobei der Rahmen für diese Interpretation nicht von jedem Individuum neu entwickelt, sondern aus seiner kulturellen Umgebung übernommen werde. Damit ist die Beziehung zwischen den Bewusstseinserscheinungen und den physiologischen Gehirnprozessen in zwei Teilbeziehungen aufgelöst: 4 Eine Instantiierungsbeziehung, d. h. die Realisierung von verborgenen kognitiven Prozessen durch das Gehirn und 4 Eine Wahrnehmungsbeziehung, die das Verhältnis zwischen den verborgenen kognitiven Prozessen und den mit ihnen verbundenen Bewusstseinserscheinungen betrifft. Sie ist der Ort, an dem soziale Konstruktionsprozesse wirksam werden können. Auf der Ebene der verborgenen kognitiven Prozesse wird nach Prinz ein Großteil der ankommenden Information vollständig verarbeitet, bevor ein kleiner Teil davon für die bewusste Repräsentation ausgewählt wird. Zwischen dem Klientenzentrierten Konzept und dem von Prinz aufgrund der Ergebnisse der experimentellen Kognitionspsychologie vorgeschlagenen Bewusstseinsmodell lassen sich eine Reihe von Äquivalenzen feststellen. ! Äquivalenzen zwischen dem Klientenzentrier-
ten Konzept und dem Bewusstseinsmodell von Prinz (1996) 1. Zwischen den rein physiologischen Prozessen und den Bewusstseinsinhalten wird eine besondere Ebene psychischer Prozesse (»Erfahrung« bzw. »verborgene kognitive Prozesse«) angenommen, die als solche nicht bewusst sind.
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
2. Inhalte dieser Ebene werden durch eine eigene interpretierende Verarbeitung (»Symbolisierung« bzw. »Wahrnehmung«) zu Bewusstseinsinhalten. 3. Die Ergebnisse dieser Verarbeitung werden durch die soziale Umgebung (»bedeutsame Andere« bzw. »kulturelle Umgebung«) maßgeblich beeinflusst.
Beide Konzepte sind geeignet, einander zu ergänzen, können einander aber nicht ersetzen. Anders als bei Prinz (1996) wird im Klientenzentrierten Konzept näher beschrieben, in welcher Weise die interpretierende Verarbeitung der verborgenen kognitiven Prozesse in der bewussten Wahrnehmung erfolgt und welche Bedingungen der sozialen Umgebung in der Entwicklung einer Person dafür maßgeblich sind (diese wiederum sind, wie in Kapitel 4 näher ausgeführt wird, durch die Bindungstheorie unterstützt und weiter differenziert worden). Auf der anderen Seite hat das Modell von Prinz, der das Konzept der Symbolisierung als äquivalent mit der Wahrnehmungsfunktion ansieht, erheblich zu dessen Klärung und theoretischen Einordnung beigetragen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bereits Rogers (1959b/1987, S. 25) »Wahrnehmung« (»perception«) und »Gewahrwerdung« (»awareness«) explizit als »synonym« bezeichnet hat. Zwar hat er (vermutlich unter dem Einfluss der damaligen Kognitionsforschung) dabei den Begriff »Wahrnehmung« enger gefasst und auf die von außen kommenden Reize bezogen und den der »Gewahrwerdung« als den weiteren gesehen, der sich sowohl auf innere als auch auf äußere Stimuli und deren Bedeutung beziehe. In jedem Falle bleibt jedoch die funktionale Äquivalenz von Wahrnehmung und Bewusstsein. Für die Psychotherapie – und nicht nur für die Gesprächspsychotherapie – bedeutet die Vorstellung, dass das Bewusstsein einer Person die Wahrnehmung ihrer selbst ist, die interessante Möglichkeit, die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zu nutzen.
3.3.3
Selbst
Das Selbst ist einer der wichtigsten Begriffe des Klientenzentrierten Konzepts, sowohl in der Theorie zur Entstehung von psychischen Störungen und Krankheiten (7 Kap. 5) als auch in der über den therapeutischen Prozess (7 Kap. 6 und 9). Rogers’ Interesse an dem Begriff Selbst beruhte auf der Beobachtung, dass Menschen in der Psychotherapie von sich aus und ohne dazu angeleitet worden zu sein, immer wieder über ihr Selbst sprachen: »Ich weiß nicht, ob ich noch ich selber bin« oder »Ich möchte nicht, dass irgendjemand weiß, wer ich wirklich bin« (Rogers, 1959b/1987). Auch im normalen Alltag wird deutlich, dass jeder Mensch auch Gegenstand seines eigenen Erlebens ist. Wir wissen einiges über uns (»Fremdsprachen lernen macht mir Freude«), denken über uns nach (»Wie kommt es nur, dass ich auf Frau M. so unsicher reagiere?«), haben uns selbst gegenüber Gefühle (z. B. der Freude oder der Scham), ebenso Wünsche und Bedürfnisse, bzw. bewerten uns selbst (»Ich möchte mich besser durchsetzen können«). Was in diesen Beispielen der Gegenstand des Erlebens ist, wird in der Psychologie als das »Selbst« bezeichnet und ist inzwischen zu einem fest etablierten Bereich der empirisch-psychologischen Grundlagenforschung geworden, vorwiegend in der Sozial-, Entwicklungs- und Kognitionspsychologie. Rogers und seine Mitarbeiter begannen ihre Forschung zum Selbst, indem sie systematisch Äußerungen von Patienten über sich selbst sammelten und kategorisierten. Eines der Ergebnisse dieser Studien war, dass sich die Einstellung der Patienten zu sich selbst während der Therapie bedeutsam veränderte, aber auch beträchtlichen Schwankungen unterlag. Ein anderes Ergebnis war, dass sich die Vorstellungen von der eigenen Person deutlich auf die Regulation des Verhaltens auswirkten (Rogers, 1959b/1987). Auf dieser Grundlage und indem er die vorliegende Literatur einbezog, formulierte Rogers seine Definition des Selbst (Rogers, 1959b/1987, S. 200; Übersetzung v. Verf.):
65 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Definition Das Selbst ist eine »…organisierte, in sich geschlossene (consistent) begriffliche Gestalt. Sie setzt sich zusammen aus den Wahrnehmungen der Charakteristika des ›Ich‹ (›I‹) oder ›Mich‹ (›me‹) und den Wahrnehmungen der Beziehungen des ›Ich‹ oder ›Mich‹ zu anderen sowie zu verschiedenen Aspekten des Lebens, zusammen mit den Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Es ist eine Gestalt, die dem Bewusstsein zugänglich, aber nicht immer im Bewusstsein gegenwärtig ist.« Vom Selbstkonzept spricht Rogers dann, wenn es speziell um die Sichtweise der Person von sich selbst geht, von Selbststruktur, wenn das Selbst von einem äußeren Bezugsrahmen aus betrachtet wird.
Wenn in der Definition das Selbst als eine Gestalt beschrieben wird, so ist damit gemeint, dass das Selbst eine in sich gegliederte Einheit darstellt, zwischen deren Bestandteilen (den einzelnen Inhalten) eine besondere Beziehung der gegenseitigen Beeinflussung besteht, d. h. die Bedeutung jedes Teils wird von seinem Kontext wesentlich mit bestimmt. So beeinflusst beispielsweise die allgemeine Einstellung, die jemand zu sich selbst hat, in welchem Licht er die übrigen Aspekte seiner selbst sieht. Ist die Wertschätzung der eigenen Person gering, dann wird er seine besonderen intellektuellen Fähigkeiten eher als unwichtig, nur scheinbar vorhanden oder dergleichen bewerten. Ereignisse, die auf das Gegenteil hinweisen (z. B. die Anerkennung seiner Leistungen durch andere), wird er dann als zufällig, nicht ernst gemeint, auf mangelnder Kenntnis der wahren Fähigkeiten beruhend usw. abtun. Die Ergebnisse der psychologischen Grundlagenforschung lassen sich drei Themenbereichen zuordnen, der Phänomenologie, den Funktionen und der Entwicklung des Selbst. Davon werden in diesem Kapitel die ersten beiden behandelt. Der dritte, die Entwicklung des Selbst, ist dem 7 Kap. 4 vorbehalten.
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ren sie sich gemeinsam mit dem Patienten vor allem auf dessen Erleben und bemühen sich, anhand der sprachlichen Äußerungen und dem sonstigen Verhalten des Patienten eine möglichst genaue Vorstellung von dessen innerer Wahrnehmungswelt zu gewinnen (7 Kap. 6 und 9). Das kann ihnen umso besser gelingen, je mehr sie sich mit der Phänomenologie des Selbst beschäftigt haben. Bei der Phänomenologie des Selbst lassen sich zwei Aspekte voneinander unterscheiden, der qualitative, der sich mit der Art und Weise befasst, wie das Selbst von der Person erlebt wird, und der inhaltliche. Bei ihm geht es darum, was erlebt wird. Was den qualitativen Aspekt betrifft, so hat Rogers in seiner Definition des Selbst wohl mit Bedacht die beiden Begriffe »›Ich‹ oder ›Mich‹ « (» ›I‹ or ›me‹ ») benutzt6 die gemeinsam das Selbst ausmachen. Diese Unterscheidung stammt ursprünglich von James (1892), wurde später von Mead (1956/ 1969) aufgegriffen und ist auch in der heutigen psychologischen Forschung zum Selbst weit verbreitet. Zwar bezieht sich Rogers bei seiner Definition nicht direkt auf Mead, er nennt ihn aber an anderer Stelle (Rogers, 1951/1973b, S. 429) als ersten in einer Reihe von Autoren, die zu seinem Wissen über das Selbst wesentlich beigetragen hätten. Worin besteht nun der Unterschied? Um das »I« (ins Deutsche auch mit »Ich an sich« übersetzt) geht es dann, wenn wir etwas tun, ohne dass wir uns dessen im gegebenen Moment extra bewusst werden, wenn wir beispielsweise hören, ohne gezielt hinzuhören, oder wenn wir Dinge sehen, ohne bewusst zu registrieren, dass wir sie sehen. James hatte diesen Anteil des Selbst als »the self as the knower« bezeichnet. Das »I« ist das Subjekt der Selbstwahrnehmung. Bischof-Köhler (1989) beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Gestaltpsychologen Metzger (1975) und spricht von der »Ebene des Angetroffenen«, dem unreflektiert wahrnehmenden Selbst, dem unmittelbaren und unreflektierten Empfinden des Menschen seiner selbst, dem ›Selbst-sein‹ mit den dazu gehörenden Gestimmtheiten, Gefühlen, Bedürfnissen und dem Denken als dem sich vollziehenden Prozess.
Zur Phänomenologie des Selbst Für Gesprächspsychotherapeuten ist es besonders wichtig, sich mit der Phänomenologie des Selbst vertraut zu machen. Während der Therapie konzentrie-
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In der deutschen Übersetzung (Rogers, 1959/1987, S. 26) wurden sie auf »Ich« verkürzt, als handele es sich dabei um Synonyme, für die ein einziger Begriff ausreicht.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Fallvignette
»Ich«, das Selbst als Subjekt
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Wenn ich aus dem Fenster sehe und dabei mein Blick auf die Dächer der Nachbarhäuser, die vom Wind bewegten Bäume und die am Himmel ziehenden Wolken fällt und ich mich dabei auf all das Gesehene als solches konzentriere, also auf die Häuser, Bäume und Wolken, dann ist mein Selbst als Subjekt vorhanden, mein Selbsterleben ist implizit.
Um das »Mich« geht es dann, wenn wir unser Augenmerk direkt auf uns selbst, unser eigenes Verhalten und Erleben richten. Wir sind dann das Objekt unserer selbst. James hat es als »the self as the known« genannt. Wenn so das Selbst zum Gegenstand der Selbstwahrnehmung bzw. der Symbolisierungen wird, handelt es sich nach Bischof-Köhler um die Ebene des Vergegenwärtigten, der Selbstobjektivierung, des Selbst-Konzepts. Die eigene Person wird dabei zum »Vorstellungsding« mit figuralen Eigenschaften. Das »me« hat eine Grenze mit einer Außen- und Innenseite und ist abgesetzt von anderen »Dingen«. Zugleich bildet das »I« zu dieser Figur des »me« den Hintergrund. Das »me« besitzt Permanenz und wird zum Träger einer zeitüberbrückenden Identität. In der Phantasie ist es manipulierbar und wird reflektierend als Träger und Verursacher von Erlebnissen und Handlungen erlebt. Fallvignette
»Mich«, das Selbst als Objekt Wenn ich – um das obige Beispiel nochmals aufzunehmen – meine Aufmerksamkeit dann mir selber zuwende als dem, der all das sieht, bei der lebhaften Bewegung der Bäume eine angenehme innere Spannung verspürt, der bemerkt, wie er von dem prächtig roten Himmel der aufgehenden Sonne berührt ist und der sich erinnert, dass ähnliche Farben ihn auch schon früher berührt haben, dass er sie am liebsten gemalt hätte, dann bin ich Objekt meiner Wahrnehmung, mein Selbsterleben ist explizit.
Inhaltlich gesehen setzt sich das Selbst nach der Definition von Rogers zusammen aus den Wahrnehmungen einer Person von ihren 4 Eigenschaften, 4 Beziehungen zu anderen, 4 Beziehungen zu den verschiedenen Aspekten des Lebens sowie 4 den bewussten oder bewusstseinsfähigen Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Die Wahrnehmungen von den Eigenschaften der eigenen Person können sich auf (relativ) überdauernde Persönlichkeitsmerkmale beziehen (z. B. wenn sich jemand für einen Menschen hält, der mathematisch begabt ist, der mediterranen Küche zuneigt usw.) oder aber auf den augenblicklichen Zustand (z. B. wenn jemand einen schweren Koffer hebt und dabei seine Körperkraft spürt, oder wenn er sich im Augenblick müde fühlt, Hunger hat usw.). Wahrnehmungen der Beziehungen zu anderen können z. B. sein, dass sich jemand als misstrauisch gegenüber einem bestimmten Kollegen erlebt, als hilfsbereit gegenüber einem Freund oder als kritisch gegenüber seinem Chef. Wahrnehmungen der Beziehungen zu den verschiedenen Aspekten des Lebens können darin bestehen, dass z. B. eine Frau eine Schwangerschaft als ein bedeutsames Ereignis in ihrem Leben ansieht, oder dass für jemanden der Tod das Ende aller Dinge bedeutet. Mit all diesen Selbstwahrnehmungen können dem Bewusstsein zugängliche Bewertungen verbunden sein. So kann jemand seine mathematische Begabung als unwichtig erleben, ein anderer mag stolz darauf sein. Das Spüren der eigenen Körperkraft kann als lustvoll erlebt werden oder aber als mühsame Quälerei. Das eigene Misstrauen kann von dem einen als gut und wichtig für ein erfolgreiches Leben erachtet werden, von einem anderen als eine Quelle von Beeinträchtigungen in seinen Beziehungen. Das wichtige Ereignis einer Schwangerschaft kann für eine Frau einen Höhepunkt ihres Lebens bedeuten, für eine andere eine Katastrophe in ihrer Lebensplanung. Und die Vorstellung vom Tod als dem Ende aller Dinge kann für den einen erleichternd sein, für den anderen eine Quelle von Angst und Verzweiflung.
67 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Alle Inhalte des Selbst können drei unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden (Higgins, 1987), in denen sie dann auch verschiedene Bedeutungen haben: 1. dem aktuellen Selbst (»actual self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person zu besitzen meint (»Ich habe erhebliche Schwierigkeiten, mathematische Formeln zu verstehen«), 2. dem idealen Selbst (»ideal self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person besitzen möchte (»Ich würde gerne mathematische Formeln leicht und schnell verstehen können«) und 3. dem erwarteten Selbst (»ought self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person meint besitzen zu sollen (»Eigentlich müsste ich mathematische Formeln leicht lesen und verstehen können«).
Zur Funktion des Selbst Im Funktionsgefüge der Gesamtperson kommt dem Selbst eine überlebenswichtige Bedeutung zu. Es ermöglicht, die Art der sozialen Realität vorherzusagen, sich auf diese einzurichten und sie auch beeinflussen zu können (Lecky, 1945). Drei Funktionen des Selbst lassen sich, angelehnt an Aronson, Wilson und Akert (2004) voneinander unterscheiden: 1. Die strukturierende Funktion. Das Selbst ist ein Schema im Sinne der Kognitionspsychologie, d. h. eine mentale Struktur, über die der Mensch verfügt, um sein Wissen über die Welt in Themenbereiche und Kategorien zu sortieren. Mit seiner Hilfe können wir die uns aus unserer äußeren und inneren Welt zugehenden Informationen mit Erinnerungen in Verbindung bringen und interpretieren. Alle diese Informationen sind letztlich um die Ansichten organisiert, die wir über uns selbst haben. So kann z. B. der Anblick eines Reiseprospekts mit einer Winterlandschaft eine Person an Wintersport erinnern und sie daran erinnern, wie sie einen steilen Abhang hinuntergefahren ist. 2. Die emotionale Funktion. Unter anderem führen bei einer Person Vergleiche zwischen ihrem aktuellen und ihrem idealen bzw. erwarteten Selbst zu Bewertungen und mit diesen zusammenhängenden emotionalen Reaktionen. Zum Beispiel kann die – berechtigte oder ungerechtfertigte – Meinung, den beruflichen Anforderungen
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nicht gewachsen zu sein, Gefühle der Minderwertigkeit auslösen. Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass solche Diskrepanzen mit psychischer Verletzlichkeit/Gestörtheit und Belastung in Zusammenhang stehen (Higgins, 1987). 3. Die handlungssteuernde Funktion. Die Inhalte des Selbst beeinflussen die Art und Weise, wie wir uns verhalten, welche Entscheidungen wir treffen, wie wir die Ergebnisse unseres Handelns erklären und bewerten und welche Pläne wir für die Zukunft erwägen. Exkurs
Wie das Selbst unser Erleben und Handeln in Leistungssituationen beeinflusst Meyer (1984) hat die Wirkungen des Selbstkonzepts von der eigenen Begabung auf das Erleben und Handeln experimentell untersucht. Unter »Begabung« versteht er dabei nicht die allgemeine Leistungsfähigkeit (z. B. Intelligenz), sondern die Fähigkeit in konkreten Handlungsbereichen, in denen man meint, etwas zu können oder nicht zu können und in denen es Erfolge oder Misserfolge geben kann (z. B. einen Menschen zeichnen oder ein Gewicht heben). Wichtig ist, dass das Selbstkonzept von der eigenen Begabung kein getreues Abbild der tatsächlichen Begabungen und Fähigkeiten darstellt, denn die können von der Person unterschätzt oder überschätzt werden. In den Experimenten zeigte sich u. a.: 5 Aufgabenwahl und Ausdauer: Je höher eine Person ihre Fähigkeit einschätzt, umso schwerere Aufgaben wählt sie und umso ausdauernder ist sie bei der Lösung. 5 Anstrengung: Personen zeigen die größte Bereitschaft sich anzustrengen bei Aufgaben, deren Schwierigkeit ihrer eigenen Fähigkeitseinschätzung am ehesten entspricht; sie strengen sich dann auch tatsächlich am meisten an. 5 Handlungsirrelevante Gedanken (d. h. Gedanken, welche die Aufmerksamkeit vom zielgerichteten Ausführen der Handlung ablenken und damit die Leistung beeinträchtigen, z. B. Erwartungen über die negativen
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Das Selbst – Was ist das eigentlich?
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Folgen eines Misserfolgs, wie andere wohl reagieren werden, über die eigenen emotionalen Reaktionen, die gegenwärtige Angst oder Aufgeregtheit): Sie sind bei Personen mit niedrigem Begabungskonzept wesentlich zahlreicher als bei Menschen mit hohem Begabungskonzept. 5 Einschätzung der eigenen Leistung: Trotz gleicher Ergebnisse schätzen Personen mit hohem Fähigkeitskonzept ihre Leistungen realistisch ein, solche mit niedrigem hingegen deutlich zu niedrig. 5 Erklärungen der eigenen Leistung: Menschen mit hohem Fähigkeitskonzept führen ihre Erfolge auf ihre eigene Person, insbesondere ihre Fähigkeit zurück, ihre Misserfolge erklären sie als zufällig. Menschen mit niedrigem Fähigkeitskonzept erklären ihre Erfolge mit Zufall, während sie ihre Misserfolge auf ihre Person, insbesondere ihre geringe Fähigkeit zurückführen. 5 Informationen über die eigene Leistung: Bei objektiv gleicher Leistung vermeiden Menschen mit niedrigem Begabungskonzept Informationen über ihre Leistungsergebnisse, anders als Personen mit hohem Fähigkeitskonzept. Meyer betont, dass diese Befunde zeigen, dass sich und wie sich die Selbsteinschätzungen der Fähigkeiten selbst stabilisieren. Vor allem für die unrealistisch niedrigen Selbsteinschätzungen gilt: Wenn Menschen vor allem leichte Aufgaben wählen, wenig Anstrengung und Ausdauer zeigen, mehr leistungshemmende handlungsirrelevante Gedanken haben, ihre Leistungen unrealistisch niedrig bewerten, ihre Erfolge auf Zufall und ihre Misserfolge auf ihre geringen Fähigkeiten zurückführen und Informationen über ihre tatsächlichen (guten!) Leistungen meiden, verhindern sie selbst, sich als leistungsfähig zu erfahren. Außerdem führt das (eigentlich ungerechtfertigte) Vermeiden schwieriger Aufgaben zu einem Verkümmern der vorhandenen Fähigkeiten, bis sie schließlich dem ungünstigen Konzept von den eigenen Fähigkeiten tatsächlich entsprechen.
Sowohl im Alltag als auch in der Literatur zur Psychotherapie wird der Begriff »Selbst« mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Wenn zum Beispiel von der Suche nach dem »wahren Selbst« die Rede ist, geht es um die eigentliche Wesensart eines Menschen als um etwas, das es im Prinzip gibt, das er jedoch (noch) nicht kennt. Allerdings ist eine solche Sicht des Selbst für eine Definition oder empirische Erforschung des Selbst nicht geeignet. Denn etwas, dem wir noch nicht begegnet sind, können wir auch nicht beschreiben und untersuchen. Sehr wohl kann aber die Suche nach dem wahren Selbst als ein wichtiger Aspekt des menschlichen Erlebens beschrieben und zum Gegenstand empirischer Forschung gemacht werden (Miller, 1994; Winnicott, 1960). In unserem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Selbst ein theoretisches Konstrukt ist, d. h. ein Bestandteil eines theoretischen Systems. Anders als eine Blume oder die Aussagen einer Person über ihre Suche nach ihrem wahren Selbst existiert es nicht in der Realität sondern nur in unserer Vorstellung. Im wissenschaftlichen Diskurs sind theoretische Konstrukte durch ihre Definition bestimmt, die nicht als »wahr« oder »richtig« sondern nur im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit beurteilt werden können. Diese Beurteilung richtet sich u. a. danach, ob die Definitionen 4 eindeutig sind, 4 die Verständigung im wissenschaftlichen Diskurs verbessern, 4 im theoretischen Zusammenhang sinnvoll sind, 4 mit den empirischen Beobachtungen übereinstimmen. Nach der Definition von Rogers (7 oben)7 setzt sich das Selbst aus Wahrnehmungen zusammen, d. h. aus Abbildungen und hat deshalb auch seinerseits die Qualität einer Abbildung. Das hat Konsequenzen, die sich aus dem Wesen von Abbildungen ergeben: Ein Abbild ist niemals der abgebildete Sachverhalt selbst. Das mag trivial erscheinen, wird aber 7
Natürlich sind auch andere Definitionen möglich. Die von Rogers bildet jedoch eine wesentliche Grundlage des Klientenzentrierten Konzepts und entspricht vor allem auch weitgehend dem in der psychologischen Grundlagenforschung Üblichen.
69 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
durch den alltäglichen Sprachgebrauch leicht verwischt. Wenn wir vor dem Bild eines Hauses stehen, dann sagen wir gewöhnlich: »Das ist ein Haus.« Wir fänden es umständlich und würden auch von anderen als merkwürdig angesehen werden, wenn wir stets sagen würden: »Das ist das Bild eines Hauses.« Dass das Bild kein Haus ist, würden wir spätestens dann merken, wenn wir auf die Idee kämen, in das Bild einzuziehen. Bei konkret-anschaulichen Dingen erübrigt sich in der Regel die sprachliche Unterscheidung zwischen Abbild und Gegenstand. Schwieriger wird es allerdings, sobald es um abstrakte Sachverhalte und theoretische Konstrukte wie das Selbst geht. Für dessen Verständnis ist es wichtig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass es bei einer Person die Abbildung ihrer selbst für sich selbst ist und nicht die Person als solche. Das ist auch deswegen nicht einfach, weil für eine Person ihre Vorstellungen von sich selbst, also ihr Selbst in der Regel Realitätscharakter hat und für ihre Handlungsfähigkeit auch haben muss. Die Person reagiert auch auf ihr Selbst oder auf Teile davon mit realen Gefühlen. Dennoch: Als Abbildung ist das Selbst keine Person in der Person. Es hat keine eigenen Wahrnehmungen, keine Motive, Bedürfnisse oder Gefühle. Es ist lediglich, wie in der Definition von Rogers formuliert, eine begriffliche Gestalt.
Die Selbstaktualisierungstendenz Weil das Selbst das Wissen einer Person über sich selbst und die Beziehungen zwischen sich und der Welt repräsentiert und all das enthält, was sie auf die Fragen »wer bin ich«, »wie bin ich« und »was bedeuten für mich die Menschen und Dinge, die mich umgeben« antworten kann, ist es für die effiziente Anpassung des Individuums unbedingt notwendig. Das Selbst hat die Funktion eines lebenswichtigen Monitorsystems und muss deshalb mit all seinen Inhalten erhalten bleiben, weil sonst die Person bzw. der Organismus die Orientierung und damit ihre Handlungsfähigkeit verliert. Aber nicht nur das. Um auf die sich stets verändernden Bedingungen seiner inneren und äußeren Welt angemessen reagieren zu können, benötigt der Organismus zugleich ein Selbst, das neue Inhalte einbezieht und sich weiter entwickelt, sich also verändert.
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Mit seinen Aspekten des Erhaltens und des Entfaltens erstreckt sich daher das dem Organismus eigene Prinzip der Aktualisierungstendenz auch und in besonderer Weise auf die begriffliche Gestalt seines Selbst. Rogers hat das so formuliert: »Bezogen auf die Entwicklung der Selbststruktur äußert sich diese allgemeine, in Richtung auf Aktualisierung führende Tendenz auch in der Aktualisierung desjenigen Teils der Erfahrung des Organismus, die im Selbst symbolisiert ist« (Rogers, 1959b/1987, S. 196; Übersetzung v. Verf.). Diese auf das Selbst gerichtete allgemeine Aktualisierungstendenz des Organismus (7 Kap. 3.2) wird im Klientenzentrierten Konzept als Selbstaktualisierungstendenz bezeichnet. Das bedeutet, dass der Organismus die Tendenz hat, sein Selbst sowohl 4 zu erhalten, um die Kontinuität der Orientierung zu gewährleisten und 4 zu entfalten, damit es als Repräsentations- und Orientierungssystem mit den sich verändernden Bedingungen der äußeren und inneren Welt Schritt hält. Darüber hinaus leistet es damit auch einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung des gesamten Organismus und der Persönlichkeit. Obwohl die Bezeichnung »Selbstaktualisierungstendenz« es nahe legen könnte, hat das Selbst keine eigene Aktualisierungstendenz. Sie bezeichnet lediglich die speziell auf das Selbst bezogene allgemeine Aktualisierungstendenz des Organismus. Für die Terminologie des Klientenzentrierten Konzepts ist es dennoch wichtig, zwischen der auf den gesamten Organismus bezogenen Aktualisierungstendenz einerseits und der speziell auf das Selbst bezogenen Selbstaktualisierungstendenz strikt zu unterscheiden. Das ist deshalb nicht immer leicht, weil sich in Begriffssystemen anderer Konzepte, insbesondere solchen aus dem Bereich der Systemtheorie, der Terminus »Selbstaktualisierungstendenz« häufig auf das bezieht, was im Klientenzentrierten Konzept als »Aktualisierungstendenz« bezeichnet wird8. 8
Die unterschiedlichen Bedeutungen rühren daher, dass in der Systemtheorie das Wie betont wird, nämlich »von selbst«, »von sich aus«, während im Klientenzentrierten Konzept das Was im Vordergrund steht. Hier geht es um die Aktualisierung der begrifflichen Gestalt des Selbst.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
3.3.4
Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung
In diesem Kapitel geht es in erster Linie um die Bedeutung des Selbst für die allgemeine Funktionsfähigkeit des menschlichen Organismus. Um es nochmals zu vergegenwärtigen: Das Selbst ist auch ein Produkt der sozialen Interaktion mit bedeutsamen Anderen. Sofern Äußerungen der sich entwickelnden Person bei diesen Bedingungsfreie positive Beachtung und empathisches Verstehen finden, werden die mit ihnen verbundenen Erfahrungen in das Selbstkonzept integriert und, wenn sie sich wiederholen, vollständig und genau symbolisiert. Bleiben sie hingegen unbeachtet oder werden sie entwertet oder in ihrer Bedeutung entstellt, werden die damit verbundenen Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert und später gar nicht bzw. nur lückenhaft oder verzerrt symbolisiert. Entsprechend ist dann die bewusste Erfahrung ein mehr oder weniger getreues Abbild der Erfahrungen des Organismus. Definition Als Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung wird im Klientenzentrierten Konzept das Ausmaß bezeichnet, in dem bei einer Person ihre Erfahrung mit deren Symbolisierungen im Selbst übereinstimmt, d. h., in das Selbst integriert wird.
Wenn ein erstes Selbstkonzept entstanden ist, sind es also zwei Instanzen, nach deren Maßgaben die Erfahrungen einer Person verarbeitet werden: nach denen des Organismus und nach denen des Selbst. Die Ergebnisse beider werden im Verhalten und Erleben wirksam. Es besteht Kongruenz, wenn die Erfahrungen des Organismus samt deren Bewertungen (der Aktualisierungstendenz folgend: »Ist diese Erfahrung für die Erhaltung und/oder Entfaltung der Person förderlich oder bedrohlich?«) vollständig und genau symbolisiert werden können. Die Erfahrungen können dann auch in die Selbsterfahrung integriert werden bzw. stellen keine Bedrohung für das Selbstkonzept dar. Die Person empfindet sich als mit sich selbst im Einklang und in einem weitgehend ausgeglichenen und sicheren Zustand.
Im Falle der Inkongruenz wird das Selbst mit seinen Inhalten durch die Erfahrung in Frage gestellt, also bedroht. Dann wirkt sich die Selbstaktualisierungstendenz so aus, dass 4 Nicht zum Selbstkonzept passende Erfahrungen abgewehrt werden und 4 Die entfaltenden Funktionen der Selbstaktualisierungstendenz beeinträchtigt werden. Es wird keine neue Erfahrung in das Selbstkonzept integriert. Je nach dem Grad der Inkongruenz besteht eine mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen den am Organismus und den am Selbst orientierten Ergebnissen der Informationsverarbeitung, die das Verhalten und Erleben steuern. Es gibt im Prinzip drei bedrohliche Konsequenzen von Inkongruenz: 1. Die am Organismus orientierten Bewertungen setzen sich durch. Was die Person erlebt und die Art, wie sie sich verhält, widersprechen dann ihrem Selbst und entziehen sich ihrer Kontrolle, sie kann sich selber nicht verstehen und ist darüber entsprechend irritiert. 2. Die am Selbst orientierten Bewertungen setzen sich durch. Die Erfahrung wird abgewehrt und die Entwicklung der Person stagniert. 3. Die beiden Bewertungen halten sich in ihrer Wirksamkeit die Waage. Die Person ist desorientiert, verwirrt und entsprechend handlungsunfähig. In allen drei Fällen ist die Wahrscheinlichkeit von Stress erhöht, insbesondere in Situationen, die von der Person als unkontrollierbar erlebt werden. Die Bedeutung solcher Prozesse für die Entstehung psychischer Störungen und Krankheiten wird vor allem auch in der neueren Neurobiologie betont (Hüther, 2001). ! Mit zunehmender Inkongruenz erhöht sich die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen.
Inkongruenz ist nicht gleich Inkongruenz Der Begriff der »Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung« ist in seiner verkürzten Form als »Inkongruenz« in die Literatur eingegangen. Dabei hat sich seine ursprüngliche, auf die beiden Konstrukte
71 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
»Selbst« und »Erfahrung« bezogene Bedeutung verändert und auf alle möglichen theoretischen Konstrukte erweitert, zwischen denen Diskrepanzen bestehen können. Ein Beispiel dafür ist die Diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild (oder auch die zwischen Selbstbild und dem Bild des normalen Menschen), wie sie von Rogers selbst und seinen Mitarbeitern zur Operationalisierung von Therapieergebnissen benutzt worden ist (Rogers & Dymond, 19549). Diese Diskrepanz korreliert mit dem Ausmaß psychischer Verletzlichkeit/Gestörtheit und Belastung und wird im Verlauf von Psychotherapie in der Regel geringer. Das Ausmaß der Veränderung der Diskrepanz eignet sich daher als Wirksamkeitsmaß für die Psychotherapieforschung. Die Inkongruenz zwischen aktuellem und idealem Selbstbild ist aber, weil dabei die Ebene der Erfahrung nicht erfasst wird, keine Operationalisierung der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung. Inkongruenz zwischen aktuellem und idealem Selbst ist, folgt man dem Klientenzentrierten Konzept, nicht ursächlich für Störungen und Verletzbarkeit, sondern vielmehr deren Ergebnis: Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit psychischer Probleme. Sie zu erleben bedingt Unzufriedenheit mit sich selbst und führt damit zu Inkongruenz zwischen dem aktuellem und einem idealem Selbstbild. »Kongruenz/Inkongruenz« sind logisch gesehen »zweiseitig« d. h. relationale Begriffe, denn sie beziehen sich auf zwei Sachverhalte und der Relation zwischen ihnen: Sie bezeichnen diese als entweder miteinander übereinstimmend oder als nicht miteinander übereinstimmend. »Inkongruenz« ohne die Angabe, welche Sachverhalte zueinander in Relation gesetzt werden, ist sinnleer. Wann immer in der Literatur von Inkongruenz die Rede ist, ist zu prüfen, worauf sie sich bezieht.
Kongruenz/Inkongruenz im therapeutischen Prozess Gesprächspsychotherapie hat das Ziel, das Selbst des Patienten so zu verändern, dass Inkongruenzen reduziert werden, d. h. dass seine Erfahrungen voll9
Zur deutschen Übersetzung des Verfahrens vgl. Frohburg (1972).
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ständiger und genauer symbolisiert werden (7 Kap. 7). Wie in 7 Kap. 3.3 bereits dargestellt, haben die Vorstellungen einer Person von sich, also ihr Selbst, für sie in der Regel Realitätscharakter – und sie müssen das wegen der lebenswichtigen Orientierungsfunktion des Selbst auch haben. Das bedeutet: Wenn ein Therapeut mit seinen Interventionen in der Absicht korrigierend einzugreifen, das Selbst seines Patienten in Frage stellt, dann bedroht er es mit der Folge, dass das erhaltende Prinzip der Selbstaktualisierungstendenz wirksam und die Bedrohung abgewehrt wird. Die Interventionen werden also therapeutisch wirkungslos – sofern sie nicht sogar schaden. Konstruktive Veränderungen des Selbst treten dann ein, wenn der Patient erlebt, dass seine innere Welt vom Therapeuten verstehend nachvollzogen und zugleich akzeptiert wird, ohne dass er daran irgendwelche Bedingungen knüpft (7 Kap. 6). Gelingt dies, dann sind der Patient und sein Selbst frei von Bedrohungen. Der erhaltende Aspekt der Selbstaktualisierungstendenz kann nun zurücktreten, und der entfaltende Aspekt wirksam werden (7 Kap. 3.2). Dann kann der Patient, wenn der Therapeut in der therapeutischen Beziehung für ihn zu einem bedeutsamen Anderen geworden ist, gemeinsam mit ihm seine Erfahrungen erkunden und zunehmend vollständiger und genauer symbolisieren – ein Prozess, der sich oft auch außerhalb der Therapiestunden fortsetzt. Inkongruenzen werden vermindert und die Kompetenz des Patienten zur Problembewältigung nimmt zu. Das bedeutet nicht nur, dass sich die Symptome reduzieren oder sogar aufheben, sondern vor allem auch, dass die Vulnerabilität des Patienten geringer wird und so etwas wie eine Immunisierung erfolgt. Gesprächspsychotherapie heilt nicht nur Symptome, sondern wirkt darüber hinaus stabilisierend auf die Persönlichkeit des Patienten. Ein Beleg dafür ist, dass sich auch nach einer Gesprächspsychotherapie die Befindlichkeit der Patienten häufig noch weiter verbessert (Frohburg, 2004). ? Übungsfragen 5 Welche Funktion haben Systeme zur Repräsentation der Welt für Organismen? 5 Was unterscheidet den Begriff »Erfahrung« im klientenzentrierten Sinne von seiner allgemeinen Bedeutung?
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
5 Nennen Sie Beispiele für Erfahrungen, die dem Organismus zugänglich sind, ebenso für Prozesse, bei denen dies nicht der Fall ist. 5 Was ist der Unterschied zwischen der psychoanalytischen und der klientenzentrierten Auffassung vom »Unbewussten«? 5 Was versteht man im Klientenzentrierten Konzept unter der »organismischen Bewertung«? 5 Finden Sie Beispiele für unterschiedliche Grade der inhaltlichen Vollständigkeit von Symbolisierungen: – Exakte Symbolisierung – Unvollständige Symbolisierung – Verzerrte Symbolisierung – Ausgeschlossene Symbolisierung – Überlegen Sie jeweils, welche Reaktionen bedeutsamer anderer jeweils dazu geführt haben könnten. 5 Umreißen Sie kurz die Positionen des Bewusstseinsfundamentalismus und des Bewusstseinsnaturalismus. 5 Wo liegen die Äquivalenzen zwischen dem Bewusstseinsmodell nach Prinz und dem Klientenzentrierten Konzept? 5 Charakterisieren Sie den Unterschied zwischen den beiden Aspekten des Selbst, dem »Ich« (»I«) und dem »Mich« (»me«) und nennen Sie Beispiele. 5 Nennen Sie Beispiele für Ihr eigenes aktuelles Selbst, Ihr ideales Selbst und Ihr erwartetes Selbst. 5 Nennen Sie Beispiele für die strukturierende, die emotionale und die handlungssteuernde Funktion des Selbst. 5 Achten Sie auf die unterschiedlichen Bedeutungen, mit denen der Begriff »Selbst« im Alltag und in der Literatur verwendet wird; sammeln Sie Beispiele und bestimmen Sie die jeweilige damit verbundene Bedeutung. 5 Nennen Sie Beispiele für reale Gegebenheiten und theoretische Konstrukte. 5 Notieren Sie Beispiele für Inhalte des aktuellen Selbst (am besten für Ihre eigenes), jeweils für die Bereiche – Wahrnehmungen der eigenen Person, – Wahrnehmungen der Beziehungen zu anderen,
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– Wahrnehmungen der Beziehungen zu verschiedenen Aspekten des Lebens und – Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. 5 Tun Sie dasselbe für – das ideale Selbst, – das erwartete Selbst. 5 Welche Rolle spielt die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung für die Steuerung des Verhaltens und Erlebens? 5 Weshalb ist Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung mit einem erhöhten Risiko psychischer Erkrankungen verbunden?
3.4
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer. (Eine umfassende Darstellung der Theorie und Praxis Gesprächspsychotherapie, insbesondere auch zu ihrer Theorie der Persönlichkeit) Rogers, C.R. (1959). A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework. In S. Koch (ed.), Psychology: a study of a science, Vol. 3 (pp. 184-256). New York: McGraw Hill. Deutsch: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Köln: Gesellschaft für wiss. Gesprächspsychotherapie (1987). (Die systematische Zusammenfassung der Begriffe und der Theorie des Klientenzentrierten Konzepts von Rogers) Rogers, C.R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett. (Original erschienen 1961: On becoming a person). (Eine Sammlung verschiedener Artikel von Rogers u. a. über die Person und ihre Entwicklung.)
4 4 Klientenzentrierte Entwicklungslehre E.-M. Biermann-Ratjen 4.1
Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten – 73
4.6.6 4.6.7
4.2
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung – 74
4.7
Die Bindungstheorie – 82
4.7.1
Die zentralen Postulate der Bindungstheorie – 82 Das Bindungsbedürfnis ist ein eigenständiges Bedürfnis – 83 Die Bindungsmuster – 83 Die drei den Bindungsmustern zugrunde liegenden Faktoren – 85 Die Stabilität der Inneren Arbeitsmodelle – 86
4.3
Definitionen des Selbst – 76
4.4
Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept – 76
4.7.2 4.7.3 4.7.4
Das narrative Selbst – 81 Zusammenfassung und Bezug zum Klientenzentrierten Konzept – 81
4.5
Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt – 77
4.7.5
4.6
Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern – 77
4.8
Die Selbsterhaltungstendenz – 86
4.6.1 4.6.2
Der Prozess der Selbsterfahrung – 77 Die auftauchende Selbstempfindung – 78 Die Konsolidierung der Empfindung eines Kernselbst – 79 Die Empfindung eines subjektiven Selbst – 80 Das verbale Selbst – 81
4.8.1
Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung – 86 Inkongruenz – 87
4.6.3 4.6.4 4.6.5
4.8.2
4.9
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung – 88
4.9.1 4.9.2 4.9.3
Erste Phase – 88 Zweite Phase – 89 Dritte Phase – 90
4.10 Weiterführende Literatur – 91
4.1
Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten
In diesem Kapitel wird das gesprächspsychotherapeutische Konzept der psychischen Entwicklung dargestellt. Dabei werden neuere Entwicklungen im psychoanalytischen Diskurs eine Rolle spielen, die durch die Rezeption der Systemtheorie und die Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung angestoßen worden sind. Diese neueren Entwicklungen sind zum einen mit dem Klientenzentrierten Konzept in hohem Masse kompatibel. Zum anderen er-
möglichen sie eine konkretere Darstellung des von Rogers wenig ausformulierten Konzepts der psychischen Entwicklung in der Kindheit. Das Klientenzentrierte Entwicklungskonzept ist ursprünglich eher in Abgrenzung von psychoanalytischen Theorien entwickelt worden. Gesprächspsychotherapeuten sind z. B. niemals wie klassische Psychoanalytiker von einer Triebtheorie ausgegangen bzw. davon, dass die Entwicklung der Realitätswahrnehmung und der Unterscheidung einer inneren Erfahrungswelt von der Wahrnehmung der Außenwelt vorrangig in Spannungs- und Unlusterfahrungen im
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Zusammenhang mit der Frustration von Triebbedürfnissen erfolge, wie es z. B. der Psychoanalytiker Fenichel beschrieben hat: »Bei der Geburt verlässt der Organismus eine relativ ruhige Umgebung und tritt in einen überwältigenden Reizzustand mit minimalem Reizschutz ein (…) Wahrscheinlich ist diese Erregungsüberflutung überaus unangenehm und ruft die erste Tendenz des Psychischen hervor, nämlich die Bestrebung, einen Spannungszustand abzubauen. Hilft die Außenwelt dem Säugling dabei, mit diesen Reizen fertig zu werden, schläft er ein. Neue Reize wie Hunger, Durst oder Kälte wecken ihn wieder auf. Erste Spuren des Bewusstseins unterscheiden noch nicht zwischen einem Ich und einem Nicht-Ich, sondern eher zwischen größerer und geringerer Spannung. In diesem Entwicklungsstadium ist eine Entspannung gleichbedeutend mit dem Verlust des Bewusstseins. Könnte jedes Bedürfnis sofort befriedigt werden, käme es wahrscheinlich nie zur Entwicklung einer Realitätswahrnehmung.« (Fenichel, 1983, S. 55) Gesprächstherapeuten gehen – wie heute auch viele Psychoanalytiker – im Gegenteil davon aus, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Realitätswahrnehmung – auch zur Unterscheidung der Selbstwahrnehmung von der Wahrnehmung der Außenwelt – vom Beginn des Lebens an gegeben ist. Neugeborene verarbeiten Reize aktiv und selektiv. Schon bei Säuglingen im Alter von Wochen kann man beobachten, dass sie visuelle Exploration zur Selbstberuhigung einsetzen: Wenn sie unruhig und nervös sind, wenden sie sich einem Objekt in ihrem Gesichtsfeld zu und werden im Verlauf seiner Betrachtung ruhiger (Demos & Kaplan, 1986). ! Gesprächspsychotherapeuten nehmen – in Analogie zu den Bedingungen für die Selbstentwicklung im psychotherapeutischen Prozess – an, dass auch die Entwicklung der Selbstwahrnehmung bzw. ihre Integration in ein Selbstkonzept in der frühen Kindheit an die günstige Umweltbedingung unbedingte positive Beachtung durch wichtige andere Personen gebunden ist: Sie gehen davon aus, dass
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Selbsterfahrungen nur unter der Bedingung in die Vorstellungsgestalt vom Selbst integriert werden können, dass sie von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden. Die Integration von Selbsterfahrungen in das Selbst ist daher immer von der Erfahrung begleitet, positiv beachtet zu werden.
Mit der zunehmenden Akzeptanz von systemtheoretischen Vorstellungen der Selbstregulierung und der gegenseitigen Regulierung in der Mutter-KindDyade von Geburt an sowie der Bindungstheorie und damit der Annahme einer Abhängigkeit der gesunden psychischen Entwicklung von positiven Interaktionserfahrungen setzen sich ähnliche Konzepte auch in der modernen Psychoanalyse mehr und mehr durch. Mit der Systemtheorie hat die moderne Psychoanalyse auch die Vorstellungen übernommen, dass sich lebende Organismen selbst regulieren und dass der Organismus in keinem Bereich Umwelteinflüsse passiv hinnimmt. Vorstellungen im Klientenzentrierten Konzept, wie die einer Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2), von Erfahrung als Repräsentation der Welt im Organismus und ihrer Symbolisierung im Bewusstsein (7 Kap. 3.3) als spezifisch menschliche weitere Repräsentation sind damit modernen Psychoanalytikern nicht mehr fremd. Vor allem die Arbeit von Daniel Stern war und ist entscheidend daran beteiligt, ein neues Konzept von Psychoanalyse entstehen zu lassen, von dem sich Klientenzentrierte Psychotherapeuten kaum noch distanzieren und abgrenzen müssen.
4.2
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist keine allgemeine Entwicklungstheorie. Genau genommen ist sie eine Theorie der Entwicklung des Selbstkonzepts. Allerdings hat aus der Sicht des Klientenzentrierten Konzepts die Entwicklung des Selbst – Rogers hat von Selbstkonzept gesprochen, wenn es speziell um die Sichtweise der Person von sich selbst
75 4.2 · Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie
geht, und von Selbststruktur, wenn das Selbst von einem äußeren Bezugsrahmen aus betrachtet wird – erhebliche Konsequenzen für alle anderen Bereiche der psychischen Entwicklung, wie speziell in der Psychopathologie (7 Kap. 5) deutlich wird. Die sehr abstrakte Vorstellung von der psychischen Entwicklung im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts ist die folgende: ! Allem menschlichen Verhalten, dem gesunden wie dem pathologischen, liegt von allem Anfang der Entwicklung an eine Aktualisierungstendenz zu Grunde. Sie bezeichnet die Tendenz des Organismus, alle seine Möglichkeiten und Fähigkeiten so zu entwickeln, dass sie ihn erhalten und weiterentwickeln, und alle seine Erfahrungen im Hinblick darauf zu bewerten, ob sie solche der Förderung oder der Behinderung sind.
Erfahrung, »die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird« (7 Kap. 3.3.1), kann bewusst werden. Es werden im Klientenzentrierten Konzept auch Erfahrungen angenommen, die in einem bestimmten Augenblick keine Bewusstseinsinhalte sind, es aber werden könnten. Ein wesentlicher Teil der Aktualisierung – die in der Systemtheorie Selbstaktualisierung oder Selbstorganisation genannt wird, um zu betonen, dass es sich um eine Entwicklung aus sich selbst heraus oder von selbst im Gegensatz zu von außen gesteuert handelt – besteht in der Entwicklung eines Selbstkonzepts. Im Klientenzentrierten Konzept wird die Entwicklung des Selbst auch Selbstaktualisierung genannt und in diesem Sinne auch von einer Selbstaktualisierungstendenz gesprochen. Die Selbstaktualisierungstendenz ist aber Teil der allgemeinen Aktualisierungstendenz des Organismus. Das Selbst hat keine eigene Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.3.3). Selbst, Selbstbild, Selbstrepräsentanz und Selbststruktur sind weitgehend Synonyme (7 oben). Das Selbstkonzept ist eine Vorstellung von den Charakteristiken des Selbst und seiner Beziehungen zur Umwelt. Sie ist nicht immer voll bewusst, kann aber in den Fokus der Aufmerksamkeit treten und man kann sich auf sie konzentrieren. Das Selbstkonzept hat die Eigenschaften einer Gestalt. Das bedeutet vor allem, dass, wenn es in Teilen in Frage gestellt
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wird, eine Bedrohung des gesamten Selbst erlebt wird. Da das Selbstkonzept auch Vorstellungen von den Beziehungen zur Umwelt und besonders zu anderen Menschen bei bestimmten Erfahrungen beinhaltet, bestimmt es auch in hohem Maße, wie der Umwelt begegnet wird. Die Vorstellung von sich selbst und den Beziehungen zur Umwelt, die das Selbst genannt wird, bildet sich aus der Integration von Selbsterfahrungen bzw. Wahrnehmungen von sich selbst in der Interaktionen mit wichtigen anderen Personen. So wie Erfahrung als die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird (7 Kap. 3.3.1), definiert werden kann, können wir sagen: Definition Selbsterfahrung ist die im jeweiligen Augenblick gegebene Repräsentation unserer Erfahrung mit uns selbst, die, wenn sich die Symbolisierungsfähigkeit entwickelt hat, auch potenziell bewusstseinsfähig ist.
Eine mögliche Selbsterfahrung ist z. B. die organismische Bewertung der Erfahrung auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz, d. h. jede Form von Stress; die affektiven Reaktionen sind Selbsterfahrungen, die Reflexion bzw. das Bewusstwerden von Erfahrung ist Selbsterfahrung, jede Interaktionserfahrung beinhaltet auch eine Selbsterfahrung usw. Fallvignette
Selbsterfahrungen Wenn die Patientin aus 7 Kap. 1 von »Anfällen« von Luftnot und Herzrasen berichtet, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen und auch nicht sprechen könne, spricht sie von Selbsterfahrungen. Die Ärztin beschreibt diese Patientin als »abwehrend agierend« bei der Mitteilung ihrer Selbsterfahrungen – die man medizinisch Symptome nennt – und zwar bei ihrer Selbstbeurteilung in diesen Selbsterfahrungen. Auch Selbstbeurteilungen sind Selbsterfahrungen.
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Die Ärztin nimmt an, dass es Selbsterfahrungen gibt, die die Patientin ihrem Bewusstsein vorenthalten möchte, die sich aber zugleich in ihrem Verhalten zeigen. Das meint sie, wenn sie das Verhalten der Patientin »abwehrend agierend« nennt. Indem die Ärztin die Selbstdarstellung der Patientin beurteilt bzw. diagnostisch einordnet, berichtet sie zugleich von eigenen Selbsterfahrungen: Sie hat die Patientin so und nicht anders und in ihrer Funktion als Ärztin erlebt und reflektiert das, indem sie das Verhalten der Patientin diagnostisch zuordnet.
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4.3
Definitionen des Selbst
Wie bereits in 7 Kap. 3.3 dargestellt worden ist, gibt es heute eine Fülle von psychologischer Literatur über das Selbst, und der Begriff wird sehr unterschiedlich gebraucht. Die akademische Psychologie z. B. beruft sich in ihren Konzeptualisierungen auf James (1890) – wie das schon Rogers getan hat –und auf Cooley (1902) und Mead (1934). Für dieses Konzept vom Selbst ist die Unterscheidung zwischen »I« und »me« bzw. zwischen »self as knower« and »self as known« charakteristisch. Danach kann das Selbst, das etwas wahrnimmt, ebenso Inhalt einer Selbsterfahrung sein wie die Erfahrung, z. B. eine Befindlichkeit, die das Selbst an sich selbst erfährt. Wenn die Patientin aus 7 Kap. 1 davon spricht, dass es Situationen gibt, in denen sie nicht hören kann, spricht sie sowohl vom Ich, das erlebt, dass sie nicht hört, als auch vom Mich, dass sie als taub erlebt. In der Entwicklungspsychologie wird nach Lewis (1991) zwischen einer »machinery of the self« und der »idea of me« unterschieden. Mit der »machinery of the self« sind die basalen biologischen und auf die Wahrnehmung bezogenen Prozesse gemeint, die vor allem in den ersten eineinhalb Lebensjahren bedeutsam seien und mit dem subjektiven Gewahrwerden der Welt einhergehen. Das objektive Selbstgewahrwerden nennt Lewis »the idea of me« und meint damit die Repräsentanzen des Selbst, die nicht vor der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres auftauchten.
In den letzten Jahren habe sich ein Wandel in der akademischen Psychologie vollzogen (HelbingTietze, 2004): Nachdem es dort jahrzehntelang nur um Selbstkonzepte oder Selbstrepräsentanzen im Sinne inhaltlicher Vorstellungen gegangen sei, um das »me«, werde nun den alten Konzeptualisierungen von James (1980) und William Stern (1923) gemäß das »I« als unmittelbar erlebendes und agierendes Wesen wieder mitgedacht: das »I«, das Selbst als Agent, als ein absichtsvolles Ganzes, das fähig ist, sich z. B. zu den einzelnen Selbsterfahrungen in Opposition zu begeben und mit verschiedenen Repräsentanzen eine reziproke Beziehung einzugehen (Saperstein & Gaines, 1973, S. 422). Und Epstein (1973, 1983) spricht vom Selbstkonzept als von einer Theorie der Person über sich selbst und davon, dass Abwehrmechanismen dann eingesetzt werden, wenn die bevorzugte Sicht von sich selbst aufrecht erhalten und die Kohärenz des Selbst gewährleistet werden soll.
Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept
4.4
Das Klientenzentrierte Konzept ist z. B. schon immer von der Unterscheidung von »I« und »me« ausgegangen und davon, dass Abwehr der Bedrohung des Selbstbildes gilt (7 Kap. 5), unterscheidet sich aber vor allem in einem Punkt von den Konzeptualisierungen des Selbst in anderen psychologischen Theorien: Es geht davon aus, dass die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. ! Die gesprächspsychotherapeutische, aus der Erfahrung und der empirischen Forschung abgeleitete Therapietheorie besagt, dass, wenn der Klient zumindest in Ansätzen wahr- und annehmen kann, dass sein Therapeut ihn in seiner Erfahrungswelt (7 Kap. 3.3.1) empathisch versteht, dabei kongruent bleibt und ihm gegenüber keine anderen Gefühle hegt als unbedingte Wertschätzung (= ihn bedingungsfrei positiv beachtet), ein psychotherapeutischer Prozess in Gang kommt. Dieser therapeutische Prozess
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77 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
beinhaltet, dass Erfahrungen, die bisher eine Bedrohung für das Selbstkonzept darstellten, im Schutz der therapeutischen Beziehung gemacht und in das Selbstkonzept integriert werden können. Dadurch entwickelt sich das Selbstkonzept weiter.
Wir ziehen daraus den Schluss, dass die Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess auch die Bedingungen für die Selbstkonzeptentwicklung sind. Wir gehen in Analogie dazu davon aus, dass schon vom Beginn der Selbstkonzeptentwicklung an – d. h. von Geburt an – Selbsterfahrungen dann in das Selbstbild integriert werden, wenn die Person in ihnen von einer wichtigen anderen Person, die in diesem Moment kongruent ist, empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt wird. Anders formuliert: Gesprächspsychotherapeuten gehen davon aus, dass die Selbstkonzeptentwicklung ein sich selbst organisierender Prozess ist, der an interaktionelle Bedingungen geknüpft ist. In diesen spielen empathisches Verstehen und unbedingte Wertschätzung und die Fähigkeit einer wichtigen anderen Person, sich ihre eigenen Erfahrungen und die des Kindes bewusst zu machen und dabei klar voneinander zu unterscheiden, eine eben so zentrale Rolle wie die Fähigkeit des Kindes, wahrzunehmen, dass die wichtige andere Person die Erfahrungen des Kindes empathisch versteht und unbedingt wertschätzt. Man sagt dazu heute: Die interaktionellen Prozesse, aus denen ein Selbstkonzept hervorgeht, wären ohne eine »integrative Kompetenz« des Kindes und eine »intuitive Mütterlichkeit« seiner wichtigen Anderen – das sind die Pflege- oder Bindungspersonen – nicht möglich. Wir werden darauf zurückkommen.
Die in das Selbst in der Definition des Klientenzentrierten Konzepts integrierten Erfahrungen sind 5 potenziell bewusstseinsfähige Selbst- und Beziehungserfahrungen, 5 in denen die Person empathisch verstanden und 5 unbedingt wertgeschätzt worden ist
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5 von einer kongruenten anderen Person, und d. h. 5 zusammen mit der Erfahrung gemacht worden sind, empathisch positiv beachtet zu werden.
Selbst- und Beziehungserfahrungen, die nicht zusammen mit der Erfahrung gemacht werden, empathisch unbedingt positiv beachtet zu werden, können nicht in das Selbstkonzept integriert werden.
4.5
Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt
Empathie und vor allem auch die Wahrnehmung von empathischem Verstehen sind unter anderem deshalb von Beginn des Lebens an möglich, weil die Menschen affektiv aufeinander eingestellt sind. Der Mensch hat von Geburt an Affekte, bringt sie zum Ausdruck und reagiert auf den Affektausdruck von anderen. Das Baby kann sogar Interaktionen, in denen Affekte ausgetauscht werden und es empathisch verstanden werden kann, selbst initiieren und tut das auch. »Angeborene Affekte sind Disstress (als überfordete Reaktion auf Stress), Wut, Freude, Überraschung, Ekel und Interesse. Diese unterscheidbaren Affekte gehen mit mimischen Muskelbewegungen und Reaktionsmustern des autonomen Nervensystems einher (Izard, 1981). Ab der 4. bis 7. Woche tritt Freude, ab dem 3. bis 7. Monat Ärger und Traurigkeit, ab dem 4. bis 6. Monat Furcht und ab dem 2. Lebensjahr Schuld hinzu (Krause, 1983, 1990)« (Milch, 1998, S. 12).
4.6
Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
4.6.1
Der Prozess der Selbsterfahrung
Die empirische Herausarbeitung der o. g. Erkenntnis über die Rolle, die Affekte in der Interaktion zwischen Menschen und damit in der psychischen
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4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Entwicklung spielen, verdanken wir zu großen Teilen der modernen Säuglingsforschung. In dieser nehmen die Arbeiten von Daniel Stern (1985/2003) einen herausragenden Platz ein. Sterns beschreibt die Entwicklung des Selbsterlebens von Geburt an. Für ihn ist der »sense of self« das primäre Organisationsprinzip der Entwicklung. Er – der »sense of self«, das ist das Empfinden eines Selbst – werde als sehr real erlebt und durchdringe alle anderen Erfahrungen. Er sei zwar nicht immer bewusst, wir könnten uns ihn aber ins Bewusstsein holen und dort auch halten. Das Empfinden des Selbst bzw. der Prozess der Selbsterfahrung tauche in vielerlei Formen auf: 4 Wir erleben uns als einen einzelnen, abgegrenzten, integrierten Körper. 4 Wenn wir etwas tun, erleben wir uns selbst als handelnd. 4 Wenn wir etwas fühlen, Wünsche haben, Pläne schmieden, das in Worte fassen und anderen mitteilen, erleben wir das als ein uns selbst erfahren. 4 Wir erleben unsere Selbsterfahrungen auch so, als gehörten sie zusammen. 4 Und wir erleben unser Selbst nicht nur als den Ausgangspunkt unserer Erfahrung, sondern auch als Bezugspunkt. Wir erleben uns selbst in der Beziehung zu anderen, aber auch in der Beziehung zu unserem Erleben und zu uns selbst. Stern bezeichnet das Selbst als eine Organisation, einen Prozess, in dem Erleben organisiert wird. Und er hält, wie gesagt, die Entwicklung dieser Organisation des subjektiven Selbsterlebens für das primäre Organisationsprinzip der psychischen Entwicklung. Der »sense of self«, als Prozess der Selbsterfahrung, existiere schon, bevor die Fähigkeit, ihn zu reflektieren und sich seiner Inhalte bewusst zu werden, entwickelt bzw. gereift sei und vor der Entstehung von Sprache. Nach der Entwicklung der Fähigkeit zur Reflexion sei er zwar auch nicht immer bewusst, könne aber bewusst werden. Der Prozess der Selbsterfahrung habe verschiedene Formen. Diese tauchten in der Entwicklung zwar nacheinander auf, bestünden aber, wenn sie erst einmal entwickelt seien, immer gleichzeitig nebeneinander. Zu jeder dieser voneinander unter-
scheidbaren Formen der Selbsterfahrung gehöre eine eigene Form der Bezogenheit auf andere Menschen.
4.6.2
Die auftauchende Selbstempfindung
Vom Beginn der Entwicklung an existiert die auftauchende Selbstempfindung. Die systematische Säuglingsbeobachtung hat gezeigt, dass der Säugling von Beginn seines Lebens an z. B. Vitalitäts- und kategoriale Affekte erlebt und ausdrückt und physiologische Spannungen auf der Lust- Unlustskala voneinander unterscheidet. Diese Wahrnehmungen der Innenwelt bzw. diese Selbsterfahrungen werden genau so wie die Reize und Wahrnehmungsinhalte aus der Außenwelt als sich in der Intensität, der Form und im Zeitmuster voneinander unterscheidend erlebt. Der Säugling reagiert auch auf das menschliche Gesicht und imitiert dessen Mimik, was wiederum propriozeptive Wahrnehmungen beinhaltet, also Selbstwahrnehmungen. Auch Stern geht auf der Grundlage der Ergebnisse der systematischen Säuglingsbeobachtung davon aus, dass das Kind niemals in einer Symbiose lebt, sondern von Anfang an ein Selbstempfinden hat und dieses von seinem Empfinden der Außenwelt unterscheiden kann. Es konnte gezeigt werden, dass Säuglinge die Invarianten innerer eigener Erfahrungen und die Invarianten des Erlebens äußerer Gegebenheiten identifizieren und voneinander unterscheiden können. Dabei spielt eine Rolle, dass Säuglinge z. B. die Fähigkeit zur transmodalen Wahrnehmung besitzen. Sie können die in einer Sinnesmodalität aufgenommenen Reizmuster in eine andere Sinnesmodalität übersetzen, z. B. Schnuller, die sich unterschiedlich anfühlen und an denen sie bisher nur gesaugt haben, voneinander unterscheiden, wenn sie diese sehen. ! Das auftauchende Selbst ist nach Stern der Prozess und das Resultat der Integration von Selbstwahrnehmungen. Die Selbsterfahrungen werden vom Beginn des Lebens an in ein Selbstkonzept integriert.
79 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
4.6.3
Die Konsolidierung der Empfindung eines Kernselbst
Diese Integration von Selbsterfahrungen in ein Selbstkonzept bedeutet zunächst, dass sich schon in den ersten beiden Lebensmonaten aus dem Meer von Erfahrungen mit der Welt und von bzw. mit sich selbst die Erfahrung eines handelnden und fühlenden kohärenten körperlichen Selbst organisiert, und zwar in der Interaktion mit der Mutter. Mutter bedeutet hier eine wichtige immer wieder anwesende und mit dem Kind in einen affektiven Austausch tretende Pflegeperson. Wir werden später darauf eingehen, dass sich das Kind im Verlauf des ersten Lebensjahres an einige wenige solche Pflegepersonen oder wichtige Andere bindet und dass aus den Interaktionen mit diesen ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses resultiert. Zwischen dem 2. und dem 6. Lebensmonat konsolidiere sich – so Stern – diese Empfindung eines Kern-Selbst: das Empfinden, eine zusammenhängende, abgegrenzte, körperliche Einheit zu sein, mit einem Gefühl, selbst zu handeln und selbst zu fühlen und von Kontinuität in der Zeit und damit einer eigenen Geschichte. Die Konsolidierung des Kernselbst geschehe in Interaktionen, die dem Kind Gelegenheit gäben, die invarianten eigenen und die invarianten Züge seines Gegenübers bezüglich des Erlebens der Körper, der Gefühle, der Intentionen und der Kontinuität in der Zeit zu identifizieren. Das ursprüngliche Kernselbst sei aber noch keine gedankliche Gestalt. Die Körperempfindungen, Gefühle und Intentionen z. B. werden noch nicht reflektiert, das Erleben ist präsymbolisch. Die Integration von Selbsterfahrung in ein Selbstkonzept geschehe zunächst so, dass Erfahrungen in der Form von sog. RIG gespeichert werden: Repräsentanzen von Interaktionserfahrungen, die generalisiert sind. Das heißt zum einen, dass nicht einzelne Wahrnehmungen repräsentiert und im Gedächtnis gespeichert werden, sondern ganze Interaktionsabläufe, zu denen Handlungen des Interaktionspartners, eigene Handlungen und der Ablauf der dazu gehörenden affektiven Selbstbefindlichkeit gehören. »…was anfänglich verinnerlicht wird, ist nicht ein Objekt per se, sondern eine Objektbezie6
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hung. Handlungen des Selbst, die sich auf Handlungen der Objekte beziehen … Was verinnerlicht wird, schließt deshalb wechselseitig regulierte Abfolgen von mütterlichen und kindlichen Handlungen ein, die eine bestimmte zeitliche Strukturierung aufweisen.« (Beebe & Stern, 1977, S. 52; Beebe & Lachmann, 1988, zitiert nach Dornes, 1993, S. 65) Und das heißt zum anderen, dass nicht konkrete einzelne Interaktionserfahrungen, sondern sog. Durchschnittserfahrungen gespeichert werden, die es in Wahrheit so nie gegeben hat. Wenn später eine Erfahrung gemacht wird, die nur einen Teil einer RIG enthält, wird nicht etwa nur die Erinnerung an diesen einen Teil der Interaktion – in der das Subjekt, das Objekt und ein Affekt eine Rolle spielen – wachgerufen und dann auch gespeichert, und auch nicht eine Erfahrung, sondern die gesamte Durchschnittserfahrung. Eine in der Erinnerung aktivierte RIG bedeutet also immer auch das Auftauchen von Annahmen darüber, wie sich die konkrete im Hier und Jetzt ereignende Interaktion und Selbstbefindlichkeit weiterentwickeln wird. Zur Entwicklung des Konzepts der Repräsentanzen der Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt, die generalisiert sind, im Selbst führt Kernberg aus: »1959 (besuchte) ich während meines einjährigen Aufenthaltes in Baltimore am Psychiatrischen Institut der University of Maryland eine Vorlesung von Talcott Parsons, der unter anderem folgendes feststellte: ›Was wir im Rahmen von Identifizierungen verinnerlichen, ist nicht die Identifikation mit einem Objekt, sondern mit einer Beziehung zwischen Objekt und Selbst‹. Dieser Satz war für mich der Schlüssel zum Verständnis des Aufbaus der inneren Welt der Objektbeziehungen und ihrer allmählichen Kristallisierung in drei intrapsychische Strukturen. Die Beiträge von Joseph Sander, der selbst wiederum von Edith Jacobson inspiriert war, zum Konzept der »Repräsentanzenwelt«, Fairbairns und Jacobsons Theorien, sowie Mahlers Anwendung der Theorien von Edith Jacobson auf das Konzept der Separation und Individuation konnten allesamt mit Hilfe von 6
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Talcott Parsons Konzept integriert werden. Dieser Konzeptualisierung von dyadischen Internalisierungen von Selbst- und Objektrepräsentanzen fügte John Sutherland seine Überlegung hinzu, dass Beziehungen internalisiert werden unter der Einwirkung bzw. im Rahmen eines mächtigen Affekts. All dies bildete die Grundlage für meine Schlussfolgerung, dass Selbstrepräsentanzen, Objektrepräsentanzen sowie ein Affekt, der diese verbindet, die grundlegenden dyadischen Einheiten darstellen, die das Gebäude unseres psychischen Apparates ausmachen.« (Kernberg, 2005, S. 260) Zum Beispiel sind die Arbeitsmodelle (»working models«) im Sinne Bowlby’s, die unterschiedlichem Bindungsverhalten zugrunde liegen, solche Muster von RIG, d. h. Vorstellungen vom Verhalten und Fühlen und Wollen der Mutter und den eigenen Reaktionen und Affekten in der Interaktion mit ihr. Auch darauf werden wir zurückkommen. Erst im weiteren Verlauf der Entwicklung gestaltet sich das Gedächtnis so, dass auch die einmalige Interaktionserfahrung von gestern Abend abgehoben von der generalisierten Erfahrung, von der Mutter ins Bett gebracht zu werden, in die Erinnerung gerufen werden kann. Die subjektive Realität bleibt aber auch dann fast durchgängig ein Gefühl vom »Selbst mit anderen«.
4.6.4
Die Empfindung eines subjektiven Selbst
Zwischen dem 7. und dem 15. Monat bildet sich die Empfindung eines subjektiven Selbst heraus. Das Kind erfasst nun, dass es ein eigenes inneres subjektives Erleben hat, dass andere so etwas ebenfalls haben, dass hinter äußeren Handlungen innere Beweggründe stehen. Seelenzustände können nun gelesen und miteinander verglichen werden. Der Fokus der Aufmerksamkeit kann mit einer anderen Person geteilt werden. Intersubjektivität als Erweiterung von Interaktion wird möglich. Wenn eine Mutter sich in ihr Kind einfühlt, weiß das Kind jetzt, dass die Mutter weiß, dass es fühlt. Kinder zeigen sich ausgesprochen interessiert an Intersubjektivität in diesem
Sinne. Wenn sie in diesem Interesse abgewiesen werden, hat das schwerwiegende Folgen. Es geht nämlich in dieser Entwicklungsphase darum, herauszufinden, welcher Teil des inneren Erlebens einer anderen Person mitgeteilt werden kann und welcher nicht, wie viel menschliche Teilhabe auf der einen Seite und wie viel psychische Isolierung und Einsamkeit auf der anderen Seite erlebt werden. Gefühlszustände, die nie einem anderen mitgeteilt werden konnten, bei denen nie Teilnahme erlebt worden ist, werden als unteilbar erlebt. Die Mitteilung des subjektiven Selbst und die Entdeckung des subjektiven Selbst der anderen, das sog. Neunter-Monats-Wunder, beginnt damit, dass die Kinder der Blicklinie der Mutter folgen. Sie drehen den Kopf dahin, wohin ihn die Mutter dreht, und sie schauen nicht mehr auf den deutenden Finger der Mutter, sondern dahin, wohin er zeigt (»joint attention«). Dann schauen sie zur Mutter zurück, um sich zu vergewissern (»social referencing«), dass sie auch das gesehen haben, was die Mutter meinte (»checking back«). Die Kinder bemühen sich jetzt auch ihrerseits darum, die Aufmerksamkeit der Mutter auf das zu lenken, was sie interessiert, was sie z. B. haben wollen. Und die Kinder schauen zur Mutter, wenn sie wissen wollen, ob ihr Affekt angemessen ist. Sie halten z. B. in einer gefährlichen Situation inne, wenn die Mutter Angst signalisiert. Die meisten vorsprachlichen Austauschformen, in denen es um Aufmerksamkeit und um Absichten geht, sind affektiv getönt. Und die Kinder genießen es, wenn die Kommunikation über subjektive Zustände gelingt. In der Zeit der Entdeckung des subjektiven Selbst ändern die Mütter ihren Umgang mit den Kindern. Sie zeigen z. B. »affect-attunement«, indem sie nicht mehr den Gefühlsausdruck des Kindes, wenn sie sich mit ihm verständigen wollen, wie in der frühen Säuglingszeit imitieren, sondern sie spiegeln dem Kind seinen Affekt in einer anderen Modalität, meistens ohne dass ihnen das bewusst ist. Sie klatschen z. B. in die Hände, wenn sich das Kind über etwas freut. »Affect-attunement« ist nicht dasselbe wie die Empathie des Erwachsenen, denn es fehlen beim Kind noch – und meistens auch bei der Mutter – die bei der Empathie auch mitspielenden kognitiven Prozesse. Die emotionale Resonanz wird beim
81 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
»affect-attunement« meistens automatisch im Sinne von unreflektiert in eine Ausdrucksform gegossen. Kinder nehmen die emotionale Resonanz auch wie etwas Selbstverständliches wahr. Erst wenn sie ausbleibt, wundern sie sich. Beim »affect-attunement« spielen besonders die amodalen Wahrnehmungsqualitäten von Affektgestalten eine große Rolle: Intensität, Zeit und Form, die absolute Intensität und die Intensitätskontur, Takt, Rhythmus und Dauer, wobei die Intensität die größte Rolle spielt. Es gibt Überlegungen dergestalt, dass, wenn die Mütter dem Kind sein Erleben in einer anderen Modalität spiegeln, als die, in der das Kind sich ausdrückt, sie deutlicher markieren, dass sie das Erleben des Kindes spiegeln und nicht ein eigenes zum Ausdruck bringen. Das Kind könne dann z. B. leichter erkennen, dass die Mutter wahrgenommen hat, dass etwas das Kind ängstigt und dass nicht etwa die Mutter geängstigt ist. Gergely (1995; Gergely & Watson, 1996) geht zusätzlich davon aus, dass durch dieses deutliche sehen können, dass es verstanden wird, der Angstaffekt des Kindes abnimmt. Die beiden Erfahrungen zusammen, dass das Kind es schafft, dass die Mutter versteht und dass die Angst abnimmt, werden das »Effektanzgefühl« genannt.
4.6.5
4
führt wird. Manche Erfahrensweisen, insbesondere solche des Kernselbst, bleiben unverbalisiert. Das heißt aber nicht, dass sie verschwinden. Sie existieren sehr real weiter. Nur die Ganzheit des Erlebens geht verloren. (Wenn die Erfahrungen des auftauchenden und des Kernselbst nicht mehr gemacht werden, wenn die Erfahrung ein von der Außenwelt deutlich unterscheidbares, handelndes und fühlendes kohärentes körperliches Selbst zu sein, das sich selbst in Affekten und Interaktionen mit anderen erlebt, fehlt, dann liegt Selbstpathologie vor; 7 Kap. 5.) Nach Stern geht es dem Kind in der Zeit der Entwicklung des verbalen Selbst mehr denn je darum, in seiner inneren Erfahrung und der Bedeutung, die sie für das Kind hat, verstanden zu werden, sie teilen zu können. Das Kind könne jetzt auch zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint ist, unterscheiden. Es könne zu Double-Bind-Kommunikationen kommen. Die Mutter kann sich jetzt innerlich abwenden aber nach außen freundlich sein. Das beunruhigt das Kind zutiefst. Das Kind könne jetzt aber auch seine eigene Erlebensrealität transzendieren und verzerren. Es kann Erfahrung abwehren, z. B. sein Gefühl der Trauer hinter seiner Unzufriedenheit nicht bemerken.
Das verbale Selbst 4.6.6
Etwa ab dem 15. Monat entsteht als vierte Organisationsstufe des Selbsterlebens das Empfinden des verbalen Selbst und der verbalen Bezogenheit. Das Selbst kann jetzt ins Bewusstsein treten. Das Kind erkennt sich jetzt im Spiegel. Es kann innere Zustände sprachlich symbolisieren. Jetzt können innere Erlebniszustände nicht mehr nur wie im Bereich der intersubjektiven Bezogenheit geteilt werden, jetzt können auch die, wie es heißt, wechselseitig geschaffenen Bedeutungen von persönlichem Erleben geteilt werden, die Symbolisierungen. Mutter und Kind können sich jetzt nicht nur darüber verständigen, dass das Kind wütend ist, sie können sich auch darüber verständigen, wie sie das bewerten bzw. welche Bedeutung es hat und wie dieser Seelenzustand demzufolge genannt wird: ärgerlich oder sauer oder böse beispielsweise. Es ist davon auszugehen, dass nur ein Teil des ursprünglichen globalen Erlebens in Worte über-
Das narrative Selbst
Durch die Sprache wird die Fähigkeit erworben, Geschichten zu erzählen: Geschichten, die einen Anfang und ein Ende haben, von Personen, die etwas denken, fühlen, wollen und tun, und auch die eigene Lebensgeschichte. Das erzählte (»narrated«) Selbst entsteht. An die Stelle einer Aufzählung von Ereignissen kann eine zusammenhängende Geschichte treten. Offenbar gibt es erst von diesem Zeitpunkt an ein kontinuierliches Gedächtnis an einzelne Episoden im Erleben.
4.6.7
Zusammenfassung und Bezug zum Klientenzentrierten Konzept
Eine solche konkrete und differenzierte Beschreibung der Selbsterfahrung, ihrer Entwicklung und ihrer Integration in ein Selbstkonzept von der Ge-
82
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
burt an wie diese von Daniel Stern gibt es im Klientenzentrierten Konzept nicht, bzw. das Referat der Darstellung der Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung durch Stern soll veranschaulichen, welche Erfahrungen das sind, die in ein Selbstkonzept integriert werden.
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! Stern betont, dass die Konsolidierung des Kernselbst in Interaktionen geschieht, in denen das Kind Gelegenheit hat, seinen Körper, seine Gefühle und seine Intentionen als abgegrenzt vom Körper, den Gefühlen und den Intentionen einer anderen Person zu erfahren und sich selbst als mit sich selbst identisch bzw. als kontinuierlich, d. h. als ein und dieselbe Person über die Zeit.
Aus der Klientenzentrierten Perspektive ist hinzuzufügen, dass die präsymbolische Selbsterfahrung nicht nur in RIG gespeichert in ein Selbstkonzept integriert wird, sondern auch zusammen mit der Erfahrung, dass das Kind und sein Affekt – als Ausdruck der Bewertung der Erfahrung – in der Interaktion empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden und die Kontaktperson sich auch des eigenen Affektes in der Situation bewusst werden könnte, d. h. kongruent ist. Stern macht ferner sehr deutlich, dass bei der Konsolidierung der Empfindung des subjektiven Selbst nicht nur die Fähigkeit, die eigenen Seelenzustände wahrzunehmen, sondern auch die, die Seelenzustände anderer zu lesen und mit den eigenen zu vergleichen, von großer Bedeutung ist; dass es darum geht, welcher Teil der inneren Erfahrung mit anderen geteilt werden kann und welcher nicht, und welcher wie beurteilt wird. In diesen Zusammenhängen entstehe das Effektanzgefühl, das Selbstbewusstsein bezüglich der eigenen Fähigkeiten, sich selbst verständlich machen und damit von Angst befreien zu können. Auch in diesem Zusammenhang ist die Klientenzentrierte Annahme zu betonen: Nicht nur in den eigenen Seelenzuständen, sondern auch in der Erfahrung, sich selbst und andere in Seelenzuständen und in ihrer Beurteilung wahrzunehmen, muss das Kind empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden von einer kongruenten Person, sonst kann es diese nicht in sein Selbstkonzept integrieren.
4.7
Die Bindungstheorie
In welchem Ausmaß und in welcher Weise das Selbstkonzept und seine Stabilität ein Abbild der Interaktionserfahrungen sind, die eine Person als Kind gemacht hat, wird in der Bindungstheorie deutlich. Sie veranschaulicht ferner, was unter Empathie und unbedingter Wertschätzung in den ersten Lebensmonaten zu verstehen ist bzw. unter »intuitiver Mütterlichkeit« und auf welche Erfahrungen des Kindes sich die unbedingte positive Beachtung vor allem richtet. Die Bindungstheorie (Bowlby, 1969/1975, 1973/1976, 1980/1983; 7 Kap. 4.11) soll daher an dieser Stelle – und vor allem unter diesen Gesichtspunkten – referiert werden. Die folgende Darstellung der Bindungstheorie stellt also einen weiteren Versuch dar, die abstrakten Vorstellungen im Klientenzentrierten Konzept von den Erfahrungen, ihren Inhalten und ihren Bewertungen und von den Bedingungen, unter denen sie in ein Selbstkonzept integriert werden, zu veranschaulichen.
4.7.1
Die zentralen Postulate der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie ist ursprünglich von dem britischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby auf der Suche nach einer Erklärung für die Entwicklungsschäden der vielen Kinder nach dem 2. Weltkrieg entwickelt worden, die von ihren Eltern getrennt worden waren oder sie ganz verloren hatten. Bei der Suche nach einer solchen Erklärung stieß Bowlby auf eine nicht nur bei Kindern, sondern in jedem Lebensalter zu beobachtende Neigung des Menschen, andauernde Bindungen an andere Personen aufzubauen und diese als nicht ersetzbar zu erleben. Bowlby hat vor allem die emotionale Seite der Bindung betont und dabei zunächst die Reaktionen auf Trennungen: Angst, Ärger und Protest und später Verzweiflung und Traurigkeit, die in einen emotionalen Rückzug münden.
83 4.7 · Die Bindungstheorie
Drei zentrale Grundannahmen der Bindungstheorie nach Bowlby 1. Ein Mensch, der in seiner Entwicklung die Erfahrung gemacht hat, dass seine Bindungsperson da ist, wenn er sie braucht, neigt zu weniger intensiver und chronischer Angst als ein Mensch, der diese Erfahrung nicht gemacht hat (vgl. das Effektanzgefühl). 2. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Bindungsperson – bzw. ein Urmisstrauen – entwickelt sich im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter und bleibt das ganze Leben lang bestehen. 3. Diese Erwartungen an andere Menschen in Situationen, in denen man sie braucht, die sog. »Inneren Arbeitsmodelle«, sind ein ziemlich genaues Abbild der Erfahrungen, die das Kind tatsächlich in bindungsrelevanten Situationen gemacht hat.
4.7.2
Das Bindungsbedürfnis ist ein eigenständiges Bedürfnis
In der Bindungstheorie wird davon ausgegangen, dass es ein biologisch angelegtes »Bindungssystem« gibt und dass es ein eigenständiges Bindungsbedürfnis gibt. Bindung sei nicht das Resultat z. B. der Befriedigung der Bedürfnisse nach Nahrungsaufnahme oder Entspannung durch bestimmte Personen. Das Bindungsbedürfnis gilt als eigenständig wie der »sense of self« nach Stern oder die Selbstaktualisierungstendenz bzw. das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung im Klientenzentrierten Konzept. Das Bindungssystem ist ein Verhaltenssystem, das ist eine komplexe Konstellation aus Verhaltensbereitschaften und Gefühlen. Es wird aktiviert, wenn eine äußere oder innere Gefahr droht, der nicht aus eigener Kraft begegnet werden kann, d. h. auch, dass das Kind eine Bindungsperson braucht. Dann zeigt sich das sog. »Bindungsverhalten«. Es besteht beim kleinen Kind darin, dass es versucht, in die körperliche Nähe der Personen zu kommen, zu denen es eine »Bindung« aufbaut. Ist die Erreichbarkeit in Frage gestellt, zeigt das Kind Trennungsangst und Protest.
4
Wenn das Bindungssystem voll aktiviert ist, ist das Kind an nichts anderem mehr interessiert als an der Bindungsperson. Das andere wichtige Verhaltenssystem, das in der Bindungstheorie angenommen wird, das Explorationssystem, ist dann desaktiviert. Auch während das Kind die Umwelt entdeckt und erforscht, vergewissert es sich der Erreichbarkeit der Bindungsperson immer wieder. Die Bindungsperson wird daher auch die sichere Basis genannt, von der aus die Welt exploriert wird und zu der das kleine Kind immer wieder zurückkehrt, wenn Trost und Versicherung – und wie Stern aufgezeigt hat, Bestätigung von Wahrnehmungen und Affekten und der Möglichkeit von Intersubjektivität – vonnöten sind bzw. um zu überprüfen, ob sie noch da ist. Sobald sich ein erstes inneres Bild von der Bindungsperson entwickelt hat – und das passiert schon im Laufe des ersten Lebensjahres –, beginnt das Kind auch, nach ihr zu suchen, und zeigt Kummer, wenn es sich als von ihr getrennt vorfindet. Das Bedürfnis nach einer sicheren Basis, d. h. nach einer zuverlässigen Bindungsperson, und ein sich mit dem älter werden natürlich veränderndes Bindungsverhalten bleiben während des ganzen Lebens bestehen.
Drei charakteristische Merkmale von Bindung 1. Suchen und Aufrechterhalten von Nähe sowie Protest und Kummer bei Trennung 2. Nutzen der Bindungsbeziehung als sichere Basis, von der ausgehend die Umwelt exploriert wird 3. Erleben der Bindungsbeziehung als Zufluchtsort, an dem Schutz, Trost, Unterstützung und Sicherheit gesucht werden
4.7.3
Die Bindungsmuster
Das Bindungsverhalten entwickelt sich in Abhängigkeit von den Interaktionserfahrungen mit der Bindungsperson. Schon wenn die Kinder 12–16 Monate alt sind, lassen sich bestimmte Muster von aufeinander bezogenen Verhaltensweisen von Bindungsperson und Kind in Situationen, in denen das Bindungs-
84
4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
system aktiviert ist, voneinander unterscheiden, die sog. »Bindungsmuster« oder »Bindungsstile«. Die Ausdrucksformen der Bindungsmuster wandeln sich mit der Zeit, d. h. mit dem Älterwerden und den Erfahrungen. In ihrer Grundstruktur sind die Bindungsmuster aber relativ konstant und werden sogar in einem gewissen Ausmaß von Generation zu Generation weitergegeben. Das heißt konkret: Das Bindungsmuster von Kleinkindern im Alter von 12–16 Monaten lässt sich zu einem hohen Prozentsatz aus dem Bindungsmuster, das ihre Mütter vor ihrer Geburt zeigen, voraussagen und hat darüber hinaus auch einen Zusammenhang mit den Bindungsbeziehungserfahrungen der Großmütter dieser Kleinkinder. Das »primäre« bzw. als biologisch angelegt angesehene Bindungsverhalten des Kleinkindes, wenn es Beruhigung, Trost oder Schutz bei der Bindungsperson sucht, beinhaltet Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen und Protest beim Verlassenwerden. Das dazu komplementäre Bindungsverhalten der Bindungsperson beinhaltet das sog. feinfühlige Gewähren von räumlicher bzw. körperlicher und psychischer Nähe über besänftigende Worte bis zum Liebkosen, Drücken, Halten. Vereinfachend werden zwei Arten von nicht feinfühligem Verhalten unterschieden: 4 Die Bindungsperson reagiert nicht auf das Bindungsverhalten des Kindes. 4 Die Bindungsperson reagiert nicht so, dass sie für das Kind in ihrer Erreichbarkeit vorhersagbar wird, d. h. sie reagiert mal feinfühlig und mal nicht feinfühlig. Daraus ergeben sich drei Muster von Zugänglichkeit: 4 Die Bindungsperson ist vorhersagbar zugänglich. 4 Die Bindungsperson ist vorhersagbar unzugänglich. 4 Das Verhalten der Bindungsperson, ihre Zugänglichkeit, ist nicht vorhersagbar. Der Vorhersagbarkeit der Bindungsperson entsprechend sind die Bindungsmuster, die sich entwickeln. Es werden- wieder vereinfachend ausgedrückt– voneinander unterschieden:
Drei Muster von Bindung zwischen Kind und Bindungsperson 1. Sicheres Bindungsmuster 2. Unsicher vermeidendes Bindungsmuster 3. Ängstlich ambivalentes Bindungsmuster
In der sicheren Bindungsbeziehung zeigt das Kind Bindungsverhalten, wenn sein Bindungssystem aktiviert ist, und die Mutter reagiert feinfühlig. Sie lässt also sowohl die Explorationswünsche des Kindes als auch seine geäußerten Wünsche nach Nähe gelten, und zwar dann, wenn das Kind sie äußert. In der unsicher vermeidenden Bindungsbeziehung reagiert die Mutter vorhersagbar nicht feinfühlig und das Kind zeigt kein Bindungsverhalten auf der Verhaltensebene, aber z. B. auch keine Freude, wenn die Mutter nach einer kurzen Trennung zurückkommt. In den physiologischen Parametern zeigen diese Kinder aber Hinweise auf Stress in bindungsrelevanten Situationen. Es wird z. B. angenommen, dass sie sich mit ihrer emotionalen Zurückhaltung die Zurückweisung durch die Bindungsperson ersparen. In der unsicher ambivalenten Bindungsbeziehung ist die Reaktion der Mutter nicht vorhersagbar, und das Kind kann nicht aufhören, Bindungsverhalten zu zeigen. Es ist anzunehmen, dass das bereits Ausdruck einer überhöhten Wachsamkeit bzw. chronischen Aktiviertheit des Bindungssystems ist. Das Kind klammert. Von einem sog. desorganisierten Bindungsmuster wird dann gesprochen, wenn die Kinder nach Trennungen gleichzeitig miteinander nicht zu vereinbarende Verhaltensweisen aus den verschiedenen Bindungsstilen und zum Teil bizarr anmutende Verhaltensweisen zeigen. Das Kind erstarrt z. B. (»freezing«) oder schlägt die Mutter, nachdem es sich in ihren Arm geflüchtet hat. In der Bindungstheorie wird angenommen, dass den Bindungsmustern sog. Innere Arbeitsmodelle zu Grunde liegen, Zusammenschlüsse von RIG (7 Kap. 4.6.3), Repräsentanzen von Interaktionserfahrungen, die generalisiert sind, und dass sich der Mensch diesen Erfahrungen, aus denen sich Erwartungen an die durchschnittliche Bindungserfahrung ergeben, entsprechend verhält.
85 4.7 · Die Bindungstheorie
Empirische Untersuchungen haben ergeben (Main, Kaplan & Cassidy, 1985), dass das Innere Arbeitsmodell der Mutter, ihre Vorstellungen vom Verhalten des anderen und der damit einhergehenden Selbsterfahrung und dem entsprechenden eigenen Verhalten in bindungsrelevanten Situationen, einen großen Einfluss darauf nimmt, welches Bindungsmuster ihr Kind entwickelt. Man unterscheidet analog zu den Bindungsmustern der Kinder die folgenden Inneren Arbeitsmodelle von Erwachsenen (im Modus des verbalen bzw. narrativen Selbst):
Vier Innere Arbeitsmodelle bei Erwachsenen 1. Sicher gebundene erwachsene Personen berichten offen und kohärent über ihre Bindungserfahrungen früher und heute und sehen enge Beziehungen als etwas Positives und Bereicherndes an. 2. Die ablehnend-distanzierte (analog zu unsicher-vermeidend) erwachsene Person idealisiert ihre Kindheit pauschal und hat kaum Erinnerungen an konkrete Erfahrungen in bindungsrelevanten Situationen. Sie legt großen Wert auf Unabhängigkeit, und zwar als etwas, das nichts mit Bindungsbeziehungen zu tun habe. 3. Erwachsene mit anklammernd verwickeltem (analog zum ängstlich-ambivalenten) Muster sind unfähig zur Distanz von ihren früheren Beziehungskonflikten bzw. unverändert in sie verstrickt. Sie bewerten Bindungsbeziehungen als extrem wichtig, sind aber häufig unglücklich oder unzufrieden mit ihren aktuellen Beziehungen und fühlen sich abhängig von deren Gelingen. 4. Von einem desorganisierten erwachsenen Bindungsmuster wird dann gesprochen, wenn die Schilderungen der Bindungserfahrungen inkohärent, verworren und zum Teil auch irrational sind. Es wird bei unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen, körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch und schwerer emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit gefunden, kann
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4
aber auch beobachtet werden, wenn ein Trauma, z. B. ein Todesfall, zum Zeitpunkt eines Bindungsinterviews noch nicht lange zurückliegt.
4.7.4
Die drei den Bindungsmustern zugrunde liegenden Faktoren
Höger (1999) hat herausgefunden, dass den Inneren Arbeitsmodellen von Erwachsenen, also ihren eigenen Vorstellungen davon, wie sie selbst und die jeweilige Bindungsperson sich in einer bindungsrelevanten Situation verhalten werden, in der sie Nähe, Trost und Schutz brauchen, drei Faktoren zu Grunde liegen, deren Ausprägung mit Skalen gemessen werden kann: Die Skala Akzeptanzprobleme misst das Ausmaß, in dem eine Person davon überzeugt ist, für den Bindungspartner unakzeptabel zu sein. Hohe Werte auf dieser Skala zeigen an, dass eine Person sich selbst nicht akzeptiert und befürchtet, auch der Partner wird es nicht können, wenn er entdeckt, wie die Person wirklich denkt und fühlt. Die Skala Öffnungsbereitschaft betrifft die Erwartung einer Person, innere Zustände und Gefühle mitteilen zu können und beim Partner auf Verständnis zu stoßen. Niedrige Werte auf dieser Skala zeigen die Abneigung einer Person an, etwas von ihrem inneren Erleben preiszugeben. Die Skala Zuwendungsbedürfnis erfasst den bewusst erlebten Wunsch, der Beziehungspartner möge sich einem um der eigenen Person willen zuwenden, und darüber hinaus das Bedürfnis, im Denken und Fühlen des Partners einen großen Platz einzunehmen. In einer Reihe von empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass diese drei Dimensionen in fünf unterschiedlichen Konfigurationen auftreten, die inhaltlich recht gut mit den Strategien des Bindungssystems nach Main korrespondieren (Höger, 2002). So kann z. B. eine Kombination von hoher Öffnungsbereitschaft zusammen mit einem bewusst wahrgenommenen Zuwendungsbedürfnis und wenig Akzeptanzproblemen als Ausdruck eines »sicheren« Bindungsmusters angesehen werden.
4
86
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
4.7.5
Die Stabilität der Inneren Arbeitsmodelle
Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt, dass die charakteristischen Unterschiede im Verhalten zwischen den sicher und den unsicher gebundenen Kindern mit dem Älterwerden nicht verloren gehen. Sicher gebundene Kinder sind schon im Kindergarten die kompetenteren und selbstständigeren. Im Schulalter suchen sie selbständiger und nachhaltiger nach Problemlösungen, als es die weniger sicher gebundenen Kinder tun. Sie sind insgesamt selbstbewusster und weniger depressiv. Die unsicher vermeidend gebundenen Kinder zeigen in Situationen emotionaler Belastung aggressives bzw. Affekt isolierendes Verhalten. Die ängstlich ambivalent gebundenen Kinder zeigen sich hilflos und unselbständig und geben schneller auf. Sicher gebundene Kinder haben stabilere Freundschaften und sind insgesamt sozial besser eingebunden. Im psychopathologischen Bereich hat die Forschung ergeben, dass nicht bestimmte Bindungsmuster spezielle Erkrankungen »begünstigen«, sondern dass allgemein bei Menschen mit unsicherem Bindungsmuster eine erhöhte psychische Vulnerabilität angenommen werden muss. Sowohl vom Selbstkonzept des Klientenzentrierten Konzepts als auch vom Inneren Arbeitsmodell der Bindungstheorie wird angenommen, dass sie einen starken Einfluss auf das manifeste Verhalten und die Erwartungen haben, mit denen vor allem der sozialen Umwelt begegnet wird. Auch in das Selbstkonzept können nur Erfahrungen, zu denen eine soziale Interaktion gehört, integriert werden. Dass es nur empathisch und unbedingt positiv beachtete Erfahrungen sind, die in das Selbstkonzept integriert werden, könnte erklären, warum Personen, die weniger Erfahrungen mit einer einfühlsamen Bindungsperson gemacht haben, auch weniger Erinnerungen an ihre kindlichen Bindungsbeziehungen haben als Personen, deren Mütter empathischer und unbedingter in ihrer Wertschätzung waren. Und es könnte auch erklären, warum sich diese Personen weniger interessiert an Bindungsbeziehungen zeigen und sich so verhalten, als passe es nicht zu ihnen, Nähe, Trost, Schutz und Sicherheit bei anderen Menschen zu suchen – schon als Kinder im Kindergarten.
Gesprächspsychotherapeuten verdanken den Bindungstheoretikern vor allem anschauliche Vorstellungen davon, in welchen Selbsterfahrungen das Kind vom Beginn seines Lebens an empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden möchte und muss, um ein stabiles Selbstkonzept entwickeln zu können, welche Gefühle eine Bedrohung des Selbstkonzepts darstellen können und um welche es in der Psychopathologie geht: Es sind die Gefühle in bindungsrelevanten Situationen, der Wunsch nach Nähe und Kummer und Protest bei Trennungen. Klientenzentriert sehr viel abstrakter formuliert sind es die Gefühle, in denen das Bedürfnis nach empathischer bedingungsfreier positiver Beachtung erlebt wird bzw. die Gefühle, die entstehen, wenn die existentiell notwendige Empathie ausbleibt.
4.8
Die Selbsterhaltungstendenz
Gesprächspsychotherapeuten gehen davon aus, dass, sobald sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, die Selbstwahrnehmung selbst Objekt der Wahrnehmung sein kann und 4 ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt wird und 4 Inkongruenz erlebt werden kann.
4.8.1
Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung
Auf das ausgesprochene Interesse der Kinder an Intersubjektivität, sobald die subjektive Selbstempfindung möglich ist, wie es Stern beschreibt, hat Rogers mit der Annahme hingewiesen: Mit dem Selbstkonzept zusammen entwickele sich ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung (7 Kap. 3.3 und 5). Es ist von Rogers in Anlehnung an Stendal, der eine erste Klientenzentrierte Theorie der Person entwickelt hatte, wie folgt beschrieben worden: Das Kind sei abhängig von der Liebe seiner Eltern und versuche, Erfahrungen zu machen, die ihm Liebe und Anerkennung seitens der Eltern einbringen. Dabei könne es dazu kommen, dass das Kind seine eigene organismische Bewertung seiner Erfahrung, die wahre Selbsterfahrung, zugunsten einer von den Eltern wertgeschätzten Selbsterfahrung zurück
87 4.8 · Die Selbsterhaltungstendenz
stelle. Es suche z. B. Bewunderung für Mut und verleugne dabei die Angst, die angemessene organismische Bewertung einer gefährlichen Situation. Rogers und Stendal sind davon ausgegangen, dass auch solche Bewertungen durch die wichtigen Bezugspersonen in das Selbstkonzept integriert und neue Erfahrungen dann diesen »introjected values«, den sog. Bewertungsbedingungen oder Wertvorstellungen entsprechend bewertet würden. Das Kind gehe dann seinerseits selektiv und nicht unbedingt wertschätzend mit seiner Selbsterfahrung um und beurteile selbst nur die Selbsterfahrungen als positiv, in denen es positive Beachtung gefunden habe, auch wenn sie im Hinblick auf den Organismus als ganzen betrachtet gar nicht förderlich sind. Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung werde als ein universales und dauerhaftes Bedürfnis nach Anerkennung im persönlichen Erleben durch andere erlebt. Rogers hat es als ein problematisches Bedürfnis bezeichnet. Es werde bei sehr vielen Erfahrungen erlebt, sei ein sehr starkes Bedürfnis und mit ihm sei die Person auf die Interpretation ihres Erlebens durch andere Personen angewiesen. Der Wunsch nach Anerkennung durch andere könne stärker sein als das Bestreben, sich der eigenen organismischen Bewertung der Erfahrung bewusst zu werden. Die Bewertungsbedingungen als Teil des Selbstkonzepts stellten das Haupthindernis für die Entwicklung der psychologisch angepassten Person dar, indem die organismische Bewertung von Erfahrung als für den gesamten Organismus förderlich oder nicht durch die Bewertung von Erfahrung auf der Grundlage der Bewertungsbedingungen relativiert bzw. ausgeblendet werde, so dass Inkongruenz in der Art eines unbewussten Konflikts entstehe. Diese Vorstellung von »introjected values«, positiven Bewertungen durch die Eltern und entsprechenden Überzeugungen bezüglich des Wertes der eigenen Person, erinnert sehr stark an das Konzept der internalisierten Liebe der Eltern im Über-Ich in der Psychoanalyse.
4.8.2
4
Inkongruenz von Bedeutung. Obwohl schon im 7 Kap. 3 über Inkongruenz gesprochen worden ist und sie das zentrale Thema des 7 Kap. 5 sein wird,
soll sie deshalb an dieser Stelle erneut besprochen werden. Wenn sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, wird zusammen mit dem Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung auch eine Tendenz sichtbar, Erfahrung nicht nur – im Sinne der Aktualisierungstendenz – im Hinblick darauf zu bewerten, ob sie den Organismus fördert oder behindert, sondern vor allem auch im Hinblick darauf, ob sie das Selbstkonzept bestätigt oder nicht, d. h. mit den Erfahrungen, die im Selbstkonzept integriert sind, übereinstimmt, kongruent ist. Wir nennen diese Tendenz Selbsterhaltungstendenz oder Selbstverteidigungs- und auch Selbstbehauptungstendenz. Sie äußert sich auch darin, dass Erfahrung, die Inkongruenz begründet, abgewehrt wird, d. h. dem Bewusstsein ferngehalten oder im Bewusstsein so verzerrt wird, dass sie aussieht, als passe sie doch zu den Erfahrungen, aus denen sich das Selbstkonzept gebildet hat (7 Kap. 3). Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden, bewusstseinsfähige Erfahrungen sind, die etwas mit dem Selbst und seinen Beziehungen zur Umwelt zu tun haben, die von einer kongruenten anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet worden sind, d. h. zusammen mit der Erfahrung gemacht worden sind, empathisch positiv beachtet zu werden. Das heißt u. a. auch, dass auch die Erfahrung, nicht verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden und eine wichtige Bezugsperson inkongruent zu machen, schon für sich allein Inkongruenz bedeutet. Definition Als Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung wird im Klientenzentrierten Konzept das Ausmaß bezeichnet, in dem bei einer Person ihre Erfahrung mit der ins Selbstkonzept integrierten Erfahrung übereinstimmt.
Inkongruenz
Für das Verständnis der Klientenzentrierten Entwicklungslehre ist aber vor allem der Begriff der
Inkongruenz bedeutet aber nicht nur, dass z. B. Erfahrung abgewehrt wird. Inkongruenz kann auch
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4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Selbsterfahrungen beinhalten: Wenn eine Person ihre Inkongruenz nur ahnt, ist sie verletzlich. Die bewusste Selbstwahrnehmung als inkongruent ist mit Angst verbunden. Diese Angst kann in verschiedener Weise ins Bewusstsein treten: in der Form von Kampf- und/oder Fluchttendenzen bei bestimmten Erfahrungen, in der Form von Depression bei bestimmten Erfahrungen, und sie kann sich als Tarnung oder Täuschung zeigen, z. B. in der Form von vorgespiegelten – auch dem eigenen Bewusstsein! – Affekten zur Verdeckung der wahren Affekte (7 Kap. 4.6.5). Neben diesen Symbolisierungen von Angst werden die Erfahrungen, die sie ausgelöst haben bzw. nicht in das Selbstkonzept passen, es bedrohen oder infrage stellen, oft gar nicht bewusst. Auch das oben beschriebene Erleben eines Bedürfnisses nach positiver Beachtung kann als Abwehr von Erfahrung, die das Selbstkonzept bedroht, verstanden werden, und zwar als Tarnung. Es könnte auch das Resultat einer Verzerrung sein: Aus dem Erleben eines »Du solltest«, »Du müsstest« wird ein »Ich möchte«. Die meisten Menschen erleben ziemlich klar, dass sie weniger ein Bedürfnis nach positiver Beachtung haben, sondern vor allem verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden wollen, also ein Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Beachtung haben, und empfinden Lob oder Komplimente eher als peinlich oder als etwas, das sie in die Flucht schlägt. Die Erfahrung, nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden, passt ja auch nicht zu den in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen und stellt es in Frage. Auch im Erleben von Inkongruenz kann eine Person empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden von einer kongruenten anderen wichtigen Person. Und unter dieser Bedingung kann dann auch die Erfahrung von Inkongruenz in das Selbstkonzept integriert werden: »So fühle ich mich und so reagiere ich, wenn ich nicht verstanden werde und nicht unbedingt wertgeschätzt werde, wenn ich mit meinen Gefühlen meine wichtigen Bezugspersonen aus der Fassung bringe, so dass sie ganz blind für mich werden, oder ich andere Erfahrungen mache, die gar nicht zu mir passen!«
4.9
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung
Es ist hilfreich – z. B. im Umgang mit Kindern, aber auch in der Psychopathologie z. B., wenn die Frage auftaucht, in welchen Erfahrungen ist eine Person nicht verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt worden und was erlebt sie heute als eine Bedrohung für ihr Selbstkonzept bzw. macht sie heute inkongruent –, sich den Verlauf der Selbstentwicklung in drei aufeinander folgenden Phasen vorzustellen:
4.9.1
Erste Phase
In einer ersten Phase geht es darum, dass erste Selbsterfahrungen in der Selbstregulation und in der lebensnotwendigen und auch sehr körpernahen Regulierung durch die Interaktion mit wichtigen Bindungspersonen zusammen mit ersten Erfahrungen des im affektiven Erleben empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt Werdens in ein erstes Selbstbild integriert werden. Sander (1962) zählt Themen auf, die nacheinander im Verlauf der frühkindlichen Selbstentwicklung zwischen Mutter und Kind verhandelt würden. Die ersten seien: 4 Grundregulation, 4 Gegenseitige Aktivierung und 4 Initiative. In den ersten drei Lebensmonaten spielen sich gewisse Grundregulationen und -rhythmen zwischen Mutter und Kind und dann im Kind selbst ein, z. B. der Schlaf-Wach-Rhythmus und die Still- bzw. Hungerperiodik – wenn es der Mutter gelingt, die vom Kind ausgehenden Signale empathisch zu verstehen und angemessen zu beantworten, ihr Kind in seiner Eigenart zu erfassen, und wenn sie nicht eigene Erwartungen und Vorstellungen auf das Kind projiziert, d. h. auch inkongruent wird. Es sei daran erinnert, dass das Bindungsbedürfnis des Kindes von Beginn des Lebens an aktiviert wird, wenn es Schutz und Trost braucht, d. h. unzufrieden und unglücklich ist und in irgendeiner Weise erfährt, dass es total abhängig ist und nicht ohne Hilfe überleben kann. Das Neugeborene kann sein Bindungsbedürfnis kaum anders als in seinen Affek-
89 4.9 · Phasen der Selbstkonzeptentwicklung
ten zum Ausdruck bringen. Es ist noch nicht einmal in der Lage, sich aus eigener Kraft auf eine Schutz gebende Person hin zu bewegen. Erst in der Zeit etwa ab dem dritten Lebensmonat können »Mutter« und Kind sich gegenseitig auch positiv aktivieren, vor allem im Lächelspiel. Die Mutter kann das Lächeln des Kindes auslösen, und das Kind kann die Mutter nicht nur anlächeln, sondern z. B. auch bei ihrem Anblick erfreut strampeln, ihr seinen Blick zuwenden, Laute von sich geben, zeigen, ob und dass es sich gut behandelt fühlt. Auch jetzt geht es weniger darum, dass die Mutter sich freut, dass das Kind gerne Kontakt mit ihr hat, sondern vor allem darum, dass sie versteht, dass dem Kind Kontakt um des Kontaktes willen und seiner Fähigkeit willen, diesen herzustellen, wichtig ist. In der Zeit vom siebten bis neunten Lebensmonat wird nach Sander dann das Thema Initiative explizit verhandelt. Das Kind könne jetzt Eigeninitiative zeigen und Reaktionen darauf, wenn es in dieser blockiert werde. Die Mutter könne sich mit dem Kind zusammen über dessen neue Aktionsmöglichkeiten freuen. Sie könne ihr Kind jetzt aber auch als aggressiv erleben, als nicht lieb und folgsam. Es scheine so zu sein, dass das Kind die eigenen Verhaltensweisen, die zu einem Austausch mit der Mutter führen, in denen es sich also als initiativ erleben könne, anders erlebe als die, bei denen das nicht der Fall ist, und dass die Reaktionen der Mutter auf das initiative Verhalten des Kindes Einfluss darauf haben, wie initiativ bzw. passiv sich das Kind später verhalte. Klientenzentriert formuliert: Wenn sich die Bindungsperson in das Kind dann, wenn es sich initiativ zeigt, empathisch einfühlen und kongruent bleiben kann und das Kind bedingungsfrei wertschätzt, dann wird es später keine Probleme haben, die Initiative zu ergreifen.
4.9.2
Zweite Phase
In einer zweiten, zum Teil immer noch präsymbolischen Phase taucht die subjektive Selbstempfindung auf: Selbsterfahrungen – Gefühle, Absichten, Bewertungen – werden als solche erlebbar und können in das Selbstbild integriert werden. Zu ihnen gehören auch die Erfahrungen der Bedrohung, auch in der Selbstaktualisierung bzw. -behauptung und in
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dem Bedürfnis nach unbedingter positiver Selbstbeachtung, wenn die Mutter z. B. nicht feinfühlig und prompt empathisch versteht und nicht bedingungsfrei positiv beachtet. Und zu ihnen gehören vor allem die Affekte, die mit diesen Erfahrungen der Bedrohung einhergehen. Auch in der affektiven Reaktion auf die Erfahrung, nicht verstanden zu werden, kann das Kind empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden. Wenn das passiert, ist es in der Regel so, dass das Kind dann in einem zweiten Schritt auch in der Erfahrung, die spontan nicht anerkannt worden ist, gesehen wird, so dass diese dann auch in das Selbstkonzept integriert werden kann. Sander nennt die Themen in dieser Zeit Fokalisierung und Selbstbestätigung. Das Kind könne nun Absichten zum Ausdruck bringen und gezielt handeln und richte etwa in der Zeit vom 10. bis zum 15. Monat sein ganzes Interesse auf die Mutter und ihre Bestätigung seines Erlebens (7 Kap. 4.6.4). Diese sei auch die Zeit der Fremden- und der Trennungsangst. Zwischen dem 14. und 18. Lebensmonat gehe es dann ganz vorrangig um das Thema Selbstbestätigung. Das Kind könne jetzt auch selbst bestimmen und wolle das auch. Es gehe ihm nun auch um die Übereinstimmung seiner Vorstellungen von sich selbst mit der Realität, nicht mehr nur um die Übereinstimmung mit der Mutter. Es erlebe nun Erfolgsgefühle nicht nur dann, wenn die Mutter es positiv spiegele, sondern auch wenn es erlebe, dass es seine eigenen Ziele verwirklichen kann. Es zeigten sich die Anfänge einer Wahrnehmung des Selbst, einer Wahrnehmung der eigenen Aktivität und eines selbstregulatorischen Kerns – das ist ein erstes Selbstkonzept. In dieser Zeit gehe es darum, in welchem Ausmaß und in welchen Bereichen das Kind in der Interaktion mit der Mutter Selbstbestätigung findet. Gesprächspsychotherapeutisch formuliert: Um seine Erfahrungen mit sich selbst in sein Selbstkonzept integrieren zu können, und dazu gehört jetzt z. B. auch die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellungen vom eigenen Können mit den eigenen Fähigkeiten oder Erfolgserlebnissen, bedarf das Kind einer empathischen unbedingt wertschätzenden Begleitung seines Erlebens.
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90
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
4.9.3
Dritte Phase
In einer dritten Phase geht es um den – dann im ganzen Leben weiter gehenden – Prozess der Herstellung von Kongruenz zwischen den realen Selbsterfahrungen als ein so und nicht anders geartetes und erlebendes Wesen und dem Selbstkonzept, wieder in der Interaktion mit empathischen und unbedingt wertschätzenden Bezugspersonen. Es geht um die Integration auch der Selbsterfahrungen, die mit realen Begrenzungen des so und nicht anders Seins zusammenhängen und mit entsprechenden Chancen bzw. Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, z. B. männlich oder weiblich zu sein. Nach Sander werden in der Zeit zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat immer gleichzeitig die Themen Erkennen und Kontinuität und Selbstkonstanz verhandelt. Der Spracherwerb ermögliche es nun dem Kind, seine inneren Erfahrungen auch verbal mitzuteilen. Sie würden für das Kind erst dadurch sozusagen real bzw. wahr, dass sie einem anderen mitgeteilt bzw. auch von diesem wahrgenommen werden. Das ist eine ähnliche Überlegung wie die im Klientenzentrierten Konzept, dass Erfahrungen nur unter der Bedingung unbedingter positiver empathischer Beachtung zu Selbsterfahrungen werden können, die in das Selbstkonzept integriert werden. Diese Selbsterfahrungen bilden nach Sander die Grundlage für das Gefühl von Selbstkontinuität. Dass es ihm um Selbstkontinuität und Selbstkonstanz gehe, mache das Kind – so Sander – damit deutlich, dass es gezielt, u. U. aggressiv, die Übereinstimmung mit der Mutter zerstöre, um sie dann wiederherzustellen, entweder aus eigener Initiative oder mit Hilfe der Versöhnungsangebote der Mutter. Es gehe dem Kind in solchen Interaktionen um die Erfahrung der Wiederherstellbarkeit des Selbst. Diese sei Teil der Erfahrung der Selbstkonstanz. Sander ist der Meinung, dass sich die Erfahrung von Selbstkonstanz nicht ohne ein Pendeln zwischen der Erfahrung eines mit der Mutter koordinierten und von ihr geförderten Selbst und der Erfahrung eines von der Mutter abgelehnten Selbst entwickeln könne. Wenn das Kind zweieinhalb bis drei Jahre alt sei, könne es sein Selbsterleben verbergen, auch vor seinem eigenen Bewusstsein. Und es verberge nun auch Inhalte, bezüglich deren es keine Überein-
stimmung er warte, sondern Ablehnung oder gar Sanktionen. Hinter dieser Bewusstseinsschranke verberge sich dann das »wahre Selbst«1. In dieser Zeit entstünden die ersten Kinderphobien, in denen einige der verborgenen Erfahrungen symbolisch Ausdruck fänden. Im Klientenzentrierten Konzept wird nicht davon ausgegangen, dass es zur Entwicklung des Empfindens der Selbstkonstanz eines Pendelns zwischen der Erfahrung eines mit der Mutter koordinierten und von ihr geförderten Selbst und der Erfahrung eines von der Mutter abgelehnten Selbst bedarf. Gesprächspsychotherapeuten gehen, wie gesagt, davon aus, dass zusammen mit dem Erleben eines ersten Selbstkonzepts auch das Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Selbstbeachtung erlebt wird. Das Kind kann auch die Selbsterfahrungen, die es dann macht, wenn es nicht verstanden wird und nicht oder nur unter bestimmten Umständen »anerkannt« wird, nur unter der Bedingung in sein Selbstkonzept integrieren, dass es ihm gelingt, diese verständlich zu machen oder in ihnen anerkannt zu werden. Dementsprechend sucht es nach Gelegenheiten, in seinem Kummer, seiner Wut, seiner Angst beim Ausbleiben von einfühlendem Verstehen und bedingungsfreier Wertschätzung verstanden zu werden. Gesprächstherapeuten sprechen dann, wenn die Mutter mit ihrem Kind einverstanden im Sinne von zufrieden ist, nicht von Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind, sondern von bedingter Anerkennung des Kindes durch die Mutter. Die ist etwas anderes als die empathische bedingungsfrei positive Beachtung einer Selbsterfahrung durch die Mutter, ohne die das Kind seine Selbsterfahrung als eine Bedrohung für sein Selbstkonzept erlebt. In den Kinderphobien wird in den Augen eines Gesprächspsychotherapeuten deutlich, dass auch schon Kinder die Angst bei Selbsterfahrungen, die nicht mit dem Selbstkonzept übereinstimmen, bei Inkongruenz also, zwar ausdrücken, die Selbsterfahrung aber, durch die sie ausgelöst wird, ihrem bewussten Gewahrsein als Selbsterfahrung vorenthalten, z. B. indem diese im Bereich der Vorstellungen nicht korrekt symbolisiert wird (7 Kap. 5). Das Kind fürchtet dann z. B. Hunde und nicht den 1
Das »wahre« Selbst im klientenzentrierten Konzept ist das mit der Erfahrung kongruente Selbst.
91 4.10 · Weiterführende Literatur
eigenen Wutanfall, der die Mutter ohnmächtig wütend macht. In je mehr der Erfahrungen, die eine Phase kennzeichnen, eine Person empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt worden ist, ohne dass ihre Bindungspersonen dabei inkongruent geworden sind, je mehr dieser Erfahrungen sie also hat in ihr Selbstkonzept integrieren können, desto erfolgreicher hat sie diese Phase durchlaufen. Wie erfolgreich eine Person insgesamt diese Phasen durchlaufen hat, kann man an der Fähigkeit ablesen, unterschiedliche affektive Erfahrungen zu machen und als eigene zu erleben und zwischen eigenem und fremden affektiven Erleben zu unterscheiden, und damit auch an der Empathiefähigkeit (Binder, 1994) ablesen. Einen anderen Maßstab dafür, wie erfolgreich diese drei Phasen durchlaufen worden sind bzw. welcher Phase eine Selbstentwicklung auch im Erwachsenenalter noch verhaftet ist, stellen die Inhalte, in denen Angst erlebt wird, dar: ob es sich um die Angst vor der totalen, auch körperlichen Vernichtung handelt, oder um Angst vor dem Wertlos- und Bösesein, oder um die Angst, in einem persönlichen wesentlichen Sosein zu versagen, z. B. als Mann oder Frau. Ein stabiles, d. h. sich selbst aufrechterhaltendes und sich zugleich flexibel weiterentwickelndes Selbstkonzept ist ein Bollwerk gegen das Erleben von Chaos und der damit verbundenen Angst. ! Zusammenfassung In diesem Kapitel ist dargestellt worden, dass das Klientenzentrierte Konzept – ganz ähnlich wie die sog. neue Psychoanalyse u. a. auf der Grundlage der Arbeiten von Stern – die Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung zum Zentrum seiner Entwicklungspsychologie macht. Die Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung gilt im Klientenzentrierten Konzept dann als gestört, wenn die organismische Bewertung der Erfahrung nicht zur Selbsterfahrung werden kann, das wahre Selbst sich nicht entwickeln kann, weil die Bewertungen der Erfahrung als das Selbstkonzept bestätigend oder nicht bestätigend die Selbsterfahrung dominieren.
4
? Übungsfragen 5 Nennen Sie die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept. 5 Definieren Sie, was im Klientenzentrierten Konzept unter Selbsterfahrung verstanden wird. 5 Welche Bedeutung haben die Affekte für die psychische Entwicklung? 5 Nennen Sie Formen der gesunden Selbsterfahrung. 5 Welche Selbstempfindungen unterscheidet Daniel Stern? 5 Nennen Sie die charakteristischen Merkmale der Bindung. 5 Was unterscheidet das sichere Bindungsmuster von den unsicheren Bindungsmustern? 5 Charakterisieren Sie die Selbstentwicklungsphasen.
4.10
Weiterführende Literatur
Bowlby, J. (1975). Bindung. München: Kindler. (Original erschienen 1969: Attachment and loss; Vol. 1: Attachment) Bowlby, J. (1976). Trennung. München: Kindler. (Original erschienen 1973: Attachment and loss; Vol. 2: Seperation: Anxiety and anger) Bowlby, J. (1983). Verlust. München: Kindler. (Original erschienen 1980: Attachment and loss; Vol. 3: Loss, sadness and depression) Fonagy, P. (2001/2003). Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Spangler, G. & Zimmermann, P. (1995). Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung, Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta. Stern, D. N. (1985/2003). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta. Strauss, B., Buchheim, A. & Kächele, H. (Hrsg.). (2002). Klinische Bindungsforschung. Stuttgart: Schattauer.
5 5 Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie E.-M. Biermann-Ratjen 5.1
5.2
5.2.1 5.2.2
5.2.3
5.2.4
5.2.5
Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz – 93 Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung – 96 Die Bedingungen für die Integration von Erfahrungen in das Selbstkonzept – 96 Die Spaltung der Aktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungstendenz und eine Selbsterhaltungstendenz – 96 Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel in der posttraumatischen Belastungsreaktion – 97 Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel im Erleben des Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung – 98 Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung – 99
5.3
Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person – 99
5.3.1 5.3.2
Die »fully functioning person« – 99 Der Psychotherapiepatient – 101
5.1
Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz
Carl Rogers ist zu der Annahme, dass der menschlichen Entwicklung eine Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2) zu Grunde liegt, durch seine Beobachtungen der Veränderungen von Klienten im Verlauf von Psychotherapie gekommen.
5.4
Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens – 103
5.4.1
Das differenzielle Krankheitsverständnis in der prozessorientierten Gesprächspsychotherapie – 104 Der prozess-experientielle Aspekt des Klientenzentrierten Konzepts – 105 Die Zielorientierte Gesprächpsychotherapie – 106 Primäre und sekundäre Inkongruenz – 107
5.4.2 5.4.3 5.4.4
5.5
Zusammenfassung – 114
5.6
Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/ psychoanalytischen Störungskonzepten – 114
5.7
Ausblick – 115
5.8
Weiterführende Literatur – 116
Definition Rogers nannte Aktualisierungstendenz die dem Organismus als Ganzem innewohnende Tendenz, alle seine Möglichkeiten so zu entfalten und zu differenzieren, dass sie ihn erhalten und fördern.
In »Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes« (1959b/1987) stellt er dar, dass Klienten
94
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
im Verlauf einer Psychotherapie immer freier würden, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die immer mehr mit ihrem Selbst zu tun hätten. Sie würden immer differenzierter in der Unterscheidung der Objekte ihrer Gefühle und Wahrnehmungen, wozu ihre Umwelt, andere Menschen, ihr Selbst, ihre Erfahrungen und die Beziehungen zwischen diesen gehörten. Die Erfahrungen würden immer genauer symbolisiert, d. h. im Bewusstsein repräsentiert. Ihre Gefühle hätten im Verlauf des Therapieprozesses auch immer häufiger mit der mangelnden Übereinstimmung ihrer Erfahrungen (7 Kap. 3.3) mit ihrem Selbstkonzept zu tun. Rogers hat diese Nicht-Über einstimmung Inkongruenz genannt. Definition Inkongruenz ist die Nicht-Übereinstimmung der Erfahrung mit dem Selbstkonzept.
Dadurch dass sich der Therapeut diesen Erfahrungen von Inkongruenz genau so wertschätzend zuwende wie den Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept übereinstimmen, werde den Klienten immer mehr bewusst, dass sie sich durch die Erfahrung von Inkongruenz bedroht fühlten. Es würden ihnen – vor allem im Zusammenhang mit dieser Inkongruenzerfahrung – zunehmend Gefühle vollständig bewusst, die sie bisher in ihrem Bewusstsein verzerrt oder verleugnet hätten. Ihr Selbstkonzept reorganisiere sich so, dass auch diese bisher verzerrten und verleugneten Erfahrungen assimiliert, d. h. als Selbsterfahrungen erlebt und in das Selbstkonzept integriert werden könnten, so dass dieses immer mehr mit der tatsächlichen Erfahrung übereinstimme. Es könnten dann auch Erfahrungen in die Selbsterfahrung integriert werden, die früher zu ängstigend waren, um bewusst werden zu können. Es werde weniger Erfahrung abgewehrt, und es sei überhaupt weniger Abwehrhaltung zu beobachten. Rogers hat Abwehr wie folgt definiert: »Abwehr ist die verhaltensmäßige Reaktion des Organismus auf Bedrohung (des Selbstkonzepts) mit dem Ziel, die gegenwärtige Struktur des Selbst aufrecht zu erhalten. Dies wird angezielt durch die Verzerrung der Erfahrung im 6
Gewahrsein … oder indem die Erfahrung vor dem Gewahrsein geleugnet wird (Rogers 1959b/1987, S. 204 f.).« Die Klienten könnten im Zuge dieser Reorganisation ihres Selbstkonzepts auch die unbedingte Wertschätzung des Therapeuten immer mehr wahrnehmen, ohne sich durch sie bedroht zu fühlen. Sie erlebten auch immer mehr positive Selbstbeachtung und würden zunehmend ihre Erfahrungen organismisch – auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz – bewerten, d. h. im Hinblick darauf, ob sie solche der Erhaltung und Entfaltung oder solche der Bedrohung und Behinderung des Organismus als Ganzem sind (Rogers, 1973b, 1973a, 1959b/1987). Diese Beobachtungen der Entwicklungen in Therapieprozessen ließen Rogers zu den folgenden Schlüssen kommen: 1. Das menschliche Individuum besitzt die Fähigkeit, sich der Faktoren bewusst zu werden, die seine psychische Fehlanpassung ausmachen: nämlich der mangelnden Übereinstimmung (Inkongruenz) seines Selbstkonzepts mit seiner Erfahrung. 2. Das menschliche Individuum hat die Tendenz, sein Selbstkonzept so zu reorganisieren, dass es mehr mit der Erfahrung übereinstimmt. Das ist gleichbedeutend mit einer Abnahme von Fehlanpassung. 3. Diese Fähigkeit, sich seiner Erfahrung und seines Selbstkonzeptes und deren mangelnder Übereinstimmung bewusst zu werden, und diese Tendenz zur Reorganisierung des Selbstkonzepts werden in jeder Begegnung mit einer anderen Person aktiviert, die in dieser ihrerseits kongruent ist (sich ihrer gesamten Erfahrung bewusst werden könnte) und vermitteln kann, dass sie die (erstgenannte) Person in ihrer Erfahrung empathisch versteht und bedingungsfrei beachtet. ! Im engeren Zusammenhang mit der Definition von seelischer Gesundheit bzw. Psychopathologie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts bedeutet also Aktualisierung: Selbstaktualisierung im Sinne von Entwicklung eines Selbstkonzepts, das die symbolische Repräsentation möglichst aller theoretisch bewusstseinsfähigen Erfahrung im Bewusstsein ermöglicht.
95 5.1 · Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz
Diese Selbstkonzeptentwicklung ist nicht nur an die Bedingung eines bestimmten Kontaktes mit anderen Menschen gebunden, sondern die Selbstaktualisierungstendenz wird in jeder Begegnung mit einer Person aktiviert, wenn diese selbst kongruent ist und sich empathisch bedingungsfrei wertschätzend der Erfahrung ihres Kontaktpartners zuwendet. Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet Fehlanpassung Inkongruenz im Sinne einer mangelhaften symbolischen Repräsentation der Erfahrung in der bewussten Selbsterfahrung und Anpassung die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Selbstkonzepts. Die Fähigkeit, sich seiner Fehlanpassung bewusst zu werden, und die Tendenz zur Anpassung werden – als Aspekte der Selbstaktualisierungstendenz – in Kontakten aktiviert, in denen die Person empathische Bedingungsfreie Positive Beachtung erfährt. ! Der zentrale Begriff der Klientenzentrierten Krankheitslehre ist die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept.
Wie Höger in 7 Kap. 3.3 dargestellt hat, wird der Begriff Inkongruenz heute – und sogar von Gesprächspsychotherapeuten – auch in einem anderen als in diesem Sinn verwendet. Es wird z. B. auch von der Inkongruenz zwischen einem Idealselbst und dem realen Selbstbild gesprochen, die zu inneren Spannungen führen könne. Finke (1994) sieht in ihr sogar die Basis für die Entwicklung bestimmter Krankheitsbilder (7 Kap. 21). So eine Nicht-Übereinstimmung der realen Erfahrungen mit gewünschten Erfahrungen ist aber nicht die Inkongruenz, die in der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzept gemeint ist. Auch die interpersonale Inkongruenz, wie Gaylin im Rahmen seines Familientherapeutischen Konzepts (7 Kap. 18) die Unterschiede und Widersprüche in der Wahrnehmung gemeinsamer Erfahrungen durch die einzelnen Familienmitglieder nennt, ist nicht die Inkongruenz der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts. Das gilt erst recht für die von Grawe in seinem Buch »Neuropsychotherapie« beschriebene Inkongruenz zwischen gewünschten und erreichten Zielen, für deren Messung sogar ein Fragebogen vorliegt (Grosse-Holtforth & Grawe, 2003). Er erfasse auch die Symptombelastung, Depressivität, Lebensunzufriedenheit, Wohlbefinden und Neurotizismus,
5
mit denen er hoch korreliere (7 Kap. 10.3). Es mag sein, dass Inkongruenzen im Sinne von Diskrepanzen zwischen dem, was sich eine Person wünscht und vorstellt und vielleicht sogar braucht, und dem, was sie bekommt, erreicht und an notwendiger Bedürfnisbefriedigung erfährt oder in ihrem bisherigen Leben erfahren hat, den Nährboden für einige Formen von mangelnder psychischer Gesundheit abgeben. Mit der Fehlanpassung, die im Klientenzentrierten Konzept mit dem Begriff Inkongruenz bezeichnet wird, haben sie nichts gemein. Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet die Verringerung von Inkongruenz Zielerreichung bzw. Bedürfnisbefriedigung allenfalls insofern, als man sagen kann, dass die Entwicklung des Selbstkonzepts an die Bedingung der Befriedigung des Bedürfnisses nach Bedingungsfreier Positiver Beachtung durch eine kongruente andere Person gebunden ist (7 Kap. 4). Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet Aktualisierung also auch und vor allem die Entwicklung eines Selbstkonzepts und seine fortlaufende Reorganisation in der Weise, dass die Erfahrung und ihre organismische Bewertung bewusst werden können. Die Selbstaktualisierung als Selbstkonzeptentwicklung ist als ein autonomer im Sinne von sich selbst organisierender Prozess konzipiert. Zu diesem autonomen Prozess der Selbstaktualisierung gehört es auch, dass bewusst werden kann, wenn er ins Stocken gerät, bzw. die Erfahrung seiner Stagnation kann als solche bewusst werden. Auch dieses Bewusstwerden ist an die Bedingung empathischer Bedingungsfreier Positiver Beachtung durch eine andere Person, die kongruent ist, geknüpft. Ich werde darauf zurückkommen. Rogers hat den Begriff der Aktualisierungstendenz aus der organismischen Theorie von Kurt Goldstein übernommen (vgl. auch im weiteren Kriz & Stumm, 2003). Diese betont die Bedeutsamkeit innerer Determinanten in der Entwicklung und im Verhalten von Lebewesen, die allerdings mit äußeren Bedingungen zusammenwirkten (Höger, 1993 und 7 Kap. 3). Rogers hat noch 1951 in Übereinstimmung mit Goldstein von einer Selbstaktualisierungstendenz gesprochen und diesen Begriff erst 1959 durch den der Aktualisierungstendenz ersetzt, die seither als der Selbstaktualisierungstendenz übergeordnet gilt.
96
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
5.2
Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung
5.2.1
5
Die Bedingungen für die Integration von Erfahrungen in das Selbstkonzept
Wie auch im 7 Kap. 4 dargestellt worden ist, wird im Rahmen des entwicklungspsychologischen Klientenzentrierten Konzepts angenommen, dass die Selbstentwicklung – die man auch als Selbstaktualisierung bezeichnen kann – vom Beginn des Lebens an unter den gleichen Umständen erfolgt wie die Reorganisation des Selbstkonzepts in der Psychotherapie, nämlich in einer ganz bestimmten Beziehung zu einer anderen Person. ! Erfahrungen werden unter der Bedingung in ein Selbstkonzept integriert, dass das Kind in ihnen von einer anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv anerkannt wird und dass die andere Person dabei nicht inkongruent wird.
Die andere Person ist dann kongruent, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen in der Beziehung zum Kind korrekt symbolisieren kann und auch die empathisch verstandenen Erfahrungen des Kindes vollständig und korrekt symbolisieren kann. Zur Erinnerung: Symbolisieren ist im Klientenzentrierten Konzept ein Synonym für sich bewusst machen bzw. im Bewusstsein repräsentieren. Erfahrung kann z. B. in Körperempfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, Gedanken und Worten symbolisiert bzw. im Bewusstsein repräsentiert werden.
Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden, sind: 5 Erfahrungen, die bewusst werden können. 5 Erfahrungen, die organismisch bewertet werden im Hinblick darauf, ob sie solche der Aufrechterhaltung und Entfaltung sind oder ob sie das nicht sind. Auch dieser Bewertungsprozess und sein Ergebnis, bei denen
6
Affekte eine herausragende Rolle spielen, können bewusst werden. 5 Erfahrungen, die von einer anderen Person empathisch verstanden worden sind, also Erfahrungen, in die sich ein anderer einfühlen kann, die also zumindest auch emotionale sind. 5 Erfahrungen, in denen und in deren organismischer Bewertung die Person von einer anderen Person bedingungsfrei positiv beachtet worden ist. 5 Erfahrungen, auf die die andere Person nicht mit Inkongruenz reagiert hat. Die andere Person blieb in der Lage, ihre eigene Reaktion auf die Erfahrung des Kindes und auch die Erfahrung des Kindes selbst in ihrem Bewusstsein genau und vollständig zu symbolisieren.
! Die in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen sind also sowohl organismisch als auch sozial bewertet worden. Sie enthalten immer auch die Beziehungserfahrung, von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet zu werden.
5.2.2
Die Spaltung der Aktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungstendenz und eine Selbsterhaltungstendenz
Wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, kann sich die Selbstaktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungs- und eine Selbsterhaltungstendenz spalten. Rogers hat davon gesprochen, dass sich die Aktualisierungstendenz spaltet. Und Höger (1993 und 7 Kap. 3.2.2 und 3.3) hat ausgeführt, dass sich die Tendenzen zur Entfaltung und zur Erhaltung in der Aktualisierungstendenz auseinander entwickeln können. Zu dieser sog. Spaltung kann es aus dem folgenden Grund kommen: Nachdem sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, werden Erfahrungen nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt bewertet, ob sie solche der Erhaltung und Entwicklung des Organismus sind oder nicht. Sie werden
97 5.2 · Die Grundlage von Inkongruenz
nun auch im Hinblick darauf bewertet, ob sie das Selbstkonzept bestätigen oder in Frage stellen. Und Erfahrungen, die nicht mit den Erfahrungen übereinstimmen, die im Selbstkonzept integriert sind, die also Inkongruenz begründen, werden als Bedrohung erlebt. Bedrohlich in diesem Sinne sind nun alle Erfahrungen, in denen das Kind, als es sie zum ersten Mal machte, nicht empathisch verstanden oder nicht bedingungsfrei positiv beachtet worden ist, sowie alle Erfahrungen, auf die eine wichtige Bezugsperson mit Inkongruenz reagiert hat. Es werden ferner, wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, auch die aktuellen Erfahrungen, nicht empathisch verstanden oder nicht bedingungsfrei positiv beachtet, sondern bewertet zu werden – egal ob positiv oder negativ – immer als bedrohlich erlebt. Das gilt auch für Erfahrungen, auf die die wichtigen Bezugspersonen mit Inkongruenz reagieren. Wenn solche Erfahrungen, die mit denen, die ins Selbstkonzept integriert worden sind, inkompatibel sind, nicht abgewehrt, d. h. dem Bewusstsein vorenthalten oder so verzerrt werden können, als passten sie doch zum Selbstkonzept, wird die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept gewahr und zwar in der Art und Weise, dass die Person die Bedrohung des Selbstkonzepts z. B. in der Form von Angst spürt, oder sich selbst nicht versteht und akzeptiert oder bei Erfahrungen, die nicht mit dem Selbstkonzept kompatibel sind, wie auf einen Angriff von außen reagiert (Swildens, 1991) z. B. mit aggressiver Verteidigungsbereitschaft, Fluchtbereitschaft, indem sie sich selbst und/oder den anderen bezüglich der wahren Erfahrung täuscht, z. B. dissoziiert, und/oder sich depressiv mehr oder weniger tot stellt. Ich werde darauf zurückkommen.
5.2.3
Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel in der posttraumatischen Belastungsreaktion
Am deutlichsten wird die Verteidigung gegen die Erfahrung im Zustand der Inkongruenz in der akuten Belastungsreaktion erlebt. Diese tritt höchstens 20 Minuten nach einem traumatischen Ereignis auf,
5
das heißt einer Erfahrung, die extrem belastend im Sinne von bedrohlich ist, der die Person nicht entkommen kann und in der ihr auch keine andere Person einfühlend und unbedingt wertschätzend zur Seite steht. Die akute Belastungsreaktion beginnt typischerweise mit einer Art von »Betäubung«: Einschränkung der Aufmerksamkeit, Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Bewusstseinseinschränkung. Die Erfahrung wird nicht bewusst – z. B. werden Schmerzen nicht gespürt und Verletzungen nicht bemerkt – und es kann zu Desorientiertheit kommen, aber auch zu einem Rückzug aus der Realität – Derealisations- und Depersonalisationserfahrungen – bis hin zum Erstarren der gesamten Psychomotorik im Stupor, oder zu einem Unruhezustand und Überaktivität wie Fluchtreaktionen oder Fugue. Es treten Depression, Verzweiflung und Ärger bzw. Aggression auf und vor allem vegetative Anzeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten (ICD 10, Weltgesundheitsorganisation, 1991, S. 155 f.). In den auf das Trauma folgenden vier bis acht Wochen ist dann das Erleben in erster Linie von einem Wechsel zwischen Intrusionen und Konstriktion gekennzeichnet. In Phasen der Intrusion reaktualisiert sich die traumatische Erfahrung. Man spricht auch von Flash-backs. Die traumatisierende Situation – zumeist Teile von ihr und auch der ursprünglichen Reaktion auf sie – erscheint im Bewusstsein. Intrusionen sind keine Erinnerungen, sondern erneutes Durchleben der Situation. Intrusionen können auftreten, wenn man zur Ruhe kommt, vor dem Einschlafen oder in Form von Albträumen, die einen aus dem Schlaf reißen. Die Szenen laufen wieder und wieder ab mit allen begleitenden Affekten und Körpersensationen. Intrusionen können auch ausgelöst – »angetriggert« – werden durch Reize, die an die belastende Situation erinnern. Das führt zu Vermeidungsverhalten, und wenn viele Reize Trigger sein können, kann das Vermeidungsverhalten generalisieren, z. B. wird nach Möglichkeit die eigene Wohnung nicht mehr verlassen. Im Wechsel mit Intrusionen werden Zustände von Konstriktion erlebt: emotionale Betäubung, eine gewisse Stumpfheit, Lustlosigkeit, Freudlosigkeit, Anhedonie, eine Art innerer Lähmung. Dann erreicht einen gar nichts mehr.
98
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Offenbar neigt der Mensch nicht nur dazu, sich in Begegnungen mit einem anderen Menschen, in denen er verstanden und nicht bewertet wird, so zu verändern, dass er sich bisher vermiedener Erfahrungen bewusst werden kann, sondern es taucht auch Erfahrung, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden kann, immer wieder im Bewusstsein auf. Horowitz (1986) spricht im Zusammenhang mit diesen Phänomenen von einer Vervollständigungstendenz (»completion tendency«). Alle Erfahrung dränge nach Einordnung in kognitiv-emotionale Schemata. Unter günstigen Bedingungen, d. h. wenn eine Person entsprechende Gesprächspartner hat, kann die traumatische Erfahrung und die in der Reaktion auf sie erlebte akute Belastungsreaktion in einem Wechsel aus Intrusionen, Angetriggertsein, Albträumen und Aussprechen im Kontakt mit empathischen Personen einerseits und Konstriktionen, Abschalten, Sich-Ablenken und Wegdenken andererseits in vier bis acht Wochen »integriert« sein. Die Person kann dann an die traumatische Situation denken, ohne in einen Flash-back abzurutschen, und ihr normales Leben wieder aufnehmen. Auch die Erfahrung von Inkongruenz bzw. der Verteidigung gegen Erfahrungen kann also ebenso wie die Erfahrungen, durch die sie ausgelöst worden ist, unter der Bedingung, dass das Kind – und später der Erwachsene – in ihnen korrekt und vollständig von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet wird, in das Selbstkonzept integriert werden. Auch dazu später mehr. ! Zusammenfassung Die Selbstaktualisierungstendenz ist der speziell humane Teil der Aktualisierungstendenz des Gesamtorganismus. Die Struktur der in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen ist entscheidend für die Symbolisierung aktueller Erfahrung im Bewusstsein bzw. die Abwehr von und Verteidigung gegen die Erfahrung sowie dafür, dass Erfahrungen sich selbst zugeschrieben, zum Selbst passend und zu ihm gehörend bewertet werden (Kriz & Stumm, 2003).
5.2.4
Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel im Erleben des Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung
Rogers hat auf diese Zusammenhänge auch in der Form hingewiesen, dass er davon gesprochen hat, dass, wenn ein erstes Selbstkonzept entstanden sei, ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt werde, also auch das Ausbleiben von positiver Selbstbeachtung oder ihre Unmöglichkeit gespürt würden (7 Kap. 4.8). Die Phänomene der Abwehr und dieses Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung hingen auch damit zusammen, dass in das Selbstkonzept auch die positiven Bewertungen durch andere integriert würden (7 Kap. 4). Diese in den deutschen Übersetzungen »Bewertungsbedingungen« genannten »introjected values« und später »conditions of worth« seien wesentlich an der Organisation von mehr oder weniger psychisch gesundem Funktionieren beteiligt. Alle Kinder wollten geliebt werden. Wenn das Kind nicht bedingungsfreie positive Beachtung in seinem Erleben erfahre, sondern selektiv, je nach dem, was es gerade erlebe, mehr oder weniger positive Beachtung erfahre, werde diese Befriedigung oder Frustration in dem Bedürfnis nach positiver Beachtung bei bestimmten Selbsterfahrungen mit diesen assoziiert. Die positive Selbstbeachtung sei dann ebenfalls selektiv. Wenn sich Erfahrungen wiederholten, in denen das Kind zuvor liebevoll beachtet worden ist, werde positive Selbstbeachtung erlebt. Und es würden Selbsterfahrungen allein deshalb gesucht oder gemieden, weil sie als mehr oder weniger wertvoll angesehen würden. ! Für Rogers stellen die Bewertungsbedingungen das Haupthindernis für die Entwicklung der psychologisch angepassten Person dar. Auf ihrer Grundlage werde die organismische Bewertung von Erfahrung relativiert bzw. ganz ausgeblendet und entstehe Inkongruenz.
Bei der Entwicklung dieser Vorstellungen von Bewertungsbedingungen als Grundlage der Abwehr und ihrem wenig förderlichen Einfluss auf eine gesunde Selbstaktualisierung hat das psychoanalytische Strukturmodell sicherlich Pate gestanden. Dennoch wird auch in diesem Konzept sehr klar, dass es im Klientenzentrierten Konzept nicht um Triebabwehr geht.
99 5.3 · Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
! Wenn im Klientenzentrierten Konzept von Abwehr die Rede ist, geht es vor allem um die Abwehr der organismischen Bewertung von Erfahrung.
5.2.5
Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung
Wie gesagt war es Rogers aufgefallen, dass im Verlauf des Psychotherapieprozesses weniger früher nicht positiv beachtete Erfahrungen als vielmehr die Erfahrung von Inkongruenz, die Abwehr von und die Verteidigung gegen die aktuelle Erfahrung und ihre organismische Bewertung immer mehr ins Bewusstsein treten, also Tendenzen zur Selbstverteidigung erlebbar werden. An diese Beobachtung anknüpfend und aufgrund eigener therapeutischer Erfahrungen sind wir im Rahmen von entwicklungspsychologischen Überlegungen (BiermannRatjen, 1989; 7 Kap. 4) und solchen zur Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts (BiermannRatjen & Swildens, 1993) von dem Konzept der Bewertungsbedingungen und eines damit zusammen hängenden Bedürfnisses nach positiver Beachtung abgerückt. Wir denken, dass Bedingungsfreie Positive Beachtung Ausschlag gebend für die Selbstkonzeptentwicklung ist, und dass, wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, die Selbstaktualisierungstendenz auch in einem Bedürfnis erlebbar wird, von einer kongruenten anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet zu werden. Zugleich wird eine Selbsterhaltungstendenz bzw. Selbstverteidigungstendenz (das sind Synonyme) beobachtbar. Definition Mit Selbsterhaltungstendenz sind alle Prozesse gemeint, die verhindern, dass Selbsterfahrungen, die das Selbstkonzept in seiner bestehenden Gestalt in Frage stellen würden, gemacht bzw. als solche bewusst werden, also auch die Abwehr. Auch die Erfahrung bedingter positiver Beachtung stellt das Selbstkonzept in Frage.
Die Selbsterhaltungstendenz als erhaltender Aspekt der Aktualisierungstendenz ist die Grundlage dafür,
5
dass Erfahrungen danach beurteilt werden, ob sie den im Selbstkonzept integrierten Erfahrungen entsprechen oder nicht. Diese Beurteilung kann, wie gesagt, die gesamtorganismische Bewertung der Erfahrung in den Hintergrund drängen. Man könnte auch sagen: Es kann zu einem Konflikt zwischen dem entfaltenden Teil der Aktualisierungstendenz und ihrem erhaltenden Teil kommen. Die Selbstentwicklungstendenz kann in Widerstreit mit der Selbsterhaltungstendenz geraten. Dann wird die gesamtorganismische Bewertung der Erfahrung nicht bewusst und nicht in die Selbsterfahrung integriert bzw. die Bewertung der Erfahrung im Hinblick auf die Erhaltung des Selbstkonzepts setzt sich durch: Statt der organismischen Bewertung wird die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Erlebnisinhalt.
5.3
Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
5.3.1
Die »fully functioning person«
Es gibt im Klientenzentrierten Konzept die Vorstellung einer »fully functioning person«. Diese in der Realität niemals anzutreffende aber theoretisch denkbare Person ist – im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts – ganz und gar nicht funktionsgestört insofern, als sie alle ihre theoretisch möglichen Erfahrungen machen und in ihrem Bewusstsein repräsentieren kann. Sie hat in ihrer Entwicklung niemals erlebt, dass sie in ihren Erfahrungen und in ihrer Bewertung ihrer Erfahrung nicht empathisch verstanden worden ist. Sie ist immer bedingungsfrei positiv beachtet worden, weder negativ noch positiv in ihrer Erfahrung in einer Form bewertet worden, die diese Bedingungsfreie Positive Beachtung nicht beinhaltet hätte. Wenn sie geliebt worden ist, dann nicht weil sie bestimmte Eigenschaften hat, sondern sie ist geliebt worden und ihre Eigenschaften sind gesehen worden, und sie ist in ihnen und in dem, was sie für sie selbst bedeuten, empathisch verstanden worden, z. B. in einem heftigen Temperament oder einer schnellen Auffassungsgabe. Sie hat auch nie erlebt, dass die für ihre Entwicklung wichtigen Bindungspersonen in der Reaktion auf ihre Erfahrungen und deren Mitteilung inkon-
100
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
gruent geworden sind. Ihre Bindungspersonen haben sich immer bewusst machen können, was sie erlebten, wenn sie sich in sie, als sie noch ein Kind war, einfühlten. Wenn sie z. B. einen Trotzanfall hatte und ihre Mutter ohnmächtig wütend machte, konnte ihre Mutter sich das bewusst machen und es als ihr eigenes Problem ansehen, mit dieser ihrer eigenen Wut und Ohnmacht umzugehen. Und ihre Bindungspersonen konnten auch das, was sie auf dem Wege der Einfühlung von ihrem kindlichen Erleben erfasst hatten, in ihrem Bewusstsein korrekt und vollständig symbolisieren. Sie haben z. B. das Kind in seinem Bindungsbedürfnis dann, wenn es aktiviert war, korrekt verstanden und z. B. nicht einen starken Willen sich durchzusetzen in das schreiende Kind hineininterpretiert. Ebenso haben sie das Kind in seinem Explorationsbedürfnis respektiert, es in seinem Spiel unterstützt, wenn das Explorationsbedürfnis aktiviert war, und es in Ruhe gelassen und trotzdem respektiert, wenn es gerade mal nichts lernen oder üben wollte. Die »fully functioning person« hat alle ihre Selbst- und Beziehungserfahrungen in ihr Selbstkonzept integrieren können und kann sich deshalb heute ihre jeweils aktuelle Erfahrung jederzeit ins Bewusstsein holen und sich in ihr verstehen und akzeptieren. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die hier gemeinte Erfahrung »die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch die Sinnesorgane vermittelt wird (7 Kap. 3.3.1),« ist, die theoretisch bewusst werden kann. Die Bewertung der Erfahrung ist auch eine Form der Repräsentation der Welt. Zum Beispiel wird in dem Affekt der Freude, wenn er reflektiert werden kann, eine Selbsterfahrung bewusst: eine eigene Reaktion auf eine Wahrnehmung der Welt oder in einer Interaktion mit einer anderen Person. Die »fully funcioning person« erlebt also kaum Inkongruenz und ist daher als gesund im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts anzusehen:
Die psychisch gesunde Person 5 Sie kann ihre jeweils aktuellen und daher ständig neuen Erfahrungen machen, die Welt und sich selbst in der Reaktion auf sie im Hier und Jetzt wahrnehmen. 5 Sie kann sich ihrer Erfahrung bewusst zuwenden und sie im Bewusstsein halten, 5 sich in ihr verstehen und akzeptieren 5 und sie jeweils aktuell und neu bewerten und in Bezug auf sich selbst interpretieren. 5 Die fully functioning person kann sich auch anderen gegenüber bezüglich ihrer Erfahrung mitteilen. 5 Sie fühlt sich als Autorin ihres Denkens und Fühlens und dementsprechend auch für sich selbst verantwortlich und kann ihre Probleme differenziert wahrnehmen. 5 Sie übernimmt auch die Verantwortung für ihr Verhalten 5 und kann frei und offen und aufrichtig in der Beziehung zu anderen Personen sein.
Die psychisch gesunde Person erlebt zwar – per definitionem – wenig Inkongruenz. Aber auch in ihr findet auf der Grundlage der Selbsterhaltungstendenz, die zusammen mit dem Selbstkonzept entsteht und z. B. in dem Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt wird, dauernd ein Vergleich der Erfahrung mit den Erfahrungen, die ins Selbstkonzept integriert worden sind, statt. Und auch die gesündeste Person kann in eine Situation geraten, in der sie nicht empathisches Verstehen und eine respektvolle bedingungsfrei positiv beachtende Behandlung durch eine wichtige Bezugsperson, die kongruent bleibt, erfährt. Sie kann auch eine traumatische Erfahrung machen – die ja in den internationalen Klassifikationssystemen dadurch definiert ist, dass sie jeden extrem belasten würde, wie z. B. Vergewaltigung oder Folter oder Katastrophen, durch die das eigene Leben und das anderer bedroht wird. Wie oben ausgeführt worden ist, kann auch die psychisch gesunde Person solche Erfahrungen nicht ohne weiteres in die Selbsterfahrung integrieren, sondern nur in einem längeren Prozess, in dem sich Zustände von Wehrlosigkeit gegenüber den sich wiederholenden Flash backs
101 5.3 · Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
und der totalen Verschlossenheit gegenüber der Erfahrung auf der einen Seite abwechseln mit Situationen, in denen die Person beim sich Erinnern und in der Erfahrung der Unmöglichkeit, das normale Erleben der Realität wieder aufzunehmen, empathische und bedingungsfrei positive Beachtung erfährt. Die psychisch gesunde Person kann und wird auch bei anderen Erfahrungen, in denen es ihr nicht gelingt verstanden zu werden oder in denen sie bewertet wird, Inkongruenz zwischen ihrem Selbstkonzept und ihrer Erfahrung erleben. Sie kann Angst vor Prüfungen haben oder Lampenfieber vor öffentlichen Auftritten. Sie kann sich schämen, wenn sie sich jemandem vertrauensvoll genähert hat, der sich als ihr nicht wohl gesonnen entpuppt. Sie wird depressiv werden, wenn sie von einer wichtigen Person im Stich gelassen wird, und aggressiv gereizt, wenn sich der Chef aufspielt. Die psychisch gesunde Person wird sich aber in der Regel in diesen ihren Reaktionen auf Erfahrungen, die sie in ihrem Selbstkonzept bedrohen, verstehen und daher auch akzeptieren können. Sie ist nämlich in der (zweiten) Phase der Entwicklung (7 Kap. 4.9.2), in der das Kind bereits ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebbar geworden ist und damit auch erste Erfahrungen von Inkongruenz gemacht werden, auch in diesen empathisch korrekt verstanden worden: in seinen Schamgefühlen und in dem Impuls zu flüchten oder sich zu verstecken, wenn es sich bewundern lassen sollte z. B., oder in seiner Wut, wenn es sich nicht verständlich machen konnte. Deshalb konnte das Kind auch diese Erfahrungen – des Erlebens von empathischer und unbedingt positiver Beachtung in der Erfahrung von Inkongruenz – in sein Selbstkonzept integrieren.
5.3.2
Der Psychotherapiepatient
Das Prozesskontinuum Psychotherapiepatienten sind nicht als »fully functioning persons« anzusehen. Sie zeichnen sich durch eine Art und Weise des Erlebens aus, die den Gegenpol zum gesunden Erleben in der Definition des Klientenzentrierten Konzepts darstellen.
5
Psychotherapiepatienten 5 Sie stehen ihrer aktuellen Erfahrung eher distanziert gegenüber. Besonders ihre Gefühle sind ihnen wenig gegenwärtig. Sie gestehen sie sich kaum ein oder zu und neigen dazu, sich über sie zu äußern, als seien sie Objekte außerhalb ihrer Person. 5 Die emotionale Bedeutung der gegenwärtigen Erfahrung spielt kaum eine Rolle, wird nur selten symbolisiert. Erfahrungen werden in Bezug zur Vergangenheit interpretiert. 5 Psychotherapiepatienten sind kaum in der Lage, sich ihre Erfahrung bewusst zu machen. Sie wehren sich gegen die Erfahrung und können sich oft in ihr nicht verstehen und akzeptieren. 5 Ihre kognitiven Funktionen stehen im Dienst einer starren Deutung dessen, was sie erleben, als äußere Fakten. Die Erfahrung wird nicht als aktuell und neu bewertet und nicht in Bezug auf sich selbst interpretiert. 5 Es besteht Widerwilligkeit, sich über sich selbst mitzuteilen. 5 Probleme werden nicht als die eigenen angesehen, sondern als außerhalb der eigenen Person existierend, und wenig differenziert wahrgenommen. 5 Dementsprechend besteht kein Wunsch nach persönlicher Veränderung. 5 Enge Beziehungen zu anderen Personen werden als bedrohlich erlebt und gemieden.
Der Psychotherapiepatient ist hier – eben so wie weiter oben die gesunde oder voll funktionierende Person – mit Hilfe des sog. Prozesskontinuums von Rogers beschrieben worden. Rogers hat es zur Beschreibung der Entwicklung von Klienten im Verlauf einer erfolgreichen Psychotherapie vorgestellt. Der Prozess, der auf dieser Skala in verschiedenen Dimensionen erfasst wird, bzw. das Funktionieren der Person, das mehr oder weniger gesund ist, besteht in der Hinwendung zur Erfahrung, ihrer Reflexion und ihrer Mitteilung an andere Personen. Aus dieser Erfahrung entsteht das Selbstkonzept. Aus einer
102
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
anderen Perspektive betrachtet: in diesem Prozess der Hinwendung zur Erfahrung, ihrer Reflexion und der Beziehung zu anderen Menschen in dieser Erfahrung wird das Selbst erlebt. Die Skala wird ein Kontinuum genannt, weil sie diesen Prozess in seinen einzelnen Dimensionen, wie er sich im Verlauf der erfolgreichen Therapie entwickelt, in Stufen beschreibt, die ineinander übergehen. 4 Der Umgang mit den Gefühlen z. B. ist zunächst so, dass der emotionale Bedeutungsgehalt der Erfahrung keine Rolle spielt. 4 Auf einer zweiten Stufe werden Gefühle so beschrieben, als ob man sie nicht selber hätte oder als ob sie vergangene Objekte wären. Gefühle werden gezeigt, aber nicht als solche anerkannt, noch gibt man zu, sie zu haben. 4 Im weiteren Verlauf der Therapie, auf einer dritten Stufe, ist viel die Rede von Gefühlen und persönlichen Ansichten, sie werden aber beschrieben und sind nicht recht gegenwärtig. 4 Auf der vierten Stufe kommt es dazu, dass Gefühle als unmittelbar gegenwärtig erfahren werden, begleitet von Misstrauen und Furcht gegenüber dieser Selbsterfahrung. 4 Schließlich werden die fünfte, sechste und siebte Stufe erreicht, auf denen die aktuell, im Hier und Jetzt erlebten Gefühle, die zum Teil erstmals erlebt bzw. ganz neu entdeckt werden, den wesentlichen Inhalt der Therapiesitzungen ausmachen (vgl. Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 75 ff. und 106 ff.).
Die Strukturachse der OPD Ähnlich wie auf dem Prozesskontinuum von Rogers wird auf der Achse IV der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) die psychische Gesundheit bzw. die Güte des psychischen Funktionierens durch die Betrachtung der »Gestaltung und Funktionsweisen des Selbst in der Beziehung zum Anderen« (Arbeitskreis OPD, 1996, S. 67) erfasst. Dabei wird das Selbst definiert als die reflexive psychische Struktur. Das Niveau des psychischen Funktionierens, der »strukturellen Fähigkeiten«, wird u. a. in der Dimension Selbstwahrnehmung eingeschätzt, das ist »die Fähigkeit, sich selbst, d. h. die Person als Ganzes und die eigene Innenwelt zum Gegenstand selbst-
reflexiver Aufmerksamkeit zu machen, dabei ein evidentes Bild des eigenen Selbst und seiner Identität zu gewinnen und speziell die emotionalen Abläufe des psychischen Binnenraums differenziert wahrnehmen zu können« (Rudolf, 2004, S. 65). Die Dimension Kommunikation ist definiert als: »die Fähigkeit, die Fremdheit und Ferne der Objekte durch emotionale Kontaktaufnahme und über die Brücke emotionaler Verständigung (durch mitgeteilte und entgegengenommene Affekte) zu überwinden« (a. a. O.). Es gibt vier weitere Dimensionen der Strukturachse der OPD: Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung und Bindung. In ihnen wird das psychische Funktionieren aus einer psychoanalytischen Sicht beschrieben, die mit der Perspektive des Klientenzentrierten Konzepts weniger gut zu vereinbaren ist. Selbststeuerung ist in der OPD definiert als: »Die Fähigkeit, ein inneres Gleichgewicht aufrecht erhalten bzw. wiederherstellen zu können, indem die Affekte toleriert und reguliert, die Impulswelt gesteuert und integriert und der Selbstwert realitätsgerecht einreguliert werden kann« (a. a. O. S. 65). Der Klientenzentrierte Psychotherapeut fragt sich, wenn er seinen Klienten unter dem Aspekt der Selbststeuerung betrachtet, zwar auch nach dessen Toleranz für die eigenen Affekte und seiner Fähigkeit, diese zu regulieren, hat dabei aber weniger eine »Impulswelt« und eine Realität, nach der sich der Klient in der Einschätzung seines Selbstwertes richten sollte, im Sinn. Der Gesprächstherapeut interessiert sich mehr dafür, ob der Klient überhaupt bzw. in welchem Maße er Zugang zu seinem je gegenwärtigen emotionalen Erleben hat und gegebenenfalls welche Affekte er mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann und ihm erlauben, eine positive Selbstbeachtung aufrecht zu erhalten. Je weniger gesund er ist, desto weniger Gefühle und Affekte kann er bewusst werden lassen bzw. in umso weniger Affekten kann er sich verstehen und gelten lassen und umso mehr Inkongruenz erlebt er. Das Erleben von Inkongruenz ist seinerseits ein affektives Erleben: Inkongruenz wird als Angst und Depression erlebt und als Scham und in Selbstzweifeln und Aggressivität, die wiederum Scham- und Schuldgefühle nach sich ziehen können. Ich werde darauf zurückkommen.
103 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Abwehr, »das einzige theoretische Konstrukt unter den ansonsten verhaltensnah beschriebenen Strukturdimensionen« (Rudolf, 2004, S. 65), wird in der OPD wie folgt beschrieben: »Die Fähigkeit zur Abwehr bezieht sich auf die Mittel, die zur wirksamen und flexiblen Selbststeuerung eingesetzt werden, d. h. die reifen intrapsychisch wirksamen Abwehrmechanismen (versus die interpersonell wirksamen »unreifen« Abwehrformen)« (a. a. O.). Wenn im Klientenzentrierten Konzept von Abwehr die Rede ist, geht es vor allem um die Abwehr der organismischen Bewertung von Erfahrung. Interessanterweise definiert Rogers dieses Konstrukt, das in der OPD als nicht verhaltensnah beschrieben gilt, als »… die verhaltensmäßige Reaktion des Organismus auf Bedrohung (des Selbstkonzepts) mit dem Ziel, die gegenwärtige Struktur des Selbst aufrecht zu erhalten. Dies wird angezielt durch die Verzerrung der Erfahrung im Gewahrsein … oder indem die Erfahrung vor dem Gewahrsein geleugnet wird« (Rogers, 1959b/1987, S. 204 f.). Alle auf den niedrigen Stufen des Prozesskontinuums beschriebenen Formen des Umgangs mit der Selbsterfahrung z. B. bedeuten Verzerrungen und Verleugnungen der Erfahrung und vor allem ihrer organismischen Bewertung im Gewahrsein. Die Unterscheidung zwischen reifen »intrapsychisch wirksamen« und unreifen, »interpersonell wirksamen« Abwehrmechanismen haben Gesprächspsychotherapeuten z. B. bei der Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihrer Behandlung adaptiert (Eckert & BiermannRatjen, 2000). Im Rahmen der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts werden Abwehrphänomene aber mehr als Formen des Erlebens von Inkongruenz, insbesondere der Verteidigung gegen die lebendige Erfahrung, behandelt als unter der Überschrift Abwehr (s. unten). Eine weitere Dimension, Objektwahrnehmung ist in der OPD wie folgt definiert: »Die Fähigkeit, die Objektwelt aus einer abgegrenzten und zugleich emotional verbundenen Position heraus realistisch, d. h. ganzheitlich wahrzunehmen. Das schließt die klare Abgrenzung von Selbst und Objekten ein sowie die Fähigkeit, sich in die Objekte hineinzuversetzen« (Rudolf, 2004, S. 65). Schließlich wird die Dimension Bindung definiert als die: »Fähigkeit, von wichtigen Bezugsper-
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sonen innere Repräsentanzen zu errichten und emotional positiv zu besetzen, so dass die Beziehung auch bei äußerer Abwesenheit der Objekte bzw. bei konflikthaften Spannungen mit den Objekten aufrechterhalten werden kann. Dabei soll die Beziehung zu unterschiedlichen Objekten auch zu variablen inneren Bildern führen. Hierher gehört die Fähigkeit, Objekte loszulassen, sich von ihnen zu trennen und zu verabschieden, d. h. emotional einen Trauerprozess zu durchlaufen« (Rudolf, 2004, S. 65). In diesen beiden Dimensionen werden also die Fähigkeiten zum Umgang mit anderen Menschen und den für die Selbstentwicklung wichtigen Beziehungen zu ihnen erfasst. Außer in der Art der Abwehr und den Problemen bei der Selbststeuerung unterscheidet sich – in Kernbergs Konzept, das der OPD mit zu Grunde liegt, – das Funktionieren der gesunden Persönlichkeit in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen am deutlichsten von den Verhaltensweisen bzw. Problemen der in der Persönlichkeit gestörten Menschen. Auf den Unterschied im Inkongruenzerleben zwischen Personen mit und ohne Selbstpathologie und darauf, wie er gesprächspsychotherapeutisch beschrieben werden kann, werde ich ebenfalls zurückzukommen.
5.4
Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Zunächst soll es im folgenden noch einmal um das gehen, was im Klientenzentrierten Konzept unter Abwehr verstanden wird, die verhaltensmäßigen Reaktionen auf Bedrohungen des Selbstkonzepts, durch die der Psychotherapiepatient gekennzeichnet ist. Er wehrt Erfahrungen, die nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbar sind, entweder so ab, dass sie gar nicht bewusst werden, oder er verzerrt sie im Bewusstsein, unter anderem auch dadurch, dass er sie nicht vollständig symbolisiert – es werden ihm z. B. nur die Schlafstörungen bewusst, die zur Depression gehören, aber nicht die Gefühle und Gedanken (z. B. an die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz). Oder er fühlt sich bei Erfahrungen, die nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbar sind, z. B. bei Enttäuschungen, bedroht bzw. frustriert in seinem Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung, fühlt
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
sich minderwertig und/oder kämpft oder verteidigt sich gegen die Erfahrung von Enttäuschungen – vermeidet z. B. phobisch bestimmte Situationen. Nicht mit dem Selbstkonzept vereinbar sind 4 die Erfahrung, 5 nicht empathisch verstanden zu werden, 5 nicht bedingungsfrei positiv beachtet zu werden, 5 in einer wichtigen anderen Person Inkongruenz auszulösen; 4 die Wiederholung einer Erfahrung, die zu einem früheren Zeitpunkt im Leben nicht in das Selbstkonzept integriert worden ist. Mit dem Selbstkonzept unvereinbare Erfahrung erkennt man daran, dass 4 im Zusammenhang mit ihr Inkongruenz erlebt wird, 4 sie abgewehrt wird: 5 im Gewahrsein verleugnet wird, 5 im Gewahrsein verzerrt wird, 5 im Gewahrsein unvollständig symbolisiert ist.
5.4.1
Das differenzielle Krankheitsverständnis in der prozessorientierten Gesprächspsychotherapie
Hans Swildens hat auf einer phänomenologisch/ existenzphilosophischen Basis eine sehr differenzierte Diagnostik als Grundlage für eine differenzielle, prozessorientierte Gesprächspsychotherapie vorgestellt. Er geht davon aus, dass die psychopathologischen Syndrome, »… die früher als hysterische, depressive, zwanghafte, neurasthenische, somatisierende, phobische und angstneurotische bezeichnet wurden«, einen »gemischt psychoreaktiven und konstitutionellen Ursprung« haben und sich vom »einfachen Erleben von Inkongruenz« unterscheiden (Swildens, 2003, S. 215). Einfache Inkongruenz werde als Unzufriedenheit mit sich selbst, Gefühl der Entfremdung oder als innere Zerrissenheit erlebt (Rogers sprach von Verletzbarkeit, wenn die Unvereinbarkeit der Erfahrung mit dem Selbstkonzept nur geahnt werde). Die früher als neurotisch bezeichneten Krankheitsbilder hingegen seien durch »fest etablierte
Muster der Wahlverhinderung und Existenzverweigerung mit dazugehörender Mythe und passendem Alibi gekennzeichnet« (ebd., S. 216). Die »Gesunden mit Problemen« und die »neurotischen Personen« hätten zwar das gemeinsame Merkmal der Erfahrung der Inkongruenz, die zur Selbstexploration motiviere. Die neurotischen Personen seien aber bei der Selbstexploration in einer für die spezifische Form der Neurose jeweils typischen Art und Weise in ihre subjektive Geschichte – Swildens nennt sie Mythe – verstrickt, mit der sie ihre persönlichen Beschränkungen und ihr persönliches Versagen1 entschuldigten. »Diese Geschichte (Mythe) verteidigt und greift an, entschuldigt und verbirgt mit dem Ziel, das Selbstkonzept zu sichern (…). Die Mythe enthält neben Aussagen über sich selbst (Selbstkonzept, Selbstbild, Selbstideal) auch ausgesprochen entschuldigende stereotype Aussagen hinsichtlich existenziellen Versagens und fehlender Selbstaktualisierung. Das heißt, die Mythe enthält AlibiElemente…« (Swildens, 2003, S. 213). Sie soll begründen, warum z. B. der Angstneurotiker nicht nur ängstigende Situationen, sondern damit auch sein Leben zu leben vermeidet, der Hysteriker sich mit den Gefühlen tarnt, die er gerade nicht spürt, der Depressive sich tot stellt und sich somit weigert, sein eigenes (leidvolles) Leben zu leben, und der Zwanghafte alles Lebendige und damit auch das eigene Leben in der Kontrolle erstickt. Tatsächlich, so meint Swildens, seien die neurotischen Krankheitsbilder aber nicht nur psychoreaktiv zu erklären. Die in der Lebensgeschichte, der Mythe, zur Sprache kommenden Erfahrungen eines Mangels an empathischer bedingungsfrei positiver Beachtung bei bestimmten Erfahrungen in der Kindheit reichten nicht aus zur Erklärung, warum z. B. die eine Person eine depressive und die andere eine zwanghafte Abwehr entwickelt. Auch konstitutionelle Faktoren spielten bei der Ausbildung einer Störung eine große Rolle.
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Versagen ist für den existenzphilosophisch orientierten Swildens die Verteidigung gegen oder die Vermeidung der zur menschlichen Existenz gehörenden Erfahrung der Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Endlichkeit menschlichen (Er)lebens, die Tod und Krankheit, Unordnung bis zum Chaos und Kummer und Leid bedeuten.
105 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
5.4.2
Der prozess-experientielle Aspekt des Klientenzentrierten Konzepts
Während Hans Swildens das Inkongruenzerleben der Psychotherapiepatienten auch aus der Sicht der traditionellen Klassifikationssysteme für psychische Erkrankungen beschreibt und einen Zusammenhang zwischen dieser Sicht und dem Bild, das sie im Psychotherapieprozess abgeben, herstellt, hat Carl Rogers die Patienten ganz betont nur anhand ihres Erlebens im Therapieprozess und dessen Entwicklung über die Zeit beschrieben. Auch die Bewertungsbedingungen, die eine Person in ihr Selbstkonzept integriert haben kann, bleiben in seinen Ausführungen eher abstrakte Größen, von denen es höchstens wenige bzw. viele geben kann. Rogers hat auch das Ideal der psychischen Gesundheit immer weniger als Status (gesunde oder reife Persönlichkeit), sondern mehr als ein flexibles Offensein für die Erfahrung (zu ihr gehört die Fähigkeit zur Selbstexploration) bzw. als adäquates ProzessFunktionieren – das ist die Symbolisierung von Erfahrung bzw. ihre Integration in die Selbsterfahrung – definiert. Vor diesem Hintergrund hat Gendlin (1998) betont, dass es für die Entwicklung in einer Gesprächspsychotherapie entscheidend ist, ob die Interventionen des Therapeuten eine erlebnisaktivierende (experientielle), den Prozess der Symbolisierung von Erfahrung bzw. ihrer Integration in die Selbsterfahrung förderliche Wirkung haben. Das ist der Grund dafür, dass vor allem Greenberg (Greenberg, Rice & Elliot, 1993; Greenberg, Watson & Lietaer, 1998) auf dem Namen Process-Experiential Psychotherapy – deutsch: Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie; 7 Kap. 20 – für eine Form der Klientenzentrierten Psychotherapie besteht, die sich als Weiterentwicklung der klassischen Client-centered Psychotherapy versteht und in die auch Elemente der Gestalttherapie Eingang gefunden haben. Im Rahmen der Process-Experiential Psychotherapy (Elliott, 1999a, 1999b; Elliott & Greenberg, 2002) konzentriert sich die Beschreibung des Patientenverhaltens nicht darauf, sie mit der in anderen Klassifikationssystemen vergleichbar zu machen, sondern auf die Identifikation von Erfahrensmustern, die für den Prozess der Selbstexploration problematisch
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sind. Dabei wird auf die psychologischen Theoreme der emotional-kognitiven Schemata und vorbewussten Strukturen, die bei der Verarbeitung von emotionalen, kognitiven und sinnlichen Informationen (»information-processing«) und der Konstruktion von persönlicher Bedeutung eine Rolle spielen, zurückgegriffen. Greenberg et al. (1993) weisen auf sechs besondere Processing-Probleme und Marker für diese hin. 1. Inadäquate affektive Reaktionen, die die Person selbst nicht haben möchte 2. Unfähigkeit, einen »felt sense« zu bilden (»intellektualisieren«) oder einen »felt sense« zu explizieren (Gefühlschaos) 3. Unaufhebbar widersprüchliche Impulse oder Selbstbewertungen 4. Abblocken von Gefühlen oder des Erlebens von Bedürfnissen (»unfinished business«) 5. Selbstbestrafungsreaktionen 6. Massive Vulnerabilität (»fragile sense of self«) Das therapeutische Vorgehen wird gegenüber der sog. klassischen Gesprächspsychotherapie um das Behandlungsprinzip der »Prozessdirektivität« ergänzt. Die klassische Gesprächspsychotherapie wird nicht ersetzt! Der Therapeut achtet in seinem Bemühen um empathisches Verstehen und bedingungsfrei positive Beachtung des Patienten in seiner Erfahrung auf das Auftreten von Hinweisen – Markern – auf das Erleben von Inkongruenz speziell in diesen Formen und versucht dann, den Patienten in seinem Prozess zu unterstützen, indem er z. B. ein Focusing (Gendlin, 1998; 7 Kap. 19) durchführt, den Patienten dazu anregt, seine Sinneswahrnehmungen genau zu betrachten, sein inneres Erleben deutlich zum Ausdruck zu bringen, sich sein Erleben eines interpersonalen Kontaktes genau vor Augen zu führen und zwar so, dass ihm sein eigenes inneres Erleben dabei gewahr bleibt, usw. In der Sprache des Prozesskontinuums: ! In der Prozess-Erlebnisorientierten Psychotherapie sorgt der Therapeut in der Therapiesituation dafür, dass 4 die Patienten sich ihrer aktuellen Erfahrung, besonders ihrer Gefühle, gewärtig sind und sie als Ereignisse in ihrer Person ansehen,
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
4 sie die emotionale Bedeutung der gegenwärtigen Erfahrung klar symbolisieren und ausdrücken und jetzt interpretieren, 4 die Patienten sich klar machen, dass sie sich gegen die Erfahrung wehren und sich in ihr nicht verstehen und akzeptieren, sich gar für sie bestrafen, 4 sie ihre kognitiven Funktionen jetzt in den Dienst einer aktuellen Deutung und Bewertung der Erfahrung in Bezug auf sich selbst stellen und 4 sich darüber mitteilen, 4 die Patienten ihre Probleme als ihre eigenen differenziert wahrnehmen, 4 sich vor allem in ihrer Vulnerabilität wahrnehmen 4 und darin, dass sie enge Beziehungen zu anderen Personen als bedrohlich erleben und meiden.
5.4.3
Die Zielorientierte Gesprächpsychotherapie
Das Therapiekonzept, dass Carl Rogers hinterlassen hat, ist im Laufe der Zeit weiterentwickelt und dabei auch abgewandelt worden (Keil & Stumm, 2002). Eine dieser Varianten wurde in Deutschland von R. Sachse (z. B. 1996) u. a. unter dem Namen »Zielorientierte Gesprächspsychotherapie« vorgestellt, und zwar mit dem Anspruch, ihre theoretischen Konzepte auf der Grundlage der Erkenntnisse der modernen psychologischen Grundlagenforschung entwickelt und durch diese fundiert zu haben. Sachse stellt sie selbst so vor (2003, S. 341 ff.): »Zielorientierte Gesprächspsychotherapie (ZGT) ist eine … auf die Klärung und Repräsentation affektiver und kognitiver Schemata abzielende Therapieform, in der Psychotherapeuten neben dem klassischen Beziehungsangebot der Gesprächspsychotherapie noch gezielte Bearbeitungsangebote machen und den Bearbeitungsprozess des Klienten gezielt fördern … Klienten sollen im Rahmen einer durch die (gesprächspsychotherapeutischen) Basisvariablen getragenen therapeutischen Beziehung spezifische Themen bearbeiten, die 6
relevanten Schemata aktualisieren und mit Hilfe des Therapeuten kognitiv repräsentieren bzw. klären; dadurch werden die Schemata einer Prüfung, Umstrukturierung und einer Verbindung mit Ressourcen des Klienten zugänglich. Damit geht die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie von Modellen der Emotions- und Kognitionspsychologie aus … Spezielle therapeutische Strategien der Zielorientierten Gesprächspsychotherapie richten sich auf eine ›Bearbeitung der Bearbeitung‹, d. h. eine therapeutische Bearbeitung von Vermeidungen des Klienten.« »Bei einer Bearbeitung der Bearbeitungsweise konfrontiert ein Psychotherapeut z. B. den Klienten mit seiner Vermeidung und bietet Gründe dafür an. Dadurch kann die Vermeidungstendenz systematisch reduziert werden. … Die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie umfasst auch Strategien des Psychotherapeuten, sich zu zentralen Beziehungsmotiven des Klienten komplementär zu verhalten sowie dysfunktionale Interaktionsmuster des Klienten zu bearbeiten.« Bei der ›Beziehungs-Bearbeitung‹ wird der Klient »mit seinem Beziehungsverhalten konfrontiert und die dem Interaktionsverhalten zugrunde liegenden Schemata werden bearbeitet. … Der Verstehensprozess wird … anhand sprachpsychologischer Theorien konzipiert; der Psychotherapeut re-konstruiert mit Hilfe seines (psychologischen) Wissens das innere Bezugssystem des Klienten und entwickelt ein Klienten-Modell, das im Verlauf der therapeutischen Arbeit immer elaborierter wird und dem Psychotherapeuten dann als weitere Verstehensbasis zur Verfügung steht.« Mit dieser Auffassung von den Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess, seinem Inhalt und der Rolle von Patient und Therapeut in ihm steht die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie der kognitiven Verhaltenstherapie konzeptionell näher als der Gesprächspsychotherapie.
107 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
5.4.4
Primäre und sekundäre Inkongruenz
Auf Swildens (1991, 1993) geht zurück, dass im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts eine primäre von einer sekundären Inkongruenz unterschieden wird. Definition Sekundäre Inkongruenz wird erlebt, wenn eine aktuelle Erfahrung das Selbstkonzept in Frage stellt, während die primäre Inkongruenz die allgemeine – d. h. den alltäglichen Umgang mit der Erfahrung und ihrer Repräsentation im Bewusstsein bestimmende – Stagnation der Selbstaktualisierung bezeichnet.
Das Ausmaß der allgemeinen Einschränkung im Selbstentwicklungsprozess lässt sich z. B. an der Qualität der Angst, die in der akuten sekundären Inkongruenz erlebt wird, ermessen. Die Art und das Ausmaß der primären Inkongruenz haben auch Einfluss auf andere Formen, in denen die sekundäre Inkongruenz bewusst wird, bzw. darauf, welche Krankheitssymptome bei welchen Erfahrungen eine Person entwickelt.
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung In 7 Kap. 4.9 (vgl. Biermann-Ratjen, 1993) ist dargestellt worden, dass sich das Selbstkonzept – zusammen mit der Selbsterhaltungstendenz – in Phasen entwickelt. Diese Darstellung wird an dieser Stelle im Hinblick auf eine weitere Möglichkeit, unterschiedliches Inkongruenzerleben voneinander zu unterscheiden, wieder aufgegriffen. In einer ersten Phase werden erste immer auch affektive Erfahrungen mit der organismischen Bewertung der eigenen Befindlichkeit und der lebensnotwendigen und sehr körpernahen Regulierung dieser Erfahrungen im Kontakt mit der »mütterlichen« Pflegeperson in das Selbstkonzept integriert. Die basalen Affekte Freude, Interesse, Erstaunen, Schmerz, Ekel, Wut, Angst und Scham sind als Empfindungs- (Erfahrungs- und Bewertungs-) und Ausdrucksprogramme angeboren und unmittelbar nach der Geburt oder im Verlauf der ersten Lebensmo-
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nate an Babys beobachtbar und sicher identifizierbar (Deneke, 1992), vor allem in ihren Signalkomponenten Vokalisierung und Mimik. Die motorischen und kognitiven Komponenten des Affekts entwickeln sich erst später (Krause, 1983). Diese Erfahrungen werden nur unter der Bedingung in ein erstes Selbstkonzept integriert, dass die Pflegepersonen das Kind empathisch verstehen und bedingungsfrei positiv beachten und dabei nicht inkongruent werden und auch die empathisch verstandenen Erfahrungen des Kindes vollständig und korrekt in ihrem Bewusstsein symbolisieren können. Deshalb kann man auch sagen, dass in dieser ersten Phase erste Erfahrungen mit der Befriedigung des Bedürfnisses nach bedingungsfreier positiver Beachtung in der affektiven (organismischen) Erfahrung in einem ersten Selbstkonzept repräsentiert werden – oder nicht. Konkret spielen sich in dieser ersten Entwicklungszeit z. B. der Schlaf- und Wachrhythmus und die Still- bzw. Hungerperiodik ein. Schon in dieser Zeit kann die Mutter, wenn das z. B. nicht klappt, inkongruent werden und eigene Vorstellungen in das Kind projizieren. Man kann sagen, dass das Neugeborene sein Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Beachtung bzw. sein Bindungsbedürfnis nicht anders zum Ausdruck bringen kann als in Affekten und Spannungszuständen – der ganzen Palette des Erlebens der totalen Abhängigkeit seines Überlebens und seiner psychischen Entwicklung von seinen Pflegepersonen und deren korrektem Verstehen und entsprechendem Verhalten. In einer zweiten Phase beginnt das Kind, subjektive Selbsterfahrungen zu machen, Gefühle und Absichten zu haben, auch wenn sie zunächst noch nicht reflektiert werden können. Es erlebt jetzt auch seine Bewertungen seiner Erfahrungen. Das Kind kann jetzt stolz sein und Freude über sich selbst empfinden. Es kann sich aber auch schämen und an sich zweifeln, sich sogar verachten. Das Kind kann das Erleben dieser Gefühle zusammen mit der Erfahrung, dass sie empathisch nachvollziehbar sind und das Kind in ihnen anerkannt wird, in sein Selbstkonzept integrieren. Der Prozess der Integration von Erfahrung in das Selbstkonzept, das Erlebnis, in ihr angenommen zu werden und sich selbst in ihr annehmen zu können, ist wie die Selbstregulation in der Interaktion mit der einfühlsamen Mutter
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
in der frühen Säuglingszeit eine beobachtbar angenehme Erfahrung, die oft auch mit einer körperlichen Entspannung einhergeht. Wenn sie nicht gelingt, bleibt diese Entspannung aus. In dieser zweiten Phase werden die Selbsterfahrungen auch im Hinblick darauf bewertet, ob sie mit denen kompatibel sind, die bisher in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Es kann jetzt auch Inkongruenz erlebt werden. Das geschieht vornehmlich dann, wenn das Kind nicht empathisch verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt wird und in den Pflegepersonen Gefühle auslöst, die nicht bedingungsfrei wertschätzend sind und die sich die Bezugspersonen nicht bewusst machen können. Dann kann das Kind Angst erleben oder auf seine Erfahrung wie auf einen Feind reagieren, Fluchtund Kampfimpulse erleben, abschalten, sich tot stellen oder in anderer Form tarnen. Fallvignette
Erste Inkongruenzerfahrungen »Die 13 Monate alte Dorothy greift nach einem farbigen Ball, während ihre Mutter eine Kasperlepuppe vor ihrem Gesicht hin und her bewegt. Der Ball rollt fort. Dorothy beginnt den Ball zu verfolgen; die Mutter stoppt diese Bewegung mit einem Arm, während sie ihr mit der anderen Hand die Puppe zeigt. Dorothy fällt unglücklich hin, wobei ihr Kopf auf Mutters Bein aufschlägt. Die Mutter wird ungehalten, und Dorothy beginnt wütend zu schreien. ›Nein, du böses Mädchen!‹ ruft die Mutter aus. Dorothy schwankt nun zwischen flehendlichem Weinen und wütendem Blick hin und her. Als die Mutter ihr den Ball jetzt überreicht, lässt Dorothy ihn fallen, ihre Augen sind dabei zu Boden gerichtet, ihr Körper zeigt keine Bewegung. Darauf rollt die Mutter ihr den Ball zu, den Dorothy ärgerlich wegstößt. In den folgenden zwei Minuten schauen sich Dorothy und ihre Mutter immer wieder prüfend an, jede mit finsterem Gesichtsausdruck« (Lichtenberg, 1990, S. 881).
Alle diese subjektiven Selbstempfindungen, zu denen die ersten Inkongruenzerfahrungen gehören, können, wenn das Kind in seinem Bedürfnis nach bedingungsfrei positiver Beachtung auch in ihnen
befriedigt wird, in das Selbstkonzept integriert werden. Das Kind wird sich dann, wenn sie später wieder auftauchen, in ihnen verstehen und akzeptieren können. Wenn sie nicht in das Selbstkonzept integriert werden können, werden sie, wann immer sie wieder erlebt werden könnten, vor allem zum Erleben von Inkongruenz führen. Die relative Unfähigkeit, sich diesen Gefühlen zuzuwenden, ist ein hervorstechendes Merkmal aller Patienten. Sie erleben vor allem Inkongruenz. In einer dritten Phase entdeckt das Kind seine persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und -begrenzungen und seine Bewertung durch andere in ihnen, z. B. und vor allem als männlich oder weiblich. Wenn die wichtigen Bezugspersonen dem kindlichen Erleben seiner Möglichkeiten und Begrenzungen gegenüber die sog. klientenzentrierte Haltung einnehmen und beibehalten können, wird das Kind auch diese Erfahrungen in sein Selbstkonzept integrieren können. Wenn es aber in ihnen bewertet wird, positiv oder negativ, oder indem die eine Erfahrung empathisch nachvollzogen wird und die andere nicht oder eigene nicht unbedingt wertschätzende Gefühle in den wichtigen Bezugspersonen auslöst, wird das Kind Inkongruenz erleben. Sie kann als Angst oder in der beschriebenen Form einer Verteidigung gegen die Erfahrung erlebt werden, aber auch als eine kritisch ablehnende Haltung der Selbsterfahrung gegenüber im Sinne eines »Ich müsste oder sollte so und nicht anders empfinden.« Rogers hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass Bewertungsbedingungen internalisiert und als Teil des Selbstkonzepts erlebt würden.
Unterschiedliche Formen des Erlebens der Inkongruenz als Angst Im Laufe der Zeit können mehr oder weniger gravierende Widersprüche zwischen den tatsächlichen Erfahrungen und dem Selbstkonzept entstehen. Generell ist anzunehmen: Je früher in der Entwicklung Erfahrung nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnte, d. h. in einer je früheren Phase die Stagnation der Selbstkonzeptentwicklung schon eingesetzt hat, desto mehr Erfahrung ist auch nicht mit dem Selbstkonzept zu vereinbaren bzw. umso ausgeprägter ist die primäre Inkongruenz. Desto anfälliger ist die Person auch für Angst. Ein stabiles im Sinne
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von flexibel sich weiterentwickelndes Selbstkonzept ist, darauf vor allem hat auch Bowlby hingewiesen, ein Bollwerk gegen das Erleben von Chaos und die damit verbundene Angst (7 Kap. 4). Wenn die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept nur geahnt wird, ist die Person verletzlich. Wenn die Inkongruenz bewusst wird, wird die Abwehr oder die Verteidigung gegen die Erfahrung und/oder Angst erlebt. Auch das kann im Bewusstsein verzerrt werden. Zum Beispiel ist auch das Interesse daran, bestimmte Erfahrungen um der mit ihnen verbundenen positiven oder negativen Beurteilung durch andere willen zu machen oder zu vermeiden, eine Erfahrung von Inkongruenz. Die hinter diesem Interesse stehende Angst oder der Kampf um die erwünschte oder gegen die vermiedene Erfahrung werden oft nur geahnt. ! Nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass Angst erlebt wird, sondern vor allem auch die Qualität der Angst, in der die Inkongruenz bewusst wird, kann als ein Maß für die relative Reife eines Selbstkonzepts angesehen werden bzw. sagt etwas darüber aus, in welcher Phase die Selbstentwicklung stagniert ist.
Wenn in der ersten Phase nur wenige Erfahrungen der unbedingten positiven Beachtung in der affektiven Erfahrung gemacht und in ein Selbstbild integriert werden konnten – die haltende Funktion der Mutter nicht in hinreichendem Maße internalisiert werden konnte – entsteht ein nur labiles Selbstkonzept. Es wird durch jede affektive Erfahrung, die etwas mit Abhängigkeit oder dem Bindungsbedürfnis zu tun hat und nicht ausgeblendet werden kann, erschüttert. Bei diesen affektiven Erfahrungen handelt es sich nicht nur um Sehnsucht, sondern vor allem um Angst, körperlich und psychisch nicht überleben zu können und verlassen zu werden, »mutterseelenallein« zu sein. Die Angst, in der die Inkongruenz erlebt und mehr oder weniger vollständig symbolisiert wird, ist Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst, oft nur in der Form der Vorstellung einer totalen, tödlichen Vernichtung symbolisiert, und Angst vor dem Chaos. Die Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst wird oft nicht als Angst erlebt, die mit bestimmten Vorstellungen und Körpergefühlen verbunden ist bzw. sich darin ausdrückt. Vielmehr werden oft Vor-
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stellungen und Körperempfindungen erfahren, die große Angst auslösen und nicht mehr als Symbol für Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst verstanden werden: Zum Beispiel kann das Gefühl, einen einzelnen abgegrenzten integrierten Körper zu haben, verloren gehen, der Körper oder Teile von ihm können als verändert, z. B. ganz klein geworden erlebt werden, oder als fremd oder befremdlich. Das Gefühl, fühlen zu können, kann verloren gehen – was z. B. zu selbstverletzendem Verhalten führen kann, denn im Schmerz wird gefühlt, dass gefühlt wird. Es kann auch das Empfinden, der Autor der eigenen Handlungen und Gedanken zu sein, verloren gehen, oder jetzt dieselbe Person wie gestern zu sein. Es kann aber auch die Erinnerung an das Identitätsgefühl von gestern verloren gehen oder an das von vor wenigen Minuten. Dazu kommt es bevorzugt dann, wenn in der Beziehung zu einer wichtigen anderen Person ein heftiges Gefühl ausgelöst worden ist – meistens hat es etwas mit Abhängigkeit zu tun. Personen, deren Entwicklung in der zweiten Phase stagniert ist, erleben Inkongruenz weniger als Angst vor dem Zusammenbruch ihres Selbst, dem Chaos und vor der Vernichtung. Sie erleben in ihrer Inkongruenz Angst, absolut böse und wertlos zu sein (und deshalb verlassen zu werden bzw. mutterseelenallein zu sein). Ihre Inkongruenz wird ausgelöst, wenn sie in ihren Gefühlen und Absichten und vor allem in ihren Selbsterhaltungsreaktionen, die man auch Selbstverteidigung nennen kann, falsch verstanden werden. Personen, die die dritte Entwicklungsphase erreicht haben, erleben bei Erfahrungen, die nicht mit ihrem Selbstkonzept kompatibel sind, vor allem Zweifel, dass sie »richtig« sind, und zwar bevorzugt Zweifel daran, dass sie ein »richtiger« Mann oder eine voll funktionsfähige Frau sind, und entsprechende Ängste, in diesen Funktionen nicht zu genügen (und daran Schuld zu haben und/oder sich dadurch schuldig zu machen). Sie werden vor allem ausgelöst, wenn sie an Bedingungen geknüpfte Anerkennung erleben, z. B. geliebt werden, weil sie lieben, oder anerkannt werden, weil sie leistungsfähig sind, bzw. keine Chance sehen, bedingungsfrei positiv beachtet zu werden.
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Zur Unterscheidung von mehr oder weniger frühen Störungen
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Die Annahme von Phasen in der Entwicklung des Selbstkonzepts, 4 einer ersten Phase, in der zunächst Erfahrungen des im organismischen Erleben Gehaltenwerdens, 4 einer zweiten Phase, in der Selbstempfindungen und erste Erfahrungen der Selbstverteidigung, und 4 einer dritten Phase, in der Erfahrungen als eine bestimmte Person mit bestimmten Gefühlen und Absichten, aber auch mit nur bestimmten Möglichkeiten und Grenzen und mit einem bestimmten Geschlecht in das Selbstkonzept integriert werden, ist die Grundlage für die Unterscheidung von mehr oder weniger frühen Störungen im Klientenzentrierten Konzept. Je eher es begonnen hat, dass Selbsterfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, umso ausgeprägter ist die primäre Inkongruenz. Und je nachdem in welcher dieser drei Phasen die Stagnation der Selbstkonzeptentwicklung begonnen hat, erlebt eine Person unterschiedliche Ängste, wenn sie sekundäre Inkongruenz erlebt – also aktuell eine Erfahrung macht, die sie nicht in ihr Selbstkonzept integrieren kann. Frühe Störungen unterscheiden sich von weniger frühen auch in der Qualität des Selbstexplorationsprozesses: Das Selbstkonzept ist umso weniger flexibel und damit umso instabiler und umso mehr vom Zusammenbruch bei Erfahrungen, die nicht integriert werden können, bedroht, je eher die Stagnation begonnen hat. Zum Abschluss dieses Kapitels soll im Folgenden unter anderem am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung beschrieben werden, wodurch das Erleben bei der frühen Störung gekennzeichnet ist und wie das verstanden werden kann. ! Beziehungsstörungen »Charakteristisch für Borderline-Patienten sind intensive Beziehungen mit starken Bedürfnissen nach Nähe, die bald in heftige, Distanz schaffende (z. B. wütende) Affekte umschlagen. Obwohl sie
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zu drastischen Affektstürmen neigen, klagen sie über innere Leere, Bedeutungslosigkeit, Gefühllosigkeit und Angst. Es scheint ihnen ein innerer Kern zu fehlen, der ihnen authentische Gefühle eines ›wahren Selbst‹ ermöglichen und zur Selbstberuhigung beitragen würde. Diese Fähigkeiten werden vom ›auftauchenden Selbst‹ (Stern, 1992) in der gegenseitigen Bezogenheit von Mutter und Kind erworben und sind später für die innere Stabilität und deren Wiederherstellung (›selfrighting‹) (Lichtenberg, 1989) essenziell. Winnicott (1970/1996, 1974), der davon ausging, dass ein Kind nicht für sich allein gesehen werden kann, bezeichnete diese Gegenseitigkeit als Mutualität … Für die Entwicklungspsychologie fordert Köhler (1998) eine eigene Entwicklungslinie des Teilens und des Mitteilens« (Milch, 1998, S. 10).
Milch (1998) beschreibt frühe Störungen als dadurch gekennzeichnet, dass ihnen ein innerer Kern fehle und damit verbunden die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. Dieser Mangel wird darauf zurückgeführt, dass es in der Entwicklung dieser Patienten an Mutualität, Gegenseitigkeit gefehlt hat, einer Kommunikation zwischen Mutter und Kind bezüglich der inneren Befindlichkeit des Kindes in der allerersten Entwicklungsphase. Das Kind hat zu wenig erlebt, dass es seine Erfahrungen mitteilen und damit mit jemandem teilen konnte und dadurch mit sich selbst vertraut werden konnte und heute vertraut sein kann. Einen wichtigen Beitrag zur Illustration dieser Entwicklung von sog. frühen Störungen bzw. Persönlichkeitsstrukturen, die zur Aufnahme von intensiven Beziehungen neigen, in denen sie immer wieder mit heftigen, Distanz schaffenden Affekten reagieren, hat Bion geleistet. Er hat (Plenker, 2005) das von Melanie Klein stammende Konzept der projektiven Identifizierung weiterentwickelt und mit dem Konzept der Gegenübertragung und dem Modell des »containings« verbunden. Für Bion ist die projektive Identifizierung – die Projektion eines Selbstanteils bzw. eines eigenen Seelenzustandes in eine andere Person, die sich mit diesem Seelenzustand identifiziert – ein Mechanismus, der für die psychische Entwicklung entscheidend wichtig, ja unabdingbar ist. Projektive Identifizierung stelle die Grundlage dar, auf der die normale psychische
111 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Entwicklung beruhe (Bion, 1959, S. 121). Sie sei eine Form der Kommunikation, der Mitteilung an einen Empfänger, mit dem etwas Wesentliches geteilt werden müsse, um es integrieren zu können. Konkret gehe es in der frühen Selbstentwicklung darum, »in der Mutter die Gefühle hervorzurufen, die das Kind loszuwerden wünscht« (Bion, 1962, S. 230). Bion legt dar, dass das Schreien des Säuglings eine Form projektiver Kommunikation ist, durch die erreicht wird, dass die Mutter den Schmerz des Säuglings tatsächlich empfindet. (Jeder, vor allem aber jede Mutter, kennt die alarmierende Wirkung des Schreiens des Säuglings oder des Schreis des Kleinkindes in Panik.) Bion schreibt: »Wenn das Kind fühlt, dass es stirbt, so kann es in der Mutter die Furcht wachrufen, dass es sterbe« (Bion, 1962, S. 230). »Ist die Mutter in der Lage, Angst und Kummer nachzuspüren, ohne ihnen zu erliegen, wird sein Schmerz fühl- und denkbar, und es (das Kind) kann ihn in erträglicher, weil nunmehr modifizierter Form wieder in sich aufnehmen. So können auf dem Weg über die Mutter unerträgliche Zustände für die kindliche Psyche tragbar werden. Überdies lassen solche Situationen auf dem Weg über die Reintrojektion im Inneren des Säuglings allmählich ein Objekt entstehen, das Verständnis und Halt vermittelt und damit zur basalen Strukturierung des Ichs und psychischen Stabilisierung beiträgt. In der Folge erweitern sich damit auch die Fähigkeiten des Kindes, sich selbst zu verstehen.« (Plenker, 2005, S. 702) Wenn die projektive Identifizierung verwehrt werde, komme es zu schweren Entwicklungsstörungen. »Wenn intensive, das Ich überfordernde Gefühle nicht in einer anderen Person untergebracht und dort untersucht werden können, wird – so Bion – die Neugierde gehemmt und das eigene Gefühlsleben unerträglich. Vom Hass auf Gefühle, der daraus resultiert, zum Hass auf das Leben selbst, ist es dann nur ein kleiner Schritt« (Plenker, 2005, S. 701). Wenn diese Zusammenhänge im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts – unter Verzicht auf die zwar sehr anschaulichen aber doch auch sehr konkreten Bilder der projektiven Identifizierung und Reintrojektion – dargestellt werden, klingt das relativ abstrakt und damit möglicherweise verharm-
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losend – was aber nicht intendiert ist! Und die Mutualität von Mutter und Kind wird eher aus der Perspektive der Mutter dargelegt: Im Klientenzentrierten Konzept gilt, dass die Antwort der Mutter auch auf den alarmierendsten Schrei des Kindes so sein muss, dass sie sich ihrer bewusst werden kann und zugleich das Kind in der emotionalen Erfahrung, die durch den Schrei ausgedrückt wird, empathisch versteht und unbedingt wertschätzt, damit das Kind die mit dem Schrei ausgedrückte Erfahrung als seine erfahren und in sein Selbstkonzept integrieren kann. Wenn ihr das nicht gelingt – was das Kind offenbar wahrnimmt –, kann das Kind das, auf das die Mutter reagiert bzw. was die Mutter in ihm sieht, nicht als zu ihm gehörend an- und in seine Selbsterfahrung aufnehmen. Die allerersten Selbsterfahrungen des Kindes, in denen es unbedingt verstanden und angenommen werden muss, wenn es körperlich und psychisch überleben soll, sind die der Abhängigkeit seiner gesamten Existenz von Pflegepersonen und der entsprechenden Todesangst, wenn nicht sicher ist, ob diese zu erreichen sind. Nur wenn es das Kind schafft, dass sich die Pflegepersonen in diese Seelenzustände einfühlen – sei es dass sie empathisch reagieren, wie es der Gesprächstherapeut nennt, oder feinfühlig, wie es bei den Bindungstheoretikern heißt (7 Kap. 4), oder etwas in sich hineinprojizieren lassen, wie Bion es ausdrückt, mit dem sie sich zunächst identifizieren, um es dann korrekterweise im Kind wahrzunehmen und zu verstehen –, kann das Kind sie nach und nach – zusammen mit der Erfahrung, bedingungsfrei positiv beachtet worden zu sein – in sein Selbsterleben integrieren und dort tolerieren und muss sich nicht z. B. aggressiv von diesen existenziellen Ängsten zu befreien versuchen. Und wenn es nicht gelingt, dass diese Seelenzustände zusammen mit der Beruhigung in ihnen durch andere integriert werden, dann wird die Person immer weiter versuchen, andere dazu zu bringen, das nachzuvollziehen, indem sie sich ebenso fühlen, nämlich existenziell bedroht. Bion hat darauf hingewiesen, dass wenn die Mutter die Erfahrung der Todesangst des Kindes nicht als solche innerlich nachvollzieht, diese Erfahrung ihrer Bedeutung entkleidet wird. Das Kind reintrojiziere dann keine Furcht zu sterben, sondern eine »namenlose Angst« (Bion, 1962, S. 232).
112
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Wie in 7 Kap. 4.6.4 dargestellt worden ist, bildet sich erst zwischen dem 7. und dem 15. Monat die Empfindung eines subjektiven Selbst heraus, kann das Kind erfassen, dass es ein eigenes inneres subjektives Erleben hat, das andere ebenfalls haben, und kann die Seelenzustände anderer lesen und mit seinen eigenen vergleichen. Kindern geht es jetzt weiter vor allem um Intersubjektivität, aber nun in dem Sinne, dass sie herauszufinden versuchen, welcher Teil des inneren Erlebens einer anderen Person mitgeteilt werden kann und welcher nicht, wie viel menschliche Teilhabe auf der einen Seite und wie viel psychische Isolierung und Einsamkeit auf der anderen Seite erlebt werden. Die Gefühle, die das Kind jetzt mitteilen möchte, sind innerpsychische oder Selbsterfahrungen. Im Klientenzentrierten Konzept gehören die Erfahrungen der Teilhabe und/ oder Isolation zur Befriedigung oder Frustration in dem Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Selbstbeachtung, das zusammen mit dem Selbstkonzept erlebbar wird. Sie stellen bestimmte Inhalte der Selbsterfahrung in Frage, aber nicht die Existenz der Selbsterfahrung. Die Person mit einer frühen Störung fühlt sich ferner durch jede Erfahrung, nicht verstanden zu werden, nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden und eine andere wichtige Bezugsperson in einen Zustand zu versetzen, in dem diese ihr Erleben nicht mehr reflektieren kann, wenn sie das nicht abwehren kann, existenziell bedroht. Zu den Kriterien, die für die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« erfüllt sein müssen, gehören auch enge, stabil-instabile Beziehungen. Gesprächspsychotherapeuten gehen in Übereinstimmung mit den dargestellten psychoanalytischen Auffassungen davon aus, dass es Patienten mit z. B. einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht gelingt, die Erfahrung ihres elementaren (Bindungs-) Bedürfnisses nach Nähe (Intimität, Geborgenheit, Gegenseitigkeit) stabil abzuwehren. Sie machen daher Erfahrungen, die sie nicht mit ihrem Selbstkonzept vereinbaren können. Dagegen wehren sie sich in einem zweiten Schritt. Die spektakulärste Form, sich von der Erfahrung der physischen und psychischen Abhängigkeit – wie diese Patienten sie voller Scham bis Selbstverachtung nennen – zu distanzieren, ist die Entwicklung von Affekten, die diese anderen in die Flucht schlagen, oder selbst zu fliehen,
z. B. in die Dissoziation. Häufige Trennungen gehören zum Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Beschreibung der frühen Störung mit Hilfe des Prozesskontinuums von Rogers – zur Erinnerung: es geht um den Prozess der Vergegenwärtigung der aktuellen Erfahrung im Bewusstsein – sieht wie folgt aus:
Patienten mit frühen Störungen 5 Sie stehen ihrer aktuellen Erfahrung nicht nur distanziert gegenüber. Sie können ihre Aufmerksamkeit fast gar nicht nach innen wenden und sich kaum auf ihren inneren Erlebensprozess konzentrieren. Sie erleben z. B. innere Leere und Bedeutungslosigkeit wie Objekte außerhalb ihrer Person. 5 Sie erleben Sinnlosigkeit und Angst anstelle der emotionalen Bedeutung ihrer gegenwärtigen Erfahrung, die sie in Bezug zur Vergangenheit – Vergeblichkeit – oder zur Zukunft –Hoffnungslosigkeit – interpretieren. 5 Sie sind kaum in der Lage, sich ihre Erfahrung bewusst zu machen. Sie wehren sich gegen die Erfahrung und können sich nicht verstehen und akzeptieren. 5 Sie sind in ihren kognitiven Funktionen stark eingeschränkt, können sich nicht auf die Gegenwart konzentrieren, sind gefesselt an starre Deutungen der Vergangenheit und durch ihre Angst vor der Zukunft. 5 Es besteht nicht nur Widerwilligkeit, sich über sich selbst mitzuteilen. Patienten mit frühen Störungen erleben nicht nur heftige Impulse, mit denen sie ihr Erleben anderen geradezu aufzwingen, sondern im Wechsel damit Mitgefühl für ihre Partner und dabei extreme Schuldgefühle und dass sie ihre wichtigsten Bezugspersonen damit, dass sie ihnen ihr Erleben aufzwingen, geradezu vergiften oder auf andere Art und Weise zerstören. 5 Sie nehmen diese ihre Probleme nicht differenziert wahr und sehen sie abwechselnd als die eigenen an – auch wenn sie diese als
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113 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
außerhalb der eigenen Person existierend wahrnehmen – und nicht als ihre eigenen an. 5 Dementsprechend besteht kein stabiler Wunsch nach persönlicher Veränderung. 5 Enge Beziehungen zu anderen Personen werden als bedrohlich und unlebbar erlebt, zugleich Trennungen als unmöglich.
Zur Entwicklung des Inkongruenzerlebens am Beispiel der Neurose Zur Verdeutlichung der sog. frühen Störung und ihrer vermutlichen Entstehungsgeschichte sei im Folgenden noch einmal der weniger früh gestörte Patient mit seinen Problemen und seiner Geschichte dargestellt: Der neurotische Patient ist als Kind erst in der dritten Entwicklungsphase in einem wesentlichen Ausmaß nicht unbedingt positiv beachtet worden, sondern z. B. wegen seines männlichen oder weiblichen Geschlechts oder wegen der Gefühle, die er mit seinem persönlichen Erleben in wichtigen Bezugspersonen ausgelöst hat. Fallvignette
Bedingte positive Beachtung Eine Tochter hat z. B. durch ihre Verliebtheit in ihn den Vater begeistert, oder das Erleben der heranwachsenden Frau hat den Vater entzückt, oder ein Sohn hat die Mutter durch seine männliche Art sich durchzusetzen und sie zu beschützen stolz gemacht.
Diese Erfahrungen der bedingten Anerkennung stellten das Selbstkonzept in Frage, konnten nicht in die Selbsterfahrung integriert werden, begründeten Inkongruenz. Auf der Grundlage der Selbsterhaltungstendenz wurden sie also abgewehrt, z. B. verleugnet oder so verzerrt, als passten sie doch zu den Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Eine einfache Art der Abwehr wäre z. B., dass die Kinder die Beurteilungen ihrer Selbsterfahrungen durch die Eltern gar nicht wahrnehmen und sich nur um die Gefühle der Eltern kümmern. Das könnte so
5
weit gehen, dass sie es als ihre Aufgabe ansehen, den Eltern gute Gefühle zu machen. Das ist eine ziemlich weit verbreitete Abwehr und wird gerne auch auf den Umgang mit dem Therapeuten übertragen. Wenn die Abwehr nicht funktioniert, erlebt das Kind die Bedrohung seines Selbstkonzepts durch die Erfahrungen, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden können, bzw. bewertet sie organismisch so, als werde es angegriffen (Zur Erinnerung: Die Selbstverteidigungstendenz ist Teil der Aktualisierungstendenz, Ausdruck ihres erhaltenden Teils. Es gehört nicht nur zur Aktualisierung, das Selbstkonzept zu entwickeln, sondern auch, es zu erhalten). Das Kind reagiert z. B. mit Flucht- oder Kampfimpulsen (auf die Begeisterung des Vaters über die Verliebtheit der Tochter oder den Stolz der Mutter auf das männliche Durchsetzungsverhalten). Auch diese Reaktionen – »so fühle ich mich, wenn ich nicht unbedingt positiv beachtet werde« – können nur dann in das Selbstkonzept integriert werden, wenn das Kind in ihnen empathisch verstanden und bedingungsfrei wertgeschätzt wird und die Erwachsenen nicht wiederum inkongruent reagieren. Wenn sich im späteren Leben dieser Kinder wiederholt, dass sie z. B. Fluchtimpulse oder Protest in sich spüren, können sie sich in diesen selbst nur verstehen und akzeptieren, wenn sie in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Wenn das nicht der Fall ist, werden sie sich als nicht in Ordnung und unverständlich in ihrer Angst mit dem dazugehörenden Vermeidungsverhalten z. B. beurteilen oder als unangemessen gereizt. Sie werden erst dann die Erfahrungen identifizieren können, auf die sie mit Kampf- und Fluchtimpulsen reagieren, bzw. die Situationen, in denen sie ihre Inkongruenz spüren, wenn sie zunächst in diesen ihren Selbstverteidigungsreaktionen verstanden und angenommen worden sind. Das Mädchen, das als Kind dafür geliebt worden ist, dass es in den Vater verliebt war, kann z. B. eine depressive Ehefrau werden, deren Mann sie nur versteht, wenn sie ihn anhimmelt und begehrt. Und der Mann, den wir als Beschützer seiner Mutter beschrieben haben, könnte eine Angstsymptomatik im Zusammenhang damit entwickelt haben, dass seine Frau sich von seinen Ängsten anstecken lässt
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5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
und sich nur sicher fühlt, wenn er sich angstfrei durchsetzt. Erst wenn die Depression bzw. die Angst angenommen worden sind, werden sie spüren können, dass sie sich gegen bestimmte Erfahrungen, in denen sie in der Kindheit z. B. nur bedingte Anerkennung erfahren haben, zur Wehr setzen, das wären in unseren Beispielen die tatsächlich vorhandene Begeisterung für den Ehemann bzw. die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit des Ehemannes, und sie werden – im Schutze der Beziehung zum Therapeuten z. B. – auch diese in die Selbsterfahrung integrieren können.
5.5
Zusammenfassung
Wir fassen zusammen: Im Klientenzentrierten Konzept gilt psychische Krankheit als Ausdruck der Stagnation des Prozesses der Selbstkonzeptentwicklung. Die allgemeinen Symptome dieser Stagnation bedeuten eine Behinderung in der Fähigkeit, sich selbst und die Welt zu erfahren und sich ein Bild davon zu machen. Wenn die Erfahrung von Inkongruenz (dass die tatsächliche Erfahrung nicht mit dem Selbstkonzept übereinstimmt) bewusst wird, wird Angst erlebt. Die Qualität dieser Angst – Angst vor der Vernichtung und dem Chaos, Angst, absolut böse oder wertlos zu sein, Angst als Mann oder Frau nicht richtig und damit schuldig zu sein – sagt etwas über die primäre Inkongruenz aus, welche Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, und darüber, wie labil das Selbstkonzept und wie »früh« die Störung ist. Je früher in der Entwicklung Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, desto größer ist die primäre Inkongruenz – die Nichtübereinstimmung der Erfahrung mit dem Selbstkonzept. Die Erfahrung der sekundären Inkongruenz ist die Selbsterfahrung der Reaktion auf eine Bedrohung des Selbstkonzepts durch eine akute Erfahrung. Sie kann der organismischen Reaktion auf einen Angriff von außen entsprechen: Angst, Depression (Totstellreflex) und andere Formen der Täuschung als Tarnung, Flucht, Angriff (als Verteidigung), Dissoziation und andere Formen von Bewusstseinseinengung. Auch diese Reak-
tionen können mit dem Selbstkonzept inkompatibel sein. Die für das Selbstkonzept bedrohlichen Erfahrungen können vor dem Bewusstsein verleugnet und im Bewusstsein so verzerrt werden, als passten sie doch zum Selbstkonzept. Sie können aber auch unvollständig symbolisiert im Bewusstsein auftauchen – als isolierte Körperempfindung (somatoform), Vorstellung (zwanghaft oder phobisch), isoliert auftretende Gedanken (depressives Grübeln), oder isolierter Affekt (Impuls). Gesprächspsychotherapeuten machen sich nicht blind für, sondern sind ausgesprochen interessiert an der Beobachtung von Syndromen, denen Krankheitseinheiten zu Grunde liegen könnten und die dadurch charakterisiert sind, dass bestimmte mehr oder weniger frühe Erfahrungen als das Selbstkonzept bedrohend erfahren werden und bevorzugt nur in bestimmten Formen symbolisiert oder in bestimmten Blockierungen der Selbstexploration sichtbar werden.
5.6
Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Störungskonzepten
Im Vergleich zur Krankheitslehre aus psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Sicht ist zu sagen: Das Unbewusste als verdrängte Trieberfahrung hat im Klientenzentrierten Konzept wenig Bedeutung. Unbewusst im Klientenzentrierten Konzept bedeutet (noch) nicht gewahr bzw. (noch) nicht vollständig im Bewusstsein symbolisiert. Das zur menschlichen Entwicklungstendenz gehörende Interesse am Bewusstwerden des Prozesses der Selbstverteidigung durch die Abwehr – Verleugnung und Verzerrung von Erfahrung im Bewusstsein – und vor allem die organismische Bewertung das Selbstkonzept bedrohender Erfahrung als Feind, gilt als wesentlicher Motor für den Veränderungsprozess in der Psychotherapie. Vielen Begriffen im Klientenzentrierten Konzept und manchen seiner Neuformulierungen merkt man an, dass der Versuch, das psychoanalytische topographische Strukturmodell zu überwinden und durch ein Modell der Repräsentation von Selbster-
115 5.7 · Ausblick
fahrung in einem Selbstkonzept zu ersetzen, auch fehlschlagen kann. Man kann das Klientenzentrierte Konzept eine Selbstpsychologie nennen – insofern es in seinem Zentrum um die Selbstentwicklung und -erhaltung und um Empathie geht. Man kann es wegen der zentralen Bedeutung des Bedürfnisses nach unbedingter positiver Beachtung durch Bindungspersonen auch eine Objektbeziehungstheorie nennen. Jede in das Selbstkonzept integrierte Selbsterfahrung ist schließlich gleichzeitig eine Erfahrung mit einem Objekt bzw. könnte eine internalisierte Objekterfahrung genannt werden. Wir haben zu zeigen versucht, dass hingegen die Annahme internalisierter Bewertungsbedingungen, eines Ich-Ideals oder eines Über-Ichs als Teil des Selbstkonzepts nicht so recht ins Klientenzentrierte Konzept passt. Das gilt entsprechend auch für die Annahme einer Konfliktpathologie. Wir gehen zwar auch davon aus, dass sich die psychische Entwicklung in Phasen vollzieht. Wir nehmen aber nicht Phasen der Triebentwicklung oder Ich-Entwicklung und ihnen entsprechende Konflikte an, sondern Phasen, in denen unterschiedliche Selbsterfahrungen in ein Selbstkonzept integriert werden. Diese Phasen sind gleichwohl die Grundlage von Überlegungen zur Strukturpathologie und ihrer Erscheinungsformen. Unseres Erachtens stimmen die Klientenzentrierten Konzepte sehr viel weniger mit den klassischen tiefenpsychologischen Modellen überein als mit denen, die sich aus der Weiterentwicklung der Bindungstheorie (Höger, 1990) und der Traumaforschung und -therapie ergeben haben (Warner, 1998; Reddemann & Sachsse, 1995). So bestätigen Ergebnisse der Bindungsforschung die Bedeutung der sog. reflexiven Funktion (»reflective functioning«; Daudert, 2002) in der Interaktion mit Bindungspersonen und damit die zentrale Rolle, die der Selbstexploration und der Empathie im Klientenzentrierten Konzept zugewiesen worden sind (Eckert & Biermann-Ratjen, 2002). Auf der rein deskiptiven Ebene – d. h. abgesehen von den triebtheoretischen, auf denen die topografischen Annahmen beruhen – sind die Beschreibungen, die im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zur Kennzeichnung mehr oder weniger gesunden psychischen Funktionierens entwickelt worden sind, auch gut mit den Dimensionen zu vereinbaren,
5
in denen auf der Strukturachse der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik; Arbeitskreis OPD, 1996) die mehr oder weniger gut integrierten psychischen Strukturen beschrieben werden: Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung.
5.7
Ausblick
Konzeptionen von Krankheitslehren unterscheiden häufig zwischen einer allgemeinen und einer speziellen Krankheitslehre. Die oben gemachten Ausführungen zur Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie bewegen sich im Rahmen einer allgemeinen Krankheitslehre. Das ist der Gesprächspsychotherapie wiederholt als Mangel vorgehalten worden, z. B. im »Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes« (Meyer, Richter, Grawe, Graf von Schulenburg & Schulte, 1991). Unter Gesprächspsychotherapeuten wurde und wird die Frage der Notwendigkeit einer speziellen Krankheitslehre kontrovers diskutiert. Diejenigen, die einer speziellen klientenzentrierten Krankheitslehre skeptisch gegenüberstehen, führen vor allem zwei Argumente ins Feld. Zum einen verweisen sie darauf, dass es eine Frage der Anerkennung der wissenschaftlichen Realität sei, einer speziellen Krankheitslehre gegenüber skeptisch zu sein: Es gäbe bisher kein größeres psychisches Störungsbild mit einer allgemein akzeptierten Ätiologie. Zum Beispiel gäbe es mehr als ein Dutzend Theorien zur Entstehung einer Depression. Nicht nur seien im Rahmen der verschiedenen klinischen Paradigmen – u. a. des biologischen, verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen – unterschiedliche Modelle zur Depressionsentstehung entwickelt worden, sondern auch innerhalb der einzelnen Paradigmen gäbe es unterschiedliche Auffassungen bzw. Theorien. Wenn aber ein und dieselbe Störung durch mehrere, in sich jeweils schlüssige Theorien erklärt werden könne, dann tendiere der wissenschaftliche Wert jeder einzelnen dieser Theorien gegen Null. Das habe selbst die Weltgesundheitsorganisation eingesehen und mit der 10. Revision der international gültigen Klassifikation Psychischer Störungen das Prinzip aufgegeben, die Störungen auf der Grundlage ihrer
116
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Ätiologie zu klassifizieren (Weltgesundheitsorganisation, 1991). Als zweites Argument gegen eine spezielle klientenzentrierte Krankheitslehre wird die Inkompatibilität eines prinzipiell störungsspezifischen Vorgehens mit dem Klientenzentrierten Konzept angeführt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Gesprächspsychotherapeuten stünden in einer Psychotherapie nicht die Störung bzw. das Symptom des Klienten, sondern die Person mit ihren spezifischen Erfahrungen und ihre Beziehung zu sich selbst und anderen Menschen. Eine dauerhafte Veränderung der Symptomatik erfolge indirekt durch eine Veränderung des Selbstkonzepts und nicht durch eine direkte Bearbeitung der Symptome. Vor dem Hintergrund dieser Einwände verwundert es nicht, dass die Zahl der Befürworter einer speziellen Krankheitslehre unter den Gesprächspsychotherapeuten in der Minderheit ist. Vereinzelte Ansätze zur Entwicklung einer speziellen Krankheitslehre, z. B. Speierer (1994; 7 Kap. 22) mit seinem »Differenziellen Inkongruenzmodell« (DIM), sind bisher ohne erkennbar größere Resonanz geblieben. Während es eine allgemein anerkannte spezielle Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie nicht gibt, werden seit längerem störungsspezifische Vorgehensweisen im Rahmen einer Gesprächspsychotherapie beschrieben. Für einzelne Störungen wurde herausgearbeitet, was bei ihrer Behandlung im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zu beachten ist (z. B. Swildens, 1991), und es sind störungsspezifische Behandlungsleitlinien (7 Kap. 23) entwickelt worden. Eine solche Entwicklung ist sehr viel weniger umstritten als die Entwicklung einer speziellen Krankheitslehre, weil sie eine Lücke in der von Rogers hinterlassenen Therapietheorie schließt. ? Übungsfragen 5 Wie ist Rogers zu der Annahme einer Selbstaktualisierungstendenz gekommen? 5 Wie wird im Klientenzentrierten Konzept Inkongruenz definiert? 5 Was versteht man im Klientenzentrierten Konzept unter »Abwehr«? 5 Wie unterscheidet sich das Klientenzentrierte Konzept von »Abwehr« von demjenigen in der Psychoanalyse?
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5 Worin unterscheidet sich nach Rogers die gesunde von der weniger gesunden Person? 5 Welche Erfahrungen stellen eine Bedrohung für das Selbstkonzept dar? 5 Wie wird Inkongruenz erlebt? 5 Was sind nach Rogers internalisierte Bewertungsbedingungen? 5 Kennen Sie differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens? 5 Beschreiben Sie mit Begriffen des Klientenzentrierten Konzepts, was Bion unter projektiver Identifizierung versteht und warum er ihr eine so große Bedeutung für die psychische Entwicklung beimisst.
5.8
Weiterführende Literatur
Rogers, C. R. (1987). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Köln: GwG-Verlag. Wir empfehlen, diesen grundlegenden Text nach Möglichkeit im Original zu lesen: Rogers, C. R. (1959). A theory of therapy, personality and interpersonal relationships as developed in the client-centered framework. In S. Koch (Ed.), Psychology: a study of a science (pp. 184–257). New York: McGraw-Hill. Rogers (1959) ist der Entwurf einer allgemeinen Krankheitslehre. Der Versuch einer Weiterentwicklung in Richtung einer spezifischen Krankheitslehre findet sich in: Biermann-Ratjen, E.-M. & Swildens, H. (1993). Entwurf einer ätiologisch orientierten Krankheitslehre im Rahmen des klientenzentrierten Konzepts. In J. Eckert, D. Höger & H. Linster (Hrsg.), Die Entwicklung der Person und ihre Störung. Band 1 (S. 57–142). Köln: GwG-Verlag.
6 6 Klientenzentrierte Therapietheorie D. Höger 6.1
Wie therapeutische Veränderungen entstehen – 118
6.1.1
Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt – 118 Die erste Person, der Klient/Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich – 119 Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent – 119 Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung – 120
6.1.2
6.1.3
6.1.4
Grawe (1998) nennt zwei Fragen, die eine Therapietheorie beantworten soll: 1. Wie kommen Veränderungen durch Psychotherapie zustande? 2. Wie kann die Wirkungsweise von Psychotherapie psychologisch verstanden werden? Wir haben noch eine dritte Frage: 3. Welche handlungsleitende Funktion hat diese Therapietheorie? Was die erste Frage betrifft, so ist Rogers im Laufe seiner Forschungen und therapeutischen Arbeit zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht die therapeutischen Techniken sind, auch nicht die therapeutische Orientierung des Therapeuten oder dessen theoretisches Wissen über die Dynamik der Persönlichkeit, die therapeutische Veränderungen bewirken. Das entscheidende Agens war für ihn das psychologische Klima, das der Therapeut schafft (Rogers, 1963, S. 9). Dies ist befremdlich für alle, die davon ausgehen, dass es auf die wirkungsvollen therapeutischen Techniken ankommt, also konkrete, benennbare Verhaltensweisen, die es zu erforschen und anschlie-
6.1.5
6.1.6
6.1.7
Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Patienten – 125 Der Patient nimmt zumindest die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber wahr – 129 Zur therapeutischen Beziehung – 130
6.2
Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie? – 131
6.3
Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis – 133
6.4
Weiterführende Literatur – 138
ßend in der Praxis umzusetzen gilt. Auch mögen sich angehende Therapeuten in ihrer Ausbildung oft allein gelassen fühlen, wenn ihnen nicht handfest gesagt wird, was sie zu tun haben. Und in der Tat ist es so: Als Therapeuten sollten wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir in der Psychotherapie mit einem Patienten zusammen sind. Aber bereits im alltäglichen Umgang mit Menschen zeigt sich, dass es bei unserem Verhalten vor allem auf das Wie ankommt. Wenn wir morgens zu einem Nachbarn »Guten Morgen« sagen (eine konkret beschriebene Verhaltensweise), dann kann die Wirkung, je nachdem wie wir das tun, radikal unterschiedlich sein: Zwischen den Zähnen und mit abgewandtem Gesicht hingeknurrt, flüchtig im Vorbeigehen, neutral-geschäftsmäßig, freudig-lebhaft usw. Und genau damit wird ein Klima schaffen, das die weitere Beziehung deutlich beeinflusst. Selbstverständlich kommt es auf die konkreten Verhaltensweisen an. Aber das psychologische Klima, das der Therapeut dadurch schafft, wie er seinem Patienten gegenübertritt, welche Einstellungen ihm gegenüber darin deutlich werden, ist letztlich entscheidend für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung. Und wie die
118
6
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
empirische Psychotherapieforschung vielfach nachgewiesen hat, leistet sie den größten Beitrag zur Wirksamkeit von Psychotherapie. Wir werden uns in den folgenden Unterkapiteln, den eingangs gestellten Fragen folgend, zunächst damit befassen, wie nach dem Klientenzentrierten Konzept therapeutische Veränderungen durch Gesprächspsychotherapie in Gang kommen, anschließend damit, warum das so ist. Die dritte Frage nach der handlungsleitenden Funktion der klientenzentrierten Therapietheorie soll nicht nur in einem eigenen Kapitel behandelt, sondern auch schon zuvor an den passenden Stellen aufgegriffen werden.
Wie therapeutische Veränderungen entstehen
6.1
Rogers hat die Grundlage seiner Therapietheorie in Form von sechs Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit ein therapeutischer Prozess in Gang kommt, d. h. konstruktive Veränderungen eintreten (Rogers, 1957/1991a, S. 168; 1959b/1987, S. 40). »Konstruktiv« bedeutet dabei eine Entwicklung der Person »in einer Richtung … die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden« (Rogers, 1957/1991a, S. 167). Und diese Veränderungen sind – so Rogers – sowohl kurzfristig im offenen Verhalten als auch in einer überdauernden Umorganisation der Verhaltensdispositionen einer Person erkennbar. Die sechs Bedingungen lauten wie folgt:
Die sechs notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen nach Rogers 1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt. 2. Die erste Person, der Klient/Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich.
6
3. Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent. 4. Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung. 5. Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Klienten/ Patienten. 6. Der Klient/Patient nimmt wenigstens in einem geringen Ausmaß die Bedingungen Nr. 4 und 5 wahr, nämlich die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber. (Rogers, 1957/1991a, S. 168; 1959b/1987, S. 40)
Bevor wir diese Bedingungen näher erörtern, sei zu ihnen allgemein bemerkt: Nach Rogers handelt es sich um notwendige Bedingungen. »Bedingungen« heißt, dass keine konstruktiven Veränderungen stattfinden, sobald auch nur eine von ihnen nicht gegeben ist. Es kann aber sein, dass sie in Therapien hinreichend erfüllt werden, ohne dass der Therapeut dies bewusst angestrebt hat. Rogers hat sie auf einem hohen Abstraktionsniveau formuliert (▶ Kap. 6.3). Sie sind nicht als Anweisungen für konkrete therapeutische Handlungen gedacht. Sie sind vielmehr Kriterien für deren Beurteilung als mehr oder weniger angemessen. Um ihre Bedeutung zu verstehen und sie richtig anzuwenden, kommt es auf ihre genaue Definition und den Kontext ihrer Entwicklung an. Das Alltagsverständnis der verwendeten Begriffe erweist sich dafür als nicht hinreichend. Wir werden sie daher im Folgenden näher erörtern.
6.1.1
Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt
Die minimale Voraussetzung für therapeutische Veränderungen ist, dass Patient und Therapeut überhaupt miteinander in Kontakt sind. Entsprechend restriktiv hat Rogers »Kontakt« definiert.
119 6.1 · Wie therapeutische Veränderungen entstehen
Definition »Zwei Menschen sind in psychologischem Kontakt oder erfüllen die minimale Voraussetzung für eine Beziehung, wenn jeder im Wahrnehmungsfeld des anderen eine bewusst oder unterschwellig wahrgenommene Unterscheidung bedingt« (Rogers, 1959b/1987, S. 207; Übersetzung v. Verf.).
Das bedeutet als minimale Voraussetzung, dass einer das Vorhandensein des anderen überhaupt zur Kenntnis nimmt. Ursprünglich hatte Rogers dafür den Begriff »Beziehung« benutzt, wollte aber das Missverständnis vermeiden, hier sei bereits eine bestimmte Qualität der Beziehung gemeint. Die Qualität dieser Beziehung soll erst mit den folgenden Bedingungen beschrieben werden. Diese erste Bedingung ist nicht trivial, denn sie kann beispielsweise bei bestimmten psychotischen Zuständen fehlen. Aber auch sonst kann es (meist vorübergehende) Situationen geben, in denen Patienten auf einen Monolog eingeengt sind oder in anderer Weise die Anwesenheit des Therapeuten gar nicht zur Kenntnis nehmen.
6.1.2
Die erste Person, der Klient/ Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich
Mit Inkongruenz ist hier die zwischen Selbst und Erfahrung (im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts – 7 Kap. 3.3.1) gemeint. Im Anschluss an 7 Kap. 3.3.4 wäre Inkongruenz wie folgt zu definieren: Definition Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung ist in dem Ausmaß gegeben, in dem bei einer Person ihre Symbolisierungen im Selbst von ihrer Erfahrung abweichen.
Wie dort bereits beschrieben, beeinträchtigt die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung die Funktionsfähigkeit einer Person und macht sie anfällig für
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psychische Erkrankungen (7 Kap. 5). Umgekehrt verschwinden oder bessern sich Symptome in dem Maße, in dem durch Gesprächspsychotherapie Inkongruenz vermindert wird. Folglich ist Gesprächspsychotherapie für solche Symptome und Probleme wenig geeignet, die nicht auf die Inkongruenz eines Patienten zurückgeführt werden können. Diese Bedingung bezieht sich daher vor allem darauf, ob Gesprächspsychotherapie indiziert ist (Näheres hierzu findet sich in 7 Kap. 8.3; zur Illustration 7 Fallbeispiele in 7 Kap. 8.3.2). 6.1.3
Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent
»Kongruent« bedeutet hier für den Therapeuten, dass er seine Erfahrung weitgehend vollständig und genau in seinem Selbst symbolisiert und damit bewusst über sie verfügen kann. Die oft verwendete verkürzte Formulierung dieser Bedingung als »Kongruenz des Therapeuten« kann missverstanden werden als Forderung, der Therapeut müsse in allen Lebensbereichen kongruent sein. Rogers meint hierzu: »Wäre dies eine notwendige Bedingung, gäbe es keine Therapie. Es reicht aus, wenn er in diesem besonderen Augenblick der unmittelbaren Beziehung mit seinem spezifischen Gegenüber ganz und gar er selbst ist, wenn er die Erfahrungen dieses Augenblicks exakt symbolisiert und in sein Selbstbild integriert« (Rogers, 1959b/1987, S. 42; Hervorhebung v. Verf.). Rogers bezieht also diese Bedingung auf den begrenzten Bereich, auf den es hier ankommt, in dem der Kongruenz des Therapeuten eine spezielle Funktion zukommt: Wenn der Therapeut die folgenden Bedingungen vier und fünf erfüllen soll, d. h. sich seinem Patienten empathisch verstehend zuwenden, ohne daran Bedingungen zu knüpfen, dann setzt dies voraus, dass er in der Lage ist, die relevanten Erfahrungen des Patienten wie auch die eigenen exakt zu symbolisieren. Anders gesagt: Inkongruenz des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung hat zur Folge, dass er die beim Patienten wahrnehmbaren Erfahrungen selber abwehrt und sie entweder von seiner bewussten Wahrnehmung ausschließt, sie verzerrt oder z. B. entwertet. Er wird sie dann nicht nachvollziehen können, ihnen keine Beachtung schenken, sie abwerten usw.
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
! »Kongruenz des Therapeuten« bedeutet nicht, dass er in allen Lebenslagen kongruent sein muss, sondern bezieht sich auf die spezielle jeweilige therapeutische Situation, in der eine konstruktive Veränderung stattfinden soll.
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Natürlich wird ein Therapeut in der therapeutischen Beziehung umso kongruenter sein können, je mehr er auch in seinem sonstigen Leben seine Erfahrungen unverzerrt symbolisiert. Um dies zu fördern, sieht die staatliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung für eine Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie »Selbsterfahrung« und Supervision vor. Dabei können die Auszubildenden eigene Inkongruenzen identifizieren und bearbeiten. Weiterhin bietet die bei Gesprächspsychotherapeuten übliche berufsbegleitende (kollegiale) Supervision die Gelegenheit, sich mit den in ihren Therapien deutlich werdenden eigenen Inkongruenzen auseinander zu setzen. Die öfters vorzufindende Bezeichnung von Kongruenz als »Echtheit« und »Ohne-Fassade-Sein« (Rogers, 1977; Tausch & Tausch, 1990), im Original »genuineness« genannt, führt wegen der im Deutschen mitschwingenden moralischen Bedeutung »ehrlich sein« bei auszubildenden Therapeuten oft zu der Frage, ob denn ein Gesprächspsychotherapeut alles, was in ihm selber vorgeht, seinem Patienten mitteilen müsse. Hier ist es wichtig, sich über die Bedeutung von Kongruenz im Klaren zu bleiben. Sie gewährleistet, dass der Therapeut in seiner Beziehung mit dem Patienten funktionsfähig ist und bleibt. Ein Therapeut, der glaubt, zur Wahrung der »Echtheit« seinem Patienten alle in ihm auftauchenden kritischen Gedanken und alle seine von der Wertschätzung abweichenden Gefühle mitteilen zu müssen, ist dadurch noch lange nicht kongruent, sondern ein schlechter Gesprächspsychotherapeut. ! »Kongruenz« bedeutet nicht, dass der Therapeut »offen« in dem Sinne sein soll, dass er seinem Patienten alles mitteilt, was im durch den Kopf geht. Es geht vielmehr darum, dass der Therapeut sich aller seiner Erfahrungen in der konkreten therapeutischen Beziehung bewusst sein kann.
Ein kongruenter Therapeut, dem sein eigenes Erleben transparent ist und der außerdem Zugang zur
inneren Befindlichkeit seines Patienten hat, wird abschätzen können, wie seine Äußerungen auf diesen wahrscheinlich wirken werden. Er wird sich in seiner Beziehung mit dem Patienten frei bewegen können und nichts zu verbergen haben. Wenn er den Impuls verspürt, dem Patienten etwas über sein eigenes Erleben mitzuteilen, wird er sich fragen, weshalb er das tun möchte und ob es den Patienten bei seiner Auseinandersetzung mit sich selbst möglicherweise beeinträchtigen wird, sei es, weil es ihn verletzt, sei es, dass es ihn von seinem eigenen aktuellen Erleben ablenkt. Ist letzteres der Fall, so wird für den Therapeuten Anlass bestehen, sich mit seinen eigenen Inkongruenzen zu befassen. Er wird dann in der Regel feststellen, dass es letztlich seine eigenen Bedürfnisse oder Befürchtungen sind, die hinter seinem Wunsch stehen, sich dem Patienten mitzuteilen, und nicht das Wohl des Patienten. Therapeuten, die auch in der Therapie frei von Inkongruenzen sind, gibt es nicht. Inkongruenzen bei sich zu bemerken, ist also für Gesprächspsychotherapeuten kein Anlass für Selbstzweifel sondern vielmehr eine Chance, sich mit ihnen zu befassen und damit die Entwicklung der eigenen Person voranzubringen, sei es – in leichteren Fällen – quasi nebenher während der Therapie, sei es außerhalb in der Supervision.
6.1.4
Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung
Diese Bedingung ist die wohl am meisten umstrittene des Klientenzentrierten Konzepts (Lietaer, 1988). Als deutsche Übersetzungen des originalen Begriffs »unconditional positive regard«, den Rogers (1959b/1987) als einen der Schlüsselbegriffe seiner Theorie bezeichnet hat, findet man »Wertschätzung und bedingungsfreies Akzeptieren« (Rogers & Wood, 1977), »Positive Zuwendung« (Bommert, 1987), »Unbedingte Wertschätzung (Beachtung)« (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003), »Achten– Wärme–Sorgen« (Tausch & Tausch, 1990), »Bedingungsloses Akzeptieren« (Lietaer, 1988). Von ihnen sind in der Literatur vielfach die verkürzten Bezeichnungen »Wertschätzung« und »Bedingungsloses Akzeptieren« gebräuchlich geworden. Dadurch
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wird diese Bedingung oft so verstanden, als sollte der Therapeut alles, was sein Patient sagt oder tut bzw. getan hat, gut und richtig finden. Meistens ist das mit Einwänden von der Art verbunden, einen Mörder oder Vergewaltiger könne man doch nicht akzeptieren.
Zur Bedeutung des Begriffs Für eine Klärung lohnt es sich, die Bedeutung dieses Begriffs im englischen Original zu erkunden. In Langenscheidts Wörterbuch Englisch-Deutsch1 findet man für »regard« als Verb die Bedeutung »betrachten, ansehen« und als Substantiv »Achtung«, die durch ein Adjektiv näher charakterisiert werden kann (z. B. »hold someone in high [low] regard jemanden hochachten [geringachten]«). »Regard« bedeutet also so viel wie »aufmerksame Beachtung«. Eine Wertung ist damit nicht verbunden. Für das englische Adjektiv »positive« finden sich die Bedeutungen »ausdrücklich«, »definitiv«, »fest«, »sicher«, »eindeutig«, »greifbar, konkret«, »konstruktiv«. Eine bewertende Bedeutung im Sinnevon »gut« oder »begrüßenswert« 2 findet sich nicht! »Positive regard« bedeutet demnach so viel wie »der ausdrücklichen Beachtung bzw. der aufmerksamen Zuwendung wert«. »Unconditional« hat die Bedeutung »bedingungslos«. Diese Übersetzung könnte aber wegen Assoziationen wie »bedingungsloser Gehorsam« leicht im Sinne von Kritiklosigkeit und Aufgeben des 1
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zitiert nach der 7. Auflage des Werkes (Messinger & Rüdenberg, 1982.) Im deutschen psychosozialen Sprachgebrauch hat sich wie in der Alltagssprache eine wertende Verwendung von »positiv« eingebürgert (»Das finde ich positiv« = »Das finde ich gut«). Deshalb wird auch die Formulierung »ein positiver Krebsbefund«, der eine »schlechte« Nachricht ist (im Gegensatz zum »negativen«, der eine »gute« ist) oft als verwirrend empfunden. Sie enthält jedoch die sprachlich korrekte Bedeutung von positiv im Sinne von »vorhanden, gegeben«. – Übrigens ist auch in der Lernpsychologie/ Verhaltenstherapie ein »positiver Verstärker« nicht, wie oft angenommen und auch in Lehrbüchern zu finden, als »angenehmer« Verstärker definiert, sondern als »Stimulus, der, wenn er zu einer Situation hinzugefügt wird, die Wahrscheinlichkeit einer operanten Reaktion erhöht« (Skinner, 1953, S. 73; Übersetzung und Hervorhebung v. Verf.). Entsprechend ist ein negativer Verstärker nach Skinner ein Stimulus, dessen Entfernung aus der Situation die Wahrscheinlichkeit einer operanten Reaktion erhöht.
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eigenen Standpunktes verstanden werden. Worum es aber geht, ist, dass der Therapeut seine aufmerksame Zuwendung von keinerlei Bedingungen abhängig macht, dass er bereit ist, sich allen Facetten des Patienten mit der gleichen hohen Aufmerksamkeit zuzuwenden. Um diesen Aspekt zum Ausdruck zu bringen, bevorzugen wir den Ausdruck »bedingungsfrei« und übersetzen daher »unconditional positive regard« mit »Bedingungsfreie Positive Beachtung« und zur Kennzeichung, dass es sich um einen eigenen Begriff im Sinne eines Eigennamens handelt, schreiben wird alle drei Wörter groß. Rogers hat sie wie folgt definiert: Definition »Wenn die Selbsterfahrungen eines anderen von mir so wahrgenommen werden, dass keine von ihnen sich von irgend einer anderen dadurch unterscheidet, dass sie der aufmerksamen Beachtung (positive regard) mehr oder weniger wert ist, dann erfahre ich für dieses Individuum Bedingungsfreie Positive Beachtung.« (Rogers, 1959b/1987, S. 208; Übersetzung v. Verf.).
Nach dieser Definition geht es darum, dass der Therapeut bereit und in der Lage ist, sich allem Erleben seines Patienten unterschiedslos zuzuwenden Voraussetzung dafür ist die Einstellung des Therapeuten zu seinem Patienten, dass dieser einer solchen Zuwendung wert ist, und zwar als gesamte Person mit allem, was zu ihr gehört. Dabei hat und behält der Therapeut seine eigenen, für ihn verbindlichen Werte und bleibt sich ihrer bewusst (vgl. Kongruenz des Therapeuten). Aber er macht sie weder zum Maßstab für seine Zuwendung zum Erleben des Patienten noch geht er davon aus, dass der Patient gut daran täte, sie zu übernehmen. Statt dessen ist der Therapeut offen für die Vielfalt menschlicher Daseinsweisen. Lietaer (1988) fasst die Diskussion in der Literatur, Resultate von Faktorenanalysen und seine eigenen Erfahrungen als Therapeut zusammen und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich beim – wie er es nennt – »bedingungslosen Akzeptieren« um einen multidimensionalen Begriff handelt. Er unterscheidet: 1. Die positive Gesinnung gegenüber dem Patienten: Der Therapeut schätzt ihn, ist gerne mit
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
ihm zusammen und setzt sich für ihn und seine Möglichkeiten in einer nicht besitzergreifenden Weise ein. 2. Die Nicht-Direktivität: Der Therapeut respektiert den Patienten als einmalige und unabhängige Person mit ihrem Recht auf ein Leben nach eigener Einsicht. Dies schließt eine Haltung aus, bei der er versucht, dem Patienten seine eigenen Einsichten, seine Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster nahe zu bringen. 3. Die Bedingungslosigkeit (bzw. Bedingungsfreiheit): Der Therapeut gewährt dem Patienten seine Zuwendung, ohne dass er dies (ausgesprochen oder stillschweigend) von bestimmten Gefühlszuständen, Verhaltensweisen, Einstellungen abhängig macht. Er äußert weder Beifall noch Missbilligung, die auf seinem eigenen Bezugssystem beruht. Die Funktion der Bedingungsfreien Positiven Beachtung für den therapeutischen Prozess besteht darin, dass der Patient erfährt, dass sein gesamtes Erleben beim Therapeuten unterschiedslose, nicht wertende Zuwendung erfährt, auch solche Erfahrungen, vor denen er sich fürchtet, deren er sich schämt, aber auch diejenigen, über die er sich freut und die ihn befriedigen. Mit der Zeit wird der Patient selbst seine eigenen Erfahrungen immer mehr akzeptieren, sich ihnen zuwenden und sie zunehmend genauer symbolisieren. Er wird damit kon-
gruenter und effizienter bei der Bewältigung seines Lebens.
Zur Umsetzung im therapeutischen Handeln Was den eingangs erwähnten Einwand betrifft, einen Mörder oder Vergewaltiger könne man doch nicht akzeptieren, so ist wohl inzwischen deutlich geworden: Es geht bei der Bedingungsfreien Positiven Beachtung nicht darum, bestimmte Erlebnisoder Verhaltensweisen eines Patienten zu billigen. Vielmehr ist ein Gesprächspsychotherapeut bemüht, sich jeglichem Erleben des Patienten mit all seinen Varianten ohne Vorbehalt und ohne zu werten aufmerksam zuzuwenden. Er tut dies in der Erwartung, dass er damit dem Patienten, dessen Verhalten und Erleben durch Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung beeinträchtigt ist, eine konstruktive Entwicklung ermöglicht. Im Vergleich mit der Wahrscheinlichkeit, in der therapeutischen Praxis mit solchen Extremfällen – Mördern und Vergewaltigern – konfrontiert zu werden, erscheint die Regelmäßigkeit und Hartnäckigkeit solcher Einwände verwunderlich. Therapeutische Übungsgespräche in der Ausbildung (aber auch die Supervision von Therapeuten) zeigen aber, dass es Menschen offensichtlich schwer fällt, sich auf ihnen Fremdes einzulassen (Höger, 2000). Tatsache ist, dass Menschen ständig bewerten, zumeist automatisch und ohne sich darüber im Klaren zu sein. Bewertungen sind ein wesentliches Merkmal unserer
Fallvignette
Von der Schwierigkeit, sich »fremden« Einstellungen zuzuwenden In einem therapeutischen Übungsgespräch von Studierenden kommt bei der »Patientin« der Gedanke auf, das Studium aufzugeben, einfach zu heiraten und Kinder zu haben. Die »Therapeutin« versucht, ihr den Gedanken auszureden. Es gelingt ihr also nicht, sich auf den Gedanken ihrer »Patientin« einzulassen. Vermutlich ist er für sie bedrohlich. Möglicherweise ist er ihr selber durchaus nicht fremd, aber sie hat wesentliche darin enthaltene Gefühle und Bedürfnisse nicht oder nur unvollständig symbolisiert. So kann sie die eigene Einstellung, die sie abwehrt, nicht klar
von der anderen abgrenzen und ist darauf angewiesen, sie ihrer »Patientin« auszureden. Wäre die »Therapeutin« in dem betreffenden Bereich kongruent und ihrer eigenen Einstellung sicher gewesen, wäre sie frei gewesen, die weitere Entwicklung des Gedankens der Patientin zu überlassen, sei es, dass andere Aspekte hinzu gekommen wären, die ihn relativiert hätten, sei es, dass er zur Gewissheit geworden wäre, weil er der Situation der »Patientin« genau entsprach, was keineswegs sicher bedeutet hätte, dass sie ihn umgehend in die Tat umgesetzt hätte, denn die inneren Prozesse bleiben nach Übungsgesprächen wie auch nach »echten« Therapiestunden nicht stehen.
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Einstellungen, d. h. der mit bestimmten Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen verbundenen Handlungsbereitschaften, die unseren Alltag begleiten und auf deren Gültigkeit wir angewiesen sind, um orientiert und damit handlungsfähig zu bleiben (Stroebe, Hewstone & Stephenson, 2003; Triandis, 1975). Sich auf von unseren eigenen abweichende, fremde Einstellungen einzulassen bedeutet auch, dass die eigenen in Frage gestellt werden. Desorientierung droht und Unsicherheit entsteht. Das ist insbesondere dann so, wenn auch Inkongruenzen beteiligt sind, d. h. wenn die eigenen Einstellungen nicht symbolisiert und zusammen mit den in ihnen enthaltenen Bewertungen dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Nur wenn die eigenen Einstellungen als zur eigenen Person zugehörig erlebt werden und von denen anderer abgegrenzt werden können, kann sich die Person den abweichenden Einstellungen anderer offen zuwenden. Psychotherapeutische Konzepte enthalten Vorstellungen darüber, wie eine gesunde bzw. in der Therapie weit fortgeschrittene Person beschaffen ist. Damit sind wiederum unmittelbare Ziele verbunden, wie ein Patient durch die Therapie werden sollte. Im Falle des Klientenzentrierten Konzepts ist nach einer Therapie die funktionsfähige Person u. a. spontan und erlebt auch die Gefühle unmittelbar, die vorher dem Bewusstsein gegenüber verleugnet worden waren. Diese Gefühle sind nun auch von den entsprechenden Ausdrucksphänomenen (Seufzer, Tränen, Muskelentspannung) begleitet. Die Person ist nicht mehr an äußeren Vorgaben orientiert, sondern lebt aus ihren eigenen Bewertungen heraus (Rogers, 1980/1991b). Solche Zielvorstellungen können zu Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten führen. Es gehört zur Bedingungsfreien Positiven Beachtung, nicht zu versuchen, den Patienten in eine erwünschte Richtung zu steuern – und sei sie auch noch so sehr im Sinne des therapeutischen Konzepts. Vielmehr ist es die Aufgabe des Therapeuten, ihm die für seine weitere Entwicklung optimalen Bedingungen zu bieten, unter anderem die Bedingungsfreie Positive Beachtung, damit er, der Aktualisierungstendenz folgend, den ihm gemäßen Weg gehen kann. Im obigen Beispiel hat der Therapeut auch bemerkt, dass er gerade dabei war, sich mit der Pa-
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Fallvignette
Erschwerte Bedingungsfreie Positive Beachtung aufgrund des klientenzentrierten Menschenbildes Eine Patientin erzählt, dass sie in Auseinandersetzungen mit ihrem Mann in der Regel spontan und unmittelbar ihrem Gefühl entsprechend reagiere, er jedoch nüchtern und vernunftgesteuert bleibe. Dabei ziehe sie stets den Kürzeren. Im Therapeuten blitzt der Gedanke auf, dass sie doch offensichtlich in ihrer emotionalen Entwicklung weiter fortgeschritten sei als ihr Mann und damit letztlich ihrerseits im Vorteil. Er spürt den Impuls, ihr dies in passenden Worten mitzuteilen und sie in ihrer Eigenart zu bestärken und damit zu fördern, bemerkt dann aber, dass er damit die innere Situation der Patientin nicht beachten würde, die klar gesagt hat, dass sie sich ihrem Mann unterlegen fühlt. Zudem bemerkt er, dass er versucht ist, sie in eine bestimmte, von ihm für günstig gehaltene Richtung zu lenken (»Ich beachte dein Erleben, so weit es den Zielvorstellungen der Gesprächspsychotherapie entspricht«). Nachdem er dies bei sich geklärt hat, verwirft er seine Idee und geht auf die Patientin ein, indem er sie anregt, mehr zu ihrem Gefühl der Unterlegenheit zu sagen.
tientin zu solidarisieren und ihre Partei zu ergreifen. Aus einer oberflächlichen Perspektive mag dies vielleicht begrüßenswert erscheinen. Tatsächlich würde er damit seinen Vorstellungen, die er von der Situation der Patientin hat und davon, was er für sie für richtig hält, Raum geben, und damit würde ihm die Patientin und deren Sichtweise aus dem Blick geraten. Weil es ihm aber gelingt, auch das bei sich wahrzunehmen, kann er sich wieder so weit von ihr abgrenzen, dass die Patientin zu sich selber kommen kann. Oft meinen angehende Gesprächpsychotherapeuten, wenn sie dem Patienten gegenüber wohlwollende Gefühle oder Sympathie erleben, sie ihn also akzeptieren, sei dies ein Anzeichen für ihre Bedingungsfreie Positive Beachtung des Patienten. Dabei kann ihnen nur zu leicht entgehen, wie sehr
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
dabei ihre eigenen Bedürfnisse störend ins Spiel kommen. ! Sympathie allein ist noch keine Bedingungsfreie Positive Beachtung!
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Das Gefühl von Sympathie alleine kann dazu führen, dass sich ein Therapeut, weil er für seinen Patienten ja nur das Beste wünscht, dessen Erleben von Rückschlägen, Ungeduld, Verzagtheit usw. weniger (oder gar nicht) zuwendet als dem von Fortschritten und Erfolg. Damit macht er jedoch seine Zuwendung von der Bedingung abhängig, dass es dem Patienten besser geht. Wesentliche Bereiche des Erlebens bleiben unbeachtet. Was dem Therapeuten dabei (wegen mangelnder Kongruenz) entgeht: Seine Sympathie gilt gar nicht uneingeschränkt dem ganzen Patienten, sondern nur dem Teil, der sagt, dass es ihm gut gehe. Natürlich ist es letztlich das Ziel der Therapie, dass es dem Patienten schließlich besser geht. Aber wenn eigene Wünsche des Therapeuten (z. B. die Sympathie des Patienten zu gewinnen, dem ihm sympathischen Patienten rasch zu »helfen«, ein erfolgreicher Therapeut zu sein oder auch die Konfrontation mit menschlichem Leid zu vermeiden) ihn daran hindern, allem Erleben des Patienten in gleicher Weise Beachtung zu schenken, dann hindert er den Patienten daran, sich allen Bereichen seines Erlebens zuzuwenden. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass der Gesprächspsychotherapeut dem Patienten gegenüber keine Gefühle der Sympathie haben oder sie gar unterdrücken sollte – die Folge könnte nur Inkongruenz sein. Worauf es ankommt, ist, dass er sich über sie und ihre Auswirkungen im Klaren ist. In allen Beispielen für Bedingungsfreie Positive Beachtung spielte die Kongruenz des Therapeuten eine wesentliche Rolle: Wenn der Therapeut seine eigenen Erfahrungen hinreichend genau symbolisiert und in seinem Bewusstsein repräsentiert hatte, konnte er sie in ihrer Bedeutung für seine Bedingungsfreie Positive Beachtung des Patienten abschätzen und zu einer angemessenen therapeutischen Einstellung und entsprechendem Handeln zurückfinden. Bei fehlender oder verminderter Kongruenz, wenn der Therapeut seine Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung nicht oder nur verzerrt symbolisieren konnte, beeinträchtigte das seine
Bedingungsfreie Positive Beachtung, ohne dass er sich darüber im Klaren war. Dieser funktionelle Zusammenhang zwischen den beiden Bedingungen: Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten ist für die Praxis der Gesprächspsychotherapie besonders wichtig (7 Kap. 9; Biermann-Ratjen et al., 2003). Beide entsprechen nicht konstanten Eigenschaften, die ein Therapeut hat und in die Therapie mitbringt. Vielmehr sind sie Prozessmerkmale, die mal mehr und mal weniger ausgeprägt vorliegen, Schwankungen unterliegen und stets von neuem optimiert werden müssen. Weil sich Inkongruenz gewöhnlich der direkten Selbstwahrnehmung entzieht (denn sie besteht ja gerade in der beeinträchtigten Selbstwahrnehmung), können Anzeichen verminderter Bedingungsfreier Positiver Beachtung, weil sie der (Selbst-)Wahrnehmung eher zugänglich sind, als Hinweis auf bestehende Inkongruenzen dienen und den Therapeuten anstoßen, seine beeinträchtigte Kongruenz in der Therapie wieder herzustellen. Das kann dann in der betreffenden therapeutischen Situation selber geschehen, in der Reflexion oder einer Supervision außerhalb der Therapiestunde oder aber in einer eigenen Psychotherapie. Außer der Feststellung, auf bestimmte Äußerungen des Patienten nicht hinreichend eingegangen zu sein, können als (vorübergehende oder andauernde) Signale für eine beeinträchtigte Kongruenz gelten (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 28 ff.): 4 Langeweile bei langatmigen Berichten oder Wiederholungen des Patienten, 4 Müdigkeit in der Therapiestunde trotz ausreichendem Schlaf, 4 Ungeduld oder Ärger über den Patienten, 4 allmählich wachsende oder sich spontan einstellende Abneigung gegenüber dem Patienten, 4 Wunsch, der Patient möge doch anders sein, als er ist, oder sich anders verhalten, als er es tut (dies kann besonders dann unbemerkt bleiben, wenn sich Patient und Therapeut darüber einig sind, z. B. in Bezug auf Symptome, die verschwinden sollen), 4 Spannung oder Missmut vor der Therapiestunde mit dem Patienten, 4 Gefühl der Erleichterung, wenn der Patient geht,
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4 Erleichterung, wenn der Patient die Stunde absagt, 4 Zuneigung, die immer stärker von sexuellen Wünschen gegenüber dem Patienten begleitet wird. Zu erwähnen bleibt noch, dass sich manche Patienten durch die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten erheblich irritiert fühlen. So, wie sie ihre Interaktionen mit anderen Menschen bisher erlebt haben, können sie es sich einfach nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt gibt. Entsprechend reagieren sie mit Misstrauen: »Was denkt der Therapeut wirklich von mir? Was verschweigt er? Was will er eigentlich?« Gesprächpsychotherapeuten wissen, dass sie solches Misstrauen den Patienten nicht ausreden können und dass es auf Dauer nur ihr glaubwürdiges Verhalten sein wird, durch das Misstrauen allmählich durch Vertrauen ersetzt werden kann. Kommen wir abschließend noch einmal auf den Einwand zurück, dass man einem Mörder oder Vergewaltiger nicht mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung begegnen könne. Auch für Straftäter kann eine Gesprächspsychotherapie indiziert sein, wenn sie unter ihrer Tat leiden, wenn sie fassungslos, ratlos oder voller Schuldgefühle vor ihrer Tat stehen, d. h. wenn die Tat Ausdruck von Inkongruenz ist. Sucht der Täter im Therapeuten aber hartnäckig jemanden, der ihm seine Tat »entschuldet«, ihm dabei hilft, sie zu rechtfertigen oder sie zu verharmlosen, dürften sich beim Therapeuten Empörungsgefühle und Zurückweisungsimpulse, aber keine Bedingungsfreie Positive Beachtung einstellen. Aber zur Beruhigung: Solche Täter suchen in aller Regel keine Hilfe bei einem Psychotherapeuten.
6.1.5
Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Patienten
Um diese fünfte der notwendigen Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess erläutern zu können, sind zunächst zwei Begriffe zu klären: der »Innere Bezugsrahmen« des Patienten, den es zu verstehen gilt, und »empathisch« als die Art und Weise, in der das Verstehen erfolgt.
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Der Innere Bezugsrahmen Der Innere Bezugsrahmen ist gemäß der Formulierung dieser Bedingung der Gegenstand des Empathischen Verstehens. Rogers hat ihn wie folgt definiert: Definition Der Innere Bezugsrahmen (»internal frame of reference«) ist »der gesamte Bereich der Erfahrungen, die in einem gegebenen Moment dem Gewahrwerden des Individuums zugänglich sind. Er umfasst den gesamten Umfang der Empfindungen, Wahrnehmungen, Bedeutungen und Erinnerungen, die dem Bewusstsein zur Verfügung stehen« (Rogers, 1959b/1987, S. 210; Übersetzung v. Verf.).
Nach dieser Definition bezieht sich der Innere Bezugsrahmen explizit auf die Perspektive des Patienten3. Er entspricht dem, was zur Phänomenologie des Selbst der Person gehört (7 Kap. 3.3.3) und bezieht sich sowohl auf die »Figur«, also das Selbst als Objekt der Selbstwahrnehmung, als auch auf das Selbst als Subjekt, d. h. den Hintergrund der Selbsterfahrungen des Individuums, so weit er für dessen bewusste Wahrnehmung zugänglich ist4. Der Innere Bezugsrahmen ist nach Rogers identisch mit der subjektiven Welt des Individuums und nur ihm gänzlich bekannt. Eine andere Person kann ihn niemals kennen. Sie kann ihn empathisch erfassen, aber auch dadurch kann sie ihn niemals vollständig erkennen.
Empathisches Verstehen In der deutschsprachigen Literatur zur Gesprächspsychotherapie wurde und wird dieser Begriff unter verschiedenen Bezeichnungen behandelt bzw. ihnen gleichgesetzt: »Einfühlendes Verstehen« (Bommert, 3
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Im Gegensatz dazu ist nach Rogers der äußere Bezugsrahmen (external frame of reference) die subjektive Perspektive eines anderen (z. B. des Therapeuten), der ein Individuum wahrnimmt, ohne dessen Perspektive zu übernehmen (Rogers, 1959b/1987, S. 37 ff.). Biermann-Ratjen et al. (2003) unterscheiden inhaltlich drei Aspekte, in denen der Innere Bezugsrahmen sichtbar wird: Neben den Selbsterfahrungen die inneren Wertvorstellungen und die Beziehung zum Therapeuten (7 Kap. 9.3.3).
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
1987), »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« (Tausch, 1970), »Reflektieren von Gefühlen« (Minsel & Langer, 1974). Diese Bezeichnungen verdecken jedoch weitgehend das, was Rogers ursprünglich gemeint hat und beeinträchtigen deshalb die Umsetzung empathischen Verstehens in der therapeutischen Praxis. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Empathie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Als wesentlicher Bestandteil der sozialen Wahrnehmung ist die Empathie auch Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie, allerdings mit beträchtlichen terminologischen Ungenauigkeiten, die zu Sprachverwirrung in der Psychologie führen können: »Die Crux des Problems ist, dass es, obwohl Empathie ein Wort der Allgemeinsprache ist (was wahrscheinlich die Angelegenheit verschlimmert), unter den Psychologen wenig Übereinstimmung über den Begriff oder den Prozess der Empathie gibt« (Wispe, 1986, S. 318; Übersetzung v. Verf.). Empathie wird in der Sozialpsychologie gleichgesetzt mit Rollenübernahme, Freundlichkeit, Mitleid, Mitgefühl, Einsicht, Hilfeverhalten sowie mit Übereinstimmung der Reaktion eines Beobachters mit der des Beobachteten (Gruen & Mendelssohn, 1986). Diese Begriffe bezeichnen fundamental unterschiedliche Sachverhalte und sind für das Verständnis des Begriffs im klientenzentrierten Sinne entsprechend ungeeignet. Bischof-Köhler (1989) geht in ihrer entwicklungspsychologischen Studie von einer gründlichen phänomenologischen und evolutionsbiologischen Analyse aus und versteht unter Empathie »…unmittelbar der Gefühlslage eines Anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt das Gefühl aber anschaulich dem Anderen zugehörig. Darin unterscheidet sich Empathie von Gefühlsansteckung (z. B. bei Panik, Begeisterung oder ansteckendem Lachen), bei der die Stimmung des Anderen vom Beobachter selbst Besitz ergreift und dabei ganz zu dessen eigenem Gefühl wird« (a. a. O., S. 26). Und sie konnte experimentell nachweisen, dass diese Fähigkeit bereits bei Kleinkindern um die Mitte des zweiten Lebensjahres vorhanden ist, also schon deutlich vor dem sprachgebunden-kognitiven Verstehen. Als ihre Grundlage wird die Wahrnehmung des Ausdruckverhaltens des Anderen und der Situation angesehen, in der er sich befindet.
Die von Rogers formulierte Definition geht von dem gleichen Verständnis aus, bezieht sich aber speziell auf die Situation des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung. Wir modifizieren hier die von Rogers 1959b/1987 gegebene Definition der Empathie als Zustand und definieren sie im Sinne der von ihm selber später explizit vorgenommenen Korrektur (Rogers, 1976, S. 36) als Prozess. Definition Der Prozess der Empathie besteht darin, »den Inneren Bezugsrahmen eines anderen mit den emotionalen Komponenten und den dazu gehörenden Bedeutungen genau wahrzunehmen, als ob man die andere Person sei, jedoch ohne jemals die ›Als-ob‹-Bedingung zu verlieren. Das bedeutet, den Schmerz oder die Freude eines anderen so zu fühlen, wie er sie fühlt, und deren Ursachen so wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, aber ohne jemals dieses Wissen zu verlieren, dass es so ist, als ob wir verletzt oder erfreut usw. seien« (Rogers, 1959b/1987, S. 210 ff.; Übersetzung v. Verf.). Sofern die Qualität des »Als ob« verloren geht, handelt es sich um einen Prozess der Identifikation.
Gegenüber dem Alltagsverständnis des sich in andere Hineinversetzens nimmt Rogers Präzisierungen vor. Die erste besteht darin, dass das Empathische Verstehen des Therapeuten als Bedingung für konstruktive Veränderungen des Patienten mit einem hohen Anspruch versehen ist. Es geht hier um ein möglichst vollständiges und genaues Erfassen des Bezugsrahmens des Patienten. An einer anderen Stelle geht es für Rogers darum, »die persönliche Wahrnehmungswelt eines anderen zu betreten und völlig in ihr zuhause zu sein. Es umfasst jeden Augenblick Empfindsamkeit für die wechselnden Gefühlsbedeutungen, die in diesem anderen Menschen strömen, für Angst oder Wut, Zärtlichkeit oder Verwirrung oder was auch immer er oder sie gerade an Erlebnis erfährt« (Rogers, 1976, S. 36). Die andere Präzisierung nimmt die Definition Bischof-Köhlers inhaltlich vorweg: Empathie ist gegenüber dem allgemeinen Sich-Hineinversetzen in einen anderen Menschen klar begrenzt. Der Therapeut geht nicht im Mitgefühl mit dem Patienten auf,
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sondern achtet stets darauf, dass es zwei verschiedene Personen sind, die miteinander in Kontakt stehen, dass es um die innere Situation des Patienten als einer von ihm, dem Therapeuten, klar unterschiedenen Person geht. Er identifiziert sich nicht mit dem Patienten, sondern bleibt für ihn ein eigenständiger Partner bei dessen Auseinandersetzung mit sich selbst. Empathisches Verstehen im Klientenzentrierten Konzept ist also nicht – wie oft verwechselt – »Verstehen« im alltäglichen Sinne einer mehr oder weniger oberflächlichen verständnisvollen Billigung (»Ich kann verstehen, dass du damals nicht anders handeln konntest«). Abgesehen von der Beschreibung der Empathie als differenzierter und engagierter Auseinandersetzung mit der inneren Situation des Patienten aus dessen Perspektive wird spätestens bei ihrer Darstellung im Kontext mit der Bedingungsfreien Positiven Beachtung (7 Kap. 6.1.4) klar, dass eine solche Haltung nicht gemeint sein kann. Empathie im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist auch nicht gleichbedeutend mit Altruismus. Zwar verhält sich der Gesprächspsychotherapeut altruistisch, wenn er sich engagiert um den Patienten und dessen Erleben kümmert. Aber sein Altruismus ist auf einen bestimmten Bereich begrenzt, denn er greift nicht in das Handeln des Patienten ein und stürzt nicht herbei, um »die Dinge in Ordnung zu bringen« (Rogers, 1961/1973a, S. 37). Er tut dies nicht, weil er ein Mensch ist, der dem anderen seine Freiheit lässt, sondern weil er eingesehen hat, dass sein Patient ein sich selbst organisierender Organismus ist, der nicht von außen determiniert werden kann (7 Kap. 3.2.3). Eine weitere Unterscheidung ist wichtig: Empathisches Verstehen hat gegenüber dem allgemeinen Sinngehalt von Verstehen eine spezifische Bedeutung: Es geht um mehr als ein Verstehen im Sinne von Begreifen, wie man z. B. einen mathematischen Lehrsatz versteht oder den Sinn eines gehörten oder gelesenen Satzes, dessen Inhalt man erfasst hat – was allerdings eine wesentliche Voraussetzung für das Empathische Verstehen ist. Auch handelt es sich nicht um Empathisches Verstehen, wenn ein Therapeut das Verhalten eines Patienten in dem Sinne versteht, dass er dafür eine theoretische Erklärung hat. Empathisches Verstehen kann nur in einem Kontakt stattfinden und bezieht sich definitionsgemäß einzig
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und allein auf die jeweils aktuelle innere Situation des Patienten. Fallvignette
Das Bedürfnis, empathisch verstanden und akzeptiert zu werden Nach seiner Rückkehr aus Italien litt Goethe heftig unter dem Wechsel von der Weltstadt Rom in das provinzielle Weimar und klagte: »… die Freunde, anstatt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken über entfernteste kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden, meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich vermisste jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache.« (Zitiert nach Damm, 1998, S. 113)
Umsetzung im therapeutischen Handeln: das empathisch Verstandene dem Patienten mitteilen Die Formulierung der sechs Bedingungen beruht auf der Analyse von therapeutischen Gesprächen (7 Kap. 3.2.5). Rogers berichtet über diese Phase der Forschung: »Im Laufe vieler Stunden erkannten wir allmählich, dass das Horchen auf die Gefühle und das ›Widerspiegeln‹ dieser Gefühle ein ungemein komplexer Prozess war. Wir entdeckten, dass wir exakt feststellen konnten, welche Therapeutenäußerung bewirkte, dass ein ergiebiger Strom von bedeutsamen Ausdrucksgehalten oberflächlich und unergiebig wurde. Ebenso konnten wir die Bemerkung ausmachen, die die träge und zusammenhanglose Rede eines Klienten in eine konzentrierte Selbstexploration umschlagen ließ.« (Rogers, 1976, S. 34) Im Fokus der Aufmerksamkeit stand also, dass der Therapeut dem Patienten etwas mitteilt, und wie diese Mitteilungen beschaffen sind, wenn der therapeutische Prozess in Gang kommt bzw. bleibt. Rogers fährt fort: »In solch einem Lernmilieu wurde es ganz selbstverständlich, mehr Mühe auf den Inhalt der Therapeutenantwort zu verwenden, als auf 6
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
die einfühlsamen Fähigkeiten des Zuhörenden. … Aber diese Neigung, die Therapeutenantworten in den Mittelpunkt zu stellen, hatte Konsequenzen, die mich erschreckten. Die ganze Methode wurde nach einigen Jahren als eine Technik verstanden. ›Nondirektive Therapie‹, wurde behauptet, ›ist eine Technik des Widerspiegelns der Gefühle des Klienten.‹ Eine noch üblere Karikatur war, ›In der nondirektiven Therapie wiederholt man die letzten Worte, die der Klient gesprochen hat.‹ Ich war so schockiert über diese vollständig verzerrte Darstellung unserer Methode, dass ich ein paar Jahre lang fast gar nichts über einfühlendes Zuhören sagte, und wenn doch, dann um eine empathische Haltung hervorzuheben, und ich äußerte mich kaum dazu, wie diese in die Beziehung zum Klienten eingebracht werden konnte.« (Rogers, 1976, S. 34) Rogers beruft sich auf das von Gendlin (1962) entwickelte Konzept des »Experiencing« (7 Kap. 19). Gendlin geht davon aus, dass im menschlichen Organismus ein fortlaufender Prozess der Erfahrung besteht, dem das betreffende Individuum immer wieder seine Aufmerksamkeit zuwenden kann, um die Bedeutungen seines Erlebens zu entdecken. Die Mitteilung des empathisch Verstandenen geschieht nach Rogers nicht so, dass der Therapeut dem Patienten sagt, was in ihm vorgeht oder ihm gar seine inneren Vorgänge erklärt. Er wendet sich vielmehr gemeinsam mit dem Patienten dessen fortlaufendem inneren Prozess der Erfahrung zu. Er bewegt sich darin vorsichtig und ohne Urteile zu fällen und versucht, auch diejenigen Gefühlsbedeutungen zu erahnen, deren der Patient sich kaum bewusst ist. Dies geschieht in einem Wechselspiel zwischen Therapeut und Patient, in dem sich beide darüber austauschen, was sie von diesem inneren Prozess der Erfahrungen des Patienten wahrnehmen. Der Therapeut überprüft dabei anhand der Äußerungen des Patienten regelmäßig die Genauigkeit seiner empathischen Wahrnehmungen. Der Therapeut ist für den Patienten in dessen innerer Welt ein vertrauensvoller Gefährte, und indem er das, was er empathisch versteht, dem Patienten mit-
teilt, hilft er ihm, eine Beziehung zu seinem inneren Erleben aufzunehmen und die Gefühlsbedeutungen in dem Prozess seiner Erfahrung vollständiger zu symbolisieren und bewusst zu erleben. Dies wiederum eröffnet dem entfaltenden Aspekt der Aktualisierungstendenz des Patienten die Möglichkeit, wirksam zu werden und die Entwicklung der Person voran zu bringen (7 Kap. 3.2). Dies gelingt umso eher, je vollständiger der Therapeut die inneren Vorgänge des Patienten empathisch erfasst. Es ist aber nicht erforderlich und würde den Prozess eher aufhalten, wenn er alles empathisch Wahrgenommene dem Patienten gegenüber formulieren würde. Vielmehr ist es ihm, wenn er im Erleben des anderen zuhause ist, möglich, genau den spezifischen Punkt zu erahnen und anzusprechen, der für den Fortgang der Selbstexploration wichtig ist. Eine wirksame Hilfe dafür geben BiermannRatjen et al. (2003, S. 104 ff.) durch den Hinweis, dass ein bedeutsamer Teil des Inneren Bezugsrahmens des Patienten dessen Reaktionen auf seine eigenen Gefühle ist. »Der Therapeut muss seinem Klienten nicht nur mitteilen, welche Gefühle er bei ihm wahrgenommen hat, sondern auch, wie leicht oder wie schwer es für den Klienten ist, diese Gefühle zu erleben, wie angenehm oder unangenehm die Entdeckung dieser Gefühle ist, wie bekannt oder unbekannt, selbstverständlich oder erschreckend, annehmbar oder unannehmbar usw. die Gefühle sind« (a. a. O., S. 105). ! Das empathisch Verstandene mitzuteilen bedeutet nicht, Gefühle des Patienten aufzudecken, deren er sich noch nicht bewusst ist. Die damit verbundene Bedrohung würde beim Patienten mit der Abwehr den erhaltenden Aspekt der Aktualisierungstendenz aktivieren, den Prozess des wechselseitigen Austausches unterbrechen und die Entwicklung stagnieren lassen.
Damit ist verbunden, dass der Therapeut, während er sich dem Erfahrungsprozess des Patienten empathisch zuwendet, seine eigenen Sichtweisen und Werthaltungen beiseite legt und sich ohne Vorurteil in der Erlebniswelt des anderen bewegt. Sein eigenes Selbst stellt er so lange zurück. Das kann er allerdings nur, wenn er in sich genügend stabil ist und weiß, dass er sich in der möglicherweise fremden
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oder absonderlichen Erlebniswelt des anderen nicht verlieren wird und dass er, wann immer er will, ohne Schwierigkeiten in seine eigene Welt zurückkehren kann. ! Zur inneren Welt des Patienten gehören nicht nur dessen Gefühle, sondern ebenso seine Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, die zu diesen Gefühlen führen und ebenso diejenigen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, die durch die Gefühle beeinflusst werden. Auch kognitive Aspekte gehören zu dem, worüber sich Patient und Therapeut austauschen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass das Mitteilen des empathisch Verstandenen nicht nur verbal erfolgt. Vielmehr ist dabei die ganze Person des Therapeuten beteiligt mit all ihren verbalen, paraverbalen und nichtverbalen Ausdruckskanälen. Fallvignette
Paraverbale Mitteilungen Die Funktion paraverbaler Signale wird allein schon beim Lesen des »Hm« in Transkripten therapeutischer Gespräche deutlich. Ein beliebig gewähltes Beispiel (aus Rogers 1942/1972, S. 257 f.) mag dies verdeutlichen: »K 144: … Manchmal kann ich mich in einer solchen Atmosphäre gehen lassen … wenn ich ein hübsches Mädchen finde … ja, vorübergehend macht es mir Spaß. B 145: Hm. Aber das ist sicherlich nicht genug … Ich meine, dieses vorübergehende Vergnügen ist nicht das, was Sie suchen.« Der Leser möge das »Hm« mit dem Satz B 145 laut lesen, und zwar einmal mit in der Tonhöhe abfallender Stimme und dann mit aufsteigender. Er wird feststellen, dass ersteres skeptisch, zweifelnd klingt, letzteres hingegen bejahend, aufmunternd.
Es wird oft betont, dass der Gesprächspsychotherapeut nicht interpretiert. Damit ist gemeint, dass er nicht als Experte auftritt, der die Bedeutung des Gesagten besser versteht als der Patient. Interpretationen des Gesprächspsychotherapeuten sind immer Versuche, den Patienten zu fragen, ob er etwas so und nicht anders gemeint hat, und sind einge-
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bunden in das gemeinsame Bemühen von Patient und Therapeut, Sinn und Bedeutung der Selbstwahrnehmungen des Patienten zu erkennen, wobei der Patient letztlich der Experte ist. Der Therapeut schafft lediglich die Bedingungen für eine effiziente Selbstinterpretation des Patienten. Das bedeutet zugleich, dass der Therapeut nicht Gefühle des Patienten interpretierend aufdeckt, und auch keine theoretischen Zusammenhänge zwischen Symptomen, Erlebnisweisen usw. herstellt.
6.1.6
Der Patient nimmt zumindest die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber wahr
Diese sechste Bedingung für den therapeutischen Prozess wird selten ausdrücklich beachtet. Sie ist aber nicht nur selbstverständlich, sondern auch wesentlich: Wenn die Bemühungen des Therapeuten wirksam werden sollen, dann müssen sie beim Patienten nicht nur »ankommen«, sondern sie müssen so ankommen, wie sie therapeutisch wirksam werden können. Menschen verbinden ihre Wahrnehmungen stets mit Bedeutungen. Und so ist für den Patienten das Verhalten des Therapeuten niemals nur »objektiv«, sondern stets Träger von Bedeutung. Zu ihr gehört u. a., welche Einstellung/Haltung er beim Therapeuten wahrnimmt. Die vom Patienten beim Therapeuten wahrgenommene Haltung wird nicht immer der beim Therapeuten tatsächlich vorhandenen entsprechen und stets durch den inneren Bezugsrahmen des Patienten bestimmt sein. Daraus folgt, dass der Therapeut seine Interventionen zweckmäßigerweise so wählt und gestaltet, dass der Patient sie in seinem inneren Bezugsrahmen als Ausdruck von mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung verbundenem Empathischem Verstehen wahrnehmen und auch akzeptieren kann. Der Therapeut kann das in dem Maße tun, in dem er 1. den inneren Bezugsrahmen des Patienten, dem er Bedingungsfreie Positive Beachtung entgegenbringt, empathisch versteht und auf dieser Basis 2. in der Lage ist, die vermutliche Wirkung seiner Interventionen abzuschätzen.
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
Fallvignette
Therapeutische Intervention, die vom Patienten nicht als verstehend und akzeptierend wahrgenommen wurde
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Ein Therapeut schließt aus den Aussagen des Patienten, dass dieser im Augenblick Angst erfährt und spricht ihn darauf an. Der Patient verneint das und wechselt das Thema. Der Therapeut ist verunsichert und möchte den Patienten wieder auf das ursprüngliche Thema zurückführen – vergeblich. Er ist ratlos, oder (wenn er dies bei sich nicht vollständig symbolisiert bzw. nicht hinreichend kongruent ist) hält den Patienten für nicht kooperativ. Dem Therapeuten ist (und dafür kann es durchaus gute Gründe geben) offenbar entgangen, dass das Thema »Angst« für den Patienten zu belastend ist, er deshalb die Intervention des Therapeuten nicht als empathisch verstehend und akzeptierend wahrnehmen konnte und sich gegen sie wehren musste. Wenn nun der Therapeut seinerseits diese abwehrende Reaktion des Patienten versteht und akzeptiert, kann er abschätzen, ob es angebracht ist, auf das Ausweichen näher einzugehen und mit dem Patienten gemeinsam zu erkunden, welche Bedeutung das Gefühl Angst für ihn hat. Wenn ihm das nicht angebracht erscheint, wird er vielleicht dem Themenwechsel des Patienten folgen und auf eine günstigere Gelegenheit warten, um auf das Thema Angst einzugehen. Vielleicht wird es ihm dann auch gelingen, dies so zu tun, dass es den Bezugsrahmen des Patienten (zu dem dessen Einstellung zur eigenen Angst wesentlich gehört) besser berücksichtigt.
6.1.7
Zur therapeutischen Beziehung
Die von Rogers formulierten sechs Bedingungen für therapeutische Veränderungen stehen in einem Sinnzusammenhang, in dem jeder von ihnen eine eigene Funktion zukommt: Während die erste Bedingung (Kontakt zwischen Therapeut und Patient) eine Voraussetzung für jede wirksame Interaktion ist, beschreibt die zweite (Inkongruenz des Patienten) eine Indikationsbedingung für Gesprächspsycho-
therapie. Die dritte (Kongruenz des Therapeuten), vierte (Bedingungsfreie Positive Beachtung) und fünfte Bedingung (Empathisches Verstehen) beschreiben das Beziehungsangebot des Therapeuten an den Patienten. Erst durch die sechste (der Patient nimmt das Beziehungsangebot des Therapeuten wahr) mündet das therapeutische Beziehungsangebot in eine wirksame therapeutische Beziehung.
Das therapeutische Beziehungsangebot Die dritte, vierte und fünfte der Bedingungen, die das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten ausmachen, stehen untereinander in wechselseitiger funktionaler Beziehung (7 Kap. 9.1). Die Kongruenz des Therapeuten bestimmt die Grenzen seiner Möglichkeiten, den Patienten bedingungsfrei positiv zu beachten und vollständig empathisch zu verstehen. Erfahrungen, die der Therapeut bei sich selber nicht zulassen kann, wird er auch beim Patienten nicht aufmerksam und empathisch wahrnehmen können. Seine Inkongruenz begrenzt also seine Fähigkeit zur empathischen Bedingungsfreien Positiven Beachtung. Er wird sich Erfahrungen, die er selber abwehrt, beim Patienten nicht oder nur mit Vorbehalten zuwenden können. Diese Vorbehalte können, müssen aber nicht abwertende sein. Nicht selten findet sich bei Therapeuten die Tendenz, Bedingungsfreie Positive Beachtung mit einer gleichbleibend netten Haltung zu verwechseln. Mit dieser wird verschleiert, dass bei dem Versuch, auf den Patienten empathisch einzugehen, eigene Erfahrungen bzw. Reaktionen auf das Erleben des Patienten nicht im Bewusstsein symbolisiert werden können, also diesbezüglich Inkongruenz vorliegt. Jeder Therapeut wird im Verlauf einer Therapie von Teilen des Erlebens des Patienten oder von Ereignissen in der Therapie z. B. befremdet, irritiert oder gar abgestoßen sein. Dies zu verleugnen bedeutet auch, diese Erfahrungen bei sich selber nicht bedingungsfrei positiv zu beachten, sie nicht als zur eigenen Person zugehörig anzuerkennen. Biermann-Ratjen et al. (2003, S. 23 ff.) betrachten das Gefühl der Bedingungsfreien Positiven Beachtung als eine Kontrollbedingung für das Empathische Verstehen. Wenn dem Therapeuten klar ist, dass Bedingungsfreie Positive Beachtung, die der Therapeut fühlen kann, ein variables Prozessmerkmal und keine Tugend ist, die er in die Therapie ein-
131 6.2 · Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie?
bringt, ist er frei, sich seiner emotionalen Befindlichkeit im Kontakt mit dem Patienten reflektierend zuzuwenden. Indem er aufmerksam ist für seine eigenen emotionalen Reaktionen dem Patienten gegenüber, sei es, dass er Ablehnung verspürt, sei es, dass er ihn mag, dies aber von bestimmten Bedingungen abhängig ist, kann er sich in einer stummen Selbstexploration (oder außerhalb der Therapie in einer Supervision) seinen eigenen Erfahrungen zuwenden, indem er sich Fragen stellt wie z. B.: »Inwieweit fühle ich noch mit dem Patienten oder habe ich dessen Ablehnung seines eigenen Erlebens übernommen, mich also mit ihm identifiziert?« Oder: »Habe ich es beim Patienten mit Gefühlen zu tun bekommen, die ich selber in einer vergleichbaren Situation nicht hätte oder haben dürfte?« Auf diesem Wege kann der Therapeut für sich selber Klarheit darüber schaffen, ob und wodurch seine Bedingungsfreie Positive Beachtung dem Patienten gegenüber beeinträchtigt worden ist. Und in dem Maße, in dem er sich bestimmten Erfahrungen bei sich selber mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuwenden kann, wird er das auch dem Patienten gegenüber können. ! Zusammengefasst bedeutet das, dass der Therapeut umso wirksamer sein wird, je mehr er die Beziehung, die er dem Patienten anbietet, auch zu sich selber aufnehmen kann.
Die wirksame therapeutische Beziehung Erst wenn der Patient das Beziehungsangebot des Therapeuten gemäß der sechsten Bedingung auch wahr- und annehmen kann, ist die Beziehung eine therapeutische. Die therapeutische Beziehung in diesem Sinne ist nicht die allgemeine zwischen Therapeut und Patient bestehende Beziehung, sondern sind speziell diejenigen Phasen oder Momente, in denen diese Beziehung therapeutisch wirksam ist. Grundsätzlich müssen Aussagen über Beziehungen aus logischen Gründen stets zweiseitig sein, d. h. sich auf beide Beteiligten zugleich beziehen. Ein einfaches Beispiel: Die Aussage »Hans ist größer« ist offensichtlich sinnlos, ohne dass angegeben wird, in Relation zu wem, also z. B. »als Fritz«. Deshalb ist bei Aussagen über therapeutische Beziehungen darauf zu achten, dass sie sowohl den Patienten als auch den Therapeuten berücksichti-
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gen. Aussagen über Einstellungen, Verhaltensweisen usw. von Therapeuten (oder Patienten) allein können keine Beziehung beschreiben. Sie können es erst dann, wenn die jeweils andere Seite mit einbezogen wird. Aus dem gleichen Grund kann niemand, auch kein Therapeut, eine Beziehung gestalten. Was er ebenso wie der Patient kann und tut, ist, ein Beziehungsangebot zu machen. Die Beziehung selbst ist immer das gemeinsame Produkt beider, des Therapeuten und des Patienten.
6.2
Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie?
Rogers (1959b/1987, S. 43) hat den therapeutischen Prozess beschrieben und sich dabei auf empirische Belege berufen: Im unmittelbaren Verhalten des Patienten ist zunächst erkennbar, dass er bei seiner vom Therapeuten begleiteten Selbstauseinandersetzung seine Gefühle sprachlich wie auch nonverbal immer freier ausdrückt. Sie beziehen sich auch immer mehr auf das eigene Selbst als auf äußere Dinge. Der Patient differenziert und unterscheidet zunehmend zwischen den verschiedenen Objekten seiner Gefühle und Wahrnehmungen (seiner Umgebung, anderen Personen, seinem Selbst, seinen Erfahrungen und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen). Parallel damit verändern sich Wahrnehmungen und Reaktionen des Patienten so, dass er dort, wo sie zuvor durch Abstraktionen und vorgefasste Meinungen bestimmt waren, nun immer mehr Kontakt mit der aktuellen Realität aufnimmt und sich auf sie bezieht. Beispiele dafür sind: Waren zuvor seine Erfahrungen das Ergebnis von Übergeneralisierungen und hatte er sie als absolut und allgemeingültig angesehen (»Mein Partner unterstützt mich nie«), so werden sie nun differenzierter und in ihrer Gültigkeit auf bestimmte Situationen und Zeitpunkte begrenzt (»Von alleine kommt mein Partner nicht darauf, mich zu unterstützen; aber wenn ich ihn darum bitte, tut er das meistens«). Hatten zuvor vorgefasste Meinungen und Glaubenssätze dominiert (»Man muss allen Menschen grundsätzlich misstrauen!«), so wird der Patient nun mehr von den aktuellen Fakten geleitet (»Frau X hat mich öfters enttäuscht; vielleicht sollte ich aber auch von ihr nicht unzu-
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
mutbar viel erwarten«). Hatte er zuvor Tatsachen und deren Bewertung miteinander vermischt (»Es ist schlechtes Wetter«), so beginnt er, beides voneinander zu trennen und in differenzierter Weise zu bewerten (»Es regnet, aber ich habe sowieso nichts vor, und den Pflanzen tut es gut«). Hatte er sich bisher eher auf abstrakte Vorstellungen verlassen (»Die Menschen sind schlecht«), so wird er sich nun über unterschiedliche Abstraktionsgrade klar (»Es gibt Menschen unterschiedlicher Nationen; die meisten davon kenne ich gar nicht näher«), und überprüft immer mehr seine Schlussfolgerungen an der Realität (»In Frankreich bin ich kürzlich bestohlen worden, da war ich hilflos und wütend; aber dann hat mir ein Franzose geholfen, und das hat mir richtig gut getan«). Was die ausgedrückten Gefühle betrifft, so beziehen sie sich immer mehr auf Widersprüchlichkeiten zwischen bestimmten Erfahrungen des Patienten und seinen Vorstellungen von sich selbst. Im weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses erlebt er immer mehr Gefühle mit vollem Bewusstsein, die er zuvor, weil sie zu bedrohlich waren, im Bewusstsein verleugnet oder verzerrt hatte. Sein Selbstkonzept reorganisiert sich und integriert nunmehr auch solche Erfahrungen, die er früher verleugnet oder verzerrt symbolisiert hatte. Das bedeutet, dass sein Selbst kongruenter mit seiner Erfahrung wird und seine Neigung zur Abwehr abnimmt. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung durch den Therapeuten erfährt er nicht nur als immer weniger bedrohlich, er kann nun auch immer mehr diese Haltung sich selbst gegenüber einnehmen. Anstatt seine Erfahrungen auf der Grundlage übernommener Wertvorstellungen zu bewerten, wird er für sich selbst immer mehr zum Ort der Bewertung, geleitet von seinem eigenen Organismus und dessen Belangen im Sinne seiner Aktualisierungstendenz. In dem Maße, in dem dies geschieht, verschwinden die Symptome des Patienten oder sein Befinden bessert sich zumindest entscheidend. Bezüglich des Mechanismus, der diese Veränderungen erklärt, hat sich Rogers (1959b/1987) zurückgehalten. Detaillierter, wenngleich rein hypothetisch hatte er sich an anderer Stelle zu Vorgängen im Patienten geäußert: »In der emotionellen Wärme der Beziehung mit dem Therapeuten erfährt der Klient ein Gefühl der Sicherheit, wenn er merkt, dass jede
von ihm ausgedrückte Einstellung fast auf die gleiche Weise verstanden wird, wie er sie wahrnimmt, und gleichzeitig akzeptiert wird« (Rogers, 1951/1973b, S. 52). In diesem Zustand der Sicherheit sei er in der Lage, sich auch solchen Aspekten seiner Person zuzuwenden, die für ihn fremd und angsterzeugend sind. Sie wahrzunehmen sei für sich allein allerdings ängstigend und deshalb noch nicht therapeutisch. Das gleichbleibend akzeptierende Verstehen dieser fremden und widersprüchlichen Aspekte durch den Therapeuten führe aber dazu, dass der Klient sich selbst gegenüber allmählich die gleiche Einstellung entwickle, wie er sie vom Therapeuten erfahre. Höger und Wissemann (1999) sehen diese Erklärung als in Einklang mit der Bindungstheorie (Bowlby, 1969/1975) stehend, wonach Menschen, wenn sie sich im Zustand der Sicherheit befinden, aus sich heraus danach streben, ihre Welt zu explorieren und sich im Schutz der Sicheren Basis mit dem für sie Fremden und Bedrohlichen auseinander zu setzen und so ihre Möglichkeiten zu erweitern (Ainsworth, 1985; Bischof, 1985). Entsprechend ist es für Bowlby (1988) die erste der Aufgaben eines Therapeuten, dem Patienten eine solche sichere Basis zu bieten, auf der er sich den ängstigenden Aspekten seines Lebens zuwenden, sie erkunden und bewältigen kann. In einer empirischen Studie konnten Höger und Wissemann (1999) diesen von Rogers vermuteten und durch die Bindungstheorie begründeten Zusammenhang bestätigen. Sie konnten zeigen, dass in der Wahrnehmung von Patienten während der ersten fünf Stunden ihrer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung ein bedeutsamer Zusammenhang besteht zwischen ihrem Zurechtkommen mit dem Therapeuten, ihrem Gefühl von Sicherheit und Zuversicht und dem Erleben von Veränderungen in der Therapie. In den folgenden Stunden sechs bis fünfzehn bleibt dieser Zusammenhang bestehen, zu dem dann zusätzlich das Zurechtkommen der Patienten mit sich selbst, also auch ihre Beziehung zu sich selber hinzukommt. ! Gesprächspsychotherapie wirkt durch die
Beziehung Therapeut–Patient Wenn das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot vom Patienten wahrgenommen
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133 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
und akzeptiert werden kann, entsteht eine Beziehung, in der das empathische und zugleich akzeptierende Verstehen des Therapeuten im Patienten einen Zustand der Sicherheit bedingt. Im Schutz dieser Beziehung kann sich der Patient Aspekten seiner selbst zuwenden, die zunächst für ihn fremd und bedrohlich sind, dann aber vertraut und integriert werden können.
Rogers hat immer wieder betont, dass es die therapeutische Beziehung und ihre Entwicklung ist, die Veränderungen bewirkt: »Das Einzigartige dieses therapeutischen Ansatzes besteht darin, dass sein Schwerpunkt mehr auf dem Prozess der Beziehung selbst als auf den Symptomen oder ihrer Behandlung liegt« (Rogers 1975; zitiert nach Rogers 1983, S. 17). Die empirische Psychotherapieforschung hat diese Auffassung inzwischen als allgemein, d. h. als auch für andere Therapieverfahren gültig, bestätigt: »The strongest evidence linking process to outcome concerns the therapeutic bond or alliance …« (Orlinsky, Rønnestad & Willutzki, 2004, S. 323). . Abb. 6.1 gibt eine auf vielen empirischen Studien basierende Abschätzung darüber, welche Faktoren einen wie großen Anteil am Zustandekommen therapeutischer Veränderungen haben.
. Abb. 6.1. Therapeutisch wirksame Faktoren (Wampold, 2001, S. 208)
6.3
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Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
Drei Sachverhalte haben in der Geschichte der Gesprächspsychotherapie bei der Diskussion über ihre Theorie und Praxis eine wesentliche Rolle gespielt: Erstens stand an ihrem Anfang eine Therapietheorie (7 Kap. 2), die auf das therapeutische Handeln hin formuliert war. Zweitens hat Rogers (1957/1991a) bei der ersten stringenten Formulierung der Bedingungen therapeutischer Veränderungen jeweils Operationalisierungen für die empirische Forschung vorgeschlagen. Drittens wurden und werden in der empirisch-psychologischen Forschung ganz allgemein Operationalisierungen mit dem zugehörigen theoretischen Begriff zumeist gleichgesetzt. Das Ergebnis war, dass insbesondere bei der Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland zum einen die Operationalisierungen der Klientenzentrierte Therapietheorie weithin als Anweisung für konkretes Handeln aufgefasst wurden und zum anderen die zugehörige Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie des Klientenzentrierten Konzepts so gut wie unbeachtet blieb (Minsel & Langer, 1974; Tausch & Tausch, 1990). Damit ging in der wissenschaftlichen Diskussion wie in der Praxis der Bezug der Operationalisierungen zur Theorie verloren. Und es wurden alternative Theoriebildungen auf der Grundlage der behavioristischen Lerntheorien versucht (z. B. Bommert, 1975; Martin, 1975). Die Gesprächspsychotherapie war genau zu dem geworden, was, wie in 7 Kap. 6.1 bereits erwähnt, Rogers als Karikatur seines Konzepts beklagt hatte: »Die ganze Methode wurde … als eine Technik verstanden. ›Nondirektive Therapie‹, wurde behauptet, ›ist eine Technik des Widerspiegelns der Gefühle des Klienten‹« (Rogers, 1976, S. 34). Es war nur folgerichtig, dass sich dermaßen reduzierte Vorgaben als nicht ausreichend herausstellten und zusätzliche »Variable« zu »Echtheit«, »Akzeptanz« und »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« gesucht und gefunden wurden. So entnahm Bommert (1987) einschlägigen Untersuchungen zusätzlich weitere Variable des Therapeutenverhaltens wie »Konfrontation«, »aktives Bemühen«, »innere Anteilnahme« oder »Konkretheit«. Diese und andere »Erweiterungen« gehen aber am Problem deshalb vorbei, weil bei ihnen nicht be-
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
rücksichtigt wird, dass Rogers seine Therapietheorie auf einem ausgesprochen hohen Abstraktionsniveau formuliert hat, weit oberhalb der Abstraktionsebenen von VEE und der ergänzenden Verhaltensmerkmale (Höger, 1989, 2000). Grundsätzlich lassen sich bei der Beschreibung von Beziehungen (und damit auch der therapeutischen) zumindest vier unterschiedliche Abstraktionsebenen voneinander unterscheiden5: 1. Die oberste Ebene besteht aus allgemeinen Bezeichnungen von Beziehungsformen, z. B. »Therapeut–Patient« im Unterschied zu anderen Arten von Beziehungen wie z. B. »Chef–Untergebener«, »Mutter–Säugling« oder »Lehrer–Schüler«. 2. Übergreifende Merkmale von bestimmten Beziehungsformen, mit denen sich beim Vergleich zwischen unterschiedlichen Beziehungsformen Ähnlichkeiten und Unterschiede beschreiben lassen. So ist beispielsweise »Körperpflege« ein Merkmal der Beziehung »Mutter-Säugling«, nicht aber von »Lehrer–Schüler« oder »Chef– Untergebener«. »Trösten« ist bei »Mutter–Säugling« Merkmal, bei »Lehrer–Schüler« gegebenenfalls auch, wenn auch seltener, bei »Chef– Untergebener« kaum. 3. Klassifikation spezifischer Verhaltensweisen, die die übergreifenden Merkmale der zweiten Ebene konstituieren. Für das Beispiel der tröstenden Mutter wäre dies u. a. »Auf den Arm nehmen«, »Streicheln«, für den Therapeuten »Konfrontieren«, »Fragen«, »Ansprechen von Gefühlen des Patienten«. 4 . Das konkrete Verhalten in einer bestimmten Situation, beispielsweise wenn in einem bestimmten therapeutischen Gespräch der Therapeut zum Patienten sagt: »Ich habe den Eindruck, dass Ihnen gerade zum Weinen ist, dass Ihnen das aber zugleich peinlich ist. Ist das so?« Aus solchen unterschiedlichen Abstraktionsebenen ergeben sich Konsequenzen: 1. Aussagen über Beziehungen müssen aus logischen Gründen entsprechend ihren unterschiedlichen Abstraktikonsebenen klar voneinander 5
Inwieweit sich diese Ebenen noch weiter differenzieren lassen, ist in unserem Zusammenhang nicht weiter von Belang.
getrennt werden. Anders als theoretische Aussagen zur Physik werden die zur Psychotherapie in Alltagssprache verfasst oder zumindest in der Regel so gelesen. Die Alltagssprache ist aber hinsichtlich der Abstraktionsebenen ungenau. So ist bei dem Satz »Hans ist aggressiv« nicht klar, ob Hans sich im Augenblick gerade aggressiv verhält (Ebene vier) oder ob er ganz allgemein in besonderem Maße zu aggressivem Verhalten neigt (Ebene drei) – zwei höchst unterschiedliche Aussagen! Analog sind die sechs Bedingungen therapeutischer Veränderungen und damit auch die Merkmale des Beziehungsangebots von Gesprächspsychotherapeuten »Kongruenz«, »Bedingungsfreie Positive Beachtung« und »Empathisches Verstehen« auf der Ebene zwei einzuordnen. Verhaltensmerkmale wie »Ansprechen der Gefühle des Patienten« oder »Konfrontation«, »aktives Bemühen« oder »Konkretheit« gehören hingegen auf Ebene drei. Beides auf der gleichen Ebene zu behandeln wäre analog einer Aussage wie »Für einen Bäckerladen reicht eine Ladeneinrichtung nicht, man braucht noch eine Theke und Regale«. Es ist deshalb irreführend, das Empathische Verstehen (Ebene zwei), auf der gleichen Ebene zu diskutieren wie das »Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« (Ebene drei). Es gibt je nach Situation auch andere Mittel und Wege, das empathisch Verstandene mitzuteilen. 2. Die Gegebenheiten einer bestimmten Ebene können aus den Kategorien einer übergeordneten Ebene nicht eindeutig abgeleitet werden. Aus »Strafe« lässt sich nicht zwingend »Hausarrest« ableiten, aus »Empathischem Verstehen« nicht »VEE«. Hingegen: 3. Gegebenheiten einer bestimmten Ebene können den Kategorien einer übergeordneten Ebene zugeordnet werden. Nicht jedes Werkzeug ist ein Hammer, denn es gibt auch Sägen usw.; aber jeder Hammer ist ein Werkzeug. 4. Die Zuordnung von Gegebenheiten aus einer unteren Abstraktionsebene zu Kategorien einer höheren Ebene wird durch den jeweiligen Kontext mit bestimmt. Ein Hammer ist ein Werkzeug, kann aber auch als Waffe oder als Briefbeschwerer benutzt werden. Als was er einzuordnen ist, bestimmt sich aus dem Kontext
135 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
seiner Verwendung. Ob ein Schlag gegen die Wange eines anderen als Beleidigung oder als Weckreiz für einen Ohnmächtigen anzusehen ist, hängt von den Umständen ab. Ob eine Konfrontation des Patienten durch den Therapeuten einem klientenzentrierten Beziehungsangebot angemessen ist, hängt davon ab, inwieweit sie im gegebenen Kontext Ausdruck von bedingungsfreier Positiver Beachtung und empathischem Verstehen ist. ! Für im klientenzentrierten Sinne angemessenes therapeutisches Handeln bestehen hinsichtlich der Verhaltenskategorien (Ebene drei) keine prinzipiellen Einschränkungen. Das konkrete Handeln des Therapeuten (Ebene vier) ist danach zu beurteilen, inwieweit darin mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung verbundenes empathisches Verstehen zum Ausdruck kommt und ob der Patient es auch so wahrnimmt.
Rogers hat die von ihm benannten sechs Bedingungen für therapeutische Veränderungen als hin reichend bezeichnet. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Abstraktionsebene, auf der sie formuliert worden sind, können sie auch insofern als hinreichend angesehen werden, als auf der Ebene zwei bisher keine weiteren Bedingungen vorgeschlagen worden sind und sich eine Ergänzungsbedürftigkeit dort auch nicht abzeichnet. Sie scheinen vor allem hinreichend für die Beurteilung des konkreten therapeutischen Handelns zu sein. Als nicht hinreichend werden sie in dem Sinne bemängelt, dass sich aus ihnen ein angemessenes therapeutisches Handeln nicht eindeutig ableiten lässt – allerdings war das auch nicht die Absicht von Rogers. Ein Beispiel zeigt, dass es bei manchen Patienten zumindest im Anfang einer Therapie nicht angemessen ist, ihren Inneren Bezugsrahmen direkt anzusprechen.
Fallvignette
Ein erfolgreicher Weg, einem Patienten das Klientenzentrierte Beziehungsangebot mitzuteilen Reisch (1997) berichtet von einem Patienten einer Psychosomatischen Klinik, der an Herzbeschwerden litt, jedoch ohne entsprechenden somatischen Befund. Mit der Diagnose »somatoforme autonome Funktionsstörung« wurde er routinemäßig zu der dort tätigen Psychotherapeutin geschickt. Er konfrontierte sie gleich mit seiner Ansicht, dort fehl am Platze zu sein. Wenn man von seinen Herzproblemen absehe, sei in seinem Leben alles in bester Ordnung. Weil die Therapeutin die innere Situation des Patienten nicht nur empathisch verstand, sondern ihr auch in jeder Hinsicht Bedingungsfreie Positive Beachtung entgegenbrachte, verbalisierte sie nicht seine Gefühlslage – womit sie unter der Hand eine Psychotherapie begonnen hätte, die der Patient ja ablehnte. Statt dessen
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besprach sie mit ihm (ohne Hintergedanken!), dass im Augenblick gar nicht klar sei, ob bei ihm eine Psychotherapie sinnvoll sein könnte (womit sie die Situation völlig zutreffend wiedergab), und bot ihm, einem erfolgreichen, aber stark belasteten Unternehmer, »Einzel-Management-Coaching-Sitzungen« über seine beruflichen Probleme an, deren Frequenz sich nach dem bewusst geäußerten Bedürfnis des Patienten richten sollte. Aus diesen Sitzungen ergaben sich dann allmählich, wiederum ausschließlich am bewusst geäußerten Bedürfnis des Patienten orientiert, Gespräche über seine Lebenssituation, die schließlich zu einer erfolgreichen Psychotherapie führten. Das Wesentliche an dieser Fallgeschichte ist, dass die Therapeutin gegenüber dem Patienten mit allem, was zu ihm gehört, nicht nur Bedingungsfreie Positive Beachtung erfahren, sondern auch einen Weg gefunden hat, ihm dies so mitzuteilen, dass er das auch so wahrnehmen und annehmen konnte.
136
6
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
Es ist Rogers nicht gelungen, seine Therapietheorie so nahe am konkreten Verhalten zu formulieren, wie er das wollte. Er hatte (7 Kap. 2.3) damit begonnen zu untersuchen und zu beschreiben, was ein effizienter Therapeut tut. Das hatte zu gravierenden Missverständnissen und Verzerrungen des Konzepts geführt. Er hat dann mit dem therapeutischen Beziehungsangebot beschrieben, wie der Therapeut das tut, was er tut, und damit die Haltung des Therapeuten, die in der Qualität des Therapeutenverhaltens zum Ausdruck kommt und die, weil sie wesentlich mit bestimmt, was wie beim Patienten ankommt, für die Qualität einer Beziehung maßgeblich ist (Hinde, 1997). Mit seiner Persönlichkeitsund Entwicklungstheorie hat Rogers dann die Grundlage dafür geschaffen, theoretisch zu beschreiben, warum der Therapeut das tut, was er tut und wie er es tut. Diese Entwicklung spiegelt das wider, was die Ergebnisse der Professionsforschung (Schön, 1983, 1987), der Expertenforschung (Bromme, 1992) oder der Forschung über das Handeln in komplexen Situationen (Dörner, Kreuzig, Reither & Stäudel, 1983) gezeigt haben: Professionelle Praxis ist, wie Schön (1983) betont, nicht gleichzusetzen mit der Anwendung von Theorie. In den Universitäten, so Schön, werde eine Art des Wissens gepflegt, die durch eine selektive Unaufmerksamkeit gegenüber der praktischen Kompetenz und der professionellen Kunstfertigkeit gekennzeichnet sei. Dem stehe auf der Gegenseite eine Mystifizierung der praktischen Kompetenz als »Kunst« und »Intuition« gegenüber, die eher jegliche Diskussion beende, als dass sie in Forschungsfragen münde. In der Handlungsforschung gehe es darum, die unterschiedlichen Handlungs- und damit auch Erfahrungsbereiche von Wissenschaft und Praxis zusammenzuführen und im Interesse einer effizienten und begründeten Praxis gleichberechtigt zur Geltung zu bringen. Diese Ergebnisse sind, wenn auch selten und sehr zögerlich, auch auf den Bereich der Psychotherapie angewendet worden (Buchholz, 1999, 2005; Reiter & Steiner, 1996). Speziell auf das Klientenzentrierte Konzept bezogen diskutiert sie Macke-Bruck (2003). Sie bemerkt zur Klientenzentrierten Therapietheorie: »Diese Theorie ist Abstraktion – ein Modell, das auf die lebendige therapeutische Wirk-
lichkeit in ihrer Komplexität verweist. Schwierig wird es, das intersubjektive Geschehen der konkreten kritischen oder kreativen Momente jenseits der Einzeldarstellung theoretisch zu fassen und von etwas zu sprechen, das wir mit Klientinnen nur unmittelbar erleben können« (a. a. O., S. 4). Sie macht darauf aufmerksam, dass Theorie und Praxis in der Regel aus der Perspektive der Wissenschaft thematisiert werden und stellt die (rhetorisch gemeinte) Frage, ob nicht zusätzlich zur Perspektive des konventionellen wissenschaftlichen Zugangs Beiträge aus der beruflichen Praxis bereichernd sein könnten. Wissenschaftler und pro fessionelle Praktiker nehmen jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven wahr, aus denen heraus sie ihre Wahrnehmungen ordnen und denken. Anders gesagt: sie gehen von verschiedenen Paradigmen aus (7 Kap. 2.8). Im reflexiven Handeln (Schön: »reflection in action«) treffen diese Paradigmen, d. h. die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Theorie und das Erfahrungswissen aus der Praxis aufeinander. Wenn Theorie »… ein sich nicht widersprechendes System von Aussagen (ist), das die empirischen Daten bzw./oder die Basissätze ordnet und uns ermöglicht, über unsere Erfahrungen nachzudenken oder zu sprechen« (Macke-Bruck, 2003, S. 5) und wenn Wissen »alle Erfahrungen, die einer Überprüfung durch Erfahrung standhalten« (a. a. O.) umfasst, dann eröffnet die kontinuierliche wechselseitige Konfrontation von wissenschaftlich begründeter Theorie und praktischem Wissen dem professionellen Therapeuten eine persönliche Entwicklung in Richtung einer stets wachsenden professionellen Kompetenz. Die Theorie, die stets an vorhandene Meinungen und Wissensbestände anknüpft, regt das praktische Handeln an, das über die Erfahrungen mit dem therapeutischen Geschehen zu neuem Wissen führt. Die erneute Konfrontation mit der Theorie wiederum regt den Praktiker an und gibt Anlass, das therapeutische Geschehen und Handeln erneut zu reflektieren und damit sein Wissen zu ordnen und zu erweitern, was wiederum eine kompetentere Praxis ergibt, die zu neuem Wissen führt usw. »Wo die Wissenschaft ein auf Machen-Können gerichtetes Wissen, also Technik, hervorbringt, bedeutet in Gegenüberstellung dazu das persongebundene ›reflexive
137 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
Wissen‹ der Praxis eine sich stets mehrende Erfahrung, die sich im einzigartigen Bezug zur aktuellen Situation auch immer erst bildet« (a. a. O.). Viele in der Praxis tätige Psychotherapeuten aller Richtungen bekunden Desinteresse an wissenschaftlichen Ergebnissen und begründen dies damit, dass diese für die Anwendung in der Praxis irrelevant seien. Sie geben damit eine subjektiv begründete Erfahrung wieder, die sicher ihre Gründe hat. Vermutlich sind sie darin zu sehen, dass auch sie der von Wissenschaftlern gehegten Illusion (die auch von der öffentlichen Meinung und insbesondere der Politik geteilt wird) aufsitzen, wissenschaftliche Ergebnisse seien geeignet, direkt in professionelles Handeln umgesetzt zu werden, und entsprechende desillusionierende Erfahrungen machen. Zu erwarten ist: Wenn demgegenüber die Sichtweise der Professionsforschung Platz greift, dürften auf der einen Seite Wissenschaftler ihre Ergebnisse so formulieren, dass sie eine Ausgangsbasis für reflexives Handlungswissen der Praktiker sind, und Praktiker werden sie dann nicht mehr als direkte Handlungsanweisungen auffassen, sondern zum Anlass für die Reflexion ihres Handelns nehmen. Was das Klientenzentrierte Konzept betrifft, so ist es vielleicht deshalb für einen solchen wechselseitigen Prozess besonders geeignet, weil es seinen Bezugspunkt stets im praktisch-professionellen Handlungswissen gehabt hat, zugleich aber den Prinzipien der empirischen Forschung unterworfen worden ist. ? Übungsfragen 5 Welche drei Fragen soll eine Therapietheorie beantworten? 5 Welches sind die von Rogers formulierten sechs Bedingungen für konstruktive Veränderungen der Person? 5 Welche Bedeutung kommt der Inkongruenz des Patienten unter den sechs Bedingungen zu? 5 Warum ist die Bezeichnung »Echtheit« anstelle »Kongruenz des Therapeuten« problematisch? 5 Was unterscheidet »Bedingungsfreie Positive Beachtung« von einem pauschalen »Gutheißen«? 5 Welche Dimensionen der Bedingungsfreien Positiven Beachtung unterscheidet Lietaer? 5 Welche Funktion hat die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten in der Therapie?
6
6
5 Inwiefern hängen beim Therapeuten Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung zusammen? 5 Warum ist Sympathie nicht gleichzusetzen mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung? 5 Nennen Sie fünf Indizien für eine beeinträchtigte Kongruenz des Therapeuten. 5 Was versteht Rogers unter dem Inneren Bezugsrahmen? 5 Wo liegt bei der Definition von Empathischem Verstehen die Übereinstimmung zwischen BischofKöhler und Rogers? 5 Inwiefern ist Empathisches Verstehen nicht gleichbedeutend mit Altruismus? 5 Weshalb ist es wichtig, dass Gesprächspsychotherapeuten ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das Erleben des Patienten, sondern auch auf ihre eigenen inneren Vorgänge richten? 5 Finden Sie drei Beispiele für Handlungsintentionen, mit denen Gefühle ausgedrückt werden können. 5 Wovon ist abhängig, welche Bedeutung ein Patient den Interventionen des Therapeuten beimisst? 5 Welche sind die Funktionen der sechs Bedingungen für konstruktive Veränderungen im therapeutischen Geschehen? 5 In welcher funktionalen Beziehung stehen die dritte, vierte und fünfte Bedingung konstruktiver Veränderungen untereinander? 5 Warum kann eine Person allein keine Beziehung gestalten? 5 Nennen Sie drei Merkmale des therapeutischen Veränderungsprozesses. 5 Wie lassen sich Veränderungen durch Gesprächspsychotherapie erklären? 5 Welche Ebenen der Beschreibung von Beziehungen lassen sich unterscheiden? 5 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Beschreibung und Bewertung therapeutischen Handelns? 5 Weshalb ist eine direkte Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die professionelle Praxis nicht möglich? 5 Was sind die wesentlichen Merkmale reflexiven professionellen Handelns?
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138
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
6.4
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer. (Eine umfassende Darstellung der Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie) Farber, B.A., Brink, D.C. & Raskin, P.M. (Eds.). (1996). The Psychotherapy of Carl Rogers. Cases and commentary. New York: Guilford. (Zehn Therapien von Rogers – davon neun als Transkript – mit Kommentaren unterschiedlicher Autoren verschiedener Psychotherapierichtungen) Keil, W.W. & Stumm, G. (Hrsg.). (2002). Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie. Wien/New York: Springer. (Eine reichhaltige Darstellung der unterschiedlichen Entwicklungen des Klientenzentrierten Therapiekonzepts)
7 7 Therapieziele J. Eckert 7.1
Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen – 139
7.2
Sechs Therapieziele – 142
7.2.1
Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeits- und der Störungstheorie ergeben – 142 Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben – 142
7.2.2
Therapieziele sind zum einen durch das therapeutische Verfahren selbst vorgegeben. Sie ergeben sich aus der jeweiligen Persönlichkeits-, Störungs- und Therapietheorie (Ambühl & Strauß, 1999). Zum anderen werden sie von den Patienten eingebracht und sind dahingehend zu überprüfen, ob sie im Rahmen des angewandten Verfahrens auch zu erreichen sind. Vor einer Behandlungsaufnahme sollten Therapeut und Patient vereinbaren, welche Therapieziele erreicht werden sollen. Wenn es im Behandlungsverlauf zu einer Änderung der Therapieziele kommt, sollte das ebenfalls besprochen werden. Der Grad der Zielerreichung kann als ein Maßstab für die Bewertung des Therapieprozesses dienen.
7.1
Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen
Wenn man das grundlegende Werk von Carl Rogers über Klientenzentrierte Psychotherapie aus dem Jahr 1951 (dtsch. Übersetzung: Rogers, 1973b) im Hinblick auf Ausführungen über die Ziele einer Gesprächspsychotherapie durch sieht, fällt auf, dass Rogers keine Zweifel an der Wirksamkeit von Psychotherapie hatte. Er ging auch nicht davon aus, dass unterschiedliche therapeutische Verfahren unterschiedlich wirksam sein könnten. Er ging davon aus,
7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6
Normative Therapieziele – 144 Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben – 144 Therapieziele von Patienten – 145 Die dem Klientenzentrierten Konzept immanenten Therapieziele – 146
7.3
Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis – 147
7.4
Weiterführende Literatur – 148
dass Psychotherapie zu »konstruktiven Veränderungen der Persönlichkeit« führen kann, und die Frage, welche therapeutischen Prozesse das ermöglichen, interessierte ihn mehr als die Frage, welche spezifischen Therapieziele erreicht werden können. »In jeder therapeutischen Orientierung wird Menschen geholfen. Sie fühlen sich selbst wohler. Ihr Verhalten ändert sich, häufig in Richtung auf eine bessere Anpassung. Ihre Persönlichkeit erscheint sowohl ihnen selbst als auch anderen, die sie kennen, verändert. Aber was geschieht bei einer erfolgreichen Therapie wirklich? Wie sehen die psychischen Prozesse aus, durch die es zu einer Veränderung kommt? Gibt es unter den zahlreichen Nuancen sich verändernder Gedanken und Gefühle … irgendwelche erkennbaren Allgemeinheiten, irgendwelche objektiv und wissenschaftlich exakten Wege, den Prozess für alle Klienten zu beschreiben? Dieses Kapitel ist der Diskussion der Fragen in ihrer besonderen Beziehung zur klientbezogenen1 Therapie gewidmet. Gleich zu Beginn wollen wir festhalten, dass wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens 6 1
»klient-bezogen« war eine der ersten Übersetzungsversuche von »client-centered«. Eingebürgert hat sich später aber »klientenzentriert«.
140
Kapitel 7 · Therapieziele
nicht wirklich wissen, wie der eigentliche Prozess der Therapie aussieht … . Gewöhnlich ist die Therapie ein Lernprozess. Mowrer (1948) und einige andere … haben das überzeugend nachgewiesen. Der Klient lernt neue Aspekte seiner selbst kennen, neue Bezugsmöglichkeiten zu anderen und neue Arten des Verhaltens. Aber was genau wird gelernt, und warum? Das würden wir gern wissen. Es reicht nicht aus, die Lerntheorie, wie sie aus den Beobachtungen von Ratten und Experimenten mit sinnlosen Silben entwickelt wurde, auf den Prozess der Therapie anzuwenden. Die reichhaltige Therapie-Erfahrung kann unser Wissen über signifikantes Lernen vergrößern, ebenso wie sich aus der Integration von Kenntnissen über das Lernen in die bekannten Tatsachen über die Therapie manches erfahren lässt. Beim gegenwärtigen Stand der psychologischen Wissenschaft verbleiben uns daher in bezug auf den Prozess und den Umfang des Lernens, das in der Psychotherapie stattfindet, wesentlich mehr Fragen als Antworten2. In einer solchen Situation scheint es uns das Beste, sich so eingehend wie möglich mit den Tatsachen zu befassen, die uns entweder aus klinischen Beobachtungen oder aus der Forschung vorliegen. Die Veränderungen, die – nachweislich oder hypothetisch – charakteristische Teile dieses therapeutischen Lernprozesses sind, charakteristische Aspekte dessen, was als die »Entwicklung« des Klienten in der Therapie bezeichnet wird, werden nachfolgend in Gruppen mit entsprechenden allgemeinen Überschriften unterteilt …« (Rogers, 1951/1973b, S. 131)
7
Rogers beschreibt in seinen Ausführungen nicht, welche Veränderungen in Form von welchen umschriebenen Therapiezielen wie erreicht werden können, sondern er beschreibt (a. a. O., S. 132–178), welche charakteristischen Veränderungen bzw. Entwicklungen bei einem Menschen, der sich auf eine 2
Diese Aussage gilt auch noch für den derzeitigen Stand der Wissenschaft.
Klientenzentrierte Psychotherapie einlässt, beobachtet werden können. Die Veränderungen im Verhalten und Handeln des Klienten, die charakteristischerweise zu beobachten sind, kennzeichnet er zusammenfassend wie folgt: »Der Klient erwägt und plant und berichtet von der Inkraftsetzung eines Verhaltens, das reifer, selbstlenkender und verantwortlicher ist als das Verhalten, das er bislang gezeigt hat; sein Verhalten wird weniger defensiv und basiert stärker auf einer objektiven Sicht des Selbst und der Realität; sein Verhalten zeigt eine Abnahme der psychischen Spannung; er neigt zu einer einträglicheren und wirkungsvolleren Anpassung an Schule und Arbeit; er begegnet neuen Stresssituationen mit größerer innerer Ruhe, einer Ruhe, die sich in geringerer physiologischer Erregung und schnellerer physiologischer Wiederherstellung nach Frustrations-Situationen äußert.« (a. a. O., S. 178) In dieser Beschreibung wird deutlich, dass Rogers aufgrund seiner Forschungsergebnisse und systematischen Beobachtungen davon ausging, dass sich der Effekt von Klientenzentrierter Psychotherapie auf viele Bereiche des Erlebens und Verhaltens und sogar auf physiologische Prozesse erstreckt. Nach Rogers lassen sich sieben Bereiche unterscheiden, in denen sich therapeutische Veränderungen zeigen: 1. Veränderung in der Wahrnehmung des Selbst und der Einstellung zum Selbst 2. Differenzierung der Wahrnehmung 3. Bewusstwerden von geleugneter Erfahrung 4. Charakteristische Entwicklung des Wertungsprozesses 5. Charakteristische Entwicklung in der Therapie 6. Charakteristische Veränderungen in der Persönlichkeits-Struktur 7. Charakteristische Veränderungen im Verhalten Im Zentrum von Rogers’ (1951/197ba) Konzeption von Psychotherapie steht also nicht die Linderung bzw. Behebung von Symptomen und symptomatischem Verhalten. Diese sind unter Punkt 7 als Teil eines konstruktiven therapeutischen Prozesses auf-
141 7.1 · Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen
geführt, der sich auf viele psychische Funktionsbereiche erstreckt. Diese Wirksamkeitsannahmen sind auch in Rogers’ persönlichkeitstheoretischen Auffassungen begründet, die er in demselben Buch (a. a. O., S. 417–458) in einer vorläufigen Form von 19 Thesen vorstellt. ! Psychische Störungen sind für Rogers Ausdruck einer Störung der Wahrnehmung von Erfahrungen und der Repräsentation dieser Erfahrungen im Selbstkonzept. Veränderung der Symptomatik setzt Veränderungen des Selbstkonzepts voraus, und das bedeutet: Veränderungen der Prozesse, die die Wahrnehmung und das Erleben steuern.
Im Original (a. a. O., S. 184) liest sich das so: »Im Verlauf des (therapeutischen) Prozesses wird eine neue oder revidierte Konfiguration des Selbst aufgebaut. Sie enthält Wahrnehmungen, die bislang geleugnet wurden. Sie enthält eine genauere Symbolisierung eines viel größeren Bereichs von Erfahrung. Sie umfasst eine Reorganisation der Werte, wobei die Erfahrung des Organismus deutlich als das anerkannt wird, was das Beweismaterial für die Wertungen liefert. Langsam beginnt ein neues Selbst aufzutauchen, das dem Klienten viel mehr sein »wirkliches« Selbst zu sein scheint, da es in weit größerem Ausmaß auf all seinen ohne Verzerrung wahrgenommenen Erfahrungen basiert. Diese schmerzliche Des- und Reorganisation wird durch zwei Elemente in der therapeutischen Beziehung möglich gemacht. Das erste … ist die Tatsache, dass der Therapeut die neuen, die zögernden, die gegensätzlichen oder die vorher geleugneten Wahrnehmungen des Selbst ebenso sehr achtet wie die starr strukturierten Aspekte … . Das zweite Element in der Beziehung ist die Einstellung des Therapeuten zu den neu entdeckten Aspekten der Erfahrung. Dem Klienten erscheinen sie bedrohlich, schlecht, unmöglich, desorganisierend. Aber er erfährt die Einstellung einer gelassenen Akzeptierung, die der Therapeut ihnen gegenüber hat. Er merkt, dass er diese Einstellung bis zu einem gewissen Grad übernehmen kann und dass er seine Erfahrung als etwas sehen oder betrachten kann, das er besitzen, identifizieren, 6
7
symbolisieren und als Teil seines Selbst’ akzeptieren kann.« Die in diesen Ausführungen vertretene Grundannahme des Klientenzentrierten Konzepts gilt nach wie vor: Dauerhafte psychotherapeutische Effekte basieren auf Veränderungen des Selbstkonzepts. Die Gesprächspsychotherapie versteht sich auch heute noch als ein nicht symptomzentriertes psychotherapeutisches Verfahren. Rogers hat wiederholt »konstruktive Persönlichkeitsveränderung« als das allgemeine therapeutische Ziel einer Klientenzentrierten Psychotherapie genannt und diese z. B. folgendermaßen definiert: »Diese Ausdrücke besagen: eine Veränderung in der Persönlichkeitsstruktur des Individuums sowohl an der Oberfläche wie auch auf tieferen Ebenen, und zwar in eine Richtung – die Kliniker würden mir hier zustimmen –, die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden (Rogers, 1957a, dtsch. Rogers & Schmid, 1991, S. 167). Wie verträgt sich nun dieser Standpunkt mit heutigen Auffassungen von Psychotherapie und deren Zielen? Eine heute allgemein anerkannte Definition von Psychotherapie ist die von Strotzka (7 Kap. 1.1): Definition »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens« (Strotzka, 1975, S. 4).
142
Kapitel 7 · Therapieziele
Wenn man dieser Definition folgt, wäre vor dem Hintergrund der bisherigen Darlegungen das Ziel einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung präziser: Strukturänderung mit der Folge von Symptomminimalisierung. Neben den generellen Therapiezielen, wie Symptomminimalisierung oder Strukturänderung der Persönlichkeit, die zugleich auch das jeweilige therapeutische Verfahren charakterisieren, lassen sich weitere Ziele benennen. Sie ergeben sich sowohl aus der Betrachtung der verschiedenen Aspekte, aus denen sich das komplexe Geschehen Psychotherapie zusammensetzt, als auch aus dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Psychotherapie praktiziert wird
7 7.2
Sechs Therapieziele
Bei der Bestimmung von Therapiezielen in der Gesprächspsychotherapie ist es sinnvoll, mindesten sechs Betrachtungsebenen anzunehmen, auf denen Therapieziele definiert werden können: 1. Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeitstheorie und der Störungstheorie ergeben 2. Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben 3. Normative Therapieziele 4. Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben 5. Therapieziele, die vom Patienten eingebracht werden 6. Therapieziele, die dem Therapieprozess immanent sind.
7.2.1
Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeits- und der Störungstheorie ergeben
Wie einleitend bereits dargestellt wurde, ist Gesprächspsychotherapie kein symptomzentriertes Verfahren. Aus der Entwicklungs- und Störungstheorie des Klientenzentrierten Konzepts (Rogers, 1959b/1987) ergibt sich vielmehr als vorrangiges Therapieziel eine Veränderung des Selbstkonzepts. Das Selbstkonzept eines Menschen ist in der klientenzentrierten Entwicklungstheorie als eine Gestalt definiert, in der die reale, die eigene Person
betreffende Erfahrung in einer für jeden Menschen spezifischen Art und Weise repräsentiert wird, und zwar sowohl die innere als auch die äußere Erfahrung und die Beziehung zwischen den beiden. Wenn diese Repräsentation der realen Erfahrung verzerrt bzw. unvollständig ist, kann sich ein psychischer Zustand einstellen, der im Klientenzentrierten Konzept als Inkongruenz bezeichnet wird. Inkongruenz bedeutet: denn die tatsächlichen Erfahrungen und ihre Repräsentation stimmen dann nicht miteinander überein. ! Störungstheoretisches Therapieziel Aus der Persönlichkeits- und Störungstheorie ergibt sich als Ziel einer Gesprächspsychotherapie: Verringerung bzw. Aufhebung von Inkongruenz als Folge einer Veränderung des Selbstkonzepts.
Es ist invariant, d. h. es gilt für jeden Psychotherapiepatienten, unabhängig von der Art seiner Störung. Mit dieser Therapiezieldefinition wird die Behandlung von Störungen, deren Quelle in sog. Lerndefiziten liegen, nicht ausgeschlossen. Eine Gesprächspsychotherapie bestünde in solchen Fällen allerdings nicht in der Einübung neuer Verhaltensweisen, sondern ginge der Frage nach, welche Erfahrungen es bisher verhindert haben, bestimmte Lernziele zu erreichen.
7.2.2
Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben
Zu jedem psychotherapeutischen Verfahren gehören Therapieziele, die auf Vorstellungen von dem beruhen, was den psychisch gesunden Menschen auszeichnet. Sie sind nur zum Teil therapieschulenspezifisch. S. Freud (1904, S. 8) nannte die »praktische Genesung des Kranken, die Wiederherstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit« als Therapieziel. In der Satzung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) wird als Therapieziel u. a. die »Befähigung zur aktiven Teilnahme am Lebensund Arbeitsprozess« genannt. Der amerikanische Psychiater und Psychotherapeut H.S. Sullivan (1931, zitiert nach Elrod, 1974) z. B. nannte als umfassendes Therapieziel eine »gesteigerte Lebenstüchtigkeit«.
143 7.2 · Sechs Therapieziele
Auch Rogers hat allgemeine Therapieziele genannt, u. a. in einem Aufsatz mit dem Titel »›Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist‹ – Ansichten eines Therapeuten über persönliche Ziele« (Rogers 1961/1973a, S. 164–182). Das Bemerkenswerte an dieser Darstellung ist, dass Rogers nicht fragt: Wonach strebt der Mensch?, sondern: Wonach strebt das Selbst eines Menschen, wenn es in seiner Entwicklung nicht bedroht wird?, d. h. er entwickelt in diesem Aufsatz eine Art Philosophie der »wahren« psychischen Entwicklung des Menschen. In der Einleitung zu diesem Aufsatz weist Rogers darauf hin, wie zeit- und kulturabhängig die meisten der allgemeinen Lebensziele sind. In früheren Zeiten hätten viele Menschen ihr Lebensziel mit den Worten des Katechismus beschrieben: Gott zu verherrlichen. Heute würden eher Leistung, Besitz, Status, Wissen oder Macht als erstrebenswert erachtet. Er betont, dass er seine Ansichten über persönliche Ziele von Menschen aus der therapeutischen Arbeit mit seinen Klienten gewonnen habe: »Ich kann dieses Lebensziel, das ich in meinen Beziehungen zu meinen Klienten zum Vorschein kommen sehe, am besten mit den Worten Søren Kierkegaards darlegen: ›Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist‹ (Kierkegaard, 1924, S. 17). Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies so einfach klingt, als wäre es etwas Absurdes. Das sein, was man ist, scheint eher eine klare Tatsachenfeststellung als ein Ziel zu sein« (Rogers, 1961/1973a, S. 167). In den weiteren Ausführungen stellt Rogers als erstes eine charakteristische Tendenz von Klienten heraus: Sie bewegten sich zögernd und ängstlich von einem Selbst weg, dass sie nicht seien. Er beschreibt vier dieser Tendenzen: Weg von den »Fassaden«, vom ‚Eigentlich-Sollte-Ich«, vom »Erfüllen kultureller Erwartungen« und weg davon, »anderen zu gefallen«. Dann beschreibt er charakteristische positive Zielrichtungen, vor allem die Entwicklungen in Richtung auf Selbstbestimmung. Darunter versteht er eine Entwicklung zu mehr Autonomie, die vor allem darin bestehe, dass Klienten mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen. Eine weitere zu beobachtende Entwicklungstendenz lasse sich nur schwer ausdrücken, weil die pas-
7
senden Worte dafür fehlten: die Entwicklung zum Prozess-Sein: »Klienten bewegen sich offensichtlich auf einen Zustand hin, in dem sie offener ein Prozess, etwas Fließendes, etwas sich Veränderndes sind« (a. a. O., S. 172). Rogers setzt diese Beobachtung in Beziehung zu Kierkegaards Beschreibung des Individuums, das wirklich existiert: »Der Existierende ist beständig im Werden; … und setzt all sein Denken in das Werden« (a. a. O.). Eine dritte positive Richtung bestehe in der Entwicklung zur Erfahrungsoffenheit. Darunter versteht Rogers »die Entwicklung des Individuums zu einem Dasein in einer offenen, freundlichen, engen Beziehung zu seiner eigenen Erfahrung« (a. a. O., S. 173) und vermerkt, dass diese Tendenz viel mit dem gemeinsam habe, was Maslow (1954) mit dem Begriff des »selbstaktualisierenden Menschen« umschrieben habe. Eng mit der Erfahrungsoffenheit verknüpft sei eine Entwicklung zum Akzeptieren des anderen. Wenn ein Klient seine eigene Erfahrung akzeptieren könne, entwickle er sich auch zum Akzeptieren der Erfahrung anderer. Diese positiven Entwicklungen könne man auch unter einem anderen Aspekt zusammenfassen: Entwicklung zu Selbstvertrauen. ! Entwicklungsziele Im Kontext von Klientenzentrierter Psychotherapie finden sich also vier Entwicklungsziele auf dem Weg, »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist« (Kierkegaard): 1. Entwicklung weg von vorhandenen »Fassaden«, weg vom »Eigentlich-Sollte-Ich« 2. Entwicklung hin zu mehr Selbstbestimmung, Autonomie und Verantwortung für sich selbst 3. Entwicklung zu mehr »Offenheit für die Erfahrung« 4. Entwicklung zum »Akzeptieren des anderen«
Rogers hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er mit seinen Ausführungen nicht Ziele benennt, die klientenzentrierte Therapeuten für ihre Klienten anzustreben hätten, sondern das, wonach Menschen bzw. Klienten streben, wenn sie »in Freiheit sich entscheiden können« (1961/1973a, S. 165). Es ist anzunehmen, dass auch diese von Rogers entdeckten Ziele nicht nur verfahrensspezifisch, sondern auch kulturspezifisch sind: Sie spiegeln
144
Kapitel 7 · Therapieziele
die Werte und Normen der Zivilisation der weißen nordamerikanischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts wieder. Patienten mit anderem kulturellen Hintergrund könnten zum Teil sehr andere Ziele haben (Orlinsky, 2003), was ein Therapeut bei der Durchführung der Behandlung zu berücksichtigen hätte (Akhtar, 2005).
7.2.3
7
Normative Therapieziele
Vor allem welche psychischen Beeinträchtigungen als krankheitswertig und damit als psychotherapeutisch behandlungsbedürftig angesehen werden, ist wesentlich von den in einer Gesellschaft bestehenden Normen und Auffassungen von psychischer Gesundheit bzw. Krankheit abhängig. Bekannte Beispiele für einen gesellschaftlichen Wandel in der Antwort auf die Frage, ob ein Verhalten pathologisch (»krank«), Ausdruck von mangelndem Willen, fehlender Moral bzw. Charakterschwäche oder einfach eine Variante von Normalität ist, sind die Überlegungen zum Alkoholismus (»Trunksucht«), zur akuten bzw. posttraumatischen Belastungsstörung (»Kriegszitterer«) und zur Homosexualität. Dieser Zusammenhang ist allgemein bekannt. Er wird z. B. in den sog. Psychotherapie-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Psychotherapie (z. B. Faber & Haarstrick, 1991) deutlich. Der Abschnitt »D« dieser Richtlinien bestimmt, welche psychischen Störungen mit Psychotherapie behandelt werden dürfen, die im Rahmen einer gesetzlichen Krankenversicherung finanziert wird. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine Psychotherapie dieser Störungen nur dann, wenn sie als »Krankheit« zu betrachten sind. Und wann das der Fall ist, wird mit Hilfe eines Urteils des Oberlandesgerichtes in Celle definiert, d. h. der Krankheitsbegriff der Krankenkassen ist kein medizinischer oder psychologischer, sondern ein juristischer, der sich zudem noch aus einer gerichtlichen Entscheidung und nicht etwa aus einem Gesetzbuch ergibt (Faber, 1981, S. 179). Er lautet:
Definition »Krankheit ist im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintritt entweder lediglich die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.«
Arbeitsunfähigkeit ist nach dieser Definition zwar kein notwendiges Kriterium für die Kennzeichnung einer psychischen Störung als Krankheit. Aber wenn Arbeitsunfähigkeit vorliegt, dann ist mit dieser Definition ein invariantes Therapieziel für kassenfinanzierte Psychotherapien vorgegeben, nämlich die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Auf den ersten Blick scheinen zwischen normativen Therapiezielen, wie Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, und denen, die Rogers (7 oben) als »persönliche Ziele« von Patienten bezeichnet, z. B. Entwicklung von Erfahrungsoffenheit, Welten zu liegen. Darauf wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Therapieziele von Patienten (7 unten) nochmals einzugehen sein. Zunächst bleibt zusammenfassend festzuhalten: ! Normative Therapieziele Der Krankheitsbegriff, dem die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland verpflichtet sind, ist weder ein medizinischer noch ein psychologischer, sondern ein juristischer. Die sich aus diesem Krankheitsbegriff ergebenden Behandlungsziele sind die Behebung eines regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustands und/oder die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Was unter einem »regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustand« zu verstehen ist, wird auch durch gesellschaftliche Normen bestimmt, die Wandlungen unterworfen sind.
7.2.4
Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben
Die Bedingungen für einen konstruktiven therapeutischen Prozess in einer Gesprächspsychotherapie sind auf Seiten des Therapeuten charakterisiert
145 7.2 · Sechs Therapieziele
durch ein bestimmtes Beziehungsangebot. In dem Maße, in dem ein Patient dieses Beziehungsangebot wahr- und annehmen kann, tritt er in einen Prozess ein, der durch eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben, den damit verknüpften Erfahrungen und deren Bewertung gekennzeichnet ist. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst ist ein selbstreflexiver, emotionaler Prozess, der auf der sprachlichen Ebene als »Selbstexploration« operational definiert worden ist (7 Kap. 9.3.3). Im Verlauf dieses Prozesses kommt es zu einer immer korrekteren und vollständigeren Wahrnehmung der Erfahrungen bzw. des eigenen Erlebens und auch zu einer Verminderung von Inkongruenz. In der Therapietheorie (7 Kap. 6) der Gesprächspsychotherapie ist das Zustandekommen dieses Prozesses eine Voraussetzung dafür, dass Veränderungen auch in anderen Bereichen möglich werden. Den Selbstexplorationsprozess anzustoßen, aufrechtzuerhalten und zu vertiefen ist daher in einer Gesprächspsychotherapie ein vorrangiges Therapieprozessziel. Dabei lassen sich ein Fern- und ein Nahziel voneinander unterscheiden. Als theoretisches Fernziel eines gesprächspsychotherapeutischen Prozesses lässt sich definieren: Definition Eine Gesprächspsychotherapie ist dann beendet, wenn der Patient zu sich selbst die Beziehung aufnehmen kann, die der Therapeut ihm anbietet: Wenn er kongruent sein kann und, ohne Bedingungen an sich zu stellen, seines ganzen Erlebens gewahr werden kann.
Dieses Ziel ist ein Idealziel, das, wenn überhaupt, nur selten erreicht wird, und das Ende einer längeren Behandlung darstellt. Betrachtet man den therapeutischen Prozess innerhalb einer jeden einzelnen Therapiestunde als Nahziel, dann fällt die Zielsetzung bescheidener, aber für den Therapeuten zugleich handlungsleitender aus: Im konkreten therapeutischen Kontakt verfolgt der Gesprächspsychotherapeut nur das Ziel, den psychotherapeutischen Prozess zu fördern. Unter therapietechnischen Gesichtspunkten lässt sich dieses Therapieprozessziel auch folgendermaßen formulieren:
7
Definition Der Gesprächspsychotherapeut verfolgt im therapeutischen Kontakt das Ziel, die Selbstexploration und das Selbsterleben des Patienten zu fördern oder, wenn beides in ausreichendem Maße vorliegt, nicht zu stören.
7.2.5
Therapieziele von Patienten
Die Ziele von Patienten in einer Psychotherapie sind häufig identisch mit dem Anlass für die Psychotherapie. Sie möchten z. B. Ängste, die verhindern, dass sie öffentliche Verkehrsmittel oder ihr Auto benutzen können, Depressionen, die das morgendliche Aufstehen zu einer Tortur machen und die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen, und vor allem immer wiederkehrende massive Beziehungsprobleme im privaten und beruflichen Bereich los werden. Das heißt: Patienten möchten durch eine Psychotherapie von ihren Ängsten und Depressionen befreit werden oder sich in ihren Beziehungen und Kontakten besser fühlen, nicht mehr so minderwertig, ängstlich, gehemmt usw. Das bedeutet, dass die Therapiezielvorstellungen von Patienten meistens auf einer ganz anderen theoretischen Ebene angesiedelt sind als die Ziele, die sich aus der Störungstheorie und dem Menschenbild der Gesprächspsychotherapie ergeben. Vermutlich hat sich noch niemals ein Patient oder Klient an einen Gesprächspsychotherapeuten mit dem Wunsch gewandt: »Ich möchte eine Therapie machen, um meine Inkongruenz zu beheben«. Die auf den ersten Blick ganz anderen Therapiezielvorstellungen werden in der Regel deshalb nicht zum Problem, weil das Therapieziel des Gesprächspsychotherapeuten »Verminderung bzw. Aufhebung von Inkongruenz« eine Linderung bzw. Aufhebung der Symptomatik einschließt: Die durch Gesprächspsychotherapie angestrebte Veränderung des Selbstkonzepts beinhaltet eine Veränderung der Prozesse, die die Wahrnehmung und das Erleben steuern. Sie führt zu einer Aufhebung bzw. Verminderung von Inkongruenz mit dem Effekt, dass auch die Symptomatik als Ausdruck dieser Inkongruenz zurückgeht bzw. aufgehoben wird (7 Kap. 6). Entscheidender als eine Therapiezielvereinbarung bezüglich der Symptomatik ist für eine Ge-
146
Kapitel 7 · Therapieziele
sprächspsychotherapie eine Abstimmung zwischen Therapeut und Patient (»informed consent«; 7 unten und 7 Kap. 8.3.3) darüber, ob der Weg, den der Therapeut bereitstellt, auch ein für den Patienten begehbarer ist . Als Beispiel für eine missglückte Abstimmung sei von einem Patienten berichtet, der eine gesprächspsychotherapeutische Gruppentherapie nach wenigen Sitzungen im Einvernehmen mit dem Therapeuten abbrach. Fallvignette
7
Fehlende Abstimmung zwischen Therapeut und Patient bezüglich der Therapieziele und der Wege, diese Ziele zu erreichen Ein junger Mann, »Nachwuchsmanager« mit Arbeitsstörungen und häufigen Kopfschmerzen, war auf Empfehlung des Therapeuten einer Therapiegruppe beigetreten. In den ersten drei Sitzungen hatte er das Gruppengeschehen interessiert verfolgt, aber kaum etwas gesagt. In der vierten Gruppensitzung drückte er seine Unfähigkeit, sich auf den gruppentherapeutischen Prozess einzulassen, mit den Worten aus: »Ihr redet hier immer nur von Problemen. Ich kenne keine Probleme, ich kenne nur Lösungen. Wenn ich anfangen wollte, alles zu problematisieren, könnte ich meine Karriere gleich knicken«.
Dieser Patient wollte seine Symptome loswerden, nicht aber die ihnen zugrunde liegenden Probleme bearbeiten, d. h. seine Vorstellungen von den Ursachen seiner Symptome und den Wegen zu ihrer Behebung unterschieden sich erheblich vom Störungs- und Behandlungsmodell des Gesprächspsychotherapeuten. Vermutlich hätte er sich auf eine Behandlung, die unmittelbar an der Symptomatik »ansetzt«, besser einlassen können. Bei der notwendigen Abstimmung zwischen dem Behandlungs- und Störungsmodell des Therapeuten und den entsprechenden Vorstellungen des Patienten (7 Kap. 8.5: AMP) ist zu beachten, dass jedes Therapieverfahren eigene Therapieziele hat, die Teil der jeweiligen Störungstheorie sind. Die Entscheidung eines Patienten für ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren bedeutet für ihn also auch, dass zu seinen eigenen Therapiezielen auch die
hinzu treten, die dem gewählten Therapiefahren immanent sind. Das soll im Folgenden für die Gesprächspsychotherapie ausgeführt werden.
7.2.6
Die dem Klientenzentrierten Konzept immanenten Therapieziele
Die verschiedenen Therapieverfahren streben vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen theoretischen Grundannahmen über die Entstehung und Veränderung von psychischen Störungen unterschiedliche therapeutische Prozesse zur Erreichung der jeweiligen Therapieziele an. Man kann auch sagen, dass mit den verschiedenen Therapieverfahren unterschiedliche therapeutische »Beziehungsangebote« verbunden sind. Es ist empirisch belegt, dass sich mit einem Verfahren erfolgreich behandelte Patienten gegenüber den mit diesem Verfahren nicht erfolgreich behandelten dadurch auszeichnen, dass sie das entsprechende Beziehungsangebot als für sich stimmig wahrnehmen und zugleich die »Theorie« ihres Therapeuten, d. h. sein Störungs- bzw. Krankheitsund Entwicklungsmodell übernehmen (Eckert & Biermann-Ratjen, 1990). Gesprächspsychotherapeutisch behandelte Patienten z. B. beurteilen ihren Therapieerfolg nach anderen Kriterien als verhaltenstherapeutisch behandelte, auch wenn sich im durchschnittlichen Therapieergebnis – gemessen z. B. an der Reduktion der Leitsymptomatik – keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Patienten der Gesprächspsychotherapie und denen der Verhaltenstherapie ergeben, wie das weiter unten folgende Beispiel aus einer vergleichenden Therapiestudie (Grawe, 1976; Plog, 1976) zeigt. Gesprächspsychotherapeuten geht es mehr um die Person des Patienten und sein Erleben, wobei nicht zwingend die Symptomatik im Zentrum steht. So verwundert es nicht, dass sich der bei den verhaltenstherapeutisch behandelten Patienten gefundene Zusammenhang zwischen Symptomveränderung und allgemeinem Therapieerfolg bei den gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten nicht zeigt. Weitere Studien haben gezeigt, dass ein dem Klientenzentrierten Konzept immanentes Therapieziel
147 7.3 · Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis
Exkurs
Beispiel: Ergebnisse einer vergleichenden Therapiestudie Untersucht wurde die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie bei Patienten mit schweren Phobien. Die beiden Therapiemethoden bewirkten – quantitativ betrachtet – im Mittel gleich starke Veränderungen in den Symptomen und in der allgemeinen Befindlichkeit. Nur: Bei den verhaltenstherapeutisch behandelten Patienten stand die positive Bewertung des Therapieerfolges durch die Patienten in einem engen Zusammenhang mit dem Rückgang der phobischen Symptomatik. Ein solcher Zusammenhang fand sich bei den gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten nicht. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist nahe liegend: Verhaltenstherapeutisch behandelte Patienten beurteilen ihren Therapieerfolg insgesamt in Abhängigkeit davon, wie weit sich ihre phobische Symptomatik bessert. Sie übernehmen damit das Paradigma ihrer Therapeuten, dass es in erster Linie auf Symptomreduktion ankomme.
die Kontakt- und Beziehungsfähigkeit ist. Wenn sich Patienten nach einer Gesprächspsychotherapie kontakt- und beziehungsfähiger als vorher erleben, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie die Behandlung insgesamt als erfolgreich einstufen. Für die Therapiezielüberlegungen bedeutet das: ! Es ist im Rahmen der Indikationsstellung und Therapiezielvereinbarungen zu prüfen, ob die von einem Therapieverfahren mehr oder weniger explizit theoretisch vorgegebenen Therapieziele – und der zu ihrer Erreichung angestrebte Therapieprozess – mit den Therapiezielen eines Patienten und dessen Vorstellungen, wie diese zu erreichen sind, zu vereinbaren sind.
Eine solche Prüfung findet im Rahmen eines Erstinterviews und in den sich daran anschließenden probatorischen Sitzungen statt (7 Kap. 8.3).
7.3
7
Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis
In der psychotherapeutischen Praxis ist zwischen Therapeut und Patient im Rahmen der Behandlungsvereinbarungen abzusprechen, welche Therapieziele erreicht werden sollen. Therapiezielabsprachen sind Teil des »informed consent« (7 Kap. 8.3.3), und bei einem Antrag auf Kassenfinanzierung der Behandlung wird unter dem Punkt »Behandlungsplan« erwartet, dass die Behandlungsziele benannt werden. Diese eingangs formulierten Behandlungsziele ändern sich nicht selten im Verlauf der Behandlung. Beispielsweise kam eine durch einen bewaffneten Raubüberfall in ihrem Ferienhaus traumatisierte Patientin mit dem Ziel in die Behandlung, dieses Haus wieder nutzen zu können, ohne »jede Nacht vor Angst zu sterben«. Als dieses Ziel erreicht war, setzte sie – in Absprache mit dem Gesprächspsychotherapeuten – die Therapie mit anderen Inhalten und anderen Zielen fort. In der Regel werden in einer Gesprächspsychotherapie Veränderungen von vereinbarten Therapiezielen nicht als Problem angesehen. Es ist aber wichtig, dass der Therapeut solche Veränderungen erkennt, sie auch versteht und mit dem Patienten bespricht. Es gibt viele Gründe für Therapiezielveränderungen. In Gesprächspsychotherapien entstehen sie oft dadurch, dass nicht explizit symptomorientiert gearbeitet wird. Die Bedeutung der Symptome, die häufig Anlass für die Aufnahme einer Psychotherapie waren, relativiert sich dadurch für den Patienten. Sie treten thematisch in den Hintergrund bzw. werden als Ausdruck anderer problematischer Erfahrungen angesehen. Andere Gründe für einen Therapiezielwechsel, z. B. Symptomverschiebungen, werden in der Gesprächspsychotherapie zwar diskutiert, sind aber nicht durch Forschungsergebnisse belegt, die Aufschluss darüber geben könnten, wie häufig, aus welchen Gründen und mit welchen Ergebnissen Therapieziele geändert werden. Abschließend soll noch einmal darauf hingewiesen werden, wie nützlich es in der Praxis ist, Therapieziele festzulegen und diese auch mit dem
148
Kapitel 7 · Therapieziele
Patienten abzusprechen. Die im Kapitel 8.3 (S. 201) aufgeführte Fallvignette verdeutlicht, welche Folgen es haben kann, wenn die Therapieziele nicht klar abgesprochen werden. ? Übungsfragen 5 Was versteht Rogers unter »konstruktiver Veränderung der Persönlichkeit«? 5 Welches wichtige Therapieziel ergibt sich aus der klientenzentrierten Persönlichkeitstheorie? 5 Welches wichtige Therapieziel ergibt sich aus der klientenzentrierten Therapieprozesstheorie? 5 Welche Vorteile hat eine Therapiezielvereinbarung zwischen Therapeut und Patient?
7
7.4
Weiterführende Literatur
Ambühl, H. & Strauß, B. (Hrsg.) (1999). Therapieziele. Göttingen: Hogrefe. (Dieses Buch gibt aus verschiedenen therapeutischen Perspektiven einen guten Überblick zum Thema Therapieziele)
8 8 Indikationsstellung J. Eckert 8.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie – 149
8.1.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – 150 Anwendungsbereiche für Psychotherapie auf der Grundlage von ICD-10-Diagnosen – 151
8.1.2
8.2
Diagnostik und Indikation für Psychotherapie – 152
8.2.1
Zur Notwendigkeit von Diagnostik in der Psychotherapie – 152 Zur Unterscheidung von Indikation und Prognose – 152 Die Kategorien für die Indikationsdiagnostik – 154 Die diagnostischen Kriterien für die Prognose – 156 Ein kommentiertes Indikationsinterview: Annette P. – 158 Auswertung des Indikationsinterviews – 186
8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6
8.3
Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie – 188
8.3.1
Hinweise zur Gestaltung des Interviews – 188
8.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie
Jahrzehntelange psychotherapeutische Praxis und Forschung haben dazu beigetragen, dass wir heute die psychischen Störungen benennen können, für die Psychotherapie in der Regel eine Hilfe darstellt. Diese sog. »Psychotherapie-indikativen« Störungen sind zu Störungsgruppen zusammengefasst worden, die als »Anwendungsbereiche für Psychothera-
8.3.2 8.3.3
Indikationsstellung und Prognose – 191 Die Abstimmung der Indikation mit dem Patienten – 197
8.4
Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P. – 203
8.4.9
H. Petersen Angaben zur Person – 203 Frühere Behandlungen – 203 Anlass der jetzigen Behandlung – 203 Überweisungskontext – 204 Befunde – 204 Diagnose nach ICD-10 – 205 Anamnese – 206 Überlegungen zur Genese der Erkrankung und zur auslösenden Situation – 208 Planung der Behandlung – 210
8.5
Differenzielle Indikation – 211
8.5.1
Die vier Passungen des Allgemeinen Modells von Psychotherapie – 212 Differenzielle Indikation in der Praxis – 213
8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8
8.5.2
8.6
Weiterführende Literatur – 217
pie« bezeichnet werden. Eine solche Einteilung der Psychotherapie-indikativen Störungen in größere Bereiche ist als Grundlage für Regelungen zur Anwendung von Psychotherapie sinnvoll, weil wir noch weit davon entfernt sind, für jede einzelne der fast 100 im ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1991) aufgelisteten Störungen eine Aussage darüber machen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Psychotherapie bei ihr wie wirksam ist.
150
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Die am besten bekannte Liste Psychotherapieindikativer Störungen ist die der Krankenkassen: »Anwendungsbereiche für Psychotherapie in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Psychotherapie« (7 Kap. 2.2.1). Ihr liegen ätiologische Gesichtspunkte zugrunde, z. B. die Unterscheidung der Störungen in Neurosen und Psychosen. Eine weitere Liste von Anwendungsbereichen hat der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (www.wbpsychotherapie.de) vorgelegt (7 Kap. 2.2.2). Sie beinhaltet nicht wie die Liste der Krankenkassen die Störungen, bei denen Psychotherapie hilft, sondern fasst alle ICD-10-Hauptkategorien zusammen. Die Geschichte der Psychotherapie legt ein solches Vorgehen nahe, denn die Anwendungsbereiche für Psychotherapie haben sich im Laufe der Zeit ständig erweitert. Während ursprünglich nur Störungen als psychotherapeutisch (psychoanalytisch) behandelbar angesehen wurden, die als eine Form von »Neurose« galten, d. h. solche, bei denen ein unbewusster Konflikt als Störungsursache angenommen wurde, umfasst das Indikationsspektrum heute u. a. psychosomatische Störungen, Persönlichkeitsstörungen und psychotische Störungen. Jede Erweiterung des Indikationsspektrums hat in der Regel auch eine Modifikation der üblichen therapeutischen Vorgehensweisen erforderlich gemacht. Beispiele dafür sind im Rahmen der Gesprächspsychotherapie die »Prä-Therapie« von Prouty, Pörtner und van Werde (1998) für psychotische Patienten oder die Akzentuierungen der klassischen Gesprächspsychotherapie bei der Behandlung von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Biermann-Ratjen & Eckert, 2000; Eckert, 2000). Eine weitere deutliche Erweiterung des Indikationsspektrums ist im Hinblick auf das Lebensalter von Patienten erfolgt. Während Sigmund Freud noch die Auffassung vertrat, dass Menschen, die das 40. Lebensjahr überschritten haben, nicht mehr analysierbar seien, hat sich heute die Psychotherapie des höheren Lebensalters fast als ein eigener Bereich der Psychotherapie und -forschung etabliert.
! Aus der historischen Entwicklung der Frage nach der Indikation ergibt sich, dass Indikationsregeln nicht als endgültige aufzufassen sind, sondern als vorläufige Orientierungshilfen, die den je derzeitigen Kenntnisstand von Forschung und Praxis widerspiegeln. Dass eine Psychotherapie-indikative Störung vorliegt, sagt noch nichts darüber aus, ob eine Psychotherapie zu ihrer Behandlung nicht nur sinnvoll sondern auch erfolgversprechend ist.
8.1.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Die von den Krankenkassen vorgegebenen Anwendungsbereiche für Psychotherapie sind Teil der »Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen1 über die Durchführung der Psychotherapie«. Psychotherapien, die von den Krankenkassen bezahlt werden sollen, müssen einem dieser Anwendungsbereiche, die in . Tab. 8.1 aufgeführt sind, zugeordnet werden können. Die letzte Änderung an diesen Regelungen wurde im April 2004 vorgenommen. Dennoch werden die in ihnen aufgeführten Störungen weiterhin auf der Grundlage von ICD-9 klassifiziert, d. h. ihrer vermutlichen Ätiologie entsprechend. Das ist erstaunlich, denn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit der ICD-10, der 10. Revision der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, die ätiologische Orientierung aufgegeben, und zwar weil eine ausreichende wissenschaftliche Fundierung für sie nie erbracht worden ist. Die ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1991) hat Begriffe wie Neurose, Psychose und Endogenität weitgehend aufgegeben und versucht, bei der Bildung der Diagnoseklassen einen beschreibenden, »a-theoretischen« Ansatz zu verfolgen. Die Anwendung von ICD-10 ist zudem im deutschen Gesundheitswesen seit dem 1. 1. 2000 gesetzlich (Sozialgesetzbuch V, §§ 295 und 301) vorge1
Da diesem Ausschuss inzwischen auch Psychologische Psychotherapeuten angehören, wurde sein Name in »Gemeinsamer Bundesausschuss« geändert.
151 8.1 · Anwendungsbereiche für Psychotherapie
8
. Tab. 8.1. Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Sinne der Gesetzlichen Krankenversicherungen; aus den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien) in der Fassung vom 11. Dezember 1998, in Kraft getreten am 1. Januar 1999, zuletzt geändert am 20. April 2004 (veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 130 vom 15. Juli 2004), in Kraft getreten am 16. Juli 2004 Anwendungsbereiche 1.
Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinien bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1.1
Psychoneurotische Störungen (z. B. Angstneurosen, Phobien, neurotische Depressionen, Konversionsneurosen).
1.2
Vegetativ-funktionelle und psychosomatische Störungen mit gesicherter psychischer Ätiologie.
1.3
Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation kann Psychotherapie angewendet werden, wenn psychodynamische Faktoren wesentlich Anteil an einer seelischen Behinderung oder an deren Auswirkung haben und mit ihrer Hilfe eine Eingliederung in Arbeit, Beruf und/oder Gesellschaft möglichst auf Dauer erreicht werden kann; Indikationen hierfür können nur sein:
1.3.1
Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten nach vorangegangener Entgiftungsbehandlung.
1.3.2
Seelische Behinderung aufgrund frühkindlicher emotionaler Mangelzustände, in Ausnahmefällen seelische Behinderungen, die im Zusammenhang mit frühkindlichen körperlichen Schädigungen und/oder Missbildungen stehen.
1.3.3
Seelische Behinderung als Folge schwerer chronischer Krankheitsverläufe, sofern sie noch einen Ansatz für die Anwendung von Psychotherapie bietet.
1.3.4
Seelische Behinderung aufgrund extremer Situationen, die eine schwere Beeinträchtigung der Persönlichkeit zur Folge hat.
1.3.5
Seelische Behinderung als Folge psychotischer Erkrankungen, die einen Ansatz für spezifische psychotherapeutische Interventionen erkennen lassen.
2.
Psychotherapie ist als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, wenn:
2.1
zwar seelische Krankheit vorliegt, aber ein Behandlungserfolg nicht erwartet werden kann, weil dafür beim Patienten die Voraussetzungen hinsichtlich seiner Motivationslage, seiner Motivierbarkeit oder seiner Umstellungsfähigkeit nicht gegeben sind oder weil die Eigenart der neurotischen Persönlichkeitsstruktur des Patienten (gegebenenfalls seine Lebensumstände) dem Behandlungserfolg entgegensteht,
2.2
sie nicht der Heilung oder Besserung einer seelischen Krankheit bzw. der medizinischen Rehabilitation, sondern allein der beruflichen oder sozialen Anpassung oder der beruflichen oder schulischen Förderung dient,
2.3
sie allein der Erziehungs-, Ehe-, Lebens- und Sexualberatung dient.
3.
Soll Psychotherapie im Rahmen einer die gesamten Lebensverhältnisse umfassenden psychosozialen Versorgung erbracht werden, so ist diese Psychotherapie nur dann und soweit eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, als sie der Behandlung von Krankheit im Sinne dieser Richtlinien dient.
4.
Verhaltensweisen, die als psychosoziale Störung in Erscheinung treten, sind nur dann Gegenstand von Psychotherapie nach Abschnitt B und Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung nach Abschnitt C der Richtlinien, wenn sie Ausdruck einer psychischen Erkrankung sind.
schrieben. Sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Krankenversorgung muss für jeden Patienten, auch für Psychotherapiepatienten, eine ICD-10-Diagnose erstellt und dokumentiert werden. Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht mit der ICD-10-Klassifikation in Übereinstimmung gebracht worden sind.
8.1.2
Anwendungsbereiche für Psychotherapie auf der Grundlage von ICD-10-Diagnosen
Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie hat eine an der ICD-10-Diagnostik orientierte Liste von Anwendungsbereichen für Psychotherapie erstellt:
152
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wesentliche Anwendungsbereiche für Psychotherapie von Erwachsenen im Sinne des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (geänderte Fassung v. 16.09.2002)2
8
1. Affektive Störungen (F3) 2. Angststörungen 5 phobische Störungen (F40) 5 andere Angststörungen (F41) 5 Zwangsstörungen (F42) 3. Belastungsstörungen (F43) 5 Belastungsreaktionen 5 posttraumatische Belastungsstörungen 5 Anpassungsstörungen 4. Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen 5 dissoziative Störungen (F44) 5 somatoforme Störungen (F45) 5 Neurasthenie (F48) 5. Essstörungen (F50) 6. Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5) 5 nicht-organische Schlafstörungen (F51) 5 nicht-organische sexuelle Funktionsstörungen (F52) 7. Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54) 8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6) 5 Persönlichkeitsstörungen (F60–62) 5 Verhaltensstörungen (F63–69) 9. Abhängigkeiten und Missbrauch (F1, F55) 10. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2) 11. Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F7) 12. Hirnorganische Störungen
2
Änderungen gegenüber der im Deutschen Ärzteblatt 97, Heft 1–2, 10. Januar 2000 publizierten Bekanntgabe betreffen die Nummern 7 und 11 der Aufzählung.
Die Anwendungsbereiche sind nach der Häufigkeit, mit der die Krankheiten in diesem Bereich mit Psychotherapie behandelt werden, geordnet. Die ersten vier Bereiche sind die klassischen Anwendungsbereiche für Psychotherapie. Etwa Dreiviertel aller Psychotherapiepatienten haben eine Störung, die einem dieser vier Bereiche zuzuordnen ist.
8.2
Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
8.2.1
Zur Notwendigkeit von Diagnostik in der Psychotherapie
Psychotherapie ist heilkundliche Tätigkeit, die als solche unter der Obhut des Staates steht. Psychotherapie verursacht Kosten, die bei kassenfinanzierten Therapien die »Gemeinschaft der Versicherten« aufbringt, und Psychotherapie, die nicht den gewünschten Erfolg hat oder gar schadet, kann sich für den betroffenen Patienten in gesundheitlicher und/oder sozialer Hinsicht sehr negativ auswirken. Daher erwarten der Gesetzgeber, z. B. im Gesetz zur »Qualitätssicherung in der Medizin« (Kordy, 1992), die Kostenträger von Psychotherapien, vor allem die Krankenkassen und Rentenversicherer, und nicht zuletzt die Psychotherapiepatienten selbst vor dem Beginn einer bestimmten psychotherapeutischen Behandlung Antworten auf Fragen nach ihrer Begründbarkeit (Indikation) und ihrem voraussichtlichen Nutzen (Prognose). Diese Fragen lassen sich nur dann mit ausreichender Sicherheit beantworten, wenn hinreichend valide Erkenntnisse darüber vorliegen, welche Merkmale den Behandlungserfolg beeinflussen. Bevor dieser Punkt weiter ausgeführt wird, sollen zunächst die Begriffe Indikation und Prognose erläutert werden.
8.2.2
Zur Unterscheidung von Indikation und Prognose
Im Bereich der Psychotherapie wird zwischen Indikation und Prognose unterschieden.
153 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
Definition Eine Indikation zur Psychotherapie liegt dann vor, wenn eine Psychotherapie bei einer gegebenen Person eine bestimmte psychische Störung oder eine körperliche Störung psychischen Ursprungs mildern oder beheben kann. Von einer differenziellen Indikation spricht man, wenn nicht nur Psychotherapie als Behandlung der Wahl empfohlen wird, sondern wenn sich die Indikationsaussage auf ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren, z. B. Gesprächspsychotherapie, und/oder auf ein bestimmtes Setting, z. B. Gruppentherapie, bezieht. Von einer Kontraindikation von Psychotherapie spricht man, wenn eine Psychotherapie bei einer gegebenen Person, die an einer bestimmten psychischen Störung oder körperlichen Störung psychischen Ursprungs leidet, zu einem anhaltenden Schaden führen kann, z. B. zu einer Chronifizierung der Symptomatik oder zu einer anhaltenden psychotischen Dekompensation.
Eine Indikation für Psychotherapie sagt noch nichts über die Art und den Umfang der zu erwartenden Therapieeffekte aus. Zum Beispiel kann eine Psychotherapie zwar indiziert sein, ihre Erfolgsaussichten werden aber gering sein, wenn der Patient bereits erfolglose Psychotherapieversuche in seiner Vorgeschichte aufweist und seine Symptome in deren Verlauf zugenommen haben. Deshalb tritt neben die Indikationsaussage stets eine Vorhersage der zu erwartenden Veränderungen: Definition Eine Prognose ist die Vorhersage des zu erwartenden Therapieerfolgs für einen bestimmten Patienten mit einer bestimmten Störung bei Anwendung einer bestimmten Psychotherapie bzw. psychotherapeutischen Intervention. Die Merkmale, die Prognosen ermöglichen, werden Prädiktoren genannt. Das Erreichen der verschiedenen Therapieziele lässt sich unterschiedlich gut und anhand unterschiedlicher Prädiktoren prognostizieren.
8
Zur Illustration unterschiedlicher Prognosen in Abhängigkeit vom jeweiligen Therapieziel soll folgendes Beispiel dienen: Fallvignette
Differenzierung der Prognose Ein Patient, der nach dem unerwarteten Tod seiner Frau depressiv und suizidal geworden ist, wendet sich hilfesuchend an eine psychiatrischpsychotherapeutische Poliklinik. Der behandelnde Psychologe und Psychotherapeut kommt nach einem eingehenden Erstinterview zu dem Schluss, dass eine Krisenintervention von maximal fünf Sitzungen nötig ist und vermutlich ausreicht, die akute Suizidalität des Patienten zu beheben. Er unterbreitet dem Patienten dieses Behandlungsangebot. Gleichzeitig teilt er dem Patienten mit, dass er der Auffassung ist, dass diese fünf Gespräche vermutlich nicht ausreichen werden, um auch die depressive Symptomatik zu beheben, und er bereitet den Patienten darauf vor, dass es möglicherweise erforderlich sein wird, sich nach Abschluss der Krisenintervention um einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Kollegen zu bemühen.
Die Kriterien für eine Indikation unterscheiden sich von den Kriterien für eine Prognose. Indikationskriterien sind in erster Linie das Störungsbild und Persönlichkeitsmerkmale, und sie sind relativ unabhängig vom jeweiligen Psychotherapieverfahren. Prognosekriterien sind verfahrensspezifischer, z. B. ist das Ausmaß der Selbstexploration ein Kriterium für die Prognose einer Gesprächspsychotherapie, und wenig abhängig von der Störung, der Dauer der Erkrankung, dem Alter und der sozialen Eingebundenheit des Patienten usw. Die Bezeichnung von Indikations- und Prognosekriterien ist in der psychotherapeutischen Literatur nicht einheitlich. So werden Kontraindikationskriterien manchmal auch als »Ausschlusskriterien« (z. B. Yalom, 1996, S. 240) bezeichnet, z. B. »floride Psychose«, und Prognosekriterien als »Aufnahmekriterien« (a. a. O., S. 256).
154
Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.2.3
Die Kategorien für die Indikationsdiagnostik
Wie oben bereits erwähnt, ist es aus verschiedenen Gründen erforderlich, vor Behandlungsbeginn die Indikation für Psychotherapie zu begründen und Aussagen über ihren voraussichtlichen Nutzen zu machen. Die Psychotherapieforschung hat schon sehr früh erkannt, dass der Behandlungserfolg nicht nur von der Art der Störung (Diagnose) abhängt. Die wichtigsten der außerdem zu berücksichtigenden Parameter sind von Kiesler (1969) in der sog. differenziellen Indikationsformel zusammengefasst worden:
8
! Differenzielle Indikationsformel Bei welchem Patienten mit welcher psychischen Störung führt welche Psychotherapie durch welchen Therapeuten zu welchem Ziel?
Im Folgenden wird dargestellt, welche Kriterien wir für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie heranziehen, auf welchen die Prognose fußt und mit welchen Methoden wir sie erfassen. Um die Indikation für eine Gesprächspsychotherapie zu überprüfen, werden zwei Aspekte untersucht: 4 Die Störung des Patienten: Es werden eine oder mehrere ICD-10-Diagnosen erstellt, um das Beschwerdebild des Patienten so vollständig wie möglich abzubilden. 4 Die Persönlichkeit des Patienten: Es werden die Aspekte des Patienten betrachtet, die für sein psychisches Funktionieren von Bedeutung sind.
Die Diagnose der Störung Der erste Schritt bei der Erstellung einer Indikation für Psychotherapie ist die diagnostische Abklärung der geklagten Probleme und Symptome. Gesetzliche Vorgaben zur stationären und ambulanten Krankenversorgung schreiben (7 oben) vor, dass diese Diagnostik mit Hilfe der ICD-10 zu erfolgen hat. Die ICD-10 ist ein international gültiges Klassifikationssystem für alle bekannten Krankheiten, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt worden ist. Die deutsche Fassung für den Bereich der psychischen Störungen (Kapitel V [F]) stammt von Dilling, Mombour & Schmidt (Weltgesundheitsorganisation 1991).
! Ziele der ICD-Diagnostik 4 Feststellung, ob eine Psychotherapieindikative Störung vorliegt. 4 Feststellung, ob das Vorliegen einer (weiteren) Störung, die eine Psychotherapie als nicht indiziert oder kontraindiziert erscheinen lässt, ausgeschlossen werden kann. Fallvignette
Was hat Vorrang? Ein Beispiel für das zweite Ziel liefert ein Patient, der sich mit depressiven Symptomen an einen Gesprächspsychotherapeuten wendet. Eine vollständige ICD-Diagnostik bringt zu Tage, dass der Patient unter einer schweren Drogenabhängigkeit leidet, deretwegen er bereits zweimal behandelt worden ist. Er selbst erklärt sich seine Drogenabhängigkeit als Folge seiner Verstimmungen und möchte deshalb diese behandeln lassen. Der Interviewer versucht dem Patienten zu erklären, dass er keinen Psychotherapeuten finden wird, der sich auf die Behandlung der Depression einlässt und dabei die bestehende Abhängigkeitsproblematik ausklammert. Auch wenn die Abhängigkeit ursprünglich aus einer missglückten Selbstbehandlung der Depression mit Drogen entstanden sein sollte, habe die Behandlung der Sucht Vorrang vor der Behandlung der Depression.
Die Anwendung des ICD-Klassifikationssystems wird häufig im Rahmen des Psychologie- oder Medizinstudiums gelehrt, spätestens jedoch in der Ausbildung zum Psychotherapeuten. Psychotherapeuten (Janssen & Schneider, 1994), allen voran Gesprächspsychotherapeuten, haben in der Vergangenheit die im psychiatrischen Feld entwickelte Diagnostik oft skeptisch betrachtet und sogar abgelehnt (Eckert, 1994). Sie haben zu Recht den fehlenden Bezug dieser Diagnosen zur Psychotherapie beanstandet, die kaum etwas zum besseren Verständnis des Patienten und seiner Persönlichkeit beitrügen und auf Störungstheorien basierten, u. a. der psychoanalytischen Neurosentheorie, die nie ausreichend überzeugend bestätigt werden konnten. Mit dem Wechsel von der ICD-9 zur ICD-10 ist die ätiologische Fundierung der Störungsklassen
155 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
aufgegeben worden (7 oben). An ihre Stelle ist eine deskriptive Beschreibung der Störungen getreten. Die »Angstneurose« (ICD-9:300.0) z. B. ist von der »Generalisierten Angststörung« (ICD-10: F41.1) abgelöst worden. Da die phänomenologische Orientierung der ICD-10-Diagnostik mit der vom Klientenzentrierten Konzept bevorzugten Methodologie gut vereinbar ist, entfällt ein gewichtiger Einwand gegen diese Art der Diagnostik im Rahmen von Gesprächspsychotherapien. Dennoch reicht eine ICD-Diagnose für die Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie nicht aus, auch dann nicht, wenn eine Psychotherapie-indikative Diagnose gestellt wird. Ein Patient mit einer Generalisierten Angststörung z. B. kann ein dermaßen fragiles Selbstkonzept haben, dass eine Gesprächpsychotherapie ihn überfordern, d. h. ihm auch schaden könnte. Zur Einschätzung der Stabilität des Selbstkonzepts sollten die Strukturmerkmale des Selbst betrachtet werden. Wir nennen eine solche Einschätzung der Einfachheit halber »Diagnose des Selbstkonzepts«. ! Die Erhebung einer ICD-Diagnose im Rahmen einer heilkundlichen Psychotherapie ist gesetzlich vorgeschrieben. Sie dient der Abklärung von Indikation bzw. Kontraindikation im Hinblick auf die Störung des Patienten, denn die Krankenkassen finanzieren nur die psychotherapeutische Behandlung Psychotherapie-indikativer Störungen, die in den Psychotherapie-Richtlinien aufgeführt sind. Die ICD-10-Diagnose allein ist für die Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie nicht ausreichend. Zusätzlich sollte die Stabilität des Selbstkonzepts geprüft werden.
Die ICD-10 ergänzende diagnostische Maßnahmen Bei manchen Störungsbildern reichen die diagnostischen Kriterien der ICD nicht für die Erstellung einer reliablen Diagnose aus. In solchen Fällen sollte die ICD durch andere diagnostische Maßnahmen ergänzt werden. Es empfiehlt sich z. B., die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf der Grundlage der ICD-10-Kriterien für das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung durch spezielle Interviews, z. B. durch die Anwendung des
8
Diagnostischen Interviews für Borderline-Persönlichkeitsstörungen (DIB, Gunderson & Zanarini, 1983), zu überprüfen.
Die Diagnose des Selbstkonzepts Mit der Einführung der ICD-10 haben Vertreter der einsichts-orientierten bzw. psychodynamischen Therapien festgestellt, dass die ICD-Diagnosen für die Erstellung einer Indikation für diese Psychotherapieverfahren nicht ausreichend sind. Sie haben sich zu einem Arbeitskreis »Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik« (OPD) zusammengeschlossen, um die ICD-10-Diagnostik um vier weitere für die Psychotherapie relevante diagnostische Bereiche bzw. »Achsen« zu ergänzen (Arbeitskreis OPD, 1996). Wir empfehlen bei der Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie vor allem die sog. »Strukturachse« der OPD heranzuziehen (7 Kap. 5.3.2). Sie ist mit der Konzeption des Selbst bzw. des Selbstkonzepts der Gesprächspsychotherapie kompatibel (7 Kasten »Exkurs) und erlaubt eine diagnostische Einschätzung der Stabilität des Selbst. Exkurs
Zur Vergleichbarkeit klientenzentrierter und psychodynamischer Konzepte Im Klientenzentrierten Konzept hat die Prozessdiagnostik eine lange Tradition. Einen frühen Versuch, die therapeutischen Prozesse operational zu definieren, stellt die Entwicklung der »Prozessskala« von Rogers (1959) dar. Sie beschreibt die verschiedenen Bereiche, in denen eine Psychotherapie Veränderungen bewirkt (7 Kap. 5.3 und 7.1). Von diesem Ansatz ist allerdings nur der Aspekt der Selbstexploration (Truax, 1961) in Form einer Rating-Skala weiter ausgearbeitet worden. Eine deutsche Version ist unter dem Namen »Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der ›Selbstexploration‹ des Klienten« von Tausch, Eppel, Fittkau und Minsel (1969) veröffentlicht worden (7 Kap. 9.3.3). Die Ähnlichkeit bestimmter Annahmen hat sich für den Bereich der Selbstreflexion (»Selbstwahrnehmung«) auch empirisch bestätigen lassen: Daudert (2001) hat 51 stationäre Psycho-
6
156
Kapitel 8 · Indikationsstellung
therapiepatienten untersucht und dabei u. a. herausgefunden, dass die Selbstreflexivität, erhoben mit der »Reflective Functioning Scale« von Fonagy, Target und Steele (1998) mit der Selbstexploration, erhoben mit der Selbstexplorationsskala von Truax nach Tausch et al. (1969) r=0,53 korreliert. Wären die beiden Instrumente messfehlerfrei, betrüge die »wahre« Korrelation (Lienert, 1967) r=0,75. Diese beiden Fremdbeurteilungsinstrumente messen also zu 57% dasselbe.
8
Sowohl die Gesprächspsychotherapie als auch die psychodynamischen Psychotherapien sind einsichtsorientierte Therapieverfahren. Konzeptuelle Überschneidungen sind demnach zu erwarten. Das gilt insbesondere für die Vorstellungen von den Funktionen des Selbst bzw. Selbstkonzepts, wie sie von der Arbeitsgruppe OPD (1996) ausgearbeitet worden sind. . Tab. 8.2 zeigt die Strukturachse der OPD bzw. die Kriterien zur Einschätzung der Strukturmerkmale des Selbst. Die Anwendung dieser Skala in der Praxis wird in 7 Kap. 8.3 beschrieben. Die Beachtung der »Strukturmerkmale des Selbst« auch in der
gesprächspsychotherapeutischen Praxis und Forschung würde die Diagnostik in den beiden Verfahren einheitlicher und damit vergleichbarer machen, was nicht zuletzt auch der vergleichenden Therapieforschung zu Gute käme.
8.2.4
Die diagnostischen Kriterien für die Prognose
Die Therapieforscher haben lange Zeit geglaubt, den Stein der Weisen finden zu können. Sie haben unter den vielen denkbaren Prädiktoren für einen Therapieerfolg nach einem Merkmal gesucht, mit dessen Hilfe sie den Erfolg für jeden Patienten und unabhängig von der angewandten Therapiemethode vorherzusagen in der Lage sein könnten. Die sog. Ichstärke z. B. hatte das Schicksal vieler Prädiktoren, die als Stein der Weisen in Betracht gezogen worden sind: Ihre ersten Erforscher fanden positive Korrelationen mit dem Therapieerfolg, spätere Forscher konnten diese Zusammenhänge nicht bestätigen (Clarkin & Levi, 2004, S. 206). Heute hat man von der Suche nach solchen allgemeingültigen Prädiktoren Abstand genommen. Es ist inzwischen erkannt worden, dass der Therapieerfolg von vielen Faktoren
. Tab. 8.2. Strukturmerkmale des Selbst Merkmale
Gut integriert
Mäßig integriert
Gering integriert
Desintegriert
Allgemeine Charakteristik Struktur des Selbst in Beziehung zum Anderen; Verfügbarkeit über intrapsychisch und interpersonell regulierende Funktionen zur Erhaltung von Autonomie und Beziehungsfähigkeit
Weitgehend autonomes Selbst; regulierende Funktionen verfügbar; psychischer Binnenraum strukturiert (intrapsychische Konflikte möglich); strenges, aber integriertes Gewissen
Verfügbarkeit über regulierende Funktionen herabgesetzt; intrapsychische Konflikte sind destruktiver, archaischer; strenges Gewissen, evtl. externalisiert; Ich-Ideal überzogen
Seelischer Binnenraum und psychische Substrukturen wenig entwickelt; regulierende Funktionen deutlich reduziert; Konflikte sind interpersonell statt intrapsychisch
Kein kohäsives Selbst ausgebildet; daher bei Belastung Gefahr von Desintegration oder Fragmentierung; dem psychotischen Zusammenbruch kann psychotische Restituierung folgen
Selbstwahrnehmung Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Gewinnung von Selbstbild und Identität, zur Introspektion und Differenzierung eigener Affekte
Selbstreflexive Fähigkeiten und Identitätsgefühl grundsätzlich vorhanden, u. U. durch innerpsychische Konflikte eingeschränkt Leitaffekte: Freude, Angst, Schuld, Scham, Trauer
Schwierigkeit, Selbstbild zu gewinnen; Affekte zu differenzieren; Identität unsicher Leitaffekte: Angst, Wut, Enttäuschung; Selbstentwertung, Ambivalenz
Selbstreflexive Funktionen fehlen weitgehend, Identitätsdiffusion Leitaffekte: Chronische Angst, Wut, Depression, Leere, Entfremdung
Selbstreflexive Fähigkeiten fehlend; weitgehend fehlende soziale und sexuelle Identität (Schizophrenie) oder Überidentifizierung mit sozialen Rollen (manischdepressive Psychose)
157 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
. Tab. 8.2 (Fortsetzung) Merkmale
Gut integriert
Mäßig integriert
Gering integriert
Desintegriert
Objektwahrnehmung Fähigkeit, zwischen innerer und äußerer Realität sicher zu unterscheiden, andere Personen ganzheitlich, kohärent, mit eigenen Rechten und Absichten wahrzunehmen; Empathie-Fähigkeit
Das Bild des Gegenübers wird differenziert wahrgenommen; kann jedoch neurotisch konflikthaft gefärbt sein; Empathiefähigkeit vorhanden; auf den Anderen bezogene Affekte sind möglich (Sorge, Anteilnahme, Schuld, Trauer, Scham)
Wenig Empathiefähigkeit; konfliktgefärbte Wahrnehmung des Anderen; in Konflikten wirkt der Andere ängstigend oder droht verloren zu gehen
Fehlende Empathiefähigkeit; dem Anderen werden keine eigenen Rechte und Absichten zugestanden; der Andere wird als bedürfnisbefriedigend oder verfolgend oder unvollständig wahrgenommen
Psychotische Konfusion von Selbst- und Bildern vom Anderen; selektive Wahrnehmung; einzelner Eigenschaften des Anderen stehen für die ganze Person
Selbststeuerung Fähigkeit, mit eigenen Bedürfnissen, Affekten und Selbstwertgefühlen steuernd umzugehen; Toleranz für Ambivalenzen und negative Affekte
Steuerungsfähigkeit für Impulse, Affekte und Selbstwert grundsätzlich vorhanden, u. U. neurotisch eingeschränkt
Übersteuerung oder Impulsdurchbrüche; emotionale Flexibilität eingeschränkt; selbstentwertende, autoaggressive Tendenzen; Selbstwertregulierung schwierig; Kränkbarkeit
Impulsives Verhalten, selbstbestrafende Tendenzen, Intoleranz für negative Affekte; fragile Selbstwertregulation (große Kränkbarkeit, Größenvorstellungen)
Unzureichende Vorstellung von der Urheberschaft eigenen Handelns, u. U. massive Störungen der Selbststeuerung (Impulskontrollverluste bis zur psychotischen Erregung)
Abwehr/ Bewältigung Fähigkeit, seelisches Gleichgewicht in inneren und äußeren Konflikten durch bestimmte Abwehrmechanismen zu erhalten oder wieder herzustellen
Abwehr stabil, effektiv; gegen inadäquate Wunschvorstellungen und Affekte gerichtet; (Verdrängung, Rationalisierung, Verschiebung)
Abwehr eingeschränkt flexibel, überschießend oder versagend; selektive Wahnehmung, Wahrnehmungsverleugnung und -verzerrung, (Reaktionsbildung, Isolierung, Projektion)
Abwehr erfolgt durch Veränderung der Repräsentanzen des Selbst und der anderen; Idealisierung und Entwertung der eigenen und anderer Personen (Spaltung)
Abwehr instabil, unflexibel; es findet keine (konstante) Beziehungsaufnahme statt, (psychotische Verleugnung, psychotische Projektion)
Kommunikation Fähigkeit, sich auf andere auszurichten und sich ihnen mitzuteilen, affektive Signale des Anderen zu verstehen
Kommunikationsbereitschaft grundsätzlich vorhanden; Kommunikationsbedürfnis u. U. konflikthaft eingeschränkt oder gesteigert
Kommunikationsfähigkeit störbar; Kommunikationsbereitschaft durch gekränkte, aggressive, bedürftige etc. Haltung beeinträchtigt
Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt; Schwierigkeiten im Verstehen affektiver Signale des Anderen; Kommunikationsabrisse; Verwirrung, Missverständnisse
Fehlinterpretation affektiver Signale; alles kann kommunikative Bedeutung gewinnen
Bindung Fähigkeit, innere Repräsentanzen des Anderen zu errichten und längerfristig affektiv zu besetzen (Objektinternalisierung, Objektkonstanz); variable Bindungen; Wechsel von Bindung und Lösung; Interaktionsregeln zum Schutz der Bindung entwickeln
Es gibt positive innere Bilder von anderen Personen; unterschiedliche innere Bilder von anderen Personen erlauben grundsätzlich triadische Beziehungen; u. U. Schwierigkeit, Bindung zu verschiedenen Personen zu integrieren Zentrale Angst: Zuneigung der wichtigen Anderen zu verlieren
Es sind nur wenige positve innere Bilder von Anderen vorhanden. Die inneren Bilder beschränken sich auf wenige Muster; wunschgeleitete und dyadische Beziehungen sind vorherrschend Zentrale Angst: Die wichtigen Anderen zu verlieren
Es sind wenige positive innere Bilder von Anderen internalisiert; sie sind strafend, entwertend; es besteht eine Abhängigkeit von realen Bezugspersonen Zentrale Angst: Vernichtung der eigenen Person durch die bösen Anderen oder durch Verlust der wichtigen Anderen
Zum Schutz vor gefürchteter Verschmelzung werden Bindungen u. U. bis zur autistischen Isolation vermieden; auf regressivem Niveau können stabile Bindungen aufrechterhalten werden
In enger Anlehnung an Achse IV – Struktur der OPD: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: OPD, 1996, S. 241.
8
158
Kapitel 8 · Indikationsstellung
beeinflusst wird und dass seine Vorhersage dementsprechend komplex ist. Die prognostischen Kriterien (Prädiktoren) haben zu tun mit: 4 Den Therapiezielen: Die Prädiktoren der Reduktion einer Angstsymptomatik sind andere als die der Stabilisierung der Impulskontrolle. 4 Dem therapeutischen Setting: Die Prädiktoren des Erfolgs einer Gruppentherapie sind andere als die einer Einzeltherapie. 4 Dem therapeutischen Verfahren: Die Prädiktoren des Erfolgs einer verhaltenstherapeutischen Behandlung unterscheiden sich z. B. von denen des Erfolgs einer gesprächspsychotherapeutischen. 4 Der Behandlungsdauer.
8
Die Therapieforschung hat inzwischen eine Reihe von Befunden erbracht, die für die Praxis der Indikation bedeutsam sind: 4 Die meisten soziodemographischen Merkmale, wie Geschlecht oder Bildungsstand, haben keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Vorhersagbarkeit des Therapieerfolges. 4 Die Prädiktion des Therapieerfolges gelingt besser, 5 wenn es einen theoretischen Zusammenhang zwischen den Prädiktoren und den Merkmalen des Therapieprozesses gibt. So ist die »Psychological Mindedness« (die Fähigkeit, psychologisch zu denken) eines Patienten ein besserer Prädiktor als sein Intelligenzquotient; 5 wenn die Prädiktoren in einem theoretischen Zusammenhang mit Merkmalen der Beziehung zwischen Patient und Therapeut stehen. So scheinen die interpersonalen Probleme eines Patienten für eine Prädiktion des Therapieerfolges relevanter zu sein als das Ausmaß seiner Somatisierungstendenz. 4 Die verlässlichsten prognostischen Informationen können aus den Reaktionen des Patienten auf die für den Therapieprozess relevanten Verhaltensweisen des Therapeuten oder aus dem Gruppenprozess in probatorischen Therapiesitzungen bzw. zu Behandlungsbeginn gewonnen werden. Diese Befunde gelten für alle Therapieverfahren und auch für die Prognose des Erfolgs einer Gesprächs-
psychotherapie. Versuche, den Therapieerfolg mit Hilfe von psychopathologischen Merkmalen bzw. Diagnosen oder mit Daten aus allgemeinen Persönlichkeitsfragebögen vorherzusagen, sind weitgehend gescheitert. Als für eine Prognose geeignet erwiesen sich, wie gesagt, nur Daten aus Messinstrumenten, die Merkmale erfassen, die auch im Therapieprozess eine Rolle spielen, wie die Art und das Ausmaß interpersonaler Probleme oder Aspekte des sozialen Verhaltens, wie es durch die »Strukturelle Analyse Sozialen Verhaltens (SASB)« erfasst wird (BiermannRatjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 145–153). Die Prognose des Erfolges einer Gesprächspsychotherapie in der psychotherapeutischen Praxis wird im 7 Kap. 8.3 dargestellt. Wir beenden dieses Kapitel mit der vollständigen Transskription eines Indikationsgespräches mit einer Patientin, die von ihrer Hausärztin an eine psychiatrisch-psychotherapeutische Poliklinik mit der Bitte um die Diagnose und die Frage nach einer geeigneten Behandlung (Psychotherapie?) überwiesen worden war.
8.2.5
Ein kommentiertes Indikationsinterview: Annette P.
Im nachfolgend dokumentierten Fall (7 Beispiel) wurde die Patientin von ihrer Hausärztin an die Poliklinik einer Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie überwiesen. Die Aufgabe des Untersuchers im Rahmen seiner poliklinischen Aufgaben war ausschließlich die diagnostische Abklärung und – nach Möglichkeit – die Erarbeitung einer Behandlungsempfehlung. 4 Patientin: Annette P., 18 Jahre. Sie wird von ihrer Hausärztin wegen einer Essstörung an die Poliklinik einer psychiatrischen Universitätsklinik überwiesen. 4 Fragestellung: Abklärung der Diagnose und Behandlungsempfehlung. 4 Interviewer: J.E. 4 Besonderheiten: Das Interview fand im Rahmen eines Fallseminars statt, d. h. im Beisein von acht Studierenden der Psychologie. Die Patientin hatte sich sowohl mit der Anwesenheit der Studierenden als auch mit einer Videoaufnahme des Erstgesprächs einverstanden erklärt.
159 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
Beispiel
Erstinterview zur diagnostischen Abklärung. I Interviewer, P Patientin, K allgemeiner Kommentar, KS Kommentar zu Strukturmerkmalen im Sinne der Strukturachse, Ü nicht verbalisierte Überlegungen des I Frage/Antwort
Kommentare
I (0)
K
Der Anlass der Untersuchung und der Überweisungskontext werden erfragt.
Ü
Hat die P einen eigenen Leidensdruck?
K
Wird vom I als Zustimmung aufgefasst.
K
P hat Untergewicht: Quetelets-Index liegt mit 15,8 unter der kritischen Grenze von 17,5. Frage, ob die P selbst das auch so sieht.
K
Frage, wie und unter welchen Umständen es zur Gewichtszunahme gekommen ist → Hinweis auf Veränderungsmöglichkeiten.
P (1) I (1) P (2) I (2) P (3) I (3)
P (4) I (4) P (5) I (5) P (6)
I (6) P (7)
I (7)
P (8) I (8) P (9)
6
Was ist der Anlass, dass Sie sich hier an die Klinik gewandt haben oder geschickt worden sind? Ich bin mehr oder weniger geschickt. Sie sind mehr oder weniger geschickt worden. Und wer hat Sie geschickt? Meine Hausärztin. Hm. Finden Sie das gut? Also waren Sie damit auch einverstanden? Hm. Und was ist denn der Anlass? Warum hat denn Ihr Hausarzt geglaubt, Sie schicken zu müssen? Weil ich zu wenig Gewicht habe. Dass ich das auch nicht selbst in den Griff kriege. Ja. Wie viel wiegen Sie denn? Neunundvierzig (Kilo). Neunundvierzig. Wie groß sind Sie? Einssechsundsiebzig.
Und finden Sie das auch selbst, dass das zu wenig ist? Ja. Es ist wieder mehr geworden. Ich wog noch weniger. Also ich war bis sechsundvierzig runter. Sie waren bis sechsundvierzig runter. Aha, Und wann haben Sie das Gewicht wieder aufgeholt? In welchem Zeitraum? Die drei Kilo? In anderthalb Monaten. Und wie haben Sie das gemacht? Also ich hab’ versucht ein bisschen mehr … Also ich hab’ da zuletzt dann tagelang fast nichts gegessen, bis ich dann das mal ein bisschen gesteigert hab, also dann morgens wieder was und …
8
160
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (9)
P (13) I (13) P (14)
Und das haben Sie … Haben Sie sich dazu gezwungen, morgens etwas zu essen? Ah, also … mehr oder weniger mein Vater hat das dann. Hm, können Sie nicht essen oder ist das mit dem Gewicht auch ein Ziel … von Ihnen, dass Sie eigentlich ganz wenig wiegen möchten? Nee, ich hab’ hm … Also ich kann nicht essen, nee … Sie können nicht essen. Nee, ich kann nicht … Ich hab’ keinen Appetit. Wann hat das eingesetzt mit der Appetitlosigkeit? Hm. Oktober. Zum Herbst. Oktober letzten Jahres? Hm. (nickt) Zehn Monate.
I (14)
Hm. Was ist da passiert?
K
P (10) I (10)
P (11) I (11) P (12) I (12)
8
P (15) Meine Eltern haben sich getrennt. (Presst die Lippen aufeinander, ist nachdenklich, senkt den Kopf. Sie kämpft – erfolgreich – mit den Tränen) I (15) Hm. In welcher Form? Jetzt auch räumlich? P (16) (nickt) Also sie, hm, werden sich jetzt scheiden lassen, haben sich aber … Also meine Mutter ist ausgezogen zu dem Zeitpunkt. I (16) Hm. Nun bahnt sich ja so was an, es kommt ja in der Regel nicht von heute auf morgen, und hat eine lange Vorgeschichte. Haben Sie davon … Kam das für Sie sehr überraschend oder … ? P (17) (nickt) Ja, sehr überraschend. Also es war … I (17) Ah ja. P (18) .. aber auch für meine Eltern bzw. für meinen Vater sehr überraschend, denn es kam eigentlich so gut wie von heute auf morgen. I (18) Hm. P (19) Also für mich jetzt zumindest. 6
K
Frage nach den Ursachen der Gewichtsabnahme.
K
I erfragt die näheren Umständen der Gewichtsabnahme.
K
Gemeint ist: vor 10 Monaten hat es begonnen. I fragt nach einem auslösenden Ereignis. Die Reaktion der P lässt keine Zweifel aufkommen: Auslöser der Essproblematik ist die Trennung der Eltern.
K
K
I erfragt, wodurch die Trennung zu einem für die P so belastenden Ereignis wurde.
161 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (19)
Also der Entschluss und die Umsetzung des Entschlusses, dass Ihre Mutter auszieht, das war das Überraschende? P (20) (nickt) Ja. I (20) Heißt das denn auch, dass das für Sie kaum nachvollziehbar ist?
P (21) (nickt) Ja. Also ich kann es nicht nachvollziehen. I (21) Hm. Und was ist denn die Begründung Ihrer Mutter? P (22) Also Sie hat mir eigentlich nicht viel begründet, sondern sie meinte, … sie war nur der Auffassung, dass sie nicht mehr so leben konnte, wie sie vorher gelebt hat, und dass sie sich zu sehr eingeengt gefühlt hat. I (22) Hm. Können Sie das nachvollziehen, diese beiden, also … Ihre Mutter möchte anders leben als bisher und nennt als einen Grund: sie fühlte sich zu sehr eingeengt? P (23) Eigentlich weniger, weil ich das ja nicht so, … also ich hab’ das von mir aus jetzt nicht so mitgekriegt, dass sie sich vielleicht eingeengt gefühlt hat. I (23) Hm. P (24) Weil meine Mutter eigentlich … Also ich hab’ sie immer als eigentlich zufrieden oder glücklich gesehen … I (24) Hm. P (25) .. und deshalb ist es für mich eigentlich schwer nachzuvollziehen. I (25) Hm. Halten Sie es denn für ein vorgeschobenes Argument?
K
Die traumatisierende Wirkung von belastenden Ereignissen erhöht sich, wenn sie unerwartet und nicht vorhersehbar und – wie in diesem Fall – für die P auch nicht nachvollziehbar, auftreten.
KS P ist in der Lage, ihre Wahrnehmung von der Mutter und deren Selbstwahrnehmung klar voneinander zu unterscheiden.
Ü
I möchte erfahren, ob die noch junge P in der Lage ist, ihre Mutter als eine von ihr getrennte Person mit eigenen Interessen, Motiven etc. wahrzunehmen.
K
Hier schlägt der I eine Interpretation vor.
P (26) (Pause) … Teilweise vielleicht, ja. I (26)
6
Hm. Denken Sie denn, dass es Ihrer Mutter vielleicht selbst gar nicht so klar ist, warum Sie den Schritt gemacht hat?
8
162
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (27) (Pause) Hm. Kann schon sein, ich weiß es nicht. Also sie hat auch ’nen andern Mann jetzt und hatte ihn auch schon längere Zeit vorher und ich denke, dass das von daher vielleicht ein vorgeschobenes Argument ist. I (27) Also es gibt noch einen anderen Mann im Leben Ihrer Mutter … P (28) Ja. I (28) … als Ihren Vater. Und bevor es zu der Trennung kam, haben offenbar weder Sie noch Ihr Vater davon nichts gewusst … P (29) Nein. I (29) … dass Ihre Mutter einen Freund hat. Nun haben Sie ja sehr, sehr heftig darauf reagiert: das hat Ihnen ja sozusagen den Appetit verschlagen. P (30) Hm. I (30) Vorhin kamen Ihnen gleich die Tränen in die Augen. Hat Sie das auch sehr traurig gemacht? Haben Sie auch mit solchen Gefühlen zu tun? P (31) Ja. (nickt) I (31) Hm. Können Sie sagen, was Sie traurig macht? P (32) (Pause) Eigentlich, dass sich meine Mutter zu so ’nem, … also, ihre Person hat sich ganz und gar gewandelt für mich. I (32) Ja. P (33) Sie ist nicht mehr die, die ich kenne. Das ist es einerseits, was mich traurig macht, und dass dann halt die ganze Familie darunter … Also, da ist kein Familienzusammenhalt mehr, weil meine Eltern sich auch nicht mehr versteh’n. Wir sprechen nicht mehr miteinander, es ist also … I (33) Ja, also, wenn Sie das so sagen, würde ich das in der Form ausdrücken, dass Sie Ihre Mutter richtig verloren haben: Sie ist nicht nur räumlich weg, sondern die Person, die Sie kennen, ist Ihnen fremd geworden? P (34) (nickt) Ja. I (34) Ja? 6
K
Die P hat eine andere Vermutung als der I: Die Mutter hat nämlich eine außereheliche Beziehung verheimlicht.
Ü
I möchte nochmals den Zusammenhang zwischen dem Symptom der P und den auslösenden Ereignissen herstellen.
Ü
Die spontane »Selbstexploration« der P ist eher gering. Die P ist aber spürbar und sichtbar emotional bewegt. Kann die P es zulassen, dass ihre Gefühle benannt und Thema werden?
K
Der Antwort der P ist zu entnehmen, dass sie das vom I angesprochene Gefühl als für sich zutreffend annehmen kann.
K
Hier verbalisiert die P erstmals ein sie belastendes Gefühl »traurig« direkt.
Ü
Der I erlebt die Reaktion der P insgesamt als sehr versachlichend bzw. »vernünftig«. Deshalb will er nochmals die Belastung betonen, die P erlebt hat.
163 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (35) (nickt) Ja. I (35) Und wie reagiert Ihre Mutter darauf, dass Sie so, ja, betroffen davon sind, sag’ ich mal? P (36) Also, sie hat da gar nicht weiter reagiert. Sie hat nur bei meinem Vater durchblicken lassen, dass ich Ihrer Meinung nach da auch selbst dran schuld bin, dass ich jetzt z. B. unter so einem Gewichtsverlust leide. Dass ich mich da zu sehr reinhäng’ und dass ich dann teilweise selbst dran schuld bin, dass es mir nicht so gut geht. I (36) Das wissen Sie durch Ihren Vater? P (37) Ja, also, meine Mutter hat damit, hat darüber nicht mit mir gesprochen. I (37) Hm. Haben Sie denn überhaupt noch Kontakt seither? P (38) Wenig. Ganz wenig. I (38) Wenig. Und wie war der oder wie ist der Kontakt, den Sie haben? P (39) Ich hab’ versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden … I (39) Hm. P (40) Aber sie ist der Meinung, dass ich das nicht verstehen würde … I (40) Hm. P (41) ..und dass sie mir das irgendwann später, wenn ich älter bin, noch mal erklären wird, irgendwann, ja, und von daher … Sie, sie spricht nur Themen an, die so ganz allgemein sind … I (41) Ja. P (42) Also Schule oder solche Sachen. I (42) Ja. Ja. P (43) Aber geht da nicht drauf ein. I (43) Und wenn Ihnen Ihre Mutter so was sagt: »du verstehst das jetzt noch nicht« … Nein, ich sag mal anders ’rum: Ich denk’, manchmal tun Menschen Schritte, die sie selbst nicht gut verstehen. Kann das sein, dass Ihre Mutter eigentlich Ihnen das auch nicht erklären kann?
6
K
Der I möchte ein möglichst klares Bild von der momentanen Mutter-TochterBeziehung bekommen.
KS Der I reagiert auf diese Ausführung der P mit einer reaktiven Inkongruenz: Er geht nicht auf das ein, was die P schildert, sondern bietet der Tochter erneut (7 26) eine Interpretation des Verhaltens der enttäuschenden Mutter an, mit der diese – wie er meint – besser leben kann, als wenn sie erkennen müsste, dass die Mutter ihr jedes Mitgefühl und jede Aufklärung verweigert.
8
164
Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (44) (nickt) Das kann gut sein, ja. I (44) Also, dass sie sich selbst in dem Schritt letztlich nicht versteht? P (45) (nickt bedächtig) Kann sein, ja. I (45) Hm. Und wenn Ihnen Ihre Mutter so was sagt: «Du bist noch sozusagen zu klein«, wie fühlen Sie sich denn damit?
8
P (46) Jetzt, das ist halt für mich etwas unnormal. Ich dachte eigentlich, dass ich für so eine Erklärung auch schon alt genug bin. I (46) Ja. P (47) Ich meine, ich könnte eigentlich selbst ’ne Familie haben. Von daher könnte ich das dann, denke ich, schon verstehen … I (47) Ja. P (48) .. oder zumindest versuchen zu verstehen. Ich kann dann hinterher sagen, gut, ich verstehe es immer noch nicht, aber dass man das wenigstens versucht! I (48) Was für ein Mensch war denn Ihre Mutter bis zu dieser Trennung? Wie war Ihre Beziehung zu ihr? Hat es da eine Entwicklung gegeben?
P (49) Ja, also, sie war eigentlich offen. I (49) Hm. P (50) Also, ich konnte immer zu meiner Mutter gehen, wenn ich ein Problem hatte oder mit ihr über alles reden. Und das hat sich insofern für mich gewandelt, dass sie uns, meine Schwester, meinen Vater und mich, eigentlich mehr oder weniger betrogen hat, weil sie uns immer belogen hat mit Dingen, die sie vorgegeben hat, die sie macht und dann doch hinter unserm Rücken was anderes getan hat und … I (50) Hm. Aber das bezieht sich immer nur auf diese eine Beziehung, die dann auch zur Trennung geführt hat? P (51) Ja. (nickt) I (51) Ja. Hm. 6
K
Der I erkennt in der Situation seine Tendenz, das Verhalten der Mutter zu verharmlosen, und versucht, die »reale« Mutter wieder ins Spiel zu bringen:
K
Die P bringt ihre Enttäuschung über das Verhalten der Mutter unmissverständlich, wenn auch sehr sachlich bzw. sachlich begründet, zum Ausdruck. Der I möchte zum einen das abweisende Verhalten der Mutter verstehen. Er fragt sich nach dem »Bruch« in der MutterTochter-Beziehung. Zum anderen ist die Frage auch geeignet, den Grad der Getrenntheit von der Mutter zu verdeutlichen.
Ü
Ü
Der I fragt sich, ob sich die Aussage, sie hat uns »immer belogen«, auch auf andere Dinge als diese eine außereheliche Beziehung bezieht.
165 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (52) Also, ich hatte eine sehr gute Beziehung eigentlich zu meiner Mutter. I (52) Hm, ein Maßstab für Offenheit ist ja, dass Sie mit ihr, ja, sehr viel von dem besprechen konnten, was sie auch innerlich tatsächlich bewegt. Das ging? P (53) Hm. (nickt, presst die Lippen zusammen) I (53) Fühlten Sie sich denn von ihr verstanden auch mit Ihren Problemen? Es ist ja manchmal so ab der Pubertät häufig nicht so einfach zwischen Eltern und Kindern. P (54) Doch. (spricht leise, nickt) I (54) Doch. Das ging? Und wenn sie Ihre Mutter als Person anderen Menschen schildern müssten… wie sie vor dem Zeitpunkt der Trennung war, wie hätten Sie sie dargestellt? P (55) Hm. Ja, wie gesagt, offen, freundlich… I (55) Hm. P (56) Ja, ich weiß nicht, wie man das beschreiben soll, wie man dazu sagen kann. Warmherzig, also, eigentlich, ja …
I (56) Hm. P (57) Freundlich, also, also auch offen und (Pause) hilfsbereit. I (57) Hilfsbereit? P (58) Hm. (schaut nach unten) I (58) Hm. Woran machte sich das fest, die Warmherzigkeit und die Hilfsbereitschaft? P (59) Ja, dass sie nicht so, … hm…, jetzt meinetwegen nur auf sich bezogen war und meinte, das nutzt mir nicht, … also, nun ist mir das egal, sondern dass sie auch, … ja, erst mal geguckt hat, ob sie nicht anderen helfen … also, ob das nicht anderen nutzt oder ob sie da nicht was machen kann oder ob sie denen helfen kann. I (59) Hm. Kann das eine Rolle gespielt haben, wenn Ihre Mutter dann in der Trennungsphase sagt, sie hat sich so eingeengt gefühlt, dass sie also zu wenig an sich gedacht hat? P (60) Ich weiß es nicht. Kann sein, ja. (nickt etwas). 6
K
I möchte, dass P diese Bewertung konkretisiert
Ü
I fragt sich, ob die Beziehung wirklich eine »gute Beziehung« war
KS Diese nächste Frage dient wieder der Erkundung der Funktionen des Selbst, und zwar der Fähigkeit zur korrekten »Objektwahrnehmung« und der Bindung.
K
Der I bringt zum Ausdruck, dass er Mühe hat nachzuvollziehen, dass die aufgezählten Eigenschaften wirklich die Mutter charakterisieren. Darauf reagiert die P.
Ü
Im I entsteht das Bild einer Frau, die ihr Leben in den Dienst anderer gestellt hat.
8
166
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (60)
Hm. Was hat denn Ihre Mutter an Ihnen geschätzt?
P (61) Hm. (längere Pause, verzieht ein wenig das Gesicht) I (61) Eine schwere Frage, scheint mir. P (62) Hm. Ich denke, ich war früher mal ein sehr aufgeschlossener Mensch. Das …, ich weiß es nicht, so, sehr lebhaft. I (62) Ja. Was heißt jetzt früher? P (63) Ja, also, bevor sich meine Eltern getrennt haben. I (63) Hm. Waren Sie ihr in dem Punkt ähnlich?
8 P (64) Ein bisschen vielleicht. I (64) Hm. Würden Sie denn sagen, dass es … Das ist ja etwas Überdauerndes, nicht wahr, aufgeschlossen, lebhaft zu sein. Ist das jetzt … Sie haben das so in die Vergangenheit verlegt, dass ich zunächst dachte, Sie meinen sich als Fünfjährige. Haben Sie denn die Vorstellung, das ist jetzt ganz weg? P (65) Ganz weg nicht. Aber größtenteils, denke ich. I (65) Ja. Denken Sie denn, das hat Ihnen Ihre Mutter mit diesem Schritt weggenommen? P (66) Nee, sie sicher nicht. Aber die Situation, also die Umstände allgemein, denke ich … I (66) Hm. P (67) Nicht sie direkt. So würde ich das nicht sagen. Aber die Umstände, die das, also, die damit verbunden waren, denke ich schon. I (67) Hm. Also ich suche noch nach dem, was Ihre Mutter Ihnen als Person angetan hat, so dass Sie sagen: ich habe mich verändert! So klingt das ein bisschen für mich. Es kann sein, dass ich das zu extrem auffasse. Also, ich sag’ das mal abstrakt: Sie sagen …
6
KS Die nächste Frage des I zielt nicht nur auf die Qualität der Mutter-Tochter-Beziehung ab, sondern auch auf die Qualität der Fremd- und Selbstwahrnehmung.
K K
K
I spricht diese Reaktion im Hier und Jetzt an. P geht verbal auf das Hier und Jetzt-Angebot nicht ein, sondern auf die an sie gerichtete Frage.
Fragen nach Ähnlichkeiten mit bzw. Unterschieden von den Eltern dienen ebenfalls der Klärung des Selbstkonzepts und der Beziehung.
KS Die folgenden Fragen sind Fragen nach der Stabilität des Selbstkonzeptes.
167 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (68) Also ich hab’ mich aber nicht … Es ist mir erst hinterher so bewusst geworden, dass ich mich dadurch verändert habe. Es ist jetzt nicht so, dass ich, dass mir das von Anfang an bewusst war, dass ich mich dadurch verändere (gestikuliert). I (68) Hm. P (69) Also es ist mir eigentlich gar nicht so bewusst geworden. Also ich wurde drauf angesprochen. I (69) Ja. P (70) Also von vielen, die dann gesagt haben, ich bin zu ernst geworden … I (70) Ja. P (71) Und ich, na ja … I (71) Gut, das ist ja aber auch nahe liegend, nicht wahr? Es ist etwas passiert, was Sie sehr, sehr getroffen hat, was Sie überraschend getroffen hat, was Sie überhaupt nicht gut fanden und was eine neue Seite an Ihrer Mutter gezeigt hat, die sie nicht kannten … Ja, ist das alles? (Patientin nickt, lächelt) – Sie korrigieren mich, wenn ich Beschreibungen benutze oder verwende, die anders sind? Gut. – Das ist klar, dass Sie nicht fröhlich waren und die alte Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit an den Tag legen konnten. Aber ich hab’ Sie jetzt so verstanden, dass Sie sagen: Das hat mich auch sozusagen in meinem Wesen verändert. Ich denk’, Sie denken, Sie könnten nie wieder aufgeschlossen und … P (72) Hm. Nein, also, dass ich das nie wieder sein könnte, das denke ich nicht. I (72) So denken Sie das nicht? P (73) Nein. I (73) Hm. Würden Sie denn sagen, dass Sie einen Verlust erlitten haben durch den Weggang Ihrer Mutter?
P (74) In Bezug auf die Beziehung zu meiner Mutter? 6
Ü
Der I hat nun nicht mehr die Befürchtung, der erlittene Verlust habe zu einer tief greifenden Labilisierung des Selbstkonzepts der P geführt. Er möchte nun wissen, wie die P mit dem Verlust umgeht (Abwehrverhalten).
8
168
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (74)
P (75) I (75)
P (76)
I (76)
8
P (77)
I (77) P (78)
I (78)
P (79) I (79) P (80)
6
Ja, zum Beispiel. Wenn Sie sagen, Sie konnten mit ihr eigentlich sehr viel oder vieles bereden, das war ein gutes Verhältnis, dann ist das ja etwas, was sie verloren haben. Das geht doch jetzt nicht mehr, nicht wahr? Hm. Also das Verhältnis habe ich auf jeden Fall zu meiner Mutter verloren. Ja. Hm. Und auch anderes? Denken Sie, es ist auch noch etwas anderes verloren gegangen für Sie? Ja, vielleicht Charakterarten von mir. Wie gesagt, also, dass ich jetzt ernster geworden bin, als ich es früher war. Ja. Gut. … ich wollte spontan sagen: das ist ja etwas, was hinzugekommen ist und nicht etwas, was sie verloren haben. Ja, gut, dann habe ich die … vielleicht die Aufgeschlossenheit nicht mehr… ja, die Aufgeschlossenheit habe ich bestimmt … Ja. .. auch verloren, weil ich mich dann sehr zurückgezogen hab’, also ich hab’, hm, also ich bin auch abends nicht mehr weggegangen, weil mir einfach nich’ danach war. Ich war dann oft alleine, weil ich mich dann einfach auch zurückgezogen habe, weil ich keine Lust hatte, mich mit andern zu unterhalten. Jetzt dreh’ ich Ihre Situation mal ein bisschen: So eine Trennung bewirkt ja ganz viele Gefühle, und Sie können sie ja auch unter dem Gesichtspunkt sehen, dass Ihre Mutter Sie unvorbereitet im Stich gelassen hat. Das heißt: Haben Sie denn auch so etwas wie Wut verspürt? Zumindest kurzfristig? (Patientin nickt) – Sie nicken. Heißt das: ja? Ja. (lächelt) Ja? Wie haben Sie die erlebt? Ja, einfach durch das Verhalten, dass meine Mutter, hm, ja, gegenüber meinem Vater vorgebracht hat und gegenüber uns, also, dass sie uns das eigentlich nicht erklären wollte, das hat mich sehr wütend gemacht und …
K
Hier deutet der I eine Bewertung der P um.
K
P weist die positive Sichtweise des I nicht zurück, aber sie beantwortet zunächst die Frage des I nach dem Verlust.
Ü
Hat die P außer dem depressiven Rückzug noch andere Möglichkeiten, ihre Belastung zum Ausdruck zu bringen? Spürt sie außer der Trauer z. B. auch Wut?
169 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (80)
Haben Sie die Wut auch gespürt und auch ein Stück gelebt sozusagen?
P (81) Hm. Ja. I (81). Ja? P (82) Aber ich hab’ sie nicht ihr gegenüber ausgelebt, also ich … I (82) Ja? P (83) Ich wollte, na ja, ich, ich will es eigentlich immer noch, dass ich ihr eigentlich mal meine Meinung so richtig sagen kann … I (83) Ja. P (84) Aber das geht nicht (presst die Lippen zusammen). I (84) Sie spüren eine wütende Enttäuschung, nicht wahr: Was hast du uns oder mir angetan? (Patientin nickt) Das (zu zeigen) schaffen Sie nicht? (Patientin schüttelt den Kopf) Ist Ihnen klar, was Sie da bremst? P (85) Vielleicht, dass ich das, hm, dass sie eben irgendwo doch noch meine Mutter ist, also … I (85) Das bleibt sie ihr Leben lang.
P (86) Ja, eben. I (86) Sie bleibt Ihre Mutter, ja. P (87) Ja. Dass ich … nein, das Verhältnis, das ich vorher hatte, dass das eigentlich immer noch in mir drinsteckt, und dass ich sie … I (87) Ja. P (88) … dass ich das so nicht sagen kann. Ich weiß es nicht, woran das liegt. (Beißt sich auf die Lippen.) I (88) Hm. War das auch früher für Sie schwierig, mal auf Ihre Mutter sauer zu sein, wenn Sie durch Anordnungen oder Verweigerungen oder … konnten Sie nie sauer sein auf Ihre Mutter? P (89) Doch. (nickt) I (89) Doch? P (90) Früher ja. Das war kein Problem. I (90) Früher war es kein Problem. Jetzt ist es ein Problem? P (91) Ja. 6
K
Die P wirkt in der Interviewsituation weiterhin ausgesprochen kontrolliert. Der I hat Probleme, sich die P offen wütend vorzustellen.
K
Der I fürchtet offenbar eine Rationalisierung und versucht diese durch eine Konfrontation zu unterbinden.
K
Diese Feststellung der P stimmt mit dem Eindruck des I überein. Er erkundigt sich nach früheren Erfahrungen von Wut auf die Mutter.
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170
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (91) P (92)
I (92)
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P (93)
I (93) P (94) I (94) P (95)
I (95)
6
Ah ja, dann sollten wir dem mal nachgeh’n, warum das so ist. (Pause) Wer weiß, vielleicht liegt es daran, dass ich … ich hör’s … also ich hab’ dabei immer verschiedene Varianten, wie es denn eigentlich ist oder wie es eigentlich war oder wie es dazu gekommen ist. Ich hör’ es von meinem Vater, und ich hör’ es von meiner Mutter. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich ihr nicht Unrecht tu’, wenn ich ihr, ja, sozusagen irgendwas vorwerfe, was vielleicht doch nicht so ist, weil ich es von meinem Vater gehört hab’ oder weil ich mir meine eigene Meinung dazu gebildet hab’. Dann sind Sie aber ganz auf der – sozusagen – »Erwachsenenebene«, wenn Sie sich fragen: Ist es gerechtfertigt, dass meine Mutter sich von meinem Vater trennt. Das ist ja … Sie selbst sind ja auch betroffen und die Frage ist, wenn Sie an Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter denken und an den Verlust, den Sie erlebt haben, und das, was Ihre Mutter Ihnen mit diesem Schritt angetan hat, wie … (Pause) Ja, so habe ich es … also so sehe, so hab’ ich es jedenfalls noch nicht geseh’n. Also ich hab’s eigentlich immer erst von dem Standpunkt aus geseh’n, dass ich … Dass die Ehe auseinandergegangen ist. Ja. Und dass ich Angst hatte, ihr dann eben was Falsches vorzuwerfen, was … Ja. Und Ihr damit Unrecht zu tun, was eigentlich nicht der Fall war oder was dann nicht stimmt. Ja. Das ist eine sehr übliche Form der Reaktion: … Es wird die Schuld gesucht oder der Schuldige bestimmt. Aber darüber gehen manchmal ganz wichtige Erfahrungen und auch Gefühle verloren. Und ich möchte Sie noch mal darauf hinweisen: Sie haben einen Verlust erlitten, und um den weinen Sie bzw. können darüber nicht richtig weinen. (Patientin schweigt)
Ü
Die P intellektualisiert und rationalisiert und entfernt sich von ihrem unmittelbaren Erleben. Der I muss sie darauf hinweisen und beachten, ob sie zu einer entsprechenden Reflexion ihrer Verhaltens in der Lage ist.
K
Entscheidend ist für die P nicht der Schmerz, den sie erleidet, sondern die Angst, sie könnte dafür jemanden fälschlicherweise verantwortlich machen. Das sollte der I ihr – aus einer gewissen Fürsorge heraus – auch sagen.
171 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (95)
Also ich will Sie ermutigen, in dem Punkt ganz egozentrisch zu sein und sich zu fragen: Was tut mir weh? Und das sollten Sie zum Ausdruck bringen. – Es geht nicht um Schuld. P (96) (schüttelt etwas den Kopf) Ja, aber ich weiß nicht, ich glaube, ich kann es trotzdem nicht so …
I (96) Hm. P (97) … so vorwerfen. Ich weiß es nicht. (schüttelt den Kopf) I (97) Nein. Es geht nicht um Vorwerfen, sondern darum, das, was ist, zum Ausdruck zu bringen: dass Ihnen diese Trennung sehr weh getan hat. Sie bringen es ja zum Ausdruck, aber auf so eine selbstschädigende Art und Weise, indem Sie nicht mehr essen können. (Patientin schweigt) Noch mal: Ich will Ihnen jetzt eigentlich nicht zu irgendwas (raten): … Sie sollen das oder jenes tun und lassen, obwohl ich merke, dass ich etwas dahin gerutscht bin … Es geht darum, dass Sie sich nicht aus dem Auge verlieren sollten, dass es nicht nur darum geht, ob es gerechtfertigt ist, dass Ihre Mutter aus der Ehe rausgegangen ist, also die Familie verlassen hat, sondern dass es für Sie genauso wichtig ist – wenn nicht wichtiger – festzustellen: Was hat mir das getan? Und da spielen Rechtfertigungen keine Rolle. Nun haben Sie ja – deswegen bin ich so darauf angesprungen – gesagt: Ich spüre zwar Wut, aber ich kann sie im Gegensatz zu früher nicht zum Ausdruck bringen. Und die Frage war, warum eigentlich nicht? P (98) Ja, also, es ist für mich, dann, … also für mich persönlich wäre es sehr gut. Aber ich weiß es nicht, warum nicht! I (98) Hm. Hätten Sie denn – was ja nahe liegt – die Befürchtung, dadurch Ihre Mutter sozusagen ganz zu verlieren? (Patientin nickt etwas). Dass also der Kontakt abbricht? 6
K
Diese engagierte Einlassung des I ist inadäquat, denn die P beginnt sich ihm gegenüber zu rechtfertigen, dass sie das, was er für richtig hält, nicht leisten kann.
K
Der I wird sich seiner reaktiven Inkongruenz bewusst und versucht, sein Verhalten zu erklären.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (99) Das kann sein, ja. (nickt)
I (99)
P (100)
8 I (100) P (101) I (101)
P (102)
I (102) P (103) I (103) P (104) I (104) P (105) I (105) P (106) I (106) 6
Hm. Also, das vermute ich auch, denn … Ihre Mutter hat ja einen überraschenden Schritt getan, den Sie nicht vorhersehen konnten. Und ich denke, die Befürchtung taucht auf, wenn Sie sagen oder zeigen, wie wenig Sie damit einverstanden sind und wie sauer Sie sind und wie verletzt Sie sind, dass Ihre Mutter dann auch wieder einen ungewöhnlichen Schritt macht und sich sozusagen ganz zurückzieht. (lange Pause) Das war auf jeden Fall bei meinem Vater so: Mein Vater hat das rausgelassen, was ihn daran gestört hat, was ihn verletzt hat … Hm. und daraufhin hat sie eben, ja, sozusagen, den Kontakt ganz abgebrochen zu ihm. Ah ja. Das gibt ja Ihren Befürchtungen Nahrung. (Patientin schweigt, nickt leicht mit dem Kopf) Hm. Also, dann haben Sie wenig Kontakt zu Ihrer Mutter, Ihr Vater gar nicht und Ihre Schwester? Meine Schwester etwas mehr als ich. Also das liegt daran, dass, wenn meine Mutter anruft, meistens nur meine Schwester zu Hause ist. Und, ja, Sie unterhält sich dann eben mehr mit meiner Mutter, als ich es tu’. Das habe ich noch nicht verstanden. Wieso ist Ihre Schwester mehr zu Hause? Ja, also, weil ich mehr unterwegs bin in der Woche, wenn ich länger Schule hab’ … Ach so. Weil sie eben nur dann anruft, wenn mein Vater nicht da ist. Ach so. Und da … Ist Ihre Schwester älter als Sie? (nickt) Ein Jahr, ja. Ein Jahr älter. Und geht die nicht mehr zur Schule oder wie? Sie macht jetzt Abitur. Und wie geht es Ihrer Schwester? Hat die auch so heftig darauf reagiert?
Ü
Der I spürt im Kontakt mit der P, dass sie vor allem Angst hat. Er findet es wichtig, ihr das zu ihrem Verständnis anzubieten.
K
Im folgenden Teil geht es um die Schwester der P und um die Beziehung zu ihr.
173 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (107) (schüttelt ein wenig den Kopf) Nein, meine Schwester ist eher ein Typ, der das nach außen nicht zeigt. I (107) Hm. P (108) Also, ich weiß es nicht … deshalb kann ich nicht sagen, wie sehr sie das getroffen hat oder nicht, weil sie das nach außen hin nicht zeigt. Also, sie hat sich, würde ich sagen, nicht verändert dadurch. I. (108) Hm. P (109) Äußerlich zumindest. I (109) Hm. Und können Sie mit Ihrer Schwester darüber sprechen? Also: Teilen Sie Ihre Gedanken, das, was Sie so bewegt, mit Ihrer Schwester … P (110) (nickt) Ja. I (110) oder ist das schwierig zwischen Ihnen? P (111) Teilweise ist es schwierig, aber, doch, größtenteils schon. I (111) Wie bewertet Ihre Schwester die Trennung? Ist das so ähnlich, wie Sie das sehen? Dass Sie es eigentlich nicht verstehen? P (112) Also, sie bewertet das eigentlich gar nicht, weil sie jemand ist, der eigentlich mehr zuhört und dazu aber nichts sagt, denk’ ich. Also, sie bewertet das wahrscheinlich nicht genauso, wie ich es sehe, dass meine Mutter uns … eben halt … im Stich gelassen hat oder wie auch immer. Sie bewertet das ganz sicher nicht so hart. Aber ich denke schon, dass sie meiner Mutter auch Vorwürfe macht. Denke ich schon. I (112) Hm. Aber sie ist nicht bedrückt? P (113) Nein. (schüttelt den Kopf) I (113) Hm. Hat sich denn Ihre Beziehung zu Ihrem Vater geändert seit der Trennung?
P (114) Nee, find’ ich nich’. (schüttelt den Kopf) I (114) Hm. Wie würden Sie denn Ihre Beziehung zu Ihrem Vater beschreiben? 6
K
Die P versucht, ihre Schwester objektiv und sachlich darzustellen. Sie vermeidet, wie schon bei der Schilderung der Mutter, Bewertungen. Die folgenden Fragen beziehen sich auf den Vater, seine Reaktion auf die Trennung und die Beziehung der P zu ihm.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (115) Auch so, wie das Verhältnis eigentlich zu meiner Mutter vor der Trennung war: Also wir sprechen eigentlich über alles. I (115) Hm. P (116) Also ich kann auch immer zu ihm kommen, egal, wann oder was ich für Probleme hab’. Es ist eine sehr gute Beziehung, denk’ ich. I (116) Hm. Der Auszug Ihrer Mutter ist ja jetzt so ein gutes Dreivierteljahr her, nicht wahr? Wie geht es denn Ihrem Vater damit? P (117) Besser jetzt inzwischen, wieder. Also es … Am Anfang hatte er, denke ich, große Schwierigkeiten, damit fertig zu werden, weil meine Mutter auch ein paar Sachen … Also unser Wohnzimmer war danach ziemlich kahl, und das hat, glaube ich, meinen Vater ziemlich getroffen, auch noch. Also die Leere dann halt und auch noch zu sehen, also zu sehen, dass meine Mutter eben ausgezogen ist, und dass Sie eben die Dinge mitgenommen hat, das hat ihn, glaube ich, schon ziemlich getroffen. I (117) Hm. Auch Möbel oder nur Gegenstände aus der … P (118) Möbel und Gegenstände. I (118) Ja. Also so deutlich und klar war der Weggang Ihrer Mutter, dass auch in der Wohnung sozusagen eine Leere entstand? P (119) (nickt) Hm. I (119) Hm. Und jetzt kann er aber damit besser umgehen. Oder? P (120) (nickt) Ja. I (120) Ja. Hat sich das in seiner Stimmung gezeigt? P (121) Ja. Mein Vater war, am Anfang, also, zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter eben ausgezogen war, als … I (121) Ja. P (122) … für ihn kam das eben auch überraschend. Da war er schon sehr depressiv und er hat auch Medikamente dagegen gekriegt. I (122) Hm. P (123) Und, hm, ja, er war dem Alkohol etwas zugeneigter als sonst. I (123) Hm. Und das ist alles wieder zurückgegangen? 6
175 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (124) (nickt) Ja. I (124) Hm. Und wie ist das mit der formellen Regelung (der Trennung)? Ist die Scheidung eingereicht?
P (125) (nickt) Ja. Mein Vater hat die Scheidung eingereicht. I (125) Die Scheidung schwebt noch sozusagen? P (126) Ja. I (126) Hm. Sind Sie denn damit einverstanden? P (127) (Pause) Ja, weil ich denke … das ist, wenn … Sie ist ausgezogen und sie lebt nun mit ’nem andern Mann zusammen, und da, denke ich, ist es dann noch … spielt es eigentlich im wesentlichen auch keine Rolle mehr, ob sie nun geschieden sind oder … I (127) Ja? P (128) … also formell geschieden sind oder nicht. I (128) Also meine (eigentliche) Frage ist, ob Sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass es vielleicht noch mal zu einer Versöhnung kommt. P (129) (nickt spontan) Ja! I (129) Hm. Kennen Sie den neuen Freund Ihrer Mutter? P (130) (nickt) Ja. I (130) Und haben Sie dazu Gefühle entwickelt? P (131) (lächelt) Ja, also, ich mag ihn nicht, nee, also … I (131) Hm. Ja. Jetzt übertreibe ich mal wieder mit dem Bild, das ich jetzt benutze: Ist es so, dass Sie irgendwie die einzige in der Familie sind, die noch wirklich nachhaltig darunter leidet? Ihrer Mutter geht’s gut, die hat einen neuen Freund, Ihr Vater hat einen Schlussstrich gezogen, Ihre Schwester hat sowieso, zumindest nicht sichtbar, das ganz gut weggesteckt und Sie quälen sich mit Appetitlosigkeit und Freudlosigkeit ’rum. P (132) Ja, also, das würd’ ich schon sagen. Also ich bin die, auf jeden Fall, die es im Moment noch am meisten betrifft. 6
K
Es scheint so, als habe der Vater am deutlichsten seine Enttäuschungs- und Verlassenheitsgefühle zum Ausdruck gebracht. Allerdings scheint er aufgrund eigener Betroffenheit seiner Tochter nur wenig emotionalen Halt hat geben können.
KS Mit der nachfolgenden Frage versichert sich der I, ob die P der Realität unangemessene Wunschvorstellungen hegt.
K
Mit den nachfolgenden Fragen versucht der I, die Familiendynamik – auch in einem systemischen Sinne – zu erfassen.
8
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (132) Ja, ist das eine Rolle, die Sie schon immer in der Familie hatten? (Patientin schweigt) Dass Sie sozusagen den Kummer (der Familie) ausgedrückt haben, den es natürlich auch schon vor der Trennung gab? P (133) (schüttelt den Kopf) Eigentlich weniger, nein. I (133) Nicht so? P (134) (schüttelt wiederum den Kopf) Nein. I (134) Hm. Wenn Sie sich wünschen könnten, die Menschen zu etwas zu bewegen … was würden Sie sich denn aus ihrem jetzigen inneren Zustand heraus wünschen … würden Sie die Menschen wieder zusammenbringen wollen? P (135) (lange Pause) Hm. So wie sie jetzt, wie sie (die Menschen) jetzt sind? I (135) Ja. P (136) Glaube ich nicht. I (136) Nicht? P (137) Weil ich denke, dass sich beide dafür zu doll verändert haben. I (137) Ja? P (138) Also zumindest meine Mutter, auf jeden Fall. I (138) Ja. P (139) Und ich denke, dass es nicht gut gehen würde, wenn man sie jetzt wieder zusammenbringen würde. I (139) Ja. Das klingt ja so, als ob Sie sehr die Endgültigkeit dieser Situation sehen, nicht wahr? Hm. Was denken Sie denn, wofür Ihre Appetitlosigkeit steht? (Patientin schweigt) Eine schwere Frage? P (140) Hm. (Pause) I (140) Aber manchmal hat man ja doch Zugang und spürt das Gefühl, was sich darin ausdrückt. P (141) (längere Pause) Ich weiß nicht. Vielleicht liegt es, hängt es damit zusammen, dass ich eben nicht mehr so aufgeschlossen oder auch fröhlich bin wie sonst, also, dass es damit zusammenhängt. 6
K
Nach diesen klaren Ausführungen der P war der I überzeugt davon, dass die P eine realitätsgerechte Auffassung der familiären Situation entwickelt hatte. Er bringt nochmals das Symptom (Essstörung) ins Spiel, um auch die Behandlungsbedürftigkeit abschätzen zu können.
177 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (141) Hm. Dass sich eigentlich Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit in Form von Appetitlosigkeit ausdrückt? P (142) Hm. (nickt etwas) I (142) Haben sich Ihre Träume verändert? (Patientin schweigt) Also träumen Sie Dinge, die im Zusammenhang stehen mit Ihrer jetzigen Situation? P (143) (kurze Pause) Ja, klar, also, ich, wünsche mir natürlich, dass ich das mit der Appetitlosigkeit irgendwann mal wieder loswerde, weil ich eigentlich gerne essen möchte, aber eben nicht essen kann. I (143) Hm. P (144) Aber, also im Allgemeinen, haben, dass es sich im Allgemeinen nicht … I (144) Hm. Was wäre denn, wenn Sie wieder kräftig und voller Appetit wären?
P (145) Ja, ich weiß nicht, dann, denke ich, werde ich, hm, lebenslustiger oder, hm, ja, ermutigter irgendwie, also nicht so lustlos wie ich es im Moment bin. I (145) Hm. P (146) Also mehr … I (146) Hm. Ist da was auch Verbotenes dabei? Oder gefährliches, wenn Sie wieder lebenslustig wären? P (147) (schüttelt den Kopf) Nein. I (147) Nein, hm. Haben Sie selbst einen Freund?
(schüttelt den Kopf) Im Moment nicht, nein. Hm. Es gab schon mal einen? Ja. (nickt) Sie waren auch schon mal richtig verliebt? Ja. (nickt, lächelt) Und wer ist denn für Sie im Moment die wichtigste Person? P (151) (Pause) Also einerseits meine Schwester … I (151) Hm. 6 P (148) I (148) P (149) I (149) P (150) I (150)
Ü
Vielleicht hat die P Träume, in denen sie ihre Erfahrungen symbolisiert.
K
Auf diesen Weg lässt sich die P nicht ein. Sie bringt jedoch bezüglich ihres Symptoms einen klaren Veränderungswunsch zum Ausdruck.
K
I fragt die P, ob sie eine bestimmte Funktion ihres Symptoms erkennen kann, die dazu beiträgt, dass es auch Sinn macht, das Symptom nicht aufzugeben.
K
Der I geht im Folgenden der Vermutung nach, dass sich die P unbewusst in eine Situation gebracht hat, die es unwahrscheinlich macht, dass sie sich, so wie die Mutter, von der Familie bzw. vom verlassenen Vater wegbewegt
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (152) Mein Vater und, und, ja, eine Freundin von mir. I (152) Hm. Und haben sich andere Beziehungen verändert, deutlich verändert? Also sie haben sich ja mehr zurückgezogen, haben Sie erzählt. Ist dadurch etwas kaputtgegangen an Beziehungen oder Freundschaften, z. B. in der Schule? P (153) Ja, also, ich war ziemlich gut befreundet mit zwei Jungen aus meiner Klasse … I (153) Hm. P (154) … aber ich hab’ mit denen jetzt eher weniger Kontakt, weil ich einfach mich nicht mehr so mit denen verstehe, wie ich das mal getan habe. I (154) Hm. P (155) So von daher, also, ich bin noch nicht … also, früher war ich ziemlich eng mit einem aus meiner Klasse befreundet … I (155) Hm. P (156) … aber das hat sich jetzt auch so … (Es sind jetzt) mehr oberflächliche Freundschaften … I (156) Hm. P (157) Also sie sind wohl nicht mehr so intensiv, wie sie mal waren. I (157) Wie sind denn früher Ihre Freundschaften zu Jungen von Ihrer Mutter, aber auch Ihrem Vater aufgenommen worden? P (158) Ganz normal eigentlich, also. I (158) Hm. Also ich sag’ zunächst einmal den Hintergrund meiner Frage: Also, manche Väter halten es ja nun überhaupt nicht aus, wenn Ihre Tochter mit einem Freund ankommt. (Patientin lächelt) Und war so etwas von Ihrem Vater ausgehend? P (159) (schüttelt den Kopf) Nee, gar nicht. I (159) Gar nicht – und er hätte auch, wenn Sie … also ich bin immer noch bei der Frage, warum Sie eigentlich diejenige sind, die am meisten betroffen ist. P (160) Hm. I (160) Würde denn Ihr Vater in der jetzigen Situation, wo ihn ja seine Frau verlassen hat, es gut aushalten, wenn Sie einen Freund hätten, sich auch nach … so mehr zu seiner Familie hin orientierten und deutlich machten, dass es Ihnen damit gut geht? 6
179 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (161) Ja, also, er fand’ es also … Ich war noch mit meinem Freund zusammen, als das mit meinen Eltern (passierte), also, sie sich getrennt haben, und in der Zeit danach war ich also am Wochenende meistens auch bei ihm mit in der Familie. I (161) Ja. P (162) Also da so als Familienmitglied eigentlich integriert. I (162) Hm. P (163) Also es war schon ’ne ziemlich intensive Freundschaft, aber, also, mein Vater meinte, dass er das gut fand’, dass ich mich da so wohlfühle, und dass ich da auch so Halt finde. Also, was heißt Halt, also, dass ich da einen Ersatz, eine Familie, sozusagen, eine intakte Familie finde, glaube ich. Also, er fand, er hat das jedenfalls mal gesagt, dass er das gut findet und er da also keine Bedenken hatte, irgendwie oder … I (163) Mich stimmt sehr bedenklich, dass Sie (diese Beziehung) doch aufgegeben haben, oder nicht? P (164) Ja. (nickt leicht) Ja. Aber das, also das waren andere Gründe, also … I (164) Ja. P (165) … ich hab’ mich nicht mehr so mit meinem Freund verstanden, wie ich’s mal getan hab. Und, na, ich hielt es für besser, mich dann von ihm zu trennen. (nickt) I (165) Also diese Freundschaft ist nach der Trennung Ihrer Eltern auch auseinandergegangen? P (166) (nickt) Ja. I (166) Hm. Und Sie sehen da keinen Zusammenhang? P (167) Nein, weil ich denke, dass das aus einem anderen Grund auseinandergegangen ist. Also, vielleicht, weil ich mich eben dadurch verändert habe. Und wenn man sich verändert, dann hat das vielleicht auch Auswirkungen auf ’ne Beziehung. Und ich denke, dass … I (167) Ja. 6
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (168) … es bei mir so war, dass ich mich verändert hab’. Dass ich einfach nicht mehr mit ihm so zusammengepasst hab’, wie ich es mal getan hab’, oder dass wir uns so verstanden haben, wie wir uns mal verstanden haben. (presst die Lippen zusammen) I (168) Hm. P (169) Also ich denke, einen Zusammenhang gibt es da bestimmt. I (169) Ja, Ich würde Ihnen … Ich vermute ihn nur woanders, als Sie es tun. Also Sie sagen, ich bin so getroffen gewesen, habe mich daraufhin sehr zurückgezogen, und damit ist auch ist die Freundschaft anders geworden. So sehen Sie das, nicht wahr? P (170) (unterbricht) nee, es ist nicht nur das Zurückgezogene. Auch, dass ich, ja, die Art, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Also … (überlegt): Ich würde sagen, ich lebe jetzt anders als ich vorher gelebt hab’. Also, ja, eben, wie man so sagt, ich weiß nicht, ernster eben und das … I (170) Ja? P (171) … das ist nicht nur das Zurückgezogene, sondern auch das ernster Werden. (beißt sich auf die Lippen) I (171) Ach so – Hm. Das hab’ ich, glaub’ ich, noch nicht ganz verstanden, was Sie mit »ernster« meinen. P (172) Ja, dass mir, also z. B. Schule war mir früher nicht sehr wichtig, das war mir auch nicht sehr ernst. I (172) Hm. P (173) Aber dass sich solche Dinge z. B. jetzt total verändert haben. Also das mit der Schule ist schon ziemlich wichtig, ist mir auch ernst. I (173) Ja. P (174) Und dass man also, ja, solche Dinge eben, dass die mir wesentlich ernster sind, als sie früher waren. Und das, so was mein’ ich damit, also ernster. I (174) Hm. P (175) Also, dass ich das nicht so locker nehm’, sondern dass ich … (Pause) 6
K
Die vom I eingebrachte Vermutung, die P ziehe sich aus Freundschaften zurück, um dem Vater zu versichern, dass sie ihn nicht verlassen werde, teilt die P nicht. Sie betont ihr »ernster Werden« und dass sich diese Veränderung nicht mit der bis dahin bestehenden Freundschaft vertrug.
181 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (175) (Interviewer wendet sich an die anwesenden Studenten) Ich frag’ Sie mal einfach: Verstehen Sie genau, was mit ernster gemeint ist? Studen- Ich hab’ das so verstanden, dass Sie so die tin: Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren haben, und dass der Freund das eben nicht hat, dass es dann nicht mehr so passte. I (176) Ach so. Hm. (Zur Patientin gewendet): Ja? P (177) (nickt) Ja. Studen- Dass er sich vielleicht auch alleingelassen tin: gefühlt hat in diesem ernster Werden, dass er das gar nicht so mitfühlen konnte. I (177) Also, dass Sie, … (Interviewer sucht nach Worten) ja, ah ja, nun fehlen mir selbst die Vokabeln: (Verstehe ich Sie richtig), dass Sie sozusagen nicht unreflektiert irgendwelche Beziehungen leben wollen, sondern sich sagen: Ich muss mit mir und meinem Leben klarkommen. Das bedeutet auch einen Rückzug von Freundschaften, die man eingeht, wenn man verliebt ist oder so. Dass Sie sich jetzt mehr mit der Frage auseinandersetzen, wer bin ich denn da eigentlich, wenn ich ohne Beziehung bin? P (178) (nickt) Ja. I (178) Und dazu gehört auch, dass die Schule für Sie wichtiger geworden ist als früher? P (179) Ja.
Um Sequenz 180–182 gekürzt I (183) Was denken Sie denn, könnten Sie an Hilfe gebrauchen, in Ihrer jetzigen Situation? 6
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Dem I wird deutlich, dass er zu wenig beachtet hat, welche Ängste der Weggang der Mutter bei der P ausgelöst hat. Offensichtlich ist ihr erst dadurch bewusst geworden, welche Enttäuschung und Verletzungen Beziehungen mit sich bringen können. Der folgende Teil des Interviews befasst sich mit den Möglichkeiten und Vorstellungen der P, ihr Essproblem zu bewältigen. Ferner wird sie gefragt, ob sie sich mehr eine Behandlung des Symptoms oder der dahinter liegenden Probleme wünscht:
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (184) (lange Pause) Wenn ich das wüsste! Keine Ahnung. Also auf jeden Fall Unterstützung, damit ich mein Gewicht eben halten kann, also … I (184) Hm. P (185) Dass ich erst mal wieder zunehme, und dass ich das dann auch halten kann. I (185) Da sagen Sie, der Umstand, dass Ihr Vater darauf besteht, dass Sie frühstücken, hilft schon etwas. Etwas, … P (186) (nickt) Ja. I (186) … aber nicht ausreichend, kann man das so sagen? P (187) Ja. Nun ist mein Vater aber den ganzen Tag nicht da. Also, es ist so, dass es … wenn ich keinen, wirklich keinen Hunger hab’, dass dann auch mein Vater da nich’ viel ausrichten kann. I (187) Hm. Und können Sie das irgendwo dran festmachen, was dazu führt, dass Sie gar keinen Hunger mehr haben? Denn es gibt ja offenbar auch Zeiten, wo Sie schon ein bisschen Appetit haben. P (188) (kurze Pause) Hm. Ich weiß nicht. Manchmal ist es schon so, wenn ich gar keinen Appetit … Dass ich das dann auch einfach vergesse. I (188) Ja. P (189) Also weil ich dann tagsüber in der Schule bin und dann nachmittags noch irgendwas vorhabe oder … I (189) Hm. P (190) So dass ich das dann einfach, ja, nicht vergesse, aber mich nicht dazu durchringe, dann irgendwie zwischendurch etwas zu essen oder so. I (190) Hm. P (191) Ja, morgens dann vielleicht, irgendwie … Ich weiß nicht, wenn mein Vater dann noch da ist, dass ich mich dann doch soweit durchringen kann, dass ich irgendwie was esse. Aber ich danach das nicht ernst genug seh’ oder verbissener daran geh’ und sage: ich muss was essen oder … ich weiß nicht, woran man das festmachen kann, ich weiß es nicht! 6
183 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (191) Das letzte habe ich nicht verstanden: Sie müssten das verbissener sehen? P (192) Ja, dass ich mich wirklich zwinge, irgendwas zu essen, dass ich das … I (192) Ja. P (193) … solche Dinge, also. P (194) Ich weiß nicht. Ich schätze, vielleicht ein bisschen mehr, aber ich weiß nicht, wie sehr ich mich zwingen müsste. Also ich tu’s nicht oft. I (194) Hm. Aber wenn Sie sich zwingen, können Sie sich dann auch erfolgreich zwingen? P (195) Hm. (nickt) Ja. (zögernd) I (195) Ja? P (196) Also es kommt drauf an. Manchmal ja, manchmal auch nicht. I (196) Manchmal auch nicht. Hm. Und was könnte Sie denn dazu bringen, dass Sie sich mehr zwingen? P (197) (schüttelt den Kopf) Weiß ich nich’. I (197) Hm. P (198) Kann ich nich’ sagen. I (198) Was sagt denn Ihre Ärztin? Wieviel sollten Sie wiegen, damit Ihr Kreislauf und andere Dinge nicht gefährdet sind? P (199) Das hat sie mir so gar nicht gesagt. Sie hat mich einfach nur angeguckt und hat mich dann überwiesen, das war so … I (199) Ja? P (200) … ein Gewicht hat sie eigentlich nicht genannt. Sie meinte: erst mal nur zunehmen! I (200) Ja. P (201) Also. I (201) Und haben Sie eine Idealvorstellung für Ihr Idealgewicht? P (202) Also ich wog früher, achtundfünfzig bis sechzig, damit war ich zufrieden. I (202) Ah ja. Also rund zehn Kilo mehr als jetzt. P (203) (nickt) Ja. I (203) Hm. Und ist Ihnen gesagt worden, welche Untergrenze Sie auf keinen Fall unterschreiten sollten, damit Sie keine Gesundheitsschäden nehmen? P (204) Also mir wurde gesagt, bei meiner Größe wäre, also … alles was so unter fünfzig und achtundvierzig wäre, wäre dann schon … 6
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (204) Ja. P (205) … also ein bisschen doch im gefährdeten Bereich. I (205) Hm, d. h. es würde genügen, wenn Sie sich zwingen, dass Sie fünfzig Kilo erreichen? P (206) (nickt ein wenig) Hm. I (206) Ja. Könnten Sie sich das denn vorstellen? P (207) (längere Pause) Ja, ich denke … also ich fand’ es jetzt schon schwer, das mit den drei Kilo so zu schaffen, dass ich jetzt annähernd an die fünfzig herankomme. I (207) Hm. P (208) Aber ich, ich weiß nicht, ich könnt’ es mir schon vorstellen, aber ich denk’, es wird, glaube ich, viel Zwang erfordern. I (208) Hm. Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht oder Vorstellungen dazu entwickelt, wie eine Behandlung aussehen könnte und ob sie überhaupt eine haben möchten? P (209) (kurze Pause) Also, dass ich eine haben möchte (überlegt einen Moment) … Ich denke, dass ich mir alleine nicht mehr so helfen kann. I (209) Ah, ja. Hm. P (210) Aber wie Sie konkret aussieht, also, eine Vorstellung hab’ ich nicht. I (210) Hm. Na ja, ich denke, es ist zu klären, ob Sie sich vorstellen, eine Behandlung sollte sich sehr darauf konzentrieren, dass sich Ihr Essverhalten wieder normalisiert und dass Sie auf ein einigermaßen vertretbares Gewicht kommen oder … könnten Sie sich vorstellen, dass Sie zu jemanden gehen, wo Sie Gespräche führen, in denen Ihre Gesamtsituation, Ihre seelische Gesamtsituation, also auch Ihre Stimmungen und so, Thema werden? Oder auch die Fragen, die ich bereits aufgeworfen habe, z. B. die, was Sie jetzt daran hindert – was sie früher ja konnten – Ihrer Mutter zu sagen: Das hat mich sehr verletzt, liebe Mutter, denn ich fühle mich von dir im Stich gelassen, es macht mich auch wütend, all’ so was … Ich habe Ihnen zwei Möglichkeiten wie zwei Pole dargestellt. Könnten Sie sich vorstellen, welcher Ihnen lieber wäre? Oder möchten Sie beides, das wäre ja auch vorstellbar? 6
185 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (211) Hm. Ich denke, beides wäre, würde ich sagen, vielleicht noch am besten. Ich weiß nicht, ob ich, ob, also … Ich denke auf jeden Fall, die zweite Variante wäre … I (211) Hm. P (212) .. erforderlich, weil ich denke, wenn ich mich mit meiner Situation mehr auseinandersetze, dass ich dann vielleicht auch dadurch mein, ja mein Essproblem … I (212) Ja? P (213) … in den Griff kriege. I (213) Ja. P (214) Also ich weiß nich’, ob es dann wirklich ausreicht. I (214) Hm. Gibt’s beim Essproblem mehr als diese Appetitlosigkeit, die dann auch zu Ihrem Untergewicht führt? Manche müssen sich nach jedem Essen automatisch übergeben. Haben Sie solche Probleme? P (215) Hm. Die hatte ich. Ja, also eine Zeitlang war es so, dass ich, wenn ich was gegessen hab’, dann … I (215) Hm. P (216) Das sofort wieder losgeworden bin, eigentlich. I (216) Hm. Und hat der jetzige Zustand andere Körperfunktionen beeinträchtigt? Ist die Regel weggeblieben? P (217) (nickt) Ja. Also als ich auf diesen sechsundvierzig Kilo war. I (217) Damals war es so? Und jetzt? P (218) Ist es wieder, hat sich wieder normalisiert.
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Das Interview endet mit einigen Fragen der anwesenden Studierenden zum Essverhalten in der Familie. Der I sagt der P, dass er ihr zu einer zeitlich begrenzten Psychotherapie rät und ihr eine Therapeutin empfehlen wird. Er nennt ihr einen Tag später die Anschrift einer Gesprächspsychotherapeutin. Über das Ergebnis der Indikationsstellung für eine Gesprächspsychotherapie wird später (7 Kap. 8.3.4) berichtet.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.2.6
Auswertung des Indikationsinterviews
Das Interview sollte zum einen eine diagnostische Abklärung und zum anderen eine Behandlungsempfehlung ermöglichen.
Diagnose nach ICD-10
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Die Einordnung der Störung der Patientin nach ICD-10 erweist sich als wenig problematisch. Das Problem, das die Patientin beklagt, ihre Essstörung, steht eindeutig im Zusammenhang mit einer für sie überraschenden und einschneidenden Veränderung ihrer Lebenssituation: Die Mutter verlässt die Familie wegen eines anderen Mannes. Sie zieht aus und lässt die Patientin, die Schwester der Patientin und ihren Mann in einer halbleeren Wohnung zurück. Die Patienten reagiert auf diese für sie unerwartete Trennung mit der Ausbildung einer Belastungsstörung, bei der nicht – wie sonst meistens – Depression und Angst im Vordergrund stehen, sondern eine Essstörung mit der Folge von deutlichem (19%) Untergewicht: Zusätzlich zur ICD-10-Diagnose »Anpassungsstörung mit sonstigen spezifischen Symptomen« F43.28 ist die Diagnose »psychogen bedingter Appetitverlust« F50.8 zu stellen. Bei beiden Diagnosen gilt Psychotherapie als die Behandlung der Wahl, beide sind »Anwendungsbereiche für Psychotherapie« im Sinne der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (7 Kap. 8.1.1 und 8.1.2). Differenzialdiagnostische Überlegungen spielen im vorliegenden Fall keine größere Rolle. Die Patientin war von der Hausärztin an die Psychiatrische Poliklinik überwiesen worden, weil es keine Hinweise auf eine organische Ursache der Essstörung gab. Als psychische Ursache für die Essstörung wäre noch eine Depression, z. B. ICD-10 F32.01 (»depressive Episode mit somatischem Syndrom«), in Frage gekommen. Die Patientin wirkte zwar im Interview depressiv, aber die von ihr geschilderten Beschwerden erfüllten nicht die Kriterien für die Diagnose einer unabhängig von der Belastungsreaktion bestehenden depressiven Störung. Hinweise auf andere psychische Erkrankungen, die als Ursachen für die Essstörung in Frage kämen, ergaben sich im Interview nicht.
Diagnose der Selbstfunktionen Das Interview wurde auch mit der Frage durchgeführt, ob Psychotherapie eine für die Patientin und ihre Störung geeignete Behandlung sein könnte. Generell gilt als Voraussetzung für eine psychotherapeutische Behandlung, dass der Patient über ein ausreichend stabiles Selbst oder Ich verfügt, so dass die mit einer Psychotherapie verbundenen Belastungen nicht zu einer psychischen Dekompensation führen. Das vierte Kriterium für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 8.3) lautet: »Es ist ein ausreichend stabiles Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst gegeben« Im Interview dienten vor allem die Fragen 23, 54, 60, 64 ff. und 128 der Einschätzung der Funktionen des Selbst. Wenn man bei der Beurteilung der Stabilität des Selbst der Patientin die Kriterien der Strukturachse der OPD zugrunde legt (7 Kap. 8.2.3), kommt man zu dem Schluss, dass die Patientin über ein »gut integriertes Selbst« verfügt: 4 Die Patientin ist weitgehend »autonom«: Die Patientin erlebt sich abgegrenzt von dem Erleben anderer. Sie unterscheidet klar zwischen ihrem Erleben und dem ihrer Mutter, dem ihres Vaters und dem ihrer Schwester. Die Vermutung der Mutter, sie würde wegen einer selbst gewählten Diät abnehmen, kann sie als falsch zurückweisen. 4 Sie verfügt über »selbstregulierende Funktionen«: eine Steuerungsfähigkeit für Impulse und Affekte ist vorhanden. Es ist z. B. nicht zu befürchten, dass die durchaus vorhandene Enttäuschungswut der Patientin unkontrolliert ausbricht. 4 Sie hat ein »strenges, aber integriertes Gewissen«: Die Patientin fürchtet sich z. B., der Mutter ungerechtfertigte Vorwürfe zu machen (Frage 95 ff.). 4 Sie verfügt über »selbstreflexive Fähigkeiten und ein Identitätsgefühl«: Auch wenn die Patientin in diesem Interview zur Selbstexploration überwiegend »angestoßen« werden muss, steht ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion außer Zweifel. Es gibt im Interview auch keine Hinweise auf ein mangelndes Identitätsgefühl. Die Patientin berichtet, dass die Krise zu einer erhöhten Selbst-
187 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
reflexion beigetragen habe: Sie umschreibt das damit, dass sie »ernsthafter« geworden sei (Interview-Nr. 70 ff.). 4 Leitaffekte: Angst und Trauer stehen im Vordergrund des Erlebens der Patientin. Im Rahmen der Strukturachse der OPD werden die Funktionen Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung unterschieden. In den Bereichen Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr und Objektwahrnehmung erscheint die Patientin im Interview als »gut integriert«. Das Kommunikationsbedürfnis der Patientin scheint etwas eingeschränkt zu sein. Das könnte sowohl eine Folge der traumatischen Erfahrung sein, als auch mit der Interviewsituation zu tun haben: Die Patientin wurde von einem ihr unbekannten Interviewer vor laufender Kamera im Beisein von acht ihr ebenfalls nicht bekannten Studenten befragt. Es ist schwierig, allein auf der Grundlage des Erstinterviews die allgemeine Bindungsfähigkeit der Patientin einzuschätzen, zumal das Erleben der Patientin in diesem Bereich auch noch von der Trennung der Mutter von der Familie überschattet wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass nach dem Auszug der Mutter bei der Patientin Beziehungsängste aufgetaucht sind. Eine ist die Angst der Patienten, von der Mutter endgültig verlassen zu werden, wenn sie ihr Vorwürfe macht. Ein anderes Anzeichen könnte die Trennung der Patientin von ihrem Freund sein, mit der sie einem erneuten Verlassenwerden möglicherweise zuvor kommen wollte. Der Frage nach der Bindungssicherheit der Patientin wird nochmals im Rahmen des Eingangsinterviews nachgegangen werden, das die Psychotherapeutin durchführt, zu der die Patientin überwiesen wird.
Überlegungen zu einer differenziellen Psychotherapieindikation Die Indikation für eine Psychotherapie liegt bei dieser Patientin auf der Hand: Sie leidet an einer Psychotherapie-indikativen Störung: Ihre Essstörung ist zweifelsfrei durch eine psychische Belastung ausgelöst worden. Für eine Psychotherapie spricht auch die Dauer der Störung: Die Symptome einer Anpassungsstörung bilden sich ohne Behandlung in der Regel in-
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nerhalb von sechs Monaten zurück. Bei der Patientin liegt das belastende Ereignis bereits zehn Monate zurück. Es besteht die Gefahr einer Chronifizierung, der durch eine Psychotherapie vorzubeugen ist. Es bleibt noch zu erörtern, welche Therapie und wie viel Therapie angemessen erscheinen. Die Patientin machte auf alle am Interview Beteiligten einen psychisch recht stabilen Eindruck. Sie war auch in den im Interview sichtbar gewordenen Persönlichkeitsbereichen als stabil zu beurteilen, wie die obige Diagnose der Selbstfunktionen zeigt. Es ist bekannt, dass für die Behebung von Anpassungsstörungen im Allgemeinen ein relativ geringer Behandlungsumfang erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund war es nahe liegend, eine zeitlich limitierte Therapie im Sinne einer Kurztherapie ins Auge zu fassen. Das würde auch dem jugendlichen Alter der Patientin und ihrer schulischen Situation Rechnung tragen: Der Schulabschluss (Abitur) steht noch bevor und die Entscheidungen über die Zeit danach stehen noch aus. Als Behandlungsverfahren kommen eine Verhaltenstherapie als Kurztherapie, eine psychodynamische Kurztherapie, z. B. eine Fokaltherapie, aber auch eine zeitlich limitierte Gesprächspsychotherapie in Frage. Eine Familientherapie scheint wegen der akuten familiären Situation nicht indiziert zu sein. Für eine Verhaltenstherapie spricht die Verbesserung der Esssymptomatik allein in der Folge davon, dass sich der Vater intensiver um das Essverhalten seiner Tochter kümmerte. Ausschlaggebend für die Therapieempfehlung wurde letztlich die Aussage der Patientin, dass ihr sehr viel an einer »Klärung ihrer Situation« liege. Sie schien für die Empfehlung eines einsichtsorientierten Verfahrens zu sprechen. Dem Interviewer ist zum Untersuchungszeitpunkt kein psychodynamisch/psychoanalytischer Psychotherapeut bekannt, der Kurzzeitbehandlungen durchführt und in absehbarer Zeit einen Therapieplatz zur Verfügung stellen könnte. Auch deshalb empfiehlt er eine niedergelassene Gesprächspsychotherapeutin, von der bekannt ist, dass sie Frauen mit Essstörungen erfolgreich behandelt, und die es vermutlich ermöglichen könnte, bald mit einer zeitlich begrenzten Therapie zu beginnen. Über die Behandlungsaufnahme sollte nach einem Erstgespräch
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
und probatorischen Sitzungen endgültig entschieden werden. Die Patientin war mit dieser Empfehlung und den damit verbundenen Regelungen einverstanden. Es kam zu einer Behandlungsvereinbarung. Den Verlauf und das Ergebnis dieser zeitlich limitierten Gesprächspsychotherapie stellen wir im 7 Kap. 9.6 dar.
Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
8.3
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Im 7 Kap. 8.2 ist dargestellt worden, welche allgemeinen Kriterien für die Indikation einer Psychotherapie als Behandlung der Wahl erfüllt sein sollten. Im Folgenden soll die Erstellung der Indikation für eine Gesprächspsychotherapie als Einzeltherapie behandelt werden. Dabei werden nicht nur die allgemeinen, sondern auch die verfahrensspezifischen Indikationskriterien, sowie die allgemeinen und verfahrensspezifischen Prognosekriterien geprüft. Das Vorgehen bei der Prüfung der Frage, ob möglicherweise auch ein anderes Therapieverfahren als Gesprächspsychotherapie für den Patienten geeignet wäre, d. h. die Frage einer differenziellen Therapieindikation, wird im 7 Kap. 8.4 behandelt.
8.3.1
Hinweise zur Gestaltung des Interviews
Das Indikationsgespräch hat zum Ziel, die Informationen zu erheben, die erforderlich sind, um die Kriterien für Indikation und Prognose prüfen zu können. Für einen Antrag auf Übernahme der Behandlungskosten durch eine Krankenkasse werden außer zur Indikation (8) und zur Prognose (10) Angaben zu folgenden Punkten gefordert: Erforderliche Angaben für einen Antrag auf Erstattung der Behandlungskosten durch eine Krankenkasse 1. Angaben zur Person des Patienten 2. Frühere Behandlungen 3. Anlass des Behandlungswunsches aus der Sicht des Patienten (geklagte Beschwerden)
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4. Überweisungskontext 5. Befunde 5 Medizinische Befunde 5 Psychischer Befund 5 Diagnose nach ICD-10 (bzw. DSM-III-R) 6. Anamnese 5 Vorgeschichte/Lebensgeschichte 5 Aktuelle Situation 7. Überlegungen zur Genese der Krankheit und zur auslösenden Situation 8. Indikation 9. Planung der Behandlung: formal und inhaltlich 10. Prognose
Es werden also sowohl Sachinformationen (»Welche Behandlungen hatten Sie bisher?«) als auch persönliche Erfahrungen, Einschätzungen und Stellungnahmen (»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen ihrer Essstörung und dem Weggang ihrer Mutter?«) erfragt. Der Interviewer fragt nach vertraulichen persönlichen Daten und nach Erfahrungen, die für den Patienten belastend, schmerzlich, peinlich usw. waren oder es noch sind. Das setzt eine Beziehung zwischen Patient und Interviewer voraus, eine Basis für ein gewisses Ausmaß an Vertrauen des Patienten in den Interviewer und sein Vorgehen. Diese Beziehung ist in der Regel nicht von vornherein gegeben, sondern entwickelt sich erst im Verlauf des Erstgespräches. Auf ihre Entwicklung wirken die unterschiedlichsten Faktoren in komplexer Art und Weise ein, auch solche, die sich einer willkürlichen Einflussnahme entziehen, wie der sog. »erste Eindruck«, den eine Person von einer anderen schon in den ersten Sekunden einer Begegnung gewinnt. Daneben gibt es Voraussetzungen, deren Herstellung für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung förderlich ist. Zu ihnen gehört der äußere Rahmen, in dem das Gespräch stattfindet. Zwei Prinzipien haben sich bewährt:
189 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
! Prinzipien für die Gestaltung des äußeren Rahmens von Indikationsgesprächen sind: 4 eine ausreichende, aber möglichst geringe Strukturierung der Situation und 4 ausreichend Raum und Zeit für den Patienten, sich und seine Probleme darzustellen.
Räumlichkeiten Die Frage der Strukturierung beginnt schon mit dem Raum, in dem das Indikationsinterview geführt wird. Er sollte wohnlich, aber nicht zu persönlich ausgestattet sein. Er sollte frei sein von Gegenständen, die unübersehbar Ausdruck der Privatinteressen des Interviewers sind, z. B. von Vitrinen mit seiner Mineraliensammlung. Solche Selbstdarstellungen fördern die Tendenz von Patienten, sich Gedanken über die Person des Interviewers zu machen, und erschweren die gewünschte Selbstreflexion (Junker & Waßner, 1984). Wenn der Raum zugleich das Arbeitszimmer des Interviewers ist, sollte außer dessen Schreibtisch noch ein weiterer Tisch mit zwei Stühlen vorhanden sein, an dem der Interviewer und der Patient »über Eck« sitzen können. Diese Sitzposition erzwingt nicht nur nicht den Blick auf die Rückseiten der privaten Fotos des Interviewers, wie man es in jedem Film sehen kann, sondern auch keinen direkten Blickkontakt, der aber, wenn er gewollt ist, jederzeit hergestellt werden kann. Zur notwendigen Strukturierung der Situation durch den Therapeuten gehört es, dass er den Zeitpunkt des Treffens mit dem Patienten abspricht und die maximale Dauer des Gesprächs vorgibt, in der Regel eine Stunde. Er sollte den Patienten auch darüber aufklären, ob ggf. weitere Gespräche geführt werden können. Es empfiehlt sich, den Patienten an der Tür zu begrüßen und ihm den für ihn vorgesehenen Stuhl anzubieten. Folgt man dieser Empfehlung nicht, kann man in eine Situation kommen wie ein Kollege, der hinter seinem Schreibtisch saß und telefonierte, als der Patient an seine Tür klopfte. Er rief »Herein« und bedeutete von seinem Schreibtisch aus mit einer einladenden Handbewegung dem Patienten, am Tisch mit den beiden Stühlen Platz zu nehmen. Als er sein Telefonat beendet hatte, stellte er fest, dass der Patient auf dem »Therapeutenstuhl« Platz genommen hatte. Diese »Fehlplatzierung« beschäftigte den
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Therapeuten nicht nur in der Situation ungemein, sondern er war auch in einer kollegialen Fallbesprechung, in der er das Interview vorstellte, nur mühsam davon abzubringen, weit reichende diagnostische Schlüsse aus ihr zu ziehen. Zu den praktischen Maßnahmen, die es erleichtern, dem Patienten die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und ihm ausreichend Raum für die Darstellung seiner Probleme zu geben, gehört die Ausschaltung der üblichen Quellen von Störungen: Das Telefon sollte während des Interviews am besten gar nicht klingeln können (»Rufumleitung«), und wenn der Anrufbeantworter eingeschaltet ist, sollte dieser bei einem Anruf stumm bleiben. An der Tür sollte außen ein gut sichtbares Schild hängen, das Störungen abweist. Die Lichtverhältnisse im Untersuchungszimmer sollten so sein, dass sowohl der Interviewer als auch der Patient die Mimik des jeweils anderen unschwer erkennen können.
Persönliche Vorbereitungen des Interviewers Sollte sich der Interviewer auf das Erstgespräch vorbereiten? Viele Interviewer verzichten so weit wie möglich darauf, Informationen den Patienten betreffend zur Kenntnis zu nehmen, die über das Geschlecht, das Alter und das Anliegen des Patienten – meistens der Wunsch nach Behandlung einer bestimmten Symptomatik – hinausgehen. Sie lehnen es ab, vorhandene Krankenblätter einzusehen, Krankenakten oder ausführliche Überweisungsberichte zu lesen. Sie wollen sich ein eigenes Urteil bilden und sich nicht der Gefahr aussetzen, von bereits gestellten Diagnosen, Prognosen und der Schilderung von missglückten Behandlungsverläufen beeindruckt zu werden. Ein Vergleich der eigenen Auffassung mit den bereits vorliegenden Meinungen sollte jedoch im Nachhinein stattfinden. Wenn sich dabei erhebliche Diskrepanzen ergeben, ist deren Ursachen nachzugehen. Sehr viel wichtiger als der Umgang mit Vorinformationen über den Patienten ist die »innere Vorbereitung« auf ein Indikationsgespräch. Der Interviewer sollte die Zeit, die er für das Erstgespräch vorgesehen hat, auch tatsächlich zur Verfügung haben, d. h. er sollte sich gedanklich und emotional
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
voll und ganz dem Patienten widmen können. Viele Patienten, vor allem solche mit einer Depressionsoder Schuldproblematik, registrieren seismographisch die Befindlichkeit ihres Interviewers und reagieren darauf, wenn der Interviewer sich innerlich nicht von einem Problem trennen kann, so dass es ihn auch in der Interviewsituation weiter beschäftigt und ihn z. B. in eine gewisse körperliche Anspannung versetzt. Die Patienten richten ihre Aufmerksamkeit dann weniger auf die eigene Person, sondern befassen sich – oft ohne dass es ihnen bewusst wird – mit dem Interviewer und dessen Belastbarkeit bzw. mit der Frage, wie sehr ihn die Probleme belasten könnten, die sie haben.
Eingangssituation
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Auch bezüglich der Eröffnung des Indikationsinterviews gilt das Prinzip: so wenig Strukturierung wie möglich! Eröffnungsformeln wie: »Was fehlt Ihnen?« oder »Welche Beschwerden haben Sie?« sind sehr strukturierend und wenig einladend und daher nicht zu empfehlen. Auch vor einer Formulierung wie: »Womit kann ich Ihnen helfen?« ist zu warnen. Sie enthält ein Versprechen, von dem der Interviewer nicht wissen kann, ob er es wird einlösen können. Und es könnte ihm passieren, was einem Kollegen widerfahren ist, dass nämlich der Patient antwortet: »Gar nicht, denn mir ist nicht zu helfen«, um dann von seinen vergeblichen Versuchen zu erzählen, Hilfe von anderen Therapeuten zu erhalten. ! Es hat sich bewährt, für die Eröffnung des Erstgesprächs eine möglichst offene Formulierung zu benutzen, z. B. »Was führt Sie zu mir?«, wenn man den Anlass nicht kennt, oder sich dem Patienten mit einem freundlich einladenden »Ja« zuzuwenden und ihm damit Gelegenheit zu einer spontanen Selbstdarstellung zu geben.
Für manche Patienten ist aber ein solches Signal, das Gespräch mit dem Thema zu eröffnen, das sie selbst für richtig und wichtig erachten, eine Überforderung. Sie sitzen dann ängstlich und stumm auf ihrem Stuhl und benötigen Hilfe zur Überwindung dieser anfänglichen Angst. Für manche Patienten ist es hilfreich, das direkt anzusprechen, z. B. in der Form: »Sehe ich das richtig: Fällt es Ihnen im Moment schwer, zu sprechen?« – »Ist es Ihnen lieber, wenn ich direkte Fragen an Sie richte?«
Es empfiehlt sich also im Hinblick auf das Ausmaß an Strukturierung der Erstinterviewsituation »klientenzentriert« vorzugehen, d. h. sich nach den Möglichkeiten des Patienten zu richten.
Zeitliche Strukturierung Zur notwendigen Strukturierung der Interviewsituation gehört es auch, dass der Interviewer die Verantwortung für die Zeit übernimmt. Er sollte den Patienten z. B. darauf hinweisen, dass sich die vereinbarte Zeit für das Gespräch dem Ende zu neigt (»Unsere Zeit ist bald um. Gibt es einen Punkt, den Sie noch gern zur Sprache bringen möchten?«), oder den Abschluss ankündigen. Dabei sollte er sich selbst darüber im Klaren sein, ob das Gespräch ausgereicht hat, alle relevanten Informationen zu erheben bzw. ein klares Bild entstehen zu lassen, oder ob ein weiterer Termin erforderlich ist. Auch wenn das geführte Gespräch für den Interviewer ausreichend war, sollte er nicht versäumen zu fragen, ob das auch für den Patienten so ist. Viele Psychotherapeuten planen immer zwei Erstinterviewtermine ein. Sie finden es wichtig, den »ersten Eindruck« zu überprüfen, und wollen ausreichend Zeit haben, die Ergebnisse des Interviews mit dem Patienten zu besprechen. Diese Regelung ist vor allem dann sinnvoll, wenn der Erstinterviewer nicht auch der Therapeut sein wird, sondern nur eine Behandlungsempfehlung geben bzw. eine Überweisung vornehmen wird. Wenn der Erstinterviewer möglicherweise auch der Therapeut für den Patienten ist, dann hat er die Möglichkeit, sein Urteil in den folgenden probatorischen Sitzungen zu festigen bzw. zu revidieren, bevor er eine Behandlungsvereinbarung mit dem Patienten trifft.
Inhaltliche Strukturierung Wir empfehlen den Erstinterviewern, die eine spätere Therapie nicht selbst durchführen, sondern nur eine Behandlungsempfehlung aussprechen werden, eine Zweiteilung des Indikationsinterviews. Sie kann innerhalb eines einzigen Gespräches oder in zwei aufeinander folgenden Gesprächen stattfinden. Der erste Teil dient der Kontaktaufnahme und einer Exploration bezüglich der oben genannten Bereiche 1. bis 6. im Kasten »Erforderliche Angaben für einen Antrag auf Übernahme der Kosten durch eine Krankenkasse«.
191 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Der zweite Teil wird in Form einer »Probetherapie« durchgeführt, um die mit den Bereichen 7. bis 10. zusammenhängenden Fragen hinreichend sicher beantworten zu können. Ein solches Vorgehen ermöglicht die hinreichend sichere Einschätzung der für die Prognose wichtigen Therapieprozesskriterien (7 Kap. 8.2.4) wie Selbstreflexion und Selbstexploration. Wenn der Interviewer überprüfen will, ob er selbst die Behandlung des Patienten übernehmen kann, wird er versuchen, die Antworten auf diese Fragen in den probatorischen Sitzungen zu finden.
8.3.2
Indikationsstellung und Prognose
Die spezifische Indikation für eine Gesprächspsychotherapie und ihre Prognose erfolgen in der Regel anhand von vier Kriterien (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 171).
Indikationskriterien für eine Gesprächspsychotherapie 1. Die Störung ist eine psychische, die eine Inkongruenz zur Grundlage hat. 2. Der Patient nimmt seine Inkongruenz zumindest im Ansatz als solche wahr, und diese Wahrnehmung ist mit einem Wunsch nach Veränderung verbunden. 3. Es sind ein Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst beim Patienten gegeben.
Prognosekriterium für eine Gesprächspsychotherapie 4. Der Patient kann das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot zumindest in Ansätzen wahrnehmen und annehmen.
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1. Indikationskriterium: Liegt eine Störung vor, die eine Inkongruenz zur Grundlage hat? Der erste Schritt bei der Erstellung einer Indikation besteht in der Klärung der Frage, ob die Beschwerden des Patienten die Kriterien für eine Psychotherapie-indikative Diagnose erfüllen. In aller Regel wird diese Frage durch eine Diagnose nach ICD-10 (7 Kap. 8.2.3) beantwortet: ICD-10-Diagnosen beinhalten dann die Diagnose von Inkongruenz, wenn sich die Symptome auf eine Inkongruenz zwischen der Erfahrung des Organismus als Ganzem und dem Selbstkonzept zurückführen lassen. Das ist bei den Störungen aus den so genannten klassischen Anwendungsfeldern, den früheren neurotischen Störungen, jeweils der Fall. Wann liegt keine Inkongruenz vor? Es ist z. B. dann
nicht von Inkongruenz auszugehen, wenn die Beschwerden Symptome einer organischen, wie einer hirnorganischen Beeinträchtigung sind, wie einer vaskulären Demenz (ICD-10: F01). Auch Störungen, die Ausdruck eines fragilen Selbst sind, was für die meisten psychotischen Erkrankungen gilt, lassen sich nicht nur durch die Inkongruenz von Erfahrung und Selbst erklären. Psychotische Störungen sind Störungen des Selbsterlebens und nicht Ausdruck einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung (7 Kap. 5.2). Ausnahmen sind die sich in der Regel schnell zurückbildenden psychotischen Symptome, z. B. Depersonalisations- und Derealisationserlebnisse oder paranoide Vorstellungen, wie sie im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten können. Nicht selten suchen Menschen um psychotherapeutische Hilfe nach, deren Beschwerden zwar psychischer Natur sind, sich aber nicht durch das Vorliegen von Inkongruenz erklären lassen. Das sollen die beiden folgenden Fallbeispiele illustrieren. Die Inkongruenz versperrt den Blick auf das Problem. Häufig tragen Patienten einen Therapiewunsch
Wie lassen sich diese Kriterien in der Praxis bestimmen?
vor, bei denen zwar Inkongruenz vorliegt, die aber vor allem dazu führt, dass sie ihr eigentliches Problem oder die Ursachen für ihre Probleme und Beschwerden nicht richtig oder nur unvollständig wahrnehmen. Wenn eine solche Inkongruenz in
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Fallvignette
Die verlassene Hausfrau
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Eine 45-jährige Frau wird von ihrem Hausarzt mit der Verdachtsdiagnose »reaktive Depression« und der Frage nach einer Psychotherapie an eine Psychiatrisch-psychotherapeutische Poliklinik überwiesen. Im Indikationsgespräch berichtet die Patientin, dass sie sich chronisch erschöpft, niedergedrückt und überanstrengt fühle. Bei der Schilderung ihrer aktuellen Lebensumstände stellt sich heraus, dass ihr Ehemann sie und ihre drei noch nicht volljährigen Kinder vor einem Jahr verlassen hat. Da der Ehemann bisher keine Unterhaltszahlung geleistet hat, hat sie ihre Erwerbstätigkeit wieder aufgenommenen. Zur Versorgung des Haushalts mit drei Kindern ist die Alleinverantwortung für alle finanziellen und sonstigen Verwaltungsaufgaben für sich und ihre Familie hinzugekommen. Sie berichtet, kaum Schlaf zu finden und sich nicht entspannen zu können, weil sie aus »dem Grübeln und Planen« nicht herauskäme. Die untersuchende Psychologin kommt diagnostisch zu dem Schluss, dass die Kriterien einer depressiven Störung nicht erfüllt sind. Auch die Diagnose »Anpassungsstörung« (ICD-10: F 43.2) wäre unzutreffend, da die Belastungen weiterhin bestehen bzw. neue hinzugekommen sind: Die Patientin fühlt sich von zusätzlichen Pflichten und Aufgaben zeitlich und emotional überfordert. Die Psychologin diagnostiziert ein Erschöpfungssyndrom, rät der Patientin nicht zu einer Psychotherapie,
wenigen Sitzungen aufgehoben werden kann, dann stellt sich nicht selten heraus, dass der Patient zwar eine Behandlung braucht, aber nicht unbedingt Psychotherapie. Es gibt sogar Fälle, bei denen mit der Problemklärung auch das Problem bzw. die mit ihm verbundene Symptomatik verschwindet. Ein solcher Klärungsprozess, bei dem der Interviewer gesprächspsychotherapeutisch vorgeht, beansprucht meist mehr als eine Sitzung. Die folgenden Fallbeispiele dienen der Illustration solcher zu klärenden Probleme:
sondern erörtert mit ihr, ob nicht ein Anwalt, eine Haushaltshilfe oder finanzielle Unterstützung von dritter Seite ihr eher helfen können.
Der Lehrling in der falschen Ausbildung Ein Lehrling war von seiner besorgten Mutter wegen seiner »Verhaltensstörung« zum Arzt geschickt worden. Er konnte sich im Betrieb zunehmend weniger auf die ihm übertragenen Aufgaben konzentrieren und seine anfänglich guten Leistungen in der Berufsschule waren deutlich schlechter geworden. Der Arzt fand keine somatischen Ursachen für die Konzentrations- und Leistungsprobleme und überwies den jungen Mann an eine Psychiatrischpsychotherapeutische Poliklinik, wo ein männlicher Psychotherapeut ein Erstinterview mit ihm machte. Möglicherweise erleichterte diese Geschlechterkonstellation dem Patienten, der sich als »Sohn einer allein erziehenden Mutter« vorstellte, dem Therapeuten ziemlich rasch zu offenbaren, dass er bei der Auswahl des Lehrberufes den Vorstellungen seiner Mutter gefolgt sei. Der Therapeut kam zu dem Schluss, dass der junge Mann möglicherweise weniger eine Psychotherapie als Verständnis dafür brauchte, dass man in einer Lehre, die weder den eigenen Wünschen noch der eigenen Begabung entspricht, auch nichts leisten kann. Er empfahl dem jungen Mann eine Berufsberatung und bot der Mutter ein Gespräch über die Situation ihres Sohnes an.
Fallvignette
Der legasthenische Hafenarbeiter Ein Hafenarbeiter fragte nach psychotherapeutischer Hilfe. Er wollte beruflich umsatteln, selbstständig als Taxiunternehmer arbeiten. Er scheiterte aber wiederholt bei dem Versuch, den Taxenschein zu erwerben, weil er unfähig war, das Straßenverzeichnis der Stadt auswendig zu lernen oder sich schnell in ihm zu orientieren. Er fühle sich überfordert, ängstlich und
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193 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
habe kein Selbstbewusstsein mehr, klagte er. Im zweiten Gespräch mit der Erstinterviewerin fiel dem Patienten plötzlich ein, dass ihm als Schüler eine Legasthenie attestiert worden war, die, wenn auch mit nur mäßigem Erfolg, behandelt worden war. Das hatte er völlig »vergessen«. Er wirkte wie erlöst, als ihm diese Behinderung wieder einfiel, und er einigte sich mit der Interviewerin darüber, sich einem Training im Lesen von Stadtplänen zu unterziehen, das seine Legasthenie in Rechnung stellte.
Der zum Scheitern verurteilte Medizinstudent Ein beeindruckendes Beispiel für ein unerkanntes Problem und seine Lösung bietet die Beratung eines Medizinstudenten, der zum zweiten Mal durchs Physikum gefallen war und ein psychologisches Gutachten brauchte, um einen dritten Versuch genehmigt zu bekommen. Beim dem jungen Mann handelte es sich um das einzige Kind eines Facharztes für Innere Medizin. Der Patient wohnte noch im elterlichen Haus. Der Interviewer stellte das Erstgespräch mit diesem Studenten in einer Fallkonferenz (Supervision) vor, bei der sich folgendes Problem heraus kristallisierte: In der Schilderung der häuslichen Situation schien es außer dem Patienten nur den Vater zu geben, der sich in einem kaum zu steigernden Ausmaß um seinen Sohn und dessen Prüfungsprobleme kümmerte, so dass der Interviewer Beklemmungsgefühle bekam, die er in der Supervision in die Worte fasste: »Bei den Schilderungen des Patienten entstand in mir das Bild eines erdrückenden und sich bemächtigenden Vaters und eines Sohnes, der keine Chance auf eine eigene Entwicklung hat«. Die Fallkonferenzteilnehmer waren sich einig in der Wahrnehmung, dass die Mutter überhaupt keine Rolle spielte bzw. spielen durfte, und sie
2. Indikationskriterium: Nimmt der Patient seine Inkongruenz wahr und verbindet er sie mit einem Veränderungswunsch? Das zweite Kriterium, das für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie erfüllt sein sollte, besteht darin, dass der Patient die Inkongruenz in seinem
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vermuteten, dass das Examensversagen als die einzige, wenn auch dem Patienten unbewusste Auflehnung gegen das Diktat seines Vaters zu verstehen sei. Der Interviewer sprach in zwei weiteren Sitzungen sowohl die Rolle der Mutter an als auch die Vermutung, dass das Versagen im Examen ein nachvollziehbarer, wenn auch selbstschädigender Versuch sei, sich zu weigern, dem Vater nun auch noch in der Berufswahl zu folgen. Es stellte sich heraus, dass Vater und Mutter »seit Jahrzehnten im Krieg« lebten und z. B. in dem großen Haus praktisch zwei getrennte Haushalte führten. Der Patient lebte im Haushalt des Vaters und bekam die Mutter auch nur selten zu sehen. Er konnte im Zuge der Besprechung seiner Situation auch plötzlich erkennen, dass der Vater es nicht ertrüge, wenn der Sohn einen besseren Kontakt mit der Mutter hätte. Indem er darüber sprach, wurde ihm die Absurdität der häuslichen Situation deutlich. Er selbst hatte keine benennbaren Probleme mit seiner Mutter. Die wenigen Kontakte mit ihr verliefen problemlos und eigentlich war sein (inneres) Verhältnis zu ihr von Zuneigung geprägt. Drei Monate nach diesen drei Gesprächen teilte der Patient telefonisch mit, dass er das Physikum bestanden habe und zwei Jahre später suchte er den Erstinterviewer in einem Arztkittel in der Klinik auf, um sich für die damalige Beratung zu bedanken und stolz zu erzählen, dass er zwar wie sein Vater Arzt werde, aber er habe – gegen den ausdrücklichen Wunsch des Vaters, in seine Praxis einzusteigen und sie später zu übernehmen – eine andere Fachrichtung gewählt, und zwar eine, die ihm liege und bei er keine allgemeinen Notdienste leisten müsse: Er habe die Ausbildung zum Augenarzt begonnen. Eine Psychotherapie zu machen hatte er nicht einmal erwogen.
Erleben auch spürt, d. h. dass er einem Teil seiner Erfahrungen ablehnend oder abwehrend, z. B. verleugnend oder verzerrend, gegenüber steht, da er sie als nicht zu seinem Selbstkonzept passend erlebt und/oder sich in ihnen auch nicht akzeptiert. Er erlebt auch seine Symptome und Verhaltensstörungen
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
als ich-dyston und störend. In der Regel beinhaltet das einen Leidensdruck, aus dem auch ein Veränderungswunsch resultiert. Beispiele für Patienten, deren Störung aus dem Vorliegen einer Inkongruenz resultiert, deren Selbsterfahrung das aber nicht in jedem Fall abbildet, sind Patienten mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen, z. B. Patienten mit einer paranoiden (F60.0) oder dissozialen Persönlichkeitsstörung (F60.2). Es leidet häufig die »Umwelt« mehr als der Patient selbst, wobei die »Umwelt« Personen sind, die in einer Beziehung zum Patienten stehen und die sich vom ihm zu Unrecht verdächtigt, hintergangen oder ausgenutzt oder »missbraucht« usw. fühlen. In dem Maße, in dem diese Patienten ihr symptomatisches Verhalten als ich-synton erleben, fehlt auch ein Veränderungswunsch.
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3. Indikationskriterium: Der Patient hat ein Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst Eine weitere Voraussetzung für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie besteht darin, dass die Inkongruenz des Patienten nicht so groß ist, dass sie eine Beziehungsaufnahme zum eigenen Erleben unmöglich macht. Das heißt konkret: Der Patient muss sich als eine von anderen getrennte Person wahrnehmen und in der Lage sein, sich selbst in seinem eigenen Erleben und Handeln zu betrachten und das in Worte zu fassen (Selbstexploration). Diese Fähigkeit setzt ein hinreichend stabiles Selbst voraus. Wenn das Selbst chronisch instabil ist, dann ist eine Gesprächspsychotherapie kontraindiziert. Wenn das Selbst in einem durch eine Krise bedingten vorübergehenden instabilen Zustand ist, dann ist im Moment von einer Gesprächspsychotherapie als Behandlung abzusehen. Zur Einschätzung der Stabilität des Selbst eines Patienten können die entsprechenden Kriterien der »Strukturmerkmale des Selbst« (7 Kap. 8.2.3, . Tab. 8.2) herangezogen werden. Für Patienten, die in allen sechs Dimensionen als »gering integriert« oder »desintegriert« eingestuft werden, ist eine klassische Gesprächspsychotherapie nicht indiziert. Patienten mit einem unzureichend stabilen Selbst sind häufig zu einer Reflexion ihres Erlebens nicht in der Lage, wie das folgende Beispiel zeigt:
Fallvignette
Die Patientin, die Ich und Du nicht trennen kann Eine Patientin mit einer fraglichen paranoidhalluzinatorischen psychotischen Episode in der Vorgeschichte, schweigt nach ihrem Eintritt in eine stationäre Gruppe während mehrerer aufeinander folgenden Sitzungen. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit geht die Gruppe damit gewährend um. Alle spüren mehr oder weniger klar, dass dieses Schweigen nicht Ausdruck von Widerstand ist. Dann richtet in einer der folgenden Sitzungen ein Gruppenmitglied doch das Wort an die schweigende Mitpatientin und fragt sie, ob sie das richtig wahrnehme, dass sie den Wunsch habe, sich zu dem Thema, das gerade in der Gruppe besprochen wird, zu äußern. Die angesprochene Patientin bejaht zunächst die Frage der anderen Patientin, um unmittelbar darauf festzustellen: Bevor du mich gefragt hast, war ich sicher, dass ich den Wunsch habe, mich zu dem Thema zu äußern. Jetzt aber, nachdem du mich gefragt hast, ist dieser Wunsch nicht mehr da. Wenn ich mich jetzt äußere, dann nur, weil ich denke, ihr erwartet von mir, dass ich mich endlich »einbringe«. (Aus: Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 176)
Patienten, für die jeder enger werdende Kontakt bedrohlich wird, weil die Grenzen von Innen und Außen, von Ich und Du instabil bzw. durchlässig sind, sind durch eine klassische Gesprächspsychotherapie in der Regel überfordert.
Prognosekriterium: Der Patient kann das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot zumindest in Ansätzen wahrnehmen und annehmen Klinische Erfahrungen haben gezeigt und Forschungen haben bestätigt: Die »Ansprechbarkeit« eines Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot ist das beste Kriterium für die Prognose der Wirksamkeit einer Gesprächs-
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psychotherapie. Wenn der Patient auf das gesprächspsychotherapeutische Angebot anspricht, kann davon ausgegangen werden, dass er es in einem hinreichenden Ausmaß wahrnehmen und annehmen kann. Bevor das genauer ausgeführt werden kann, ist zunächst die Frage zu beantworten: Was ist unter dem gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot zu verstehen? Definition Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot ist durch die spezifischen Therapieprozessmerkmale gekennzeichnet, die sich in einer Gesprächspsychotherapie entwickeln sollen: Das ist in erster Linie die von Bedingungsfreier Positiver Beachtung getragene Empathie des kongruenten Therapeuten.
Weitere die therapeutische Beziehung gestaltende Aspekte, das nicht-direktive, die Ressourcen des Patienten fördernde Vorgehen, kommen hinzu. Neben den für ein therapeutisches Verfahren spezifischen gibt es auch verfahrensunspezifische Bestandteile eines therapeutischen Beziehungsangebots, wie eine bestimmte Gestaltung des therapeutischen Rahmens, z. B. Einzel- oder Gruppensetting. Es gibt Patienten, die das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot nicht annehmen können. Sie fühlen sich von ihm überfordert oder bedroht und können nicht in einen Prozess der Selbstreflexion und Selbstexploration eintreten. Wie das einfühlende Verstehen des Therapeuten zu einer Bedrohung werden kann, soll das nachfolgende Beispiel zeigen. Wie lässt sich die »Ansprechbarkeit« für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot erfassen? Die »Ansprechbarkeit« eines Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot wird in einem Erstinterview bzw. Indikationsinterview oder in den probatorischen Sitzungen eingeschätzt. Patienten, die auf ein Erstinterview, insbesondere auf dessen gesprächspsychotherapeutische Anteile (Probetherapie), mit körperlicher Anspannung oder Entspannung, emotionaler Anspannung oder Entspannung, mit emotionaler Mitteilungsbereit-
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Fallvignette
Der Patient, der das einfühlende Verstehen des Therapeuten als Aussagen über seinen schlechten Charakter erlebt In einer Gruppentherapiesitzung reagiert ein Patient mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf einen anderen Patienten nach dessen ironisch entwertender Äußerung für alle Beteiligten sichtbar wütend, schweigt aber verbissen. Als das Schweigen auch von der Gruppe nicht aufgelöst wird, wendet sich die Therapeutin an den Borderline-Patienten und sagt – durchaus empathisch, verständnisvoll und nicht wertend – »die Aussage von Herrn X hat sie ziemlich getroffen und auch wütend gemacht.« Darauf reagiert der Angesprochene wie aus der Pistole geschossen: »Ich weiß ja, dass ihr mich alle für ein Schwein haltet.« Dieser Patient fühlte sich nicht in seiner Wut verstanden und akzeptiert, sondern erlebte die Benennung seines für alle Gruppenteilnehmer sichtbaren und spürbaren Gefühls durch die Therapeutin als ein öffentliches Angeprangertwerden. Erst in einer späteren Sitzung wurde diese Reaktion nachvollziehbar, als der Patient deutlich darlegte, dass Wütendsein für ihn gleich bedeutend ist mit Bösesein. Und Bösesein heißt für ihn verlassen oder weggeschickt werden. Bei manchen Patienten kann diese Reaktion besprochen werden und ist damit therapeutisch aufzulösen. Bei anderen Patienten gelingt das jedoch nicht.
schaft und verbaler Mitteilungsbereitschaft reagieren, zeigen an, dass sie mit einer Gesprächspsychotherapie mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas werden anfangen können. Noch deutlicher ist die »Ansprechbarkeit«, wenn die Patienten diese Art der Beziehung reflektieren können und selbstexplorativ Vorstellungen darüber äußern, dass solche Gespräche etwas in ihnen bewirken, z. B. Hoffung auslösen, dass es ihnen irgendwann noch einmal besser gehen wird, wenn sie sich durch die Äußerungen des Therapeuten angeregt fühlen zu weiteren Mitteilungen, Erinnerungen oder auch Entdeckungen von Zusammenhängen in ihrem Erleben, die ihnen irgendwie
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
neu vorkommen. In einem solchen Fall kann man sogar mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihnen eine Gesprächspsychotherapie weiterhelfen wird. Es ist möglich, diesen globalen Eindruck des Vorliegens einer ausreichenden Ansprechbarkeit objektiver zu erfassen. Das geschieht durch die Erhebung folgender Indikatoren der Ansprechbarkeit:
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Prognose ausgehen zu können. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird eine Gesprächspsychotherapie natürlich dann erfolgreich verlaufen, wenn alle vier Kriterien erfüllt sind. Wir möchten die Ausführungen zur Indikationsstellung mit einem Indikationsproblem abschließen, das sich erst im Verlaufe einer Therapie ergeben kann:
Vier Indikatoren für die Ansprechbarkeit des Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot
Exkurs
1. Das Ausmaß der Selbstexploration: Zur Einschätzung der Selbstexploration kann die Selbstexplorationsskala (7 Kap. 10.2) herangezogen werden. Lässt sich die Selbstexploration des Patienten in der Probetherapie auf dieser Skala auf Stufe 5 oder höher einstufen, ist die Prognose für den Behandlungserfolg gut. 2. Die direkte Beurteilung der Probetherapie durch den Patienten: Der Patient beurteilt die Probesitzung mit dem Bielefelder Klientenerfahrungsbogen (BIKEB, 7 Kap. 10.2) überwiegend positiv, er zeigt sich auch eher zufrieden (Item 1 des BIKEB) mit dem Sitzungsverlauf. 3. Emotionale Reaktion des Patienten: Es ist prognostisch günstig, wenn ein Patient auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot mit körperlicher An- und Entspannung reagiert, wenn er sich emotional berührt zeigt, d. h. wenn dem jeweiligen Thema entsprechende Stimmungsveränderungen – sowohl positive als auch negative – sichtbar und auch ansprechbar werden. 4. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten: Wenn der Therapeut im Erstinterviewkontakt bei sich keine deutlichen Abweichungen von der Unbedingten Wertschätzung registriert und Sympathie spürt, so ist das ebenfalls prognostisch günstig.
Selbst wenn der Patient das Beziehungsangebot des Therapeuten annimmt und mit zunehmender Selbstexploration beantwortet, bleibt zu fragen, ob die Selbstexploration ein erstrebenswertes Ziel für den Patienten ist, d. h. seine Kernprobleme wirklich lösen hilft. Das ist z. B. dann der Fall, wenn die Therapie zum Ersatz für befriedigende persönliche Beziehungen wird und sich der Gesprächpsychotherapeut in der Rolle des Hausarztes, Seelsorgers oder Freundes wiederfindet. Das passiert immer dann, wenn die Selbstexploration vom Patienten weniger zur Entdeckung eigener Problemlösungsmöglichkeiten benutzt wird, als vielmehr als Vehikel zur Erhaltung des Kontaktes zum Therapeuten. Man beobachtet das häufig dann, wenn ein Patient im Zuge der Selbstexploration auf Probleme stößt, die er nicht lösen kann, d. h. aushalten muss, wie z. B. der kluge und sensible, aber sehr schüchterne Student, der in seiner Therapeutin eine Frau findet, wie er sich sie zur Partnerin wünscht, aber im täglichen Leben nicht nur aufgrund seiner Schüchternheit, sondern auch aufgrund seiner mangelnden männlichen Attraktivität nur schwer finden wird.
Es gibt bisher keine Studien, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele der vier oben genannten Kriterien erfüllt sein sollten, um von einer guten
Eine Therapiezielveränderung, welche die Indikationsfrage erneut aufwirft
Abschließend möchten wir vor dem Hintergrund der Geschichte der Indikationsstellung (BiermannRatjen et al., 2003, S. 143 ff.) und auf der Grundlage unserer klinischen Erfahrungen Folgendes hervorheben: Die hier vorgestellten Indikations- und Prognoseregeln spiegeln das derzeitige Wissen über die Zusammenhänge von Indikations- und Prognosekriterien und dem Therapieerfolg. Die Entwicklung
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der Psychotherapie im Allgemeinen und der Gesprächspsychotherapie im Besonderen kann, wie die Geschichte lehrt, diese Kriterien verändern bzw. erweitern. Diese Kriterien sind als Leitlinien bei einer Indikationsstellung zu verstehen. Im Einzelfall kann es immer wieder vorkommen, dass die Kriterien nicht vollständig erfüllt sind. So kann z. B. die Selbstexploration bei einem Patienten gegen Null gehen und der Therapeut dennoch das Gefühl haben, mit diesem Patienten, wenn auch nicht sofort, in einen therapeutischen Prozess eintreten zu können. So, wie die Erfüllung aller Indikations- und Prognosekriterien den Therapieerfolg nicht zu 100% garantiert, kann eine Therapie mit einem Patienten, der z. B. nur das vierte der oben genannten Prognosekriterien erfüllt, durchaus zu einem Erfolg werden. Die Gesprächspsychotherapie hätte sich nicht weiterentwickelt, wenn es nicht Therapeuten gegeben hätte, die neue Wege ausprobiert haben.
8.3.3
Die Abstimmung der Indikation mit dem Patienten
Der letzte Schritt bei einer Indikationsstellung ist die Abstimmung der Indikationsentscheidung des Therapeuten bzw. Interviewers mit dem Patienten. Eine ausführliche und für den Patienten nachvollziehbare Begründung der Indikationsentscheidung ist in jedem Fall erforderlich, und zwar nicht nur, wenn der Interviewer oder Therapeut eine Gesprächspsychotherapie als Behandlung empfiehlt, sondern auch dann, wenn er sie für nicht indiziert hält.
Bei positiver Indikationsentscheidung: Informed Consent Wenn eine Gesprächspsychotherapie indiziert ist und auch durchgeführt werden soll, muss der Patient über diese geplante Behandlung aufgeklärt werden. Im anglo-amerikanischen Rechtssystem, in dem die Patientenrechte sehr viel ausgebauter sind als in der deutschen Rechtsprechung, kann der Patient seinen »Informed Consent« (informierte Zustimmung) aussprechen, wenn alle erforderlichen Maßnahmen für seine Aufklärung getroffen worden sind. Kritiker betonen, dass Informed Consent den Versuch dar-
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stelle, Ethik durch regulierende bzw. legislative Maßnahmen zu kodifizieren. Die Definition von »Informed Consent« lautet: Definition »Permission to do something which is given with complete knowlegde of all relevant facts, such as the risks involved or any available alternatives« (www.AllLaw.com).
Der anglo-amerikanische »Informed Consent« unterscheidet sich von der in Deutschland gesetzlich vorgeschriebenen »Patientenaufklärung« nicht nur im Inhalt, sondern auch in dem zugrunde liegenden Prinzip: Während der Consent auf dem Recht des Menschen auf Selbstbestimmung beruht, ist die Patientenaufklärung eine juristische Konstruktion, die in erster Linie dem rechtlichen Schutz des Arztes dient (Beller, 2000). Der heilkundlich tätige Psychotherapeut ist rechtlich nur verpflichtet, Patienten über »Risiken und Nebenwirkungen« einer geplanten Behandlung aufzuklären. Die Forderung nach einer Aufklärung des Patienten im Bereich Psychotherapie im Sinne von Informed Consent findet sich jedoch in den Ethikregeln vieler psychotherapeutischer Berufsverbände. Diese umfassende Aufklärung sollte in der Praxis die Regel sein, gerade für Gesprächspsychotherapeuten, die ja eine Beziehung zum Patienten anstreben, die mehr durch eine partnerschaftliche als durch eine paternalistische Haltung des Therapeuten charakterisiert ist. Informierte Zustimmung in der Praxis. In der Regel
wird dem Patienten mündlich dargelegt, wie eine Gesprächspsychotherapie abläuft. Er bekommt auch Informationen über die vermutliche Dauer der Behandlung, die Häufigkeit der Sitzungen und die Dauer der Sitzungen. Im Zusammenhang mit Absprachen über die Finanzierung der Behandlung ist der Patient gegebenenfalls über den Kassenantrag zu informieren, d. h. darüber aufzuklären, welche Daten von ihm weitergegeben werden. Ferner sollte abgesprochen werden, wie mit Sitzungen umgegangen werden soll, die geplant, z. B. wegen Urlaubs, oder ungeplant, z. B. wegen Krankheit, ausfallen werden.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wenn der Patient unter einer Störung leidet, bei der theoretisch auch ein anderes Verfahren als eine Gesprächspsychotherapie indiziert sein könnte, ist ihm das mitzuteilen (Kahlke & Reiter-Theil, 1995). Dabei sind die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Gesprächspsychotherapie und den denkbaren Behandlungsalternativen zu benennen, vor allem Unterschiede im Vorgehen (z. B. einsichtsorientiert versus symptomzentriert, mehr oder weniger strukturiert usw.) und im zeitlichen Aufwand. Viele Therapeuten informieren ihre Patienten zusätzlich durch Merkblätter, die sie ihnen mit nach Hause geben. Ein Beispiel für eine kurze Information über die Art der therapeutischen Beziehung in einer klassischen Gesprächspsychotherapie enthält das folgende Merkblatt:
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Exkurs
Information über den Ablauf einer Gesprächspsychotherapie 5 Die Therapeutin/der Therapeut bietet Ihnen an, frei und offen über alles zu sprechen, was Sie beschäftigt und belastet. 5 Sie bestimmen selbst, worüber Sie sprechen. 5 Die Therapeutin/der Therapeut wird sich bemühen, Ihnen dadurch zu helfen, dass sie/er Ihnen immer genau sagt, was sie/er aus dem, was Sie gesagt haben, verstanden hat. 5 Die Therapeutin/der Therapeut wird Ihnen keine Ratschläge und Hinweise geben. 5 Erfahrungsgemäß wird man durch solche Gespräche zunächst ruhiger und entspannter, wenn auch nicht sofort und immer, und erfahrungsgemäß werden Sie dann, wenn sie ihre Probleme klarer und deutlicher sehen, Möglichkeiten und Wege zu ihrer Lösung finden. 5 Dieser Weg wird nicht immer geradlinig verlaufen, weil Sie sich natürlich auch mit schmerzlichen Erfahrungen werden auseinandersetzen müssen, die Sie vergessen oder glaubten, überwunden zu haben. (In Anlehnung an Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 1979, S. 11)
Solche Informationsblätter sind im Falle eines modifizierten Vorgehens, z. B. bei der Durchführung einer zeitlich limitierten und auf einen Leitfaden gestützten Gesprächspsychotherapie für Patienten mit einer Anpassungsstörung (7 Kap. 9.8), entsprechend zu ändern. Ein Beispiel für ein solches auf die besonderen Umstände abgestimmtes Informationsblatt ist das folgende, das Patienten ausgehändigt wurde, die an einer stationäre Gruppenpsychotherapie teilnehmen sollten: Exkurs
Merkblatt zur Gruppentherapie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf Sie haben sich zur Teilnahme an einer Gruppentherapie entschlossen. Wahrscheinlich können Sie sich zurzeit noch wenig unter einer solchen Gruppentherapie vorstellen und wissen nicht, was Sie dort erwartet. Dieses Merkblatt dient dazu, Sie in die Grundlagen der Gruppentherapie einzuführen und Ihnen eine Vorstellung darüber zu geben, warum Gruppentherapie zur Behandlung seelischer Probleme angewendet wird, was dort von Ihnen erwartet wird und warum wir der Meinung sind, dass eine solche Therapie Ihnen helfen kann. Die Gruppentherapie geht davon aus, dass – obwohl jeder seine ganz individuelle Problematik hat – alle Menschen, die sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, die gemeinsame Schwierigkeit haben, dauerhafte und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Erinnern Sie sich an die vielen Male in Ihrem Leben, wo Sie sich gewünscht haben, Sie könnten in der Beziehung zu einem anderen Menschen wirklich ehrlich Ihre positiven und negativen Gefühle äußern und eine ebenso ehrliche Antwort erhalten. Die übliche Art, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen, erlaubt leider nicht oft eine so absolut offene Auseinandersetzung.
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199 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Die Therapiegruppe ist nun ein Ort, an dem diese Art des ehrlichen Miteinanderumgehens nicht nur zugelassen, sondern ausgesprochen erwünscht ist und gefördert wird. Für Menschen, deren Hauptbeschwerden Konflikte in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen sind, stellt nun eine soziale Situation, die zu ehrlichen zwischenmenschlichen Erfahrungen ermutigt, offensichtlich eine besonders gute Gelegenheit dar, viele wertvolle und nützliche Erfahrungen über sich selbst zu machen. Es muss hierbei ausdrücklich betont werden, dass das Arbeiten an den eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen in der direkten Auseinandersetzung mit den anderen Gruppenmitgliedern keine leichte Sache ist; im Gegenteil, es kann manchmal sehr belastend sein, aber es ist ganz ausschlaggebend für den Therapieerfolg. Wenn Sie aber Ihre Beziehungen zu den anderen Gruppenmitgliedern vollkommen verstehen und entfalten lernen, werden Sie einen enormen Gewinn für die Gestaltung Ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen auch außerhalb der Therapie erzielen. Sie werden dann Wege finden zu befriedigenderen Beziehungen mit den wichtigen Menschen in Ihrem jetzigen Leben und mit den Menschen, die Sie erst noch kennen lernen werden. Am meisten können Sie sich als Patienten gegenseitig helfen, wenn Sie in der Gruppe das, was Sie im Augenblick gerade fühlen, ganz ehrlich und direkt äußern, besonders Ihre Gefühle gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern und gegenüber dem Therapeuten. Das unmittelbare Äußern der Gefühle, die Sie in der jeweiligen aktuellen Situation gerade haben, ist so wichtig, dass es gar nicht genug betont werden kann. Es stellt sozusagen den Kern der Gruppentherapie dar. Wenn Sie allmählich Vertrauen in die Gruppe gewonnen haben, können Sie dort auch sehr intime Dinge über sich enthüllen. Keiner wird aber in der Gruppe zu irgendwelchen »Bekenntnissen« gezwungen. Verschiedene Menschen brauchen unterschiedlich lange, bis sie sich in der Gruppe genügend sicher fühlen, um sich öffnen zu können.
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Man könnte die Gruppe als einen Ort ansehen, an dem Sie Risiken eingehen können, die Sie in Ihrer normalen Umgebung nicht eingehen würden, und an dem Sie mit fortschreitendem Lernen neue Verhaltensweisen ausprobieren können. Wir können Ihnen jetzt schon voraussagen, dass in der Gruppentherapie immer wieder Hindernisse und Krisen auftauchen werden. Sie werden sich wahrscheinlich, besonders in den ersten Sitzungen, zeitweilig verwirrt und entmutigt fühlen. Manchmal wird es Ihnen zweifelhaft erscheinen, ob das Arbeiten an Gruppenproblemen und an den Beziehungen innerhalb der Gruppe zu einem Nutzen für die Bewältigung der Probleme führt, derentwegen Sie sich in Behandlung begeben haben. Diese Verwirrung ist ein typisches Phänomen der Gruppentherapie und wird mit einiger Sicherheit eintreten. Wir können Ihnen nur dringend raten, in einer solchen Therapiephase in der Gruppe zu bleiben und Ihre Neigung, die Therapie aufzugeben, zu überwinden. Bevor Sie nicht mindestens 12 Therapiesitzungen mitgemacht haben, ist es unmöglich, sich ein Urteil über den eventuellen Nutzen der Therapie zu bilden. Viele Patienten finden es schmerzhaft schwierig, sich zu öffnen und ihre positiven und negativen Gefühle direkt zu äußern. Immer wieder haben einzelne Gruppenmitglieder die Neigung, sich gefühlsmäßig zurückzuziehen, mit den eigenen Gefühlen hinterm Berg zu halten, oder sie lassen andere ihre Gefühle für sie ausdrücken und treffen mit anderen Gruppenmitgliedern stillschweigende Abkommen darüber. Die Versuchung dazu ist besonders groß dann, wenn einzelne Gruppenmitglieder auch außerhalb der Gruppentherapie engere Beziehungen zueinander eingehen. Gegen solche Beziehungen ist an und für sich nichts einzuwenden. Sehr schädlich für die Gruppe und die Betreffenden selbst wirkt es sich aber aus, wenn über diese persönlichen Beziehungen außerhalb der Gruppe in der Therapiestunde ein Mantel des Schweigens gelegt wird und sie aus der sonstigen Offenheit ausgeklammert werden.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Die Ziele der Gruppentherapie sind hochgesteckt, denn es geht darum, Verhaltens- und Erlebnisweisen zu ändern, die schon viele Jahre hindurch bestehen. Die Behandlung geht daher schrittweise und langwierig vonstatten. Es ist wahrscheinlich, dass Sie nicht selten vom Therapeuten enttäuscht und verärgert über ihn sein werden und vergeblich eine Antwort auf Ihre Fragen erhoffen. Hilfe werden Sie aber in erster Linie nur von den anderen Gruppenmitgliedern erhalten, auch wenn es Ihnen manchmal schwer fallen wird, das zu akzeptieren. Die Behandlungsform der Gruppentherapie hat sich zwar ursprünglich aus der Notwendigkeit entwickelt, eine große Anzahl von Patienten möglichst ökonomisch behandeln zu können. Sie wird daher noch heute vielfach als »Therapie 2. Klasse« angesehen. In Wirklichkeit hat sich aber im Laufe der Entwicklung herausgestellt, dass die Gruppentherapie ganz besondere Vorzüge besitzt und sehr häufig die beste Behand-
Ein zentrales Element von Informierter Zustimmung beinhaltet die Abstimmung der Therapieziele. Wie bereits ausgeführt (7 Kap. 7), sind die theoretischen Ziele einer Gesprächspsychotherapie auf einem Abstraktionsniveau formuliert, das sich nicht als Grundlage für die Erarbeitung des geforderten Konsenses mit dem Patienten eignet. Dennoch ist die Festlegung konkreter Therapieziele für den und mit dem Patienten eine notwendige Aufgabe des Gesprächspsychotherapeuten bei der Erarbeitung der Indikation. Das fordern auch gesprächspsychotherapeutische Lehrbuchtexte (z. B. Eckert, 1996). ! Inhalte von Therapiezielvereinbarungen In der Regel wird eine Veränderung der Symptomatik oder des problematischen Verhaltens, die den Patienten veranlassen, um eine Psychotherapie nachzusuchen, wesentlicher Teil der Therapiezieldefinition sein: die Veränderung von psychischen und somatischen Symptomen, innerpsychischen und sozialen Problemen, Leistungseinschränkungen und problematischen Verhaltensweisen.
lungsmethode überhaupt ist. Die Ergebnisse von Untersuchungen über den Erfolg verschiedener Therapieformen ergeben eindeutig, dass Gruppentherapie der Einzeltherapie in der Wirksamkeit zumindest gleichzusetzen, häufig sogar überlegen ist. Zum Schluss noch eine Selbstverständlichkeit: Unbedingte Verschwiegenheit der Gruppenmitglieder über das, was sie in der Gruppentherapie über andere Patienten erfahren haben, ist in der Gruppentherapie genau so notwendig wie die Schweigepflicht des Arztes bei anderen Behandlungsmethoden. Wir hoffen, mit diesen Hinweisen Ihre Unsicherheit über das, was Sie in der Gruppentherapie erwartet, ein wenig verringert zu haben und wünschen Ihnen, dass Sie die Vorteile der gruppentherapeutischen Behandlung für sich fruchtbar machen können. Aus: Eckert & Biermann-Ratjen, 1985, S. 132–134.
Die Festlegung von Therapiezielen ist im individuellen Fall häufig nicht einfach, vor allem dann nicht, wenn die Störung des Patienten schwer zu kennzeichnen ist, d. h. viele Bereiche der Persönlichkeit umfasst, wie das folgende Beispiel zeigen soll. Fallvignette
Beispiel für eine Therapiezielvereinbarung Die Therapieziele einer Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hätten aufgrund der akuten Psychopathologie der Patientin zum Zeitpunkt der Behandlungsaufnahme lauten können (Eckert, 1996, S. 184): 5 Ich will nicht mehr so depressiv sein; 5 ich möchte keine Angst mehr vor meinen Suizidgedanken haben; 5 ich möchte mein promiskuitives Verhalten aufgeben können, 5 ich will nicht mehr so ausrasten, dass ich meinen Bruder mit dem Messer bedrohe;
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201 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Fallvignette
5 ich möchte die Angst verlieren, verrückt zu werden oder es zu sein; 5 ich möchte mich nicht mehr jeden Abend betrinken müssen und auch keine Drogen mehr nehmen usw. Angesichts der Vielzahl dieser Ziele einigten sich Patientin und Therapeut auf das folgende umfassende Therapieziel: »Ich möchte eine ›richtige‹ Beziehung eingehen können«. Die Praxis lehrt, dass es in der Regel günstiger ist, nicht nur ein umfassendes Therapieziel zu benennen, sondern mehrere Ziele und diese möglichst konkret und eng umschrieben zu formulieren. Zusammenfassungen von mehreren Therapiezielen in einem, wie in unserem Beispiel, sind nicht nur schwieriger zu beurteilen, sondern meistens auch schwieriger zu erreichen. Rückblickend traf das auch in dem beschriebenen Fall zu: Die Patientin hat die meisten der o. g. Therapieziele erreicht, nur das übergeordnete Ziel nicht: Ihre Beziehungen waren immer schnell intensiv, aber instabil und nicht von Dauer. Heute, fünf Jahre nach dem Ende der Therapie, überlegt sie, sich auf ein Leben ohne dauerhafte Partnerschaft einzurichten, d. h. sie würde das ursprüngliche Therapieziel ändern.
Eine Anleitung zur Erstellung individueller Therapieziele bietet ein Manual zur Qualitätssicherung in der Psychotherapie (Heuft & Senf, 1998, S. 36). In diesem findet man zehn Problembereiche aufgelistet, und die Patienten sollen angeben, in welchem Ausmaß sie sich in diesen Bereichen eine Veränderung wünschen. Es empfiehlt sich, dass der Therapeut – besonders bei Ausbildungstherapien – diese vorgegebenen Zielbereiche (z. B. »Selbstwerterleben/Selbstannahme«) ebenfalls einschätzt. Durch einen Vergleich der beiden Einschätzungen lässt sich der Grad der Übereinstimmung zwischen Patient und Therapeut bezüglich der Therapieziele leicht feststellen. Welche Folgen es haben kann, wenn kein wirklicher Konsens über die Therapieziele hergestellt wird, soll das untenstehende Beispiel zeigen:
Die Kleptomanin, die unausgesprochen ein anderes Therapieziel hatte als ihr Psychotherapeut Die Patientin, Ehefrau eines niedergelassenen Nervenarztes, hatte von einer Kriminalbeamtin den Rat bekommen, sich zur Beratung und evtl. Behandlung an eine Psychiatrische Poliklinik zu wenden. Die etwa 55-jährige Frau war zum wiederholten Male bei einem Ladendiebstahl erwischt worden. Der Interviewer stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der Ehemann von den vorangegangenen Ladendiebstählen und den jeweiligen Verhören durch Polizei und Staatsanwaltschaft keine Kenntnis hatte. Die Patientin hatte es verschwiegen. Die Patientin wirkte auf den Interviewer klug, lebenserfahren – sie hatte zwei fast erwachsene Kinder – und realitätsorientiert. Zum Zeitpunkt des Interviews wurde an der Einrichtung, an die sich die Patientin gewandt hatte, damit begonnen, mit zeitlich limitierten Psychotherapien mit begrenzten Therapiezielen zu experimentieren. Der Interviewer, der bei diesem Interview zeitlich unter Druck stand, konnte sich vor diesem Hintergrund eine auf 15 Stunden begrenzte Gesprächspsychotherapie mit dieser Patientin gut vorstellen mit dem konkreten Ziel, dass die Patientin mit ihrem Mann offen über ihre Schwierigkeiten spricht. Als die Patientin drei Jahre später die Behandlung beendete, war ein Jahr zuvor ihr Mann verstorben, die Praxis verkauft und auch das letzte Kind in eine eigene Wohnung gezogen. In den drei Jahren war es zu keinem weiteren Ladendiebstahl mehr gekommen und die Patientin fürchtete auch keinen »Rückfall« mehr. Allerdings hat sie ihrem Mann bis zu seinem Tode nie von diesem Problem erzählt. Sie begründete das im Nachhinein damit, dass es »nichts gebracht« hätte und außerdem hätte sie sich ihrem Mann gegenüber »zu Tode geschämt«. (Aus: Reimer, Eckert, Hautzinger & Wilke, 2000, S. 182)
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wie wichtig es ist, bei der Therapiezielfindung auf den Vorstellungen des Patienten aufzubauen, verdeutlicht der Bericht einer Patientin, deren Behandlungen dann scheiterten, wenn die Therapeuten versuchten, ihr ihre Therapiezielvorstellungen überzustülpen (»Anna Q« in Kernberg, Dulz & Eckert, 2005).
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Vorbereitungen auf die Behandlung. Studien haben gezeigt, dass eine möglichst praktische Vorbereitung auf die Behandlung, ein sog. Prä-Training, den Therapieerfolg positiv beeinflusst. In Deutschland sind die probatorischen Sitzungen für diese Vorbereitungsarbeit eingerichtet worden. Seltener ziehen Therapeuten auch noch andere Mittel heran, z. B. die Empfehlung, ein Buch über Gesprächspsychotherapie zu lesen. Auch von der Möglichkeit, ein Video mit einer aufgezeichneten Gesprächspsychotherapie zu zeigen, wird offensichtlich kaum Gebrauch gemacht. ! Alle Absprachen, vor allem auch die Therapieziele, können im Behandlungsverlauf erneuert oder verändert werden können.
Bei negativer Indikationsentscheidung: Begründung einer Kontraindikation und der Hinweis auf Behandlungsalternativen Es ist allgemein bekannt, dass sich nicht wenige Therapeuten schwer damit tun, dem Patienten mitzuteilen, dass sie in seinem Fall eine Psychotherapie bzw. eine Gesprächspsychotherapie für nicht bzw. für kontraindiziert halten. Dennoch ist es die Aufgabe des Therapeuten, dem Patienten seine negative Indikationsstellung zu begründen und ihm nach Möglichkeit auch Behandlungsalternativen aufzuzeigen. Einige Therapeuten vermeiden diesen Schritt und begründen ihre negative Indikationsentscheidung z. B. damit, dass sie keine Zeit hätten (»Als ich Sie zum Erstgespräch eingeladen habe, wusste ich noch nicht, dass ein ehemaliger Patient die Behandlung wieder aufnehmen möchte«) oder belassen es bei einer Begründung auf der persönlichen Ebene (»Ich denke, ich bin nicht der richtige Therapeut für Sie«). Von solchen Verschleierungspraktiken ist strikt abzuraten. Da die Patienten es fast immer merken, dass es sich um vorgeschobene Begründungen handelt, wird ihre bereits vorhandene Selbstunsicherheit nur noch weiter verstärkt.
So wie latent suizidale Patienten meistens erleichtert sind, wenn man ihre Suizidgedanken anspricht, so sind Patienten mit einem fragilen Selbstkonzept, die durch eine Psychotherapie sehr rasch überfordert sein würden und Gefahr liefen, psychotisch zu dekompensieren, häufig erleichtert, wenn ihnen von einer Psychotherapie abgeraten wird. Sie fühlen sich oft einfach richtig verstanden, wenn man ihnen z. B. zu einer Behandlung rät, die ihnen konkret dabei hilft, den Tagesablauf sinnvoll zu strukturieren, und ihr Leistungsvermögen fördert, wie zu einer Behandlung in einer psychotherapeutisch orientierten Tagesklinik, in der sie auch erst einmal ausprobieren können, ob Psychotherapie überhaupt ein für sie geeigneter Weg ist. Schwieriger gestaltet sich die Empfehlung einer Alternative zu einer ambulanten Psychotherapie häufig in ländlichen Regionen. Da Kontraindikationen jedoch meistens die schwerer gestörten Patienten betreffen, kommen stationäre Behandlungsangebote in Frage, bei denen die räumliche Entfernung vom Wohnsitz des Patienten keine ausschlaggebende Rolle spielt. Informierte Zustimmung und Ethik. Abschließend bleibt noch festzustellen, dass eine adäquate Aufklärung des Patienten, die eine Informierte Zustimmung ermöglicht, in der Verantwortung des einzelnen Psychotherapeuten liegt. Bezüglich dieser Verantwortung ist der Therapeut in Zeiten, in denen die Krankenkassen immer weniger Geld für Versicherungsleistungen bereitstellen können, die Zahl der Psychotherapeuten wächst und die berufliche Existenzsicherung immer schwieriger wird, sicherlich Anfechtungen ausgesetzt. So kann eine Aufklärung über Behandlungsalternativen schon einmal »vergessen« werden, wenn die eigenen Behandlungskapazitäten nicht ausgebucht sind. Oder es werden Patienten in die Behandlung genommen, für die eine Eheberatung als erster Schritt bei der Bewältigung einer akuten psychischen Krise sinnvoller gewesen wäre als das Angebot einer Gesprächspsychotherapie. Aber nicht nur Gesprächspsychotherapeuten laufen Gefahr, Indikationsentscheidungen nicht fachgerecht zu begründen. Sie ist sicherlich größer und die Folgen unangemessener Indikationsentscheidungen sind für den Patienten auch gravierender,
203 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
wenn Psychiater, Neurologen oder auch Allgemeinmediziner zu einer »rein« medikamentösen Behandlung der psychischen Störung raten und Psychotherapie als mögliche Behandlungsalternative oder ergänzende Behandlungsmaßnahme erst gar nicht erwähnen oder gar davon abraten.
8.4
Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P.
8.4.1
8
Angaben zur Person
Die folgenden Angaben sind – ohne dass gravierende Informationsverluste in Kauf genommen werden müssen – anonymisiert. Annette P. ist zum Zeitpunkt des Erstgesprächs 18 Jahre alt. Sie ist Schülerin der zwölften Klasse und lebt mit der ein Jahr älteren Schwester und dem 50-jährigen Vater zusammen. Die Mutter – sie ist ein Jahr jünger als der Vater – hatte die Familie ein halbes Jahr zuvor verlassen. Neben der Schule arbeitet Annette abends oder am Wochenende in einem Seniorenheim.
H. Petersen Nachfolgend wird die Problematik der bereits vorgestellten 18-jährigen Schülerin erläutert, die auf die nahezu plötzliche und für sie unbegreifliche Trennung ihrer Mutter von der Familie mit psychogenem Appetitverlust und weiteren schweren Symptomen reagiert hatte. Für diese Patientin war in einem Indikationsinterview (7 Kap. 8.2.5) und seiner Auswertung (7 Kap. 8.2.6) die Indikation für eine zeitlich limitierte Psychotherapie gestellt worden. Die Patientin wurde an eine Gesprächspsychotherapeutin überwiesen mit der Frage, ob für diese Patientin eine zeitlich begrenzte Gesprächspsychotherapie als Behandlung in Frage käme und sie als Therapeutin zur Verfügung stünde. Beide Fragen werden positiv beschieden. Im Folgenden stellt die Therapeutin Henriette Petersen zunächst dar, nach welchen Kriterien sie eine positive Indikation gestellt hat. Diese Darstellung enthält alle die Angaben, die auch in dem Bericht an den Gutachter aufgeführt sein müssen (7 Kap. 8.31), wenn die Behandlungskosten von einer Krankenkasse übernommen werden sollen. Darüber hinaus werden auch Ergebnisse von Psychologischen Tests berichtet. Die Evaluation der psychotherapeutischen Behandlung durch den Einsatz von Fragebögen und durch Tonaufnahmen, die in der Supervision besprochen werden können, haben in der Gesprächspsychotherapie lange Tradition, die auf ihren Begründer, Carl Rogers, zurückgeht. Die Therapeutin hat diesen Fall bereits anderenorts dargestellt (Petersen, 2003).
8.4.2
Frühere Behandlungen
Annette hatte zuvor selbst keine Psychotherapie in Erwägung gezogen. Vielmehr haben ihre Angehörigen und vor allem die behandelnde Hausärztin auf eine Therapie gedrungen. Letztere überwies sie an eine Psychiatrische Poliklinik.
8.4.3
Anlass der jetzigen Behandlung
Die große und stark abgemagerte Schülerin hat mit einem Gewicht von ca. 49 kg bei einer Größe von 176 cm ein deutliches Untergewicht; ca. 19% unter dem Gewicht vor der Erkrankung bzw. QueteletsIndex von 15,8 (ICD-10, Weltgesundheitsorganisation, 1993, S. 200). Bei Annette fallen neben der deutlichen Magerkeit des Körpers ihr schmales Gesicht mit den übergroß wirkenden Augen und die knochig abgemagerten Hände auf. Sie erweckt einen verschüchterten und sehr scheuen Eindruck, sitzt fast erstarrt, in sich gekrümmt im Erstgespräch vor mir. Mit leiser, wenig modulierter Stimme berichtet sie von sich und bedarf immer wieder der ermunternden Nachfrage. Zu Beginn des neuen Schuljahres vor ca. einem halben Jahr habe die Mutter der Familie »völlig unerwartet« eröffnet, dass sie wegen einer neuen Beziehung die Familie verlassen werde, gab weiter keine Erklärungen und setzte diesen Entschluss binnen 14 Tagen um. Annette habe das nicht begreifen können. Sie habe nach diesem Ereignis keine bewusste Diät gemacht, da sie mit ihrem Aussehen immer zufrieden gewesen sei. Sie habe kaum bemerkt, dass
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
sie, seitdem die Mutter die Familie verlassen hatte, immer weniger aß und schließlich tagelang das Essen »vergaß«. Sie habe schließlich gespürt, dass sie immer schwächer geworden sei, dass sie kaum noch Sport treiben konnte und dass das Konzentrationsvermögen stark nachgelassen habe. Nächtelang habe sie nicht schlafen können und habe bis jetzt noch unvermindert Einschlafprobleme. Sie sei sehr ernst und immer zurückhaltender geworden, habe sich deshalb auch vom Freund getrennt. Schließlich sei sie auf 46 kg abgemagert, woraufhin der Vater und die Schwester zur Therapie drängten. Sie sehe auch ein, dass sie »nicht so dünn bleiben könne«. Auf Insistieren der Ärztin habe sie sich diszipliniert und zu regelmäßigen Mahlzeiten gezwungen und dadurch etwas zugenommen. Das Gewicht stagniere jetzt, weil sie einfach nicht stärker gegen ihre Appetitlosigkeit »an-essen« könne. Annette berichtet dies alles gedrückt und mit kleiner, fast kindlicher Stimme. Sie schlingt während des Gespräches die Arme um ihren Leib (das wird noch etliche Therapiestunden so bleiben), als ob sie fröre.
8.4.4
Überweisungskontext
Annette P. wurde der Therapeutin von der Psychiatrischen Poliklinik der Universität nach vorheriger Rücksprache wegen der Dringlichkeit des Therapiebeginns überwiesen. Dem überweisenden Psychologen war bekannt, dass die Therapeutin erfolgreich
essgestörte Frauen gesprächspsychotherapeutisch behandelt hatte. Der Behandlungsvorschlag der Poliklinik an die Therapeutin lautete dahingehend, dass der erkrankten Schülerin im Hinblick auf den reaktiven Charakter der Ess-Störung das Angebot einer Kurzzeittherapie gemacht werden solle (ca. 25 Stunden). Annette folgte der Empfehlung des Psychologen der Poliklinik und rief die Therapeutin an, um einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren.
8.4.5
Befunde
Medizinische Befunde. Von der Hausärztin wurden
die bestehende körperliche Symptomatik und eine Amenorrhö diagnostiziert. Psychischer Befund. Im Erstkontakt wirkte Annette P. auf die Therapeutin eher depressiv – verschlossen, ausdrucksarm und sie vermittelte nur indirekt ihren Leidensdruck. Der Kontakt war gut herstellbar mit flüssigem Rapport, allerdings zunächst mit stockendem Sprechfluss. Sie reagierte affektiv verhalten, jedoch adäquat. Es lagen keine inhaltlichen und formalen Denkstörungen vor, es gab keinen Anhalt für psychotisches Erleben. Annette war voll orientiert, ohne mnestische Störungen. Der Antrieb wirkte leicht gemindert. Zur Objektivierung der Diagnose und zur Evaluation der geplanten Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 10) wurden auch testpsychologische Daten erhoben.
Exkurs
Testdiagnostik in der Gesprächpsychotherapie Die bei der Diagnostik von Annette P. eingesetzten Fragebögen eignen sich zur Erhebung der Beeinträchtigungen in den Bereichen, in denen durch eine Gesprächspsychotherapie auch Veränderungen erzielt werden können. Werden die Fragebögen bei Abschluss der Therapie erneut vorgegeben (Posttestung), kann durch den Vergleich mit dem Ergebnis der Prätestung der Therapieeffekt bestimmt werden. Wird der Patienten eine halbes oder ein Jahr nach
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Abschluss der Behandlung katamnestisch untersucht, lassen sich auch Aussagen über die Stabilität des Therapieeffektes machen. Die Durchführung von Katamnesen sind in der Gesprächspsychotherapie deshalb besonders sinnvoll, weil empirisch nachgewiesen ist, dass das Verfahren eine »Langzeitwirkung« entfaltet: Die einmal erreichten Veränderungen haben nicht nur langfristig Bestand, sondern es kann im Katamnesezeitraum häufig zu weiteren positiven Veränderungen kommen (Frohburg, 2004).
205 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
Die spezifischen Persönlichkeitsaspekte: FRBS Der FRBS (Feelings, Reactions, and Beliefs Survey) wurde von D.S. Cartwright, einem früheren Mitarbeiter von Carl Rogers, entwickelt (Cartwright & Mori, 1988). Das Testverfahren liegt als deutsche Version vor (Höger, 1995). Es bezieht sich explizit auf Rogers’ Persönlichkeitstheorie und erfasst in neun Skalen Aspekte, die von ihm zur Unterscheidung zwischen einer »reifen« und einer »unreifen« Persönlichkeit beschrieben wurden.
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lastung einer Person durch ihre Symptome bzw. Beschwerden. 1. Somatisierung 2. Zwanghaftigkeit 3. Unsicherheit 4. Depressivität 5. Angst 6. Aggressivität 7. Phobische Symptome 8. Paranoide Züge 9. Psychotizismus
Der Bindungsstil: BFKE Der »Bielefelder Fragebogen zur Klientenerwartung« (BFKE) von Höger (1993, 1999) wurde entwickelt, um auf der Basis der Bindungstheorie (Bowlby, 1975; Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Main, 1982) empirisch fundierte Grundlagen für ein konsequent am Klientenzentrierten Konzept orientiertes, differenzielles Therapeutenverhalten zu schaffen (Höger, 1995). Die diesbezüglichen Untersuchungen zeigen, dass sich Patienten aufgrund ihrer Erwartungen an die therapeutische Beziehung in fünf unterschiedliche Gruppen einteilen lassen, die den von Ainsworth et al. (1978) identifizierten Bindungsmustern entsprechen: sicher, unsicher-vermeidend (in den beiden Varianten »verschlossen« und »öffnungsbereit«) und unsicher-ambivalent (in den zwei Varianten »verschlossen« und »anklammernd« (Höger, 1999).
Die symptomatischen Beschwerden: SCL-90-R Die »Symptom-Checkliste« von Derogatis (SCL90-R), übersetzt und adaptiert von G. H. Franke (1995), erfasst anhand von neun Skalen die Be-
Die Auswertung der Tests zum Zeitpunkt des Erstgesprächs (Prätest) ergab bei Annette in fast allen Bereichen klinisch relevante Befunde, die die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung unterstreichen. Aufgrund ihrer Selbstdarstellung im BFKE wurde die Patientin dem Bindungsmuster unsicher-vermeidend (verschlossene Variante) zugeordnet. Sie gibt sich in bindungsrelevanten Situationen betont neutral und nimmt eigene Akzeptanzprobleme nicht wahr (7 Kap. 4.7.4).
Außerdem gibt ein Gesamtwert (GS) über die allgemeine Symptombelastung Auskunft.
Interpersonale Probleme: IIP-D Das »Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme – deutsche Version (IIP-D)« von Horowitz, Strauß und Kordy (1994) erfasst auf acht Teilskalen und einer Gesamtskala Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Die Teilskalen erfassen die folgenden Aspekte: 1. zu autokratisch/dominant 2. zu streitsüchtig/konkurrierend 3. zu abweisend/kalt 4. zu introvertiert/sozial-vermeidend 5. zu selbstunsicher/unterwürfig 6. zu ausnutzbar/nachgiebig 7. zu fürsorglich/freundlich 8. zu expressiv/aufdringlich Eine Gesamtskala respräsentiert die allgemeine Problembelastung im interpersonalen Bereich. Ausführlichere Informationen zu diesem Test finden sich z. B. bei Brähler, Schumacher und Strauß (2002).
8.4.6
Diagnose nach ICD-10
Nach den beschriebenen Symptomen handelt es sich bei Annette um einen psychogen bedingten Appetitverlust, verbunden mit erheblichem Gewichtsverlust (F50.8), der als Anpassungsstörung an die gravierende Veränderung der Lebenssituation – die Mutter verließ »urplötzlich« die Familie – zu verstehen ist (F43.28).
206
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Im Abschnitt F43 der ICD-10 werden Reaktionen auf schwere Belastungen klassifiziert. Diese Störungen werden durch ein oder zwei ursächliche Faktoren ausgelöst: ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation führt und schließlich eine Anpassungsstörung hervorruft. Wesentlich ist, dass die Störung ohne das belastende Ereignis nicht entstanden wäre (Weltgesundheitsorganisation, 1993, S. 167). In der Beschreibung des Störungsbildes F43.2 – der Anpassungsstörung – wird aufgezeigt, wie nach einer entscheidenden Lebensveränderung bzw. einem belastenden Lebensereignis Zustände subjektiven Leidens und emotionaler Beeinträchtigung eintreten. Diese behindern soziale Funktionen und Leistungen während des Anpassungsprozesses an das auslösende belastende Ereignis. Zwar spielen die individuelle Disposition oder Vulnerabilität der Betroffenen bei dem möglichen Auftreten und der Form der Anpassungsstörung eine größere Rolle als bei anderen Krankheitsbildern von F43, aber es ist davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Therapeutin notiert noch als ergänzende Bemerkung zu der von ihr gestellten ICD-10-Diagnose: Die Diagnose einer Anpassungsstörung schließe nach ihrer klinischen Erfahrung nicht aus, dass auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (z. B. vegetative Übererregbarkeit mit Vigilanzsteigerung, eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit, ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit) das klinische Bild prägen. Das sei auch bei Annete P. zu beobachten.
8.4.7
Anamnese
Vorgeschichte. Annettes Eltern waren noch Schüler,
als sie sich kennenlernten, und sie heirateten unter dem Druck eigener familiärer Verhältnisse schon kurz nach dem Abitur. Nach dem Studium der Eltern wurden kurz hintereinander die beiden Töchter geboren. Die Familie lebte in der DDR mit guten sozialen Kontakten. Annette beschreibt ihre Kindheit als harmonisch und unproblematisch. Zur Mut-
ter habe sie ein nahes, offenes und vertrauensvolles Verhältnis gehabt, unter anderem auch deshalb, weil die Mutter beruflich weniger in Anspruch genommen war. Zum Vater habe ein kameradschaftliches Verhältnis bestanden und die Beziehung zur älteren Schwester sei immer herzlich gewesen. Bis in die Pubertät sei Annette ein sehr lebhaftes und selbstbewusstes Kind gewesen, ihre Schwester hingegen eher scheu. Das habe sich dann aus unerklärlichen Gründen geändert – Annette sei zurückhaltender und stiller geworden, während die Schwester nun temperamentvoller reagiert hätte. Annette habe dies aber als nicht problematisch empfunden, sie sei sich am ehesten in der Schule durch die Aufforderungen der Lehrer, sich mehr am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen, ihrer Zurückhaltung bewusst geworden. Die Familie hat offenkundig relativ angepasst in der DDR gelebt (die Mutter war Lehrerin), bis die Eltern Ende der 80er-Jahre Verwandte »im Westen« besuchen durften und begeistert vom Leben dort zurückgekehrt seien. Es wurde der Entschluss gefasst, die DDR zu verlassen und 1989 dies über die damals schon durchlässige ungarische Grenze zu versuchen. Dennoch sei die Flucht sehr aufregend und gefährlich gewesen, und das damals zehnjährige Mädchen habe dabei viel Angst erlebt. Die Trennung von der Heimat habe sie allerdings als unproblematisch erfahren, da »im Westen« dann alles so toll war und sie die Schule als sehr kinderfreundlich wahrgenommen habe. Nur den Verlust des großen Gartens und der Katze habe sie sehr bedauert. Die Eltern hätten dann rasch Arbeit und eine schöne Wohnung gefunden, wodurch eine Integration im neuen Umfeld ziemlich problemlos und rasch erfolgte. Trotz aller Harmonie im Familienleben habe es auch Bereiche gegeben, in denen Annette ihre Mutter als streng und unnachgiebig erlebte. So seien der Mutter sehr gute Schulleistungen der Töchter außerordentlich wichtig gewesen. In der Pubertät habe Annette die Schule plötzlich weniger bedeutet und als sich ihr Notendurchschnitt am Ende der achten Klasse von 1,6 auf 2,4 veränderte, habe die Mutter stark enttäuscht und sehr ärgerlich reagiert, und Annette hätte sich danach intensiven Kontrollen unterziehen müssen (Vorzeigen der Schularbeiten, zusätzliches Lernpensum u.ä.), die bis zum Auszug der Mutter anhielten. Der Notendurch-
207 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
schnitt der Tochter habe sich dadurch allerdings verbessert (auf 1,8). Annette schildert ihre Mutter außerdem als extrem ordentlich. Den Familienmitgliedern blieb immer unbegreiflich, wie heftig die Mutter auf Unordnung oder auch versehentlich Verschüttetes reagierte, meist mit tränenreichen Zornesausbrüchen, als wäre sie persönlich verletzt worden. Um die Mutter zu beruhigen bzw. gar nicht erst zu erregen, hätten sich alle bemüht, den ausgeprägten Ordnungswünschen der Mutter zu entsprechen. Nahezu zwanghaft habe das Putzritual der Wohnung immer an erster Stelle gestanden – kein Sommerwetter oder keine spontane Idee hätten die Mutter von ihrem Putzvorhaben – in das die gesamte Familie einbezogen wurde – abbringen können. Bezüglich der psychosexuellen Entwicklung der Töchter habe es Offenheit gegeben – die Freunde der Töchter wurden akzeptiert und nahmen am Leben der Familien teil. Auch die Freundinnen der Töchter durften am Familienleben teilhaben. Die Ehe der Eltern habe die Jugendliche als harmonisch und offen empfunden. Es sei aus ihrer Sicht immer über alles gesprochen worden (Nach der Trennung der Eltern erfuhr Annette allerdings vom Vater, dass die Mutter schon sehr früh eine verheimlichte Liebesbeziehung hatte – als diese per Zufall offenbar wurde, habe sich der Vater sehr darum bemüht, den Wünschen der Mutter gerecht zu werden). Die Mutter habe sich stets Zeit für gründliche Erklärungen und Gespräche genommen. Umso bestürzender habe Annette dann die zunächst unerklärlichen Veränderungen zwischen den Eltern erlebt. Die Mutter habe dem Vater wohl wenige Wochen vor der Trennung mitgeteilt, dass sie sich wegen eines anderen Mannes von der Familie trennen wolle. Dies wurde hinter verschlossenen Türen besprochen, was sehr untypisch für die bisherigen Familiengepflogenheiten gewesen sei. Die Mutter habe auch das elterliche Schlafzimmer verlassen und unter Vorwänden abwechselnd in den Zimmern der Töchter geschlafen, wenn diese bei ihren Freunden waren. Sie sei unbegründet verreist bzw. sei auch mal über Nacht nicht nach Hause gekommen. Annette habe dies alles sehr irritiert, so dass sie schließlich nachfragte, von den Eltern jedoch nur ausweichende Antworten erhalten habe. Diese unklare Situation wäre dann so unheimlich für die Tochter geworden,
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dass sie die Mutter zur Rede gestellt habe. Bei dieser Unterredung habe diese beiden Töchtern ihre Trennungsabsicht mitgeteilt, eine Begründung dieses Schrittes jedoch mit den Worten verweigert: »Du kannst das nicht verstehen, weil du noch zu jung bist«. Annette habe mit starkem Weinen reagiert, was über viele Tage hinweg immer wieder hervorbrach, worauf die Mutter in keiner Weise eingegangen sei. Fassungslos habe sie dann den kurzfristigen Auszug der Mutter erlebt (ihre Schwester war zu diesem Zeitpunkt auf Klassenreise, der Vater war beruflich unterwegs). Bestürzend sei für sie die eigentliche Abschiedsszene gewesen: Annette sah hilflos zu, wie ihre Mutter ihre Sachen gemeinsam mit ihrem neuen Freund packte – in einer Stimmung, als ginge sie auf eine Urlaubsreise. Fast vergnügt habe sie sich dann von der betroffenen und entsetzten Tochter verabschiedet, ohne zum Ausdruck zu bringen, wie schlimm dies für Annette sein könne. Annette habe sich in dieser Situation völlig überfordert und hilflos gefühlt und habe schließlich (da sie für den Familieneinkauf zuständig war) die Mutter nach etwas Haushaltsgeld gefragt, denn es hätten noch Lebensmittel besorgt werden müssen und das Haushaltsportemonnaie sei leer gewesen. Fast verächtlich habe die Mutter darauf geantwortet: »Das geht mich jetzt nichts mehr an!« Das habe Annette zutiefst erschüttert. Eine solche Verwandlung habe sie bei der Mutter, die sie stets offen, liebevoll und fürsorglich erlebt habe, niemals erwartet und diese Veränderung bliebe ihr – neben dem Verlust – unbegreiflich. Dass die Mutter ihr weder Trost noch Verständnis für ihre Verzweiflung entgegenbrachte, habe sie tief verletzt. Auch der Vater habe heftig auf die Trennung reagiert. Er habe vermehrt Alkohol getrunken (Annette traf ihn zweimal betrunken an) und sei depressiv geworden. Die ärztlich verordneten Antidepressiva hätten aber starke belastende Nebenwirkungen gehabt (Ohnmachtsanfälle). Auch das schockierte Annette. Die Schwester habe ebenfalls verzweifelt reagiert, durch die Vorbereitung auf das Abitur aber wohl eine Kompensationsmöglichkeit gefunden. Annette habe sich in der neuen Situation kaum zurechtfinden können. Sie habe zur Mutter stets ein so nahes und offenes Verhältnis gehabt, dass sie deren verändertes Verhalten nicht verstehen konnte.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Sie habe sich verlassen gefühlt und sie habe immer wieder denken müssen: »… ich bin meiner Mutter nichts mehr wert, da es sie nicht interessiert, wie sehr mich ihr Verhalten – fortzugehen und nichts zu erklären – verletzt …« Sie habe das Vertrauen zur Mutter verloren und zweifele an allem, was diese ihr je zuvor an liebevollem und einfühlsamen Verhalten gezeigt habe. Annette sei wie betäubt gewesen, sie habe nicht schlafen und nicht essen können. In der Schule und bei ihren Freunden habe sie ihren Schmerz versucht zu verbergen. Da dies nicht wirklich möglich war, habe sie sich immer mehr zurückgezogen. Auch von ihrem Freund habe sie sich schließlich getrennt – er habe die Mutter verurteilt – das habe sie nicht ertragen. Sie habe Hilfe nicht annehmen können, da sie von sich erwarte, alle Probleme selber zu bewältigen. Sie habe aber auch über den Verlust nicht reden wollen, um den damit verbundenen schmerzlichen Gefühlen nicht ausgeliefert zu sein. Aktuelle Situation. Durch ihr gestörtes Essverhalten verlor Annette immer mehr an Gewicht. Die Familie hätte das – ebenso wie sie selber – zunächst nicht bemerkt. Der Vater sei auch viel außer Haus gewesen (viel Arbeit und der Versuch einer neuen Beziehung) und die Schwester lebte weitgehend beim Freund. So habe es auch kaum noch gemeinsame Mahlzeiten gegeben (vor der Trennung habe sie mit der Mutter immer gefrühstückt; es habe regelmäßig Mittagessen gegeben, da die Mutter halbtags gearbeitet habe, und vor allem das gemeinsame Abendbrot, welches abwechselnd gekocht wurde, sei wichtig gewesen). Annette war sich weitgehend selbst überlassen, es fehlte plötzlich die fürsorgende Mutter, und mit ihrem Schmerz vermochte sich Annette niemandem anzuvertrauen. Ihre Abmagerung wurde missverstanden, besonders von der Mutter, die diese offenkundig nicht als Reaktion auf die Trennung der Eltern verstand, sondern als gezielte Diät der Tochter. Annette ist noch immer verletzt, dass die Mutter ihren Schmerz ignorierte und anfänglichen Versuchen von Annette, sich mit der Mutter auszusprechen, ausgewichen ist. Die Trennung der Eltern und der damit verbundene Verlust eines »heilen Elternhauses« ist für Annette schlimm gewesen. Noch schlim-
mer erlebte Annette den Verlust der Mutter als verständnisvolles, einfühlsames und fürsorgendes Gegenüber: Sie berichtete, dass die Mutter nie anriefe oder vorbei käme, was die Mutter damit begründe, dass sie den Vater nicht treffen wolle. Sie frage nur nach oberflächlichen Dingen. Deutlich wurde aus diesen Schilderungen, dass die Mutter die Verlassenheitsgefühle der Tochter weiterhin ignorierte. Sie übersah auch die ganze praktische Not der Tochter, die sich abrupt alleine in einem Haushalt zurechtzufinden musste, der vorher von ihr strukturiert und geführt worden war (auch wenn Annette zahlreiche Haushaltspflichten wahrgenommen hatte).
8.4.8
Überlegungen zur Genese der Erkrankung und zur auslösenden Situation
Die folgenden Überlegungen zur Genese der psychosomatischen Erkrankung von Annette werden auf dem Hintergrund der ätiologisch orientierten Krankheitslehre von Biermann-Ratjen und Swildens (1993) vorgenommen. Ihr Modell der klientenzentrierten Psychopathologie zeigt Erklärungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen auf. Zum besseren Verständnis sollen einführend nochmals wichtige Grundbegriffe dieser Entwicklungs- (7 Kap. 4) und Störungslehre (7 Kap. 5) wiederholt werden. Rogers versteht »need for positive regard«, das Bedürfnis nach positiver Beachtung bzw. akzeptierender Zuwendung, als eine zentrale Voraussetzung der psychischen Entwicklung von Menschen überhaupt. Biermann-Ratjen und Swildens (1993) folgern daraus, dass Erfahrungen des Kindes nur dann Selbsterfahrungen werden können, wenn diese von den wichtigen Bindungspersonen empathisch verstanden und bedingungsfrei anerkannt werden. Die Autorin übersetzt deshalb »need for positive regard« mit dem Ausdruck »Bedürfnis nach Anerkennung«. Eine ganz wesentliche Erkenntnis der klientenzentrierten Krankheitslehre beinhaltet also Folgendes: Werden Erfahrungen und deren Bewertungen sowie ihr affektiver Ausdruck von wichtigen Bindungspersonen nicht anerkannt, so können sie nicht Selbsterfahrung werden und somit auch nicht in das Selbstkonzept integriert werden. Im Selbstkonzept finden
209 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
sich also organismische und sozial positiv bewertete, d. h. anerkannte Erfahrungen. Zur Erklärung psychopathologischer Phänomene definiert die klientenzentrierten Störungsbzw. Krankheitslehre (7 Kap. 5) die Begriffe primäre und sekundäre Inkongruenz. Zur primären Inkongruenz kommt es z. B. dann, wenn wichtige Bindungspersonen Erfahrungen des Kindes negativ bewerten und eine Diskrepanz zwischen dem organismischen Erleben des Kindes und der Resonanz der Bindungspersonen (die Anerkennung fehlt) entsteht. Diese Diskrepanz löst nachgewiesenermaßen Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Verhaltensund Erfahrungseinschränkungen aus (Speierer, 1990, S. 98). Die nicht anerkannten Erfahrungen können nicht oder nur unvollständig in das Selbstkonzept integriert werden. Zu dieser primären Inkongruenz kommt es in den ersten Lebensjahren, wenn das Selbstkonzept sich noch in der Entwicklung befindet und also noch sehr verletzlich ist. Die sekundäre Inkongruenz betrifft ein schon konsolidiertes Selbstkonzept, das aber dann verletzlich ist, wenn mit dem bestehenden Selbstkonzept unvereinbare oder schwer integrierbare Erfahrungen sich ereignen, z. B. traumatische Lebensereignisse oder lebensphasen-gebundene belastende Erfahrungen. Durch die mit der Selbstachtung und dem Selbstkonzept unvereinbaren Ereignisse entsteht eine konflikthafte Spannung – also die sekundäre Inkongruenz –, die zu einer Stagnation der Selbstentwicklung führen kann. Da die Therapie von Annette als klientenzentrierte Krisenintervention angelegt war, lag der Fokus der therapeutischen Arbeit auf dem Verstehen und Integrieren der traumatischen Erfahrungen, die direkter Auslöser der Erkrankung waren, d. h. auf der sekundären Inkongruenz und der Stagnation der Selbstentwicklung. Im Rahmen der Kurzzeittherapie können Anteile, die durch eine primäre Inkongruenz bedingt sind, in der Regel nicht ausreichend bearbeitet und verstanden werden. Wie bereits erwähnt, spricht die individuelle Disposition bzw. der Grad der Vulnerabilität eines Menschen bei dem möglichen Auftreten und der Art der Anpassungsstörung eine gewisse Rolle. Im vorliegenden Fall können wir jedoch davon ausgehen, dass Annette nicht erkrankt wäre, hätten sich ihre Eltern nicht – zumal auf diese Weise – getrennt.
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Für die individuelle Disposition bzw. Vulnerabilität sind die primäre Inkongruenz und das daraus resultierende mehr oder weniger konsolidierte Selbstkonzept entscheidend. Dass Annettes Selbstkonzept verletzlich ist, lässt sich durch ihre biographischen Schilderungen erschließen. Als die in der DDR »sozial gut integrierte« Familie in den Westen geht, wird nicht der Verlust von Freundschaften, Nachbarschaften oder Berufskollegen bzw. Schulfreunden beklagt, sondern vermisst wird der große Garten und die Katze. Das angeblich offene und harmonische Familienklima war möglicherweise durch Abschirmung nach außen und Konfliktvermeidung im Inneren gekennzeichnet. Dafür spricht, dass die Mutter binnen kürzester Zeit diese »harmonische Familie« verlassen konnte, ohne sich um die seelischen Verletzungen der Töchter zu kümmern. Annette hatte auch noch keine ausreichend kritische Distanz zur Mutter entwickeln können (mit immerhin achtzehn Jahren) und fühlte sich von der Fürsorge von ihr noch abhängig. Sie hatte im Selbstkonzept verankert: »Ich löse meine Probleme ohne Hilfe anderer«, was ihr dann im eingetretenen Extremfall doch nicht gelang. Das macht deutlich, dass einerseits innerfamiliär nur unzureichende Konfliktbewältigungsstrategien entwickelt worden sind, dass es andererseits aber verboten war, sich außerhalb der Familie Hilfe zu suchen, weil es den Wert und die Bedeutung der Familie herabgesetzt hätte. Innerfamiliäre Bewältigungsmöglichkeiten (offene Aussprache, gegenseitige Unterstützung, einfühlendes Verstehen und ähnliches) konnten nicht sonderlich entwickelt sein – sonst hätte Annette nicht dieses Ausmaß ihrer Erkrankung erfahren müssen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Mutter »immer« liebevoll und einfühlsam reagierte, wenn sie nun, als es wirklich notwendig war, Annettes Not ignorierte und die Zeichen dafür fehl deutete (»Diät«). Auch der Vater zeigte inadäquate Bewältigungsstrategien (Alkohol, Depression, Flucht in Arbeit und neue Beziehung), ebenso die Schwester (Flucht zum Freund und in die Abiturvorbereitungen). Erst gegen Ende der Therapie erlaubte sich Annette erstmals, ihre Mutter kritischer zu sehen und berichtete von deren zornigen Reaktionen auf die schulische Notenveränderung in der achten Klasse
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
sowie von dem fast zwanghaft durchzuführenden Putzritual und den heftigen Vorwürfen bei Verletzungen der mütterlichen Ordnung. Es ist davon auszugehen, dass diese rigiden Reaktionen schon seit langem bestanden und sich der Zorn der Mutter auch auf die spielerische und lustvolle Unordnung der kleinen Töchter richtete, was zu einer Diskrepanz zwischen organismischen Erleben der Kinder und der fehlenden Anerkennung der Bindungsperson – der Mutter – führte. Offen bleibt auch, was in der Pubertät zu Annettes Temperamentswechsel (zeitgleich zur Veränderung der Schulnoten oder als Reaktion auf die mütterlichen »Fördermaßnahmen«) führte. Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass wesentliche Erfahrungen seitens der Eltern nicht verstanden und somit nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, denn Annette berichtete zwar davon in der Therapie, jedoch ohne eigenes Erklärungsmodell. Aus dem Bielefelder Klientenerwartungsbogen ergibt sich der deutliche Hinweis, dass Annette über kein sicheres Bindungsverhalten verfügt (allgemeiner Hinweis auf primäre Inkongruenz), sondern dass ihr Bindungsverhalten als unsicher-vermeidend einzuordnen ist. Annette erlebte die Art und Weise der Trennung der Mutter – ohne Erklärung, sowie Trost und Verständnis versagend – als schockierend. Der Verlust der bis dahin als fürsorgend und strukturierend erlebten Mutter löste eine Hilflosigkeit in der Bewältigung des Lebensalltages aus (zumal der Vater und die Schwester wenig präsent waren). Gravierender und somit entscheidend für die Auslösung der Erkrankung war aber das mangelnde Verständnis der Mutter dafür, was Annette der Auszug der Mutter bedeutete bzw. wie sehr sie dies erschütterte. Liebevolle Einfühlung, Akzeptanz des Verlustschmerzes, Trost, Unterstützung bei der Bewältigung des nun führungslosen Haushaltes durch die Mutter hätten vermutlich die massive Anpassungsstörung milder verlaufen lassen. Die fehlende Möglichkeit, die Trauer über das belastende Lebensereignis, welches neue unvereinbare (»harmonische Familie«) und schwer integrierbare Erfahrungen bereit hielt, trostvoll begleitet zu leben (die Mutter ignorierte den Schmerz, der Vater betäubte sich, die Schwester war sicher überfordert, anderen Menschen »durfte« Annette nicht die Pein-
lichkeit der Situation offenbaren und war entsprechend dazu auch nicht in Lage) führte zu einer sekundären Inkongruenz. Der Fortgang der Mutter untergrub die Selbstachtung (»Was bin ich ihr noch wert?«) – die neue belastende Situation war unvereinbar mit dem Selbstkonzept (»Ich bin Teil einer liebevollen, harmonischen Familie«). Diese sekundäre Inkongruenz führte zu einer Stagnation der Selbstentwicklung, die sich leib-seelisch im Appetitverlust, den Schlafstörungen, der Depression und der sozialen Isolation ausdrückte.
8.4.9
Planung der Behandlung
Formal. Es wurde eine klientenzentrierte Gesprächs-
psychotherapie – zunächst einmal wöchentlich, später dann niederfrequent – mit 60-minütiger Sitzungsdauer vereinbart. Inhaltlich. Im Erstgespräch artikulierte Annette mit
depressivem Ausdruck ihre Symptomatik und vor allem, wie sehr sie sich seitens der Mutter in ihrer Verzweiflungsreaktion auf die Trennung der Eltern unverstanden fühle. Ihr sei unbegreiflich, was mit ihrer früher als fürsorglich und liebevoll erlebten Mutter geschehen sei, deren Veränderung (und nicht nur die Trennung an sich) sei schockierend für sie. Weiterhin verstünde sie auch nicht, weshalb sie körperlich so stark auf den Auszug der Mutter reagiere. Diese Schilderung machte der Therapeutin deutlich, dass die Symptome der vorliegenden Anpassungsstörung (ICD-10 F43.28 und F50.8) für die Jugendliche zutiefst unbegreiflich waren und durch den Mangel an Empathie, Bedingungsfreier Positiver Beachtung und Kongruenz seitens der Mutter in dieser aktuellen Situation das eingangs beschriebene Ausmaß erreichte. Die Schwere der Störung und der untertriebene, inadäquate Ausdruck derselben im Erstgespräch (Annette wirkte wie erstarrt, bewegte sich kaum während ihrer Schilderungen, zeigte keine Tränen und sprach mit leiser, kaum modulierter Stimme) gaben mir – später zu bestätigende – Hinweise darauf, dass in Annettes Familie wohl auch früher durch Mangel an Empathie und Bedingungsfreier Positiver Beachtung der Ausdruck und die Klärung starker Emotionen nur bedingt ermöglicht wurden. Aufgrund dessen konnten – wie die Anpas-
211 8.5 · Differenzielle Indikation
sungsstörung zeigt – wesentliche Erfahrungen von Annette nicht verstanden (weil wichtige Bindungspersonen – die Eltern, insbesondere die Mutter nicht begriffen und angemessen auf sie reagierten) und also nicht in Annettes Selbstkonzept integriert werden. Die Art der Beziehung, die ein Gesprächspsychotherapeut zum Patienten sucht, eröffnet für den Patienten die Möglichkeit, bisher unverstandene Erfahrungen zu verstehen und somit in das Selbstkonzept integrieren zu können. Aufgrund von Annettes heftiger psychosomatischer Reaktion rechnete die Therapeutin mit einer gewissen Sprachlosigkeit der Patientin. Ihre Erkrankung bewertete sie als Versuch, etwas zur Sprache zu bringen, was sie anders nicht auszudrücken in der Lage war. Als Hinweis für ihr eigenes Verhalten wertete die Therapeutin, dass sich Annette von ihrem Freund getrennt hatte, als dieser die Mutter kritisierte. Es galt also in der Therapie bezüglich des mütterlichen Trennungsverhaltens möglichst neutral zu bleiben, es nicht zu bewerten und es nur hinsichtlich von Annettes Gefühlen zu verstehen – also zu begreifen, was die Trennung in Annette ausgelöst hatte. Als eigene Reaktion auf die Patientin hält die Therapeutin weiterhin fest: »Ich merkte, dass die hilflos und ›zur Behandlung geschickt‹ wirkende Jugendliche eine Form der Bedingungsfreien Positiven Beachtung brauchte, die Tausch und Tausch (1990, S. 66) mit ›nicht besitzergreifender Fürsorge‹ umschrieben haben. Zugleich stellte ich fest, dass die Schwere der vorliegenden Störung und die ausgedrückte Hilflosigkeit in mir akzeptierende Wertschätzung mobilisierten, getragen von Fürsorglichkeit, so dass ich Annette einen Therapieplatz ›einrichtete‹, obwohl mein Zeitkontingent recht begrenzt war.« Prognose. Die Therapeutin schätzte die Prognose
günstig ein, da ihr deutlich war, dass Annette dringend einer verständnisvollen, aufmerksamen und einfühlsamen Gesprächspartnerin bedurfte. Sie brauchte Raum, um sich in einer bedingungsfreien akzeptierenden Atmosphäre ihren akuten seelischen Verletzungen zuwenden zu dürfen. Das ausführliche Sprechen über den Verlust der Mutter als warmherzigem und einfühlsamen Gegenüber, dass Explo-
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rieren aller dazugehörigen Gefühle, vor allem Trauer und Zorn, mit einer kongruenten Therapeutin ließen die Prognose für Annette positiv erscheinen. Die Therapeutin notiert dazu Folgendes: »Bei der prognostischen Einschätzung ließ ich mich mehr von meiner klinischen Erfahrung als von der Motivation, der Verbalisierungsfähigkeit bzw. dem Ausmaß der Selbstexploration der Jugendlichen – das eher schwach ausgeprägt erschien – leiten.«
8.5
Differenzielle Indikation J. Eckert
Von differenzieller Indikation spricht man, wenn für einen bestimmten Patienten mit einer bestimmten psychischen Störung die Therapie ausgewählt wird, von der er mit größter Wahrscheinlichkeit am stärksten profitieren wird. Definition Differenzielle Indikation ist die Auswahl des für einen bestimmten Patienten optimalen psychotherapeutischen Verfahrens.
Orlinsky und Howard (1987) haben auf der Grundlage von mehreren Tausend empirischen Prozessund Ergebnisstudien das Allgemeine Modell von Psychotherapie (AMP) entwickelt. Dieses Modell stellt einen konzeptuellen Rahmen zur Verfügung, der einen systematischen Vergleich der verschiedenen klinischen Theorien (therapieschulenspezifische Konzepte) ermöglicht, und versucht, die verschiedenen bestehenden psychotherapeutischen Behandlungsmodelle zu integrieren (7 auch Orlinsky, 1994). Das AMP benennt auch die wichtigsten Faktoren, die auf das Ergebnis einer Psychotherapie Einfluss nehmen, und stellt ihre wechselseitige Beeinflussung in Rechnung. Die systematische Beachtung dieser Faktoren stellt die derzeit wohl am besten fundierte Grundlage für eine differenzielle Indikationsstellung im Bereich Psychotherapie dar. Bevor diese differenzielle Indikationsstellung praxisnah dargestellt wird, soll der Teil des AMP vorgestellt werden, der für die differenzielle Indikationsstellung wesentlich ist.
212
Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.5.1
Die vier Passungen des Allgemeinen Modells von Psychotherapie
4. Die therapiebezogenen und persönlichen Merkmale des Patienten . Abb. 8.1 ist zu entnehmen, dass sich ein Therapie-
. Abb. 8.1 zeigt die vier wichtigsten Faktoren, die
einen psychotherapeutischen Prozess und das Ergebnis einer Psychotherapie maßgeblich beeinflussen: 1. Das Behandlungsmodell des Therapeuten 2. Die »Erkrankung« des Patienten 3. Die therapiebezogenen und persönlichen Merkmale des Therapeuten
erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit dann einstellt, wenn die folgenden vier Passungen gegeben sind: 1. Die Passung Therapeut – Patient (personale und therapiebezogene Merkmale) 2. Die Passung Therapeut – Erkrankung des Patienten (z. B. Art und Erscheinungsbild)
8
. Abb. 8.1. Die vier Passungen für eine erfolgreiche Psychotherapie im Allgemeinen Modell von Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard (1987)
213 8.5 · Differenzielle Indikation
3. Die Passung Patient (Ansprechbarkeit) – Behandlungsmodell des Therapeuten 4. Die Passung Behandlungsmodell – Erkrankung des Patienten Wenn diese Passungen nicht gegeben oder die Merkmale von Therapeut und Patient nicht ausreichend aufeinander abgestimmt sind, werden Behandlungen abgelehnt, oder es kommt zu Therapieabbrüchen oder zu Therapiemisserfolgen. Exkurs
Zur Notwendigkeit einer differenziellen Therapieindikation: Therapeutische Misserfolge Rund 45% aller begonnenen Psychotherapien enden als therapeutische Misserfolge und sind auf Fehlindikationen zurückzuführen. Die Misserfolgsquote von 45% setzt sich zusammen aus der Zahl der Abbrecher (»über 20%«; Grawe, Donati & Bernauer, 1994, S. 726) und der Zahl der nicht erfolgreich behandelten Patienten (25%; a. a. O., S. 729). Diese Quoten haben sich in rund 10 Jahren offenbar nicht wesentlich verändert, wie Jacobi (2002) in einer neueren Zusammenstellung für die Verhaltenstherapie zeigt. Jacobi weist darauf hin, dass zu den Patienten, bei denen kein Therapieerfolg zu verzeichnen ist, auch die gehören, die sich im Stadium der Vorinformation nicht dazu entschließen, die angebotene Verhaltenstherapie aufzunehmen. Der Anteil der »Therapie-Verweigerer« (refusals), die eine Verhaltenstherapie nach Probetherapiesitzungen nicht fortsetzen, beträgt bis zu 25%. Es ist noch nicht ausreichend erforscht, wie viele der Abbrecher und nicht erfolgreich behandelte Patienten von einer anderen als der ursprünglich gewählten Behandlung profitieren. Zwei jüngere Feldstudien im Bereich der Gesprächspsychotherapie (Frohburg, 2003; Eckert, Frohburg & Kriz, 2004) haben gezeigt, dass Patienten, die aus einem sog. Richtlinienverfahren (Verhaltenstherapie oder psychoanalytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte
6
8
Psychotherapie) in eine Gesprächspsychotherapie gewechselt sind, von diesem Wechsel in der Weise profitierten, dass sie die gesprächspsychotherapeutische Behandlung erfolgreich abschließen konnten. Als Gründe für den Wechsel gaben sie fehlende bzw. unzureichende Passungen im Sinne des AMP an.
8.5.2
Differenzielle Indikation in der Praxis
In der therapeutischen Praxis wird der Erstinterviewer, wenn er zugleich auch der potentielle Therapeut ist, die Indikationsfrage sukzessiv in folgenden Schritten abzuklären versuchen:
Schritte auf dem Wege zu einer differenziellen Indikationsstellung 1. Ist eine Psychotherapie indiziert? 2. Wenn ja, ist eine Gesprächspsychotherapie bei mir indiziert? 3. Und wenn ja, mit welcher Prognose? 4. Kommt ein anderer Gesprächspsychotherapeut als ich eher in Frage, z. B. ein Therapeut des anderen Geschlechts? 5. Ist eine Gesprächspsychotherapie nicht oder nur mit schlechter Prognose indiziert, dann erhebt sich die differenzielle Indikationsfrage: 6. In welchem therapeutischen Verfahren und bei welchem Therapeuten wären die vier Passungen des AMP am ehesten gegeben?
Prüfung der Passung Therapeut – Patient Die Frage nach der differenziellen Indikation kann in der Praxis der Therapeut, an den sich ein Patient im ersten Anlauf wendet, nicht vollständig beantworten. In der Regel wird ein Therapeut, der die Vermutung hat, dass der Patient von einem anderen Verfahren mehr profitieren könnte als von dem eigenen, diesen Patienten an einen entsprechenden Therapeuten überweisen mit der
214
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Bitte, die Indikationsfrage in einem Erstgespräch zu klären. Die Empfehlung eines zweiten Erstinterviews zur differenziellen Indikationsstellung bei einem anderen Therapeuten ist zwar für den Patienten aufwändig, entspricht aber dem derzeitigen Wissensstand: Ob die vier Passungen gegeben sind, kann nicht losgelöst von einem konkreten Kontakt zwischen einem Patienten und einem Therapeuten festgestellt werden. Das gilt vor allem für die personale Passung von Therapeut und Patient. Nur in den Erstinterview- und Probetherapiesitzungen kann spürbar und deutlich werden, ob der Therapeut den Patienten eher als sympathisch oder als unsympathisch erlebt, ob Anzeichen von Inkongruenz in ihm auftauchen, z. B. in der Form von Langweile oder Gereiztheit, oder nicht. Für eine eher gute Passung sprechen die folgenden Kriterien: 4 Fehlen von ablehnenden Gefühlen 4 keine Anzeichen von Inkongruenz und der 4 Eindruck, dem Patienten helfen zu können.
Prüfung der Passung Therapeut – Erkrankung (Störung) des Patienten Nicht jeder Therapeut kann jeden Patienten gleich gut behandeln. Dabei spielt die Störung des Patienten eine große Rolle. So ist bekannt, dass viele Therapeuten keine Patienten mit Suchtstörungen behandeln, weil sie sich den Anforderungen einer solchen Behandlung nicht gewachsen fühlen. Hingegen spezialisieren sich andere Therapeuten auf die Behandlung von Suchtkranken. Diese alt bekannte Tatsache hat zu der mehr oder weniger gut eingelösten Forderung geführt, dass Therapeuten schon während ihrer Ausbildung erkennen lernen sollen, welche Störungsbilder ihnen Probleme machen, es ihnen z. B. schwer machen, das therapeutische Beziehungsangebot in der erforderlichen Art und Weise aufrecht zu erhalten. Im Idealfall können durch Supervision und Selbsterfahrung die Gründe dafür nicht nur erkannt, sondern auch behoben werden. In der Regel erwirbt der Therapeut ein Wissen über sich und seine Grenzen, das er bei einer Indikationsstellung zu berücksichtigen hat.
Prüfung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten Patienten kommen meistens mit bestimmten Vorstellungen darüber, was Psychotherapie ist und wie eine Behandlung aussieht, zum Erstgespräch. Häufig suchen sie aufgrund ihres Wissens über Psychotherapie gezielt einen Therapeuten auf, der ein bestimmtes Therapieverfahren praktiziert. Manche Patienten wünschen sich eine gezielte Behandlung ihrer Symptomatik (»Bloß keine Nabelschau!«), andere gehen davon aus, dass sie durch die Behandlung die Ursachen ihrer Symptome erkennen werden. Es ist also die Passung »Patient – Behandlungsmodell« zu prüfen, wobei wir »Behandlungsmodell« mit dem anschaulicheren Begriff »therapeutisches Beziehungsangebot« gleichsetzen. Die Unterschiede zwischen den therapeutischen Beziehungsangeboten der verschiedenen Therapieverfahren zeigen sich darin, worauf sich die Aufmerksamkeit des Therapeuten im therapeutischen Prozess richtet.
Unterschiede in den Beziehungsangeboten von Psychotherapieverfahren bzw. der Foki der Aufmerksamkeit des Therapeuten
5 Der Fokus eines Psychoanalytischen Therapeuten: Ich richte mein Augenmerk auf Deine Inszenierungen, vor allem auf das, was Du mit mir (in der Übertragung) in Szene setzt, und ich entschlüssele Dir deren unbewussten Sinn. 5 Der Fokus eines Verhaltenstherapeuten: Ich richte mein Augenmerk vor allem auf Deine Symptome und Dein problematisches Verhalten und kümmere mich um die Bedingungen, unter denen Du sie erworben hast und die sie aufrecht erhalten. 5 Der Fokus eines Gesprächspsychotherapeuten: Ich richte mein Augenmerk auf Dich und Deine Gefühle und versuche Dich und sie zu verstehen und das, was ich verstanden habe, ohne Bedingungen zu akzeptieren.
215 8.5 · Differenzielle Indikation
Diesen unterschiedlichen Beziehungsangeboten stellen wir als Beispiel drei Patienten mit unterschiedlichen Bindungserfahrungen, d. h. mit einem erworbenen Muster von Beziehungserwartungen gegenüber (Biermann-Ratjen & Eckert, 1982). Dabei gehen wir vor dem Hintergrund des AMP von folgendem Zusammenhang aus: Je besser Beziehungserfahrungen und Behandlungsfokus übereinstimmen, d. h. zueinander passen, um so günstiger ist das für den Therapieprozess und für das Therapieergebnis. 4 Ein Patient, dessen Beziehungserwartung vor allem darin besteht, dass er immer und überall etwas wahrnimmt, erlebt oder vermutet, das zu dem ausgeprägten Bedürfnis in ihm führt, sich und andere zu kontrollieren, wie es z. B. bei vielen Zwangskranken der Fall ist, wird vermutlich bei einem Verhaltenstherapeuten besser aufgehoben sein als in einer analytischen Therapie. 4 Ein Patient, der seine Beziehungserfahrungen fast ausschließlich in der Ausbildung psychosomatischer Symptome und Beschwerden symbolisiert bzw. bewusst werden lässt und der kaum über Möglichkeiten verfügt, seine Erfahrungen auch in Gefühlen zu symbolisieren, wird es bei einem Gesprächspsychotherapeuten wahrscheinlich schwerer haben als bei einem Psychoanalytiker, der in den Körpersymptomen den Ausdruck von Übertragungsgefühlen zu sehen bereit ist. 4 Ein Patient z. B. mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, dessen Beziehungserfahrungsmuster vor allem darin besteht, sich von anderen missbraucht zu sehen, und der glaubt, durch Anpassung, Bravsein und sich anstrengen seine Angst erfolgreich überwinden zu können, ist bei einem Gesprächspsychotherapeuten, der von ihm nichts will, als ihn zu verstehen, vermutlich besser aufgehoben als bei einem Verhaltenstherapeuten, wenn er sich bei diesem zum Objekt eines fähigen Therapeuten gemacht fühlen könnte. Ein weiteres Kriterium zur Beurteilung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten ist eine ausreichende Ansprechbarkeit des Patienten auf die spezifischen Therapieprozessmerkmale: Ist ein Patient hinreichend »übertragungsfähig« und »übertragungsbereit« (psychoanalytische Thera-
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pie), ist das Ausmaß an Selbstexploration ausreichend (Gesprächspsychotherapie) oder kann er hinreichend gut visualisieren, so dass eine systematische Desensibilisierung (VT) durchgeführt werden kann? Ein drittes Kriterium zur Beurteilung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten ist die Möglichkeit einer Problemaktualisierung. Sowohl das Therapieverfahren, als auch das Therapiesetting sollten für einen Patienten unter dem Gesichtspunkt ausgewählt werden, dass eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass seine jeweiligen problematischen Beziehungserfahrungen, -erwartungen und -muster sichtbar und erlebbar und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden können (Biermann-Ratjen & Eckert, 1982). ! Die drei Kriterien der Passung Patient –
Behandlungsmodell Es wird empfohlen, für die Prüfung der Abstimmung zwischen dem therapeutischen Beziehungsangebot und der Person des Patienten, vor allem im Hinblick auf seine Beziehungserwartungen und Erfahrungsbereitschaften, drei Kriterien anzulegen: 4 Gibt es eine ausreichende Übereinstimmung zwischen dem spezifischen Beziehungsangebot des Verfahrens und den Beziehungserwartungen des Patienten? 4 Gibt es eine ausreichende Übereinstimmung zwischen den spezifischen Therapieprozessmerkmalen und der Ansprechbarkeit des Patienten auf diese Merkmale? 4 Sind Therapieverfahren und Setting geeignet, die problematischen Erfahrungsbereitschaften sichtbar – und damit auch bearbeitbar – werden zu lassen?
Prüfung der Passung Behandlungsmodell des Therapeuten – Erkrankung (Störung) des Patienten Nicht jeder Patient wird mit einem bestimmten therapeutischen Verfahren mit dem gleichen Erfolg behandelt. Bei diesen unterschiedlichen Behandlungserfolgen spielt die Art der Erkrankung des Patienten eine wichtige Rolle. Es gilt z. B. als klinisch gesichertes Wissen, dass Patienten, die an einer Zwangsstörung in der Form von offenen Zwangshandlungen
216
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
leiden, z. B. an einem Waschzwang, von einer Verhaltenstherapie mit höherer Wahrscheinlichkeit profitieren als von einer Gesprächspsychotherapie oder einer Psychoanalyse. Das trifft aber nicht für alle Patienten mit offenen Zwangshandlungen zu, sondern nur für die, die sich auf eine Behandlung einlassen können, in der Reizkonfrontation und Reaktionsverhinderung als therapeutische Mittel eingesetzt werden. Eine nicht unerhebliche Anzahl derart betroffener Patienten lehnt eine solche Behandlung aber ab oder bricht sie vorzeitig ab, weil sie fürchten, dass sie die dabei auftauchende Angst nicht aushalten und daran sterben könnten (»Das hält mein Herz nicht aus«). Allgemein kann man sagen: Die größere Wirksamkeit eines Verfahrens bei bestimmten Störungen wird meistens dadurch relativiert, dass die Inanspruchnahme eher gering und die Abbruchquote hoch ist. Dennoch gilt die Regel, einem Patienten zunächst die Behandlung zu empfehlen, die nachgewiesenermaßen bei der zu behandelnden Störung erfolgreicher als andere zu sein scheint. In der Praxis stehen bei Überweisungen von Patienten an bestimmte Psychotherapeuten häufig die Person des Therapeuten und die Person des
Patienten mit seiner Störung im Vordergrund, z. B.: »Diese Patientin sollten wir an Frau Z. überweisen, die ist doch bekannt dafür, dass sie mit älteren Frauen, die diese Störung haben, gut zurechtkommt.« Diese Überweisungsbegründung berücksichtigt bereits die wesentlichen Passungen des AMP. Die Passung Person des Therapeuten und Person des Patienten wird dann im Erstinterview zu klären sein. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass die vier Passungen des AMP keine reliablen Kriterien für eine differenzielle Indikationsentscheidung bereithalten, aber eine sinnvolle Leitlinie für eine solche darstellen. ? Übungsfragen 5 Definieren Sie die Begriffe »Indikation« und »Prognose« und machen Sie dabei die Unterschiede der beiden Begriffe deutlich! 5 Was sind die Ziele einer ICD-10-Diagnostik? 5 Warum reicht für die Indikationsstellung für eine Gesprächspsychotherapie die Diagnose einer Psychotherapie-indikativen Störung nicht aus? Was sollte zusätzlich geprüft werden? 5 Gibt es allgemein gültige Prädiktoren für einen Therapieerfolg? Bitte erläutern!
Exkurs
Gibt es ein Therapieverfahren, das bei einer bestimmten Psychotherapie-indikativen Störung in jedem Fall wirksamer ist als andere Verfahren? Die Antwort lautet: Nein. Bis heute gilt der empirische Befund, dass es im Mittel keine wesentlichen Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den verschiedenen Therapieverfahren gibt. Zu diesem Ergebnis waren Luborsky, Singer und Luborsky bereits 1975 nach einer Metaanalyse vergleichender Therapiestudien gekommen und hatten es mit dem Ausspruch des Dodo-Vogels aus dem bekannten Kinderbuch »Alice im Wunderland« im Untertitel ihrer Publikation zum Ausdruck gebracht: »Everybody has won and all must have prizes«. Neuere Metaanalysen haben dieses Ergebnis bestätigt (Wampold, 2001). Dieses sog. Äquivalenzparadox gilt auch für Vergleiche von klientenzentrierten Verfahren mit
anderen (Elliott, 2002; Elliott, Greenberg & Lietaer, 2003). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Lambert und Ogles (2003) in der aktuellsten (5.) Auflage von Bergin and Garfield’s »Handbook of Psychotherapy and Behavior Change« zu dem Resümee kommen, dass Effektivität und Effizienz von »bona-fide-Behandlungen« weitgehend äquivalent sind. Die Antwort lautet auch Nein, weil es nicht das Verfahren allein ist, das Einfluss auf den Ausgang einer Behandlung nimmt. Auch die übrigen Passungen des AMP, in die Therapeut und Patient als Person eingehen, müssen gegeben sein,wenn eine Behandlung eine erfolgreiche sein soll Auch wenn der Therapeut eine nachgewiesenermaßen hoch effiziente Behandlung durchzuführen versucht, wird diese ihre Wirkung nicht entfalten, wenn der Patient z. B. sein Misstrauen gegenüber diesem Therapeuten nicht verliert.
217 8.6 · Weiterführende Literatur
5 Wie sollte ein Indikationsinterview eröffnet werden? 5 Wann ist eine Gesprächspsychotherapie indiziert? Bitte erläutern Sie dazu die einzelnen Indikationskriterien! 5 Wann kann das Vorliegen einer Inkongruenz bei einer Person ausgeschlossen werden? 5 Was ist unter dem »gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot« zu verstehen? Inwiefern spielt es eine Rolle als Prognosekriterium für eine Gesprächspsychotherapie? 5 Welche Kriterien lassen sich erheben, um die Ansprechbarkeit des Patienten für das psychotherapeutische Beziehungsangebot zu überprüfen? Ist von einer Gesprächspsychotherapie abzuraten, wenn nur eines der Kriterien vorhanden ist? 5 Weshalb ist die Abstimmung von Therapiezielen zwischen Therapeut und Patient für das Gelingen einer Behandlung von Bedeutung? 5 Wie sollte ein Therapeut gegenüber dem Patienten vorgehen, wenn er eine GT für nicht indiziert oder für kontraindiziert hält? 5 Erklären Sie den Begriff »need for positive regard« und erläutern Sie seine Bedeutung für die psychische Entwicklung eines Menschen! 5 Was ist unter »primärer Inkongruenz« und »sekundärer Inkongruenz« zu verstehen? 5 Nennen Sie die vier Passungen des »Allgemeinen Modells von Psychotherapie« (AMP), das auf Orlinsky und Howard zurückgeht! 5 Was bedeutet »differenzielle Indikation« allgemein und vor dem Hintergrund des AMP? 5 Welche Kriterien sollten bei der Prüfung der Abstimmung zwischen Therapeutischem Beziehungsangebot und den Erfahrungsbereitschaften des Patienten angelegt werden? 5 Gibt es ein Therapieverfahren, das bei einer bestimmten Psychotherapie-indikativen Störung in jedem Fall wirksamer ist als andere Verfahren?
8.6
8
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M, Eckert, J. & Schwartz, H.-J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen. 9. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, S. 141–167. (Es wird auch die Geschichte der Indikationsstellung in der Gesprächspsychotherapie dargestellt) Eckert, J., Höger, D. & Linster, H. (Hrsg.) (1997). Praxis der Gesprächspsychotherapie. Störungsbezogene Falldarstellungen. Stuttgart: Kohlhammer. (Ein Buch, in dem Behandlungsfälle so vorgestellt werden, wie es für den Bericht an den Gutachter bei kassenfinanzierten Therapien erforderlich ist. Dazu gehört auch die Begründung der Indikation)
9 9 Der therapeutische Prozess in der Praxis J. Eckert 9.1
Die therapeutische Beziehung – 219
9.1.1
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten – 219 Der Beitrag des Patienten zur gesprächspsychotherapeutischen Beziehung – 226
9.1.2
9.2
Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie – 226
9.3
Therapeutische Handlungsregeln – 229
9.3.1 9.3.2 9.3.3
Nicht-Direktivität – 231 Empathisches Zuhören – 11 Spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit – 231 Verbalisierung der Erfahrung des Patienten – 234
9.3.4
9.4
Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung – 239
9.5
Verlauf einer Gesprächspsychotherapie – 249
9.5.1 9.5.2 9.5.3
Der Verlauf der Behandlung – 249 Behandlungsergebnisse – 256 Katamnese – 257
9.6
Therapieabschluss – 258
9.7
Typische Behandlungsprobleme – 260
9.8
Störungsspezifisches Vorgehen – 263
9.9
Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie – 263
9.10 Weiterführende Literatur – 266
Während im 7 Kap. 6 die theoretischen Grundlagen des therapeutischen Prozesses erörtert worden sind, wird in diesem Kapitel der gesprächspsychotherapeutische Prozess in der Praxis beschrieben. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses in der Gesprächspsychotherapie steht die Entwicklung von Beziehungen, und zwar zum einem die Entwicklung der Beziehung zwischen Patient und Therapeut und zum anderen die Entwicklung der Beziehungen, die Therapeut und Patient zu sich selbst haben. Wir werden aus didaktischen Gründen zunächst jeweils einzelne Aspekte der Beziehung zwischen den beiden Personen und der Beziehungen, die jede der beiden Personen zu sich selbst hat, betrachten. Diese Form der Darstellung sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich beim therapeutischen Prozess um ein komplexes Geflecht von sich wechselseitig beeinflussenden Bedingungen han-
delt. So beeinflusst die Beziehung, die eine Person zu sich selbst hat, die Beziehung, die sie zur anderen aufnimmt, und umgekehrt.
9.1
Die therapeutische Beziehung
Die wichtigsten Aspekte der gesprächspsychotherapeutischen Beziehung sind in . Abb. 9.1 aufgeführt.
9.1.1
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten ist durch die drei Aspekte
220
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Abb. 9.1. Die gesprächspsychotherapeutische Beziehung (aus Eckert, 2000a, S. 142)
Empathie, Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz charakterisiert (7 Kap. 6).
Der Beziehungsaspekt Empathie Das ursprüngliche deutsche Wort für Empathie ist »Einfühlung« und kennzeichnet dieses Phänomen schon recht gut, weil es auf die Beteiligung von Gefühlen hinweist. Die Fähigkeit zur Einfühlung wird im Laufe der menschlichen Entwicklung auf der Grundlage der Möglichkeit des Sich-Selbst-Erkennens erworben (Bischof-Köhler, 2001). Aus der Sicht der Entwicklungspsychologie ist »Empathie die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt dieses Gefühl aber anschaulich dem anderen zugehörig« (Bischof-Köhler 1989, S. 26). Wir wiederholen (7 Kap. 6) hier Rogers’ Definition von Empathie im therapeutischen Rahmen. Wenn die Einfühlung in ein reines Mitfühlen oder »Sich-Eins-Fühlen« übergeht, spricht Rogers von Identifikation, die Entwicklungspsychologie z. B. von »Gefühlsansteckung«. Ein typischer Fall von Gefühlsansteckung in einer Gesprächspsychotherapie läge dann vor, wenn der Therapeut in der Therapiesitzung mit einem depressiven Patienten,
Definition Der Prozess der Empathie besteht darin, »den Inneren Bezugsrahmen eines anderen mit den emotionalen Komponenten und den dazu gehörenden Bedeutungen genau wahrzunehmen, als ob man die andere Person sei, jedoch ohne jemals die ‚Als-ob’-Bedingung zu verlieren. Das bedeutet, den Schmerz oder die Freude eines anderen so zu fühlen, wie er sie fühlt, und deren Ursachen so wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, aber ohne jemals dieses Wissen zu verlieren, dass es so ist, als ob wir verletzt oder erfreut usw. seien« (Rogers, 1959/1987, S. 210 f.; Übersetzung v. Verf.). Sofern die Qualität des »Als ob« verloren geht, handelt es sich um einen Prozess der Identifikation.
der bitterlich und andauernd weint, zunehmend von Mitleid mit seinem Patienten überschwemmt wird und schließlich nicht anders kann, als mitzuweinen. Therapeutisch wirksame Empathie bzw. Empathisches Verstehen ist ein auch Gefühle umfassender Vorgang im Therapeuten, der drei Bedingungen erfüllt:
221 9.1 · Die therapeutische Beziehung
1. Bedingung. Das empathische Verstehen des The-
rapeuten richtet sich auf den »Inneren Bezugsrahmen« des Patienten. Definition Mit dem Inneren Bezugsrahmen sind die Standorte gemeint, die ein Mensch gegenüber seinem eigenen Erleben einnimmt, sowie die damit verbundenen gefühlsmäßigen Bewertungen des Erlebens.
Der Innere Bezugsrahmen wird erkennbar, wenn z. B. ein junger männlicher Patient über einen erlittenen Verlust berichtet, und es sichtbar und spürbar wird, dass er mit aller Macht versucht, die aufsteigende Traurigkeit zu bekämpfen. Er findet Trauer über etwas, das unwiderruflich verloren gegangen ist, überflüssig und unmännlich. Sie passt nicht zu seinem Selbstkonzept. Gelingt es ihm nicht, die Trauer zu unterdrücken oder zu überspielen, schämt er sich. Vor allem die »Gefühle über die Gefühle« kennzeichnen den Inneren Bezugsrahmen.
2. Bedingung. Die Wahrnehmung des Inneren Bezugsrahmens des Patienten hat die Qualität einer inneren Erfahrung des Therapeuten. Einfühlung ist ein (Nach-)Vollziehen, ein unmittelbares reflektiertes (Mit-)Erleben des Erlebens des anderen. Dieser Akt der Einfühlung in den anderen wird als »Empathisches Verstehen« bezeichnet. Empathisches Verstehen ist mehr als ein »Verstehen« im Sinne von Begreifen, z. B. den Sinn eines Satzes oder den Sinn eines Textes korrekt zu erfassen. Empathisches Verstehen bedeutet auch nicht eine Form der Billigung (z. B. »Ich kann verstehen, dass Du Dir das nicht weiter hast bieten lassen können.«). Die Fähigkeit zum Empathischen Verstehen ist phylogenetisch angelegt und wird, wie gesagt, ontogenetisch von Kleinkindern schon im vorsprachlichen Alter erworben und im Zuge der weiteren Entwicklung ausgebaut (Bischof-Köhler, 1989). Bestimmte Entwicklungsbedingungen, z. B. das Ausmaß der Empathiefähigkeit der Erziehungspersonen, nehmen entscheidend darauf Einfluss, in welchem Ausmaß die Fähigkeit, sich empathisch einfühlen
Fallvignette
Empathisches Verstehen und seine Wirkung Ein Beispiel aus einer zweiten Therapiesitzung, in der die Patientin darüber spricht, welche Probleme sie in ihrem Beruf als Kauffrau hat: Patientin: Wenn ich jetzt bei dem Beispiel bleiben soll, dann würde ich sagen: Irgend ein abgebrühter Kaufmann, dem es an die Nieren geht, wenn ihm ein paar tausend Mark fehlen, der soll sich ruhig ein bisschen gequält fühlen, also das würde mich eventuell sogar noch freuen, wenn es nur das ist, was ihn zu quälen vermag. Therapeut: Das klingt sehr bitter. Patientin: Ja, das stimmt, da haben Sie Recht. Das ist mir im Moment auch gerade bewusst geworden. Ich mein’ einfach aus Verbitterung darüber, dass man also jahrelang beobachtet hat, wie viele Menschen es eigentlich gibt, die sich um nichts anderes kümmern als um Geld. (…) Kommentar: Das Verstehen des Therapeuten richtet sich auf den Inneren Bezugsrahmen: Aus
9
dem Kontext und der Art und Weise, wie die Patientin sich äußert, entnimmt er, dass Wünsche der Patientin, der »abgebrühte Kaufmann« solle sich ruhig auch mal gequält fühlen, Ausdruck einer enttäuschten Resignation sein könnten. Er fragt die Patientin vorsichtig (»das klingt …«), ob ihr dahinter liegendes Gefühl Verbitterung sein könnte. An der Reaktion der Patientin ist zu erkennen, dass sie sich unmittelbar verstanden gefühlt hat: Sie greift dieses Gefühl auf und führt seine Ursachen näher aus. Das Beispiel lässt noch zwei weitere Phänomene erkennen, die sich häufig einstellen, wenn sich ein Patient verstanden fühlt: Zum einen greift der Patient das vom Therapeuten Gesagte nicht nur auf, sondern differenziert es in korrigierender, erweiternder oder einschränkender Weise. Zum anderen steigt die emotionale Beteiligung bei dieser Auseinandersetzung mit sich selbst spürbar an.
222
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
zu können, entwickelt wird (7 Kap. 4). Wie weiter unten unter dem Aspekt der Kongruenz des Therapeuten noch ausgeführt werden wird, ist Empathiefähigkeit abhängig vom Ausmaß der Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen vollständig und korrekt wahr zu nehmen, d. h. vom Ausmaß der Fähigkeit zur unverfälschten Selbstreflexion bzw. zur Selbstempathie (Bischof-Köhler, 2001).
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3. Bedingung. Der Therapeut bringt das, was er empathisch verstanden hat, dem Patienten gegenüber zum Ausdruck und überprüft mit dem Patienten zusammen, ob es den Erfahrungen des Patienten und dem, was diese für ihn bedeuten, entspricht. Wenn das der Fall ist, empfindet der Patient ein Gefühl des Verstandenseins, nicht selten in Form einer körperlichen Entspannung oder eines »Aha-Erlebnisses«. Wir haben bereits in den Ausführungen zur Indikation (7 Kap. 8.3.2) darauf hingewiesen, dass es Patienten gibt, in der Regel solche mit einem instabilen Selbstkonzept, die sich durch das empathische Verstehen des Therapeuten bedroht fühlen und sich dagegen auch wehren (müssen).
Die drei Bedingungen, die den Beziehungsaspekt Empathie charakterisieren 5 Die Empathie des Therapeuten richtet sich auf das Erleben des Patienten in seinem Inneren Bezugsrahmen. 5 Einfühlendes Verstehen ist eine spezifische Erfahrung des Therapeuten, ein reflektiertes Mitfühlen der Erfahrungen des anderen. 5 Der Therapeut teilt das, was er auf dem Wege der Einfühlung verstanden hat, dem Patienten mit und prüft, ob sich der Patient verstanden fühlt.
Der Beziehungsaspekt Bedingungsfreie Positive Beachtung Bei der Darstellung der Grundannahmen bezüglich der Entwicklung der Person (7 Kap. 3 und 4) wurde das Bedürfnis nach positiver Beachtung (»need for positive regard«) als ein zentrales menschliches Bedürfnis dargestellt und darauf hingewiesen, dass die Entwicklung des Selbst eines Menschen und damit der ganzen Person wesentlich davon abhängt, wie
die relevanten Beziehungspersonen mit diesem Bedürfnis umgehen: Erfahrungen, die mit dem Bedürfnis nach »positive regard« verbunden sind, können nur unter der Bedingung als Selbsterfahrungen in das Selbstkonzept integriert werden, dass sie von einem kongruenten wichtigen Anderen empathisch verstanden und unbedingt positiv beachtet werden. Diese entwicklungspsychologische Gesetzmäßigkeit ist aus den Bedingungen für den therapeutischen Prozess und den sich aus ihm ergebenden konstruktiven Persönlichkeitsänderungen, wie Rogers sie abstrahiert hat, abgeleitet worden. Der wichtige Andere für den Patienten ist in der Psychotherapie der Therapeut, der ihm eine Beziehung anbietet, die durch Bedingungsfreie Positive Beachtung gekennzeichnet ist. Wir nähern uns diesem Aspekt der Beziehung, indem wir zunächst definieren, was im Klientenzentrierten Konzept unter Positiver Beachtung (»positive regard«) verstanden wird: Definition »Wenn ich bei einem anderen Selbsterfahrung wahrnehme und diese zu einer positiven Veränderung meines Erlebnisfeldes führt, dann erlebe ich dem anderen gegenüber Positive Beachtung. Die emotionale Qualität von Positiver Beachtung ist gekennzeichnet von Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie oder Anerkennung« (nach Rogers, 1959b/1987, S. 34).
Positive Beachtung besteht in einer aufmerksamen Zuwendung und richtet sich auf alle Formen des Erlebens eines Patienten, d. h. auf seine Wahrnehmungen, Vorstellungen, Affekte usw. Sie ist bedingungsfrei, wenn sie nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die etwas mit der Person des Therapeuten, seinem momentanen Befinden und seinen Wertvorstellungen zu tun haben: »Wenn die Selbsterfahrungen eines anderen von mir so wahrgenommen werden, dass keine von ihnen sich von irgend einer anderen dadurch unterscheidet, dass sie der aufmerksamen Beachtung (»positive regard«) mehr oder weniger wert ist, dann erfahre ich für dieses Individuum Bedingungsfreie Positive Beachtung.« (Rogers, 1959b/1987, S. 208; Übersetzung v. Verf.).
223 9.1 · Die therapeutische Beziehung
Definition Bedingungsfreie Positive Beachtung (Unbedingte Wertschätzung/Bedingungsfreie Anerkennung) liegt bei einem Therapeuten dann vor, wenn seine Positive Beachtung der Erfahrungen und des Erlebens des Patienten nicht an bestimmte, in seiner Person verankerte Bedingungen geknüpft ist.
Bedingungsfreie Positive Beachtung ist kein Persönlichkeitsmerkmal und sie kann nicht in die therapeutische Beziehung im Sinne einer Intervention gezielt »eingebracht« werden, sondern sie stellt sich im günstigen Fall ein, und zwar am ehesten dann, wenn es dem Therapeut gelingt, seine für das eigene Leben gültigen Wertvorstellungen beiseite zu stellen, und wenn er in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit ungeteilt und vorbehaltlos den Erfahrungen des Patienten zu widmen. Das klingt wie ein kaum einzulösender Anspruch. Deshalb sei bereits hier auf das verwiesen, was wir erst später ausführen werden: Handlungsleitend ist in einer Gesprächspsychotherapie nicht das Ausmaß der Bedingungsfreien Positiven Beachtung, sondern die Abweichung von ihr.
Der Beziehungsaspekt Kongruenz Der Beziehungsaspekt Kongruenz ist von Roger als der bedeutsamste angesehen worden. Da ein Mangel an Kongruenz Inkongruenz bedeutet, werden wir beide Begriffe benutzen. Die Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten kennzeichnet die Beziehung des Therapeuten zu sich selbst und gestaltet die Beziehung des Therapeuten zum Patienten. Definition Kongruenz ist definiert als das Vorliegen der Möglichkeit, sich aller bewusstseinsfähigen Erfahrungen, die der Organismus macht, bewusst zu werden und sie im Selbsterleben zu repräsentieren.
Inkongruenz liegt dann vor, wenn bestimmte Erfahrungen, die der Organismus macht, nicht oder nicht vollständig oder nur verfälscht bzw. verzerrt im Be-
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wusstsein bzw. im Selbsterleben repräsentiert werden. Inkongruenz bedeutet eine Nichtübereinstimmung der vom Organismus gemachten mit den im Selbsterleben repräsentierten Erfahrungen. Definition Kongruenz in einer therapeutischen Beziehung heißt vor allem, dass sich der Therapeut aller Gefühle bewusst werden kann, die der Patient in ihm auslöst. Wenn der Therapeut auf den Patienten mit Gefühlen reagiert, deren er sich nicht bewusst werden kann, wird er in der Regel durch diese Gefühle auch darin behindert, sich in den Patienten einzufühlen und ihn in dem, was er dabei verstanden hat, bedingungsfrei positiv zu beachten.
Rogers beschreibt die Kongruenz des Therapeuten wie folgt: Wenn ein Therapeut »imstande ist, akzeptierend auf das zu achten, was in ihm selbst vor sich geht, und je besser er es fertig bringt, ohne Furcht das zu sein, was die Vielschichtigkeit seiner Gefühle ausmacht, um so größer ist seine Übereinstimmung mit sich selbst« (Rogers, 1983, S. 213). Die Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten wird für den Patienten u. a. dadurch erfahrbar, dass der kongruente Therapeut als »echt«, authentisch, unverfälscht erlebt wird. Ein inkongruenter Therapeut wird als fassadenhaft, undurchschaubar, »unecht« erlebt und beschrieben. Es empfiehlt sich jedoch, den Beziehungsaspekt Kongruenz/Inkongruenz nicht auf der phänomenologischen Ebene zu diskutieren, z. B. von der »Echtheit« des Therapeuten zu sprechen, weil das mit der Gefahr verbunden ist, dass sich Missverständnisse einschleichen. Es findet sich leider sogar im Brockhaus (2005) folgende Ausführung zum Begriff »Echtheit«: »Ein hohes Maß an Echtheit, das heißt der Verzicht auf eine höflich-professionelle Fassade, gilt vor allem in der Gesprächstherapie als wesentliches Therapeutenmerkmal«. Das ist nicht falsch, führt aber nicht nur bei Ausbildungskandidaten häufig zu der Frage, ob nicht Ehrlichkeit ein Charakteristikum von Echtheit sei und der Therapeut daher seine Gefühle, auch die negativen, die er im Kontakt mit dem Patienten erlebt, diesem offenbaren müsse. Diese Frage zäumt das Pferd von hinten auf. Richtig
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
ist, dass ein kongruenter Therapeut von seinem Patienten als »echt«, »authentisch«, »ohne Fassade« usw. erlebt und beschrieben wird. Falsch ist aber die Annahme, dass ein Therapeut seine Inkongruenz dadurch verbessern könnte oder seine »Echtheit« steigern, dass er durch Selbsteinbringung seine Offenheit und Ehrlichkeit unter Beweis stellt. ! Kongruenz/Inkongruenz ist ein theoretisches Konstrukt. Wir gehen davon aus, dass die Erfahrung und die Bewusstheit der Erfahrung mehr oder weniger gut übereinstimmen können und dass sich das in bestimmter Weise auf bestimmte psychische Funktionen auswirkt. »Echtheit« und »Transparenz« sind die für Patienten sichtbaren Phänomene eines kongruenten Therapeuten.
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Auf die Möglichkeiten des Therapeuten, seine Inkongruenz zu beheben oder zu reduzieren, werden wir noch zu sprechen kommen. Zur Erklärung bestimmter Phänomene im therapeutischen Prozess hat es sich als nützlich erwiesen, in Anlehnung an Swildens (1991) zwischen einer reaktiven (sekundären) Inkongruenz und einer primären Inkongruenz (7 Abschn. 5.4.4) auch beim Therapeuten zu unterscheiden. Definition Reaktive (sekundäre) Inkongruenz stellt sich als Reaktion des Therapeuten auf eine spezifische Situation mit dem Patienten ein und ist in der Regel zeitlich begrenzt, d. h. aufhebbar.
Primäre Inkongruenz wird als in der persönlichen Entwicklung erworben betrachtet, als zeitlich überdauernd und als die Grundlage von unterschiedlichen psychischen Störungen angesehen. Definition Primäre Inkongruenz kennzeichnet den Status eines Patienten.
Die wechselseitigen Beziehungen der drei Aspekte des gesprächpsychotherapeutischen Beziehungsangebotes Wie bereits eingangs (und in 7 Kap. 6) erwähnt, beeinflussen sich die drei Aspekte Empathie, Bedin-
gungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz wechselseitig. Die Fähigkeit sich empathisch einzufühlen wird beeinträchtigt. Wenn der Therapeut seinen Patien-
ten empathisch versteht, wird er in der Regel auch kein Problem damit haben, das Verstandene bzw. die Sicht des Patient auch bedingungsfrei positiv zu beachten. Wenn der Therapeut seinen Patienten jedoch nicht versteht, bleiben für ihn die Erfahrungen, über die der Patient spricht, nicht nachvollziehbar, fremd, und das wird sich negativ auf die Bedingungsfreie Positive Beachtung auswirken: Auf die Dauer kann man nur bedingungsfrei positiv beachten, was man auch empathisch versteht. Die Ursachen dafür, dass Einfühlung nicht gelingt, können sowohl im Patienten als auch im Therapeuten liegen. Ein einfaches Beispiel für uneinfühlbare Erfahrungen beim Patienten sind Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Die Angst, die mit ihnen einhergehen kann, ist hingegen empathisch verstehbar und kann auch ansteckend sein. Ein Beispiel für das Auftauchen einer Empathiestörung, die ihre Quelle im Therapeuten hat, ist eine reaktive Inkongruenz des Therapeuten. Sie kann z. B. dann entstehen, wenn die Therapeutin eine ältere Schwester ist und ihre Patientin eine jüngere und unbewusst von ihrer Therapeutin – die mit ihrer jüngeren Schwester Probleme hatte – erwartet, dass sie ihren Hass gegen die ältere Schwester teilt. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung (BPB) ist beeinträchtigt. Dies ist der Fall, wenn der Therapeut
in der Reaktion auf seinen Patienten deutliche eigene negative oder positive Gefühlen entwickelt. Beispiele für negative Gefühle als Ausdruck einer Abweichung von der BPB sind Langeweile, Gereiztheit, Müdigkeit, Ekel, Angst usw. Beispiele für positive Gefühle als Ausdruck einer Abweichung von der BPB sind Bewunderung, Verliebtheit und sexuelles Begehren. Häufig ist die Ursache für Gefühle von Langeweile und Gereiztheit eine akute Empathiestörung: Wenn ich als Therapeut nicht verstehen kann, warum der Patient nach anfänglichen positiven Veränderungen nun in seiner Entwicklung auf der Stelle tritt und Stunde um Stunde dasselbe Problem durch-
225 9.1 · Die therapeutische Beziehung
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Fallvignette
Reaktive Inkongruenz Eine Patientin eröffnete die Therapiesitzung mit dem Vorwurf, dass sie nun den »Beweis« dafür habe, dass der Therapeuten kein Interesse an ihrem Schicksal habe. Er habe sich seit Wochen – seit ihrem letzten Suizidversuch – nicht mehr danach erkundigt, ob sie wieder Tabletten horte. Die Patienten hatte vor einem dreiviertel Jahr einen Suizidversuch mit einer Überdosis Tabletten unternommen. Da sich die Patientin damals in einer akuten depressiven Phase befand, hatte sie in Absprache mit ihrem Psychotherapeuten eine bereits abgeschlossene medikamentöse Behandlung bei dem niedergelassenen Psychiater wieder aufgenommen, der sie ursprünglich in die Psychotherapie überwiesen hatte. Für den Therapeuten kam der Vorwurf der Patientin völlig überraschend. Er hatte bei sich
kaut, dann werden sich z. B. leicht Langeweile und später auch Gereiztheit einstellen. Aber auch eine Inkongruenz beim Therapeuten führt in der Regel zu einer Beeinträchtigung der BPB, da sie – wie oben dargestellt – die Fähigkeit, sich korrekt in den anderen einzufühlen, beeinträchtig. Die Kongruenz wird beeinträchtigt. Wenn bestimmte Erfahrungen, die der Organismus macht, nicht oder nicht vollständig oder nur verfälscht bzw. verzerrt im Bewusstsein (Selbsterleben) repräsentiert werden, liegt Inkongruenz vor. Inkongruenz ist der direkten Wahrnehmung oder Reflexion nicht zugänglich. Im therapeutischen Kontakt stellt sich eine reaktive Inkongruenz beim Therapeuten in der Regel bei bestimmten Erfahrungen des Patienten ein, vor allem wenn diese mit bestimmten Erwartungen an den Therapeuten einhergehen. Die primäre Inkongruenz des Therapeuten beeinträchtigt sowohl seine Empathiefähigkeit als auch seine Fähigkeit zu Bedingungsfreier Anerkennung generell: Wenn der Therapeut feststellt, dass er sich in der Therapiestunde nur »genervt« fühlt, sich nicht auf das konzentrieren kann, was der Patient berichtet, das Gefühl hat, ihn nicht wirklich zu verstehen und/
keinerlei Desinteresse für seine Patientin wahrge nommen. Erst als er sich die gesamte Situation vergegenwärtigte, fiel ihm wieder ein, wie erleichtert er damals gewesen war, als seine Patientin von sich aus vorschlug, die zusätzliche Behandlung beim Psychiater aufzunehmen. Er hatte innerlich die Verantwortung für die Depression und vor allem für die damit einhergehende Suizidgefährdung an den Psychiater abgegeben, und zwar gern. Er kennt sich als jemanden, der es nach Möglichkeit vermeidet, andere Menschen zu kontrollieren. Die Klage der Patientin war also völlig berechtigt: Der Therapeut hatte ihren Wunsch, dass er sich auch für ihre Selbstmordgedanken verantwortlich fühlt, nicht wahrgenommen und hatte eine reaktive Inkongruenz entwickelt.
oder auch abzulehnen, ohne dass er das richtig begründen könnte, dann kann eine reaktive Inkongruenz auf der Grundlage einer primären Inkongruenz die Ursache dafür sein. Der Patient beschäftigt sich dann mit Erfahrungen, die dem Therapeuten aufgrund seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung fremd oder verboten sind. Das muss dem Therapeuten nicht bewusst sein, führt aber z. B. zur Abwehr auch der Erfahrungen, die der Therapeut machen würde, wenn er sich in den Patienten einfühlen könnte. Auch Hinweise auf das Vorliegen einer Inkongruenz kann der Therapeut vor allem dadurch erhalten, dass er prüft, ob bei ihm Abweichungen von der BPB vorliegen. Da auch die eingeschränkte Möglichkeit, sich empathisch einzufühlen, zu einer Abweichung von der BPB führt, hat die BPB im therapeutischen Prozess eine besondere Funktion: ! Die Bedingungsfreie Positive Beachtung ist die Alarmanlage der therapeutischen Beziehung. Der Therapeut kann im therapeutischen Prozess durch Selbstreflexion prüfen, ob er bei sich selbst Abweichungen von der BPB wahrnimmt. Wenn das der Fall ist, hat er sich vorrangig um die Wiederherstellung der BPB zu bemühen.
226
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Fallvignette
Hinderliche Bewunderung
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Ein 65-jähriger homosexueller Patient berichtet, wie er in den 50er-Jahren sein Coming-out hatte, also in einer Zeit, als homosexuelles Verhalten noch ein Straftatbestand (§§ 175, 175a StGB) war. Als gläubiger Katholik hatte er über sein Comingout auch im Beichtstuhl berichtet. Er schildert den Beichtvorgang mehrmals ausführlich und jeweils mit großer gefühlsmäßiger Beteiligung: Der Beichtvater will ihm nur dann die Absolution erteilen, wenn er seine Homosexualität als Sünde anerkennt und von ihr ablässt. Der Therapeut merkt beim Protokollieren der Therapiesitzung, dass er voller Bewunderung für seinen Patienten ist, der als 16-Jähriger gegenüber seinem Beichtvater standhaft bei seiner Überzeugung geblieben ist, dass das, was er als seine »Natur« erlebte, von Gott nicht als Sünde angesehen werden könne. Dem Therapeuten wurde aber auch bewusst, dass er vor lauter Begeisterung völlig aus dem Auge verloren hatte, welche negativen Konsequenzen diese Standhaftigkeit für den Patienten auch in seiner Familie hatte (Die Familie hatte
Wenn der Therapeut in seinem Empfinden eine Abweichung von der BPB feststellt, sollte er sich die Frage stellen: »Was ist der Grund dafür, dass ich die vom Patienten berichteten Erfahrungen nicht bedingungsfrei positiv beachten kann?« In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich der Schlüssel zu einem vertieften Verstehen des Patienten, wie das Beispiel oben zeigen soll.
9.1.2
Der Beitrag des Patienten zur gesprächspsychotherapeutischen Beziehung
enge Verbindungen zur Kirchengemeinde, ein älterer Bruder besuchte mit finanzieller Förderung durch die Kirche ein Priesterseminar). Im weiteren Therapieverlauf erkennt der Therapeut, dass alle Beziehungen des Patienten ein ähnliches Muster aufweisen: Er ist derjenige, der andere fördert oder ihnen beisteht. In keiner seiner Beziehungen hätten eventuelle Wünsche nach Abhängigsein und Versorgtwerden Platz. In ähnlicher Weise gestaltete er auch die Beziehung zum Therapeuten: Es gelang ihm immer wieder, die Bewunderung des Therapeuten zu wecken, d. h. den Blick des Therapeuten auf seine Stärken zu lenken, und damit erfolgreich zu vermeiden, dass seine Schwächen oder Versorgungsbedürfnisse überhaupt Thema wurden. Der Therapeut fand also durch die genauere Betrachtung seiner Abweichung von der Bedingungsfreien Wertschätzung (Bewunderung) einen Schlüssel zum besseren, d. h. vollständigeren Verstehen (auch der Schwächen und Versorgungsbedürfnisse) des Patienten. (Eckert & Kriz, 2005, S. 339)
nach Behebung der Symptomatik bzw. die Bereitschaft, sich über sie zu äußern, sowie 4 eine gewisse Ansprechbarkeit für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot. Diese Bedingungen sind bereits ausführlich im 7 Kap. 8.3.2 im Rahmen der Indikationsstellung behandelt worden. Noch einmal zu betonen ist der Umstand, dass im Hinblick auf die Anforderungen an den Patienten Gesprächspsychotherapie ein niedrigschwelliges Therapieangebot ist.
9.2
Damit ein gesprächspsychotherapeutisches Arbeitsbündnis zustande kommen kann, müssen auf Seiten des Patienten zwei Bedingungen gegeben sein: 4 psychische Störungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten, die als Ausdruck einer Inkongruenz zu verstehen sind, und der Wunsch des Patienten
Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie
Höger hat darauf hingewiesen, dass es notwendig und hilfreich ist, bei der Darstellung der Klientenzentrierten Therapietheorie die ihr immanente Taxonomie (d. h. Klassifikation von relevanten
227 9.2 · Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie
9
. Abb. 9.2 . Die vier Abstraktionsebenen zur Erfassung von (therapeutischen) Beziehungen (nach Höger, 7 Kap. 6.3)
Merkmalen nach einem hierarchischen Kategorienschema) zu beachten, d. h. die folgenden vier Abstraktionsebenen voneinander zu unterscheiden (. Abb. 9.2). Die Gesprächspsychotherapie wird in ihrer Theorie als Beziehung auf vier Ebenen (I–IV) beschrieben, die sich wie folgt charakterisieren lassen (7 Kap. 6.3): 4 Ebene I: Die Ebene der »Patient-Psychotherapeut-Beziehung« im Unterschied zu anderen Beziehungen, z. B. »Mutter–Kind« oder »Rechtsanwalt–Klient«. 4 Ebene II: Die Ebene zusammenfassender Merkmale der (gesprächspsychotherapeutischen) Beziehung, z. B. die Merkmale »Bedingungsfreie Positive Beachtung«, »Empathie« und »Kongruenz«. 4 Ebene III: Die Ebene einer zusammenfassenden Klassifikation von einzelnen Verhaltensweisen, wie »Selbstexploration« des Patienten oder die »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« (VEE) durch den Therapeuten. 4 Ebene IV: Die Ebene der konkreten Verhaltensweisen von Therapeut und Patient in einer bestimmten beobachteten bzw. dokumentierten Therapiesitzung.
Diese vier Ebenen stellen eine Taxonomie dar, d. h. sie bilden eine Systematik mit mindestens zwei festen Regeln: 4 Die Zuordnung von Gegebenheiten zu einer Kategorie darf die Gesetzmäßigkeiten der übergeordneten Ebene nicht verletzen. Beispiel: Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot mit den Aspekten Empathie, Kongruenz und Bedingungsfreie Anerkennung ist auf der Abstraktionsebene II angesiedelt. Das auf Ebene III angesiedelte konkretere Therapeutenverhalten, z. B. »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« muss kompatibel sein mit dem auf Ebene II formulierten Beziehungsangebot: Die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte des Patienten durch den Therapeuten muss ausdrücken, dass der kongruente Therapeut den Patienten empathisch versteht und bedingungsfrei positiv beachtet. 4 Die Gegebenheiten einer Ebene lassen sich aus den Gesetzmäßigkeiten der jeweils höheren Ebenen nicht eindeutig ableiten. So sind die Verhaltensweisen des Therapeuten auf der untersten Ebene IV nicht eindeutig aus den höheren Ebenen abzuleiten. Der Therapeut kann z. B. schweigen, die Augenbrauen erstaunt hochziehen, den Patienten fragen, ob er Suizidgedanken hat, ihn
228
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
auf eine Widersprüchlichkeit in seinen Darstellung hinweisen usw. Alle diese Verhaltensweisen sind angemessen, wenn sie z. B. die Selbstexploration des Patienten vertiefen (Ebene III) und Ausdruck eines empathischen Verstehens sind und die Bedingungen Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung nicht verletzen (Ebene II). Nicht jeder Therapeut kann aber z. B. schweigen, um die Selbstexploration jedes Patienten anzuregen oder damit dieser sich in welcher Situation auch immer empathisch verstanden fühlt. Das Aufzeigen der Taxonomie macht auch deutlich, dass der Gesprächspsychotherapeut auf der Ebene der konkreten Therapieinteraktion allen erdenklichen Verhaltensspielraum hat. Sein Verhalten ist nicht, wie Sachse und Maus (1991, S. 9) es fälschlich
9
darstellen, darauf beschränkt, Gefühle zu verbalisieren. Gegen solche Missverständnisse hat sich schon Rogers 1957 gewehrt: »… the technique of ›reflecting feelings‹ … is by no means an essential condition of (client-centered) therapy« (a. a. O., S. 102, 7 Kap. 6). Das nachfolgende Beispiel soll zeigen, dass andere Interventionen als die »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« in bestimmten Situationen nicht nur ebenfalls geeignet sind, den Selbstexplorationsprozess zu fördern, sondern auch adäquater sein können. Wie das Beispiel zeigt, sind unter den beschriebenen Bedingungen Verhaltensweisen wie Konfrontieren, Verdeutlichen, Konkretisieren, Mitlachen, die aktuelle therapeutische Beziehung ansprechen usw. ein sehr geeigneter Weg, die angestrebte therapeutische Beziehung, wie sie auf Ebene II definiert ist, zu fördern.
Fallvignette
Konfrontierende Intervention auf Ebene IV Ein Patient eröffnet seiner Gesprächspsychotherapeutin, dass er sich nach langem Überlegen zum Selbstmord entschlossen habe, und schließt mit den Worten: »Ich werde also aus diesem Leben scheiden«. Die Therapeutin reagiert auf diese Ankündigung mit der mit ernstem Nachdruck gestellten Frage: »Muss das denn sein?!« Das heißt, sie verbalisiert kein Gefühl, z. B. seine verzweifelte Entschlossenheit, sondern sie signalisiert, dass sie die Notwendigkeit dieses Schrittes nicht nachvollziehen kann und dass sie eine Alternative zum Freitod für denkbar hält. Der Patient bemüht sich darauf hin, die Therapeutin von der Notwendigkeit seines Entschlusses zu überzeugen, und gerät dadurch in einen Selbstexplorationsprozess, der dazu führt, dass er die für das präsuizidale Syndrom (7 Kap. 13) typische Eineinengung des Erlebens, Wahrnehmens und Fühlens durchbricht.
Diese Reaktion des Patienten ist dadurch möglich geworden, dass die Intervention der Therapeutin von einer auch vom Patienten wahrgenommenen, d. h. gespürten Bedingungsfreien Positiven Beachtung seiner momentanen Situation – zu der die angesprochene Eineinengung des Erlebens, Wahrnehmens und Fühlens gehörte – getragen war. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre eine Antwort auf die Frage »Muss das denn sein?« z. B. ein trotziges »Ja!« gewesen oder der Patient wäre ohne ein weiteres Wort zu verlieren aufgestanden und gegangen. Vermutlich war die Reaktion der Therapeutin auch adäquater als es eine Verbalisierung des von ihm selbst angesprochenen Erlebens des Patienten gewesen wäre. Wenn die Therapeutin sich nur darauf bezogen und z. B. gesagt hätte »Sie sehen für sich keine andere Möglichkeit mehr, als sich das Leben zu nehmen«, hätte Sie ihre eigene Einstellung dazu verleugnet und der Patient hätte sich verstanden im Sinne von bestätigt gefühlt und mit »Ja« geantwortet.
229 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
9.3
Therapeutische Handlungsregeln
Im Folgenden soll beschrieben werden, wie ein Gesprächspsychotherapeut den therapeutischen Kontakt gestaltet. Während bisher die therapeutische Beziehung im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, soll jetzt das therapeutische Handeln im Mittelpunkt sein. Mit Bezug auf die oben dargestellte Taxonomie kann man das auch wie folgt ausdrücken: Nachdem wir die Klientenzentrierte Therapietheorie auf der Ebene II formuliert betrachtet haben, werden jetzt die Regeln auf den Ebenen III und IV formuliert dargestellt. . Abb. 9.3 gibt einen Überblick über die zu behandelnden Zusammenhänge. Die in . Abb. 9.3 aufgeführten Handlungsprinzipien 4 Nicht-Direktivität, 4 empathisches Zuhören, 4 spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit und 4 Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten
. Abb. 9.3. Elemente und Funktionen im Behandlungsmodell der Gesprächspsychotherapie (aus Eckert, 2000b,
9
sind die Prinzipien der Förderung des psychotherapeutischen Prozesses. Sie sind allgemeine Prinzipien, d. h. sie sind unabhängig von der spezifischen Ausformung der Inkongruenz bzw. der Störung eines Patienten gültig.
9.3.1
Nicht-Direktivität
Ein bedeutsames Kennzeichen der gesprächspsychotherapeutischen Gestaltung des therapeutischen Kontaktes und der Gesprächsführung ist die NichtDirektivität. Das Prinzip der Nicht-Direktivität ist vor allem aus dem der Patientenzentrierten Theorie zugrunde liegenden Menschenbild (7 Kap. 3) abgeleitet, das durch ein hohes Ausmaß an Vertrauen in die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen gekennzeichnet ist. Unter bestimmten Bedingungen, die in der Therapiesituation dann gegeben sind, wenn die Beziehung zwischen Therapeut und Patient durch die Aspekte des gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebotes gekennzeichnet
in Anlehnung an das Allgemeine Modell von Psychotherapie von Orlinsky & Howard, 1987 und Orlinsky, 1994)
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9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
ist, die vom Patienten auch so wahrgenommen werden, entwickelt sich der Patient konstruktiv weiter. Aus einer systemischen Sichtweise des Patientenzentrierten Konzepts (Höger, 1993; Kriz, 1994; 2004) ergibt sich, dass psychotherapeutische Veränderungen nicht dem Kausalitätsprinzip folgen. Das Funktionieren des menschlichen Organismus kann besser erklärt werden, wenn man ihn als ein in sich geschlossenes, sich selbst erhaltendes System (autopoietisches System) betrachtet. Aus dieser Perspektive gesehen besagt das Prinzip der Nicht-Direktivität: Ein Gesprächspsychotherapeut ermöglicht dem Patienten seelische Entwicklung, indem er seinen Beitrag zu den für diese notwendigen Bedingungen leistet. Er fördert sie aber nicht durch eine kausale Einwirkung (7 Kap. 3 und 6). Nicht-direktives Handeln bedeutet konkret: Der Gesprächspsychotherapeut hört vor allem aufmerksam zu. In der Regel stellt er keine Fragen, er schlägt keine Übungen, z. B. Rollenspiele, vor und gibt keine Hausaufgaben auf. Er bringt nicht von sich aus Themen ein, sondern arbeitet mit dem »Material«, das der Patient spontan einbringt: Das kann das Erleben jetzt im Moment sein, der Bericht über das, was in der vergangenen Woche passiert ist oder vor einem Jahr oder im Traum oder in der frühen Kindheit. Es können Klagen über andere Menschen sein oder über die Auswirkungen von Symptomen. Nicht-Direktivität zeigt sich auch in einer Enthaltsamkeit bezüglich eigener Stellungnahmen emotionaler und intellektueller Art: In der Regel belehrt der Gesprächspsychotherapeut nicht, tröstet nicht und redet auch nicht über seine eigenen Erfahrungen. Abweichungen von der Nicht-Direktivität gibt es natürlich, z. B. wenn der Therapeut auf ein Thema zu sprechen kommt, das nicht zu der Thematik, die der Patient bisher in die Therapiestunden eingebracht hat, gehört. Sie sind in der Regel eine Folge davon, dass der Therapeut bei sich eine Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung festgestellt hat, wie das folgende Beispiel zeigen soll.
Fallvignette
Direktivität im Dienste der Kongruenz des Therapeuten Einer Therapeutin fällt in der 10. Therapiesitzung ein, dass ihr Patient im Erstinterview von einer schweren anhaltenden Ehekrise gesprochen hat und dass er überlege, mit seiner Frau zusammen eine Paarberatung aufzusuchen. In keiner der bisherigen Therapiesitzungen hat der Patient dieses Problem nochmals erwähnt. Die Therapeutin registriert, dass ihr Patient viel über Beziehungsprobleme spricht, z. B. über solche mit Kollegen und seinem Vorgesetzten, auch über die mit seinem älteren Bruder, nicht jedoch über die mit seiner Frau. Über sie spricht er überhaupt nicht. Die Therapeutin merkt, dass sie sich in den Sitzungen gedanklich immer häufiger mit diesem Umstand befassen muss und dass ihre Möglichkeiten, dem Patienten mit Bedingungsfreier positiver Beachtung zu begegnen, immer eingeschränkter werden. Daher entschließt sie sich, das »verschwundene« Thema Ehe von sich aus anzusprechen: »Ich merke, dass ich immer öfter daran denken muss, dass Sie mir im Erstgespräch von ernsthaften Eheproblemen berichtet haben …« Der Patient reagiert sofort. Es stellt sich heraus, dass seine Frau ihn inzwischen verlassen hat und zu einem anderen Mann gezogen ist. Er fühlt sich als ein totaler Versager und zutiefst beschämt. Die Therapeutin hat keine Mühe, sich diesen Erfahrungen ihres Patienten mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuzuwenden, d. h. ihre reaktive Inkongruenz hat sich aufgelöst.
Häufig führen, wie in diesem Beispiel, heftige Scham- oder Schuldgefühle, aber auch Ekel und Angst, dazu, dass bestimmte Themen vermieden werden. Es gibt aber auch problematische Themen, die dem Patienten nicht bewusst sind. Er kann sie also gar nicht zum Thema machen. Der eingefühlte Therapeut kann aber spüren, dass der Patient etwas vermeidet. Er sollte diesem Gefühl, dass der Patient ein bestimmtes Thema vermeidet, nachgehen.
231 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
! Interventionsregel bei Erfahrungen, die ver-
mieden werden Wenn der Therapeut spürt, dass sein Patient etwas vermeidet, ist es seine Aufgabe, zumindest den Umstand, dass er den Eindruck hat, dass etwas vermieden wird, zu thematisieren.
9.3.2
Empathisches Zuhören
Empathisches Zuhören ist eng verbunden mit dem Verhaltensmerkmal der Nicht-Direktivität. Um das Erleben des anderen wirklich verstehen zu können, muss man dem anderen zunächst einmal zuhören, und zwar so, dass man das, was der andere gesagt hat, vollständig und korrekt wiedergeben kann. Zuhören kann nur stattfinden, wenn man dem anderen Raum zur Selbstdarstellung lässt, sich mit eigenen Einfällen und Stellungnahmen zurückhält, sich auf das konzentriert, was der andere über sich sagt. Zuhören im therapeutischen Sinne bedeutet auch, 4 das, was der andere sagt und wie er es sagt, auf sich wirken zu lassen, 4 sich der Gefühle bewusst zu werden, die das Gesagte in einem selbst auslöst, ohne dabei den anderen aus dem Auge zu verlieren, d. h. 4 mit dem anderen in einem empathischen Kontakt zu bleiben.
was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!« (Michael Ende 1973, S. 15 f.)
9.3.3
Empathisches Zuhören ist eine unabdingbare Voraussetzung für Empathisches Verstehen. Welche Wirkungen empathisches Zuhören haben kann, ist wohl nirgends eindrücklicher beschrieben als in einem Kinderbuch von Michael Ende. »Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher (Leser) sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, 6
9
Spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit
Der Gesprächspsychotherapeut konzentriert sich bzw. richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf: 4 Das eigene Selbsterleben 4 Das Selbsterleben des Patienten ! Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das
eigene Selbsterleben Der Gesprächspsychotherapeut behält im Kontakt mit seinem Patienten immer auch sein eigenes Erleben im Auge und achtet dabei vor allem auf Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten in seinem Selbsterleben.
Wenn der Therapeut seine ganze Aufmerksamkeit auf das Selbsterleben des Patienten richtet, stehen in deren Fokus die folgenden psychischen Funktionen des Patienten:
232
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
4 Seine Selbstexploration 4 Sein Innerer Bezugsrahmen 4 Sein Experiencing
Zentrierung auf die Selbstexploration Definition Von Selbstexploration wird in der Gesprächspsychotherapie gesprochen, wenn sich der Patient sprachlich darüber äußert, dass und wie er sich selbst erlebt. Selbstexploration bezeichnet eine sprachlich geäußerte Form der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem eigenen Erleben, den eigenen Erfahrungen und ihren Bewertungen. Selbstexploration in der Therapiestunde dient meistens dem Versuch, unverstandene Erfahrungen verstehen zu wollen.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Selbstexploration und dem Therapieerfolg eines Patienten gibt. Zu Forschungszwecken wurde das Merkmal Selbstexploration in Form einer Skala operational definiert (. Tab. 9.1). Es konnte gezeigt werden, dass erfolgreiche Patienten entweder bereits bei Therapiebeginn eine hohe Selbstexploration (Stufe 7 und höher) aufwiesen oder im Verlaufe der Behandlung immer mehr selbstexplorativ geworden waren. Deshalb gilt die Beobachtung der Selbstexploration als Orientierungshilfe beim therapeutischen Handeln: Ein mittleres Ausmaß an Selbstexploration (ab Stufe 5) spricht für einen ausreichend guten therapeutischen Prozess. Der Therapeut sollte alarmiert sein, wenn die Selbstexploration konstant niedrig ist oder sogar deutlich abnimmt. Wenig Selbstexploration schließt ein positives Therapieergebnis nicht aus, macht es aber unwahrscheinlicher.
9 . Tab. 9.1. Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der »Selbstexploration« des Patienten* Stufe
Beschreibung
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Der Patient sagt nichts über sich selbst, weder über sein Verhalten noch über sein inneres Erleben. Er spricht ausschließlich über Tatbestände, die unabhängig von seiner Person sind.
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Der Patient berichtet nichts über sich selbst, weder über sein Verhalten noch über sein Erleben. Er erzählt jedoch von Personen und/oder Sachen, die zu ihm in einer Beziehung stehen (z. B. von seinen Eltern, seinem Auto).
3
Der Patient berichtet von äußeren Vorgängen und auch von seinem eigenen Verhalten, jedoch ohne von seinen spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen zu sprechen, die dazu in Beziehung stehen.
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Der Patient berichtet von äußeren Vorgängen und auch von seinem eigenen Verhalten, jedoch ohne von spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen zu sprechen, die im Zusammenhang damit stehen. Man kann jedoch annehmen, dass das Berichtete für ihn mit Gefühlen verbunden oder für ihn von ziemlicher Bedeutung ist.
5
Der Patient berichtet über sein eigenes Verhalten oder äußere Vorgänge und über die spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse, die dazu in Beziehung stehen. Der überwiegende Teil der Aussage besteht in der Schilderung seines Verhaltens oder äußerer Ereignisse; seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse werden nur kurz erwähnt.
6
Der Patient berichtet über sein eigenes Verhalten oder äußere Vorgänge und über die spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse, die dazu in Beziehung stehen. Der Inhalt der Aussage besteht überwiegend aus der Schilderung seiner inneren Erlebnisse.
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Der Patient berichtet überwiegend von seinen spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen. Zusätzlich ist ein Ansatz zu erkennen, seine inneren Erlebnisse weiter zu klären: etwa sie in neuen Zusammenhängen zu sehen, sich zu fragen, woher gewisse Einstellungen kommen, Widersprüche zu entdecken u. ä.
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Der Patient schildert ausführlich seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse. Das Suchen nach neuen Aspekten und Zusammenhängen in seinem inneren Erleben kommt deutlich zum Ausdruck.
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Der Patient schildert ausführlich seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse. Es wird deutlich, dass er neue Aspekte und Zusammenhänge in seinem inneren Erleben findet.
nach Tausch, Eppel, Fittkau & Minsel (1969)
233 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
Im Rahmen der klinischen Bindungsforschung wurde durch Fonagy, Target, Steele & Steele (1998) das Konzept des »Reflective Functioning« (RF) entwickelt und ebenfalls in Form einer Skala operational definiert (»Reflective Self Functioning Scale«). RF bedeutet, sowohl die eigene Person als auch andere Menschen in Begriffen von Intentionalität bzw. mentalem, d. h. geistig-seelischem, Befinden wahrzunehmen und zu verstehen (Gedanken, Meinungen, Absichten, Wünsche) bzw. über die Hintergründe von Verhalten in diesen Kategorien nachzudenken (Reflexivität). Daudert (2001) hat die RSF-Scale ins Deutsche übersetzt und in einer eigenen empirischen Untersuchung einen erstaunlich engen Zusammenhang zwischen der RSF-Scale und der oben abgebildeten Selbstexplorationsskala gefunden: r=0,53. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Forschungen zu RF (z. B. Daudert, 2002) bedeutet das für die Therapietheorie der Gesprächspsychotherapie: Die Förderung der Selbstexploration des Patienten in einer Gesprächspsychotherapie bedeutet eine Zunahme seiner Selbstreflexivität im Sinne des RF-Konzeptes und damit seiner seelischen Gesundheit in der Form von Bindungs- und Beziehungsfähigkeit.
Zentrierung auf den Inneren Bezugsrahmen Wir haben am Anfang des Kaptitel den Inneren Bezugsrahmen definiert als die Positionen, die ein Mensch gegenüber seinem eigenen Erleben einnimmt, vor allem die gefühlsmäßigen Bewertungen des Erlebens. Es hat sich in der Praxis als hilfreich erwiesen, besonders auf drei Erfahrungsbereiche und die zu ihnen gehörenden Bewertungen zu achten: 4 das Selbstkonzept, 4 die internalisierten Wertvorstellungen 4 die Beziehung zum Therapeuten Um korrekt zu erfassen, mit welchen Erfahrungen in welchem Erfahrungsbereich sich der Patient auseinandersetzt, kann der Therapeut seine innere Aufmerksamkeit mit Hilfe von Fragen, die er stumm an sich selbst richtet und beantwortet, steuern. Fragen im Hinblick auf das Selbstkonzept. Um abschätzen zu können, ob es um das Selbstkonzept geht, ist zu fragen: In welcher Beziehung stehen die
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Erfahrungen, über die der Patient spricht, zu seinem Selbstkonzept? Erlebt der Patient die Erfahrungen, über die er berichtet, als mit seinem Selbst kongruent? Die Antwort wird leicht fallen, wenn z. B. eine Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung berichtet, wie sie sich in einem Gespräch mit einer Kollegin plötzlich als neben sich stehend und sich beobachtend erfährt: »Ich sehe mich da stehen und auch weiter reden, aber das bin nicht ich, die da redet, und das, was die redet, ist nicht meine Überzeugung.« Bei einem Patienten, der sich beklagt, dass er nicht im Kontakt, sondern »immer erst hinterher« merkt, dass er sich über seine Gesprächspartner geärgert hat, kann sich herausstellen, dass er in seinem Selbstbild »spontan und geradeheraus« ist, sodass »immer erst hinterher« gar nicht zu seinem Selbstkonzept passt. Fragen im Hinblick auf internalisierte Wertvorstellungen. Um abschätzen zu können, ob es um die
internalisierten Wertvorstellungen (7 Kap. 4) geht, ist zu fragen: Wie bewertet der Patient seine Erfahrung? Lehnt er sich in ihr ab? Geht es ihm mehr um diese Erfahrung oder mehr um die positive Beachtung, die mit ihr verbunden ist? Recht häufig spielen internalisierte Wertvorstellungen eine Rolle, wenn es um Schuld und Schuldgefühle geht. So bei der Patientin, die sich mit Selbstvorwürfen überhäufte, dass sie ein so schwieriges und dann auch noch kränkelndes Kind gewesen sei. Sie habe ihre Mutter überfordert und damit in die Alkoholabhängigkeit getrieben. Bei dieser Patientin regiert die verinnerlichte Normvorstellung, dass nicht die Gefühle eines Kindes angesichts einer versagenden und enttäuschenden Mutter der Rede wert sind, sondern nur die einer überforderten Mutter. Fragen im Hinblick auf die Beziehung zum Therapeuten. Um abschätzen zu können, ob es um die
Beziehung zum Therapeuten geht, ist zu fragen: Fühle ich, Therapeut, mich, wenn auch unausgesprochen, vom Patienten angesprochen? Versucht der Patient unausgesprochen meinen Erwartungen zu entsprechen oder befürchtet er, von mir bewertet zu werden? Ein Patient, der die Therapiesitzungen fast immer mit der Feststellung eröffnete »Nach der letzten
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Sitzung ist es mir überhaupt nicht besser gegangen«, brachte damit weniger seine Selbsterfahrung zum Ausdruck, als seine Enttäuschung über den Therapeuten. Der Therapeut merkte es daran, dass er gar nicht auf die Idee kam, sich dem Aspekt der Enttäuschung in dieser Äußerung zuzuwenden, sondern seine spontane Antwort auf diese Frage »Aber das erwarte ich doch gar nicht von Ihnen!« unterdrückte.
Zentrierung auf Experiencing (Erleben)
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Experiencing heißt auf Deutsch »Erleben«. Wir benutzen aber in dem im Folgenden darzustellenden Zusammenhang den von Gendlin (1961) gewählten englischen Begriff, weil der deutsche Begriff »Erleben« kein psychologisches Fachwort geblieben ist, was es noch bei Wilhelm Dilthey war. Dilthey meinte mit dem Begriff Erleben, wie Gendlin mit dem Begriff Experiencing nicht etwas in inhaltlichen Einheiten Gegebenes, z. B. Erfahrungen oder Erlebnisse, sondern den kontinuierlichen Prozess des Fühlens und Spürens (Wiltschko, 2003). Im Prozess des Experiencing, dem die Person ihre Aufmerksamkeit zuwenden kann, entwickeln sich »gefühlte Bedeutungen«. Die Bezeichnung Experiencing betont den an den Körper gebundenen emotionalen Aspekt des Prozesses der inneren Bedeutungsentwicklung von Erleben im Symbolisierungsprozess, d. h. im Prozess des Bewusstwerdens von Erfahrung. In diesem Prozess tauchen neben Körperempfindungen und Gefühlen auch Vorstellungen, Gedanke und Worte auf. Diese sind aufeinander bezogen und geben einander Sinn und Bedeutung. In der klassischen Gesprächspsychotherapie sind es nicht selten positive Anlässe, sich dem unmittelbaren Erleben des Patienten zuzuwenden, z. B. wenn der Patient erstaunt feststellt: »Ich merke gerade, dass meine Kopfschmerzen nachlassen.« Häufiger sind aber weniger erfreuliche Anlässe, z. B. schießen dem Patienten die Tränen in die Augen, er kann nicht mehr sprechen, weil plötzlich ein »Kloß« im Hals sitzt, oder er merkt, dass er sich scheinbar grundlos schämt. Gendlin (1998) hat eigene Interventionsregeln entwickelt, um diesen Prozess systematisch zu fördern, das »Focusing« (7 Kap. 19). Eine Operationalisierung des Konzeptes in Form einer Skala findet sich im 7 Kap. 10.2.1.
9.3.4
Verbalisierung der Erfahrung des Patienten
Die Gesprächspsychotherapie verdankt ihrem Namen dem Umstand, dass der wesentliche Teil des therapeutischen Kontaktes in einem Gespräch zwischen Patient und Therapeut besteht. In einer Körpertherapie z. B. sind die Gewichte anders verteilt. Es handelt sich in der Gesprächstherapie aber nicht um ein Gespräch zwischen zwei gleichgestellten Gesprächspartnern, sondern der Therapeut verfolgt mit seiner Form der Gesprächsführung bestimmte Ziele: letztlich die Verminderung von Inkongruenz. Um diese Ziele zu erreichen, wendet er bestimmte Regeln an, die im Folgenden beschrieben werden. Der Therapeut greift die vom Patienten zum Ausdruck gebrachten Erfahrungen auf und bringt sie seinerseits zum Ausdruck, er indem er sie benennt, in Worte fasst, »verbalisiert«. Dabei befolgt er die folgende Grundregel: ! 1. Grundregel für Verbalisieren Benenne bei der Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten immer auch die dazu gehörenden Gefühle.
Diese Regel klingt einfacher als sie ist. In unseren alltäglichen Gesprächen mit anderen Menschen tauschen wir uns über unsere Erlebnisse oder Erfahrungsinhalte aus, aber nur ganz selten auch über die dazugehörenden Gefühle. Wie ungewohnt und schwierig ein Gespräch über Gefühle ist, lässt sich leicht an einer Szene in einem Hamburger Cafe erläutern. Es ist davon auszugehen, dass auch Therapeuten meistens nicht sehr geübt darin sind, die Gefühle des Gegenübers klar zu benennen. Die folgenden Beispiele sollen das belegen. Eine weitere Grundregel ist, dass bei der Verbalisierung der Erfahrungen nach Möglichkeit der Innere Bezugsrahmen im oben beschriebenen Sinne berücksichtigt werden soll. ! 2. Grundregel für Verbalisieren Beziehe bei der Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten nach Möglichkeit immer auch den Inneren Bezugsrahmen ein.
235 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
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Exkurs
Über Interaktionen pensionierter Oberschwestern in einem Café In einem Café in Hamburg-Eppendorf saßen acht pensionierte Schwestern und Oberschwestern zusammen, die sich alle aus der früheren Arbeit im nahe gelegenen Universitätskrankenhaus zu kennen schienen. Sie tauschten sich sehr lebhaft über ihre Gebrechen und Krankheiten aus. Wenn ich nicht genau hingehört hätte, wäre ich als Beobachter der acht Damen nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich gegenseitig ziemlich schreckliche Geschichten erzählten. Das lag an folgendem Interaktionsmuster: Wenn eine der Damen ihre derzeit desolate gesundheitliche Verfassung beschrieben hatte, wurde nicht in der Form darauf reagiert, dass nachgefragt wurde, wie es ihr denn nun z. B. mit dem halben Magen gehe, wie sie damit klar komme usw. Niemand erkundigte sich direkt nach ih-
rem emotionalen Befinden. Stattdessen bestand die typische Reaktion in der Darstellung einer eigenen Geschichte, in der z. B. mitgeteilt wurde, dass man selbst nur noch ein Viertel des Magens hätte, was aber nicht ausschließe, die Ferien im Ausland zu verbringen, wenn man sich nur rechtzeitig um die richtige Diät vor Ort kümmern würde. Vermutlich steckte in diesen Reaktionen der Versuch, die ehemalige Kollegin zu trösten, d. h. indirekt doch auf ihre emotionale Verfassung einzugehen: »Sieh doch mal, es ist nicht so schlimm, ich lebe mit der Hälfte von dem, was Du noch hast, ganz gut.« Das wurde aber so nicht gesagt, und so hätte man auch auf die Idee kommen können, dass mit der Reaktion der Wunsch ausgedrückt wurde, auch im eigenen Elend wahrgenommen zu werden, oder dass sie eine vorwurfsvolle Zurückweisung beinhaltete: »Stell’ Dich doch nicht so an, anderen geht es viel schlechter als Dir!«
Fallvignette
Beispiele von Therapeutenäußerungen 5 Patient: Ich weiß nicht warum, aber ich muss nur an meinen Vater denken und schon bin ich wütend! 5 Therapeut 1: Schon der Gedanke an Ihren Vater frustriert Sie. 5 Therapeut 2: Irgendwie macht es Sie ein Stück weit ärgerlich, wenn Sie an Ihren Vater denken? 5 Therapeut 3: Ist das ein alter Konflikt, den Sie da mit Ihrem Vater haben? Diese Reaktionen sind für Therapeuten nicht untypisch, aber keiner entspricht der o. g. Grund-
Der Innere Bezugsrahmen ist oft auch in einer einzelnen Patientenäußerung zu erkennen. Meistens zeigt er sich aber im Therapiegesprächsverlauf bei einer entsprechenden Zentrierung der Aufmerksamkeit. Es sind noch zwei weitere Regeln für die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte aufgestellt wor-
regel. Therapeut 1 benennt nicht ein Gefühl, sondern übersetzt das Wort Wut in einen unspezifischen Fachausdruck. Therapeut 2 verharmlost das vom Patienten genannte Gefühl, und Therapeut 3 geht überhaupt nicht auf das Gefühl ein. 5 Therapeut 4: Es macht Sie ziemlich ratlos, wenn Sie merken, dass Sie wütend auf Ihren Vater sind und nicht wissen warum? Therapeut 4 antwortet regelkonformer: Hier werden die Gefühle, mit denen der Patient befasst ist, vom Therapeuten klar benannt.
den, die in Rechnung stellen, dass nicht alle Patienten in gleichem Ausmaß fähig zur Selbstexploration sind. Intervention bei hoher Selbstexploration. Weist der Patient eine hinreichend hohe Selbstexploration (etwa ab Stufe 6 der SE-Skala) auf, dann lautet die Interventionsregel:
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
! Interventionsregel bei hoher Selbstexploration Sprich die Erfahrungen des Patienten und das damit zusammenhängende im Hier und Jetzt unmittelbar gegebene gefühlsmäßige Erleben möglichst genau und vollständig an! Fallvignette
Student mit einer Phobie 5 Patient: »Ich habe mich noch nie mutlos gefühlt. Mut hatte ich immer, manchmal fast zu viel, sodass ich mich gefragt habe, ob ich nicht nur anderen imponieren wollte, vielleicht ein Angeber bin. Dieses Gefühl jetzt ist etwas anderes. Ich weiß ja nicht einmal, wovor ich Angst habe außer vor diesem entsetzlichen Angstgefühl.«
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Der Patient benennt zwei Erfahrungen. Zum einen die, dass er jemand ist, der viel Mut zeigen kann, und zum anderen die, jetzt mit einem Gefühl zu tun zu haben, das nicht er, sondern das ihn beherrscht. Er benennt dieses Gefühl nicht, sondern hebt es von dem Gefühl der Mutlosigkeit ab.
Der Therapeut greift beide Situationen und die Gefühle in ihnen auf: 5 Therapeut: »Eigentlich kennen Sie sich als jemanden, der Situationen beherrscht, auch wenn dazu viel Mut gehört. Jetzt aber werden Sie von einem Angstgefühl beherrscht. Das macht Sie ziemlich ratlos.« Eine solche Äußerung gibt die Erfahrung und das Erleben des Patienten recht »genau und vollständig« wieder. Wenn für den Therapeuten auch der Innere Bezugsrahmen erkennbar ist, sollte er ihn in seine verbale Äußerung einschließen, d. h. auch die 2. Grundregel berücksichtigen.
Fallvignette
Beispiele für Verbalisierungen unter Einbeziehung des Inneren Bezugsrahmens 5 Das Selbstkonzept bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »Eigentlich kennen Sie sich als jemanden, der Situationen beherrscht, auch wenn dazu viel Mut gehört. Jetzt aber werden Sie von einem Angstgefühl beherrscht. Das passt so gar nicht zu ihnen und entsprechend verunsichert fühlen Sie sich.« 5 Die Internalisierten Wertvorstellungen bestimmen den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. Und das st schwer auszuhalten, weil sie mir ja schon erzählt haben, dass für Sie ängstliche Jungen feige Memmen sind.« 5 Experiencing bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. ! Interventionsregel bei niedriger Selbst-
Ich sehe, dass Ihnen zum Weinen zu Mute ist. Können Sie mir sagen, was das für Tränen sind, die Sie zurückzuhalten versuchen?« 5 Die Beziehung zum Therapeuten bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. Sie schauen mich so fragend an. Fürchten Sie, ich finde Sie feige, wenn Sie wegen ihrer Angst vor der Angst nicht mehr ins Kino gehen?« Diese Therapeutenäußerung wird verständlich, wenn man weiß, dass der Patient kurz zuvor ausgeführt hatte: »Es ist mir immer wichtig gewesen, nicht feige zu sein. Ich finde Angsthasen peinlich, schäme mich fast für jeden Feigling.«
! Interventionsregel bei niedriger Selbst-
exploration
exploration
In den Fällen, in denen der Patient nicht über unmittelbares Erleben spricht, lautet die Interventionsregel:
Sprich das gefühlsmäßige Erleben des Patienten an, das ihn im Hier und Jetzt am stärksten zu bestimmen scheint.
237 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
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Zur Illustration greifen wir das eingangs gebrachte Beispiel noch einmal auf (7 Kap. 9.1.1). Fallvignette
Empathisches Verstehen und seine Wirkung Patientin: Wenn ich jetzt bei dem Beispiel bleiben soll, dann würde ich sagen: Irgend ein abgebrühter Kaufmann, dem es an die Nieren geht, wenn ihm ein paar tausend Mark fehlen, der soll sich ruhig ein bisschen gequält fühlen, also das würde mich eventuell sogar noch freuen, wenn es nur das ist, was ihn zu quälen vermag. Therapeut: Das klingt sehr bitter. Patientin: Ja, das stimmt, da haben Sie Recht. Das ist mir im Moment auch gerade bewusst geworden. Ich mein’ einfach aus Verbitterung darüber, dass man also jahrelang beobachtet hat, wie viele Menschen es eigentlich gibt, die sich um nichts anderes kümmern als um Geld. (…) Kommentar: Die Patientin benennt zwar ein Gefühl – »das würde mich eventuell sogar noch
Diese Regeln für das Verbalisieren der Erfahrungen des Patienten sind in der Taxonomie auf Stufe III bzw. IV angesiedelt. Da Regeln auf dieser Stufe die Regeln auf den höheren Stufen – dazu gehört das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot – nicht verletzen dürfen, lautet die vollständige Interventionsregel wie folgt: ! Vollständige (ideale) Regel für die Verbalisie-
rung von Erfahrungen Sprich die vom Patienten geäußerten Erfahrungen und sein im Zusammenhang damit im Hier und Jetzt tatsächlich stattfindendes Erleben möglichst vollständig an, sofern Du beides empathisch verstanden hast und bedingungsfrei positiv beachten kannst.
Evaluierung der Verbalisierung von Erfahrungen.
Abschließend ist noch die Frage zu behandeln: Woran kann der Gesprächspsychotherapeut erkennen, ob seine Intervention »richtig«, d. h. für den Therapieprozess förderlich, war? Einen sicheren Hinweis bietet die Selbstexploration des Patienten. Bleibt sie gleich oder steigt sie sogar an, dann war die Intervention adäquat. Fällt sie aber ab oder verstummt der Patient gar, dann war sie sicherlich nicht korrekt. In einem solchen Fall sollte der Therapeut nicht
freuen« –, aber es ist deutlich, dass sie mehr eine Vorstellung meint als ein Gefühl. Das Gefühl, das die Patientin im Moment bestimmt, ist eher Verbitterung. Dieses auf dem Weg des empathischen Verstehens wahrgenommene Gefühl benennt der Therapeut: »Das klingt sehr bitter.« Da er das Gefühl bei der Patientin »erspürt« hat und nicht sicher sein kann, dass die Patientin ihrerseits dieses Gefühl so bei sich auch wahrnimmt, sagt er z. B. nicht »das verbittert Sie«, sondern signalisiert der Patientin mit seiner Formulierung »das klingt sehr bitter«, dass er ihr seine Wahrnehmung mitteilt. Die Reaktion der Patientin macht deutlich, dass sie sich richtig verstanden und in ihrem Erleben vom Therapeuten auch bedingungsfrei positiv beachtet fühlt: Sie greift das vom Therapeuten benannte Gefühl auf und führt die damit zusammenhängenden Umstände weiter aus.
nach einer besseren bzw. »richtigeren« Intervention suchen und sie anbieten, sondern genau diese im Hier und Jetzt entstandene Störung des therapeutischen Prozesses zur Sprache bringen: »Sehe ich das richtig, sie haben sich gerade von mir nicht verstanden gefühlt?« Wenn die emotionale Reaktion des Patienten eindeutig ist, könnte er z. B. auch fragend feststellen: »Sehe ich das richtig, meine Äußerung hat sie verletzt?« Dieses Vorgehen lässt sich in folgende Regel fassen: ! Regel im Falle einer Verbalisierung, die vom
Patienten als nicht ganz richtig oder als falsch zurückgewiesen wird Wenn der Patient eine Verbalisierung seiner emotionalen Erlebnisinhalte durch den Therapeuten direkt oder indirekt als nicht ganz richtig oder gar als falsch zurück weist, ist es meistens nicht angebracht, nach einer »richtigeren« Verbalisierung zu suchen und diese als Alternative anzubieten, sondern es ist die unmittelbare Erfahrung anzusprechen, die der Patient in der Reaktion darauf macht, dass er sich durch die Äußerung des Therapeuten nicht bzw. nicht ausreichend verstanden fühlt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Die Zurückweisung einer Intervention durch den Patienten geschieht selten direkt, z. B. in der Form: »Nein, da haben Sie mich falsch verstanden!« Sehr viel häufiger muss sie der Therapeut aus der Reaktion des Patienten erschließen, wenn dieser auf die Intervention des Therapeuten nicht eingeht, das Thema wechselt oder gar verstummt. Bei dem Versuch des Therapeuten, die »Zurückweisung« seiner Intervention zu klären, d. h. ihre Gründe zu verstehen, wird nicht selten deutlich, dass sie nicht erfolgte, weil die Intervention nicht oder nicht ausreichend empathisch war, sondern weil der Innere Bezugsrahmen außer acht gelassen worden ist. Auch wenn eine Intervention wie: »Verstehe ich Sie da richtig, Sie waren damals sehr neidisch auf ihre Schwester und wollten zu der Zeit lieber ein Mädchen als ein Junge sein«, die Erfahrung des Patienten exakt wiedergibt, wird er sie dann nicht annehmen können, wenn dieser Wunsch noch scham- und angstbesetzt oder nicht bewusstseinsfähig ist und abgewehrt werden muss. Zugänglich sind dem Patienten häufig nur Empfindungen, die diffuse Hinweise auf das Vorliegen einer Inkongruenz beinhalten. Diese wären dann zunächst vom Therapeuten anzusprechen unter der Voraussetzung, dass er sich diesen Hinweisen mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuwenden kann. Er könnte z. B. dem Patienten anbieten: »Sie schweigen jetzt. Mir scheint es so, als wäre es für sie sehr schwer, sich mit der Möglichkeit zu befassen, dass sie sehr neidisch auf ihre ältere Schwester waren. Spüren sie diese innere Bremse auch?« Wenn scham- und angstbesetzte Erfahrungen bewusstseinsfähig sind, ermöglicht der Therapeut es dem Patienten, über diese Erfahrungen zu sprechen, indem er sie direkt anspricht. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Suizidgedanken. Wenn der Patient sie andeutet, sollte der Therapeut sie direkt zum Thema machen, z. B. so: »Ich kann mir gut vorstellen, dass bei Ihnen in ihrer Situation auch schon mal der Gedanke auftaucht, mit dem Leben Schluss zu machen.« Die meisten Patienten mit mehr oder weniger latenten Suizidgedanken reagieren auf ein solches Verständnisangebot mit Erleichterung und können dann auch über ihre eigenen Kämpfe gegen immer wieder aufsteigende Suizidgedanken berichten.
! Interventionsregeln 4 Die sprachlichen Interventionen des Gesprächspsychotherapeuten beziehen sich auf die Erfahrungen und das Erleben des Patienten in seinem Inneren Bezugsrahmen: 4 Auf das im Hier und Jetzt stattfindende Erleben des Patienten 4 Auf die Bedeutung der Erfahrungen für das Selbstkonzept des Patienten 4 Auf die Internalisierten Wertvorstellungen, auf deren Grundlage die Bewertung dieser Erfahrungen erfolgt 4 Auf die Bedeutung, die das Erleben für die therapeutische Beziehung hat. 4 Die Interventionen sollten im Hinblick darauf überprüft werden, ob sie therapeutisch nützlich waren. Ein Indikator ist die Selbstexploration des Patienten. Eine Intervention war wahrscheinlich dann therapeutisch sinnvoll, wenn die Selbstexploration des Patienten in ihrer Folge nicht absinkt, sondern gleich bleibt oder ansteigt.
Auf den ersten Blick scheinen »Regeln« bzw. der Begriff »Regel« im Widerspruch zum Klientenzentrierten Konzept zu stehen, das auch das Prinzip der Nicht-Direktivität beinhaltet. Das Prinzip der NichtDirektivität bedeutet aber auch eine Regel. Bedeutung der angeführten Regeln in der Praxis.
Die in diesem Abschnitt beschriebenen Handlungsregeln sind als Leitlinien für das therapeutische Handeln aufzufassen, die aber im konkreten Einzelfall häufig nicht eingehalten werden können bzw. modifiziert werden müssen. Die klinische Praxis lehrt vor allem, dass Therapeuten nicht jederzeit auf dem theoretisch idealen Niveau funktionieren müssen, damit eine Gesprächspsychotherapie erfolgreich verläuft. Wenn ein Gesprächspsychotherapeut z. B. ein bestimmtes Problem seines Patienten überhört oder missversteht, kann er ziemlich sicher sein, dass der Patient dieses Problem immer wieder präsentierten wird, und zwar so lange, bis er darin verstanden wird. In den beiden folgenden Kapiteln (7 Kap. 9.4 und 9.5) soll gezeigt werden, wie gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis aussieht, wie weit oder wie oft es in der Praxis gelingt, die oben formu-
239 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
lierten Regeln auch umzusetzen. Unsere Praxisdarstellung beginnt mit einer historischen Therapiesitzung: einem Gespräch, das der Begründer der Gesprächpsychotherapie, Carl Rogers, mit einer Patientin »Gloria« geführt hat. An dieses Gespräch schließt sich die Darstellung des Verlaufs der Behandlung der Patientin Annette an, die wir bereits aus einem diagnostischen und einem Erstinterview kennen, bei dem es um die Frage ging, ob eine Psychotherapie für diese Patientin die Behandlung der Wahl ist und wenn ja, welche.
Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung
9.4
Bei dem folgenden Protokoll handelt es sich um ein wörtlich transkribiertes, aber gekürztes Interview, das Carl Rogers mit der Patientin Gloria geführt hat. Dieses Interview, ein Erstkontakt, wurde deshalb so bekannt, weil die Patientin Gloria auch von dem Begründer der Gestalttherapie, Fritz Perls, und dem Begründer der Rational-Emotiven Therapie, Albert Ellis, interviewt worden ist, und es darüber einen Film gibt (Shostrom, 1965), der die Unterschiede im therapeutischen Vorgehen dieser drei Schulengründer verdeutlichen sollte.
Dieses Gespräch haben wir bereits an anderer Stelle gekürzt und kommentiert wiedergegeben (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003). Es gab für uns zwei Gründe, das Interview auch in dieses Lehrbuch aufzunehmen. Zum einen den historischen Grund: Es dokumentiert die praktische Arbeit des Begründers der Klientenzentrierten Psychotherapie, Carl Rogers, und zum anderen den Grund, dass es sich um ein in sich abgeschlossenes Gespräch handelt, an dem sich die Prinzipien gesprächspsychotherapeutischen Handelns gut verdeutlichen lassen. Die Äußerungen des Therapeuten in diesem Gespräch werden in dreifacher Hinsicht aufgeschlüsselt und kommentiert bzw. interpretiert, und zwar unter den Gesichtpunkten: 4 Welche emotionalen Erlebnisinhalte nimmt der Therapeut vermutlich wahr? 4 Welche Überlegungen macht er sich vermutlich bezüglich des Inneren Bezugsrahmens der Patientin? 4 Wonach richtet er sich vermutlich bei seiner Entscheidung darüber, was er von dem, was er wahrgenommen und verstanden hat, auch anspricht? Mit diesen drei Analyseschritten wird versucht, für den Leser nachvollziehbar zu machen, welche Wahrnehmungen und Bewertungen der Wahrnehmung zu welchen verbalen Äußerungen des Therapeuten führen. Das Interview eignet sich auch als Übung.
. Tab. 9.2. Therapieprotokoll. T Therapeut, P Patientin, I emotionaler Erlebnisinhalt, den der Thera-
peut wahrnimmt, B Überlegungen des Therapeuten zum Bezugsrahmen, E Entscheidung darüber, was der Therapeut anspricht
T P
T 6
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Ich würde gern von Ihnen erfahren, was Sie beschäftigt. Gut, ich bin jetzt, ich bin jetzt nervös, aber es beruhigt mich, dass Sie mit leiser Stimme sprechen, und ich nicht das Gefühl haben muss, dass Sie so streng mit mir sein werden – aber … Ich höre, dass Ihre Stimme zittert, so…
I B
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Sie fürchtet sich davor, dass ich streng mit ihr sein könnte. Diese Furcht bestimmt sie jetzt unmittelbar – man hört es an ihrer Stimme. Ich spreche das unmittelbar vorhandene Erleben an der Stelle an, an der es sich am deutlichsten ausdrückt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Gut. Das, worüber ich vor allem mit Ihnen reden möchte, ist, ich habe mich gerade scheiden lassen, und ich war vorher in einer Therapie, und ich war beruhigt, als ich ging, und plötzlich ist nun das größte Problem, wie ich mit meinem Leben als Alleinstehende fertig werden kann. Und eine der Angelegenheiten, die mich am meisten aus der Ruhe bringen, ist die Angelegenheit mit Männern, Männer bei mir im Hause zu haben, und was das für die Kinder bedeutet. Das Belastendste, ich möchte – die Angelegenheit, die mir immer wieder durch den Kopf geht –, was ich Ihnen erzählen möchte ist, dass ich eine Tochter habe, neun Jahre alt, die vor kurzem, das ist mein Eindruck, eine Menge emotionaler Probleme hatte. Ich wünschte, ich könnte aufhören zu zittern. Und ich bin wirklich gewissenhaft (»bewusst«) mit Sachen, die ihr etwas ausmachen. Ich möchte sie nicht aus der Fassung bringen, ich möchte sie nicht erschrecken. Ich wünsche ihr so sehr, dass sie mich akzeptiert. Und wir sind wirklich offen miteinander, vor allem, wenn es um Sex geht. Und vor ein paar Tagen hat sie ein Mädchen gesehen, das unverheiratet, aber schwanger war, und dann hat sie mich darüber ausgefragt, wie Mädchen schwanger werden können, wenn sie unverheiratet sind. Und das Gespräch war gut, und ich habe mich dabei überhaupt nicht unwohl gefühlt, bis sie mich gefragt hat, ob ich schon einmal mit einem Mann geschlafen habe, seit ich Papi verlassen habe, und ich sie angelogen habe. Und seither muss ich immer wieder daran denken, ich fühle mich so schuldig, weil ich sie angelogen habe, denn ich lüge nie, und ich möchte, dass sie Vertrauen zu mir hat. Und ich möchte fast eine Antwort von Ihnen haben. Ich möchte, dass Sie mir sagen, ob ich ihr etwas antun würde, wenn ich ihr die Wahrheit sagen würde, oder was.
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Sie spricht jetzt zwar über etwas, was sie selbst belastet, spricht aber mehr über die Gefühle ihrer Tochter. Ihr eigenes Problem scheint zu sein, dass sie ihre Beziehung zu ihrer Tochter damit gefährden könnte, wie sie mit ihren eigenen Problemen umgeht. Sie traut sich nicht zu, dieses Problem selbst zu lösen, sieht es auch als ein Problem außerhalb ihres eigenen Erlebens an, als etwas objektiv Gegebenes. Deshalb fragt sie mich.
241 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Und es ist diese Sorge um sie und die Tatsache, dass Sie wirklich nicht, dass dieses offene Verhältnis, das zwischen Ihnen beiden bestand, dass es Ihnen so vorkommt, als sei das nun dahin. Ja, ich habe das Gefühl, dass ich bezüglich dieser Sache auf der Hut sein muss, denn ich kann mich erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und zum erstenmal mitbekam, dass meine Eltern miteinander schliefen. Ich fand das schmutzig und schrecklich, und ich mochte meine Mutter eine zeitlang nicht mehr. Und ich möchte Pamela weder belügen und – ich weiß nicht. Ich wünschte mir wirklich, ich könnte Ihnen die Frage beantworten, was Sie ihr erzählen sollen.
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Ich denke, von den Gefühlen, die sie jetzt geäußert hat, ist ihre Sorge um das Verhältnis zu ihrer Tochter das Wichtigste und Deutlichste.
I
Sie besteht darauf, von mir einen Rat zu bekommen. Sie denkt, sie hat das nicht hinreichend begründet, denn was sie sonst noch sagt, ist eine Begründung dafür, wie nötig dieser Rat ist.
B
Dieser Wunsch an mich ist das, was ihr Erleben vorrangig bestimmt. Was sie sonst erlebt, erscheint ihr nicht problematisch. Sie erwähnt da eher unhinterfragte Tatsachen. Ich muss ihr zeigen, dass ich verstehe, dass sie ihren Wunsch wiederholt hat und dass ich ihn akzeptiere. Ich habe die Patientin richtig verstanden. Sie meint also wirklich, diesen Rat zu benötigen. Das will ich ansprechen und Verständnis für die Enttäuschung zeigen, nicht aber die Enttäuschung selbst ansprechen; denn um die Enttäuschung geht es jetzt weniger als darum, dass sie die Dringlichkeit ihres Wunsches wiederholt. P hat Angst um das Vertrauen ihrer Tochter.
E
P T
Ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Weil Sie wirklich eine Antwort haben möchten.
I B E
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Ich möchte vor allen Dingen wissen, ob ich ihr etwas antäte, wenn ich vollständig offen und ehrlich mit ihr wäre, oder ob es ihr etwas antäte, dass ich gelogen habe. Ich habe das Gefühl, dass es sie stark beunruhigen wird, dass ich sie belogen habe. Sie haben das Gefühl, sie wird Verdacht schöpfen oder sie wird wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist.
I
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Eigentlich ist ihr klar, dass sie es am ehesten durch Unehrlichkeit gefährden könnte. Ich werde ihr das anbieten.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Ich habe das Gefühl, dass sie mir mit der Zeit misstrauen wird, ja. Und ich habe dann auch gedacht, was wird passieren, wenn sie ein bisschen älter wird und selbst in heikle Situationen gerät? Sie wird mir das wahrscheinlich nicht mitteilen mögen, weil sie denkt, ich bin so gut und lieb. Und darüber hinaus fürchte ich, sie könnte denken, dass ich eigentlich ein Teufel bin. Und ich möchte so schrecklich gern, dass sie mich akzeptiert. Und ich weiß nicht, wie viel eine Neunjährige verkraften kann. Beide Möglichkeiten beunruhigen Sie sehr, dass sie denken könnte, Sie sind so gut oder besser als Sie wirklich sind …
I
Sie fühlt sich verstanden, wiederholt aber den anderen Aspekt ihrer Unsicherheit.
B
Offenbar fürchtet sie vor allem um das Bild, das das Kind von ihr hat. Geht es vielleicht um ihr eigenes Selbstbild? Ich spreche ihren wiederholten Wunsch an und ihre Unsicherheit in der Beurteilung, die sie erfahren könnte. Sie hat tatsächlich eine Selbstwertproblematik und schämt sich dieser. Sie äußert das aber so, als sei ihr das nur ein Problem in der Beziehung zu ihrer Tochter. Ich zeige ihr, dass ich diese tiefsitzende Selbstwertproblematik verstanden habe, respektiere aber auch, dass sie das momentan nur in der Beziehung zur Tochter erlebt.
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Ja!
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… oder dass sie denken könnte, dass Sie schlechter sind, als Sie wirklich sind.
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Nicht schlechter als ich bin. Ich weiß nicht, ob sie mich so, wie ich bin, akzeptieren kann. Ich denke, ich entwerfe da das Bild von mir, dass ich ganz lieb und mütterlich bin. Ich schäme mich auch ein bisschen meiner Unoffenheit. Ich verstehe, das geht ein bisschen tiefer. Wenn sie Sie wirklich kennen würde, könnte sie Sie akzeptieren? Genau das weiß ich nicht. Ich möchte nicht, dass sie sich von mir abwendet. Ich weiß nicht einmal, welche Gefühle ich in dieser Sache habe, denn es gibt Zeiten, da fühle ich mich so schuldig, wenn ich einen Mann da habe. … Und dennoch weiß ich auch, ich habe diese Bedürfnisse. Und so ist es ziemlich deutlich: Das ist nicht nur ein Problem in der Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter, das ist auch ein Problem in Ihnen selbst.
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I
Sie wiederholt ihre Selbstwertproblematik in ihrer Beziehung zu Männern. Sie spricht von Schuldgefühlen, betont aber, wie sehr sie dabei von ihrer Beziehung zu ihrem Kind bestimmt ist.
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Warum erwähnt sie ihre Bedürfnisse? Sind ihr die auch unabhängig von den Kindern ein Problem? Ich versuche, ihr diese Vermutung nahe zu bringen.
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243 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Ja, und ich mag nicht diese … – Ich würde mich gern wohlfühlen mit allem, was ich tue. Wenn ich mich entschließe, Pamela nicht die Wahrheit zu sagen, dann möchte ich mich damit wohlfühlen, dass sie mit der Wahrheit nicht fertig würde, und ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte ehrlich sein, und trotzdem fühle ich, es gibt da einige Gebiete, die nicht einmal ich akzeptiere. Und wenn Sie das bei sich selbst nicht akzeptieren können, wie soll es dann möglich sein, dass Sie sich damit wohlfühlen, wenn Sie ihr davon erzählen?
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Sie ist auf der Suche nach Möglichkeiten, sich vollständiger akzeptieren zu können.
B
Natürlich kann sie sich nicht vorstellen, dass ihr Kind etwas akzeptiert, was nicht einmal sie selbst akzeptieren kann. Sie spürt wieder, dass es ihr Unbehagen bereitet, dass sie sich nicht akzeptieren kann, und die daraus resultierende Erwartung, durch andere auch nicht akzeptiert zu werden. Ich werde ihr die Zwangsläufigkeit ihrer Angst, sich dem Kind mitzuteilen, verdeutlichen. Die P spürt, dass sie große Schwierigkeiten hat, sich selbst zu akzeptieren.
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Richtig, ganz richtig. Nun kapiere ich, was Sie sagen. Ja, dann, dann möchte ich daran arbeiten, mich akzeptieren zu können. Ich möchte daran arbeiten, es in Ordnung zu finden. Das ergibt einen Sinn. Das wird ganz natürlich sein, und ich werde mir keine Gedanken um Pamela machen müssen. Aber wenn mir etwas so falsch vorkommt und ich habe den Impuls, es zu tun, wie kann ich das akzeptieren? Was Sie möchten ist, dass Sie sich akzeptieren können, wenn Sie etwas tun, das Sie falsch finden. Ich das richtig? Richtig. Das klingt wie eine schwere Aufgabe.
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Sie hält das »Sich-selbst-akzeptieren« für eine Leistung, die sie erbringen muss.
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Ich werde auf den Gedanken eingehen, der ihr Selbstakzeptierung als eine Leistung erscheinen lässt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Es kommt mir so vor, als wollten Sie sagen: »Also warum denken Sie, dass es falsch ist?« Und ich habe da auch gemischte Gefühle. In der Therapie würde ich sagen: »Also schau mal, ich weiß, es ist natürlich. Frauen empfinden so – klar, wir reden nicht viel darüber in der Öffentlichkeit, aber alle Frauen empfinden so, und es ist sehr natürlich«. Ich hatte in den letzten 11 Jahren sexuelle Erlebnisse, und ich möchte sie natürlich weiterhin haben, aber ich denke dennoch, es ist falsch, wenn du nicht ehrlich verliebt bist in einen Mann, und mein Körper scheint dem nicht zuzustimmen. Und ich weiß nicht, wie ich das akzeptieren soll? Das klingt mir wie ein »Sich-im-Kreisedrehen«, nicht wahr? Sie haben den Eindruck, dass ich oder Therapeuten im Allgemeinen oder andere Leute sagen »Es ist in Ordnung, es ist natürlich genug, mach nur«, und ich vermute, dass sich Ihr Körper dieser Betrachtungsweise anschließt. Aber irgendwas in Ihnen sagt »Aber ich mag das nicht; nicht, wenn es nicht wirklich in Ordnung ist.« Richtig! (lange Pause) Ich fühle mich, hoffnungslos. Ich meine, so fühle ich mich, und ich fühle – nun gut, was nun?
Sie spüren: Das ist der Konflikt. Und er ist einfach unlösbar, darum ist es hoffnungslos, und sie sehen mich an, und ich scheine Ihnen nicht zu helfen. Richtig. Ich weiß ja, dass Sie nicht für mich antworten können, und ich muss es selbst herausfinden, aber ich möchte, dass Sie mich führen oder mir zeigen, wo ich anfangen kann, oder … damit es nicht so hoffnungslos aussieht. Ich weiß, ich kann mit dem Konflikt weiterleben, und ich weiß, dass sich die Dinge letztendlich klären werden, aber ich möchte mich mit meinem Lebensstil wohler fühlen – und ich fühle mich nicht wohl!
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Sie empfindet ihre eigenen Bewertungsprozesse als fragwürdig.
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Sie denkt, sich selbst akzeptieren bedeutet, sich selbst so bewerten, wie man von anderen bewertet wird, meint also, ihre eigenen Bewertungsprozesse in den Hintergrund stellen zu müssen. Ich werde ihr die Spannung zwischen ihren eigenen Bewertungsprozessen und den Meinungen anderer deutlich machen.
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Die Patientin spürt nun unmittelbar Hoffnungslosigkeit und Ärger mir gegenüber. Sie spürt, was es für sie bedeutet, kein Vertrauen in die eigenen Bewertungsprozesse zu haben. Ich werde ansprechen, dass sie mir ihre Hoffnungslosigkeit zeigt und dass sich Ihre Wut gegen mich richtet. Sie richtet ihren Unmut gegen ihre eigene vermeintliche Unfähigkeit, sich wohlzufühlen.
245 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Das eine möchte ich Ihnen sagen Was würden Sie mich denn gerne sagen hören?
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Ich wünschte, Sie würden sagen, dass ich ehrlich sein soll und es wagen soll, herauszufinden, ob Pamela mich akzeptiert. Und ich habe den Eindruck, dass, wenn ich es mit Pamela wagen würde, vor allen anderen, dass ich dann sagen könnte »Dieses kleine Kind kann mich akzeptieren, ich bin in Wirklichkeit gar nicht so schlecht«! Wenn sie wirklich weiß, was für ein Teufel ich bin, und mich dennoch liebt und akzeptiert, dann wird mir das wahrscheinlich helfen, mich selbst mehr zu akzeptieren – als wenn es in Wirklichkeit nicht so schlimm wäre. Ich möchte, dass Sie sagen »Geh und sei ehrlich«, aber ich mag die Verantwortung nicht übernehmen, sie aus der Fassung zu bringen. An dem Punkt möchte ich die Verantwortung nicht übernehmen. Sie wissen sehr gut, was Sie in dieser Beziehung tun möchten. Sie möchten Sie selbst sein, und Sie möchten sie wissen lassen, dass Sie nicht so perfekt sind, Dinge tun, die Sie vielleicht selbst nicht gutheißen, und dass Sie sich selbst zu einem gewissen Grad nicht gutheißen, dass sie Sie aber irgendwo als diese nicht perfekte Person liebt und akzeptiert. Ja, so wie ich denke, wenn meine Mutter offener mit mir gewesen wäre, dann würde ich in Sachen Sexualität nicht so eng denken. Wenn ich hätte denken können, dass sie auch, nicht wahr, ganz schön sexy und gierig und teuflisch sein konnte, wenn ich sie nicht dermaßen als eine liebe Mutter hätte ansehen müssen, gesehen hätte, dass sie auch anders sein konnte. Aber sie hat darüber nichts gesprochen. Vielleicht habe ich deshalb mein Bild. Ich weiß nicht, aber ich möchte, dass Pamela mich als eine vollständige Frau wahrnimmt und mich dennoch akzeptiert.
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Sie versucht, sich zu bekämpfen, wo sie doch eigentlich befreit werden müsste oder ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Möglichkeiten, sich zu befreien, richten sollte. Ich werde versuchen, ihr zu zeigen, dass sie viel besser funktioniert als sie denkt. Die Patientin spürt, dass sie den Wunsch hat, in ihrer Fehlerhaftigkeit akzeptiert zu werden.
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Diesen Wunsch akzeptiert sie nicht. Ich werde ihr zeigen, dass ich den Wunsch akzeptieren kann.
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Ihr wird immer klarer, dass sie als ganze Person akzeptiert werden möchte.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Das klingt ganz und gar nicht unentschieden.
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Tut es nicht? Was meinen Sie damit? Ich meine, dass Sie gerade da gesessen haben und mir genau erzählt haben, was sie in der Beziehung zu Pamela gern täten. Täte – aber ich möchte das Risiko nicht eingehen, bis mir eine Autorität sagt, dass … Ich denke, ich spüre sehr scharf, dass es unglaublich riskant ist, zu leben – Sie würden Ihrer Beziehung zu Ihrer Tochter eine Chance geben, und Sie würden dem wahrheitsgetreuen Bild Ihrer Tochter von ihrer Mutter eine Chance geben. Aber dann ist da noch ein Konflikt, weil ich wirklich nicht sicher weiß, was ich tun soll. Die Sache mit dem Lügen, ja, aber ich bin nicht sicher, was ich tun will, wenn ich gegen mich selbst angehe. Wenn ich z. B. einen Mann mit nach Hause bringe. Ich weiß nicht genau, ob ich das will. Wenn ich mich anschließend schuldig gefühlt habe, muss ich es nicht wirklich gewollt haben. Mich interessiert, dass Sie sagen – ich weiß nicht genau, welche Worte Sie benutzt haben – aber Sie mögen sich dann nicht und können es nicht gutheißen, wenn Sie etwas gegen sich selbst tun. (Die Patientin führt im Folgenden aus, dass sie sehr wohl die Situation der totalen Übereinstimmung mit sich selbst kennt und sich darin sehr wohl fühlt. Wegen des Wohlgefühls und der Seltenheit dieser Situation nennt sie sie »utopisch«.) Ich spüre, dass Sie sich in diesen utopischen Momenten wirklich in einer gewissen Art als ein Ganzes fühlen. Sie fühlen sich wie aus einem Guss. Ja, es schnürt mir etwas die Kehle zu, wenn Sie das sagen, weil ich das Gefühl nicht so oft habe, wie ich es gern hätte. Ich mag dieses ganze Gefühl. Es ist mir sehr kostbar. Ich denke, keiner von uns hat es so oft, wie er es gern hätte, aber ich verstehe das wirklich. Das geht Ihnen richtig nahe, nicht wahr?
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Sie überlegt, wie es dazu gekommen ist, dass sie ihre eigenen Bewertungsprozesse in Frage stellt. Ich werde die neu gewonnene Sicherheit in der Selbstbewertung ansprechen.
Die P fühlt sich nicht vollständig verstanden. Vielleicht ist ihr die eigene Klarheit nicht deutlich genug – vielleicht verboten? Ich werde sie ihr noch einmal vor Augen führen.
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Die P kommt auf ein anderes Problem zurück. Sie sucht nach einem untrüglichen Indiz dafür, wann sie in Übereinstimmung mit sich selbst handelt und wann nicht.
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Sie spürt, dass Schuldgefühle eine Stellungnahme zum eigenen Erleben bedeuten. Dieses Phänomen des Stellungsnehmens spreche ich an.
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Sie spürt jetzt, dass ich sie genau verstanden habe. Das macht ihr ein ähnliches Wohlgefühl.
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Sie ist jetzt ganz bestimmt von dem, was sie im Moment spürt. Ich will ihr sagen, dass ich auch das verstehe.
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Ja, und wissen Sie, was ich noch gerade denke? Ich – so was Dummes! – plötzlich, als ich mit Ihnen redete, dachte ich »O, wie gut kann ich mit Ihnen sprechen«, und ich möchte, dass Sie mit mir einverstanden sind, und ich empfinde Hochachtung vor Ihnen, aber was mir fehlt ist, dass mein Vater niemals mit mir so sprechen könnte, wie Sie es tun. Ich meine, ich würde gern sagen »O, Sie hätte ich gern zum Vater!« Aber ich weiß nicht einmal, warum mir das eingefallen ist. Mir kommen Sie wie eine recht nette Tochter vor. Aber Sie vermissen das wirklich, dass Sie mit Ihrem eigenen Vater offen sein können. Ja, ich könnte nicht offen sein, aber ich möchte es ihm nicht zum Vorwurf machen. Ich denke, ich bin offener, als er es mir erlauben würde. Er würde mir niemals zuhören wie Sie und nicht ablehnend sein und erniedrigend. Ich habe kürzlich darüber nachgedacht. Warum muss ich immer so perfekt sein? Ich weiß, warum. Er wollte immer, dass ich perfekt bin. Ich musste immer besser sein und, ja, ich vermisse das. Sie haben mit aller Kraft versucht, das Mädchen zu sein, das Sie für ihn sein sollten.
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Jetzt, wo sie einen bestimmten angestrebten Gefühlszustand erlebt, fällt ihr ein, wann und wo sie ihn vergeblich gesucht hat.
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Ihr wird ein Stück ihrer Geschichte der Entstehung ihres Selbstkonzepts deutlich. Ich will ihr sagen, in welcher Form sie das heute erlebt Die Patientin spürt, dass sie nicht perfektionistisch ist, sondern es vermisst, dass sie nicht so fehlerhaft sein darf, wie sie ist.
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Obwohl ich gleichzeitig rebelliert habe. Das ist richtig.
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So wie ich mich fast hämisch gefreut habe, als ich ihm kürzlich einen Brief geschrieben habe, in dem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich eine Kellnerin bin. Ich denke, er findet das nicht in Ordnung, dass ich nachts ausgehe, und ich habe ihm mit hämischer Freude etwas zurückgezahlt, etwa so, dass ich ihn damit frage »Na, wie findest Du mich?« Und dennoch: In Wirklichkeit möchte ich, dass er mich akzeptiert und liebt. Ich meine, er liebt mich.
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Sie spürt das »falsche« Selbst, dass ihr Selbstkonzept das Erleben des Wunsches nach Angenommenwerden in der eigenen Unvollkommenheit unterbindet. Ich werde die Anstrengung, die das Unterdrücken solcher Wünsche mit sich bringt, ansprechen. Sie spürt nun auch die Wut gegen den ihr Erleben einschränkenden Vater und den Genuss, wenn sie sich dafür rächt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Sie haben ihm also eine Ohrfeige gegeben, indem Sie gesagt haben »So bin ich, sieh an!«
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Ja. »Du hast mich erzogen – wie findest Du das Ergebnis?« Aber wissen Sie, was ich denke, was ich von ihm hören möchte? »Ich weiß, das warst Du, immer, mein Schatz, und ich liebe Dich wirklich.« Es macht Ihnen viel aus, dass Sie denken müssen, es gibt kaum eine Chance, dass er das sagen wird. Nein, das wird er nicht. Er hört nicht hin. Ich bin vor ungefähr zwei Jahren nach Hause zurückgegangen, ich wollte ihn wirklich wissen lassen, dass ich ihn liebe, obwohl ich mich vor ihm gefürchtet habe. Aber er hört mich nicht. Er sagt einfach nur weiter Sachen wie »Schatz, Du weißt, ich liebe Dich. Du weißt, dass ich Dich immer geliebt habe.« Er hört nicht hin. Er hat Sie nie richtig kennen gelernt und geliebt, und das ist es, was, irgendwie, die Tränen in Ihnen auslöst.
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Ich weiß nicht, was es ist. Wissen Sie, wenn ich darüber rede, das ist schwer zu fassen. Ich sitze einfach eine Minute lang ganz still da, es fühlt sich an wie eine riesengroße Verletzung hier innen. Stattdessen fühle ich mich betrogen. Es ist viel leichter, es schwer zu fassen zu finden, denn dann müssen Sie nicht diesen großen Klumpen Ihrer Verletzung spüren.
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Sie hat den Wunsch, vollständig akzeptiert zu werden, aber nicht vollständig aufgegeben. Ich will ihr ihren Wunsch, der sich in ihrer Wut äußert, verdeutlichen. Sie spürt den Wunsch und zugleich die Trauer, dass er vom Vater nicht erfüllt werden wird.
Ich verstehe ihre Unsicherheit in ihren Selbstbewertungsprozessen jetzt besser. Ich werde das konkret aufgreifen, was sie jetzt fühlt. Sie geht der Enttäuschung durch ihren Vater weiter nach.
Die Enttäuschung liegt darin, dass er sich für sie als Person nicht interessiert hat, d. h. sie auf dem schweren Weg der Entwicklung ihres Selbstkonzeptes nicht begleitet hat durch wirkliches Verstehen und wirkliches Akzeptieren dessen, was er verstanden hat. Ich will ihr auch diese Quelle ihrer Verzweiflung offen legen. Sie spürt die Angst, sich der eigentlichen Quelle ihrer Verletzung zu nähern. Das Gefühl der Verletzung und der Wut bleibt flüchtig.
Es sind also besonders diese beiden Gefühle, die sie nicht als zu ihrem Selbstkonzept passend zu erleben gelernt hat. Ich werde ihr zeigen, dass ich verstehe, wie schwer sie es mit diesen beiden Empfindungen hat.
249 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
Der Leser kann versuchen, als Antwort auf die Äußerungen der Patientin selbst eine Intervention zu formulieren, die ihre »geäußerten Erfahrungen und ihr im Zusammenhang damit im Hier und Jetzt tatsächlich stattfindendes Erleben« möglichst vollständig wiedergibt. Er hat dann die Möglichkeit, seine Intervention mit der von Rogers zu vergleichen, und kann dabei feststellen, wie unterschiedlich Interventionen ausfallen können, auch wenn in Rechnung gestellt wird, dass der Therapeut durch den unmittelbaren Kontakt zur Patientin auch mehr Informationen über ihr Erleben im Hier und Jetzt hat.
9.5
Verlauf einer Gesprächspsychotherapie H. Petersen
Die Patientin, Annette P., deren Therapieverlauf hier vorgestellt wird, kennen wir bereits. Im 7 Kap. 8.2.5 wurde ein Indikationsinterview mit ihr vorgestellt. Sie war der Empfehlung des Diagnostikers gefolgt und hatte sich mit ihrem Problem an mich gewandt. Ich führte mit ihr ein Erstinterview durch (7 Kap. 8.3.4) und kam zu dem Schluss, dass ich ihr mit einer zeitlich begrenzten Gesprächspsychotherapie helfen könnte. Die Patientin nahm dieses Behandlungsangebot an.
9.5.1
Der Verlauf der Behandlung
Das wesentliche Thema in der Therapie war Annettes Suche nach Verständnis im umfassenden Sinne. Sie mühte sich zu begreifen, welche Wandlung in ihrer Mutter wohl vorgegangen sein mag, den Vater und die Töchter zu verlassen und sich nicht mit dem Schmerz und den Verlassenheitsgefühlen der jungen Mädchen auseinanderzusetzen. Häufig tauchten folgende Fragen auf: »Was bin ich meiner Mutter wert bzw. was bin ich ihr wert gewesen, was habe ich ihr bedeutet, wenn sie sich von mir trennt und zwar auf diese kalte und verletzende Weise? Wie hat sich meine Mutter verwandelt und wie wenig hat sie mit dem Menschen zu tun, den ich früher als liebevolle, fürsorgliche Mutter gekannt habe?!«
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Nahezu jede Therapiestunde war von Fassungslosigkeit angesichts dieser nicht beantworteten Fragen gekennzeichnet. Es war, als erkenne sie das innere Bild ihrer Mutter nicht mehr wieder. Annette beschrieb in vielen Szenen, wie die Mutter sich entzog, die Verzweiflung der Tochter übersah und abwehrte, sodass Annette sich völlig unverstanden und eher abgelehnt empfand. Niemals habe zur Diskussion gestanden, ob die Töchter bei der Mutter bleiben könnten – die Mutter habe es nie angeboten. Auf Annettes spätere Nachfrage reagierte die Mutter schroff: »Ihr habt mich ja nicht gefragt!« Annette vermochte kaum ihre Bestürzung über das abweisende Verhalten der Mutter zu integrieren. Immer wieder brachte sie neue Beispiele, wie die Mutter ihre Tochter kaum noch wahrzunehmen schien. Annette fragte sich schließlich schmerzlich, ob das frühere liebevolle Verhalten der Mutter überhaupt echt gewesen sein konnte, da sie nun, nach einer verheimlichten Ehekrise und Hinwendung zu einem anderen Mann, so verständnislos, ignorierend und zurückweisend auf den doch berechtigten Trennungsschmerz der Tochter reagierte. Gleichzeitig fiel es Annette schwer, der Mutter mit diesem Ärger und ihrer Enttäuschung zu begegnen. Mit dem Vater konnte sie als einzigem darüber sprechen, mochte dies nur nicht ausgiebig tun, »weil es ihm ja auch so weh tat«. Als ihr damaliger Freund das Verhalten der Mutter kritisierte und verurteilte, konnte Annette dies so wenig ertragen, dass sie die Beziehung zu ihm beendete. Erst in der Therapie gelang es ihr, neben ihrer Betroffenheit mehr und mehr auch Zorn auf das uneinfühlsame Verhalten der Mutter zu äußern. Wichtig war hier ganz besonders meine empathisch-verstehende und bedingungsfrei wertschätzende Hinwendung zu ihrem Erleben, denn es wurde deutlich, als wie bedrohlich Annette diese zornigen Gefühle der Enttäuschung erlebte. Sie sah sich jedoch nicht in der Lage, diese der Mutter zu zeigen – zu groß war die Angst (auch das kam zur Sprache), die letzte, eher formale Verbindung zur Mutter auch noch zu verlieren. Diese Angst äußerte sich in übergroßer innerer Erregung jeweils vor Begegnungen mit der Mutter. Besonders stark erlebte sie es vor Familienfesttagen, an denen dann auch der neue Partner der Mutter zugegen war. Sie habe in der Nacht davor jeweils »kein Auge zugetan«, habe während der Einladung außer Höflich-
250
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
keitsfloskeln nichts äußern können und sich unglaublich beherrschen müssen, ihren Zorn nicht zu zeigen. Sie leide so darunter, dass keine Nähe zur Mutter mehr entstünde, da sie über sich und ihre verletzten Gefühle nicht sprechen »dürfe«. Sie fühle sich dazu angehalten, da die Mutter ihr tatsächlich nahe gelegt hatte, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Als Annette während des Auszugs der Mutter bitterlich weinte, reagierte diese fast ärgerlich: »Nun hör’ doch endlich auf zu weinen – mach’ es mir doch nicht so schwer!« Annette war außerstande, entsprechend zu handeln und weinte hemmungslos weiter. Daraufhin warf die Mutter ihr vor, dass sie ihr durch ihre Tränen nicht helfe, »mit der ganzen schwierigen Situation fertig zu werden.« Auch darüber ist Annette fassungslos (und empört) – nicht nur, dass ihr Trennungsschmerz nicht wahrgenommen wird, sondern dass die Mutter sogar Hilfe beim Abschied von der Familie durch ihre Tochter erwartet! Annette sah durch die Reaktionen der Mutter ihren eigenen Wert tief in Frage gestellt. Sie fragte sich mehrfach, was sie der Mutter nun noch bedeute – und was sie ihr wohl je bedeutet haben mochte, wenn ihr die Trennung von den Töchtern (scheinbar) so leicht gefallen war. Dieser Gedanke löste viel Bitterkeit in Annette aus. Neben diesen Fragen wurden dann die Gestaltung des Alltags, der Familienfeste und der (wenigen) Begegnungen mit der Mutter in der Therapie thematisiert. Auch hier gab es zahlreiche Beispiele, in denen die abrupten starken Veränderungen in Annettes Leben deutlich wurden. Nichts schien mehr wie vorher: der Tagesablauf ohne die Mutter, der verwaiste und neu zu ordnende Haushalt (in dem Annette die Unterstützung der Mutter vermisste), der Verlust entspannter und fröhlicher Familienfeste (vor allem das verkrampfte erste Weihnachtsfest nach der Trennung wurde mehrfach Thema) und das Fehlen unbeschwerter Begegnungen mit den Angehörigen der Mutter. Hinzu kam, dass Annette unter der Verzweiflung und Depression des Vaters litt, in ihm wenig Hilfe finden konnte und auch dies sie zornig auf die Mutter werden ließ, »die eine freundschaftliche und faire Trennung nicht ermöglichte«. Konkret schilderte sie, wie kritisch sich die Mutter früher über scheidungswillige Eltern geäußert hatte, die zuwenig dafür täten, dass wenigstens eine freund-
schaftliche Familienbeziehung möglich blieb. Annette war sehr enttäuscht, dass ihre Mutter nun auch dazu nicht in der Lage war. Im Verlauf der Therapie begann Annette allerdings auch den Vater kritischer zu sehen. Es belastete sie und machte sie wütend, in die Auseinandersetzungen der Eltern hineingezogen zu werden. Anders als bei der Mutters gelang es ihr, ihrem Vater ihren Zorn mitzuteilen. Für Annette war es anfangs nicht leicht, über ihre Gefühle zu sprechen. Im Erstkontakt konnte sie die Situation, in die sie geraten war, noch recht flüssig beschreiben – in der ersten Therapiestunde bedurfte es jedoch eines hohen einfühlsamen Engagements meinerseits, um überhaupt »zum Thema zu kommen«. Die Unstrukturiertheit und Offenheit der klientenzentrierten Therapiesituation (anders als im Erstkontakt ohne Fragen von mir) überforderten Annette nahezu. Zunächst ging ich auf die für Annette offenkundig schwierige Situation, die Therapiestunde selbst zu gestalten, ein. Als dann das Gespräch versiegte, dachte ich laut darüber nach, ob Annette vielleicht ein Mensch sein könnte, aus dem es »nicht so heraussprudele«. Diese Sequenz des ersten Therapiegesprächs gebe ich im Wortlaut wieder (. Tab. 9.3): Durch die hier wörtlich dargestellte Inter vention wurde Annette ganz lebhaft und es entwickelte sich ein intensiver Dialog, der bis zum Ende der Stunde anhielt. Sie war nun auch in der Lage, über ihre Gefühle ihrer Mutter gegenüber zu sprechen – wie verletzt und verlassen sie sich von ihr gefühlt hat. Nach dieser ersten Therapiestunde hatte Annette – bis auf ein späteres Mal noch – nie mehr das Problem, nicht zu wissen, worüber sie reden sollte. Es gab aber viele Sequenzen, in denen sie sehr der einfühlenden Unterstützung meinerseits bedurfte. Es fiel ihr nämlich besonders schwer, ihr Gefühl tiefer Verletztheit und den dazugehörigen Schmerz zu zeigen. Wenn ich dieses Gefühl – war es einmal »im Raum« – vorsichtig benannte, stimmte Annette meiner Wahrnehmung mit Tränen in den Augen zu, blieb aber äußerlich wie erstarrt sitzen und verzog keine Miene. Bald vertraut mit dem zurückhaltenden Gefühlsausdruck der Jugendlichen, sprach ich diese Diskrepanz zwischen innerem Schmerz und äußerem gefühlsarmen Ausdruck nicht an, um ihren
251 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
. Tab. 9.3. Erstes Therapiegespräch mit der Patientin Annette P. (A Annette P., T Therapeutin) T
Ich hatte ja das letzte Mal schon gesagt, dass Sie die Freiheit hier haben (Annette: »Ja.«) darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen möchten, und, dann denke ich, vielleicht haben Sie sich schon etwas überlegt, oder Sie… ja, Sie suchen jetzt erst einmal (lacht etwas) nach einem Thema.
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Also überlegt habe ich … eigentlich nichts.
T
Mhm… also – Sie können auch ganz frei, wonach Ihnen jetzt gerade zumute ist, so, wie es Ihnen jetzt gerade geht – also darüber können Sie jetzt auch sprechen – das ist ganz in Ihrer Hand.
A
Ach, im Moment geht es mir ganz gut, weil ich Ferien habe und ausgeschlafen bin (lacht), also von daher… (schweigt).
T
Mhm (wartet einige Sekunden). Das ist so ein ganz schöner Zustand, nicht, keine Verpflichtungen, keinen Job zu haben, nicht wahr?
A
Ja. Mhm. Nein, im Moment bin ich eigentlich ziemlich entspannt, weil ich war am Wochenende in… in England (Therapeutin: »Ach ja?«) und davor war ich bei meinem Opa in Berlin fünf Tage und daher bin ich im Moment eigentlich ganz entspannt.
T
Da haben Sie wirklich schöne Sachen gemacht, die Ihnen sehr gut getan haben, nicht wahr?
A
Ja. Also mein Opa hat viel mit mir gemacht, also er ist viel mit mir rausgegangen und war mit mir im Theater und es war … (bricht ab).
T
Es war der Besuch in der alten Heimat, sozusagen, ja? (Annette: »Ja.«). Mhm … (Therapeutin wartet eine kleine Weile).
A
Ja, in England also – es waren nur drei Tage da, also Kurztrip sozusagen. Aber es war auch sehr (Therapeutin: »Mhm«) entspannend, eigentlich.
T
Ja – es hat gut getan, trotz der fremden Sprache?
A
Ja, fremd insofern, dass wir … (schweigt).
T
Oder mussten Sie nicht soviel Englisch sprechen oder doch?
A
Mit der Schiffsbesatzung, wenn die, also ich meine, man kann mit denen natürlich Deutsch sprechen, aber – irgendwie – die sprechen alle Englisch und deshalb spricht man mit denen auch Englisch, also es ist irgendwie doof, wenn ich dann Deutsch spreche und die Englisch und so (Therapeutin: »Das ist komisch, ja«). Nö, – aber so fremd ist sie eigentlich auch nicht, Englisch von der Schule her …
T
Ja – genau – es ist ja auch immer ganz schön, es anwenden zu können, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«) Mhm. (Kleine Pause). Dann haben Sie ja wirklich schöne Sachen gemacht jetzt in den Ferien?
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Ja, es war auch ganz gut.
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Mhm, so zum Auftanken, nicht?
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Ja …
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Mhm.
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Von daher – also es war … (Pause) es fällt mir spontan gar nichts so … (Pause).
T
Es ist dann so mühsam, was hervorzuholen, was eher belastend ist, ja? (sehr behutsam gefragt).
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Ja… (sehr gedehnt).
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Wobei Sie auch gerne – natürlich haben Sie auch die Freiheit, über die Dinge zu sprechen, die Sie schön finden – das ist ja genauso wichtig, nicht wahr? (Pause).
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Mhm … (Pause von ca. 20 Sekunden). Es ist wirklich seltsam, dass mir nichts einfällt (lacht etwas unsicher), noch zu früh (lacht wieder).
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Tab. 9.3 (Fortsetzung)
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Ja (lacht etwas verhalten), ja – wenn Sie so – es ist nicht so leicht, wenn Sie jetzt so die Zeit haben plötzlich, nur für sich, die Zeit zu gestalten, nicht? (Annette: »Mhm«). Das ist, glaube ich, erst einmal eine ungewohnte Erfahrung, mhm …(kleine Pause). Bisher ist es ja auch so gewesen – ich vermute jedenfalls bei Dr. E. und bei mir letztes Mal ja auch, dass wir Ihnen gewissermaßen Löcher in den Bauch gefragt haben (Annette: »Ja.«), nicht? Und das strukturiert haben… dann ist es, ja, dann ist es ganz schwer, plötzlich es so selber in die Hand zu nehmen (Annette: »Mhm.«), nicht wahr, und selber so zu gestalten und … da kommt jetzt im Moment sicherlich hinzu, dass durch die Ferienerlebnisse, also die beiden Reisen, Sie eigentlich auch so gut drauf sind und sich wohl fühlen, (Annette seufzt) und – ja – und dass die anderen Themen alle, die vielleicht bedrückend sein könnten, ein bisschen hinten anstehen, nicht wahr?
A
Ja – vor allem ergeben sich Gespräche bei mir ja meistens irgendwie aus – Mhm irgendwie durch – wenn man sich hinsetzt oder so, aber es ist schwierig, ein Thema zu finden, wenn man wirklich darüber nachdenkt…(Therapeutin: »Mhm«) … (Pause von ca. 32 Sekunden) mir fällt wirklich nichts ein, es ist … (Therapeutin: »Mhm«) … (Pause ca. 13 Sekunden).
T
Ja – wenn Sie dann so sollen, dann ist der Kopf wie leer geblasen (Annette: »Mhm.«), nicht wahr? (Therapeutin lacht leise)… (kleine Pause). Es kommt ja auch so ein bisschen darauf an, wie man selber ist. Also – es gibt ja Menschen, die sprudeln immer wie verrückt. Und jetzt weiß ich nicht, wie Sie sind, ob Sie vielleicht eher jemand sind, der – hm – der ja auch so ein bisschen braucht, der so einen Anstoß braucht?
A
Ich bin dann eher der zweite Typ (sie lacht kurz und es klingt etwas erleichtert und die Worte werden von ihr relativ schnell ausgesprochen).
T
Ja, nicht? Mhm – also dass es Ihnen einfach leichter fällt, wenn Ihr Gegenüber Fragen stellt oder von sich aus ein Thema anbietet, wo Sie dann einsteigen können (Annette: »Mhm«), nicht wahr? Da sind Menschen tatsächlich unterschiedlich. Manche, die – das kennen Sie ja auch – die sind richtig Raum greifend in dem, was sie erzählen möchten, nicht wahr? Und bei Ihnen ist das gerade so, dass Sie – so habe ich Sie das letzte Mal auch schon wahrgenommen – dass Sie eher zurückhaltend sind, nicht wahr?
A
Ja. – Denk ich mal.
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Und da sind Sie eher zurückhaltend, nach dem Motto: Jetzt mal abwarten was so kommt… (ca. 12 Sekunden Pause). Und kennen Sie das so von zuhause auch – im Kontakt mit der Familie, oder ist es da einfacher?
A
Das ist allgemein einfacher, weil da die, denke ich, die ganz gut kenne und das ist eben – ich kenne meine Schwester, seit ich klein war, und von daher denke ich, ist es bei ihr und bei meinem Vater etwas anderes, also – aber es ist an und für sich – bin ich auch so – also in der Schule – auch wenn ich die Leute ganz gut kenne, bin ich eher so – also bei meiner Familie ist es einfacher.
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Da ist es leichter – einfach durch die Vertrautheit, nicht?
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Da bin ich trotzdem eher (kurzes Zögern) – also – ich lass meinen Vater oder meine Schwester oder meine Mutter eher reden, als dass ich (Therapeutin: »Mhm«) da irgendwie… (bricht ab).
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Ja – das könnte ich mir auch vorstellen, dass sie eher so die Stillere von den Vieren sind, nicht wahr, in Ihrer Familie?
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Ja – also das war früher mal anders. Früher war ich, da war ich, plötzlich so denke ich, also so mit 15 oder 14, oder so, hat sich das, glaube ich, etwas geändert (Therapeutin: »Ach ja?«). Davor war ich etwas sehr sehr aufgeweckt (lacht kurz, die Worte kommen etwas abrupt und stockend). (Therapeutin: »Ja, sehr lebhaft?«). Ja – das hat meine Eltern immer schon mal gestört oder so aber (Therapeutin: »Mhm«) das hat sich – dann wurde ich – ziemlich ruhig. (Das kommt kurz und leicht abgehackt.)
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Und das hat sich, sagen Sie, so mit der Pubertät verändert?
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Ja.
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Ja – da ist irgend etwas anders geworden – - also vom Temperament her?
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Genau, da hat sich das umgedreht bei meiner Schwester und mir. Meine Schwester war früher immer die Ruhige (Therapeutin: »Mhm«) und jetzt ist sie etwas temperamentvoller (Therapeutin: »Mhm«) – genau das Gegenteil geworden.
253 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
. Tab. 9.3 (Fortsetzung) T
Ja – es ist erstaunlich, wie so etwas passieren kann, nicht? Dass (Annette: »Ja«) man sein Temperament dann verändern kann, mhm. Und hat es was damit zu tun gehabt – möglicherweise – dass ihre Eltern das gestört hat? (Annette: »Nee.«). Nein, das nicht.
A
Das war eher scherzhaft und dass sie sagten, jetzt sei doch mal ruhig oder so, oder wenn man mal morgens aufsteht und dann läuft dann so ein »girl« durch die Wohnung und singt und schreit und macht, dann denke ich, es ist ganz klar, dass man dann irgendwann mal sagt, jetzt sei doch mal ruhig, setz dich hin und sei still oder so, aber …
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Aber es war nicht … (Annette: »Nein, nein«). Es war liebevoll. (Annette: »Ja – genau.«). Sie haben es nur so gemerkt, Sie haben es mehr als Illustration gebracht, damit ich sehe, wie krass, wie stark es auch war, nicht wahr?« (Annette: »Ja – genau.« (sie lacht etwas unsicher) Mhm, mhm …. (kleine Pause).
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Also – es war jetzt nicht so, dass sie irgendwie… (bricht ab).
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… dass Ihre Eltern die Hände über den Kopf zusammengeschlagen haben, (Annette: »Ja.«) sondern eben manchmal nur sagten, jetzt wollen wir nicht auf die hunderttausendste Frage noch antworten, nicht wahr?
A
Genau.
Nach dieser Intervention (ich hatte eine Vermutung geäußert) fiel es Annette leichter, über sich zu sprechen – über ihre Veränderung in der Pubertät und deren Folgen. Sie reflektierte, wie die Angehörigen, die Verwandten und auch die Lehrer auf ihre veränderte Zurückhaltung reagierten. Ihr wurde deutlich, dass sie heute einen inneren Widerstand überwinden muss, um sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Sie muss es sich im Grunde regelrecht vornehmen. Das war früher ganz anders – da habe sie sich spontan und ohne Überwindung immer lebhaft beteiligen können. Nachdem wir dies im ersten Gespräch ausführlich besprochen haben, wage ich eine behutsame Nachfrage bezüglich ihrer jetzigen Situation. T
… und dass Sie da doch auch – so ganz neutral – eine Veränderung sehen. (Annette: »Ja.«) Also nicht etwas, worunter Sie leiden oder worüber Sie unglücklich sind. Sie sehen einfach nur – ach ja – also früher ging es ja viel leichter, wie von selbst, und jetzt muss ich es mir vornehmen, ich muss es mir zurechtlegen (Annette: »Mhm«), ich muss mir sagen, es ist wichtig, dass ich zum Beispiel in der Schule, weil es ja erwartet wird, lebhafter dabei bin. Und wenn die Verwandten und Bekannten zu Besuch kommen, dann muss ich da nichts sagen, das ist ja keine Schulsituation, nicht? (Annette: »Ja.«). Dann registrieren Sie halt nur, wenn die sagen, du warst doch früher viel munterer oder sowas kommt dann vielleicht, nicht? (Annette: »Mhm«). Also – dass Sie selber nicht darunter leiden – aber Sie stellen es einfach fest – ja – es hat sich etwas verändert. Und ich, ich nenn’‚ das Energie, man kann es auch Temperament nennen, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«). Also etwas, was einfach von selbst – wie so eine Quelle gesprudelt ist – und das ist einfach so, dass es jetzt nicht mehr so einfach von alleine kommt (Annette: »Mhm«), nicht wahr? Mhm… (kleine Pause) und im übertragenen Sinne ist es jetzt ja vielleicht ein bisschen mit Ihrer großen Appetitlosigkeit so – wenn ich das richtig das letzte Mal wahrgenommen habe in unserem Gespräch – also – Sie haben schon das Gespräch gesucht, aber sich dann auch ein Stück zurückgezogen, nicht wahr, als (Annette: »Ja«) Sie bei Ihrer Mutter spürten, dass Sie bei ihr nicht die Erklärungen bekamen, die Sie brauchten. Aber Sie sind ja vermutlich – das vermute ich jetzt mal – nicht zu Ihrem Vater gegangen und sagten, also, ich halte das nicht mehr aus, mir geht es so schlecht und deswegen kann ich nichts mehr essen, oder so (Annette: »Mhm«), das ist ja auch mit Ihnen so passiert, im Grunde so fast unbemerkt, nebenbei… Also – als ob da auch so die Energie gefehlt hätte, an den anderen zu rütteln und zu sagen, seht ihr denn nicht, wie schlimm es für mich ist, nicht wahr?
A
Vielleicht – ich weiß es nicht – vielleicht wäre es auch gar nicht so weit an mich ´rangekommen, wenn ich noch so gewesen wäre, so temperamentvoll wie ich es war, als ich klein war. (Therapeutin: »Ja?«) Ich weiß es nicht, vielleicht hätte es mich gar so, vielleicht hätte ich, hätte ich dann auch gleich meine Mutter mehr – also angestoßen und gesagt, du hast es mir zu erklären!
T
Ja – und nicht locker gelassen (Annette: »Ja.«) nicht wahr?
A
Ja – ich glaube das wäre dann eben so – mhm – dann wäre es ganz anders verlaufen, glaube ich auch
T
Mhm. Also – es ist mindestens nahe liegend, sich das so vorzustellen. (Annette: »Mhm«). Dann hätte Sie diese Kraft getrieben, einfach das, was Sie wollen, auch ganz doll zu versuchen zu erreichen, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«) Es ist ja nicht so, dass Sie es nicht versucht hätten – aber – eben doch jetzt in der Art und Weise, wie sie heute Ihnen entspricht, in dieser eher vorsichtigen zurückhaltenden Art – und dann auch, dann haben Sie ein Stückchen aufgegeben, wenn die Antwort nicht so kam. (Annette: »Mhm«). (Kleine Pause). Und da es wiederum keine schulische Situation ist, wo dann der Lehrer sagt, oh – du solltest dich doch ein bisschen mehr beteiligen, liegt dies nun ganz in ihrer Hand – und dann ist es tatsächlich eher so, dass dann dieses – ja – dieses In-sich-zurückziehen kommt… (Annette: »Mhm«) zumal dies ja jetzt auch etwas sehr Schweres war, was Sie getroffen hat? (Annette: »Mhm – ja«) Wo es ja sowie keine Handanweisung gibt, wie man mit einer solchen Situation umgehen soll, (Annette: »Ja«) nicht wahr?
9
254
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Tab. 9.3 (Fortsetzung)
9
A
Das ist dann so … (bricht ab).
T
Das… mhm … (ca. 12 Sekunden Pause)
A
Wo ich denke, dass ich mich auch in erster Linie zurückgezogen habe, mehr oder weniger, von – von Freunden und so – weil – die – meine Familie eigentlich auch kannten und dann war, also, dass die dann auch schon angefangen haben zu fragen und (Therapeutin: »Ja«), was denn los ist, und da habe ich dann meistens keine Lust – mehr oder weniger – gehabt, denen zu erklären, was da war – also mich dann auch wiederum damit zu befassen und mir das eigentlich vor Augen zu führen, dass meine Eltern sich trennen, und den anderen das eben zu erklären.
T
Aber – habe ich das richtig verstanden, dass es auch ein Schutz war?
A
Ich denke schon – ja.
T
Also – dass Sie dadurch sich selbst nicht mit diesem für Sie sehr belastenden Thema konfrontieren mussten?
A
Ich glaube schon, dass es das auch war.
T
Ja, das war so, wie man ja auch so sagt – umgangssprachlich – sich ins Schneckenhaus zurückziehen. Das Schneckenhaus bedeutet ja, dass die sehr verletzliche Schnecke dann auch wirklich ihre Schutzhülle hat, die erst einmal auch gut abdeckt (Annette: »Mhm«)… und dass Sie diese Gespräche darüber gar nicht gut aushalten können.
A
Nee – ich glaub’ nicht.
T
Weil immer so das Gefühl bei diesen Gesprächen gewesen … (Annette unterbricht).
A
Nee – eben, dass man sich das auch selbst vor Augen hält und … (bricht ab).
T
Ja – was das auch eigentlich bedeutet (kleine Pause) mhm… (kleine Pause) ja, das heißt, habe ich das richtig verstanden, dass die Freunde auch durchaus gefragt haben. Also (Annette: »Ja«) – von sich aus auf das Thema gekommen sind, nicht?
A
Ja – das war schon sehr so. Also – ein ziemlich guter Freund von mir, der hat eben Montag, weil wir da noch Schule hatten, nachmittags immer bei mir mitgegessen, und da habe ich irgendwann, weil ich selbst nicht mehr wollte, dass er dann zu uns kommt und das so mitkriegt, da habe ich ihm gesagt, dass ich das nicht mehr will, dass er eben mitkommt, und weil es dann auch zu dem Zeitpunkt war, als meine Mutter dann immer zwischendurch nach Hause kam und dann ihre Sachen gepackt hat und dann eben Lücken entstanden und dass ich das auch eben nicht wollte, dass die das so mitkriegen – das. Also im Wohnzimmer – wo da alles fehlt – weil sie eben die ganze Schrankwand auch mitgenommen hat, und das war eben ziemlich – zu einem Zeitpunkt – ziemlich offensichtlich alles (Therapeutin: »Ja«) – also innerhalb der Wohnung meine ich jetzt und (Therapeutin: »Ja«) – von daher haben sie das schon mitgekriegt.
T
Mhm – also da höre ich ja jetzt auch so, dass Ihnen das sehr unangenehm gewesen wäre, wenn die das so gesehen hätten?
A
Ja – nicht unbedingt unangenehm, aber sie hätten – ihnen wäre es dann aufgefallen und dann hätten sie wiederum gefragt.
T
Die hätten gefragt, was ist denn hier los?
A
Ja – genauso.
T
Und das – aber diese Frage wäre Ihnen sehr unangenehm gewesen?
A
Ja.
T
Oder darauf eine Antwort geben zu müssen?
A
Ja.
T
Die Antwort wäre so unangenehm gewesen?
A
Genau.
T
(vorsichtig suchend) Auch irgendwie peinlich?
255 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
9
. Tab. 9.3 (Fortsetzung) A
Nein – peinlich nicht, also ich … es gibt viele in unserer Klasse, die, was heißt viele – also ich denke im Gegensatz zu jetzt in dieser Klasse vielleicht nicht so viele – aber doch schon einige wenige, deren Eltern sich getrennt haben und denen das auch ziemlich nahe gegangen ist und die damit auch ziemlich Probleme hatten und die sich dann eben, die das auch in der Schule mehr gezeigt haben, als ich es getan habe. Also ich habe – also ich saß da jetzt nicht und habe irgendwie -ich bin nicht in Tränen ausgebrochen, oder so. Ich habe eine Freundin in meiner Klasse, deren Eltern sich auch getrennt haben, und da war es so, dass die also – manchmal in den Stunden saß und einfach nur geweint hat und so – und ich wollte es auch nicht so (Therapeutin: »… doll zeigen?«), ich habe mich dann eher – dann eben nichts gesagt oder mich eben zurückgezogen.
T
Mhm, also wenn ich mich da hineinfühle, kommt bei mir so an, dass es Ihnen auch darum ging, nicht soviele Gefühle zu zeigen, zu diesen …
A
Ja – mindestens nicht – nicht in diesem Rahmen (Therapeutin: »Nicht, nicht in solchem …«) in solchem Rahmen aufmerksam zu machen, damit sie eben nicht fragen. Deswegen.
T
Ja – es ging immer darum zu vermeiden (Annette: »Ja«), dass die Fragen kommen, was ist denn los zuhause, oder auch zu fragen, wie geht es dir denn damit (Annette: »Mhm«) und so. Also – Sie wollten irgendwie so – wie soll ich mal sagen – so – ja – so eine Schutzschicht, so eine unberührbare Schutzschicht haben, damit Sie nicht in die Situation kommen, gefühlsmäßig zu reagieren.
A
Mhm und ich denke, vielleicht liegt es auch daran, dass ich, seit ich mich erinnern kann eigentlich, ziemlich – doch ich weiß nicht, ob man es Stolz nennen kann – aber, ich habe immer versucht, alles ohne Hilfe zu machen, auch als ich schon ganz klein war, ich wollte immer alles alleine, ohne Hilfe eben – und – vielleicht war es auch deshalb, weil ich keine Hilfe eben wollte (Annette spricht mit Nachdruck) (Therapeutin: »Aha«) oder dass ich gedacht habe – ich komm’ da schon durch oder ich brauche eben keinen, der mir da durch hilft.
T
Mhm – und dass Sie das so ganz gut von sich kennen, dass es Ihnen ein gutes Gefühl gibt, die Sachen (auch schöne Sachen) alleine zu schaffen, nicht? Und dies war ja jetzt eine ganz ungewöhnliche Situation, wo Sie ja wirklich etwas getroffen hat, was Sie so vorher nicht erlebt haben. Und wo sie auf jeden Fall nicht in die Situation kommen wollten, dass andere Ihnen dann tröstend oder Hilfsangebote (Annette: »Mhm«) machend gegenüber treten. Das wäre für Sie – das hätte Ihren Stolz verletzt. Eigentlich haben Sie den Anspruch gehabt, damit muss ich alleine fertig werden – – nicht vielleicht so (Annette: »Ja«) bewusst gedacht – aber diese Haltung irgendwie.
A
Mhm – das es von innen kam – ja es ist – ich denke auch, dass es nicht so bewusst war, aber dass ich, also das ist mir jetzt bewusst, dass es wahrscheinlich so war.
Selbstschutz nicht zu unterlaufen. Es wäre ihr sicherlich sehr peinlich gewesen, in meiner Gegenwart in heftiges Weinen auszubrechen. Es gab immer wieder Situationen, in denen ich Annettes unausgesprochene Gefühle formulierte und sie mir jeweils zustimmte – so, als ob ich es ihr abnahm, die schmerzlichsten Gefühle selbst zu benennen. Das führte zu der manchmal paradoxen Situation, dass ich mehr sprach als Annette selbst. Im Verlauf der Therapie wurde mein Gesprächsanteil dann immer geringer, und Annette sprach rasch und lebhaft über sich selbst. In dem Maße, in dem Annette sich selber mehr und mehr in die Therapie einbrachte, konnte ich die Fülle der Verbalisierungen reduzieren, ohne dass das den Selbstexplorationsprozess ins Stocken brachte. Eine weitere Besonderheit dieser kurzen Therapie war die baldige Veränderung der Frequenz. Die
ersten Therapiestunden fanden wöchentlich statt. Nach der vierten Sitzung kam es zu einer dreiwöchigen Pause (Osterferien, schulische Verpflichtungen von Annette). Die Sommerferien unterbrachen die Therapie dann für sieben Wochen. Durch schulische Anforderungen (Theaterspiel, Klassenreise) und den Umzug der Familie in eine neue Wohnung fanden die letzten drei Termine in großen zeitlichen Abständen statt, was mich auch zu der vorsichtigen Nachfrage veranlasste, ob Annette die Therapie noch fortsetzen wolle. Die 14 Therapiestunden (inklusive das Erstgespräch) nahmen insgesamt den Zeitraum von einem dreiviertel Jahr in Anspruch. Annette brauchte offenbar nicht unbedingt die regelmäßige wöchentliche Therapiestunde, sondern profitierte – wie andere Jugendliche auch – gerade von dem immer niederfrequenter werdenden Rhyth-
256
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
mus. Ich thematisierte dies einmal, brachte auch meine Sorge zum Ausdruck, ob wir uns nicht zu selten sähen. Annette versuchte mir dann deutlich zu machen, wie schwer es für sie sei, Schule, Job (Altenheim), familiäre Pflichten, den weiten Fahrweg zu mir und damit zur Therapie in Übereinstimmung zu bringen. Der Therapieverlauf gab keinen Anlass, auf einer regelmäßigeren Abfolge der Therapiesitzungen zu bestehen.
9.5.2
9
Behandlungsergebnisse
Die therapeutischen Gespräche hatten eine direkte Wirkung auf Annettes Essverhalten. Schon im dritten Kontakt (Beginn der zweiten Therapiestunde) berichtete die Jugendliche mit leuchtenden Augen, dass ihr plötzlich aufgefallen sei, dass sie wieder normal esse und vor allem wieder ein Hungergefühl spüre. Sie sei darüber sehr erleichtert! Sie habe dies gar nicht bewusst angesteuert und erkläre sich diese Veränderung mit den Ferien und der Versorgung bei den Großeltern. Allerdings habe ein früherer Besuch dort nicht ihrer Appetitstörung abgeholfen, sodass vielleicht auch die begonnene Therapie schon Einfluss nähme. Sie entdecke, dass sie sich momentan gar nicht für die Gewichtssteigerung interessiere – sie müsse nicht mehr ängstlich auf die Waage gehen, hoffend, ihr bemühtes Essverhalten habe positive Wirkung gezeigt. Sie sei diesbezüglich ganz entspannt und lasse »einfach mal« auf sich zukommen, ob sich ihr Körpergewicht wieder normalisiere. Ich thematisierte den psychogenen Appetitverlust von mir aus nicht (außer in der Anamnese), weil deutlich war, dass Annette mit ihrem Essproblem weder verleugnend noch in anderer Form vermeidend umging. Ich fasste die Essstörung als Ausdruck, d. h. als Symptom einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung auf und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die abgewehrten Erfahrungen und auf die damit verbundenen Emotionen, vor allem das Gefühl des Verletztseins. Nach den Sommerferien (10. Therapiestunde), ca. fünf Monate nach der positiven Veränderung des Essverhaltens und dem Wiederauftreten des gesunden Hungers, berichtete Annette, dass sie wieder für sich kochen könne und dass sie regelmäßig esse.
Neben der Wirkung der Therapie zeigte sicherlich auch der Umzug in eine neue Wohnung positiven Einfluss. Die neue Küche, die frei war von belastenden Erinnerungen, animierte Annette sicherlich auch, sich selbst gut zu versorgen. Das Körpergewicht hatte sich schon sichtbar verändert (von 49 auf 54 kg). Gut zwei Monate später (12. Therapiestunde) hatte Annette ihr früheres Gewicht (ca. 60 kg) zurück gewonnen, sah gesund (immer noch sehr schlank bei 176 cm Körpergröße) und frisch aus. Sie musste sich über ihr Essen keine Gedanken machen, hielt von sich aus gerne regelmäßige Mahlzeiten ein und war sehr glücklich über diese Entwicklung. Die Klassenreise nach Italien, das dortige köstliche Essen – das sie nun genießen konnte – hätten »den letzten Schuss« gegeben. In dem Maße, in dem Annette über den Schmerz des Verlustes der Mutter (im doppelten Sinne) sprechen konnte und diesen verstand, kam es nach und nach auch zur Integration dieser sehr belastenden Erfahrung. Das hatte vielfältige Folgen. Die depressive Symptomatik klang ab – Annette wurde wieder lebhafter und aktiver in ihrem sozialen Umfeld. Sie gesundete leib-seelisch – neben der Stabilisierung des Körpergewichtes gingen auch die Schlafstörungen zurück. Insbesondere bekam sie ein klareres Bild über ihre Beziehung zu ihren Eltern. Sie konnte Zorn der Mutter gegenüber spüren und – gegen Ende der Therapie – auch Kritik an deren Erziehungsstil äußern (übertriebene Ordnung, strenge Kontrolle und Förderung der schulischen Leistungen). Bezüglich der mütterlichen Penibilität zeigte sie erstmals (11. Stunde) Erleichterung, sich dieser – ein positiver Aspekt der Trennung – nicht mehr unterordnen zu müssen. Sie genieße es, »endlich eine Wohnung zum Wohnen (und nicht zum Putzen) zu haben«. Das Verhalten dem Vater gegenüber veränderte sich schon im Frühsommer. Verärgert und kritisch nahm sie sein problematisches Trennungsverhalten wahr, das sie belastete, stellte ihn zur Rede bzw. ging auf seine (»trotzigen und kindlichen«) Solidarisierungswünsche weniger ein. Durch die Therapie veränderte sich die emotionale Bindung an die Eltern. In der letzten Therapiestunde beschrieb Annette, dass sie beim Vater nur wohnen bleiben könne, weil die Schwester auch dort
257 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
lebe »sonst wäre es mir zuviel mit ihm«. Ähnliche Gefühle hatte sie auch der Mutter gegenüber entwickelt: Früher habe es ihr gar nicht nah genug sein können – jetzt könne sie die Nähe nur eine gewisse Zeit aushalten. Diese Entwicklung bedeutete jedoch auch eine Reifung zu einem erwachseneren Verhalten den Eltern gegenüber. Annette erzählte in der 6. Therapiestunde, dass sie seit kurzem wieder einen Freund habe. Auch dies zeigte die positive Entwicklung und die innere Öffnung zu anderen hin durch die Klärung und das Begreifen ihrer Verlust-Reaktion. In diesem Zusammenhang tauchten Pläne auf, das nächste Weihnachtsfest ganz anders zu feiern – Annette wollte nicht länger Opfer der Trennung ihrer Eltern sein, sondern die Situation selbst neu gestalten. Die Beziehung zu diesem Freund blieb allerdings eine Episode. Er ging für längere Zeit ins Ausland, und diese Trennung wollte Annette nicht auf sich nehmen. Die wieder gewonnene leib-seelische Gesundheit zeigte sich auch in Annettes aufgeschlossenem schulischen Verhalten. Sie konnte den inneren und äußeren Rückzug nach und nach aufgeben, identifizierte sich mehr und mehr mit Projekten (Vorbereitung der Abiturfeier der 13. Klasse, Theaterprojekt und ähnliches) und engagierte sich sehr dafür (wodurch mancher Therapietermin ausfiel). Deshalb sprach ich auch an (12. Therapiestunde), ob sie die Therapie noch brauche. Diese Intervention erleichterte Annette sehr – sie fühlte sich akzeptiert und verstanden, war nur selbst unsicher gewesen, »wann man eine Therapie beenden solle«. Es ginge ihr jedoch so gut (Essverhalten, Körpergewicht, besser integrierte Trauer um den Verlust der Mutter, soziale Offenheit und Verbindlichkeiten wie Schule, Freizeit, Freunde, Job), dass sie die Gespräche mit mir eigentlich wirklich nicht »so unbedingt« mehr brauche. Als Annette dann nach vierwöchiger Pause noch einmal kam, war mir und ihr wirklich deutlich, dass wir die Therapie beenden konnten.
9.5.3
Katamnese
Das katamnestische Gespräch fand ca. sieben Monate nach dem Therapieende statt und kurz bevor Annette Deutschland für ein Jahr verlassen wollte. Sie plante, als Au-pair-Mädchen in die USA zu ge-
9
hen, hatte dort eine nette Familie gefunden und freute sich sehr auf den Auslandsaufenthalt. Ihr sei es inzwischen sehr gut ergangen. Sie habe ein sehr gutes Abitur gemacht (Notendurchschnitt 1,9) und sei überrascht, dass es ihr so gut gelungen sei. Sie freue sich sehr auf die USA, sei allerdings auch aufgeregt. Neben ihrer Tätigkeit in der Gastfamilie werde sie auch ein College besuchen. Dann berichtete mir Annette, dass es ihr unter anderem deshalb so viel besser gehe, weil sich die Eltern wieder besser verstünden. Durch die Scheidung (Juni d. J.) seien die Verhältnisse klarer, und der Vater habe sich offenkundig mit der Trennung abgefunden. Seit der Vater nicht mehr so wütend auf seine geschiedene Frau sei, könne er wieder besser mit ihr reden, und sie, Annette, würde dies als große Entlastung erleben. Sie selbst habe wieder ein erheblich besseres Verhältnis zu ihrer Mutter, könne aber immer noch nicht ihren furchtbaren Trennungsschmerz und wie verändert sie die Mutter erlebt habe, mit ihr besprechen. Dies wolle sie nach dem USA-Aufenthalt tun. Da sie die Mutter kaum je allein anträfe, könne sie ein solches persönliches Gespräch mit ihr gegenwärtig auch nicht führen. Zum neuen Partner der Mutter habe sie inzwischen ein besseres Verhältnis. Auf gewisse Weise habe sich auch diese Beziehung normalisiert. Sie spüre jedenfalls nicht mehr die Abwehr, die sie in den ersten Monaten der Trennung der Eltern fühlte. Ihre Umwelt registriere durchaus, dass sie körperlich wieder gesund sei. Am stärksten habe ihr Großvater reagiert, der in Tränen der Rührung über den Gesundungsprozess seiner Enkelin ausgebrochen sei. Auch die Mutter und der Vater hätten positive Kommentare gegeben, wie schön es sei, dass sie wieder so wohl und gesund aussehe. Nur die Schwester ignoriere diese positive Veränderung. Annette könne dies aber gut akzeptieren, da die Schwester kaum jemals etwas kommentiert hätte, und es bedeutsam genug gewesen sei, dass sie sie damals zu einer Psychotherapie gedrängt habe. Annette hat auch wieder einen Freund. Diese Beziehung besteht seit einigen Monaten, und auch angesichts der Reise in die USA habe sie nicht vor, sich von ihm zu trennen (wie vor einem Jahr von dem anderen Freund), da diese Beziehung nun eine gewisse Stabilität erreicht habe.
258
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Als Fazit lässt sich ziehen, dass es Annette wirklich gut geht, sie ihren Lebensalltag mehr als gut bewältigt, dass sie das Gewicht gehalten hat und es überhaupt keine Probleme mehr mit dem Essen gibt. Als ich sie abschließend frage, wie sie mit der Therapieerfahrung in Zukunft umgehen möchte, antwortet sie, dass sie glaube, nicht noch einmal in eine so tiefe Krise zu geraten. Sollte ihr noch einmal etwas so Schweres wie die Trennung der Eltern widerfahren, glaube sie, dass sie nicht mehr so heftig körperlich darauf reagieren müsse, sondern anders damit umgehen könne – gegebenenfalls auch von sich aus eine Therapie aufsuchen würde.
9.6
Therapieabschluss J. Eckert
9
Idealerweise stellen Patient und Therapeut gleichzeitig fest, dass die Behandlungsziele in ausreichendem Umfang erreicht sind und dass man sich voneinander verabschieden könnte. Der Regelfall sieht jedoch anders aus. Da will einer von beiden, entweder der Patient oder der Therapeut, die Behandlung beenden, während der andere die Zeit dafür noch nicht gekommen sieht. Den größten Einfluss auf den Zeitpunkt der Beendigung der Therapie nimmt jedoch eine dritte, außen stehende Größe: Das von der Krankenkasse bewilligte Stundenkontingent. Die meisten kassenfinanzierten Psychotherapien werden beendet, wenn das bewilligte Stundenkontingent ausgeschöpft ist. Wir betrachten im Folgenden alle drei Varianten von Therapiebeendigungen, die nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen Beurteilung von Patient und Therapeut, dass die Therapieziele erreicht sind, erfolgen. Vorgesehene (bewilligte) Anzahl von Therapiesitzungen ist ausgeschöpft. Auf den ersten Blick
könnte man annehmen, dass Therapien, die auf diese Weise ihr Ende finden, wie ein vorzeitiger Therapieabbruch wirken. In der Regel ist das aber nicht der Fall, sondern Therapeut und Patient stellen sich auf das absehbare Ende ein und versuchen damit konstruktiv umzugehen. Ein probates Mittel ist die Streckung des Behandlungszeitraumes durch
Absenken der Behandlungsfrequenz. Der Patient kommt z. B. nicht mehr wöchentlich, sondern nur 14-tägig oder einmal im Monat. Er hat so die Möglichkeit auszuprobieren, wie er ohne die regelmäßigen wöchentlichen Sitzungen zurechtkommt, und kann diese Erfahrungen auch noch mit seinem Therapeuten besprechen. Ähnlich wie beim Absetzen eines Medikaments könnte man diese Strategie »Beendigung durch Ausschleichen« nennen. Sie setzt voraus, dass der Therapeut die noch zur Verfügung stehende Sitzungszahl im Auge hat und die notwendigen Absprachen über das Absenken der Behandlungsfrequenz mit dem Patienten trifft. Der Patient will die Behandlung beenden, der Therapeut noch nicht. In diesem Fall handelt es
sich aus der Sicht des Therapeuten häufig um einen Therapieabbruch. Ein Therapieabbruch ist kein seltenes Ereignis. In der ambulanten Einzeltherapie beträgt die mittlere Abbruchquote 20%, die Quote der Patienten mit unzureichendem Therapieerfolg ist 25%, sodass rund 45% aller Patienten ihre Psychotherapie im ersten Anlauf nicht erfolgreich abschließen. Die Gründe, die Patienten für eine frühzeitige Beendigung der Therapie anführen, sind vielfältige: Sie vermissen eine Veränderung ihrer Symptomatik und ihrer Befindlichkeit, die Therapiesitzung ist inzwischen selbst zum Angstauslöser geworden, sie hatten völlig andere Erwartungen an die Behandlung, sie kommen mit dem, was von ihnen in der Therapie erwartet wird, nicht zurecht, sie finden die Beschäftigung mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen eine überflüssige »Nabelschau«, die nichts bringt usw. Der häufigste Grund für einen Therapieabbruch ist Erfolglosigkeit, die der Patient darauf zurückführt, dass er mit der Person des Therapeuten bzw. der therapeutischen Beziehung, dem Behandlungsmodell des Therapeuten oder mit seinem Krankheitsmodell nicht zurechtkommt (Eckert, Frohburg & Kriz, 2004). Der Therapeut sollte auch im Falle eines Therapieabbruchs mit Nachdruck versuchen, ein Abschlussgespräch zu führen, um selbst Klarheit über die Gründe für den Abbruch zu bekommen. Er sollte folgende Fragen beantworten können: Habe ich bei der Indikationsstellung etwas übersehen? Habe ich mich bei der Festlegung der Therapieziele geirrt?
259 9.6 · Therapieabschluss
Habe ich im Behandlungsverlauf Reaktionen des Patienten übersehen oder falsch verstanden? Habe ich bei der Indikationsstellung verleugnet, dass ich einem Patienten wie diesem noch nie gerecht werden konnte? Häufig ist die Vereinbarung eines solchen Abschlussgespräches nicht einfach, weil viele der zum Abbruch entschlossenen Patienten einfach wegbleiben oder ihren Entschluss auf den Anrufbeantworter sprechen. In einem solchen Fall sollte der Therapeut telefonisch oder schriftlich um ein solches Gespräch bitten, und die Gründe dafür darlegen. Zugleich sollte er dem Patienten versichern, dass er seinen Entschluss respektiert und nicht versuchen wird, ihn »umzustimmen«. Wichtig ist, dass der Therapeut den Abbruch nicht allein unter dem Aspekt des eigenen Versagens oder der mangelnden Eignung des Patienten für eine Psychotherapie betrachtet. Fast immer stellt sich im Therapieverlauf heraus, dass eine oder mehrere der vier für einen Therapieerfolg notwendigen Passungen aus dem Allgemeinen Modell für Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard (1987, 7 Kap. 8.4 sowie Eckert et al., 2004) nicht ausreichend gegeben waren. Möglicherweise kann ein anderer Therapeut, z. B. eine Frau statt eines Mannes oder umgekehrt, mit einem anderen Verfahren, z. B. einer stärker symptomorientierten Therapie, dem Patienten durchaus helfen. Das sind Fragen einer differenziellen Therapieindikation, die in einem abschließenden Gespräch mit dem Therapieabbrecher erörtert werden sollten. Der Therapeut möchte die Behandlung beenden, der Patient nicht. Diese Variante eines Therapie-
abschlusses ist nicht selten, aber vermutlich nicht so häufig wie ein Therapieabbruch durch den Patienten. Meistens taucht die Frage, ob die Therapie nicht beendet werden könnte, beim Therapeuten auf, wenn eine als Kurzzeittherapie (bei kassenfinanzierten Therapien bis maximal 25 Stunden) begonnene Therapie entweder abgeschlossen oder in eine Langzeittherapie umgewandelt werden muss. Viele Gesprächspsychotherapeuten erörtern diese Frage in ihrer Supervisionsgruppe. Dabei empfiehlt es sich, auch sie unter dem Aspekt der vier Passungen des oben genannten AMP zu erörtern und den folgenden Fragen nachzugehen:
9
Sechs zu klärende Fragen vor Beendigung einer Therapie durch den Therapeuten 1. Sind durch die Therapie bedingte Veränderungen sichtbar, und wie sehen sie aus? 2. Stimmen die mit dem Patienten abgesprochenen Therapieziele noch, oder müssen sie geändert werden, und bin ich damit einverstanden? 3. Habe ich Hoffnung, dass die Fortführung der Therapie durch mich den gewünschten Erfolg bringt? 4. Hat sich meine Beziehung zum Patienten zum Negativen hin verändert? 5. Spricht der Patient auf mein therapeutisches Angebot noch ausreichend an? 6. Bin ich immer noch überzeugt, dass ich mit meinem Verfahren diesem Patientin mit dieser Art von Störung ausreichend helfen kann?
In jedem Fall ist bei einer Entscheidung für eine Beendigung der Therapie der Patient nicht nur über die Entscheidung, sondern auch über ihre Begründung zu informieren. Der Therapeut sollte auch in der Lage sein, dem Patienten eine klare Empfehlung zu geben: die Psychotherapie bei einem anderen Therapeuten und/oder mit einem anderen Verfahren fortzusetzen oder keine weitere Psychotherapie zu machen, weil sich herausgestellt hat, dass Psychotherapie für die Störung des Patienten nicht die Methode der Wahl ist. Letzteres wäre z. B. dann der Fall, wenn sich die Schlafstörungen und die gereiztdepressive Stimmung des Patienten als Ausdruck einer andauernden beruflichen Überforderung herausstellen. Das durch den Therapeuten herbeigeführte Therapieende muss so gründlich wie möglich zeitlich und inhaltlich vorbereitet werden. Zwischen der Ankündigung und dem tatsächlichen Ende sollten mindestens drei bis fünf Sitzungen liegen, in denen das bevorstehende Therapieende, das Abschied und Trennung bedeutet, Thema werden sollte. Es sollten die mit Abschied und Trennung verbundenen Erfahrungen und Gefühle ausreichend Platz erhalten.
260
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Abschließend sei noch auf ein Phänomen hingewiesen, von dem immer wieder berichtet wird und das geeignet erscheint, Therapeuten zu ermutigen, das Themas Abschied von sich aus anzusprechen: Viele Therapeuten, die davon ausgegangen waren, dass zwar sie selbst, nicht aber ihr Patient an eine Beendigung der Therapie dachten, haben zur ihrer Verblüffung von ihrem Patienten gehört, dass auch er sich schon mit diesem Thema befasst hatte. Die Beendigung einer Psychotherapie ist in den meisten Fällen eben doch eine von Patient und Therapeut gemeinsam getragene Entscheidung. Aber auch das gemeinsam beschlossene Therapieende muss gut vorbereitet werden. So sollte sich der Therapeut seiner Position im Hinblick auf die Frage einer Wiederaufnahme der Behandlung im Klaren sein und diese Position dem Patienten auch mitteilen. Es gibt Therapeuten, die eine Wiederaufnahme aus verschiedenen Gründen unter allen Umständen ablehnen, während andere eine Wiederaufnahme generell befürworten. Eine dritte Position besteht in einer differenzierten Haltung: Bei klassischen neurotischen Störungen wird eine Wiederaufnahme abgelehnt, bei Patienten mit einer psychosenahen Persönlichkeitsstruktur, z. B. bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, hingegen für notwendig erachtet, weil ein für solche Patienten wichtiges Therapieziel ist, einen Zustand zu erreichen, in dem sie zum Eingehen von stabilen und verlässlichen Beziehungen in der Lage sind, die auch nach einer Trennung noch Bestand haben können.
9.7
Typische Behandlungsprobleme
Eine Reihe der für eine Gesprächspsychotherapie typischen Behandlungsprobleme spielen auch in anderen nicht symptomorientierten Psychotherapieverfahren eine Rolle. Reimer (2000, S. 51) hat »häufige Komplikationen während der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie« aufgelistet. Die folgenden sind auch in Gesprächspsychotherapien immer wieder zu beobachten:
Häufige Behandlungsprobleme in Gesprächspsychotherapien 5 Entwicklung von akuten Krisen (mit oder ohne Suizidalität) 5 Akute psychosoziale Veränderungen des Patienten 5 Akute psychosoziale Veränderungen des Therapeuten 5 Persistenz bestimmter Beziehungserwartungen 5 Drohung mit Therapieabbruch bzw. Vollzug des Therapieabbruchs
Akute Krise. Dem Umgang mit Krisen, auch mit
solchen, die innerhalb einer Behandlung entstehen, ist ein eigenes Kapitel (7 Kap. 13) gewidmet. Akute psychosoziale Veränderungen des Patienten. Häufig verursachen akute psychosoziale Ver-
änderungen im Leben des Patienten Krisen: belastende Lebenserfahrungen, z. B. der unerwartete Verlust einer wichtigen Beziehungsperson durch Todesfall oder Trennung bzw. Scheidung oder ein folgenschweres Leistungsversagen im Studium oder im Beruf, eine plötzliche Bedrohung der eigenen Person oder wichtiger anderer Menschen durch eine schwere Krankheit, durch die Tod oder Siechtum droht. Beim Auftauchen solcher (traumatischen) Krisen in einer laufenden Gesprächspsychotherapie gilt die Regel: ! Behandlungsregel beim Auftauchen einer
Krise beim Patienten Taucht in einer laufenden Gesprächspsychotherapie eine extern verursachte Krise auf, so hat die Behandlung dieser Krise Vorrang, weil ihre Bewältigung Voraussetzung für die Fortsetzung der Gesprächspsychotherapie ist.
Im Vordergrund steht dann als Behandlungsziel die aktive Bewältigung der Krise – und nicht die reflexive Betrachtung möglicher Ursachen und Zusammenhänge von Inkongruenzen. Gegebenenfalls empfiehlt es sich, weitere Hilfemöglichkeiten zur Krisenbewältigung in Anspruch zu nehmen, z. B. einen Anwalt zur Klärung von Rechtsfragen oder einen
261 9.7 · Typische Behandlungsprobleme
Arzt, um die aufgetretene Schlaflosigkeit medikamentös einzugrenzen, zu konsultieren (7 Kap. 13). Akute psychosoziale Veränderungen des Therapeuten. Auch Psychotherapeuten erleben Krisen,
sogar suizidale, wie es z. B. der Suizidforscher Thomas Bronisch (2005) sehr persönlich und sehr nachdrücklich darlegt. Die Krisen von Psychotherapeuten werden wie die von Patienten häufig durch einschneidende Lebensveränderungen ausgelöst, z. B. durch eine Scheidung oder den Tod eines Familienmitgliedes. Krisen dieser Art können dazu führen, dass die Arbeitsfähigkeit nicht mehr in ausreichendem Maße gegeben ist. In diesem Fall sollte der Psychotherapeut – wie jeder andere Berufstätige – in den Krankenstand gehen und seine Berufstätigkeit vorübergehend einstellen. Für die Bewältigung eigener Krisen wählen Psychotherapeuten sehr unterschiedliche Wege: Sie versuchen, sich selbst zu therapieren, nicht selten unter Einsatz von Suchtmitteln, sie vertrauen sich Kollegen an und suchen deren Rat, sie bringen ihr akutes persönliches Problem in der Supervision ein oder – das ist aber eher selten – sie begeben sich selbst in eine psychotherapeutische Behandlung (Lichtenberger, 2005; Wilke, 2005). Letzteres mag erstaunen, denn es ist bekannt, dass Psychotherapeuten, Psychoanalytiker und Psychiater nicht Berufe haben, die vor psychischen Störungen besonders schützen, im Gegenteil, sie sind in diesem Sinne besonders gefährliche Berufe, auch im Hinblick auf das Suizidrisiko (Bronisch, 2005; Rudolf, 2005; Lichtenberger, 2005). Die psychischen Belastungen, denen Psychotherapeuten ausgesetzt sind, liegen auf der Hand. In Anlehnung an Reimer (2005, S. 95) sind für einen Gesprächspsychotherapeuten häufig folgende mehr oder weniger dauerhafte Belastungen bei der psychotherapeutischen Arbeit zu bewältigen: Die Patient-Therapeut-Beziehung kann u. a. belastet werden durch 4 eine ständige Bedrohung der Grenzen und Integrität des Psychotherapeuten durch persönlichkeitsgestörte Patienten, z. B. durch Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; 4 die Verpflichtung, Bedingungsfreie Positive Beachtung auch gegen innere und äußere Widerstände immer wieder herzustellen;
9
4 die Konfrontation mit eigenen belastenden Erinnerungen und unangenehmen Erfahrungen in der eigenen Geschichte, die durch die Auseinandersetzung mit der Biografie des Patienten ausgelöst werden und zu einer reaktiven Inkongruenz führen können; 4 das Entdecken von Gemeinsamkeiten mit dem Patienten und der Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das empathische Einfühlen nicht von schlichtem Mitfühlen abgelöst wird; 4 das Ausbleiben von sichtbaren und ausreichenden Therapieerfolgen oder wiederholte Rückschläge, wodurch die Bedingungsfreie Positive Beachtung Gefühlen von Enttäuschung, Kränkung, Zweifeln an der eigenen therapeutischen Fähigkeit usw. weichen muss; 4 anhaltende Suizidalität oder gar der Suizid eines Patienten. Wie sollte ein Gesprächspsychotherapeut mit eigenen Krisen umgehen, deren Ursachen außerhalb seiner Berufstätigkeit zu suchen sind, die aber seine Arbeitsfähigkeit als Psychotherapeut deutlich tangieren? Eine für Patienten eindeutige Form des Umgangs mit einer eigenen Krise ist die Unterbrechung der Behandlung, wobei es sich empfiehlt, den Patienten die Gründe dafür in einer Form mitzuteilen, die sie nicht in Sorge um den Therapeuten erstarren lassen oder in Schuldgefühle stürzen (»Ich bin doch eine zu große Belastung für ihn!«). Wenn der Therapeut nicht abschätzen kann, ob und in wie weit seine privaten Probleme seine therapeutische Fähigkeit beeinträchtigen werden, kann es – aber nicht immer – gut sein, den Patienten davon in Kenntnis zu setzen, z. B. so: »Ich habe einen Todesfall in der Familie, der überraschend kam. Ich weiß noch nicht, wie weit mich das in unserer Arbeit hier beeinflussen wird und möchte deshalb die Arbeit mit Ihnen zunächst fortsetzen. Sie sollten das aber wissen. Falls Sie merken, dass ich nicht so bin, wie Sie mich kennen, lassen Sie es mich wissen. Ich werde natürlich auch selbst auf mich achten.« Diese Form der Offenheit ist zu empfehlen, weil die klinische Erfahrung lehrt, dass viele Patienten die emotionale Verfassung ihres Therapeuten seismographisch registrieren und darauf reagieren, und zwar häufig mit Phantasien, in denen sie sich die Schuld dafür geben, dass ihr Therapeut unkonzen-
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
triert, innerlich abwesend, verstimmt usw. ist. Wenn ihnen die Gründe dafür offen gelegt werden, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie ihre Aufmerksamkeit von der Befindlichkeit ihres Therapeuten zurückziehen und wieder verstärkt in einen Prozess der Selbstauseinandersetzung treten können. Eine lesenswerte Schilderung der Dynamik, die ausgelöst wird, wenn ein Therapeut seinem Patienten mitteilen muss, dass er ein Krebsleiden hat und in absehbarer Zeit sterben muss, findet sich in dem Roman »Die Schopenhauer-Kur« (Yalom, 2005). Persistenz bestimmter Beziehungserwartungen.
9
Dies ist in Gesprächspsychotherapien eher selten. Übertragung – im psychoanalytischen Sinne – ist ein in allen zwischenmenschlichen Beziehungen zu erlebendes Phänomen und findet deshalb natürlich ebenso wie die Gegenübertragung auch in Gesprächspsychotherapien statt. Da in einer Gesprächpsychotherapie Übertragungsreaktionen jedoch nicht systematisch gefördert werden, um sie therapeutisch nutzen zu können, scheinen sie in dieser eine geringere Rolle zu spielen. Wenn sie auftreten, sollte der Gesprächspsychotherapeut sie ansprechen und mit dem Patienten zusammen versuchen, zwischen Beziehungserwartungen bzw. -ängsten und den realen Beziehungserfahrungen mit dem Therapeuten zu differenzieren. Dass dieses Ziel nicht immer erreicht werden kann, soll folgendes Beispiel verdeutlichen.
Drohung mit Therapieabbruch bzw. Vollzug des Therapieabbruchs. Dieses Problem haben wir be-
reits oben behandelt. Es ist ein Problem innerhalb einer Gesprächspsychotherapie und bedeutet nicht in jedem Fall eine Krise, wird aber häufig Gegenstand von Supervision. Weitere typische Anlässe für Supervision von Gesprächpsychotherapien sind – aus der Sicht von Therapeuten – folgende Behandlungsprobleme: 4 Ich verstehe meinen Patienten nicht! 4 Ich werde aus meiner Rolle als Therapeut geworfen! 4 Mein Patient klagt, dass die Therapie nichts nützt. Er will die Behandlung abbrechen. 4 Wann kann ich die Behandlung abschließen? Ich kann keinen Nutzen mehr erkennen. 4 Ich selbst sehe keine offensichtlichen Probleme, aber vielleicht seht Ihr welche? Der letztgenannte Anlass für eine Supervision ist scheinbar keiner. Er wird verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass sich die in Fachverbänden für Gesprächspsychotherapie organisierten Gesprächpsychotherapeuten zu einer kontinuierlichen berufsbegleitenden Supervision verpflichtet haben. In der Regel sind Gesprächspsychotherapeuten ständige Mitglieder einer örtlichen Supervisionsgruppe, die 14-tägig tagt, und in der sie ihre Behandlungsfälle bei Bedarf oder auch kontinuier-
Fallvignette
Die Patientin, die ihren Therapeuten nicht wahrnehmen konnte Eine Patientin, die sich wegen wiederholten Ladendiebstahls in Behandlung befand, eröffnete fast jede Therapiesitzung mit dem Satz: Herr Dr. E., für das, was ich Ihnen heute erzähle, werden Sie mich verurteilen.« Dr. E. sah jedoch niemals einen Grund, sie zu verurteilen, auch innerlich nicht. Mehrmals startete er vergeblich den Versuch, mit der Patientin zu klären, dass ihre Befürchtungen, verurteilt zu werden, unbegründet seien. Die Patientin blieb bei ihrer einleitend geäußerten Überzeugung, dass ihr Therapeut sie verurteilen würde.
Erst als dem Therapeuten mittels einfühlendem Verständnis klar wurde, dass die Patientin sich jeweils selbst für das verurteilte, was sie dem Therapeuten berichtete, und unhinterfragt davon ausging, das ihr Therapeut das auch tun würde, konnte er seine Bemühungen einstellen, dafür zu sorgen, dass ihn seine Patientin »richtig« wahrnahm, nämlich als eine Person, die sie nicht für das, von dem sie erzählte, verurteilte. Da die Patientin ihn nicht falsch wahrnahm, sondern ihn auf Grund ihrer eigenen Inkongruenz in diesem Punkt überhaupt nicht wahrnahm, war es ihm möglich, diesem Problem der Patientin mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zu begegnen und seine diesbezüglichen Wünsche, die Patientin möge sich verändern, einzustellen.
263 9.9 · Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
lich supervidieren lassen. Eine genauere Darstellung der Arbeit in Supervisionsgruppen findet sich in 7 Kap. 10.4.
9.8
Störungsspezifisches Vorgehen
Die klassische Gesprächspsychotherapie ist kein symptomorientiertes Verfahren, d. h. kein Verfahren, bei dem die Art der Störung leitend für das therapeutische Handeln ist. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht die therapeutische Beziehung. Voraussetzung dafür, dass bislang abgewehrte Erfahrungen symbolisiert und in das Selbst integriert werden können, ist das Gelingen einer bestimmten Beziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Effekt, dass Inkongruenzen verringert oder aufgehoben werden (7 Kap. 6). Natürlich beeinflusst die Art der psychischen Störung auch die Therapeut-Patient-Beziehung: Ein Patient mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung bringt andere Beziehungserwartungen und Möglichkeiten zu ihrer Gestaltung mit als ein Patient mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung. Aber auch innerhalb eines Störungsbildes gibt es eine große Variationsbreite bezüglich der Möglichkeit, sich auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot einzulassen. Unter den Patienten, die unter einer Depression leiden, gibt es solche, die ein gesprächspsychotherapeutisches Beziehungsangebot nicht einmal wahrzunehmen scheinen, sie sind z. B. in einem Stupor gefangen und reagieren nicht auf Kontaktangebote. Für andere depressive Patienten hingegen ist das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot das einzige, auf das sie sich überhaupt einlassen können. Die Betonung der Wichtigkeit bzw. Notwendigkeit eines störungsspezifischen Vorgehens in der Psychotherapie stammt aus der Tradition der Störungsmodelle der Verhaltenstherapie, deren Fokus die Entstehung, Aufrechterhaltung und Beseitigung von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von Lernprozessen ist. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht die Störung, nicht die therapeutische Beziehung und nicht die Persönlichkeit des Patienten.
9
Der Einfluss der psychischen Störung auf den therapeutischen Prozess und das Therapieergebnis ist auch von den Vertretern der nicht symptomorientierten Therapieverfahren gesehen worden. Psychotherapieforscher haben schon sehr früh Forschungsdesigns gefordert, die den Einfluss der unterschiedlichen psychischen Störungen auf das Therapieergebnis in Rechnung stellen (z. B. Kiesler in seinen sehr bekannt gewordenen Beiträgen aus den Jahren 1966 und 1969; vgl. auch Eckert, 2004). Der derzeitige Stand der Forschung zur Frage des Einflusses der Störung auf den Therapieprozess und das Therapieergebnis ist in das Allgemeine Modell von Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard eingeflossen, das im 7 Kap. 8.4 ausführlich dargestellt ist: Die Störungen des Patienten stellen einen von vier Faktoren dar, die den Therapieprozess und das -ergebnis wesentlich beeinflussen. Die drei anderen sind die Person des Patienten, die Person des Therapeuten und das Behandlungsmodell, auf dessen Grundlage der Therapeut handelt.
9.9
Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
Die Rolle der Störung bei der Planung und Durchführung einer Gesprächspsychotherapie hat lange Zeit nicht im Blickwinkel therapietheoretischer Überlegungen im Rahmen der Gesprächspsychotherapie gestanden. Zwei Entwicklungen haben jedoch dazu beigetragen, dass die Störung auch bei der Durchführung von Gesprächspsychotherapien verstärkt Berücksichtigung findet. Zum einen ist es die Ausweitung des Indikationsspektrums auf Störungen, bei denen die klassischen Psychotherapieansätze so lange scheiterten, bis Modifikationen eingeführt wurden, welche die Besonderheiten der Störung in Rechnung stellten. Diese Modifikationen fanden ihren Niederschlag in Therapieempfehlungen und Therapieleitlinien bzw. Therapiemanualen. Ein für das Klientenzentrierte Konzept typisches Beispiel ist das von dem holländischen Psychiater Hans Swildens herausgegebene Lehrbuch (Swildens, 1991). Es folgten weitere Ansätze, die den Einfluss der Störung auf den Verlauf einer
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9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Gesprächspsychotherapie systematisch zu berücksichtigen versuchen, u. a. von Speierer (1994) und Finke (1994). Zu diesen Bemühungen sind auch die von Eckert, Höger & Linster (1997) veröffentlichten störungsspezifischen Falldarstellungen zu rechnen. Der zweite Anstoß zur Entwicklung von störungsspezifischen Behandlungsleitlinien kam aus der Psychotherapieforschung. Um zu gewährleisten, dass die Therapeuten der untersuchten Psychotherapien die Behandlungen in vergleichbarer Weise durchführten, wurden Behandlungsmanuale zum Forschungsstandard erhoben: Voraussetzung für den Nachweis der Wirksamkeit einer Behandlungsform oder eines Behandlungselements im Rahmen einer Studie sind neben einer Reihe anderer Merkmale der Studie Therapiemanuale einschließlich der Festlegung der Rahmenbedingungen (Buchkremer & Klingberg, 2001, S. 23). Der »Natur« der jeweiligen Psychotherapieverfahren entsprechend unterscheiden sich die Manuale hinsichtlich Form und Inhalt erheblich. Insbesondere die Konkretisierungen und die Definitionen des Therapeutenverhaltens auf der Ebene der Handlungsanweisungen für die Therapeuten sind in Abhängigkeit von den jeweils zu Grunde liegenden Krankheitsmodellen und Menschenbildern sehr unterschiedlich. Gegen den Einsatz von Therapiemanualen in nicht symptomzentrierten Therapien sind verschiedene Einwände (Auckenthaler, 2000) vorgetragen worden. Die Wichtigsten sind die Folgenden: 4 Manuale in Form von strukturierten Therapieprogrammen, wie sie in der Verhaltenstherapie für verschiedene Störungen entwickelt worden sind, in denen die Inhalte jeder Sitzung festliegen und von den Patienten bearbeitet werden müssen, lassen sich nicht auf nicht symptomzentrierte Psychotherapieverfahren übertragen. 4 Langzeittherapien (>80 Sitzungen) entziehen sich ebenfalls einer Manualisierung. 4 Die Aktzeptanz von Manualen in der psychotherapeutischen Praxis sei gering, auch bei Verhaltenstherapeuten. Das liege nicht nur daran, dass es dem beruflichen Selbstverständnis der meisten Psychotherapeuten widerspräche, die von ihnen angewandte Behandlung wie eine Pille zu applizieren, sondern auch daran, dass es
den monosymptomatisch erkrankten Patienten bzw. den Patienten, der nur die Kriterien für das Vorliegen einer Störung erfüllt, in der Praxis kaum gibt. Der Normalfall in der Praxis ist der komorbide Patient. Wir teilen diese Einwände, möchten aber darauf hinweisen, dass Therapiemanuale im Sinne von Therapieleitlinien für die Behandlung von bestimmten Störungen auch für die gesprächspsychotherapeutische Praxis eine Hilfe darstellen können. Die Frage lautet also nicht mehr: »Manualisierte Gesprächspsychotherapie – ja oder nein?« Sondern: »Wie sind die Leitlinien und Handlungsanweisungen zu gestalten, damit sie zu dem, was Gesprächspsychotherapie als eigenständiges Heilverfahren ausmacht, nicht in Widerspruch geraten?«. Keil und Stumm (2002, S. 2) charakterisieren dieses Grundlegende der klientenzentrierten Psychotherapie wie folgt: 4 Die zentrale Annahme einer Aktualisierungstendenz, einer allen Organismen innewohnenden Tendenz, alle ihre Möglichkeiten so zu entwickeln, dass sie den Organismus als Ganzen erhalten und fördern. 4 Die Definition von Bedingungen für den Therapieprozess: 5 Einstellungen auf Seiten des Therapeuten: Kongruenz, bedingungsfreie Anerkennung der Erfahrungen des Patienten, Empathisches Verstehen 5 Inkongruenz auf Seiten des Patienten 5 Beziehung zwischen Patient und Therapeut: psychologischer Kontakt, Wahrnehmung des Beziehungsangebotes durch den Patienten. 4 Die Annahme, dass die Therapie dabei keiner systematisch oder gar schematisch anzuwendenden Techniken bedarf. Insbesondere die letztgenannte Bedingung setzt der Manualisierung der Gesprächspsychotherapie relativ enge Grenzen. Stumm und Keil (a. a. O.) formulieren: »Jegliche Technik, die geeignet ist, die notwenigen (und auch als hinreichend betrachteten) Einstellungen des Psychotherapeuten umzusetzen bzw. dem Patienten zu vermitteln, kann grundsätzlich Verwendung finden, sofern sie das Vertrauen in die Selbstregulationsfähigkeit des Patienten nicht
265 9.9 · Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
untergräbt…« (S. 2). Die Vorgabe konkreter Interventionen für eine bestimmte Stunde der Therapie mit einem vorgeschriebenen Inhalt hat so gesehen im Rahmen des Klientenzentrierten Konzeptes kaum Platz. Bei der Entwicklung der Manuale für die Behandlung von Anpassungsstörungen und Bulimie (7 Kap. 23) haben wir die Perspektive Högers eingenommen, der auf die unterschiedlichen Abstraktionsebenen verweist, auf denen Therapiekonzepte und konkrete therapeutische Handlungsanweisungen formuliert werden (7 Kap. 9.2). Für den Inhalt eines gesprächspsychotherapeutischen Manuals, insbesondere für die darin enthaltenen Handlungsanweisungen, gilt aus dieser Perspektive Folgendes: 4 Die Handlungsanweisungen sollen die von Rogers formulierten Prinzipien weder ersetzen noch modifizieren. Sie sollten nur in der Weise befolgt werden, dass z. B. durch konkretes Verhalten die Herstellung der (von Rogers formulierten) Bedingungen für eine positive Entwicklung des Patienten in der Therapie unterstützt wird. 4 Die Handlungsanweisungen sind nicht als Verhaltensregeln in konkreten Situationen zu verstehen. Es geht in einem solchen Manual nicht darum, für bestimmte Therapiestunden oder eng gefasste Abschnitte der Therapie Aufgaben zu formulieren, die dann möglichst manualgetreu vom Therapeuten mit dem Patienten umzusetzen sind. 4 Die Handlungsanweisungen sind auf der Ebene spezifischer Verhaltensformen angesiedelt (. Abb. 9.2, Ebene III), d. h. sie sind als Möglichkeiten formuliert, wie sich der Therapeut in den Therapieprozess einbringen kann. Aus den Anweisungen können konkrete Verhaltensweisen (Interventionen, Ebene IV) unter Berücksichtigung spezifischer situativer Bedingungen abgeleitet werden. Die bisher im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts veröffentlichten störungsspezifischen Manuale und Leitlinien sind in der Regel wie folgt aufgebaut:
9
Aufbau von störungsspezifischen Leitlinien für Gesprächspsychotherapie Es wird eine Beschreibung der Störung gegeben, meistens in enger Anlehnung an das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Klassifikationsschema. Es werden die Besonderheiten des Therapieverlaufs bei der Durchführung einer Gesprächspsychotherapie bei diesem bestimmten Störungsbild dargestellt, z. B. in bestimmten Therapiephasen bei Swildens (1991). Es werden die störungsspezifischen Besonderheiten der Ausformung von Inkongruenzen, z. B. das spezifische Abwehrverhalten, dargestellt, meistens mit Hinweisen darauf, welche konkreten therapeutischen Mittel zu ihrer Behebung (auf Ebene IV) eingesetzt werden können bzw. sollten. Beispiele dafür sind die spaltende Abwehr, d. h. die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, der Patienten mit einer BorderlinePersönlichkeitsstörung (z. B. Eckert & BiermannRatjen, 2000) oder die Vermeidungsstrategien von Patienten mit Essstörungen (7 Kap. 23).
Im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts sind in Deutschland Manuale zur Behandlung von Depression (Finke & Teusch, 1999) und Panikstörungen (Teusch & Finke, 1995) bereits veröffentlicht worden. Von den bisher nicht veröffentlichten Leitlinien haben wir zwei in den Anhang (7 Kap. 23) aufgenommen: Ein Manual zur gesprächspsychotherapeutischen Behandlung von Anpassungsstörungen (ICD-10 F43.2) und eines für die Behandlung von Bulimie (ICD-10 F50.2). ? Übungsfragen 5 Welche Aspekte charakterisieren das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten? 5 Wodurch unterscheiden sich Empathie und Mitfühlen? 5 Was versteht man unter dem Inneren Bezugsrahmen? 5 Wodurch wird die Bedingungsfreie Positive Beachtung zur Alarmanlage der therapeutischen Beziehung?
6
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
5 Warum sollte die positive Beachtung des Therapeuten auch »bedingungsfrei« sein? 5 Warum sollte der Begriff »Kongruenz« nicht durch »Echtheit« ersetzt werden? 5 Worin besteht der Unterschied zwischen primärer und reaktiver Inkongruenz? 5 Woran kann ein Gesprächspsychotherapeut erkennen, dass er nicht kongruent ist? 5 Wie kann ein Gesprächspsychotherapeut seine reaktive Inkongruenz überwinden? 5 Nenne wichtige prozessfördernde Prinzipien therapeutischen Handelns in der Gesprächspsychotherapie. 5 Wann ist es in der Regel notwendig, das Prinzip der Nicht-Direktivität zu verlassen? 5 Welche Grundregel gilt für die Verbalisierung von Erfahrungen des Patienten? 5 Woran kann ein Gesprächspsychotherapeut erkennen, dass seine Intervention richtig, d. h. therapeutisch nützlich war? 5 Welche Gründe könnten einen Therapeuten veranlassen, die Behandlung nicht zu verlängern bzw. zu beenden? 5 Nennen Sie drei typische Behandlungsprobleme, die in einer Gesprächspsychotherapie auftauchen können. 5 Welche sind häufige Anlässe, eine Behandlung in der Supervision vorzustellen?
9.10
Weiterführende Literatur
Eckert, J., Höger, D. & Linster H.W. (Hrsg.) (1997). Praxis der Gesprächspsychotherapie. Störungsbezogene Falldarstellungen. Stuttgart: Kohlhammer.
10 10 10.1
Evaluation und Qualitätssicherung Wirksamkeit
– 267
10.3
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses – 277
10.3.1
10.3.4
Verfahren zur direkten Erfolgsbeurteilung – 278 Verfahren zum Prä-PostVergleich – 278 Hinweise für die Anwendung und Interpretation – 281 Weiterführende Literatur – 283
10.4
Supervision
J. Eckert 10.1.1 10.1.2 10.1.3
10.2
Wie lässt sich die Wirksamkeit von Psychotherapie feststellen? – 267 Die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie in empirischen Studien – 269 Weiterführende Literatur – 273
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses – 273 D. Höger
10.2.1
10.2.2 10.2.3 10.2.4
Verfahren zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient – 274 Verfahren zur Einschätzung des Ergebnisses von Therapiestunden – 275 Fragebogen zur Erfassung der therapeutischen Beziehung – 276 Hinweise zu Anwendung und Interpretation der Verfahren – 277
D. Höger
10.3.2 10.3.3
E.-M. Biermann-Ratjen 10.4.1 10.4.2
10.4.3 10.4.4 10.4.5
10.1
Wirksamkeit J. Eckert
10.1.1
Wie lässt sich die Wirksamkeit von Psychotherapie feststellen?
Patienten, die eine Gesprächspsychotherapie abgeschlossen haben, können, wie das folgende Beispiel zeigt, in der Regel ziemlich klar sagen, was sich für sie verändert hat. Eine solche Form der Wirksamkeitsfeststellung ist im klinischen Alltag übliche Praxis. Wenn Patient und Therapeut – möglichst übereinstimmend – ausreichende Veränderungen feststellen, wird die Behandlung als erfolgreich betrachtet und abgeschlossen. Aber auch wenn Hunderte von Patientinnen, die an einer Bulimie leiden, nach einer Gesprächs-
– 283
Geschichte und Definition – 283 Theorien der Supervision von Psychotherapie in der akademischen Psychologie – 284 Praxis der Supervision von Psychotherapie – 286 Praxis der Klientenzentrierten Supervision von Psychotherapie – 288 Weiterführende Literatur – 293
psychotherapie solche oder ähnliche Aussagen zum Behandlungserfolg machten wie die Patientin im o. g. Beispiel, würde das nicht als wissenschaftlich fundierter Nachweis der Wirksamkeit von Gesprächpsychotherapie bei der Behandlung von Bulimie gelten. Die Therapieforschung hat sich gegen den idiographischen Forschungsansatz der Geisteswissenschaften und für den nomothetischen der Naturwissenschaften entschieden, d. h. nicht die individuelle Wirklichkeit, sondern allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten als Grundlage für die Beurteilung der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erforschen. Das nomothetische Forschungsparadigma mit seinen naturwissenschaftlich-experimentell ausgerichteten Forschungsmethoden wird dem komplexen und individuell sehr unterschiedlichen Geschehen Psychotherapie aber nur teilweise gerecht. Auch Carl Rogers, der mit Nachdruck immer wieder forderte, dass die Annahmen und Wirkun-
268
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Fallvignette
Wirksamkeit einer Gesprächspsychotherapie aus Patientinnensicht
10
Was hat eine 70-stündige Gesprächspsychotherapie bei einer Patientin mit Bulimie bewirkt? Die Patientin schreibt auf einem Nachbefragungsbogen zur Frage »Was hat die Psychotherapie für Sie ganz persönlich gebracht? Was ist/ sind für Sie ganz persönlich das/die wichtigste/n Ergebnis/se? »Meine Symptome sind verschwunden. Neben der Tatsache an sich (nicht mehr Fressen + Erbrechen) ist das wichtigste Ergebnis der Therapie, dass meine Gedanken nicht mehr von diesem Thema dominiert werden. Dadurch habe ich Platz/Gedanken zur Verfügung für andere Dinge/Gefühle/Erlebnisse. Meine Konzentrationsfähigkeit für das Leben hat dadurch stark zugenommen und liegt nicht mehr unter einer Art Dunstglocke aus ›Essgedanken‹. Mein Selbstbewusstsein ist stark gestiegen. Ich gehe gelassener mit Problemen um und kann Emotionen besser wahr- und annehmen« (»Lina«, 20.4.05).
gen von Psychotherapie wissenschaftlich zu überprüfen seien, hat sich der naturwissenschaftlichempirischen Forschungsmethodik bedient, ohne jedoch ihre Grenzen zu übersehen: »In unserem Team besteht der Eindruck, dass der logische Positivismus … nicht notwendigerweise der Weisheit letzten Schluss darstellt. Vor allem nicht in einem Bereich (gemeint ist die Psychotherapie, Anmerkung d. Verf.), in dem das Phänomen der Subjektivität solch eine wichtige und zentrale Rolle spielt. … Gibt es eine Sicht, … die die Werte des logischen Positivismus und die von ihm geförderten wissenschaftlichen Fortschritte bewahrt, aber dennoch breiteren Raum lässt für die existierende subjektive Person, die in unserem Wissenschaftssystem das Kernstück bildet?« (Rogers, 1959b/1987, S. 76) Die Einwände gegen die Anwendung des »pharmakologischen Forschungsmodells in der Psychotherapie-Forschung« (Revenstorf, 2005; Wampold, 2001)
sind geblieben, zugleich werden aber auch Forschungsalternativen aufgezeigt (Kriz, 2003, 2004). In der Psychotherapieforschung werden zwei Arten von Wirksamkeit unterschieden: Die Effizienz (»efficacy«) und die Effektivität (»effectiveness«). Definition Unter Effizienz versteht man die Wirksamkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens unter kontrollierten Studienbedingungen, unter Effektivität seine Wirksamkeit unter Praxisbedingungen.
Als methodischer »Goldstandard« zum Nachweis der Wirksamkeit eines Therapieverfahrens unter Studienbedingungen (»Laborwirksamkeit«) gilt das Kontrollgruppen-Design (»Randomized Controlled Trial«, RCT, 7 Übersicht).
Kriterien für ein Kontrollgruppen-Design (RCT) 5 Repräsentative Stichprobe 5 Mit expliziten Ein- und Ausschlusskriterien 5 Stichprobengröße von mindestens 25 Patienten pro Designzelle 5 Manualisierte Therapie mit festgelegten Rahmenbedingungen 5 Randomisierte Zuweisung der Patienten zur Experimental- und Kontrollgruppe 5 Standardtherapie als Kontrollgruppe oder 5 Warteliste als Kontrollgruppe oder 5 Nicht erkennbares Placebo als Kontrollbedingung 5 Blinde Rater bzw. minimal: therapeutenunabhängige Erfolgsbeurteilung 5 Hinreichend langer Katamnesezeitraum (sechs bis zwölf Monate bzw. ein bis zwei Jahre) (nach Chambless & Hollon, 1998 und Buchkremer & Klingberg, 2001)
Die Kritik an diesen Kontrollgruppen-Studien weist vor allem darauf hin, dass die Patienten, die an einer
269 10.1 · Wirksamkeit
solchen Untersuchung teilnehmen, nicht repräsentativ sind für die Patienten, die in der Praxis von Psychotherapeuten auftauchen. Die häufigsten Gründe, warum Patienten nicht an einer Therapiestudie teilnehmen, sind in der Übersicht aufgelistet.
Gründe, warum Patienten nicht an einer RCT-Studie teilnehmen wollen 5 Sie wollen geheilt und nicht beforscht werden. Sie finden die vielen zeitaufwändigen Untersuchungen lästig und überflüssig. 5 Sie möchten eine bestimmte Behandlung haben und würden die Kontrollbedingung ablehnen. 5 Für sie kommt eine Kontrollbedingung »Wartegruppe« nicht in Frage, weil sie psychisch so unter Druck sind, dass sie sofort Hilfe brauchen. 5 Sie können sich nicht auf die Bedingung einlassen, dass die Behandlung z. B. nach 25 Sitzungen definitiv abgeschlossen sein soll und sie sich bei Bedarf einen anderen Therapeuten suchen müssten.
Gründe, warum Forscher Patienten nicht in eine RCT-Studie aufnehmen 5 Die Patienten haben zwar die Störung, um die es bei der Prüfung der Wirksamkeit einer bestimmten Behandlung gehen soll, aber außerdem noch andere Störungen, z. B. eine Persönlichkeitsstörung oder eine Abhängigkeitserkrankung. Solche Komorbiditäten sind in der Praxis die Regel, der monosymptomatische Patient, der für die Studie gebraucht wird, bildet die Ausnahme. 5 Sie sind bereits wegen der in Rede stehenden Störung vorbehandelt worden. 5 Sie sind zu alt. 5 Sie nehmen zusätzlich Medikamente. 5 Sie sind noch anderenorts in einer Psychotherapie.
Diese Gründe, die zu einer starken Selektion unter den Patienten führen, beeinträchtigen die Übertragbarkeit der Behandlungsergebnisse auf die Grundgesamtheit aller Patienten mit der Störung, um die es
10
bei der Prüfung der Wirksamkeit der Behandlung gegangen ist. RCT-Studien zeichnen sich durch eine in der Regel hohe interne, aber mangelhafte externe Validität aus. Viele Therapieforscher sehen diese Grenzen der RCT-Studien und schlagen deshalb ein gestuftes Vorgehen bei der Prüfung der Wirksamkeit von Psychotherapie vor: Nach einer Konzeptbildung (Phase I) werden zunächst nichtkontrollierte Studien (Phase II) durchgeführt. Haben dann auch RCTStudien die Wirksamkeit nachgewiesen (Phase III), werden Anwendungsstudien unter Praxisbedingungen, sog. naturalistische Studien, durchgeführt (Phase IV; Buchkremer & Klingberg, 2001). Naturalistische Studien zeichnen sich in der Regel durch eine hohe externe, aber mangelhafte interne Validität aus.
10.1.2
Die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie in empirischen Studien
Einer der ersten empirischen Nachweise für die Effizienz von Klientenzentrierter Psychotherapie wurde von Rogers und Dymond in einer berühmt geworden Studie bereits 1954 vorgelegt. Diese Studie wurde berühmt, weil sie aufgrund ihrer Konzeption (z. B. Einsatz von Kontrollgruppe und Eigenwartegruppe) und der eingesetzten Methodik (z. B. dem Verfahren adäquate Therapieprozessmessinstrumente, wie ein Q-Sort zur Messung des Selbstkonzepts) einen »Meilenstein« in der empirischen Psychotherapieforschung darstellte. Die von Rogers begründete Tradition der empirischen Überprüfung seines Therapiekonzepts wurde von anderen Klientenzentrierten Forschern fortgeführt. Eine Übersichtsarbeit von Meltzoff und Kornreich (1970) führt bis zum Jahre 1959 zwölf methodisch »adäquate Studien mit eindeutig positiven Therapieergebnissen« auf, darunter vier klientenzentrierte. In der bis dahin umfangreichsten Metaanalyse von klinisch relevanten kontrollierten psychotherapeutischen Wirksamkeitsstudien fassen Grawe, Donati und Bernauer (1994, S. 134) zusammen: »Vergleicht man die Ergebnistabellen für die Prä-Post-Vergleiche und die Kontrollgruppen6
270
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Vergleiche mit den analogen Tabellen zu den meisten anderen Therapieformen, dann muss man der Gesprächspsychotherapie eine sehr überzeugend nachgewiesene Wirksamkeit bescheinigen. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, wenn man an das Spektrum an Störungen denkt, auf die Gesprächspsychotherapie angewandt wurde, und an die relative kurze Therapiedauer, in der die Effekte erreicht wurden.«
10
Greenberg, Elliott und Lietaer (1994) gehen in einer Metaanalyse der Frage nach, ob Klientenzentrierte Psychotherapie in ihrer Wirksamkeit anderen Verfahren über- oder unterlegen ist. Sie vergleichen die Wirksamkeit von klientenzentrierten Therapieverfahren mit kognitiven und behavioralen Verfahren und errechnen eine mittlere Effektstärkendifferenz von 0,28 zu Ungunsten der klientenzentrierten Verfahren. In den Vergleich wurden außer der klassischen Klientenzentrierten Psychotherapie auch Weiterentwicklungen, z. B. die »Process-Experiential Psychotherapy« (7 Kap. 20), einbezogen. Werden nur die »directive experiential treatments« mit den kognitiv-behavioralen Verfahren verglichen, kehrt sich die Effektstärkendifferenz zu Gunsten der Klientenzentrierten Verfahren um und wächst auf 0,40 an (a. a. O., S. 515). Diese im »Handbook of Psychotherapie and Behavior Change« veröffentlichte Metaanalyse wird von Elliott (2002) auf den neuesten Stand gebracht, wobei sich die Zahl der berücksichtigten Studien von 37 auf 86 erhöht, die insgesamt die Daten von 5030 Patienten einschließen. Der Autor fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen (7 Kasten). Ein neuerer Überblick über den Stand der Forschung, auch der Wirksamkeitsforschung, in Deutschland findet sich bei Schwab, Eckert und Höger (2003), die zu dem Schluss kommen, dass im Vergleich zu früher weniger geforscht wird und sich daher die Frage stellt, ob die vorliegenden Forschungsergebnisse Auskunft über die Wirksamkeit der heute praktizierten Gesprächspsychotherapie geben können. Äquivalenzparadox. Der oben berichtete Befund,
dass sich im direkten Vergleich die Therapieergebnisse klientenzentrierter Therapien nicht bedeutsam von denen anderer Therapieverfahren unterscheiden, bestätigt zum wiederholten Mal ein als Äquivalenz-
Generelle Wirksamkeit von klientenzentrierten Psychotherapieverfahren 5 Patienten, die mit einem humanistischen Psychotherapieverfahren behandelt worden sind, weisen im Mittel bemerkenswert große Veränderungen auf (mittlere korrigierte Effektstärke: 1,01 mit einer SD von 0,55. Ab einer ES von 0,8 spricht man von großer Effektstärke). 5 Die in der Therapie erzielten Veränderungen sind stabil, sie lassen sich auch noch in der Ein-Jahres-Katamnese nachweisen. 5 In randomisierten klinischen Prüfungen (RCT-Studien) mit unbehandelten Kontrollgruppenpatienten zeigen die Patienten, die mit einem humanistischen Therapieverfahren behandelt worden sind, im Vergleich zu den nicht behandelten Patienten substanziell mehr Veränderungen. 5 In randomisierten klinischen Prüfungen mit Kontrollgruppenpatienten, die in einem anderen Verfahren behandelt worden sind, d. h. in sog. Therapievergleichsstudien, zeigt sich die Wirksamkeit der humanistischen Therapieverfahren generell äquivalent der Wirksamkeit von nicht humanistischen Verfahren, einschließlich der kognitiv-behavioralen Therapieverfahren.
paradox bekanntes Phänomen: Es gibt kein Psychotherapieverfahren, das im Mittel und durchgängig bei allen Störungsbildern wirksamer ist als alle anderen Verfahren. Auf dieses Phänomen stießen als Ergebnis einer Metaanalyse vergleichender Therapiestudien Luborsky, Singer und Luborsky (1975). Da die Autoren es mit dem Ausspruch »Everybody has won and all must have prizes« des Dodo-Vogels aus dem Kinderbuch »Alice im Wunderland« kennzeichneten, wurde das »dodo-bird verdict« zu einer Metapher in der Psychotherapieforschung. Spätere Metaanalysen schienen das Verdikt in Frage zu stellen. Es gab plötzlich doch Therapieverfahren mit einer signifikant größeren Wirksamkeit als andere Verfahren. Diese Unterschiede fielen jedoch in sich zusammen, als ein weiterer Einflussfaktor in Rechnung gestellt wurde: Die »allegiance« des Untersuchers, d. h. seine
271 10.1 · Wirksamkeit
Parteilichkeit durch Bindung an eines der untersuchten Therapieverfahren. Wird diese bei der Auswertung berücksichtigt, werden die vorher errechneten Unterschiede zwischen den Verfahren insignifikant (Luborsky et al.,1999, 2001). Neuere Metaanalysen (Wampold, 2001) bestätigen erneut das Dodo-BirdVerdikt, so dass zur Frage der Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Therapieverfahren Lambert und Ogles (2004) folgendes Resümee ziehen: Wenn wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren von in diesen Verfahren gut ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden, die von der therapeutischen Wirksamkeit des von ihnen jeweils angewandten Verfahrens überzeugt sind, d. h. wenn »Bona-fideTherapien« untersucht und miteinander verglichen werden, dann ergeben sich bezüglich Effektivität und Effizienz überraschend geringe Unterschiede. Dennoch profitieren manche Patienten von einer bestimmten Therapie mehr als von einer anderen. Sprichwörtlich lässt sich dieser Zusammenhang so darstellen: Es führen auch in der Psychotherapie viele Wege nach Rom, aber nicht jeder Patient kann auf jedem der angebotenen Wege gleich gut gehen. Therapiedosis und Wirkung. Die Wirkung von Psy-
chotherapien ist von mehreren Faktoren abhängig. Ein Faktor ist die sog. Therapiedosis. McNeilly und Howard (1991; Lueger, 1995) fanden eine negativ beschleunigte Kurve als Funktion zwischen Wirkung und Dosis, d. h. der »Therapiegewinn« am Anfang, während der ersten 10–15 Sitzungen der Therapie, ist relativ groß und flacht dann deutlich ab. Phasenhafte Veränderungen. Therapeutische Veränderungen verlaufen in Phasen. Es konnte empirisch nachgewiesen werden, dass sich in einer Psychotherapie häufig zunächst das Wohlbefinden des Patienten, dann die Symptome und als letztes das Niveau des Funktionierens im Alltag in verschiedenen Bereichen, z. B. die Beziehungsfähigkeit, verändern (Lueger, 1995). Diese Gesetzmäßigkeiten scheinen auch für die Gesprächspsychotherapie zu gelten. Differenzielle Wirkung. Dass Gesprächspsychotherapie in quantitativer Hinsicht im Mittel nicht besser oder schlechter ist als andere psychotherapeutische Verfahren, wurde oben bereits ausgeführt. Unterschiede im Menschenbild und in der Therapietheorie
10
lassen aber vermuten, dass es qualitative Wirksamkeitsunterschiede gibt. Die folgende Übersicht listet solche Unterschiede auf, die empirisch fundiert sind. Quantitative Wirksamkeitsunterschiede von Gesprächspsychotherapie und anderen Therapieverfahren 5 »Gesprächspsychotherapeutisch behandelte Patienten (Phobiker) beurteilen im Gegensatz zu Klienten, die mit einer Breitspektrumverhaltenstherapie behandelt werden, ihren Therapieerfolg nicht in Abhängigkeit davon, ob sich die Symptomatik, deretwegen sie die Behandlung begonnen haben, verändert oder nicht (Grawe, 1976; Plog 1976). 5 Gesprächspsychotherapiepatienten werden häufiger als Patienten, die mit einer psychodynamischen Kurztherapie behandelt worden sind, als gebessert eingestuft, obwohl bei ihnen keine »Einsicht« (im Sinne der Psychoanalyse) in die psychodynamischen Zusammenhänge ihrer Beschwerden erkennbar ist. Umgekehrt lässt sich bei vielen psychodynamisch behandelten Patienten »Einsicht« feststellen, die nicht mit einer sichtbaren Besserung einhergeht. Eine solche Ergebniskonstellation findet man bei Gesprächspsychotherapiepatienten nicht (Meyer, 1990). 5 Gruppenpsychotherapiepatienten unterscheiden sich in der Beurteilung ihres Therapieerfolges in Abhängigkeit davon, ob die Behandlung psychoanalytisch oder gesprächspsychotherapeutisch orientiert war. Der Bezugspunkt der Beurteilung des Therapieerfolges liegt für psychoanalytisch behandelte Patienten in der inneren und äußeren Autonomie, die sie durch die Behandlung gewonnen oder nicht gewonnen haben. Hingegen liegt der Bezugspunkt der Beurteilung des Therapieerfolges bei gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten in der besseren Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, die sie im Behandlungsverlauf erworben oder nicht erworben haben (Eckert & Biermann-Ratjen, 1985)«. (Aus Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 68 f.)
272
10
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Psychotherapieforscher und Psychotherapeuten sind sich seit langem darüber einig, dass Psychotherapie differenziell wirkt. Gemessen am Nachdruck, mit dem diese Überzeugung vertreten wird, gibt es aber nur relativ wenige empirische Belege für sie. Das liegt aber nicht daran, dass solche Belege nicht gefunden wurden, sondern dass entsprechende Untersuchungen kaum durchgeführt worden sind, auch wenn von »intensiven« – wenn auch vergeblichen – Bemühungen der empirischen Forschung gesprochen wird (Grawe, 2005, S. 120). Es gibt weltweit keine drei methodisch adäquaten Therapievergleichsstudien, deren Untersuchungsdesign geeignet wäre, die differenzielle Indikationsfrage zu beantworten. Ein Untersuchungsplan, der eine Antwort auf diese sog. differenzielle Indikationsfrage – Bei welchem Patienten mit welcher psychischen Störung ist welche Behandlung durch welchen Psychotherapeuten mit welcher Zielsetzung wie wirksam? – ermöglichen soll, ist zwar schon lange vorhanden (Kiesler, 1966, 1969), aber er wird vor allem aus Kosten- und Zeitgründen eine Utopie bleiben (Eckert, 2004; Frohburg, 2004a). Die vier Hauptfaktoren der differenziellen Wirkung von Psychotherapie sind inzwischen bekannt und im Allgemeinen Modell für Psychotherapie (AMP; Kap. 8.4) zusammengefasst: 4 das Behandlungsmodell des Therapeuten, 4 die Störung des Patienten, 4 die Person des Therapeuten und 4 die Person des Patienten. Für die Praxis der Psychotherapie ist die differenzielle Wirkung von Psychotherapie bei der Indikationsstellung (7 Kap. 8) zu berücksichtigen. Als Gesprächspsychotherapeut prüft man zunächst die »Ansprechbarkeit des Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot«. Ist diese nicht oder nicht ausreichend gegeben, sucht man auf der Grundlage des AMP, welches Verfahren und welcher Therapeut besser zum Patienten und seiner Störung »passen«. Langzeitwirkung. Während die Effizienz von klien-
tenzentrierter Psychotherapie als sehr gut belegt angesehen werden kann, gibt es für den Nachweis der Effektivität nur wenige empirische Befunde. Es gibt aber Grund zu der Annahme, dass RCT-Studien die
Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie eher unterschätzen. In der o. g. Metaanalyse von Elliott (2002) betrug die durchschnittliche Dauer der untersuchten Therapien 21,9 Sitzungen (SD 21,7; Range 2–100). Regulär abgeschlossene ambulante Gesprächspsychotherapien umfassen in Deutschland im Mittel aber 69 Sitzungen in einem Zeitraum von durchschnittlich 25 Monaten. Es ist anzunehmen, dass Behandlungen, die nur rund 1/3 der in der Praxis aufgewendeten Zeit brauchen, das Wirksamkeitspotenzial des Verfahrens nicht ausschöpfen und so die tatsächliche Wirksamkeit, d. h. die Effektivität des Verfahrens, unterschätzt wird (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 62 f.). Einen indirekten Beleg für diese Annahme liefern die Daten der Elliott’schen Metaanalyse: Nach durchschnittlich 22 Sitzungen ist das Effektstärkenmaß für das globale Rating des Therapieerfolges mit ES=1,83 deutlich höher als das für die Veränderungen bezüglich Selbstachtung und Selbstvertrauen: ES=0,83 (Elliott, 2002, S. 64, 7 Tab. 2.2). ! Für die Praxis der Gesprächpsychotherapie bedeuten diese Ergebnisse, dass die Therapiedauer abhängig von den intendierten Veränderungen ist. Wenn nicht nur eine Symptomentlastung, sondern auch eine Persönlichkeitsveränderung angestrebt wird, dann sind mehr als 25 Sitzungen erforderlich.
Gesprächspsychotherapie hat eine ausgezeichnete Langzeitwirkung – auch ohne weitere Behandlung. Eine Metaanalyse von Katamnesestudien (Frohburg, 2004b) belegt, dass die in der Therapie erreichten Veränderungen zum Katamnesezeitpunkt – mindestens drei Monate, am häufigsten ein halbes Jahr und länger nach Therapieabschluss – noch erhalten sind, d. h. die Therapieeffekte sind konstant. In der Hälfte der Studien kann im Katamnesezeitraum ein weiterer Veränderungszugewinn verzeichnet werden, d. h. es kommt zu weiteren positiven Entwicklungen in den Effektmerkmalen. ? Übungsfragen 5 Was ist eine RCT-Studie? 5 Welche Kritik wird gegenüber RCT-Studien erhoben? 5 Welche Nachteile haben »naturalistische Studien«? 5 Was besagt das sog. Äquivalenzparadox?
6
273 10.2 · Verfahren zur Messung des Therapieprozesses
5 Welchen Einfluss nimmt die »Therapiedosis« auf die Wirkung von Psychotherapie? 5 Nennen Sie mindesten einen qualitativen Unterschied zwischen den Wirkungen von GPT und einem anderen Therapieverfahren. 5 Womit wird die »gute Langzeitwirkung« von Gesprächspsychotherapie begründet?
10.1.3
Weiterführende Literatur
Kapitel III in: Biermannn-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.-J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Lambert, M. J. (2004). Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change (5th Ed.). New York: Wiley. Schwab, R., Eckert, J. & Höger, D. (2003). Zur Situation der Gesprächspsychotherapie (GPT) in Forschung und Lehre in Deutschland. PERSON. Internationale Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung, 7, 101–114.
10.2
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses D. Höger
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses sind heute ebenso wie die Methoden zur Überprüfung des Therapieergebnisses (7 Kap. 10.3) Bestandteil der Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung psychotherapeutischer Tätigkeit. Ursprünglich stammt der Begriff »Qualitätssicherung« aus der industriellen Fertigung und dem industriellen Normungswesen, die, als dem Lebensbereich »Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Dienstleistung« angehörend, als Geltungsbereich von Eindeutigkeit und Klarheit angesehen werden, im Unterschied zum Lebensbereich »Kunst und Freizeit«, in dem Gefühle und Individualismus dominieren. Es galt, allgemein verbindliche Definitionen und Verfahrensweisen zu vereinbaren, um die Güte von Produkten zu beurteilen, um dann deren optimale Güte zu gewährleisten. In die Psychotherapie hat der Begriff »Qualitätssicherung« ab 1989 im Zuge des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (»Gesundheitsreform-Gesetz«, GRG) Eingang gefunden. Dieses Gesetz sah Maß-
10
nahmen zur Qualitätssicherung medizinischer Leistungen und damit auch für den Bereich »Psychotherapie« (Kordy, 1992) vor. Dies gab den Anstoß, sich um geeignete Verfahren in diesem Bereich zu kümmern (Grawe & Braun, 1994; Härter, Linster & Stieglitz, 2003; Laireiter, 1994; Rinne & Mittag, 1989). Über geeignete Messverfahren zum Prozess und Ergebnis von Psychotherapie informieren u. a. Brähler, Schumacher und Strauß (2002), Strauß & Schumacher (2005) sowie speziell für die Gesprächspsychotherapie Tscheulin (2001). Inhaltlich gesehen, wenn auch aus anderen Gründen, gehören wesentliche Prinzipien der Qualitätssicherung und -kontrolle zur Tradition der Gesprächspsychotherapie. Der eine Grund besteht in dem Bemühen, die Herkunft der Gesprächspsychotherapie aus der empirisch-wissenschaftlichen Forschung in die Praxis zu übertragen. In engem Zusammenhang damit steht der andere Grund: die Beurteilung des Therapieprozesses sollte nicht der subjektiven Beliebigkeit des Therapeuten überlassen bleiben. Eine Konsequenz war, dass standardisierte Instrumente entwickelt wurden, mit denen wesentliche Merkmale therapeutischer Prozesse und Ergebnisse eingeschätzt werden können (für die Messung der Ergebnisse 7 Kap. 10.3). Eine andere war die kollegiale Supervision, der sich Gesprächspsychotherapeuten während ihres ganzen Berufslebens unterziehen. Damit sind sie an den Austausch über ihre Tätigkeit an eine wissenschaftlichen Standards verpflichtete Kollegenschaft angebunden (7 Kap. 10.4). Zur Tradition der Gesprächpsychotherapie gehört auch, dass die therapeutischen Gespräche auf Tonband aufgenommen werden. Diese Aufzeichnungen machen die Gespräche der Reflexion in einem Ausmaß zugänglich, das mit Gedächtnisprotokollen nicht zu erreichen ist. Sie bilden auch die Grundlage für die unmittelbare Einschätzung von Merkmalen der Interaktion zwischen Therapeut und Patient, die ein Indiz für die Qualität des therapeutischen Prozesses sind. Voraussetzung dafür ist das schriftliche Einverständnis des Patienten. Ihm wird die vertrauliche Behandlung zugesichert und er wird darüber informiert, dass die Tonaufnahmen der Eigenkontrolle des Therapeuten dienen und dass sie ggf. für die Supervision des Therapeuten anderen Therapeuten anonym zugänglich gemacht werden können.
274
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Oft wird gegen solche Aufnahmen eingewendet, die Patienten würden sich dagegen wehren. Erfahrungsgemäß stimmt das nicht, wenn man von ganz wenigen Ausnahmen absieht. Es scheint sich eher um ein Problem für den Therapeuten als für den Patienten zu handeln. Seitens des Patienten kann die Besorgnis eine wesentliche und durchaus nachvollziehbare Rolle spielen, dass er die Kontrolle über das von ihm Gesagte verliert. Ihr lässt sich in aller Regel mit einer Vereinbarung abhelfen: Das Tonbandgerät wird in seiner Reichweite aufgestellt, damit er jederzeit die Möglichkeit hat, es abzustellen. Um ihm dies
zu erleichtern, wird die Stopp-Taste mit einem großen roten Punkt (Aufkleber) versehen. Erfahrungsgemäß wird davon nur selten Gebrauch gemacht.
10.2.1
Verfahren zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient
Tonbandaufnahmen ermöglichen es, den therapeutischen Prozess einzuschätzen. Üblicherweise geschieht dies an Stichproben zu je fünf Minuten Länge
. Tab. 10.1. Experiencing-Skala zur Einschätzung der Selbstauseinandersetzung des Patienten (nach Dahlhoff & Bommert, 1978) Stufe
Beschreibung
1
Der Patient schildert Ereignisse in allgemeiner, unpersönlicher Weise. Seine Äußerungen sind von unbeteiligter Art, so als ob sie von einem Fremden stammen. Eine persönliche Anteilnahme an seinen Mitteilungen ist nicht ersichtlich.
2
Der Patient lässt in seinen Äußerungen eine persönliche Rolle erkennen, jedoch nimmt er auf sein Fühlen nur indirekt Bezug, indem er es zum Beispiel zur näheren Verdeutlichung eines Sachverhalts heranzieht. Gefühle und persönliche Reaktionen werden eher als entfernte, externe Ereignisse behandelt und charakterisiert, und es wird nur indirekt oder abstrakt darauf Bezug genommen. Ein intellektuelles Interesse bzw. ein allgemeines, oberflächliches Beteiligtsein ist vorhanden, jedoch ist die Bezugnahme des Patienten auf sein Fühlen allgemein-abstrakt oder distanziert-versachlicht und nicht auf ein tieferes Eindringen in die persönlichen Bedeutungen ausgerichtet.
3
Der Patient bezieht sich zwar auf sein Fühlen und Erleben, jedoch werden diese überwiegend als Verhaltensweisen oder Situationen dargestellt oder als in enger Verknüpfung mit diesen Verhaltensweisen und Situationen stehend geschildert. Die Mitteilungen über das Fühlen und Erleben erfolgen gleichsam von einem äußeren Bezugspunkt des Patienten. Eine Bezugnahme auf das Fühlen und Erleben erfolgt in sehr begrenztem Umfang, wird nur knapp zum Ausdruck gebracht und nicht tiefergehend bearbeitet.
4
Der Patient bezieht sich in seinen Äußerungen auf seinen inneren Bezugsrahmen. Er versucht, diesen zur Grundlage seiner Mitteilungen zu machen. Er betrachtet Ereignisse, Situationen und sein Fühlen nicht mehr von außen, sondern er entwickelt eine innerlich gefühlte Bedeutung, auf die er in seinen Mitteilungen Bezug nimmt. Bei der Beschreibung seiner Gefühle der Vergangenheit und Gegenwart schöpft der Patient aus diesem momentanen Erleben und Beteiligtsein. Er bemüht sich, sein Fühlen nicht nur zu schildern, sondern auch zu erarbeiten, was diese Gefühle für ihn bedeuten. Oft besteht auch der Eindruck, dass mehr im Patienten vorgeht, als er im Moment erfassen kann, es sind noch nicht ausformulierbare Erlebnisinhalte vorhanden.
5
Der Patient konzentriert sich auf seinen inneren Bezugsrahmen; dabei werden innere Erlebnisse weiterverarbeitet, erforscht und verdeutlicht. Jetzt kann sich der Patient auf bisher vage, nicht ausformulierbare aber bedeutsame Aspekte seines unmittelbaren Erlebens beziehen und kann diese allmählich differenzieren. Er gewinnt einen detaillierten Bezug zu seinen aktuellen Erlebnisvorgängen.
6
Der Patient erfährt durch die Arbeit an seinem unmittelbaren Erleben Gefühlsänderungen oder eine Verlagerung gefühlter Bedeutungen. Einzelne aktuelle Erlebnisinhalte ändern sich in ihrer Bedeutung für den Patienten oder werden ihm eigentlich erst klar; so kann er vorher unklare bzw. bruchstückhafte Erlebnisinhalte durch sein unmittelbares Erleben für sich deutlich machen. Der Patient ist in der Lage, diese Bedeutungsänderungen zu überdenken und zu verarbeiten. Er macht sie zur Grundlage für seine erlebnismäßig erarbeiteten Absichten und Vorstellungen.
7
Der Patient verfügt über ein klares Bild von seinem unmittelbar ablaufenden Erleben und kann dieses in seinen Äußerungen vermitteln. Er ist in der Lage, sich in seinem wechselnden Erleben zu bewegen, die Bedeutung des Erlebens für ihn selbst zu verstehen und Bedeutungsänderungen in seinen Bezugsrahmen zu integrieren. Sein unmittelbares aktuelles Erleben, der Wechsel von Bedeutungsschwerpunkten und auftretende Bedeutungsänderungen sind ihm eine vertrauenswürdige Basis für Änderungen in seinem Erleben und Verhalten.
10
275 10.2 · Verfahren zur Messung des Therapieprozesses
10
. Tab. 10.2. Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« durch den Psychotherapeuten (nach Tausch, Eppel, Fittkau & Minsel, 1969) Stufe
Beschreibung
1
Der Psychotherapeut spricht die vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens nicht an. Er erwähnt auch nicht die vom Patienten vorgebrachten äußeren Sachverhalte. Seine Äußerung besteht beispielsweise aus einer Belehrung oder Ermahnung.
2
Die Äußerung des Psychotherapeuten greift keine der vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens auf. Sie beschränkt sich auf irgendwelche vom Patienten vorgebrachten äußeren Sachverhalte.
3
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert einen oder einige nebensächliche der vom Patienten ausgedrückten Erlebnisinhalte. Sie erwähnt nicht diejenigen Erlebnisinhalte, auf die der Patient in seiner Äußerung das Hauptgewicht legte; z. B. bezieht sich der Psychotherapeut ausschließlich auf einen Inhalt, den der Patient nur als Beispiel für den Hauptinhalt des Erlebens brachte.
4
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert einen Teil der wesentlichen, vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens. Es fehlen aber andere wesentliche Erlebnisinhalte.
5
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert den überwiegenden Teil der wesentlichen, vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte; es sind aber noch nicht alle wesentlichen Erlebnisinhalte berücksichtigt.
6
Die Äußerung des Psychotherapeuten enthält in genauer Form alle wesentlichen vom Patienten geäußerten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens.
zu Beginn, in der Mitte und am Ende einer Therapiestunde. Was die Seite des Patienten betrifft, so steht das Ausmaß, in dem er sich in seinen Äußerungen mit seinem eigenen Erleben beschäftigt, seine Selbstexploration (SE), im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Therapie. Sie kann mittels der SE-Skala nach Tausch, Eppel, Fittkau und Minsel (1969) eingeschätzt werden, die in 7 Kap. 9.3.3 dargestellt ist. Eine weitere Möglichkeit, die Art der Selbstauseinandersetzung des Patienten einzuschätzen, bietet die von Klein, Mathieu, Gendlin und Kiesler (1969) entwickelte und von Dahlhoff und Bommert (1978) ins Deutsche übersetzte Experiencing-Skala (. Tab. 10.1). »Experiencing« bezeichnet eine spezifische Art des Selbsterlebens, die nach Gendlin (1962) mit wirksamer Psychotherapie eng zusammenhängt (7 Kap. 19). Die Selbstexploration des Patienten (7 oben) hängt außerdem eng zusammen mit dem Grad, in dem der Therapeut in seinen Äußerungen auf die Gefühle des Patienten empathisch eingeht. Auch hierfür haben Tausch et al. (1969) eine Skala entwickelt, mit der das Ausmaß der »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« durch den Psychotherapeuten eingeschätzt werden kann (. Tab. 10.2). Für einen günstigen therapeutischen
Prozess ist die Skalenstufe 4, möglichst eine höhere, anzustreben.
10.2.2
Verfahren zur Einschätzung des Ergebnisses von Therapiestunden
Die Interaktion zwischen Psychotherapeut und Patient wird bei den genannten Verfahren vom Therapeuten selber oder von neutralen Beobachtern eingeschätzt. In Forschung und Praxis werden jedoch auch Verfahren benutzt, mit denen der Patient seine Einschätzung der soeben vergangenen Therapiesitzung (»post session outcome«) wiedergibt. Diese Einschätzungen durch den Patienten selbst haben sich in der Psychotherapieforschung wiederholt als zuverlässiger Prädiktor des Therapieerfolges erwiesen (Ambühl, 1993; Elliott & James, 1989). Sie sind ein Indikator für die Ansprechbarkeit des Patienten, d. h. für seine Aufnahmebereitschaft für die therapeutischen Interventionen. Diese Aufnahmebereitschaft ist eine der wesentlichen Bedingungen für den Therapieerfolg (Ambühl, 1993; Eckert, Bolz & Pfuhlmann, 1979; Eckert, Schwartz & Tausch, 1977; 7 Kap. 8). Ein solcher »Stundenbogen« wurde zunächst von Eckert (1976) entwickelt und wie auch von Am-
276
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
. Tab. 10.3. Die Skalen des Bielefelder Klienten-Erfahrungsbogens BIKEB
10
Skala
Beschreibung
1
Zurechtkommen mit dem Therapeuten/der Therapeutin. Erleben des Therapeuten als verständnisvollen, fürsorglichen und vertrauenswürdigen Beziehungspartner versus Schwierigkeiten bei der Interaktion mit dem Therapeuten. Beispielitem: »Heute fühlte ich mich bei meinem Therapeuten/meiner Therapeutin gut aufgehoben.«
2
Zurechtkommen mit sich selbst. Zugänglichkeit der eigenen Gedanken und Gefühle versus Innere Blockaden und/oder Verwirrung. Beispielitem: »Es fiel mir heute leicht, mich selbst, meine Probleme und mein Erleben ins Auge zu fassen.«
3
Veränderungserleben. Erleben von Veränderungen, neue Einsichten in Zusammenhänge des Verhaltens und Erlebens versus Stagnation des therapeutischen Prozesses. Beispielitem: »Durch das heutige Gespräch bin ich zu einer anderen Sicht meiner Probleme gekommen.«
4
Sicherheit und Zuversicht. Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie in die Überwindbarkeit von Schwierigkeiten und Problemen. Beispielitem: »In diesem Gespräch habe ich mehr innere Sicherheit gewonnen.«
5
Beruhigung. Erleben von Beruhigung, verminderter Erregung und Nervosität versus Beunruhigung und vermehrter Erregung und Nervosität. Beispielitem: »Durch das heutige Gespräch bin ich innerlich irgendwie ruhiger geworden.«
6
Körperliche Entspannung versus Erschöpfung. Körperliches Erleben von Erleichterung, Erholung und Entspannung versus körperliche Anspannung und Erschöpfung. Beispielitem: »Nach dieser Stunde fühle ich mich körperlich erholt und entspannt.«
bühl & Grawe (1988) vorgeschlagen in der Psychotherapieforschung eingesetzt (Ambühl 1993; Grawe, Caspar & Ambühl, 1990). Aus dem zunächst speziell für die Gesprächspsychotherapie im Rahmen einer Dissertation entworfenen Fragebogen von Eckert entwickelten Höger und Eckert (1997) den Bielefelder Klienten-Erfahrungsbogen (BIKEB)1. Er besteht aus sechs faktorenanalytisch begründeten Skalen mit jeweils vier Items (. Tab. 10.3). Eine Möglichkeit für den Therapeuten, seine eigene Sicht vom Therapieprozess zu überprüfen, besteht darin, dass er am Ende der Therapiestunde zugleich mit dem Patienten den BIKEB so bearbeitet, wie seiner Meinung nach der Patient ihn ausfüllt. Der Vergleich mit den tatsächlichen Werten des Patienten gibt Aufschluss darüber, inwieweit der Therapeut die Sicht des Patienten zutreffend antizipiert. Speziell für die Gruppenpsychotherapie vorgesehen ist der Gruppenerfahrungsbogen (GEB; Eckert, 1996b; Strauß & Eckert, 1994)2. Er besteht 1
2
Der Fragebogen BIKEB ist zusammen mit einem Excel-Arbeitsblatt zur Auswertung in der Homepage der Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG) zum Herunterladen hinterlegt: http://www.dpgg.de. Die revidierte Form GEB-1994-R steht in Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (2003) S. 215–218.
aus denen des BIKEB inhaltlich analogen Skalen (»Ärger und Kritik«, »Zurückhaltung und Gehemmtheit«, »Lernerfahrungen und Einsichten«, »Selbständigkeit und Optimismus« und »Wohlbefinden«) und zusätzlich solchen, die sich auf das Gruppengeschehen beziehen: »Verbundenheit und Kohäsion« und »Isolation und negative Gruppenstimmung«.
10.2.3
Fragebogen zur Erfassung der therapeutischen Beziehung
Von Luborsky (Alexander & Luborsky, 1986) stammt der Helping Alliance Questionnaire (HAQ), dessen deutsche Fassung Bassler, Potratz und Krauthauser (1995) vorgelegt haben. Obwohl der HAQ bei Bassler et al. speziell in der stationären Psychotherapie verwendet wurde, ist er ebenso für die ambulante Psychotherapie geeignet. Er besteht aus den beiden faktorenanalytisch begründeten Skalen »Beziehungszufriedenheit« und »Erfolgszufriedenheit«. Seine Anwendung ist nach Luborsky nach der dritten Behandlungsstunde vorgesehen (bei Bassler et al. wurde er den Patienten knapp zwei Wochen nach der stationären Aufnahme vorgegeben), damit bei den Patienten eine hinrei-
277 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
chende Erfahrungsgrundlage besteht. Der HAQ kann jedoch auch danach jederzeit angewendet werden, um die Qualität der therapeutischen Beziehung aus der Sicht des Patienten zu überprüfen. Seine prognostische Validität für den Therapieerfolg ist nach den Ergebnissen von Bassler et al. (1995) zwar signifikant, aber numerisch eher gering. Möglicherweise erhöht sie sich bei einer späteren Anwendung oder wenn, um Zufallsschwankungen der Beziehungsqualität auszugleichen, die Ergebnisse wiederholter Anwendungen kombiniert werden. In jedem Falle liefert der HAQ dem Therapeuten Hinweise über den jeweiligen Stand der therapeutischen Beziehung.
? Übungsfragen 5 Woher stammt der Begriff »Qualitätssicherung«? 5 Was waren die Gründe dafür, dass die wesentlichen Prinzipien der Qualitätssicherung zur Tradition der Gesprächspsychotherapie gehören? 5 Welche Verfahren gibt es zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient? 5 Wozu dienen »Stundenbögen«? 5 Weshalb ist es in der täglichen Praxis sinnvoll, wenn der Therapeut (mit Wissen des Patienten) Einblick in die von ihm abgegebenen Beurteilungen des therapeutischen Prozesses erhält?
10.3 10.2.4
Hinweise zu Anwendung und Interpretation der Verfahren
Bei der Anwendung von Verfahren zur Messung des Therapieprozesses erhebt sich die Frage, ob die bei Patienten erhobenen Ergebnisse dem Therapeuten zugänglich gemacht werden sollen oder nicht. Bei wissenschaftlichen Studien mag es sinnvoll sein, um deren Ergebnisse nicht zu beeinflussen, den Therapeuten während der laufenden Therapie über die Einschätzungen seines Patienten nicht zu informieren. In der alltäglichen Praxis hingegen ist es sinnvoll, dass der Therapeut in die Beurteilungen seines Patienten (mit dessen Wissen) Einblick erhält. Zunächst wird der Patient beim Ausfüllen der Fragebögen veranlasst, zu reflektieren, wie er die Therapie erlebt hat. Darüber hinaus hat er mit einem Fragebogen einen indirekten und damit für ihn oft leichteren Weg, sein Erleben der Stunde dem Therapeuten mitzuteilen. Der Therapeut hat seinerseits die Möglichkeit, auffällige Einschätzungen (besonders gute, schlechte, plötzliche Veränderungen oder auch stereotype Einschätzungen) in der Therapie anzusprechen und mit dem Patienten zu bearbeiten. Er sollte vor allem vergleichen, wie weit seine Einschätzung des Patientenerlebens (Fremdurteil) von der des Patienten (Selbstbeurteilung) abweicht. Bei günstigen Therapieverläufen besteht eine recht gute Übereinstimmung, bei ungünstigen schätzt der Therapeut das Patientenerleben deutlich günstiger ein als der Patient selbst.
10
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses D. Höger
Neben der Überprüfung des Therapieprozesses, die Anlass zu Korrekturen des Therapeutenverhaltens geben und so der Optimierung des Therapieergebnisses in der Praxis dienen kann, geben Verfahren, die eben dieses Ergebnis messen, dem Therapeuten Rückmeldung über das Ergebnis seiner Bemühungen. Auch sie sind Bestandteil der Qualitätskontrolle der Dienstleistung Psychotherapie (Härter, Linster & Stieglitz, 2003). Die Vielfalt der verfügbaren und auch verwendeten Instrumente stellt ein Problem für sich dar. Lambert & Hill (1994, zitiert nach Brähler et al., 2002, S. 9) zählten bei einer Übersicht über die in den Jahren zwischen 1983 und 1988 veröffentlichten 348 Psychotherapieergebnisstudien 1430 verschiedene Ergebnismaße, von denen 840 nur in einer einzigen Studie verwendet worden waren. Die Situation ist heute nicht wesentlich besser. Vergleiche zwischen Psychotherapien unterschiedlicher Therapeuten, Therapiemethoden usw. sind allein aus diesem Grund nur begrenzt möglich. Eine Einigung auf eine allgemein verwendete »Kernbatterie« wäre dringend erforderlich. Sie wird zwar oft gefordert, ist aber bisher nicht erfolgt. Eine auch nur annähernd repräsentative ausführlichere Darstellung der vorhandenen Verfahren, die den Testgütekriterien genügen, würde den Rahmen eines Lehrbuches über ein Psychotherapieverfahren sprengen. Gesprächspsychotherapeuten können sich wie alle anderen Psychotherapeuten über
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10
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
geeignete Verfahren bei Brähler et al. (2002) sowie Tscheulin (2001) informieren. An dieser Stelle soll nur eine kleine Auswahl davon kurz charakterisiert werden. Die vorhandenen Verfahren unterscheiden sich nach ihrer Methodik bei der Wirksamkeitsmessung. Eine der Möglichkeiten besteht darin, am Ende einer Therapie rückblickend im Vergleich zum Beginn der Therapie einzuschätzen, ob, in welche Richtung und in welchem Ausmaß sich Veränderungen ergeben haben. Neben diesen direkten Verfahren gibt es eine weitere, indirekte Methode der Erfolgsmessung, die auch am häufigsten verwendet wird. Hier wird zu Beginn, am Ende der Therapie und möglichst zu einem weiteren katamnestischen Zeitpunkt – z. B. ein Jahr nach Ende der Therapie – der Zustand des Patienten gemessen und dessen Veränderung anhand der Differenzen zwischen den Werten beurteilt. Außer in dieser grundsätzlichen Methodik unterscheiden sich die vorliegenden Verfahren nach ihrem Inhalt, d. h. nach den Merkmalen des Patienten, auf die sie sich beziehen. Einige erfassen den Bereich der Beschwerden bzw. der Symptome, andere Persönlichkeitsmerkmale, wieder andere spezielle Probleme in den sozialen Beziehungen der Patienten. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Verfahren, die einzelne Störungen zum Gegenstand haben (z. B. Essstörungen, Ängste, Depressivität usw.). Letztere sollen hier nicht weiter berücksichtigt werden. Über sie informieren Brähler et al. (2002) und die einschlägige Fachliteratur.
10.3.1
Verfahren zur direkten Erfolgsbeurteilung
Für einen direkten subjektiven Rückblick des Patienten am Ende der Therapie über die von ihm wahrgenommenen Veränderungen ist der Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens (VEV) (Zielke & Kopf-Mehnert, 1978) gedacht. Er liegt auch als Kurzform vor (Kriebel, Paar, Schmitz-Buhl & Raatz, 2001). Ursprünglich für die Messung der Ergebnisse von Gesprächspsychotherapien entwickelt, wurde er inzwischen auch bei anderen Therapieverfahren häufig angewendet. Seine Items erfassen Entspannung, Gelassenheit und Optimismus
auf der einen Seite, Spannung, Unsicherheit und Pessimismus auf der anderen. Anhand der Rohwerte kann in Tabellen abgelesen werden, inwieweit sich aus der Sicht des Patienten im Zeitraum der Therapie statistisch signifikante Veränderungen (Verbesserungen oder Verschlechterungen) ergeben haben.
10.3.2
Verfahren zum Prä-Post-Vergleich
Hier geht es um die Verfahren, die einen Vergleich des Zustandes der Patienten vor (»prä«) und nach der Therapie (»post«) sowie zu einem späteren Zeitpunkt (Katamnese) ermöglichen.
Auf Symptome und Beschwerden bezogene Verfahren Einige der Verfahren zur Messung der Symptome und Beschwerden sind ihrem Schwerpunkt nach auf körperliche Beschwerden gerichtet, andere auf psychische. Vorwiegend körperliche Beschwerden erfasst die Freiburger Beschwerdenliste (FBL-R) von Fahrenberg (1994). Ihre Skalen sind faktorenanalytisch begründet und messen die Intensität von Beschwerden in den Bereichen »Allgemeinbefinden«, »Müdigkeit«, »Herz-Kreislauf«, »MagenDarm«, »Kopf-Hals-Reizsyndrom«, »Anspannung«, »Emotionale Reaktivität«, »Schmerz« und »Sensorik«. Ein Gesamtscore (die Summe aller Einzelskalen) gilt als Maß für die allgemeine Belastung. Ebenfalls körperlich wahrgenommene Beschwerden (Items »rein psychischer« Natur wurden von den Autoren explizit weggelassen) erfasst der Giessener Beschwerdebogen (GBB) von Brähler und Scheer (1995). Er misst das Ausmaß der Schwierigkeiten in den Bereichen Allgemeinbeschwerden, Vegetativum, Schmerzen und Emotionalität. Seine vier Skalen gelten den faktorenanalytisch begründeten Bereichen »Erschöpfung«, »Magenbeschwerden«, »Gliederschmerzen« und »Herzbeschwerden«. Auch hier gibt eine aus der Summe aller Einzelskalen bestehende Gesamtskala den allgemeinen Beschwerdedruck wieder. Vorwiegend psychische Symptome hat hingegen die Symptom-Checkliste von Derogatis – Deutsche Version (SCL-90-R) (Franke, 2002) zum Gegenstand. Auch ihre Skalen sind faktorenanalytisch be-
279 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
gründet und gelten außer dem Gesamtscore für die Gesamtbelastung den Symptombereichen »Somatisierung«, »Zwanghaftigkeit«, »Unsicherheit im Sozialkontakt«, »Depressivität«, »Ängstlichkeit«, »Aggressivität/Feindseligkeit«, »Phobische Angst«, »Paranoides Denken« und »Psychotizismus«. In der psychotherapeutischen Praxis empfiehlt es sich aus zeitökonomischen Gründen, die Kurzform – Brief Symptom Inventory (BSI) – dieses Fragebogens (Franke, 2000) einzusetzen. Ebenfalls psychischen Störungsbereichen ist die Kieler änderungssensitive Symptomliste (KASSL) von Zielke (1979) gewidmet. Sie wurde im Rahmen der Forschung zur Gesprächspsychotherapie entwickelt und besteht aus den Skalen »Soziale Kontaktstörung« (SK), »Verstimmungsstörungen« (Ve), »Berufsschwierigkeiten« (Be) sowie »Konzentrations- und Leistungsschwierigkeiten« (KL). Die allgemeine Symptombelastung (Sb) ergibt sich wieder aus der Summe der vier Einzelskalen. Eine Besonderheit der KASSL ist, dass in der ersten von zwei weiteren Skalen Items zusammengefasst sind, die sich als durch Gesprächspsychotherapie signifikant veränderbar erwiesen haben (»Sensitivität«) und in einer zweiten solche, die sich im Unterschied dazu als wenig veränderbar erwiesen haben (»Insensitivität«). Zur Einschätzung der durch psychische und körperliche Beschwerden bedingten Beeinträchtigung werden in der Praxis häufig zwei Maße erhoben: Das psychosoziale Funktionsniveau mit Hilfe der GAF-Skala der Achse V des DSM-IV (American Psychiatric Association, 1996) und der Beeinträchtigungs-Schwere-Score (Schepank, 1995), der die Auswirkung einer psychogenen Erkrankung in den Bereichen »körperliche Beeinträchtigung«, »Psychische Beeinträchtigung« und »Sozialkommunikative Beeinträchtigung« erfasst.
Auf Persönlichkeitsmerkmale bezogene Verfahren Die Trennung zwischen Verfahren, die auf Symptome bezogen sind, und solchen, die Persönlichkeitsmerkmale messen, ist nicht immer scharf möglich. An der Grenze zwischen diesen beiden Bereichen kann der neuerdings entwickelte Inkongruenzfragebogen (INK) von Grosse-Holforth und Grawe (2003) eingeordnet werden. Er dient der Messung
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des Persönlichkeitsmerkmals »Inkongruenz zwischen gewünschten und ereichten Zielen«, wird aber primär zur Erfassung von (psychischen) Beschwerden eingesetzt wie Symptombelastung, Depressivität, Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Neurotizismus, mit denen er hoch korreliert. Kritisch ist allerdings zu bemerken, dass die Bezeichnung dieses Fragbogens ebenso wie die Empfehlung der Autoren, ihn zur »Inkongruenzmessung« in Forschung und Praxis einzusetzen, irreführend ist, und zwar deshalb, weil mit ihm »Inkongruenz« nicht im Sinne des im Klientenzentrierten Konzept definierten Konstrukts (»Inkongruenz zwischen der Erfahrung und ihrer Repräsentation im Selbst«) operationalisiert wird (7 Kap. 3.3.4), die tatsächlich gemeinte »Inkongruenz« bei der Benennung unter den Tisch fällt. Zugleich Beschwerden wie auch Persönlichkeitsmerkmale erfasst der Trierer Persönlichkeitsfragebogen (seelische Gesundheit) TPF von Becker (1989). Seine neun Skalen erfassen die Konstrukte »Verhaltenskontrolle«, »Seelische Gesundheit«, »Sinnerfülltheit versus Depressivität«, »Selbstvergessenheit versus Selbstzentrierung«, »Beschwerdefreiheit versus Nervosität«, »Expansivität«, »Autonomie«, »Selbstwertgefühl« und »Liebesfähigkeit«. Eine lange Tradition bei der Evaluation von Therapieergebnissen im Bereich der Persönlichkeit hat der auf psychoanalytischer Grundlage entwickelte Gießen-Test (GT) von Beckmann, Brähler und Richter (1991). Insbesondere bei tiefenpsychologisch orientierten Verfahren angewendet, messen seine sechs Skalen die Konstrukte »Soziale Resonanz« (wie zeigt sich der Patient in der sozialen Interaktion, wie wird er – seiner eigenen Meinung nach – von anderen gesehen), »Dominanz« (dominant versus gefügig), »Kontrolle« (unterkontrolliert versus zwanghaft), »Grundstimmung« (hypomanisch versus depressiv), »Durchlässigkeit« (Urvertrauen versus Urmisstrauen und Autonomie versus Scham und Zweifel) sowie »Soziale Potenz« (sozial potent versus sozial impotent). Ebenfalls eine lange Tradition, außerdem einen weiten Anwendungsbereich hat das faktorenanalytisch fundierte Freiburger Persönlichkeitsinventar FPI-R von Fahrenberg, Hampel und Selg (2001) mit den Skalen »Lebenszufriedenheit«, »Soziale Orientierung«, »Leistungsorientierung«, »Gehemmtheit«,
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Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
»Erregbarkeit«, »Aggressivität«, »Beanspruchung«, »Körperliche Beschwerden«, »Gesundheitssorgen« und »Offenheit« mit den übergeordneten Skalen, die die zusammenfassenden Sekundärfaktoren »Extraversion« und »Emotionalität (Neurotizismus)« im Sinne von Eysenck (1952) repräsentieren. Speziell in der heutigen Therapieforschung werden sowohl der Gießen-Test als auch das FPI kaum noch eingesetzt. Eine weniger lange Tradition, jedoch einen größeren Differenzierungsgrad hat das ebenfalls faktorenanalytisch begründete NEOFünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI) von Borkenau und Ostendorf (1993). Wie der Name besagt, entsprechen seine Hauptskalen dem in der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung aktuellen Modell der »Big-Five« zur Beschreibung von Persönlichkeiten nach Goldberg (1990): »Neurotizismus«, »Extraversion«, »Offenheit für Erfahrung«, »Verträglichkeit« und »Gewissenhaftigkeit«. Jede der fünf Skalen gliedert sich in weitere fünf inhaltlich verschiedene Facetten. Für den Faktor »Neurotizismus« beispielsweise sind dies »Ängstlichkeit«, »Reizbarkeit«, »Depression«, »Soziale Befangenheit«, »Impulsivität« und »Verletzlichkeit«. Diese Aufgliederung erlaubt eine sehr differenzierte Beschreibung von Veränderungen der Person. Eher formal als inhaltlich begründet erscheint allerdings die Tatsache, dass alle Skalen in gleich viele Facetten aufgeteilt werden. Speziell am Klientenzentrierten Persönlichkeitskonzept orientiert ist das »Feelings, Reactions and Beliefs Survey« (FRBS). Es wurde von Cartwright (Cartwright, de Bruin & Berg,1991; Cartwright & Mori, 1988) entwickelt und von Höger (1995) in einer deutschen Adaptation vorgelegt3. Seine neun Skalen beschreiben Merkmalsbereiche, die nach Rogers kennzeichnend sind für kongruente, reife im Vergleich zu inkongruenten bzw. unreifen Personen: 1. »Focusing conscious attention« (FCA): Sich auch bei Ablenkung oder unter Stress disziplinieren und längere Zeit auf einen bestimmten Gegenstandsbereich konzentrieren zu können. 2. »Openness to feelings in relationships« (OFR): Offenheit für das Erleben von Gefühlen in Beziehungen. 3. »Trust in self as an organism« (TSO): Das Vertrauen in die eigene Person als einen lebendigen
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9.
Organismus und in deren eigene Urteile und Bewertungen. »Fully functioning person« (FFP): Geringe Abwehr von Gefühlen, Freude am Leben im Hier und Jetzt, Wertschätzung der eigenen Person mit ihren Stärken und Schwächen. »Feeling uncomfortable with people« (FUP): Gefühle der Verunsicherung, der Spannung und des Unbehagens in Beziehungen zu Menschen oder in sozialen Situationen. »Struggling with feelings of inferiority« (SFI): Tiefgehende Verunsicherung der Person, Selbstzweifel, ängstliche Erwartung, andere würden sich als klüger und kompetenter erweisen als man selbst. »Feeling ambivalent in relationships« (FAR): Gewahrwerden von zugleich positiven und negativen Gefühlen gegenüber anderen, auch Freunden. »Openness to transcendent experiences« (OTE): Die mehr oder weniger vorhandene Überzeugung, über intuitive, irrationale und transzendentale psychische Fähigkeiten jenseits der Rationalität und der üblichen »fünf Sinne« zu verfügen. »Religio-spiritual beliefs« (RSB): Religiöse Überzeugungen als ein wesentlicher Teil des Lebens, unabhängig von Konfessionen; spirituelle Bedürfnisse.
In mehreren Faktorenanalysen wurden diese Skalen drei übergeordneten Gruppen zugeordnet: 1. »Allgemeine Funktionstüchtigkeit« mit den Skalen FCA und FFP versus SFI, 2. »Beziehungsfähigkeit« mit den Skalen OFR versus FUP und FAR und 3. »Religiös-transzendentale Basis existenziellen Vertrauens« mit den Skalen OTE, RSB und TSO.
3
Der Fragebogen FRBS ist zusammen mit einer näheren Beschreibung und einem Excel-Arbeitsblatt zur Auswertung in der Homepage der Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG) zum Herunterladen hinterlegt: http://www.dpgg.de.
281 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
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. Abb. 10.1. Zirkumplexmodell der IIP-Skalen (nach Horowitz, Strauß & Kordy, 2000)
Auf Beziehungsprobleme bezogene Verfahren Während mit dem FRBS Beziehungsprobleme nur mit erfasst werden, ist das Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme (IIP-D) von Horowitz, Strauß und Kordy (2000) speziell diesem Aspekt gewidmet. Mit diesem Fragebogen kann der Patient seine Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen beschreiben. Seine theoretische Grundlage ist ein zweifaktorielles Modell des interaktiven Verhaltens, dessen beide Dimensionen sowohl in der Emotionsforschung (Ertel, 1964), in der Psychologie des Erziehungsverhaltens (Tausch & Tausch, 1998) und in der Analyse des Sozialverhaltens (Leary, 1957; Tress, 2002) immer wieder gefunden wurden. Die erste dieser beiden Dimensionen stellt den Gegensatz zwischen Zuneigung/Fürsorge mit freundlichem bis liebevollem Verhalten einerseits und Abneigung/ Feindseligkeit andererseits dar. Die zweite Dimension gibt den Gegensatz zwischen Macht, Kontrolle, Dominanz auf der einen, und Unterwürfigkeit auf der anderen Seite wieder. Bildet man mit dem aus diesen beiden Dimensionen gebildeten Achsenkreuz ein Kreisschema mit je einer weiteren Position in den vier Quadranten (. Abb. 10.1), so ergibt sich ein Zirkumplexmodell mit acht Skalen für die Beziehungsprobleme »zu autokratisch/dominant«, »zu streitsüchtig/konkurrierend«, »zu abweisend/kalt«, »zu introvertiert/sozial vermeidend«, »zu selbstunsicher/unterwürfig«, »zu ausnutzbar/nachgiebig«, »zu fürsorglich/freundlich« und »zu expressiv/aufdringlich«.
10.3.3
Hinweise für die Anwendung und Interpretation
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Psychotherapien mit geeigneten Verfahren gehört zur Tradition der Gesprächspsychotherapie und ist inzwischen auch allgemeiner professioneller Standard von Psychotherapie. In aller Regel sind die Patienten bereit, dabei mitzuarbeiten. Sie tun dies besonders gerne, wenn ihnen erklärt wird, dass damit der Erfolg ihrer Therapie überprüft und mit ihnen am Ende besprochen werden soll (was dann natürlich auch wirklich angeboten werden muss). Solche Rückmeldungen sind für beide Seiten aufschlussreich. Den Therapeuten wird empfohlen, eine Kernbatterie aus geeigneten Verfahren für alle Patienten zusammenzustellen, die sie regelmäßig einsetzen und möglichst mit Kollegen, sei es aus ihrer Supervisionsgruppe, sei es aus gemeinsamen Arbeitsgruppen, abstimmen. Dieser Kernbatterie können sie von Fall zu Fall Verfahren hinzufügen, die sich auf die besonderen Probleme/Symptome des jeweiligen Patienten beziehen. Die Kernbatterie sollte möglichst Fragebögen erstens zu allgemeinen Beschwerden/Symptomatik, zweitens zur Persönlichkeit und drittens zu interpersonalen Beziehungen enthalten. Ein Ziel der Therapie ist, die Symptomatik zu verbessern, derentwegen der Patient die Therapie aufgesucht hat. Weiterhin sollten auch konstruktive Veränderungen der Persönlichkeit des Patienten und seiner interpersonalen Beziehungen abgebildet werden, denn die Klientenzentrierte Theorie der Gesprächspsychotherapie
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Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
postuliert, dass Beschwerden und Symptome auf einer ungünstigen Entwicklung der Person und ihrer Beziehungen mit anderen beruhen (7 Kap. 5). Patienten, die sich für eine Gesprächpsychotherapie entschieden haben, erwarten meistens auch Veränderungen in diesen Bereichen. Es ist also angebracht, auch diese Veränderungen zu dokumentieren. Gelegentlich wird gegen die Verwendung von Persönlichkeitsfragebogen bei der Evaluation von Therapieergebnissen eingewendet, sie seien auf stabile Persönlichkeitsmerkmale hin konstruiert und deshalb für eine Messung von Veränderungen nicht geeignet. Oft wird dabei auch auf die Stabilität dieser Verfahren verwiesen, d. h. auf die hohen Korrelationen zwischen den Ergebnissen zu verschiedenen Messzeitpunkten. Bei diesem Einwand wird nicht bedacht, dass in der Normalbevölkerung Ereignisse, die Veränderungen der Persönlichkeit bedingen, eher selten sind. Deswegen erweisen sich die Ergebnisse von Persönlichkeitsfragebögen dann auch als stabil. Anders verhält es sich jedoch bei einer effizienten Psychotherapie, die einen besonderen äußeren Einfluss darstellt mit dem Ziel und Effekt einer mehr oder weniger großen Veränderung der Person. Um solche Veränderungen zu dokumentieren, sind reliable Persönlichkeitsfragebögen gut geeignet. Wenn es um die Bewertung der Veränderungen von Persönlichkeitsmerkmalen geht, ist es wichtig, die Ausgangslage und die gewünschte Richtung der Veränderung zu beachten. Ein Therapieerfolg kann in Abhängigkeit von der Ausgangslage sowohl in einer Erhöhung als auch in einer Abnahme der Merkmalsausprägung bestehen. Beispielsweise werden sich bei der Skala »Verträglichkeit« des NEO-FFI allzu verträgliche Menschen nach erfolgreicher Therapie eher in Richtung geringerer Verträglichkeit entwickeln, auffallend unverträgliche eher in Richtung größerer Verträglichkeit. Analog verhält es sich bei der Skala »Gewissenhaftigkeit« dieses Verfahrens. Die Werte besonders Gewissenhafter (z. B. bei einer Zwangsstörung) dürften nach erfolgreicher Therapie eher abgenommen haben, eingangs auffallend wenig Gewissenhafte sollten sich eher in Richtung höherer Werte entwickeln. Mehrdeutig sind auch Veränderungen bei der Skala OFR (Openness to Feelings in Relationships) des FRBS. Je nach Art ihrer Störung können Patienten zunächst entweder
besonders niedrige Werte haben (z. B. wenn sie beziehungsrelevante Gefühle nicht symbolisieren können), oder aber besonders hohe (z. B. wenn sie sich ihrer Probleme in Beziehungen bewusst sind und unter ihnen besonders leiden). Je nachdem ist nach einer erfolgreichen Psychotherapie zu erwarten, dass die Skalenwerte zu- bzw. abgenommen haben. ! Wegen dieser Vieldeutigkeit empfiehlt es sich, diese Skalen, die für das Verstehen von individuellen Veränderungen hoch bedeutsam sind, speziell bei Wirksamkeitsstudien von vorne herein (nicht erst nachträglich!) bei der Auswertung nicht zu berücksichtigen. Wegen ihrer fallabhängigen Mehrdeutigkeit sind – von Sonderfällen abgesehen – keine signifikanten Ergebnisse zu erwarten.
Die Beurteilung von Wirksamkeitsstudien erfolgt in der Fachwelt vor allem bei Metaanalysen, die die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassen, meistens rein formal, indem die Wirksamkeit eines Verfahrens danach beurteilt wird, in wie vielen von den erhobenen Variablen Veränderungen nachgewiesen werden konnten. Variable, die von vorne herein ihrer Mehrdeutigkeit halber keine einheitliche Richtung der Veränderung erwarten lassen, schlagen dann ungünstig zu Buche. Es kann vorkommen, dass bei Therapien, die vom Therapeuten seinem Eindruck nach als erfolgreich eingeschätzt werden, die Testwerte eine Verschlechterung anzeigen. Das kann (!) daran liegen, dass z. B. Patienten mit psychosomatischer Symptomatik, die zu Beginn ihrer Behandlung bei sich keine psychischen Beschwerden wahrnehmen, diese nach einer erfolgreichen Psychotherapie zunehmend im Bewusstsein symbolisieren. Die Folge ist dann, dass sie ihre psychische Symptombelastung nach der Therapie stärker beschreiben als davor. Therapeuten sollten sich jedoch der Gefahr bewusst bleiben, dass sie sich mit solchen Argumenten tatsächliche Misserfolge »schön erklären« können. Sie können dem entgegenwirken, indem sie entsprechende Erwartungen bereits zu Beginn der Therapie (z. B. bei besonders »normalen« Testbefunden) formulieren und auch schriftlich dokumentieren. In der Praxis sehr verbreitet sind individuelle Therapieziele, die Patient und Therapeut bei Behandlungsbeginn gemeinsam festlegen. In der Regel
283 10.4 · Supervision
werden drei mögliche Ziele vereinbart und auch festgelegt, woran man erkennen kann, ob das Ziel ganz oder teilweise erreicht worden ist. Eine Anleitung zum Vorgehen findet sich z. B. bei Heuft & Senf (1998). Am Ende der Behandlung wird dann der Grad der Therapiezielerreichung von Patient und Therapeut eingeschätzt. ? Übungsfragen 5 Welche beiden methodischen Grundprinzipien gibt es für die Überprüfung des Therapieergebnisses? 5 Weshalb ist es sinnvoll, außer Veränderungen der Beschwerden auch solche im Bereich der Person des Patienten und seiner Beziehungen zu dokumentieren? 5 Welche Einwände werden gegen die Verwendung von Persönlichkeitsfragebögen vorgebracht und wie sind sie zu entkräften? 5 Warum ist bei manchen Skalen von Persönlichkeitsfragebögen bei erfolgreicher Psychotherapie keine einheitliche Veränderung zu erwarten? 5 Wann können bei an sich erfolgreichen Therapien Verschlechterungen der Testwerte vorkommen? Auf welche Gefahr muss der Therapeut dabei achten und wie kann er ihr entgehen? 5 Wie kann man individuelle Therapieziele messen?
10.3.4
Weiterführende Literatur
Brähler, E., Schumacher, J. & Strauß, B. (Hrsg.). (2002). Diagnostische Verfahren in der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. (Kompendium vieler für den Einsatz in der Psychotherapie geeigneter diagnostischer Verfahren) Härter, M., Linster, H. W. & Stieglitz, R.-D. (Hrsg.). (2003). Qualitätsmanagement in der Psychotherapie. Grundlagen, Methoden und Anwendung. Göttingen: Hogrefe. (Einführung in Grundlagen und Methoden der Qualitätssicherung in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie) Tscheulin, D. (2001). Würzburger Leitfaden (WLF) zur Verlaufsund Erfolgskontrolle Personzentrierter Beratung und Psychotherapie (Version 3: neu überarbeitet und ergänzt). Köln: GwG. (Eine umfassende Sammlung speziell für die Gesprächspsychotherapie geeigneter diagnostischer Verfahren zu Therapieprozess und -ergebnis)
10.4
10
Supervision E.-M. Biermann-Ratjen
10.4.1
Geschichte und Definition
Die Supervision der psychotherapeutischen Tätigkeit, die sog. Fallsupervision, war in Deutschland von Anfang an ein integraler Bestandteil der Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und nach deren Abschluss: Die Satzungen gesprächspsychotherapeutischer Fachverbände, z. B. der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG), schrieben von Beginn an den Nachweis einer fortlaufenden berufsbegleitenden Kontrolle der psychotherapeutischen Tätigkeit vor (Informationsblätter der GwG, 1970). Diese Supervision erfolgte in der Ausbildung z. B. in Gruppen angeleitet durch eine entsprechend qualifizierte Person, nach Abschluss der Ausbildung konnte sie auch ohne formalen Leiter als sog. kollegiale Supervision bzw. Intervision (7 unten) stattfinden. Es wird versucht, diese Tradition auch nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes, in dem es keine Regelungen für die Zeit nach der Ausbildung gibt, fortzusetzen. Die Fortbildungsordnungen aller deutschen Psychotherapeutenkammern sehen Supervision als Fortbildungsinhalt vor. Definition »Supervision bezeichnet einen berufsbezogenen Reflexions- und Lernprozess, der an eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen gebunden ist. Sie dient der systematischen Bearbeitung von Problemen beruflichen Handelns, der Erweiterung bzw. Verbesserung persönlicher und berufspraktischer Kompetenzen und der emotionalen Unterstützung in schwierigen beruflichen Situationen« (Auckenthaler, 2003b, S. 298).
Ellis, Ladany, Krengel und Schult (1996, S. 37, zitiert nach und übersetzt von Auckenthaler, 1999, S. 140) haben die Supervision von Psychotherapie so definiert:
284
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Definition »Eine intensive Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die den Zweck hat, die Entwicklung der therapeutischen Kompetenz des Supervisanden zu fördern.«
10.4.2
10
Theorien der Supervision von Psychotherapie in der akademischen Psychologie
Bevor auf die Besonderheiten der Supervisionspraxis im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts eingegangen wird, sei zunächst ein Überblick über die Diskussion der Supervision von Psychotherapie in der Akademischen Psychologie durch Auckenthaler (1999) referiert. Psychotherapie ohne Supervision durchzuführen gilt als »höchst suspekt« (Watkins, 1997, S. 603). 1995 befanden sich (Willutzki, 1995) im deutschen Sprachraum drei Viertel der Psychotherapeuten in regelmäßiger Supervision. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema Supervision stammt aber ganz überwiegend aus den USA. In dieser ist unstrittig, dass unter der therapeutischen Kompetenz, die es durch Supervision zu fördern gilt, nicht allein Wissensaspekte oder praktische Fertigkeiten (»skills«) zu verstehen sind. Vielmehr soll Supervision auch die kritische Auseinandersetzung des Therapeuten mit der therapeutischen Beziehung und, soweit das für die Reflexion der therapeutischen Beziehung relevant ist, mit seiner eigenen Person ermöglichen bzw. erleichtern. Unstrittig ist auch, dass die intensive Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die diese selbstkritische Auseinandersetzung mit dem therapeutischen Handeln und u. U. auch mit sich selbst beim Supervisanden ermöglichen soll, durch Respekt, Akzeptanz, Vertrauen und »Fehlerfreundlichkeit« gekennzeichnet sein muss (z. B. Allen, Szollos & Williams, 1996; Auckenthaler, 1995; Carifio & Hess, 1988; Martin, Goodyear & Newton, 1987; Worthen & McNeill, 1996). Im Laufe der letzten Jahre sind die Aspekte des Patientenschutzes zunehmend betont worden. Damit geht einher, dass die edukative und bewertende Funktion und auch die administrative und die kon-
trollierende Funktion der Supervision immer mehr Gewicht bekommen. »Hauptperson der Fallsupervision ist – wie in der Psychotherapie – nicht der Therapeut (z. B. Bernard & Goodyear, 1998; Carrol, 1996; Rich, 1993; Stone, 1994); der Vorrang des Wohls der Patienten ist inzwischen auch in ethischen Richtlinien verankert (z. B. die ethischen Richtlinien der British Association for Counseling, Education and Supervision, Bernard & Goodyear, 1998).« (Auckenthaler, 1999, S. 140). Der Supervisor wird auch zunehmend ganz klar in die Pflicht genommen, dem Supervisanden seine Einschätzung mitzuteilen und gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass der Supervisand kein Zertifikat bekommt, nicht mehr als Therapeut tätig sein kann, rechtzeitig – im Sinne der Chancenwahrung – auf die Notwendigkeit oder Möglichkeit weiterer eigener Therapie hingewiesen wird. Während früher Supervisionsmodelle vorherrschten, die aus Therapiemodellen abgeleitet worden waren, geht der Trend derzeit ganz eindeutig hin zu Modellen, in denen das Besondere der Supervision in Abgrenzung von anderen sozialen Situationen wie Psychotherapie oder Unterricht betont wird. Die Psychotherapietheorien spielen aber unverändert eine große Rolle, wenn es z. B. darum geht zu erläutern, was genau unter der Verbesserung der therapeutischen Kompetenzen zu verstehen ist oder worauf zu achten ist, damit das Wohl des Patienten gewährleistet ist. »…und der Ansatz, der dem therapeutischen Handeln eines Supervisors zugrunde liegt, wird ihn natürlich auch in seinem Supervisionshandeln beeinflussen« (Auckenthaler, 1999, S. 14). Für die psychoanalytisch/psychodynamisch orientierte Supervision (z. B. Binder & Strupp, 1997) lässt sich als gemeinsamer Nenner die Fokussierung auf die Bewusstmachung und Bearbeitung der Konflikte sowie auf die Beziehungsdynamik zwischen Patient, Therapeut und Supervisor angeben. Historisch betrachtet hat sich in den neueren Supervisionsmodellen vor allem die »ungarische Position« durchgesetzt – aus der sich die Balintgruppen ableiten –, wonach es in der Supervision um die Aufdeckung der blinden Flecken des Therapeuten
285 10.4 · Supervision
und um seine Gegenübertragungsreaktionen in der Beziehung zum Patienten gehen soll. Ausgehend von der Annahme, dass sich die Beziehunsgdynamik zwischen dem Supervisanden und seinem Patienten (unbewusst) in der Beziehung des Supervisanden zum Supervisor manifestiert – dem »Spiegel(ungs)phänomen« (parallel process), nutzt der Supervisor die Beziehung zwischen sich und dem Supervisanden als Datenquelle zum Verstehen der therapeutischen Beziehung. Dieses Konzept hat auch außerhalb psychoanalytischer/psychodynamischer Ansätze große Verbreitung gefunden (Bernard & Goodyear, 1998, S. 63ff.; Carrol, 1996, S. 103 ff.). Es spielt auch in der am Klientenzentrierten Ansatz orientierten Supervision eine große Rolle, in deren Zentrum die Reflexion der therapeutischen Beziehung steht, vor allem die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit es dem Therapeuten gelingt – bzw. wie erfolgreich er in seinem Bemühen ist –, den Patienten in seinen Erfahrungen empathisch bedingungsfrei positiv zu beachten und dabei kongruent zu bleiben. Aspekte der Wissensvermittlung im Sinne von Unterrichten haben in der klientenzentrierten Supervision einen eher peripheren Stellenwert: Es geht mehr um das Lernen durch Reflexion der eigenen Erfahrung. Um das zu ermöglichen, sorgt der Supervisor für möglichst angstfreie Interaktionsbedingungen. Sie sind den für den therapeutischen Prozess notwendigen Bedingungen ähnlich. Trotzdem unterscheidet sich die Supervision von der Therapie, denn es geht in der Supervision ja nicht um die Persönlichkeitsentwicklung oder um eine gezielte Behandlung der persönlichen Probleme des supervidierten Therapeuten, sondern um die Reflexion seiner Beziehung zum Patienten. Es wird versucht, die bei dieser Reflexion sichtbar werdenden Probleme des Therapeuten durch Verstehen aufzulösen, was in der Regel gelingt, wenn sie Ausdruck einer sekundären Inkongruenz sind. Sind sie aber Ausdruck einer primären Inkongruenz (7 Kap. 5.4.4 und 9.1.1), was u. a. dadurch sichtbar wird, dass sie sich in anderen Therapien wiederholen, ist nicht die Supervision, sondern eine Therapie der geeignete Ort für ihre Bearbeitung. Die Bedeutung einer angstfreien auch im Sinne von fehlerfreundlichen Lernatmosphäre wird auch in der kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierten Supervision betont, die als Prototyp einer didak-
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tischen und ergebnisorientierten Supervision gilt, in der das Hauptgewicht auf dem Lernen von Theorie und Techniken und der Vermittlung von therapeutischen Fertigkeiten liegt. Es ist auch auf der Basis von empirischen Untersuchungen ausformuliert worden, was Supervisoren tatsächlich tun und tun sollten, u. a. wurden sog. Rollenmodelle von Supervision (Carroll, 1996; Holloway, 1995) herausgearbeitet. Demnach sind die Aufgaben von Supervisoren – mit unterschiedlichem Gewicht je nach theoretischer Orientierung und institutionellem Kontext mit mehr oder weniger Bedarf an Konsultation – folgende (zitiert nach Auckenthaler, 1999, S. 144):
Aufgaben von Supervisoren 5 Herstellung einer sicheren Arbeitsbeziehung, Unterstützung des Supervisanden (d. h. sich empathisch auf ihn einstellen, ihn ermutigen und ihn konstruktiv konfrontieren) 5 Unterweisung und Anleitung des Supervisanden 5 Modell für den Supervisanden sein 5 Ihn zum Nachdenken über die eigenen emotionalen Reaktionen in Bezug auf den Patienten und den Supervisor ermuntern 5 Ihm Nachfragen stellen, die das Ziel haben, zu einem besseren Verständnis des Patienten und der therapeutischen Beziehung zu gelangen und alternative Handlungsmöglichkeiten herauszuarbeiten 5 Das therapeutische Handeln des Supervisanden bewerten, professionelle und ethische Standards überwachen 5 Sich mit dem institutionellen Kontext, in dem der Supervisand arbeitet, und dem Kontext, in dem die Supervision erfolgt, auseinandersetzen
Idealerweise sollte jeder Supervisor entscheiden können, wann gerade welche dieser Aufgaben ansteht, und er sollte im Prinzip jede der genannten Aufgaben übernehmen können und so je nach Situation Lehrer, Therapeut und sachkundiger Berater sein können.
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Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Diese aufgabenbezogenen Rollenmodelle weisen eine hohe Übereinstimmung mit den ethischen Richtlinien auf, wie sie z. B. in den »Ethical Guidelines for Clinical Supervisors« der Association for Counseling, Education and Supervision der British Association for Conseling formuliert worden sind (Bernard & Goodyear, 1998). Es sei aber auch betont: »Den Prozess des Nachdenkens zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, wird inzwischen als eine Aufgabe gesehen, die zu allen Rollen passt, die von Supervisoren verlangt werden (Neufeldt, Karno & Newton, 1996)« (Auckenthaler, 1999, S. 144).
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! Effekte der Supervision »Von den Effekten der Supervision auf die therapeutischen Kompetenzen der Supervisanden sind vor dem Hintergrund der Behauptung von der qualitätssichernden Funktion der Supervision vor allem solche Effekte von Interesse, von denen erwartet werden kann, dass sie in einem besonders engen Zusammenhang mit dem Therapieerfolg stehen. Da man weiß, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung (wahrgenommen aus der Perspektive des Patienten) der beste Prädiktor für den Therapieerfolg ist (Orlinsky, Grawe & Parks, 1994), ist z. B. der in vielen Untersuchungen nachgewiesene positive Einfluss der Supervision (genauer: von Psychotherapieausbildungen, die Supervision mit umfassen) auf die interpersonellen Fähigkeiten bzw. die Beziehungsqualitäten der Therapeuten (Lambert & Ogles, 1997; Stein & Lambert, 1995) ein Ergebnis, das sich als Argument für den Stellenwert der Supervision anbietet. Es ist erfreulicherweise auch das am besten gesicherte Ergebnis« (Auckenthaler, 1999, S. 147).
Auckenthaler merkt einschränkend an, dass der Nachweis der Verbesserung der interpersonellen Fähigkeiten bisher aber fast ausschließlich in Analogsituationen und nicht in realen Therapiesituationen geführt worden sei. Außerdem sei die Verbesserung der interpersonellen Fähigkeiten auch keineswegs für jede Supervision nachgewiesen. Ein weiteres immer wieder bestätigtes Ergebnis der Supervisionsforschung ist, dass Supervisanden offenbar sehr leicht zufrieden zu stellen sind (Albott, 1984), weshalb die sog. Zufriedenheitsforschung in diesem Rahmen heute nicht mehr sonderlich geschätzt wird.
10.4.3
Praxis der Supervision von Psychotherapie
Supervision findet unter vielen unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt: 4 Im Setting Einzel- oder Gruppensupervision 4 Im Rahmen der Ausbildung zum Psychotherapeuten oder berufsbegleitend 4 In geleiteten oder ungeleiteten Supervisionsgruppen 4 Unter Verwendung verschiedener Datenquellen Supervisionsformen. Es gilt zwei Formen von Grup-
pensupervision voneinander zu unterscheiden: 4 die Besprechung der psychotherapeutischen Arbeit in der Gruppe und 4 die Supervision einer Gruppe, die auch außerhalb der Supervision als Team zusammenarbeitet. In dieser sind vorrangig Interaktionsprobleme zwischen den Gruppenmitgliedern und ihre Probleme in der Institution, in die sie eingebunden sind, Thema. Der Prototyp dieser Form der Supervision ist die »Teamsupervision«. In beiden Formen von Gruppensupervision stehen die Gruppenprozesse (7 Kap. 16) selbst nicht imVordergrund, können und sollten aber reflektiert und als zusätzliche Datenquelle genutzt werden. Typisch für die Supervision der psychotherapeutischen Arbeit in der Gruppe ist die sog. Balintgruppe. Sie arbeitet als Supervisionsgruppe nach psychoanalytischen Prinzipien (7 oben). Die Gruppenmitglieder sind beruflich und privat voneinander unabhängig. Kollegiale Supervision, »peer group super vision« oder »intervision«, die auf einen Leiter verzichtet, hat konsultativen Charakter. Bei dieser Form der Supervision in der Gruppe sollten zwischen den Gruppenmitgliedern keine Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, sie sollten z. B. nicht in ein und derselben Institution arbeiten. Viele Supervisoren teilen die Beobachtung, dass je mehr »verordnete« Supervision es gibt, d. h. je mehr Supervision nicht mehr ein Angebot, sondern eine Verpflichtung ist, deren Einhaltung kontrolliert wird – z. B. im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen – bzw. für die es »Fortbildungspunkte« von Ärzte- und Psychotherapeutenkammern gibt,
287 10.4 · Supervision
desto mehr entfernt sie sich von der Ausbildungssupervision, wird Intervision und Konsultation. Frequenz und Dauer. Typisch für Fallsupervisionen ist, dass sie regelmäßig und verteilt über einen längeren Zeitraum stattfinden. Besonders häufig scheint Supervision im Abstand von 14 Tagen zu sein mit einer Dauer von 90 Minuten. Es gibt Supervision aber auch in größeren Abständen und als Tagesoder Wochenendblöcke. Datenquellen. Die häufigste Methode der Fallreprä-
sentation ist die mündliche Darstellung bzw. die Abbildung der therapeutischen Beziehung in dieser. Es gibt aber auch schriftliche Darstellungen, und diese auch in der Form von Fragebögen, sog. Therapieerfahrungsbögen. Die Verwendung von Tonbandaufzeichnungen geht auf Rogers und die klientenzentrierte Tradition zurück. In der Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeuten ist sie immer noch verpflichtend. Sie ermöglicht eine besonders genaue Überprüfung der therapeutischen Beziehung und eignet sich auch für die Forschung. Es werden auch Videoaufzeichnungen benutzt, diese spielen aber wegen des hohen Aufwandes sowohl bei der Aufnahme als auch bei ihrer Vorführung eine nur untergeordnete Rolle. Ebenfalls selten – mit Ausnahme von Supervisionen in der systemischen Familientherapie – ist die Livebeobachtung, z. B. durch die Einwegscheibe, sowie die Livesupervision: In dieser kann sich der Supervisor direkt, telefonisch oder in einer Behandlungspause in die Therapie einschalten. Methoden der Fallbesprechung. Man kann die
Methoden der Fallbesprechung auch nach der Supervisionsaufgabe und nach dem Grad ihrer Ausarbeitung voneinander unterscheiden. Die Unterscheidung nach der Supervisionsaufgabe, z. B. ob es mehr um Bewertung oder Anleitung, Reflexion oder Auffinden von Handlungsmöglichkeiten geht, hat ihre Grenzen. Das Rollenspiel eignet sich z. B. in allen diesen Fällen. Der Grad der Ausarbeitung unterscheidet zwischen mehr oder weniger manualisierten Supervisionskonzepten, bis zu schriftlich festgelegten Anweisungen, welches Problem zu welchem Zeitpunk
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im Verlauf der einzelnen Therapiestunden und/oder im Laufe der Zeit mit welcher Methode behandelt werden soll. Die Wahl der Methode hängt ganz wesentlich von den Vorstellungen der Supervisoren über ideale Lehr- und Lernbedingungen ab. Als geeignet zur Unterstützung des Nachdenkens über die therapeutische Beziehung gilt z. B. die Methode des »Interpersonal Process Recall« (IPR) Kagan, 1980; Kagan & Kagan, 1997). »Als Einstieg in diese Reflexion wird ein Videoband der zu besprechenden Therapie verwendet, das gestoppt wird, wenn sich der Therapeut an Gefühle, Gedanken oder Bilder erinnert, die er an dieser Stelle (in der Therapie!) hatte, oder wenn der Supervisor bzw.- im Falle einer Gruppensupervision – ein anderer Supervisionsteilnehmer Nachfragen zu den (wieder: zu den auf die Therapiesitzung bezogenen) Emotionen oder Kognitionen des Therapeuten stellen will. Typisch sind z. B. Fragen danach, wie sich der Therapeut in diesem konkreten Augenblick gefühlt hat, wie er den Patienten erlebt hat, was er sich vom Patienten gewünscht hätte oder was er am liebsten gesagt hätte. Dem Supervisor wird die Rolle des »facilitator« zugewiesen, der den Therapeuten in einem entdeckenden Lernen unterstützt und der angehalten ist, auf Handlungsvorschläge und Belehrungen zu verzichten.« (Auckenthaler, 1999, S. 146) Die »Sokratische Methode« (Overholser, 1991) gilt demgegenüber als geeignet zur Unterstützung des Nachdenkens über konzeptionelle und methodische Fragen. Der Therapeut wird dazu angeregt, »Widersprüchlichkeiten in seinem Denken zu entdecken, eigene Meinungen zu äußern und zu bewerten, Hypothesen aufzustellen, zu verteidigen oder zu verwerfen, Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen sowie Schlussfolgerungen zu ziehen, die über den konkreten Einzelfall hinausgehen … Es wird nach richtigen Antworten gesucht, und die Antwortrichtung wird durch die Fragen des Supervisors oft schon vorgegeben.« (Auckenthaler, 1999, S. 146) 6
288
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
»Ganz ausdrücklich der Belehrung, Anleitung und Bewertung des Supervisanden dient das Microtraining (Daniels, Rigazio & Ivey, 1997; Forsyth & Ivey, 1980). Über die Einübung spezifischer Einzelfertigkeiten sollen komplexe Verhaltensweisen (z. B. eine angemessene Gesprächsführung) gelernt werden. Der Supervisor übernimmt die Rolle des Lehrers: indem er die Angemessenheit des Verhaltens des Therapeuten bewertet, Modelle für angemessenes Verhalten präsentiert (über Videobänder mit »Modelltherapeuten« oder indem er selbst als Modell fungiert) und Instruktionen zu den zu erwerbenden Fertigkeiten gibt.« (Auckenthaler, 1999, S. 146)
10.4.4
10
Praxis der Klientenzentrierten Supervision von Psychotherapie
Wie in der Einleitung schon dargestellt worden ist, fühlen sich Gesprächspsychotherapeuten zu lebenslanger Supervision verpflichtet. Klientenzentrierte Supervision findet als Einzeloder Gruppensupervision statt. Es gibt sie in beiden Settings sowohl in der Ausbildung zum Psychotherapeuten als auch berufsbegleitend. Die berufsbegleitende Supervision gibt es als Einzelsupervision, in geleiteten Supervisionsgruppen oder in kollegialen Supervisionsgruppen. Diese nennen sich auch Intervisionsgruppen. Auch Gesprächpsychotherapeuten unterscheiden die Besprechung der psychotherapeutischen Arbeit in der Gruppe von der Supervision einer Gruppe, die auch außerhalb der Supervision ihrer (oft nicht nur psychotherapeutischen) Arbeit als Team zusammenarbeitet. In letzterer sind vorrangig Interaktionsprobleme zwischen den Gruppenmitgliedern und ihre Probleme in der Institution, in die sie eingebunden sind, Thema. Der Prototyp dieser Form der Supervision ist die »Teamsupervision« (Scobel, 2002). Mit einer solchen Definition (s. u.), die deutlich macht, dass es in der Supervision primär um das Wohl des Patienten und erst in zweiter Linie – als Mittel zum Zweck – um die persönlichen Probleme und die persönliche Weiterentwicklung des Thera-
Definition (Klientenzentrierte) Supervision von Psychotherapie ist eine intensive Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die den Zweck hat, die Entwicklung der therapeutischen Kompetenz des Supervisanden zu fördern.
peuten und/oder eines Teams geht, wird die Supervision als eine Form der Beratung (7 Kap. 12) gekennzeichnet. Scobel führt aus, dass für jede Supervision gelte, »dass alle Themen, die zum Untersuchungsgegenstand der Supervision … definiert werden, mit Gefühlen und gefühlsbetonten Einstellungen der betroffenen Supervisanden verknüpft sind. Das gilt es herauszufiltern und zu bearbeiten (Scobel, 2002, S. 27 f.).« Zugleich sei aber zu beachten, »dass Supervision ein Arbeitsverfahren darstellt, durch das professionelle Beziehungen von Menschen reflektiert werden, also Beziehungen, die … durch die berufliche Tätigkeit der Professionellen erst hergestellt werden. … Folglich beschäftigt sich die Supervision immer auch mit der Rollenhaftigkeit … dieser Beziehungsrealität.« Das gilt auch für die Supervision Klientenzentrierter Psychotherapie, um die es im Folgenden gehen wird. Im Zentrum der Klientenzentrierten Supervision steht die Reflexion der therapeutischen Beziehung, und zwar von deren gefühlsmäßigem Aspekt: die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit es dem Therapeuten gelingt – wie erfolgreich er in seinem Bemühen ist –, den Patienten in seinen Erfahrungen empathisch bedingungsfrei positiv zu beachten und dabei kongruent zu bleiben bzw. ob und inwieweit er in Bezug auf den Patienten Gefühle hat, die mit dem Gefühl der Unbedingten Positiven Beachtung zu vereinbaren sind. Klientenzentriert bedeutet im Rahmen der Supervision: Es geht primär um das Wohl des Patienten. Auf der anderen Seite könnte man die Supervision im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts auch therapeutenzentriert nennen: Aspekte der Wissensvermittlung im Sinne von Unterrichten haben in ihr einen eher peripheren Stellenwert: Es geht mehr um das Lernen durch die Reflexion der eigenen
289 10.4 · Supervision
emotionalen Erfahrung. Um diese zu ermöglichen, sorgt der Supervisor für möglichst angstfreie Interaktionsbedingungen. Sie sind den für den therapeutischen Prozess notwendigen Bedingungen ähnlich. Insofern als der Supervisor beim entdeckenden Lernen hilft und auf Handlungsvorschläge und Belehrungen verzichtet, funktioniert er als »facilitator«. Definition Der »facilitator« unterstützt den Supervisanden beim entdeckenden Lernen und verzichtet auf Handlungsvorschläge und Belehrungen.
Die Reflexion der eigenen Erfahrung der therapeutischen Beziehung Ob der Therapeut seinen Patienten empathisch versteht und bedingungsfrei wertschätzt und in der Interaktion mit ihm kongruent ist, kann er am besten daran ermessen, ob er spüren kann, dass er den Patienten bedingungsfrei positiv beachtet. Man kann auch definieren: Das Ziel einer Supervisionssitzung ist die Wiederherstellung eines Gefühls der Bedingungsfreien Positiven Beachtung bzw. unbedingten Wertschätzung des Patienten im Therapeuten. Ob der Supervisand mit einer bestimmten Frage in die Supervision kommt, ob sie ihm bewusst ist oder weniger bewusst ist, ob er sie direkt stellt oder indirekt, ob er die Form einer mündlichen Fallvorstellung zu ihrem Vortrag wählt, ob ein Tonband mit einem Ausschnitt aus einer Therapiestunde abgehört wird oder ein Videoband abgespielt wird: Der Supervisor und/oder die Supervisionsgruppe konzentrieren sich auf die gefühlsmäßigen Reaktionen des Therapeuten auf seinen Patienten mit der Frage: Bedeuten sie Abweichungen von einer Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten? Es gibt Situationen, in denen die Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung offenkundig sind. Es gibt die positiven Abweichungen: z. B. wenn der Therapeut den Patienten bewundert, starkes Mitleid mit ihm spürt, dessen Gefühle teilt bzw. sich mit ihm identifiziert, oder in ihn/sie verliebt ist. Häufiger sind die negativen Abweichungen: z. B. wenn der Therapeut Angst um den Patienten hat, von ihm gelangweilt ist, wütend wird, Ablehnung spürt.
10
Weniger offenkundig sind die Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung in der Form von Fragen wie: Ist dieser Patient überhaupt ein Psychotherapiepatient? Ist eine Gesprächspsychotherapie wirklich die richtige Therapie für ihn? Wäre es nicht sinnvoll, mit diesem Patienten mehr prozessorientiert oder erlebnisaktivierend (7 Kap. 19 und 20) zu arbeiten? Er spricht nie über Sexualität, sollte man nicht mal eine Paartherapie (7 Kap. 17) diskutieren? Am Ende einer Klientenzentrierten Supervision sollte niemals eine Antwort auf eine solche Frage stehen, wenn es nicht vorher gelungen ist, die Selbstzweifel des Therapeuten, sein Gefühl am Patienten zu scheitern, daran gehindert zu werden, die Rolle des Therapeuten auszufüllen, auszuräumen bzw. seine Hypothesen und Phantasien über den Klienten in ihrem emotionalen Gehalt zu verstehen. Wir nehmen an – bzw. wir sind sicher und gehen davon aus –, dass sich das Gefühl der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten im Therapeuten dann einstellt, wenn es ihm gelungen ist, sich in den Patienten einzufühlen und er in einem zweiten Schritt zum einen seine eigene emotionale Reaktion auf das, was er empathisch erfasst hat, reflektieren kann und zum anderen den emotionalen Erlebnisinhalt des Patienten vollständig symbolisieren kann. Dann versteht er den Patienten auch. Wenn der Therapeut aber nur seine eigene Reaktion – die auch ein emotionaler Erlebnisinhalt zusammen mit seiner Bewertung im Inneren Bezugsrahmen des Therapeuten ist – reflektieren kann oder diese ihn in einen Zustand von Inkongruenz versetzt, indem der Therapeut sie mehr oder weniger abwehrt, kann er keine unbedingte Wertschätzung des Patienten spüren.
Die Herstellung angstfreier Interaktionsbedingungen Wenn wir so definieren, dass das Ziel von Supervision die Zunahme von kongruentem Erleben im Therapeuten, wenngleich zum Wohle des Patienten ist, dann weisen wir zugleich darauf hin, dass im Klientenzentrierten Konzept die Supervisionssituation mit der Therapiesituation viel gemeinsam hat. Der Klientenzentrierte Supervisor versucht, ebenso wie der Klientenzentrierte Psychotherapeut, angstfreie Interaktionsbedingungen dadurch herzustel-
290
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
len, dass er sich den inkongruenten Erfahrungen – bzw. denen, in denen der Therapeut erlebt, dass er den Patienten nicht bedingungsfrei positiv beachtet – genau so empathisch und unbedingt wertschätzend zuwendet, wie den kongruenten. Das hat, wie in der Therapie, zur Folge, dass sich der Therapeut seinen eigenen emotionalen Erfahrungen im Umgang mit dem Patienten immer mehr und immer angstfreier zuwendet und sie immer vollständiger reflektieren und in seine Selbsterfahrung integrieren – d. h. auch verstehen und akzeptieren – kann mit der Folge, dass er auch den Patienten besser und genauer verstehen kann. Seine Bedingungsfreie Positive Beachtung der Erfahrungen des Patienten – und mit ihr die Wahrscheinlichkeit eines positiven Therapieergebnisses – nehmen zu.
Der Supervisor als »facilitator« Es gibt, wie gesagt, nicht nur Einzelsupervision, sondern auch Gruppensupervision, und die Gruppensupervision hat neben der Selbsterfahrungsgruppe und manchmal auch in Kombination mit ihr in der Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeuten immer schon eine große Rolle gespielt. Auch bei der Supervision in der Gruppe ist das zentrale Thema die Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung seines Patienten beim jeweiligen Therapeuten. Noch mehr als in der Einzelsupervision kann in der Gruppensupervision der Umstand hilfreich sein, dass sich die Beziehungsdynamik zwischen dem Supervisanden und seinem Patienten (unbewusst) auch in der Beziehung des Supervisanden zum Supervisor zeigen kann. Dieses
Fallvignette
10
Die Supervisionsgruppe als Spiegel der Beziehung von Patient und Supervisand und der »Ertrag« einer gelungenen Supervision Eine Therapeutin stellt in einer Gruppensupervision eine Patientin vor, die sich immer wieder in die »falschen« Männer verliebt, nämlich in Männer, mit denen eine reale Beziehung ausgeschlossen erscheint, weil sie in festen Beziehungen leben, z. B. glückliche Familienväter sind. Zurzeit ist sie in ihren Chorleiter verliebt, der nicht nur 25 Jahre älter als sie und verheiratet ist, sondern auch Kinder im Alter der Patientin hat. Davor war es der Pastor, in den sie verliebt war, und noch davor ihr Chef. Es wird deutlich, dass das Gemeinsame der Männer, in die sich die Patientin verliebt, ihre Unerreichbarkeit ist. Der Supervisor muss feststellen, dass ihm die anderen Mitglieder der Gruppe gar nicht mehr zuhören, sondern sich lebhaft darüber austauschen, wie sie in ihre jeweiligen Lehrer bzw. Lehrerinnen verknallt waren und in der Phantasie ihre erotischen Wünsche Wirklichkeit werden ließen. Der Supervisor nimmt diese Gruppenreaktion als Spiegelung des Problems zwischen der Therapeutin und ihrer Patientin und fragt die Therapeutin, ob sie denn das Thema Erotik und Sexualität
schon jemals in diesem Zusammenhang mit der Patientin besprochen hätte. Die Therapeutin errötet darauf hin ziemlich heftig und »gesteht«, über Sexualität mit ihrer Patientin noch nie gesprochen zu haben. Beim weiteren Nachdenken über dieses Phänomen wird ihr deutlich, dass sie häufig, wenn sie an diese Patientin denkt, ein 12-jähriges Mädchen mit hochgeschlossenen Kleidern und weißem Kragen vor sich sieht. Die Patientin ist tatsächlich aber 24 Jahre alt. Der Therapeutin wird auch klar, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte dieses Bild gern bewahrt hätte. Die Therapeutin nimmt sich vor, in der nächsten Sitzung mit der Patientin das Thema anzusprechen. In der darauf folgenden Supervisionssitzung berichtet sie, dass sie gar nicht dazu gekommen sei, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Die Patientin habe die nächste Sitzung mit den Worten eröffnet: Heute möchte ich mit Ihnen über ein Thema reden, dass bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist … Die Therapeutin ist sicher, dass ihre innere Bereitschaft, sich mit der Sexualität der Patientin zu befassen – auch wenn sie noch nicht ausgesprochen war, es der Patientin ermöglicht hat, das Thema von sich aus anzusprechen.
291 10.4 · Supervision
»Spiegel(ungs)phänomen« (»parallel process«) zeigt sich nämlich auch und oft besonders differenziert in der Gruppe, so dass der Supervisor nicht nur die Beziehung zwischen sich und dem Supervisanden, sondern auch die Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder auf die Person, die in die Rolle des Supervisanden geht, als Datenquelle zum Verstehen der therapeutischen Beziehung benutzen kann. Zunächst gilt also, auch der Supervisor achtet auf seine Gefühle in der Reaktion auf den Supervisanden und seinen Vortrag und behält dabei im Auge, ob sie dafür sprechen, dass er den Therapeuten und seinen Patienten bedingungsfrei positiv beachtet. »Die Psyche des Supervisors/der Supervisorin darf als ›Seismograph‹ für nonverbale Phänomene im Prozess der Supervision betrachtet werden (Kutter, 1994, S. 52–63). In der psychoanalytischen Terminologie würde man von Gegenübertragung sprechen« (Scobel, 2002, S. 99). Im Konzept der Übertragung/ Gegenübertragung wird davon ausgegangen, dass der Patient Wünsche an seine Eltern in der Kindheit und mit dem Umgang der Eltern mit diesen zusammenhängende Erwartungen und Befürchtungen, wie sich der Therapeut verhalten wird, z. B. im Sinne des Inneren Arbeitsmodells der Bindungstheorie (7 Kap. 4.7) auf den Therapeuten überträgt und dass der Therapeut darauf reagiert. Ob es dem Supervisor gelingt, sich diese Gegenübertragung, seine Reaktion auf die Übertragung des Therapeuten – und seinen Patienten – vollständig bewusst zu machen, kann er daran ermessen, ob er unverändert das Gefühl der Bedingungsfreien Positiven Beachtung in sich spüren kann. Es ist die Voraussetzung dafür, aus seiner Gegenübertragung den Schluss zu ziehen, dass der Therapeut – und sein Patient – etwas auf ihn übertragen haben. Die meisten Psychotherapeuten gehen heute davon aus, dass in der Psychotherapie – und damit auch in ihrer Supervision – Übertragungen und Gegenübertragungen deswegen eine Rolle spielen, weil sich aus den Inneren Arbeitsmodellen der Kindheit ziemlich stabile emotionale Reaktionsbereitschaften entwickeln, die nicht nur in der therapeutischen Situation, sondern in allen Interaktionen mit anderen Menschen zu beobachten sind, und dass diese Reaktionsbereitschaften bei den Interaktionspartnern entsprechende – und bei den meisten die gleichen – Reaktionen auslösen.
10
Es gibt seit langem Versuche, diese Zusammenhänge empirisch nachzuweisen bzw. interpersonale Verhaltensmodelle (die alle auf Sullivan (1953) zurückgehen) zu entwickeln, die diese abbilden. Grundannahmen der Modelle interpersonalen Verhaltens. Diese Modelle basieren also im Wesent-
lichen auf zwei Annahmen: Die erste besagt, dass zwei miteinander interagierende Personen sich gegenseitig beeinflussen bzw. dass die eine Person mit ihrem Verhalten bei der anderen spezifische Reaktionen hervorrufen oder herausfordern kann, wobei das Ausgangsverhalten und die wahrscheinliche Reaktion darauf als komplementär zu betrachten sind. Das zweite Postulat basiert auf der Annahme, dass sich alle interpersonalen Verhaltensweisen durch zwei bipolare Dimensionen abbilden lassen: die Kontroll- und die Affiliationsdimension. Die Kontrolldimension reicht von dominant/kontrollierendem bis zu submissiv/unterwürfigem Verhalten, die Affiliationsdimension von liebevoll/zugewandtem bis zu feindselig/distanzierendem Verhalten. Die beiden Dimensionen bzw. Achsen stehen senkrecht aufeinander, wodurch sich ein Kreismodell bildet. (z. B. Carson, 1969; Foa, 1961; Wiggins, 1982). Verhalten lässt sich in diesem Modell einerseits durch das Kreissegment, in dem es liegt, beschreiben, und andererseits durch seine Intensität bzw. den Grad seiner Ausprägung, also näher am Zentrum oder mehr an der Peripherie. »Hilfreiches« Verhalten z. B. ist in diesem Modell zugewandtes und kontrollierendes Verhalten, im selben Kreissegment – im rechten Quadranten, positiv sowohl auf der Affiliationsachse als auch auf der Kontrollachse – anzuordnen wie »zudringlich freundliches« Verhalten, aber weiter entfernt von der Peripherie. »Rücksichtvolle Aufmerksamkeit« ist ebenso zugewandt wie »hilfreiches« Verhalten aber weniger kontrollierend. Eine Person, »die jeder anderen Person Zuspruch geben möchte«, gilt als intensiver (habituell) zugewandt als die »rücksichtsvoll aufmerksame« Person. Bezüglich der Reaktionen der Interaktionspartner aufeinander gilt der unmittelbaren Tendenz nach: Auf der Kontrolldimension wird reziprok reagiert, Dominanz induziert Submission und umgekehrt; auf der Affiliationsachse wird korrespondierend reagiert, d. h. Freundlichkeit löst Freundlichkeit aus und Feindseligkeit löst Feindseligkeit aus.
292
10
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Dieses Modell des interpersonalen Verhaltens ist sehr hilfreich beim Finden einer Antwort auf die Frage: Auf welches Verhalten (Gefühlsäußerung, Absichtsäußerung, Bewertung, Phantasie usw.), das in welchem Ausmaß zugewandt freundlich oder feindselig und dominierend/submissiv ist, reagiere ich (der Therapeut, der Supervisor, das Gruppenmitglied) freundlich/feindselig und dominierend/ unterwerfungsbereit? Dieses Verhalten ist meinem Gegenüber oft – wenn er ein Patient ist, sogar in der Regel – nicht bewusst. Und wenn mein Gegenüber ein Patient ist, handelt es sich bei diesem Verhalten, auf das ich mit einem Gefühl reagiere, das nicht Ausdruck von Bedingungsfreier Positiver Beachtung ist, auch in der Regel um den Ausdruck von Erfahrungen, die etwas mit seinem Krankheitsbild zu tun haben. Wer sich z. B. aggressiv gegen Erfahrungen wehrt, die das Selbstkonzept bedrohen, löst in mir andere Gefühle aus als eine Person, die sich durch Flucht entzieht, und das sind wieder andere Gefühle als die, mit denen ich auf jemanden reagiere, der in die Verleugnung flüchtet oder seine Erfahrung dadurch abwehrt, dass er sie projiziert. Und der Umgang mit der Erfahrung hat viel mit dem Umgang mit der Person, die sich für diese Erfahrung interessiert – dem Therapeuten bzw. dem Supervisor – gemeinsam. Wenn ich dann auch fühlen kann, dass ich und auf was ich – an Erfahrung und deren Abwehr – reagiere, habe ich einen neuen Zugang zum Verstehen des Klienten (Patienten, Supervisanden, der Beziehung zwischen den beiden) gefunden und die Chance, dass sich meine Bedingungsfreie Positive Beachtung wieder einstellt, ist erheblich gewachsen. Der Supervisor als »facilitator« versucht also zum einen, den Therapeuten vor allem in den seiner Erfahrungen zu verstehen, die eine Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten vermutlich in der inkongruenten – d. h. nicht vollständig bewussten – interpersonellen Reaktion auf den Patienten darstellen. Wenn ihm das nicht spontan gelingt und er sich stattdessen seinerseits in einer interpersonellen Reaktion auf den Therapeuten, die nicht unbedingt positiv beachtend, sondern deutlich zu freundlich oder zu feindselig und zu kontrollierend oder zu submissiv ist, vorfindet, kann er zum anderen seine Reaktion entsprechend reflektieren und damit kor-
rigieren. (Es gibt auch die Supervision für Supervisoren, in der dann ebenso gearbeitet werden kann.) Danach kann er sich wieder dem Therapeuten zuwenden (vgl. Biermann-Ratjen et al., 2003). Der Supervisor wird bei sich selbst auch interpersonelle Reaktionen auf den Patienten, dessen Behandlung Thema der Supervision ist, entdecken. Er kann sie mit denen des Therapeuten vergleichen und dabei nicht nur Übereinstimmungen entdecken, sondern u. U. auch, dass der Therapeut einen anderen Aspekt der Erfahrungen des Patienten fokussiert als er. Das kann zur Vervollständigung des Bildes des Patienten führen. Wenn die Supervision in der Gruppe stattfindet, geht es immer in einem ersten Schritt darum, die interpersonellen Reaktionen der einzelnen Gruppenmitglieder sowohl auf den vorgestellten Patienten als auch auf den Therapeuten miteinander zu vergleichen. In diesem Prozess hat der Supervisor als »facilitator« vor allem darauf zu achten, dass auch den Gruppenmitgliedern ihre Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung sowohl des Therapeuten als auch seines Patienten bewusst werden. Es ist regelmäßig so, dass sich die interpersonellen Reaktionen der einzelnen Gruppenmitglieder voneinander unterscheiden. Und je angstfreier die Gruppe ist, desto offener werden diese Unterschiede besprochen und als je persönliche Reaktionen auf zum Teil denselben Aspekt, aber öfter auf unterschiedliche Aspekte der Erfahrungen des Patienten verstehbar. Die Supervision in der Gruppe beinhaltet also die Chance, ein besonders differenziertes und damit oft auch besonders vollständiges Bild von der Beziehung zwischen dem Therapeuten und seinem Patienten zu entwickeln, das wiederum dem Therapeuten in seinem Bemühen um den Patienten weiterbringt. Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch zur Erinnerung daran, dass das Rollenspiel schon immer einen Platz in der Klientenzentrierten Supervision hatte, auf eine Methode hingewiesen, die Scobel die »spielerische Identifizierung« nennt. Der Supervisand wird aufgefordert, das Ich des Patienten zu spielen, was bedeutet, dass er versucht, sich in die Welt des Patienten hineinzuversetzen, »mit seinen Augen zu sehen, mit seinem Leib zu fühlen und mit seiner Stimme zu sprechen (damit ist auch der nonverbale Ausdruck des Patienten gemeint; Scobel,
293 10.4 · Supervision
2002, S. 124). In der Besprechung im Anschluss an eine solche Form der Falldarstellung wird in der Regel deutlich, dass sie sich sehr dazu eignet, auch die Wahrnehmungen des Patienten durch den Therapeuten, dessen dieser sich noch gar nicht so recht bewusst ist, mitzuteilen. Und in den Dialogen, die sich zwischen dem spielerisch identifizierten Patienten und den anderen Gruppenmitgliedern entwickeln können, entsteht oft ein verblüffend klares Bild der vorgestellten therapeutischen Beziehung. ? Übungsfragen 5 Definieren Sie den Unterschied von Supervision und Psychotherapie. 5 Was versteht man unter dem »Spiegel(ungs)phänomen«? 5 Zählen sie Aufgaben von Supervision auf, die in den sog. Rollenmodellen von Supervision genannt werden. 5 Welches ist das am besten gesicherte Ergebnis der Supervisionsforschung? 5 Was kennzeichnet vor allem die Klientenzentrierte Supervision? 5 Nennen Sie die Grundannahmen des Interpersonalen Modells.
10.4.5
10
Weiterführende Literatur
Auckenthaler, A. (1999). Supervison von Psychotherapie. Behauptungen, Fakten, Trends. Psychotherapeut, 44, 139– 152. Kap. V in: Biermann-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.-J. (2003). Gesprächspsychotherapie, 9. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer.
11 11
Kinder und Jugendliche B. Reisel, C. Wakolbinger
11.1
Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie« – Entwicklung und aktueller Stand – 296
11.1.1
Carl Rogers als Kinderpsychotherapeut – 296 Die Weiterentwicklung Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie in den USA – 298 Die Entwicklung der Klienten-/Personzentrierten Kinderpsychotherapie im deutschsprachigen Europa – 300
11.1.2
11.1.3
11.2
Klientel und Indikation – 301
11.2.1
Fragestellungen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – 301 Diagnostik und Indikation – 302 Therapieziele – 304
11.2.2 11.2.3
11.3
Spezielle Anforderungen an den Kinderpsychotherapeuten – 305
11.4
Entwicklungspsychologische Grundlagen – 306
11.4.1
Wo sich der Klientenzentrierte Ansatz mit entwicklungspsychologischen Ansätzen trifft – 306 Zum Begriff der Aktualisierungstendenz – 306 Die Selbstentwicklung in der neueren Säuglingsforschung – 307 Selbstaktualisierung bedeutet Identitätsentwicklung – 308 Selbstaktualisierung braucht Bedingungsfreie Positive Beachtung und Empathie – 310 Die Bedeutung von Beziehungserfahrungen – 312 Das Weltbild des Kindes: die Konstruktion der Wirklichkeit – 314
11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5
11.4.6 11.4.7
11.5
Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie – 316
11.5.1
Bedingungsfreie Positive Beachtung – 317 Einfühlendes Verstehen (Empathie) – 318 Kongruenz – 319 Grenzen – 320 Therapeutische Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen – 321
11.5.2 11.5.3 11.5.4 11.5.5
11.6
Fallgeschichte
11.6.1 11.6.2 11.6.3
Erstgespräch – 322 Therapieverlauf/1. Stunde Therapieverlauf/2. und 3. Stunde – 325 Therapieverlauf/4. Stunde Therapieverlauf/5. Stunde Therapieverlauf/7. Stunde 1. Elterngespräch – 328 Therapieverlauf/8. bis 11. Stunde – 328 Therapieverlauf/12. Stunde Therapieverlauf/14. bis 15. Stunde – 330 2. Elterngespräch – 330 Therapieverlauf/17. bis 20. Stunde – 331 Therapieabschluss/21. bis 24. Stunde – 331
11.6.4 11.6.5 11.6.6 11.6.7 11.6.8 11.6.9 11.6.10 11.6.11 11.6.12 11.6.13
11.7
– 322 – 323
– 326 – 326 – 328
Weiterführende Literatur
– 330
– 332
296
11
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
In diesem Kapitel wird die Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie im Klientenzentrierten Konzept dargestellt. Klientenzentrierte Psychotherapie1 mit Kindern und Jugendlichen hat eine lange Tradition und findet ihre Wurzeln bereits in den frühen Werken von Carl Rogers. Rogers machte seine ersten therapeutischen Erfahrungen in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen und entwickelte daraus seine ersten theoretischen Überlegungen zur Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts. Seiner Tradition folgten Axline, Ellinwood, Dorfman und Moustakas in den 50erund 60er-Jahren. Danach fand die Weiterentwicklung des Klientenzentrierten Ansatzes in Bezug auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vorzugsweise im europäischen Raum statt. Klientenzentrierte Psychotherapie bietet Kindern und Jugendlichen eine durch die klientenzentrierte Grundhaltung des Therapeuten geprägte spezifische Beziehung an, die die Aktualisierungstendenz im Kind fördert, sodass therapeutische Prozesse in Gang kommen können, die tief greifende Veränderungen im Selbstkonzept des Kindes nach sich ziehen. Die ganzheitliche Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit steht im Vordergrund, nicht der Abbau einzelner Symptome. Im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit steht das Erleben des Kindes. Neue Erfahrungen können angstfrei gemacht werden und alte Bedeutungsgebungen werden durch eine korrigierende Beziehungserfahrung verändert. Das Kind lernt so, Aspekte seiner Persönlichkeit, die bisher abgewehrt wurden, in sein Selbstbild zu integrieren. Es wird dem Kind so viel an Raum und Zeit gegeben, wie es für diesen vielschichtigen Prozess des Wachsens und Sich-Selbst-Entdeckens braucht. Da die individuelle Entwicklung ebenso wie die Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungen in Interaktion mit relevanten Bezugspersonen stattfindet, wendet sich der Klientenzentrierte Kinder- und Jugendlichentherapeut nicht nur an den (identifizierten) Patienten, sondern bezieht Familienmit1
Auch im Bereich der Kinder- und Jugendtherapie ist neben die Bezeichnung »Klientenzentrierte Psychotherapie« die Bezeichnung »Personzentrierte Psychotherapie« getreten, so dass wir in diesem Beitrag beide Bezeichnungen verwenden.
glieder und bedeutsame Bezugspersonen als Personen mit besonderen Ressourcen in den Therapieprozess mit ein.
11.1
Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie« – Entwicklung und aktueller Stand
11.1.1
Carl Rogers als Kinderpsychotherapeut
Carl Rogers’ erste Publikation war seine 1931 erschienene psychologische Dissertation über die Entwicklung eines Tests zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Schon während seines Studiums arbeitete Rogers im Rahmen eines Stipendiums am Institute for Child Guidance und begann seine erste Tätigkeit als Psychologe an der Abteilung für Kindheitsstudien bei der »Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children«, deren Direktor er später wurde. Seine Erfahrungen in der diagnostischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern und deren Familien fanden in dem 1939 erschienenen Buch »The Clinical Treatment of the Problem Child« ihren Niederschlag. Bei der Lektüre dieses Buches wird eindrucksvoll deutlich, welchen unermesslich großen Erfahrungsschatz Rogers seiner Theorieentwicklung zugrunde gelegt hat. Es zeigt sich, dass er den Boden dieser Erfahrungen in seiner Theorieund Therapieentwicklung nie verlassen hat. Rogers bezieht sich in diesem Buch immer wieder auf sein Erleben und seine Erfahrung als Therapeut und zeigt sich auf der Suche nach Konzepten, die dieser Erfahrung entsprechen. Dabei streicht er die Bedeutung der emotionalen Beziehung zwischen Kind und Therapeut hervor und formuliert Ziele und Haltungen für die therapeutische Arbeit, was als Geburtsstunde des Personzentrierten Ansatzes angesehen werden kann. Rogers setzt sich in diesem frühen Werk auch ausführlich mit psychoanalytischen Methoden in der Behandlung von Kindern und deren Familien auseinander und bringt seine kritische Haltung dazu zum Ausdruck. Dieses erste Buch von Rogers enthält eine beeindruckende Fülle auch heute noch aktueller Überlegungen und Darstellungen zu kinder- und jugend-
297 11.1 · Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie«
psychiatrischen Fragestellungen, z. B. auch in Bezug auf Fremdunterbringungen und Behandlung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten sowohl durch Elternberatung als auch durch individuelle Kindertherapie. In der Einleitung dieses Buches schreibt Rogers: »In diesem Buch befassen wir uns mit dem Kind selbst, nicht mit seinen Symptomen. Sie werden vergeblich nach einem Kapitel über Stehlen, Daumenlutschen oder Schuleschwänzen suchen, denn für solche Probleme gibt es keine Behandlung. Es sind Kinder, Buben und Mädchen, mit verschiedenen Lebensgeschichten und Persönlichkeiten. Einige von ihnen stehlen, manche laufen von der Schule weg, andere finden Befriedigung darin, an ihrem Daumen zu lutschen, obszöne Worte zu benutzen oder ihren Eltern die Stirn zu bieten. Aber in jedem Fall müssen wir uns mit dem Kind selbst befassen und nicht mit der Verallgemeinerung seines Verhaltens.« (Rogers, 1939, S. 3 f.; Übersetzung in Reisel, 2001b) Rogers versteht und beschreibt kindliches Verhalten als ein von unterschiedlichen Faktoren beeinflusstes Geschehen und geht dabei auf die Aspekte Anlage (genetische Ausstattung), Organik (somatische Ausstattung), Familie (emotionale Unterstützung und Beziehungsqualität), Kultur und Sozietät, die Bedürfnisse des Organismus (»need for affective response«, »need to achieve satisfaction by accomplishing and self-esteem«) sowie die interaktionellen Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren ein. Damit entspricht er bereits 1939 einem auch heute in der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie gültigen Paradigma eines bio-psycho-sozialen Ansatzes. Das Hauptanliegen von Rogers lautet: »… die einzige Absicht, die wir bei der Beachtung des kindlichen Verhaltens verfolgen, ist, einen Verstehensprozess für dieses Verhalten in Gang zu bringen (Rogers, 1939, S. 12; Übersetzung in Reisel, 2001b)«. Rogers beschreibt verschiedene Behandlungsansätze, um Kinder und deren Familien hilfreich zu unterstützen. Sowohl bei der Darstellung familienoder elternzentrierter Beratung als auch bei der einzeltherapeutischer Zugänge zu Kindern und Jugendlichen unterscheidet er pädagogische, psycho-
11
analytische und beziehungsorientierte Methoden. Die Lektüre dieses 1939 veröffentlichten Buches macht deutlich, dass Rogers vor einem Hintergrund langjähriger Erfahrungen als Kinder- und Familientherapeut Vorstellungen über therapeutisches Tun und Handeln entwickelt hat. Mit dem Bezug auf Otto Ranks Begriff der »relationship therapy« beginnt Rogers seinen in den folgenden Jahren als eigenständige psychotherapeutische Richtung bekannt gewordenen Ansatz zu umreißen und klar von psychoanalytischen Ansätzen abzugrenzen: »Es ist kein intellektueller Prozess, der hier stattfindet, deshalb kann er nur schwer intellektuell erfasst werden, er muss im Gegenteil gefühlt bzw. erfahren werden, um erfasst werden zu können … Die Beziehung zwischen Therapeut und Elternteil ist der wesentliche Ort des Geschehens. In dieser Verbindung können Eltern Vertrauen in den Therapeuten entwickeln und die Freiheit erfahren, ihre oft gehemmten Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen … Der Therapeut erzeugt diese Atmosphäre durch seine Akzeptanz … Der Effekt einer solchen Beziehung kann durch Begriffe wie ›Klärung von Gefühlen‹ und ›Selbstakzeptanz‹ beschrieben werden … Das Ziel ist, den Eltern dabei zu helfen, ihre Gedanken zu klären und die Bedeutung ihrer Entscheidungen in Betracht zu ziehen … Das führt zu der Annahme, dass die Eltern ihr größeres Selbstverständnis aus der Beziehung zu dem Therapeuten auf andere Beziehungen übertragen können.« (Rogers, 1939, S. 197 ff.; Übersetzung in Reisel, 2001b) Diese Ausführungen verdeutlichen, dass es Rogers im therapeutischen Tun nicht darum ging, unmittelbar konkrete Verhaltens- oder Lösungsstrategien zu erarbeiten, sondern das Ziel bestand darin: »… ein höheres Maß an Integration und Selbstwahrnehmung zu entwickeln. Wahrscheinlich liegt der wesentliche Wert dabei in der neuen Sichtweise der Verlässlichkeit auf die eigene individuelle Tendenz, die dem Wachstum entgegen strebt« (Rogers, 1939, S. 200; Übersetzung in Reisel, 2001b). Hier findet sich der erste Hinweis auf das Konzept der Aktualisierungstendenz.
298
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
In der Beschreibung eines einzeltherapeutischen Zuganges zu Kindern und Jugendlichen führt Rogers wieder den für ihn wesentlichen Unterschied zu psychoanalytischen Zugängen aus, indem er mehrfach darauf hinweist, dass es vor allem die Beziehung und die Wahrnehmung der emotionalen Aspekte dieser Beziehung sind, die Persönlichkeitsentwicklung und Verhaltensänderungen möglich machen, und es dazu nicht unbedingt einer Einsicht bedarf, die durch Deutungen ermöglicht wird: »In erster Linie werden Hier-und-Jetzt-Situationen behandelt, und es wird keinerlei Versuch gemacht, vergangene Reaktionen zu interpretieren oder zu erklären. Darüber hinaus geht es nicht nur um gegenwärtige Gefühle und Reaktionen, sondern vielmehr um diejenigen Gefühle, die sich auf den Therapeuten beziehen, die also das Kernstück des Prozesses sind. … In keiner anderen Art von Behandlungsversuch nimmt die emotionale Situation zwischen Therapeut und Kind einen derart wichtigen Stellenwert ein. Aus diesem Grund nennen wir sie ›Relationship Therapy‹. … Wir vertrauen darauf, dass die Veränderungen, die im Kind stattgefunden haben und sich in einer neuen Akzeptanz seiner selbst und seiner Realität ausdrücken, auch außerhalb der therapeutischen Beziehung wirksam bleiben.« (Rogers, 1939, S. 343; Übersetzung in Reisel, 2001b)
eigenen Probleme zu lösen. Es ist ein Kennzeichen dieses Ansatzes, die Integrität des Kindes als signifikanten Wesenszug zu betonen. Das Ziel ist es, die Unabhängigkeit des Kindes, seine Wahrnehmung von sich selbst als Individuum und die Akzeptanz seiner Verantwortung für sich selbst zu fördern.« (Rogers, 1939, S. 345; Übersetzung in Reisel, 2001b)
11.1.2
Eine erfolgreiche Kindertherapie beschreibt Rogers so: »Das Kind hat die Hilfe, die es zu diesem Zeitpunkt brauchte, angenommen, und es wurde, falls die Therapie erfolgreich war, fähiger, seine gegenwärtigen Probleme wahrzunehmen und zu lösen. Ihm wurde auf dem Weg zur Reifung geholfen. Natürlich scheint es möglich, dass es zu einem späteren Zeitpunkt wieder Hilfe braucht, dann, wenn neue Probleme anstehen. … Der Blickwinkel der ›Relationship Therapy‹ scheint realistischer zu sein und hat das viel angenehmere Ziel, die normalen Funktionen des Individuum wieder herzustellen, es einen Schritt weiter in Richtung Wachstum zu bringen und ihm die Fähigkeit zu lassen, seine 6
Nachdem Rogers 1940 einem Ruf zum »Full Professor« an die Ohio State University gefolgt war, konnte er sich seinen wissenschaftlichen Interessen und der Weiterentwicklung seines Ansatzes voll widmen. Seinem Buch »Counseling and Psychotherapy« aus dem Jahre 1942 folgten viele weitere Publikationen zum Klientenzentrierten Ansatz, in denen er aber kaum mehr auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einging. Rogers’ Arbeitsschwerpunkt verschob sich weg vom Gebiet der Kinderpsychotherapie hin zur therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen. 1945 folgte er dem Angebot der Universität Chicago und gründete dort das noch heute bestehende »Counseling Center«, durch das dem Klientenzentrierten Ansatz als eigene psychotherapeu-
Rogers schließt seine frühen Ausführungen zur Kindertherapie mit Überlegungen darüber, was er als Ziel kindertherapeutischen Arbeitens ansieht: »Wir müssen es zu unserer Aufgabe machen, ein sich ständig veränderndes Individuum dabei zu unterstützen, sich nicht an eine fixierte soziale Norm anzupassen, sondern an eine Gesellschaft, die ständigen Veränderungsprozessen unterworfen ist, sei es in ihren Organisationen, Glaubensgrundsätzen, Verhaltenscodes oder in ihren Gewohnheiten und Idealen. … Das anzustrebende Ziel liegt demnach im Wohlbefinden des Kindes, in seiner Fröhlichkeit oder in seinem inneren Wachstum, weniger in einem sozialen Ziel.« (Rogers, 1939, S. 354 f.; Übersetzung in Reisel, 2001b)
Die Weiterentwicklung Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie in den USA
299 11.1 · Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie«
tische Richtung endgültig Anerkennung zuteil wurde und die Möglichkeit zur praktischen wie theoretischen Weiterentwicklung gegeben wurde. Dort arbeiteten unter anderem auch Virginia Axline, Charlotte Ellinwood und Elaine Dorfman, die ab den späten 40er-Jahren mit Arbeiten zur Klientenzentrierten Kinderpsychotherapie bekannt wurden. Sehr bekannt wurden das Buch »Play Therapy« (1947/1974) und die Fallgeschichte »Dibs« (1964/1971) von Virginia Axline. Sie beschreibt darin das Wesen nondirektiver Spieltherapie, in der das Kind den Weg weist und der Therapeut respektvoll und anerkennend folgt. Das Spiel gilt als natürlicher Ausdruck des Selbst des Kindes und dient als Mittel der Beziehungsgestaltung. Axline formulierte acht Prinzipien der non-direktiven Spieltherapie, die sich im Wesentlichen an den von Rogers formulierten »core-conditions« orientieren. Vier Jahr später wird das Konzept einer Klientenzentrierten Spieltherapie von Elaine Dorfman dargestellt, die dazu ein Kapitel in dem 1951 erschienenen Rogers-Buch »Client-Centered Therapy« verfasste. Darin wird ebenfalls auf die Ursprünge der
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Kinderpsychotherapie im psychoanalytischen Kontext hingewiesen und in Anlehnung an Taft und Allen das Konzept der »Beziehungstherapie« vorgestellt. Dorfman nennt als zentrale Grundannahme Klientenzentrierter Spieltherapie die Fähigkeit des Individuums zu wachsen und das Vertrauen in die Fähigkeit des Kindes, sich selbst zu helfen. Sie sieht es als eine wesentliche Erfahrung für das Kind an, die Therapiestunde als »Stunde des Kindes« erleben zu können, in der »der Therapeut da ist, um Wärme, Verstehen und Gesellschaft, nicht aber Führung, zu geben. Der Therapeut ist bereit, das Tempo zu akzeptieren, das das Kind sich aussucht« (Dorfman, 1951/1983, S. 225). Hier wird betont, welche wesentliche Rolle das tiefe Vertrauen des Therapeuten in die Aktualisierungstendenz des Kindes in der therapeutischen Arbeit spielt. Charlotte Ellinwood, die später Koordinatorin des Chicago Counseling Center wurde, beachtete im Zusammenhang mit Klientenzentrierter Spieltherapie vor allem die besondere Bedeutung der begleitenden therapeutischen Arbeit und/oder Beratung der Eltern der betreuten Kinder. 1959, also 20 Jahre
Die acht Prinzipien nondirektiver Spieltherapie nach V. Axline (1947/1974) 1. Prinzip der vollständigen Annahme: Der Therapeut nimmt das Kind ganz so an, wie es ist. 2. Prinzip der Herstellung eines Klimas des Gewährenlassens: Der Therapeut gründet seine Beziehung zum Kind auf einer Atmosphäre des Gewährenlassens, sodass das Kind sich frei fühlt, alle seine Gefühle uneingeschränkt auszudrücken. 3. Prinzip der Achtung vor dem Kind: Der Therapeut achtet die Fähigkeit des Kindes, mit seinen Schwierigkeiten selbst fertig zu werden, wenn man ihm Gelegenheit dazu gibt. Die Verantwortung, eine Wahl in Bezug auf sein Verhalten zu treffen und das In-Gang-Setzen einer inneren Wandlung sind Angelegenheit des Kindes. 4. Prinzip der Wegweisung durch das Kind: Der Therapeut versucht nicht, die Handlungen oder Gespräche des Kindes zu beeinflussen. Das Kind weist den Weg, der Therapeut folgt ihm.
5. Prinzip der Nicht-Beschleunigung: Der Therapeut versucht nicht, den Gang der Therapie zu beschleunigen. Sie ist ein Weg, der langsam, Schritt für Schritt, gegangen werden muss, und der Therapeut weiß das. 6. Prinzip der Gestaltung der Beziehung: Der Therapeut sollte eine warme freundliche Beziehung zum Kind aufnehmen, die so bald wie möglich zu einem guten Kontakt führt. 7. Prinzip des Erkennens und Reflektierens von Gefühlen: Der Therapeut ist wachsam in Bezug auf die Gefühle, die das Kind ausdrücken möchte. Er versucht sie zu erkennen und dem Kind zu reflektieren. 8. Prinzip des Begrenzens: Der Therapeut setzt nur Grenzen, wo diese notwendig sind, um die Therapie in der Welt der Wirklichkeit zu verankern und um dem Kind seine Mitverantwortung an der Beziehung zwischen ihm und dem Kind zu verdeutlichen.
300
11
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
nach dem ersten Buch von Rogers, veröffentlichte sie einen Artikel, der die Bedeutung der Elternarbeit hervorhebt, und widmete die nächsten Jahrzehnte ihrer Arbeit diesem Thema. So erschien 1989 ihr Beitrag zum Thema »The young child in person-centered family therapy«. Sie vertritt die Ansicht, dass ohne den Einbezug von Eltern in die therapeutische Arbeit mit Kindern der Erfolg einer Therapie leicht in Gefahr geraten könne. Es war ihr bewusst, »that we were devoting all of our attentions to the children and overlooking the basic fact that it was the parents who were feeling concerned and had brought their concern to us. We were actually ignoring the persons who had come to the Center seeking help and were turning our attention entirely to the persons they had come about« (Ellinwood, 1959; zitiert nach Barrett-Lennard, 1998, S. 129). Sie erkannte, dass Eltern verhaltensauffälliger Kinder oftmals die Probleme des Kindes als von diesen selbst und allein verursacht ansahen und die Eltern keine Anteile davon bei sich selbst wahrnehmen konnten. Diese Eltern bewegen sich nach Ellinwood in bezug auf Rogers’ Prozesskontinuum meistens auf einer sehr niedrigen Stufe der Selbstwahrnehmung und sind demnach auch höchst beratungs- und therapiebedürftig. Vor diesem Hintergrund entwickelte Guerney sein Konzept der »filial therapy«. Darin wird nach den Prinzipien von Virginia Axline aber auch teilweise lerntheoretischer Modelle ein Programm zum Einbezug der Eltern in die therapeutischen Spielstunden mit dem Kind entwickelt. Das Ziel dabei ist es, Eltern bei der Entwicklung ihrer empathischen Fähigkeiten (»capacity for empathic attunement«) zu unterstützen: »if parents can learn to respond empathically and in accord with other helping conditions they will become a healing resource to their child« (Guerney, 1964; zitiert nach Barrett-Lennard, 1998, S. 130). Während Rogers in dieser Zeit weitere seiner später sehr bekannt gewordenen Schriften (1959b/ 1987, 1961/1973) veröffentlicht hat, blieb die Kinderpsychotherapie am »Chicago Counseling Center« zwar weiterhin ein angewandtes und praktiziertes Gebiet, ihre Präsenz in Form wissenschaftlicher Publikationen aber wurde zunehmend geringer.
11.1.3
Die Entwicklung der Klienten-/ Personzentrierten Kinderpsychotherapie im deutschsprachigen Europa
Im deutschsprachigen Raum wurde die Klientenzentrierte Spieltherapie durch die Arbeiten von Reinhard und Annemarie Tausch (1956, 1963; Tausch, Kettner, Steinbach & Tönnies, 1973) bekannt, die Rogers’ wesentliche Annahmen zum therapeutischen Vorgehen für die Arbeit mit Kindern übersetzt und anwendbar gemacht haben. 1972 erschien die deutsche Übersetzung des Werkes von Axline. In den 80er-Jahren wurden verstärkt Versuche unternommen (Goetze & Jaede, 1974; Schmidtchen, 1974), die nicht-direktive Spieltherapie in ein lerntheoretisch beeinflusstes Konzept zu bringen, auch mit dem Ziel, experimentell-empirisch fundierte Nachweise der Wirkungsweise der kindzentrierten Spieltherapie führen zu können. Dieser Weg führte jedoch nicht zu einem Paradigmenwechsel, unter anderem, weil es den Autoren im Verlauf der Arbeit deutlich wurde, dass die Ausgangsbedingungen und Effekte von höchster Komplexität sind und mit Forschungsmethoden, die linear-kausale Zusammenhänge voraussetzen, nicht zu erfassen sind. Goetze (2002, S. 117) schreibt rückblickend über diese Zeit »Versuche, eine kindzentrierte Spieltherapie in Richtung auf eine lerntheoretische Fundierung theoretisch zu verankern, sind sämtlich fehlgeschlagen. Zu unterschiedlich waren Menschenbildannahmen und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Therapie.« Goetze hat sich seit damals verstärkt um die Wurzeln des Klientenzentrierten Konzeptes bemüht und zur Weiterentwicklung Personzentrierter Spieltherapie durch die Integration von Wissen aus entwicklungspsychologischen Ansätzen sowie der klinischen Kinderpsychologie beigetragen. Sein reicher theoretischer wie auch praxisbezogener Erfahrungsschatz kam 2002 in dem Buch »Handbuch personenzentrierter Spieltherapie« zum Ausdruck. Schmidtchen kommt das Verdienst umfangreicher empirischer Forschungsarbeiten zu. In einem Überblicksartikel zu »Neuere Forschungsergebnisse zu Prozessen und Effekten der Kinderspieltherapie« (1996, S. 135) fasst er zusammen: »Einerseits werden die Kompetenzen des Selbstverwirklichungs-
301 11.2 · Klientel und Indikation
verhaltens erheblich verbessert und erweitert und andererseits findet ein bedeutsamer Abbau von psychischen Störungen statt.« Nicht überraschend, aber verdeutlichend wirken die Ergebnisse der Prozessforschung, nach denen mehr als 90% der Therapiezeit mit Spieltätigkeiten zugebracht wird. »Im Gegensatz zur Erwachsenentherapie ist das Schwergewicht der Interventionstätigkeit mit Kindern nicht primär auf den sprachlich-reflexiven, sondern den spielerisch-klärenden Umgang mit Inkongruenzen ausgerichtet« (a. a. O., S. 101). In einer weiteren Publikation »Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie« (1991) legte Schmidtchen den Schwerpunkt auf die gemeinsame Behandlung von Eltern und Kindern im familientherapeutischen Setting und beschreibt Definitionskriterien eines erweiterten Kinderpsychotherapiekonzeptes. In den letzten 10 Jahren fand eine umfassende Weiterentwicklung der Klienten- bzw. Personzentrierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie statt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der sich gestaltenden und laufend verändernden Beziehung zwischen Kind und Therapeut. Personzentrierte Kinder- und Jugendlichentherapeuten verstehen sich heute als aktive Interaktionspartner des Kindes, die mitspielen und auch manchmal gestaltend ins Geschehen eingreifen. Sie versuchen Prozesse, die heilsam sind, zu fördern und unterstützen dabei, störungsrelevante Verhaltensmuster zu verändern. Theoretischer Hintergrund dafür ist unser heutiges Wissen und auch Einbeziehen neuester Erkenntnisse der Säuglings- und Bindungsforschung, und die Erfahrung, dass neue Interaktions- und Beziehungserfahrungen, die die Kinder mit uns machen, ein bedeutsamer therapeutischer Faktor sind. Dass sich die Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum umfassend etabliert hat, geht aus den drei von Boeck-Singelmann, Ehlers, Hensel, Kemper und Monden-Engelhardt herausgegebenen Bänden (1996, 1997, 2003) zur Personzentrierten Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen hervor. Band 1 (1996) liefert Beiträge zu Grundlagen und Konzepten Personzentrierter Kindertherapie. Es findet sich darin ein Übersichtsartikel über Entwicklungspsychologie und Störungslehre von BiermannRatjen sowie ein Beitrag von Behr über die Bedeutung der interaktionellen Theorie des Selbst für die
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Praxis einer Personzentrierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Ferner umfasst Band 1 Arbeiten aus dem Bereich der Psychotherapieforschung zu Effekten und Wirksamkeit Personzentrierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Schmidtchen, Heekerens), Arbeiten über das Spiel als zentrales Medium der kindlichen Selbstdarstellung (Hockel, Mogel) sowie die Arbeit von BeckmannHerfurth über die Bedeutung der Person des Therapeuten in der Personzentrierten Kindertherapie. Teil 5 des Band 1 sowie Band 2 und 3 liefern ausgewählte störungsspezifische Falldarstellungen und spannen einen breiten Bogen über mögliche Indikationen für eine Klientenzentrierte bzw. Personzentrierte Kindertherapie. Band 2 ist auch der Anwendung und Praxis in Kontexten, die über das einzeltherapeutische Setting hinausgehen, gewidmet. Im deutschsprachigen Raum hat sich die Klientenzentrierte/Personzentrierte Psychotherapie als hilfreiches Angebot an Kinder, Jugendliche und Eltern etabliert und eine breite Verankerung in institutionellen Kontexten wie auch bei niedergelassenen Therapeuten gefunden. Demnach werden sowohl in Deutschland als auch in Österreich eigene Aus- und Weiterbildungen (entsprechend den gesetzlichen Regelungen in den beiden Ländern) angeboten und erfreuen sich reger Nachfrage. In diesem Zusammenhang ist u. a. das 2001 erschienene Lern- und Praxisanleitungsbuch von Weinberger zu nennen, das auf sehr anschauliche Weise das Wesen Klientenzentrierter/Personzentrierter Arbeit mit Kindern und Jugendlichen darstellt.
11.2
Klientel und Indikation
11.2.1
Fragestellungen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Kinder und Jugendliche werden in der psychotherapeutischen Praxis zumeist wegen eines von der Umwelt als problematisch erlebten Verhaltens vorgestellt, und meistens schließen die Eltern nach der Schilderung dieses Problemverhaltens mit der Frage »Will er nicht anders oder kann er nicht anders?« Im Klientenzentrierten Konzept geht man davon aus, dass jedes problematisierte kindliche Verhalten ein
302
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
noch nicht verstandenes Verhalten ist. Erscheinungsbild und dessen wahre Bedeutung und Signalfunktion stehen zunächst noch nicht in einem wahrgenommenen und verstehbaren Zusammenhang. Fragestellungen, mit denen am häufigsten die kinder- und jugendlichenpsychotherapeutische Praxis aufgesucht werden, können folgende Bereiche umfassen: expansive Verhaltensauffälligkeiten, Störungen des Sozialverhaltens, emotionale und affektive Störungen, Auffälligkeiten im Spiel, Lernund Leistungsverhalten, psychosomatische Störungsbilder, Essstörungen, Identitätskrisen, chronische Erkrankungen oder Behinderungen mit psychosozialem Risiko, posttraumatische Belastungsstörungen, sexueller Missbrauch, Kinder nach Scheidung bzw. Trennung der Eltern sowie last but not least Erziehungsunsicherheiten auf Seiten der Eltern. Unabhängig vom präsentierten Störungsbild ist zunächst zu klären, wer mit welchem Anliegen an den Kinderpsychotherapeuten herantritt.
Klärung der Ziele und Aufträge – Wer will was von wem?
11
5 Sind die Eltern beunruhigt oder klagt die Schule oder der Kindergarten über ein auffälliges Verhalten bzw. Leiden des Kindes? 5 Fühlt sich das Kind selbst beeinträchtigt? 5 Wo und wann, wie häufig und wie stark manifestiert sich das problematisierte Verhalten? 5 Gibt es Auslöser oder vorausgegangene belastende Lebensereignisse? 5 Wie lange dauert die Symptomatik bereits an? Hat sie sich in ihrem Erscheinungsbild im Laufe der Zeit verändert? 5 Welche Lösungsversuche wurden bereits unternommen? 5 Wer hat die Vorstellung beim Kinderpsychotherapeuten angeregt? 5 Mit welchen Zielvorstellungen wenden sich die »Auftraggeber« an den Kinderpsychotherapeuten?
Ein wesentlicher Unterschied zu der Arbeit mit Erwachsenen ist darin zu sehen, dass in der psychothe-
rapeutischen Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen immer auch die wichtigen Bezugspersonen des Kindes in das Therapiekonzept mit einzubeziehen sind.
11.2.2
Diagnostik und Indikation
Es sollten zunächst verschiedene Aspekte betrachtet und Blickwinkel eingenommen werden, um zu einem vertieften Verständnis des kindlichen Verhaltens zu gelangen und es in seinem »wahren« Bedeutungszusammenhang zu erkennen. Wichtig dabei ist sowohl eine ausführliche Anamnese (Kubinger & Deegener, 2001) als auch eine familiendiagnostische Erhebung sowie, je nach Fragestellung, der Blick auf relevante pädiatrische, kinderneuropsychiatrische, psychologische, soziale und funktionelle Befunde (z. B. von Logopäden, Ergotherapeuten, Heilpädagogen). Zumeist ergibt sich daraus ein Bild, das den Eltern auf ihre eingangs formulierte Frage folgendes antworten kann: »Hier und Jetzt kann er nicht, selbst wenn er wollte.« Erst die wahrgenommene Bedeutung des Symptoms kann einen Prozess der Veränderung einleiten, bei dem sich auch die Frage der Indikation stellt, ob psychotherapeutisches und/oder heilpädagogisches bzw. funktionell-therapeutisches und/oder ein elternberatendes oder familienzentriertes Vorgehen einen Beitrag dazu leisten können, das Wollen und Können des Kindes in einen entwicklungsförderlichen Einklang zu bringen. Funktion. Der diagnostische Prozess dient dazu,
eine Bestandsaufnahme von Belastungen und Ressourcen vorzunehmen. Dabei wird die Bedeutung von Problemen im Verhalten, von zum Ausdruck gelangten Symptomen und von erlebten physischen und psychischen Beeinträchtigungen von Kindern oder Jugendlichen auf dem Hintergrund des jeweiligen sozialen Kontextes und der jeweiligen Lebensund Entwicklungsgeschichte zu verstehen versucht. Die psychologische Diagnostik ist dabei ein Puzzlestein in einer Reihe von möglicherweise mehreren interdisziplinären Diagnoseschritten, die alle gemeinsam in einem diagnostischen Prozess zu einer Abklärung und zu einem Verständnis der gestellten Frage führen sollen. Das Erstellen einer Diagnose ist ein zusammenfassender, gestaltender Akt und bedeutet immer mehr als die Summe seiner Teile
303 11.2 · Klientel und Indikation
und dient erst sekundär der Zuordnung zu einer diagnostischen Kategorie (Leiss, Fuiko, Reisel & Wurst, im Druck). Heute gehört im Bereich der Personzentrierten Kinder- und Jugendlichentherapie eine psychologische Diagnostik (Goetze, 2002; Jürgens-Jahnert, 1997; Weinberger, 2001), die zur Klärung der Fragestellung beiträgt und einen Beitrag zur Indikation leistet, zum unverzichtbaren Standard einer Behandlungsplanung. Ziel. Das Ziel des diagnostischen Prozesses sollte
eine Klärung derjenigen Umstände sein, die zu den Fragen, Schwierigkeiten oder Leidenszuständen des Kindes und seiner Umgebung geführt haben oder diese aufrecht erhalten, und derjenigen, die zu einer Veränderung und damit Verbesserung der Lebensqualität beitragen können. Sowohl das Kind als auch die Eltern suchen Verständnis und Unterstützung für einen weiteren entwicklungsförderlichen Weg und wollen nicht mit Mängellisten, Vorwürfen oder diagnostischen Etiketten erdrückt werden. Die Diagnostik ist als Klärungsprozess zu verstehen, in dem Kind und Eltern möglichst genaue Kenntnisse über Zusammenhänge vermittelt werden und die individuellen Gefühlslagen durch genaues Zu- und Hinhören erkennbar werden. Das Aufnehmen und Verstehen der emotionalen Erlebnisqualitäten, die hinter den Worten der Eltern und Kinder liegen, ihre Zweifel, Ängste, Hoffnungen wahrzunehmen und anzusprechen, schafft Erleichterung und eröffnet neue Perspektiven. Der diagnostische Zugang selbst kann damit bereits einen heilsamen Prozess einleiten, sofern dem Kind und seiner Familie vermittelt werden kann, dass ihnen mit Respekt begegnet wird und ihre Probleme ernst genommen werden, dass die Eltern und das Kind für ihr eigenes Leben als kompetent erachtet werden und ihnen auch selbstregulierende Fähigkeiten und Kompetenzen zugetraut werden (Herzka & Reukauf, 2002). ! Im Rahmen eines beratenden Gespräches ist besonders darauf zu achten, die Wahrnehmungen des Therapeuten mit jenen des Kindes und der Eltern abzugleichen und gemeinsam einen Lösungsweg zu suchen, der von den Betroffenen auch nachvollzogen und eingeschlagen werden kann.
11
Die Beschreibung einer an der Praxis orientierten Umsetzung des diagnostischen Vorgehens sowie der daraus folgenden Elternberatung findet sich bei Weinberger (2001). Indikationsstellung. Aus einem ersten Resümee,
wie das Problem des Kindes verstanden werden kann und welche weiteren Schritte erforderlich sind, um Veränderungen einleiten zu können, ergeben sich notwendige Hinweise zur Indikationsstellung. Zunächst ist zu entscheiden, ob eine Psychotherapie für das Kind und /oder eine Eltern/Erziehungsberatung bzw. ein familientherapeutisches Setting am ehesten einen Veränderungsprozess in Gang setzen kann. Nach Weinberger (2001, S. 118) besteht eine Indikation für eine Kinderpsychotherapie dann, »wenn die Verhaltensprobleme des Kindes darauf zurückzuführen sind, dass das Kind in seinen ersten Jahren keine ausreichenden Beziehungserfahrungen machen konnte, es schwer traumatisiert wurde oder wenn es sich um ein chronifiziertes Verhalten handelt«. Elternberatung. Sie kann dann als alleinige Maßnahme ins Auge gefasst werden, wenn die Verhaltensprobleme des Kindes vor allem durch einen unzureichenden Erziehungsstil der Eltern, eine Überforderung der Eltern in einer Krisensituation bzw. bei großen Unsicherheiten in Erziehungsfragen oder Problemen zwischen den Elternteilen bedingt und aufrechterhalten werden. Familientherapie. Ein familientherapeutisches
Vorgehen ist dann indiziert, wenn das Problem des Kindes in erster Linie durch Interaktions- und Kommunikationsstörungen im Familiensystem bedingt ist. Interdisziplinäre Diagnostik. Nicht außer Acht gelassen werden darf auch die Möglichkeit, dass sich Verhaltensprobleme des Kindes primär auf Teilleistungs- bzw. Wahrnehmungsstörungen (z. B. im Bereich Aufmerksamkeit, Sprache, Motorik, sensorische Integration) zurückführen lassen, die eigene therapeutische Maßnahmen erforderlich machen (z. B. Ergotherapie, Logopädie, heilpädagogische Förderprogramme).
304
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
! Kindliche Verhaltensprobleme sind in ihrer Entstehung und Auswirkung auf die Selbstkonzeptentwicklung komplex und vielfältig und sind oft nur in einem multiprofessionellen Kontext verstehbar und behandelbar. Daher ist es für Kinderpsychotherapeuten notwendig und hilfreich, mit anderen Berufsgruppen vernetzt zu arbeiten.
11.2.3
11
Therapieziele
Die Beziehung zwischen Kind und Therapeut ist der zentrale Wirkfaktor in der Personzentrierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Durch das Angebot des freien Spiels erhält die Aktualisierungstendenz des Kindes die Chance, eigenes Erleben auszudrücken und durch neue Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung der organismischen Bewertung näher zu kommen. Dies wird in weiterer Folge auch das (Problem-)Verhalten des Kindes verändern. Rogers stellte fest, dass sich die Frage nach den Therapiezielen weniger auf dem Hintergrund einer bestimmten Therapietechnik beantworten lässt, sondern Antworten mehr in der philosophischen Haltung der Therapeutenperson zu finden sind, die sich dieser Technik bedient. Dazu stellte er folgende selbstkritische Überlegungen an: »Was ist das Ziel für das Kind?« Was möchten wir in unserer Arbeit mit einem Kind erreichen? … Einerseits gibt es diejenigen, die sich darum bemühen, das Kind und sein Verhalten in Einklang mit generell akzeptierten Verhaltensstandards zu bringen … Wir möchten gerne dem Delinquenten, dem sozial Unangepassten und dem Kind mit Schulproblemen normales Verhalten beibringen. In Bezug auf delinquente oder sozial unangepasste Menschen kann man sich etwas darunter vorstellen. Doch im Zusammenhang mit Kindern stellt sich die Frage, was als »normales Verhalten« zu verstehen ist.« Er führt weiter aus: »Akzeptieren wir die Gesellschaft und ihre sozialen Normen als unveränderbar und bestehen wir darauf, dass sich das Individuum danach zu richten hat? … Wenn ein Therapeut den Bewegungen und Trends unserer heutigen Kultur nicht offen 6
gegenüber steht, kann er leicht dazu verführt werden, bestimmte sozioökonomische Normen unverändert aufrecht zu erhalten. Daher müssen wir es zu unserer Aufgabe machen, ein sich ständig veränderndes Individuum dabei zu unterstützen, sich nicht an eine fixierte soziale Norm anzupassen, sondern an eine Gesellschaft, die ständigen Veränderungsprozessen unterworfen ist.« Daraus leitet er ab, dass es förderlicher wäre, das Therapieziel im Individuum selbst zu sehen: »Das anzustrebende Ziel liegt demnach im Wohlbefinden für das Kind, in seiner Fröhlichkeit oder in seinem inneren Wachstum, weniger in irgendeinem sozialen Ziel … Man wünscht sich, dass das Individuum sowohl sein psychologisches Wachstum wie auch seine innere Zufriedenheit so weit wie möglich entwickeln kann, und wünscht ihm ebenfalls eine vernünftige Konformität an soziale Anforderungen … Jedoch muss man anerkennen, dass jeder Therapeut von Problemkindern irgendein Ziel seiner therapeutischen Anstrengungen vor Augen hat … Je klarer der Therapeut sein Ziel definieren kann, desto konsistenter wird er daran festhalten und desto effektiver werden auch seine therapeutischen Bemühungen sein.« (Rogers, 1939; Übersetzung in Reisel, 2001b) Es können folgende Ziele formuliert werden, die ein Kind durch ein personzentriertes therapeutisches Beziehungsangebot erreichen kann (Weinberger, 2001, S. 184): 4 eine emotional korrigierende Beziehungserfahrung zu machen, 4 verleugnete und verdrängte Aspekte seines Erlebens wahrzunehmen und in sein Selbstbild zu integrieren, 4 sich besser verstehen zu lernen, 4 mit seinen Stärken und Potenzialen gesehen zu werden, 4 Selbstwirksamkeit zu erleben, 4 offener für neue Erfahrungen zu werden, 4 alternative Verhaltensweisen auszuprobieren. Diese im Rahmen der therapeutischen Beziehung neu gemachten Erfahrungen führen dazu, diese auch außerhalb des Spielzimmers auszuprobieren
305 11.3 · Spezielle Anforderungen an den Kinderpsychotherapeuten
und anzuwenden und damit im »realen Leben« neue Beziehungserfahrungen zu machen, die den Selbstwert des Kindes steigern und die Palette der positiven Selbsterfahrungen erweitern. Damit kann symptomatisches Verhalten (»Problemverhalten«) zunehmend in den Hintergrund rücken. Dabei unumgänglich ist die Beratung der wichtigen Bezugspersonen des Kindes, die die Veränderungen des Kindes verstehen und begleiten sollen, um den Therapiefortschritt im Alltag des Kindes verankern zu helfen (7 Kap. 11.5.5).
11.3
Spezielle Anforderungen an den Kinderpsychotherapeuten
Jeder Therapeut, der sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit erwachsenen Patienten arbeitet, erlebt selbst, dass er dabei in sehr verschiedenen Bereichen der therapeutischen Beziehung gefordert und angesprochen wird. Es besteht Einigkeit darin, dass sich die Rolle des Therapeuten in der Kindertherapie in vielen Bereichen von der in der Arbeit mit erwachsenen Patienten unterscheidet und daher die Anforderungen an einen Kindertherapeuten spezielle sind (BeckmannHerfurth, 1996; Weinberger, 2001). Diese umfassen sowohl funktionale wie auch emotionale Aspekte. Der Kindertherapeut muss sowohl mit der Erlebniswelt der Kinder als auch der der Erwachsenen vertraut und in der Lage sein, für beide Seiten empathisches Verstehen und bedingungsfreie Wertschätzung aufzubringen und gegebenenfalls auch als Brücke zur Wiederherstellung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Kind und Erwachsenenwelt zu fungieren. Während in der Erwachsenentherapie Impulse, Erfahrungen und Erleben des Patienten vor allem verbal zum Ausdruck gebracht werden und darin in der Regel keine Grenzen gesteckt werden müssen, muss in der Kindertherapie damit gerechnet werden, dass z. B. Impulse auch ausagiert werden. Damit wird ein handlungsfähiger Interaktionspartner benötigt, der in der Lage ist, das Beziehungsangebot aufrecht zu erhalten, auch wenn Grenzsetzungen nötig werden.
11
Rüstzeug für den Kindertherapeuten 5 Fundiertes entwicklungspsychologisches Wissen: Um dem jeweiligen kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungsstand des Kindes gemäß verstehen und reagieren zu können. 5 Fundiertes Wissen über die Klientenzentrierte Theorie und ausreichende empathische Fähigkeiten: Es gilt zu verstehen, was sich wie im kindlichen Spiel von Selbstkonzept und Aktualisierungstendenz ausdrückt. 5 Zugang zur kindlichen Ausdrucksweise im symbolischen Spiel: Spielhandlungen des Kindes werden in der Regel mit Spielhandlungen des Therapeuten zu beantworten sein. 5 Zugang zu eigenen kindlichen Anteilen und Lust am Spiel als Interaktionsform: Fähigkeit als Spielpartner zu fungieren und durch Rollenübernahme das kindliche Erleben ausdrücken zu können. 5 Tiefgehende Kenntnis der eigenen typischen Reaktionsmuster, um nicht automatisch zu reagieren, sondern gezielt zu handeln. 5 Gute Verankerung im eigenen Körper, körperliche Nähe aushalten und geben können. 5 Fähigkeit, als Begleiter zu fungieren: das Kind mit Aufmerksamkeit und Anerkennung in seinen Spiel- und Gestaltungshandlungen zu begleiten. 5 Fähigkeit, elterliche Funktionen zu übernehmen: Regressive Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen können, Bereitstellung von Orientierung, Strukturen und Grenzen zum Schutz und Halt des Kindes. 5 Kenntnisse über altersentsprechende Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen (Konsum-Medienwelten, Idole, Rituale, Rollenanforderungen). 5 Fähigkeit, das Problem des Kindes im Kontext seiner Familie und seiner Umwelt zu verstehen und zu verändern. 5 Bereitschaft zur Kooperation und Auseinandersetzung mit Eltern und im Umfeld des Kindes wichtigen anderen Bezugspersonen: Fähigkeiten zum Führen von beratenden Elterngesprächen, Helferkonferenzen, Gesprächen mit Schulen/Kindergärten etc.
306
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Zusammengefasst heißt das: »Kindertherapeuten sollten sowohl als Erwachsene präsent sein und dem Kind Sicherheit geben als auch sich mit dem Kind in dessen eigener Welt handelnd bewegen können« (Beckmann-Herfurth, 1996, S. 199). Dabei sind sehr reife Therapeutenpersönlichkeiten gefragt, die ein hohes Bewusstsein ihrer eigenen, kindlichen Anteile haben und diese gezielt und dennoch spielerisch in der Beziehung zum Kind einsetzen können.
11
11.4
Entwicklungspsychologische Grundlagen
11.4.1
Wo sich der Klientenzentrierte Ansatz mit entwicklungspsychologischen Ansätzen trifft
Wenn Persönlichkeitswachstum und eine Veränderung und Erweiterung des Selbstkonzeptes in einer Klientenzentrierten Psychotherapie unter der Bedingung empathischen Verstanden Werdens bei unbedingter Wertschätzung und Kongruenz der Therapeutenperson erfolgen, dann muss auch die ursprüngliche Selbstkonzeptentwicklung an diese Bedingung geknüpft gewesen sein (BiermannRatjen, 1989, S. 123). Um einem Kind Bedingungsfreie Positive Beachtung und Empathie entgegenbringen zu können, bedarf es auch der Kenntnis wesentlicher existenzieller aber vor allem emotionaler Bedürfnisse von Kindern in verschiedenen Altersstufen, deren adäquate Beachtung für ihr Wachstum und ihre Selbstkonzeptentwicklung von entscheidender Bedeutung sind. Bedürfnisse von Kindern basieren auf ihrem psychischen Entwicklungsstand, das heißt ihren jeweiligen emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen. Kenntnisse darüber liefert die Entwicklungspsychologie. Rogers war kein Entwicklungspsychologe. Im Folgenden werden wichtige Modelle der Entwicklungspsychologie vorgestellt, die in hohem Maße mit den Vorstellungen über die kindliche Entwicklung und ihre Bedingungen kompatibel sind, die sich aus dem Klientenzentrierten Konzept ableiten lassen.
11.4.2
Zum Begriff der Aktualisierungstendenz
Die Aktualisierungstendenz ist das grundlegende Axiom im Klientenzentrierten Ansatz (7 Kap. 3.2). Sie ist ein Entwicklungsprinzip, eine richtunggebende Kraft im Menschen. Rogers setzt voraus, dass bereits das Kind eine Tendenz zur Aktualisierung des Organismus besitzt und sein Verhalten immer der zielgerichtete Versuch ist, seine erlebten Bedürfnisse nach Aktualisierung, das heißt die Entwicklung all seiner ihm innewohnenden Möglichkeiten und Potenziale, in der von ihm wahrgenommenen Realität zu befriedigen. Die Aktualisierungstendenz bezeichnet »die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen. Dies meint die Entwicklung hin zu Autonomie« (Rogers, 1959b/1987, S. 21 f.). An anderer Stelle spricht Rogers »von der Tendenz des Organismus, sich in Richtung auf Reife zu bewegen. Dies beinhaltet Selbstaktualisierung oder Selbstverwirklichung« (Rogers, 1951/1973b, S. 422). Charlotte Bühler (1975, S. 78), Vertreterin der Humanistischen Psychologie und Entwicklungspsychologin, meinte zu den Ursprüngen der Entwicklung des Selbst, dass das Kind bereits als Neugeborenes zielgerichtet aktiv ist, und »mit einem fundamentalen Glauben bewegt sich dieses Kind in die Welt und zeigt schon ein paar Tage nach der Geburt deutliche Zeichen der Orientierung in Richtung auf Bedürfnisbefriedigung hin, auf schöpferische Expansion und die Tendenzen, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten«. Sie ist der Überzeugung, dass mit ungefähr acht bis zehn Monaten das Gewahrwerden des Selbst beim Kinde einsetzt und das Selbstbild durch die Erfahrung des emotionalen Klimas zwischen Mutter und Kind bestimmt wird. Der Ursprung des wahren Selbst liegt demnach in dem wachsenden Zutrauen des Kindes, Liebe und Fürsorge zu erfahren, die es ermutigen, sich aktiv in die Welt hineinzubewegen, seine Freiheit zu gebrauchen und sein Potenzial an Selbstaktualisierung und schöpferischer Expansion zu verwirklichen.
307 11.4 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
11.4.3
Die Selbstentwicklung in der neueren Säuglingsforschung
Für Daniel Stern (1992), Vertreter der neueren Säuglingsforschung, steht die Entwicklung des Selbstempfindens im Zentrum seiner Entwicklungstheorie und fungiert als organisierendes Prinzip, aus dem heraus ein Säugling sich selbst und die Welt erfährt. Er beschreibt, dass bereits ein Baby mit einem Empfinden, einem »Gewahrsein seiner selbst«, ausgestattet ist, ohne darüber reflexiv nachzudenken oder sich dessen bewusst zu sein. Schon ein Baby beginnt mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Erfahrungen zu machen, die dazu dienen, sich die für es zunächst völlig undifferenzierte und hochkomplexe Welt verfügbar zu machen. Ein Baby erlebt sich und andere unmittelbar, es ist nicht, wie in früheren psychoanalytischen Theorien angenommen, nur passiv oder symbiotisch gebunden, sondern gestaltet aktiv sein Erleben mit. Durch das Saugen an der Mutterbrust und an anderen Dingen macht es sinnliche Erfahrungen und erkundet dadurch seine Umgebung. Durch sein Schauen und seine Bewegungen, durch sein Schreien, Lallen und Lächeln nimmt es Kontakt zu seiner Umgebung auf. Es beginnt, sich selbst zu verwirklichen und aktiv Beziehungen aufzunehmen. Es ist ein »kompetenter Säugling« (Dornes, 1993). Stern geht davon aus, dass bestimmte Selbstempfindungen schon wesentlich früher vorhanden sind als Selbstbewusstheit und Sprache. Die Entwicklung des Selbst ist vom wechselseitigen Austausch mit bedeutsamen Anderen abhängig. Das Selbstempfinden entwickelt sich in Stufen und ist der zentrale Bezugspunkt und das organisierende Prinzip, aus dem heraus der Säugling sich selbst und die Welt erfährt und ordnet. Stern beschreibt vier Arten der Selbstempfindung (1992). Jede Selbstempfindung bleibt das ganze Leben lebendig, alle vier wachsen weiter und bestehen gleichzeitig nebeneinander. Der Säugling nimmt im Fluss der Ereignisse Regelmäßigkeiten wahr. Das Selbstempfinden ist Integration des Erlebens, kein kognitives Konstrukt (7 Kap. 4.6).
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Die vier Arten der Selbstempfindung nach Stern Das auftauchende Selbst Das Empfinden eines Kern-Selbst Das Empfinden eines subjektiven Selbst Das Empfinden eines verbalen Selbst
Das auftauchende Selbst (0–2 Monate) Säuglinge erleben von Geburt an das sich herausbildende oder »auftauchende Selbst«. Sie erleben niemals eine Phase völliger Ungetrenntheit. Die vielen einzelnen Selbsterfahrungen – er saugt, er bewegt sich, er schaut, er schläft, er gibt Laute von sich, er erfährt Hautkontakt – werden gekoppelt und darin erlebt der Säugling das Auftauchen von »Organisation«. Die Fähigkeiten, die dazu nötig sind, sind zum Teil angeboren und zum Teil erlernt: 4 Amodale Perzeption (kreuzmodale Wahrnehmung). 4 Physiognomische Perzeption: Gestalten werden nicht nur wahrgenommen, sondern lösen Affekte aus, die Unterscheidungskriterien bieten. 4 Vitalitätsaffekte: Das Gefühlsleben des Säuglings ist differenziert und von einem Reichtum, der über eine bloße Lust-Unlust-Unterscheidung weit hinausreicht. Das auftauchende Selbstempfinden ist kein bewusstes im Sinne einer Reflexion. Es wird auf einer präverbalen Ebene erlebt.
Das Empfinden eines Kern-Selbst (ca. 3–7 Monate) Mit der Wahrnehmung der eigenen Handlungsfähigkeit, Affektivität und zeitlichen Kontinuität entsteht ab dem zweiten bis dritten Lebensmonat das Empfinden des »Kern-Selbst«, einer »Getrenntheitsempfindung« als primäre Basis, auf der später Gemeinsamkeitserlebnisse mit anderen möglich sind. Das Empfinden eines Kernselbst ist auch noch kein bewusstes Erleben, das sich auf das Erleben folgender Selbst-Invarianten stützt: 4 Das Empfinden, Urheber der eigenen Handlungen zu sein (Willensgefühl und Erleben der Konsequenz des eigenen Handelns). Der Säugling macht nicht nur reflexhafte Bewegungen,
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
sondern ist z. B. in der Lage, den Daumen in den Mund zu stecken, mit den Beinchen die Decke wegzustrampeln, zu greifen oder mit den Armen etwas in Bewegung zu versetzen. Er ist in der Lage zu merken, ob er selbst das Mobile in Bewegung versetzt hat oder jemand anders. Selbsterzeugte Äußerungen haben Effekte, die ein propriozeptives Feedback liefern. 4 Das Empfinden eines körperlichen Zusammenhalts, ein körperliches Ganzes zu sein. 4 Die Wahrnehmung der eigenen Affektivität, das Erleben innerer Gefühlsqualitäten. 4 Das Gefühl des fortwährenden Seins: Man kann sich verändern und bleibt doch dieselbe Person.
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Die Selbstinvarianten werden integriert und als Episoden erinnert (umfasst Handlungen, Affekte, Wahrnehmungen). Bei wiederholten Erfahrungen werden diese zu generalisierten Episoden bzw. Ereignisstrukturen. Werden die Episoden mit Interaktionen verbunden, werden präverbale Repräsentanzen gebildet = generalisierte Interaktionsrepräsentanzen (RIG: »representations of interactions that have been generalized«), die die Grundeinheit der Beziehungsrepräsentationen darstellen.
Das Empfinden eines subjektiven Selbst (ca. 8–16 Monate) Das Kind entdeckt, dass es ein eigenes Seelenleben hat, das nicht identisch mit dem anderer ist, und entwickelt die Erkenntnis, dass Erfahrungen mit anderen geteilt werden können, dass intersubjektive Erfahrungen möglich sind. Für das Kind entsteht das Bedürfnis nach einer Gemeinsamkeit des Erlebens. Das Erleben eines »subjektiven Selbstempfindens« gilt als Voraussetzung für Gemeinsamkeitserlebnisse. 4 Inter-Attentionalität: Das Kind kann seine Aufmerksamkeit auf einen gewissen Fokus richten und merkt, dass auch die Mutter dies tut, dass sich ihre emotionalen Zustände ähneln (oder eben nicht, weshalb sie sich bemühen, die divergierenden Zustände in Übereinstimmung zu bringen und gemeinsame Aufmerksamkeit entwickeln). 4 Social referencing: Voraussetzung für die »soziale Bezugnahme« ist die Gemeinsamkeit affektiver Zustände. Wird das Kind unsicher, wendet es sich zur Mutter, um an ihrer Reaktion zu er-
fahren, welche Wahrnehmung bzw. welches Verhalten angebracht ist. Für das Kind geht es darum, auf welche Aspekte seines Erlebens reagiert wird, welche Teile seines Selbst gesehen, gehört und verstanden werden. In diesem Stadium werden zwischen Mutter und Kind Affektzustände abgestimmt, wobei die Mutter das Gefühl und die Empfindungen des Kindes intuitiv wahrnimmt und in ihrer eigenen Affektmodulation ausdrückt. Gelingt die Abstimmung zwischen Mutter und Kind nicht, bedeutet das, dass das Baby sein subjektives Erleben nicht mit anderen teilen kann. Affektabstimmung ist eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Anwendung von Symbolen und damit für Sprache.
Das Empfinden eines verbalen Selbst (ca. ab 16 Monate) Die Entwicklung des »verbalen Selbstempfindens« beginnt mit ca. 16 Monaten und ist nie abgeschlossen. Kinder entdecken, dass sie persönliches Wissen und Erfahrungen haben, die sie mit Hilfe von Symbolen (= Sprache) kommunizieren können. Die wachsende Fähigkeit des Kindes, sich sprachlich auszudrücken, bietet neue Kommunikationsmöglichkeiten. Auf der Ebene der Gefühle kommt es aber zwangsläufig zu einer Spaltung, da die Übersetzung der amodalen und affektiven Wahrnehmungen auf die sprachliche Ebene immer nur unvollkommen sein kann. Das Kind erlebt, dass es einen Teil seiner Empfindungen verbalisieren kann, andere aber nicht, dass Teile davon verstanden werden, andere aber nicht. Sterns Forschungsergebnisse sowie sein Vorgehen, nämlich die genaue Beobachtung von Kindern, zeigen Wege auf, zu beschreiben und genau abzubilden, was und wie Kinder wahrnehmen und erleben und liefern damit hilfreiche Perspektiven für empathisches Verstehen.
11.4.4
Selbstaktualisierung bedeutet Identitätsentwicklung
Das Modell der psychosozialen Entwicklung (Erikson, 1974) beschreibt das psychische Wachstum und Heranreifen des Menschen, indem die inneren und
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äußeren Konflikte eines Kindes im Verlaufe seiner Entwicklung und die Formen ihrer Verarbeitung dargestellt werden. Die Entwicklung der Identität gilt als an die Bewältigung ganz bestimmter Entwicklungsaufgaben und notwendiger Krisen gebunden, die sich in der aktiven Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt und seinen Bezugspersonen ergeben. Erikson schreibt dem Individuum ebenso wie Rogers eine Aktualisierungstendenz zu, wenn er schreibt: »Man kann daher von der Persönlichkeit sagen, dass sie sich entsprechend einer Stufenfolge entwickelt, die in der Bereitschaft des menschlichen Organismus prädeterminiert ist, auf einen sich erweiternden Radius bedeutsamer Individuen und Institutionen zugetrieben zu werden, sich seiner bewusst zu werden und mit ihm in Wechselwirkung zu treten« (a. a. O., S. 93). Auch Rogers
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(1951/1973b, S. 422) sieht es als Ziel der Selbstaktualisierung des Organismus an, sich »in Richtung auf Sozialisierung hin« zu bewegen. Für Erikson (1974, S. 96) bedeutet jeder notwendige Entwicklungsschritt, den jedes Kind durchläuft, einen Wendepunkt in der Entwicklung, »eine entscheidende Periode vermehrter Verletzlichkeit und eines erhöhten Potenzials«. Doch obwohl das Kind in manchen Hinsichten immer verletzlich ist, sei es gleichzeitig auch unglaublich beharrlich und bestrebt, sich auf vermehrte Autonomie und Selbstbestimmung hin weiterzuentwickeln. Und auch Rogers (1951/1973b, S. 424) meint, dass »die Vorwärts-Richtung des Wachsens mächtiger ist als die Zufriedenheit, die es mit sich bringt, infantil zu bleiben. Das Kind will sich aktualisieren, trotz der schmerzlichen Erfahrungen, die es dabei macht«.
Exkurs
Erikson’s Entwicklungsmodell Der Exkurs soll verdeutlichen, in welchen Fähigkeiten und Bedürfnissen Kinder einer empathisch verstehenden mütterlichen und väterlichen Begleitung bedürfen, um ein grundlegendes Selbstwert- und Autonomiegefühl zu entwickeln. Der Grundstein der Identität und die Hauptaufgabe des ersten Lebensjahres liegt nach Erikson im Aufbau eines Gefühls des »Urvertrauens«, womit er »eine alles durchdringende Haltung sich selbst und der Welt gegenüber« meint, die »sowohl ein wesenhaftes Zutrauen zu anderen als auch ein fundamentales Gefühl der eigenen Vertrauenswürdigkeit« beinhaltet (1974, S. 97). Dies entsteht »aus dem Zusammentreffen von mütterlicher Person und Neugeborenem, einer Begegnung der wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit und des gegenseitigen Erkennens« (a. a. O., S. 106). Das Baby ist in dieser Phase empfänglich für alles, was ihm geboten wird. Es saugt, es schaut, es erfreut sich an seinen Bewegungen, es spürt, es formt Laute, es lächelt und es stellt Kontakt zu seinen Bezugspersonen her, die wieder mit Zuwendung und Aufmerksamkeit antworten. Natürlich ist es unumgänglich, dass das Baby auch einmal unangenehme Erfahrungen macht, weil
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seine Bedürfnisse nicht immer und sofort gestillt werden können und sein Vertrauen auch einmal enttäuscht werden kann. Nach Erikson muss sich »gegen die Kombination dieser Eindrücke, einen empfindlichen Verlust erlitten zu haben, getrennt worden und verlassen worden zu sein, die alle einen Niederschlag von Urmisstrauen hinterlassen, das Urvertrauen durchsetzen und aufrechterhalten« (a. a. O., S. 102), denn »das bildet im Kind die eigentliche Grundlage für eine Komponente des Identitätsgefühls, die später die Gefühle umfassen wird, in Ordnung zu sein, man selbst zu sein und das zu werden, worauf andere Leute sich verlassen, dass man es wird« (a. a. O., S. 104). Fehlt dieses Gefühl des Urvertrauens, dann kann die Fähigkeit, sich »identisch« zu fühlen, gefährlich eingeschränkt werden. Im Verlauf des zweiten und dritten Lebensjahres wird eine neue Entwicklungsstufe aktuell. Das Kind beginnt sich von der Mutter abzulösen und zu emanzipieren und seinen autonomen Willen zu erleben. Es kann sich nun aktiv von der Mutter wegbewegen und auch wieder zu ihr hinbewegen. Gleichzeitig will es vermehrt Dinge selber machen und ist immer besser in der Lage, seine Bedürfnisse auch verbal zu artikulieren. Wesentlich in dieser Phase erscheint der Verlauf der Sauberkeitserziehung.
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Das Kind erlebt erstmals seine Fähigkeit, aktiv etwas zurückzuhalten oder etwas von sich herzugeben, etwas festzuhalten oder loszulassen. Der Kampf um den Inhalt des »Topfes« gewinnt somit symbolische Bedeutung für die Mutter-Kind-Beziehung. Nach Erikson »wird das ganze Stadium zu einem Kampf um Autonomie. Denn während das Kind sich darauf vorbereitet, fester auf seinen eigenen Füßen zu stehen, lernt es auch, seine Welt als »ich« und »du« und »mir« und »mein« abzugrenzen« (a. a. O., S. 110). Das Ziel dieser Entwicklungsstufe ist demnach, »das Gefühl der Selbstbeherrschung ohne Verlust der Selbstachtung« zu erfahren und dies gilt, nach Erikson, »als ontogenetische Quelle des freien Willens«. Ist das Kind in dieser Phase einer übermäßigen Beherrschung durch die Eltern unterworfen, die die mit dem Kind auftretenden Konfliktsituationen als Herausforderung zum Kampf missverstehen, in dem sie zu unterliegen fürchten, dann resultiert daraus ein »Hang zu Scham und Zweifeln«. Die Selbstkonzeptentwicklung des Kindes erfährt starke Einschränkungen (7 Kap. 4.9). Das Kind bedarf besonders im ersten Lebensjahr einer sicheren, warmen und vertrauensvollen Beziehung. Mit dem zweiten Lebensjahr entstehen aufgrund der wachsenden Kompetenzen des Kindes bereits vermehrt »Konfliktsituationen« (sog. Trotzphase), bei deren Lösung an die Eltern vermehrt die Anforderung und Herausforderung
11.4.5
Selbstaktualisierung braucht Bedingungsfreie Positive Beachtung und Empathie
»Mit dem Gewahrwerden des Selbst entwickelt das Individuum das Bedürfnis nach positiver Beachtung. Dieses Bedürfnis ist ein Wesenszug des Menschen. Es ist allgegenwärtig« (Rogers 1959b/1987, S. 49). Somit gilt dieses Bedürfnis für alle vom ersten Tag ihres Lebens an. An anderer Stelle wies Rogers darauf hin, wie wichtig die frühen Erfahrungen des Kindes für seine psychische Entwicklung sind, und er meinte »eines der grundlegenden Elemente ist die
gestellt wird, empathisch und verstehend auf die innerdynamischen Nöte des Kindes einzugehen. Im Verlauf des vierten und fünften Lebensjahres führt das Kind fort, was es bereits begonnen hat, nämlich die systematische Erkundung seiner Realität. Erikson meint »nachdem das Kind nun fest überzeugt ist, eine selbstständige Person zu sein, muss es nun herausfinden, was für eine Art von Person es werden könnte« (a. a. O., S. 117). Dafür unabdingbar ist die Entwicklung einer Geschlechtsidentität. Aus dieser Phase, in der die von Freud benannte »ödipale Entwicklung« erfolgt, sollte nach Erikson das Kind »mit einem Gefühl der Initiative« hervorgehen und damit eine Vorstellung von dem erwerben, was es als männliches oder weibliches Selbst einmal sein kann. Die Phantasie des Kindes ist in dieser Zeit besonders bunt und lebendig (»magisches Denken«) und kann auch bedrohliche, Angst erregende Ausmaße annehmen. Gerade Gefühle der Eifersucht und Rivalität können vom Kind oftmals so erlebt werden, dass es, wenn es dabei nicht empathisch verstanden und akzeptiert wird, zu einem tiefen Schuldgefühl kommt und, nach Erikson, »die Kinder lernen, sich selbst bis zum Zustand allgemeiner Gehemmtheit einzuschränken« (a. a. O., S. 121). Ein ungebrochenes, d. h. in das Selbstkonzept integriertes, Initiativegefühl würde dem Kind jedoch erlauben »mehr es selbst zu sein« und sich »neuen, wünschenswert erscheinenden Gebieten mit unvermindertem Eifer zuzuwenden«. (s. a. Reisel, 2001a)
Wahrnehmung vom Selbst als einer Person, die geliebt wird« (Rogers, 1951/1973b, S. 433). Die Selbstentwicklung ist demnach davon abhängig, ob schon die kindlichen Erfahrungen empathisch begleitet wurden. Dieser Gedanke wurde von Biermann-Ratjen (1989, 1996) weiterentwickelt und zu einer Theorie der Klientenzentrierten Entwicklungspsychologie ausgearbeitet (7 Kap. 4). Nach Biermann-Ratjen (1996) können Erfahrungen nur dann zu Selbsterfahrungen werden, wenn das Kind wahrnehmen kann, dass es in diesen von einem anderen empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt wird. Das Erleben des Kindes,
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seine Gefühle, seine Wahrnehmungen und ihre Bewertungen, sowie seine Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Befürchtungen, können von den wichtigen Bezugspersonen richtig oder falsch verstanden werden, anerkannt oder bewertet werden, und dementsprechend in das Selbstbild integriert werden oder auch nicht. Biermann-Ratjen (a. a. O., S. 17) führt weiter aus: »Eine Erfahrung in das Selbstbild integrieren heißt, eine positive Beziehung zur Erfahrung aufnehmen«. Doch »wenn das Kind nicht um seiner selbst willen und so, wie es ist und werden kann, anerkannt wird, d. h. auch verstanden und wertgeschätzt, sondern z. B. um der Gefühle willen, die der wichtige Andere dabei hat, und wenn ihm keine Gelegenheit gegeben wird, das bewusst wahrzunehmen, u. a. deswegen, weil es dem wichtigen Anderen selbst nicht bewusst ist, dann wird es diese Selbsterfahrung nicht in sein Selbstbild integrieren können« (a. a. O., S. 20). Wichtig ist zu beachten, dass (a. a. O., S. 17) »die in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen immer auch bewertete Erfahrungen sind, und zwar sowohl organismisch als auch sozial bewertete. Die soziale Bewertung lautet: der unbedingten positiven Beachtung wert. Unter nicht unbedingter positiver sozialer Bewertung … sind nicht nur die moralischen Bewertungen zu verstehen …, vielmehr ist jede Form von Nichtbeachtung, Missachtung und der Affekt, der dabei mitschwingt, aber auch jede Vorstellung von dem, was das Kind erlebt und zum Ausdruck bringt, oder jedes Motiv, das ihm vom Erwachsenen unterstellt wird – und wiederum der Affekt, von dem dieses Nichtverstehen begleitet wird – als eine Bewertung anzusehen. Die nicht unbedingt wertschätzende soziale Bewertung wird nicht in das Selbstbild internalisiert. Die Spur, die sie hinterlässt, ist eine Verdrängung der organismischen Bewertung und ein Hindernis für die Integration der Selbsterfahrung in das Selbstbild.« Stern (1979, 1992) lieferte mit seiner feinfühligen Beschreibung der Beziehungsgestaltung zwischen Babys und Müttern einen wertvollen Beitrag dazu,
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genau zu verstehen, was Empathie in der frühen Eltern-Kind-Beziehung ausmacht. Weil Babys zunächst auf einem nonverbalen Weg ihre Affekte und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, ist für ein empathisches Verstehen dieser Äußerungen des Kindes eine besondere Feinfühligkeit gefordert. Stern beschreibt diese Fähigkeit als »affect attunement« oder Affektabstimmung. Fallvignette
Beziehungsgestaltung zwischen Baby und Mutter Ein neun Monate altes Baby schlägt mit der Hand auf sein Spielzeug, zunächst ein bisschen ärgerlich, dann mit wachsendem Vergnügen und einem bestimmten Rhythmus und schaut dabei seine Mutter an, als ob es fragen wollte: na was sagst du dazu? Die Mutter kommentiert das Spiel des Kindes mit freudigem Gesicht und begleitet die Armbewegungen des Kindes mit einem gelauteten »Kaa-Bum«. Das Kind zeigt wiederum Freude über diese Reaktion und setzt sein Spiel verstärkt fort. Nun könnte die Reaktion der Mutter auf dieselbe Äußerung des Kindes jedoch ganz anders aussehen. Sie könnte entsetzt dreinblicken und dem Kind das Spielzeug entreißen und begleitend dazu »Oh nein, das darf man nicht« rufen, weil sie z. B. fürchtet, das Kind könnte sich wehtun oder das Spielzeug zerstören. Die Mutter hätte in beiden Fällen eine Bedeutungszuschreibung und damit eine soziale Bewertung der Handlung des Kindes vorgenommen und dem Kind auch vermittelt. Die Frage ist, ob es der Mutter gelungen ist, die Bedeutung der Situation aus dem inneren Bezugsrahmen und Erlebenszustand des Kindes heraus wahrzunehmen oder ob sie von ihren eigenen Bewertungen so gefangen war, dass sie auf das Erleben des Kindes nicht eingehen konnte. Im ersten Fall kann man von einer empathischen Reaktion sprechen. Im zweiten Fall wird sich das Kind weder verstanden noch angenommen gefühlt haben. Stern spricht davon, dass die Eltern durch den Prozess der Bedeutungszuschreibung
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
aus dem kindlichen Organismus eine Person machen. Auch aus seiner Sicht sind die Art und Weise der elterlichen Beziehungsgestaltung entscheidend dafür, ob das Kind seine Erfahrungen zu Selbsterfahrungen machen und in sein Selbstbild integrieren kann oder eben nicht. Im ersten Fall des Beispiels macht das Kind die Erfahrung: Ich bin ein Kind, dem Spielen Spaß macht und Mami sieht und freut sich, wenn ich mich freue. Im zweiten Fall macht es die Erfahrung: Ich bin ein Kind dessen Freude beim Spielen Mami böse und mir Angst macht. Selbst wenn das neunmonatige Kind diese Erfahrung noch nicht verbal äußern und auch nicht bewusst machen kann, macht es mit ihr eine Beziehungserfahrung mit Auswirkungen für die Entwicklung des Selbstkonzeptes.
11.4.6
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Die Bedeutung von Beziehungserfahrungen
Nach Bowlby (1975) hat das Kind vom Beginn seines Lebens an das Bestreben, soziale Beziehungen einzugehen. Die elementaren Verhaltensweisen des Kindes, wie Schreien, Lächeln, Rufen, Nachfolgen, Anklammern, haben vor allem eine wichtige Funktion, nämlich die Nähe der wichtigsten Bezugsperson, der Mutter, sicherzustellen. Für Bowlby ist diese Beziehung weniger durch Abhängigkeit gekennzeichnet als durch ein Band der Ver-Bindung, deshalb verwendet er dafür den Begriff »attachment«. Dadurch wird auch deutlich gemacht, dass es sich bei der Mutter-Kind-Beziehung um einen wechselseitigen, interaktiven Prozess handelt, an dessen Gestaltung beide, Kind und Mutter, aktiv beteiligt sind (7 Kap. 4.7). Ainsworth (1979) konnte zeigen, dass die Qualität der Bindung unterschiedliche Formen annehmen kann. Sie beobachtete die Reaktionen einjähriger Kinder auf eine kurzfristige Trennung von der Mutter (Fremde-Situation-Test). In ihrer Versuchsanordnung kam das Baby mit seiner Mutter in ein Spielzimmer, also in eine für es fremde Umgebung. Danach kam eine fremde Person, die mit dem Kind spielte, die Mutter verließ für einige Minuten den
Raum, um dann wieder zurückzukehren. Im Beisein der Mutter zeigten sich die meisten Kinder an dieser neuen Umgebung interessiert, als die Mutter sie verließ, nahm ihr Neugierverhalten ab und sie zeigten deutliche Versuche, wie weinen oder hinterherlaufen, um die Nähe zur Mutter wiederherzustellen. Die Analyse dieser Trennungs- und der anschließenden Wiedervereinigungsszenen zusammen mit der der Interaktion von Mutter und Kind beim Spiel gaben Hinweise darauf, welches Bindungsmuster das Kind entwickelt hatte. Die Bindungsqualität ist einerseits abhängig vom Ausmaß der »Feinfühligkeit« der Mutter (Fähigkeit, Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und darauf prompt und angemessen zu reagieren; Ainsworth, 1974) und andererseits von der Fähigkeit der Mutter zur Metakognition (Fähigkeit, über sich selbst, das Kind und die Beziehung zum Kind nachdenken und reflektieren zu können). Mütter von Babys mit unsicherem Bindungsverhalten zeigen sich eher uneinfühlsam gegenüber den Signalen des Kindes und sind inkonsistent in ihren Reaktionen. Sicher gebundene Kinder zeigen später ein adäquateres Sozialverhalten, mehr Phantasie und positive Affekte beim freien Spiel, größere und längere Aufmerksamkeit, höheres Selbstwertgefühl und weniger psychopathologische Auffälligkeiten. Feinfühlige Mütter reagieren »empathisch« auf ihre Kinder, lassen sie nicht lange weinen, haben häufig gefühlvollen körperlichen Kontakt zu ihrem Kind, sind aufmerksam und annehmend und schauen bei ihren Interaktionen das Kind an. Für diese Kinder ist die Beziehung zur Mutter zu einem Ort der Sicherheit geworden, von dem aus sie ihre »Ausflüge« in eine neue Welt der Entfaltungsmöglichkeiten starten können, um immer, wenn es notwendig ist, dorthin wieder zurückzukehren, wo sie sich sicher fühlen können. In diesem Sinne entspricht das genau dem, was das Klientenzentrierte Konzept meint: Spezifische Beziehungserfahrungen beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung. Auch Peters (1986, S. 238) belegt, dass, im Sinne von Rogers, »sicher gebundene Kinder sich offener neuen Erfahrungen stellen, diese unverzerrt integrieren können und insgesamt ein größeres Maß an Selbstaktualisierungsstreben entfalten als unsicher gebundene Kinder«. Höger (1990) hat den Begriff der mütterlichen Feinfühligkeit mit dem Empathiebegriff von Rogers
313 11.4 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
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Die verschiedenen Bindungsstile nach Ainsworth (1979) 5 Sicher gebundene Kinder – explorieren die Umgebung nur bei Anwesenheit der Mutter, – sind vorsichtig vor der fremden Person in Anwesenheit der Mutter, – zeigen Kummer bei Trennung und suchen aktiven Kontakt bei der Rückkehr der Mutter und halten ihn aufrecht, – wenn sie keinen Kummer zeigen, begrüßen sie die Mutter und initiieren gemeinsame Interaktion, – können von der Mutter getröstet werden, – benutzen die Mutter als »sichere Basis«, von der aus die Exploration der Umwelt gestartet wird und zu der zurückgekehrt wird, wenn Verunsicherung eintritt, – haben als Strategie der Affektregulation: uneingeschränktes Wahrnehmen und Erleben von positiven und negativen Emotionen = vollständige Symbolisierung, Kongruenz. 5 Unsicher-vermeidend gebundene Kinder – explorieren eigenständig, – zeigen weniger affektiven Austausch, – zeigen sich der fremden Person gegenüber aufgeschlossen, sogar wenn sie alleine mit ihr sind,
verglichen und dabei festgestellt, dass sie den gleichen Sachverhalt abbilden. Patienten fühlen sich dann von ihrem Therapeuten verstanden, wenn dieser ihre Signale wahrnehmen, sie richtig interpretieren und prompt und angemessen auf sie eingehen kann. Im Sinne der Feinfühligkeit bedeutet dies nicht, Wünsche zu erfüllen, sondern sich in einer wechselseitigen Abstimmung zwischen den Interaktionspartnern z. B. über sie zu verständigen. Höger schreibt dazu: »In der Klientenzentrierten Psychotherapie geht es darum, »… Menschen in einer Sicherheit gewährenden Beziehung zu sich selbst kommen zu lassen« (1990, S. 51).
–
zeigen weniger Kummer bei der Trennung von der Mutter und wenig manifesten Kummer bei der Rückkehr der Mutter, – vermeiden die aktive Kontaktaufnahme mit der Mutter, – sind vorrangig an Gegenständen und weniger an Personen interessiert, – haben die Strategie der Affektregulation: Deaktivierung von Affekten. 5 Unsicher-ambivalent gebundene Kinder – zeigen wenig Explorationsverhalten, – nehmen sich vor fremden Personen in Acht, – zeigen Kummer bei der Trennung, – zeigen Kummer bei der Wiedervereinigung, – können von der Mutter kaum getröstet werden, möchten getröstet werden und verweigern es zugleich, – haben die Strategie der Affektregulation: übermäßiges Ausagieren von Affekten. 5 Desorganisiert gebundene Kinder (nach Main, 1999) – Zeigen Verhaltensweisen, die keiner der drei anderen Gruppen zugeordnet werden können, wie unadäquates Stürzen ohne Trostsuchen, gegen die Wand laufen, sich verletzen. Können keine Strategie der Affektregulation entwickeln. Sind meist traumatisierte, misshandelte Kinder oder Kinder von schwer traumatisierten Eltern.
! Die Bindungstheorie betrachtet das Bindungsbedürfnis als ein von Trieben und anderen Bedürfnissen unabhängiges Bedürfnis, das für die psychische Entwicklung entscheidend ist. In der Klientenzentrierten Theorie nennen wir es das Suchen nach Bedingungsfreier Positiver Beachtung. Die Art, wie die wichtigen Bezugspersonen auf dieses Bindungsbedürfnis reagieren, führt zu einem charakteristischen Bindungsstil, der sich durch zeitliche Stabilität auszeichnet und der der Prototyp für spätere emotionale Beziehungen ist.
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Die neuesten Studien der Bindungsforschung (Schmücker & Buchheim, 2002) zeigen, dass weitere Faktoren einen wichtigen Beitrag zu sicherer Bindung leisten: Die Fähigkeit zu Gemeinsamkeit und Synchronizität, sowie die Fähigkeit dazu, die inneren Vorgänge im Kind, z. B. während des Spielens, differenziert benennen zu können. Dies bestätigt die Bedeutung des genauen Verbalisierens von Gefühlen auch im therapeutischen Kontext. Daneben trägt die Fähigkeit der Mutter, ihre eigenen negativen Gefühle wie Ärger, Trauer und Wut im Beisein des Kindes ausdrücken zu können, ebenfalls zu sicherer Bindung bei. Dieses Forschungsergebnis bestätigt die klientenzentrierte Annahme der Bedeutung von Kongruenz in Beziehungen sehr deutlich. Winnicott (1990) hat der Fähigkeit der Mutter, ihr Kind physisch und psychisch halten zu können, große Bedeutung zugeschrieben. Er geht von folgenden Zusammenhängen aus: Die »holding function« bietet die Grundlage für ein grundlegendes Gefühl von Sicherheit. Dem Gesichtsausdruck der Mutter kommt gleichsam eine Spiegelfunktion zu. Im Gesichtsaudruck der Mutter spiegelt sich quasi für das Baby seine eigene psychische Verfassung wider, es erlebt sich im Ausdruck der Mutter. Das Gewahrwerden seiner selbst hängt davon ab, wie es sich selbst in seiner Beziehung zur Mutter erfahren kann. Dies wiederum hängt davon ab, was die Mutter an ihrem Kind überhaupt wahrnehmen kann und dass die Mutter die Gefühle ihres Kindes wahrnimmt und sich ihr empathisches Begleiten in ihrem »Blick« widerspiegelt. Die Angst, der Schmerz, die Lust und die Freude des Kindes können sich jedoch nur dann im Gesichtsausdruck der Mutter wieder finden, wenn sie diese Gefühle des Kindes nicht von sich selbst fernhalten muss. Nach Winnicott »müssen viele Kinder aber offenbar die Erfahrung gemacht haben, nicht das zurückzubekommen, was sie selbst geben. Sie schauen – und sehen sich selbst nicht wieder, sondern ihre Mutter. Bleibt das Antlitz der Mutter ohne Antwort auf das Kind, so wird das Kind zwar lernen, dass man Spiegel anschauen kann, es wird aber nicht begreifen, dass man in Spiegel hineinschauen kann« (a. a. O., S. 121 f.). Winnicott spricht in diesem Zusammenhang von der »hinreichend fürsorglichen Mutter«, die ihrem Kind vor allem »die Erfahrung von Zuverlässigkeit« und »Gehaltenwerden« ermöglicht.
11.4.7
Das Weltbild des Kindes: die Konstruktion der Wirklichkeit
Jean Piaget, einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts, legte seinem Verständnis vom Menschen – ebenso wie Rogers (7 Kap. 3) – eine zutiefst konstruktivistische Sicht zu Grunde. Obwohl sich Piaget hauptsächlich mit der kognitiven Entwicklung des Kindes beschäftigt hat, weist sein äußerst umfangreiches Theorie- und Entwicklungsmodell Überschneidungen mit dem Klientenzentrierten Ansatz auf, besonders was den Gedanken des organismischen Wachstums und einer eigenen Konstruktion der Wirklichkeit betrifft. Für Piaget möchte das Kind »das Erwachsensein nicht erreichen, indem es die Vernunft und die Regeln des Benehmens fertig übernimmt, sondern indem es sie durch seine Bemühungen und seine persönliche Erfahrung erwirbt« (Piaget, 1972, S. 141). Demnach ist Lernen nur in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt vorstellbar und immer an die eigene Erfahrung gebunden. Das Kind setzt sich von Anfang an aktiv mit seiner Umwelt auseinander und bildet zunehmend integrierte kognitive Schemata, um die Welt zu begreifen. Die Art und Weise, wie das Kind seine Umwelt wahrnimmt, ist vor allem auch durch seine geistigen Fähigkeiten bedingt und unterscheidet sich deutlich vom Denken Erwachsener. Drei zentrale Begriffe der kognitiven Entwicklung des Kindes werden im Folgenden beschrieben: 4 die »Objektpermanenz«, 4 der »Egozentrismus der Wahrnehmung« und 4 das »magische Denken«. Alle drei Aspekte des kindlichen Denkens, jeder für eine bestimmte Altersstufe kennzeichnend, sind wesentlich, um zu verstehen, wie und warum Kinder auf diese und nicht andere Weise bestimmte Dinge wahrnehmen und denken. Wenn, nach Rogers, »der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens das innere Bezugssystem des Individuums selbst ist« und das dann möglich wird, wenn »die Welt der Erfahrung soweit wie möglich durch seine Augen gesehen wird« (1951/1973b, S. 427), dann muss man dazu nicht nur einiges darüber wissen, wie Kinder fühlen, sondern sich auch klar darüber sein, wie Kinder denken.
315 11.4 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
Objektpermanenz Definition Unter »Objektpermanenz« versteht man »die Vorstellung von der Substanzhaftigkeit von Objekten, ihrer andauernden Existenz, auch unabhängig von der Wahrnehmung und der Handhabung durch das Individuum« (Oerter & Montada, 1987, S. 167).
Piaget konnte in seinen umfangreichen Studien, in denen er Kinder in ihrer geistigen Entwicklung genau beobachtete, zeigen, dass bis zum Alter von fünf Monaten für Babys Gegenstände, die man vor ihrem Blickfeld plötzlich verschwinden lässt, nicht mehr existieren. Wenn ein kleiner roter Ball vor den Augen des Kindes unter einem Polster verschwindet und danach wieder hervorkommt, freut sich das Kind an diesem Anblick, es scheint den Ball wieder zu erkennen, hat aber während seines Verschwindens keinerlei Vorstellung von ihm gehabt. Für das Kind ist nur wirklich, was es sehen kann. Mit der Zeit wird das Kind beginnen, den vor seinen Augen verschwundenen Ball zu suchen, doch dauert es bis ins zweite Lebensjahr, bis sich der Objektbegriff des Kindes zu einem »Schema von einem permanenten Gegenstand« entwickelt hat. Erst dann hat das Objekt substanziellen Charakter, unabhängig davon, ob man es sieht, er besteht in der Vorstellung weiter. Die »Objektpermanenz« meint also, »dass ein Kind erst mit dessen Erwerb begreift, dass Gegenstände – und natürlich auch Personen – weiter bestehen, auch wenn sie seiner Wahrnehmung und seiner unmittelbaren Reichweite gerade entzogen sind« (Leber, 1989, S. 181). Demnach lebt das Kind zunächst in einer Welt, in der es für es keine bleibenden Gegenstände gibt. Dies hilft besser verstehen zu können, warum kleine Kinder zuweilen fürchterlich verzweifelt weinen, wenn sich die Mutter von ihm weg und für es nicht mehr sichtbar in ein anderes Zimmer bewegt. In diesem Moment ist die Mutter aus der kindlichen Realität nicht nur kurzfristig verschwunden, sondern scheint gleichsam verloren. Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Kind, jedes mal, wenn die Mutter sich entfernt, in Verzweiflung ausbrechen muss, weil es ein Wohl-
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befinden auch aus seinen eigenen Ressourcen schöpfen kann. Es wird die Mutter, wenn sie zurückkommt, freudig wieder erkennen. Doch verlässt die Mutter ihr Kind in einem Augenblick, indem das Kind ein Bedürfnis nach ihrer Nähe hat, tritt die oben beschriebene Realität ein. Leber (1989) meint dazu, dass es dem Kind dann allmählich klar wird, »dass es sich nicht im Mittelpunkt der Welt befindet, nicht Beweger und nicht Bewirker von allem ist, sondern nur begrenzten Einfluss auf das Geschehen nehmen kann«. Diese Erkenntnis »nicht über alles verfügen zu können, dürfte beim Kind große Angst auslösen und ist mit einer kaum zu überschätzenden emotionalen Anforderung verbunden« (a. a. O., S. 182). In der weiteren Entwicklung des kindlichen Denkens nimmt das Kind seine Realität immer nur von seinem eigenen Standpunkt wahr. Im Alter von zwei bis vier Jahren ist das Denken des Kindes vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es prälogisch, animistisch und antropomorphistisch ist. Die unbelebte Natur und Gegenstände werden als beseelt, als lebendig wahrgenommen, es werden ihnen Gedanken, Regungen und Willenshandlungen zugeschrieben.
Magisches und egozentrisches Denken Definition Mit Hilfe des »magischen Denkens« und Handelns nimmt das Kind an, mit seinem Willen und seiner Vorstellung Dinge beeinflussen zu können und nimmt damit aktiv Einfluss auf die Bewältigung Angst machender Einflüsse. Der »Egozentrismus der Wahrnehmung« bezeichnet vor allem »die Unfähigkeit, sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, die Perspektive eines anderen einzunehmen oder die eigene aktuelle Sichtweise als eine unter mehreren Möglichkeiten zu begreifen.
Ein Kind dieses Alters hat noch keine Zweifel, ob der Gesprächspartner verstanden hat, was es sagt, es fragt nicht nach. Es weiß nicht, dass der andere die Dinge vielleicht nicht so versteht und sieht, wie es selbst« (Oerter & Montada, 1987, S. 420). Nach Piaget handelt es sich dabei um »den Mangel an
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
einer Unterscheidung zwischen dem Ich und der äußeren Realität« und »dieses Durcheinander führt letzten Endes zur Vorrangstellung des eigenen Standpunktes« (1972, S. 206). Das Kind schließt von sich auf die Umwelt und glaubt auch, dass es mit seinen Gedanken und Handlungen Ereignisse hervorbringen kann. Das magische und egozentrische Denken führt oftmals zu Formulierungen kindlicher Gedankengänge, die dem erwachsenen Verständnis vielleicht rätselhaft und versponnen erscheinen mögen. Gleichzeitig produziert es eine Reihe von kindlichen Aussagen, die einem wohlwollend zuhörenden Erwachsenen oft ein herzliches und berührtes Gefühl davon vermittelt, wie die kindliche Logik »denkt«. Würden Eltern ihre Kinder aus den Augen von deren Wirklichkeit verstehen, könnte es nicht passieren, dass kindliche Ideen und Behauptungen als »unsinnig« abgetan werden oder, in schlimmen Fällen, sogar als zu bestrafende Dummheiten erlebt werden. Das Kind will akzeptiert werden in der Art, wie es die Welt wahrnimmt und erlebt, und nicht dafür missachtet werden, dass es der erwachsenen Logik noch nicht gerecht wird.
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11.5
Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie
Folgt man den von Rogers (1957/1991a) beschriebenen sechs »notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsveränderung durch Psychotherapie« (7 Kap. 6) sowie den von Axline (1947) formulierten acht Grundprinzipien der nondirektiven Spieltherapie (7 Kap. 11.1.2), dann lässt sich ersehen, dass die therapeutischen Beziehungsangebote in der Klientenzentrierten Erwachsenenund Kindertherapie in wesentlichen Aspekten übereinstimmen. Dennoch muss man die Frage stellen, auf welche Art und Weise ein Klientenzentrierter Kindertherapeut sein kongruentes Erleben, seine unbedingte Wertschätzung und sein empathisches Verstehen dem Klientenkind bzw. Jugendlichen gegenüber zum Ausdruck bringt bzw. in sein Beziehungsangebot so einfließen lässt, dass der Patient (das Kind oder der Jugendliche) »zumindest in Ansätzen wahrnimmt, dass es/ihn der Therapeut bedingungslos wertschätzt und empathisch versteht«, was als wesentliche, namentlich sechste Bedingung für konstruktive Persönlichkeitsveränderung, in Rogers’ (1957/1991a) Ausführungen gilt.
Fallvignette
Das egozentrische Weltbild des Kindes Zwei Mütter mit ihren Kindern sitzen sich in der U-Bahn gegenüber. Das eine Kind ist im Kleinkindalter und sitzt in seinem Kinderwagen, schaut fröhlich um sich und lallt zufrieden mit sich und seinem Bilderbuch. Das andere Kind, ein etwa Dreijähriger, beobachtet interessiert den Kleinen bei seiner Beschäftigung. Er beginnt, Kontakt zu dem kleineren Kind aufzunehmen, streckt ihm behutsam seine Hand entgegen. Der Kleine ist gerne bereit, seine Aufmerksamkeit von seinem Bilderbuch auf den neuen Freund zu richten und es entwickelt sich eine berührend zu beobachtende Anbahnung einer kindlichen Kontaktaufnahme. Beide Mütter sind in ihre eigenen Zeitungen vertieft und beobachteten das Geschehen nur aus den Augenwinkeln. Schließlich erreicht der Zug die Station, an
der der Dreijährige und seine Mutter aussteigen, ein Zoobesuch ist ihr Ziel. Der Dreijährige verabschiedet sich von seinem kleinen Freund, winkt ihm und ruft »tschüs«, was der Kleine spontan ebenfalls mit Winken beantwortet. Kurz vor dem Aussteigen meint der Dreijährige dann: »Tschüs, ich komm eh dann wieder!«. Ist Ihnen klar, was er damit meinte? In seiner Realität geht er jetzt in den Zoo, um dann wieder mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. In seiner »egozentrischen« Wahrnehmung erscheint es ihm ganz logisch, dass der kleine Freund danach in derselben U-Bahn in derselben Station wieder anzutreffen sein wird. Er ist sich ganz sicher, ihn wieder zu sehen. Warum sollte sich etwas an der Situation, die er gerade verließ, ändern, bis er wieder dahin zurückkehren wird?
317 11.5 · Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie
Goetze (2002, S. 79) führt aus: »Die Therapie ist nicht die Anwendung einer Theorie oder Technik, sondern die Umsetzung personenzentrierter Einstellungen des Therapeuten zum Kind«. Und weiter: »In der personenzentrierten Spieltherapie steht die Beziehung zwischen Kind und Therapeut und nicht der Gebrauch bestimmter Spielmittel, die Anwendung von Techniken oder die Interpretation kindlicher Äußerungen im Mittelpunkt«(a. a. O., S. 82).
Im Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit dem Kind gegenüber steht 5 nicht das Symptom, sondern das Kind als Person in seiner Ganzheit, 5 nicht das Problem-Verhalten des Kindes, sondern sein Erleben, 5 nicht die Vergangenheit, sondern das Hier und Jetzt, 5 nicht Zielerreichung durch Interventionen, sondern In-Beziehung-Sein und inneres Mitschwingen mit dem, was das Kind momentan erlebt und ausdrückt, 5 nicht Korrekturen und Erklärungen, sondern empathisches Verstehen und unbedingte Wertschätzung des Kindes in seiner subjektiven Welt, 5 nicht das Aufzeigen von Lösungen, sondern das Vertrauen in die eigenen Problemlösungsfähigkeiten des Kindes, 5 nicht verbal-reflektierende Resonanz, sondern interaktiv-handelnde Spielresonanz.
son interagiert mit dem Kind in den von ihm gewählten Medien. Sie gibt Resonanz in der Interaktion, Resonanz durch ihr Handeln im Medium. Dabei ist sie auf verbaler Ebene empathisch, ist feinfühlig, stimmt sich auf Affekte ein, spiegelt zuweilen, allerdings nicht wörtlich, das kindliche Handeln – die Therapeutenperson tut mehr als all dies, sie gibt durch ihre Interaktion Resonanz auf das Handeln des Kindes.« (Behr, 1996, S. 53) Er gibt in der Folge eine Reihe anschaulicher Beispiele, wie die Interaktionsresonanz in verschiedenen Spielformen (Regelspiel, Konstruktionsspiel, Rollenspiel, Kampfspiel, bildendes Gestalten und sprachliches Agieren) aussehen kann, um den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess zu entsprechen. ! Die therapierelevanten Haltungen Bedingungsfreie Positive Beachtung, Einfühlendes Verstehen und Kongruenz des Therapeuten kommen während der Therapiestunde entweder im direkten Beziehungskontakt zum Kind in Hier-undjetzt-Situationen verbal oder nonverbal oder innerhalb analoger Spielsituationen verbal oder durch eine Spielhandlung (Interaktionsresonanz) zum Ausdruck. Entweder reagiere ich als Therapeut direkt auf das Kind oder ich lasse meine Spielfigur stellvertretend antworten bzw. handeln.
11.5.1
Behr (1996) fasst das Wesen eines personzentrierten Beziehungsangebotes in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen damit zusammen, dass er Therapie »als Erleben von Beziehung« begreift. Er führt das Konstrukt »Interaktionsresonanz« ein, um zu beschreiben, worin die klientenzentrierten therapeutischen Haltungen zwischen Kind und Therapeut zum Ausdruck kommen, und beschreibt es wie folgt: »In den Spielstunden inszeniert das Kind Beziehungsmuster. Es bedient sich dazu verschiedener Medien, die über Sprache hinausgehen, in der Regel des Spielens. Die Therapeutenper6
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Bedingungsfreie Positive Beachtung
Bedingungsfreie Positive Beachtung ist keine Technik, sondern ein wesentlicher Bestandteil einer zwischenmenschlichen Beziehung. Das Kind braucht für seine psychische Entwicklung positive Beachtung, die nicht an Bedingungen geknüpft wird. Es geht um ein Wertschätzen der Person des Kindes, nicht unbedingt seiner Verhaltensweisen. Weinberger (2001, S. 96) führt dazu aus: »Das Kind wird mit all seinen Gefühlen, Gedanken und Handlungen grundsätzlich angenommen. Die störenden Verhaltensweisen des Kindes werden als Versuch anerkannt, auf seine Inkongruenz aufmerksam zu machen
318
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Verbale und averbale Möglichkeiten der Kommunikation von Bedingungsfreier Positiver Beachtung in der Kindertherapie 5 Nähe und Distanz variieren: registrieren und respektieren der körperlichen Signale (Körperhaltung, Blickkontakt) des Kindes. 5 Entwicklungsschritte aufzeigen: Ermutigung und Anerkennung des Kindes in Bezug auf wahrgenommene Veränderungen (z. B. »Das hast du jetzt ganz alleine geschafft«). 5 Loben und Anerkennen: auch eine positive Bewertung ist eine Bewertung und sollte daher im Sinne der unbedingten Wertschätzung unterbleiben, um zu vermeiden, dass sich das Kind mehr nach den Bewertungen des Thera-
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und/oder diese zu bewältigen. Diese Verhaltensweisen haben für das Kind und in Bezug auf das System, in dem sich das Kind befindet, einen Sinn«. Diese Haltung kann in beträchtlichem Ausmaß auch nonverbal darin mitgeteilt werden, wie ich das Kind ansehe, wie ich es begrüße oder verabschiede. Bedingungsfreie Positive Beachtung setzt voraus, das Kind gern zu haben. Für Kinder und Jugendliche ist die Erfahrung, dass all ihre Gefühle akzeptierend wahrgenommen werden, eine, die ihren Alltagserfahrungen widerspricht. Im therapeutischen Kontext lernen sie gerade dadurch, ihren Gefühlen zunehmend Ausdruck zu verleihen, Verantwortung dafür zu übernehmen und entwickeln daraus vermehrte Selbstakzeptanz. Die besondere Herausforderung liegt darin, zwischen der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Kindes als ganzer Person und seiner jeweiligen Verhaltensweisen, die es in der Therapiestunde zeigt, zu unterscheiden. Es können nicht immer alle Verhaltensweisen, die das Kind zeigt, akzeptiert werden (7 Kap. 11.5.4). Notwendige Versagungen oder Grenzsetzungen sollten aber immer nur z. B. die Befriedigung eines Wunsches, der eben nicht zu erfüllen ist, aber niemals den Wunsch und das damit verbundene Gefühl selbst betreffen. Entscheidend ist, nicht das Kind als Person zu verurteilen, und in dieser Weise die positive Beachtung an Bedingungen zu knüpfen.
peuten richtet als nach seiner organismischen Bewertung. 5 Bekundung von Interesse und Sorge. 5 Solidarisieren: sich auf die Seite des Kindes stellen, Unterstützung anbieten, wenn es darum geht, dass das Kind seine Interessen oder Sorgen einem Elternteil mitteilen will, sich aber nicht traut. 5 Respektieren des Widerstandes aus dem inneren Bezugsrahmen des Kindes heraus; (z. B. »Jetzt willst du nicht darüber sprechen«). (Weinberger, 2001, S. 96 ff.)
11.5.2
Einfühlendes Verstehen (Empathie)
Definition Empathisches Verstehen bedeutet, die innere Welt des Kindes zu erfassen, sich einzufühlen in seine phänomenologische Welt, wie das Kind sie erlebt. Der Therapeut greift Gefühle, Gedanken und Bewertungen des Kindes auf, und zwar nicht nur die verbal geäußerten, sondern auch die, die nonverbal mitgeteilt werden, und teilt dem Kind mit, was er verstanden hat.
Es ist wichtig, gut zuhören und beobachten zu können und auch darauf hinzuhören, wie etwas mitgeteilt wird. Das hilft dem Kind, seine Gefühle auch selbst zu erkennen und sich in seinen Verhaltensweisen selbst besser verstehen zu lernen. Einfühlendes Verstehen bedeutet eine emotionale Resonanz darauf, was und wie ein Kind etwas äußert. Der Therapeut versucht auch empathisch mitschwingend die im Spiel gezeigte Symbolik in ihrem Bezug zur Lebensthematik des Kindes und seinem Selbstkonzept zu verstehen. Der Therapeut gibt auf sprachlicher und spielerischer Ebene Resonanz und wirkt damit unterstützend für ein besseres Selbstverständnis des Kindes.
319 11.5 · Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie
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Verbale und averbale Möglichkeiten der Kommunikation von empathischem Verstehen in der Kindertherapie Einfühlendes Mitschwingen: Der Therapeut greift verbal das auf, was das Kind sagt oder macht, und gibt nonverbale Signale mit Stimmfärbung und Körperhaltung wieder und gibt dadurch emotionale Resonanz. Im Kontakt Sein mit dem, was das Kind im Augenblick ausdrücken will. Reflektieren von Gefühlen: Wahrnehmen und Ausdrücken des emotionalen Erlebnisinhaltes dessen, was das Kind sagt oder tut. Formulierungen im Frageton machen klar, dass es darum geht, das innere Erleben des Kindes möglichst genau zu verstehen. Konkretisierendes Verstehen: Dies soll dem Kind helfen, ein Gefühl einer bestimmten Situation zuzuordnen (z. B. »wenn Mama und Papa so streiten, hast Du Angst, dass sie sich scheiden lassen«). Selbstkonzeptbezogenes Verstehen: Bezieht sich auf die vom Selbstkonzept ausgehenden
11.5.3
Kongruenz
Definition Als Therapeut kongruent zu sein, heißt auf der Erlebens- und Verhaltensebene »echt« im Sinne von authentisch zu sein, offen zu sein für die eigenen Erfahrungen und Gefühle und sich seiner Stärken und Schwächen bewusst zu sein.
Die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutet eine besondere Herausforderung für die Authentizität des Kindertherapeuten. Er muss sowohl mit Gefühlen aus seinem Erwachsenen Ich als auch mit denen seiner kindlichen Anteile gut in Kontakt sein. Darüber hinaus können sowohl das Patientenkind als auch Personen aus dem Umfeld des Kindes Gefühle auslösen, die auch widerstreitend sein können und eine Entscheidung über einen jeweils transparenten Umgang damit nötig machen. Weinberger (2001, S. 100) beschreibt die Bedeutung dieses Prinzips mit »Offenheit für die eigenen Gefühle und für das, was das Kind in Ihnen auslöst.
kognitiven oder emotionalen Bewertungen, die das Kind in Bezug auf seine Gefühle und Verhaltensweisen zeigt (z. B. »Du denkst, dass Du das nie schaffen wirst« oder »der Polizist darf keine Fehler machen«). Organismusbezogenes Verstehen: Bezieht sich auf verleugnete oder verzerrt wahrgenommene Erfahrungen und Gefühle. Bei einem Kind, das angibt, keine Angst zu haben, obwohl es sichtbare Anzeichen dafür gibt, ermöglicht das Symbolspiel oft eine Annäherung an die Symbolisierung der abgewehrten Erfahrung. Reflektieren von Problemlösungsprozessen: Wahrnehmen und Benennen von Denk- und Handlungsprozessen, die das Kind dabei unterstützen, seinen eigenen Weg und Ausdruck zu finden. (z. B. »Du probierst es jetzt einmal so herum«). (Weinberger, 2001, S. 88 ff.)
Was Sie davon mitteilen und wie sehr Sie sich als Antwortende einbringen, hängt von mehreren Faktoren ab. Zur Beurteilung sind die Entwicklungsschritte des Kindes und die jeweilige Situation sowie die jeweilige Therapiephase heranzuziehen«. In bestimmten Therapiesituationen muss ich als Therapeut z. B. entscheiden, wie viel Schmerz ich zeigen kann, wenn mich ein Ball trifft, ohne dass das Kind Schuldgefühle bekommt, oder ob ich das Kind im Spiel gewinnen lasse oder nicht.
Verbale und averbale Möglichkeiten der Kommunikation von Kongruenz in der Kindertherapie 5 Konfrontieren: Widersprüchlichkeiten, z. B. zwischen Wunsch und Realität, lassen sich benennen und klären; das ist besonders in der Arbeit mit Jugendlichen sehr wichtig. 5 Beziehungsklären: Kinder wollen genau wissen, wen sie vor sich haben und was sie
6
320
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
erwarten können, und testen zuweilen aus, wo der Beziehung Grenzen gesteckt sind (z. B. durch aggressive Grenzverletzungen). 5 Selbsteinbringen: Antworten mit IchBotschaften, vor allem bei Grenzsetzungen (»Ich will nicht, dass Du mich schlägst«) oder persönlichen Fragen des Kindes. 5 Modell geben: Bietet sich vor allem im Rollenspiel an, wenn eine bestimmte Rolle ohne konkrete Regieanweisung von Seiten des Kindes ausgeführt werden soll (z. B. ein Mädchen spielen, das sich kräftig wehrt, oder einen Ritter, der gar nicht kämpfen mag). Wichtig dabei ist, dass das Kind jederzeit die Spielhandlung des Therapeuten ablehnen kann und der Figur wieder eine eigene Richtung geben kann. (Weinberger, 2001, S. 101 ff.)
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Kinder wollen wissen, wen sie vor sich haben. Der Therapeut muss sich einerseits in das Kind einfühlen und gleichzeitig sein eigenes inneres Erleben genau spüren, um zu merken, was das Kind in ihm auslöst, wie er gefühlsmäßig zu ihm steht. Nur wenn er wirklich offen zu sich selbst ist, kann er dem Kind ganz klar als Person gegenübertreten und antworten. Kinder merken sofort, ob der Therapeut wirklich bei der Sache ist, ob er sich auf den Kontakt wirklich einlässt und dabei authentisch ist.
11.5.4
Grenzen
Schon Axline (1947/1974) hat auf die Notwendigkeit von Grenzen und Grenzsetzungen in einer spieltherapeutischen Situation ausführlich hingewiesen, um die Therapie in der »Welt der Wirklichkeit zu verankern«. Demnach sind verbalen Äußerungen keinerlei Grenzen gesetzt, doch die Verhinderung des mutwilligen Zerstörens von Spielmaterial, der Mitnahme von Material nach Hause, von Verhalten, das eine gesundheitliche Gefährdung des Kindes und/oder des Therapeuten impliziert, sowie des Nicht-Einhaltens des vereinbarten Zeitrahmens gelten als allgemein akzeptierte Grenzsetzungen, für
deren Befolgung der Therapeut aktiv tätig werden muss. Dies dient nicht nur dem Schutz des Therapeuten, sondern auch dem des Kindes, das durch Grenzverletzungen in Schuldgefühle bzw. Ängste versetzt werden könnte, die Beziehung zum Therapeuten zu gefährden. Die Verdeutlichung der Bedeutung und der Notwendigkeit der Wahrung dieser Grenzen ist auch wichtig im Zusammenhang damit, dass der »nondirektive« Ansatz noch immer oft dahingehend missverstanden wird, dass der Therapeut jegliches Verhalten des Kindes wertfrei zu akzeptieren habe. Grenzwahrungen bedeuten keine Verletzung der »Nondirektivität«, sondern gehören zur kongruenten Haltung des Therapeuten, ohne die empathisches Verstehen und unbedingte Wertschätzung nicht möglich sind. Moustakas argumentierte bezüglich der Bedeutung der Grenzsetzung in der Therapiesituation für die Beziehungsgestaltung zwischen Kind und Therapeut so: »When I set a limit in psychotherapy it is an aspect of my being, an expression of who I am at a particular moment in time. It is my limit, a boundary for me. When the child accepts the limit, a bond is formed between us. The limit is held in a relationship, not an isolated expression of the individual personalities of therapist or child. The child confirms me and together we accept a structure through which our relationship can develop.« (Moustakas, 1959; zitiert nach Barrett-Lennard, 1998, S. 129) Gefühle dürfen verbal und im Spiel auch handelnd ausgedrückt werden (z. B. werden Kasperlfiguren im Wassertrog ertränkt oder die Babypuppe dem Drachen zum Fraß vorgeworfen), solange die Alsob-Ebene des Spiels nicht verlassen wird und das Kind beispielsweise anfängt, den Therapeuten zu treten oder mit Gegenständen zu bewerfen. Passiert das, muss eingegriffen werden, z. B. verbal »Du bist jetzt so wütend auf mich, dass Du mir weh tun möchtest. Das lasse ich nicht zu. Hier wird niemandem weh getan!« oder wenn nötig auch körperlich, indem das Kind so festgehalten wird, dass es daran gehindert wird, dem Therapeuten wehzutun. Detaillierte praxisrelevante Beispiele zur Notwendigkeit und Durchführung von Grenzsetzun-
321 11.5 · Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie
gen geben Weinberger (2001, S. 209 f.) und Goetze (2002, S. 236 ff.).
11.5.5
Therapeutische Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen
Da sich das Selbstkonzept eines Kindes ebenso wie Symptome oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit relevanten Bezugspersonen entwickeln, wendet sich der Klientenzentrierte Kinder- und Jugendlichentherapeut auch an Familienmitglieder und andere bedeutsame Bezugspersonen (z. B. aus Kindergarten oder Schule oder dem erweiterten Familienkreis) und bezieht diese Personen als besondere Ressourcen in den Therapieprozess mit ein. Der Kindertherapeut benötigt dafür die Fähigkeit, das Problem des Kindes im Kontext seiner Familie und seiner Umwelt zu verstehen und zu verändern. Den Bezugspersonen begegnet man ebenfalls möglichst mit Einfühlendem Verstehen und Bedingungsfreier Positiver Beachtung. Die wertschätzende und empathische Behandlung der Erfahrungen der Bezugspersonen, vor allem ihre Probleme als Eltern oder verantwortliche Bezugspersonen fördert Vertrauen und Offenheit und kann dazu führen, dass die Therapie des Kindes immer mehr zu einem gemeinsamen Unternehmen wird. Die Gespräche mit den Bezugspersonen sind aber keine Therapiegespräche im engeren Sinn, sondern sollten den Charakter von Beratungsgesprächen haben (7 Kap. 12). Es gehört zu den Aufgaben des Kindertherapeuten, in der Eltern- und Angehörigenarbeit für die Einhaltung dieser klaren Trennung von Therapie und Beratungsarbeit zu sorgen. Beratungsgespräche dienen dazu, dass die Angehörigen ihre Beziehung und ihre Einstellungen zum Kind verstehen und klären, nicht aber ihre eigene Entwicklung zum Gegenstand der Beratung erheben. Obwohl Veränderung meist dringend erwünscht ist, kann sie den Bezugspersonen auch Angst machen. Der Therapeut muss daher bei den begleitenden Gesprächen diese Ängste im Auge haben und versuchen, Sicherheit und Strukturierung zu vermitteln. Fröhlich-Gildhoff (2003, S. 311) schreibt dazu: »In der Arbeit mit Bezugspersonen und Familien ist es wichtig, eine deutlich aktivere gestalterische Rolle einzunehmen als in Einzeltherapien, die der Familie
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Sicherheit in ihrem Veränderungsprozess vermitteln soll. … Dies bedeutet unter anderem, klare Regeln zu setzen und auf deren Einhaltung zu achten.« Für den Kindertherapeuten ist von großem Interesse, welche Theorien Eltern bezüglich des auffälligen Verhaltens ihrer Kinder haben und wie sie zu Hause auf ihr Kind reagieren. Es gehört zu dem Bild über die Entstehung und Aufrechterhaltung des Symptoms, über die Bedingungen in der Familie in den ersten Lebensjahren, über den elterlichen Erziehungsstil und die Qualität der Geschwisterbeziehung sowie der Partnerschaft der Eltern, das sich der Therapeut machen muss. Es ist nicht nur wichtig, Defizite aufzuspüren, sondern vor allem auch zu beachten, wo die Ressourcen des Kindes liegen, und mit den Eltern gemeinsam den positiven Seiten des Kindes mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es geht in den Gesprächen mit den Eltern auch um Informationsaustausch, der nicht nur hilft, das Geschehen in der Therapie besser einzuordnen, sondern auch den Eltern, kindliche Entwicklungsschritte besser zu sehen, zu verstehen und anzuerkennen. Das gilt ebenso für wichtige Bezugspersonen außerhalb der Familie (z. B. Lehrer, Erzieher, Helfersysteme), mit denen ebenfalls im Bedarfsfall Kontakt aufgenommen werden sollte, wenn die Eltern des Kindes bzw. der mündige Jugendliche damit einverstanden sind. Zur Erinnerung: Rogers hat schon 1939 formuliert: »Die Beziehung zwischen Therapeut und Elternteil ist der wesentliche Ort des Geschehens. In dieser Verbindung können Eltern Vertrauen in den Therapeuten entwickeln und die Freiheit erfahren, ihre oft gehemmten Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen … Der Therapeut erzeugt diese Atmosphäre durch seine Akzeptanz … Der Effekt einer solchen Beziehung kann durch Begriffe wie »Klärung von Gefühlen« und »Selbstakzeptanz« beschrieben werden … Das Ziel ist, den Eltern dabei zu helfen, ihre Gedanken zu klären und die Bedeutung ihrer Entscheidungen in Betracht zu ziehen … Das führt zu der Annahme, dass die Eltern ihr größeres Selbstverständnis aus der Beziehung zu dem Therapeuten auf andere Beziehungen übertragen können.« (Rogers, 1939, S. 197 ff.; Übersetzung in Reisel, 2001b)
322
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Versuche der Systematisierung und konzeptuellen Eingliederung der Bedeutung der Bezugspersonenarbeit im Klienten- bzw. Personzentrierten Konzept finden sich bei Ehlers (2002) und Fröhlich-Gildhoff (2003).
11.6
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Fallgeschichte2
Alfred ist sieben Jahre und vier Monate alt, als seine Mutter mit ihm in die Praxis kommt. Er kotet seit sechs Monaten fast täglich ein, allerdings nur zu Hause. In einem einwöchigen Krankenhausaufenthalt konnten keine organischen Ursachen für die Enkopresis gefunden werden. Vom behandelnden Arzt in Absprache mit der dortigen Psychologin wird der Mutter daraufhin empfohlen, mit Alfred eine Psychotherapeutin aufzusuchen. Die Eltern von Alfred hatten sich vor acht Monaten scheiden lassen, zwei Monate später hatte Alfred begonnen einzukoten. Die Zeit vor der Trennung sei für alle Beteiligten sehr schwierig gewesen, es hätte viel Streit unter den Ehepartnern gegeben. Alfreds Mutter hatte die Scheidung nach einigen außerehelichen Affären und Alkoholproblemen ihres Gatten eingereicht. Sie hätte sehr darauf gedrängt, dass Alfreds Vater nach der Scheidung aus dem gemeinsamen Haushalt auszog. Kurz nachdem der Vater endgültig ausgezogen war, kotete Alfred zum ersten Mal ein. Alfred hat noch einen 20-jährigen Bruder, der mit ihm bei seiner Mutter lebt. Mutter und Bruder empfinden die Trennung vom Vater als große Erleichterung und sind sehr zufrieden mit ihrer jetzigen Situation. Der große Bruder ist laut Mutter Alfreds Vorbild, dem er sehr nacheifere. Sorge bereiten der Mutter neben dem Einkoten auch die in letzter Zeit gehäuften Vorwürfe Alfreds, niemand hätte ihn lieb. Er hätte große Angst, verlassen zu werden und wenig Selbstvertrauen. Alfred sei sehr eifersüchtig, die Mutter dürfe sich niemand anderem zuwenden, das sei auch schon so gewesen, als der Vater noch bei ihnen lebte. Die Mutter erzählt, dass sie Alfred sehr verwöhnt hätte, er sei ihr »Schmusekind«, und es falle ihr schwer, ihn bei der Ablösung zu unterstützen. Alfred sei sehr sensibel 2
Überarbeiteter und ergänzter Auszug aus Wakolbinger, 2000, S. 52–62.
und anlehnungsbedürftig und schlafe auch noch bei ihr im Bett. Aus der Anamnese ergibt sich, dass das Sauberwerden ganz gut geklappt hätte. Alfred sei mit drei Jahren sauber gewesen, hätte aber bis zum vierten Lebensjahr für seine »großen Geschäfte« eine Windel verlangt. Alfred war im ersten Lebensjahr bei seiner Mutter zu Hause, danach tagsüber bei einer Tante untergebracht, und ab dem dritten Lebensjahr besuchte er den Kindergarten. Er sei dort sehr eifersüchtig gewesen, da die Mutter Kindergärtnerin in der Nachbargruppe war. Beim Zusammentreffen im Garten sei es immer wieder zu eifersüchtigen Reaktionen von Alfred gekommen. Mit dem Vater hätte Alfred bis zu dessen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung eine sehr innige Beziehung gehabt. Der Vater hätte Alfred jedoch auch öfters als zu anstrengend erlebt und ihn dann mit den Worten weggeschickt, dass er seine Ruhe bräuchte. Seit der Scheidung gibt es auch in der Schule gehäuft Probleme. Alfred besucht die zweite Klasse der Volksschule. Seine Lehrerin beklagt Alfreds Unkonzentriertheit, er sei langsam, störe den Unterricht, und gerate leicht in Konflikte mit anderen Kindern.
11.6.1
Erstgespräch
Alfred ist für sein Alter sehr groß und kräftig gebaut. Er wirkt neugierig und etwas verlegen, als ich ihn begrüße. Bald nach Beginn des Gespräches klettert er auf den Schoß seiner Mutter und beginnt, mit ihr zu schmusen, und später, ihr die Bluse aufzuknöpfen und sich anzukuscheln. Ich spüre beim Zusehen ein mir körperlich unangenehmes Gefühl. Die Mutter reagiert auf Alfreds Verhalten ambivalent: Einerseits wirkt sie davon geschmeichelt und genießt seine Liebesbezeugungen, andererseits stößt sie ihn auch von sich mit Worten wie: »Geh weg von mir!«. Wenn ich Alfred direkt anspreche, überlegt er lange, seine Antworten sind nicht klar verständlich. Er wirkt in dieser Situation auf mich wie ein kleines Kind, das die unbedingte Zuwendung seiner Mutter sucht und dabei nicht gestört werden möchte. Als wir zum Thema Schule kommen, ändert sich das Verhalten Alfreds. Er berichtet selbst, nicht gerne in die Schule zu gehen, fühle sich von der Lehrerin
323 11.6 · Fallgeschichte
ungerecht behandelt und ist enttäuscht über seine schlechten Noten zum Jahreszeugnis am Ende der ersten Klasse. Mir fällt auf, dass Alfred sich neben seine Mutter setzt, als er von der Schule erzählt. Er spricht nun auch völlig klar und deutlich, und ich habe seit unserer Begrüßung zum ersten Mal das Gefühl, zu ihm einen direkten Kontakt zu haben. Als ich Alfred nach seinem Vater frage, setzt er sich auf einen eigenen Sessel. Stolz erzählt er, dass sein Vater Feuerwehrmann ist. Alfred besucht seinen Vater sehr gerne, er ruft ihn oft an, aber der Vater habe nur wenig Zeit für ihn, worüber Alfred sehr traurig ist. Oft darf Alfred nur zwei Stunden bei ihm bleiben und wird dann wieder nach Hause geschickt. Seit der Scheidung sieht er ihn nur unregelmäßig, da das Besuchsrecht nicht eindeutig geregelt wurde. Das macht Alfred sehr traurig. > Kommentar Wir fragen uns nun als personenzentrierte Therapeutinnen: Wo liegt das innerpsychische Problem des Kindes, das verstanden werden will? Welcher Art ist die Inkongruenz? Was im Erleben des Kindes kann nicht adäquat gespürt und ausgedrückt werden, sondern drückt sich verzerrt in den beschriebenen Symptomen aus? Es entsteht der Eindruck, dass Alfred sehr unter der Trennung von seinem Vater leidet, jedoch in seiner Familie wenig Platz für dieses Leiden findet. Mutter und Bruder sind zufrieden mit der jetzigen Situation; der Vater lebt nun sein eigenes Leben, in dem wenig Zeit für Alfred bleibt. Alfred vermisst den Vater sehr und wünscht ihn sich zurück. Alfred hätte eigentlich Grund, sehr wütend über die Trennung seiner Eltern zu sein und könnte auch seine Mutter dafür verantwortlich machen, dass es dazu gekommen ist. Alfred hat miterlebt, wie sehr sie darauf gedrängt hat, dass der Vater auszieht. Alfred hat jetzt zeitlich gesehen viel weniger von seinem Vater als früher. Als Alfred von der Trennung von seinem Vater erzählt, sind jedoch Gefühle von Wut oder Zorn nicht spürbar, nur eine große Traurigkeit. Die Beziehung zwischen Alfred und seiner Mutter scheint sehr eng zu sein, und die Mutter schätzt am meisten seine Anhänglichkeit und Liebesbedürftigkeit. Es könnte sein, dass Alfred befürchtet, seine Mutter zu verletzen und auch noch zu verlieren, wenn er ihr offen Wut und Zorn zeigen würde. Möglicherweise
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kann Alfred nicht einmal sich selbst wütende oder zornige Gefühle über die Trennung bzw. auf die Eltern eingestehen. Vielleicht hat er zu große Angst, dann auch noch von der Mutter verlassen zu werden bzw. für den Vater endgültig zu belastend zu werden. In Alfreds enger Beziehung zu seiner Mutter dürften aggressive Gefühle keinen Platz haben. Seine Vorstellung scheint eher zu sein: Wenn ich lieb, anhänglich und brav bin, bin ich liebenswert. Es könnte sein, dass ihm aufkeimende Wut Angst macht, und er daraufhin mit noch anhänglicherem Verhalten und noch größerer Liebesbedürftigkeit reagiert. Wir würden dann sagen: Wut auf die Mutter passt nicht zum Selbstkonzept von Alfred. Aufkeimende Wut auf die Mutter versetzt ihn in einen Zustand von Inkongruenz, in dem er möglicherweise Angst spürt, die ihn anhänglich reagieren lässt. Dahinter wird die Angst verborgen bzw. die Angst wird durch Anhänglichkeit bewältigt. Es könnte aber sein, dass Alfreds Wut und Enttäuschung so stark sind, dass sie doch einen Ausdruck brauchen, dass Alfred einkotet, um zu zeigen, wie »beschissen« es ihm geht. Da er – der bis zum vierten Lebensjahr für seine »großen Geschäfte« eine Windel verlangte, also auch noch in einer Zeit, in der er den Stuhlgang schon kontrollieren konnte – nur zu Hause und nie in der Schule – also kontrolliert – einkotet, ist anzunehmen, dass dieser Ausdruck seiner Befindlichkeit speziell gegen die häusliche Situation gerichtet ist. Alfred dürfte aber nicht nur zu Hause sehr mit seinen Problemen beschäftigt sein, denn er zeigt auch Auffälligkeiten in der Schule. Inkongruenz bedeutet immer auch Behinderung in der Entwicklung: In der sehr engen Beziehung zur Mutter ist wenig bis gar kein Platz für eine eigenständige Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein und Autonomie, sich stark, sicher und kompetent zu fühlen.
Es werden eine wöchentlich stattfindende Spieltherapie vereinbart, die insgesamt 24 Stunden dauert, und begleitende Gespräche mit der Mutter in größeren Abständen. Insgesamt fanden drei Gespräche mit der Mutter statt.
11.6.2
Therapieverlauf/1. Stunde
Alfred nimmt von der ersten Therapiestunde an eine sehr intensive Beziehung zu mir auf. Anfänglich ist
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
es ihm sehr wichtig, alles ganz genau nach Vorlage zu spielen. Er korrigiert mich oft im Spiel und ist sehr unzufrieden, wenn ich nicht genau das tue, was er sich von mir wünscht. Er hat wenig Freude am Spiel, es geht ihm eher um Ordnung und Genauigkeit. Er räumt alles sofort und ordentlich weg. Wir spielen »Schluck-di-wupp« (ein Krokodilspiel, wo vier Krokodile nach Kugeln schnappen), das Spiel »Vier gewinnt«, Dosen schießen und formen Tiere mit Plastilin. Diese müssen genauso wie in der Natur sein, in Form und Farbe gleich. Dabei bittet Alfred mich sehr verschämt um Hilfe, wenn ihm etwas nicht gelingt. Ich verbalisiere, drücke aus, was ich verstehe: »Aha, Ordnung ist dir wichtig«. Und auf der Handlungsebene räume ich mit ihm gemeinsam die Spiele ordentlich weg. Oder: »Du ärgerst dich, wenn ich es nicht gleich richtig mache«. »Du möchtest die Tiere ganz genauso nachmachen, wie sie wirklich ausschauen«. »Es ist dir unangenehm, wenn du mich um Hilfe bitten musst«. Dabei warte ich ab, ob ich mitspielen soll, frage manchmal nach. Beim Tiere formen mit Plastilin arbeite ich mit dem Parallelspiel. Ich merke beim Tiereformen, wie Alfred sich plagt, und verbalisiere: »Puh, das ist ganz schön anstrengend, die Tiere richtig nachzuformen«. Ich habe den Eindruck, dass es für Alfred sehr wichtig ist, alles richtig zu machen und im Spiel gut zu sein. Mir droht er Strafen an, wenn ich nicht gut genug bin, z. B.: »Wehe, wenn du nicht ordentlich spielst!« Meine Antwort darauf: »Puh, dann zeigst du’s mir, dann krieg ich’s aber!« Gleichzeitig hält Alfred es aber nicht aus, wenn ich auch einmal ein Spiel gewinne (Ich habe probeweise beim Dosen schießen gewonnen und später auch beim Memory.). Ich werde dann sofort bestraft. So muss ich alleine das Spiel wegräumen – meine Antwort darauf: »Jetzt ärgerst du dich, gibst mir eine Strafe!« Auf der Handlungsebene räume ich die Spiele weg. Oder Alfred bricht das Spiel ab und sucht sich ein anderes Spiel aus. Ich verbalisiere: »Jetzt magst du nicht mehr«. Später spielen wir Mikado, und Alfred schummelt, damit er gewinnt. Meine Reaktion darauf: »Aha, du änderst die Regeln, du möchtest gerne gewinnen«. Wichtig ist mir dabei, dass ich mich nicht beschummeln lasse, aber die Regelveränderung akzeptiere ich. Bei den verschiedenen Spielen melde ich Alfred immer wieder zurück, dass er alles genau und richtig machen will, dann kommt sein Satz: »Ja genau, weil
nur so mag mich der Papa!« und ich verstehe nun sehr gut, warum es für Alfred so wichtig ist, alles ganz richtig zu machen. Beim Memory meint Alfred: »Ich putze dich weg« und er freut sich, dass er gut ist und beim zweiten Mal gewinnt. Nachdem ich verstanden habe, wie wichtig das Gewinnen für Alfred ist, lasse ich ihn auch gewinnen. Ich verbalisiere, dass es ihm ganz wichtig ist, im Spielen mich zu besiegen, besser zu sein als ich. Danach kann Alfred immer mehr seine ungehemmte Freude darüber zeigen, dass er hier endlich einen Ort gefunden hat, wo er einmal besser ist als jemand anderer. Sobald mir das klar wird, lasse ich ihn gewinnen, aber so, dass er es nicht merkt. Erst schaut er unsicher, wie ich auf sein Gewinnen reagiere, aber als ich verstehend und akzeptierend reagiere, wie gut ihm das tut, auch mal besser zu sein als eine Erwachsene, freut er sich riesig. Das Selbstwertthema scheint zu sein: »Ich will und ich muss zum Ausgleich der Realität wenigstens im Spiel stark sein und die attraktiven Rollen übernehmen können. Wenigstens im Spiel muss ich auch mal erfolgreich und angesehen sein!«. Ich arbeite hier im Sinne der Interaktionsresonanz, indem ich spielend auf ein Bedürfnis antworte. Ich merke schon sehr bald, dass Alfred zu einer sehr negativen Selbstbewertung neigt, wie: »Das kann ich nicht, ich bin zu blöd dazu«, etc. Er sagt das oft, wenn ihm etwas nicht gleich gelingt. Indem ich ihm das rückmelde, und auch, wie sehr er sich immer wieder anstrengt, es doch besser zu machen, merkt Alfred genauer, wie er selbst mit sich umgeht. Seine Selbstwahrnehmung wird damit verbessert. Später erfahre ich von Alfred, dass er viele ältere Freunde hat, die sich oft über ihn lustig machen, wenn er beim Spielen nicht mithalten kann. Und dass sein großer Bruder vom Vater bevorzugt wird, weil er schon älter und vertrauenswürdiger ist und mehr kann als Alfred. Am Ende der ersten Stunde läuft Alfred hinaus und begrüßt seine Mutter überschwänglich. Er war auch des Öfteren während der Therapiestunde hinausgegangen, um nachzusehen, ob es der Mutter gut geht und ihr nicht langweilig ist. Auch das wird von mir akzeptiert und verstanden und in Worte gefasst: »Aha, dir ist es wichtig zu wissen, wie es deiner Mutter geht«, oder: »Dir ist gerade die Mama eingefallen, und du schaust nach, möchtest wissen, ob es ihr auch gut geht…«
325 11.6 · Fallgeschichte
> Kommentar Die Therapeutin nimmt das Kind an, so wie es sich im Moment präsentiert. Das ist für das Kind oft eine ganz neue Erfahrung, nicht sofort gemaßregelt, be- oder verurteilt zu werden. Die Therapeutin zeigt Respekt vor dem Kind dadurch, dass sie alles ernst nimmt, was vom Kind kommt. Es wird kein Druck ausgeübt, was und wie das Kind in den Stunden spielen soll. Dadurch kommt es zunehmend zur Entspannung, und das Kind kann das therapeutische Klima erleben und sich langsam freier und offener ausdrücken. Die Spielerfahrungen bilden sich im Selbstkonzept des Kindes ebenso ab wie die Erfahrungen in der sozialen Realität, die nicht Spiel sind. Wenn es droht, dass ein Kind in der Realität die Überzeugung gewinnt, ein Versager zu sein und nichts gut genug zu machen, dann ist es wichtig, dass es in der Therapie andere, positive Erfahrungen in sein Selbstbild aufnehmen kann. Das Kind steht im Mittelpunkt, es kann über sich selbst und die Situation verfügen. Es entdeckt, dass es sich selbst entfalten darf und tun kann, was es will, und dabei unbedingt wertgeschätzt wird. Kinder reagieren darauf zu Beginn etwas misstrauisch – doch oft auch neugierig – denn es ist für sie eine ungewohnte Situation. Doch dann beginnen sie erste Versuche zu unternehmen, den Rahmen zu erproben. Wenn die Therapeutin darauf adäquat reagieren kann, indem sie erstens die Signale und Versuche bemerkt, sie zweitens annehmen kann und drittens dem Kind zeigt, dass sie diese verstanden hat, ist ein erster wesentlicher Schritt für die therapeutische Beziehung getan. In dieser ersten Stunde hat vermutlich auch so eine Erprobung des Rahmens stattgefunden.
11.6.3
Therapieverlauf/2. und 3. Stunde
In der zweiten Therapiestunde hat Alfred einen Streckverband am rechten Zeigefinger. Auf meine Frage, was passiert sei, erzählt er mir, dass er sich mit der Brotschneidemaschine geschnitten hätte. Ich merke, dass da noch etwas ist, und frage noch genauer nach. Da bricht es aus Alfred heraus: »Ich hab doch genau gewusst, wie man Brot schneidet, aber ich hab nicht gewusst, dass man beim Brotschneiden den Schieber verwenden muss.« So sei es ihm passiert, dass er sich geschnitten hat. Er ist ganz ver-
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zweifelt und weint kurz, weil ihm die Mutter nun streng verboten hat, die Maschine jemals wieder anzufassen, und sie ihm nicht glaubt, dass die Verletzung nur durch Unwissenheit und nicht durch Unfähigkeit (er kann es ja!) passiert ist. Nachdem Alfred Verständnis und Annahme seiner Kränkung, Traurigkeit und Verzweiflung über den Vorfall gefunden hat, beruhigt er sich schnell und sucht sich ein Spiel aus. (Dies ist eine wichtige Sequenz: wenn sich ein Kind mit seinem Kummer verstanden und angenommen fühlt, ist es auch oft schon vorbei und geht anders weiter.) Dann bauen wir eine Eisenbahn auf. Dabei erzählt Alfred mir, dass sein Vater seinem Bruder eine tolle Eisenbahn geschenkt hätte und nicht ihm, weil er sie eventuell kaputt machen könnte. Ich spüre Kränkung und auch Ärger darüber bei Alfred und spreche das auch aus. Alfred bestätigt diese Gefühle. > Kommentar Das Eingehen und Annehmen des Kindes geschieht durch Affektabstimmungen: Die Therapeutin geht empathisch auf das kindliche Spiel und andere nicht notwendigerweise verbale Formen des Ausdrucks der kindlichen Gefühle ein. So wird in der Sequenz mit dem Verband von der Therapeutin gespürt, dass da noch etwas dahinter Liegendes zum Vorschein kommen könnte. Diese feinfühlige Abstimmung schafft Gemeinsamkeit mit dem Kind, und es kommt zu einem ersten Ausdruck bislang nicht ausgedrückter Gefühle. Dieser kann verbal sein, wie in diesem Fall. Oft werden die Gefühle aber auch auf einer nonverbalen Ebene ausgedrückt. In manchen Kindertherapien wird viel gesprochen, in manchen gar nichts oder nur sehr wenig, und trotzdem findet im Kind ein Heilungsprozess statt. Das heißt, Symbolisierungsprozesse finden im Rahmen von Interaktionserfahrungen statt und sind auch auf nonverbaler Ebene möglich. In der Kindertherapie finden diese Feinabstimmungen zwischen der Therapeutin und dem Kind oft in der Weise statt, dass das Kind und die Therapeutin im Spiel sehr intensiven Kontakt miteinander haben, auch während sie oft nur ganz banale Dinge gemeinsam tun. In der Eingangsphase der Therapie ist es wichtig, dass die Erfahrung: »Ich werde angenommen, so wie ich gerade bin, auch mit allen meinen Eigenheiten und Schwierigkeiten« Vertrauen schafft. Das ist in den ersten
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
drei Therapiestunden mit Alfred sehr gut gelungen. Dass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Therapeutin entstanden ist, äußert sich auch im Spielverhalten, z. B. wenn ein Übergang von Regelspielen zu Rollenspielen oder Phantasiespielen zu beobachten ist. Das Kind kann die Sicherheit des Regelspiels zugunsten von Phantasiespielen verlassen, sich auf neues Terrain vorwagen.
11.6.4
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Therapieverlauf/4. Stunde
In der 4. Stunde bringt Alfred einen Spielzeugkatalog mit und zeigt mir, welche Spielsachen er zu Hause hat. Gemeinsam schauen wir uns den Katalog an. Ich teile seine Freude und spüre das auch ganz deutlich. Voller Stolz erzählt er von dem Jeep, den er sich von seinem Taschengeld selbst gekauft hat. Und immer wieder der Satz: »Damit jage ich die anderen weg« (seinen Freund, seinen Bruder). Und ich melde ihm zurück, wie wichtig es für ihn ist, dass er damit der Stärkere ist, andere besiegen kann, wie sehr er sich darüber freut. Während wir spielen, lehnt sich Alfred immer wieder bei mir an. Das macht er seit der zweiten Therapiestunde so. Ich spüre genau bei mir selbst nach, wie ich dabei empfinde. Ich spüre ein »jein« in mir: Es ist einerseits für mich okay, dass Alfred sich bei mir anlehnt. Aber ich verspüre keinen Impuls, von mir aus mit einer Berührung darauf zu reagieren. Ich nehme ihn in seinem Bedürfnis, sich bei mir anzulehnen, wahr und an, aber ich möchte ihn nicht zusätzlich aktiv in den Arm nehmen. Hier erscheint es für mich wichtig, auf meine Kongruenz zu achten: die Übereinstimmung von dem, was ich fühle, mit dem, was ich tue. Dann entdeckt Alfred die Fingerfarben und zeigt sich unsicher, was er damit tun soll. Auf meinen Vorschlag hin machen wir Fingerabdrücke, wobei Alfred anfänglich zögert. Erst malt er mit dem Pinsel mir die Hand an, ich bemale dann seine Hand mit meinen Fingern. Alfred entwickelt daraufhin großen Spaß, sich selbst und mir die Finger mit Farbe anzumalen, was auch eine Art Berührung ist. Er behält sich meinen Abdruck und bringt ihn stolz seiner Mutter hinaus. Später in der Stunde sagt Alfred zu mir: »In den ersten Stunden war ich ängstlich, aber jetzt gefällt es mir bei dir«. Er nimmt das Krokodilspiel, das er
bisher in jeder Stunde streng nach Vorschrift gespielt hatte. Diesmal schnappt er im Kampf mit mir »wie ein Verrückter« nach den Kugeln und schreit dabei, lebt sein Kämpfen und Rivalisieren mit mir ganz intensiv aus. Ich spiele intensiv mit, schreie auch. Danach ist Alfred körperlich richtig erschöpft, wischt sich den Schweiß von der Stirne, wirkt aber ruhig und zufrieden. Er sagt: »Das hat Spaß gemacht«. Ich habe den Eindruck, dass er mit seiner Kraft und seinen Ressourcen in Kontakt gekommen ist, die vorher noch nicht so spürbar waren. Beim Abholen begrüßt Alfred freudig seine Mutter, sie geht aber nicht darauf ein, sondern schimpft mit ihm, weil er seinen Katalog im Therapiezimmer vergessen hat. Da wirft Alfred seiner Mutter ihre Tasche an den Kopf und läuft hinaus. > Kommentar Die Therapeutin kann aus der unmittelbaren Begegnung mit dem Kind heraus dieses durch eigene Impulse und konkrete Angebote anregen. Wichtig dabei ist, mit den Anregungen nicht zu weit vor das Kind zu geraten. Beim Kind tauchen in der Therapiestunde auch bisher nicht integrierte und manchmal auch unangenehme Gefühle auf, auf die die Therapeutin im Spiel und in der Interaktion adäquat reagiert, sodass es zur Symbolisierung einer bisher ungelebten Möglichkeit kommen kann, bei der sich das Kind als Urheber seiner Handlungen empfindet. Das Beispiel von Alfred in der 4. Stunde zeigt, dass plötzlich starke aktive, aggressive Gefühle auftauchen, die einen Raum bekommen und dann später auch der Mutter gegenüber, aber noch sehr unkontrolliert und unreflektiert, möglich werden.
11.6.5
Therapieverlauf/5. Stunde
Vor dieser Stunde sagt mir Alfreds Mutter, dass Alfred heute nicht gerne hergekommen sei. Meine Vermutung ist, dass die letzte Stunde zu intensiv war, die neuen Gefühle sowohl das Kind als auch die Mutter erschreckt haben. Alfred sagt nichts, schlägt aber sofort ein Rollenspiel vor, in dem er mir folgende Rolle zuschreibt: Ich habe einen Lotto 12er gewonnen, bekomme dafür aber Falschgeld. Ich gehe damit einkaufen, bekomme aber nichts, weil
327 11.6 · Fallgeschichte
ich ja falsches Geld habe. Ich gehe in meiner Rolle wieder zurück, bekomme aber wieder falsches Geld und bin darüber schon ganz verzweifelt, weil ich nichts dafür kaufen kann. Erst beim sechsten Durchgang bekomme ich endlich richtiges Geld und kann endlich einkaufen. Alfred ist zufrieden, dass ich vorher in meiner Rolle so verzweifelt war. Er genoss meine Verzweiflung, diese war wichtig für ihn. Im Rollenspiel ist es wichtig, dass ich immer wieder beim Kind nachfrage, wie ich weiterspielen soll. Das Kind ist der Regisseur. Ich bemühe mich darum, in meiner Rolle die Verzweiflung auszudrücken, von der ich vermute, dass Alfred sie in sich gespürt hat. Manchmal spielen Kinder, wenn sie der Therapeutin Anweisungen geben, wie sie sich in einer Rolle zu verhalten hat, ihre Macht und ihre starke Position aus, indem sie die Therapeutin herumkommandieren. In so einem Fall wird die Therapeutin auf die Omnipotenz- und Machtgefühle des Kindes eingehen. Manchmal ist es jedoch so, dass das Kind der Therapeutin im Rollenspiel zeigen will, wie es ihm selbst in seinem Leben geht, indem es ihr all das antut, was es selbst aushalten muss. In diesem Fall wird die Therapeutin zeigen, wie es ihr in dieser Rolle geht, um stellvertretend für das Kind dessen Gefühle auszudrücken. Beim Kind entsteht dann oft zum ersten Mal der Eindruck, dass es einen Menschen gibt, der es versteht, und gleichzeitig hat es die Sicherheit, dass alles nur ein Spiel ist und es nicht erzählen muss, wie hilflos, minderwertig oder elend es sich fühlt. Nach diesem Rollenspiel holt sich Alfred den Scenokasten und plagt sich sehr damit, mit den Bausteinen Eisenbahnschienen aufzulegen. Er ist mit mir sehr unzufrieden, weil ich seiner Ansicht nach nichts richtig auflege. Und er ist sehr böse mit sich selbst, weil es nicht so recht klappen will, wie er sich das vorstellt, und sagt mehrmals: »Aber jetzt bringe ich mich wirklich um, wenn es nicht klappt«. Als er es dann doch endlich geschafft hat, die Schienen richtig aufzulegen, soll ich der Lokführer des Zuges sein und er der Besitzer des Zuges und des Hauses. Dabei ist es ihm ganz wichtig zu bestimmen, was ich als Lokführer tun darf und was nicht. Ich verbalisiere seine Verzweiflung, versuche mich einzufühlen, betone, wie wichtig es ihm ist, die Schienen richtig aufzulegen und wie ungeheuer wichtig es für ihn ist, dass er bestimmt, und dass alles hier, das Haus, der Zug, die Lok, ihm gehört.
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Dann kommt ein Sturm und die ganze Szene wird weggefegt. Alfred wirkt jetzt sehr zufrieden und ruhig und räumt mit mir zusammen auf. Das Selbsterleben, das es dabei zu verstehen galt, war: Ich bestimme, ich bin Herr in meinem (psychischen) Haus. Von dieser Stunde an verhält sich Alfred seiner Mutter gegenüber anders. Er sitzt vor Therapiebeginn nicht mehr auf ihrem Schoß, geht auch während der Stunden nur mehr ganz selten hinaus und beginnt, sich bei der Eingangstüre zu verstecken und seine Mutter beim Weggehen zu erschrecken. > Kommentar Die Sequenz mit dem Scenospiel kann man auch so verstehen: Im Verlauf der Therapie zeigt das Kind immer mehr von seinen Problemen. Die Therapeutin ist eine Art Resonanzkörper für das kindliche Gefühlserleben. Mit ihren Handlungen und verbalen Rückmeldungen zeigt sie, dass sie verstanden hat, worum es dem Kind geht. Diese neuen Erfahrungen können dem Kind aber auch Angst machen, wenn sie im Widerspruch zu seinem bisherigen Selbstbild stehen. Die Therapeutin muss diese Widersprüche erkennen und auch aushalten und dem Kind dadurch in ihnen emotional beistehen. Die Beziehung zwischen Kind und Therapeutin hat immer eine Doppelfunktion. Einerseits stellt sie eine reale Beziehungserfahrung dar, die z. B. in einem Regelspiel oder bei der Begrüßung und Verabschiedung zum Ausdruck kommt. Andererseits dient sie als Projektionsfläche für eine Übertragungsbeziehung, die z. B. oft in Rollenspielen deutlich wird. Alte Beziehungsmuster werden in der therapeutischen Situation immer wieder durchgespielt. Das, was Kinder in ihren Phantasiespielen aufbauen, ist manchmal das, was in ihrer Realität zuwenig vorkommt, oder zuviel vorkommt, was sie schmerzlich vermissen oder sich sehnlichst wünschen, woran sie leiden oder was sie verändern möchten. An ihren Themen, Inhalten und Symbolen im Spiel können wir wahrnehmen, womit sie gerade im Prozess ihrer Selbstwerdung als Person ringen und beschäftigt sind. Die Gefühlsqualitäten des Kinderspiels zu verstehen und das Kind zu ermuntern, diese auszudrücken oder auszutoben, ist oft nur der erste Schritt zur Veränderung. Wichtig ist, diese Gefühle auch in Verbindung zu sehen mit der Aktualisierungstendenz und der Selbstaktualisierungstendenz, als deren Ausdruck sie auftauchen. So auch bei Alfred.
328
11.6.6
11
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Therapieverlauf/7. Stunde
Ich habe das erste Elterngespräch mit der Mutter nach der 7. Stunde von Alfred angesetzt. In der 7. Stunde bespreche ich mit Alfred, was ich vorhabe, mit der Mutter zu besprechen, und ob er von sich aus auch Wünsche hat, was ich der Mutter sagen soll. Es wird deutlich, dass es ganz schwierig für Alfred ist, dass ich mit seiner Mutter reden werde. Das Gespräch über das geplante Elterngespräch ist wie eine Gratwanderung in der Beziehung zu Alfred. Es ist ihm auch immer unangenehm gewesen und er ist ärgerlich geworden, wenn seine Mutter mich vor oder nach der Therapiestunde angesprochen hat. Die Mutter hatte fast vor jeder Stunde versucht, mit mir in Kontakt zu kommen, um über Alfred zu sprechen. Eltern benötigen zuweilen die Klarstellung, wie wichtig es ist, dass die Stunde des Kindes auch seine Stunde bleibt, und dazu gehören auch die wenigen Minuten vor und nach einer Stunde. Den Versuchen der Mutter, mit mir am Stundenende in Kontakt zu kommen, wurde mit dem Angebot begegnet, einen eigenen Termin für ein Elterngespräch zu vereinbaren, bei dem es die Möglichkeit geben sollte, alles in Ruhe zu besprechen, ohne damit Alfred etwas von seiner Zeit zu nehmen.
11.6.7
1. Elterngespräch
Ich erfahre in dem Elterngespräch, dass Alfred ab der 2. Stunde nicht mehr eingekotet hat und auch nicht mehr sagt, niemand habe ihn lieb. Wir besprechen, wie die Mutter Alfred unterstützen kann, mehr Außenkontakte zu gleichaltrigen Freunden zu finden. Er hat selbst schon länger den Wunsch geäußert, zu den Pfadfindern zu gehen. Im weiteren Verlauf dieser Beratungsstunde zeigt sich jedoch sehr schnell, dass die Mutter Aufmerksamkeit für ihre Problematik benötigt. Sie leidet nun doch unter der Trennung von ihrem Mann und erlebt das Schmusebedürfnis von Alfred als angenehm, weil sie sich zuweilen sehr einsam fühlt. Wir sprechen über ihre Wut auf den Exgatten, und die emotionale Bedürftigkeit der Mutter wird spürbar. Ich empfehle ihr, sich ein paar Stunden nur für sich bei meiner Kollegin zu gönnen und in größeren Abständen zu mir zum Elterngespräch zu kommen. Die Mutter
kann diesen Vorschlag aufgreifen und in der Folge auch umsetzen.
11.6.8
Therapieverlauf/ 8. bis 11. Stunde
In der 8. Stunde kommt Alfred eher grantig und ablehnend herein, ich verbalisiere es, aber er geht nicht darauf ein. Er fragt nach neuem Spielzeug, weil er »ja schon alles kennt«. Wir blasen Luftballons auf und zerplatzen sie mit dem Fuß. Wir spielen ein Fußballspiel, dabei ist es Alfred wichtig, mich zu besiegen. Dann nehmen wir die Handpuppen und sind zwei Krokodile, die kämpfen. Der Kasperl fürchtet sich vor den Krokodilen, der Gendarm auch. Die Krokos sind erst lieb, fressen aber dann Kasperl und den Gendarm plötzlich auf. Alfred jubelt: »Haha, getäuscht«. Dann beginnt ein Kampf der Krokos gegeneinander, sie sind sehr wild, plötzlich läuft Alfred mit seinem Kroko hinaus zur Mutter, erschreckt diese, kommt zurück und frisst mein Krokodil auf. Ich verstehe sein Verhalten so, dass sich hier der Zorn und die Wut auf uns beide, Mutter und Therapeutin, ausdrückt, dass wir miteinander gesprochen haben. Ich bleibe auf der Spielebene und verbalisiere, wie zornig und wütend das Krokodil von Alfred ist. Dann Alfred: »Ha! Tot! Alle!« (Kasperl, Gendarm und mein Krokodil). Ich verbalisiere, dass das Kroko von Alfred jetzt zufrieden ist, dass alle anderen tot sind. Am Ende der Stunde sagt Alfred, dass er überlegt, ob er noch weiter kommen will. Er geht jetzt zum Judo und zu den Pfadfindern und weiß nicht, ob sich das mit der Therapiestunde bei mir vereinbaren lässt. Meine Reaktion darauf: »Ich verstehe, das sind viele Termine, aber ich würde mich freuen, wenn du weiter zu mir kommst«. Ich verstehe, dass Alfred eine sehr enge Beziehung zu mir eingegangen ist und überlege, was ich wirklich empfinde: Ich möchte einerseits, dass Alfred akzeptieren kann, dass ich nicht nur für ihn da sein kann. Ich halte es andererseits für eine gute Entscheidung, nicht zu viele Gespräche mit der Mutter zu führen, aber auch nicht ganz auf sie zu verzichten. Damit wird die Therapie in meiner Wirklichkeit verankert. Alfred kommt zur nächsten Stunde und sagt: »Heute komme ich sehr gerne«, und ich antworte
329 11.6 · Fallgeschichte
ehrlich, dass ich mich darüber sehr freue. Er weiß genau, was er tun will: Fußballspielen. Dabei darf ich nicht gewinnen und werde bei jedem Tor, das ich schieße, bestraft damit, dass ich in der Ecke stehen muss. Das geht so die ganze Stunde. Zwischendurch fragt mich Alfred, wie viele Kinder zu mir in Therapie kommen, wie sie heißen, was sie spielen. Ich denke: Klar, das Thema lautet: Bezugspersonen teilen. Manchmal gehe ich auf seine direkte Frage ein, manchmal aber auch nicht, sondern frage zurück. Und dabei wird klarer, was Alfred beschäftigt: Ob ich mit anderen Kindern mehr Spaß habe als mit ihm, ob ich ihn eh lieb habe, auch wenn er andere Spiele als sie mit mir spielt, ob er gut genug ist, dass ich ihn lieb haben kann. Und es wird ferner klar: Wenn er jemanden lieb hat, will er die Person ganz für sich, will sie nicht mit jemandem teilen müssen. Meine Antwort darauf: Ich freue mich darüber, dass er mich so gerne hat, ich verstehe, wie schwer es ihm fällt, zu teilen, zu akzeptieren, dass noch andere Kinder zu mir kommen, aber es ist so. Was ich ihm jedoch versprechen kann, ist, dass ich in unserer Stunde immer ganz nur für ihn da bin. In den nächsten 2 Stunden (10. bis 11. Stunde) spielen wir oft Fußball oder Handball, wobei ich bestraft werde, wenn ich nicht ordentlich spiele, gleichzeitig aber kaum eine Chance habe, wirklich ein Tor zu schießen, weil Alfred mich ständig beim Punktezählen oder beim Tore schießen austrickst und die Regeln ändert. Ich fühle mich in dieser Rolle chancenlos und dem »goodwill« von Alfred ausgeliefert. Kaum könnte ich gewinnen, ändert Alfred wieder die Spielregeln. Ich vermute, dass es um Alfreds Grundbedürfnis nach bedingungsloser Liebe geht. Er fragt im Spiel in seinem Verhalten: »Darf ich hier so gemein und unfair sein, wie ich will, und du magst mich trotzdem?« Ich verstehe das nicht gleich zu Beginn, sondern erst nach einigen Durchgängen, als ich mich in meiner Rolle wirklich mies zu fühlen beginne, mich zu ärgern anfange, mich ungerecht behandelt fühle und merke, wie genau mich Alfred dabei beobachtet. Ich zeige im Spiel meinen Ärger und meine Frustration über meine Verliererrolle und gleichzeitig verbalisiere ich, wie toll es für Alfred ist, wie er es genießt, der Stärkere zu sein, der Bestimmende zu sein. Und dass es wichtig für ihn ist, dass ich ihn trotzdem gern habe, auch wenn ich immer verlieren muss. Mir wird
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die Bedeutung unseres Spieles in dem Moment so richtig klar, als er mich am Ende der 10. Stunde fragt: »Gell, wir haben eh Spaß gehabt?!« In die 11. Stunde kommt Alfred mit kleinen Plastikfiguren und spielt den »Superman-Sportlehrer«, der alles kann und von allen bewundert wird. Er genießt es, so stark zu sein, und meint, dass er, wenn er groß ist, gerne ein so tüchtiger Sportlehrer werden möchte. Alfred wirkt nun ruhiger und zufriedener. Es scheinen Wachstumsschritte im Spiel stattgefunden zu haben. Ich denke, dass die Erfahrung für ihn wichtig war, dass ich ihn, obwohl ich mich geärgert habe in meiner Rolle als dauernde Verliererin, trotzdem gern habe, er mir nicht lästig fällt, auch wenn er sich selbst im Spiel als mühsam, als bestimmend erlebt. > Kommentar Das Kind schneidet von sich aus im Spiel eine Vielzahl von Themen an, die es beschäftigen, und es lässt sich dabei so weit ein, wie es kann. Wenn die Therapeutin verstehen kann, was gespielt wird, worum es geht, sind weitere Schritte und ein weiteres Einlassen möglich. Das Kind zeigt dann mehr von den sonst nicht geäußerten Gefühlen. Sie werden danach oft zur Seite gelegt und eventuell Stunden später wieder aufgegriffen. Das Kind bestimmt sein Tempo selbst und wird seine Probleme dann lösen, wenn die Bedingungen es zulassen und es dazu bereit ist, und tut es dann auf seine Weise. In Kindertherapien muss ein Problem, ähnlich wie in den Erwachsenentherapien, immer wieder bis auf den schlimmsten, tiefsten Punkt durchgearbeitet und erfahren werden. So wird dasselbe Spiel immer wieder wiederholt, mit kleinen Veränderungen, bis das Thema erledigt ist. Bei adäquater Resonanz der Therapeutin geht das Kind dann einen Schritt weiter im therapeutischen Prozess. Oft versteht die Therapeutin die komplexe symbolische Ausdrucksweise des Kindes nicht sofort. Sie kann dann das Kind gewähren lassen in dem Vertrauen, dass das Spiel sicher seine Berechtigung hat. Das Kind spürt dieses Vertrauen und fühlt sich trotz des mangelnden Verstehens der Therapeutin angenommen und zeigt ihr in der Folge immer wieder, um was es ihm geht, bis die Therapeutin endlich verstehen kann.
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11.6.9
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Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
Therapieverlauf/12. Stunde
In der 12. Stunde sagt Alfred während eines Spiels, dass ich erraten soll, wen er auf dem Weg zu mir gesehen habe. Es war sein Vater. Er ist traurig, dass seine Mutter mit dem Auto nicht stehen geblieben ist, und klagt: »Ich sehe meinen Vater zuwenig«. Dann lehnt er sich an mich, und ich nehme ihn kurz tröstend in den Arm. Jetzt ist diese kurze, tröstende Umarmung stimmig für mich. Als wir weiter spielen, kuschelt sich Alfred an mich, und zum ersten Mal muss er nicht unbedingt gewinnen. Ich beginne zu verstehen, dass Alfreds Drang, immer der Bessere sein zu müssen, auch damit zu tun hat, dass er sich oft abgelehnt fühlt, dass er so diese Enttäuschungen zu überwinden sucht. Am Ende der Stunde will Alfred nicht gehen, er will unbedingt weiterspielen und solange bleiben, bis er das Spiel gewonnen hat. Als ich ihm sage, dass die letzten fünf Minuten der Stunde gleich um sind und wir leider nicht fertig spielen können, greift er zu den Schwertern und beginnt, mir zu drohen und versucht, auf mich einzustechen. Ich halte das Schwert fest, sage ihm, dass ich verstehe, wie wütend es ihn macht, jetzt aufhören zu müssen, aber dass wir auch ausgemacht haben, dass wir uns hier nicht absichtlich wehtun. Auf meine Frage: »Heute ist es sehr schwierig für dich, aufzuhören?« antwortet Alfred: »Ja, weil ich jetzt zwei Wochen nicht komme«. (Dies wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.) Daraufhin sage ich Alfred, dass mir das auch sehr leid tut, ich nun verstehe, warum er nicht gehen will, und ich mache den Vorschlag, dass Alfred die Schwerter in den Polsterfelsen schlagen soll und wir uns beide auf die nächste Stunde in drei Wochen freuen. Damit ist Alfred zufrieden, donnert die Schwerter in den Polsterfelsen und läuft hinaus. > Kommentar Dadurch, dass die Therapeutin als Person für das Kind immer spürbarer wird, aber auch dadurch, dass sie alles, was vom Kind kommt, verstehen und annehmen kann, entsteht immer mehr Nähe und Intimität zwischen dem Kind und der Therapeutin. Auch auf der Seite der Therapeutin ändert sich etwas in der Beziehung: Sie wird offener und verständnisvoller, und zeigt mehr von ihrer Person. Die Therapie wird immer mehr zu einem gemeinsamen Unternehmen.
11.6.10
Therapieverlauf/ 14. bis 15. Stunde
In der 14. Therapiestunde ist Alfred sehr unruhig. Er nimmt sich ein Spiel, legt es bald wieder weg und weiß nicht so recht, was er tun soll. Auf meine Frage, ob ihn etwas bedrücke, sagt er, dass er Sorgen habe, aber nicht darüber reden wolle. Ich denke, dass ein aktives Spiel Alfred noch unruhiger machen würde, daher schlage ich zeichnen vor. Alfred nimmt meinen Vorschlag an. Er zeichnet ein Bild, das einen Apfelbaum zeigt, von dem der Vater die Äpfel abnimmt und Mutter, Alfred und der Bruder helfen, sie in Körbe zu geben. Er erzählt, wie sehr er sich wünschen würde, dass sie wieder eine Familie seien. Alfred meint, dass der Vater ja wieder zurückkommen wolle, nur die Mutter wolle es nicht. Das macht ihn traurig und böse. Und er fragt mich: »Glaubst du nicht auch, dass er zurückkommen will?« Ich antworte, dass ich merke, wie wichtig es für ihn wäre, wie sehr er es sich wünschen würde, dass der Vater zurückkommt, aber dass ich nicht weiß, ob der Vater es wirklich tun will. Später erfahre ich, dass Alfred zu diesem Zeitpunkt einige Tage bei seinem Vater wohnte und dessen neue Freundin dort kennen gelernt hatte. Ich verstehe später, dass es ihm Angst gemacht haben muss, die Freundin seines Vaters zu sehen und mit der Situation konfrontiert zu sein. Es fällt ihm noch sehr schwer, die Realität zu akzeptieren, und in sein Selbstkonzept die Erfahrung zu integrieren, ein Scheidungskind zu sein. Es folgen nun einige Stunden (15. bis 20. Stunde), in denen sich Alfred mit seinen älteren Freunden auseinandersetzt. Er will mit ihnen unbedingt mithalten und von ihnen akzeptiert werden. Dabei kränkt es ihn sehr, dass sie immer wieder »Kleiner« oder »Dicker« zu ihm sagen. Gemeinsam entwickeln wir Strategien, wie er besser mit ihnen zurechtkommen könnte, und Alfred übt regelmäßig Händedrücken mit mir, da er dabei wirklich sehr stark ist und nicht nur mich, sondern auch seine großen Freunde immer wieder besiegt.
11.6.11
2. Elterngespräch
Im Elterngespräch nach der 16. Stunde erfahre ich von der Mutter, dass Alfred eine Woche lang beim
331 11.6 · Fallgeschichte
Vater gewesen ist, als die Mutter krank war. Seitdem idealisiere er den Vater nicht mehr so stark und habe sich auch daran gewöhnt, dass der Vater eine Freundin hat. In der Schule gehe es nun viel besser, die Lehrerin sei jetzt zufrieden. Alfred hat bei den Pfadfindern endlich auch neue gleichaltrige Freunde gefunden, aber trotzdem sind ihm die älteren Freunde wichtig. > Kommentar In dieser nun recht gefestigten Beziehung hat sich Gegenseitigkeit etabliert. Alfred kann mich nun direkt um Hilfe bitten. Die Distanz des Kindes zu sich selbst hat abgenommen und die Beziehung zur Therapeutin wird wichtiger. Eigene Problemanteile werden anerkannt. Beim Kind sieht es so aus, als ob es sich nicht mehr durch seine Verhaltensauffälligkeiten vor seinen Gefühlen, Ängsten und Nöten schützen müsste, es kann sich der Therapeutin zeigen, wird offener für sich selbst und für die eigenen, verborgenen Nöte. So ist es plötzlich nicht mehr nötig, immer gewinnen zu müssen, und die Therapeutin kann es dem Kind auch zumuten, selbst zu gewinnen.
11.6.12
Therapieverlauf/ 17. bis 20. Stunde
In der 17. Stunde bringt Alfred zwei Playmobilhunde und zwei Motorradfahrer mit, auf die er sehr stolz ist. Sie besiegen meine Dinosaurier, seine Figuren sind schneller und geschickter als meine. Dann ist es Alfred wichtig, das Puppenhaus so einzuräumen, wie er will. Die männliche Puppe ist Polizist, fängt alle verkleideten bösen Verbrecher im Haus, turnt und macht Kunststücke, die ihm niemand zutraut, und zeigt, was er alles kann. Hier beschäftigt sich Alfred mit seinem Selbstideal: »So und nicht anders, männlich und toll, will ich werden und werde ich werden!« Er hat nun auch Vertrauen zu sich selbst, dass er das schaffen kann. In der 18. Stunde möchte er gerne eine Geschichte hören. Ich schlage ihm vor, dass ich ein Buch vorlese. Das gefällt ihm sehr gut, er lehnt sich beim Vorlesen an, genießt es, nicht selbst lesen zu müssen, weil er das auch nicht so gut könne. Dann spielen wir Basketball, und zum ersten Mal kann
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Alfred mich loben, als ich einen Korb werfe. Dann erzählt er mir, dass er mit seinem 11-jährigen Freund Fußball gespielt hat und ihm auch ein paar Tore schießen konnte. > Kommentar Die mittlere Therapiephase ist geprägt durch eine ehrliche Auseinandersetzung von Person zu Person, in der es um Grenzen, Fragen, Verstehen und Wertschätzung geht und damit um den Kern der Selbstakzeptanz beim Kind. Das Symptomverhalten ist nicht mehr so notwendig. Übermäßig aggressives, dominierendes oder ängstliches Verhalten, das Abwehr- und Schutzfunktion hatte, verschwindet, und die Auseinandersetzung mit dem, wer das Kind wirklich ist, schreitet voran.
11.6.13
Therapieabschluss/ 21. bis 24. Stunde
In den letzten Therapiestunden hat sich die Beziehung zwischen Alfred und mir verändert. Sie ist viel partnerschaftlicher geworden. So bekomme ich beim Fußballspielen eine Torvorgabe, damit ich gegen ihn auch eine Chance habe. Es ist Alfred auch nicht mehr so wichtig, unbedingt bei jedem Spiel zu gewinnen. Er lässt sich in den letzten Stunden öfters von mir Spiele erklären, die er noch nicht kennt, und erzählt mir viel von seinen Freunden, die ihn nun auch mehr akzeptieren als früher. In der Schule ist Alfred viel besser geworden, er stört nicht mehr und seine Lehrerin sagt, dass er gut im Unterricht mitkommt. Der Vater kümmert sich noch immer sehr wenig um Alfred, aber es gibt jetzt fixe Tage, an denen er ihn besucht, und Alfred hat einen Kalender, in den er die Besuchstage einträgt und so auf deren Einhaltung bestehen kann. > Kommentar In der Endphase der Therapie sind Therapeutin und Kind Partner geworden. Die Therapeutin kann sich jetzt auch selbst ins Spielgeschehen einbringen, da eine belastungsfähige Beziehung aufgebaut worden ist. Intensives Erleben ist nun nicht nur beim Sprechen über Gefühle zu beobachten, sondern auch beim Kochen, Spielen, Zeichnen. Kind und Therapeutin sind nun gleichberechtigt mit je eigenen Wünschen, Gefühlen
6
332
11
Kapitel 11 · Kinder und Jugendliche
und Vorschlägen. Die Therapeutin ist oft am Ende der Therapie aktiver, da das Kind inzwischen die Freiheit gewonnen hat, für sich Unpassendes abzulehnen. Es findet mehr und mehr Dialog statt. Drei wesentliche Ziele sind am Ende der Therapie erreicht: 4 Es wurde eine erhöhte Selbstakzeptanz in der Form erreicht, dass Gefühle, die bislang ein aktives am Leben Teilhaben verhinderten, in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Das Kind hat nun die Freiheit zu wählen, seinen eigenen Weg zu gehen. 4 Das Kind mag sich selbst nun mehr, nachdem es viel von seiner Wut und Ohnmacht, seinem Hass und Zorn im Therapiezimmer ausdrücken konnte. Es ist nun offener für neue Anforderungen in seinem Leben. 4 Das Kind entdeckt nun auch neue Dinge, die ihm wichtig sind, und wendet sich diesen zu. Die Therapeutin ist deshalb nicht böse. Die Direktheit in der therapeutischen Beziehung ist charakteristisch für das Ende der Therapie. Gefühle werden nun unmittelbar erlebt und ausgedrückt. Das Kind hat Freude an seiner eigenen Kraft und Vertrauen in den eigenen Organismus, es ist spontan und frei geworden.
Es war eine besondere Beziehung, die zu Ende ging. Der Abschied war für Alfred und mich nicht leicht und verdiente ein besonderes Abschiedsritual. Wir sind in der letzten Stunde ein Eis miteinander essen gegangen, und ich habe ihm als kleines Andenken ein Krokodil geschenkt. ? Übungsfragen 5 Über welche Kenntnisse aus der Entwicklungspsychologie sollte ein Klientenzentrierter Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut verfügen? 5 Was steht im Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit für das Kind? 5 Nennen und erläutern Sie ein Prinzip der nondirektiven Spieltherapie nach Axline. 5 Was versteht man im Personzentrierten Therapiekonzept bei der Arbeit mit Kindern unter »Interaktionsresonanz«? 5 Welche Bedeutung haben Grenzen in der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie?
11.7
Weiterführende Literatur
Boeck-Singelman, C., Ehlers, B., Hensel, T., Kemper, F. & MondenEngelhardt, C. (Hrsg.). Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Band 1: Grundlagen und Konzepte (1996, 2002, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl.); Band 2: Anwendung und Praxis (1997, 2002, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl.); Band 3: Störungsspezifische Falldarstellungen (2003). Göttingen: Hogrefe. Goetze, H. (2002). Handbuch personenzentrierter Spieltherapie. Göttingen: Hogrefe. Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern- und Praxisanleitung. Weinheim; Basel: Beltz.
12 12
Personzentrierte Beratung F. Berger
12.1
Definition
12.1.1
Die allgemeinen Bestimmungselemente professioneller Beratung – 333 Das Spezifische am Personzentrierten Beratungsansatz – 339
12.1.2
– 333
12.2
Ziele der Personzentrierten Beratung – 344
12.3
Klientel und Indikationen – 346
12.3.1
Wann ist Beratung nicht angezeigt? – 346 Zeitaufwand – 347 Stärken der Beratung – 347 Beratungssettings – 347 Besonderheiten der Beratung in Gruppen – 348
12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5
12.1
Definition
12.1.1
Die allgemeinen Bestimmungselemente professioneller Beratung
Beratung ist Alltagshandeln Beratung ist eine Form zwischenmenschlicher Unterstützung im Alltag. Sie stellt Hilfe bereit, wenn jemand nicht weiter weiß, im Entscheiden oder Handeln blockiert ist, den Überblick in lebenswichtigen Momenten verloren hat. Menschen suchen und finden Hilfe in ihrem sozialen Umfeld. Freunde, Familienangehörige, Nachbarn, kirchliche Gemeinschaften, Vereine, generationsspezifische Gesellungsformen, wie Graue Panther oder Jugendclubs, schließlich die Quartiere bzw. Stadtteile und Gemeinden bieten in den unterschiedlichsten Lebenslagen Hilfe für das materielle, geistige und seelische Überleben und Wohlbefinden. Wechselseitige Unterstützung in Not und Unsicherheit ist ein Aspekt der Selbstregulation von Gesellschaften.
12.3.6
Anwendungsfelder der Beratung – 348
12.4
Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung – 348
12.4.1
Der Beratungsprozess in der Anfangsphase: vom Erstkontakt zum Beratungsvertrag – 350 Der Beratungsprozess in der Mittelphase: Selbstexploration fördern – 357 Die Schlussphase der Beratung: Evaluieren, Abschließen, Abschied nehmen – 368
12.4.2 12.4.3
12.5
Personzentrierte Beratung im Wandel – 370
12.6
Weiterführende Literatur
– 372
Mit der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen, der zunehmenden Mobilität und der Aufteilung des Lebens in einen öffentlichen und einen Privatbereich erfüllen die sozialen Organismen aber längst nicht mehr die Funktion eines geschlossenen sozialen Netzes. Diversifizierung und Professionalisierung der Beratung in unterschiedlich formalisierter Weise sind eine Konsequenz aus dieser Entwicklung. Mit der Flexibilisierung und Auflösung klar abgegrenzter gesellschaftlicher Organisationsformen steigt auch der individuelle Bedarf an Unterstützung in immer mehr Lebenslagen. Die Globalisierung, die Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien und Kommunikationsmedien sowie Interkulturalität und Wertepluralismus bewirken tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft. Die Veränderungen in den Produktions- und Verwaltungsprozessen in der Arbeitswelt etwa oder die ungleiche Verteilung von sozialen Privilegien setzen Menschen vermehrt unter Druck. Die Auswirkungen von demographischen Verschiebungen durch die weltweite
334
12
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Migration oder durch die Zunahme älterer Menschen verunsichern staatliche Gemeinschaften und Individuen in gleichem Maße, und die Relativierung von ethischen Prinzipien – z. B. im Zusammenhang mit Sterben und Tod – führen zu einer Vermehrung der Optionen und der selbst zu verantwortenden Entscheidungen. Häufig fehlen hierzu Modelle der Problemlösung, der Beratungsbedarf nimmt entsprechend zu (Bengel et al., 2002). Ratsuchende und die, die um Rat gebeten werden, müssen vermehrt mit unvorhersehbaren Anforderungen und Situationen zurechtkommen. Ein Beratungsbedürfnis entsteht dann, wenn Anforderungen oder Belastungen über ein noch zu bewältigendes Maß hinaus anwachsen, wenn Entscheidungen anstehen, die mit unvorhersehbaren Risiken behaftet sind, oder wenn bisher unbekannte Risiken zunehmen. Beratungsangebote, die solchen Bedürfnissen entsprechen, entstehen meist im Zusammenhang mit gesellschaftlich relevanten bzw. problematisch gewordenen Themenbereichen. Die Gesellschaft und gesellschaftliche Untergruppen gestalten und organisieren die Hilfe in identifizierbaren Strukturen, als öffentliche Beratungsdienste, als private Dienstleistungen oder als gemischte Organisation. Damit sie in Anspruch genommen werden und ihre Wirkungen entfalten können, müssen sich Menschen ihrer Schwäche und Hilfsbedürftigkeit oft erst bewusst werden, und sie müssen sie akzeptieren. Es findet eine Abstimmung zwischen abgrenzbaren Problemen und angebotenen Hilfen statt. Mit anderen Worten: Die persönlichen Anliegen werden in Beratungsanliegen übersetzt. Die Beratungsinstitutionen definieren somit die Beratungsbedürftigkeit mit.
Beratung als kompetenzfördernde Unterstützung des Alltagshandelns Beratung als berufliches Tätigkeitsfeld erfuhr in den letzten Jahrzehnten eine starke Verbreitung in vielen Lebensbereichen: bei Problemen im Umfeld von Familien, Partnerschaft und Erziehung, bei Entscheidungen über Bildungswege und berufliche Laufbahn, bei Gesundheitsfragen und bei Veränderungen rund ums Altern. Es blieb dabei nicht bei der Errichtung von Beratungsdiensten: Ratgeber und Talkshows fanden in den Medien, der Presse und im Internet eine interessierte Klientel.
Beraten heißt zunächst: Zeit zu haben für jemanden, der im Moment nicht die gewohnte Orientierung hat, vor einer schwierigen Entscheidung steht oder Hinweise braucht, wie eine Schwierigkeit zu bewältigen wäre. Effizienz- und Zeitdruck verleiten dazu, den Prozesscharakter und die reflexive Komponente der Beratung auszublenden. Beratung verliert dann die Bedeutung von »mit sich zu Rate gehen«, sie gerät zu bloßem (bekanntlich wenig wirksamen) Ratgeben. Die Versuchung, bei einer Häufung von Problemen unter Zeitdruck einfache Lösungen zu suchen und durchzusetzen, ist groß. Sich Zeit nehmen ist unabdingbar, damit ein unterstützender Prozess überhaupt in Gang kommt. ! Mit sich zu Rate gehen Wann habe ich in letzter Zeit oder in bestimmten Momenten meines Lebens das Bedürfnis einer persönlichen Beratung verspürt? Was für Überlegungen sind mir durch den Kopf gegangen? Was für Erwartungen hatte ich an die Menschen in meiner Umgebung? Welche Konsequenzen habe ich daraus gezogen?
Mit der sozialen Hilfe ist stets eine Art von Entmündigung verbunden. Lange Zeit wurden Hilfsbedürftige als nicht voll verantwortlich, behindert, unmündig betrachtet. Diese Entmündigung (oder das Verharren in Unmündigkeit) wird nicht selten bei kollektiven Maßnahmen für Behinderte, für Arbeitslose, für Verunsicherte bei der Berufswahl, aber auch in Werbeaktionen für Gesundheits- oder Freizeitverhalten in Kauf genommen. Dies mag für viele eine Erleichterung, eine Entlastung bedeuten. Für die Selbstregulation des sozialen Organismus ist Unmündigkeit ein Risiko. Sie verstärkt passive Abhängigkeit und unterläuft die Selbstaktivierung der Betroffenen. Ein Konzept für eine Hilfe, die Menschen in die Lage versetzt, zwar mit Unterstützung eines Mitmenschen oder einer Gruppe, aber doch selbstständig Probleme anzugehen und Lösungen zu entwickeln, ist sinnvoller. Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe hat sich in verschiedenen Zusammenhängen – nicht zuletzt in der internationalen Zusammenarbeit bei der Entwicklungsförderung von Staaten – bewährt. Beratung sollte sich auf dem Grat zwischen dem Vermitteln und Anregen von Maßnahmen zur Lösung von Problemen und der Förderung individueller Selbstbestimmung bewegen. Sie
335 12.1 · Definition
ist »kompetenzfördernde Unterstützung des Alltagshandelns« (Chur, 1997, S. 41). Beratung lässt sich allgemein »definieren als Angebot von Hilfe und Unterstützung 4 bei der Orientierung in Anforderungssituationen und Problemlagen, 4 bei der Entscheidung über anzustrebende Ziele und Wege, 4 bei der Planung von Handlungsschritten zur Erreichung der Ziele, 4 bei der Umsetzung und Realisierung der Planung und 4 bei der Reflexion ausgeführter Handlungsschritte und Vorgehensweisen.« (Sickendieck, Engel & Nestmann, 1999, S. 14–15)
Beratung als professionelles Handeln Beratung war also schon immer ein alltägliches gesellschaftliches Ereignis und wird es bleiben. Der Begriff steht in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft aber auch für eine bestimmte Art professionellen Handelns, die sich auf systematisch gewonnene und reflektierte Erfahrung, daraus abgeleitete Konzepte und auf erprobte Handlungsregeln stützt. Berater haben sich methoden- und/oder bereichsspezifisch in Fachverbänden zusammengefunden, um die professionelle und wissenschaftlich fundierte Beratung zu fördern. 2004 gründeten in Deutschland – analog zu anderen Ländern – ca. 30 Verbände die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) als Dachverband. In Abhebung von Beratung als alltäglicher zwischenmenschlicher Hilfe weist professionelle Beratung Konturen einer identifizierbaren, lehr- und lernbaren Kompetenz auf. Professionelle Beratung erfolgt im Rahmen eines Vertrags: Auftraggeber, Auftrag, Umfang und Grenzen der Beratungsaufgabe und der Leistungserwartung sind explizit gemacht. Berater weisen sich aus durch eine der Aufgabe entsprechende Ausbildung, verfügen über umschriebene Kompetenzen und Erfahrungen. Professionelle Beratung ist darauf ausgerichtet, die eigenen Kräfte und Kompetenzen der Ratsuchenden zu entdecken und zu entwickeln (Empowerment). Sie ist kontext- und kulturbestimmt und untersteht ethischen Richtlinien. Diese Elemente professioneller Beratung seien im Folgenden erläutert.
12
! Beratung und Psychotherapie Beratung unterscheidet sich von Psychotherapie. Ihre Kernaufgabe besteht nicht in der Behandlung von Menschen mit lebensbeeinträchtigenden psychischen Störungen, etwa von akuten oder chronischen Angstzuständen oder von psychosomatischen Leiden. Trotz vieler methodischer und thematischer Ähnlichkeiten ist die Kernaufgabe von Beratung eine andere: Beratung ist ausgerichtet auf eine zeitlich begrenzte Unterstützung von »gesunden« Personen, Gruppen, Institutionen und Organisationen bei der Bewältigung von alltäglichen Problemen und Fragestellungen. Prävention, Orientierung und Rehabilitation sind zentrale Themen beraterischen Handelns. Professionelle Beratung stützt sich auf eine eigenständige Praxeologie, d. h. ihre Interventionen beruhen auf einer wissenschaftlich fundierten Handlungslogik und auf spezifischer Forschung.
Erfolgreiche Beratung beruht auf Kompetenz und einem klaren Konzept. Professionelle Beratung er-
fordert vom Berater eine klare Vorstellung von dem, was im Beratungsprozess abläuft, und die Fähigkeit, diese auch zu erläutern. Der Berater muss zudem über Methodenkompetenz und Feldkompetenz verfügen, das ist Expertenwissen in einschlägigen Lebensbereichen, und er muss fähig sein, eine zeitlich begrenzte Kooperation anzuleiten und zu einem Abschluss zu führen (Rauen, 2001, S. 204). Beratung ist ein Arbeitsbündnis. Beratung ist ein interaktiver Prozess. Ihr Ergebnis ist das Produkt einer Kooperation, die freiwillig erfolgt. Der Berater stellt die Beratungsbeziehung her und hält sie solange aufrecht, bis der Auftrag ein- oder der Beratungsvertrag aufgelöst wird. Die Rolle des Beraters besteht weder im Bereitstellen von Lösungen, noch erschöpft sie sich im Gut-Zuhören. Der Berater hält systematisch den Fokus auf die Beratungsaufgaben gerichtet und exploriert die bei der Zusammenarbeit auftretenden Probleme (Beutler, Crago & Arizmendi, 1986, S. 279). Der Berater signalisiert mit seiner Einstellung und seinem Verhalten, dass er Ansätze, Impulse und Gewohnheiten der Mitwirkung des Ratsuchenden aufgreift und kooperative Aktionen und Interaktionen fördert. Das Engagement in die Ziele und Aufgaben ist ein beidseitiges. Zu den unabding-
336
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
baren Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung gehört ferner die Reflexion des Auftragsverhältnisses. Wer ist der Auftraggeber? Und wie beeinflusst dies die Interventionen in der Beratung? Der Vertrag hütet die Grenzen der Beratung und dient als Kriterium zur Beurteilung der Beratungsqualität und der Zielerreichung. Ratsuchende als Experten und Expertinnen in eigener Sache. Menschen im westlichen Kulturraum
12
haben ein tiefes Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Droht diese verloren zu gehen und wird die Kontrolle und Verfügungsgewalt über sich selbst in Frage gestellt, entsteht Angst. Professionelle Beratung hat neben gesellschaftlichen Funktionen des Schutzes (wie Gesundheitsvorsorge) und der Regulierung (wie etwa Vermittelung von Arbeitslosen) die Stärkung der Selbstbestimmung des Individuums zum Ziel. Das Prinzip des Empowerment hat einen bestimmenden Platz in der Definition von Beratung. Es stammt aus der Bewegung der Selbsthilfegruppen und bedeutet: Ratsuchende sollen bei der Beschaffung von inneren (psychischen) und äußeren (sozialen und ökonomischen) Ressourcen soweit unterstützt werden, dass ihre eigenen Bewältigungskräfte wachsen und sie in der Lage sind, sich selber zu organisieren. Zu den inneren Ressourcen sind kognitive Verarbeitungskapazität und die Verfügbarkeit von Coping-Strategien zu zählen. Mit sozialen Ressourcen sind die Qualität der verfügbaren sozialen Kontakte und die Zufriedenheit mit diesen Kontakten gemeint. Empowerment ist also das Kennzeichen einer präventiv ausgerichteten, aktivierenden professionellen Intervention. In einem solchen Unterstützungsprozess der Selbstermächtigung »fühlen sich Menschen ermutigt, ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen schätzen zu lernen« (Keupp, 1990, S. 118). Menschen bewegen sich aus der Erfahrung von Ohnmacht, Resignation und Demoralisierung heraus auf einen Punkt zu, von dem an sie ihr Leben wieder selbst organisieren. Beratung ist ressourcenorientierte Assistenz. Professionelles Beraterhandeln kann als ressourcenorientierte Assistenz bezeichnet werden. Berater
treten »mit den Betroffenen in einen authentischen, ressourcen- und autonomiefördernden Dialog« (Theunissen & Plaute, 1995, S. 13). Beratung ist kontextbestimmt und kontextorientiert. Eine Beratung ist immer eingebettet in einen
konkreten institutionellen, sozialen und kulturellen Kontext, den Berater und Ratsuchende in unterschiedlichem Ausmaß teilen. Dazu gehören 4 das Umfeldsystem des Ratsuchenden, geprägt durch Merkmale der sozialen Schicht, der Lebenslage (z. B. Jugendlicher, Migrantin) und der kulturellen Identität (Zugehörigkeit zu Religion, Geschlecht und Ethnie); 4 das persönliche soziale Umfeld des Beraters: seine soziale Herkunft, sein Alter und Geschlecht, seine Einstellungen und Rollen. Für Ratsuchende ist es von Bedeutung, welche Einstellung der Berater zu Drogen, zu Asylanten, Migranten, Arbeitslosen, zu religiösen Minderheiten, zu Schwulen und Lesben hat. Ratsuchende bevorzugen Berater, die ihre eigenen kulturellen Erfahrungen, ihren Lebensstil und ihre Sprache teilen; 4 das institutionelle Umfeld des Beratungsdienstes: die kulturellen Überzeugungen, Werte und Stereotypen der Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Wie die Berater über die Ratsuchenden denken, hängt von der Organisationskultur des Beratungsdienstes ab, und diese wirkt sich auch darauf aus, ob sich die Ratsuchenden sicher fühlen und sich offen ausdrücken können. Somit begegnen sich in der Beratung Personen mit ihren jeweiligen Kontexten und Kulturen. Menschen und menschliches Verhalten können nur im sozialen, psychologischen und physischen Kontext verstanden werden, und Ratsuchenden kann nur in diesem Kontext wirklich geholfen werden. Um den Ratsuchenden zu verstehen, nimmt der Berater nicht nur das auf, was in der Beratungssitzung vor sich geht. Die Bedeutung der sozialen Umwelt des Ratsuchenden für seine Chancen der Veränderung ist groß. Wenn der Berater sich empathisch in den Bezugsrahmen des Ratsuchenden versetzen will, ist er sich klar darüber, dass »der Bezugsrahmen … aus unserer Erfahrung konstruiert ist sowie aus den Kontexten und Kulturen, in welchen diese Erfahrung gemacht wird« (Tolan, 2003, S. 97). »Eine voll-
337 12.1 · Definition
ständige klientenzentrierte Perspektive einnehmen heißt auch, die Beratung so wahrnehmen, wie der Ratsuchende sie wahrnimmt, als eine Stunde, als ein Ereignis, das in einen weit größeren Lebenskontext passen muss« (McLeod & Machin, 1998, S. 325; Übersetzung v. Verf.). Berater befassen sich mit den Einstellungen, Kompetenzen und Bewältigungsstilen der Ratsuchenden. Deren eigene Bildungs-, Berufs- und sozialen Fertigkeiten beinhalten mögliche Ziele für Verbesserungen durch Beratungsprozesse. Berater befassen sich aber auch mit Problemen und Ressourcen, die in der Umwelt des Klienten liegen. Die Modelle indirekter Dienstleistungen – Consulting, Training, Organisationsentwicklung – bieten dem Berater Gelegenheiten zu kurativen und präventiven Interventionen in der Umwelt des Ratsuchenden.
Zur Kulturspezifität von Beratung Beratung ist – wie Psychotherapie (Orlinsky, 2003) – kulturspezifisch. Einige der zentralen Begriffe innerhalb der Beratungstheorie wie »Person«, »Selbstwirksamkeit«, »Selbstaktualisierung«, aber auch die Begriffe »Selbst« und »Beratung« sind kulturell konstruiert. Mit Kultur ist ein intersubjektives Sinnund Zeichensystem gemeint, das Ordnungs- und Deutungsmuster bereitstellt. Die westliche Kultur ist eine individualistische. Nach ihrem Verständnis ist das Selbst etwas Eigenständiges, Separiertes. Angehörige anderer Kulturen und auch viele Angehörige der industrialisierten westlichen Gesellschaft verwenden aber den Begriff »Selbst« in einer Weise, die impliziert, dass die Identität der Person nicht sosehr als ein separates Selbst existiert, sondern als Teil eines Netzwerks von Beziehungen, einer Gemeinschaft. Kollektivistische Kulturen – sie dürften die Mehrheit der Weltbevölkerung ausmachen – betonen die Bedürfnisse der Gruppe und fördern ein Verständnis größerer wechselseitiger Abhängigkeit. Dies hat Konsequenzen für das Verständnis von Beratung, die selber ein kulturelles Phänomen ist. Beratung ist eingebettet in eine Kultur, die den Rahmen für die psychischen und sozialen Leistungen ihrer Angehörigen und für ihre Verständigung untereinander absteckt. Weichen die kulturellen Annahmen von Berater und Ratsuchenden sehr weit voneinander ab, können die Differenzen hinsichtlich der Beratungsziele und -aufgaben zu einer Störung des
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Arbeitsbündnisses, zu Missverständnissen, Enttäuschungen und Beratungsabbruch führen. Berater müssen lernen, ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das innere Erleben der Ratsuchenden zu richten, sondern vor allem auf deren Bezugsrahmen und wiederum auf deren Beziehung zum kulturellen Kontext. Diese Aufmerksamkeit dient nicht der Etikettierung, Kategorisierung oder Stigmatisierung von Klienten, sondern dem Verstehen. Im Fokus steht das konkrete, situative Problem, das auf dem Hintergrund des spezifischen kulturellen Kontextes Sinn und Bedeutung gewinnt. Dies stellt hohe interkulturelle Anforderungen an den Berater: Er muss sich mit den Herausforderungen und Problemen der je »anderen« Kulturen vertraut machen. Die Forderung nach »kultureller Einstimmung (»cultural attunement«) unterstreicht die Notwendigkeit, sorgfältig die Bedeutungen wahrzunehmen, die Menschen mit Bezugnahme auf ihre ethnischen und geschlechtsspezifischen Identitäten herausbilden« (Hoskins, 2004, S. XIII). ! Die Person in ihrem Kontext verstehen »Der Beratungsprozess wird qualitativ besser, wenn Bedeutungen, Ideen, Perspektiven, Erfahrungen, Annahmen, Werte, Absichten und Handlungen innerhalb des Kontextes des Lebensraums des individuellen Ratsuchenden artikuliert, kritisch bewertet und verstanden werden.« (Peavy, 2004, S. 3; Übersetzung v. Verf.).
Genderaspekte in der Beratung Der Begriff »Gender« verweist auf die psychologischen, sozialen und kulturellen Profile und Charakteristika, die mit der biologischen Kategorie von männlich und weiblich assoziiert werden. Die Genderperspektive betrachtet individuelles Verhalten auf dem Hintergrund eines Netzes von Interaktionen zwischen der biologischen Existenz als männlich oder weiblich und der soziokulturellen Umgebung. Sie vermag Selbstverständlichkeiten im Geschlechterverhältnis als verinnerlichte Einstellungen und Sichtweisen, als soziale Konstrukte zu entlarven. Gender ist ein interaktiver Prozess, ein gesellschaftliches Strukturierungs- und Organisationsprinzip der Regulierung von Beziehungen, Rollen, Ansprüchen und Wünschen. »In der sozialen Begegnung materialisiert sich gender« (Gilbert & Scher, 1999, S. 16). Der Ausdruck »doing gender« drückt diese
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
aktive Qualität der im Alltag reproduzierten Unterscheidung von männlichen und weiblichen Einstellungen, Persönlichkeitszügen und Verhaltensmustern deutlich aus. »Doing gender« kommt in der Beratung ins Spiel, wenn Unterschiede in der Einstellung und im Verhalten von Beratern und Beraterinnen und von ratsuchenden Frauen und Männern 4 unreflektiert der »Natur« zugeschrieben werden, 4 mit unterschiedlichen normativen Erwartungen verknüpft werden (»Der Mann muss vor allem im Beruf erfolgreich sein«; »Frauen sind eben emotionaler«), 4 nicht auf den kulturellen Kontext bezogen werden. Dass Menschen sich universell geschlechtsspezifisch gleich verhalten, ist eine Fiktion. Fallvignette
Eine arabische Studentin möchte das Studium wechseln
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Studentin T. stammt aus einem arabischen Land des Nahen Ostens und ist mit ihrer Familie nach Europa gekommen, wo sie heute Medizin studiert. Sie ist darin sehr erfolgreich, aber unglücklich, weil sie mit der Studienwahl die Erwartung ihres Vaters erfüllte, sich aber nie voll mit dem Studium und dem künftigen Beruf identifizieren konnte. T. sucht die Beratungsstelle auf, um sich über andere Studien- und Berufsmöglichkeiten zu informieren und einen Studienwechsel zu diskutieren. Sie ist die älteste von drei Töchtern. Ihre Schwestern sind in der Schule respektive in der Berufsausbildung. Obwohl T. zu Hause wohnt, hat sie mit ihrem Vater kaum mehr Kontakt und redet nicht mehr mit ihm. Welche genderbezogenen Gedanken und Vorstellungen kommen ins Spiel, wenn Sie dies lesen? Welche kulturspezifischen Bedingungen sind in dieser Beratung zu berücksichtigen? Welche Informationen würden Sie bei der Ratsuchenden einholen, um ihr helfen zu können? Wie würden Sie der Ratsuchenden Ihre Reaktion mitteilen?
In der Beratungssituation kommen Genderaspekte in der Sprache von Beratenden und Ratsuchenden, im nonverbalen Verhalten (Raum einnehmen, be-
rühren, unterbrechen, konkurrieren etc.) und in der Beziehungsdeutung (»die Ratsuchende will eigentlich einen Partner«; »der Ratsuchende will nur meine Kompetenz testen«) ins Spiel. In der Beratung soll »Genderbewusstheit« die Fehlerquellen verringern, die im »selbstverständlichen« Denken und Handeln von Beratenden und Ratsuchenden liegen können. Darum handelt es sich, wenn Berater und/oder Ratsuchende traditionelle Geschlechtsrollen unreflektiert übernehmen, oder wenn eine Beraterin es vermeidet, einen ratsuchenden Mann mit dessen Überlegenheitsgefühlen und Machtansprüchen zu konfrontieren, weil er »ja ein Mann ist«, oder wenn geschlechtsstereotypische Entwertungen geäußert werden (»Frauen sind passiv«; »Schwule sind labil«).
Ethik der Beratung Wenn Menschen in seelischer Not Hilfe suchen, sind sie in erhöhtem Maß suggestibel für Beeinflussungen durch andere Menschen. Beratung mit ihrem Beeinflussungspotenzial unterliegt daher besonderen Regeln der Steuerung zwischenmenschlicher Macht. Kodizes und ethische Richtlinien zur Beratung sind in der Literatur diskutiert, von Standesorganisationen ausformuliert und als Element der Standesordnung von Berufsverbänden verabschiedet worden (ACA, 2005; BACP, 2001; Ertelt & Schulz, 1997; Hoffmann, 1996; Rauen, 2004; Shillito-Clarke, 1996). Ethische Fragen in der Beratung lassen sich nicht durch Gebote und Verbote lösen, sie fordern vielmehr zu Diskursen und zwischenmenschlichen Vereinbarungen im Bereich von Grundwerten heraus und müssen in Ausbildung und Supervision thematisiert werden. Dennoch lässt sich ein Kanon von unter Beratern geteilten Grundsätzen beschreiben, der die Sensibilität für die ethische Thematik in der Beratung erhöht und Diskussionen anregt. Ob Beratende ihren Ratsuchenden beispielsweise mitteilen, wie lange sie im Moment für Beratung zur Verfügung stehen, und ob sie die Zeitdauer der Beratungsbeziehung offen diskutieren, ist – als Teil des Beratungsvertrags – von ethischer Relevanz. Der Beratungsvertrag, die Verpflichtung zur Verschwiegenheit oder die Handhabung verschiedener Abhängigkeiten von Ratsuchendem und Berater sind zweifellos Bereiche mit ethischen Implikationen. Aber es gibt noch weitere eher verdeckte Aspekte der ethischen Verantwor-
339 12.1 · Definition
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Ethische Leitsätze für die Beratungsarbeit 5 Beratende begegnen Ratsuchenden mit Achtung, sie verfolgen in diesem Arbeitsverhältnis keine anderen Ziele als das Wohl der Ratsuchenden. 5 Das Engagement in die Beratung ist ein freiwilliges; Ratsuchende können die Beratungsbeziehung jederzeit sanktionsfrei beenden. 5 Beratende treffen alle Vorkehrungen, um den Ratsuchenden eine überlegte Zustimmung zum Beratungsprozess (»informed consent«) zu ermöglichen. Sie informieren sie über Anforderungen, Leistungen, Risiken und Kosten der Beratung und über die Rechte als Ratsuchende. 5 Die Beratenden deklarieren ihre Ausbildung und einschlägigen Mitgliedschaften. Sie verfügen über die für das spezifische Beratungsfeld erforderliche Beratungskompetenz und Erfahrung und übernehmen die Verantwortung für die fachgerechte Beratung oder die Weiterweisung, wenn die Problematik und/ oder die Situation ihre Kompetenz übersteigen. Sie machen keine uneinlösbaren Versprechungen. 5 Beratende stützen die Veränderungsbereitschaft der Ratsuchenden, forcieren sie aber nicht und fordern auch nicht schonungslose Offenheit.
tung des Beraters, etwa der Umgang mit unfreiwilligen Ratsuchenden, mit Formen des Widerstandes und mit der Beendigung der Beratung. Ethische Standards sind kulturell geprägt und nicht universell gültig. Über eine Reihe von ethisch bindenden Leitsätzen besteht aber in weiten Teilen der Beratungslandschaft Konsens, etwa über folgende Beispiele von ethischen Leitsätzen zur Beratung (s. o.):
12.1.2
Das Spezifische am Personzentrierten Beratungsansatz
Beratung ist eine zwischenmenschliche Handlung, die kommunikative Mittel einsetzt, um bei einer Frage, einem Problem oder einem Vorhaben zu Wissen,
5 Beratende unterhalten ein Kontaktnetz zu Institutionen und Personen, an die sie Ratsuchende mit spezifischen Problemstellungen verweisen können, und sie sind bereit zur Zusammenarbeit mit angrenzenden Berufen. Für Not- und Krisensituationen treffen sie eine Regelung mit einer einschlägigen Institution. 5 Beratende verpflichten sich zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten. Sie treffen Vorkehrungen, um Ratsuchende vor dem Missbrauch von Informationen aus der Beratung in deren Persönlichkeitssphäre zu schützen. 5 Beratende sind gegenüber den Ratsuchenden aufrichtig und nicht manipulativ. Sie enthalten sich jeden Versuchs, die Einstellung und das Verhalten der Ratsuchenden in eine bestimmte Richtung zu steuern. 5 Beratende sind sich bewusst, dass ihre Ratsuchenden in einem speziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen stehen; sie missbrauchen die Ratsuchenden weder in sexueller noch in materieller oder psychischer Hinsicht. 5 Beratende verlängern die Beratungsbeziehung nicht über die fachlich gebotene Dauer hinaus und gehen sorgsam mit der Situation am Ende der Beratung um.
Orientierung oder Lösungskompetenz zu verhelfen. Berater arbeiten in ganz unterschiedlichen Rahmen: In der Gesundheitsberatung und -förderung, Lebens- und Berufsberatung, in der Ausbildungsbetreuung, der Personalführung und -entwicklung, in Supervision und Coaching. Berater erwerben für diese Arbeit allgemeine Kommunikations- und Beraterqualifikationen, und diese erhalten im Verlauf der Weiterbildung eine spezifische Ausprägung für feldspezifische Arbeitsbereiche. Personzentrierte Berater stützen sich einerseits auf diese allgemeinen Grundfertigkeiten der Beratung: Im Kontext von persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen besteht ihre Hilfe in kooperativ ausgerichteten Gesprächen. Sie denken und arbeiten interdisziplinär und vernetzt, und sie reflek-
340
12
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
tieren und strukturieren ihre beratenden Tätigkeiten im jeweiligen sozialen, institutionellen und gesellschaftlichen Kontext. Personzentrierte Beratung stellt andererseits für die jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen, institutionellen und privaten Kontexte ein wissenschaftlich abgestütztes Konzept der Gestaltung der Beratungsbeziehung und -arbeit bereit, nämlich die Theorie der Persönlichkeit, der psychischen Entwicklung und der Veränderung, wie sie für die Gesprächspsychotherapie entwickelt wurde. Personzentrierte Beratung ist nicht einfach die verkürzte Anwendung von Gesprächspsychotherapie auf das Feld der Beratung. Sie teilt aber mit ihr die theoretischen Grundlagen und die radikale Zuwendung zur Person in ihrem Umfeld. Sie richtet sich auf das subjektiv erfahrene Feld der Wahrnehmung der Person von sich selbst und von ihrer Lebenswelt, so wie die Person sie mitteilt. Diese auf das Selbst-in-der-Welt ausgerichtete Beratungsauffassung stützt sich auf Prämissen der philosophischen Anthropologie, der Systemtheorie und der Selbsttheorie. Rogers (1947, S. 366) bezieht sich explizit auf diese Quellen und hat deren Paradigmen kreativ in seine Persönlichkeitstheorie aufgenommen. Neuere Erkenntnisse der Emotionsforschung liefern weitere Grundlagen und Evidenzen für den Personzentrierten Ansatz in der Beratung (Frijda, 1986; Oatley & Jenkins, 1996; Zentner & Scherer, 2000).
Das anthropologische Paradigma Der Personzentrierte Beratungsansatz hat seine Wurzeln in Werten und Grundannahmen der Humanistischen Psychologie: Die menschliche Existenz ist grundsätzlich nicht determiniert, sondern frei: »Wählen und Sich-selbst-Bestimmen sind Schlüsselaspekte des menschlichen Funktionierens« (Greenberg, Rice & Elliott, 1993, S. 42). Die menschliche Existenz ist zugleich eine interdependente: Menschen sind als soziale Organismen aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, und sie sind ihr Leben lang vor die Entwicklungsaufgabe gestellt, diese gegenseitige Abhängigkeit durch ein Netzwerk geeigneter Beziehungen zu meistern. Die Personzentrierte Beratung ist ferner inspiriert von der Phänomenologie, einer philosophischen Strömung, welche es für ausgeschlossen hält, dass der Mensch eine objektive, absichts- und standpunktfreie Erkenntnis von der Welt und von sich selbst
gewinnen kann. Erkenntnis ist (wie auch bereits die Wahrnehmung) immer perspektivisch gewonnen, nie unabhängig vom eigenen Standort und Standpunkt. Um die Fehlerquelle der eigenen Voreingenommenheit in der Erkenntnis zu minimieren, setzt die phänomenologische Methode alle Vorannahmen und Überzeugungen über die Realität in Klammern und tritt den Phänomenen unverstellt und unvoreingenommen gegenüber. »Es liegt in der Natur der Sache, dass sich der Interpret zurückhalten muss, wenn er andere, fremde Wirklichkeiten aus sich selbst heraus wahrnehmen möchte. Er muss die ihm vertrauten Perspektiven, Sprach- und Begriffsraster zurückstellen, um sich den interessierenden Wirklichkeiten in deren eigenen Artikulationsformen und Ausdrucksgestalten annähern zu können.« (Straub, 1999, S. 51) Es geht nicht um Wertfreiheit und Positionsverschleierung, wenn in der Personzentrierten Beratung eine Beziehung des Beraters zum Ratsuchenden angestrebt wird, die geprägt ist von Bedingungsfreier Positiver Beachtung, sondern gerade um die Respektierung der perspektivischen Wirklichkeit menschlicher Existenz und um die Achtung und Anerkennung des Anderen. »Das Bedürfnis nach Anerkennung gehört zur Conditio humana. Taylor hebt hervor, ›dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen‹ (Taylor 1993, S. 13).« (Straub, 1999, S. 72 f.)
Selbst-Umwelt-System und die Konstruktion des Selbst Die personzentrierte Sicht des menschlichen Verhaltens ist eine interaktionistische und unterscheidet sich von traditionellen Modellen, welche die Verhaltenssteuerung intrapersonalen Dispositionen zuschreiben. Lewin (1963, S. 90) brachte die feld-
341 12.1 · Definition
theoretische Sicht auf die schlichte Formel: »Das Verhalten V zur Zeit t ist eine Funktion der Situation S zu dieser und ausschließlich zu dieser Zeit t (wobei S sowohl die Person wie die psychologische Umwelt einschließt): Vt = f(St)«. Dieses feldtheoretische Modell menschlichen Verhaltens hat die Persönlichkeitstheorie revolutioniert und auch Rogers beeinflusst: »Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum die Realität. … Der Organismus reagiert auf dieses Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes Ganzes« (Rogers, 1951, S. 484, 486). Die interaktionistische Konzeption des Selbst und seiner Beziehung zur Umwelt betrachtet den menschlichen Organismus als ein sich selbst organisierendes System, das sich auf der Grundlage einer Aktualisierungstendenz selbst entfaltet, strukturiert und erhält (7 Kap. 3; von Schlippe & Kriz, 2004). Während der Entwicklung des Organismus bildet sich aus seinen Erfahrungen eine Reihe von Vorstellungen, von »Konzepten« heraus über das, was ihn selber ausmacht und was »außerhalb von ihm selbst« als Lebensraum da ist. Die verschiedenen Konzepte werden zu einem dynamischen »Selbstkonzept«, einem stabilen und zugleich flexiblen »Selbstschema« verdichtet. Dieses umfasst Erinnerungen an die Wahrnehmungen von sich, Motive, verallgemeinerte Wertungen von sich (Selbstwertgefühl), von anderen und von den Beziehungen zu ihnen, aber auch Fertigkeiten und Pläne. Rogers (1980/1981) ist überzeugt, »dass der menschliche Organismus … in seinen Tendenzen und seiner Richtung im Kern konstruktiv ist« (Rogers, 1981, S. 7). Das heißt nicht »im Grunde gut«. Der Satz lässt aber die Interpretation zu, dass das Selbst Strukturen generiert, dass es als ein Organisator von Erfahrung fungiert, »bis zu einem gewissen Grad als ein Architekt seiner selbst« (Rogers, 1947, S. 366; Übersetzung v. Verf.). Später definiert Rogers das Selbst wie folgt: »Das Selbstkonzept ist … ein Zusammenschluss von Wahrnehmungsmustern, die zur Begegnung mit dem Leben benutzt werden. … Die Person reagiert auf ihre Realität so, wie sie diese aufgrund ihres Selbstkonzepts wahrnimmt und definiert« (Rogers & Wood, 1974/ 1983, S. 140). Mit dieser Beschreibung der Funktion des Selbstkonzepts wird das Selbst als ein komplex zusammengesetztes operatives Schema aufgefasst.
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Dieses Selbst ist keine Abstraktion, sondern eine leibliche, in zeit-räumlichen Dimensionen gelebte und erlebbare Existenz. Ich selbst bin es, der die innerpsychischen Prozesse und zwischenmenschlichen Handlungen motiviert, interpretiert und reguliert. Nicht alle diese Prozesse sind allerdings dem Bewusstsein zugänglich. Aktuelle Wahrnehmungen und Erfahrungen aktualisieren das verschlüsselte Selbstschema und aktivieren im Organismus Assimilationsprozesse (die neue Erfahrung wird in das bestehende Selbstschema integriert) oder – wenn diese Integration nicht gelingt – Akkommodationsprozesse: Der Organismus nimmt eine Anpassung seiner Struktur an die neue Erfahrung vor.
Die Bedeutung der Emotionen Allen Beratungsansätzen ist klar, dass das Unterfangen einer auf rein rationalen Überlegungen beruhenden Beratung, die das Verhalten und Erleben in zukünftigen Situationen zum Thema hat, nicht aufgehen kann. Konstruktivistische Beratungsansätze wie etwa der systemische oder der sozial-konstruktivistische, aber auch der Personzentrierte Ansatz grenzen sich radikal ab vom cartesianischen Primat der Vernunft und von der Auffassung, dass Gefühle vernünftiges menschliches Handeln »stören«. Sie werden durch die Ergebnisse der Emotionsforschung bestätigt, die zeigen, dass die Vernunft den Gefühlen nicht übergeordnet ist, es vielmehr die Emotionen sind, »welche die Vernunft lenken und unter vielschichtigen Zielen Prioritäten setzen« (Oatley & Jenkins, 1996, S. 124). Gefühle haben zwar eine kognitive Komponente, aber ihre Funktion geht über das Kognitive hinaus, indem sie den Organismus aktivieren, orientieren, steuern. Gefühle regulieren die Beziehungen des Selbst zur Umwelt unter dem Gesichtspunkt der Bedeutsamkeit. Sie »liefern die Infrastruktur für das soziale Leben der Menschen« (a. a. O.).
Emotion als Prozess ! Emotionsforscher unterscheiden zwischen Emotion als einem Prozess, der im Organismus abläuft, und der Emotion als subjektivem Gefühl. Das subjektive Gefühl reflektiert verschiedene Komponenten des weitgehend unbewusst ablaufenden Emotionsprozesses, es ist »eine Meta-Repräsentation (ein monitoring)« des Emotionsprozesses (Zentner & Scherer, 2000, S. 159).
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
. Abb. 12.1. Der Emotionsprozess nach Frijda (1986)
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Die Prozesstheorie der Emotionen (. Abb. 12.1) besagt: 4 Im Emotionsprozess nimmt der Organismus kontinuierlich eine erste rasche Situationsbewertung (»appraisal«) interner und externer Reize vor und prüft dabei, ob ein Ereignis neu und verstärkter Aufmerksamkeit wert ist, ob das zu Erwartende angenehm oder unangenehm, bedrohlich oder verlockend ist, und ob das Ereignis zieldienlich ist: Besteht ein Bezug zu wichtigen eigenen Anliegen der Person? Ist es für sie von Bedeutung? 4 Dieser primären Einschätzung folgt eine Evaluation der verfügbaren Bewältigungsstrategien und der für die Bewältigung relevanten Ressourcen (»context evaluation«). Es werden Gedankenund Aufmerksamkeitsprozesse in Gang gesetzt oder gestoppt, Erinnerungen wachgerufen, Zukunftsentwürfe herausgefordert. 4 Das Resultat dieser doppelten Einschätzung mobilisiert Handlungsbereitschaften (»action readiness«). Diese steuern die Art und die Intensität des subjektiven Gefühls, der Handlungen, des Gefühlsausdrucks und der physiologischen Prozesse. Aktiviert werden je nach Evaluationsergebnis z. B. antagonistische Muster (widersprechen, widerstehen), Annäherungs- und Vermeidungsmuster (auf jemanden zugehen, von etwas Distanz halten), Hilflosigkeit, Kontrolliertheit u. a. m. Mit dem Ausdruck seiner Gefühle verbindet sich der Mensch stetig mit anderen Menschen und bewegt
diese zu motivdienlichen Handlungen. »Der Gefühlsausdruck ist durch und durch kommunikativ und dient der Regelung sozialer Interaktion« (Greenberg et al., 1993, S. 50). »Das emotionale Erleben ist ein Mehrkomponentenprozess, es umfasst körperliche Veränderungen, Bedeutungen und Handlungsbereitschaften. Dieses komplexe informationsverarbeitende Emotionssystem beliefert uns mit einer reichen Quelle komplexer Bedeutungen und mit Feedback über unsere Reaktionen auf Situationen in Form von Gefühlen.« (Greenberg et al., 1993, S. 51; Übersetzung v. Verf.; 7 Kap. 20.1) Emotionale Erlebnisse werden nun nicht nur ad hoc individuell verarbeitet, sie werden außerdem durch Wiederholung und Gewöhnung zu persönlichen »generativen Strukturen« (Ulrich, Kienbaum & Volland, 1999, S. 57), zu so genannten emotionalen Schemata verdichtet. Diese dienen als Entwürfe und Mustervorlagen bei der Strukturierung und Aufrechterhaltung der Kontinuität des Erlebens und sind ständigen Anpassungsprozessen unterworfen. Menschen sind »… in einem fortschreitenden Prozess der Erfahrungsorganisation engagiert sowie in einem Prozess der Bildung neuer emotionaler Bedeutungen, um sich in der Beziehung zu ihrer Welt besser zu verstehen und zu lenken. … Die resultierende organisierte Synthese all dieser Verarbeitungen ist die bewusste Erfahrung des In-der-Welt-Seins der Person« (Greenberg et al., 1993, S. 14).
343 12.1 · Definition
Definition Eine Emotion ist »ein sich selbst organisierendes psychisches System, das interne bzw. externe kontextgebundene Anlässe in ihrer Bedeutung für die eigene Motivbefriedigung einschätzt, adaptive Ausdrucks- und Körperreaktionen auslöst, die über das Körperfeedback als Gefühl subjektiv wahrgenommen und mit dem Emotionsanlass in Zusammenhang gebracht werden, sodass motivdienliche Handlungen ausgelöst werden (können), sei es bei der Person selbst oder beim Interaktionspartner« (Holodynski, 2004, S. 4). Der Emotionsprozess läuft weitgehend automatisiert ab.
Funktion der Emotionen. Der Emotionsprozess erfüllt eine (über)lebenswichtige Funktion im menschlichen und zwischenmenschlichen Leben (7 Kap. 4). Elementare Gefühle – wie Freude, Trauer, Ärger, Scham oder Wut – lassen sich relativ einfach sprachlich und in Handlungen ausdrücken. Ihr Sinn erschließt sich leichter als derjenige von komplexeren Emotionen wie Schuld, Eifersucht, Angst. Bei diesen sind die intra- und interindividuellen Funktionen verflochtener. Gefühle sind die körperlich-sinnliche Seite eines äußerst wirksamen, diskret oder intensiv, rasch und kurzfristig oder nachhaltig operierenden Signalund Aktivierungssystems. Sie 4 steuern die Interpretation von Wahrnehmungen, die Speichervorgänge im Gehirn und die Reproduktion älterer gespeicherter Gedächtnisinhalte; 4 steuern physiologische Prozesse wie z. B. den Atem; 4 lenken die Aufmerksamkeit auf spezifische Inhalte; 4 beschleunigen oder verlangsamen die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Aufmerksamkeitsund Denkprozessen; 4 legen Zielprioritäten fest, indem sie z. B. KostenNutzen-Rechnungen anstellen und Risikoabwägungen vornehmen; 4 informieren darüber, wie stark eine Person mit ihren Zielen und Wünschen in ein Ereignis, eine Sache oder eine Person involviert ist und wie sie dies interpretiert;
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4 verweisen auf Themen, die im Vordergrund stehen, im Falle von Ärger beispielsweise sind das Themen von Schuld, Verantwortung und Strafe, im Falle von Angst Themen der Sicherheit und der Bedrohung. Für Rogers war die Intensität der Gefühle abhängig von der wahrgenommenen Bedeutung einer Handlung für die Entwicklung oder Aufrechterhalten des Organismus: »… the intensity of the emotion being related to the perceived significance of the behavior for the maintenance and enhancement of the organism« (Rogers, 1951, S. 493). Durch ihre Emotionen erfahren die Ratsuchenden von sich selber, wie sie eine Situation empfinden, welche Bedeutung sie Ereignissen beimessen und zu welchen Handlungen sie motiviert sind. Der Emotionsprozess determiniert nicht die Handlungen, er erleichtert aber das Wählen und Handeln. ! Die Personzentrierte Beratung trägt dieser zentralen Funktion der emotionalen Prozesse und Zustände Rechnung. Im Fokus sind nicht Störungen oder Fertigkeitsdefizite der Ratsuchenden, sondern die internen Ressourcen. Diese Unterstützung des Gewahrwerdens innerer Quellen ist spezifisch für den Personzentrierten Beratungsansatz.
Konsequenzen für die Beratung Beratung ist ein ko-konstruktiver Vorgang. In der Beratungssituation konstituiert sich der Ratsuchende in der Interaktion mit dem Berater selbst neu und einmalig. Für viele Ratsuchende ist bereits diese Erfahrung ein bestärkendes Erlebnis. In der Beratung wird eine reale Beziehung erfahrbar; der Berater ist transparent, erkennbar, fassbar. Er lässt sich bewegen, wird durch die Beratungsbeziehung selber verändert, ist z. B. verletzlich. »Verstehen … ist ein inter-subjektives Geschehen, ein Vorgang zwischen den Subjekten, der am Ende bei allen Beteiligten seine Spuren hinterlässt. Er vereinigt assimilierende und akkommodierende Operationen im Zuge der kommunikativen Auseinandersetzung mit dem anderen.« (Straub, 1999, S. 18)
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
! Die Beratungsbeziehung ist – das wird häufig missverstanden – kein unspezifischer Wirkfaktor des Beratungsprozesses neben den spezifischen: In der Personzentrierten Beratung ist die Beratungsbeziehung der spezifische Wirkfaktor! Sie dient weder der Übertragung unbewusster Beziehungsmuster noch der atmosphärischen Erleichterung von »eigentlichen« beraterischen Interventionen. Berater unterstützen Ratsuchende dabei, auf die eigenen Gefühle aufmerksam zu werden und sie zu erkunden.
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Die Selbstexploration des gefühlsmäßigen Erlebens führt dazu, dass mehr und mehr von der Information, die in den Emotionen verdichtet und verschlüsselt ist, explizit und bewusst wird. Ratsuchende setzen sich so ins Bild über ihr Handlungspotenzial und die verfügbaren Ressourcen, über Prioritäten, Präferenzen und Grenzen und über die eigenen Ziele und Wünsche. Mit der Entschlüsselung solcher Informationen gewinnt der Ratsuchende nicht nur ein zuverlässiges Bild von sich selbst, von seinen Stärken und Schwächen, von seiner Dynamik und seinen Wertungen. Sie ermöglicht ihm auch die Integration von wenig beachteten oder abgewehrten Aspekten von sich selbst zu einem adäquaten Selbstbild und beliefert ihn mit der notwendigen Motivation für die Umsetzung von Entscheidungen und Veränderungen. Das erweiterte oder reorganisierte Selbstbild steuert dann wiederum die Interpretation von Erfahrungen, d. h. den weiteren Emotionsprozess. Ratsuchende lernen im Verlauf der Beratung, dem Emotionsprozess als ihrem internen Informations- und Steuerungssystem mehr und mehr zu vertrauen.
12.2
Ziele der Personzentrierten Beratung
Wer Beratung aufsucht, möchte mit »Problemen« besser zurechtkommen oder sie loswerden, möchte in einem persönlichen oder zwischenmenschlichen Konflikt eine Lösung finden oder sich in einer Entscheidung absichern. Wer nicht mehr ein noch aus weiß, möchte sich orientieren können, Hilfen sollen mobilisiert und in Reichweite gebracht werden. Nicht zuletzt möchten Ratsuchende eine Umgebung
gewinnen, die sie fördert und ihnen befriedigende Beziehungen eröffnet. ! Alle Beratungsansätze sehen als globale Ziele der Beratung die Entwicklung von Potenzialen des Individuums oder Organisationen, die Entwicklung von Problemlösungs- und Entscheidungskompetenz und von Kompetenz im Umgang mit Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten.
Erreicht werden sollen diese Ziele durch die Erörterung von problematischen Aspekten bei der Person selbst und im persönlichen Umfeld (respektive der Organisation und ihrem Umfeld), durch die Vermittlung von Bewältigungsstrategien in konkreten Belastungs- und Anforderungssituationen und durch die Aktivierung und Bereitstellung von sozialen und persönlichen Ressourcen. Im Feld der Beratung herrscht weitgehend Einigkeit, dass Menschen, die um Beratung nachsuchen, mit der Vermittlung von Informationen und mit Ratschlägen und Lösungsvorschlägen auf die Dauer nicht geholfen werden kann. Ratsuchende brauchen z. B. Kompetenzen, Bewertungskriterien und ein Netzwerk, um neue Herausforderungen zu bewältigen. Die Personzentrierte Beratungstheorie könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass Beratung nur ein generelles Ziel habe, nämlich größere Selbstbewusstheit und Integration des Ratsuchenden als Voraussetzung für seine Selbstbestimmung und die eigenverantwortliche Lösung von Problemen. Auf dieser hohen Abstraktionsebene ist das sicher richtig: Der Berater verfolgt keine inhaltlich festgelegten Ziele. Die Ziele sind idiosynkratisch, d. h. den ratsuchenden Personen individuell zu eigen. Aus der Beobachtung von konstruktiven Veränderungen von Ratsuchenden in der Personzentrierten Beratung lassen sich aber sehr wohl allgemeine Ziele ableiten. Diese werden aber nicht vom Berater »angestrebt«, sie ergeben sich, wenn die Bedingungen einer offenen, empathischen und wertschätzenden Kommunikation erfüllt sind. Beratung ist nie rein subjektbezogen, sie findet in einem Spannungsfeld aus Umgebungsanforderungen, Problemstellungen und subjektiven Determinanten statt. Ziele sind dementsprechend in der Person wie in der Umwelt angesiedelt und werden in der Anfangsphase der Beratung ausformuliert. Das Spektrum möglicher Beratungsziele ist weit (McLeod, 2004; Rogers, 1946).
345 12.2 · Ziele der Personzentrierten Beratung
Ziele, die von Ratsuchenden gesucht und erreicht werden können 5 Besseres Verständnis eigener Einstellungen und Reaktionen; Einsicht gewinnen in Bedingungen und Zusammenhänge von Problemen 5 Entwicklung einer schärferen Selbstwahrnehmung, auch von bisher verleugneten Gedanken, Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen 5 Akzeptieren der eigenen Person und Zurücknehmen übersteigerter Selbstkritik 5 Klarere Unterscheidung zwischen sich selbst, den eigenen Bedürfnissen, Zielen und Grenzen und denen der anderen 5 Unterscheidung zwischen Verhaltensregeln, die der Ratsuchende aus eigenen Erfahrungen gewonnen hat, und solchen, die ihm auferlegt wurden 5 Das Setzen neuer befriedigenderer Ziele aus eigener Initiative und in eigener Verantwortung 5 Verhaltensweisen, die zu diesen Zielen führen 5 Aktivierung innerer und äußerer Ressourcen zur Bewältigung von Anforderungen 5 Vorstellungen darüber, wie eigene Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen werden können 5 Entwicklung sozialer Fertigkeiten, z. B. ein offenes Gespräch zu führen, einen Konflikt anzugehen, sich zu behaupten 5 Freisetzen von Kräften, die den Ratsuchenden bei der Verfolgung seiner Ziele unterstützen und die es ihm erlauben, selbstschädigendes Verhalten abzulegen 5 Abstimmung des eigenen Verhaltens mit den sozialen Bedürfnissen von anderen 5 »Einen Schritt vorwärts im Leben machen«
Die Personzentrierte Beratung ist spezifisch darauf ausgerichtet, der ratsuchenden Person ein umfassendes Gewahrwerden ihres subjektiven Wahrnehmungsfeldes samt der sie konstituierenden Bedingungen zu ermöglichen. Die Wahrnehmungen werden durch das Bild der Person von sich selbst, dem
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Selbstkonzept gesteuert. Die Grundeinstellungen und Verhaltensweisen des Beraters fördern die Dynamisierung des Selbstkonstrukts des Ratsuchenden. Eine Integration bisher abgewehrter oder nicht adäquat repräsentierter Erfahrungen in die Selbststruktur respektive eine Neuformulierung der Struktur (im Sinne der Akkommodation eines Selbstschemas) werden damit ermöglicht. Beratung schärft das Gewahrwerden der Emotionsprozesse, die Erleben generieren und organisieren, und sie regt zur Auseinandersetzung mit den Gefühlen an. Sie schafft einen Raum, in welchem die eigenen Einstellungen, gefühlsmäßigen Bewertungen, Motive, Beziehungen und Kompetenzen unverzerrt wahrgenommen und symbolisiert werden können. Das Ziel ist neues Gewahrsein, umfassenderes Erleben, die Freisetzung konstruktiver Aktivitäten der Bedeutungsbildung, größere Selbstempathie und Wertschätzung für die eigene Person. Auf der konkreten Ebene der Beratungsaufgaben heißt das: Dank größerer Bewusstheit von sich und ihrem Umfeld kommen Ratsuchende in die Lage, 4 anstehende Entscheidungen eigenverantwortlich und in Abstimmung zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Bedürfnissen anderer beteiligter Personen zu treffen; 4 Lösungsschritte zu finden und zu entwickeln; 4 bei geplanten oder ausgeführten Handlungen die Verantwortung für Risiken und Konsequenzen zu übernehmen, d. h. ethisch und sozial zu handeln; 4 Situationen und Problemlagen neu zu bewerten und ihnen Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Ihre Deutungs-, Wahl- und Handlungsoptionen erweitern sich. Über die unmittelbare Zielsetzung des Beratungsanlasses hinaus soll Personzentrierte Beratung eine Verankerung dieser Reflexions- und Handlungskompetenz erreichen, als Zuwachs an Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit. Ratsuchende gewinnen mehr Kontrolle über ihr Leben, und sie meistern jene Aspekte im persönlichen Umfeld besser, die für ihre individuellen Ziele relevant sind. Beratung dient nicht der erleichterten Durchsetzung von fremdbestimmten Entscheidungen und Maßnahmen. Sie sollte niemanden dazu zwingen, »zur Einsicht zu gelangen«.
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
! Das Ziel der Beratung ist in der Regel erreicht, »wenn die Beratenen Entscheidungen und Problembewältigungswege gefunden haben, die sie bewusst und eigenverantwortlich in ihren Bezügen (besser: im je spezifischen Problem-/Situationsbezug) umsetzen können. Hierzu gehört auch, dass Selbsthilfepotenziale und soziale Ressourcen erschlossen werden« (Homepage der GwG).
12.3
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Klientel und Indikationen
Von einer Beratung profitieren Menschen, die eigentlich bzw. in der Regel ohne größere Beeinträchtigungen oder »Störungen« ihrer Persönlichkeit und in ihren Beziehungen zurechtkommen, sich aber situationsbedingt oder wegen nicht klar benennbarer Gründe im alltäglichen Funktionieren beeinträchtigt, eingeschränkt, blockiert oder desorientiert fühlen. Jemand ist aus dem Tritt gekommen, aus der Bahn geworfen, an den Abgrund geraten, in einer ausweglosen Situation gelandet. Beratung ist angezeigt, wo Probleme und Schwierigkeiten (noch) nicht ein Ausmaß erreicht haben, das einen Zusammenbruch der psychischen Funktionen des Menschen herbeiführen könnte. Ein erkennbares Maß an Selbststeuerung ist erforderlich, damit Beratung ihre spezifische Wirkung entfalten kann. Beratung hat häufig auch eine präventive Funktion. Die Menschen erwarten Hilfe beim Entwerfen, Entdecken und Umsetzen von spezifischen und unmittelbaren Zielen in ihrem persönlichen Lebensumfeld. Sie möchten umsichtig und begründet planen, vernünftige Lösungen für Probleme ins Auge fassen, klar und begründet entscheiden und Stresssituationen ohne Schaden überstehen. Ratsuchende müssen einen – wenn auch noch so bescheidenen – Wunsch nach Exploration ihrer Person und ihrer Situation haben und eine Bereitschaft, diese auch zu leisten. Im Beratungsprozess wird – analog zur Gesprächspsychotherapie, aber in viel kürzerer Zeit – eine Veränderung, eine Lösung erwartet. Personen, die bloß orientierende Informationen erhalten, eine externe Meinung einholen oder vom Expertenwissen des Beraters zehren möchten, werden kaum in eine vertiefte Kooperation eintreten.
»Beratung kann präventive, kurative und rehabilitative Aufgaben erfüllen, also im Vorfeld der Entstehung manifester Probleme ansetzen, bei aktuell bestehenden Schwierigkeiten in Anspruch genommen oder in bezug auf den Umgang mit Folgen von Beeinträchtigungen nachgesucht oder angeboten werden.« (Sickendiek, 1999, S. 13) In ihrer präventiven Funktion richtet sich Beratung an Problem- und Risikogruppen, um die betreffenden Menschen in ihrem entwicklungs-, gesundheitsund kompetenzförderndem Verhalten zu stützen und um verletzende, beeinträchtigende, sozial diskriminierende Verhaltensweisen zu vermeiden. Beratung hilft beispielsweise delinquenten Jugendlichen, in konkreten Konfliktsituationen sozialkommunikative statt destruktive, gewaltsame Lösungsmuster zu entwickeln. Oder sie bereitet Personen vor bedeutsamen Bewährungsproben wie Prüfungen, öffentlichem Reden oder Bewerbungsgesprächen auf den Umgang mit Angst vor Versagen, öffentlicher Kritik oder Abweisung vor. Angst ist allerdings nicht die einzige zu Beratung motivierende Emotion. Wohl überwiegen negativ erlebte Gefühle als Beweggrund zu einer Beratung. Aber die ganze Palette der verschiedensten Gefühle kann mit dem Beratungsanlass zusammen auftreten, etwa Ärger über einen Misserfolg, Wut über eine ungerechtfertigte Kritik, Neid wegen der Privilegien der Arbeitskollegen, aber auch Lust, sich in einer Konkurrenzsituation zu behaupten, Neugierde auf die Gestaltung eines neuen Lebensabschnittes, Lust auf neue Herausforderungen, und schließlich Risikofreude. Ist ansatzweise zu erkennen, dass der Ratsuchende in die Exploration dieser Gefühle ohne einen längeren Entwicklungsprozess einzutreten vermag und die empathischen Reaktionen des Beraters konstruktiv annimmt, ist die Indikation ausreichend.
12.3.1
Wann ist Beratung nicht angezeigt?
Personen mit ausgeprägter Neigung, die Kontrolle von Ereignissen externen Instanzen zuzuschreiben, sind kaum interessiert an einer innenorientierten Beratung. Wenn ersichtlich ist, dass der Ratsuchen-
347 12.3 · Klientel und Indikationen
de nicht bereit oder in der Lage ist, sich auf einen internen Bewertungsstandpunkt hin zu orientieren, dürfte er kaum von einer Personzentrierten Beratung profitieren. Wenn der Ratsuchende zwar von konkreten Problemen und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer aktuellen Entscheidung berichtet, diese aber erkennbar durch eine psychische Störung bedingt sind und durch die Beratung dieser Sachverhalt verschleiert würde, muss der Berater über einschlägige Möglichkeiten der Hilfe für das eigentliche Problem informieren und/oder geeignete Hilfen vermitteln. Sorgfältige Abklärung der Indikation ist bei Personen angezeigt, die bereits viele Beratungsinstitutionen aufgesucht haben (Beratungstourismus). Sie erwarten schnelle, aber nachhaltige Wirkungen, ohne die Mühe der Veränderung und die Verantwortung dafür auf sich zu nehmen. Die Vernetzung der Beratungsinstitutionen optimiert nicht nur Synergien, sie fordert auch dazu heraus, jene Beratungsinstitution zu erkennen (und als fachkompetent zu akzeptieren), die am ehesten in der Lage ist, der Person kostenbewusst und wirksam zu helfen. ! Beratung taugt nicht zur Disziplinierung von Menschen in Abhängigkeit. Jede Form von Belehrung, Indoktrinierung, Steuerung und Einwirkung in der Maske der Beratung, etwa um Maßnahmen durchzuführen oder durchzusetzen, dürfen aus ethischen Gründen nicht durchgeführt werden. Sie untergraben das Vertrauen in den Berater, sind für die Unwirksamkeit solcher Beratungen verantwortlich und führen Beratung ad absurdum.
12.3.2
Zeitaufwand
Beratung wird in unterschiedlich großen Zeiteinheiten und -abständen angeboten. Da gibt es den einmaligen Kontakt von kurzer Dauer (eine halbe Stunde bis zu zwei Stunden) und die Gesprächsserie von einer Kontaktfolge in regelmäßigen oder unregelmäßigen (intermittierenden) Abständen. Und es kommen Personen in Belastungslagen in größeren oder kleineren Abständen zu Beratungsgesprächen, die die persönliche Entwicklung oder äußere Veränderungen zum Ziel haben und sporadisch Impulse, Feedbacks, Standortbestimmungen und neue Ziel-
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vornahmen ermöglichen. Beratungstermine werden zu Markierungspunkten in einer Entwicklung, und der Berater übernimmt temporär die Funktion einer freiwilligen sozialen Kontrolle. Er wirkt aber von Anfang an darauf hin, dass der Ratsuchende möglichst bald diese Kontrolle selber übernimmt.
12.3.3
Stärken der Beratung
Beratung ist – im Vergleich mit anderen psychosozialen Interventionen – zeitlich relativ eng begrenzt und daher kostengünstig. Beratung bietet mit relativ wenig Zeit und Aufwand eine Unterstützung. Wenn nur wenig Zeit und Ressourcen vorhanden sind und die Aussicht besteht, dass eine Person – auch wenn nur sehr begrenzt – von ihr profitieren kann, sollte Beratung angeboten werden. Beratung wendet sich gegen Stigmatisierung, Pathologisierung, sie orientiert sich nach den Möglichkeiten der Selbsthilfeaktualisierung. Beratung wird in den vielfältigsten Organisationsformen und mit breitem Methodenrepertoire angeboten. Die große Verbreitung von Beratungsdienstleistungen hängt u. a. damit zusammen, dass sie nahe am Alltagshandeln angesiedelt sind und niederschwellig angeboten werden. Für die Ratsuchenden, und ihre Zahl ist gesamtgesellschaftlich sehr groß, ist die in kurzer, klar begrenzter Zeit erbrachte Leistung der Beratung von hohem persönlichem (und indirekt natürlich gesellschaftlichem) Wert. Beratung soll Orientierungsund Entscheidungshilfe in unmittelbar anstehenden Problemlagen bieten, und Ratsuchende sind meistens dankbar, wenn sie erfahren, dass Schritte zur Bewältigung in überschaubarer Zeit möglich sind. Beratung zielt auf unmittelbare Veränderungen, und hat – weil sie kostengünstig viele Menschen erreicht – einen weiten Wirkungsradius.
12.3.4
Beratungssettings
Beratung wird mit Einzelpersonen, mit Gruppen und mit Organisationen praktiziert. 4 In der Einzelberatung tritt ein Ratsuchender in eine Beratungsbeziehung mit einem Berater. Weitere Personen können beigezogen werden,
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12
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
aber ein Veränderungsprozess wird nur bei einer einzelnen Person initiiert. 4 Gruppenberatung findet statt als Beratung von »natürlichen« Gruppen (z. B. Familien, Paaren), von sozial gebundenen Gruppen (Teams, Projektgruppen), von ungebundenen Gruppen (z. B. arbeitslose Frauen). In Kleingruppen von 8–12 Personen, in Großgruppen mit flexibler Obergrenze können Ratsuchende ihr Erleben in zwischenmenschlichen Beziehungen realitätsnah erkunden. So können beispielsweise Defizite in sozialen Fertigkeiten und Kommunikationsprobleme vermindert werden. 4 Im Consulting sind Berater tätig als Mediatoren in Konfliktfällen (Scheidung, innerbetriebliche Konflikte, Konflikte innerhalb von Organisationen). Als Consultant leisten sie intermediäre Arbeit zugunsten eines Dritten, sie beraten z. B. Lehrer, Schulverwalter, Eltern, um für Schüler günstige Bedingungen zu erwirken. 4 In der Organisationsentwicklung und in Trainings stärken Berater die Qualität der Umgebung einer Institution, um die Leistung der Organisation zu verbessern und die psychologische Entwicklung ihrer Mitglieder zu verstärken. Sie leisten indirekte Beiträge an Personen, etwa indem sie deren Vorgesetzte schulen oder Dozierende in Beratungskompetenzen einführen.
12.3.5
Besonderheiten der Beratung in Gruppen
Gruppen sind komplexere »Organismen« als Einzelpersonen (7 Kap. 16). Der Berater hat die spezifische Struktur und die Dynamik von Gruppen zu beachten. Dem Gruppenberater obliegt es, eine tragende Umgebung zu schaffen. Er fördert Authentizität, offene Kommunikation, Respekt der Mitglieder untereinander und Respektierung von Unterschieden. Unter den Interventionen sind empathisches Antworten und Herausfordern die wichtigsten. Die Interventionen des Beraters in Gruppen beziehen sich 4 auf Intrapsychisches (z. B. auf Gefühle oder Ziele der einzelnen Teilnehmenden), 4 auf Interpersonelles (z. B. auf die Einflussnahme unter den Teilnehmenden) und
4 auf die Gruppe als Ganzes (z. B. auf Leistungen der Gruppe, auf gemeinsame Ziele oder auf Regeln). Gruppenberater erfragen Themen und formulieren Themenschwerpunkte; sie setzen Grenzen und fördern Zielsetzungen; sie konfrontieren und fassen Inhalte und Gruppenprozesse zusammen; sie strukturieren den Rahmen der Gruppe, z. B. die Arbeitszeiten und den Abschluss.
12.3.6
Anwendungsfelder der Beratung
Die Beratungsfelder, in denen der Personzentrierte Ansatz verwirklicht und entsprechende theoretische Reflexionen angestellt wurden, sind zahlreich. Details zu wissenschaftlichen Untersuchungen dazu finden sich bei Frenzel (2001, S. 371), Weinberger (2004, S. 157 f.), Straumann (2001, S. 97 f.).
12.4
Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung
»Worte sind Taten.« (Wittgenstein, 1945, zitiert nach Wittgenstein, 1994, S. 94) Worte sind menschliche Handlungen, die Macht und Einfluss entfalten, und sie haben Konsequenzen. Worte sind wichtige Übermittler von Gedanken, Überzeugungen, Wünschen, Szenen, Bildern, Erinnerungen. Dennoch: Sie sind nur eine herausgehobene Komponente der menschlichen Kommunikation. Veränderungen beim Ratsuchenden werden denn auch nicht in erster Linie durch Worte, Sätze, Informationen, Ratschläge oder Instruktionen des Beraters erzeugt, sondern durch die ganzheitliche soziale Interaktion zwischen Ratsuchendem und Berater in ihren vielschichtigen Facetten der verbalen, nonverbalen und paraverbalen Kommunikation. Auf das Beratungsergebnis wirken darüber hinaus – wie im ersten Abschnitt ausgeführt – der institutionelle und kulturelle Rahmen, in welchem Beratung stattfindet, ein. Somit verschränken sich in der konkreten Beratungssituation Aspekte der Rol-
349 12.4 · Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung
Beratungsfelder und -aufgaben 5 Schüler- und Elternberatung 5 Beratung von Kindern und Jugendlichen 5 Beratung von jugendlichen Problem- oder Randgruppen 5 Familien-, Erziehungs- und Partnerschaftsberatung 5 Schwangerschaftskonfliktberatung 5 Beratung von misshandelten Frauen 5 Trennungs- und Scheidungsberatung 5 Laufbahnberatung, Berufsberatung, Studienberatung 5 Studierendenberatung 5 Beratung zur beruflichen Wiedereingliederung 5 Beratung von Arbeitslosen 5 Beratung von körperlich und geistig behinderten Menschen 5 Gesundheitsberatung 5 Seniorenberatung 5 Medizinische Beratung 5 Altenpflege, Beratung mit demenzkranken Menschen 5 Suchtberatung 5 Interkulturelle Beratung 5 Beratung von Migranten und Migrantinnen 5 Beratung zur Trauer- und Hospizarbeit 5 Seelsorge 5 Selbsthilfeberatung 5 Organisationsentwicklung und -beratung, Krisen- und Konfliktbearbeitung; 5 Beratung von Teams; Supervision 5 Coaching
len – sie repräsentieren die soziale Rahmung des Beratungsprozesses – und Aspekte der beteiligten Personen mit ihren individuellen sprachlichen und kommunikativen Eigenheiten. Vielfältig wie die menschlichen Kulturen sind die sprachlichen und nicht-sprachlichen Austauschformen in der Beratung. Wie sieht die konkrete Praxis der Personzentrierten Beratung aus? Eine allgemeine, durch ihren
Sprachduktus definierte und identifizierbare Personzentrierte Beratungskommunikation stünde im
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Widerspruch zu den Grundannahmen dieses Beratungskonzeptes. Die Personzentrierung zeigt sich in der Beratung in der Ausrichtung der Kommunikation auf die Ziele des Beratungskontaktes und die Förderung und Unterstützung der Ratsuchenden in deren Bewegungen auf diese Ziele hin. Die Personzentrierte Beratung erfolgt grundsätzlich in einer dialogischen Gesprächsform. Dialogische Gespräche sind dadurch charakterisiert, dass die Gesprächsinitiative von beiden respektive allen Beteiligten ausgehen kann, auch wenn die Aufgaben der am Gespräch Beteiligten unterschiedlich sind. Somit lassen Personzentrierte Beratungsgespräche nicht eine systematische Abfolge von »Interventionen« des Beraters und auf diese folgende Reaktionen des Ratsuchenden erkennen. Vielmehr verweben sich die Beiträge der am Gespräch Beteiligten zu einer »Gesprächstextur«. Die Berater haben allerdings eine hervorgehobene Verantwortung für die zeitliche und soziale Strukturierung des Beratungskontaktes und für den Beratungsprozess. Leitend ist stets das Bemühen, sich dem ratsuchenden Menschen direkt und transparent zuzuwenden. Gesprächsstrukturierung. Mit der Art und Weise, wie sich der Berater ins Gespräch einbringt, gestaltet und strukturiert er die Beratungssituation mit. Die Strukturierung erfolgt 4 in zeitlicher Hinsicht: Der Berater leitet das Gespräch ein und signalisiert dessen Ende; er gibt den Gesprächsrhythmus vor, lässt Pausen zu, und er macht Terminvorschläge. 4 in inhaltlicher Hinsicht: Durch seine Gesprächsbeiträge gibt der Berater Signale zur Breite und Vielfalt der möglichen Gesprächsthemen und Informationsbereiche; er regt die Entfaltung der Themen an und signalisiert, worauf er seinen Aufmerksamkeitsfokus richtet. Wichtige Hinweise auf die Informationsbereiche sind bereits durch die Rahmenbedingungen vermittelt, in welchen die konkrete Beratung stattfindet. Die relevanten Klärungsfelder und Themen bestimmt allerdings der Ratsuchende. 4 In operativer Hinsicht fördert und stützt der Berater durch seine Interventionen die Selbstexploration des Ratsuchenden, d. h. er unterstützt selbstreferenzielle Aktivitäten des Ratsuchenden.
350
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
4 Durch das spezifische Beziehungsangebot entsteht ein Raum für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung des Ratsuchenden mit seinen Problemen, mit sich und mit dem Berater und ein Klima für die Selbstöffnung des Ratsuchenden und für eine konstruktive Kooperation. Der Ratsuchende erwartet eine Strukturierung, die ihm hilft, sich in der Beratungssituation zu orientieren. Die Gesprächsbeziehung in der Beratung ist eine Regel-Rollenbeziehung. Der Ratsuchende braucht Klarheit über seine Rolle und die des Beraters und über die Regeln, die in der Beratung gelten. ! Der Berater ist verantwortlich für eine zielorientierte Strukturierung der Beratungssituation und des Beratungsprozesses hinsichtlich der Beziehungsgestaltung, der Prozessförderung und des zeitlichen Ablaufs.
12.4.1
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Der Beratungsprozess in der Anfangsphase: vom Erstkontakt zum Beratungsvertrag
Aufgaben in der ersten Beratungsphase Der Berater nimmt aktiv Kontakt auf mit dem Ratsuchenden, er übernimmt in der Regel die Initiative zum Dialogbeginn. Der Ratsuchende wird angeregt, sich zum Beratungsanlass zu äußern, seine Probleme, seien es Beschwerden, Belastungen oder Unterforderungen etc., darzulegen und sein Anliegen zu formulieren. Der Berater macht sich ein Bild über die Dringlichkeit des Anliegens, die Intensität von Beeinträchtigungen und von der Komplexität der Probleme und der Situation, in welcher der Ratsuchende steht. Er bezieht explizit Informationen zum sozialen und kulturellen Kontext mit ein. Der Berater achtet auf die subjektive Erklärung der Problemursachen des Ratsuchenden und dessen Umgebung (Attributionen) und fragt gegebenenfalls nach. Er achtet auf die in der Schilderung zum Ausdruck gebrachten Prioritäten und Präferenzen des Ratsuchenden und fordert zu einer ersten Formulierung der Erwartungen an die Beratung auf. Bisher durchgeführte Maßnahmen und Aktivitäten zur
Problemlösung kommen zur Sprache. Im Dialog werden die Beratungsziele ausgehandelt. Der Ratsuchende muss Klarheit darüber gewinnen, was als Beratung angeboten wird. Er muss wissen, dass er weder weise Ratschläge bekommt noch mit dem Berater gemeinsame Aktionen planen oder mit ihm eine freundschaftliche Beziehung unterhalten wird. Der Berater informiert ihn darüber, wie Beratung abläuft und was sie leisten kann. Der Berater hält explizit die Indikation zur Beratung fest und äußert sich zu den Möglichkeiten der Beratung und zum Vorgehen. Er weist auf andere Hilfsmöglichkeiten hin, wenn z. B. soziale und materielle Maßnahmen zu treffen sind oder medizinische oder psychotherapeutische Hilfe angezeigt ist. Parallel zu diesen inhaltlichen Aspekten ist zu ermitteln, ob der Ratsuchende die Bereitschaft und die Fähigkeit hat, mit dem Berater zu kooperieren, und dies auch nachweislich tut. Die Rahmenbedingungen sind offen zu legen und zu erläutern. Wie bereits erwähnt, sind es die Rahmenbedingungen, die den Unterschied zwischen den alltäglichen beratenden Interaktionsformen und der professionellen Beratung ausmachen. Sie definieren einerseits die Vorgaben und Grenzen der beratenden Interventionen, stellen einen kooperativen Ablauf der Beratung sicher und erlauben es einzuschätzen, wann der Beratungsprozess abgeschlossen werden kann. Es muss klargestellt sein, dass Beratung zeitlich begrenzt ist und wie viel Zeit effektiv zur Verfügung gestellt wird. Setting, Zeitpunkt, Dauer, Ort des Gesprächskontaktes sind festzulegen. Es ist sicherzustellen, dass keine konkurrierenden Tätigkeiten oder Unterbrechungen das Gespräch stören. Es bedarf einer Abmachung über die Kosten der Beratung und die Modalitäten der Finanzierung oder einer Aufklärung über den Träger der Kosten respektive des Beratungsdienstes. Es ist angebracht, die Vertraulichkeit der Gespräche (Geheimnisschutz) zu erwähnen oder offen zu legen, wer allenfalls vom Inhalt und vom Ergebnis des Gesprächs unter welchen Bedingungen etwas erfahren soll. Auch wenn der Umfang und der Inhalt des Beratungsvertrags selten schriftlich festgehalten werden, liegt es in der Verantwortung des Beraters fest-
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zustellen, ob die Bedingungen für eine kooperative Beratung erfüllt sind und der Ratsuchende ihnen explizit zustimmt. Fallvignette
Wie dem Ratsuchenden erklären, was Beratung bringt? Tolan bringt hierzu beispielhafte Antworten (2003, S. 124; Übersetzung v. Verf.): Ratsuchende: »Denken Sie, ich brauche Beratung?« Berater: »Ich denke nicht, dass Sie Beratung brauchen in dem Sinn, dass etwas nicht in Ordnung wäre mit Ihnen. Aber es könnte helfen, dass Sie sich mit sich selber besser fühlen.« Ratsuchende: »Wie viel kann ich von der Beratung erwarten?« Berater: »Ich würde annehmen, dass Sie durch die Beratung ruhiger, mehr in sich ruhend werden.« Ratsuchende: »Glauben Sie, dass mir diese Beratung etwas bringt?« Berater: »Wenn Sie dauernd Dinge in Ihrem Kopf umwälzen und diese Sie mehr beanspruchen als Sie möchten, könnte Beratung richtig sein.«
Grundhaltung: kongruentes, empathisches Zuhören und Antworten, ohne zu werten Der Berater fordert offen dazu auf, mitzuteilen, was den Ratsuchenden dazu veranlasst hat, den Berater aufzusuchen. Fallvignette
Eröffnung eines Beratungsgespräches »Erzählen Sie mal, was Sie zu mir geführt hat, und wir werden schauen, ob und wie ich bei der Klärung oder Lösung Ihrer Schwierigkeiten behilflich sein kann. Vielleicht ist diese Beratung schon ausreichend, oder ich kann Sie auf weitere Möglichkeiten, wie Ihnen geholfen werden kann, aufmerksam machen.«
Ratsuchende schildern ihre Probleme und Beschwerden auf verschiedene Arten, z. B. in einer konkretausführlichen Erzählung, in einer kurzen Aufzäh-
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lung oder in einem knappen Satz. Der Berater ist offen für die Erzählung und den sich anbahnenden zwischenmenschlichen Prozess. Er versetzt sich empathisch in die innere Welt des Ratsuchenden, um zu entdecken, wie dieser seine Welt erfährt und sieht. Er legt dem Ratsuchenden kein theoretisches Bezugssystem und keine speziellen Inhalte nahe, die bearbeitet werden sollten. Sein Ziel ist es, ein kooperatives Arbeitsbündnis zu initiieren, d. h. er lässt sich auf die Äußerungen, die Beziehungserwartung und das Beziehungsverhalten des Ratsuchenden ein und achtet von Anfang an darauf, welche Ziele das Beratungsgespräch verfolgen soll und welche Beratungsaufgaben sich stellen. Der Berater hört aufmerksam zu, wiederholt oder fasst zusammen, was er verstanden hat; er fragt nach und er gibt kurze Erklärungen, wieso er dies tut. Daran kann der Ratsuchende erkennen, dass der Berater zuhört und worauf sich dessen Aufmerksamkeit richtet. Berater verbergen ihre Gedanken und gefühlsmäßigen Reaktionen auf das ihnen Mitgeteilte nicht, stellen diese aber nicht in den Vordergrund und vermeiden es, viel zu reden. Ratsuchende nehmen sehr wohl wahr, ob sich der Berater auf ihre Lebenswelt und ihr Erleben einlässt oder ob er in seinem eigenen Bezugsrahmen verharrt. Im folgenden Beispiel aus der Belletristik lässt ein Berater einfühlendes Verstehen in die innere Welt der Ratsuchenden offensichtlich vermissen. Sie schreibt: »Da kommt einer und sagt: Ich möchte dich begreifen, dir zuhören und dir helfen, wenn ich kann. Ich öffne mich ihm, lege alles, was mich betrifft, vor ihn auf den Tisch, damit er eine Übersicht hat. Endlich bin ich ausgeschöpft, habe alles gesagt, was mich beschäftigt. Während er – und ich will ihm die gute Absicht nicht absprechen – nun das Material besieht, das ich ihm dargeboten habe, sitze ich da und friere vor Nacktheit. Ich bin hilflos ohne meine Geheimnisse. Er ordnet, sichtet, katalogisiert und bespricht sie. Ich denke: das darf er nicht, dazu hat er kein Recht, schließlich gehören sie mir. Er lächelt mir zu und redet weiter, bewirft mit blanken Kieseln das Wasser der Sätze, ohne dass sie Kreise zögen. Er schiebt mich weg von sich, indem er meine Worte zählte, statt seinen 6
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Sinn dazuzulegen. Ich höre ihm nicht mehr zu, schaue ihn an, argwöhnisch, und frage mich, wer da eigentlich vor mir sitzt. Ich kenne ihn nicht. Und ich verlange die Geheimnisse zurück, ziehe sie wieder an, finde mich ein Stück weiter von ihm entfernt und mir selbst entlegen.« (Feth, 1980, S. 22) Ganz anders ist die Wirkung, wenn der Berater antwortet und nicht gleichzeitig wertet. Rogers verdeutlicht dies in der folgenden Schilderung aus seinem eigenen Leben: »Diese Menschen haben mich gehört, ohne mich zu beurteilen, mich zu diagnostizieren, mich abzuschätzen, mich zu bewerten. Sie haben einfach zugehört und geklärt und auf allen Ebenen, auf denen ich mit ihnen in Beziehung trat, auf mich reagiert. Ich kann bezeugen, dass es verdammt gut tut, wenn man in seelischer Not ist und jemand einen wirklich hört, ohne über einen zu richten, ohne zu versuchen, die Verantwortung für einen zu übernehmen und ohne einen nach seinen Vorstellungen zu formen.« (Rogers, 1980/1981, S. 23)
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Auf Problemschilderungen von Ratsuchenden reagieren unerfahrene Berater oft spontan mit Sätzen wie »Warum versuchen Sie nicht …?« oder »Wäre es nicht logischer, wenn Sie …?«, d. h. sie führen ihre eigene Einschätzung der Bedürfnisse, Pläne und Verhaltensweise ihrer Ratsuchenden ins Gespräch ein. Das geschieht fast unmerklich auch dann, wenn sich Berater insgeheim mit den Selbstbeurteilungen und -verurteilungen verbünden. Wenn sich Ratsuchende negativ darstellen, fällt es Beratern oft schwer, dies zu akzeptieren und die eigenen Beschwichtigungs- und Rettungswünsche zurückzustellen. Eine weitere Form bedingter Beachtung besteht darin, nur partiell zuzuhören, etwa nur auf Ziele und Wünsche des Ratsuchenden zu achten, Defizite oder Hemmnisse aber zu überhören. Ratsuchende bedingungsfrei positiv zu beachten heißt nicht, sie als »grundsätzlich gut« zu betrachten. Merkt der Berater, dass er absichtlich getäuscht wird, muss er sich nicht für dumm verkaufen lassen. Er wird die dabei auftretende Spannung aushalten und den Ratsu-
chenden darauf ansprechen. Es ist eine der schwierigen Forderungen der Personzentrierten Beratung, das eigene Urteil und die eigenen Wertungen zurückzunehmen und Ratsuchende nicht aufgrund von normativen Kriterien zu beurteilen. Die bedingungsfreie Beachtung der Erfahrung des Ratsuchenden ist dann möglich, wenn sich der Berater seiner Bewertungen bewusst ist, sie somit klar von denen des Ratsuchenden unterscheiden kann und diese Erfahrungen aufgrund seines eigenen Wertesystems weder verzerren noch verleugnen muss. Je kongruenter er erlebt, desto eher ist er in der Lage, Menschen mit Wertvorstellungen, die von seinen eigenen abweichen, zu akzeptieren. Tolan (2003, S. 59, Übersetzung v. Verf.) listet folgende Punkte auf, an denen der Berater merkt, dass er den Ratsuchenden nur bedingt beachtet und inkongruent wird: 4 Mein Aufmerksamkeitsfokus verschiebt sich vom Ratsuchenden auf mein eigenes Erleben. 4 Ich möchte, dass der Ratsuchende auf eine bestimmte Weise handle. 4 Ich betone einseitig die positiven Aspekte eines Ereignisses. 4 Ich möchte, dass der Ratsuchende meinen Standpunkt versteht. 4 Ich streite mit dem Ratsuchenden. 4 Ich möchte die Entscheidung des Ratsuchenden beeinflussen. Der Berater ist offen für die Wege, die der Ratsuchende im Gespräch einschlägt. Durch seine Interventionen schafft er ein Klima, das die Angst des Ratsuchenden reduziert. Er lässt ein klares Interesse erkennen: Er will verstehen, was den Ratsuchenden bewegt und wie dieser dies erlebt. Der Berater stellt sich von Anfang an darauf ein, ein möglichst konkretes, anschauliches Bild vom Beratungsanlass, der Person des Ratsuchenden, seiner Lebenswelt und der vorgebrachten Problematik zu gewinnen. Er versucht nachzuvollziehen, dass der Ratsuchende sich zurzeit nicht in der Lage sieht, ohne Hilfe seine Schwierigkeiten mit einer Entscheidung, einem Planungs- oder Handlungsschritt zu bewältigen.
Beratungsfertigkeiten in der Anfangsphase Wirksame Beratung, so Rogers, hängt nicht so sehr von der systematischen Anwendung von Beratungs-
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Fallvignette
»Sich erzählen« Eine junge Frau sucht kurz vor Weihnachten die psychologische Beratungsstelle auf, weil sie – »wie vor vier Jahren« nach dem frühen Tod ihrer Mutter – sich völlig gelähmt, energielos und deprimiert fühlt und sich mit ihrem um viele Jahre älteren Lebenspartner zerstritten hat. Sie sei sich nicht sicher, ob sie eine längst fällige Entscheidung treffen müsse oder erneut psychotherapeutische Hilfe aufsuchen solle. Am Ende des ersten Gesprächskontakts werden zwei bis drei Gespräche vereinbart, welche die Klientin bei der Klärung der momentanen Krise und der möglichen Schritte zur Bewältigung unterstützen sollen. Das zweite Gespräch eröffnet der Berater mit der allgemeinen Aufforderung: »Ja, vielleicht erzählen Sie einfach, wie es Ihnen seit unserem ersten Kontakt ergangen ist.« Die Frau ist ganz verlegen: »Ja, soll ich jetzt sagen, was ich alles gemacht habe seither?« Verunsichert und schweigend schaut sie den Berater an und sagt dann mit Tränen in den Augen: »Ich weiß gar nicht, was ich von mir erzählen soll. Ich habe mein ganzes Leben nur zugehört und auf
techniken ab, sondern von der Qualität der Beratungsbeziehung. Diese Auffassung könnte den Eindruck entstehen lassen, dass Personzentrierte Beratung ohne Technik auskomme, eher eine Weise des Seins als eine Weise des Tuns sei. Menschliche Existenz ist aber Interaktion und Relation, aufeinander bezogenes Handeln und Beziehung. Die Frage ist also nicht, ob in der Personzentrierten Beratung Kommunikationstechniken zur Anwendung kommen, sondern: Gibt es so etwas wie eine Systematik im kommunikativen Verhalten von Beratern, wenn sie eine spezifische Beratungsbeziehung etablieren, die Selbstexploration und darauf aufbauend Selbstentwicklung und Selbstbestimmung ermöglichen soll? In welchen kommunikativen Formen gestalten Berater die Begegnung mit Ratsuchenden, um den Beratungsprozess auf die angestrebten Ziele hin zu orientieren? In die Sprache des Personzentrierten Ansatzes übersetzt lautet die Frage: Wie kann ich dazu beitragen, dass ich den Ratsuchenden besser verstehe? Und wie kann ich das, was ich verstanden
andere reagiert, aber nie von mir erzählt. Ich kann das gar nicht. Ich werde gleich mega-emotional.« Der Berater signalisiert, dass das ganz okay und nachvollziehbar sei, und die Klientin beginnt daraufhin – erst stockend, sich ständig unterbrechend, allmählich flüssiger – zu schildern, wie ihr dauernd Erinnerungsfetzen, Gedanken, Sätze ohne Zusammenhang durch den Kopf schießen und sich nie auflösen. Das ängstigt sie und macht sie verzweifelt. Es seien Sachen, die sie längst vergessen, ja verdrängt habe. Der Berater gibt der Klientin zu verstehen, dass hier Zeit und Raum zum Erzählen zur Verfügung stehen, und unterstützt sporadisch und mit minimalen Interventionen das Erzählen, wenn die Klientin in ihrer Schilderung innehält. Nach 40 Minuten ist sie sichtlich erleichtert, atmet durch, »das war so eine riesige Hürde am Anfang, die ist jetzt kleiner«. In der Klientin ist Vertrauen in den Berater, den Beratungsprozess und vor allem in sich selbst gewachsen, verbunden mit dem Gefühl, durch eigenes, noch etwas ungewohntes Tun einen Ausweg aus der momentanen belastenden Krise zu finden.
habe, adäquat kommunizieren? Beobachtungen zu gefilmten Gesprächen von Carl Rogers (Merry, 1996, S. 279) zeigten, dass er einfühlendes Verstehen in Form von zielgerichteten, häufigen und präzisen Reformulierungen der Mitteilungen des Ratsuchenden übermittelte, verknüpft mit der unausgesprochenen, aber nonverbal mitschwingenden Frage »Ist es das, was Sie meinen?« oder »Habe ich das soweit richtig begriffen?« Der Personzentrierte Berater formuliert häufig, was er verstanden hat. In der Anfangsphase kommen Gesprächstechniken zum Zug, die Menschen zur Aufrechterhaltung ihrer zwischenmenschlichen Kommunikation im Alltag anwenden und die allgemein zu den Grundfertigkeiten der Beratung gezählt werden. Konkret geht der Berater also nicht nach einem Manual oder Programm vor, sondern er lässt sich auf ein Gespräch ein, das inhaltlich von den Ratsuchenden bestimmt wird. Indem der Ratsuchende selber die Themenwahl bestimmt, erfährt der Berater unmittelbar schon viel über die subjektiven,
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Fertigkeiten der Gesprächsführung in der Anfangsphase 5 Gespräch eröffnen – Ratsuchende ermutigen, ihr Anliegen vorzubringen; nicht-festlegende Aufforderung 5 Reflektierende Berateräußerungen – Wiederholen – Paraphrasieren – Zusammenfassen – Nonverbales Verhalten ansprechen 5 Sondierende, informationsorientierte Berateräußerungen – Offene Fragen stellen – Akzentuieren, Feststellungen machen – Gezielt fragen 5 Zur Schilderung von konkretem und spezifischem Erleben und Verhalten herausfordern 5 Konkrete Handlungs- und Zustandsziele formulieren helfen
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persönlichen Sichtweisen des Ratsuchenden und über die Prioritäten seiner gegenwärtigen Probleme. Äußerungen des Ratsuchenden gibt der Berater mit eigenen Worten und Sätzen wieder und ermöglicht dem Ratsuchenden zu erkennen, dass er nicht nur gehört, sondern auch verstanden wurde. Der Berater fasst längere Gesprächsbeiträge zusammen, um etwas zu verdeutlichen, zu akzentuieren oder um dem Ratsuchenden Gelegenheit zu geben, sich neuen Themen zuzuwenden. Culley (2004, S. 64) nennt diese Arten von verbalen Äußerungen von Beratern »reflektierende Fertigkeiten«; sie unterscheidet sie von informationsorientierten »sondierenden Fertigkeiten« wie »Fragen stellen« und »Feststellungen treffen«. In der Beratung werden offene Fragen gegenüber geschlossenen bevorzugt. Fragen in der Art von »Mögen Sie Ihren Lehrer?« (ja/nein) oder »Lernen Sie lieber allein oder in einer Gruppe?« (entweder/ oder) dienen in erster Linie der Information des Beraters und engen zugleich den Antwortrahmen des Ratsuchenden ein. Offene Fragen hingegen regen dazu an, den Blick auf das Erlebte zu weiten und dessen Bedeutung konstruktiv zu entwerfen, d. h. sie sind hilfreich bei der Generierung von Bedeutung.
Solche »konstruktiven Fragen« beginnen häufig mit einem »W«, also etwa »Wann könnten Sie starten?« – »Wer war an dem Ereignis noch beteiligt?« – »Wie sehen Sie den folgenden Tagen entgegen?« Fragen sollen zu Beschreibungen herausfordern, nicht zu Spekulationen. Statements haben – mit entsprechender Intonierung – die Funktion einer milden oder verdeckten Form von Fragen. Sie dienen der Überprüfung des Verständnisses von Gesagtem. Um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu etablieren, dürfte es wenig hilfreich sein, das Gespräch im Stil einer kriminalistischen Spurensicherung oder einer von journalistischer Neugierde gelenkten Befragung zu führen. Das heißt nicht, dass Fragen zu stellen unzulässig sei, selbst wenn es um die Klärung des Anliegens und um die Indikation zu einer Beratung oder zu anderen Hilfeangeboten geht. Der zurückhaltende und abwägende Einsatz von Fragen im Personzentrierten Beratungsansatz hat immer wieder den Eindruck verbreitet, Fragen seien »verboten«, und der Berater dürfe den Ratsuchenden auch nie unterbrechen, er müsse vor allem auf dessen Gefühle fokussieren und diese »verbalisieren«. Das sind verbreitete Missverständnisse, wie übrigens auch die Meinung, in der Personzentrierten Beratung werde nie Stellung bezogen und der Berater wiederhole einfach nur das, was der Ratsuchende gesagt hat. Richtig ist, dass der Berater keine Fragen aus einem anderen als dem persönlichen Bezugsrahmen des Ratsuchenden stellt. Dieser besteht aber nicht nur aus Gefühlen. Entscheidend ist nicht, ob Fragen zulässig, sondern ob sie in diesem Moment für den Ratsuchenden hilfreich sind. Der Berater kann leicht überprüfen, ob er von dieser Einstellung abweicht, indem er sich fragt: »Frage ich dies mir oder ihm zuliebe?« Ratsuchende äußern sich zu Beginn einer Beratung häufig in Generalisierungen, z. B.: »Der Arzt meinte, ich hätte eine Depression«, oder »Es kümmert sich doch niemand um einen«, oder »Ich werde nie was zu Ende bringen«, und der Berater kann sich dann schnell überfordert fühlen. Solche verallgemeinernden Aussagen können inadäquate oder unvollständige Symbolisierungen von Erfahrungen im Bewusstsein sein. Damit sie überprüft und eventuell ins Selbstkonzept integriert werden können, müssen sie konkret und situationsspezifisch wiedergegeben werden. Berater bitten dann etwa darum, einen
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geschilderten Sachverhalt, aber auch eine angedeutete Einstellung näher zu erläutern und den persönlichen Standpunkt darzulegen, und regen dazu an, Erlebtes zusammen mit den konkreten Umständen und Abläufen in der Situation zu erzählen. Verallgemeinerungen sind zu erwarten, solange das Vertrauen in den Berater und den Beratungsprozess noch nicht gefestigt ist. Mit Generalisierungen können Emotionen leichter unter Kontrolle gehalten werden, denn die intensivsten Gefühle sind an konkret-spezifischen Erlebnissen festgemacht. Die nicht wertende, akzeptierende Haltung des Beraters erlaubt es dem Ratsuchenden, bedrohliche Erfahrungen zunehmend konkret, situationsbezogen, spezifisch und adäquat zum Ausdruck zu bringen und Inkongruenz abzubauen. Sinnvollerweise antwortet der Berater zunächst auf der Ebene der Verallgemeinerungen. Allmählich befragt er die Statements auf konkrete Situationen und Ereignisse hin: Ratsuchender: »Es kümmert sich doch eh keiner um einen.« Berater: »Offenbar erleben Sie im Moment sehr schmerzlich, dass sich niemand um Sie zu kümmern scheint.« Der Berater führt also den Ratsuchenden durchaus direktiv von globalen zu situationsgebundenen, konkreten Schilderungen. Exkurs
Übung: Vom Allgemeinen zum KonkretSpezifischen Wie würden Sie auf folgende Sätze antworten, um größere Spezifität herauszufordern: 5 Wenn ich an einen Job denke, kriege ich Albträume. 5 Da gibt es keine Chance, am Morgen aufzustehen, wenn du dich die ganze Zeit so schlecht fühlst. 5 Kinder sind halt grausam. 5 Eltern reden stets nur über Geld.
In der Schilderung von Problemsituationen und Anliegen ist mehr oder weniger explizit stets eine Vorstellung, eine Phantasie, ein Wunschbild einer »Lösung«, eines angestrebten Zieles eingeschlossen. In einem weiteren Prozessschritt werden sich die Ratsuchenden in der Beratung ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele bewusst, und sie formulieren sie konkret aus.
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! Der Berater unterstützt den Ratsuchenden bei der Identifizierung, Entwicklung und Operationalisierung von konkreten Handlungs- und Zustandszielen.
Die Farbigkeit und Lebendigkeit der subjektiven Bedürfnisse und Motive sowie deren individuelle Bedeutung für den Ratsuchenden sind es, die den persönlichen Klärungs- und Veränderungsprozess des Ratsuchenden nähren. Manchmal kommt bereits durch die Beschreibung und das Wiedererzählen soviel Klarheit auf, dass sich der Nebel lichtet und ein Lösungsansatz sichtbar wird. Fallvignette
Ziele formulieren Bettina ist fast etwas empört, als der Berater sie fragt, was sie gerne anders hätte und was sie selber ändern möchte. »Ich will mich gar nicht ändern müssen, ich will einfach glücklich sein, und kein Mensch glaubt mir, dass ich unglücklich bin.« Eine Stunde später sagt sie: »Ich will mit Misserfolgen besser zurechtkommen, ohne davonlaufen oder mich benebeln zu müssen. Und ich möchte meine Gedanken künftig auch dann klar ausdrücken können, wenn ich kritisiert oder angefeindet werde. Und schließlich: Ich will besser spüren können, was ich intuitiv meine, und lernen, meinen Empfindungen zu vertrauen.«
Bereits in der Anfangsphase wird die für die ganze Beratung charakteristische Kooperation gefordert und durch das Beraterverhalten angeboten. Das ist für das alltägliche Beratungsverständnis nicht selbstverständlich, und viele Ratsuchende sind anfangs skeptisch, ob denn eine Lösungsklärung so stark auf sie selber abgestützt werden kann. Wer in Not gerät und zu einem Berater kommt, sucht nicht selbstredend eine Zusammenarbeit, sondern in erster Linie eine Entlastung, eine Lösung, einen guten Rat. Er kommt ohne Hilfe nicht weiter, und es hängt für ihn offenbar von Faktoren außerhalb seines Einflussbereichs ab, ob und wie sich sein Problem löst. Deshalb die gelegentlich verzweifelte Nachfrage nach eindeutigen konkreten Ratschlägen. Ratsuchende denken spontan weniger daran, dass sich viele Schwierigkei-
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
ten auflösen, wenn sich etwas in ihrer Person ändert. Sie beziehen sich in ihrer Ursachenzuschreibung mehr auf die Bedingungen außerhalb ihrer Person und wünschen sich Anleitungen und Ratschläge von anderen. Sicher sind nicht alle Belastungen mit der Veränderung der betroffenen Menschen zu beheben. Ratsuchende lernen in der Beratung zu unter-
scheiden, was in ihrem Einflussbereich liegt und was nicht. Oft ist es für den Berater schwierig, die erwartete oder angebotene Rolle des externen Beurteilers, des Rat-Gebers nicht zu übernehmen und darauf zu vertrauen, dass gerade dieser Verzicht zum Beratungserfolg führt. Berater können das Vertrauen von Rat-
Fallvignette
Vom internalisierten zum erfahrungsgestützten Bewertungsbezugspunkt
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Monika will ihr Studium, das sie ohne Überzeugung gewählt hatte, aufgeben, weiß aber nicht, was sie anstelle dessen wählen soll. Das bisherige Studium hatte einfach einen Aufschub der Berufsentscheidung erlaubt, aber die Motivation ist weg. »Ich habe kein Ziel, ich weiß nicht, was ich eigentlich will.« Sie sei gespannt darauf, wie der Berater es anstellen werde, sie zu einem Studienentscheid zu bringen. Sie hat eine diffuse Erwartung, dass der Berater eine Lösung beibringt, ohne dass sich in Monika selber oder in ihrer Beziehung zum Umfeld wesentlich etwas ändert. Sie zweifelt aber sehr, dass der Berater ihr helfen könne. Monika hat wohl Ideen, was sie machen möchte, jeder Gedanke an eine Umsetzung einer dieser Ideen wird aber gestoppt, »von mir selbst«, sagt sie. Der Berater lädt sie ein, die eine oder andere Idee hier auszusprechen und auszugestalten, und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gedanken und Impulse, die diesen Vorgang unterbrechen. Dabei wird deutlich, dass alle Möglichkeiten daraufhin geprüft werden, ob sie die Billigung der Eltern garantieren. Diese lassen die Klientin zwar völlig frei in deren Berufswahl, erwarten aber, dass sie »eine Ausbildung abschließe«. Alle Varianten, die diesem Kriterium nicht genügen – beispielsweise »sich in der Landwirtschaft als Selbstversorgerin zu etablieren« – wecken Angst vor dem Verlust der Achtung der Eltern und werden als unrealisierbar entwertet. Monika gelingt es damit, allzu große Angst zu vermeiden. Sie überlegt sich jetzt einen Kompromiss: »Ich ziehe das Studium bis zum Bachelor (d. h. noch eineinhalb Jahre) durch, auch wenn es mir nicht entspricht, aber dann habe ich zumindest einen Abschluss und kann dann immer noch wählen, was ich am liebsten mache.«
Monika will als selbstständig entscheidende Erwachsene geachtet werden, fürchtet aber die Ablehnung ihrer Eltern, wenn sie deren Kriterien nicht erfüllt. In dieser ersten Beratungsstunde nähert sie sich ihrer Angst, die aufkommt, wenn sie, wie sie sagt, einen »aus mir herauskommenden Entscheid« erwägt, der unter Umständen den Bewertungsstandards der Eltern (externaler Bewertungsbezugspunkt) respektive den von der Klientin verinnerlichten Bewertungsstandards (conditions of worth) nicht entspricht. Die Angst, die Achtung ihrer Eltern zu verlieren, verhindert (oder behindert zumindest) ein adäquates Entwickeln und Evaluieren von »Lösungen«. Der Studentin wird klar, dass sie nicht darum herumkommt, sich der zunehmenden Verantwortung für ihre berufliche Zukunft zu stellen und sich mit den diesbezüglichen Erwartungen der Eltern und den möglichen Konflikten mit ihnen auseinander zu setzen. Während sie offen darüber spricht, findet fast unmerklich ein Wechsel des Bewertungsbezugsrahmens von einem verinnerlichten, normativen zu einem bedürfnis- und erfahrungsgestützten statt. Die Vorstellung einer Ablösung von den Eltern, die damit unvermeidlich verbunden ist, macht inzwischen schon weniger Angst. Monika beginnt nun, die Wahl eines Berufes und einer Ausbildung nicht mehr als Annehmen oder Verwerfen von vorgefertigten Vorschlägen, sondern als ein von ihr gesteuertes »Entwicklungsprojekt« wahrzunehmen. Sie nimmt ihre Ideen und ihre Neugierde als Ansporn zum Aufsuchen von einschlägigen Informationsquellen und will die bisher »automatisch« einfahrenden stereotypen Berufsvorstellungen kritisch überprüfen. Erst jetzt macht der Berater ein explizites Kooperationsangebot. Monika ist daran interessiert, im weiteren Beratungsverlauf auf die Unterstützung des Beraters in diesem Selbstentdeckungs- und Selbstentwerfungsprozess zählen zu können.
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suchenden nicht durch Überreden wecken, und diese müssen aber auch nicht einfach vage auf einen guten Ausgang hoffen. Hoffnung und Vertrauen wachsen stufenweise durch die Zunahme der Interaktionsvielfalt zwischen Berater und Ratsuchenden, in welcher stetig zum Ausdruck kommt, dass der Berater den Schlüssel für die Lösung in der Person des Ratsuchenden sieht. Das Vertrauen wächst, wenn der Ratsuchende zunehmend die konstruktiven, selbststützenden Konsequenzen des Beraterverhaltens erfährt. Der Ratsuchende wird die Regeln der Beratung erkennen, die durch das offene Verhalten des Beraters vermittelt werden. ! Unter dem Einfluss der Beratungsbedingungen verlagern Ratsuchende den Bezugspunkt für die Bewertung ihrer Probleme, Handlungen und ihr Erleben allmählich von einem äußeren Wertestandard (»Was meinen die anderen, was ich tun soll?«) zu einem inneren und von einem verinnerlichten (»Was bin ich der Familie schuldig?«) zu einem – wie McLeod (2004, S. 149) es nennt – aus Erfahrung gewonnenen »Bewertungsanker« (»Was will ich – in voller Verantwortung für mich und andere – als nächstes tun?«).
Die Berateräußerungen erleichtern es dem Ratsuchenden zunehmend, der eigenen Erfahrungen mit sich selbst gewahr zu werden und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Empathisches Zuhören und Antworten und die unbedingte Beachtung des Ratsuchenden schaffen den Raum für diese Selbstexploration des Ratsuchenden. Er macht zunächst die Erfahrung, dass sein Erleben verstehbar ist, dass es Bedeutung hat, und seine Bereitschaft, sich tiefer und unverstellter mit sich auseinander zu setzen, wächst.
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Der Beratungsprozess in der Mittelphase: Selbstexploration fördern
Definition Als Mittelphase kann jener Abschnitt der Beratung bezeichnet werden, in welchem die Probleme, die Ziele und das Vorgehen umrissen sind und eine kooperative Arbeitsbasis entstanden ist.
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Oft ist an Merkmalen der verbalen und nonverbalen Kommunikation zu erkennen, dass die Beratungsbeziehung gelöster geworden ist: Das Gespräch läuft flüssiger, Berater und Ratsuchender lösen sich beim Sprechen reibungsloser ab, die in der Anfangsphase noch spürbare Sorgfalt in der Wahl der Sätze wird von spontaneren Einwürfen abgelöst, das Gespräch verläuft weniger förmlich. In einigen Beratungsansätzen bedingt der Übergang von der einleitenden zur mittleren Arbeitsphase einen grundlegenden Wechsel im Beratungsstil: Der Berater interveniert, legt Programmschritte fest, gibt Anleitungen etc. In der Personzentrierten Beratung verlässt der Berater nie seine »erkundende« Haltung, selbst dann nicht, wenn er prozesssteuernde Anweisungen gibt. »Der Klient ist der Experte darüber, was er erlebt, und aktive Instanz im Veränderungsprozess« (Greenberg et al., 1993, S. 16). Der Berater wechselt also nicht in eine Haltung des Experten und der wissenden Autorität. Die Interventionen des Beraters geben zum Ausdruck, dass er mehr über das Erleben des Ratsuchenden erfahren möchte, und seine Handlungsweise soll »helfen, das Implizite explizit zu machen« (a. a. O.). Der Berater schafft eine Umgebung, welche die Selbststruktur nicht bedroht. Er schlägt nicht aktiv Veränderungen für den Ratsuchenden vor, sondern er schafft ein Klima, in welchem der Ratsuchende sich kennen lernen und akzeptieren kann. »Jeder Versuch von Seiten des Beraters, die Selbststruktur des Ratsuchenden durch Argumentieren oder durch Überreden, subtil oder offen aktiv verändern zu wollen, stellt eine Bedrohung der Selbststruktur dar und weckt somit Ängste« (Tolan, 2003, S. 9 f.). Es ist also kaum hilfreich, wenn der Berater sagt: »Oh Sie sind doch so ein netter Mensch« oder »Warum versuchen Sie nicht (dies oder jenes …)?« ! In der Mittelphase der Beratung ist es die Hauptaufgabe des Beraters, mit einer Vielfalt von herausfordernden Interventionen die Klärung der Problemsituation zu erleichtern und die Bedeutungskonstruktion zu unterstützen.
Dies kann auf ganz verschiedenen inhaltlichen Dimensionen geschehen. Die Themen sind nicht vorgegeben, sondern werden vom Ratsuchenden auf ganz individuelle Weise angegangen. Dem Berater
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
stehen vielfältige Interventionsmöglichkeiten offen. Er kann 4 dem Ratsuchenden helfen, über sich zu sprechen und seine Anliegen in einer spezifizierten und konzentrierten Weise vorzutragen, damit er seine Stärken und Schwächen, seine Leistungen, Werte und Interessen erkennen und annehmen kann; 4 Ansätze des Ratsuchenden zu einer Bestandsaufnahme aufgreifen und dabei Ressourcen, infrastrukturelle Hilfen, ökonomische und kulturelle Unterstützungsfaktoren erkunden und mobilisieren helfen; 4 die Bereitschaft der Ratsuchenden, zukunftsgerichtete Optionen, Schritte und Pläne zu entwerfen, aufgreifen und unterstützen; 4 für eine vertiefte Problemanalyse und -neubewertung durch den Ratsuchenden Zeit einräumen; 4 dem Ratsuchenden beistehen, wenn er sich erfolgreiche und erfolglose Problemlösungsversuche vergegenwärtigt und sie evaluiert; 4 dem Ratsuchenden bei der Ermittlung und Formulierung von Zielen und Subzielen helfen; 4 die Aufmerksamkeit vom Reden weg auf das Handeln richten und damit den Ratsuchenden zu mehr Verbindlichkeit herausfordern.
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In der Personzentrierten Beratung führt der Berater den Ratsuchenden nicht auf ein Thema oder auf lebensgeschichtliche Ereignisse hin, was nicht heißt, dass diese in der Personzentrierten Beratung vermieden, ausgeblendet, tabuisiert würden, wie manchmal unterstellt wird. Die Ratsuchenden kommen von selber darauf und bringen sie ins Gespräch ein. Der Berater lässt sich vom Ratsuchenden führen und unternimmt erst gar nicht den zum Scheitern verurteilten Versuch, eine objektive Sicht auf den Klienten zu gewinnen. Er bemüht sich vielmehr, die Welt des Ratsuchenden so zu verstehen, wie dieser sie erlebt. Hohe Priorität misst er dabei der Beschreibung des Erlebens, der Situation, der Handlungen, Wahrnehmungen und Impulse zu. Begründungen hingegen, Rechtfertigungen, Ursachen, Spekulationen und Theorien über das, was passiert ist und warum es passiert ist, hält er im Hintergrund in der Schwebe. Er wird den Ratsuchenden nicht drängen oder führen, wo dieser aus welchem Grund auch immer zögert, ängstlich, misstrauisch oder in der Be-
wertung unsicher ist. Er wird ihn einladen, einen angedeuteten Pfad einzuschlagen oder weiterzuverfolgen, und ihm signalisieren: »Ich bin bereit, zuzuhören«. Ob der Ratsuchende diese Einladung annimmt oder ablehnt, steht ihm immer frei. Beispiele für prozessbezogene Äußerungen sind (Tolan, 2003, S. 34; Übersetzung v. Verf.): 4 Denken Sie an etwas Bestimmtes? 4 Sie schauten so, als ob Sie sich an etwas erinnerten. 4 Gibt es da ein bestimmtes Vorkommen, das Ihnen in den Sinn kommt? 4 Sie schienen in ihren eigenen Gedanken verloren. Möchten Sie mir sagen, wo Sie hingegangen sind? 4 Erinnern Sie sich an eine Zeit, als Ihnen dies passierte? 4 Klingt so, als ob Sie selber so was erlebt hätten. Der Berater versetzt sich in das Bezugssystem des Ratsuchenden und verweilt darin. Das heißt, er versucht mit konzentrierter Aufmerksamkeit zu verstehen, wie der Ratsuchende sich selber und die Welt um sich herum sieht. Das ist die Kernvoraussetzung für eine empathische Kommunikation. Der Berater hört genau hin, und er hört dabei auch die impliziten Fragen und Unsicherheiten in den Äußerungen der Ratsuchenden. Fallvignette
Implizites wird benannt Eine arbeitslose Frau wird von der Arbeitsvermittlungsstelle einem Kurs zugeteilt, in welchem sie lernen soll, wie sie sich erfolgversprechend bewerben kann. Berater: »Es kann in Ihrem Interesse sein, dass ein künftiger Arbeitgeber auf Ihre Kompetenzen, Erfahrungen und Stärken aufmerksam wird und Ihnen eine Jobchance gibt.« Beratene: »Die bringen mir bei, wie ich mich am besten verkaufe, dabei hasse ich es, diese Vorstellung, mich verkaufen zu müssen.« Berater: »So ein Kurs könnte ja recht dienlich sein, gewichtiger scheint aber, dass hier etwas von Ihnen gefordert wird, wogegen Sie sich verwahren. Sie sagen: Ich bin doch keine verkäufliche Ware.«
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Der Berater gibt dem, was er vom Ratsuchenden aufnimmt, eine Stimme. Im gewohnten zwischenmenschlichen Gespräch überspringen wir meist diesen Punkt und formulieren Fragen oder Empfehlungen. In der Personzentrierten Beratung hingegen wird der Ratsuchende ermutigt, in erster Linie auf sich selbst zu hören. Empathie ist also nicht bloß stummes Einfühlen, es ist eine Zweiweg-Kommunikation, in welcher der Berater immer implizit fragt »Habe ich Sie richtig verstanden?« und der Ratsuchende mit »Ja« antwortet oder mit »Nun, es ist eher wie …« oder »Ja, zum Teil, aber auch …« oder »Nein, das ist es ganz und gar nicht«. Einfühlendes Verstehen ist ein Prozess, der durch Rückkoppelungen zum Ziel führt. Durch diese spezifische Wahrnehmung und Kommunikation des Wahrgenommenen wandelt sich die Ping-pong-artige Konversation zu einem verlangsamten Dialog mit Phasen des Schweigens und des Nachspürens, des Nachdenkens und Formulierens. Der Berater kommt so in die Lage, die Vielgliedrigkeit des Ausdrucks seiner Ratsuchenden wahrzunehmen, eine fundamentale Voraussetzung dafür, Gefühlsnuancen und unterschwellige Bedeutungen in der Kommunikation aufzunehmen und zu beantworten. »Wahrnehmung … umfasst nicht nur das Hören der Geschichte, der Erzählung, sondern auch das Aufnehmen der Gefühlsnuancen und deren persönlicher Bedeutung, ja sogar der Bedeutung, die unterhalb der bewussten Intention des Sprechers liegt.« (Rogers 1980/1981 S. 19) In den Schilderungen und Erzählungen der Ratsuchenden kommen auch die Wertestandards zum Ausdruck, die zum inneren Bezugsrahmen der Person gehören und das Verhalten und Erleben steuern. Viele Wertestandards sind nicht bewusst und haben gerade deshalb starken Einfluss. Sie werden als Realität, als Wahrheit erfahren. Auf die ganze Person hören heißt also auch, auf die Wertestandards der Ratsuchenden zu achten und auf sie einzugehen. Woher stammen die übernommenen Wertestandards? Wozu und wem dienen sie? Sind sie noch dienlich? Wie wirken sie sich auf das Leben des Ratsuchenden aus? Das sind Fragen, die sich im Lauf der Schilderung des Ratsuchenden aufdrängen.
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Eine weitere übergeordnete Aufgabe des Beraters in der Mittelphase besteht darin, die bei Beratungsbeginn formulierten Problembearbeitungspunkte und Ziele im Gedächtnis zu behalten und sie dem Ratsuchenden als Unterstützung von dessen Beratungszielen nach Bedarf zur Verfügung zu stellen. Es liegt beim Ratsuchenden, ob er davon Gebrauch machen will oder nicht. Die meisten Ratsuchenden schätzen dieses »monitoring« der abgesprochenen Themen durch den Berater sehr. Wie ist die hilfreiche Wirkung dieses Erzählens und empathischen Antwortens zu erklären? Menschen »sind konstant darin engagiert, sich aktiv anderen und sich selbst in Bildern und Erzählungen zu repräsentieren. So konstruieren (sie) fortlaufend Sichtweisen von sich« (Greenberg et al., 1993, S. 58). Wenn Menschen von sich erzählen, übermitteln sie nicht einfach Fakten, sondern sie geben ihrer Existenz eine Struktur und eine Bedeutung. ! Die Erzählungen der Ratsuchenden, etwa über ihre Vergangenheit oder über das momentane Erleben, führen zu einem durch den Berater gestützten Reorganisationsprozess der inneren Erfahrungen und zu einem Konstruktionsprozess, in welchem neue Bedeutungen generiert werden. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Beraters auf den sich in der Erzählung entfaltenden Erlebensprozess fördert den Bewusstwerdungs-, den Symbolisierungsprozess des Ratsuchenden.
Wie nehme ich »Selbsterfahrungen« wahr? Längst nicht alle Erfahrungen mit mir selbst sind mir bewusst. Oft nehme ich sie bloß verschwommen, am Rande wahr. Sie scheinen irgendwo in mir herumzuschlingern, bis sie sich in einem Bild, einem Wort, einem Satz oder einer Szene zu erkennen geben und einen Platz in meiner Selbststruktur einnehmen. Erfahrungen, die ich entwerte und ablehne, drängen sich als isolierte, unscharfe Spuren oder unsinnige Signale auf und stören das Selbstbild. »Das ist so komisch: Eigentlich weiß ich genau, was ich in dem Moment zu tun habe, aber ich mache es nicht, irgend etwas in mir sträubt sich und legt mich lahm. Mensch, bin ich blöd!« Hier wird das Sich-Sträuben, das Sich-lahm-Legen entwertet, ohne dass es verstanden würde oder die Aufmerksamkeit auf sich zöge. Diese Person ist in dieser Hinsicht inkongruent, nicht eins mit sich.
360
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Anders klingt es, wenn Erfahrungen von sich selbst im Bewusstsein symbolisiert sind und sie benannt werden können: »Mich hat soeben ein Autofahrer beinahe über den Haufen gefahren, ich bin mächtig erschrocken und noch ganz zittrig. Ich habe ihn angeschrieen, der hat ganz verdattert geguckt, darauf bin ich stolz. Er ist ohne eine Entschuldigung weitergefahren, so ein Schwein!« In der häufig sehr intensiven mittleren Beratungsphase integriert die Person neue Erfahrungen in ihr Selbstkonzept und konstruiert aufgrund dieser Erfahrungen neue Bedeutungen. Dank der Interventionen des Beraters werden Ratsuchende auf die Einzigartigkeit ihres Erlebens aufmerksam, »sodass Zugänge zu Bewertungen, Bedürfnissen und anderen im Erleben implizit enthaltenen Informationen eröffnet werden. Das ist die Ausgangslage, um neue emotionale Bedeutungen zu bilden und die Welt auf neue Weise zu sehen« (Greenberg et al., 1993, S. 14). »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht«, sagt die Ratsuchende, die einen plötzlichen Energieschub erfährt und viele Initiativen entwickelt. Ihre Erfahrung ist fragmentiert,
isoliert, desintegriert. Es gibt noch keine gespurte Weise, sie zu symbolisieren. Solche Veränderungen im Verlauf einer Beratung geschehen selten spektakulär, eher subtil und in kleinen Schritten »in dem Maß, wie die Selbststruktur sich lockert, um sich einer Erfahrung anzupassen, die zuvor verleugnet oder verzerrt war« (Tolan, 2003, S. 11). Ratsuchenden gelingt so die neue oder erstmalige Symbolisierung von Erfahrungen im Gewahrwerden und im Ausdruck. Der Personzentrierte Beratungsprozess folgt grundsätzlich der aus der Psychotherapie bekannten Bedingungslogik: 4 Ratsuchende fühlen sich im Kontakt mit einem kongruenten Begleiter angenommen, beachtet, verstanden. Das Gesprächsklima vermindert die anfängliche Angst der Ratsuchenden. 4 Unter den vom Berater geförderten Gesprächsbedingungen bewegen sich die Berichte der Ratsuchenden von wenig selbstreferenziellen auf stärker selbstreferenzielle zu. 4 Die Ratsuchenden beginnen, sich mit störenden, bisher vermiedenen Aspekten ihres Verhaltens
Fallvignette
Die Legitimität eigener Entscheidungen
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Olivia studiert seit drei Jahren mit Erfolg Biologie, hätte allerdings seit je lieber Medizin gewählt, sich aber nicht getraut. Doch der Wunsch hat sie nie losgelassen. Olivia ist dauernd hin- und hergerissen zwischen dem »vernünftigen« Weiterstudieren, »wo ich doch schon so weit bin«, und der »verrückten« Absicht, jetzt noch ein Medizinstudium zu beginnen. Sie sucht die Beratung auf, um sich definitiv für oder gegen einen Studienwechsel entscheiden zu können. »Entscheiden fällt mir generell sehr schwer«, sagt Olivia. Um das medizinische Umfeld zu erfahren, macht sie ein Spitalpraktikum und wird dort von den Fachpersonen zum Medizinstudium ermutigt. Ihre Eltern unterstützen sie, wie auch immer sie sich entscheide, sagt sie. In einer der nächsten Stunden spielt sich Folgendes ab: Olivia wird aufgefordert zu schildern, was ihr derzeit in den Sinn komme, wenn sie sich vorstelle, a) sie führe das Biologiestudium weiter und b) sie begänne im nächsten Herbst mit dem Medizinstudium. Sie erzählt, dass für sie die Weiterführung
des Biologiestudiums im Masterprogramm etwas Vorläufiges wäre. »Ich muss wissen, was ich beruflich Sinnvolles damit machen kann«. Sie denkt an ein Nachdiplomstudium in Entwicklungszusammenarbeit. Beim Gedanken, im Herbst mit Medizin zu beginnen, spürt Olivia, wie etwas sie zurückhält. »Nein, ich glaube nicht, dass es einfach Entscheidungsfaulheit ist, und es gibt auch niemanden, der mir Medizin ausreden möchte. Sicher frage ich mich: ›Wie stehe ich da, wenn ich nach drei Jahren Studium sage, ich fange jetzt etwas Neues an‹, aber das ist es nicht, was mich zurückbindet. Es ist vielmehr so, als würde ich mir da etwas herausnehmen, was mir nicht zusteht. Ich soll mich doch nicht so wichtig nehmen! Ja, das ist es: ›Es steht mir nicht zu‹. Während dieser Sätze wirkt Olivia nicht mehr wie ein verlegenes Mädchen, das sich nicht entscheiden kann. Sie ist gerade aufgerichtet, schaut den Berater hellwach und konsterniert an und sagt: »Ich nehme immer auf alle Rücksicht, wenn ich etwas entscheide. Dabei machen es andere überhaupt nicht so. Ich will das nicht mehr.«
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und Erlebens zu befassen. Inhaltlich kann sich diese Aktivität auf ganz verschiedene Aspekte der Person und ihrer Beziehung zur physischen und sozialen Umwelt erstrecken: auf Einstellungen, Wertungen, Beziehungserfahrungen, auf Gedanken und Gefühle gegenüber Arbeit, Sexualität, Familie, Partnerschaft, Politik etc. Der Berater unterstützt durch seine verbalen und nonverbalen Interventionen diese SelbstExploration und zunehmende Selbstauseinandersetzung. – Die Ratsuchenden reorganisieren ihre Erfahrungen von sich selbst und rekonstruieren die emotionalen Bedeutungsmuster zu einem erfahrungskongruenteren Selbstkonstrukt. Aussagen ohne expliziten Selbstbezug. Der Rat-
suchende spricht von und über andere Menschen, Ereignisse und Sachverhalte. Erfahrungen werden oberflächlich gestreift oder unverbindlich angedeutet. Der Ratsuchende verhakt sich im Grübeln, im Sich-Verteidigen oder in Beschuldigungen von anderen. Über sich selbst spricht er in analysierender, intellektualisierender Art. Aussagen mit explizitem Selbstbezug. Sie werden
als selbstreferenzielle Aussagen bezeichnet. Sie liegen vor, wenn Ratsuchende 4 sich sehr konkret über sich selbst äußern, 4 sich vorwiegend mit augenblicklich bedeutsamen Erlebnisinhalten oder Ereignissen auseinandersetzen, 4 sich am Gespräch emotional stark beteiligen, 4 sich auch schmerzlichen, unangenehmen oder für sie peinlichen Erlebnisinhalten zuwenden.
Beratungsfertigkeiten in der Mittelphase Je vertrauter und tragfähiger das Beratungsbündnis, desto mehr vertieft sich der selbstexplorative Prozess beim Ratsuchenden. Er wendet sich Seiten von sich und Erlebnissen zu, die er bisher vermieden, übersehen oder abgelehnt hat, und stößt auf Aspekte und Themen, die ihm bisher fremd waren oder die ihn erstmals zu einer Stellungnahme ermuntern. Der Berater seinerseits gewinnt ein zunehmend differenzierteres Bild von der subjektiven Welt- und Selbstauffassung des Ratsuchenden. Die Interaktion intensiviert sich. Der Berater bringt sein Orientie-
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rungs- und Fachwissen in den Prozess ein. Er setzt Beratungstechniken ein, die den Prozess erleichtern und strukturieren unter der konstanten generellen Leitlinie des transparenten, die Person positiv beachtenden, auf den subjektiven Bezugsrahmen des Ratsuchenden eingestellten Beziehungsangebots. Techniken sind kommunikative Werkzeuge oder Gefäße, in denen das Beziehungsangebot in konkrete Verhaltensweisen übersetzt wird. Verschiedene personzentrierte Autoren sind sich darin einig, dass dieses nicht nur in den klärungsorientierten, reflektierenden und sondierenden Interventionen Ausdruck findet, sondern auch in herausfordernden (Culley, 2004; Egan, 1994; Mearns, 2003; Tolan, 2003). Mit herausfordernden Interventionen (»challenge«) wird der Ratsuchende eingeladen, den gegenwärtigen Bezugsrahmen nicht als Schicksal hinzunehmen, sondern es zu wagen, sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und Sichtweisen zu entwickeln, die neue Spielräume enthalten. Es ist aber nicht der Berater, der neue Sichtweisen einführt oder vorgibt. Er macht auch keine Aufforderung, neue Sichtweisen zu »konstruieren«. Vielmehr greift er Ansätze zu solchen neuen Sichtweisen im verbalen und nonverbalen Ausdruck des Ratsuchenden auf. Es geht um die Erfahrung von interaktiver »KoKonstruktion« von Perspektiven und letztlich von Sinn auf der Basis einer tragfähigen Beratungsbeziehung.
»Herausfordernde« Interventionen in der Beratung 5 Strukturierte Exploration der emotionalen Erfahrung (Fokussierung auf den aktuellen Erlebensprozess) 5 Feedback geben 5 Schweigen 5 Informationen geben 5 Handlungsanleitungen geben 5 Konfrontieren 5 Metaphern und Erzählungen aufnehmen und/oder einführen 5 Selbstmitteilungen des Beraters 5 Metakommunikation zur Beratungs- und Beziehungserfahrung
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Strukturiertes Explorieren der emotionalen Erfahrung In der selbstexplorativen Aktivität klären Ratsuchende konkrete Erlebnisse und deren Umstände und erfahren dabei, wie sie ein Ereignis wahrnehmen, auf welche Weise und in welchem Ausmaß sie in dieses Ereignis oder diese Situation involviert sind und welche Bedeutung sie ihm beimessen. Sie werden auf ihre Beziehung zu beteiligten realen oder imaginierten Personen aufmerksam, überprüfen ihre impliziten Bewertungen (appraisals) und kontextbezogenen Evaluationen, realisieren eigene Bedürfnisse und körperliche Reaktionen auf das Erlebnis, nehmen eigene Handlungstendenzen bewusster wahr und verbalisieren den kommunikativen Gehalt des emotionalen Ausdrucks. Berater helfen, die Exploration dieser berichteten oder aktuell ablaufenden Komponenten von Emotionsprozessen zu strukturieren und zu befördern, etwa indem sie Ratsuchende auffordern, darauf zu achten, was erlebt wird:
Selbstexplorationshilfen
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5 Was ist im Moment in Ihnen vorgegangen? 5 Wie denken Sie über Ihre Situation? 5 Was fühlen Sie bezüglich dessen, was passiert ist? 5 Was denken Sie müssen Sie als nächstes tun? 5 Was ist für Sie, wenn Sie über das Geschehene nachdenken, das Wichtigste an der Situation?
In der Beratungssituation ist meist die Umwelt der Person im Umbruch, instabil, unbekannt – wenn es um Zukunftsentscheide und –pläne geht – und undurchschaubar. Die Beratung trägt dem Rechnung, indem die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Lebenswelt des Ratsuchenden gefördert wird: 4 Berater regen dazu an, mit der erfahrenen Umwelt in Kontakt zu treten, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und die unmittelbare Anschauung möglichst lebendig auszugestalten. 5 »Bleiben Sie einen Moment dort und spüren Sie, wie Sie mit (einer Person, einem Ereignis, einem Thema, einer Sinnesempfindung u. a. m.) in Kontakt sind.«
5 »Was nehmen Sie wahr, wenn Sie genau (hinhören, hinschauen, bei den vorüberziehenden Gedanken verweilen u.a.m.)?« 5 »Versuchen Sie, sich die Situation nochmals ganz konkret vorzustellen (zu erinnern, sich auszumalen u. a. m.): Was geht da vor?« 4 Berater unterstützen das bewusste Erfassen der emotionalen (für die Motivation wichtigen) Reaktionen sowie der Handlungsimpulse und kommunikativen Pläne. 5 »Wie haben Sie auf (diese Verleumdung; den Entscheid der Behörde; die Anfrage des Chefs; den Verlust der Papiere u. a. m.) reagiert?« 5 »Wie ging es Ihnen vor/während/nach (dem Unfall, der Feier, Prüfung u. a. m.)?« 5 »Was möchten Sie spontan tun (verstummen, sagen, schreien, schreiben, malen)? Welche körperlichen Impulse sind aufgetaucht (sich bewegen, sich verhärten, explodieren, verrinnen u. a. m.)?« 5 »Mit wem möchten Sie jetzt in Kontakt sein? Was würden Sie ihm/ihr sagen?« 4 Berater fördern das Gewahrwerden eigener Wertungen und Gewichtungen 5 »Was bedeutet Ihnen heute das (Reisen, Umziehen, Arbeiten, Trennen, Erfolgreich-Sein u.a.m.)?« 5 »Wie wichtig ist es für Sie, dass Sie (das Projekt zu Ende bringen, die Prüfung bestehen, den Partner informieren u. a. m.)?« 4 Berater regen dazu an, sich der inneren wie äußeren Ressourcen zur Bewältigung von Problemen bewusst zu werden und sich mit Hindernissen und Grenzen aktiv auseinander zu setzen. 5 »Mit wem könnten Sie diesen Plan besprechen? Wer könnte Ihnen sonst noch helfen? Kennen Sie dies von früher? Wie sind Sie damals mit dieser (Schwierigkeit, Herausforderung, Aufgabe, Lücke u. a. m.) umgegangen/ zurechtgekommen?« 5 »Angenommen, Sie schaffen es nicht (es gibt keine weiteren Mittel; die anderen machen nicht mit u. a. m.): Was würden Sie in so einem Fall tun? denken? empfinden?« – »Da wir ja die Zeit nicht zurückdrehen können: Was könnten Sie heute anders anpacken?«
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4 Berater unterstützen das Gewahrwerden elementarer sinnlicher Empfindungen – »Ich nehme ein Beben in Ihrer Stimme wahr« – und komplexerer Empfindungen – »Tönt, als wären Sie total erschlagen« –, sie achten auf komplexere Gefühle wie Scham oder Angst und die ihnen verliehenen Bedeutungen. 4 Berater fördern den aktiven Ausdruck von Gefühlen. Damit erhöht sich die Wahrscheinlich-
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keit, dass Ratsuchende entdecken und annehmen, was sie fühlen. 4 Berater fördern die Reflexion der Erfahrung des aktuellen Beratungskontextes und -kontakts. In der Phase tiefer Exploration eigener Gefühle erleben Ratsuchende, wie es ist, sich selbst zu sein, während sie gleichzeitig mit jemandem in Beziehung stehen.
Fallvignette
Ein Dilemma ausloten Daniela wälzt seit Wochen im Kopf Gedanken über eine berufliche Entscheidung herum und kommt zu keinem befriedigenden Schluss. In der Beratung schildert sie die Alternativen: als Lehrerin an einer Privatschule hat sie sich zunehmend mit Verwaltungs- und Leitungsaufgaben befassen müssen und könnte jetzt bei der Reorganisation der Schule eine wichtige Funktion übernehmen. Daniela hat sich aber in ihrem sozialen Umfeld auch mit dem Gedanken auseinandergesetzt, nach 20 Berufsjahren noch einmal etwas Neues zu beginnen und sich zusammen mit Freunden und Freundinnen als Beraterin bei der Gründung eines Therapie- und Beratungszentrums zu engagieren. »Sie haben doch Erfahrung mit so Leuten, was denken Sie wäre besser für mich?« Der Berater regt Daniela an, die beiden Alternativen zunächst wie zwei Projekte mit Vor- und Nachteilen aufzufassen und sie separat mit den Umständen und den von ihr angenommenen Konsequenzen zu beschreiben. Er unterstützt sie dabei, indem er etwa sagt: »Stellen Sie sich vor, sie steigen voll auf das Reorganisationsprojekt Ihrer Schule ein: Was wird geschehen … was wird anders sein … und was unverändert? … Wie wird es Ihnen dabei gehen? Daniela erzählt sehr lebhaft, wie sie bei all den Aktivitäten mitmachen wird, »es wird sehr viel Arbeit sein, ich werde meine Erfahrungen einbringen können und fühle mich beruflich sicher. … Ich weiß aber auch, dass ich mich dann ganz reinstürze und an die Grenze zur Überforderung gerate … Ich fürchte, ich werde dann total eingebunden.« – Der Berater fragt nach: »Gibt es irgend ein Bild dafür, wie Sie auf diesem Weg sich selbst sehen?« Daniela breitet die Arme aus: »Ich fühle
mich genagelt.« Berater und Ratsuchende sind überrascht von dieser mit Kreuzigung assoziierten Szene und lassen sie eine Weile auf sich wirken. Dann nimmt der Berater seine Instruktion wieder auf: »Und jetzt zum anderen Projekt. Erzählen Sie, wie Sie sich – ganz nach ihrer Vorstellung – in die neue Aufgabe einleben werden.« Daniela wird in ihrem sprachlichen und körperlichen Ausdruck viel zurückhaltender, »ich bin da viel unsicherer, muss mich noch ausführlicher erkundigen, worum es geht und was meine Aufgaben wären. Aber ich hätte mit lauter Menschen zu tun, die ich mag. Die Organisation ist allerdings sehr chaotisch.« Auch bei dieser Alternative fragt der Berater, ob sich ein Bild, wie sie sich auf diesem Weg selbst sehe, einstelle. »Ich bin ganz leicht, schwebe unbeschwert über Blumenwiesen, ohne Handwerkszeug und Rucksack. Ich fühle mich stolz, dass die auf mich zählen wollen, bin aber so unerfahren, naiv fast.« Der Berater schlägt Daniela dann vor, die beiden »Bilder« vor sich hinzustellen und darauf zu achten, was sie erlebe, wenn sie das tue. »Ich will eigentlich aufbrechen zu etwas Neuem, es fällt mir aber schwer, den Boden des Vertrauten, der gewohnten Kompetenz zu verlassen. Irgendwie fühle ich mich verpflichtet. Eigentlich ist die Vorstellung grässlich, über meine Grenzen hinaus verpflichtet zu werden, aber wer will mich erwachsene Frau eigentlich hindern, das zu tun, was ich möchte? Da ist ein »großes Ding«, das da hineinspielt, ich weiß nicht genau wie.« Der Berater fragt Daniela, ob sie ihm von diesem »großen Ding« erzählen möchte. – Damit ist zwar noch nicht klar, wie sich Daniela entscheiden wird, aber sie kann die Hintergründe der Entscheidung mit veränderter Perspektive ausloten und ist dabei, die Herausforderung zu einer persönlich verantworteten Entscheidung anzunehmen.
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
Antwortet der Ratsuchende auf solche herausfordernden Interventionen, ist eine rückversichernde, empathische Antwort des Beraters angezeigt, sei es ein Statement, eine weiterführende, vertiefende Frage, ein vorsichtiges Nachhaken, wenn die Frage nicht verstanden oder leicht abgewehrt wird, oder eine nonverbale Geste. Eine vorerst nur verschwommen gefühlte Bedeutung kann durch das sprachliche Fassen durch den Berater bewusst werden. Die subjektiven Bedeutungen der Ratsuchenden harren allerdings nicht einfach an der Oberfläche, um vom Berater erfasst zu werden. Oft genug arbeiten er und der Ratsuchende sich wie durch dichten Nebel zur Bedeutung vor. Gerade dann ist der Ratsuchende u. U. daran, etwas Wichtiges wiederzuerfahren. Der Berater stört dann diesen Prozess nicht, sondern folgt respektvoll der Führung des Klienten.
präsent, antworten empathisch auf die scheinbare Nicht-Äußerung, sei es durch Sätze, die das Verstandene in Worte fassen, sei es durch vorsichtiges explorierendes Nachfragen, durch nonverbale Signale des Mitgehens oder durch Schweigen. Ein Mitschweigen ist z. B. dann angebracht, wenn das Schweigen Ausdruck einer intensiven, aber stummen Suche nach einem passenden Ausdruck für eine bestimmte Erfahrung ist. Auch durch Schweigen kann der Berater angemessen auf das Erleben des Ratsuchenden und auf die Gesamtsituation antworten. Manipulatives Schweigen, um den Ratsuchenden zu verunsichern, oder Schweigen, um sich selbst vor unangenehmen eigenen Antworten oder vor Reaktionen des Ratsuchenden zu schützen, sind hingegen nicht hilfreich und untergraben das Vertrauen.
Feedback geben
Informationen geben
Definition Feedback geben heißt, der Berater teilt eine Beobachtung, eine Wahrnehmung, eine Schlussfolgerung bezüglich des Ratsuchenden mit, indem er das konkrete Verhalten beschreibt und sagt, wie er den Ratsuchenden erlebt.
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Schweigen Im Kontext von zeitlich meist eng limitierter Beratung mag es befremden, Schweigen (mit seiner kommunikativen Mehrdeutigkeit) als beratungstechnische Intervention aufzuführen. Berater reagieren auf das Schweigen von Ratsuchenden nicht anders als auf die verbalen oder auf andere nonverbale Äußerungen: Sie schweifen nicht ab, bleiben
Im alltäglichen Umgang gehört das Vermitteln von Informationen zum Kern der Beratung. »Wo finde ich einen Job?« – »Welche Möglichkeiten der Weiterbildung gibt es?« – »Ist das krank?« In der Beratung werden Orientierungswissen (z. B. über Krankheitsverläufe), Erfahrungen von anderen (z. B. Laufbahnberatung), Test- und Fragebogendaten (z. B. Personalassessment) und Rahmeninformationen (z. B. Zulassungsbedingungen) vermittelt. Der Berater ist sowohl Experte in einem spezifischen Umfeld als auch Begleiter von Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen (Facilitator). Dabei kann es leicht zu einer Verwischung der Rollen kommen oder zu einer Verlagerung auf ein Extrem der Beraterfunktionen. Am einen Pol wäre er ein bloßer Informationsspeicher, am anderen Pol ein »unwissender Prozessbegleiter«. Beratungsdienste wirken dem entgegen, indem sie personell, räumlich und zeitlich klar trennen zwischen der Aufgabe des Verstehens und Klärens der individuellen Situation und einer allgemeinen Informationsvermittlung, die über verschiedene Kommunikationswege (Veranstaltungen, geeignete Medien, Homepages, Broschüren etc) erfolgt und worauf in der Beratung verwiesen werden kann. Dennoch ist es im Beratungsgespräch immer wieder notwendig, Wissen zu einer Entscheidung, Klärung oder Lösung beizusteuern. Der Berater fungiert zeitweise als aktuell verfügbare soziale Ressour-
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ce. Er wird bedacht sein, den Ratsuchenden nicht zu überfüttern, nur im Moment relevante Informationen zu geben und zu kontrollieren, wie der Ratsuchende die gegebenen Informationen versteht. Ratsuchende sollen in der Lage sein, die Informationen so zu verarbeiten, dass sie ihrer Entwicklung und Vergewisserung dienen. Im Konzept der Personzentrierten Beratung erfahren die Ratsuchenden, dass ihnen Informationen – sofern sie verfügbar sind – nicht vorenthalten werden, dass diese aber ganz dem generellen Beratungsziel größerer Klarheit über sich selbst und wachsender Selbstbestimmung untergeordnet sind.
Handlungsanleitungen geben Dass Übungen, Rollenspiele und Verhaltensanleitungen in der Personzentrierte Beratung ihren Platz haben können, wird heute wohl kaum mehr bestritten. Sie dienen der Problemaktualisierung, der Vergegenwärtigung und Konkretisierung des Erlebens. Neben Focusing haben verschiedene Lern- und Experimentierübungen aus anderen psychotherapeutischen Ansätzen Eingang in die Beratung gefunden, etwa die Technik des imaginierten Dialogs oder die Anleitung, sich seine Zukunft in fünf Jahren auszumalen, die Anregung, einem Handlungsimpuls durch Bewegung Ausdruck zu geben oder ein Erleben mit Farben und Formen in ein Bild umzusetzen. Ausschlaggebend ist, dass beim Einsatz dieser Methoden die Ausrichtung des Beratungsprozesses auf den Bezugsrahmen des Ratsuchenden nicht außer Kraft gesetzt wird, auch nicht phasenweise. Die Absicht, mit der sie eingesetzt werden, muss klargelegt werden, und vom Ratsuchenden müssen klare Signale erkennbar sein, dass die Anregung oder Anweisung ganz im Rahmen dessen liegt, wessen sich der Ratsuchende im Moment gewahr ist. Die Instruktionen müssen klar sein. Eine Kommunikationsübung beispielsweise muss deutlich begrenzt sein, und die Begrenzung muss für den Ratsuchenden erkennbar sein. Ein in welcher Form auch immer ausgedrücktes Nein des Ratsuchenden ist absolut zu respektieren. Großer Raum ist selbstverständlich der im Anschluss an solche prozessdirektiven Interventionen anzubietenden (Selbst-)Exploration des gerade Erlebten zu geben. Im gleichen Sinn ist mit so genannten »Hausaufgaben« umzugehen.
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Konfrontieren Konfrontieren ist eine weitere herausfordernde Intervention. Durch eine Konfrontation werden Ratsuchende dazu aufgefordert, Diskrepanzen, Widersprüche, Abwehrhaltungen und Ähnliches zu untersuchen, die sie vielleicht nicht beachten und die sie in Problemlagen blockieren. Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, sie als Technik im Rahmen des Personzentrierten Konzepts aufzuführen. Der Berater müsste aber viel von seiner Fachkompetenz verleugnen, wenn er offensichtliche Ungereimtheiten in den Mitteilungen des Ratsuchenden wahrnähme und nicht kongruent darauf reagieren dürfte. Häufig konfrontieren Berater Ratsuchende (Egan, 1994, S. 161–172) 4 mit deren Tendenz, die Verantwortung für eigene Probleme und für verpasste Gelegenheiten abzulehnen, 4 mit deren Stärken und Kompetenzen, 4 mit selbstentwertenden inneren Dialogen, selbstbeschränkenden Denkweisen und Vorurteilen, 4 mit geäußerten Widersprüchen, Ungereimtem, Vorwänden, 4 mit der Neigung, nicht zu handeln, 4 mit den Konsequenzen ihres Verhaltens. Entscheidend ist, wie der Berater konfrontiert und dass die Konfrontation nicht Ausdruck von Gefühlen ist, die mit der Bedingungsfreien Positiven Beachtung nicht zu vereinbaren sind, z. B. Ärger und Gereiztheit. Er konzentriert sich auf das, was Ratsuchende andeuten oder wahrnehmbar in das Gesagte einschließen. Konfrontative Interventionen müssen offen und konkret formuliert werden. Verkleidungen in Form von Rätseln, Denksportaufgaben oder ironisch verwinkelten Andeutungen sind irritierend und überflüssig und nicht selten das Resultat einer Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung. Offene Kommunikation birgt immer das Risiko, das Gegenüber zu konfrontieren. In der Personzentrierten Beratung ist der Berater herausgefordert, mit sich eins, d h. kongruent zu bleiben und dem Ratsuchenden unbedingte positive Beachtung zu widmen. Beachtung ist das Motiv, nicht Kritik am Ratsuchenden. Der Berater wird das Ziel seiner Herausforderung im Blick behalten und sich rückversichern, ob der Ratsuchende die in der Konfrontation
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Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
liegende Herausforderung annehmen und nutzen kann, beispielsweise indem er fragt: 4 »Also, wie klingt das in Ihren Ohren?« 4 »Was halten Sie von dem, was ich soeben gesagt habe?« 4 »Wäre das eine nützliche Art, auf das zu schauen, was Sie eben gesagt haben?« Er gibt klar zu verstehen, dass es wieder ganz in der Hand des Ratsuchenden liegt, worauf sich dessen Fokus richtet. Letztlich soll diese Intervention dem Ratsuchenden die Erfahrung eröffnen, sich selbst herauszufordern. Sie hilft ihm, Themen, Erlebensund Verhaltensmuster zu erkennen und Verknüpfungen mit Aspekten des Selbstbildes herzustellen.
Metaphern aufnehmen oder einführen
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Metaphern sind im täglichen Leben allgegenwärtig. Sie beeinflussen unser Denken, Handeln und unsere Kommunikation. In der Beratung können sie bewusst als Ausdrucksgestalt zum Selbst- und Weltverstehen eingeführt und reflektiert werden. Je vertrauter Ratsuchende und Berater werden und je erfahrener der Berater, desto eher wird er kreative Möglichkeiten entwickeln, um sich auszudrücken und um Empathisches Verstehen zu vermitteln. Metaphern der Ratsuchenden enthalten einen je eigenen Bedeutungshorizont, z. B. für RhythmischMusikalisches, Technisches oder Literarisches. Das Beratungsgespräch kann eine ganze Weile innerhalb der Metapher bleiben und den Interpretationsrahmen ausschöpfen, der sich mit der Metapher eröffnet. Die Metapher dient dazu, den Bedeutungshorizont zu erweitern. Beispiel: Ratsuchende: »Ich spiele da in einem Theater mit, das ist so absurd.« Berater: »Und wer führt Regie?« Metaphern können aber auch soziale Eingrenzungen (Beispiel: »Ich bin das Aschenputtel«), Selbstbeschränkungen und hinderliche Haltungen ausdrücken und ins Gespräch bringen: Ratsuchende: »Ich bin so eine lahme Ente.« – »Ich bin der Hamster im Drehrad.« – »Ich komme mir schon bald selber wie ein Stück der Wohnungseinrichtung vor.« Metaphern können aus aktuellen Wahrnehmungen ins Gespräch einfließen, etwa wenn draußen Straßenmusikanten spielen und Ratsuchende das
Spiel, die Melodie, die imaginierte Welt der Musik aufgreifen, oder wenn der Blick auf Pflanzen im Beratungszimmer das Thema Sorge, Pflegen oder organisches Wachsen evozieren. Metaphern regen die Phantasie an, neu über ein Thema oder einen Sachverhalt nachzudenken, etwa Lösungsvarianten zu erfinden oder Chancen als Folge anstehender Veränderungen auszuloten. Der Berater oder der Ratsuchende drücken eine Situation oder eine Beziehung in einem Bild aus, und es wird vom Dialogpartner aufgenommen. Zusammen erweitern sie es und entwickeln es weiter. Metaphern können als Form für den Ausdruck verschiedener Selbstaspekte (Selbstkonfigurationen) dienen (Mearns, 2003, S. 13 ff.). Beispiel: »In mir ist es wie in einer Familie, da geht es oft heftig zu.« – »Mal bin ich das brave Schulmädchen und mal der ausgeflippte Punk.« »Metaphern bieten … neue Bezugsrahmen und können damit Veränderungen erleichtern. Zudem können Metaphern dazu beitragen, eine konstruktive Beratungsbeziehung aufzubauen, indem gegenseitiges Verstehen durch eine bildhafte Sprache erleichtert wird.« (Engel & Sickendiek, 2004, S. 749)
Selbstmitteilungen des Beraters Dass der personzentrierte Berater sich ganz auf das Erleben des Ratsuchenden einstellt, bedeutet nicht, dass er nie etwas von sich selbst äußert. Selfdisclosure hat sich als prozessförderlich erwiesen, sofern es 4 sachdienlich, 4 selektiv, 4 situationsspezifisch, 4 fokussiert, 4 kurz und präzise gefasst ist und ganz in der Absicht gemacht wird, den Ratsuchenden beim Verstehen eigener Probleme zu unterstützen. Selbstmitteilungen dürfen Ratsuchende nicht verwirren und nicht von ihrer Aufgabe ablenken.
Metakommunikation zur Beratungsund Beziehungserfahrung: Während des Beratungsprozesses beobachtet sich der Berater kontinuierlich, aber nicht zwanghaft-
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stur, hinsichtlich seiner inneren Reaktionen auf den Ratsuchenden und kontrolliert sie. Er beachtet seine gefühlsmäßigen Reaktionen in der Beratungssituation und reflektiert, wie eindeutig und wie nachvollziehbar das ist, was der Ratsuchende einbringt. Diese »stumme Selbstexploration« hilft dem Berater zu erkennen, wie weit seine Beziehung zum Ratsuchenden gekennzeichnet ist durch Empathie, Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung.
Fragen, die helfen, Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung festzustellen 5 Worauf richtet sich meine Aufmerksamkeit? Was fesselt mich? 5 Was für Gedanken, Assoziationen, Hypothesen und Diagnosen stellen sich ein? 5 Was erfahre ich über die innere Erlebniswelt und das Selbstbild der Person, z. B. über ihre Werte, Prinzipien, Reaktionsmuster, über ihre Selbstachtung und ihre Selbstwirksamkeit? 5 Wie präsent ist mir der Kontext der Lebenswelt des Ratsuchenden? 5 Was blieb abstrakt oder uneinfühlbar oder ausgespart? 5 Welche Gefühle erlebte ich bei mir während des Gesprächs? 5 Gibt es Ansätze von Worten, Sätzen, Gesten, Fragen, die ich stellen möchte?
Metakommunikative Fragen zum Beratungsprozess und zur Beziehung von Berater und Ratsuchenden sind nicht zwingend für eine erfolgreiche Beratung. Rogers selber hat sie nur spärlich gestellt (Merry, 1996, S. 279). Sie sind hilfreich, wenn der Prozess stockt, der Berater sich in seiner Aufgabe nicht mehr voll handlungsfähig fühlt, oder als Vertiefung und Verankerung gegen Ende einer erfolgreichen Beratung. Mit solchen Fragen eng verwandt ist die Aufforderung an den Ratsuchenden, die Aufmerksamkeit bewusst auf ein hier und jetzt ablaufendes (Interaktions-)Erleben zu richten und dem spontanen Prozess zu folgen. Der Berater signalisiert, dass es sich
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lohne, Raum zu schaffen für kreative Symbolisierungen. In der Personzentrierten Beratung ist Focusing eine der vertrauteren Formen dieser Intervention. Aber auch eine gemeinsame Reflexion der Beratungssituation kann Bewusstheit und Entwicklung fördern. Fallvignette
Das Problem wird »in Szene gesetzt« Vera spricht davon, wie schwer es ihr falle, in der WG durchzusetzen, dass gemeinsame Ruhezeiten für konzentriertes Arbeiten verabredet werden, damit sie ihre Diplomarbeit zu Hause fertig stellen kann. »Ich kann mich so schlecht abgrenzen«, sagt sie, dreht sich auf ihrem Sessel in einem Winkel von 90° weg, scheint in die Ferne zu schauen und schweigt. Der Berater schweigt ebenfalls eine Weile und sagt dann: »Sind Sie gerade dabei, mit den Wohnkollegen in Kontakt zu treten?« Anstatt das Thema »Abgrenzung« abstrakt aufzugreifen, begleitet der Berater die Ratsuchende in ihrer Abgrenzung (Abwendung) von ihm im Hier und Jetzt. Er fordert sie dazu heraus, die mehrdeutige nonverbale Handlung mit ihren Verknüpfungen bewusst wahrzunehmen und ihre Bedeutung sprachlich zu fassen (symbolisieren).
Widerstand und Sackgassen im Beratungsverlauf Die Kooperation in der Beratung ist keine zwangsläufige, automatische, sie muss immer wieder bestätigt und verteidigt werden. Im Verlauf der Beratungsbeziehung kann es Zeichen von beeinträchtigter Kooperation geben. Der Ratsuchende widerspricht beispielsweise allen Anregungen, die der Berater macht, um ein Entscheidungsproblem zu klären. Oder er stockt in seinen Erzählungen, wird einsilbiger, äußert sich in Sätzen wie »Ich weiß nicht …«, »Ich kann mich daran nicht erinnern«, »Da fällt mir jetzt kein Beispiel ein«. Auch häufiges nicht nachvollziehbares Schweigen oder Kontaktabbrüche signalisieren, dass der Veränderungsprozess stockt. So ein Widerstand ist eine natürliche Begleiterscheinung eines jeden bedeutsamen Veränderungsprozesses. Er bedeutet, dass der Ratsuchende sich ver-
368
12
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
letzlich oder bedroht fühlt und sich schützt. Der Widerstand wird ohne Umweg über das Bewusstsein als Schutzfunktion im Prozess aktiviert, und es geht darum, dieses Ereignis zu verstehen. Wenn der Berater ganz auf den Erlebensprozess des Ratsuchenden eingestellt ist, wird er spüren, wenn dieser seine Gedanken und Mitteilungen vorsichtig kontrolliert. Der Ratsuchende mag es leid sein, alte Geschichten wieder aufbringen zu müssen, oder er will sich nicht zu großem Schmerz aussetzen, oder er mag seine Gefühle nicht zeigen und fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Der Berater kann diese Wahrnehmung zum Anlass nehmen, dem Ratsuchenden zu vermitteln, dass er die Grenze des Ratsuchenden verstanden habe und auf der Grenze zu verweilen bereit sei. Widerstandsphänomene sind Signale einer beeinträchtigten Interaktion. Diese kann ihren Grund im Ratsuchenden und/oder im Berater haben: 4 Beim Ratsuchenden können schwierige Interaktionserfahrungen in der Lebensgeschichte, mit Autoritätspersonen beispielsweise, aktualisiert werden. Er kann sich aber auch schlicht überfordert fühlen, beispielsweise wenn ihm Kompetenzen zu naheliegenden Handlungsschritten fehlen und es ihm schwer fällt, dies einzugestehen. 4 Beim Berater kann mangelndes Verstehen der Erfahrungen, Einstellungen und der Situation des Ratsuchenden den Kooperationsprozess bremsen und den Kontakt unterbrechen. Oder er lässt Transparenz vermissen, ist ungeduldig oder weicht anderswie ab von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung.
Kontakt aufrechterhalten Erinnern Sie sich an Momente, in welchen Sie durch einen der folgenden Gründe abgelenkt waren und zeitweilig den Kontakt zum Ratsuchenden unterbrochen haben (Tolan, 2003, S. 92; Übersetzung v. Verf.): 4 Ich war damit beschäftigt, »richtige« Antworten zu geben. 4 Etwas hatte mich schockiert. 4 Was ich hörte, erinnerte mich an etwas in mir selbst oder aus meinem Leben. 4 Ich fühlte mich kritisiert. 4 Ich langweilte mich.
4 Ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. 4 Ich war müde. 4 Ich fühlte mich vom Ratsuchenden angezogen. 4 Ich war über etwas verärgert. 4 Ich war damit beschäftigt, den Ratsuchenden zu beurteilen. 4 Ich analysierte den Ratsuchenden. Was taten Sie oder was hätten Sie tun können, um Ihre Aufmerksamkeit wieder zurück zum Ratsuchenden zu bringen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten derweil kein Wort mehr von dem gehört, was der Ratsuchende sagte. Sagen Sie dem Ratsuchenden etwas darüber? Was würden Sie sagen?
12.4.3
Die Schlussphase der Beratung: Evaluieren, Abschließen, Abschied nehmen
Beenden einer Beratungssitzung Der Berater trägt – wie bereits erwähnt – die Verantwortung für die zeitliche Strukturierung. Er wird einige Zeit vor Ablauf der vereinbarten Sitzungszeit auf die noch verfügbare Zeit hinweisen. Ist absehbar, dass die Beratung aus nur einem einzigen Kontakt bestehen wird, ist eine Evaluation der Beratung mit Rückbezug auf das Beratungsanliegen vor Ablauf der verfügbaren Zeit vorzunehmen. Bei Gesprächsserien wird der Berater am Ende der Stunde nicht vertiefend oder ein weiteres Thema eröffnend intervenieren. Zusammenfassen und Verallgemeinern sind Möglichkeiten, um den Prozess am Ende der Stunde abzurunden. Der Berater kann den Ratsuchenden auch bitten, das für ihn Wichtigste in der abgelaufenen Sitzung in einen Satz, ein Bild, ein Wort zu fassen, oder ihn fragen, worauf er bis zu einem weiteren Termin besonders aufmerksam sein will. Wenn intensive Gefühle oder frühere Erlebnisse exploriert worden sind, ist ein aktiveres Vorgehen des Beraters notwendig, damit der Ratsuchende wieder voll in die Gegenwart und den realen Gesprächskontext zurückfindet: Er sagt etwa: »Wir kommen ans Ende der Stunde und müssen dieses Thema verlassen.« – »Das ist ein weiter Bereich, der eine ausführlichere Erkundung verdient,
369 12.4 · Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung
als uns im Moment möglich ist, da die Stunde bald zu Ende ist.« – »Wo werden Sie hingehen, wenn Sie diesen Raum jetzt verlassen werden?«
Kontinuierliche Evaluation des Beratungsprozesses Da Ratsuchende Unterstützung in aktuellen Anliegen erwarten, ist die Frage, wie viel Zeit das in Anspruch nehmen wird, von Anfang der Beratung an präsent, und es wird immer wieder mehr oder weniger explizit überprüft, ob die Beratung Fortschritte macht. Dem Berater obliegt es, aus fachlicher Verantwortung solche Zwischenbilanzierungen und schließlich die Schlussbilanzierung systematisch vorzunehmen. Bereits für eine Zwischenbilanz kann er sich auf den Beratungsvertrag beziehen, der die »Beratungsaufgabe« formuliert hat, und sich beispielsweise folgende Fragen stellen (s. u.). Der Berater behält also den Beratungsverlauf kontinuierlich im Auge, und je nach Umständen muss er entscheiden, welche Kurskorrekturen oder weitere Maßnahmen er vorschlagen kann.
12
Wann ist eine Beratung zu Ende oder zu beenden? Ratsuchende geben in der Regel selber Signale, die ein Ende der Beratungsbedürftigkeit anzeigen. Mit dem Herannahen des Beratungsabschlusses bewegt sich der Fokus weg von der inneren Welt auf die äußere, auf das Erinnern, nochmals Überblicken, Konsolidieren und Vorwärtsschauen. Solche Signale von Ratsuchenden können sein (Tolan, 2003, S. 138– 140; Übersetzung v. Verf.): 4 Ratsuchende stellen Entwicklungsfortschritte durch Vergleiche zwischen vorher und jetzt fest und äußern dies: »Erinnern Sie sich an die Zeit, wo ich …« oder »Ich fühle mich schon viel selbstsicherer als beim ersten Mal.« 4 Sie stellen Erfolge fest und sind stolz darauf: »Vor zwei Monaten hätte ich das noch nicht geschafft.« 4 Sie geben dem Berater Feedback: »Was ich an Ihrer Art zu arbeiten schätze …« 4 Sie drücken Wertschätzung und Dankbarkeit aus: »Ohne Sie wäre ich da nicht durchgegangen.«
Fragen zur Zwischenbilanzierung einer Beratung 5 Beratungsbeziehung – Erlebe ich mich überwiegend kongruent und empathisch in der Zusammenarbeit mit dem Ratsuchenden, und begegne ich ihm mit unbedingter positiver Beachtung? – Kann der Ratsuchende dieses Beziehungsangebot wahrnehmen, und nutzt er es konstruktiv? – Hat sich ein kooperatives Arbeitsverhältnis eingestellt, und wird dieses vom Ratsuchenden auch so verstanden? 5 Beratungsanliegen – Auf welche Anliegen hat sich der Ratsuchende bis anhin konzentriert? – Gibt es wichtige Bereiche, die ausgelassen wurden? 5 Kontextbezug – Welche Auswirkungen haben die bisherigen Lösungsansätze des Ratsuchenden? – Wer außer ihm ist davon betroffen?
5 Ressourcen – Was hat dem Ratsuchenden inzwischen geholfen, mit dem Problem fertig zu werden? – Welche Unterstützung hat er? – Sind neben der Beratung weitere Maßnahmen angezeigt? 5 Konsequenzen – Welche kurz- und langfristigen Folgen hat es, wenn der Ratsuchende handelt respektive nicht handelt? – Werden diese in der Beratung berücksichtigt? 5 Hindernisse – Gibt es Blockaden auf dem Weg zum Beratungsziel, die geklärt werden müssen? 5 Zeitperspektive – Ist die zeitliche Spanne der Beratung für die Lösung des Anliegens realistisch, und ist der Problemfokus angemessen?
370
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
4 Sie wenden ihre Aufmerksamkeit gleichermaßen auf ihre äußere wie auf ihre innere Welt und wenden den Blick entschieden nach vorn: »Ich werde einen neuen Job suchen.«
12
Der Berater achtet auf die persönlichen und allgemeinen Bedeutungen dieser Mitteilungen und antwortet auf sie: Ratsuchender: »Es geht mir nun besser. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.« Berater: »Danke, das ist ein hilfreiches Feedback. Vielleicht können wir daran denken, die Arbeit hier zu einem Ende zu bringen.« Aus Beratersicht ist die Beendigung einer Beratung fällig, wenn die im Beratungsvertrag formulierten Ziele erreicht und die Aufgaben gelöst sind. Je präziser diese verabredet wurden, desto leichter fällt es festzustellen, wann dies der Fall ist. Der Berater spricht dies in der Regel von sich aus an, etwa mit folgenden Worten: »Ich denke, dass Sie sich seit unserem ersten Zusammentreffen ein großes Stück weiterentwickelt haben. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, haben Sie mehr Boden dazu gewonnen, und die Zukunft scheint mir vielversprechend. Was, glauben Sie, würde Ihnen die Beratung noch bringen, wozu Sie allein nicht in der Lage wären?« (Dryden & Feltham, 1994, S. 138)
mit dem Abschließen und Abschiednehmen verbunden sind, zu klären und zu akzeptieren. Nun gibt es aber auch Ratsuchende, die unvermittelt sagen: »Heute komme ich zum letzten Mal!« Das mag heißen »Ich bin so glücklich, ich habe mich entscheiden können«, aber auch »Ich habe die Geduld verloren, ich erwarte keine Hilfe mehr von Ihnen«. Wenn Ratsuchende von sich aus die Beratung beenden wollen, ist dies absolut zu respektieren, ohne Androhung von negativen Konsequenzen irgendwelcher Art. Aber der Berater wird versuchen, diesen Wunsch zu verstehen, und er sollte durchaus seine Besorgnis zum Ausdruck bringen, wenn er denkt, dass der Beratungsabbruch dem Ratsuchenden schade.
Abschließendes Feedback Am Schluss der Beratung lohnt es sich für Berater wie Ratsuchende, wenn in einem kurzen Austausch formuliert wird, was der Ratsuchende aus der Beratung mitnimmt und wie er den Berater erlebt hat, was gut lief und was anders hätte laufen sollen. Der Berater teilt seinerseits mit, was ihm an dieser Beratung bedeutsam erschien und worauf aus seiner Sicht künftig zu achten wäre. Ein solcher Austausch kann auch mit einigem Abstand zum Beratungsabschluss vereinbart werden, sei es in einem kurzen Nachgespräch, in einem Brief oder einer E-Mail.
12.5
Menschen binden und trennen sich ganz unterschiedlich. Ratsuchende mag die Erfahrung der intensiven Zuwendung des Beraters dazu bewegen, an der Fortführung der Beratung festzuhalten, da immer auch mit Rückfällen zu rechnen ist und neue Schwierigkeiten auftauchen oder sich neue Herausforderungen auftun können. Da ist es hilfreich, sich die neu gewonnenen Erfahrungen nochmals zu vergegenwärtigen, das Bedürfnis, den eigenen Weg ohne Beratung gehen zu können, zu unterstützen, den Bedenken über Rückschläge Raum zu geben und die Möglichkeiten, diese zu bewältigen, zu diskutieren. Ratsuchende nehmen gelegentlich den Dialogpart des Beraters in ihre Person auf und führen in kritischen Momenten die Beratung in Form eines inneren Dialogs weiter. Der so zum Ausdruck gebrachte Zuwachs an Selbstempathie wird vom Berater bekräftigt. Er hilft überdies mit, Gefühle, die
Personzentrierte Beratung im Wandel
Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld von Ratsuchenden und Beratern zwingen diese immer wieder zum Überdenken der Formen und Bestimmungen des soziokulturellen Phänomens »Beratung«. Als Konstante bleibt allerdings stets die menschliche Existenzbedingung: Menschen sind selbstbestimmt und aufeinander angewiesen. Sie müssen, um zu überleben und um sich zu entfalten, beachtet, gehört und verstanden werden, und sie sind auf mitmenschliche Antworten angewiesen. Als Orientierungs- und Entscheidungshilfe mit persönlichem Zuschnitt setzt der Personzentrierte Beratungsansatz an dieser personalen und sozialen Grundbedingung an. Er verweigert sich der Versuchung, ratlosen Menschen die Selbstbestimmung abzusprechen und sie nach ökonomischen, politischen oder anderen Gruppeninteressen zu steuern.
371 12.5 · Personzentrierte Beratung im Wandel
12
Fallvignette
Schlussbilanzierung: »Ich bin flüssiger« Sven, ein Musiker mit Berufspraxis, befindet sich in einem weiterführenden Diplomstudiengang für Solisten. Er hat die Beratung aufgesucht, weil er – im Unterschied zu seinem Lehrer – glaubte, keine Fortschritte mehr zu machen und sein hohes Ziel, das schwierige Instrument perfekt zu beherrschen, trotz bestem Lehrer nie erreichen zu können. Er müsse jeden Schritt genau kontrollieren und viel nachdenken, sagt er. Er konnte sich immer weniger konzentrieren und erwog den Abbruch des Spezialstudiums. Am Ende der Beratung, die acht Sitzungen umfasste, ist Sven voll mit der Organisation eines Konzerts beschäftigt, das ihm Spaß macht. Sein Lehrer habe ihn bis an die Grenze seines Könnens gefordert und sei sehr zufrieden mit ihm. Er erwähnte, dass er zwar noch Phasen von Stagnation und Frust erlebe, dass er diese inzwischen aber gut mit den Erlebnissen von Entwicklung und Erfolg in eine »Gesamtschau« einordnen könne. »Ich schätze die Zeit sehr, die ich hier im Gespräch verbrachte. Ich bin gelöster, selbstsicherer, »flüssiger«. Das zeigt sich nicht nur im Studium, sondern auch im Alltag und in Beziehungen.« Sven plant, im kommenden Jahr im Ausland zu unterrichten; er hat Kontakte geknüpft und prüft zurzeit interessante Angebote.
Schlussbilanzierung: Oberfläche und Tiefe »Beratung bleibt wohl mehr an der Oberfläche«, meint Edith, eine Lehramtsstudentin, im dritten
Er verzichtet auf die Ausübung von Expertenherrschaft und wendet sich radikal der Person zu, die – in welcher Notlage auch immer – selbstbestimmt und sozial eingebunden, individuell und kulturell geprägt, im humanistischen Selbstverständnis dialektisch ist. Die Berater selber unterstehen ebenfalls den menschlichen Existenzbedingungen und sind gefordert, ihr Denken, ihre Methoden und ihre Leistungen in den Dienst von selbstbestimmten, sozial verantwortlichen Personen und Organisationen zu stellen. Im Austausch mit anderen Beratern erfinden sie immer wieder Vorgehensweisen, mit denen sie die Prinzipien der Personzentrierten Beratung umsetzen. Bewährtes verbindet sich dabei mit Neuem, Normiertes mit Origi-
Beratungsgespräch, »ich möchte damit aufhören«. Sie sieht sich selbst als rational handelnde Frau, aber »tief in mir mache ich nicht, was ich vernünftig finde«. »Das klingt, als würde sich eine Seite von Ihnen trotzig und fast etwas triumphierend der rationalen Edith entgegenstellen«, antwortet der Berater. Edith erlebt sich als »brave Studentin«, die, um erfolgreich zu sein, sich fraglos, aber unzufrieden den Studienbedingungen unterwirft. Sie deutet aber zudem eine weitere Seite ihrer selbst an, die verborgen zwar, aber wirksam auf Autonomie pocht und sich den Fremdanforderungen verweigert. In diesem von Edith als letztem deklarierten Beratungsgespräch eröffnet sie nach der Bemerkung des Beraters einen Dialog zwischen diesen Facetten ihres Selbst und gewinnt ein flexibleres Selbstbild von sich. Die Fähigkeit zu autonomer Entscheidung findet gleichberechtigt Platz neben der Fähigkeit, sich nach Vorgaben richten zu können. Edith wird gewahr, dass sie unterscheiden kann, welche Studienanforderungen sie annehmen und welche sie abweisen will. Die Ratsuchende sieht ihre Chance, selbstbestimmter und kongruenter mit der Studiensituation umzugehen und sich jeweils situations- und bedürfnisgerecht verhalten zu können. Diese von ihr als letzte deklarierte Beratungsstunde ließ Raum für diesen Dialog, und am Ende der Stunde sagt Edith: »Wenn ich das alles jetzt so überschaue, bin ich eigentlich zuversichtlich, dass ich das Studium doch noch packe!«
nellem. Der professionellen wie alltäglichen Beratung obliegt unverändert – durch allen Wandel hindurch – die Aufgabe, kompetenz- und verantwortungsfördernde Unterstützung im Alltag zu bieten. ? Übungsfragen 5 Worin besteht das Hilfeangebot der Beratung? 5 Was ist ein Beratungsvertrag und was beinhaltet er im Wesentlichen? 5 Was kennzeichnet professionelle Beratung gegenüber der alltäglichen mitmenschlichen Hilfestellung, und was unterscheidet sie von der Psychotherapie?
6
372
Kapitel 12 · Personzentrierte Beratung
5 Inwieweit spielt der Kontext von Beratern einerseits, von Ratsuchenden andererseits eine Rolle in der Beratung? 5 Warum finden in der Personzentrierten Beratung die Emotionen so große Aufmerksamkeit? 5 Nennen Sie drei Ziele, welche mit der Personzentrierten Beratung verfolgt werden! 5 Welche Wirkungen auf Ratsuchende werden mit der Personzentrierten Beratung in Verbindung gebracht? 5 Wann ist Personzentrierte Beratung nicht angezeigt? 5 Was heißt das: »Der Berater strukturiert den Beratungsprozess«? In welcher Hinsicht strukturiert er ihn? 5 Welche Beratungsfertigkeiten kommen in der Anfangsphase der Beratung am ehesten zum Zuge? 5 Wozu soll die Beratungsfertigkeit »Herausfordern« gut sein? Und welche herausfordernden kommunikativen Fertigkeiten finden in der Personzentrierten Beratung Anwendung? 5 Woran erkennen Sie, dass die Beratung beendet werden kann? 5 Nennen sie mindestens drei ethische Leitsätze für die Beratungsarbeit!
12
12.6
Weiterführende Literatur
Culley, S. (2004). Beratung als Prozess. Lehrbuch kommunikativer Fertigkeiten. Weinheim; Basel: Beltz. (Handlungsmodell einer integrativen Beratung füralle, die in ihrer beruflichen Arbeit beratend tätig sind, geschrieben von einer erfahrenen Beraterin, mit vielen Beispielen aus dem Beratungsalltag) Tolan, J. (2003). Skills in person-centered counselling and psychotherapy. London: Sage. (Praxisnahe und theoretisch gut fundierte Einführung in die Personzentrierte Beratung) McLeod, J. (2004). Counselling – eine Einführung in Beratung. Tübingen: DGVT Verlag. (Schlüsselwerk zu den institutionellen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen, zu Beratungsfeldern und Beratungsmethoden)
13 13
Krisenintervention R. Brossi
13.1
Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens – 374
13.1.1 13.1.2 13.1.3
Krisenforschung – 374 Krisendefinition – 375 Welche Krisenauslöser gibt es und welche Folgen haben sie? Der Innere Bezugsrahmen in der Krise – 381
13.1.4
– 376
13.2
Was in Krisen hilfreich ist – 382
13.2.1 13.2.2
Erste Phase – 382 Zweite Phase – 385
Krisen gehören zum Leben, betreffen alle Menschen. Wir alle haben uns im »ambiguen Durcheinander der menschlichen Realität« (Bauman, 1995, S. 54) zurechtzufinden. Krisen sind Teil menschlichen Leidens und Wachsens und meistens ohne professionelle Hilfe zu bewältigen. Wird diese jedoch nötig, so stehen verschiedene Anlaufstellen bzw. ein Netz von Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zu diesem Netz gehören auch Psychotherapeuten in einer therapeutischen Praxis oder in einer Institution. Wer mit Krisen konfrontiert wird – mit eigenen und denjenigen von Patienten – wird mit dem Dunkel, dem Chaos konfrontiert. Da wird häufig eine Orientierungshilfe gebraucht, um sich im Dickicht der Krisenlandschaft zurechtzufinden, in einer Landschaft, die von Extremen geprägt ist: von reißenden Flüssen, ausgetrockneten Rinnsalen, Dschungeln und Wüsten, einer »Landschaft mit Sprung« (Dörner & Plog, 1996, S. 325). Das Hintergrundwissen aus der Krisenforschung und die Konzepte aus der Klientenzentrierten Theorie bieten eine solche Hilfe beim Umgang mit Krisen in der Psychotherapie. In diesem Kapitel wird versucht, Antworten auf folgende Fragen zu geben: 4 Was wissen wir aus der Krisenforschung? 4 Wie ist eine Krise zu definieren?
13.2.3 13.2.4
Dritte Phase – 385 Zusammenfassung – 386
13.3
Chancen und Gefahren von Krisen – 387
13.3.1 13.3.2 13.3.3
Grenzerweiterungen – 387 Zuspitzung – 389 Schlussbemerkung – 390
13.4
Weiterführende Literatur – 391
4 Welche Arten von Krisenauslösern gibt es? 4 Was ist in Krisen hilfreich? 4 Was ist der Sinn, aber auch: welche sind die Gefahren von Krisen? Weil eine Klientenzentrierte Krisenintervention immer als Beziehungsgeschehen zu verstehen ist, gilt es auch zu reflektieren, wie »die sechs Bedingungen für Veränderung durch Psychotherapie« in der Krisenintervention aussehen: Wie die Inkongruenz der Person in der Krise zu umschreiben ist, wie ihr Innerer Bezugsrahmen; worauf sich die Empathie zu richten hat und wie sie mitgeteilt werden kann, damit der Patient sie zumindest im Ansatz wahrnehmen kann; auch, welche Färbung die Beziehungsaspekte der Bedingungsfreien Positiven Beachtung und der Kongruenz auf Seiten des Therapeuten haben. Der Blick auf Hintergründe und Konzepte kann allerdings immer nur eine Annäherung an die jeweilige einmalige Situation sein, bei der immer wieder neu hingeschaut werden muss, was genau nötig ist. Er möge aber helfen, sich angesichts der Intensität des Krisengeschehens sicherer zu fühlen.
374
Kapitel 13 · Krisenintervention
13.1
Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens Ich blieb allein zurück und grundlos um den Verstand gebracht, begann mein Herz die Glocken der Finsternis zu läuten. (Alfonsina Storni)
13.1.1
13
Krisenforschung
Eine gezielte Krisenforschung begann nach dem so genannten Coconut-Grove-Brand 1942. Damals kamen in einem Tanzlokal in Boston über 140 Menschen um. Erich Lindemann (1944) fand bei Geretteten und Hinterbliebenen regelhaft Schock-, Schuld-, Aggressions- und Trauerreaktionen und forderte gezielte psychotherapeutische Hilfe vor allem für die Trauerarbeit. Dem Thema Trauer und einem angemessenen Umgang mit ihr widmete er einen Großteil seines Werkes. Von ihm stammt auch der Begriff der »psychosozialen Krise« (1956), der in der Folge von Gerald Caplan – der als eigentlicher Begründer der modernen Krisentheorie gilt – im Rahmen seiner Vorstellung einer präventiven Psychiatrie näher ausgearbeitet wurde. Caplan formulierte Definitionen und Phasen von Krisen (1961, 1964). Darauf aufbauend entwickelte Jacobson 1974 erstmals ein Konzept einer Krisenintervention in sechs Schritten, die seither konzeptuell vertieft worden sind und die in vielen Krisenbehandlungszentren als Leitlinie gelten:
Die Stufen einer Krisenintervention nach Jacobson (zitiert nach Ciompi, 1993, S. 21) 5 Den Krisenanlass verstehen 5 Eine gemeinsame »Krisendefinition« erarbeiten 5 Gefühle ausdrücken bzw. entlasten 5 Gewohnte Bewältigungsstrategien reaktivieren 5 Konfrontation mit der Realität 5 Nach neuen Lösungen suchen 5 Abschließender Rückblick und Bilanz
Als weiterer wichtiger Vertreter der Krisentheorie gilt Cullberg (1978). Er hat sich schon früh mit der Erforschung psychosozialer Krisen beschäftigt. Auf seine Unterscheidung von Lebensveränderungskrisen und traumatischen Krisen wird später eingegangen. Ciompi (1993, S. 11) sichtete Anfang der 90erJahre genau 100 Publikationen zum Thema Krisen und kam zu dem Schluss, dass in den vorhergehenden 10–15 Jahren kaum neue Ansätze in der Krisentheorie zu verzeichnen seien. Durch die Vielzahl von Beiträgen komme es eher zur Konfusion und Verwischung von ursprünglich klaren Konzepten. Diese Feststellung trifft auch heute noch zu. Ciompi zufolge bilden bei dieser Bilanz Konzepte aus der Chaostheorie eine Ausnahme. Diesen misst er für die Zukunft Bedeutung bei. Seine Einschätzung erscheint im Lichte der neueren Literatur der Klientenzentrierten Psychotherapie interessant, welche die Verwandtschaft der Rogers’ Konzepte (über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Veränderung durch Psychotherapie) mit system- und chaostheoretischen Aspekten herausgearbeitet hat (z. B. Höger, 1993; Kriz, 1989, 2004; 7 Kap. 3). Ciompi nennt zwei Elemente der Chaostheorie, die auf das Krisengeschehen bezogen von Interesse sein können. Einerseits das Modell von der Dynamik komplexer selbstorganisatorischer Systeme, die durch ständige Energiezufuhr weit vom Gleichgewichtszustand weggetrieben werden. An so genannten Bifurkationsstellen können plötzlich nichtlineare Entwicklungssprünge hin zu ganz anderen Funktionsmustern oder »Regimes« auftreten. Dabei handelt es sich um repetitive unvorhersehbare Abweichungen innerhalb eines gegebenen Rahmens. Ein Beispiel hierfür liefert ein von seinem Reiter immer stärker angetriebenes Pferd, das vom Ruhezustand zuerst in den Schritt, dann in Trab und schließlich in Galopp verfällt. Innerhalb dieses Rahmens wird die Schrittfrequenz des Pferdes immer kleine Unregelmäßigkeiten aufweisen und innerhalb eines gewissen Maßes unberechenbar sein. Relevant für die Krisentheorie sind hier die Analogien zwischen solchen Entwicklungssprüngen und dem plötzlichen »Überschnappen« des psychischen Systems z. B. in einen Erregungszustand, in eine Depression oder Psychose. Dabei ist ein zweiter Fokus
375 13.1 · Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens
der Chaostheorie wichtig, nämlich die Tatsache, dass kleinste Abweichungen in der Ausgangssituation unter Umständen zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen führen können. Ein Beispiel hierfür ist ein labiler Felsblock auf einem Grat. Dieser kann in einem kritischen Moment durch einen Windstoß entweder nach links oder nach rechts in ein »Attraktorbecken« herunterfallen und je nachdem entweder riesige Zerstörungen oder überhaupt keinen Schaden anrichten. Der chaostheoretische Ansatz lässt also Krisen als ein komplexes Geschehen begreifen, das immer ein Stück Unberechenbarkeit beinhaltet. Damit kann auch erklärt werden, dass gewisse Ereignisse und Lebensumstände eine Person in eine Krise treiben können, eine andere hingegen nicht. In gewissen Momenten kann eine Person auf etwas krisenhaft reagieren, dem sie sich in anderen gewachsen fühlt. Die subjektive Bedeutung einer Krise, gesprächspsychotherapeutisch: der Innere Bezugsrahmen einer Person in der Krise und ihr systemischer Aspekt rücken damit ins Zentrum. Die folgende Fallvignette berichtet von Bettina L. Diese Patientin wird uns durch das ganze Kapitel begleiten. Fallvignette
Eine Tochter verliert ihren Vater Bettina L. erkrankt nach dem Tode ihres Vaters, den sie am Ende seines Lebens gepflegt hat, an einer schweren Lungenentzündung. Von dieser erholt sie sich nur sehr langsam. Als sie nach einigen Wochen wieder arbeiten geht, kommt sie mitten in eine für sie unerwartete Reorganisation ihrer Abteilung, in der sie eigentlich eine leitende Funktion innehat. Obwohl sie viele der anstehenden Veränderungen nicht gut heißt, versucht sie die Situation anzunehmen, arbeitet und denkt mit und bewältigt auch ihr sonstiges Leben ganz leidlich und ohne Krise. Ungefähr ein halbes Jahr später wird im Rahmen dieser Umstrukturierung ihr Büro in ein anderes, ihr unattraktiver erscheinendes Gebäude verlegt. Bettina L. wird erneut krank und gerät in der Folge in eine akute Krise.
13.1.2
13
Krisendefinition
Fasst man die verschiedenen Definitionen zusammen, die in der Literatur zum Thema Krise auftauchen, sind folgende Bestimmungsstücke zentral: Definition Akute Krisen werden ausgelöst durch belastende innere und äußere Erfahrungen, die plötzlich auftreten können und auf die nicht angemessen reagiert werden kann. Sie durchbrechen die Kontinuität des Erlebens und tragen den Charakter von großer Gefahr und existenziell erlebter Überforderung in sich. Die Person gerät in heftige innere Spannung, Angst, emotionale Verwirrung, ihre üblichen Bewältigungsstrategien versagen.
Das zentrale Konstrukt für eine Krisendefinition aus klientenzentrierter Sicht ist die Inkongruenz. Inkongruenz ist ja bekanntlich ein Zustand, in dem eine Erfahrung bzw. bestimmte, sich wiederholende Erfahrungen gegensätzlich bewertet werden: die gesamtorganismische Bewertung der Erfahrung im Hinblick darauf, ob sie der Erhaltung und Förderung des Organismus als Ganzem einschließlich des Selbstkonzeptes dienlich ist, stimmt nicht überein mit der Bewertung dieser Erfahrung hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem Selbstkonzept. Es kollidieren also Aktualisierungstendenz und Selbstaktualisierungstendenz (7 Kap. 3). Über den Mechanismus der Selbsterhaltung verfügt ein Organismus, »um auch unter widrigen Umständen seine Existenz aufrecht zu erhalten; und ›Existenz‹ beschränkt sich hier nicht auf das rein physische »Überleben«, sondern bezieht die Integrität und Identität der Person in ihrer spezifischen Eigenart mit ein« (Höger, 1993, S. 26). Erfahrungen, die eine Krise auslösen, können Erfahrungen sein, die z. B. ein schwaches oder brüchiges Selbst bedrohen. Es können aber auch Erfahrungen sein – Widerfahrnisse – die sehr weit weg vom menschlichen Erleben liegen und aus diesem Grund bis anhin nicht gemacht worden sind und in ein sonst stabiles Selbstkonzept nicht integriert werden mussten.
376
Kapitel 13 · Krisenintervention
Die Krise ist also ein Zustand extremer Inkongruenz. Das Individuum ist unfähig, die Erfahrungen ins Selbstkonzept zu integrieren, es ist im Gegenteil vollauf damit befasst, dieses zu schützen. Das Individuum ist im Zustand der Inkongruenz verletzlich. Rogers beschreibt das so, andere Krisendefinitionen klingen dabei an: »Der Begriff Verletzlichkeit bezieht sich auf den Zustand der Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und Erfahrung: in diesem Zustand ist psychische Desorganisation jederzeit möglich. Wenn Inkongruenz besteht und das Individuum sich dessen nicht bewusst ist, dann ist es potenziell anfällig für Angst, Bedrohung und Desorganisation. Wenn eine bestimmte neue Erfahrung die Diskrepanz so klar hervortreten lässt, dass sie bewusst wahrgenommen werden muss, wird das Selbstkonzept des Individuums durch widersprüchliche und nicht vereinbare Erfahrungen desorganisiert.« (Rogers, 1959b/1987, S. 29)
13
Es gibt nach Sonneck (1997, S. 17) eine Tendenz, Krise als akute Phase in einem beliebigen Krankheitsverlauf aufzufassen, dann, wenn therapeutisches Handeln im weitesten Sinn unverzüglich einsetzen muss, um irreversible Schäden, wie Chronifizierungen, Krankheiten oder Suizide zu verhindern. Damit wird eine Krise im psychischen Bereich nur noch als akutpsychiatrischer Notfall definiert. Berücksichtigt man aber die klientenzentrierte Auffassung, scheint es unabdingbar, einen Krisenbegriff so breit zu fassen, dass auch diejenigen Krisenerfahrungen darin Platz finden, die jeder Person zustoßen können, während sie in ihrem Leben all die üblichen Aufgaben zu lösen versucht, die sie einmal auch überfordern, d. h. die Selbststruktur bedrohen können. ! Krisen sind aus der Perspektive des Klientenzentrierten Konzepts als natürliche Warn- und Bewältigungsreaktionen anzuschauen und nicht als Ausdruck eines Defizits oder einer krankhaftenStörung.
Für Caplan gehört zur Definition der Krise, dass sie sich selbst begrenzt, sie klinge binnen sechs Wochen ab. Diese Ansicht einer zeitlich so engen Begrenzung ist jedoch angesichts der Erfahrungen mit Reifungsund traumatischen Krisen nicht zu halten. So hat
Lindemann für die Verarbeitung und Lösung einer Krise bereits einen Zeitraum bis zu zwei Jahren angenommen. Bis heute besteht keine Übereinkunft darüber, wie das Ende einer Krise zu definieren sei. Wird der Begriff auf die akuteste Phase beschränkt oder gehören eine verlängerte Verarbeitungsphase oder eine langanhaltende posttraumatische Belastungsreaktion noch zur Krise? Fallvignette
Die Zuspitzung einer Krise Bettina L. stammt aus einem sehr leistungs- und sicherheitsorientierten Elternhaus. Obwohl sie andere Neigungen spürte, hatte sie immer versucht, den elterlichen Vorstellungen zu genügen, so auch auf keinen Fall ihre sichere Arbeitsstelle aufzugeben. Nach dem Tode des Vaters empfand sie den Wunsch, ihr Leben neu zu überdenken. Dies bedrohte jedoch ihr Selbstkonzept massiv. Die Lungenentzündung diente zu dessen Schutz. Auch nach der Genesung war Bettina L. immer etwas überfordert, wessen sie sich aber nicht bewusst war. Ohne psychotherapeutische Hilfe oder andere Unterstützung konnte sie weder die Erfahrung der Überforderung, noch die Erfahrung der Krankheit, auch nicht die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tode ihres Vaters zulassen. Sie versuchte, ihr Selbstkonzept zu erhalten. Dies gelang ihr jedoch nicht mehr, als ihr Arbeitsplatz verlegt wurde. Sie geriet in einen Zustand akuter Inkongruenz und war nicht mehr fähig, die sie bedrohenden Erfahrungen abzuwehren.
13.1.3
Welche Krisenauslöser gibt es und welche Folgen haben sie?
Bei den Ausführungen zur Krisentheorie ist schon deutlich geworden, wie unterschiedlich auf gefährdende Ereignisse reagiert werden kann. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Ausmaß der durch eine Erfahrung oder eine Widerfahrnis ausgelösten akuten Inkongruenz einer Person. Auch der Innere Bezugsrahmen spielt eine zentrale Rolle, die jeweilige subjektive Bedeutung, die einem Krisenanlass beigemessen wird, inklusive seiner möglichen realen und
377 13.1 · Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens
vorgestellten Konsequenzen. In dieser Subjektivität kann auch eine allfällige erhöhte Verletzlichkeit zum Ausdruck kommen, z. B. als Folge psychischer Erkrankungen oder früherer gleichartiger, unbewältigter Krisen. Neben der individuellen Vulnerabilität lassen sich typische Krisenauslöser ausmachen: Sie können als Katastrophen- und Massenbelastungen auftreten, wie politische und rassistische Verfolgungen, Kriegswirren oder Katastrophen aller Art. Sie treten auch als individuelle Belastungen auf, als welche sie aber immer ein Beziehungsgeschehen sind: Schicksalsschläge und Erfahrungen von Machtmissbrauch und Gewalt, Veränderungsanforderungen an den üblichen Lebenslauf, Angst vor Veränderungen und Bedrohungen, Krisen und Krankheit von nahe stehenden Personen sowie die Aufnahme einer Psychotherapie und kritische Phasen innerhalb der Psychotherapie. Krisenauslöser sind in irgendeiner Form mit Verlusten verbunden. Sie können drei Ebenen der menschlichen Identität betreffen: 4 die körperlich-biologische Ebene: beispielsweise die Pubertät, das Klimakterium, eine chronische Erkrankung; 4 die psychische Ebene: z. B. das Ehrgefühl; 4 die soziale Ebene: z. B. Ereignisse im Zusammenhang mit Rollen- oder Statusveränderungen, die Bewertung derselben, der Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen, politischer Systeme oder wirtschaftlicher Krisen. Obwohl auch andere Einteilungen denkbar sind, ist es hilfreich, zwischen so genannten »Lebensveränderungskrisen« und »traumatischen Krisen« zu unterscheiden (Cullberg, 1978). Damit trägt man deren unterschiedlichen Verläufen Rechnung und dem unterschiedlichen Erleben, das die jeweilige Krisenform auslösen kann.
Lebensveränderungskrisen und ihr Verlauf Zwischen Vergehen und Wiederbeginnen Liegt das Unmögliche. Und es geschieht. (Mascha Kaléko)
Lebensveränderungen sind Situationen, die allgemein zum Leben gehören, wie der Auszug aus dem
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Elternhaus, eine Heirat, eine Schwangerschaft, Kinder bekommen, ein Umzug, die altersgemäße Pensionierung, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben, und Alltagssituationen aller Art. Diese Situationen können zu Krisen führen. Sie werden deshalb auch als »kritische Lebensereignisse« bezeichnet. Erikson (1976) spricht von so genannten Reifungskrisen, die im Säuglingsalter, in der Vorpubertät, Adoleszenz, im späten Erwachsenenalter und im Alter auftreten sollen. Eriksons Theorie wird heute u. a. von Carol Gilligan (1990) kritisiert. Ihre Kritik richtet sich vor allem darauf, dass Erikson nur Lebensläufe von Männern untersucht habe und dass er eine mechanistische, eindimensionale Vorstellung vom Ablauf des Lebens in festen Phasen hätte, die sich empirisch nicht belegen ließen. Gilligan rückt die Komplexität und Individualität menschlichen Erlebens ins Zentrum der Krisenbetrachtung. Lebensveränderungskrisen setzen entsprechend den Krisenanlässen nicht schlagartig ein, sondern entwickeln sich eher schleichend. Dass bestimmte Erfahrungen im Bezug auf eine Veränderungsaufgabe nicht zugelassen werden können, führt zum Aufkommen von Spannung und Unbehagen. Solange diese Erfahrungen nicht symbolisiert werden können, wird die Spannung steigen, während das Selbstwertgefühl angesichts eines zunehmend verwirrenden Erlebens sinkt. Diese Entwicklung kann zu einer akuten Krise führen. Äußerlich kann die Betroffene oft noch geordnet wirken. Innerlich entsteht jedoch durch Bewältigungsstrategien, wie Verzerrung und Verleugnung der Wirklichkeit, sowie durch den Rückzug aus Beziehungen ein Zustand von Konfusion und Desorganisation. In der Alltagssprache spricht man vom »Nervenzusammenbruch«. Entweder entwickelt die betroffene Person zunehmend ungesteuerte, ziellose Aktivitäten zum Zweck der Spannungsabfuhr, oder sie ist innerlich »gelähmt«, was ihr Denken, Fühlen und Handeln beeinträchtigt. Veränderungskrisen werden zum einen unterbrochen, wenn der Krisenanlass wegfällt, zum anderen dadurch, dass in einer Beziehung die zur Veränderung gehörenden Erfahrungen verstanden werden.
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Kapitel 13 · Krisenintervention
Fallvignette
Heirat als Krisenauslöser Herr T. meldet sich auf Anraten seines Hausarztes zur Abklärung der Indikation für eine Psychotherapie an. Diesen hatte er aufgesucht, weil er unter Schlafstörungen und Magenproblemen litt. Dabei kamen seine unbefriedigende berufliche Situation und sein momentaner Mangel an Lebensfreude zur Sprache. Auch im Abklärungsgespräch beklagt sich der Patient über seine Energie- und Freudlosigkeit. Er erwähnt, dass er vor kurzem geheiratet habe, dass er sich aber auch darüber nicht wirklich freuen könne und sich deshalb sehr schlecht vorkomme. Er wisse gar nicht mehr, ob er seine Partnerin liebe. Die Therapeutin bespricht mit ihm, dass das an und für sich positive Ereignis der Heirat bei ihm eine Krise ausgelöst habe. Auch, dass dies eine sehr einfühlbare Reaktion sei. Die Stimmung des Gespräches ändert sich daraufhin. Der Patient berichtet über seine Ängste, seiner Partnerin nicht genug bieten zu können, und setzt nun seine Probleme im Beruf in diesen Zusammen-
Traumatische Krisen und ihr Verlauf
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»Es geht um dieses ›draußen bleiben‹, um den Versuch, dieses Erlebnis, das ich nicht Erfahrung nennen möchte, weil Erfahrungen etwas mit Kontinuität des Lebens zu tun haben, es sich im zu schildernden Fall aber um das Widerfahrnis extremer Diskontinuität handelt, zu beschreiben und die mit ihm verbundenen Gefühle, soweit dieses geht (und es geht nicht sehr weit), zur Sprache zu bringen.« (Jan Philipp Reemtsma, 1997, S. 45) Traumatische Krisen werden durch unvorhergesehene, plötzliche Ereignisse ausgelöst, die immer Verlustereignisse oder Ereignisse extremer Bedrohung der eigenen Integrität sind. Diese lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen. 4 Verlustereignisse können sein: Verlust der Wohnung, des Wohnortes, Verlust der Arbeit oder der Arbeitsfähigkeit, Schulden; Verlassen werden, Trennung oder Tod einer nahestehenden Person; eine lebensbedrohliche oder unheilbare Krankheit, Verlust der Gesundheit, Verlust eines
hang. Er sei über das diesbezügliche Unbehagen richtig in Panik geraten, schließlich könne er doch jetzt nicht mehr einfach machen, was er wolle. Der Patient kommt noch für zwei weitere Gespräche. Seine beruflichen Probleme seien wohl noch nicht gelöst, doch fühle er sich nun fähig, sie anzugehen. Seine Lebensfreude habe er wieder gefunden und auch in der Partnerschaft fühle er sich wieder wohl. Es ist also wichtig und nicht immer einfach, mögliche Auslöser für Veränderungskrisen zu identifizieren und sie dem Patienten mitzuteilen. Krisensymptome können, in einer Beziehung wahr- und angenommen, zum Verstehen bislang als zu bedrohlich erlebter Gefühle im Bezug auf die Lebensveränderung führen. Bei Herrn T. handelte es sich um Gefühle der Überforderung, um Ängste zu versagen, um Trauer im Bezug auf Verlorenes. Dies sind Gefühle, die zu Lebensveränderungskrisen gehören. So war hier die Abklärung einer Psychotherapieindikation letztendlich eine erfolgreiche Krisenintervention.
Körperteils, Verlust der Freiheit, Verlust der Heimat. 4 Ereignisse, die die eigene Integrität bedrohen, können sein: Kränkungen, beispielsweise bei schulischem oder beruflichem Scheitern, bei Zurückweisungen; Verletzungen der körperlichen Integrität durch vorzeitige, schwierige Entbindung, Unfälle, Krankheiten, chirurgische Eingriffe, Drogenexperimente, Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Entführung, Haft, Misshandlungen, Folter. Die genannten traumatischen Ereignisse sind Krisenauslöser, d. h., dass sich aus ihnen Krisen entwickeln können. Sie sind nicht identisch mit diesen. Die Auslöser reichen von Belastungen mit einem geringen Schweregrad bis hin zu einem schweren Psychotrauma. Wie und bis zu welchem Grad solche Ereignisse eine Person beeinträchtigen, hängt von vielen Faktoren ab (7 Kap. 13.1.1). Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich mit dem Ausmaß der erlebten Hilflosigkeit und der Unmöglichkeit, angemessen darauf
379 13.1 · Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens
zu reagieren, die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Beeinträchtigung erhöht und deshalb auch die Gefahr einer traumatischen Krise. Besonders schwerwiegend ist, wenn es sich nicht um ein einzelnes unvorhersehbares Trauma handelt, sondern wenn die ganze Lebenssituation mitbetroffen ist: Familien- und Beziehungssituationen, in denen Gewalt und sexuelle Ausbeutung immer zu erwarten sind, sowie Gefängnis, Folter, Entführung, Krieg. In diesen Situationen ist eine angemessene Reaktion unmöglich. Es handelt sich um Belastungen in einem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Erschütterung hervorrufen würde. Im ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 2000, S. 168) werden die Symptome einer traumatischen Krise als so genannte akute Belastungsreaktion ausführlich beschrieben: »Eine vorübergehende Störung von beträchtlichem Schweregrad, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickelt und im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Das auslösende Ereignis kann ein überwältigendes traumatisches Erlebnis mit einer ernsthaften Bedrohung für die Sicherheit oder körperliche Unversehrtheit des Patienten oder einer geliebten Person (Personen) sein (z. B. Naturkatastrophe, Unfall, Krieg, Verbrechen, Vergewaltigung) oder eine ungewöhnlich plötzliche und bedrohliche Veränderung der sozialen Stellung und/oder des Beziehungsnetzes des Betroffenen, wie etwa Verluste durch mehrere Todesfälle, einen Brand oder ähnliches. Das Risiko, diese Störung zu entwickeln, ist bei gleichzeitiger körperlicher Erschöpfung, oder wenn organische Beeinträchtigungen, z. B. bei Älteren, vorliegen, erhöht. Die individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) spielen beim Auftreten und beim Schweregrad der akuten Belastungsreaktion eine Rolle. Dies wird daran deutlich, dass nicht alle Personen, die eine außergewöhnliche Belastung erleben, auch eine Störung entwickeln. Die Symptome sind sehr verschieden, doch typischerweise beginnen sie 6
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mit einer Art von »Betäubung«, einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkter Aufmerksamkeit, einer gewissen Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus der aktuellen Situation folgen (bis hin zu dissoziativem Denken) oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität wie Fluchtreaktion oder Fugue. Meist treten vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von Stunden zurück. Es kann eine teilweise oder vollständige Amnesie für diese Episode vorliegen.« Sofern ein Angebot einer hilfreichen Beziehung fehlt oder dieses nicht angenommen werden kann, kann aus der akuten Belastungsreaktion eine Krise und je nach Schweregrad eine Anpassungsstörung oder eine posttraumatische Belastungsstörung entstehen. Da die Erfahrung der totalen Hilflosigkeit das Selbstkonzept bedroht bzw. nicht in dieses integriert werden kann, bestehen bei letzterer die einzelnen Symptome der akuten Krise fort, meist in veränderter und übersteigerter Weise, noch lange nachdem die akute Gefahr vorüber ist. »Traumatische Ereignisse bewirken tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und Gedächtnis. Überdies werden diese normalerweise aufeinander abgestimmten Funktionen durch ein traumatisches Ereignis manchmal voneinander getrennt. Der Traumatisierte empfindet beispielsweise intensive Gefühle, kann sich aber nicht genau an das Ereignis erinnern; oder er erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber nichts dabei. Er ist vielleicht ständig gereizt und wachsam, ohne zu wissen warum. Häufig geht der Zusammenhang zwischen traumatischen Symptomen und ihrem Auslöser verloren, die Symptome verselbständigen sich.« (Herman, 1993, S. 54 f.) Die zahlreichen Symptome posttraumatischer Störungen sind in drei Hauptkategorien eingeteilt.
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Kapitel 13 · Krisenintervention
Syndrom der posttraumatischen Belastungsstörung 5 »Übererregung« als psychologische Angstreaktion und physiologische Alarmbereitschaft, die nicht mehr auf den Notfall beschränkt ist. Sie tritt fast ständig auf, denn die Gefahr wird ständig erwartet. 5 »Intrusionen«, auch Flash-backs genannt, sind ungewollt sich aufdrängende Erinnerungen und Gedanken an das traumatische Ereignis. 5 »Konstriktion« bedeutet Vermeidung von Situationen, die als bedrohlich empfunden werden, psychische Erstarrung, emotionale Betäubung.
Das Phänomen der »Dissoziation gilt als die vorherrschende Abwehr und vor allem als der vermutlich zentrale Coping-Mechanismus bei Psychotrauma … Zwei Formen der Dissoziation, die induzierte Derealisation und die induzierte Depersonalisation werden besonders oft im Umgang mit traumatisierten Personen beobachtet« (Biermann-Ratjen, 2003b, S. 131).
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! Es ist wichtig, die Phänomene der psychotraumatischen Belastungsstörung genau zu kennen, da nicht erkannte und damit auch nicht anerkannte Traumaerfahrungen sich immer wieder manifestieren werden. Sie erhöhen die Krisenanfälligkeit von traumatisierten Patienten, und die beschriebenen Symptome werden in eben diesen Krisen auftauchen.
In der ambulanten Psychotherapie sehen wir Personen, die ein mehr oder weniger schweres Trauma erfahren haben, in der akuten Krise kaum. Bei akut traumatisierten Personen kommt, wenn überhaupt, die Notfallpsychologie mit ihrer entsprechenden Infrastruktur, wie Notfall- oder Kriseninterventionszentren, oder auch eine psychiatrische Klinik zum Zuge. Eine Psychotherapie beginnen sie meistens erst später, aus einem vergleichsweise geringen Anlass – es könnte eine Krise bezüglich einer kritischen Lebenssituation sein –, bei dem die ursprüngliche traumatische Situation oder die traumatischen Situatio-
nen wieder, wie es in der Traumatheorie genannt wird, »angetriggert« werden. Erst wenn die Patienten die therapeutische Beziehung als tragfähig genug erleben, werden die früheren Psychotraumata zur Sprache kommen. Doch auch in einem Klima des Vertrauens wird dies häufig als so bedrohlich erlebt, dass Krisen häufig auftreten. Sie sind wiederum als Ausdruck der Kollision von Selbstaktualisierungstendenz (Erfahrungen drängen an die Oberfläche, möchten verstanden werden) und der Selbstbehauptungstendenz zu verstehen (das Auftauchende wird als zu bedrohlich für das Selbstkonzept wahrgenommen, um als Selbsterfahrung zugelassen zu werden). Der Inhalt des Bedrohlichen ist die Erfahrung von zum Teil totaler Ohnmacht und von Ausgeliefertsein in der erlebten Situation und unerlöste Trauer. Fallvignette
Traumatisierungen wiederholen sich Der Krisenauslöser, der Bettina L. veranlasste, psychotherapeutische Hilfe aufzusuchen, war die Verlegung ihres Arbeitsplatzes. Zu Beginn der Therapie verschlimmerte sich ihr Zustand. Viele sie belastende Themen drängten an die Oberfläche, zuerst ihre Lungenentzündung und der Tod ihres Vaters. Auch kam sie auf Familientraumen aus ihrer Kindheit zu sprechen: einerseits trugen ihre Eltern schwer an der Last ihrer jeweiligen Ursprungsfamilien, welche durch Alkoholismus und tödliche Arbeitsunfälle belastet waren. Dann hatte ihr Vater Unregelmäßigkeiten in einer Firma aufgedeckt und deswegen seine Stelle verloren. Dies alles trieb die Familie in die Isolation. Die Patientin litt vor allem unter den Depressionen ihrer Mutter, die ihren Ehemann verachtete und ihre Kinder als eine Last erlebte, was sie ihnen gegenüber auch unverhohlen immer wieder ausdrückte. Es kamen auch weitere Traumatisierungen der Patientin zur Sprache: die lang andauernden sexuellen Übergriffe eines Lehrers, Gewalt in einer Beziehung, eine Abtreibung, zwei schwere Autounfälle in suizidaler Absicht. Es war ihr wichtig, dass die Therapeutin diese Ereignisse alle aufschrieb und in einem Briefumschlag aufbewahrte.
381 13.1 · Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens
13.1.4
Der Innere Bezugsrahmen in der Krise
Es gibt kein Erwachen ohne Schmerz Gefahr und Schmerz bei jedem Arm, der sich streckt bei jedem Auge, das sich öffnet bei jedem Schritt ins Ungewisse (Bianca Garufi)
Die Krise wird als ein Ausnahmezustand erlebt, der weitgehend unerklärlich scheint. Versuchen betroffene Personen, ihr Erleben in der akuten Phase einer Krise zu beschreiben, greifen sie oft zu Metaphern. So können sie das Gefühl von Intensität, das sich Bedrohtfühlen und das Erleben von Diskontinuität besser vermitteln. Zum Beispiel in Metaphern aus der Natur: »Ich bin wie in einem Tal, oben ist Licht, ich kann aber nicht hinauf«, »ich komme mir vor wie ein Schiff, das in hohen Wellen unterzugehen droht«, »es ist wie ein Sog, ein Wirbel, der mich ins Erdinnere zieht«, »ich bin wie im Nebel, ausgeschlossen vom Leben«. Oder in Raumbildern: »Ich bin wie hinter dicken Mauern«, »ich fühle mich wie in einem Bunker«, »eingeschlossen, wie in einem Gefängnis, die anderen sind weit weg«. Auch in Körpermetaphern: »Es beginnt alles wie wild in mir herumzukreisen, nichts geht mehr raus«, »es scherbelt in mir drin«, »abgekapselt, aufgeweicht«, »es zieht alle Energie aus meinem Körper, ich falle zusammen, ich habe Angst, dass ich sterben muss«, »ich zerberste«, »es zersplittert in mir drin«, »ich habe solche Herzschmerzen«. Fallvignette
Somatische Beschwerden als Ausdruck einer Krise Bettina L. ließ sich aufgrund einer Grippe krankschreiben. Sie spürte, dass es einen Zusammenhang gab zwischen ihren körperlichen Symptomen und ihren aktuellen Erfahrungen. Deshalb begann sie eine Psychotherapie. Dies führte anfänglich zu einer Verschlechterung ihres Zustandes. Sie litt zunehmend unter Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Sie weinte viel, aus ihrer Sicht grundlos, sie fühlte sich wertlos und schämte sich ihres Zustands wegen. Sie klagte, den Boden unter den Füßen vollständig verloren zu haben.
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Die betroffenen Personen empfinden ihre Situation als quälend, bedrängend, ausweglos, »sehen schwarz«. Sie sind gespannt, nervös, irritiert und aufgeregt. Die Beziehung zu den Gefühlen ist schwierig. Sie drohen einen zu überschwemmen, sind zu intensiv, erzeugen massive Angst und Panik. Oft wird auch eine große Distanz zu den Gefühlen und zu anderen Menschen beschrieben, man fühlt sich leer und teilnahmslos: »Ich verstumme, bin gelähmt, alles ist so weit weg, niemand ist erreichbar.« Dass man sich in diesem Zustand selber nicht versteht, erschüttert zunehmend das Selbstwertgefühl. Das macht aggressiv auf andere, aber auch auf sich selber und führt möglicherweise zu Suizidgedanken und Suizidimpulsen. Ein anderer, positiver Aspekt des Krisenerlebens wird auch genannt: Man fühlt sich lebendig. Ausdruck findet das unverstandene Erleben in Symptomen wie Ruhe- und Schlaflosigkeit, vegetativer Labilität, wie Schweißausbrüche und Zittrigkeit, in Stimmungsschwankungen und Depressivität. Ciompi (1993) weist darauf hin, dass meist somatische Leiden Krisenbegleiter sind. Die möglichen somatischen Symptome sind sehr vielfältig und unterschiedlich im Schweregrad. Sie können – allein oder kombiniert – Störungen der Atemorgane, des HerzKreislauf-Systems, des Verdauungs- oder des Urogenitalsystems umfassen. Weiter können dermatologische Störungen, spannungsbedingte Rücken- oder Kopfschmerzen, allgemeine Resistenzverminderung, Infektionsbereitschaft und Erschöpfung auftreten. Kein Wunder also, dass oft der Hausarzt eine wichtige Anlaufstelle bei psychischen Krisen ist. Eine Person in der Krise ist damit beschäftigt, für ihr Selbstkonzept bedrohliches Erleben von ihrem Bewusstsein fernzuhalten. Das bedeutet, dass sich ihr Innerer Bezugsrahmen auf der Seite des ungesunden starren Pols des Kontinuums der von Rogers beschriebenen Prozesserfahrung befindet. Deshalb hat sie ein nur geringes Ausmaß an (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 104 ff.): 4 Offenheit für Selbsterfahrung 4 Fähigkeit zur Selbstexploration 4 Kongruenz 4 Offenheit gegenüber anderen 4 Kognitiver Flexibilität 4 Gefühl der Eigenverantwortlichkeit 4 Kontaktfähigkeit
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Kapitel 13 · Krisenintervention
13.2
Was in Krisen hilfreich ist Die Begegnung ist nie ein Zufall, sondern ein Bedürfnis, das wie ein Lauffeuer die einzelnen erfasst (Bianca Carufi) Hoffnung II Wer hofft ist jung Wer könnte atmen ohne Hoffnung dass auch in Zukunft Rosen sich öffnen ein Liebeswort die Angst überlebt (Rose Ausländer)
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Wie sieht nun – auf dem Hintergrund des bis jetzt Beschriebenen – eine Klientenzentrierte Krisenintervention aus? Wie konkretisiert sich darin das Beziehungsangebot von positiv beachtender und kongruenter Empathie? Veränderungen sind um so eher möglich, je mehr sich ein Patient sicher fühlt und sich deshalb öffnen und bedrohlichem Erleben zuwenden kann. Einer Person in einer akuten Krise fehlt aber gerade diese Sicherheit und Offenheit. Sie fühlt sich im Moment angesichts der zu bewältigenden Erfahrungen überfordert. Der Erfahrungsfluss und damit der Wachstumsprozess sind unterbrochen. Die Gewissheit der Kontinuität des Lebens ist verloren gegangen. Dadurch mangelt es ihr auch an Vertrauen, die Krise bewältigen zu können. Deshalb braucht sie Schutz und sucht sie Hilfe. Ähnlich wie beim Therapieprozess (Swildens, 1991) lassen sich bei akuten Krisen Verlaufsphasen unterscheiden. Entsprechend können auch die Phasen der Intervention unterschieden werden in:
Drei Stufen einer Krisenbehandlung 5 Erste Phase: Halt geben und Schutz bieten, wenn nötig den äußeren Bezugsrahmen klären. 6
5 Zweite Phase: Die Erfahrung »Ich bin in der Krise« wird Selbsterfahrung. 5 Dritte Phase: Bewältigungsversuche und Gefühle, die zu Anlass und Inhalt der Krise gehören, annehmen und gemeinsam zu verstehen suchen.
Eine Krisenintervention erstreckt sich manchmal über mehrere Stunden. Die Krisenintervention oder Krisenbegleitung dauert solange, bis die Erfahrungen der Krise soweit ins Selbstkonzept integriert worden sind, dass ein Patient seinen Alltag wieder ihm angemessen bewältigen kann. Damit wird die Krisenintervention abgeschlossen. Möglicherweise wird der Patient eine Psychotherapie beginnen oder im üblichen Rahmen weiterführen. Im Folgenden wird nun das Spezifische der drei Phasen genauer ausgeführt.
13.2.1
Erste Phase
In der erste Phase braucht eine hilfesuchende Person vor allem Schutz. Krisenintervention beginnt oft am Telefon. Dabei kann es sich um den ersten Kontakt überhaupt handeln oder der Anruf kann auch im Rahmen einer Psychotherapie oder Beratung erfolgen. »Ich weiß nicht mehr weiter«, »ich halte es nicht mehr aus«, »ich komme nicht mehr daraus, was muss ich tun« hören wir z. B. Als erstes gilt es auszudrücken, dass der Wunsch nach Hilfe gehört worden ist und das wir jetzt darauf reagieren werden. Allein die Tatsache, dass wir angerufen werden, verstehen wir als Ausdruck dieses Wunsches, auch wenn die Person die Situation als sehr hoffnungslos erlebt. Wir müssen abklären, was die Person im Moment vor allem braucht, ob es genügt, möglichst bald ein Gespräch anzubieten. Wenn nicht oder wenn wir diese Krisenintervention nicht selber leisten können, müssen wir helfen, ein angemessenes Angebot zu finden. Durch dieses: »Ich bin da für Sie, wir werden zusammen schauen, was Sie brauchen«, vermitteln wir einerseits Halt, anderseits Hoffnung und das Vertrauen, dass etwas weitergeht.
383 13.2 · Was in Krisen hilfreich ist
Dieses »es geht etwas weiter« wiederum soll auch Raum schaffen helfen. Es ist sehr wichtig, nicht nur den Aspekt der Dringlichkeit ernst zu nehmen, sondern auch den Aspekt, dass Zeit und Raum nötig sind, um dem Schwierigen, das aufgetaucht ist, gerecht werden zu können. Wenn wir nur den ersten Aspekt aufnehmen, birgt das auch eine Gefahr in Bezug auf die eigene Kongruenz: Wir übernehmen die Dringlichkeit als Druck, schnell handeln zu müssen. Dies schränkt unsere eigene Wahrnehmung ein. So sind wir nicht mehr offen, um genau hinschauen und verstehen zu können, was nötig ist. Wir schaffen Raum also auch für uns. So werden wir eher sehen können, ob z. B. eine akute Selbstgefährdung besteht. Inwieweit kann jemand noch selber Verantwortung für sich tragen, wie viel müssen wir im Moment übernehmen? Die Realität, dass Raum und Zeit nötig sind, macht Personen in einer akuten Krise eher unwillig. Sie empfinden, dass sie keine Zeit haben, dass alles jetzt und sofort gelöst sein müsste. Auf der anderen Seite sagen sie aber auch: »Ich kann jetzt nicht«. Sind wir uns dieses ambivalenten Erlebens bewusst, kommen wir selber weniger unter Druck und werden
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dem Erleben der Patienten eher gerecht. Die Ambivalenz ist Ausdruck davon, dass zwar der Zustand von Angst als unerträglich erlebt wird, dass es aber auch an Kraft und Hoffnung mangelt, im Moment etwas verändern zu können. Deshalb ist in dieser Phase Hoffnung stellvertretend von uns zu vermitteln. Es ist ein Charakteristikum dieser Phase, dass wir Stellvertreter für die Gewissheit der Kontinuität sind. Wir sind es auch, die im Moment die Gefühle der Patienten wahrnehmen und anerkennen. Patienten sind oft verwirrt und erschrocken angesichts ihrer Gefühle, die sie in einer Krise haben können. Erschrocken, wenn sie von ihnen überschwemmt werden und auch wenn diese »abgestellt« sind. Sie verstehen sich selber nicht mehr. Wir können sie entlasten, indem wir ihnen vermitteln, dass all ihr Erleben einfühlbar ist. Um in der akutesten Phase wirklich hilfreich sein zu können, brauchen wir eine gewisse Distanz. Allzu leicht werden wir sonst mit in die Strudel gezogen. Dass wir aus größerer Distanz schauen, wirkt auf die verwirrte und erregte Person beruhigend. Sie braucht ein spürbares Gegenüber, an dem sie sich
Fallvignette
Haltgeben und Distanz wahren Frau N. kam schon längere Zeit in die Therapie. Sie hatte als Kind schwere sexuelle Ausbeutung und Gewalt erlebt und litt oft unter starkem selbstdestruktiven Verhalten. Sie hatte während der Therapie immer wieder schwere Krisen zu bewältigen, in denen sie starke Suizidimpulse hatte. Sie rief eines Nachts weinend ihre Therapeutin an, nach einer »guten« Therapiestunde, in der es um die Integration von bisher abgewehrten Selbsterfahrungen gegangen war, wie: »Auch ich habe ein Recht auf Freude«. Sie sagte, sie fühle sich sehr schlecht, sie müsse sich umbringen. Die Therapeutin bot ihr sofort einen Termin am nächsten Morgen an und sagte ihr, dass sie denke, dass es da etwas zu verstehen gäbe, etwas was sie beide im Moment noch nicht verstehen könnten. Sie würden das aber sicher zusammen herausfinden. Die Patientin sagte in der nächsten Stunde, dass ihr der Satz »da gibt es doch etwas zu verstehen« sehr geholfen habe. Sie hätte gedacht, dann
gehe es ja doch noch weiter. Sie hätte sich an diesen Satz gehalten, er hätte ihre Suizidimpulse eingedämmt. Die Rückmeldung der Patientin gibt anschaulich wieder, dass es nicht darum ging, inhaltlich mehr zu wissen als die Patientin, sondern darum, dass die Therapeutin Hoffnung auf einen weitergehenden Prozess hatte und dies der Patientin vermitteln konnte. Hoffnung ist ein wichtiger Motor für konstruktive Veränderung. Ein anderer wichtiger Aspekt wird an diesem Beispiel deutlich: Die Aussage, dass wir gemeinsam schauen, gesteht der Patientin trotz ihrer momentan verzweifelten Gefühle möglichst viel Autonomie zu: Sie ist in der Lage – mit Hilfe zwar – herauszufinden, was bei ihr diese akute Krise ausgelöst hat. Das Zugestehen von Bedürftigkeit einerseits, und das Zugestehen des Wunsches nach Autonomie andererseits bedeutet während einer Krisenintervention eine heikle Gratwanderung.
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Kapitel 13 · Krisenintervention
orientieren kann und das sie auch als schützend erleben kann. Wir sind im Moment dazu da, Pfähle zu setzen, an denen sie sich in einer ersten Etappe halten kann. Wie das geschehen kann, soll das Fallbeispiel verdeutlichen. Wichtig ist, sich bewusst zu sein, dass wir nicht von vornherein wissen, was genau jeweils als hilfreich erlebt wird. Solange eine Person Hilfe sucht, können wir aber darauf vertrauen, dass irgendein Satz, eine Gebärde, ein Angebot sie erreichen und damit etwas Neues möglich machen wird. Doch sind Patienten in Krisenmomenten nicht immer so zugänglich, wie eben beschrieben. Manchmal muss man auch laut werden, damit man gehört wird und ein Kontakt entsteht: Fallvignette
Eine »lautstarke« Krisenbewältigung
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Frau O., die unter einer zwanghaften Störung litt, war in einer Krise, als die Weihnachtsferien anbrachen. Die Therapeutin vereinbarte mit ihr, dass die Patientin sie anrufen werde, wenn für sie die Situation unerträglicher werde. Am zweiten Weihnachtstag rief ein verzweifelter Ehemann an. Seine Frau habe sich seit Stunden im Schlafzimmer eingesperrt. Der Therapeutin gelang es, die Patientin ans Telefon zu holen. Die Situation erschien ihr aber so aufgeladen, dass sie sich zu einem Hausbesuch entschloss. Die Patientin wirkte sehr gespannt, verstockt und verschlossen. Die Frage, weshalb sie nicht angerufen habe, beantwortete sie damit, dass sie nicht habe stören wollen. Das war zuviel für die Therapeutin. Sie brüllte die Patientin an, dass ihr das ja jetzt gründlich gelungen sei. Daraufhin mussten beide lachen und es war endlich möglich, die Situation sinnvoll zu besprechen. Das Anbrüllen und das darauf folgende Lachen lösten die massive Spannung, ermöglichten Kontakt und dienten der Wiederherstellung eines tragenden Bündnisses.
Falls nötig, muss mit dem Patienten der äußere Bezugsrahmen abgeklärt werden. Welche Hilfe braucht er bis zum nächsten Termin? Dies können Fragen zu den Themen Wohnen, Arbeitsfähigkeit, Unterstützung durch Freunde und Angehörige, Medikamen-
te, Telefonangebote, ambulante Kriseninterventionseinrichtungen, Klinik, Situation in der Familie sein. Was genau geklärt werden muss, hängt von der körperlichen, psychischen und sozialen Situation des Patienten ab. Immer sollten wir uns bemühen, dem Patienten so viel wie möglich seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Lösungsmöglichkeiten zu lassen. Das Netz sollte jedoch engmaschig genug sein, dass er die Zeit bis zum nächsten Kontakt mit so wenig Ängsten wie möglich überstehen kann. Sehr hilfreich kann es sein, ein – wie D.W. Winnicott es nannte – Übergangsobjekt, wie einen Stein, ein Stofftier oder einen sonstigen Gegenstand von uns mitzugeben. Damit können unsere Anteilnahme, aber auch der Aspekt der Kontinuität ausgedrückt werden. Manchmal ist die Überweisung an einen Hausarzt sinnvoll, z. B. zur Verschreibung eines Schlafmittels und um die eine Krise begleitenden somatischen Störungen zu behandeln. Manchmal kommt es auch zu einer Zusammenarbeit mit dem Hausarzt: Fallvignette
Zur Notwendigkeit kurzer häufiger Kontakte in einer Krise Mit Bettina L. musste in der akutesten Phase ihrer Krise geklärt werden, ob nicht ein Klinikaufenthalt sie entlasten könnte. Sie hatte jedoch große Angst davor, und so wurden vorübergehend alternierend mit ihrem Hausarzt tägliche kurze Telefonate vereinbart. Dabei war es ihr wichtig, zu erzählen, was sie tagsüber gemacht hatte. Weil sie sich wahrgenommen fühlte, konnte sie ihr Bedürfnis nach Bewegung ernst nehmen, sodass tägliche Spaziergänge für sie eine wichtige Brücke zur Normalität wurden. Sie halfen ihr sich zu beruhigen und waren, indem sie darüber berichten konnte, eine Möglichkeit, mit Anderen in Kontakt zu kommen.
Manchmal ist eine Notfallintervention als Spezialfall einer Krisenintervention erforderlich. Das heißt, angesichts drohender Selbst- oder Fremdgefährdung und/oder akuter Überforderung der nahestehenden Personen muss unverzüglich gehandelt werden. Meistens beinhaltet das, einen Notfallpsychiaters
385 13.2 · Was in Krisen hilfreich ist
oder eine Kriseninterventionsstelle einzubeziehen für 4 die Behandlung akuter psychotischer Zustände, bei denen oft die Einnahme von Medikamenten nötig wird, 4 die Frage, ob eine Klinikeinweisung nötig ist, 4 die Einleitung von Zwangsmaßnahmen. Hier ist aus juristischen Gründen eine ärztliche Beurteilung vorgeschrieben. Eine Notfallintervention ist abgeschlossen, sobald die akute Gefahr für Leib und Leben der Patienten und deren Umfeld nicht mehr da ist, z. B. wegen der Einnahme von Medikamenten oder eines Klinikaufenthaltes. Die Krisenintervention kann allenfalls danach im ambulanten Rahmen und durch Personen, die die Patienten bereits kennen, weitergeführt werden. Ein Klinikaufenthalt als Schutz wird manchmal von den Patienten selber gewünscht (Anna Q, 2005). Fallvignette
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dass er dazu gar nicht viel sagen kann, außer, dass er sich schlecht fühlt. Erkundet man dann zusammen etwas genauer den Inneren Bezugsrahmen, wird man oft feststellen, dass der Patient seinen Zustand gar nicht als Krise wahrnimmt, sondern als etwas, das er nicht versteht und wofür er sich ablehnt. Er schämt sich, findet sich »komisch«. Deshalb ist es wichtig, dass wir benennen, dass der Patient sich in einem Zustand der Krise befindet. Dies führt dann auch zu der Frage: »Ich habe eine Krise, wie ist das für mich?« Wir werden sehr oft strengen, verurteilenden Stimmen begegnen: »Ich bin blöd, das sollte mir doch nicht passieren, jetzt belaste ich die anderen. Ich fühle mich unfähig. Ich schäme mich«. Solche Bewertungen sind eine schlechte Ausgangslage für den Umgang mit einer Krise. Deshalb müssen zuerst diese beachtet und verstanden werden. Das ist ein notwendiger Schritt, um vom stellvertretenden Vermitteln: »Es ist einfühlbar, dass du eine Krise hast«, dazu zu gelangen, dass der Patient das selber so erleben und akzeptieren kann. Dabei hilft es, das Wissen über Krisen und Krisenverlauf auch mitzuteilen.
Eine psychiatrische Klinik als Schutzraum Herr F., seit ungefähr einem Jahr in Therapie, wurde von seiner langjährigen Freundin verlassen. Er hatte bisher keine Klinikerfahrung. In der Stunde, die auf die Trennung folgte, zeigte er deutliche Zeichen einer akuten Krise. Er wirkte total verängstigt und zitterte am ganzen Leib. Auf die Versuche der Therapeutin mit ihm in Kontakt zu kommen reagierte er kaum. Nach einer Weile richtete er sich unvermittelt auf und sagte eindringlich, dass er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden möchte.
13.2.2
Fallvignette
Das Benennung des Zustandes als »Krise« schafft Erleichterung Eine Patientin kam durch Konflikte am Arbeitsplatz mit alten inneren Erfahrungen in Kontakt, die sie bedrohten. Sie fühlte sich zunehmend unruhig und verwirrt und litt unter Schlafstörungen. Sie schrieb der Therapeutin nach einer Krisensitzung: »… dass wir herausgefunden haben, dass ich eine Krise habe, hat mich sehr beruhigt. Ich habe wieder geschlafen, es ist als wäre ich von einer anstrengenden Bergtour zurückgekommen«.
Zweite Phase
In die zweite Phase tritt der Patient ein, wenn er sich allmählich in dem Schutz bietenden Rahmen sicherer fühlt und wenn sein Vertrauen in die Möglichkeit von Hilfe gewachsen ist. Die zweite Phase ist dazu da, gemeinsam zu verstehen, dass sich der Patient in einer Krise befindet. Der entstandene Raum wird erstmals dafür gebraucht, konkreter zu schauen, wie der Patient seine Situation und sein Erleben bewertet. Es kann sein,
13.2.3
Dritte Phase
Das Fallbeispiel zeigt, dass es entlastend wirkt, wenn die Erfahrung in einer Krise zu sein, zur Selbsterfahrung werden kann: »Ich fühle, dass ich in einer Krise bin«. Nun wird es möglich, sich in einer weiteren Phase dem Krisenanlass und den Inhalten, die die Krise ausmachen, zuzuwenden. Dabei wird den dazugehörenden Bewältigungsstrategien und Ge-
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Kapitel 13 · Krisenintervention
fühlen Raum gelassen, und sie können allmählich verstanden werden. Auch in diesem Prozess ist der Patient darin zu unterstützen, den richtigen Abstand zu seinem Erleben zu finden. Wenn Personen überschwemmt sind von Gefühlen, brauchen sie Unterstützung darin, Distanz zu bekommen. Wenn sie in ihren Gefühlen blockiert sind, brauchen sie unter Umständen Unterstützung, um mit diesen überhaupt in Kontakt zu kommen. Für den Patienten ist es wichtig, sich einer Person gegenüber zu wissen, die für ihn einsteht, die ihn in seinem Erleben ernst nimmt, die aber auch wagt, den manchmal zerstörerischen Gedankengängen etwas entgegenzusetzen: »Ich verstehe, dass Sie das alles so bedrohlich finden, dass Sie denken, Sie werden es nie mehr schaffen: ich weiß aber auch um eine andere Seite von Ihnen. Ich verstehe, dass Sie Ihrer Schwester (die sich suizidiert hat) ganz nah sein möchten, dass Sie das Gefühl haben, sie sei die einzige, die Sie wirklich versteht. Deshalb möchten Sie ja zu ihr. Meiner Meinung nach hat sie Sie aber auch ganz schön sitzen lassen.« Auch in dieser Phase wird man darauf achten müssen, ob nicht zusätzliche auch praktische Angebote nötig sind. Sind z. B. finanzielle Probleme Krisenauslöser oder Teil der Krise, sollte eine Schuldensanierung empfohlen werden. Zur Krisenintervention gehört auch, die Auswirkungen der Krise auf die den Patienten nahestehenden Personen ins Auge zu fassen. Oft sind diese durch die Krisensituation der ihr nahen Person sehr belastet und unter Umständen sind sie dankbar, auch zu einem Gespräch eingeladen zu werden – sofern die Patienten damit einverstanden sind. Wie wir im Beispiel von Frau O. gesehen haben, ergreifen sie oft die Initiative zur Kontaktaufnahme, zum Teil aus dem Bedürfnis zu helfen, zum Teil wohl auch aus eigener Verzweiflung. Aber auch die Empfehlung einer Familientherapie ist manchmal sinnvoll, insbesondere dann, wenn die auslösenden Faktoren in der Familie zu finden sind. Wie viel vom Erleben bezüglich Krisenanlass und -hintergrund in welchem Zeitraum verstanden wird, ist natürlich von Person zu Person verschieden. Wir sollten jedoch dafür Sorge tragen, dass die akute bedrohliche Angst sich sehr bald verringert. Es geht darum, immer und immer wieder hinzuschauen, solange, bis die zur Krise gehörenden Er-
fahrungen als Selbsterfahrungen mehrheitlich ins Selbstkonzept integriert worden sind. Damit geht dann die Krisenintervention langsam in eine Krisenbegleitung über oder möglicherweise auch in eine (oder wieder in die schon laufende) Psychotherapie. Das Befinden ist nun so, dass die Patienten sich wieder vornehmlich mit dem inneren Erleben beschäftigen. Fallvignette
Von der ohnmächtigen Verzweiflung zur erträglichen Trauer Bettina L. sass während mehrerer Sitzungen zusammengekauert auf einer kleinen Bank, hielt sich umschlungen und erzählte stockend von ihren belastenden Erfahrungen. Teilweise wurde sie von Bildern alter Verletzungen überschwemmt und musste viel weinen. Sie sagte immer wieder: »Ich muss Ihnen das Alles erzählen«. Manchmal wollte sie, dass die Therapeutin sie um die Schulter hielt. Manchmal saß sie auch, in eine Decke gewickelt, wie abwesend da. Indem sie dies alles mit der Therapeutin zusammen aushielt und indem sie auch nach Wegen suchte, die Krise zu bewältigen, wie z. B. die täglichen Spaziergänge, wandelte sich ihre Verzweiflung mit der Zeit in eine erträgliche Trauer um Verluste und all die erlittenen Verletzungen.
13.2.4
Zusammenfassung
Fassen wir das Wesentliche des Beziehungsangebotes von positiv beachtender und kongruenter Empathie für eine Klientenzentrierte Krisenintervention zusammen: 4 Eine Krise wird als ein bedrohliches Geschehen erlebt. Es entstehen Gefühle der Überforderung und des Ausgeliefertseins. Das Selbstwertgefühl sinkt. Deshalb ist es Ausdruck von Empathie und Bedingungsfreier Positiver Beachtung, Schutz zu bieten und Halt zu geben. Eine einfühlsame und erlaubende Haltung bietet Erleichterung. Konkret könnten z. B. zusätzliche Sitzungen oder Telefonkontakte angeboten werden. Man könnte auch einen Tee servieren, manchmal möchte jemand physisch gehalten
387 13.3 · Chancen und Gefahren von Krisen
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werden. Man kann einen Gegenstand mitgeben als Ausdruck des Trostes und als Halt. Man kann gemeinsam schauen, was Patienten zwischen den Stunden tun können, um sich besser zu fühlen. Der Körper reagiert in Krisen stark und ist gefährdet, oft ist er der hauptsächliche Symptomträger. Es ist wichtig, diesen Aspekt zu beachten und Patienten je nach dem zu ermutigen, einen Hausarzt aufzusuchen. Es ist sinnvoll, die Frage der Einnahme von Medikamenten zu klären. Auch Angebote, die die Körperwahrnehmung fördern, können entlastend wirken, z. B. »sensory awareness« oder Quigong. Krisen sind Erfahrungen der Diskontinuität. Kontinuität kann vermittelt werden, indem Hoffnung vermittelt wird. Auch in diesem Kontext kann ein mitgegebener Gegenstand Hilfe leisten, diesmal im Sinne der Vermittlung von Kontinuität. In einer Krise ist die Beziehung zu den eigenen Gefühlen schwierig. Sie können einen überschwemmen, manchmal ist man von ihnen abgeschnitten. Hier kann man die Patienten unterstützen, den richtigen Abstand zum Erleben zu finden, z. B. mit Hilfe der Technik des »Raum schaffen« beim Focusing. Bei sehr intensiven Gefühlen, wie Verzweiflung, Wut, Trauer, ist es wichtig, sich nicht vor ihnen zu fürchten, sondern sie nicht wertend und empathisch aufzunehmen. Es ist möglich, dass jemand in einer akuten Krise nicht mehr alleine zurechtkommt. Dann geht es darum, Verantwortung zu übernehmen, zum Beispiel abzuklären, wie tragfähig das Beziehungsnetz ist, und wenn möglich, dieses oder auch weitere professionelle Unterstützung einzubeziehen. Falls jemand suizidal zu sein scheint, wendet sich der Therapeut diesem Erleben einfühlend zu, und wenn gewährleistet scheint, dass seine Bedingungsfreie Positive Beachtung nicht beeinträchtig ist, spricht es dieses Erleben an und versucht abzuklären, was deswegen nötig ist (mehr dazu 7 Kap. 13.3.2). Die emotionale Intensität, die von einem Menschen in einer Krise ausgeht, stellt an unsere Kongruenz große Anforderungen. Achtsam sein
13
sollten wir vor allem in Bezug auf die eigenen Grenzen. Wir müssen sie ernst nehmen und gegebenenfalls die interprofessionelle Zusammenarbeit, d. h. Unterstützung im sozialen, psychiatrischen oder auch biologisch – medikamentösen Bereich suchen. Es ist notwendig, sich über diese Hilfsmöglichkeiten im jeweiligen beruflichen Umfeld und der jeweiligen Region zu informieren, um in solchen Situationen fachgerecht handeln zu können. 4 Ebenso sollten wir auf die Grenzen zwischen uns und den Patienten achten. Eine Person in der Krise löst mit ihren Gefühlen auch starke Gefühle in uns aus, die wir erkennen und benennen müssen: Inwieweit haben sie mit unseren eigenen Erfahrungen zu tun, inwieweit haben wir sie vom Patienten übernommen? Es ist deshalb nötig, dass wir uns auch um unsere Gefühle und unsere Bedürfnisse kümmern. Für die Sicherung unserer Grenzen sind Supervision oder Intervision da, aber auch andere Formen der Psychohygiene sind sinnvoll.
13.3
Chancen und Gefahren von Krisen
13.3.1
Grenzerweiterungen
> Eine Krise, auch eine künstlerische Krise deutet immer an: Du kannst noch weitergehen; Du bist noch nicht weit genug gegangen, Deine Grenzen sind noch nicht erreicht. (Meret Oppenheim)
Der Zustand extremer Inkongruenz in einer Krise, das Überwältigtwerden von Erfahrungen, die nicht ins Selbstkonzept integriert werden, aber nun auch nicht mehr dem Bewusstsein ferngehalten werden können, birgt besondere Möglichkeiten in sich. Da die Erfahrung des Scheiterns der Abwehr sehr bedrohlich ist und eine akute Erschütterung und ein inneres Durcheinander auslöst, ist eine Person in der Krise verletzlich und ihre üblichen Grenzen sind aufgeweicht. Damit wird das Angewiesensein auf andere schmerzliche Realität. In diesem Angewiesensein liegt die Chance einer Krise: Sind die ersten Schritte einer Krisenintervention ausge-
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Kapitel 13 · Krisenintervention
standen, entsteht, viel eher als sonst, Raum und die Bereitschaft, sich auf Neues in der therapeutischen Beziehung und im eigenen Leben einzulassen. In diesem Beziehungsraum wird es vor allem möglich zu trauern: um Verluste im Zusammenhang mit Rollenübergängen als kritische Lebensereignisse, wie wir es bei Herrn T. gesehen haben. Er trauerte um den Verlust seiner Unabhängigkeit und musste sich mit neuen Aufgaben auseinandersetzen. Diese Erfahrung machte auch eine 78-jährige Patientin, wie die folgende Fallvignette zeigt. Fallvignette
Eine Krise führt zu neuen Erfahrungen
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Frau U., 78 Jahre alt, hatte ihr Leben lang keine professionelle Hilfe beansprucht. Sie war im Gegenteil als Mitarbeiterin eines sozialen Hilfswerkes und Mutter von vier Kindern immer für andere da gewesen, wobei ihr Mann für sie stets eine zuverlässige Stütze gewesen war. Nachdem dieser einen Schlaganfall erlitten hatte, pflegte sie ihn aufopfernd, geriet dabei aber in eine Krise, in der sie sich zunehmend gelähmt fühlte. Sie kam auf Drängen eines Sohnes zu Gesprächen. An deren Beginn stand die Mühe mit ihren eigenen Grenzen. Sie beklagte sich, wie viel sie früher hätte leisten können und wie schwach sie sich nun fühle. Sie war irritiert über die nichtwertende Haltung der Therapeutin, selber eher gewohnt, alles sehr selbstkritisch zu betrachten. Allmählich konnte sie aber die Realität, dass sie nicht mehr so viel Kraft hatte, wahrnehmen und um den Verlust ihres früheren Leistungsvermögens trauern. Das Leiden ihres Mannes und sein geistiger Abbau sowie die Veränderung, die ihre Beziehung dadurch erfuhr, beschäftigte sie nun sehr. Sie spürte, wie ohnmächtig und hilflos sie in dieser Hinsicht war. Zusammen mit der Therapeutin philosophierte sie über Sinnfragen. Frau U. war sehr überrascht, dass die Gespräche sie entlasteten. Sie fasste wieder Mut und begann auch vermehrt Hilfe anzunehmen.
Es geht vielen Personen in Lebensveränderungskrisen wie Frau U. Sie versuchen, die Erfahrung, dass Veränderungen unausweichlich werden, abzuwehren.
In solchen kritischen Phasen wird man mit den eigenen Bewertungen und starren Vorstellungen darüber konfrontiert, wie man die sich zeigenden Aufgaben zu bewältigen hat, wer und was man zu sein und zu bleiben hat. Die sich ankündigenden – auch biologischen Veränderungen – versucht man zu ignorieren. Angst und Schwäche werden als bedrohlich erlebt, und so wird das Thema der Überforderung zentral. Können Selbstkonzeptanteile, wie hier Schwäche, integriert werden, erschließt sich Neues für die Zukunft. Auch die Gefühle in einer traumatischen Erfahrung werden zunächst abgewehrt. Es fiel Frau U. anfänglich schwer, das Erschrecken ob des plötzlichen Verlustes der Gesundheit ihres Mannes zuzulassen und die damit verbundenen Ohnmachtsgefühle ernst zu nehmen. Die Anerkennung ihrer Mühe damit und dann der Gefühle der Ohnmacht durch die Therapeutin ermöglichten ihr, sich selber darin ernst zu nehmen. Sie war dann fähig, auch diese Erfahrungen als Teil ihrer Geschichte anzunehmen. Bei schweren Psychotraumata ist dieser Prozess ungleich schmerzhafter. Biermann-Ratjen (2003b, S. 134) schreibt: »Das einzig Positive am Wiederauftauchen der schrecklichen und unerträglichen Erfahrung von Ohnmacht und Hilflosigkeit ist, dass auch mit ihr die Möglichkeit verbunden ist, von einem anderen Menschen positiv beachtet zu werden«. Was das für die therapeutische Beziehung konkret bedeuten kann, beschreibt Lottaz (2002) anhand der psychotherapeutischen Arbeit mit Personen, die Folter erlitten haben. Er sagt wohl: »Heilsein bekommt viel eher die Bedeutung, zusammen mit anderen Menschen großes Leid auszuhalten, als es wegzumachen« (a. a. O., S. 78), es wird aber auch deutlich nachvollziehbar, wie anstrengend es ist, Bedingungsfreie Positive Beachtung und Empathie angesichts des unendlichen Leids und der zum Teil befremdlich erscheinenden Bewältigungsstrategien aufrechtzuerhalten. Angesichts dieser teilweisen Fremdheit wird offenkundig, dass es auch in der Therapie zu Krisen kommen kann, die den therapeutischen Prozess erheblich gefährden. Es braucht die Anstrengung von Therapeut und Patient, um aus diesen Krisen zu lernen und den Prozess auf einer neuen Ebene weiter-
389 13.3 · Chancen und Gefahren von Krisen
führen zu können. Indem Lottaz sich mit den schwierigen Aspekten der therapeutischen Beziehung intensiv beschäftigte, verstand er z. B. einen zentralen Aspekt in der Bewältigung schwerer Psychotraumata. Für Personen, die schwer missbraucht und misshandelt worden sind, ist folgendes enorm wichtig: »Öffentlich-Machen, was öffentlich ist – und damit auch wieder zu ermöglichen, dass Privates endlich wieder privat werden kann« (a. a. O., S. 79). Krisen in der Psychotherapie sind sehr belastend. Der Umgang mit ihnen erfordert, dass man sich als Therapeut den eigenen Gefühlen und Bewertungen stellt und dann schaut, wie das Verstandene als für die Beziehung förderlich eingebracht werden kann. Fallvignette
»Gewinn« aus der Krise Hier soll nun noch mitgeteilt werden, was Bettina L. aus ihrer schweren Krise gewinnen konnte. Sie fühlte eine große Trauer über all das Belastende, das sie als Mitglied ihrer Ursprungsfamilie erlebt hatte. Sie suchte nach Formen, diese auszudrücken. So begann sie Vorhänge, Handtücher, Bettwäsche und Bändel, die sie aus dem Elternhaus mitgenommen hatte, zu neuen Decken und zu Stoffskulpturen zu verarbeiten. Dies veränderte allmählich ihre Gefühle zum Erlebten. Sie begann den »Willi Selber« (d. h. den »ich weiß selber, was ich will«), wie sie in der Familie in einem entwertend gemeinten Sinn genannt worden war, als zu sich gehörig zu schätzen und war froh, dass »er« ihr half, Dinge zu wagen, die sie sich bis anhin versagt hatte. Dafür und zum Zulassen anderer schwieriger Erfahrungen beanspruchte sie weiter psychotherapeutische Begleitung.
13.3.2
Zuspitzung
Krisen können sich manchmal für die betroffenen Personen zu großen Belastungen entwickeln. Die Not kann so groß werden, dass ein Suizid als Ausweg in Betracht gezogen wird. Der Umgang mit akut suizidalen Personen stellt innerhalb des Krisengeschehens eine spezielle Herausforderung dar.
13
Über Suizidalität und Suizidverhütung gibt es viel empfehlenswerte, informative Literatur, auf welche im Folgenden Bezug genommen wird (z. B. Freytag & Witte 1997; Pöldinger & Stoll-Hürlimann, 1980; Sonneck, 1997). Es werden speziell jene Aspekte herausgegriffen, die es erleichtern, innerhalb der Krisenintervention akute Suizidalität zu erkennen. Zu beachten sind insbesondere folgende Punkte: 4 Als Risikogruppen gelten: depressive Personen, Alkohol- und Drogensüchtige, alte, einsame, chronisch kranke Menschen, vor allem wenn die chronische Krankheit mit Schmerzen verbunden ist; weiter Menschen, die durch den Verlust einer geliebten Person oder den Verlust der Sicherheit, z. B. durch Arbeitslosigkeit, in eine akute Krise geraten sind. Ihnen gemeinsam ist die Selbstbeurteilung: »Ich bin nichts wert«. 4 Wenn wir unsicher sind, ob eine Person an Suizid denkt, müssen wir sie danach fragen, denn Selbstmordgefahr lässt sich entdecken und behandeln. Im Inneren einer suizidalen Person findet ein Kampf zwischen Leben- und Sterbenwollen statt. Die Balance kann sich verändern, vor allem, wenn über die Suizidphantasien gesprochen werden kann. 4 In der Regel geht der suizidalen Handlung eine suizidale Entwicklung voraus. In einem ersten Stadium, dem der Erwägung, wird der Suizid als eine mögliche Problemlösung in Betracht gezogen. Dabei spielen einerseits suggestive Momente, z. B. Berichte über die Suizide anderer, eine sehr große Rolle, andererseits aber auch Aggressionen, welche nicht nach außen gebracht werden können (»ohnmächtige Wut«). Ist der Suizid einmal in Betracht gezogen, so kommt es in der Folge zu einem Kampf zwischen selbsterhaltenden und selbstzerstörenden Kräften. Vor dem Hintergrund dieses Kampfes sind auch die Appelle oder Notrufe zu verstehen, wie das Reden über Selbstmord, leise Andeutungen in diese Richtung, aber auch Drohungen und Voraussagen. Diese Appelle im zweiten Stadium der Abwägung müssen ernst genommen werden. Sie sind eine Chance, mit der suizidalen Person in Kontakt zu sein und sie zu unterstützen und zu schützen. In einem dritten Stadium kommt es
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Kapitel 13 · Krisenintervention
schließlich zum Entschluss. Dadurch tritt eine Beruhigung ein, die der Umgebung meistens auffällt. Leider wird daraus oft der falsche Schluss gezogen, dass die Krise und damit die Gefahr vorbei sei. Manchmal resultiert ein Suizid aber auch aus einer plötzlich sich verdichtenden Krise, bei der die Zeit eine enorme Rolle spielt. Ringel (zitiert nach Sonneck, 1997, S. 155 ff.) spricht von einem präsuizidalen Syndrom, das charakterisiert sei durch 5 zunehmende Einengung, z. B. Einengungsgefühle, Einengung der persönlichen Möglichkeiten, der affektiven Ansprechbarkeit, der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Verhaltens, 5 gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggressionen sowie 5 Selbstmordphantasien. Werden Suizidphantasien aktiv intendiert, sind sie lediglich ein Alarmsignal. Drängen sie sich jedoch passiv auf und konkretisiert sich die Art und Durchführung der Suizidhandlung, so besteht höchste Gefahr. Die Kombination von Suizidgedanken mit affektiver Einengung (fehlende affektive Resonanz, mangelndes affektives Ansprechen) weist deutlich auf Suizidalität hin. Im Umgang mit akut suizidalen Menschen gelten im Wesentlichen und in akzentuierter Form die Prinzipien der Krisenintervention. Es geht darum, die suizidale Person in ihrem Erleben zu akzeptieren, ihren inneren Bezugsrahmen zu verstehen, was auch heißt, Hoffnung zu vermitteln und ihr Halt und wenn nötig Schutz zu bieten. Zentral ist auch hier eine tragfähige Beziehung. Sie bietet die Chance, dass die affektive Einengung gelockert wird. Dies ist ein unabdingbarer Schritt, damit die suizidale Person sich langsam wieder in Richtung Leben bewegen und die Hilfestellungen, die dabei nötig sind, auch annehmen kann. Ganz wichtig ist die Vernetzung, die Zusammenarbeit mit den nahestehenden Personen und mit anderen professionellen Stellen, auch um abzuklären, ob Medikamente oder ob die Überweisung an eine Kriseninterventionsstelle oder in die Klinik notwendig sind. Auf jeden Fall sollte man, wenn immer möglich, das Umfeld der Betroffenen einbeziehen. Seine Reaktion ist für
die Bewältigung einer suizidalen Krise von besonderer Bedeutung. Es kann helfen, der großen Gefahr der Isolation entgegenzuwirken. ! Grundsätzlich geht es im Umgang mit Suizidgefährdeten nicht primär darum, eine Person daran zu hindern, sich selbst zu töten, sondern um die Frage, wie ihre Perspektive und ihre Lebensumstände verändert werden können, damit das Leben für sie wieder lebenswert wird. Die Frage ist, wie eine Person anstelle des destruktiven »sich das Leben nehmen«, sich Leben nehmen kann, das Lebendigkeit und Beziehung bedeutet. Es ist evident, dass das weder die betroffene Person alleine schaffen kann, noch, dass auf Dauer eine Einzelne in der Betreuung dieser Person wird ausreichen können. Es ist also gerade in der Hilfe für Suizidgefährdete notwendig, dass sich der Psychotherapeut auch immer der Hilfe anderer Personen versichert.
Krisenintervention und Suizidverhütung sind nicht identisch. Wer jedoch Krisen auffängt, kann verhindern, dass sich die Krise zum präsuizidalen Syndrom verdichtet. Und wenn Suizidalität besteht, kann eine Krisenintervention vielleicht verhindern, dass in einem Moment eine Person stirbt, die möglicherweise schon wenige Tage später die Sache anders gesehen hätte. Aber es gibt Grenzen. Wir sollen unsere Hilfe anbieten, aber nicht aufzwingen. Wir können eine Person nicht zum Leben zwingen, wir können sie nur darin unterstützen, sich selber nicht aufzugeben.
13.3.3
Schlussbemerkung
Das Anliegen dieser Ausführungen war, das Erleben in und den Umgang mit Krisen – mit eigenen und mit denjenigen, denen wir in der therapeutischen Arbeit begegnen – auf dem klientenzentrierten Hintergrund zu reflektieren und damit die Handlungskompetenz in diesem Bereich zu stärken. Krisen können umso eher sinnvoll überwunden werden und damit zum persönlichen Wachstum beitragen, als für die Benennung der dazugehörenden Erfahrungen auch der entsprechende Raum und das entsprechende Beziehungsangebot bestehen. Je si-
391 13.4 · Weiterführende Literatur
cherer diese Basis ist, umso eher können sie ins Selbstbild integriert werden. Dadurch verändern sich das Sein mit anderen und das Sein in der Welt. Wenn Dein Bogen zerbrochen ist und du hast keine Pfeile mehr, dann schieße schieße mit deinem ganzen Sein. (Japanisches Sprichwort)
? Übungsfragen 5 Welche Rolle spielt die Zeit bei der Definition einer Krise? 5 Was unterscheidet eine traumatische Krise von einer Lebensveränderungskrise? 5 Welches Syndrom kennzeichnet eine posttraumatische Belastungsreaktion? 5 Welche Rolle spielen körperliche Symptome als Ausdruck einer Krise? 5 Was unterscheidet eine Notfall- von einer Krisenintervention? 5 Welche drei Stufen bzw. Phasen können bei einer Krisenintervention unterschieden werden? 5 Geben Sie ein Beispiel dafür, dass eine Krise zu einer Grenzerweiterung führen kann. 5 Was versteht man unter dem präsuizidalen Syndrom nach Ringel? 5 Wie verhalten Sie sich als Krisentherapeut, wenn ein Patient seine Suizidgedanken nur indirekt andeutet? 5 Welche Patienten gelten bezüglich eines Suizides als Risikogruppen?
13.4
13
Weiterführende Literatur
Kunz, S., Scheuermann, U., Schürmann, I. (2004). Krisenintervention. Ein Fallorientiertes Arbeitsbuch für Praxis und Weiterbildung. Weinheim und München: Juventa. (Einfühlsam beschriebene Beispiele von Personen, die aus verschiedensten Krisenanlässen eine Kriseninterventionsstelle aufsuchen) Sonneck, G. (Hrsg.) (1997). Krisenintervention und Suizidverhütung, ein Leitfaden für den Umgang mit Menschen in Krisen. Wien: Facultas. (Ein vielseitiges Standardwerk)
14 14
Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden C. Schmeling-Kludas
14.1
Patienten und Indikationen – 393
14.3
Praktisches Vorgehen
14.1.1
14.3.1 14.3.2
14.1.2
Die körperliche Komorbidität und ihre Folgen – 393 Indikationen – 394
Allgemeine Grundsätze – 399 Indikationsbezogene Vorgehensweisen – 401
14.2
Ziele
14.4
Weiterführende Literatur
14.1
Patienten und Indikationen
14.1.1
Die körperliche Komorbidität und ihre Folgen
– 398
Unter der Begleitung von oder dem psychotherapeutischen Umgang mit körperlich Kranken und Sterbenden wird ein breites Spektrum von Interventionen verstanden, die den psychischen Zustand von körperlich Kranken beeinflussen können. Hierzu zählen »normale« Aufklärungs- und entlastende Gespräche mit dem Patienten ebenso wie Ausbildungs- oder Supervisionsangebote für Ärzte und Pflegekräfte oder auch spezifische psychologisch-psychotherapeutische Interventionen, z. B. solche zur Verbesserung der Verträglichkeit von Zytostatikatherapien bei Krebserkrankungen (Schmeling-Kludas & Eckert, 2000). Viele dieser Interventionen orientieren sich an dem gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot. Unter den Bezeichnungen »spiegelnde Gesprächsführung« oder »aktives Zuhören« hat es sich insbesondere auch bei der ärztlichen und pflegerischen Betreuung Schwerkranker und Sterbender seit Jahrzehnten bewährt (z. B. Koch & Schmeling, 1980; Schmeling-Kludas, 2004, 2005a, 2005b). Wir wollen uns in diesem Kapitel jedoch mit Gesprächspsychotherapie im engeren Sinne befassen. Definition Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden bedeutet, dass ein ausgebildeter psychologischer oder ärztlicher Gesprächspsychotherapeut dem Patienten ein gesprächspsychotherapeutisches Beziehungsangebot macht mit dem Ziel eine psychische Stabilisierung zu erreichen und/oder Inkongruenz zu reduzieren.
– 399
– 407
Inkongruenzen bzw. psychotherapeutisch günstig zu beeinflussende seelische Beeinträchtigungen treten bei schweren und fortgeschrittenen Erkrankungen und bei chronischen Leiden naturgemäß besonders häufig auf. Beispielhaft genannt seien Herzinfarkt und Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Krebsleiden oder chronische Lungenerkrankungen – alle sehr häufige Gesundheitsstörungen, die überwiegend im höheren Lebensalter auftreten. Im Einzelfall können aber auch leichtere Gesundheitsstörungen Psychotherapiebedarf auslösen (7 Kap. 14.1.2), die – zumindest auf den ersten Blick – kaum Belastungen mit sich zu bringen scheinen. Nicht selten stellen auch die Behandlungsnotwendigkeiten mehr als die Erkrankung selbst eine schwerwiegende Belastung dar, man denke nur an Organtransplantationen, die Behandlung maligner Herzrhythmusstörungen mit implantierbaren Defibrillatoren, die Chemotherapie bei Krebserkrankungen oder die Dialyse bei chronischer Niereninsuffizienz. Organische Auswirkungen der Krankheit bzw. ihrer Therapie. Immer ist die potenzielle Verwoben-
heit seelischer und körperlicher Prozesse besonders zu bedenken, da viele Erkrankungen oder die zu ihrer Behandlung eingesetzten Verfahren organische affektive Störungen auslösen können. So tre-
394
Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
ten bei bestimmten in der Chemotherapie von Krebs verordneten Präparaten gehäuft depressive Verstimmungen auf, die nicht reaktiver Natur sind, d. h. nicht eine Folge der psychischen Auseinandersetzung und Bewältigung der Erkrankung und ihrer Behandlung, sondern unmittelbare organische Nebenwirkung der Medikamente auf das Gehirn. Wichtig ist es des Weiteren, auf organische intellektuelle Beeinträchtigungen zu achten, da bereits leichte organische kognitive Störungen, Delire oder demenzielle Entwicklungen, wie sie z. B. bei Kreislauferkrankungen in Form einer vaskulären Demenz auftreten können, die Möglichkeiten von Psychotherapie begrenzen oder diese ganz unmöglich machen können. Körperliche Beeinträchtigungen des Patienten.
Eine andere wichtige Folge von Körpererkrankungen kann darin bestehen, dass es den Patienten unmöglich ist, wie sonst üblich den Psychotherapeuten in seinen Praxisräumen regelmäßig aufzusuchen. Die Therapie muss u. U. im Krankenhaus, im Pflegeheim, in einer onkologischen oder diabetologischen Schwerpunktpraxis oder in der Ambulanz eines Universitätsklinikums durchgeführt werden. Die Terminplanung muss auf den körperlichen Zustand des Patienten und die aktuellen Behandlungsnotwendigkeiten Rücksicht nehmen. Entsprechend flexibel muss der Psychotherapeut sein Angebot unterbreiten. Interdisziplinäre Kooperation. Ein weiterer bedeut-
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samer Aspekt der Psychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden ist der, dass die Patienten in der Regel mit mindestens einem ärztlichen Behandler der Körperkrankheit eng verbunden sind. Angesichts der von den Erkrankungen oder ihrer Behandlung ausgehenden Bedrohung ist diese Beziehung zum »Körperarzt« für manche Patienten weitaus wichtiger als die zum Psychotherapeuten, auch in emotionaler Hinsicht. So stellt beispielsweise für viele Patienten mit implantiertem Defibrillator zur Behandlung potenziell tödlicher Herzrhythmusstörungen die Idealisierung des behandelnden Kardiologen bzw. Rhythmologen einen wichtigen Teil ihrer Angstbewältigung dar. Der Psychotherapeut tut gut daran, diese Idealisierung nicht in Frage zu stellen, sondern zu unterstützen (Boll-Klatt & SchmelingKludas, 2005).
! Nicht nur der Körperarzt des Patienten muss die Durchführung der Psychotherapie unterstützen, sondern ebenso der Psychotherapeut die medizinische Behandlung. Entsprechend sollte der Psychotherapeut auch von sich aus aktiv den Austausch mit den somatisch zuständigen Ärzten suchen. Einem solchen Austausch stimmen erfahrungsgemäß praktisch alle Patienten zu, wenn sie darum gebeten werden.
Mögliche Folgen der körperlichen Erkrankungen 5 Organische affektive Störungen 5 Organische kognitive Störungen 5 Unmöglichkeit, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen 5 Flexible Terminplanung je nach körperlichem Zustand und Behandlungsnotwendigkeiten 5 Beziehung des Patienten zum »Körperarzt« oft auch emotional sehr bedeutsam 5 Notwendigkeit, mit ärztlichen Behandlern der Körpererkrankungen gut zu kooperieren
14.1.2
Indikationen
Idealtypisch kann man vier wesentliche Indikationen für die Durchführung einer Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden unterscheiden, wobei Mischformen bzw. fließende Übergänge möglich sind.
Emotionale Belastung durch die Tabuisierung von bestimmten Problemund Lebensbereichen Schwere und chronische bzw. unheilbare Krankheit, Behinderung, körperliche Entstellung und nahender Tod sind in den westlichen Zivilisationen tabuisiert. Solche Tabuisierungen sind in der Regel durch heftige Gefühle bedingt, die durch die jeweilige Situation ausgelöst werden. Die Betroffenen werden nicht selten nach und nach von anderen Menschen gemieden und sind so einer zunehmenden sozialen Isolation ausgesetzt. Selbst solchen Ärzten und Pfle-
395 14.1 · Patienten und Indikationen
gekräften, die schwerpunktmäßig in derartig tabuisierten Bereichen tätig sind, z. B. in onkologischen Abteilungen oder auf Intensivstationen, fällt das Gespräch mit den Patienten über ihre emotionale Situation oft sehr schwer (Schmeling-Kludas, 2005a). Für die körperlich Kranken und Sterbenden ist die soziale Isolierung zusätzlich belastend, da bei schweren Krankheitssituationen immer wieder das Bindungssystem aktiviert wird, der Betroffene also versuchen wird, eine Beziehung zu einer Schutz gebenden Person aufzunehmen (Boll-Klatt, 2005a). Aufgrund ihrer Ausbildung scheinen Psychotherapeuten besser als viele andere gerüstet, Patienten in diesen Situationen beizustehen und die im Kontakt mit ihnen entstehenden Affekte auszuhalten. Von daher verwundert es nicht, dass in derartig tabuisierte Lebensbereiche häufig zuerst Psychotherapeuten vorgedrungen sind (Schmeling-Kludas & Eckert, 2000). Eine Psychotherapie kann für Menschen, die tabuisierten Erfahrungsbereichen ausgesetzt sind, auch dann hilfreich sein, wenn ihnen ihre Affekte weit gehend bewusst sind, also keine ausgeprägten Inkongruenzen vorliegen. Das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten kann dazu ermutigen, auch heftige und schwierige Gefühle auszusprechen, was zu einer erheblichen emotionalen Entlastung beitragen kann. Bereits bei der Ankündigung, dass ein Psychotherapeut hinzugezogen wird, sollte der somatische Behandler, bei der Kontaktaufnahme spätestens der Psychotherapeut selbst deutlich machen, dass der Patient nicht als psychisch krank eingestuft wird, da sich Patienten sonst u. U. einer zusätzlichen Stigmatisierung ausgesetzt sehen (»Jetzt habe ich schon Krebs, und nun denken die auch noch, ich bin verrückt.«) Emotionale Belastung kann in tabuisierten Lebensbereichen auch dadurch ausgelöst oder verstärkt werden, dass bei den betroffenen Patienten Verhaltensunsicherheiten auftreten, z. B. im Hinblick auf den Sterbevorgang oder auch bei unheilbaren Krankheiten bei Vätern oder Müttern kleiner Kinder: Wie soll man mit diesen umgehen? Was soll man ihnen erzählen? Was können sie verstehen?
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Inkongruenz durch veränderte Körperund Affektwahrnehmung Entsprechend dem Modell von Damasio zur Emotionswahrnehmung (auf den unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion brauchen wir hier nicht näher einzugehen) reagiert die zuständige emotionsauslösende Region des Gehirns auf Auslösereize, indem sie ein Spektrum von Körper- und Gehirnreaktionen freisetzt, das die jeweilige Emotion ausmacht, z. B. Veränderungen von Blutdruck, Herzschlag, Atmung, Muskeltonus usw. Die so verursachten Veränderungen des Körperzustandes werden an das Großhirn zurückgemeldet, und erst dann, mit der mehr oder weniger bewussten Wahrnehmung der Körperveränderungen, kann die jeweilige Emotion wahrgenommen und bewusst erlebt werden (Damasio, 2000). Insbesondere bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Lungen können nun Modifikationen körperlicher Funktionsabläufe auftreten, die den durch Emotionen ausgelösten Veränderungen sehr ähnlich sind. Es kommt z. B. aufgrund einer Sauerstoffminderversorgung des Organismus zu einer organisch bedingten Beschleunigung des Herzschlages oder der Atmung, wie sie auch im Rahmen eines Wutoder Angstanfalls beobachtet wird. Die genannten organischen Veränderungen lösen ihrerseits häufig Angst aus, der zumindest teilweise eine wichtige Schutzfunktion zukommt: Der betroffene Patient wird veranlasst, seine aktuelle körperliche Tätigkeit zu reduzieren, also den Sauerstoffverbrauch des Organismus an die veränderte Herz- oder Lungenfunktion anzupassen, um sein Überleben zu sichern. Zusätzlich wird die Situation dadurch kompliziert, dass z. B. bei einem Lungenkranken mit schwerer Ateminsuffizienz ein heftiger Affekt, wie Ärger, die Funktion von Herz und Lunge so verändern kann, dass das Verhältnis von Sauerstoffbedarf und -angebot noch ungünstiger wird, z. B. durch die im Rahmen des Ärgers auftretende Beschleunigung der Atmung und Erhöhung des Muskeltonus. Dies löst wiederum Angst aus. Entsprechend können manche Patienten nur noch schwer unterscheiden, woher die erlebte Angst/Atemnot kommt. Die Patienten können sich nicht mehr verstehen, es resultieren Irritationen und Inkongruenz. Das Fallbeispiel macht das deutlich:
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Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
Fallvignette
Lungenkrankheit und Affekt erleben
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Bei Herrn A., einem 48-jährigen Steuerberater, hatte sich aus unklaren Gründen innerhalb von zwei Jahren eine schwere Lungenfibrose entwickelt. Diese Krankheit reduziert die Möglichkeit der Lunge, Sauerstoff an das Blut weiterzugeben. Als Folge davon werden die Patienten kurzatmig, sind über kurz oder lang bei Belastungen und später auch in Ruhe auf Sauerstoffzufuhr angewiesen und entsprechend in ihren körperlichen Möglichkeiten erheblich reduziert. Herr A. konnte schon in Ruhe nicht mehr ohne Sauerstoffzufuhr über eine Nasensonde auskommen. Er war bereits auf eine Liste für eine Lungentransplantation aufgenommen worden. In einer Lungenklinik, wo Herr A. wegen seiner Erkrankung behandelt wurde, äußerte er dem Arzt gegenüber, dass er eine Angststörung habe. Er habe sich belesen, und viele Symptome träfen auf ihn zu. Er vermeide inzwischen bestimmte Situationen (es ging dabei um Tätigkeiten, die mit der Morgentoilette zu tun hatten) und wisse, dass man diese Angststörung mit Psychotherapie behandeln und dadurch seine Lebensqualität sicherlich verbessern könne. Einem konsiliarisch hinzugezogenen Psychosomatiker schilderte der Patient seine Situation wie folgt: Wenn er morgens aufwache, habe er schon Sorge, wie er den Toilettengang, das Waschen oder ggf. auch Duschen und insbesondere die Haarwäsche bewältigen könne. Schon auf dem Weg ins Bad werde er kurzatmig, gerate in Angst und erleide manchmal regelrechte Panikattacken mit Todesangst. Nach der Morgentoilette könne er denselben Weg zurück zu seinem Sessel relativ problemlos bewältigen. Daran sehe man ja, dass es nicht um die Folgen der Lungenerkrankung, sondern um eine Angststörung gehe. Er habe sich belesen und festgestellt, dass sein morgendliches Hinauszögern alle Charakteristika von Vermei-
Inkongruenz im Rahmen der Krankheitsbewältigung Psychotherapie kann dazu beitragen, Inkongruenzen als Folgen von Bewältigungsschwierigkeiten zu überwinden bzw. Fehlanpassungen zu verhindern.
dungsverhalten aufweise. Offenbar mache er also ständig etwas falsch, deswegen hadere er mit sich und sei in hohem Maße unzufrieden. So wie der Zustand seiner Lungenerkrankung sei, müsse er doch eigentlich einigermaßen bequem zurechtkommen können. Deswegen habe er den Wunsch, eine Psychotherapie zu machen, um die Panikattacken zum Verschwinden zu bringen. Er hoffe durch eine solche Behandlung auf eine Verbesserung seiner Lebensqualität. Angesichts seines Zustandes sei dies derzeit sicherlich nur stationär möglich. Der Psychosomatiker sagte die Aufnahme in der psychosomatischen Klinik zu und ging damit unausgesprochen auf die Vorstellungen des Patienten von der Psychotherapie ein: Der Patient und sein Behandler hatten sich quasi darauf geeinigt, dass der Patient etwas falsch mache, weswegen es zu eigentlich überflüssigen Angstanfällen käme, und dass es in der Therapie darum gehen würde, wie er es künftig richtig machen könne. Wir werden weiter unten auf die Durchführung und den Verlauf der weiteren Therapie zurückkommen. Festgehalten sei aber zunächst, dass der Patient inkongruent war: Äußerlich war Herr A. ein kräftiger, stattlicher Mann, der seine ständige Kurzatmigkeit und Angewiesenheit auf Sauerstoff mit aufrechter Körperhaltung und Würde ertrug. Sein Gesichtsausdruck war sehr ernst und angestrengt, dabei sehr gefasst. Zugleich war er aber mit sich selbst uneins, verletzlich und ängstlich. Er war mit einem Erleben und Empfinden beschäftigt, das – anders als Würde und Standhaftigkeit – nicht zu seinem Selbstbild passte. Es sei bereits hier darauf hingewiesen, dass bei dieser Indikation Grundkenntnisse des Psychotherapeuten von der körperlichen Erkrankung nicht ausreichen, dass dieser vielmehr die körperlichen Veränderungen im Detail kennen muss.
Dabei sind allerdings auch problematisch wirkende Bewältigungsformen, wie Verleugnung, nicht einfach mit Inkongruenz gleichzusetzen: Wenn Verleugnung gelingt, ist der Patient zwar mit einem Erleben oder Empfinden beschäftigt, das nicht zu
397 14.1 · Patienten und Indikationen
seinem Selbstbild passt, und zwar in der Form, dass er es verleugnet. Aber er spürt die Inkongruenz nicht z. B. in der Form von Angst. In unserem zeitlich hochgetakteten und aufgesplitterten Gesundheitssystem spielen oft Informationsdefizite auf Patientenseite oder widersprüchliche Informationen von verschiedenen Ärzten eine wesentliche Rolle bei Bewältigungsproblemen. Im Einzelfall ist aber nicht nur die aktuelle Belastung durch die körperliche Krankheit oder den bevorstehenden Tod entscheidend, sondern auch die Biographie des Betroffenen. Besonders ist auf folgende Konstellationen zu achten: 4 Körperliche Krankheiten und die daraus resultierenden Behandlungsnotwendigkeiten können bei Überschreiten der Verarbeitungskapazität zum psychischen Trauma werden. Die Psychotraumatologie ist derzeit ein Modethema, und als Folge davon wird die Häufigkeit von Vollbildern posttraumatischer Belastungsstörungen bei körperlich Kranken nach unserem Eindruck zum Teil erheblich überschätzt, z. B. bei Herzkranken (Boll-Klatt, 2005b) und in der Onkologie (Schmeling-Kludas, 2005c). Unbestreitbar ist aber, dass Traumafolgestörungen bei körperlich schwer kranken und sterbenden Patienten vorkommen, nicht selten z. B. bei Patienten, die reanimiert oder beatmet wurden oder die bei der Behandlung mit einem implantierten Defibrillator häufigen Elektroschocks ausgesetzt sind (Boll-Klatt & Schmeling-Kludas, 2005; Schmeling-Kludas 2005d). Naheliegenderweise sind besonders solche Patienten betroffen, die schon früher in ihrem Leben psychischen Traumatisierungen ausgesetzt waren. Psychotraumatologische Kenntnisse des Psychotherapeuten sind deswegen bei der Behandlung körperlich schwerkranker Patienten unverzichtbar. 4 Vor allem bei lang anhaltenden krankheitsbedingten Belastungen treten regelhaft Probleme mit nahen Bezugspersonen auf, die ja, als Angehörige eines schwerkranken oder sterbenden Menschen, in der Regel ebenfalls emotional stark betroffen sind. Der Psychotherapeut stellt in solchen Fällen für den Patienten ein nicht involviertes Gegenüber dar, dem auch schwierige Erfahrungen mit Angehörigen und daraus resultierende Enttäuschungen, Ängste, Sorgen usw.
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uneingeschränkt mitgeteilt werden können. Über das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot hinaus kann der Therapeut den Patienten und seine Angehörigen zum Umgang mit der Situation beraten, z. B. auf die Vorteile eines offenen Austausches über Diagnose und Prognose auch bei unheilbaren Erkrankungen hinweisen (Schmeling-Kludas, 2005a). 4 Manche Menschen geraten durch ihre körperliche Krankheit, u. U. auch im Kontext weiterer Verlusterlebnisse, wie z. B. Berentung oder Verlust nahe stehender Personen, in eine für sie unlösbare psychische Problematik, die zu Inkongruenz führt. Die Psychoanalytiker sprechen hier von einer aktuellen unbewussten Konfliktdynamik im Rahmen eines sog. Aktualkonfliktes (Heuft, Hoffmann, Mans, Mentzos & Schüßler, 1997). Häufig geht es dabei um Probleme der Selbstwertregulation, die die Betroffenen unvorbereitet treffen, weil sie sich auf die mit dem Alter und der Krankheit einhergehenden Zumutungen noch nicht eingestellt haben. In Abgrenzung zu bewussten Problemen der Krankheitsbewältigung ist eine zunächst unbewusste (allenfalls bewusstseinsnahe) Konfliktdynamik entscheidend, oder – in der Sprache der Gesprächspsychotherapie – eine spezielle Inkongruenz.
Von der körperlichen Krankheit mehr oder weniger unabhängige psychotherapiebedürftige Probleme Es kommt mit fließenden Übergängen zu der zuletzt geschilderten Situation gar nicht so selten vor, dass durch eine schwere körperliche Krankheit eine bislang kompensierte bzw. latente psychische Problematik offen zutage tritt (z. B. dass ein AutonomieAbhängigkeits-Konflikt durch die bevorstehende Abhängigkeit von Ärzten und Pflegekräften aktualisiert wird) oder dass zufällig das Erstauftreten einer psychischen Störung mit dem Vorliegen einer körperlichen Krankheit zusammentrifft. Auch diese Konstellation ist eine Indikation für die Durchführung einer Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken, manchmal sogar auch noch in sehr fortgeschrittenen Stadien der körperlichen Erkrankung. Für alle genannten Indikationen ist zu beachten, dass das Angebot einer Psychotherapie angemessen
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Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
an den Patienten herangetragen wird, denn oft sind es zunächst die behandelnden Ärzte und nicht die Patienten selbst, die auf den Gedanken kommen, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Häufig veranlassen Ängste, depressive Verstimmungen, inadäquat erscheinende Affekte, die Diskrepanz zwischen objektiven Befunden und dem Beschwerdeerleben des Patienten oder auch Suizidgedanken Ärzte der verschiedenen Fachgebiete einen Psychotherapeuten hinzuzuziehen (Schmeling-Kludas & Eckert, 2000). Wie immer in der Psychotherapie entscheidet aber nicht allein eine Indikation, sondern letzten Endes der Patient, ob eine Therapie durchgeführt wird. An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass die gelegentlich geäußerte Befürchtung, durch Psychotherapie könne die körperliche Situation von Patienten verschlechtert werden, nach meiner Erfahrung nicht zutrifft, wenn der psychotherapeutische Kontakt gelingt. Fallvignette
Zustandsverschlechterung durch Psychotherapie?
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Frau B. war eine in der Jugend von ihrem Vater durch körperliche Gewalt misshandelte Patientin, bei der es nach einer Operation zu bei Bewusstsein erlebten Wiederbelebungsmaßnahmen (Herzmassage, Defibrillation) kam, wodurch eine Retraumatisierung erfolgte. Ein psychosomatischer Konsiliararzt sprach mit der Patientin mehrfach über ihre Situation, bis der behandelnde Internist wegen Blutdruckentgleisungen die Gespräche verbot. Die Patientin berichtete mir später, in welche schwierige Situation sie dadurch geraten war, dass ihr der als hilfreich erlebte Gesprächspartner plötzlich nicht mehr zur Verfügung stand. Wenn es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den Blutdruckspitzen und der psychischen Situation gab, dann waren es die Affekte selbst, die die Blutdruckanstiege auslösten, und nicht die Gespräche darüber. Es wäre also wichtig gewesen, dass der Psychotherapeut dem Internisten erläutert hätte, dass sein Gesprächsangebot – bei vorhandener Aufgewühltheit der Patientin – eher günstige Effekte auf den Blutdruck erwarten ließ.
Indikationen einer Psychotherapie 5 Emotionale Belastung in tabuisierten Erfahrungsbereichen 5 Inkongruenz durch veränderte Körperwahrnehmung 5 Inkongruenz im Rahmen der Krankheitsbewältigung: 5 psychische Traumatisierung 5 Rückzug der Angehörigen 5 »Aktualkonflikt« 5 Von der körperlichen Erkrankung mehr oder weniger unabhängige psychotherapiebedürftige Probleme Entscheidend bei allen Indikationen: Der Wunsch des Patienten nach Psychotherapie!
14.2
Ziele
Entsprechend den beschriebenen Indikationen lassen sich zunächst die beiden folgenden Globalziele formulieren: 4 Die emotionale Stabilisierung durch das Angebot einer Beziehung, wo andere Beziehungen versagen, sei es, weil es um tabuisierte Themen geht, sei es, weil das soziale Netz des Patienten oder ggf. auch behandelnde Ärzte und Pflegekräfte selbst aufgrund der Thematik und vorliegenden Probleme emotional so stark betroffen sind, dass sie sich vom Patienten zurückziehen. 4 Die Reduktion der unterschiedlichen oben beschriebenen Arten von Inkongruenz durch das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot. Dies bedeutet, 5 dass ein auf Empathie beruhendes, möglichst vollständiges Verstehen der psychischen Situation des körperlich schwerkranken oder sterbenden Patienten angestrebt wird, ggf. unter Beachtung veränderter Körperfunktionen und 5 dass sich dieses Verstehen in den meisten Fällen in erster Linie auf das aktuelle Erleben, die psychischen Bewältigungsstrategien bzw. die Fehlanpassung, und erst in zweiter Linie auf mit der Persönlichkeit oder der Biographie
399 14.3 · Praktisches Vorgehen
des Patienten verbundene Aspekte, die die jeweilige Fehlanpassung mit bedingen, beziehen soll (Schmeling-Kludas & Eckert, 2000). ! Der Gesprächspsychotherapeut kann und soll dazu beitragen, dass der Patient eine subjektive Sichtweise der Krankheit und seiner Person als kranker Mensch in seiner Lebenssituation und seinem Umfeld entwickeln kann, die möglichst frei von Inkongruenzen ist. Wie bei körperlich Gesunden geht es damit auch bei schwerkranken und sterbenden Patienten darum, es ihnen zu erleichtern, ihren eigenen Weg zu gehen. Der Gesprächstherapeut soll den Patienten unterstützen, das Ziel zu verfolgen, das Selbst zu werden, das er in Wahrheit ist (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003). Die Erfahrung zeigt, dass auch schwerkranke und sterbende Menschen positiv, vorwärts gewandt, realistisch und sozial sein können, Beobachtungen, die im Einklang mit Rogers’ (1978) Menschenbild stehen.
4 Die positive Beeinflussung des Verlaufs der körperlichen Krankheit: Gelingt es, eines oder beide erstgenannten Behandlungsziele zu erreichen, so kann u. U. auch der Verlauf der jeweiligen körperlichen Erkrankung günstig beeinflusst werden, z. B. eine koronare Herzkrankheit: Im Zusammenhang mit der emotionalen Stabilisierung des Patienten und der Reduktion seiner Inkongruenz kann z. B. eine depressive Symptomatik rückläufig werden, sodass die ungünstigen Auswirkungen einer Depression auf den Verlauf einer koronaren Herzkrankheit aufgehoben werden (z. B. die deutlich erhöhte Sterblichkeit nach Herzinfarkt, Überblick bei BollKlatt, 2005b). Ähnliche Zusammenhänge sind auf der Grundlage bio-psycho-sozialer Krankheitsmodelle auch für zahlreiche andere Erkrankungen beschrieben worden (SchmelingKludas & Eckert, 2000; Boll-Klatt 2005a). Neben den beiden ersten Zielen, die mit dem durch Gesprächspsychotherapie auch bei anderen Fragestellungen Erreichbaren übereinstimmen, hat bei der Psychotherapie körperlich Schwerkranker die Verbesserung des Wissens der Betroffenen oft einen hohen Stellenwert. Ergänzend ist also Psychoedukation erforderlich zu
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4 der Krankheit, den vorliegenden Symptomen und ihrer Behandlung (dadurch dürfte sich in einigen Fällen die Compliance z. B. im Hinblick auf die Einnahme notwendiger Medikamente verbessern, was ebenfalls den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen könnte) bis hin zur detaillierten Aufklärung über Körpervorgänge oder Abläufe beim Sterben, 4 typischen Abläufen bei der Krankheits- oder Traumabewältigung und 4 häufigen Reaktionen von Angehörigen, Freunden, aber auch Ärzten und anderen professionellen Helfern. Den diesbezüglichen Bedarf sollte der Psychotherapeut von sich aus aktiv erfragen, z. B.: »Haben Sie noch Fragen zu Ihrer Krankheit und der Behandlung?«
Ziele der Psychotherapie 5 Emotionale Stabilisierung durch das gesprächstherapeutische Beziehungsangebot 5 Reduktion von Inkongruenz durch 5 möglichst vollständiges Verstehen der psychischen Situation 5 wobei die aktuelle Situation thematischer Schwerpunkt der Therapie sein sollte und erst in zweiter Linie die Biographie bzw. Persönlichkeit 5 Verbesserung des Verlaufs der körperlichen Krankheit 5 Ergänzend: Vermittlung von Wissen über 5 die körperliche Erkrankung und ihre Behandlung 5 die Krankheitsbewältigung inklusive psychotraumatologischer Zusammenhänge 5 typische Reaktionen von Angehörigen und professionellen Helfern
14.3
Praktisches Vorgehen
14.3.1
Allgemeine Grundsätze
Die folgenden allgemeinen Grundsätze für die Durchführung von Gesprächspsychotherapie bei
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Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
körperlich Kranken und Sterbenden ergeben sich aus unseren bisherigen Ausführungen: Grundkenntnisse über die körperliche und medizinische Situation. Der Gesprächspsychotherapeut
muss Grundkenntnisse von der körperlichen Situation seines Patienten haben bzw. sich verschaffen, nicht zuletzt, um Missverständnisse auf der Seite des Patienten über die Erkrankung oder die Behandlung zu erkennen und zu korrigieren. Exkurs
Beispiele für Quellen von Missverständnissen
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Patienten mit Herzinfarkt: Eine wichtige Messgröße nach einem Herzinfarkt ist die Ejektionsfraktion des linken Ventrikels, die echokardiographisch bestimmt wird. Der Normalwert liegt bei 60–70%, was besagt, dass dieser Anteil des zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Herzkammer befindlichen Blutes durch die Kontraktion des Ventrikels, also die Pumpfunktion, »ausgeworfen« wird. Viele Herzpatienten erfahren diesen Wert irgendwann im Rahmen ihrer Arztkontakte. Sehr häufig ist das Missverständnis, dass ein Wert von 60% bedeutet, dass die Herzleistung nur noch 60% einer gesunden Herzleistung beträgt, wohingegen eine solchermaßen bestimmte Ejektionsfraktion quasi einen Normalzustand darstellt. Während man bei nur noch 60%-iger Herzleistung mit dem Patienten daran arbeiten müsste, das reduzierte Leistungsvermögen zu akzeptieren, kann man bei einer normalen Ejektionsfraktion von 60% mitteilen, dass trotz des erlittenen Herzinfarktes eine Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit nicht zu erwarten ist. Dies kann für die Krankheitsbewältigung naturgemäß große Unterschiede ausmachen. Ein anderes Beispiel aus der Onkologie: Die hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphome weisen – allerdings bei in der Regel sehr aggressiver Behandlung – wesentlich höhere Heilungsraten auf, als niedrigmaligne Non-Hodgkin-Lymphome. Patienten, denen mitgeteilt wird, sie litten an einer hochmalignen Variante, bewerten dies oft dahingehend, dass sie in einer besonders ungünstigen Situation sind, wie es der Ausdruck »hochmaligne« nahe legt.
Im Einzelfall sind für die Durchführung einer Gesprächspsychotherapie sehr detaillierte Kenntnisse von physiologischen Abläufen erforderlich, was die Behandlung durch einen ärztlichen Gesprächspsychotherapeuten nahe legt (7 Beispiel der Psychotherapie mit dem Patienten mit der schweren Lungenerkrankung).
Förderung der Körperarzt-Patient-Beziehung. Der Gesprächspsychotherapeut muss akzeptieren, dass der Patient mindestens einen weiteren ärztlichen Behandler hat, der angesichts der Krankheitssituation oft auch emotional der Wichtigere ist. In der Regel sollte die Beziehung zum behandelnden Arzt gefördert und unterstützt werden. Im Einzelfall kann es jedoch auch einmal wichtig sein, den Patienten dabei zu unterstützen, sich von den Behandlungsvorschlägen der Ärzte eindeutig abzugrenzen. Eine derartige Situation sollte als Ausnahmesituation immer gründlich reflektiert werden, bevor der Patient zur Abgrenzung ermutigt wird. Voraussetzungen für ein solches Vorgehen des Psychotherapeuten sind sehr genaue Kenntnisse von der körperlichen Erkrankung und den Behandlungsaussichten. Therapieangebot im Hinblick auf Settingfragen reflektieren. Bei dem Angebot, eine Gesprächspsy-
chotherapie durchzuführen, sollte der Behandler von vornherein die Möglichkeiten und die Grenzen seines Angebotes im Hinblick auf das zu wählende Setting reflektieren. Ist er z. B. bereit, den Patienten auch am Krankenbett oder zu Hause aufzusuchen? Wäre er bereit, dies sogar über längere Zeit zu tun? Können die Termine kurzfristig und flexibel an die jeweils aktuelle körperliche Situation des Patienten angepasst vereinbart werden? Ertragen der emotionalen Belastung. Schließlich sollte sich der Gesprächspsychotherapeut auch mit der Frage befasst haben, ob er selbst in der Lage ist, die krankheitsbedingten Belastungen, Entstellungen, körperlichen Veränderungen und die daraus resultierenden Affekte des Patienten sowie die auf seiner eigenen Seite dadurch entstehenden Affekte zu ertragen. Wird er in der Lage sein, z. B. auch bei der Behandlung eines Sterbenden ein stabiles Gegenüber zu bleiben?
401 14.3 · Praktisches Vorgehen
Allgemeine Grundsätze in der Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken 5 Grundkenntnisse bezüglich der körperlichen Krankheit und Behandlung des Patienten 5 Förderung der Beziehung des Patienten zu seinen »Körperärzten« 5 Angebot an den Patienten im Hinblick auf das Setting reflektieren 5 Reflexion des Therapeuten, ob er selbst die emotionalen Belastungen bei der Therapie körperlich Kranker aushält
14.3.2
Indikationsbezogene Vorgehensweisen
Über die genannten allgemeinen Grundsätze hinaus ergeben sich für die oben ausgeführten Indikationen folgende Hinweise zum praktischen Vorgehen:
Gesprächstherapeutisches Angebot zur Stabilisierung angesichts tabuisierter Problem- und Lebensbereiche Wenn es um schwere oder unheilbare Krankheit, Entstellung, Behinderung und Sterben geht, ist das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten geeignet, das Schweigen angesichts dieser Tabus zu durchbrechen und durch Verständnis für die Erfahrungen des Patienten und die dadurch ausgelösten Affekte diesen emotional zu stabilisieren. Entsprechend unserer idealtypischen Beschreibung spielen Inkongruenzen des Patienten in diesen Situationen oft nur eine zweite Rolle, die erste Rolle spielen Ängste, die immer wieder das Bindungssystem des Patienten aktivieren können. Für den Patienten ist das gesprächspsychotherapeutische Angebot in diesen Situationen deswegen so wertvoll, weil das Aussprechen-Können auch schwieriger und heftiger Affekte in der Regel zu einer deutlichen emotionalen Entlastung führt und weil seine Bindungswünsche durch den Therapeuten beantwortet werden. Praktisch geht es dabei ganz wie sonst auch in der Gesprächspsychotherapie um die Entwicklung einer von Empathie, Bedingungsfreier Positiver Beachtung und Kongruenz getragenen therapeutischen Beziehung. Gerade die Kon-
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gruenz des Therapeuten hat naturgemäß zur Voraussetzung, dass er mit den genannten Themenbereichen und den durch diese bei ihm ausgelösten Affekten selbst souverän umgehen und dem Patienten als stabiles Gegenüber zur Verfügung stehen kann. Darüber hinaus können beim Vorliegen entsprechender Verhaltensunsicherheiten psychoedukative Elemente wichtig werden, z. B. eine Erläuterung darüber, welche Abläufe oder auch Riten vor und nach dem Tod dem Patienten und seinen Angehörigen die Bewältigung der Situation erleichtern können. Damit zusammenhängende Fragen können sein: Von wem will ich mich wie bewusst verabschieden? Wünsche ich mir zum Sterben eine bestimmte räumliche Umgebung? Möchte ich mit darüber nachdenken, wie (m)eine Beerdigung gestaltet werden soll? Wie bereits angesprochen, gibt es auch noch eine andere Problematik: Ist z. B. die Mutter oder der Vater von noch jungen Kindern sterbenskrank, so kann der Psychotherapeut erklären, wie die Situation den Kindern nahe gebracht werden sollte. Er kann erläutern, dass an der Tatsache des bevorstehenden Verlustes nichts zu ändern ist und dass Kinder in einer solchen Situation besonders darauf angewiesen sind, dass sie mit ihren Ängsten, ihrer Trauer oder auch ihrem Ärger verstanden werden. Wie die Patienten brauchen auch die Kinder ein Gegenüber, das sie als einfühlend, wertschätzend und echt erleben. Gemeinsam mit dem Patienten und seinem Partner kann der Therapeut überlegen, ob für die Kinder zusätzliche Gesprächspartner von außen gewonnen werden können, z. B. Freunde der Familie oder Paten der Kinder. Da viele Familien für die Bewältigung von Krisen, die durch schwere und unheilbare Krankheiten ausgelöst werden, heutzutage kein »Programm« mehr haben, können solche Orientierungshilfen außerordentlich wertvoll sein. Der Gesprächstherapeut sollte derartige Themen ohne Scheu aktiv von sich aus ansprechen, oft am besten in Frageform: Haben Sie sich schon darüber Gedanken gemacht, wie Sie in dieser Situation mit Ihren Kindern umgehen können?
Verbesserung der Körper- und Affektwahrnehmung Im 7 Kap. 14.1.2 wurde unter Bezug auf das Modell zur Emotionswahrnehmung von Damasio (2000) beschrieben, wie Erkrankungen insbesondere des
402
Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
Fallvignette
Lungenerkrankung und Affekterleben
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Der 48-jährige Steuerberater war zur stationären Behandlung seiner Angststörung mit Panikattacken und Vermeidungsverhalten in die psychosomatische Klinik aufgenommen worden, wo der Konsiliararzt auch die psychotherapeutischen Gespräche mit dem Patienten weiterführte. Die Ausgangsbasis war dabei, wie geschildert, die Vorstellung des Patienten, er mache etwas falsch, weswegen es zu den Angstanfällen komme, worauf der Therapeut einging: Er erläuterte die körperlichen Abläufe bei Angst, insbesondere die Zunahme von Herz- und Atemfrequenz, die dann ihrerseits wieder die Angst steigere. Er schlug dem Patienten vor, beim nächsten Angstanfall einfach abzuwarten, da die Angst von alleine zurückgehen werde. Seine jeweils gerade wahrgenommenen Tätigkeiten solle er ruhig weitermachen. Die Intensität der Panikanfälle reduzierte sich daraufhin etwas. An einem Tag geriet der Patient jedoch in einen lang anhaltenden, ängstlich-unruhigen Zustand, den er sich zunächst übel nahm (»Ich mache wohl wieder etwas falsch.«). Nach Stunden stellte sich heraus, dass die Zuleitung zu der Sauerstoffnasensonde ein Leck hatte, sodass Herr A. über mehrere Stunden zu wenig Sauerstoff bekommen hatte. Der Therapeut nutzte diese Erfahrung und erklärte dem Patienten, auch wenn dieser Zustand schwierig gewesen sei, zeige er doch auch, dass der Patient selbst ohne Sauerstoffzufuhr überleben könne und sich also nicht so große Sorgen machen müsse. Dennoch traten weiterhin Panikanfälle auf. In einem weiteren Gespräch atmete der Patient dann heftig und beschwerlich und äußerte seinen Ärger: Er sei ja bereit, an allem mitzuarbeiten, er sei auch sehr motiviert, denn schließlich gehe es ihm ja dreckig. Er wisse aber nicht, was er eigentlich tun solle. Er habe das Gefühl, die Therapie verfolge kein klares Konzept. Der Therapeut nahm zunächst den Ärger verständnisvoll und wertschätzend auf, der Patient fühlte sich dadurch verstanden und entspannte sich spürbar. Die zuvor beschwerliche und hochfrequente Atmung beruhigte sich innerhalb von Minuten.
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Eine gründliche Reflexion des bisherigen Therapieverlaufs in einer gesprächspsychotherapeutischen Supervisionsgruppe führte zu folgender Sichtweise: Die Angst des Patienten war und ist zum ganz überwiegenden Teil eine reale Angst, ausgelöst durch den drohenden Erstickungstod. Wie man z. B. an der Situation mit dem Leck in der Sauerstoffleitung sehen kann, hat sie eine wichtige Warnfunktion, die das Überleben des Patienten sichern helfen soll: Die angstvolle Reaktion des Patienten auf die mangelnde Sauerstoffzufuhr war ja sehr sinnvoll, da sie schließlich zur Entdeckung des Lecks führte. Statt die Vorstellung des Patienten, er mache ständig etwas falsch, unreflektiert anzunehmen, sollte ein eindeutiges gesprächspsychotherapeutisches Beziehungsangebot gemacht werden. Mit dem Patienten sollte ferner vereinbart werden, welche Themen in der weiteren Behandlung besprochen werden sollten und was dadurch erreicht werden könnte. Der Therapeut erläuterte dem Patienten, dass er noch einmal über die Situation nachgedacht hätte und zu dem Schluss gekommen sei, dass die Angstzustände im Wesentlichen eine Schutzfunktion hätten, die helfen das Überleben bis zur Lungentransplantation zu sichern, wie man an der Situation mit dem Sauerstoffleck sehen könne. Insofern könne man auch nicht sagen, dass der Patient irgendetwas falsch mache. Stattdessen sei es wichtig, die Situationen, in denen Angst und/oder Luftnot auftreten, genauer zu betrachten, um zu verstehen, welche Erfahrungen, welche Gefühle und welche körperlichen Veränderungen er dann jeweils gerade erlebe. Ein solcher Umgang mit dem eigenen Erleben führe erfahrungsgemäß zu einer Entspannung, die der Patient ja gut gebrauchen könne. Mit dieser Veränderung der Zielsetzung der Psychotherapie war der Patient einverstanden. In den weiteren Gesprächen kamen verschiedene Erfahrungen und mit ihnen verbundene Affekte zur Sprache: 5 Ärger über die Einengung des Aktionsradius durch den Sauerstoffmangel. Der Patient meinte zunächst, da er ja nichts daran ändern könne, mache sein Ärger überhaupt keinen Sinn. Der Therapeut gab ihm zu bedenken, dass Ärger
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eine dem Menschen angeborene Reaktion auf die Erfahrung ist, an etwas Wesentlichem gehindert zu werden, über die schon das Neugeborene verfüge. Ärger könne deswegen durch vernünftiges Denken nicht ungeschehen gemacht werden. Dieser Aspekt war für den Patienten neu und erleichterte ihn im weiteren Verlauf sehr. Die Sorge, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf lasse, werde er die Kraft verlieren, die Krankheit bis zur Transplantation durchzustehen. Bisher unterdrückter Ärger gegenüber der Lebenspartnerin: Da der Patient ganz realistisch spürte, dass die Partnerin durch die Krankheit ebenfalls sehr stark belastet war, empfand er Schuldgefühle und konnte sich seinen Ärger angesichts bestimmter Äußerungen von ihrer Seite nicht eingestehen. Ängste, an der Krankheit zu sterben, bevor eine Lunge zur Transplantation zur Verfügung stünde. Ängste im Hinblick auf die berufliche Existenz als selbstständiger Steuerberater (das Büro wurde bislang in wesentlichen Teilen von der Ehefrau weitergeführt).
Im Verlauf dieser Gespräche ging es dem Patienten nach und nach besser. Es blieb jedoch eine schwer greifbare Mischung aus Luftnot und Angst, die morgens nach dem Erwachen auftrat, wenn die Morgentoilette anstand. Auch bei genauer Betrachtung konnte hierfür keine klare Erklärung gefunden werden. Der Patient wurde deswegen noch einmal für zwei Tage zur Diagnostik in die Lungenklinik zurückverlegt: Es zeigte sich dann, dass in den vier Wochen des stationären Aufenthaltes eine deutliche Verschlechterung der Lungenfunktion eingetreten war. Daran hatte die Psychotherapie naturgemäß nichts ändern können, der Patient musste sich damit abfinden. Dies gelang ihm recht rasch, zumal durch die Verschlechterung die Aussicht entstand, auf die Dringlichkeitsliste für eine Lungentransplantation zu kommen. Im weiteren Verlauf zeigte sich allerdings weiterhin, dass er dieselbe körperliche Belastung einmal gut bewältigen konnte und ein andermal
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deutliche Unruhe, Anspannung und Luftnot entstanden. Nach wie vor waren es die morgendlichen Toilettengänge, die für den Patienten am schwierigsten waren. Der Patient fand hierfür mit Hilfe des Therapeuten zwei Erklärungen: 5 Der Organismus stellt sich auf Anstrengungen schon ein, wenn diese geplant werden. Der Patient kannte das vom Joggen, das er früher intensiv betrieben hatte. Wenn er beschlossen hatte loszulaufen, fing seine Atmung schon langsam an, sich zu beschleunigen, und er bemerkte eine erhöhte Muskelspannung. Angesichts der aktuellen Sauerstoffversorgungssituation war die morgendliche Toilette durchaus mit den Anstrengungen beim Joggen vergleichbar. 5 Jeden Morgen machte der Patient die Erfahrung, dass er sich aus der Ruhe heraus anstrengen musste für etwas, das er als Gesunder für überhaupt nicht der Rede wert erachtet hatte. Er konnte zunächst nicht akzeptieren, dass für ihn die morgendlichen Abläufe körperliche Höchstleistungen darstellten. Er war jedes Mal verärgert, wenn er in die Kurzatmigkeit geriet und damit an die durch die Krankheit gesetzten Grenzen. Als ihm das klar geworden war, begann der Patient, die morgendlichen Abläufe noch langsamer als bisher durchzuführen, was zu einer deutlichen Reduktion der Unruhezustände führte und auch noch nach seiner Entlassung aus der Klinik nach Hause zu einer weiteren Besserung. Die Therapie umfasste insgesamt 34 Gespräche, mehr als die Hälfte davon hatten einen Umfang von 20–30 Minuten, die übrigen von 50 Minuten. Erfolgreich war letzten Endes also ein gesprächstherapeutisches Beziehungsangebot: das Bemühen des Therapeuten, den Patienten empathisch zu verstehen (wobei sich das Verstehen auch auf das Erleben der Veränderungen der körperlichen Abläufe durch die Lungenerkrankung bezog), das Bemühen um Bedingungsfreie Positive Beachtung (der Therapeut gab die Vorstellung auf, der Patient trage zu den Luftnotanfällen bei, indem er etwas falsch mache) und das Bemühen des Therapeuten darum, sein eigenes Erleben und Vorgehen im Umgang mit dem Patienten und dessen körperlicher Erkrankung zu reflektieren.
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Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
Herz-Kreislauf-Systems und der Lungen zu Inkongruenzen führen können, weil sich organisch bedingte Veränderungen z. B. von Blutdruck, Herzfrequenz oder Atemfrequenz mit entsprechenden Veränderungen im Rahmen des Auftretens von Affekten vermischen. Zum praktischen Vorgehen bei dieser Problematik setzen wir die Falldarstellung von Herrn A. fort (s. o.).
Behandlung von Inkongruenzen bei Problemen mit der Krankheitsbewältigung Es wurde schon ausgeführt, dass Inkongruenzen, die im Rahmen der Krankheitsbewältigung auftreten, überwiegend durch die aktuellen Belastungen entstehen. Im Einzelfall können aber – mit fließendem Übergang zu der unten aufgeführten Indikation – auch vorbestehende psychische Konflikte oder strukturelle Störungen eine Rolle spielen. Die für den Therapeuten relevante Frage ist (Schmeling-Kludas & Eckert, 2000): ! Um welchen Affekt im Zusammenhang mit welcher Selbsterfahrung mit welcher körperlichen Situation bzw. welcher Krankheit in welcher aktuellen Beziehung oder Lebenssituation handelt es sich?
Die Antwort des Gesprächspsychotherapeuten auf diese Frage lautet bei sehr vielen Patienten: Es handelt sich vor allem um die affektiven Selbsterfahrungen in der Reaktion auf die körperliche Situation und die Erkrankung. Bei Bewältigungsproblemen geht es somit »nur« um die Anpassung an die aktuelle Situation. In den angesprochenen Fällen mit vorbestehenden seelischen Störungen oder Konflikten wird hingegen durch die körperliche Krankheit diese psychische Problematik aktualisiert bzw. spitzt sich so zu, dass der Betroffene sich angestoßen durch die körperliche Erkrankung für eine Psychotherapie entscheidet. Wenn z. B. eine Selbstwertproblematik vorliegt (7 Kap. 14.1.2), wird diese zunehmend eine Rolle in der Therapie spielen. Wenn die Psychotherapie erfolgreich ist, kann es zu einem seelischen Reifungsschritt kommen, wie das auch in der Gesprächspsychotherapie körperlich Gesunder üblicherweise geschieht. Ein Beispiel für eine solche Aktualisierung einer psychischen Problematik stellt das folgende Fallbeispiel dar:
Fallvignette
Herzinfarkt und Seelenleid
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Herr C. war selbstständiger Unternehmer mit einem kleinen Handwerksbetrieb, den seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte. 63-jährig erlitt er einen Herzinfarkt. In der kardiologischen Klinik fiel den behandelnden Ärzten ein ausgeprägt depressives Zustandsbild auf. Herr C. wurde deswegen dem Psychosomatiker vorgestellt. Im ersten Gespräch äußerte Herr C. seine Vorstellung, dass er pflegebedürftig werden würde. Die Leistungskraft seines Herzens betrage nur noch 50% und altersbedingt habe er schon in den letzten Jahren bemerkt, dass er nicht mehr alles so wie früher bewältigen könne. Nachfragen ergaben, dass er die Mitteilung einer Ejektionsfraktion von 50% falsch verstanden hatte: Dieser Wert beträgt, wie gesagt, auch beim Gesunden lediglich etwa 60–70%, ein Wert von 50% weist auf eine
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gute körperliche Belastbarkeit hin, zumal das Herz sich in den Monaten nach einem Infarkt noch adaptiert und die Ejektionsfraktion nicht selten wieder etwas besser wird. Die Aufklärung und das Gespräch hierüber erleichterten den Patienten bereits deutlich. Ein zweites wichtiges Thema war seine Depression, die nach dem psychischen Befund eher schwer als mittelschwer war. Herrn C. wurde erläutert, dass diese Krankheit möglicherweise auch einen organischen Anteil hätte, d. h. dass die Veränderungen im Körper als Folge des Herzinfarktes ganz unmittelbar zu einer Depression beitragen können. Deswegen wurde auch eine Behandlung mit einem herzverträglichen Antidepressivum, das keine Interaktionen mit den Herzmedikamenten aufwies, eingeleitet. Herrn C. wurde erläutert, dass Depressionen unabhängig von ihrer Entstehung mit Hilfe von Medika-
405 14.3 · Praktisches Vorgehen
menten und Gesprächen bei weit über 90% der Betroffenen zum Abklingen gebracht werden können und dass es nicht allein in seiner Willenskraft liege, sie zu überwinden. Wichtig sei aber auch die Frage, ob noch weitere Belastungen im Leben vorlägen. Darauf hin schilderte der Patient folgende familiäre und berufliche Situation: Er fühle sich stark verpflichtet, den von der Ehefrau in die Ehe eingebrachten Handwerksbetrieb erfolgreich zu führen und an seine beiden Söhne zu übergeben. Diese absolvierten auch beide Ausbildungen, die sie zur Leitung des Betriebes befähigten. Beide zeigten aber kein klares Interesse an einer solchen Tätigkeit. Da er sich noch lebhaft an Gespräche mit seinem Schwiegervater erinnere und daran, wie schwer es ihm, dem Patienten, damals gefallen sei, den Betrieb wie gewünscht zu übernehmen, scheue er sich, Druck auf die beiden Söhne auszuüben. Er habe das Gefühl, sie wollten eigentlich einen anderen Weg gehen, ihn, den Vater, aber auch nicht enttäuschen. So schwele das Thema seit einiger Zeit vor sich hin. Ein Verkauf des Betriebes komme nach seiner Einschätzung auch aus Sicht der Ehefrau nicht in Frage, und sie sei ja schließlich die eigentliche Besitzerin. Hinzu komme, dass der Betrieb sich in den letzten Jahren eher negativ entwickelt habe. Er habe immer mehr gearbeitet, auch praktische Tätigkeiten vermehrt übernommen, da man weniger Mitarbeiter habe beschäftigen können, und sei schließlich in den letzten eineinhalb Jahren zunehmend in eine Erschöpfung hinein geraten. Auch seinen Mitarbeitern gegenüber empfinde er sich manchmal als zu weich und zu sehr verpflichtet: So hätte er Mitarbeiter, die lange in dem Betrieb gearbeitet hatten, weiterbeschäftigt, obwohl aufgrund der veränderten Anforderungen ihre Qualifikationen nicht mehr ausgereicht hätten, sodass sie den Betrieb
Neben der Aufklärung über die Krankheit und ihre Behandlung, wie in unserem Beispiel, ist Psychoedukation bezüglich zweier weiterer Themen oft besonders wichtig: Das eine wurde schon angesprochen und betrifft den Umgang mit dem sozialen Umfeld, insbesondere mit Partner, Familie und
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mehr belastet als ihm genutzt hätten. Das sei vielleicht sein Hauptfehler: Er versuche, es immer allen recht zu machen, seiner Frau, seinen Söhnen und seinen Mitarbeitern, und denke zu wenig an sich selbst. Auf die Idee, psychotherapeutische Gespräche zu führen, wäre er von alleine nie gekommen, er hätte sich diese auch ganz anders vorgestellt. Noch während des Klinikaufenthaltes, der einschließlich der kardiologischen Rehabilitation fünf Wochen dauerte, führte Herr C. ein erstes Gespräch mit seiner Ehefrau. Zu seiner großen Erleichterung sah sie die Situation des Betriebes völlig klar und hatte keinerlei persönliche Vorbehalte dagegen, ihn zu verkaufen, wenn keiner der Söhne ihn übernehmen wollte. Sie äußerte, ihr sei die Gesundheit ihres Mannes am wichtigsten und sein unermüdlicher Arbeitseinsatz habe ihr in den letzten zwei Jahren ohnehin schon Sorgen bereitet. Aus ihrer Sicht solle man jetzt überlegen, eine Lösung für die Nachfolge im Betrieb zu finden, sei es durch Verkauf, sei es durch Übergabe an einen oder beide Söhne. Dies könne gleichzeitig den Mann für die letzten beiden Jahren bis zum Ruhestand deutlich entlasten. Herr C. hatte für sich ebenfalls die Vorstellung entwickelt, dass der chronische ungelöste Konflikt und die hohen Arbeitsanforderungen den Infarkt mit ausgelöst hätten (was aus psychosomatischer Sicht auch nicht ganz unwahrscheinlich ist, BollKlatt, 2005b). Er wolle jetzt auf jeden Fall weniger arbeiten und sich etwas mehr Zeit für die genussvollen Seiten des Lebens nehmen. Es sei an der Zeit, klare Verhältnisse bezüglich der Zukunft des Betriebes zu schaffen. Bereits während der fünfwöchigen Klinikbehandlung war die Depression deutlich rückläufig, wozu neben der Medikation und den Gesprächen vermutlich auch die Bewegungstherapie beitrug, in der Herr C. feststellte, dass er körperlich noch gut leistungsfähig war.
Freunden. Hier kann es hilfreich sein, die Patienten zu den Auswirkungen auf die Angehörigen, das Familiensystem und zu den daraus folgenden Interaktionsproblemen gezielt zu beraten. Bewährt hat sich auch die Hinzuziehung von Familienangehörigen in Form von Paar- oder Familiengesprächen, in denen
406
14
Kapitel 14 · Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden
der Therapeut die schwierigen Situationen durchsprechen und zugleich ein Modell für Offenheit bei bislang unausgesprochenen oder tabuisierten Themen darstellen kann. Ein anderer wichtiger Anlass für Psychoedukation ist das Vorliegen von Traumatisierungen, die bei bestimmten Krankheiten und Behandlungsregimes mehr oder minder häufig deutlich werden. Als besonders herausragendes Beispiel sei hier noch einmal an die Therapie mit implantierten Defibrillatoren erinnert, da die Folgen des Stromschlages, den ein solches Gerät zur Beendigung einer sonst tödlich verlaufenden Herzrhythmusstörung abgibt, die Kriterien einer psychisch traumatischen Erfahrung erfüllen. Bei Patienten, die mit einem solchen Gerät versorgt werden, liegen in der Regel komplexe Interaktionen körperlicher und psychischer Vorgänge vor. Die meisten Patienten erleiden vor der Implantation eines Defibrillators eine oder mehrere lebensbedrohliche Rhythmusstörungen, oft mit Reanimation, sie haben Herzkatheter-Prozeduren hinter sich gebracht und sind auf Intensivstationen behandelt worden. Die Elektroschocks, die der Defibrillator abgibt, werden zum Teil als sehr heftig empfunden und können motorische Entäußerungen, z. B. Bewegungen der Hände, zur Folge haben. Die Patienten sind dabei in der Regel bei Bewusstsein. Die Erfahrungen zeigen, dass bis zu fünf Schocks pro Jahr von den meisten Patienten psychisch relativ gut verkraftet werden. Eine größere Schockanzahl führt jedoch in der Regel zu Problemen: Auch wenn Vollbilder posttraumatischer Belastungsstörungen bei weniger als 10% der Patienten mit implantierten Defibrillatoren auftreten dürften, sind bei vermehrten Schockabgaben ängstliche und depressive Reaktionen fast unvermeidlich. Vermittelt über das vegetative Nervensystem erhöhen Ängste und Depressionen die Auftretungshäufigkeit von Rhythmusstörungen, sodass die Patienten in einen Teufelskreis aus Schockabgaben, psychischen Reaktionen und erneuten Rhythmusstörungen geraten. Häufig ist vom Rhythmologen zu überprüfen, ob die Einstellung des Defibrillators verändert werden muss, um eine günstigere Situation zu erzielen. Wie nur wenige andere Behandlungssituationen setzt die Psychotherapie bei diesen Patienten eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Psychotherapeut und Rhythmologen voraus (zur Behandlung psychischer Probleme
bei Patienten mit implantiertem Defibrillator s. ausführlich Boll-Klatt & Schmeling-Kludas, 2005). In der Psychotherapie sind die speziellen Erfordernisse eines gesprächspsychotherapeutischen Angebotes bei psychisch traumatisierten Patienten zu beachten (7 Kap. 13). Darüber hinaus ist aber auch Psychoedukation sehr bedeutsam: Wie generell in der Traumatherapie hilft es vielen Patienten, wenn sie die Veränderungen der Informationsverarbeitung im Gehirn und die damit zusammenhängenden Symptome in der Folge psychischer Traumatisierungen kennen. Das beugt insbesondere der Angst vor, verrückt zu werden, wenn die Patienten dissoziatives Erleben oder Flash backs durchmachen.
Praktisches Vorgehen bei psychotherapiebedürftigen Problemen, die von der zugleich vorliegenden körperlichen Krankheit mehr oder weniger unabhängig sind Erfahrungsgemäß spielt bei diesen Konstellationen in der durchgeführten Gesprächspsychotherapie die Körpererkrankung nicht unbedingt eine wichtige Rolle. Die Therapie kann entsprechend in üblicher Weise erfolgen. Zu beachten sind aber die unter 7 Kap. 14.3.1 aufgeführten allgemeinen Grundsätze für die Gesprächspsychotherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden, d. h. der Gesprächspsychotherapeut sollte die bei dem Patienten vorliegende körperliche Krankheit und ihre Behandlung wenigstens in Grundzügen kennen, dessen Beziehung zu den Körperärzten fördern und das Setting je nach Krankheitszustand modifizieren.
Indikationsbezogene Vorgehensweisen 5 Stabilisierung angesichts tabuisierter Lebenserfahrungen 5 Erfahrungen und Affekte aussprechen lassen 5 Psychoedukation, z. B. bezüglich Verhaltensweisen gegenüber Angehörigen oder Abläufen und Riten beim Sterben 5 Verbesserung der Körper- und Affektwahrnehmung 5 Detailliertes Verständnis der möglichen Mischungen von veränderten Körperfunktionen und Affekten
6
407 14.4 · Weiterführende Literatur
14.4 5 Inkongruenzen bei Problemen mit der Krankheitsbewältigung 5 Um welchen Affekt im Zusammenhang mit welcher Selbsterfahrung geht es? 5 Psychoedukation, z. B. bezüglich der Interaktion mit Angehörigen, Freunden und professionellen Helfern oder bezüglich psychotraumatologischer Abläufe 5 Von der körperlichen Krankheit mehr oder weniger unabhängige psychotherapiebedürftige Probleme 5 Gesprächstherapie wie üblich 5 Allgemeine Grundsätze bei der Psychotherapie körperlich Kranker beachten
? Übungsfragen 5 Was unterscheidet die Begleitung körperlich Kranker und Sterbender von Gesprächspsychotherapie bei dieser Patientengruppe? 5 Welche organischen psychischen Störungen sind bei der Psychotherapie körperlich Schwerkranker zu bedenken? 5 Welche Veränderungen des Settings können bei der Durchführung einer Gesprächspsychotherapie bei körperlich kranken Patienten erforderlich werden? 5 Warum können Erfahrungen in tabuisierten Lebensbereichen Psychotherapiebedarf auslösen? 5 Wodurch entstehen bei körperlich Schwerkranken und Sterbenden Inkongruenzen, wie sie in dieser Form bei körperlich Gesunden nicht zu erwarten sind? 5 Wodurch sollte das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot bei der Behandlung körperlich kranker Patienten ergänzt werden? 5 Nennen Sie drei allgemeine Grundsätze für die Durchführung von Gesprächspsychotherapien bei körperlich Kranken. 5 Warum kann Psychoedukation bei der Stabilisierung angesichts tabuisierter Problem- und Lebensbereiche wichtig werden? 5 Welche Frage steht für den Therapeuten bei der Behandlung von Inkongruenzen bei Problemen mit der Krankheitsbewältigung im Mittelpunkt? 5 Nennen Sie für diese Behandlungssituation mögliche Inhalte von Psychoedukation.
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Weiterführende Literatur
Koch, U., Lang, K., Mehnert, A., Schmeling-Kludas, C. (Hrsg.) (2005, im Druck). Die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen. Grundlagen und Anwendungshilfen für Berufsgruppen in der Palliativversorgung. Stuttgart: Schattauer. (Ein umfassendes und aktuelles Werk zu psychosozialen Aspekten in der palliativen Versorgung mit Beiträgen namhafter Autoren) Schmeling-Kludas, C. (Hrsg.) (2005). Psychosomatisches Kompendium der Inneren Medizin. Leitfaden für Internisten und praktisch tätige Ärzte. München: Marseille. (Ein einführendes, kurzgefasstes Lehrbuch für die internistische Psychosomatik, u. a. mit Kapiteln über Herzkrankheiten, Tumorerkrankungen und Intensivmedizin) Uexküll, Th. von et al. (Hrsg.) (2003). Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns. 6. Aufl. München Jena: Urban & Fischer. (Das umfassende Standardwerk zur psychosomatischen Medizin, u. a. mit Beiträgen zu verschiedenen körperlichen Erkrankungen, zur Intensiv- und Transplantationsmedizin)
15 15
Gesprächpsychotherapie im stationären Rahmen J. Eckert
15.1
Historisches – 409
15.4
15.2
Wann ist eine stationäre Psychotherapie einer ambulanten vorzuziehen? – 410
Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie – 412
15.5
Weiterführende Literatur
15.3
15.1
– 414
Besondere Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten in der stationären Psychotherapie – 410
Historisches
Wir haben die Gesprächspsychotherapie bisher so dargestellt, wie sie in der Praxis am häufigsten angewendet wird: als ambulante Einzeltherapie. In diesem Kontext ist sie auch ursprünglich entwickelt und erforscht worden. Seit ihren Anfängen haben sich aber sowohl die Anwendungsfelder als auch die Aufgaben der Psychotherapie, auch der Gesprächspsychotherapie, verändert mit der Folge, dass auch andere als das klassische Setting Therapeut–Patient entwickelt worden sind. Ein Blick in die Geschichte der Psychotherapie zeigt, dass die Gründe für neue Settings häufig nicht fachliche, sondern, wie im Falle der Gruppentherapie (7 Kap. 16), z. B. ökonomische waren: Die hohe Anzahl der zu versorgenden Frontsoldaten im 2. Weltkrieg und der Kriegsveteranen danach führte vor allem in den USA und in England zu Behandlungen in Gruppen. Erst nach dieser Verlagerung der therapeutischen Arbeit in Gruppen ist das diesen innewohnende zusätzliche therapeutische Potenzial entdeckt, beschrieben und erforscht worden (Yalom, 1970; Tschuschke, 2001). Ähnlich verlief die Entwicklung der stationären Psychotherapie in Deutschland. Die ersten stationären Psychotherapiepatienten waren im 1. Welt-
krieg »Kriegszitterer« in Lazaretten, wo sie wieder »frontverwendungsfähig« gemacht werden sollten (Schmeling-Kludas & Wilke, 2000). Nach dem 2. Weltkrieg wurden im zivilen Sektor Kliniken zur Behandlung von psychogenen Störungen neu gegründet: 1948 die Klinik für psychogene Störungen in Berlin, 1949 die Klinik in Tiefenbrunn bei Göttingen, und es entstand die erste psychosomatische Universitätsabteilung mit Betten in Heidelberg. Sie waren Vorbild für die Gründung zahlreicher »psychosomatischer Kurkliniken«, deren Träger nicht die Krankenkassen waren, sondern die Rentenversicherer (Landesversicherungsanstalten [LVA] und die Bundesversicherungsanstalt [BfA]). Diese Kliniken übernahmen die psychotherapeutische Versorgung der Patienten, die auf Grund der Anfang der 70-er Jahre nur geringen Anzahl kassenzugelassener Psychotherapeuten ambulant keinen Therapieplatz fanden – oder erst nach einer Wartezeit von oft mehr als einem Jahr – oder die in den Psychiatrischen Kliniken kein für sie geeignetes Behandlungsangebot vorfanden. Die Folge davon: 1993 zählte man in Deutschland 13.500 stationäre psychotherapeutische Behandlungsplätze (»Psychotherapiebetten«), davon 72% im Bereich der Rehabilitation, deren Träger die Rentenversicherer sind, und 28% im akuten Bereich,
410
Kapitel 15 · Gesprächpsychotherapie im stationären Rahmen
deren Träger die Krankenkassen sind (Neun, 1994). Auch wenn heute unter Versorgungsgesichtspunkten über die Notwendigkeit eines so umfangreichen stationären Psychotherapieangebotes gestritten wird, bleibt zu konstatieren, dass sich die Stationäre Psychotherapie als eigenes Versorgungsfeld mit eigenen Aufgaben neben der ambulanten Behandlung etabliert hat (Schmeling-Kludas & Wilke, 2000). Im Folgenden sollen die bestehenden Klientenzentrierten Konzeptionen von stationärer Psychotherapie kurz dargestellt werden, vor allem unter dem Gesichtpunkt der Modifikationen, die in der Regel erforderlich sind, wenn eine Gesprächspsychotherapie nicht ambulant, sondern stationär durchgeführt wird.
baren Krisen, auch nachts oder an den Wochenenden führt. Eine der häufigsten Ursachen für die Notwendigkeit stationärer Psychotherapie sieht das Forschungsgutachten zur Fragen eines Psychotherapeutengesetzes (Meyer, Richter, Grawe, Graf v. d. Schulenburg & Schulte, 1991) in Deutschland darin, dass Patienten mit Psychotherapie-indikativen Störungen zu spät an den Spezialisten, d. h. hier Psychotherapeuten, zur Behandlung überwiesen werden bzw. ihn aufsuchen. Im Schnitt liegen sieben Jahre zwischen dem Krankheitsbeginn und dem ersten Kontakt mit einem Spezialisten. Besondere Bedingungen des stationären Settings.
15.2
Wann ist eine stationäre Psychotherapie einer ambulanten vorzuziehen?
Zwei Begründungen werden immer wieder genannt, wenn eine stationäre Psychotherapie anstelle einer ambulanten vorgeschlagen wird: 4 die Schwere der Störung und 4 die besonderen Bedingungen, die ein stationärer Aufenthalt zur Unterstützung der Behandlung bietet.
15
Schwere der Störung. Eine Störung wird aus unterschiedlichen Gründen als eine »schwere Störung« angesehen: 4 Die Störung besteht seit langem. Sie wird als chronifiziert eingestuft. Vorangehende Behandlungsversuche haben keine wesentlichen Veränderungen erbracht. 4 Es liegt ein hohes Ausmaß an Selbstgefährdung – seltener Fremdgefährdung – vor, z. B. ist der Patient immer wieder suizidal. 4 Der Patient ist aufgrund seiner Störung und/ oder sozialer Defizite nicht in der Lage, die üblichen Rahmenbedingungen einer ambulanten Behandlung einzuhalten, d. h. ein bis dreimal in der Woche zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine begrenzte Zeit regelmäßig einen Therapeuten aufzusuchen. 4 Die Störung ist gekennzeichnet durch ein hohes Ausmaß an akuter Instabilität, die zu unvorseh-
Das stationäre psychotherapeutische Setting beinhaltet die folgenden Behandlungsbedingungen, die häufig ausschlaggebend dafür sind, dass eine stationäre Psychotherapie empfohlen wird: 4 Fremdkontrolle, wenn die Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht oder zu eingeschränkt vorhanden ist, z. B. bei Abhängigkeitserkrankungen 4 Die Möglichkeit, einen therapieskeptischen bzw. -ablehnenden Patienten (»Ich hab’ doch keine Psychomacke«) erste eigene Erfahrungen mit verschiedenen therapeutischen Vorgehensweisen machen zu lassen. 4 Die Klinik kann einen Schonraum bieten, der Patienten vor den Einflüssen einer in hohem Maße pathogenen Umwelt schützt, die jeden Behandlungsfortschritt sabotiert. 4 Das therapeutische Klima einer Psychotherapiestation, die Dichte und Vielfalt der therapeutischen und anderen Kontakte verhindern Vermeidungsverhalten, führen zu »Problemaktualisierungen« und ermöglichen damit die Auseinandersetzung des Patienten mit seinen Problemen und Konflikten.
15.3
Besondere Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten in der stationären Psychotherapie
Die besonderen Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten im stationären Rahmen hängen
411 15.3 · Besondere Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten
stark mit dem Aufgabenfeld und der Struktur der Einrichtung zusammen, sowie von den jeweiligen Aufgaben des Psychologen bzw. Psychotherapeuten ab. So nimmt ein Psychologe mit einer Ausbildung als Gesprächspsychotherapeut auf einer geschlossenen psychiatrischen Station andere psychotherapeutische Aufgaben wahr als sein Kollege bzw. seine Kollegin in einer psychosomatischen Fachklinik. Zunächst sollen die wichtigsten Besonderheiten der Psychotherapie in einer regulären Einrichtung für stationäre Psychotherapie, z. B. in einer psychosomatischen/ psychotherapeutischen Fachklinik, auf der Psychotherapiestation einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, in einer Abteilung bzw. Klinik für Psychotherapeutische Medizin oder Psychosomatik in Form von Anforderungen an den Gesprächspsychotherapeuten dargestellt werden. Die allgemeinen Anforderungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Allgemeine Anforderungen an Therapeuten im stationären Setting 5 »Psychotherapeutische Kompetenz 5 Fähigkeit, mit Patienten einerseits strukturiert, andererseits mit der erforderlichen Flexibilität psychotherapeutisch zu arbeiten 5 Teamfähigkeit 5 Fähigkeit, die übrigen Mitarbeiter in ihrer Bedeutung für den Patienten und die Gesamtbehandlung anzuerkennen, was sowohl die Vertreter anderer Psychotherapieschulen als auch die verschiedenen Berufsgruppen betrifft 5 Fähigkeit, sich in seiner Arbeitsweise und als Person den übrigen Mitarbeitern bzw. Teammitgliedern kenntlich zu machen 5 Fähigkeit, die unvermeidlichen Konflikte im Team auszutragen, ohne die Patienten zu involvieren« (Schmeling-Kludas & Wilke, 2000, S. 396)
Zu den spezielleren Anforderungen an einen (Gesprächs-)Psychotherapeuten im stationären Bereich gehören vor allem:
15
4 Gruppentherapie als Regelbehandlung. Der Gesprächspsychotherapeut sollte nicht nur über psychotherapeutische Kompetenz verfügen, die die Behandlung von Patienten in Gruppen einschließt, sondern sich bei der Gruppenarbeit auch wohlfühlen, d. h. auch das Gefühl zu haben, im Gruppensetting seine therapeutischen Möglichkeiten ausschöpfen zu können. 4 Notwendigkeit von Motivationsarbeit. In der stationären Psychotherapie hat der Gesprächspsychotherapeut in der Regel mehr »Motivationsarbeit« zu leisten als im ambulanten Setting. Der Patient, der den niedergelassenen Therapeuten aufsucht, kommt meistens mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Behandlungswunsch. Stationäre Psychotherapiepatienten, vor allem in rehabilitativen Einrichtungen, kommen nicht selten, weil ihnen ihr Wunsch nach vorzeitiger Berentung aus Krankheitsgründen abgeschlagen und stattdessen eine Rehabilitationsmaßnahme verordnet worden ist. 4 Notwendigkeit von Kontrolle und Sanktionen. Ein Therapievertrag im stationären Setting enthält sehr viel mehr Regelungen als der im ambulanten Bereich mit entsprechend höherer Wahrscheinlichkeit, dass gegen sie verstoßen wird. Ein Teil dieser Regelungen dient dazu, die Voraussetzungen für eine therapeutisch fruchtbare Gruppenarbeit zu gewährleisten, z. B. die regelmäßige und pünktliche Teilnahme an der Gruppentherapie. Verstöße gegen diese Regeln sind nicht nur ein Problem dessen, der diese Regel verletzt, sondern sie haben auch Auswirkungen auf den Gruppenprozess – z. B. im Hinblick auf die Entwicklung eines kohäsiven Gruppenklimas – und damit auf die therapeutische Entwicklung der anderen Patienten. Auch wenn der für den gegen die Regel verstoßenden Patienten zuständige Gesprächspsychotherapeut dieses Verhalten als Ausdruck einer bestimmten Inkongruenz verstehen kann, sollte er in der Lage sein, in Abstimmung mit den anderen Teammitgliedern die Frage nach notwendigen Sanktionen zu erörtern und die Entscheidung, die auch eine vorzeitige Entlassung sein kann, mitzutragen. Solche Regelverstöße und ihre Sanktionen sind oft Anlass für die o. g. »unvermeidbaren Konflikte« im Behandlungsteam.
412
15
Kapitel 15 · Gesprächpsychotherapie im stationären Rahmen
Eine ambulante Form von psychotherapeutischer Versorgung im stationären Rahmen sind »psychosomatische/psychotherapeutische Konsiliar- bzw. Liaisondienste«, die in einem Klinikum meistens von der psychosomatischen Klinik oder Abteilung für die anderen somatischen Kliniken angeboten werden. Sie werden von den behandelnden somatischen Ärzten dann in Anspruch genommen, wenn neben oder als Folge der somatischen Krankheit eine psychische Störung das Krankheitsbild mit bestimmt (7 Kap. 14). Diese Form von psychotherapeutischer Versorgung findet nicht selten unter »erschwerten« Bedingungen statt: Auch wenn die Dienste des Psychotherapeuten von einem behandelnden Arzt angefordert worden sind, ist häufig eine der ersten zu bewältigenden Aufgaben des Psychotherapeuten die, einen Termin zu vereinbaren, der nicht mit anderen somatischen Behandlungsmaßnahmen kollidiert, und einen Raum zu finden, in dem er ungestört mit dem Patienten sprechen kann. Meistens besteht die zu leistende Arbeit nicht in einer regulären Gesprächspsychotherapie, sondern in einem oder mehreren Beratungsgesprächen (7 Kap. 12) oder, falls gewünscht, in einer Sterbebegleitung (7 Kap. 14). Anders formuliert: Der Gesprächpsychotherapeut darf bei dieser Form der therapeutischen Inanspruchnahme in seinem Selbstwerterleben nicht darauf angewiesen sein, einen Menschen längere Zeit kontinuierlich begleiten zu können und dabei zu erleben, wie sich dessen Inkongruenzen mildern und er zunehmend der wird, »der er in Wahrheit ist«. Bestimmte somatische Kliniken, wie Unfallkliniken oder Herzchirurgien, haben feste Stellen für Psychologen/Psychotherapeuten eingerichtet, um auch die häufig notwendige psychologische Versorgung ihrer Patienten kontinuierlich und vor Ort zu sichern. Auch hier gestaltet sich die psychotherapeutische Arbeit anders als die des niedergelassenen Therapeuten. Hier hat sich bei Patienten, die sich bis vor dem Unfall mit schweren Folgeschäden (Rollstuhlfahrer) oder dem Ausbruch einer schweren Herzerkrankung mit der Notwendigkeit einer Operation am offenen Herzen als psychisch gesund und stabil erlebt haben, das Prinzip der »aufsuchenden« Psychotherapie bewährt. Diese Patienten können die Depression, die sie erfasst, oder die Angst, die sie überfällt und festhält, nicht mit ihrem Selbstkonzept
vereinbaren. Sie schämen sich z. B. und würden von sich aus nie den Wunsch nach psychotherapeutischer Hilfe äußern. Der »aufsuchende« Gesprächspsychotherapeut vereinbart z. B. während der üblichen Visite ein Einzelgespräch, in dem im Idealfall die akute Situation des Patienten und ihre Unvereinbarkeit mit seinem Selbstkonzept Thema wird. Die Notwendigkeit einer »aufsuchenden Psychotherapie« ergibt sich aus der Erkenntnis, dass traumatisierende Erfahrungen, wie ein Motorradunfall mit der Folge einer Querschnittslähmung, zu Belastungs- bzw. Anpassungsstörungen führen können, die unbehandelt einen chronischen Verlauf nehmen können. Auch diese Arbeit, bei der es sich primär um Schadensbegrenzung und weniger um die Befreiung von neurotischen Fesseln handelt, setzt eine hohe Flexibilität in der therapeutischen Arbeit voraus: Sie besteht aus Psychotherapie, Krisenintervention und Beratung – ohne feste Regeln dafür, was wann in welchem Umfang angebracht ist. Die einzige, dem Gesprächspsychotherapeuten zur Verfügung stehende »Behandlungsleitlinie« für die Arbeit mit einem bestimmten Patienten besteht auch hier in der Antwort auf die Frage: Welche meiner Interventionen tragen zu einer Beziehung bei, die es mir ermöglicht, den Patienten in seinen Erfahrungen empathisch bedingungsfrei positiv zu beachten und dabei kongruent zu bleiben.
15.4
Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie
Die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen wurde bisher vor allem in regulären stationären Psychotherapeutischen Einrichtungen untersucht. Der empirische Nachweis der Wirksamkeit von stationärer Psychotherapie ist nicht leicht zu führen, weil in der Regel noch andere therapeutisch wirksame Einflüsse vorliegen, z. B. Körpertherapie (z. B. Feldenkrais), Kunst- und Gestaltungstherapie, Tanztherapie, Ergotherapie, Sport, Massage und – last not least – das Zusammenleben mit den anderen Patienten auf der Station. Auf der Grundlage der empirischen Studien von Eckert und Biermann-Ratjen (1985), Böhme, Finke und Teusch (1998), Böhme, Teusch und Finke
413 15.4 · Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie
(2000), Teusch und Böhme (1999) und Teusch, Böhme und Finke (2001) sowie Tscheulin, Walter-Klose und Wellenhöfer (2000) lassen sich die Ergebnisse zur Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie wie folgt zusammenfassen:
Empirische Ergebnisse zur Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen 5 Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen über einen Zeitraum von drei Monaten ist für Patienten mit Störungen aus der großen Gruppe der Neurosen (ICD-9 Nomenklatur) ein wirksames Verfahren. Es lassen sich – auch im Vergleich mit Wartegruppenpatienten – signifikante positive Veränderungen in der Symptomatik und in Persönlichkeitsmerkmalen feststellen. 5 Die am Ende der stationären Behandlung gemessenen Veränderungen bleiben auch langfristig, d. h. bis mindestens zwei Jahre nach Behandlungsende erhalten. Zum Teil kommt es im Katamnesezeitraum zu weiteren Verbesserungen. Das konnte eine Studie auch in Effektgrößen ausdrücken: Die durchschnittliche Effektstärke am Ende der stationären Behandlung betrug ES=0,74, ein bis zwei Jahre später 0,82 (Tscheulin, Walter-Klose & Wellenhöfer, 2000). Die aus der ambulanten Einzeltherapie bereits bekannte Langzeitwirkung von Gesprächspsychotherapie scheint auch für das stationäre (Gruppen-)Setting zu gelten. 5 Untersucht man die Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie getrennt nach Diagnosen, zeigen sich keine wesentlichen Wirksamkeitsunterschiede. 5 Beim Vergleich der Wirksamkeit von gesprächspsychotherapeutischen mit psychoanalytisch orientierten Gruppentherapien, die zeitgleich auf derselben Psychotherapiestation durchgeführt wurden, zeigten sich keine bedeutsamen Unterschiede (Bestätigung des Äquivalenzparadoxon).
6
15
5 Beim Vergleich der Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie mit verhaltenstherapeutischer Reizkonfrontationstherapie bei der Behandlung von Patienten mit Agoraphobie zeigten sich Unterschiede bezüglich des Zeitpunktes der Veränderungen: Die Reizkonfrontationstherapie – entweder allein oder in Kombination mit Gesprächspsychotherapie – führte zwar schneller zu signifikanten Verbesserungen als die Behandlung nur mit Gesprächpsychotherapie (bis zum Zeitpunkt der Entlassung), aber nach einem Jahr war dieser Unterschied nicht mehr signifikant. 5 Wenn Unterschiede zwischen der Wirksamkeit der verschiedenen Therapieverfahren gefunden wurden, so waren sie nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. So schätzten sich psychoanalytisch behandelte Patienten dann als gebessert ein, wenn sie durch die Behandlung einen Zugewinn an innerer und äußerer Autonomie bei sich selbst verzeichneten, während gesprächspsychotherapeutisch behandelte Patienten sich dann als gebessert einstuften, wenn sie sich nach der Therapie als beziehungsfähiger erlebten.
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass viele Bereiche, in denen Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen zum Einsatz kommt, nicht oder nicht ausreichend empirisch erforscht sind. Das gilt z. B. für den klinisch so außerordentlich wichtigen Bereich der »aufsuchenden Psychotherapie«. ? Übungsfragen 5 Welche Gründe sprechen eher für eine stationäre als für eine ambulante Psychotherapie? 5 Nennen Sie mindestens eine spezielle therapiefördernde Bedingung in der stationären Psychotherapie. 5 Nennen Sie mindestens vier Anforderungen an einen stationär arbeitenden Psychotherapeuten. 5 Was versteht man unter »aufsuchender« Psychotherapie?
414
Kapitel 15 · Gesprächpsychotherapie im stationären Rahmen
15.5
Weiterführende Literatur
Schmeling-Kludas, C. & Wilke, E. (2000). Besonderheiten stationärer Psychotherapie. In: Reimer, C., Eckert, J., Hautzinger, M. & Wilke, E.: Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen (2. Aufl., S. 382–412). Berlin; Heidelberg: Springer.
15
16 16
Gruppenpsychotherapie J. Eckert
16.1
Zur Geschichte der Klientenzentrierten Gruppenpsychotherapie – 415
16.2
Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts – 417
16.2.1 16.2.2
16.1
Wesentliche Unterschiede zwischen Gruppen- und Einzeltherapie – 417 Eine gruppenbezogene Taxonomie der Klientenzentrierten Therapietheorie – 418
Zur Geschichte der Klientenzentrierten Gruppenpsychotherapie
Carl Rogers hatte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg eine Professur für Psychologie an der Universität Chicago inne und dort ein Counseling Center eingerichtet (7 Kap. 2.4). In seiner Eigenschaft als Leiter dieses Beratungszentrums erhielt er 1946 den Auftrag, einen kurzen, aber intensiven Ausbildungsgang für Berater von Kriegsveteranen zu entwickeln. Diese Berater sollten die zurückkehrenden Soldaten (»GI’s«) betreuen. Diese Ausbildung erfolgte in Gruppen. Die grundlegende Konzeption dieser Gruppen beschreibt Rogers (1970/1974a) wie folgt: »Die Chicagoer Gruppen waren in erster Linie auf persönliches Wachsen, auf Entwicklung sowie auf Verbesserung der interpersonalen Kommunikation und Beziehung ausgerichtet und mehr therapeutisch-empirisch orientiert als die Gruppen, die in Bethel ins Leben gerufen wurden« (1974a, S. 11). Mit den Gruppen in Bethel (Maine) sind die Trainingsgruppen, sog. T-groups, gemeint, die auf Überlegungen des Sozialpsychologen Kurt Lewin zurückgehen.
16.3
Wirksamkeit von Gruppenpsychotherapie – 420
16.4
Indikation für Gruppenpsychotherapie – 420
16.5
Differenzielle Indikation zur Einzel- oder Gruppenpsychotherapie – 421
16.6
Weiterführende Literatur
– 421
Es dauerte jedoch noch gut 20 Jahre, bis Gruppenarbeit und Gruppenpsychotherapie unter den klientenorientierten Psychotherapeuten tatsächliche Bedeutung erlangten. Ungefähr ab Mitte der 60erJahre tauchte die Gruppe als soziales Phänomen in vielen Lebensbereichen auf, zunächst in den USA, dann auch in Europa. Im Klappentext zu Horst Eberhard Richters 1972 erschienenen Bestseller »Die Gruppe« heißt es: »Die Gruppe ist nahezu über Nacht die Hoffnung vieler geworden, die sich von dieser neuen Lebensform Hilfe zur Überwindung individueller Einsamkeit und Ohnmacht, seelischen Leidens sowie sozialer und politischer Ineffizienz versprechen«. Der klientenzentrierte Beitrag zu dieser Bewegung heißt »Encounter-Gruppe«. Rogers veröffentlichte 1970 ein Buch mit dem Titel »On Encounter Groups« und charakterisierte die erste Konzeption dieser Form von Gruppenarbeit wie folgt: »Der begriffliche Unterbau dieser Bewegung bestand also anfänglich aus dem Denken Lewins und der Gestaltpsychologie einerseits und der Klientenzentrierten Therapie andererseits« (S. 11 f.). In der weiteren Entwicklung dieser Form von Gruppenarbeit wurde die ursprünglich auch the-
416
Kapitel 16 · Gruppenpsychotherapie
. Tab. 16.1. Vier Arten von Gruppenmethoden (nach Lieberman, 1977)
16
Art der Gruppe
Ziel
Personen
Leitung
Gruppenpsychotherapie
Wiederherstellung der seelischen Gesundheit bzw. Beseitigung seelischer Störungen
»Patienten«, »Klienten«
Fachleute (Psychologen, Ärzte)
Selbsterfahrungsgruppen
Entfaltung des persönlichen Potenzials
Größerer Personenkreis, eher Gesunde
Fachleute und Laien; geringere Distanz zwischen Leitung und Teilnehmer
Selbsthilfegruppen
Gegenseitige Unterstützung zur Bewältigung eines Problems
Homogen: Personen mit gemeinsamem Kernproblem
Keine fachbezogene Leitung; evtl. fachliche Beratung
Bewusstseinserweiternde Gruppen
Stärkung des (Selbst-)Bewusstseins als spezieller Bevölkerungsteil
Ethnische Minderheit; soziale Minderheit
Keine fachbezogene Leitung
rapeutische Zielsetzung aber fast gänzlich aufgegeben. Lieberman (1977) hat versucht, ein Ordnungsschema für die vielfältigen Formen von Gruppen zu finden. Er unterschied vier Arten von Gruppen (. Tab. 16.1). In diesem Rahmen betrachtet handelt es sich bei Encounter-Gruppen in erster Linie um Selbsterfahrungsgruppen. Bekannt geworden sind auch vereinzelte Versuche von Rogers, das Medium EncounterGruppe zur Lösung politischer Konflikte einzusetzen, z. B. in Nordirland. Die Entwicklung von Gruppenpsychotherapiekonzepten erfolgte zunächst schulengebunden, auch im Rahmen der Klientenzentrierten Psychotherapie. Meistens wurden wichtige Prinzipien der Einzeltherapie, z. B. die Förderung der Selbstexploration des Patienten, auf die Gruppensituation übertragen. Das führte häufig zu einer Form von Gruppenbehandlung, die als Einzeltherapie in der Gruppe zu kennzeichnen war, obwohl der Klientenzentrierte Gruppentherapeut Hobbs im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Einzel- und Gruppenpsychotherapie bereits 1951 (dtsch. 1973) feststellt: »Die Unterschiede beruhen auf der wichtigen Tatsache, dass bei der Einzeltherapie nur zwei Personen beteiligt sind, während bei der Gruppenpsychotherapie fünf oder sechs oder sieben Personen während des Prozesses aufeinander einwirken. Diese Vervielfältigung der Zahl der Teilnehmer bedeutet mehr als nur die Auswei6
tung der Einzeltherapie auf mehrere Personen gleichzeitig; sie stellt eine qualitativ andere Erfahrung mit einmaligen therapeutischen Möglichkeiten dar.« (Hobbs, 1973, S. 255) Erst allmählich wurden Konzepte entwickelt, die die Erkenntnis umsetzten, dass die Gruppe selbst ein wichtiger und starker therapeutischer Wirkfaktor ist. Im Zuge dieser Entwicklung wurden auch Schulengrenzen überschritten. Das wohl prominenteste Beispiel für diese Entwicklung ist das Gruppenpsychotherapiekonzept, das der amerikanische Psychiater Irvin Yalom erstmals 1970 als Buch publiziert hat: »The Theory and Practice of Group Psychotherapy« (dtsch. 1999, 5. Aufl.). Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Gruppenpsychotherapiekonzeptbildung im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts fällt nicht leicht, da sich kein einheitliches Konzept herausgebildet hat. Zwei Bücher markieren in Deutschland diesen Weg: 1978 erschien das Buch »Klienten-zentrierte Gruppenpsychotherapie« von Alexa Franke und zwei Jahre später das zweibändige Werk »Erlebnisorientierte Gruppenpsychotherapie« von Arnold Mente und Horst-Dietmar Spittler. Neuere Übersichten finden sich bei Lietaer & Keil (2002) und Eckert & Biermann-Ratjen (2001). Die Vielfältigkeit der Entwicklung Klientenzentrierter Gruppenarbeit im außerklinischen Bereich spiegelt sich in einem von Peter F. Schmid verfassten zweibändigen Handbuch »Personzentrierte Grup-
417 16.2 · Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie
penpsychotherapie« (1994) und »Personzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Praxis« (1996).
16.2
Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts
Die Gruppenpsychotherapie wird als ein Setting im Rahmen des Klientenzentrierten Psychotherapiekonzepts verstanden, für das ebenfalls die wesentlichen Grundannahmen der klientenzentrierten Einzeltherapie Gültigkeit haben: Im Zentrum der therapeutischen Arbeit steht eine bestimmte Art der Beziehung, die es dem Patienten ermöglicht, in einen Prozess der Selbstauseinandersetzung und Selbstempathie einzutreten mit dem Effekt, dass sich bestehende Inkongruenzen reduzieren bzw. aufgehoben werden. Unter therapietheoretischen Gesichtspunkten ist eine solche Beziehungserfahrung auch in einer Gruppenpsychotherapie eine Voraussetzung für konstruktive Veränderungen.
16.2.1
Wesentliche Unterschiede zwischen Gruppen- und Einzeltherapie
Die Rolle der Gruppe als Ganzes. Die Beziehungserfahrung des Patienten ist nicht mehr auf die Beziehung zum Therapeuten begrenzt, sie stellt sich auch zu anderen Gruppenmitgliedern und zur Gruppe als Ganzes ein. Ein Gruppenmitglied wird eine solche Beziehungserfahrung mit einem oder mehreren Gruppenmitgliedern in der Regel nur dann machen, wenn sich die Gruppe durch ein gewisses Ausmaß an Gruppenkohäsion auszeichnet, vor deren Hintergrund die anderen therapeutischen Prozesse, wie Selbstreflexion und Selbstexploration – auch bezogen auf interpersonale Erfahrungen im Hier und Jetzt des Gruppenprozesses – stattfinden. Gruppenkohäsion. Die vom Gesprächspsychotherapeuten in der Einzeltherapie geforderte Aufmerksamkeitszentrierung auf den Inneren Bezugsrahmen des Patienten mit den drei Bereichen Selbstkonzept, internalisierte Wertvorstellungen und Beziehung
16
zum Therapeuten (7 Kap. 9) erweitert sich in der Gruppenpsychotherapie um die Bereiche »Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern« und »Beziehung zur Gruppe als Ganzes«. Der therapeutische Prozess des individuellen Gruppenmitglieds wird davon beeinflusst, wie weit es sich in die Gruppe eingebunden und von ihr angezogen fühlt. Die Gruppe als Spiegel des Selbsterlebens. Das Selbsterleben eines Patienten erfährt in der Gruppenpsychotherapie eine mehrfache Spiegelung durch die Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder darauf. Sind die Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder auf die Selbstdarstellung eines Gruppenmitglieds nicht verstehend und/oder nicht akzeptierend, dann ist das zunächst ein Ausdruck des Scheiterns beim Versuch, zu verstehen, und/oder ein Ausdruck des antizipierten Scheiterns beim Versuch, sich verständlich zu machen. Analog zur Abweichung des Therapeuten von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung in der Einzeltherapie spiegeln die nicht akzeptierenden Reaktionen der Gruppenmitglieder in aller Regel den Teil des Erlebens dieses Gruppenmitglieds wider, den dieser mit seinem Selbstkonzept nicht vereinbaren kann (Eckert 2000c, Eckert u. Biermann-Ratjen 2001). Die Gruppe als Ort von unterschiedlichen Beziehungserfahrungen. Die Hauptaufgabe des Klien-
tenzentrierten Psychotherapeuten besteht in der Gruppen- wie in der Einzeltherapie darin, Beziehung(en) zu ermöglichen. Während in der Einzeltherapie die unmittelbare Beziehung zum Patienten den Schwerpunkt bildet, steht in der Gruppenpsychotherapie die Beziehung des Einzelnen zu den Anderen in der Gruppe – dazu gehört auch der Therapeut – im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit. Die therapeutische Arbeit besteht dabei erfahrungsgemäß über lange Zeit darin, das Scheitern beim Versuch, solche Beziehungen herzustellen und aufrecht zu erhalten, zu verstehen bzw. ein endgültiges Scheitern, d. h. einen Therapieabbruch, zu verhindern. Vertrauen in den Gruppenprozess. Rogers hatte für die Gruppe das Bild eines Organismus mit einer Aktualisierungstendenz: »Mir erscheint die Gruppe wie ein Organismus, der seine eigene Richtung kennt
418
Kapitel 16 · Gruppenpsychotherapie
… In ähnlicher Weise scheint mir eine Gruppe die ungesunden Elemente innerhalb ihres Prozesses zu erkennen, zu überwinden oder zu eliminierten und aus diesem Ablauf als eine gesündere Gruppe hervorzugehen« (Rogers, 1974a, S. 51). Diese Annahme ist die Grundlage für Rogers’ Vertrauen in die Fähigkeit der Gruppe, aus sich heraus die Bedingungen für den für alle Gruppenmitglieder besten Weg herzustellen. Rogers’ Annahmen über die mit der Aktualisierungstendenz verbundenen Gesetzmäßigkeiten von Entwicklung und Wachstum lassen sich gut mit den Prinzipien von Selbstorganisation erklären, die heute in den modernen Naturwissenschaften ein gängiges Erklärungsmodell für viele Phänomene sind, bei denen es um Gesetzmäßigkeiten von Zustandsänderungen geht (7 Kap. 3.2.3). Klinische Erfahrungen, die dieses Vertrauen in den Gruppenprozess rechtfertigen, lassen den Gruppenverlauf strukturierende Maßnahmen, sogar ein »Blitzlicht« am Anfang und/oder Ende der Sitzung, häufig nicht nur als überflüssig, sondern sogar als störend erscheinen. Gruppenprozessmerkmale. Zu den in der ge-
16
sprächspsychotherapeutischen Einzeltherapie als wichtig erachteten Prozessmerkmalen treten in der Gruppe weitere hinzu, von denen allerdings nur wenige unmittelbar aus dem Klientenzentrierten Konzept heraus entwickelt und empirisch überprüft worden sind, wie das Klientenmerkmal »Mitfühlendes Verstehen« (Mente u. Spittler, 1980). In der Praxis orientieren sich daher viele Klientenzentrierte Gruppenpsychotherapeuten an dem empirisch überprüften schulenübergreifenden Wirkfaktorenkonzept von Yalom (s. unten), das die wichtigen gruppenspezifischen Prozesse beschreibt, wie interpersonales Lernen oder die Entwicklung von Gruppenkohäsion. ! Aus klientenzentrierter Sicht bleibt das zentrale Prozessmerkmal des Patienten sein durch Selbstreflexion und Selbstexploration zum Ausdruck gebrachtes Erleben im Hier und Jetzt des Gruppenprozesses.
Abschließend ist festzuhalten, dass sich keine einheitliche und umfassende Klientenzentrierte Theorie der Gruppenpsychotherapie herausgebildet hat, auch wenn die Anzahl der Gruppenkonzepte im
engeren klinisch-psychotherapeutischen Bereich überschaubar geblieben ist. Eine Konzeptvielfalt gibt es eher im außerklinischen Bereich. Im klinischen Bereich besteht das spezifisch Gesprächspsychotherapeutische vor allem in der Beibehaltung der Grundannahmen des Klientenzentrierten Konzepts über die Entwicklungs- und Veränderungsbedingungen für psychische Störungen. Das soll im Folgenden nochmals deutlich gemacht werden.
16.2.2
Eine gruppenbezogene Taxonomie der Klientenzentrierten Therapietheorie
Bereits bei der Darstellung der Einzeltherapie wurde darauf hingewiesen, dass die von Rogers entwickelten theoretischen Grundlagen des Klientenzentrierten Konzepts (z. B. Rogers, 1959b) zum Teil nur unzureichend elaboriert und zudem überwiegend auf einem so hohen Abstraktionsniveau formuliert sind, das viele Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsspielräume offen bleiben. Wie bereits ausgeführt (7 Kap. 9.2), hat Höger (1989, S. 199 f.) vier Abstraktionsebenen, auf denen das therapeutische Beziehungsangebot formuliert wird, im Sinne einer Taxonomie unterschieden. Das Setting Gruppenpsychotherapie kann auf den vier Ebenen wie folgt beschrieben werden (Eckert & Biermann-Ratjen, 2001, S. 340): Ebene I – Die Ebene der »therapeutischen Beziehung«. Die Gruppe ist als therapeutische Situation
– und z. B. nicht als Selbsthilfegruppe – definiert mit festgelegten Rollen bzw. Aufgaben der Beteiligten (Therapeuten und Gruppenmitgliedern). Sie ist auch keine spontan zustande kommende Gruppe. Vielmehr gibt es Vereinbarungen über ihre Modalitäten, u. a. die Frequenz der Gruppensitzungen, die Zahl der probatorischen Sitzungen, die voraussichtliche Dauer, den Abschluss, die Therapieziele und die Finanzierung. Ebene II – Die Ebene zusammenfassender Merkmale. Diese Merkmale charakterisieren das ge-
sprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot Gruppe, insbesondere die Merkmale »Bedingungsfreie Positive Beachtung«, »Empathisches Verste-
419 16.2 · Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie
hen« und »Kongruenz«. Gruppenspezifisch werden bei der Aufmerksamkeitszentrierung auf den Inneren Bezugrahmen der Patienten (7 Kap. 9.3.3) zu den drei Bereichen Selbstkonzept, internalisierte Wertvorstellungen und Beziehung zum Therapeuten die Bereiche »Beziehung zu anderen Gruppenmitgliedern« und »Beziehung zur Gruppe als Ganzer« hinzu genommen. Das Beziehungsangebot Gruppe wird als therapeutisch angesehen, wenn das Selbsterleben eines Patienten von den anderen Gruppenmitgliedern empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet wird, bzw. – analog zur Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Therapeuten in der Einzeltherapie – die nicht bedingungsfrei akzeptierenden Reaktionen der Gruppe als Spiegel der Beziehung angesehen werden, die der Patient zu sich selbst hat: Sie spiegeln den Teil des Erlebens des Gruppenmitglieds wider, den dieser mit seinem Selbstkonzept nicht vereinbaren kann. Die therapeutische Qualität der Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander und zum Therapeuten wird am Grad der Gruppenkohäsion deutlich. Ebene III – Die Ebene einer zusammenfassenden Klassifikation von einzelnen Verhaltensformen. Zu
solchen Verhaltensformen gehört z. B. die »Selbstexploration des Patienten«. Der Therapeut fördert gezielt die gruppenpsychotherapeutischen Wirkfaktoren, z. B. Kohäsion und interpersonales Lernen. Das geschieht durch die Berücksichtigung des aktuellen Gruppenprozesses bei der Verbalisierung der Erfahrungen der Gruppenteilnehmer (prozessbezogene Interventionen). Beispiel: Ein Patient (Akteur) berichtet in der Gruppe über eine bestimmte Erfahrung. Die Gruppe schweigt dazu. Der Patient schweigt nun ebenfalls, zieht sich sichtbar enttäuscht zurück. Eine prozessbezogene therapeutische Intervention würde sowohl das Schweigen der Gruppe als Reaktion auf die Darstellung des Akteurs als auch die Enttäuschung des Akteurs als Reaktion auf die ausbleibende Reaktion der Gruppe beinhalten. Ebene IV – Die Ebene der konkreten Verhaltensweisen von Therapeut und Patient. Diese Ebene
bezieht sich auf ein bestimmtes beobachtetes bzw. dokumentiertens therapeutisches Gespräch bzw. eine bestimmte Gruppensitzung. Beispielsweise hat
16
der Therapeut in einer Gruppensitzung angesprochen, dass die Gruppe sehr genau darauf achtet, dass jedes Gruppenmitglied in etwa dieselbe Zeit zur Darstellung seines Anliegens während einer Gruppensitzung zur Verfügung hat. Er bietet als Erklärung an, dass die Etablierung dieser Gruppennorm offenbar verhindern soll, dass Neid und Missgunst aufkommen und den Gruppenfrieden stören, dass aber zugleich die Erfahrung verhindert wird, wie jeder einzelne mit solchen Gefühlen umgeht. Wie in der Einzeltherapie stehen die vier Ebenen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, für die die beiden folgenden Gesetzmäßigkeiten gelten: 4 Die Gesetzmäßigkeiten einer Ebene dürfen die Gesetzmäßigkeiten der nächsthöheren Ebene nicht verletzen. Beispiel: Die Verbalisierung der Erfahrungen eines Patienten durch den Therapeuten (Ebene III) darf nicht dazu führen, dass die Entwicklung von Gruppenkohäsion (Ebene II) behindert wird. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn der Gruppentherapeut Einzeltherapie in der Gruppe durchführt. 4 Die Gegebenheiten einer Ebene lassen sich aus den jeweils höheren Ebenen nicht eindeutig ableiten. Beispiel: Wenn ein Therapeut wahrnimmt, dass sich in der Gruppe eine den Gruppenprozess behindernde Gruppennorm ausgebildet hat (Ebene III), dann ist noch nicht festgelegt, wie er mit dieser Wahrnehmung in der konkreten Situation therapeutisch umzugehen hat (Ebene IV). Fest steht nur, dass seine konkrete Reaktion die Regeln der darüber liegenden Ebenen nicht verletzen darf. Er kann etwa, wie oben als Beispiel dargestellt, die Gruppe auf das Bestehen dieser Norm und ihre möglichen Ursachen und Konsequenzen hinweisen oder die Reaktion der Gruppe auf die Norm zum Thema machen. Auch wenn bei der Darstellung der Theorieebenen nochmals deutlich wird, dass es keine elaborierte Handlungstheorie auf der Abstraktionsebene IV gibt, gilt folgende allgemeine Handlungsregel: ! Richte Dein konkretes therapeutisches Handeln in der Gruppe danach aus, dass die auf den Ebenen I bis III genannten Bedingungen nach Möglichkeit gefördert werden.
420
16.3
Kapitel 16 · Gruppenpsychotherapie
Wirksamkeit von Gruppenpsychotherapie
Die häufig von Patienten, aber auch von Therapeuten geäußerte Vermutung, dass Gruppenpsychotherapie nicht so hilfreich sei wie Einzeltherapie, wurde in vielen hundert Studien widerlegt. 1996 fasste Strauß den Wissensstand über die generelle Effektivität von Gruppenpsychotherapie – auch im Vergleich mit Einzeltherapie – zusammen (Strauß, 1996, S. 32 f.): 4 Gruppenpsychotherapie ist effektiv im Vergleich zu Kontrollbedingungen ohne Behandlung. 4 Im Vergleich zur Einzeltherapie bzw. anderen Behandlungsformen ist Gruppenpsychotherapie ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. 4 Möglicherweise ist die Abbrecherrate in Gruppen höher als in Einzeltherapien. 4 Insgesamt gesehen ist aus ca. 700 Studien in den letzten zwei Jahrzehnten zu folgern, dass das Gruppensetting bei unterschiedlichen Störungsbildern und mit unterschiedlichen Behandlungsmodellen konsistent positive Effekte produziert. ! Wie für die Effektivität von Einzeltherapie scheint auch für Gruppenpsychotherapie das Äquivalenzparadoxon (Meyer, 1990, S. 288) zu gelten: Die theoretisch unterschiedlichen Gruppenpsychotherapien weisen keine gravierenden Unterschiede im Behandlungserfolg auf.
16
Die neuere Gruppenforschung untersucht daher fast ausschließlich störungsspezifische Gruppenbehandlungen mit dem Ziel, doch Aussagen über die differenzielle Effektivität spezifischer gruppentherapeutischer Ansätze machen zu können (Burlingame, MacKenzie & Strauß, 2001; 2002).
16.4
Indikation für Gruppenpsychotherapie
Ein wichtiges Kriterium für die Indikationsstellung im Bereich Psychotherapie ist das Prinzip der Problemaktivierung. Die therapeutische Erfahrung, aber auch empirische Befunde belegen, dass »die problematischen Bedeutungen, die das Leiden des Patienten ausmachen, dann wirksam verändert werden
können, wenn diese Bedeutungen in der Therapie real zum Erleben gebracht werden können« (Grawe, 1995, S. 136). In einer Gruppenpsychotherapie werden vor allem die interpersonalen Probleme von Patienten sichtbar: Die frei interagierende Therapiegruppe ist ein »sozialer Mikrokosmos« (Yalom, 1996), in dem der interpersonale Stil eines jeden Mitglieds und damit auch seine unangepassten – heute sagt man dysfunktionalen – sozialen Verhaltensweisen sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Patienten mit ausgeprägten interpersonalen Problemen zu einer Gruppenpsychotherapie als Methode der Wahl geraten wird. Es wird erwartet, dass ein Patient besonders dann von der Gruppentherapie profitieren wird, wenn seine interpersonalen Probleme im Vergleich zu seinen nicht interpersonalen Problemen (Symptomen) deutlich im Vordergrund stehen.
Interpersonale Probleme, bei denen eine Gruppenpsychotherapie indiziert ist (Yalom, 1996, S. 256) 5 Soziales Rückzugsverhalten und (unfreiwillige) Einsamkeit 5 Schüchternheit und Gehemmtheit 5 Unfähigkeit zu Nähe und Liebe 5 Unangemessenes Konkurrenzverhalten 5 Autoritätsprobleme 5 Übertriebene Aggressivität und Streitsucht bzw. chronisch provozierendes Verhalten 5 Übertriebenes Misstrauen 5 Narzissmus, einschließlich der Unfähigkeit zu teilen und sich einzufühlen oder Kritik zu akzeptieren sowie eines ständigen Bedürfnisses nach Bewunderung 5 Angst, sich durchzusetzen 5 Unterwürfigkeit und Abhängigkeit 5 Angst, in dem Bedürfnis, Liebe zuzugeben, ausgenutzt zu werden
Gruppenpsychotherapie scheint auch bei Störungen, die mit ausgeprägten Schamgefühlen einhergehen, wie die meisten Suchterkrankungen, sehr wirksam zu sein, wenn die Behandlung in diagnostisch homogenen Gruppen, der z. B. nur Patientinnen mit
421 16.6 · Weiterführende Literatur
Bulimie angehören, erfolgt. In der stationären Psychotherapie (Schmeling-Kludas u. Wilke, 2000) gehört Gruppenpsychotherapie neben Einzelpsychotherapie und anderen therapeutischen Angeboten (u. a. Kunst-, Musik- und Gestaltungstherapie) zum Behandlungsstandard. Damit wird zum einen dem Umstand Rechnung getragen, dass die Patienten dadurch, dass sie für eine gewisse Zeit auf einer Station zusammenleben, viele soziale Kontakte miteinander haben (»Realraum«) und die dabei entstehenden Konflikte in der Therapiegruppe (»Therapieraum«) in der direkten Interaktion geklärt und aufgearbeitet werden können. Zum anderen ermöglicht Gruppenpsychotherapie im stationären Rahmen für den einzelnen Patienten eine höhere Therapiedosis als bei einem Setting, in dem nur Einzeltherapie durchgeführt wird.
16.5
Differenzielle Indikation zur Einzel- oder Gruppenpsychotherapie
Untersuchungen (Eckert et al. 1997) haben gezeigt, dass in der Praxis die Empfehlung für eine Einzeltherapie bzw. Gruppenpsychotherapie im Hinblick auf die interpersonale Problematik eines Patienten folgender »Regel« folgt: ! Differenzielle Indikation für Einzel- oder
16
eine endgültige Entscheidung für oder gegen eine Fortsetzung der Gruppenbehandlung gefällt werden kann, tragen dazu bei, dass die Quote der Abbrecher nicht wesentlich über der bei Einzeltherapie liegt. ! Für viele Patienten ist Gruppentherapie ein sehr geeignetes Setting, von dem sie häufig mehr und/ oder anders profitieren als von einer Einzeltherapie; für nicht wenige Patienten ist Gruppe die Behandlung der Wahl, sie würden von einer Einzeltherapie nicht profitieren, sondern sie u. U. vorzeitig abbrechen.
? Übungsfragen 5 Was unterscheidet eine Encounter-Gruppe von einer Psychotherapiegruppe? 5 Was versteht man unter Gruppenkohäsion? 5 Mit welchem therapeutischen Faktor in der Einzeltherapie wird Gruppenkohäsion häufig verglichen? 5 Wie sind die Therapieeffekte von Gruppenpsychotherapie im Vergleich zur Einzeltherapie? 5 Nennen Sie mindestens drei interpersonale Probleme, für die eine Gruppenpsychotherapie als Behandlung der Wahl gilt. 5 Worin liegen die Vorteile einer Gruppenbehandlung im Vergleich zur Einzeltherapie? 5 Worin liegen die Nachteile einer Gruppenbehandlung im Vergleich zur Einzeltherapie?
Gruppenpsychotherapie 4 Patienten, die von Interviewern als ausgeprägt streitsüchtig/konkurrierend und kalt/abweisend eingeschätzt werden, wird eher zu einer Gruppenpsychotherapie als zu einer Einzeltherapie geraten. 4 Patienten, die von Interviewern als ausgeprägt ausnutzbar/nachgiebig eingeschätzt werden, wird eher zu einer Einzeltherapie als zu einer Gruppenpsychotherapie geraten.
Die Empfehlung zu einer Gruppenpsychotherapie ist natürlich sehr sorgfältig mit dem Patienten zu erörtern. Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich mehr Patienten spontan für eine Einzeltherapie als für eine Gruppentherapie. Eine gute Vorbereitung auf die Gruppenbehandlung und eine Vereinbarung, dass mindestens acht Gruppensitzungen abgewartet werden sollten, bevor
16.6
Weiterführende Literatur
Eckert, J. & Biermann-Ratjen, E.-M. (2001). Klientenzentrierte Gruppenpsychotherapie. In: Tschuschke, V. (Hrsg.). Praxis der Gruppenpsychotherapie. (S. 335–342). Stuttgart: Thieme. Lietaer, G. & Keil, W.W. (2002). Klientenzentrierte Gruppenpsychotherapie. In: Keil, W.D. & Stumm, G. (Hrsg.). Die vielen Gesichter der personzentrierten Psychotherapie. (S. 295–317). Wien: Springer. Yalom, I.D. (1970). The Theory and Practice of Group Psychotherapy. New York: Basic Books. (dtsch. 1999, Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. 5. Auflage, München: Pfeiffer)
17 17
Paartherapie J. Eckert
17.1
Einführung
– 423
17.3
17.2
Die Entwicklung eines Konzepts Klientenzentrierter Psychotherapie mit Paaren – 423
Klientenzentrierte Paartherapie – 426
17.4
Weiterführende Literatur
17.1
Einführung
Definition »Von Paartherapie im engeren Sinn wird dann gesprochen, wenn es um eine Therapie geht, deren Anlass Probleme in einer Paarbeziehung sind, und wenn beide Partner gleichzeitig bei den Therapiesitzungen anwesend sind« (Auckenthaler, 2003a, S. 222).
Die Gesprächspsychotherapie wurde im Wesentlichen als Einzeltherapie entwickelt und erforscht. Ihre Theorie basiert auf der Konzeption einer therapeutisch wirksamen Beziehung zwischen Patient und Therapeut insofern, als sie dem Patienten eine Entwicklung im Sinne von persönlichem Wachstum mit konstruktiven Persönlichkeitsveränderungen ermöglicht. Parallel zur Entwicklung der Einzeltherapie wurden sehr früh Klientenzentrierte Gruppenkonzepte (7 Kap. 16) und Konzepte für die therapeutische Arbeit mit Kindern (7 Kap. 11) und Familien (Gordon, 1970, 7 Kap. 18) vorgestellt. Vergleichbare Entwicklungen im Bereich der Paartherapie fehlten lange Zeit, obwohl in der Praxis Gesprächspsychotherapeuten immer auch Behandlungen von Paaren durchführten (Pavel, 1978, S. 125–134). Das von Rogers (1972a) publizierte Buch »Becoming Partners: Marriage and its Alternatives« erschien in Deutschland 1975 unter dem nicht ganz zutreffenden Titel »Partnerschule«. Es handelt von Partnerschaft und partnerschaftlichem Zusammenleben und ist keine systematische Darstellung von Partnertherapie.
17.2
– 427
Die Entwicklung eines Konzepts Klientenzentrierter Psychotherapie mit Paaren
Die beschriebene Lücke wurde in Deutschland durch die Monographie von Auckenthaler (1983) geschlossen. In ihr setzt sich die Autorin zunächst mit der Frage auseinander, ob sich innerhalb des Klientenzentrierten Konzepts die Möglichkeit einer theoretischen Fundierung partnertherapeutischen Handelns ergibt. Dabei stützt sie sich vor allem auf Rogers’ »Theorie der Therapie« (1959b) und seine »Theorie der Interpersonellen Beziehungen« (Rogers, 1959b, S. 235 ff.) und prüft in einem ersten Analyseschritt, ob das generelle Ziel einer Paartherapie, nämlich die »Verbesserung der Beziehung«, mit dem generellen Ziel von Gesprächspsychotherapie kompatibel ist und kommt zu folgendem Schluss: »›Eigentliches‹ Ziel der klientenzentrierten Psychotherapie ist eine Veränderung der Beziehung des Klienten zu sich selbst. Als zwangsläufige Folge dieser veränderten Beziehung zu sich selbst nimmt er auch eine andere Beziehung zu anderen auf. Eine Veränderung in der Art der Beziehungsaufnahme zu anderen ist damit Teil des Veränderungskonzepts der klientenzentrierten Psychotherapie. Nach erfolgreicher Therapie ist der Klient ›beziehungsfähiger‹; er ist fähig sich auf eine andere Beziehung zu sich selbst und anderen einzulassen, indem er sich und andere realistischer und genauer wahrnimmt, seine Gefühle sich selbst und anderen besser zugänglich macht (d. h. in Bezug auf die anderen: sie anderen besser mit6
424
Kapitel 17 · Paartherapie
teilt), sich und andere besser versteht und akzeptiert.« (Auckenthaler, 1983, S. 60 f.) Dabei bleibt jedoch offen, ob sich diese Veränderungen auch im Sinne einer Verbesserung der Beziehung auswirken. Deshalb prüft Auckenthaler in einem zweiten Analyseschritt, was die persönlichkeits- und therapietheoretischen Annahmen des Klientenzentrierten Konzepts unter einer »guten Beziehung« verstehen und unter welchen Bedingungen sie sich etablieren kann. »Vorausgesetzt, es besteht ein Minimum an gegenseitiger Bereitschaft, miteinander in Kontakt zu sein und vom anderen Mitteilungen zu empfangen, kann man sagen: Je größer die mitgeteilte Kongruenz von Erfahrung, Bewusstsein und Verhalten auf der Seite eines Individuums ist, um so mehr wird die nachfolgende Beziehung zu wechselseitiger Kommunikation mit denselben Qualitäten tendieren, zu wechselseitigem genauen Verstehen der Mitteilungen, zu verbesserter psychologischer Anpassung auf beiden Seiten und zu beidseitiger Zufriedenheit mit der Beziehung. Je größer umgekehrt die mitgeteilte Inkongruenz von Erfahrung, Bewusstsein und Verhalten ist, um so mehr wird die nachfolgende Beziehung weitere Kommunikation mit derselben Qualität aufweisen, weniger genaues Verstehen, verminderte psychologische Anpassung auf beiden Seiten und beidseitige Unzufriedenheit mit der Beziehung.« (Rogers, 1959, zitiert nach Auckenthaler, 1983, S. 65)
17
Rogers hat diese Ausführungen einschränkend als den »Versuch eines Gesetzes interpersoneller Beziehungen« gekennzeichnet. Diese von Rogers vorgenommene Übertragung wichtiger Aspekte einer therapeutischen Beziehung auf die Qualität einer Partnerbeziehung sollte die gravierenden Unterschiede zwischen einer therapeutischen und einer Partnerbeziehung nicht verschleiern: Zum einen unterscheiden sich Therapiebeziehung und Partnerbeziehung im Hinblick auf das Ausmaß an wechselseitigem Austausch von Wünschen und Bedürfnissen, und zum anderen
basiert die Qualität einer Partnerbeziehung nicht in erster Linie auf Kommunikation, sondern auf gelingenden Abstimmungsprozessen, in denen es um Körperlichkeit (u. a. »Aussehen«), Sexualität, Kinderwunsch, Umgang mit Kindern, materielle Sicherheit, Einstellungen zu ethischen und gesellschaftlichen Fragen etc. geht. Eine auf eine therapeutische Beziehung reduzierte Partnerbeziehung verdient den Namen Partnerschaft nicht. Das führt zu dem Schluss: »Die theoretische Grundlegung einer klientenzentrierten Partnertherapie muss daher die Verbindung (Integration) der beiden genannten Theorien (Theorie der Therapie und Theorie der interpersonellen Beziehungen) versuchen, die gleichzeitig die Berücksichtigung der Beziehung zwischen Therapeut und Klient einerseits sowie zwischen zwei (Alltags-) Partnern andererseits ermöglicht.« (Auckenthaler, 1983, S. 69) Die Autorin übernimmt das Schema, das Rogers der Darstellung seiner »Theorie der Therapie« zugrunde gelegt hat und überträgt es auf die Situation der Therapie mit Paaren und kommt zu folgenden Ergebnissen (Auckenthaler, 1983, S. 71 ff.): 1. »Zwei Partner, X und Y, sind in einem psychologischen Kontakt mit einem Therapeuten. 2. X und Y möchten (wenigsten in einem minimalen Ausmaß) miteinander in Kontakt sein und kommunizieren. 3. Sowohl X als auch Y sind in einem Zustand der Inkongruenz, verletzbar und ängstlich. 4. Die Inkongruenzen der beiden Partner (X und Y) haben Auswirkungen auf die Beziehung zwischen X und Y: 5 Die Kommunikation zwischen X und Y ist widersprüchlich und/oder mehrdeutig bzw. oberflächlich. Beide erleben diese Widersprüchlichkeiten und/oder Mehrdeutigkeiten bzw. Oberflächlichkeit. 5 Da X und Y verletzbar sind, nehmen sie sich gegenseitig als potenziell bedrohlich wahr. 5 Daher nehmen sie einander in verzerrter Weise wahr. 5 Sie können daher auch den Inneren Bezugsrahmen des anderen nicht genau wahrnehmen, was bedeutet, dass sie nicht fähig sind,
425 17.2 · Die Entwicklung eines Konzepts Klientenzentrierter Psychotherapie
5
5
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5
5
5
einander einfühlend zu verstehen. Beide merken, dass sie vom anderen nicht verstanden werden. Da sie sich gegenseitig als potenziell bedrohlich wahrnehmen, können sie einander nicht bedingungslos wertschätzen. Beide merken, dass sie vom anderen nicht bedingungslos akzeptiert werden. Je mehr X und Y merken, dass sie vom anderen nicht genau verstanden und nicht bedingungslos akzeptiert werden, umso weniger werden sie ihre (auf die eigene Person gerichteten) Gefühle ausdrücken, umso weniger können sie den Inneren Bezugsrahmen des anderen genau wahrnehmen, und sowohl die Ungenauigkeit der Wahrnehmung als auch die Verzerrung der Wahrnehmung lassen Verteidigungshaltungen von X und Y wahrscheinlicher werden. Vor allem dann, wenn sich X und Y einander vorwiegend negative Gefühle mitteilen, kann es passieren, dass sie jene Aspekte der Erfahrung, die sie nicht genau in ihrem Bewußtsein symbolisieren, aufgrund defensiver Wahrnehmungsverzerrung beim anderen wahrnehmen. In diesem Fall fühlen sie sich voneinander in dem Ausmaß bedroht, in dem diese Aspekte der Erfahrung in Beziehung zu ihren eigenen Inkongruenzen stehen, und sie verhalten sich defensiv. Je weiter dieser Prozess fortschreitet, umso mehr nimmt die Verteidigungshaltung von X und Y zu, umso oberflächlicher wird die Kommunikation zwischen X und Y, umso starrer nehmen X und Y sich selbst und den anderen wahr, umso wahrscheinlicher wird es, dass sowohl bei X als auch bei Y die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung zunimmt. Sowohl X als auch Y erleben die Beziehung als unbefriedigend.«
17
Der vierte Satz enthält zwei grundsätzliche Annahmen: 4 Die Inkongruenz der beiden Partner, für die eine Klientenzentrierte Paartherapie indiziert ist, ist eine spezifische: Sie wirkt sich unmittelbar und negativ auf die Beziehung zwischen den beiden aus mit der Folge, dass beide die Beziehung als unbefriedigend erleben. Nicht selten wird jedoch von Paaren die Beziehung zwar als unbefriedigend, aber nicht als behandlungsbedürftig erlebt. Als behandlungsbedürftig gilt vielmehr der Partner, dessen Inkongruenz zur Entwicklung eines Symptoms geführt hat, z. B. entwickelt die Ehefrau Angstzustände, die es ihr unmöglich machen, die Wohnung ohne Begleitung des Mannes zu verlassen. Der Ehemann »leidet« dann nicht unter einer unbefriedigenden Beziehung, sondern darunter, dass er durch die Krankheit seiner Frau zeitlich in einem kaum erträglichen Maß eingeschränkt wird. 4 Als Voraussetzung für eine Veränderung der Beziehung zum anderen wird die Veränderung der Beziehung zu sich selbst angesehen. Erst wenn beide Partner einen besseren, d. h. genaueren und vollständigeren, Zugang zum eigenen Erleben, z. B. zu ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen, haben und es bedingungsfrei positiver beachten können, kann sich die Beziehung zum anderen verändern. Für die Behandlungspraxis bedeutet das, dass sich das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Paartherapeuten an zwei Individuen mit individuellen Inkongruenzen richtet: »Klientenzentrierte Paartherapie ist Psychotherapie mit zwei Klienten« (Auckenthaler, 1983, S. 80). Bei dieser Sichtweise ist also die Beziehung des Paares nicht der zentrale Gegenstand der Therapie, weil beide erst ihre jeweilige Beziehung zu sich selbst ändern müssen, wenn sie ihre Beziehung zueinander ändern wollen. Das soll die folgende Fallvignette verdeutlichen.
426
Kapitel 17 · Paartherapie
Fallvignette
Differenzielle Strategien in der Paartherapie Die Frau eines Paares in Paartherapie beklagt, dass ihr Mann ihr nicht zuhören könne. Sie könne kaum einen Satz zu Ende sprechen, ohne dass ihr Mann ihr ins Wort falle. Auseinandersetzungen mündeten deshalb immer in sinnlose Streitereien. Der Paartherapeut, der das Ziel verfolgt, zunächst die Kommunikation des Paares zu verbessern, könnte mit dem Paar die Regel vereinbaren, das erst dann auf eine Äußerung geantwortet werden darf, wenn der Wortführende ein deutliches Signal gibt, dass er seine Ausführungen beendet hat. Darüber hinaus könnte er weitere die Kommunikation fördernde Regeln einführen und einüben. Der Klientenzentrierte Paartherapeut würde seine Aufmerksamkeit zunächst folgenden zwei Fragen widmen:
17.3
17
Klientenzentrierte Paartherapie
Während in Auckenthalers (1983) Theorie der Klientenzentrierten Paartherapie die Voraussetzungen für eine gute Beziehung der Partner, nämlich die Beziehungsfähigkeit des Einzelnen, Gegenstand der Therapie ist, kommt Linster (2000) auf der Grundlage seiner Konzeption einer Klientenzentrierten Paartherapie zu dem Schluss, dass es erforderlich ist, »speziell die ›gemeinsame Arbeit an der Beziehung‹ im Rahmen der Paartherapie einzuführen und damit auch den bisherigen … Lösungsversuchen durch einen neuen Rahmen eine neue Chance zu geben« (Linster, 2000, S. 289). Zur Therapiedurchführung führt Linster (2000) aus, dass sie zwischen erlebens- und erkenntnisbezogenen Prozessen und der »Bearbeitung« individueller und interaktioneller Erfahrungen pendele. Da als ein Schwerpunkt die Arbeit am Beziehungskonzept genannt wird, unterscheiden sich die Konzepte von Auckenthaler und Linster in der therapeutischen Praxis vermutlich nicht gravierend. Einen direkten Vergleich auf empirischer Grundlage gibt es allerdings bislang nicht.
5 Stimmt die Selbstwahrnehmung des Mannes mit der Wahrnehmung seiner Frau überein? Wenn nicht, wo liegt die Quelle der Nichtübereinstimmung? 5 Wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung übereinstimmen: Welche Erfahrungen und welche damit verbundenen Befürchtungen führen dazu, dass der Mann seiner Frau bei Auseinandersetzungen regelmäßig »das Wort abschneidet«? Es ist davon auszugehen, dass die beiden skizzierten therapeutischen Vorgehensweisen durchaus zu demselben Ziel, nämlich zu einer Verbesserung der Beziehung, führen. Es ist aber im Rahmen einer Indikationsstellung zu prüfen, welche der beiden Vorgehensweisen für das Paar besser geeignet ist (7 Kap. 8, »Ansprechbarkeit für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot«).
Einen Einblick in das konkrete Vorgehen bei einer Paartherapie nach dem Konzept von Auckenthaler gibt das Kapitel 5 ihres Buches (Auckenthaler, 1983). Unsere eigenen Erfahrungen mit Paartherapien sind die, dass es wie in der Gruppentherapie weniger wichtig ist, sozusagen modellhaft einfühlendes Verstehen und unbedingte Wertschätzung für die sich jeweils selbst explorierende – oder beim Selbstexplorationsversuch scheiternde – Person zum Ausdruck zu bringen, als sich darum zu kümmern, ob und wie sie vom Partner – den anderen Gruppenmitgliedern – verstanden und damit gegebenenfalls missverstanden wird. Dadurch wird die je eigene Inkongruenz bzw. wird das Erleben des sich vom anderen und den eigenen Erfahrungen bedroht Fühlens für die Partner selbst erlebbar. ! Das Setting Paartherapie fördert eine Problemaktualisierung (7 Kap. 8.4.2), die den therapeutischen Prozess erleichtern und beschleunigen kann bzw. machmal erst möglich macht.
427 17.4 · Weiterführende Literatur
17
Exkurs
Veränderungen der Selbstkonzepttheorie Die zentrale Stellung der Arbeit an der Beziehung der Partner zueinander wird damit begründet, dass Menschen »nicht nur von ihrem Selbst als Objekt der Wahrnehmung ein Bild entwickeln, sondern auch von ihren signifikanten aktuellen, früheren und zukünftigen Beziehungen« (a. a. O., S. 287). Es wird also neben das Konzepts des Selbst (7 Kap. 3.3.3) ein Konzept der Beziehung gestellt, das als ein Organismus mit eigener Aktualisierungs- und Selbstaktualisierungstendenz aufgefasst wird. Die Annahme eines eigenständigen Beziehungskonzepts neben einem Selbstkonzept verlässt Rogers’ ursprüngliche Konzeption des Selbst. In diesem werden auch die Beziehungserfahrungen in das Selbstkonzept integriert. Die Annahme eines eigenständigen Beziehungskonzepts könnte aber als in Übereinstimmung mit der auf Bowlby zurückgehenden Bindungstheorie und den Ergebnissen der Bindungsforschung (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 88 ff.) angesehen werden. In der Bindungstheorie wird von der Entwicklung eines »Inneren Arbeitsmodells« ausgegangen, das die Bindungserfahrungen, die ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung macht, repräsentiert und das in bindungsrelevanten Situationen aktiviert wird und das Interaktionsverhalten regelt (Bowlby, 1975). Das Bindungssystem wird als ein eigenes System mit eigenen Gesetzmäßigkeiten aufgefasst, das neben anderen psychischen Systemen besteht, zu denen es jedoch Verbindungen gibt. Diese Auffassung findet sich auch in anderen Persönlichkeitskonzepten, z. B. in der Schematheorie
? Übungsfragen 5 Wann spricht man von Paartherapie (Definition)? 5 Wie begründet Auckenthaler ihre Auffassung, dass Klientenzentrierte Paartherapie »Psychotherapie mit zwei Patienten« ist? 5 Womit wird der Ansatz begründet, die Arbeit an der »Beziehung« ins Zentrum der Therapie zu stellen?
6
(Beck, 1987) oder den Grundannahmen der Allgemeinen Psychotherapie von Grawe (Grawe, 2005, S. 126 ff.). Die Annahme des Vorliegens mehrerer motivationaler Subsysteme, die untereinander »vernetzt« sind aber auch unabhängig voneinander in Funktion treten können, gilt auch als besser mit den Ergebnissen der Hirnforschung zu vereinbaren: Es scheint »also im Säugerhirn weder für die Interpretation der Sinnenwelt noch für die Bewertung von Systemzuständen keine Zentrale Instanz zu geben« (Singer, 2002, S. 168 f.), d. h. das Hirn kennt offenbar keinen übergeordneten »Bestimmer«, der eine zentrale Lenkungsfunktionen ausübt. Ist es aber auch notwendig, Rogers’ Konzept des Selbst zu ersetzen? Kann ein Modell eines untereinander vernetzten Ensembles von eigenständigen Subselbstsystemen mit jeweils eigenen Aktualisierungstendenzen die für die Psychotherapie relevanten psychischen Phänomene besser erklären als das Konzept des Selbst als eine Einheit? Das scheint bisher nicht der Fall zu sein. In dem in diesem Buch von Rogers übernommenen Selbstbegriff (7 Kap. 3.2) ist das Selbst als Teilsystem der Person mit einer besonderen Bedeutung für deren Funktionsfähigkeit Produkt der Aktualisierung des Gesamtorganismus und nicht »Träger« einer eigenen Aktualisierungstendenz. Analoges gilt auch für das Konzept der Beziehungen: Das Bild, das wir von uns in Beziehungen zu anderen und damit von der Beziehung entwickeln ist einer von vielen anderen Aspekten des Selbst. Es entwickelt sich nicht unabhängig von den anderen Selbstaspekten, sondern in Interaktion mit ihnen mit der impliziten Tendenz, Teil eines in sich geschlossenen, kohärenten Selbst zu sein (7 Kap. 3.3.3).
5 Wie würden Sie konkret Stellung zum Anliegen eines Paares beziehen, das eine Paartherapie machen möchte, um »unsere Beziehung zu verbessern«?
17.4
Weiterführende Literatur
Auckenthaler, A. (1983). Klientenzentrierte Psychotherapie mit Paaren. Stuttgart: Kohlhammer
18 18
Familientherapie J. Eckert
18.1
Geschichte und Definition – 429
18.2.3
18.2
Klientenzentrierte Familientherapie – 430
Der therapeutische Prozess in der Familientherapie – 431
18.3
18.2.1
Aktualisierungstendenz, Selbst und Familie – 430 Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen im Kontext einer Familientherapie – 430
Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie – 433
18.4
Weiterführende Literatur – 434
18.2.2
18.1
Geschichte und Definition
Rogers hat seine ersten wichtigen Einsichten in wirksame psychotherapeutische Prozesse in der Beratung und Behandlung von Kindern und deren Eltern gewonnen (Rogers, 1939). Die historische Entwicklung der Klientenzentrierten Psychotherapie im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist im 7 Kap. 11 dieses Buches ausführlich dargestellt. Dort ist auch nachzulesen, dass sich die Klientenzentrierte Spieltherapie (Axline, 1947/1972) zunächst auf die Behandlung des problematischen Kindes konzentrierte und dass erst in einem Aufsatz von Charlotte Ellinwood aus dem Jahre 1959 auf die Bedeutung der Einbeziehung der Eltern in die Behandlung des Kindes hingewiesen worden ist. In der Folge wurden in den USA im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts Programme entwickelt, in denen die Eltern in die therapeutische Arbeit mit dem Kind einbezogen wurden. Am bekanntesten ist das von Gordon (1970/1972) entwickelte »Parent Effectiveness Training«, das in Deutschland »Familienkonferenz« genannt wird. Das Training soll helfen, die Beziehungen nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern zwischen Menschen überhaupt so zu gestalten, dass sie wechselseitig als befriedigend erlebt werden. Wichtige Voraussetzungen dafür sind, dass man sich einer-
seits selbst korrekt wahrnimmt (Selbstempathie) und seine Wünsche an den anderen klar zum Ausdruck bringen kann und dass man andererseits Beziehungen zu anderen aufbaut, die durch Respekt und Achtung geprägt sind. Gordon beschreibt eine Reihe von Methoden und Techniken, diese Ziele zu erreichen, u. a. »Aktives Zuhören«, die Konzepte des »Verhaltensfensters«, der »Ich-Botschaften« und des »Umschaltens«. Beim Aktiven Zuhören z. B. schenken Eltern ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Kind, das sich zu artikulieren versucht, und hören dem Kind so lange zu, bis es eine Antwort erwartet. Sie versuchen, das, was das Kind zum Ausdruck bringen will, aus dessen Perspektive zu sehen, d. h. eigene Sichtweisen und Bewertungen möglichst zurückzustellen. Heute lassen sich zwei Konzepte von Klientenzentrierter Familientherapie unterscheiden (Keil, 2003, S. 112). Es gibt eine Klientenzentrierte Familientherapie, die sich eng an das von Rogers entwickelte Persönlichkeitskonzept und die von ihm postulierten »notwendigen und hinreichenden Bedingungen für konstruktive Persönlichkeitsveränderungen durch Psychotherapie« anlehnt. Ein wichtiger Vertreter dieser Position ist Ned Gaylin (1993, 2002). Zum anderen gibt es ein Konzept, dass die nichtdirektive Kinderspieltherapie mit Familientherapie zur Klientenzentrierten Spiel- und Familientherapie verbindet. Ein Vertreter dieses Ansatzes in
430
Kapitel 18 · Familientherapie
Deutschland ist Stefan Schmidtchen (1991). Er hat den Integrationsgedanken inzwischen fortgeführt und eine »Allgemeine Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und Familien« (Schmidtchen 2001) vorgelegt mit dem Ziel, die Grenzen zwischen den Therapieschulen zu überwinden und »eine wissenschaftlich fundierte Integration der schulenspezifischen Sonderannahmen zur Entstehung und Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen« (a. a. O., S. 3) vorzunehmen. Diese beiden Konzeptionen sollen im Folgenden vorgestellt werden.
18.2
Klientenzentrierte Familientherapie
hältnis zu anderen sehen –, dass sie in unserem Selbstkonzept enthalten ist (…) Als Spezies sind wir einzigartig in Anbetracht der Tatsache, dass wir uns unser ganzes Leben lang unserer Vorfahren sowie unseres Potenzials als Nachkommen bewusst sind. So kann man die Familienaktualisierungstendenz als Antrieb, unser biologisches Schicksal (»unsere Fortpflanzung«) zu erfüllen, verstehen.« (Gaylin, 2002, S. 321) Gaylin betrachtet die Familie als das Metall, aus dem wir geschmiedet sind, und als den Schmelztiegel, in dem das Selbst seine Form erhält.
18.2.2
Das Konzept der Klientenzentrierten Familientherapie, das Gaylin (1993, 2001, 2002) vertritt, lehnt sich in seiner Persönlichkeits- und Therapietheorie eng an das von Rogers (1957/1991a, 1959b/1987) für die Einzeltherapie entwickelte Konzept an, das von Gaylin in zwei wesentlichen Grundannahmen erweitert bzw. modifiziert wird: Zum einen wird die Selbstaktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2) erweitert um die Annahme einer »Familienaktualisierungstendenz«, und zum anderen wird die intrapersonell konzipierte Inkongruenz erweitert auf eine interpersonelle Inkongruenz. Gaylin geht in Übereinstimmung mit systemischen Ansätzen der Familientherapie davon aus, die Familie als Ganzes als Klientin anzusehen.
18.2.1
18
Aktualisierungstendenz, Selbst und Familie
Auf der Grundlage der Selbstaktualisierungstendenz als Teil der Aktualisierungstendenz bildet sich eine Struktur, das Selbst bzw. Selbstkonzept (7 Kap. 3). Das Selbst repräsentiert, wer wir sind, was immer auch heißt, wer wir im Unterschied zu anderen sind. Das Selbst repräsentiert auch vergangene, gegenwärtige und zukünftige, d. h. erwartete und gewünschte Selbsterfahrungen. Infolgedessen umfasst ein Teil unserer Selbsterfahrungen auch die Familie: »Die Familie ist ein so ursprünglicher Aspekt dessen, wer wir sind – wie wir uns selbst im Ver-
Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen im Kontext einer Familientherapie
Für die Durchführung einer Gesprächspsychotherapie als Familientherapie sei es nicht erforderlich, die sechs von Rogers (1957/1991a) formulierten »notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen« (7 Kap. 6) grundsätzlich zu verändern. Es müsse aber dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich der therapeutische Prozess nicht zwischen zwei Personen – Patient und Therapeut –, sondern zwischen mehreren Personen – ein bis zwei Therapeuten und den Mitgliedern der Familie – abspielt. 1. Bedingung: Notwendigkeit eines psychologischen Kontaktes. Ein »psychologischer Kontakt«
sollte in der Familientherapie zwischen dem Therapeuten und jedem einzelnen Familienmitglied bestehen. Ein solcher Kontakt ist gekennzeichnet durch wechselseitiges Vertrauen und Respekt, unabhängig vom Alter und vom Geschlecht. Der Respekt des Familientherapeuten schließt auch die bestehende Familienkultur ein, d. h. die Werte und Bräuche der Familie. Die Herstellung des psychologischen Kontakts wird in der (systemischen) Familientherapie als »joining« bezeichnet: Der Familientherapeut wird ein Teil der Familie, ohne jedoch die erforderliche therapeutische Distanz zu verlieren.
431 18.2 · Klientenzentrierte Familientherapie
2. Bedingung: Der Zustand des Patienten ist durch Inkongruenz gekennzeichnet. Im Regelfall hat die
Familie ein Mitglied, der »identifizierte« Patient genannt, bei dem eine Symptomatik vorliegt, die sich als Ausdruck einer Inkongruenz von Erfahrung und Selbst verstehen lässt. Der Zustand des identifizierten Patienten, vor allem sein Leiden, kann bei den anderen Mitgliedern der Familie eine sekundäre Inkongruenz1 auslösen mit der Folge, dass die Familie insgesamt in einen Zustand der Inkongruenz gerät: Die Familie schottet sich z. B. nach außen hin ab, Außenstehende werden nur noch als potenzielle Feinde angesehen, die nur darauf lauern, das Versagen der Familie anzuprangern, mit dem Effekt, dass zwar die bestehenden Konflikte innerhalb der Familie nicht mehr gesehen werden, aber der Zusammenhalt der Familie gewährleistet ist. 3. Bedingung: die Kongruenz des Therapeuten. Ein
Mensch ist kongruent, wenn er »imstande ist, akzeptierend auf das zu achten, was in ihm selbst vor sich geht, und je besser er es fertig bringt, ohne Furcht das zu sein, was die Vielschichtigkeit seiner Gefühle ausmacht, umso größer ist seine Übereinstimmung mit sich selbst« (Rogers, 1983, S. 213). Der Familientherapeut sollte in der Therapiesituation soweit »mit sich selbst übereinstimmen«, dass er in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit weitgehend frei von eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Werthaltungen und Konflikten auf die einzelnen Familienmitglieder und auf die Interaktionen zwischen ihnen zu richten. 4. Bedingung: die Empathie des Therapeuten. Die-
se Bedingung wird von Gaylin (2002) zusammen mit der 5. Bedingung als das Herzstück der klientenzentrierten Arbeit bezeichnet. Das gelte nicht nur für die Einzeltherapie, sondern auch für die Familientherapie. In der Familientherapie sei es notwendig, »mit allen Familienmitgliedern gleichzeitig empathisch zu bleiben« (a. a. O., S. 325). Dem Therapeuten fallen in der Familientherapie zwei neue Rollen zu: Er dient in seinem Bemühen um empathisches 1
Swildens (1993) hat die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Inkongruenz eingeführt. Sekundäre Inkongruenz wird die Reaktion von Menschen auf eine akute Belastung genannt. Sie kann sich auch ohne Behandlung zurückbilden, wenn die Belastung nicht mehr besteht.
18
Verstehen als Modell, und er dient auch als Vermittler zwischen Familienmitgliedern, die ihre Bereitschaft, gegenseitiges Verständnis aufzubringen, eingestellt haben. 5. Bedingung: Bedingungsfreie Positive Beachtung. Auch diese Bedingung sieht Gaylin (2002) als
für den therapeutischen Prozess in einer Familientherapie unabdingbar an. Er stellt diese Bedingung in einen engen Zusammenhang mit der Empathie und betont, wie bereits erwähnt, dass die beiden Bedingungen allen Familienmitgliedern gegenüber gleichzeitig gegeben sein sollten. 6. Bedingung: Die Patienten/Klienten können das vom Therapeuten geäußerte empathische Verstehen und die ihnen entgegengebrachte Bedingungsfreie Positive Beachtung in einem gewissen Ausmaß auch wahr- und annehmen. Gaylin sieht
auch diese Bedingung als notwendig für einen erfolgreichen therapeutischen Prozess in der Familientherapie an, doch er räumt ein, dass sich die einzelnen Familienmitglieder im Hinblick darauf unterscheiden können, in welchem Ausmaß sie bereit und in der Lage sind, sich auf das therapeutische Angebot einzulassen.
18.2.3
Der therapeutische Prozess in der Familientherapie
Gaylin unterscheidet in seinem familientherapeutischen Ansatz intrapersonelle und interpersonelle therapeutische Prozesse. Intrapersonelle Prozesse sind den Prozessen der Selbstreflexion und Selbstexploration in der Einzeltherapie vergleichbar. Sie stehen am Anfang der Familientherapie im Vordergrund: Der Therapeut versucht im Beisein der anderen von jedem Familienmitglied einzeln zu erfahren und empathisch zu verstehen, welche Sicht er von sich selbst in der Situation hat, in der sich die Familie befindet. Wichtig ist, dass es dabei gelingt, dem Sprecher einen Raum zu schaffen, in dem er sich sicher genug fühlt, um in einen Selbstexplorationsprozess einzutreten. Die Darlegung der individuellen Sichtweisen der einzelnen Familienmitglieder weist auch auf Unterschiede und Widersprüche in der Wahrnehmung
432
Kapitel 18 · Familientherapie
gemeinsamer Erfahrungen hin. Gaylin nennt sie interpersonale Inkongruenzen. Diese thematisiert der Klientenzentrierte Familientherapeut in einem zweiten Schritt: Er versucht die Beziehungen zwischen den so definierten interpersonellen und intrapersonellen Inkongruenzen zu erkennen und die daraus resultierenden Konflikte zu benennen. Gelingt das und erkennen die Gruppenmitglieder die wechselseitige Bezogenheit ihres Handelns und ihres symptomatischen Verhaltens, wird dadurch das gegenseitige Verständnis und die Bereitschaft gefördert, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Gaylin spricht davon, dass dadurch Hindernisse beseitigt werden, die »den Zugang zu den Aktualisierungstendenzen der einzelnen Personen sowie zu denen der Familie insgesamt erschweren« (2002, S. 327). Im weiteren Verlauf der Therapie hat der Familientherapeut sowohl die interpersonelle als auch die intrapersonelle Dynamik, die sich innerhalb der familientherapeutischen Sitzung im Hier und Jetzt abspielen, im Auge. Dementsprechend spricht er sowohl den inneren Dialog eines einzelnen Familienmitglieds als auch den Dialog zwischen den Familienmitgliedern an. Dazu hat Gaylin spezifische Interventionen entwickelt: Reflexion des Dazwischen. Die Verbalisierung der Interaktion zwischen Familienmitgliedern nennt Gaylin eine »Reflexion des Dazwischen« (»interspace reflection«). Die folgende Fallvignette enthält nacheinander Verbalisierungen individueller innerer Prozesse durch den Therapeuten und dann eine Reflexion des Dazwischen. Fallvignette
Reflexion des Dazwischen
18
5 Vater: Ich habe es satt, ihn immer an seine Aufgaben erinnern zu müssen. 5 Therapeut: Es bringt Sie zur Verzweiflung, dass er nie daran denkt, seine Sachen zu erledigen. 5 Sohn: Er lässt mir keine Chance. Er will, dass ich sie dann erledige, wenn er das will. 5 Therapeut: Du erlebst Deinen Vater als ungeduldig und unfair.
6
5 Vater: Wenn ich nicht dauernd hinter ihm her bin, werden die Dinge einfach nicht erledigt. 5 Sohn: Sie würden erledigt werden, wenn Du mir eine Chance geben würdest. 5 Therapeut: Es scheint, dass es für Euch beide schwierig ist, einander zu vertrauen und zu respektieren. (nach Gaylin, 2002, S. 328)
Ghosting. Bei dieser Interventionstechnik über-
nimmt der Familientherapeut kurz die Rolle eines Familienmitgliedes, das aus unterschiedlichen Gründen nicht im Stande ist, auf eine Aussage über die eigene Person oder einen Vorwurf gegen es zu reagieren. Eine Person kann z. B. aufgrund tiefen Verletztseins nicht antworten, eine anderes Familienmitglied z. B. nicht, weil es abwesend ist. Intergenerational echoing. Gaylin weist auf dieses für Familientherapien spezifische Phänomen besonders hin, weil es häufig einen Wendepunkt in der Therapie bedeute. Es tritt auf in der Interaktion zwischen Eltern und Kindern, wenn sich das Kind über eine bestimmte schmerzliche Erfahrung mit einem seiner Eltern beklagt und dieser Elternteil plötzlich merkt, dass er dieselbe Erfahrung mit seinen eigenen Eltern gemacht hat. Der Umstand, dass ein Vater oder eine Mutter elterliche Verhaltensweisen, unter denen sie als Kind selbst sehr gelitten haben, im Umgang mit den eigenen Kindern ebenfalls zeigen, erklärt sich dadurch, dass sie als Kind in diesen leidvollen Erfahrungen nie verstanden, geschweige denn positiv beachtet worden sind. Das Kind kann dann nicht anders als seine eigenen Erfahrungen als »falsch« und das Elternverhalten als »richtig« anzusehen. Erst eine Wiederholung der Interaktion in der Familientherapiesitzung bietet die Möglichkeit, dass diese Erfahrung erkannt und auch – zunächst vom Therapeuten – als auch für den Elternteil als Kind schmerzlich anerkannt wird. Dieser Umstand ermöglicht es dem Elternteil dann seinerseits zu erkennen, was die unreflektierte Wiederholung dieses Verhaltens für sein Kind bedeutet hat.
433 18.3 · Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie
! Gaydins Klientenzentriertes Familientherapiekonzept unterscheidet sich theoretisch und methodisch nur wenig vom Konzept der Gesprächspsychotherapie mit Einzelpersonen. Die Unterschiede ergeben sich aus dem Umstand, dass sich das spezifische gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot nicht nur an eine, sondern an mehrere Personen richtet. Das hat zur Folge, dass es methodische Erweiterungen – neben intrapersonalen Prozessen werden auch interpersonale Prozesse Thema – gibt und einige zusätzliche Techniken: »Interspace reflection«, »ghosting« und »intergenerational echoing«.
18.3
Klientenzentrierte Spielund Familientherapie
Der Kinderpsychotherapeut Schmidtchen hat 1991 sein bis zu diesem Zeitpunkt vertretenes Konzept der Kinderpsychotherapie (Schmidtchen, 1974) aufgegeben und eine Sichtweise entwickelt, die »die bisherige Kinderpsychotherapiepraxis auf den Kopf« stelle (a. a. O., S. 1). In der Einleitung zu seinem Buch mit dem programmatischen Titel »Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie« (Schmidtchen, 1991) stellt er dar, dass sich die bisher von vielen renommierten Kinderpsychotherapeuten, z. B. Axline (1947/1972), vertretene Ansicht, das Schwergewicht einer Kinderpsychotherapie sei auf die Spieltherapie mit dem Kind zu legen, angesichts der Erkenntnisse der Systemtheorie bzw. der systemischen Familientherapie nicht weiter aufrecht erhalten lasse: Ein Kind sei immer ein Teil eines Familienganzen und die psychische Störung eines Kindes immer Ausdruck einer Störung des interaktionellen Familiengeschehens. Schmidtchen vertritt den Standpunkt, dass es bei der psychologischen Behandlung von Kindern (und Jugendlichen) notwendig sei, Spiel- und Familientherapie zu integrieren. Diese Integration versucht er in der Form zu realisieren, dass er das Therapeutenverhalten in der Spiel- und Familientherapie unter einem theoretischen Dach vereinigt (Schmidtchen, 1999, S. 82 ff.). Das gemeinsame Dach des Therapeutenverhaltens in der Spieltherapie und des Therapeutenverhaltens in der Familientherapie bilden die sechs »globalen und spezifischen Therapiestrategien«. Als Beispiel sei die sechste Therapiestrategie genannt:
18
»In der klientenzentrierten Spiel- und Familientherapie soll ein erfahrungmachendes und bedeutungschaffendes Lernen angestrebt werden … Der Bedeutungsgehalt des Gelernten soll dem Klienten durch verstehende und reflektierende Empathieprozesse rückgemeldet werden, damit er bei seiner Sinnsuche eine menschliche Partnerschaft spüren kann.« (a. a. O., S. 92) Bei den spezifischen Therapiestrategien, die das Therapeutenverhalten in einer Klientenzentrierten Spiel- und Familientherapie steuern sollen, werden drei Gruppen unterschieden: 4 Strategien zur Gestaltung einer heilungfördernden Beziehung, z. B. »engagierte Fürsorge für den Klienten (Hilfsbereitschaft)« 4 Strategien zur generellen Förderung von Selbstheilungsprozessen, z. B. » Regulierung der räumlichen Nähe« 4 Strategien zur speziellen Förderung von Selbstheilungsprozessen, z. B. »Verhinderung eines gestörten Verhaltens (Grenzsetzung)« Unter diesen Überschriften der globalen und spezifischen Therapiestrategien, die sowohl für die Spielals auch für die Familientherapie Geltung haben, werden dann die Besonderheiten des Therapeutenverhaltens in der Spieltherapie (Einzel- und Gruppentherapie) und in der Familientherapie beschrieben. Da die Konzepte der Klientenzentrierten Spieltherapie ausführlich in 7 Kap. 11 behandelt werden, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf das Konzept von Familientherapie, das Schmidtchen als für seinen integrativen Ansatz geeignet ansieht. Während sich das oben vorgestellte Familientherapiekonzept von Gaylin eng an die von Rogers entwickelte Persönlichkeits- und Therapietheorie anlehnt, übernimmt Schmidtchen die im Rahmen der Systemtheorie entwickelte Sichtweise der Familie als ein System, das bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt (Schneewind, 1987). Als bedeutsam für therapeutische Veränderungen werden folgende Gesetzmäßigkeiten angesehen, die hier nur benannt, aber nicht näher erläutert werden sollen (Schmidtchen, 1999, S. 123): 4 Die ganzheitliche Verwobenheit und zirkuläre Kausalität der familiären Interaktionen
434
Kapitel 18 · Familientherapie
4 Das Streben nach einem labilen Gleichgewichtszustand (Zustand der Homöostase) 4 Die Bedeutsamkeit eines »Wandels zweiter Ordnung« beim Erreichen der Therapieziele 4 Die Art der abgrenzenden oder verbindenden Verhaltensregeln zwischen den Familienmitgliedern oder Untergruppen der Mitglieder 4 Die Bedeutsamkeit eines einheitlichen Familienkonzeptes
18
Aus diesen Gesetzmäßigkeiten ergäben sich die Regeln für das Therapeutenverhalten in der Familientherapie (s. Schmidtchen 1999, S. 124 ff.). Abschließend ist noch die Frage zu beantworten, wie die praktische Integration von Spiel- und Familientherapie erfolgen soll: Wann ist welches Setting indiziert? Schmidtchen vertritt den Standpunkt, dass eine ausschließliche Spieltherapie unter keinen Umständen indiziert sei (1999, S. 129). Auch wenn die Eltern nicht zu einer Familientherapie bereit seien, sollte darauf gedrungen werden, dass sie einbezogen werden – und sei es auch nur sporadisch in der Form einer Art Elternberatung. Bezüglich der Behandlungsalternativen Familientherapie und Kombination von Familien- und Spieltherapie schlägt Schmidtchen vor (1999, S. 129), die Entscheidung davon abhängig zu machen, ob bei dem »Kinderklienten«, d. h. bei dem Kind, das der sog. Symptomträger ist, »Entwicklungsschädigungen oder -verzögerungen« vorliegen oder nicht. Liegen solche Schäden bzw. Verzögerungen vor, sollte parallel zur Familientherapie auch eine Spieltherapie durchgeführt werden. Im anderen Fall wird eine Familientherapie als ausreichend erachtet. Meines Erachtens lassen Schmidtchens Ausführungen einige Fragen offen. Er schlägt eine differenzielle Indikationsstellung ausschließlich auf der Grundlage der Art der Pathologie des Kinderpatienten vor, d. h. der Antwort auf die Frage: Liegen Entwicklungsschädigungen und -verzögerungen vor oder nicht? Der klinische Normalfall ist aber doch der, dass neben den Krankheitssymptomen des Kindes fast immer auch mehr oder weniger stark ausgeprägte Entwicklungsschädigungen und -verzögerungen vorliegen. Auf jeden Fall ist dann eine Abwägung zwischen der Bedeutung der Krankheitssymptomatik und dem Grad der Entwicklungsbeeinträchtigung für eine Indikationsentscheidung not-
wendig. Und sollten nicht auch noch weitere Kriterien für diese herangezogen werden, z. B. die Antwort auf die Frage, in welchem Setting für den Symptomträger die therapeutischen Bedingungen zum Tragen kommen können, die für die angestrebten therapeutischen Veränderungen erforderlich sind? Eine Familientherapie ist z. B. bei einem Kinderpatienten, dessen Symptome und/oder Entwicklungsverzögerungen möglicherweise auf sexuellen Missbrauch durch den Vater zurückgehen, in jedem Fall kontraindiziert. ! Für die Klientenzentrierte Familientherapie ist festzuhalten: Die vorliegenden Konzepte verstehen sich entweder als Weiterentwicklungen innerhalb des Klientenzentrierten Konzeptes oder sie meinen, dieses modifizieren bzw. um der Integrationsfähigkeit willen an Konzepte anpassen zu müssen, die aus anderen klinischen – nicht theoretischen! (7 Kap. 3) – Paradigmen stammen, z. B. aus der systemischen Familientherapie.
Für die beiden Konzepte von Klientenzentrierter Familientherapie ist leider ein Mangel an empirischer Fundierung zu beklagen, und zwar fehlen empirische Belege sowohl im Hinblick auf die Wirksamkeit als auch bezüglich differenzieller Indikationsregeln für den Einsatz bestimmter oder die Kombination verschiedener Settings (Familientherapie und Spieltherapie). ? Übungsfragen 5 Welche zwei Konzeptionen von Klientenzentrierter Familientherapie lassen sich unterscheiden? 5 Was wird im Konzept von Gaylin unter »Ghosting« verstanden? 5 Aus welchen Gründen wird von Schmidtchen eine ausschließliche Spieltherapie als Behandlungssetting abgelehnt? 5 Für welche Kinder wird von Schmidtchen außer einer Familientherapie eine zusätzliche Spieltherapie als förderlich bzw. erforderlich gehalten?
18.4
Weiterführende Literatur
Gaylin, N. L. (2001). Family, self and psychotherapy: A personcentered perspective. Ross-on Wye: PCCS Books Schmidtchen, S. (1999). Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie. Weinheim: Beltz
19 19
Focusing1 D. Höger
19.1
Focusing als Prozess – 435
19.2
Focusing als Methode – 437
Focusing ist eine in den USA von Gendlin initiierte Weiterentwicklung der Klientenzentrierten Psychotherapie bzw. Gesprächspsychotherapie. Gendlin2 wurde 1926 in Wien geboren und musste 1938, als das nationalsozialistische Deutschland Österreich annektierte, als Jude mit seinen Eltern in die USA emigrieren. Er studierte in Chicago Philosophie und Psychologie und wurde dabei vor allem durch die Phänomenologie, den Existenzialismus und den Philosophen Dilthey, später auch durch Heidegger, beeinflusst. Zu jener Zeit entwickelten in Chicago Rogers und seine Arbeitsgruppe die Klientenzentrierte Psychotherapie (7 Kap. 2.4 und 2.5). Gendlin nahm mit ihm Kontakt auf, ließ sich zum Psychotherapeuten ausbilden, arbeitete in Praxis und Forschung mit und entwickelte dabei von Rogers abweichende theoretische Vorstellungen, die Rogers deutlich beeinflussten (Rogers, 1958/1973c). Gendlin suchte vor allem bei Patienten nach den Besonderheiten des Therapieprozesses, die mit tiefergreifenden Persönlichkeitsveränderungen einhergehen und eine günstige Prognose erlauben. Er fand sie in der Art und Weise, wie Menschen in der Therapie über sich sprechen, wie sie zu sich selbst in Beziehung treten. Und er entwickelte daran anschließend eine Methode, um diese spezifische Bezugnahme mit sich selbst lehrbar zu machen. Das Ergebnis ist Focusing. Darunter ist zweierlei zu verstehen: zum einen ein spezifischer innerer
19.3
Focusing und Gesprächspsychotherapie – 438
19.4
Weiterführende Literatur
– 439
Prozess der Kontaktaufnahme mit sich selbst, zum anderen eine Methode, mit der diese Bezugnahme zu sich selbst erlernt und damit die Persönlichkeitsentwicklung vorangebracht werden kann, sei es in der Psychotherapie (Gendlin, 1964/1978; 1996/1998), sei es bei Problemen im Alltag (Gendlin, 1978/2004; Gendlin & Wiltschko, 2004).
19.1
Focusing als Prozess
Gendlin (1964/1978), der in der Psychologie eine Theorie des Erlebens vermisste, versuchte, diese Lücke zu füllen. Aufgrund einer phänomenologischen Analyse der inneren Vorgänge im Menschen sah er sich veranlasst, den Begriff der Erfahrung, wie er im Klientenzentrierten Konzept definiert ist (7 Kap. 3.3.1) zu modifizieren. Er betonte dabei besonders das Prozesshafte der Erfahrung (das allerdings schon in der ursprünglichen Konzeption von Rogers enthalten war). Seine eigene Konzeption des Erfahrungsbegriffs bezeichnete Gendlin als »Experiencing« (Gendlin, 1962). Um das Prozesshafte kenntlich zu machen, fügte er an das Wort »Ex-
1 2
Engl. to focus on = konzentrieren, sich richten auf. Eine informative Homepage von Gendlins Focusing Institute an der Universität Chicago findet sich im Internet unter http://www.focusing.org/philo.html.
436
19
Kapitel 19 · Focusing
perience« die englische Endung »…ing« an. Bei den Übersetzungen ins Deutsche ist die Bezeichnung »Experiencing« einfach übernommen worden. Der Begriff »Experiencing« entzieht sich einer Definition im üblichen Sinne. An deren Stelle tritt der Versuch einer phänomenologischen Beschreibung. Experiencing ist eine besondere Form des Selbsterlebens, nämlich die Erscheinungsweise des unmittelbaren Fühlens und Erlebens. Mit Experiencing ist der kontinuierliche Prozess konkreter und fortwährender, innerlich wahrgenommener psychischer Ereignisse gemeint, der – und das ist wichtig – primär nicht aus bestimmten Inhalten besteht, sondern sich als ein Fluss des Spürens und Fühlens darstellt, an dem vor allem Empfindungen des Körpers beteiligt sind. Dieses spezifische Körpererleben ist stets in die jeweils aktuelle Situation eingebettet. Experiencing ist ein vorbegriffliches, noch undifferenziertes, dabei vieldimensionales Erleben, das nicht strukturiert ist. Es bildet ein Kontinuum einzelner innerer Gegebenheiten (»bits of experience«), die man im weiten Sinne als Erlebnisinhalte bezeichnen kann. Jedem von ihnen kann die Person zu jedem Zeitpunkt ihre Aufmerksamkeit als einem direkten Bezugsobjekt zuwenden und mit ihm in Beziehung treten. Die besondere Art dieser Aufmerksamkeit ist keine punktuelle Konzentration, sondern entspricht einer an diesem Erlebnisinhalt orientierten absichtslosen Achtsamkeit, die nicht fixiert oder strukturiert, sondern offen lässt und bleibt. Die besondere Art dieser Bezugnahme ist entscheidend dafür, dass ein Erlebniswandel eintritt. Jeder dieser Erlebnisinhalte hat einen expliziten Aspekt, das ist das, was die Person bereits über ihn weiß, daneben aber noch einen impliziten, gefühlten, aber (noch) nicht gewussten. Er kann im »Felt Sense«, der gefühlten Bedeutung des Erlebnisinhaltes erfahren werden. Ein Felt Sense ist ein spontan hervorkommendes ganzheitliches Erleben, das vor allem auch unter Einbeziehung der inneren körperlichen Reaktionen gespürt werden kann. Er ist kein benennbares Gefühl, kein gewohntes Muster des Erlebens, immer neu. Ein Beispiel für einen Felt Sense ist, wenn wir in einer Situation »ein ungutes Gefühl« haben, ohne zu wissen, warum und was es genau bedeutet. Der Felt Sense ist nicht von vorne herein vorhanden und spürbar, sondern erst dann, wenn ihm die Gelegenheit gegeben wird, sich zu entfalten. Damit
Fallvignette
Übungsbeispiel für den »Felt Sense« 5 Suchen Sie eine bestimmte Person aus, die in Ihrem Leben eine größere Bedeutung hat, sei diese angenehm oder unangenehm. 5 Nehmen Sie eine möglichst bequeme Position ein und entspannen Sie sich. 5 Stellen Sie sich möglichst bildhaft-konkret vor, dass diese Person gerade zur Tür hereinkommt (bleiben Sie dabei möglichst entspannt). 5 Achten Sie mit frei schwebender Aufmerksamkeit auf möglichst alle Ihre inneren Reaktionen, die sich bei Ihrer Vorstellung einstellen, vor allem auf ihre Körpergefühle. Lassen Sie dabei den Reaktionen Zeit, sich zu entwickeln und versuchen Sie, ihr Erleben einfach so »stehen zu lassen«, ohne es bestimmten Gefühlen, Begriffen oder Erinnerungen zuzuordnen. Je besser Ihnen dies gelingt, umso mehr bekommen Sie eine Vorstellung von dem, was mit dem Felt Sense gemeint ist.
dies geschehen kann, muss genügend »Platz« vorhanden sein, d. h. die Person muss einen inneren Freiraum, einen inneren Abstand gewinnen, damit sie von dem Inhalt nicht erfasst wird, sondern mit ihm innerlich in Wechselwirkung treten kann, aus der heraus sich eine weitere Entwicklung ergeben kann. Diese Art der unmittelbaren Bezugnahme des Ich zum Fluss des Erlebens ist Focusing im Sinne eines Geschehens. Sie ermöglicht es dem impliziten Gehalt des Felt Sense sich zu entfalten, und zwar in einem Prozess der Wechselwirkung zwischen ihm und expliziten Formen des Erlebens und Handelns. Entscheidend dabei ist, dass der Felt Sense nicht bestimmten Ereignissen, Gefühlen oder Schlussfolgerungen zugeordnet wird, sondern dass ein Hin und Her entsteht zwischen dem Felt Sense und einem ersten sich einstellenden Symbol (Bild, Bezeichnung eines Körperempfindens usw.). Diese Symbolisierung wird dann dahingehend überprüft, ob sie zum Felt Sense passt, wobei sich eine neue Symbolisierung einstellen kann usw.
437 19.2 · Focusing als Methode
Definition »›Focusing‹ nennen wir jenen ganzen Prozess, innerhalb dessen sich ein Individuum in das ›direkte Bezugsobjekt‹ seines Selbsterlebens vertieft« (Gendlin, 1964/1978, S. 18).
Bei einem bestimmten Felt Sense sind es immer ganz bestimmte Symbolisierungen, die zu ihm »passen«. Und jeder Felt Sense strebt, sofern ihm dazu die Gelegenheit gegeben wird, nach der Klärung seiner Bedeutung, d. h. danach, in einer Symbolisierung explizit zu werden. In dem beschriebenen Hin und Her nähern sich in einem kreativen Prozess die Symbolisierungen immer mehr dem »Passenden«. Es sind unterschiedliche Modalitäten, in denen sich das Erleben symbolisieren kann: Worte, Emotionen, innere Bilder, Körperempfindungen und es gibt verschiedene Modalitäten, in denen sich die Suche nach Passendem vollziehen kann: Sprechen, Schreiben, Malen und Gestalten. Sobald das Passende gefunden ist, wird diese »Stimmigkeit« als unmittelbares Evidenzerleben deutlich spürbar, vor allem auch als deutlich wahrnehmbare körperliche Entspannung. Zugleich verändert sich der Felt Sense in Richtung auf eine Erweiterung, die einen erneuten Symbolisierungsprozess möglich macht usw.
19.2
Focusing als Methode
Mit Focusing wird, wie bereits erwähnt, außerdem eine von Gendlin (1978/2004) entwickelte Methode bezeichnet, mit der der beschriebene Prozess eingeleitet und gefördert werden soll. Focusing kann in einer Psychotherapie geschehen (Gendlin, 1996/ 1998), war von Gendlin (1978/2004) aber auch ausdrücklich als Methode zur Selbsthilfe gedacht. Focusing ist ein anderer als der übliche selbstreflexive Weg, sich seinem Inneren zu nähern, bei dem der Patient von seinem Therapeuten angeleitet und unterstützt wird. Gendlin geht davon aus, dass Focusing in alle Therapieverfahren integriert werden kann. In sechs Schritten wird der Patient zu inneren Teilhandlungen angeregt. Dabei geht es nicht darum, sie der Reihe nach »abzuarbeiten«. Zwar baut jede
19
auf der vorhergehenden auf, aber der innere Prozess ist stufenlos, kontinuierlich; außerdem kann er zwischen den einzelnen Schritten hin und her gehen. (Bei der Bezeichnung der Schritte orientieren wir uns an Gendlin, 1996/1998.)
Die sechs Schritte des Focusing nach Gendlin 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Raum schaffen Felt Sense entstehen lassen Einen Griff finden Der Resonanz des Griffs nachspüren Fragen stellen Empfangen
Voraussetzung ist die Fähigkeit, den eigenen Körper »von innen« spüren zu können. Einige Menschen sind dazu spontan in der Lage, andere nicht. Für sie gibt es entsprechende Vorübungen. Raum schaffen. Der Patient wird gebeten, sich zu entspannen, sich dabei dem eigenen Inneren achtsam aber absichtslos zuzuwenden, in sich hinein zu spüren und dabei eine freundliche Einstellung zu sich selber einzunehmen. Er soll sich dann der Stelle zuwenden, an der er seine Gefühle spürt (in der Regel der Brust- und Bauchraum) und sich fragen, was er dort im Augenblick empfindet. Wichtig ist es, dass er sich dabei Zeit lässt, nicht »nachforscht«, sondern die Empfindungen entstehen lässt, wie sie kommen, und dass er sie freundlich begrüßt. Sorgen und Probleme, die dabei auftauchen, werden der Reihe nach zur Kenntnis genommen, beiseite gelegt und zugleich im Auge behalten. Auf diese Weise verschafft sich der Patient innerlich Raum, um seine Probleme aus einem gewissen Abstand aufmerksam-absichtslos zu betrachten und dabei möglichst innere Ruhe zu gewinnen. Felt Sense entstehen lassen. Hat er innerlich hinreichend Raum gewonnen, wählt der Patient eines der Probleme, um es zu klären, zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit, wobei er nach wie vor den Abstand dazu bewahrt. Er versucht, dieses Problem als Ganzes zu fühlen, nicht seine einzelnen Aspekte zu betrachten, sondern sie alle zugleich zu fühlen:
438
Kapitel 19 · Focusing
»Was spüre ich jetzt dort, wo ich meine Gefühle spüre?« Er wird angeregt, dem entstehenden komplexen Gefühl, dem Felt Sense nachzuspüren, ihn auf sich wirken zu lassen. Einen Griff finden. Der Patient versucht, eine vorläufige Symbolisierung, ein Bild oder eine Redewendung entstehen zu lassen, die den Felt Sense möglichst genau wiedergibt. Es geht nicht darum zu versuchen, den Felt Sense in bestimmte Worte oder Bilder zu fassen, sondern zu warten, bis sich solche einstellen, aus dem Felt Sense mit der Zeit von alleine »hervorgehen«. Der Resonanz des Griffs nachspüren. Falls die Symbolisierung wirklich passt, stellt sich gewöhnlich eine spürbare körperliche Erleichterung ein. Ansonsten (und das ist die Regel) geht der Patient innerlich hin und her zwischen dem Felt Sense und dem gefundenen Symbol (Bild oder Redewendung), so lange, bis sich das Gefühl einstellt: »Jetzt passt es!«. Dieses Gefühl (»Felt Shift«) ist begleitet von einem »Aha-Erlebnis«, in der Regel verbunden mit einem deutlichen Gefühl der körperlichen Entspannung. Fragen stellen. Während der Patient dem Felt Sense nachspürt (und ihn, wenn er verloren geht, am »Griff« wieder herbeiruft), betrachtet er anhand von Fragen die Bedeutung der neuen Symbolisierung für sein Problem, u. a.: »Was bringt die neue Symbolisierung Neues für das betreffende Problem?« »Was bräuchte es, damit ich mich wohler fühle?«
19
Empfangen. Wie klein auch die erreichte Veränderung sein mag, sie wird begrüßt, festgehalten und gegen Selbstkritik und Entwertungen geschützt. Sie wird nicht als endgültige Antwort verstanden, sondern als erster Schritt oder ein Schritt von vielen weiteren. Um ein Problem hinreichend zu bearbeiten, bedarf es mehrerer solcher »Runden«. Wichtig ist es, während des gesamten Vorgangs stets die kontemplative Haltung zu bewahren und nicht in das zugreifende »Erfassen-Wollen« zu verfallen. Wichtig ist auch das Vertrauen, dass dieser Prozess »von alleine« abläuft, sofern er nicht behindert wird.
19.3
Focusing und Gesprächspsychotherapie
Focusing als Methode ist etabliert als eine der gesprächspsychotherapeutischen Interventionsformen. Zwar enthält es methodische Vorgaben und Anweisungen. Weil sich aber ihre Umsetzung strikt an den Vorgaben des Patienten orientiert, die Inhalte – wie die Methode zeigt – allein vom Patienten beigesteuert werden, ist Focusing seinem Wesen nach nicht-direktiv. Außerdem gilt die Aktualisierungstendenz explizit als die wesentliche Voraussetzung für den Focusing-Prozess. Die Frage, ob und inwieweit mit der Methode des Focusing der Therapieprozess beschleunigt werden kann, muss differenziert beantwortet werden. In jedem Falle ist Focusing jedoch geeignet, den Therapieprozess bei solchen Patienten zu intensivieren, die einen direkten Zugang zu ihrem Erleben haben. Insofern tut jeder Gesprächspsychotherapeut gut daran, eine entsprechende Fortbildungsmöglichkeit wahrzunehmen und so sein Handlungsrepertoire in einem wesentlichen Punkt zu erweitern. Die Frage bleibt jedoch, inwieweit alle Patienten auf Focusing ansprechen. Gendlin (1996/1998) beruft sich auf seine Erfahrung und ist diesbezüglich optimistisch. Andererseits haben Therapeuten die Erfahrung gemacht, dass Patienten, die mit ihrer Selbstexploration größere Schwierigkeiten haben, mittels Focusing kaum gefördert werden können. Probleme mit der Selbstexploration stehen in Zusammenhang mit Problemen der Wahrnehmung der eigenen inneren Vorgänge. In diesem Zusammenhang sei auch auf das Konzept der Selbst-Reflexivität verwiesen (7 Kap. 9.3.3; Fonagy, Steele, Steele, Moran & Higgit, 1991; Daudert, 2001, 2002). Einschlägige empirische Untersuchungen fehlen. Die Prinzipien der Focusing-Therapie sind inzwischen in das umfassendere Konzept der ProzessErlebnisorientierten Psychotherapie (7 Kap. 20) eingegangen. ? Übungsfragen 5 Was war bei Gendlin der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Focusing? 5 Was versteht Gendlin unter »Experiencing«? 5 Was versteht Gendlin unter dem »Felt Sense«?
6
439 19.4 · Weiterführende Literatur
5 Finden Sie ein weiteres Beispiel für den Felt Sense. 5 Wie ist Focusing definiert? 5 Geben Sie eine kurze Beschreibung der sechs Schritte des Focusing. 5 Inwiefern ist Focusing mit den Grundprinzipien der Gesprächspsychotherapie kompatibel?
19.4
Weiterführende Literatur
Gendlin, E. T. (1996). Focusing in der Psychotherapie: Zwei LiveDemonstrationen (Video-Dokument, VHS-Format). Dortmund: Video-Cooperative-Ruhr Gendlin, E. T. (1998). Focusing-orientierte Psychotherapie: ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. München: Pfeiffer. (Original erschienen 1996: Focusing oriented psychotherapy. A manual of the experiential method) Gendlin, E. T. & Wiltschko, J. (2004). Focusing in der Praxis: eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag (2. Aufl.). Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta
19
20 20
Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie J. Eckert
20.1
Die Emotionstheorie von Greenberg und anderen – 441
20.1.1 20.1.2
Emotionale Schemata – 441 Emotionale Prozesse – 443
20.2
Ziele und Praxis der Prozess-Erlebnisorientierten Therapie – 445
Die Prozess-Erlebnisorientierte Therapie (PET, engl. »Process-Experiential Therapy«) gehört zu der Gruppe der Therapien, die in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit die emotionalen Prozesse des Patienten im Therapieprozess stellen. Sie werden unter dem Oberbegriff »Experiential Psychotherapies« (Greenberg, Watson & Lietaer, 1998) zusammengefasst. PET verknüpft traditionelle Konzepte der Klientenzentrierten Psychotherapie mit neueren emotionstheoretischen Annahmen. Vertreter dieser Entwicklung sind vor allem der Psychologe Leslie S. Greenberg in Kanada, der amerikanische Psychologe Robert Elliott und in Europa der belgische Psychologe Germain Lietaer aus Löwen (Leuven). Der prozess-erlebnisorientierte Ansatz ist eine emotionsorientierte Behandlung. In der Fokussierung auf die Emotionen des Patienten unterscheidet er sich nicht von der klassischen Gesprächspsychotherapie. Die Weiterentwicklung besteht in erster Linie in einer Emotionstheorie (Greenberg & Safran, 1987, 1989; Greenberg & Paivio, 1997), die die Rolle der Emotionen für die menschliche Entwicklung viel differenzierter herausarbeitet, als das Rogers u. a. mit seiner Annahme des bei allen Menschen vorhandenen zentralen Bedürfnisses nach positiver Beachtung (»need for positive regard«) getan hat.
20.3
Welche Unterschiede gibt es zwischen der PET und der klassischen Gesprächspsychotherapie? – 447
20.4
Weiterführende Literatur – 448
20.1
Die Emotionstheorie von Greenberg und anderen
Diese Emotionstheorie geht davon aus, dass »Emotionen grundsätzlich adaptiv sind und dem Organismus dazu dienen, komplexe und situative Informationen schnell und automatisch zu verarbeiten mit dem Ziel, Handlungen zu vollziehen, die die wichtigsten Bedürfnisse des Organismus erfüllen (z. B. Selbstschutz, Unterstützung)« (Elliott, 1999a). Die Emotionstheorie basiert im Wesentlichen auf zwei Konzepten: dem der emotionalen Schemata und dem der emotionalen Prozesse.
20.1.1
Emotionale Schemata
Emotionale Schemata sind implizite Organisationen von Erfahrungen höherer Ordnung. Sie sind nicht bewusst, aber bewusstseinsfähig. Sie können reflektiert werden, wenn sie aktiviert sind. Der bewusste Zugang zu ihnen hängt von der Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstexploration des Individuums ab. Im therapeutischen Prozess kann ihre Reflexion durch die Empathie des Therapeuten erleichtert bzw. erst ermöglicht werden. Emotionale Schemata unterliegen Veränderungen, die durch die kontinuierlichen Erfahrungen, die ein Individuum macht, bewirkt werden. Die emotio-
442
Kapitel 20 · Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie
. Abb. 20.1. Elemente eines Emotionsschemas am Beispiel »Angst als Ding«: verschiedene Modalitäten des Engagement (Elliott, 1999, S. 205)
20
nalen Schemata sind aus einzelnen Elementen zusammengesetzt, die untereinander verbunden sind und sich wechselseitig beeinflussen. Es werden vier Elemente unterschieden (. Abb. 20.1), die im folgenden aufgeführt und am Beispiel der Emotionsverarbeitung einer durch Gewalterfahrung traumatisierten Patientin erläutert werden: 1. Perzeptive bzw. situationale Elemente repräsentieren frühere oder aktuelle Erfahrungsräume bzw. Umgebungen des Individuums und beinhalten, wenn sie reflektiert werden, das Bewusstsein einer aktuellen Situation sowie episodische Erinnerungen. Beispiel: Eine Patientin mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund
von Gewalterfahrungen sucht das Haus ihrer Mutter auf. Als sie sieht, dass das Wohnzimmer verdunkelt ist, kommt die Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen. Die sich gleichzeitig einstellende massive Angst macht es ihr unmöglich, das Haus zu betreten. 2. Körperliche und expressive Elemente repräsentieren das emotionale Körperschema. Zu seinem Bewusstwerden gehören sowohl unmittelbare Körperempfindungen, z. B. »Der Hals ist wie zugeschnürt« und »Die Beine drohen gleich einzuknicken«, als auch der körperliche Ausdruck von Emotionen, z. B. ein von Angst gezeichnetes Gesicht oder ein nervöses Räuspern.
443 20.1 · Die Emotionstheorie von Greenberg und anderen
3. Symbolische und konzeptionelle Elemente sind verbale und/oder visuelle Repräsentanzen der emotionalen Schemata, die durch das Bewusstsein der beiden oben genannten Elemente des Schemas hergestellt werden. Symbolische Repräsentanzen verleihen den oben genannten Elementen eine bestimmte Bedeutung, z. B. könnte die traumatisierte Patientin die Metapher entwickeln »Ich sitze ausgeliefert in einem schwarzen Loch, aus dem ich nicht heraus komme«, und sie können die durch das Schema ausgelösten Erfahrungen organisieren und charakterisieren, z. B. »Ich muss jetzt wieder denken, dass ich jeden Moment angegriffen werde« oder »Ich bin so bösartig, dass nichts anderes als Schläge helfen«. 4. Motivationale oder Verhaltenselemente werden durch das emotionale Schema aktiviert und repräsentieren es in Form von Wünschen, Bedürfnissen und Handlungen bzw. Handlungsintentionen. So könnte die Traumapatientin den Wunsch entwickeln, jemanden zu haben, der sie beschützt, oder sie könnte beschließen, das Haus ihrer Mutter nie wieder aufzusuchen. Die vier Elemente stehen in Beziehung mit dem Kern des emotionalen Schemas. Er organisiert die verschiedenen Elemente um eine spezifische Emotion, z. B. extreme Angst, und eine damit verbundene Gefühlsqualität, z. B. ein Gefühl tiefer Ohnmacht. Eine adäquate Emotionsverarbeitung ist dann gewährleistet, wenn alle vier Elemente bewusst werden. Das ist bei Patienten häufig nicht der Fall. So wurde die Traumapatientin vor dem Haus ihrer Mutter von ihrer Angst so in den Bann geschlagen, dass eine symbolisch-konzeptionelle Verarbeitung nicht erfolgte bzw. möglich war. Auch der Versuch einer vom Kontext losgelösten Emotionsverarbeitung, z. B. durch Einnahme von Tranquilizern, führte nicht zu einer dauerhaften Veränderung des emotionalen Schemas. ! Für eine stabile Veränderung emotionaler Schemata sind nach diesem Modell therapeutische Bedingungen erforderlich, die einen Zugang zu diesen Schemata ermöglichen, der dazu führt, dass die Emotionen vollständig ausgedrückt werden oder eine Restrukturierung des Schemas erfolgt.
20.1.2
20
Emotionale Prozesse
In der Prozess-Erlebnisorientierten Psychotherapie werden vier emotionale Prozesse voneinander unterschieden (. Abb. 20.2). Sie erfordern unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen. 1. Von primär adaptiven Prozessen spricht man, wenn die Emotion übereinstimmt mit der Situation, in der sie auftritt, und dem Individuum zu einer adäquaten Reaktion verhilft. 5 Beispiel: Eine Person wird von einer anderen verletzt und reagiert darauf mit Ärger. Der Ärger ermöglicht eine erfolgreiche Gegenwehr, z. B. eine empörte Zurückweisung des Angriffs und damit eine Beendigung der Verletzung. Reaktionen dieser Art sind phylogenetisch natürliche Reaktionen. 5 Therapeutische Zielsetzung: Die Emotion sollte genau erschlossen und möglichst vollständig zugelassen werden. 2. Maladaptive emotionale Prozesse entstehen, wenn die auslösende Situation durch bestimmte Erfahrungen eine andere Bedeutung erhalten hat. Das ist in der Regel bei traumatischen Erfahrungen der Fall. 5 Beispiel: Eine Patientin mit einer Dissoziativen Störung hat in ihrer frühen Jugend die Erfahrung gemacht, dass Angebote von Fürsorge und emotionaler Nähe mit sexuellem Missbrauch verbunden sind. In der Therapie reagiert sie auf ein therapeutisches Beziehungsangebot, das neben Bedingungsfreier Positiver Beachtung auch Fürsorge erkennen lässt, mit Angst und Rückzug. 5 Therapeutische Zielsetzung: In der Therapie ist ein Zugang zu den emotionalen Schemata, die diesen maladaptiven Prozessen zugrunde liegen, zu finden, um eine Neustrukturierung der dominanten Schemata zu ermöglichen. 3. Bei sekundär reaktiven emotionalen Prozessen wird emotional auf die ursprüngliche und primär adaptive Emotion reagiert. Es entwickelt sich eine Emotion zu der Emotion, die dann zu einer maladaptiven Handlung führen kann. Die Emotion zu der Emotion beinhaltet meistens eine Bewertung.
444
Kapitel 20 · Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie
. Abb. 20.2. Vier Formen emotionaler Prozesse (Elliott, 1999, S. 206)
20
5 Beispiel: Ein Mann reagiert auf den Umstand, dass seine Freundin sich von ihm trennen will, mit Trauer. Er lehnt diese Trauer als Ausdruck eigener Schwäche ab und wird ärgerlich. Seinen Ärger richtet er nun gegen die Freundin. 5 Therapeutische Zielsetzung: Sekundär reaktive emotionale Prozesse erfordern die empathische Erfassung des Inneren Bezugsrahmens (7 Kap. 6.1.5), aus dem sich die sekundäre Emotion ableitet. 4. Instrumentelle emotionale Prozesse bezeichnen einen simulierten Ausdruck emotionaler
Zustände, um andere zu beeinflussen oder zu kontrollieren. 5 Beispiel: Eine Frau reagiert auf den Umstand, dass die gehasste Schwiegermutter zu ihrem anderen Sohn in eine andere Stadt zieht, so, als erleide sie einen Verlust: Sie weint und zeigt sich untröstlich. Ihre heimliche Freunde verbirgt sie gekonnt. 5 Therapeutische Zielsetzung: Voraussetzung zum Verstehen dieser Prozesse ist die korrekte Erfassung ihrer interpersonalen Bedeutung und deren motivationaler Grundlage. In der Regel lassen sich die »manipu-
445 20.2 · Ziele und Praxis der Prozess-Erlebnisorientierten Therapie
lativen« Emotionen als Ausdruck von Beziehungsängsten verstehen, die auf reale Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit des Patienten zurückzuführen sind.
20.2
Ziele und Praxis der ProzessErlebnisorientierten Therapie
Theoretisch ist es das Ziel der PET, Zugang zu den emotionalen Schemata unter therapeutischen Bedingungen zu finden, um entweder einen vollständigeren Ausdruck der Emotion zu ermöglichen oder das zugrunde liegende Schema zu rekonstruieren, d. h. von den durch traumatisierende Erfahrungen erfolgten »Überlagerungen« zu befreien. Auf dem Wege zur Definition dieses theoretischen Ziels sind konzeptionelle Erweiterungen der persönlichkeitstheoretischen Annahmen des Klientenzentrierten Konzepts vorgenommen worden: Das Selbst wird als dynamischer und komplexer angesehen als in der klassischen Klientenzentrierten Persönlichkeitstheorie (7 Kap. 3). Das Selbst wird »als eine Konstruktion verschiedener Aspekte oder Stimmen gesehen (werden), die kontinuierlich neue Synthesen bilden, um mit einer spezifischen Situation zurecht zu kommen« (Elliott, 1999a). Dabei werden die erlebnisbezogenen (inneren) von den konzeptionellen (äußeren) Stimmen unterschieden. Die Theorie der PET geht in Übereinstimmung mit Gendlin’s Konzept der »gefühlten Bedeutung« (7 Kap. 19) davon aus, dass sich die Vielschichtigkeit innerer Erfahrungen einer einfachen Selbstreflexion nicht vollständig erschließt. Neben dem von Gendlin entwickelten Focusing werden in der PET der Gestalttherapie entlehnte Techniken, wie der »Zwei-Stuhl-Dialog« und die »Arbeit mit dem leeren Stuhl«, eingesetzt, um die Aufdeckung der verschiedenen Aspekte des Selbst zu fördern und diese sinnvoll miteinander zu verbinden. Zusammenfassend lässt sich festhalten: ! Prozessziel der PET Die Prozess-Erlebnisorientierte Therapie fördert die Aufdeckung verschiedener Aspekte des Selbst, um diese in eine sinnvolle, d. h. bedeutungstiftende Beziehung zueinander zu bringen.
20
Die Prozessorientierung steht in der Tradition des Klientenzentrierten Konzepts, die sich u. a. in dem Versuch spiegelt, die verschiedenen therapeutischen Prozesse empirisch zu erfassen (Rogers, 1959a). Die Weiterentwicklung besteht in der Herausarbeitung von »Mikroprozessstufen« (Greenberg, Rice & Elliot, 1993), die einen Prozess der Selbstreflexion beschreiben, der zu einer partiellen oder vollständigen Auflösung problematischer Reaktionen führt. Im Folgenden wird beschrieben, welche Behandlungsprinzipien der systematischen Förderung dieses Prozesses zugrunde liegen. ! Sechs Behandlungsprinzipien der Prozess-
Erlebnisorientierten Psychotherapie Beziehungsprinzipien: Erleichtere das gemeinsame Engagement in einer sicheren, aufgabenorientierten therapeutischen Beziehung: 1. Empathische Einstimmung (= Empathie, 7 Kap. 6.1.5): Fühle Dich in die Erfahrungen und das unmittelbare Erleben des Patienten ein und teile es mit. 2. Therapeutische Beziehung: Entwickele Wertschätzung (= Bedingungsfreie Positive Beachtung, 7 Kap. 6.1.4) und Echtheit (= Kongruenz, 7 Kap. 6.1.3), halte sie aufrecht und teile sie mit. 3. Aufgabenorientierte Zusammenarbeit: Erleichtere das gegenseitige Engagement für die Ziele und Aufgaben der Therapie (7 Kap. 7, insbesondere 7 Kap. 7.3). Aufgabenbezogene Prinzipien: Erleichtere produktive Arbeit an erlebnisorientierten Aufgaben: 4. Erlebnisorientierte Verarbeitung: Fördere eine optimale erlebnisorientierte Verarbeitung beim Patienten (Modalitäten des Engagements). 5. Wachstum/Wahl: Fördere das Wachstum des Patienten und seine Selbstbestimmung. 6. Lösung von Aufgaben/Fokussierung: Unterstütze den Patienten dabei, wesentliche therapeutische Aufgaben zu lösen. Metaprinzip: Die Beziehungs- und die aufgabenbezogenen Prinzipien sollen in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen. (aus Greenberg et al., 1993; Elliott, 1999a)
446
Kapitel 20 · Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie
In der Taxonomie der Klientenzentrierten Therapietheorie (7 Kap. 6.3) wären die oben genannten aufgabenorientierten Prinzipien unterhalb der Stufe II, d.h. unterhalb der übergreifenden Beziehungsmerkmale, angesiedelt. Das bedeutet, dass die aufgabenbezogenen Prinzipien eine therapeutische Beziehung voraussetzen, die auf Seiten des Therapeuten durch Empathie, Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz gekennzeichnet ist, und dass die Bezogenheit auf die Aufgabe diese Beziehung auch nicht gefährdet. Das Prinzip der Nicht-Direktivität der klassischen Gesprächspsychotherapie bleibt auch in diesem Ansatz, der auf der Ebene der Interventionen viel stärker strukturiert ist, erhalten.
In der Praxis der PET werden verschiedene prozess-erlebnisorientierte Aufgaben unterschieden, die durch drei Aspekte charakterisiert sind: 4 ein Zeichen, das anzeigt, dass beim Patienten eine ausreichende Ansprechbarkeit dafür vorliegt, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten oder sich mit einer erlebnisorientierten Aufgabe auseinander zu setzen; 4 eine aufgabenbezogene Intervention des Therapeuten und 4 eine intendierte und gewünschte Lösung oder ein bestimmter Endzustand.
. Tab. 20.1. Prozess-Erlebnisorientierte Aufgaben: Zeichen, Interventionen, Endzustände (Elliott 1999, S.342) Zeichen
Intervention
Endzustand
Grundlegende/aufmerksamkeitsorientierte Aufgaben Problemrelevante Erlebnisse (z. B. interessant, verwirrend, ungewöhnlich)
Empathische Exploration
Deutliches Zeichen oder neue Bedeutung wird expliziert
Narratives Zeichen (innerer Druck, problematische Lebensgeschichte zu erzählen, z. B. bezogen auf ein Trauma)
Fördern des Wiedererzählens
Erleichterung, Füllen narrativer Lücken
Probleme bei der Erlebnisverarbeitung (überwältigt, blockiert, unklar)
Erlebnisorientiertes Focusing
Produktive Erfahrungen (bezüglich therapeutischem Fokus, der Arbeitsbeziehung, Symbolisierung erlebter Inhalte)
Problematische Reaktionen (verwirrende Überreaktionen auf bestimmte Reaktionen)
Systematische evokative Entfaltung
Neue Sicht des Selbst
Bedeutungsprotest (Lebensereignis verletzt innere Überzeugung)
Bedeutungsarbeit
Revision einer inneren Überzeugung
Spaltung im Hinblick auf die Selbstevaluation (Selbstkritik)
Zwei-Stuhl-Technik
Selbstakzeptanz, Integration
Selbstschädigende Spaltungen (Blockierte Gefühle, Resignation)
Zwei-Stuhl-Technik
Selbstausdruck, Selbstbekräftigung
Unerledigte Dinge (Negative Gefühle gegenüber bedeutsamer Person)
Arbeit mit dem leeren Stuhl
Nachsicht, Akzeptanz gegenüber anderen, Selbststärkung und Loslösung
Verletzbarkeit (Schmerzhafte Emotionen gegenüber dem Selbst)
Empathische Bestätigung
Selbstbestätigung (fühlt sich verstanden, hoffungsvoll, stärker)
Klagen über die Therapie (Infragestellung der Ziele oder Aufgaben, gestörte therapeutische Beziehung)
Beziehungsdialog (jeder exploriert die eigene Rolle bei der momentanen Schwierigkeit)
Wiederherstellung der Allianz (bessere therapeutische Beziehung, mehr Engagement in der Therapie, besseres Selbstverständnis)
Erlebnisorientierte Suche
Aktiver Ausdruck
Interpersonaler Kontakt
20
447 20.3 · Welche Unterschiede gibt es …
Exkurs
Das Prinzip der Nicht-Direktivität in der PET »Die optimale Situation in der Prozess-Erlebnisorientierten Therapie ist eine aktive Zusammenarbeit zwischen Klient und Therapeut, in der jeder der beiden Beteiligten sich weder dem anderen folgend noch ihm voraus fühlt … Wenn allerdings die Beteiligten nicht übereinstimmen, wird der Klient als Experte für seine Er fahrungen angesehen. Der Therapeut hat sich immer an den Erfahrungen des Klienten zu orientieren. Therapeutische Interventionen werden dementsprechend in einer vorsichtigen, vorläufigen Art und Weise angeboten, quasi als Mutmaßung, mögliche Perspektive oder Angebot, nicht als Expertenvorschlag oder als ›wahre‹ Aussage.« (Elliott, 1999a).
In . Tab. 20.1 sind die verschiedenen Zeichen mit den dazugehörigen Interventionen aufgeführt. Die in . Tab. 20.1 aufgeführten Interventionen lassen sich in der klientenzentrierten Taxonomie der Stufe IV zuordnen. Es handelt sich um Handlungsregeln bzw. -empfehlungen bei bestimmten Problemlagen und/oder -präsentationen. Der Behandlungsrahmen und das Setting: Die PET wird sowohl als Kurz- als auch als Langzeittherapie durchgeführt. Die Dauer ist abhängig von der Art der Störung. Langzeittherapie ist vor allem bei Patienten mit ausgeprägten interpersonalen Problemen und mit Persönlichkeitsstörungen indiziert. Die Sitzungsfrequenz beträgt in der Regel eine Sitzung pro Woche mit einer Sitzungsdauer von je 50–60 Minuten. Das Setting ist in der Regel Einzeltherapie. Unter bestimmten Bedingungen hat sich der Ansatz auch im Gruppensetting bewährt (Daldrup, Beutler, Greenberg & Engel, 1988). Das Indikationsspektrum auf der Störungsebene ist weitgehend deckungsgleich mit dem für klassische Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 8). Besonders hervorgehoben – und auch empirisch bestätigt – werden Erfolge bei Patienten mit Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen und Angststörungen. Ein wichtiges Indikationskriterium ist die Ansprechbarkeit des Patienten auf das spezifische Behandlungsangebot der PET.
20
Für die Ausbildung in PET ist ein detailliertes Programm entwickelt worden (Elliott & Davis, 1997), das zum Ziel hat, dass die Kandidaten lernen, sich in »sechs parallelen Modalitäten der Erlebnisverarbeitung« (Elliott, 1999b) zu bewegen. Diese sollen abschließend aufgeführt werden:
Sechs grundlegende Modalitäten der Erlebnisverarbeitung 1. 2. 3. 4.
Empathische Einstimmung Wertschätzung (Wärme, Toleranz) Echtheit (Authentizität/Transparenz) Zusammenarbeit (Beziehungsaufbau und -aufrechterhaltung) 5. Modellfunktion (Kompetenz in der Emotionstheorie, den Behandlungsprinzipien, den erlebnisorientierten Reaktionsmodalitäten und Aufgaben) 6. Prozessführung (die einzelnen Schritte des Patienten, seine Modalitäten des Engagements im Auge behalten und die Auswahl der richtigen Intervention) (Elliott, 1999b)
20.3
Welche Unterschiede gibt es zwischen der PET und der klassischen Gesprächspsychotherapie?
Die PET unterscheidet sich von der klassischen GPT vor allem durch die Entwicklung und Anwendung einer Emotionstheorie und ein therapeutisches Handeln, das auch strukturiertere Interventionen vorsieht, die über den verbalen Dialog hinaus gehen bzw. gegebenenfalls die »Zwei-Stuhl-Technik« oder die »Arbeit mit dem leeren Stuhl« einbeziehen. Die drei Aspekte des gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebotes, Empathie, Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung, werden in der PET nicht zueinander in Beziehung gesetzt, sondern als drei mehr oder weniger voneinander unabhängige »Beziehungsprinzipien« behandelt. Die therapeutische Beziehung gilt in der PET als durch die Aspekte »Wertschätzung« und »Echt-
448
Kapitel 20 · Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie
heit« charakterisiert, d. h. die Beziehungsaspekte Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz, die in der klassischen GPT als komplexe Konstrukte verstanden werden, werden in der PET auf der Erfahrungsebene definiert: Der Patient erlebt die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten als »Wertschätzung« und den kongruenten Therapeuten als »echt«. Empirisch gestützte Hinweise auf differenzielle Indikationskriterien für GPT oder PET liegen bisher nicht vor. Eine nahe liegende Vermutung ist, dass das problemaktivierende Vorgehen der PET bei Kurztherapien möglicherweise zu einem rascheren Erfolg führt. Aber diese Annahme bedarf einer empirischen Überprüfung. Wahrscheinlich unterscheiden sich die Therapeuten voneinander, die sich für das eine oder andere Vorgehen entscheiden. Aber auch hier fehlen bisher empirische Daten, die das genauer belegen könnten. Ganz sicher stellt die von Greenberg und anderen entwickelte Emotionstheorie auch für die klassische Gesprächspsychotherapie eine wichtige Ausformulierung der persönlichkeitstheoretischen Annahmen des Klientenzentrierten Konzepts dar. ? Übungsfragen 5 Welche vier emotionalen Prozesse unterscheidet die dem PET zugrunde liegende Emotionstheorie? 5 Worin besteht das Prozess-Ziel der PET? 5 Nenne mindesten zwei wichtige Behandlungsprinzipien der PET 5 Welche Rolle spielt das Prinzip der Nicht-Direktivität in der PET? 5 Worin unterscheiden sich klassische Gesprächspsychotherapie und PET?
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20.4
Weiterführende Literatur
Greenberg, L.S. (2001). Emotion-Focused Therapy. Coaching Clients to Work Through Their Feelings. Washington, DC: American Psychological Association. (Das Buch ist eine gute Einführung in die wichtige Weiterentwicklung der klassischen Gesprächspsychotherapie nach Rogers. Neben der Darstellung der Emotionstheorie gibt es viele praktische Übungen) Elliott, R., Watson, J.C., Goldman, R.N. & Greenberg, L.S. (2004). Learning Emotion-focused Therapy. The Process-Experiential Approach to Change. Washington, DC: American Psychological Association. (Die bisher wohl beste lehrbuchartige Darstellung der Prozess-Erlebnisorientierten Psychotherapie)
21 21
Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie E.-M. Biermann-Ratjen
21.1
Therapieziele und therapeutische Wirkfaktoren – 450
21.3
Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen – 453
21.2
Annahmen über die Zusammenhänge von Theorie und Praxis – 451
21.4
Weiterführende Literatur
Die störungsbezogene Betrachtung psychotherapeutischer Prozesse hat in der Gesprächspsychotherapie im Vergleich zu anderen Therapieverfahren spät begonnen. Das hatte in Deutschland viel damit zu tun, dass zu dem Zeitpunkt, als die Gesprächspsychotherapie in Deutschland eingeführt wurde, die sog. Antipsychiatrie in voller Blüte stand und auch die Psychologie erfasste. Die antipsychiatrische Bewegung der 60er- und 70er-Jahre sah Diagnosen und Diagnostik nicht nur als überflüssig, sondern auch als »krankmachend« (»Etikettierung«; Keupp, 1982) an. So verwundert es auch nicht, dass die erste störungsbezogene Darstellung der Gesprächspsychotherapie in Form eines Lehrbuches von einem holländischen Psychiater stammt (Swildens, 1988/1991), bevor dann auch in Deutschland eine entsprechende Entwicklung einsetzte und z. B. störungsbezogene Falldarstellungen (Eckert, Höger & Linster, 1997) erschienen. Im Folgenden wird das störungsbezogene Konzept von Finke (2004) vorgestellt, an dem auch exemplarisch gezeigt werden kann, zu welchen Veränderungen des klassischen Konzepts ein solcher Ansatz führen kann. Definition Finke definiert Psychotherapie als ein theoretisch begründbares System von Handlungsregeln, mit
6
– 456
dem unterschiedliche Phänomene spezifisch beeinflusst werden, und Gesprächspsychotherapie in diesem Rahmen als »ein System beziehungstheoretisch begründeter Handlungsoptionen« (Finke, 2004, S. VII).
Er nennt daher die drei der sechs von Rogers benannten notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess (7 Kap. 6.1) auf der Seite des Therapeuten: 4 der Therapeut ist kongruent, 4 kann den Patienten bedingungsfrei positiv beachten 4 und ihn empathisch verstehen, nicht mehr Bedingungen und auch nicht mehr – wie es viele andere Gesprächspsychotherapeuten tun – »Basisvariabeln«, sondern die Therapieprinzipien: 4 bedingungsfreies Akzeptieren, 4 einfühlendes Verstehen und 4 Echtheit/Kongruenz, und meint damit Grundlagen für störungsspezifisch wirksame Interventionen. In den letzten 20 Jahren des vorigen Jahrhunderts sei die Notwendigkeit von störungsspezifischen Konzepten in der Psychotherapie allgemein immer
450
21
Kapitel 21 · Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie
nachdrücklicher betont worden »und von Seiten der Psychotherapieforschung, namentlich der Vergleichsforschung, wurde die präzise Vergleiche ermöglichende exakte Beschreibung der Therapiepraxis bis hin zu ihrer Manualisierung gefordert« (Finke, 2004, S. V). Deshalb habe er »das aus den sog. Therapieprinzipien abzuleitende therapeutische Handeln sehr detailliert, differenzierend und im Sinne einer klaren Didaktik stark untergliedernd« (ebd.), und zwar nach und nach für fast alle wichtigen Krankheitsbilder, beschrieben. Länger dauernde psychische Störungen seien durch idealtypische Muster von Interaktionen von Symptomen und zentralen Emotionen sowie Motivationen gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Es gebe störungsspezifische Schlüsselthemen, deren Kenntnis den Zugang des Therapeuten zum Verstehen der Patienten erleichtern könnte und aus denen sich adäquate Interventionsformen ableiten ließen. Es gehe ihm nicht um Behandlungsrezepte, aber doch um Leitlinien, auch zur Reflexion des therapeutischen Handelns.
21.1
Therapieziele und therapeutische Wirkfaktoren
Finke (2004) fügt sein Konzept in das Schema einer Allgemeinen Psychotherapie von Grawe (2000) ein und bezeichnet die Gesprächspsychotherapie als eines der Verfahren, »bei denen die Einsicht in Sinnzusammenhänge bzw. die Problemklärung im Sinne der Förderung des Selbstverstehens gegenüber der Problembewältigung eine herausragende Rolle spielt« (a. a. O., S. 1). Es sei ein »erlebenszentriertes« Verfahren – hier bezieht sich Finke auf Gendlin (1962), der sich wiederum auf Dilthey berufe –, weil das Erleben des Patienten als ein unmittelbarer, präreflexiver und in diesem Sinne authentischer Vorgang, in den sich der Therapeut einfühle, im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit stehe. Die Ziele der Gesprächpsychotherapie sind nach Finke: 4 mehr Selbstannahme und weniger Selbstablehnung, 4 mehr Selbstbejahung und weniger Selbstentwertung,
4 mehr Selbsttransparenz und weniger Selbstverschlossenheit, 4 mehr Selbstübereinstimmung (Kongruenz) und weniger Selbstentzweiung 4 sowie eine Verbesserung der Beziehungsfähigkeit, die sich als Folge der Erreichung der Ziele eins bis vier ergebe. Er leitet diese Therapieziele aus einer Persönlichkeitstheorie ab, die er als Weiterentwicklung des Klientenzentrierten Konzepts verstanden wissen will, die sich aber zum Teil nicht unwesentlich von der von Rogers unterscheidet: Beispielsweise ist die Aktualisierungstendenz für ihn – wie für Speierer (7 Kap. 20) – nicht das übergeordnete Entwicklungsprinzip (7 Kap. 4), sondern steht zusammen mit z. B. dem Bedürfnis nach Anerkennung auf einer Stufe. Unbedingte positive Beachtung ist dann nicht mehr die Bedingung für die Selbstentwicklung als Teil der Aktualisierung, sondern das Bedürfnis nach Anerkennung macht die Person »im Konstruktiven wie im Negativen offen für soziale Einflussnahmen, vor allem hinsichtlich ihres Werteempfindens. Die Verinnerlichung von interpersonal vermittelten Normen bzw. Bewertungsmaßstäben kann zu einer ›Selbsterweiterung‹ aber auch zu einer Selbstentwertung, d. h. zu einem negativen Selbstkonzept führen. Dies bedeutet die Ablehnung und Entwertung des eigenen organismischen Erlebens. Eine Person, die sich unter solche Bewertungsbedingungen (Rogers 1959b/1987) stellt oder gestellt sieht, lebt im Zustand der Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst bzw. der Selbstentzweiung (Inkongruenz). Wenn die Person dieser qualvollen Selbstentzweiung dadurch zu entgehen sucht, dass sie die als negativ bewerteten Aspekte ihres organismischen Erlebens ausblendet bzw. nicht symbolisiert, lebt sie im Zustand der Selbstverborgenheit, d. h. mit einem Mangel an Selbsttransparenz und Kongruenz. Selbstentzweiung und Selbstverborgenheit sind Formen von Selbstentfremdung…« (Finke, 2004, S. 9) Im Rahmen einer Diskussion der zentralen Wirkfaktoren von Psychotherapie referiert Finke die »Auf-
451 21.2 · Annahmen über die Zusammenhänge von Theorie und Praxis
stellung allgemein wirksamer Faktoren« durch Pfeiffer (1991), die Frank (1961/1985) in seinem »common factor model« herausgearbeitet hat: 4 Mobilisieren der Zuversicht und Veränderungsbereitschaft 4 Aufnahme einer emotional bedeutsamen Beziehung 4 Interpretation des Leidens und der Therapie nach einem plausiblen, der kulturellen Situation entsprechenden Konzept, 4 »Auftauen« verfestigter Erlebens- und Verhaltensmuster, 4 korrigierende emotionale Erfahrungen mit Umstrukturierung von stereotypen Beziehungserwartungen. Diese Aufstellung weise Parallelen mit der Liste der allgemeinen Wirkfaktoren von Grawe (2000) auf: 4 Ressourcenaktivierung, 4 Problem- bzw. Motivationsklärung, 4 Problemaktualisierung oder prozessuale (Erlebnis-)Aktivierung, 4 Fördern der Problembewältigung, nur der Beziehungsfaktor fehle hier.
21
Finke betont aber, dass für die Gesprächspsychotherapie folgende drei »Hauptwirkfaktoren« – er nennt sie auch »Änderungskonzepte« und an anderer Stelle eben auch »Therapieprinzipien« – ausschlaggebend seien: 4 Verändern durch Anerkennen: Das sei Fördern der Selbstheilungskraft, der Aktualisierungstendenz aber auch der sog. gesunden Persönlichkeitsanteile des Patienten. 4 Verändern durch Verstehen: Damit meint Finke Therapie als Sinnerfahrung und Aufhebung des Selbstwiderspruchs. 4 Verändern durch Begegnen: Das sei mehr als das spiegelnde Verstehen des Therapeuten, ein echtes dem Patienten als Person ein Gegenüber sein.
21.2
Annahmen über die Zusammenhänge von Theorie und Praxis
Finke nimmt den folgenden »Begründungszusammenhang von Krankheitslehre, Therapietheorie, Therapieprinzipien und Therapiepraxis« an (. Abb. 21.1).
. Abb. 21.1. Der methodische Begründungszusammenhang von Krankheitslehre, Therapietheorie, Therapieprinzipien und Theoriepraxis. (Aus: Finke, 2004, S. 15)
452
21
Kapitel 21 · Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie
Aus Rogers drei Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess auf der Seite der Therapeuten – neben der Bedingung Inkongruenz auf der Seite des Patienten und den beiden Interaktionsbedingungen Kontakt und der Wahrnehmung des Patienten, dass der Therapeut ihn empathisch versteht und bedingungsfrei akzeptiert – werden die drei Therapieprinzipien Bedingungsfreies Akzeptieren, Einfühlendes Verstehen und Echtheit/Kongruenz. Sie werden aus unterschiedlichen Modellvorstellungen davon, wie behandlungsbedürftige Erfahrungen – Symptome – zustande kommen, und je dazu passenden Modellvorstellungen davon, was den Inhalt des therapeutischen Prozesses ausmacht, abgeleitet und in unterschiedlichen Therapietechniken umgesetzt. Gestörte Selbstregulation. Wenn der Therapeut Grund zu der Annahme hat, dass der Patient unter einer Erfahrung vor allem in der Form leidet, dass sie seine »Selbstregulationsfähigkeiten« und damit seine Weiterentwicklung blockiert, wird er mit der Modellvorstellung, dass Therapie vor allem im »anschauenden Mitvollzug« der Erfahrungen des Patienten durch den Therapeuten besteht, das Therapieprinzip »Bedingungsfreies Akzeptieren« in der Form umsetzen, dass er den Patienten »anerkennt«, »ermutigt« oder sich mit ihm »solidarisiert«. Unvollständige Symbolisierung. Wenn der Patient vor allem darunter zu leiden scheint, dass er bestimmte Erfahrungen nicht vollständig symbolisiert, weil sie z. B. im Widerspruch zu seinem Selbstkonzept – oder, was bei Finke die größere Rolle spielt, zu seinen Idealen oder Wunschvorstellungen – stehen, wird der Therapeut mit der Modellvorstellung, dass es in der Therapie vor allem um das »Erfassen komplexer Sinngehalte« geht, nach dem Therapieprinzip »Einfühlendes Verstehen«, sich dem Patienten als Alter Ego, oder als Spiegel oder als Dialogpartner zur Verfügung stellen, konkret zum Ausdruck gebracht durch: »Einfühlendes Wiederholen, Konkretisierendes Verstehen, selbstkonzeptbezogenes Verstehen, organismusbezogenes Verstehen« (Finke, 2004, S. 20). Beziehungsprobleme. Wenn der Patient deutlich
unter seinen Beziehungen zu anderen Menschen
leidet, dazu gehört auch die Beziehung zum Therapeuten, unter seinen Beziehungserwartungen oder Beziehungserfahrungen oder seinem eigenen Verhalten in Beziehungen, wird der Therapeut davon ausgehen, dass der Patient nicht nur ein Selbstkonzept hat, das seinen Umgang mit konkreten Erfahrungen beeinflusst, sondern auch ein Beziehungskonzept, das seine Erwartungen an und damit auch sein Verhalten in Beziehungssituationen beeinflussen und damit auch beeinträchtigen kann. Er wird dann ausgehend davon, dass Therapie »neue« Kommunikationserfahrungen zu machen bedeutet, das Therapieprinzip »Echtheit/Kongruenz« dadurch verwirklichen, dass er den Patienten mit seinem eigenen Verhalten oder Denken oder Fühlen »konfrontiert«, vor allem die Beziehung, die der Patient zu ihm, dem Therapeuten hat, zu »klären« versucht und/oder dass er »sich selbst einbringt«, d. h. dem Patienten mitteilt, wie er sich mit ihm z. B. fühlt. Finke deutet immer wieder an, dass es kaum eine Therapietechnik gibt, deren angenommene Wirksamkeit auf nur einem der drei Therapieprinzipien beruht. Von einer Konfrontation eines Patienten mit seinem Verhalten z. B. könne man nur dann eine therapeutische Wirkung erwarten, wenn der Therapeut sich dabei nicht nur als klares Gegenüber zeigt, sondern auch deutlich vermitteln kann, dass er sich in das Erleben des Patienten bei seinem Verhalten empathisch einfühlen kann und dass er den Patienten, auch wenn er sich so verhält, als Person wertschätzt. Manchmal entsteht aber auch der Eindruck, dass die Modellvorstellungen von Finke nicht Weiterentwicklungen und Ausdifferenzierungen des Klientenzentrierten Konzepts sind, sondern aus anderen Theorien stammen und mit den klientenzentrierten Begriffen und Modellvorstellungen nicht kompatibel sind. Das soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Die Beziehung zwischen den Therapieprinzipien und den Therapietechniken stellt Finke für jedes Therapieprinzip extra unter den folgenden Gesichtpunkten vor: 4 Ziele und Funktionen (z. B. des Bedingungsfreien Akzeptierens) 4 Praxis 4 Schwierigkeiten und Gefahren bei der Realisierung 4 Indikation
453 21.3 · Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen
Dabei taucht ein viertes Therapieprinzip auf: Unter dem Titel »Thematisierte Beziehung« werden die Ziele und Funktionen, die Praxis, die Gefahren und die Indikation des Beziehungsklärens behandelt. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema »Übertragung« besprochen.
21.3
Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen
Für die Diagnosen: 4 Depression 4 Angststörungen 4 Somatoforme Störungen 4 Borderline-, narzisstische, abhängige (asthenische) und paranoide Persönlichkeitsstörungen 4 Paranoide Schizophrenie 4 Alkoholabhängigkeit und 4 Essstörungen beschreibt Finke jeweils die Diagnostik und Indikation, die sog. Inkongruenz- und Beziehungskonstellation und die Behandlungspraxis. Der Unterschied zwischen dem, was von Rogers unter Aktualisierung, dem Selbstkonzept, Inkongruenz, introjizierten Wertvorstellungen und Abwehr z. B. verstanden worden ist, und dem, was in diesem Buch darunter verstanden wird, lässt sich am deutlichsten in der Form veranschaulichen, dass eine von Finkes als idealtypisch gemeinten Behandlungsvorstellungen referiert wird: Deshalb wird im Folgenden ausgeführt, wie Finke die »Mittel und Ziele der Gesprächsführung« bei der Therapie von narzisstisch Gestörten: »Einfühlen und Verstehen«, »Beziehungsklären und Reales Zugegensein« und »Selbsteinbringen« und sog. »Gesprächsregeln« für diese Behandlung entwickelt: Die Diagnose »Narzisstische Persönlichkeitsstörung« werde international beim Vorliegen von fünf der folgenden Merkmale gestellt: Kritikempfindlichkeit, ausbeuterische Egozentrik, übertriebenes Selbstwertgefühl, Einzigartigkeitserleben, Grandiositätserleben, überhöhte Anspruchshaltung, Bewunderungssuche, Empathiemangel, Neidhaltung. Die Kehrseiten der Selbsterhöhung, vor allem die Selbstzweifel, gegen die viele narzisstisch Gestörte immer wieder ankämpften – oft erfolglos mit
21
der Folge von Selbstentwertungen und depressiven Krisen – würden nicht genannt, ebenso wenig die Anspannungen, Arbeitsstörungen und wiederum depressiven Krisen, wenn die Ehrgeizhaltung als Ausdruck des Strebens nach Grandiosität nichts furchtet, und die innere Leere oder das Empfinden von Sinnlosigkeit, die sich einstellten, wenn die Erfolgreichen zwar »alles erreicht haben« aber mit ihren schweren Beziehungsstörungen konfrontiert werden. Eine Gesprächspsychotherapie sei bei diesen Patienten deshalb indiziert, weil sie so besonders auf Bedingungsfreies Akzeptiertwerden und Einfühlendes Verstandenwerden angewiesen seien, was ihnen im täglichen Umgang kaum jemand zukommen lasse. Sie könnten die Verstehensangebote des Therapeuten in der Regel auch ganz gut annehmen und seien in ihrer Introspektionsfähigkeit weniger gestört als andere Persönlichkeitsgestörte. »Die Inkongruenz besteht hier in dem Selbstkonzept von Einzigartigkeit und dem Bedürfnis nach Autarkie im Sinne absoluter Unabhängigkeit sowie grandioser Unerreichbarkeit einerseits und der (nicht symbolisierten) Angst vor Bedeutungslosigkeit sowie dem (höchst vage symbolisierten) Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung andererseits. Das letztgenannte Bedürfnis schließt den Wunsch nach echter Zuneigung keineswegs aus, wenngleich dieser kaum symbolisiert ist. Diese Konstellation bedeutet einen ständigen Nähe-DistanzKonflikt. Die Nähe, die einerseits gewünscht wird, da sie die Abstützung des unsicheren Selbstwerterlebens sichern soll, wird andererseits als bedrohlich erlebt, da sie, innerhalb dieses Kontextes durchaus zu Recht, mit ohnmächtiger Abhängigkeit in Verbindung gebracht wird.« (Finke, 2004, S. 120) Das Nähebedürfnis werde in einer Haltung der Verachtung und Entwertung gegenüber fast allen anderen abgewehrt. Manche Personen, die kritiklos Anerkennung zu geben scheinen, könnten aber auch idealisiert werden. Das Selbstkonzept sei wenig konsistent und brüchig. Es bestehe »eine Art doppeltes Selbstbild« oder ein »doppeltes Selbstschema«, wie es Sachse
454
21
Kapitel 21 · Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie
(2002, S. 170) nenne. Der Untergrund, das Bild des Versagers, könne das Bild des grandiosen Siegers im Vordergrund auch verdrängen. Der narzisstisch persönlichkeitsgestörte Patient gebe sich dem Therapeuten gegenüber zunächst selbstgenügsam, dann aber Bewunderung heischend. Das gehe oft mit einer Idealisierung des Therapeuten einher, die dann auch in ihr Gegenteil, die totale Verachtung und Demütigung des Therapeuten umkippen könne, auch gerade dann, wenn »das Erleben von empathischer Nähe für ihn zu einer unerträglichen Bedrohung seiner elitären Einzigartigkeitsphantasien wird« (Finke, 2004, S. 121). Die Schlüsselthemen der narzisstischen Störung seien: 4 Sehnsucht nach Einzigartigkeit 4 Verachtung und Entwertung 4 Selbstzweifel und Kränkbarkeit 4 Mangel an Empathie Finke beschreibt nacheinander den therapeutischen Umgang mit den einzelnen Schlüsselthemen: Sehnsucht nach Einzigartigkeit. Die Patienten be-
nötigten ihre Phantasien von Einzigartigkeit, um ihre Gefühle von Bedeutungslosigkeit bzw. ihre Selbstwertzweifel abzuwehren. Der Wunsch nach Bewunderung könne aber nicht voll symbolisiert werden, »weil damit ja auch das Eingeständnis der Abhängigkeit von solcher Bestätigung verbunden wäre« (ebd.). Diese Patienten seien auf Bedingungsfreies Akzeptieren angewiesen, und der Therapeut »sollte gelegentlich auch dem Bedürfnis nach Bewunderung entsprechen, dort, wo er zumindest ansatzweise Stärken des Patienten entdeckt, sollte er diese auch anerkennend hervorheben« (ebd.). Auf der anderen Seite verleugne der Patient ja auch sein Bedürfnis nach Anerkennung. Der Therapeut müsse ihn also mit der ganzen Realität konfrontieren. Bei diesen Patienten »müssen die Prinzipien des Bedingungsfreien Akzeptierens und Einfühlenden Verstehens durch das Prinzip der Echtheit ergänzt werden. Um die hier fast antinomisch zueinander stehenden Prinzipien richtig, d. h. ›dialektisch‹ auszubalancieren, muss der Therapeut etwa 6
beim Versuch des Konfrontierens und Selbstöffnens ein besonderes Feingefühl für angemessene Formulierungen haben, abgesehen von der grundsätzlichen Fähigkeit, mit kränkenden Zurückweisungen von Seiten des Patienten richtig umgehen zu können.« (a.a.O., S. 122) Auf der konkreten Ebene interveniere der Therapeut ferner durch Einfühlendes Wiederholen und Aufgreifen von selbstreflexiven Gefühlen (Selbstkonzeptbezogenes Verstehen), aber auch durch Konfrontieren und Beziehungsklären. Verachtung und Entwertung. Die Neigung zu verachten und zu entwerten »ist aus einer Position des Einfühlens und Verstehens zu klären, um so der Patientin zu helfen, die Motive ihres entwertenden Verhaltens zu verstehen und maladaptive Interaktionsmuster zu korrigieren Hier ist es auch angebracht, über das Selbsteinbringen zu intervenieren, indem z. B. der Therapeut sich gewissermaßen als Partnersubstitut zur Verfügung stellt, d. h. hier eine Rollenidentifikation … vornimmt … Es ist gewissermaßen eine Anleitung zum Perspektivwechsel bzw. zur Empathie. Außerdem wird so jedes Moment einer Kritik von ›objektiver Warte‹ oder einer Belehrung ›von oben herab‹, worauf gerade narzisstische Patienten übersensibel reagieren, vermieden.« (a. a. O., S. 123)
Wenn sich der Patient dem Therapeuten gegenüber abweisend und kränkend verhält, sei darauf »per Selbsteinbringen … Mitteilen der eigenen Resonanz … auch per Beziehungsklären« (ebd.) zu intervenieren. Wenn sich der Patient in seiner Angst selbst verstehe, »d. h. auch seine Abwehr selbstempathisch durchschauen kann, und wenn er hier von einem relevanten Anderen verstanden und anerkannt wird, kann er diese Angst auch bei sich selbst anerkennen und so angemessen und konstruktiv bewältigen« (ebd.). Selbstzweifel und Kränkbarkeit. Wenn die Selbstzweifel des Patienten manifest würden und sich z. B.
455 21.3 · Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen
als depressive Krise äußerten, sei der Patient wie ein Depressiver zu behandeln. Außerhalb solcher Krisen müsse man aber sehr vorsichtig im Umgang mit der Kränkbarkeit sein. Eine Möglichkeit, sie anzusprechen, sei das Selbsteinbringen. Der Patient könne dann erleben, dass auch der Therapeut kränkbar ist und das Bedürfnis nach Anerkennung hat. »Andererseits kann aber gerade der narzisstisch Gestörte die Realität des anderen schlecht aushalten, er erlebt sie schnell als kränkend, bedrängend, kontrollierend oder sonst wie bedrohlich. Deshalb ist es wichtig, dass der Therapeut seine »Realität« dosiert, d. h., dass er das Selbsteinbringen, z. B. die Mitteilung seiner Resonanz auf die Patientin behutsam und gewissermaßen in kleinen Schritten vornimmt. So kann die Patientin in angemessenen Lernschritten ihre interaktionelle Erlebnisweise und Kompetenz erweitern. Die hier besprochenen Patienten werden ja deshalb auch als persönlichkeitsgestört bezeichnet, weil sie aufgrund sehr früher oder sehr gravierender Beschädigungen zu einer eigentlich dialogischen Kommunikation nur begrenzt in der Lage sind.« (a.a.O., S. 124) Mangel an Empathie. Narzisstisch Gestörte blendeten Gefühle von Enttäuschung, Scham und Traurigkeit als nicht mit Grandiosität zu vereinbarende aus, zeigten besonders in diesem Bereich einen Mangel an Selbstempathie. »Durch Interventionsformen des Einfühlenden Verstehens wie Einfühlendes bzw. Umakzentuierendes Wiederholen, Konkretisierendes Verstehen und Selbstkonzeptbezogenes Verstehen (Aufgreifen selbstreflexiver Gefühle) kann der Patient lernen, seine Gefühle zutreffend anzusprechen, sie zu unterscheiden, ihren Kontext zu klären sowie sich der eigenen Stellungnahme und Bewertung und somit Identität zu vergewissern« (ebd.). »Durch das Konfrontieren kann der Patient auf Diskrepanzen von nonverbalem und verbalem Verhalten oder widersprüchlichen Stellungnahmen hingewiesen werden, um ihm die Wahrnehmung divergierender Gefühle und der eigenen Abwehr zu ermöglichen« (a. a. O., S. 125). Um ihn nicht zu beschämen, empfiehlt Finke die Kombination von Konfrontation und Selbsteinbringen.
21
Finke fasst die Mittel und Ziele der Gesprächsführung in der Therapie von narzisstisch Gestörten so zusammen: 4 Einfühlen und Verstehen 5 Durch behutsames Aufgreifen und empathisches Klären von Scham- und Ohnmachtsgefühlen dem Patienten helfen, sich mit gefürchteten Aspekten seines Selbst zu versöhnen 5 Das überhöhte Selbstideal anerkennen sowie als Ausdruck von Wünschen nach positiver Beachtung verstehen und so dem Patienten ermöglichen, dieses Bedürfnis zu akzeptieren 4 Beziehungsklären 5 Das Interaktionsverhalten von Arroganz und Verachtung als Angst vor Zurückweisung verstehen und so dem Patienten eine konstruktive Beziehungserfahrung vermitteln und die Bewältigung dieser Angst ermöglichen 4 Reales Zugegensein und Selbsteinbringen 5 Durch Mitteilen von Interesse und positiver Bewertung Selbstzweifel und Ängste vor Missachtung mildern 5 Durch Mitteilen der Kränkbarkeit des Therapeuten positives Modell für Selbstexploration geben und Empathiefähigkeit des Patienten verbessern. Und abschließend erläutert er sie – bzw. sein Verständnis einer Gesprächspsychotherapie einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung – noch ein weiteres Mal als Gesprächsregeln:
Gesprächsregeln für die Behandlung von narzisstischen Störungen
5 Rechnen Sie mit der Verletzbarkeit des narzisstisch Gestörten und verwirklichen Sie das Bedingungsfreie Akzeptieren anfangs möglichst konsequent und unbeirrbar. 5 Lassen Sie sich nicht durch die Zurückweisungen des Patienten irritieren. Achten Sie sein Bedürfnis nach Distanz und seine Angst vor Abhängigkeit.
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Kapitel 21 · Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie
? Übungsfragen
5 Seien Sie beim Einfühlenden Verstehen besonders geduldig, und helfen Sie so dem Patienten, seine oft widersprüchlichen Gefühle richtig zu benennen, zu unterscheiden und die aktuellen Umstände ihres Zustandekommens zu klären. 5 Der narzisstisch Gestörte braucht »Realitätsnähe«. Versuchen Sie, die Beziehung des Patienten zu wichtigen Kontaktpersonen dadurch besonders gegenwärtig und greifbar zu machen, dass Sie sich als Partnersubstitut zur Verfügung stellen. Identifizieren Sie sich versuchsweise mit dem Konfliktpartner des Patienten und teilen sie (angemessen »dosiert«) ihre Gefühle mit. 5 Lassen Sie sich vom Patienten nicht als gütiger, beschönigender »Spieler« gebrauchen, sondern helfen Sie ihm, langsam auch den realitätsgerechten »Spiegel« zu ertragen. 5 Vermitteln Sie dem Patienten die nötige verhaltenskorrigierende Realitätskonfrontation in Form des Sicheinbringens: Achten Sie sowohl auf Ihre Gefühle wie auf das Verhalten des Patienten, und sprechen Sie Ihre Gefühle als persönliche Resonanz behutsam an. (Finke, 2004, S. 125)
5 Welche Therapieprinzipien werden von Finke als wesentlich für sein Konzept von Gesprächspsychotherapie herausgestellt? 5 Welches Bedürfnis steht laut Finke gleichrangig neben der Aktualisierungstendenz? 5 Was versteht Finke unter dem Beziehungskonzept?
21.4
Weiterführende Literatur
Finke, J. (2004). Gesprächspsychotherapie, Grundlagen und spezifische Anwendungen (3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl.). Stuttgart: Thieme.
22 22
Das Differenzielle Inkongruenzmodell E.-M. Biermann Ratjen
22.1
Persönlichkeitstheoretische Annahmen – 457
22.2
Annahmen zur Entstehung von Inkongruenz – 458
Ausgehend von einer Kritik an Rogers (1959b/ 1987) Theorie der Therapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen hat Speierer ein sog. Differenzielles Inkongruenzmodell (DIM) entwickelt und als allgemeine und störungsspezifische Krankheitstheorie der Gesprächspsychotherapie vorgestellt.
22.1
Persönlichkeitstheoretische Annahmen
Er möchte die Aktualisierungstendenz als »eine unter anderen bedeutsamen Bestrebungen« verstanden wissen und die Aktualisierung als »außer durch soziale Kommunikation auch durch situative und gesellschaftliche Faktoren, aber auch durch bioneuropsychologische individuelle Dispositionen beeinflusst … bis zu ihrem völligen Verschwinden (Speierer, 2002, S. 164).« Das Selbstkonzept definiert Speierer als »die subjektiven persönlichen kognitiven, gefühlsmäßigen und psychophysischen Bewertungs- sowie Handlungsschemata. Durch sie werden Wahrnehmungen in persönliche Erfahrungen umgewandelt, die Bezug haben zur eigenen Person, zu bedeutungsvollen anderen Menschen und zur aktuellen Situation sowie zur Gesellschaft (a. a. O., S. 165).« Das Selbst repräsentiere die Person als denkendes, fühlendes und handelndes Subjekt. Seine Struk-
22.3
Inkongruenzanalyse und therapietheoretische Annahmen – 459
22.4
Weiterführende Literatur
– 460
tur bestehe aus drei Teilen unterschiedlicher Herkunft: 1. Die organismische Bewertung und die Aktualisierungstendenz werden als Ergebnis der Evolution und der individuellen bio-neuro-psychologischen Disposition des Menschen betrachtet. 2. Die Wertintrojekte mit ihren Bewertungs- und Handlungsmaximen werden vorzugsweise als Ergebnis der primären Sozialisation und dabei speziell der erlebten Qualität der sozialen Kommunikation im Sinne von unbedingter Wertschätzung, Kongruenz, empathischem Verstehen und dem Gebrauch von Symbolen durch die bedeutungsvollen Bezugspersonen angesehen. 3. Als Lebenserfahrungs- bzw. Lebensgestaltungskonstrukte werden Bewertungsschemata und Lebenspläne bezeichnet. Sie würden lebenslänglich als Folge von Lebensereignissen, der Lebenssituation und des gesellschaftlichen Umfelds erworben und in das Selbst integriert. Aus diesen drei Strukturanteilen des Selbst leitet Speierer sechs Aspekte eines sog. Kongruenzerlebens ab, das er mit dem gesunden Erleben bzw. dem, das zu erreichen das Therapieziel sei, gleichsetzt: 1. Konsonanz, Kompatibilität, Übereinstimmung und Konformität innerhalb der dispositionellen, sozialkommunikativen und lebensereignis-/ situativ/gesellschaftlich bedingten Teile des Selbst.
458
22
Kapitel 22 · Das Differenzielle Inkongruenzmodell
2. Einklang, Verträglichkeit, Übereinstimmung oder Konformität zwischen dem Selbstkonzept und den Erfahrungen – der persönlichen Selbstwahrnehmung –, der bedeutungsvollen anderen Personen – der persönlichen Interaktion mit ihnen –, der persönlich bedeutungsvollen Lebensereignisse sowie – der persönlich relevanten situativen und gesellschaftlichen Faktoren. 3. Friedliche Koexistenz von Widersprüchen innerhalb der drei Teile der Selbststruktur (7 oben). 4. Friedliche Koexistenz von Widersprüchen zwischen Teilen des Selbst und von Erfahrungen. 5. Inkongruenztoleranz als Einstellung oder Fähigkeit, Widersprüche innerhalb des Selbst und zwischen dem Selbst und den Erfahrungen zu akzeptieren bzw. auszuhalten, und schließlich 6. Kongruenzfördernde Einstellungen und Fähigkeiten oder Copingstrategien, um Erfahrungen als selbstkongruent zu bewerten.
bensereignis- oder lebenserfahrungsbedingten Anteilen der Selbststruktur« (7 oben) (a. a. O., S. 168) 2. Gewahrwerden von Inkongruenz zwischen Erfahrungen und dem Selbst: »… Unverträglichkeit zwischen Erfahrungen der eigenen Person und/oder des Verhaltens anderer bedeutsamer Personen, der Interaktion mit ihnen und/oder von relevanten (Lebens-)Situationen sowie gesellschaftlichen Bedingungen einerseits und andererseits dem aktuellen Selbst aus dem Amalgam seiner verschiedenen strukturellen Anteile« (ebd.). Neben diesen beiden Formen von »Konfliktinkongruenz« gebe es 3. eine konfliktfreie oder Stressinkongruenz, die entstehe, wenn die Person mit überwältigenden Erfahrungen konfrontiert werde, die für ihr Selbst unerträglich seien, es in Frage stellten, es in seiner Existenz bedrohten oder zerstörten.
Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Aspekte der Kongruenz im Erleben der Person nennt Speierer die Kongruenzdynamik. Im Mittelpunkt des DIM steht aber der Begriff der Inkongruenz. Das DIM »erweitert« und »differenziert« »die Vorstellungen und Definitionen von Rogers (1959b/1987, 1961/1973a) und Rogers und Sanford (1985) über das persönliche subjektive Erleben von Inkongruenz, die Inkongruenzentstehung und die Inkongruenzfolgesymptome« (Speierer, 2002, S. 167).
! Zusammenhang zwischen Inkongruenz und
Psychopathologie »Jede dieser Inkongruenzformen kann allein oder kombiniert die Grundlage der vielfältigen psychischen und körperlichen Krankheitssymptome bilden. Es wird also postuliert, dass Krankheitssymptome Folgen oder Begleiterscheinungen von Inkongruenzerleben sind (Speierer, 2002, S. 168).«
22.2
Annahmen zur Entstehung von Inkongruenz
Definition Inkongruenz wird definiert als eine über Angst hinausgehende in vielerlei Hinsicht unangenehme Erlebensqualität. Das Erleben von Inkongruenz kann angesichts von Erfahrungen aus Vergangenheit, Gegenwart und von Gedanken an die Zukunft aktualisiert und damit bewusst werden (Speierer, 2002, S. 167).
Speierer unterscheidet folgende Formen von Inkongruenz: 1. Inkongruenz innerhalb des Selbst: »Unverträglichkeit, Inkompatibilität, Nichtübereinstimmung oder Unvereinbarkeit zwischen den dispositionellen, sozial-kommunikativen und le-
Anders als Rogers, der angeblich »allein sozialkommunikative Defizite, die die stets vorhandene »gesunde« Aktualisierungstendenz einschränkten und dadurch die psychophysischen Störungen einer Person bewirkten (a. a. O., S. 169)« als Ursachen für die Entstehung von Inkongruenz angenommen habe, hat Speierer (1989, 1994; zitiert nach Speierer, 2002) aus der ätiologischen Perspektive zunächst drei Inkongruenzquellen »anerkannt«: 1. Sozialkommunikative Inkongruenzquellen in Form von Defiziten an erlebter Wertschätzung, Empathie und Kongruenz sowie mangelhafte verbale und nichtverbale Ausdrucksformen (»Symbolisierung«) in den persönlich relevanten interaktionellen Beziehungen der Vergan-
459 22.3 · Inkongruenzanalyse und therapietheoretische Annahmen
genheit einschließlich der frühen Kindheit bis zur Gegenwart. 2. Dispositionelle Inkongruenzquellen, das sind »bio-neuro-psychologische Anfälligkeiten bzw. Vulnerabilitäten bzw. erniedrigte Toleranzgrenzen für Inkongruenzerleben, das noch mit dem Erleben von Gesundheit verträglich ist. Dazu kommen bio-neuro-psychologische Auslöser von Inkongruenzerleben« (a. a. O., S. 169). 3. Lebensereignisbedingte Inkongruenzquellen, das sind »sozialkommunikativ und nicht-sozialkommunikativ vermittelte, selbstbedrohlich erlebte Lebensereignisse« (ebd.). Nachdem er untersucht hat (Speierer & Helgert, 1999, zitiert nach Speierer, 2002), was die Patienten, die eine Gesprächspsychotherapie machen, vor allem belastet, und herausgefunden hat: »Nicht eine, sondern mehrere Inkongruenzquellen belasten die PatientInnen«, und sie leiden nicht etwa am meisten unter »sozialkommunikativ defizitären Erfahrungen im Sinne der gesprächspsychotherapeutischen Grundhaltungen« sondern unter »auf Bezugspersonen bezogene(n) sozial vermittelte(n) Lebensereignisse(n), wie eine Trennung der Eltern, und nicht sozial vermittelte(n) Lebensereignisse(n), wie z. B. eine körperliche Krankheit oder ein Todesfall … (a. a. O., S. 169),« geht Speierer von sechs Inkongruenzquellen (geordnet nach dem Grad, in dem sie eine Belastung darstellen) aus: 1. Lebensereignisse, z. B. Tod eines nahen Angehörigen, persönliche Misserfolge und Niederlagen sowie Verletzung durch Gewalt, Unfall und Krankheit. 2. Das Selbstkonzept und eine personnahe Störungstheorie, z. B. die Erkenntnis der Mitverantwortung für eigene Probleme, Selbstvorwürfe und Wertintrojekte wie »man darf niemanden verletzen«. 3. Sozialkommunikative Erfahrungen in der Vergangenheit und Kindheit, wie Erfahrungen von Unverständnis, eine unbefriedigend erlebte Beziehung zu den Eltern und Misstrauen gegenüber anderen Personen. 4. Sozialkommunikative Erfahrungen in der Gegenwart, im Vordergrund stehen negative Beziehungserfahrungen und ihre Folgen, z. B. Misstrauen gegenüber anderen Personen, eine unbe-
22
friedigend erlebte Beziehung zu den Eltern sowie zu Geschwistern. 5. Negative Zukunftserwartungen, wie sie auch von Swildens (1988) hervorgehoben worden seien, »z. B. Mutlosigkeit angesichts der Zukunft, eine negative berufliche Perspektive und wenig Hoffnung auf eine gute Zukunft (a. a. O., S. 170)«. 6. »Eine personferne Störungstheorie und Indikatoren für dispositionelle Faktoren, hier vor allem das kontinuierliche Bestehen der Probleme seit der Kindheit und ein deutlich von der Jahreszeit abhängiges Befinden (ebd.).« Speierer kommt auf der Grundlage seiner »Kongruenztheorie der psychischen Gesundheit« und »Inkongruenztheorie psychischer und körperlicher Störungen« zu einer Einteilung psychischer Störungen und weiterer Krankheitsbilder 4 nach dem Vorhandensein von Inkongruenzerleben (das nennt er die nosologische Klassifikation), 4 nach den Ursachen der Inkongruenz (das nennt er die ätiologische Orientierung) und 4 nach den Inkongruenzsymptomen und Inkongruenzäquivalenten (das nennt er die phänomenologische Betrachtung).
22.3
Inkongruenzanalyse und therapietheoretische Annahmen
Diese Einteilung bilde zusammen mit allgemeinen und speziellen störungsspezifischen nosologischen Erkenntnissen aus der klinischen Psychologie und der Medizin die Grundlage von Diagnostik, Indikationsstellung und Therapieplanung in der Gesprächspsychotherapie als Inkongruenzbehandlung. Für die sog. Inkongruenzanalyse aus Therapietransskripten oder aus Tonband- oder Videoaufzeichnungen hat Speierer (1994) ein detailliertes Kategoriensystem entwickelt. Die Inkongruenzanalyse könne auch mittels eines Therapeutenbeurteilungsbogens nach dem Ende therapeutischer Gespräche erfolgen. Und drittens gebe es einen Patientenfragebogen: das Regensburger Inkongruenz-AnalyseInventar (RIAI) (Speierer, 1997; Speierer, Helgert & Rösner, 1999).
460
22
Kapitel 22 · Das Differenzielle Inkongruenzmodell
Auf der Grundlage seines DIM stellt sich Speierer den Ablauf einer Gesprächspsychotherapie als »Dreischritt der zielorientierten Inkongruenzbearbeitung« vor: Die Inkongruenz sei 1. zu fokussieren, 2. zu bearbeiten und 3. seien selbstverträgliche Lösungen zu finden. Daher könne man eine Gesprächspsychotherapie auch als »Fokaltherapie mit individuellem und störungsspezifischen Ansatz« bezeichnen. Das DIM verhelfe der Praxis der Gesprächspsychotherapie zu einer neuen Transparenz: »Das Erleben und Verhalten der PatientInnen kann differenziert in seinen verbliebenen gesunden Anteilen kongruenztheoretisch betrachtet werden. Die kranken Anteile können inkongruenztheoretisch unter nosologischen, ätiologischen und phänomenologischen Gesichtpunkten verstanden werden.« (Speierer, 2002, S. 181) »Eine optimale Gestaltung der therapeutischen Beziehung, die die Ressourcen der PatientInnen berücksichtigt und ihre Aktualisierungstendenz anregt, kann erleichtert werden (ebd.).« Aufgrund der Kongruenztheorie der seelischen Gesundheit könne schon während der Behandlung, unmittelbar danach und später in der Katamnese mit für die Gesprächspsychotherapie spezifischen psychometrischen Methoden festgestellt werden, ob sie erfolgreich ist.
? Übungsfragen 5 Worin unterscheidet sich das DIM von Rogers Theorie der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen? 5 Was wird im DIM unter Inkongruenzdynamik verstanden? 5 Welche Quellen der Inkongruenz nimmt das DIM vor allem an?
22.4
Weiterführende Literatur
Speierer, G.-W. (1994). Das Differentielle Inkongruenzmodell. Handbuch der Gesprächspsychotherapie als Inkongruenzbehandlung. Heidelberg: Asanger
23 23
Behandlungsleitlinien
23.1
Leitlinien für die gesprächspsychotherapeutische Behandlung von Anpassungsstörungen – 461
23.2
K. Schützmann, S. Laleik, E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert
E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert 23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4
23.1
Definition der Anpassungsstörung (gemäß ICD-10) – 461 Unterscheidung zwischen den Anpassungsstörungen – 461 Formen von Anpassungsstörungen – 462 Die Behandlung der Anpassungsstörungen im Rahmen des klientenzentrierten Therapiekonzepts – 462
Leitlinien für die gesprächspsychotherapeutische Be handlung von Anpassungsstörungen1 E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert
23.1.1
Definition der Anpassungsstörung (gemäß ICD-10)
Anpassungsstörungen entstehen in der Reaktion auf außergewöhnlich belastende Lebensereignisse oder in der Folge von besonderen Veränderungen im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen (traumatisierenden) Situation geführt haben. Eine Anpassungsstörung kann nur dann diagnostiziert werden, wenn das belastende Ereignis oder die andauernde unangenehme Situation die primären und ausschlaggebenden Kausalfaktoren sind, die Störung ohne sie nicht entstanden wäre. Anpassungsstörungen verhindern erfolgreiche Bewältigungsweisen und beinhalten eine Störung der sozialen Leistungsfähigkeit.
Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bei Bulimia nervosa – 464
23.2.1 23.2.2 23.2.3
23.1.2
Informationen zum Störungsbild – 464 Ätiologie der Bulimia nervosa – 467 Leitlinien für die Behandlung der Bulimia nervosa – 470
Unterscheidung zwischen den Anpassungsstörungen
4 Die akute Belastungsreaktion tritt nicht später als 20 Minuten nach dem belastenden Ereignis auf und beginnt typischerweise mit einer Art von »Betäubung«: einer Bewusstseinseinengung und Einschränkung der Aufmerksamkeit, Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten, und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiterer Rückzug aus der Umweltsituation folgen bis hin zum Stupor, aber auch ein Unruhezustand und Überaktivität wie Fluchtreaktionen oder Fugue, sowie Depression, Verzweiflung und Ärger. Meist treten vegetative Anzeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten auf. Die Symptome der akuten Belastungsreaktion klingen im Allgemeinen innerhalb von Stunden bis Tagen wieder ab. 4 Die posttraumatische Belastungsstörung ist die verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein 1
Dieser Leitfaden wurde für die Behandlung von Patienten im Rahmen des Forschungsprojektes »Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie bei Patienten mit Anpassungsstörungen« entwickelt. Universität Hamburg, 2001.
462
23
Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
ungewöhnlich belastendes Ereignis. Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz von Wochen bis Monaten, doch selten nach mehr als sechs Monaten. Sie besteht im wiederholten Nacherleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen oder Flashbacks), Träumen oder Alpträumen vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein oder emotionaler Stumpfheit (Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit, Anhedonie), Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten, und Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, die an das Trauma erinnern könnten. Bei einer plötzlichen Erinnerung an das Trauma oder einer Wiederholung des Traumas oder der ursprünglichen Reaktion darauf kann es zu Ausbrüchen von Angst, Panik und/oder Aggression kommen. Gewöhnlich besteht ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depression und Suizidgedanken sind häufig mit den Symptomen assoziiert, was nicht selten zu Drogeneinnahmen und übermäßigem Alkoholkonsum führt. Der Verlauf der Störung ist wechselhaft. In der Mehrzahl der Fälle kann eine Heilung erwartet werden. Die Störung kann aber auch einen über Jahre chronischen Verlauf nehmen und auch in eine andauernde Persönlichkeitsveränderung münden. 4 Anpassungsstörungen werden Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung nach entscheidenden Lebensveränderungen oder nach belastenden Lebensereignissen (Trauerfall, Trennung, Verlust sozialer Unterstützung oder sozialer Werte wie bei Emigration oder Flucht) wie auch nach schwerer körperlicher Erkrankung genannt, die soziale Funktionen und Leistungen behindern. Eine Anpassungsstörung wird nur dann diagnostiziert, wenn das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Es beginnt im Allgemeinen innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis und die Symptome halten meist nicht länger als sechs Monate an. Sie sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung,
Angst, Besorgnis (oder eine Mischung aus diesen), ein Gefühl, unmöglich zurechtkommen, vorausplanen oder in der gegenwärtigen Situation fortfahren und die alltägliche Routine bewältigen zu können. Die Person kann sich so fühlen, als neige sie zu dramatischem Verhalten und Gewaltausbrüchen, wozu es aber selten kommt. Besonders bei Jugendlichen können aber Störungen des Sozialverhaltens, z. B. aggressives oder dissoziales Verhalten, zu dieser Störung gehören. Bei Kindern gehören regressive Phänomene, wie das Wiederauftreten von Bettnässen, Babysprache oder Daumenlutschen, häufig zu diesem Syndrom.
23.1.3
Formen von Anpassungsstörungen
Die ICD-10 unterscheidet die folgenden Anpassungsstörungen: 4 Kurze (nicht länger als einen Monat andauernde) depressive Reaktion 4 Längere (aber nicht mehr als zwei Jahre andauernde) depressive Reaktion 4 Angst und depressive Reaktion gemischt 4 Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung durch andere Gefühle (Sorgen, Anspannung, Ärger, aber auch regressives Verhalten) 4 Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens 4 Anpassungsstörung mit gemischter Störung des Fühlens und Sozialverhaltens
23.1.4
Die Behandlung der Anpassungsstörungen im Rahmen des klientenzentrierten Therapiekonzepts
Drei Behandlungsphasen Der Fokus der Behandlung der Anpassungsstörungen ist in der ersten Phase die Vermeidung der Beschäftigung mit der Belastung. Die Unfähigkeit zu einer erfolgreichen Bewältigung der Situation und
463 23.1 · Leitlinien für die gesprächspsychotherapeutische Behandlung
die Störung der sozialen Leistungsfähigkeit: die Unfähigkeit, aufmerksam am Leben teilzunehmen, Depression und Angst, das Gefühl, es sei unmöglich zurechtzukommen, aber auch Anspannung, Ärger und Aggressivität werden als Symptome dafür angesehen, das den Gefühlen, die mit dem Erleben dessen, was die Belastung für die Selbsterfahrung der Person bedeutet, der Zugang zum Bewusstsein versperrt wird, dass sie abgewehrt werden. Die Aufmerksamkeitsstörung macht es unmöglich, sich auf diese Gefühle zu konzentrieren. Die depressive Beschäftigung mit dem Selbstwert, der eigenen Kraft, der Frage der Schuld, dem Sinn des Weiterlebens etc. lenkt von dem ab, was der Person wirklich angetan worden ist bzw. was sie nun (dauernd) aushalten muss. Das Gefühl der Angst und die mit ihm verbundene Vermeidungs- und/oder Fluchttendenz hindern an einer Beschäftigung mit den zur belastenden Situation gehörenden Gefühlen. Das tun auch die Gefühle der Besorgnis, unmöglich zurechtkommen zu können, und Ärger und Aggression gelten allem, was an die wahren Gefühle erinnern könnte. Erst wenn auf diese Weise vom Therapeuten verstanden worden und damit für den Patienten verständlich und annehmbar geworden ist, dass die eigentliche Belastung in den Gefühlen liegt, die in ihr erlebt werden, können diese in den Fokus gerückt werden. Dabei werden in einer zweiten Phase zunächst die Zustände des Dissozierens, des wie Betäubtseins, der emotionalen Stumpfheit bzw. Leere, aber auch der panikartigen Angst, impulsiven Aggressivität und Suizidalität das drohende Auftauchen der zu der Belastungssituation gehörenden Gefühle im Bewusstsein anzeigen. Das empathische Miterleben der Versuche, sie nicht voll bewusst werden zu lassen, wird dem Therapeuten und damit auch dem Patienten verdeutlichen, dass diese Selbsterfahrungen das Selbstverständnis und den Selbstwert des Patienten in existenzieller Weise in Frage stellen, dass er z. B. lieber tot wäre als sich so bedroht, ungeliebt, missachtet, ohnmächtig, unfähig, wertlos zu fühlen. In einer dritten Phase werden in einer immer detaillierter werdenden Auseinandersetzung mit den belastenden Erfahrungen die in ihnen enthaltenen Selbsterfahrungen immer differenzierter erlebt und als dazu gehörend akzeptiert werden können. Dadurch können sie auch in das Selbstkonzept und
23
in der Folge in das bewusste Erleben integriert werden, und die drohende Erinnerung an sie, die tägliche Konfrontation mit ihnen und/oder die drohende oder tatsächliche Wiederholung der belastenden Erfahrungen wird nicht weiterhin erfolgreiche Bewältigungsmethoden verhindern und die soziale Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
Therapeutische Empfehlungen Angesichts der zeitlichen Limitierung der Behandlung empfiehlt es sich, dafür zu sorgen, dass die Inhalte der o.g. drei Phasen Thema der Therapie werden und bleiben und dass nicht auf andere Themen ausgewichen wird, was besonders in der ersten Phase droht. Therapietechnisch lässt sich diese Zielsetzung leichter erreichen, wenn bei Behandlungsbeginn mit dem Patienten klar vereinbart wird, dass angesichts des Zeitbegrenzung das Thema der Therapie das belastende Ereignis und seine Auswirkung auf das Erleben und Verhalten sein wird. Auch wenn andere, scheinbar wichtige Themen auftauchten, würden diese als Störungen betrachtet, die nur dazu dienten, die Auseinandersetzung mit dem eigentlich wichtigen Thema, »wie geht es mir mit und nach diesem Ereignis« zu vermeiden. Tauchen dann andere Themen auf, kann der Therapeut darauf hinweisen, dass damit zu rechnen war und dass dieses Auftauchen möglicherweise dazu dient, sich nicht mit dem eigentlichen, aber augenblicklich noch sehr viel schmerzlicheren Thema befassen zu müssen Berichten Patienten mit Anpassungsstörungen von ähnlich belastenden Lebensereignissen in der Vergangenheit, dann sollte der Fokus sein: Was ist heute im Vergleich zu damals denn anders und nicht: Was war damals anders? Das heißt, die Beachtung und Thematisierung der Erfahrungen des Patienten im »Hier-und-Jetzt« sollte Richtschnur des therapeutischen Handelns sein. Empfehlenswert ist auch, dass der Therapeut die Begrenzung der Therapiedauer im Auge hat und sie auch von sich zum Thema macht, falls der Patient es nicht tut. Ein erster Hinweis sollte nach der Hälfte der Zeit erfolgen, z. B. »Wir haben heute unsere sechste Stunde, d. h. es ist Halbzeit.« Auch die letzten Stunden sollte der Therapeut ggf. »einläuten«: »Wir haben jetzt noch drei Sitzungen vor uns. Was bedeutet das für Sie?«
464
23
Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Empfehlenswert ist bei der Besprechung des Abschieds folgender Hinweis an Patienten, die signalisieren, dass sie eigentlich weitere Therapie brauchen: »Ich empfehle Ihnen, den Wunsch, die Therapie fortzusetzen, für mindestens zwei bis drei Monate zurückzustellen. Der Wunsch stellt sich erfahrungsgemäß in Abschiedssituationen besonders schnell und heftig ein. Sollte er in zwei bis drei Monaten immer noch eindeutig vorhanden sein, können sie ihm immer noch nachgehen. Anmerkung: Die angeführten therapeutischen Empfehlungen sind als vorläufige und vor allem nicht als vollständige zu betrachten. Wir sind jedem Therapeuten für Vorschläge dankbar, die diese Liste erweitern.
23.2
Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bei Bulimia nervosa2 K. Schützmann, S. Laleik, E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert
23.2.1
Informationen zum Störungsbild
Diagnostische Leitlinien und Prävalenz Das DSM-IV nennt als Hauptmerkmale der Bulimia nervosa (APA, 1996, S. 620–626): 4 das wiederholte Auftreten sog. »Fressattacken«, während derer die Betroffenen in einer bestimmten Zeit mehr Nahrung zu sich nehmen als die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum und die von einem Gefühl des Kontrollverlustes bezüglich des Essens begleitet werden; 4 wiederholte Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme vorzubeugen (z. B. Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien und Diuretika, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung).
2
Das Manual wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Hamburg zur Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie bei der Behandlung der Bulimia nervosa entwickelt und eingesetzt und wird im Rahmen dieser Studie evaluiert. Die Autoren sind dankbar für Kritik und Anregungen.
Dieses Verhalten muss über drei Monate mindestens zweimal pro Woche auftreten, um die Diagnose stellen zu können. Ein weiteres Kriterium ist der übermäßige Einfluss von Figur und Körpergewicht auf die Selbstbewertung. Die Diagnose sollte nicht gestellt werden, wenn die Symptome ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia nervosa auftreten. Das DSM unterscheidet je nach Art der gewichtsreduzierenden Maßnahmen zwischen dem »Purging«Typus (Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika u. ä.) und dem »Nicht-Purging«-Typus (andere unangemessene Maßnahmen, wie Fasten oder übermäßige sportliche Betätigung). Die Störung wird im ICD-10 ähnlich beschrieben (WHO, 2000, S. 202–203). Der Kontrollverlust während der Essattacken wird als »unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln« benannt und die Hauptmerkmale um die »andauernde Beschäftigung mit Essen« ergänzt. Der Einfluss von Figur und Körpergewicht auf das Selbstwertgefühl wird als »krankhafte Furcht davor, dick zu werden« konkretisiert. Subtypen, wie im DSM-IV, werden nicht unterschieden. Differenzialdiagnostisch fehlt die besondere Abgrenzung zur Anorexia nervosa. Dafür wird auf die Unterscheidung der Bulimie von Störungen des oberen Gastrointestinaltraktes, von eher allgemeinen Störungen der Persönlichkeit und von depressiven Störungen hingewiesen. Frauen mit Bulimia nervosa sind in ihrem Krankheitsbild nicht immer sofort von an Anorexia nervosa erkrankten Frauen zu unterscheiden. Insbesondere die Bulimia nervosa des »Purging«-Typus und die Anorexia nervosa des »Binge-Eating/Purging«-Typus weisen im Erscheinungsbild Überschneidungen auf. Personen mit Bulimia nervosa sind im Gegensatz zu anorektisch Erkrankten jedoch in der Lage, ein Körpergewicht zu halten, das um oder über dem Minimum des normalen Körpergewichts liegt (APA, 1996, S. 619). Die Angaben zur Prävalenz der Bulimia nervosa schwanken in Abhängigkeit von der Stichprobe, den zugrunde gelegten diagnostischen Kriterien und den in der Untersuchung eingesetzten diagnostischen Verfahren. Die Werte für Frauen in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter liegen zwischen 0,9% und 3% (APA, 1996; Fairburn & Begin, 1990). Eine Reihe von Autoren berichten, dass darüber
465 23.2 · Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie
hinaus bulimische Einzelsymptome unter Frauen weit verbreitet sind. 5–35% der in Studien untersuchten Frauen berichten über selbstinduziertes Erbrechen und 30–80% über Heißhungeranfälle (Jacobi, Thiel & Paul, 2000). Fallvignette
Essanfall und Erbrechen »Ich kam gestern von der Arbeit nach Hause, das war ganz komisch. Ich war richtig unruhig, lief in der Wohnung hin und her und konnte mit mir nichts anfangen. Ich ging zum Kühlschrank, schob mir ’ne Pizza in den Backofen und bis die Pizza fertig war, aß ich Toastbrote mit dick Nutella, Frischkäse oder Streichwurst drauf, bis kein Brot mehr da war. Ich fand noch eine Biskuitrolle, die habe ich nur halb aufgegessen, zwei Gläser Würstchen, eine Familienpackung Eis und zwei Tafeln Schokolade, ein Glas Joghurt, endlich war die Pizza fertig. Als ich dann nicht mehr konnte, schleppte ich mich ins Bad und übergab mich, bis ich glaubte, dass nichts mehr in meinem Magen war. Ich war total sauer auf mich und gleichzeitig hatte ich Angst, nicht genügend Essen im Hause zu haben und fuhr direkt einkaufen. An diesem Abend hatte ich noch zwei Essanfälle, bis ich dann vollkommen erschlagen und heulend ins Bett fiel.«
Charakteristiken der Bulimia nervosa In einer Vielzahl von Studien sind Zusammenhänge zwischen dem Auftreten und dem Schweregrad der Bulimia nervosa einerseits und dem Auftreten und der Ausprägung bestimmter Persönlichkeitseigenschaften oder bestimmter Persönlichkeitsprofile andererseits untersucht worden, um so Risiko- und protektive Faktoren für Essstörungen zu identifizieren und Hinweise für psychotherapeutische Behandlungen zu gewinnen. Die bisherigen Befunde kennzeichnen die im Vergleich zu Anorektikerinnen insgesamt heterogenere Gruppe der Bulimikerinnen als affektiv instabil, impulsiv und extravertiert. Diese Eigenschaften sollen auch schon prämorbid die Persönlichkeit der später essgestörten Frauen kennzeichnen (z. B. Übersicht von Vitousek & Manke, 1994). Im Folgenden wird lediglich beispielhaft auf einige wenige Befunde eingegangen, die für die kli-
23
entenzentrierte Perspektive auf die Beschreibung und Therapie der Bulimia nervosa als besonders bedeutsam angesehen werden können. Selbstwert. Die Selbstwertproblematik kann als Ausdruck oder Teil der Beeinträchtigung des Selbstkonzeptes verstanden werden. Dieser spezifische Aspekt der Selbstkonzeptstörung bei essgestörten und insbesondere auch bei bulimischen Frauen wird in einer Vielzahl von Studien belegt und in seinen Auswirkungen untersucht (Übersicht bis 1993: Jacobi, 2000). Intimitätsmuster und Beziehungsstile. Eine Reihe von Untersuchungen finden bei essgestörten Frauen im Vergleich zu nicht-essgestörten Frauen problematische Intimitätsmuster und Beziehungsstile. Die intimen Beziehungen dieser Frauen sind z. B. durch größere Schwierigkeiten und weniger Zufriedenheit gekennzeichnet (Evans & Wertheim, 1998). Die Partnerwahl der Frauen ist oft problematisch (Lacey, 1992). Sie sind in zwischenmenschlichen Beziehungen in stärkerem Ausmaß misstrauisch (Lilenfeld et al., 2000) und klagen mehr über Furcht vor Intimität in Beziehungen (»fear for intimacy«) (Pruitt, Kappius & Gorman, 1992). Bindungsverhalten. Eng mit der Forschung zu Be-
ziehungsmustern verbunden sind Untersuchungen zu Bindungsverhalten und Bindungsstilen bei essgestörten Frauen. Die Ergebnisse stützen die Annahme einer Präsenz von frühen Bindungsstörungen in der Population Essgestörter und einer Verbindung zwischen Bindungsstörung und Schlüsselaspekten der Psychopathologie der Essstörungen (O’Kearney, 1996). Essgestörte Frauen unterscheiden sich von nicht klinischen Gruppen hinsichtlich ihrer Bindungsgeschichte (Chassler, 1997). Insbesondere berichten sie über mehr Gefühle von ungewollt sein, anders sein, Hilflosigkeit und Schuld in ihren Beziehungen zu frühen Bezugspersonen. Es lassen sich Zusammenhänge zwischen spezifischer Essstörung und Bindungsstil aufzeigen (Übersicht: Ward, Ramsay & Treasure, 2000). Der Anteil unsicher Gebundener (»unsecure; avoidant/ dismissing; ambivalent/preoccupied«) liegt je nach Studie zwischen 66% und 93%. Es finden sich Hinweise, dass Essgestörte mit bulimischen Symptomen (Bulimia nervosa und Anorexia nervosa
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23
Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
vom »Binge-Eating/Purging«-Typus) eher unsicher ambivalent (»ambivalent/preoccupied«) gebunden sind (ca. 2/3 dieser Patientinnen). Anorektikerinnen des restriktiven Typus gehören dagegen eher zum unsicher vermeidenden (»avoidant/dismissing«) Bindungstyp (ebenfalls ca. 2/3). Kognitive Besonderheiten. Essgestörte Patientin-
nen zeigen deutlich mehr negative Gedanken, die sich auf Essen, Gewicht und Figur beziehen als Frauen ohne Essstörung. Während Anorektikerinnen sich eher mit dem Thema Essen beschäftigen, sind die Bulimikerinnen vor allem mit den Themen Gewicht und äußere Erscheinung befasst (z. B. Cooper, Clark & Fairburn, 1993; Cooper & Fairburn, 1992). Verschiedene Studien belegen, dass bulimische Frauen gegenüber normalen und auch anorektischen Kontrollgruppen in ihren Kontrollüberzeugungen eine deutlich stärker ausgeprägte Externalität aufweisen (Übersicht: Jacobi, 2000; Studie: Blaser et al., 1995). Verschiedene Forschungsgruppen identifizieren bei essgestörten Frauen dysfunktionale Grundannahmen (»dysfunctional beliefs/core beliefs«), die einerseits mit dem Essverhalten, dem Körpergewicht und der Körperfigur zu tun haben und andererseits darüber hinausgehend das Selbstkonzept allgemein betreffen. Ihre Bedeutung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung wird aufgezeigt und diskutiert (Cooper, Todd & Wells, 1998; Godley, Tchanturia, MacLeod & Schmidt, 2001; Waller, Dickson & Ohanian, 2002; Waller, Ohanian, Meyer & Osman, 2000).
gen bezüglich des eigenen Körpers) und Körperbild (»body-image«) (psychologisch-phänomenologische Aspekte der Körpererfahrung, einschließlich der emotional-affektiven Besetzung des eigenen Körpers und seiner Teile; Meermann, 1991, S. 69). Hinsichtlich der Körperschemastörung finden sich Hinweise dafür, dass eine signifikante Differenz in der Genauigkeit der Einschätzung der eigenen Körperdimension zwischen Bulimikerinnen und nicht essgestörten Patientinnen besteht. Die Diskrepanz kann von einer Tendenz zur Überschätzung der eigenen Körperdimension oder von einer größeren Unsicherheit (widergespiegelt durch eine hohe Variabilität der Schätzungen) her rühren, die mit einer Reihe von psychopathologischen Charakteristika der Patienten korrelieren. Verschiedene Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass eine Behandlung der Bulimia nervosa zumindest teilweise scheitern muss, wenn nicht in deren Verlauf die Körperschemastörung behoben wird (Vandereycken, 1989). Studien, die die Körperwahrnehmung differenzierter betrachten und im obigen Sinne zwischen Körperschemastörung und Körperbildstörung unterscheiden, kommen insgesamt zu dem Schluss, dass es weniger die Körperschemastörung ist, die mit der Ausprägung der Essproblematik zusammenhängt, sondern eher die subjektiven, d. h. auch affektiven Bewertungen der Wahrnehmungen (u. a. Cash & Deagle, 1997; Fernández-Aranda, Dahme & Meermann, 1999; Probst, Vandereycken, Vanderlinden & Van Coppenolle, 1998). Komorbidität bei Bulimia nervosa. Allgemein kann
Störungen des Selbstkonzepts bei Frauen mit Bulimia nervosa. Die Beeinträchtigungen des Selbst-
konzepts Essgestörter im Vergleich zu gesunden Normalpersonen können als gesichert angesehen werden. Die Studien zu Selbstkonzeptbeeinträchtigungen bei Bulimia nervosa kommen trotz der Verwendung unterschiedlicher Selbstkonzeptmaße zu einheitlichen Ergebnissen (Übersicht: Jacobi, 2000). Störungen der Körperwahrnehmung bei Bulimia nervosa. Zu unterscheiden ist hier zwischen Kör-
perwahrnehmung (alle kognitiven, affektiven bewussten und unbewussten Körpererfahrungen), Körperschema (alle perzeptiv-kognitiven Leistun-
von einer engen Beziehung zwischen bulimischen Symptomen und anderen psychischen Störungen ausgegangen werden (z. B. Koepp & Wegscheider, 2000; Rowe, Pickles, Simonoff, Bulik & Silberg, 2002). Der enge Zusammenhang zwischen Bulimia nervosa und Depression gilt als belegt (u. a. Breaux & Moreno, 1994; Brewerton et al., 1995; Berman, Lam & Goldner, 1993; Joiner, Metalsky & Wonderlich, 1995; Koepp & Wegscheider, 2000). Zeitweise wurden sogar Modelle diskutiert, die in der Essstörung einen spezifischen Ausdruck einer depressiven Erkrankung sehen. Diese Auffassung gilt heute jedoch als widerlegt (Herzog, Nussbaum & Marmor, 1996).
467 23.2 · Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie
Hohe Komorbidität wird auch für Angststörungen berichtet. Häufig werden soziale Phobien, aber auch generalisierte Angststörungen und Panikstörungen zusammen mit Bulimie diagnostiziert (Brewerton et al., 1995; Bulik, Sullivan, Fear & Joyce, 1997; Godart, Flament, Lecrubier & Jeammet, 2000). Eine Vielzahl von Untersuchungen widmen sich dem Thema Bulimia nervosa und Persönlichkeitsstörungen (insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als gesichert gilt, dass Persönlichkeitsstörungen bei bulimischen Frauen häufiger sind als in der Normalpopulation. Insgesamt schwanken die angegebenen Komorbiditätsraten. Auch die Frage, ob z. B. Borderlinestörungen unter Bulimikerinnen häufiger auftreten als in anderen klinischen Stichproben, wird unterschiedlich beantwortet (u. a. Bulik, Sullivan, Joyce & Carter, 1995; Grilo, 2002; Herzog, Keller, Lavori, Kenny & Sacks, 1992; Herzog, Stiewe, Sandholz & Hartmann, 1995; Koepp, 2000; Rosenvinge, Martinussen & Ostensen, 2000). In einer Vielzahl von Studien wird ein Zusammenhang zwischen Bulimia nervosa und verschiedenen Formen des Substanzmissbrauchs aufgezeigt. Dabei wird unterschieden zwischen Missbrauch von Substanzen wie Laxanzien und Diurektika zur Gewichtsreduktion, dem sog. Substanzgebrauch einerseits (Übersicht: Vogelgesang, 1997) und Substanzabhängigkeit (Substanzmissbrauch) anderseits (Übersicht: Vogelgesang, 1998). Die vor allem für Anorexia nervosa typische Komorbidität mit Zwangsstörungen (Koepp & Wegscheider, 2000, S. 68) wird auch immer wieder im Zusammenhang mit bulimischen Patientinnen beobachtet (Lebenszeitprävalenzen zwischen 32% und 37%; Rubenstein, Pigott, Altemus & L’Heureux, 1993; Thiel, Broocks, Ohlmeier, Jacoby & Schüssler, 1995). In der Literatur finden sich eine Reihe von Hinweisen, dass die Impulsivität von Bulimikerinnen dazu führen kann, dass sie Diebstähle begehen (Rowston & Lacey, 1992; Vandereycken & Van Houdenhove, 1996). Es werden Lebenszeitprävalenzen zwischen 42 und 47% berichtet.
23.2.2
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Ätiologie der Bulimia nervosa
Ätiologische Modelle In den heute vertretenen Modellen der Entstehung und Aufrechterhaltung der Bulimia nervosa wird allgemein von einem multifaktoriellen Geschehen ausgegangen (z. B. Cuntz & Hillert, 1998; Jacobi & Paul, 1991; Jacobi et al., 2000; Reich, 2001a; Reich & Cierpka, 2001). Verschiedene Faktoren und deren Wechselwirkungen können unter bestimmten Voraussetzungen dazu führen, dass sich eine Essstörung ausbildet und aufrechterhalten wird. Psychische Faktoren spielen in diesen Modellen eine wichtige Rolle, werden aber von den verschiedenen psychologischen und psychotherapeutischen Schulen übereinstimmend nicht oder nicht mehr als Allein- oder Hauptursache für die Ausbildung einer Essstörung im Sinne eines linear-kausalen Zusammenhangs angesehen. Eine Sonderstellung nimmt auch heute noch die Theorie der Entstehung von Essstörungen von Hilde Bruch ein. Die amerikanische Psychoanalytikerin vertritt ein psychodynamisches Modell (Bruch, 1991 [im Original 1973 erschienen]; Bruch, 1982 [im Original 1978 erschienen]). Sie verlässt das klassische psychoanalytische Erklärungsmuster und berücksichtigt in ihrem Modell viele verschiedene vor allem auch psychosoziale, insbesondere familiäre Entstehungsfaktoren. Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine gestörte frühe Mutter-Kind-Interaktion, die durch unangemessene Reaktionen der Mutter auf das Verhalten des Kindes gekennzeichnet ist. Werden elementare Wünsche oder die tatsächliche Verfassung des Kindes von der Mutter nicht erkannt und berücksichtigt, kann das Kind nicht lernen, den eigenen Zustand zu erkennen. Es kann so kein Selbstvertrauen erwerben. Setzt sich in der Erziehung das Muster fort, dass die Eltern willkürlich über das Kind entscheiden, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Befindlichkeit zu nehmen, wird dem Kind das Gefühl vermittelt, unfähig zu sein, Kompetenzen und Respekt zu erwerben. Das Kind entwickelt stattdessen Gefühle der Hilflosigkeit, Unfähigkeit und Machtlosigkeit, die es versuchen muss abzuwehren. Die Symptome der Essstörung werden als solch eine Abwehrleistung angesehen. Es gibt eine ganze Reihe von weiteren psychodynamischen Modellen der Bulimie, die zum Teil
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
auch einzelne Aspekte der Psychodynamik bulimischer Frauen aus unterschiedlicher Perspektive beurteilen und deren Genese erklären (z. B. Ettl, 1988; Ettl, 2001; Kächele & Catina, 1998; Kernberg, 1995; Reich, 2001a). Zu diesen Modellen gehört auch die selbstpsychologische Perspektive. So wird ein für die Bulimie typischer Konflikt zwischen Sehnsucht und Zurückweisung beschrieben. Bei Bulimikerinnen sei das unzureichende Selbstwertgefühl auf eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung zurückzuführen. Die bulimische Symptomatik, die Essanfälle und das anschließende Entleeren symbolisiere den Konflikt zwischen der Sehnsucht nach der versorgenden Mutter und dem Wunsch nach Zurückweisung der vereinnahmenden Mutter (Goodsitt, 1997). Systemische und familientherapeutische Schulen haben eine Reihe von Konzepten zur Erklärung und Behandlung auch speziell von Essstörungen entwickelt (z. B. Minuchin et al., 1975; Reich, 1996; Selvini Palazzoli, Cirillo, Selvini & Sorrentino, 1999). Aus Sicht der therapeutischen Schule um Minuchin ist die Essstörung als Ausdruck einer kranken oder dysfunktionalen Familienstruktur zu sehen. Es komme darauf an herauszufinden, welchen Platz die Essgestörte mit ihren Symptomen innerhalb der dysfunktionalen Familienstruktur einnimmt. Zentrale These ist, dass durch die Störung des Kindes andere Konflikte in der Familie nicht ausgetragen werden müssen bzw. die Konflikte um die Essstörung als Ersatz für andere Konflikte in der Familie dienen (Minuchin et al., 1975). Auch die kognitiv-behaviorale Sichtweise basiert auf einem multifaktoriellen Modell (z. B. Jacobi et al., 2000). Die Autorinnen betonen die individuelle Unterschiedlichkeit der Genese einer Essstörung und die Bedeutung von Mechanismen, die die Symptomatik aufrechterhalten können, auch wenn die ursprünglichen ursächlichen Faktoren längst an Einfluss verloren haben (ebd., S. 26). Zentral für die Aufrechterhaltung pathologischen Essverhaltens mit Heißhungeranfällen ist ein Kreislauf (auch als »Teufelskreis« bezeichnet), bestehend aus dem gezügeltem Essverhalten/«Purging-Verhalten«, der Zunahme von Hunger und Appetit, den Heisshungeranfällen und der Angst vor Gewichtszunahme (ebd., S. 35).
Risikofaktoren für die Entstehung der Bulimia nervosa In der Literatur werden die Einflüsse folgender Risikofaktoren mehr oder weniger kontrovers diskutiert (Übersicht über den aktuellen Stand in diesem Forschungsbereich: Jacobi, Hayward, de-Zwaan, Kraemer & Agras, 2004): 4 Biologische Risikofaktoren: Diskutiert werden u.a. die Erblichkeit der Essstörungen, die Rolle des Leptins und des Serotonins bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen und Zusammenhänge zwischen Veränderungen endokriner Teilsysteme und Symptomen der Essstörungen. 4 Diätverhalten als Risikofaktor für Bulimia nervosa. 4 Soziokulturelle Risikofaktoren (insbesondere das Schlankheitsideal und Rollenerwartungen an Frauen und die Mechanismen ihrer Vermittlung). 4 Traumatisierungen und sexueller Missbrauch als Risikofaktor: Die Häufigkeit sexueller Missbrauchserfahrungen in der Kindheit in der Gruppe der essgestörten Frauen ist nicht höher als in der Gruppe der Patientinnen mit anderen psychischen Störungen (z. B. Brink, 1996; Welch & Fairburn, 1996). Für die Essstörung Bulimia nervosa werden in der Regel etwas höhere Prävalenzraten für sexuellen Missbrauch berichtet als für andere Essstörungen und für nicht essgestörte Frauen (z. B. Everill, Waller & Macdonald, 1995; Schmidt, Humfress & Treasure, 1997; Welch & Fairburn, 1996). Vergleicht man darüber hinaus die Häufigkeit des Auftretens von wiederholtem schweren sexuellen Missbrauch zeigt sich, dass die Häufigkeiten dieser Fälle in allen Gruppen sehr gering ist. Die höchste Rate findet sich jedoch in der Gruppe der Bulimikerinnen. Auch die insgesamt von einer Minderheit der untersuchten Frauen berichteten Fälle körperlicher Misshandlung waren unter den bulimischen Frauen häufiger als in den Vergleichsgruppen (Welch & Fairburn, 1996). 4 Familiäre Risikofaktoren. 4 Aktuelle individuelle Belastungen.
469 23.2 · Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie
Überlegungen zur Ätiologie der Bulimia nervosa aus klientenzentrierter Perspektive An dieser Stelle folgen wir den Überlegungen der Gesprächspsychotherapeutin und Autorin Henriette Petersen, die die Darstellung einer Fallgeschichte zur Bulimia nervosa mit Überlegungen zur Ätiologie der Störung verknüpft (Petersen, 1996, 1997). Dabei stützt sie sich auf die Arbeiten zur ätiologisch orientierten Krankheitslehre nach dem klientenzentrierten Konzept von Biermann-Ratjen und Swildens (1993). Nach deren Modell kann es in den ersten Lebensjahren zur Entwicklung einer sog. primären Inkongruenz als Folge wiederholter mangelnder Empathie und Wertschätzung durch primäre Bezugspersonen kommen. Wichtige Erfahrungen des Kindes werden ignoriert oder bewertet. Das Kind kann jedoch nur die Erfahrungen in sein Selbstkonzept integrieren, die von wichtigen Bezugspersonen empathisch verstanden und bedingungslos wertgeschätzt (an-erkannt) werden. Es erwächst so eine Diskrepanz zwischen dem organismischen Erleben des Kindes und seinem Selbstkonzept. Diese Inkongruenz wird in Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen erlebt und führt zu Einschränkungen im Verhalten und Einschränkungen der bewussten Erfahrungen, denn die nicht »anerkannten« Erfahrungen des Kindes können nicht oder nicht vollständig in die Selbsterfahrung integriert, d. h. bewusst werden. Im dem von Petersen vorgestellten Fall wurden die Reaktionen des Kindes auf das Verlassenwerden durch die wichtige Bindungsperson (Mutter) ignoriert und negativ bewertet. Anstatt z. B. traurig oder wütend auf ein Verlassenwerden oder die Antizipation eines solchen zu reagieren, entstehen massive Ängste, verlassen oder verstoßen zu werden. Das spätere Auftreten der Symptomatik selbst steht dann in Zusammenhang mit der Entstehung einer sekundären Inkongruenz. Es besteht ein Selbstkonzept, das aber prinzipiell verletzlich ist. Erfahrungen, die bei ihrem ersten Auftreten nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten – Verlassen werden, auch emotionales, durch wichtige andere – bedrohen dieses Selbstkonzept. Diese neuen, mit dem Selbstkonzept unvereinbaren Erfahrungen sowie die Erfahrung der Bedrohung des Selbstkonzepts bedeuten eine konfliktreiche Spannung
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(die sekundäre Inkongruenz), bzw. eine Stagnation der Selbstentwicklung, wenn die Person in ihr nicht verstanden wird. Im geschilderten Fall gerät die betroffene Frau in Zusammenhang mit einer neuen Beziehung in diesen Zustand sekundärer Inkongruenz. In dieser Beziehung und durch diese Beziehung wiederholen sich Erfahrungen, die die Patientin bereits mit ihrer Mutter gemacht hat. (Dabei geht es um Erfahrungen der Gefahr des Verlassenwerdens.) Diese Wiederholung stellt eine massive Bedrohung des Selbstkonzepts und der Selbstachtung dar, die mit Hilfe der Bulimie zugleich ausgedrückt und im Bewusstsein verzerrt oder diesem vorenthalten wird. »So stellt die Bulimie ein aufsehenerregendes (wenn auch heimlich praktiziertes) Ablenkmanöver von den eigentlichen Gefühlen dar. Es ist der – unvollkommene – Versuch, bestimmter Gefühle nicht gewahr zu werden« (Petersen, 1997, S. 38). Wie der von der Autorin vorgestellte Fall verdeutlicht, wird in der Regel die Bulimie im Laufe der Jahre zunehmend selbst zu einer Bedrohung des Selbstkonzepts und der Selbstachtung. Scham- und Ekelgefühle und das Gefühl, den Essanfällen ausgeliefert zu sein, führen wiederum zu starken Insuffizienzgefühlen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive (Biermann-Ratjen, 2002a; 2002b; Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 1997, S. 93–98) werden mehr oder weniger »frühe« Störungen danach unterschieden, inwieweit phasenspezifische Entwicklungsaufgaben entsprechend gegebener oder nicht gegebener Entwicklungsbedingungen bewältigt werden konnten. Die Bulimia nervosa als eine spezifische Form der Störung des Selbstkonzepts, die sich über den Körper Ausdruck verschafft, ordnen wir in ihrer Genese einer eher »späten« (dritten) Entwicklungsphase zu. Die »primäre Inkonguenz« entsteht in der dritten (und letzten) Entwicklungsphase dadurch, dass die wichtigen Bezugspersonen die Erfahrungen und die mit ihnen verbundenen Affekte des Kindes nicht verstehen und ohne Bedingungen akzeptieren, die das Kind macht, wenn es sich seinen spezifischen Entwicklungsmöglichkeiten zuwendet und dabei entdeckt, was es sein und werden kann. Stattdessen wird das Kind nicht um seiner selbst willen und so, wie es sein und werden kann, anerkannt. Es erfährt
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
offene Ablehnung, (vielleicht) unbewussten Neid, (unbewusste) Abwertung oder gar narzisstischen Missbrauch. Die »sekundäre Inkongruenz« entwickelt sich, wenn die betreffenden Personen später in Beziehungen leben, in denen sich diese Erfahrungen der Kindheit und die mit ihnen einhergehenden Affekte wiederholen, und die Symptomatik, wenn sie diese dem Bewusstsein nicht mehr vollständig vorenthalten können. Das bulimische Syndrom kann als spezifischer Versuch verstanden werden, das Bewusstwerden solcher Erfahrungen (und der damit verbundenen Angst) zu verhindern oder zu begrenzen.
23.2.3
Leitlinien für die Behandlung der Bulimia nervosa
Allgemeine Hinweise Die folgenden Leitlinien bestehen im Wesentlichen aus Handlungsempfehlungen, die sich auf die störungsspezifischen Aspekte der Behandlung der Bulimia nervosa beziehen. Sie ersetzen nicht die aus dem allgemeinen klientenzentrierten Therapiemodell resultierenden Therapieelemente, sondern ergänzen sie lediglich. Allgemein orientieren wir uns an der von Carl Rogers formulierten Auffassung der Gesprächspsychotherapie als ein Prozessgeschehen. Rogers selbst formulierte sieben Prozessphasen (Rogers, 1973, zitiert nach Biermann-Ratjen et al., 1997, S. 78–80), mit denen er ein (real natürlich stufenloses) Fortschreiten der Entwicklung des Klienten entlang einem Kontinuum beschreibt. Die Pole des Kontinuums sind die völlige Stagnation einerseits und eine »fully functioning person« andererseits. Zur Unterscheidung von gesundem und ungesundem Erleben dienen dabei folgende Kriterien: das Ausmaß an Offenheit für die emotionale Erfahrung, an Selbstexploration, an Kongruenz, an Offenheit gegenüber anderen, an kognitiver Flexibilität, an Gefühl von Eigenverantwortlichkeit und an Kontaktfähigkeit (Biermann-Ratjen et al., 1997, S. 80). Die von uns in diesem Leitfaden gewählte Einteilung des Therapieprozesses in drei Phasen ergibt sich aus einem erwarteten Wechsel der Bedeutsamkeit von Aufgaben in der Therapie und möglicher Veränderungen der Notwendigkeit der von uns vor-
geschlagenen störungsspezifischen Therapieelemente. Die vorgeschlagene Einteilung kann von den Nutzerinnen und Nutzern der Leitlinien flexibel umgesetzt werden. In den folgenden Abschnitten werden also störungsspezifische Leitlinien zur Behandlung geordnet nach drei Therapieabschnitten erläutert: 4 Therapieeingangsphase 4 Mittlere Therapiephase 4 Therapieausgangsphase
Leitlinien für die Therapieeingangsphase Wie vorab dargestellt, können wir die Symptomatik der Bulimia nervosa als einen mehr oder weniger gelungenen Versuch der Betroffenen verstehen, der Angst vor der Wiederholung bestimmter Beziehungserfahrungen nicht gewahr zu werden. Abgewehrt wird auch die Wiederbelebung von Selbsterfahrungen, in denen man nicht verstanden und unbedingt wertgeschätzt worden ist bzw. auf die eine wichtige andere Person mit Inkongruenz reagiert hat und in denen man sich deshalb heute selbst nicht verstehen und akzeptieren kann (Biermann-Ratjen, 2002b, S. 32). ! Aus dieser Annahme können Ziel und Aufgabe dieser Therapiephase abgeleitet werden: In der Therapieeingangsphase wird es darum gehen, dass die Klientinnen »zunächst in ihrer mehr oder weniger bewussten bzw. mehr oder weniger vollständig abgewehrten Angst verstanden werden« (Biermann-Ratjen, 2002b, S. 33).
Der Grund für die Aufnahme der Therapie ist in der Regel zumindest vordergründig nicht die Wahrnehmung der eigenen Inkongruenz, sondern die psychischen (und oft auch somatischen) Symptome, die als Folgeerscheinungen der bulimischen Symptomatik angesehen werden. Dazu gehören zum Beispiel Scham und Ekelgefühle, Verzweiflung über den Kontrollverlust während der Essattacken und entsprechende Insuffizienzgefühle (Petersen, 1997, S. 83). Der Weg zum Verständnis der Angst führt also zunächst über die Thematisierung der Entstehung der Bulimie und der Belastungen durch die Bulimie. Die Klientin muss sich mit der Symptomatik, mit dem Kontrollverlust während der Essattacken, den Ekelgefühlen und der Scham während und nach der Entleerung und mit der Bedeutung, die Essen und das Streben nach einer idealen Kör-
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perfigur in ihrem Lebensalltag einnehmen, auseinandersetzen.3 Klientenzentrierte Ansätze zur Behandlung der Bulimia nervosa, die den Suchtcharakter der Symptomatik betonen4 oder diese als »Drangstörung«5 definieren, sehen als ein Ziel der Eingangsphase eine deutliche Reduzierung bzw. sogar ein Einstellen des »Sucht«- bzw. »Drang«- Verhaltens an. Nur so könne der Zugang zur eigentlichen Problematik gelingen. Auch aus anderen Gründen als aus den oben aufgeführten empfehlen wir in dieser Phase der Therapie ausdrücklich ein stärker symptomzentriertes Vorgehen, als allgemein im Rahmen der klientenzentrierten Psychotherapie üblich, bis hin zur temporären und gezielten Anwendung von Interventionen, die nicht non-direktiv sind. Zum einen sehen wir gerade bei Störungen von der Art der Ess-Brech-Sucht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit der Symptomatik selbst und damit, wie sie erlebt wird, die wir für unumgänglich für den Heilerfolg halten, zu lange vermieden wird. Zum anderen muss beachtet werden, dass wir es mit einer multifaktoriellen Genese der Essstörung zu tun haben. Die Auseinandersetzung mit der Entstehung und den Belastungen der Bulimie eröffnet Möglichkeiten, weitere Risikofaktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung auszumachen und ihnen, wenn möglich, und immer auch im Bezug zum psychischen Geschehen etwas entgegen zu setzen.
Zur Unterstützung dieser Symptomzentrierung wird im Einzelnen folgendes Vorgehen vorgeschlagen:
3
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4
Bettermann, Finke, Gastpar und Boehme (1996) fordern im Rahmen der Vorstellung ihres stationären Behandlungskonzepts, dass zunächst das Symptom thematisch ganz im Mittelpunkt zu stehen hat. Akzeptanz, Respekt und Wertschätzung seitens des Therapeuten ermöglichen es der Patientin, über ihr maßloses Essbedürfnis zu sprechen. Die mit der Essproblematik verbundenen Gefühle wie Schuld und Scham sind bald zu thematisieren. Schritt für Schritt sollen die verschiedenen Facetten des Erlebens von Selbstekel, Minderwertigkeit und Ohnmacht zur Sprache kommen. Dies führt dann zu einer generellen Auseinandersetzung mit dem Selbstkonzept der Patientin. Vgl. Hoelzle (1986): Die Autorin sieht es als besondere Schwierigkeit und Aufgabe der Therapeutin/des Therapeuten an, in dieser Phase die Sichtweise der Klientin zu verlassen (»Wenn ich keine Arbeits-, Beziehungs-, Selbstwertprobleme hätte, hätte ich auch keine Fressattacken mehr.«), mit der diese eine Sicht auf die Probleme, die für sie wirklich relevant sind, verhindert (ebd., S. 461).
Handlungsempfehlung: Ansprechen des subjektiven Erlebens der Entstehung der Essstörung und des gegenwärtigen Erlebens der Symptomatik. In vielen Fällen kann sicher davon ausge-
gangen werden, dass die Klientin von sich aus das subjektive Erleben der Symptomatik thematisieren wird. Das Thema sollte dann möglichst in einer Art und Weise aufgegriffen und vertieft werden, die das Interesse des Therapeuten am hinter der Symptomatik liegenden seelischen Leid verdeutlicht. Entsteht dagegen der Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit Entstehung und Erleben der Bulimie und deren Folgen durch die Klientin mehr oder weniger bewusst vermieden wird, sollte der Therapeut die Problematik bzw. das Vermeiden von sich aus ansprechen. Handlungsempfehlung: Vermittlung von Informationen über Bulimia nervosa und damit zusammenhängende Themen. Insbesondere in stationä-
ren und teilstationären Behandlungseinrichtungen gehört die Vermittlung störungsbezogener Informationen zum festen Bestandteil der Therapien von Essstörungen.
Swildens & de Haas (1991, S. 144): Für das therapeutische Verhalten zur Behandlung dieser »Drangstörungen« sei Empathie und Kongruenz während des gesamten Therapieverlaufs von zentraler Bedeutung. Das »Akzeptieren« sollte jedoch in der Therapieeingangsphase zunächst nicht als ein bedingungsloses Hinnehmen des Verhaltens der Klienten aufgefasst werden, sondern als Respekt vor der Person. Um den stockenden Entwicklungsprozess der Klienten wieder in Fluss zu bringen, sei es notwendig, dass das Drangverhalten beendet wird. Denn das für die Therapie zentrale Symptom ergebe sich erst aus dem NichtNachgeben gegenüber dem Drang. Durch das NichtNachgeben würden sich Spannungen, Depressivität und allgemein eine negative Stimmungslage ergeben. Die Therapie könne dann als eine Suche nach dem Warum dieser negativen Gestimmtheit und als eine Suche nach Lösungsmöglichkeiten angesehen werden, die eben nicht das Drangverhalten beinhalten.
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Fallvignette
Die Symptomatik wird durch die Klientin thematisiert
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Th.: Das Thema »Essen und Nahrungskontrolle« wurde niemals durch meine Initiative thematisiert. Ich vermute, gerade weil mich eine rasche Verminderung der bulimischen Anfälle nicht interessierte, sondern vielmehr das seelische Leid, das hinter all den bulimischen Attacken stand, brauchte Ria [die Klientin, d. A.] auf diesem Gebiet niemals mit mir zu »kämpfen«, sondern konnte sich ihren eigentlichen Verletzungen zuwenden. Von selbst erzählte Ria – zunächst zögernd – von dem ganzen Ausmaß des von ihr selbst als ekelerregend empfundenen Ess-Brech-Verhalten. Niemals spürte ich den Impuls, regulierend einzugreifen – interessiert und offen konnten wir uns gemeinsam anschauen, welche Dynamik die Bulimie entfalten kann. (Petersen, 1997, S. 89)
Das Thema wird von der Therapeutin aufgegriffen Kl.: Meist habe ich das Gefühl, dass mich kein Mensch mag und meine Freundinnen mich nur mit ins Kino nehmen, weil sie sonst befürchten, ich könnte mir wieder was antun. Wissen Sie, ich werde nicht gebraucht. Ob ich lebe oder tot bin, dass interessiert doch keinen… wahrscheinlich merkt es noch nicht mal jemand.
Th.: Das macht Sie richtig ärgerlich, dass ihre Freundinnen vielleicht nur aus Mitgefühl mit Ihnen etwas unternehmen. Kl.: Ich weiß nie, ob die das ernst meinen. Ob die mich gerne mitnehmen. Ich bin dann schon… ich kann auch lustig sein. Das bin ich dann auch, auch wenn ich eigentlich traurig bin. Th.: Sie haben nur dann das Gefühl gemocht zu werden, wenn sie gut drauf sind. Kl.: Ja. Und dann hab’ ich Angst, wenn ich anders bin, dass mich dann gar keiner mehr leiden kann, wie meine doofe Kollegin, die mich ständig kritisiert. Alles mach’ ich falsch. Zu nix bin ich gut. Am liebsten tot. Th.: Es ist jetzt noch eine Qual für Sie, wenn Sie nur an ihre Arbeitskollegin denken. Kl.: Mhm. Und dann ess’ ich alles, was mir in die Quere kommt, bis ich nicht mehr kann. Th.: Und dann? Kl.: Dann? Dann entleere ich mich. Th.: Mhm. Sie stecken sich den Finger in den Hals? Kl.: Bis alles raus ist. Dann bin ich so müde, dass ich gleich einschlafen kann und muss dann nicht mehr so viel weinen. Th.: Sind dann vollkommen erschöpft.6 6
Auszug aus unveröffentlichten Therapieprotokollen Dipl.-Psych. Sigrid Laleik. Th. = Therapeutin. Kl. = Klientin.
In der Therapieeingangsphase kann dieses Behandlungselement mit folgender Zielstellung Anwendung finden: 4 Unterstützung der Hinwendung der Klientin zur (oft schambesetzten und deshalb verheimlichten) Symptomatik 4 Unterstützung der Klientin bei der Reduktion und Aufgabe gestörten Essverhaltens 4 Unterstützung der Klientin beim Aufbau eines gesunden Essverhaltens.
können das Gespräch in der Therapiestunde, das Empfehlen geeigneter Literatur oder eine Kombination aus den beiden gewählt werden. Wichtig erscheint uns, dass die Abgrenzung zur »Diätberatung« erhalten bleibt, bzw. der Therapeut nicht als Diättrainerin/Diättrainer benutzt wird. Bei übergewichtigen Klientinnen ist häufig zu erwarten, dass der Wunsch nach einer Gewichtsreduktion sehr im Mittelpunkt steht. Von Maßnahmen
Es wird empfohlen, der Klientin insbesondere zu den unten aufgeführten Themen Informationen zu vermitteln7, wobei sorgfältig ausgewählt werden sollte, welche Informationen für die jeweilige Klientin hilfreich sein können. Als Wege der Vermittlung
7
Vgl. zu den Informationen Pudel (2001). Der Artikel ist allerdings eher als Informationsquelle für Therapeutinnen/ Therapeuten geeignet, weniger für die Klientinnen. Als Informationsmaterial für die Klientinnen eignet sich z. B. das entsprechende Kapitel aus dem Ratgeber zur Selbsthilfe von Schmidt und Treasure (2000).
473 23.2 · Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie
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. Abb. 23.1. Der »Teufelskreislauf« zur Aufrechterhaltung pathologischen Essverhaltens mit Heißhungeranfällen (Jacobi et al., 2000, S. 35)
zur Reduzierung des Körpergewichts während der Therapie sollten Therapeutinnen/Therapeuten eher abraten. Zum einen können solche Maßnahmen bereits Bestandteil der Symptomatik sein. Zum anderen können sie die Gefahr von Essanfällen stark erhöhen. Mögliche Themenschwerpunkte (Auswahl): 4 Energie- und Nährstoffbedarf, optimale Nahrungszusammensetzung. 4 Das falsche Modell des »Idealgewichts« nach dem Broca-Index (Körpergröße in cm minus 100 minus 15%). 4 Das heute als anerkannt geltende Modell des Normalgewichts auf Grundlage des Body-MassIndex. 4 Das heute widerlegte Modell zur Erklärung der Gewichtsveränderung nach dem Prinzip der Energiebilanz: Wer mehr Kalorien isst, als er verbraucht, nimmt an Gewicht zu und umgekehrt. 4 Die heutige Praxis der Diäten auf der Grundlage des Energiebilanzmodells und ihre negativen Folgen. 4 Biologische Faktoren der Gewichtsregulation. 4 Gezügeltes Essverhalten und Gegenreaktionen. 4 Das Teufelskreismodell zur Aufrechterhaltung bulimischer Symptomatik8 (. Abb. 23.1). 8
Nach Jacobi et al. (2000): Die Autorinnen betonen dabei die individuelle Unterschiedlichkeit der Genese einer Essstörung und die Bedeutung von Mechanismen, die die Symptomatik aufrecht erhalten können, auch wenn die ursächlichen Faktoren längst an Einfluss verloren haben: »Die Einzelheiten der biographischen Situation, die genaue Art der biologischen Faktoren und die psychodynamischen Hintergründe dieser Krankheit können individuell sehr unterschiedlich sein. Hat eine Patientin aber einmal begonnen, mit Hungern oder
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Handlungsempfehlung: Einsatz von Tagebuchtechniken. Tagebücher bzw. Essprotokolle u. ä. wer-
den immer häufiger im Bereich der Therapie von Essstörungen eingesetzt. Traditionell findet man entsprechende Empfehlungen vor allem in den Manualen der Kognitiven Verhaltenstherapie der Essstörungen. Inzwischen berichten aber auch Vertreter anderer Therapiekonzepte über die Anwendung dieser Techniken (z. B. Vertreter psychodynamischer Therapie: Herzog & Sandholz, 1997; Reich, 2001b). Ein Tagebuch wird in der Therapieeingangsphase mit folgenden Zielsetzungen empfohlen: 4 Unterstützung der Hinwendung der Klientin zur (oft auch schambesetzten und deshalb verheimlichten) Symptomatik in der Therapieeingangsphase 4 Förderung einer differenzierteren Selbstwahrnehmung (hinsichtlich des Essverhaltens und der gegensteuernden Maßnahmen und hinsichtlich der mit der Symptomatik verbundenen Affekte) 4 Unterstützung der Klientin bei der Reduktion der Symptomatik durch: 5 Unterbrechung automatischer Abläufe im Erleben und Verhalten9
9
Erbrechen auf Konflikte zu reagieren, so kann daraus unabhängig vom individuellen Ausgangspunkt und nicht zuletzt aus physiologischen Gründen ein Kreislauf entstehen, den zu durchbrechen mit fortschreitender Zeit immer schwieriger wird« (S. 26). Vgl. Benninghoven (2001, S. 163–166): Durch die mit der Führung des Tagebuchs verbundene Aufforderung zur Selbstbeobachtung werden automatisch ablaufende Handlungen beim Ess-Brech-Verhalten gestört oder erschwert. Selbstbeobachtung verändert so per se das zu beobachtende Verhalten.
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
5 Aufbau von Kontrolle über das vermeintlich unkontrollierbare Verhalten.10
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Hinweise zur Gestaltung der Essprotokolle (. Tab. 23.1) und der Arbeit mit den Tagebüchern (Benninghoven, 2001): 4 Es sollten sowohl das sog. Basisessverhalten als auch die Essanfälle protokolliert werden. Zusätzlich sind die gegensteuernden Maßnahmen aufzuzeichnen. 4 Es ist zu empfehlen, dass die Klientin Zeit und Ort der Nahrungsaufnahmen und auch der gegensteuernden Maßnahmen notiert. Sie kann aufschreiben, welche Nahrungsmittel sie zu sich nimmt, und kennzeichnen, ob es sich um einen Essanfall oder um eine kontrollierte Nahrungsaufnahme handelt. Auf Kalorien- oder Gewichtsangaben sollte verzichtet werden. 4 Das Tagebuch sollte so gestaltet werden, dass die Klientin angeben kann, was vor einer Nahrungsaufnahme, einem Essanfall oder vor der gegensteuernden Maßnahme geschah, wie es ihr ging und was sie gedacht oder gefühlt hat. 4 Entscheidend ist, dass die Klientin den Sinn des Tagebuchs für die Therapie versteht und dass sie die Gestaltung des Tagebuchs als adäquat für ihr ganz persönliches Essverhalten empfindet. 4 Das Führen eines Tagebuchs sollte in der Therapie möglichst anschaulich vorbereitet werden. 4 Es sollte verbindlich vereinbart werden.
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Vgl. Benninghoven (2001, S. 166–168): Da durch, dass die Patientin mit Hilfe der Tagebücher selbst den Zusammenhang zwischen auslösenden Bedingungen und symptomatischen Verhalten entdeckt, verliert das Symptom seinen Charakter der Unkontrollierbarkeit. Die Einschätzung, Essanfälle seien unkontrollierbar und von Umständen und psychischen Zuständen unabhängig, kann mit den Tagebuchaufzeichnungen korrigiert werden.
4 Die Eintragungen sollten möglichst unmittelbar erfolgen. D. h. dass die Klientin das Tagebuch so auswählen sollte, dass sie es immer griffbereit haben kann. 4 Die Therapeutin/der Therapeut sollte unbedingt zu Beginn jeder Stunde auf die Aufzeichnungen eingehen und sie transparent in die Therapie einbauen. 4 Wichtig ist aber, dass die Klientin das Tagebuch als ihr persönliches Eigentum betrachtet und es vor allem für sich und nicht für die Therapeutin/ den Therapeuten führt. 4 Voraussetzung für die Arbeit mit einem Tagebuch ist eine tragfähige therapeutische Beziehung. Sonst besteht die Gefahr, dass das Führen des Tagebuchs zu einem Aufhänger für das Ausagieren von Konflikten zwischen Klientin und Therapeutin/Therapeut wird. 4 Gefahren bei der Anwendung von Tagebuchverfahren: 5 Die Klientin sieht im Tagebuch eine Möglichkeit für die Therapeutin/den Therapeuten, sie zu kontrollieren. 5 Die Klientin versteht das Führen des Tagebuchs als eine Aufgabe, die sie perfekt zu erledigen hat. 5 Die Klientin sieht in dem Vorschlag, ein Tagebuch zu führen, die Aufforderung, ihre Schwächen zu offenbaren und damit Entwertung oder Beschämung durch die Therapeutin/den Therapeuten möglich zu machen. Handlungsempfehlung: Vereinbaren von Therapiezielen. Wir empfehlen im Verlauf der Therapie-
eingangsphase konkrete Therapieziele mit der Klientin zu besprechen und zu vereinbaren. Als geeigneter Zeitpunkt erscheint uns das Ende der sog. »probatorischen Sitzungen« (in der Regel fünf Sitzungen).
. Tab. 23.1. Vorschlag für die Gestaltung eines Essprotokolls11 Name Uhrzeit
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Wochentag Ort
Nahrungsmittel (Art und Menge)
Hunger/Durst?
Datum Essanfall?
Vorausgehende Gedanken, Gefühle, Ereignisse
Nach Benninghoven (2001, S. 170), ergänzt um die Spalte »Hunger oder Durst«?
Gewichtregulierende Maßnahmen
Nachfolgende Gedanken und Gefühle
475 23.2 · Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie
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. Tab. 23.2. Beispiel für vereinbarte Therapieziele Therapieziele Klientin
Therapieziele Therapeut/in
»Nie wieder fressen und kotzen.«
»Deutliche Reduktion der bulimischen Symptomatik.«
»Mit meinem Körper zufrieden sein.«
»Akzeptanz des Körpers.«
»Selbstständiger werden.«
»Stärkung der Autonomie insbesondere gegenüber der Familie.«
Es können bis zu drei Therapieziele mit der Klientin vereinbart werden, wobei mindestens eines dieser Ziele direkt die Essproblematik betreffen sollte (. Tab. 23.2). Diese Ziele sollten jeweils aus der Sicht des Therapeuten und aus der Sicht der Patientin festgehalten werden. Als Vorlage dient hierbei die Psychotherapeutische Basisdokumentation (Psy-BaDo, Heuft & Senf, 1998, S. 18–20). Nach Abschluss der Therapie sollte das Ausmaß, in dem diese Ziele erreicht worden sind, von den Patientinnen und den Therapeuten eingeschätzt und diese Einschätzung wiederum dokumentiert werden. Das Festlegen von Therapiezielen gilt mittlerweile nicht nur im Forschungskontext als Therapiestandard. Wir versprechen uns von der Zielvereinbarung vor allem Unterstützung für die notwendige Hinwendung der Klientin zur Symptomatik in den verschiedenen Therapiephasen. Wenn es nötig ist, kann die Therapeutin/der Therapeut unter Verweis auf die anfänglich vereinbarten Ziele z. B. die Vermeidung des Redens über die Symptomatik ansprechen. Handlungsempfehlung: Veränderungsdokumentation. Im Zusammenhang mit der Festlegung der
Therapieziele zu Behandlungsbeginn sind von der Therapeutin/vom Therapeuten bis zu 10 mögliche Einschränkungen und Problembereiche der Patientin dahingehend einzuschätzen, ob mit dieser Behandlung in diesen Bereichen Veränderungen angestrebt bzw. erwünscht sind. Die Klientin soll gleichzeitig eine Einschätzung anhand gleicher Items vornehmen (Psy-BaDo, Heuft & Senf, 1998, S. 22–24.). Am Behandlungsende werden sowohl von der Therapeutin/vom Therapeuten als auch von der Klientin ähnliche Fragebögen ausgefüllt, die einen direkten Vergleich von Therapiebeginn und Therapieende und so Aussagen über Veränderungen während der Behandlung ermöglichen (Psy-BaDo, Heuft & Senf, 1998, S. 28).
Die Veränderungsdokumentation ist auch erforderlich, um dem Forschungsstandard entsprechen zu können. Handlungsempfehlung: Verständigung über den Umfang und den zeitlichen Rahmen der Therapie.
Zu Beginn der Therapie sollten sich Therapeutin/ Therapeut und Klientin über die ungefähre Anzahl der zur Erreichung der Therapieziele zur Verfügung stehenden Sitzungen verständigen. Auch ein Abgleich der Vorstellungen über die angestrebte Dauer der Therapie und damit der Abstände zwischen den einzelnen Sitzungen sollte an dieser Stelle erfolgen. Die Verständigung über den Zeitrahmen kann die Aufrechterhaltung der Fokussierung auf vereinbarte Ziele und Themenschwerpunkte und die Begrenzung von Vermeidung unterstützen. Wir empfehlen zu vereinbaren, einen maximalen Umfang von 70 Sitzungen anzustreben. Im Einzelfall kann die Therapie dann noch einmal um max. zehn Stunden verlängert werden. Der Abstand zwischen den Sitzungen sollte in der Regel eine Woche betragen. In der Therapieeingangsphase und während besonderer Krisen kann eine Erhöhung auf zwei Sitzungen pro Woche hilfreich sein. In der Endphase der Therapie hat sich die sukzessive Vergrößerung der Abstände zwischen den Sitzungen bewährt. Als Gesamtdauer sollten maximal zwei Jahre angestrebt werden. Zusammenfassung spezifischer Empfehlungen für die Therapieeingangsphase 5 Informationen über Bulimia nervosa und damit zusammenhängende Themen vermitteln. 5 Tagebuchverfahren anwenden. 5 Therapieziele vereinbaren. 5 Einschätzungen zur Veränderungsdokumentation vornehmen. 5 Umfang und zeitliche Rahmenbedingungen der Therapie vereinbaren.
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Leitlinien für die mittlere Therapiephase Ist das Ziel der Therapieeingangsphase, die Klientin in ihrer Angst zu verstehen, erreicht, kann in der mittleren Therapiephase folgende Aufgabe in das Zentrum der therapeutischen Arbeit gestellt werden:
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! In der mittleren Therapiephase kann und muss es jetzt darum gehen, die Klientinnen »in den Erfahrungen zu verstehen, die eine Wiederholung von früheren sind« (Biermann-Ratjen, 2002b, S. 33).
Thematisch stehen also in dieser Phase Erfahrungen im Mittelpunkt, die zur Ausbildung der sekundären Inkongruenz geführt haben. Diese Erfahrungen entsprechen bestimmten früheren Erfahrungen, die zur primären Inkongruenz geführt haben. Sie stellen eine Wiederholung früherer Interaktionserfahrungen zwischen Kind und frühen Bezugspersonen dar. Mit der Thematisierung des späteren Erlebens wird das frühere Interaktionsgeschehen also immer mitberührt und aktualisiert. In der Literatur zur Bulimia nervosa werden unterschiedlichste Beziehungserfahrungen geschildert, die mit der Ausbildung und Ausprägung der Symptomatik zusammenhängen und die in der Therapie thematisiert werden:
Einen Themenkomplex stellen die Partnerschaften der Klientinnen dar. Erfahrungen beim Eingehen einer Partnerschaft, in Konflikten mit Partnern, Erfahrungen bei Trennungen und beim Verlassenwerden können nicht in das Selbstkonzept integriert werden (z. B. Hassler, 1996; Petersen, 1996, 1997). Erfahrungen, die mit dem Selbstständigwerden und dem Verlassen des Elternhauses verbunden sind, werden von den Klientinnen ebenfalls oft als sehr problematisch erlebt und oft nicht vollständig oder korrekt symbolisiert (z. B. Cierpka & Reich, 2001). In vielen Falldarstellungen spielt das Verhältnis der Klientin zur Mutter eine besondere Rolle. Häufig sind Konstellationen folgenden Musters zu beobachten: Die Tochter befindet sich gegenüber der Mutter in einer sog. »Schein-Unabhängigkeit«. Obwohl oft die finanzielle und wohnliche Trennung gelingt, bleiben die Klientinnen in einem pathologischen Ausmaß emotional an die Mutter gebunden. Sie fühlen sich für die emotionale Stabilität oder Instabilität der Mutter verantwortlich und sind deshalb in wichtigen Entscheidungen über das eigene Leben oftmals nicht frei. Die Mütter können ihre Töchter mit Schuldgefühlen unter Druck setzen und so über
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Das Verhältnis der Klientin zur Mutter Kl.: Ich wollte eigentlich keinen Psychologen aufsuchen, weil die doch alle glauben, dass die Mütter an allem Schuld sind. Meine Mutter ist es bei mir auf jeden Fall nicht. Ich habe zu meiner Mutter schon immer ein gutes Verhältnis gehabt, und das will ich auf keinen Fall verlieren. Th.: Das beschäftigt Sie sehr stark, ob Sie hier bei mir über ihre Mutter sprechen müssen. Kl.: Ja, und das werde ich auch nicht tun, das weiß ich, da kann ich nämlich echt stur sein. Th.: Bei diesem Gedanken werden sie fast wütend. Kl.: Ja. Können Sie das verstehen? Th.: Ich kann Ihr Gefühl nachempfinden, auch ihre Angst, dass sich das Verhältnis zu ihrer Mutter verändern könnte. Veränderungen müssen aber nicht zwangsläufig negativ sein.
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Die Auseinandersetzung mit der Mutter in der Therapie Kl.: Mein Vater ist irgendwie tödlich verunglückt, als ich drei oder vier Jahre alt war. Ich weiß es nicht mehr ganz genau. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich vom Kindergarten kam und meine Mutter weinend am Küchentisch saß und mir sagte, dass mein Vater tot sei. Mein Vater war beruflich oft über mehrere Monate weg, ich kannte ihn gar nicht, erlebte ihn mehr als Gast, wenn er mal da war. Ich habe ihn auch nie vermisst. Aber als ich meine Mutter weinen sah, musste ich mit weinen. Es tat mir so weh. Ich versprach ihr, immer ganz lieb zu sein, ihr keinen Ärger zu machen und, wenn sie wieder Nachtdienst hatte, nicht zu weinen. Sie müssen wissen, dass ich immer Angst hatte, nachts alleine in der Wohnung zu sein, und wir hatten auch kein Telefon. Wenn ich aus der Schule kam, habe ich erst den Ofen
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angemacht und dann für meine Mutter und mich gekocht. Ich hatte ihr doch versprochen, immer ganz lieb zu sein. Nach dem Abwasch habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Ich war eine gute Schülerin. Meine Mutter sollte stolz auf mich sein. Th.: Sie haben ihre Mutter sehr lieb, ihr alles gegeben, was sie ihr geben konnten. Kl.: Ja. Sie gab mir immer das Gefühl, dass ich für sie das Wichtigste war, bis sie meinen jetzigen Stiefvater kennen lernte. Ich war damals 14. Th.: Da hatten Sie das Gefühl, nicht mehr so wichtig zu sein. Kl.: Zeitweise war ich auch vollkommen überflüssig und wurde zu meiner Oma oder Tante gebracht. Ich hatte ja keine Freundin, weil ich doch immer für meine Mutter da sein musste. Th: Das macht sie jetzt noch traurig und wütend zugleich, wenn sie nur daran denken. Kl.: Wütend nicht, traurig, – ich könnte kotzen. Ich fühle mich so unendlich verarscht, benutzt, ausge-
lange Zeit an sich und die Familie binden. Die Väter sind entweder nicht »vorhanden«, zu weit »entfernt« oder so schwach, dass sie die Tochter in der Auseinandersetzung mit der Mutter nicht oder kaum unterstützen können (z. B. Cierpka & Reich, 2001; Ettl, 2001; Hassler, 1996; Petersen, 1996, 1997; Reich, 2001). Im Zusammenhang mit dem Ringen um »wahre« Unabhängigkeit werden in der Therapie häufig alle wichtigen Lebensentscheidungen auf den »Prüfstand« gestellt (z. B. Hassler, 1996). Während die Autonomietendenzen von den Klientinnen häufiger offen als versteckt nach außen vertreten werden, werden Bedürfnisse nach Geborgenheit, Abhängigkeit und Getragensein eher seltener offen zugelassen und in der Therapie thematisiert (Bettermann et al., 1996). Aufgrund der spezifischen Charakteristiken der bulimischen Essstörung, insbesondere der mit ihr verbundenen Tendenz zur Verheimlichung, unterstützen wir auch in dieser Phase eine zumindest temporäre thematische Fokussierung auf die Symptomatik durch die Therapeutin/den Therapeuten. Im Einzelnen empfehlen wir dazu:
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nutzt, nie hat sie mich versorgt, sie musste immer arbeiten, weil wir sonst kein Geld gehabt hätten. Ich war immer allein. Wenn ich krank war, wenn ich Angst hatte – immer. Ich musste immer gut sein, gute Schulnoten bringen, immer freundlich sein, keine laute Musik hören, nicht tanzen, weil sonst die Nachbarn sich gestört fühlten. Nie hat sie nach mir gefragt, wie es mir geht, was ich machen möchte. Th.: Wenn ich mich in ihre Situation versetze, spüre ich eine enorme Wut und Enttäuschung. Kl.: Ja, das bin ich auch, aber ich darf zu meiner Mutter nicht böse sein, weil ich sonst ganz alleine auf der Welt bin. Th.: Sie würden einerseits gerne mit ihrer Mutter über ihre Gefühle sprechen und andererseits haben Sie Angst, sie würde Sie für immer wegschicken. Kl.: Ja. … Ich weiß, dass ich es tun muss, aber nicht jetzt. Erst wenn ich mir ein neues Nest gebaut habe. Th.: Wenn sie sich sicher und stark fühlen.
Handlungsempfehlung: Ansprechen des gegenwärtigen Erlebens und des gegenwärtigen Ausprägungsgrades der Symptomatik. Insbesondere
wenn die Klientin die Symptomatik seit mehreren Sitzungen nicht mehr von sich aus thematisiert hat, sollte die Therapeutin/der Therapeut auch in dieser Therapiephase von sich aus das Thema aufgreifen. Wichtig erscheint uns, dass in der Therapie jederzeit klar ist, in welchem Ausmaß die Symptomatik im Einzelnen noch oder wieder vorhanden ist, wie das (Wieder-)Auftreten von der Klientin erfahren wird und ob und wie Bewältigungsversuche stattfinden. Handlungsempfehlung: Den Umgang mit Rückfällen vorbereiten. Häufig gelingt es den Klientinnen
während der Therapieeingangsphase oder während der mittleren Therapiephase mehr oder weniger vollständig auf die Symptomatik zu verzichten. Sie stellen nahezu vollständig die gewichtsreduzierenden Maßnahmen ein. Essattacken kommen nur noch sehr selten oder/und in stark abgeschwächter Form vor. Die Klientinnen spüren die körperliche Entlastung, beginnen vorsichtig, die so gewonnenen
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Fallvignette
Die Therapeutin spricht die Symptomatik an
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Th.: Aus Ihren Erzählungen geht hervor, dass Sie in den vergangenen Wochen einige wichtige Entscheidungen, die Sie für sich getroffen haben, umsetzen konnten. Kl.: Ja, da bin ich auch ganz … (Schweigen). Th.: Stolz. Kl.: Mhm. Th.: Sie sind auf einmal ganz zögerlich. Kl.: Na ja, wenn ich früher auf mich stolz war, wurde mir gleich gesagt: »Eigenlob stinkt«. Th.: Finden Sie, es stinkt hier? Kl.: (zögert) Nein, eigentlich nicht. Th.: Eigentlich. Kl.: (Pause) Aber das wäre doch hochmütig … Th.: Wenn Sie auf sich stolz wären, weil sie einiges für sich erreicht haben? Kl.: Genau, einiges, aber nicht alles.
Freiräume zu erkunden und zu genießen und sehen sich fast am Ziel ihrer Wünsche. Nach kurzer Zeit drohen aber die Erfahrungen ins Bewusstsein zu gelangen, die auch mit Hilfe der Symptomatik abgewehrt werden konnten. Insbesondere dann, wenn in der Therapie die schmerzhaften und mit starken Affekten besetzten Erfahrungen thematisiert werden können, sind Rückfälle in die alten Verhaltensmuster immer wahrscheinlich. Deshalb sollte aus unserer Sicht die Möglichkeit des Auftretens solcher Rückfälle aktiv von der Therapeutin/ dem Therapeuten vorbereitet werden. Ziel der Vorbereitung sollte es sein, dass die Klientin Rückfälle möglichst nicht als Niederlage erlebt. Als Erfolg versprechend hat sich eine Definition des Rückfalls als »Signal« erwiesen. Der Rückfall kann so z. B. in der Therapie als Signal für die nicht korrekte Symbolisierung von Erfahrungen oder im Alltag als Signal für einen Rückfall in eigentlich zu überwindende Verhaltensmuster (Überforderung, Unterwerfung, Abhängigkeit etc.) verstanden wer-
Th.: Sie sind noch nicht frei von Essattacken und Erbrechen. Kl.: Ich denke oft daran, manchmal glaube ich es nicht mehr aushalten zu können. Ich könnte mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Die Gedanken an das Essen verfolgen mich, ich könnte laut schreien und bekomme keinen Ton heraus. Aber ich verbiete es mir zu essen und zu kotzen. Th.: Entscheiden sich ihre Gefühle zu spüren. Kl.: Ich will nicht mehr kotzen. Es ruiniert mich. Ich verliere alle meine Freunde. Kann nicht wie andere in den Urlaub fahren, weil ich das ganze Geld verfresse und auskotze, fresse und kotze, immer und immer wieder. Th.: Das macht Sie wütend und traurig zugleich. Kl.: Ich könnte explodieren, fühle mich wie ein Tiger im Käfig
den. Das Wiederauftreten der Symptomatik kann auf diese Weise auch anders als nur negativ erlebt werden. Voraussetzung für diese andere Erfahrung von Rückfällen ist die Bedingungsfreie Akzeptanz der Klientin in ihrem Erleben der Symptomatik (während der Therapieeingangsphase) und des ersten Rückfalls nach einer längeren Remissionsphase (Prozessanalyse: Hassler, 1996). Voraussetzung ist natürlich auch, dass die Thematisierung des Essverhaltens und seiner Störung in der Therapie ausreichend Platz hat und für die Klientin selbstverständlich ist. Die Klientin sollte darauf vorbereitet werden, dass das Wiederauftreten der Symptomatik oder einzelner Symptome im Verlauf der Therapie (und darüber hinaus) sozusagen »normal« ist. Häufig müssen dabei unrealistische Erwartungen und Perfektionsansprüche der Klientin thematisiert und geklärt werden.
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Fallvignette
Umgang der Klientin mit Rückfällen Kl.: Es hat alles keinen Zweck. Gestern habe ich wieder erbrochen. Th.: Das klingt zwischen Gleichgültigkeit und unterschwelliger Wut. Kl.: Ich komme hierher, damit das alles aufhört. Nichts, aber auch gar nichts tut sich da! Th.: Hätten gerne, dass ich für Sie das Problem löse. Kl.: Ja … Nein … Quatsch. Th.: Möchten noch keine Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen. Kl.: Wie meinen Sie das? Th.: Sie alleine entscheiden, ob Sie essen und erbrechen. Kl.: Nein, … dass kommt einfach über mich. Ich bin dann wie fremd gesteuert, alles geht automatisch. Th.: Alte Gefühle, alte Gewohnheiten? Kl.: Ich verstehe Sie nicht, was meinen Sie damit. Sie machen mich heute total sauer. Th.: Ein Gefühl wie vor einer Essattacke? Kl.: (Pause) Ähnlich, aber zu Hause kommt noch so eine unbeschreibliche Leere dazu. Ich kann dieses Gefühl nicht aushalten. … Ich weiß nicht, was ich dann machen soll, ich bin wie gelähmt. Fühle mich wie eine Versagerin, immer und immer wieder. Th.: Fällt dann schwer, wieder neue Kraft zu schöpfen.
Handlungsempfehlung: Zusammenhänge zwischen thematisierten Erfahrungen und der Symptomatik herstellen. Es kann förderlich sein, wenn
vielleicht in stärkerem Maße als bei anderen Störungen durch die Therapeutin/den Therapeuten aktiv ein Zusammenhang zwischen den von der Klientin thematisierten Erfahrungen und der Symptomatik hergestellt wird. Ziel ist dabei natürlich auch, die Essstörungen immer wieder mit in das »Therapieboot« zu holen. Im Zentrum steht aber, dass die Klientin selbst ein Verständnis für ihre psychische Störung entwickelt.
Kl.: Ja, wieder von vorne anzufangen, immer und immer wieder. Ich finde, ich habe nichts dazu gelernt, ich bewege mich im Kreis. Irgendwie hab’ ich Angst, wenn das alles nicht mehr ist. Th.: Was wäre dann? Kl.: Diese Leere, das innere große Loch, das mich verschluckt, wenn ich nichts dagegen mache. Th.: Dann gehen Sie zum Kühlschrank. Kl.: Ich denke dann nicht mehr. Th.: Fühlen nur ein riesiges Loch, das Sie verschlucken will. Kl.: Ja! … Und danach geht es mir schlecht, und ich zweifle an mir, ob ich die Therapie überhaupt schaffe. Dieser Rückfall war für mich entsetzlich … das Gefühl der Leere – das Verschlungen werden … Th.: So ein Rückfall lässt Sie an sich zweifeln. Kl.: Zum Teil. Dann denke ich, ganz zu Anfang haben Sie mal gesagt, dass ein Rückfall durchaus zur Heilung dazugehören kann. Einige Betroffene schaffen es ohne, andere nicht. Nun gehöre ich zu denen, die in der Therapie einen Rückfall hatten. Th.: Erleichtert? Kl.: Ja, schon, aber was ist, wenn es jetzt so weiter geht? Th.: Spielen Sie mit dem Gedanken? Kl.: (Schmunzelt) Nicht wirklich. Th.: Ich würde jetzt gerne an dieser Stelle noch einmal zurückgehen, an den Tag, an dem der Rückfall war, und Sie nun bitten, so genau wie möglich die Ereignisse des Tages zu schildern.
Die Klientin kann sich im Verlauf der Therapie eine Art Modell ihrer individuellen Störung erarbeiten, das über den in der Therapieeingangsphase vermittelten »Teufelskreis zur Aufrechterhaltung der Bulimie« hinausgeht und das der klientenzentrierten Störungslehre entspricht. Insbesondere bei der Überwindung der Symptomatik und beim Umgang mit Rückfällen kann dieses Modell hilfreich sein. Aber auch bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen nach der Therapie kann Wissen um die Umstände der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung unterstützend wirken.
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Fallvignette
Selbstzweifel und Symptomatik
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Kl.: Ich glaube, ich schaffe das alles nicht. Ich lerne und lerne und wenn ich dann auf Station bin, alles weg. Die müssen doch glauben, dass ich total bescheuert bin. Ich kann das alles nicht, ich halte das nicht aus. Und wenn ich durchfalle. Th.: Die anstehende Prüfung belastet sie sehr. Kl.: Total. Wenn ich durchfalle. Ich habe Angst, dass ich das nicht schaffe. Th.: Angst zu versagen. Kl.: Ja. Dass ich nicht alles behalten kann, was ich lerne. In der Arbeitsgruppe sind welche, die sind viel besser als ich, und wenn die mich dann was fragen, stottere ich nur herum. Ich kann das alles nicht. Th.: Diese Spannung aushalten. Kl.: Nach so einem Treffen ess’ ich immer den Kühlschrank leer. Ich kann in so einer Zeit nicht ohne … Sie wissen schon. Th.: Ohne Essen und Erbrechen. Kl.: Ich zweifle momentan an allem. Ich schaffe es nicht, mit dem Kotzen aufzuhören. Ich schaffe die Prüfung nicht. Ich habe mit meinem Freund stän-
Zusammenfassung spezifischer Empfehlungen für die mittlere Therapiephase 5 Symptomatik immer wieder ansprechen. 5 Den Umgang mit Rückfällen vorbereiten. 5 Zusammenhänge zwischen thematisierten Erfahrungen und der Symptomatik herstellen.
Leitlinien für die Therapieausgangsphase Ziel und Aufgabe dieser Therapiephase können wie folgt formuliert werden: Ziel dieser End- und damit auch Abschiedsphase der Therapie muss es sein, die bisher in der Therapie frei gesetzten Selbstheilungskräfte der Klientin dazu zu nutzen, angestoßene Entwicklungsprozesse so zu stabilisieren, dass sie durch die Klientin auch nach Abschluss der Therapie selbstständig aufrechterhalten und fortgesetzt werden können.
dig Streit. Auf Station bin ich auch schlecht. Alles. Ich habe das Gefühl, ich kann nichts und ich bin nichts. Th.: Alles gerät aus den Fugen, nur die Bulimie bleibt unverändert. Kl.: (Pause) Ja, das stimmt. Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich bin nur noch für das Lernen da. Aber wenn ich esse und erbreche, fühle ich auch noch etwas anderes. Th.: Dass Sie leben. Kl.: Ja. Aber das könnte ich doch auch anders. Das Alte holt mich dann ein. Mit meiner echten Mutter und so. Dass ich nie für sie da war. Damals, als sie in die Psychiatrie eingeliefert werden musste, da konnte ich sie auch nicht pflegen. Ich habe so oft das Gefühl, dass ich gar nicht alles kann. Th.: So alte Erinnerungen lassen Sie momentan an sich selbst zweifeln. Kl.: Dabei war alles richtig, was ich gemacht habe. Meine Mutter war sehr sehr krank und brauchte medizinische Hilfe. Ich konnte meinen Bruder und mich auch nicht immer richtig versorgen. Ich war selbst noch zu klein.
Diese Aufgabe bezieht sich sowohl auf die vor allem in Phase 2 durch die Klientin aufgegriffenen Themen und Entwicklungen als auch auf die Symptomatik der Essstörung im engeren Sinne. Auch in dieser Phase wird es notwendig sein, auf die Symptomebene der Bulimie im Einzelnen konkret Bezug zu nehmen. Dabei sollten Erfahrungen und Kompetenzen der Klientin aus den ersten beiden Phasen aktiviert und genutzt werden. Im Einzelnen sehen wir folgende mögliche Arbeitsschwerpunkte in dieser Phase: Handlungsempfehlung: Den Abschluss der Therapie mit der Klientin zusammen vorbereiten. In Ab-
hängigkeit davon, wie problematisch Abschied und Trennung für die Klientin sind, sollte dieses Thema rechtzeitig vor Abschluss der Therapie durch die Therapeutin/den Therapeuten angesprochen werden, wenn die Klientin nicht von selbst darüber spricht. So kann zum Beispiel besprochen werden,
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wie die noch verbleibenden Stunden genutzt und gestaltet werden könnten. Unter Berücksichtigung der Vorstellungen der Klientin sollte dabei auch genügend Zeit für ein Bilanzziehen (7 unten) eingerechnet werden. Fallvignette
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In dieser Phase sollte der Schwerpunkt in den Stunden auf solchen Themen liegen, die über das Therapieende hinaus für die Klientin relevant bleiben oder als zu bewältigende Aufgaben vor der Klientin stehen. Dabei sollten die im Therapiezeitraum neu oder wieder erworbenen Fähigkeiten der Klientin möglichst deutlich hervorgehoben werden.
Ansprechen des Therapieabschlusses Th.: Im Hinblick auf das Therapieende möchte ich Sie bitten, die vergangene Zeit Revue passieren zu lassen, um sich zu vergegenwärtigen, was sich für sie verändert hat und was Sie noch im Hinblick auf die Bulimie verändern möchten. Kl.: Anfangs dachte ich, jetzt ist es soweit, jetzt gehst du auch noch zum Psychoklempner. Ich war ganz unsicher, ob ich überhaupt mit der Kotzerei aufhören kann. Doch mit der Zeit wurde mir immer deutlicher, warum ich gekotzt habe und dass ich keinem außer mir selbst schade. Schwierig fand ich, wenn Sie Gefühle benannt haben. Oft habe ich mich dabei ertappt und durchschaut gefühlt, aber auch verstanden. Ich bin selbstbewusster als früher und sage, was ich will, wenn ich es dann weiß. Manchmal, wenn ich traurig bin, mich einsam fühle, dann denke ich ans Essen, denke an früher. Es macht mir aber keine Angst mehr, und ich muss auch nicht probieren, ob ich es noch kann. Th.: Essen und Erbrechen. Kl.: Mhm. Trotzdem bin ich in Stresssituationen vorsichtig und habe immer meinen Notfallplan, dass was wir hier probiert haben: Entspannung, Badewanne, gutes Buch, telefonieren mit meiner Freundin usw. Th.: Das gibt Ihnen Sicherheit. Kl.: Bis ich mich wieder gefangen habe. Es hilft mir über die schlimmste Zeit hinweg. Th.: Wenn Sie jetzt in die Zukunft schauen, was möchten Sie für sich noch erarbeiten? Kl.: Lernen, mir genügend Zeit zu lassen. Klares Nein üben, wie damals mit dem Tonband, wissen Sie noch? Th.: Ja. Kl.: Und schneller abwägen, was ich eigentlich will. Th.: Es muss alles schnell gehen. Kl.: Genau und mit Leichtigkeit. (Lacht.)
Handlungsempfehlung: Mögliche Rückfälle während der Trennungsphase und nach Abschluss der Therapie vorbereiten. Für die meisten Klientinnen
wird die Trennung von der Therapeutin/dem Therapeuten und der Therapie eine schwierige Aufgabe sein. Für einige Klientinnen besteht die Gefahr, dass in diesem Abschnitt der Therapie die bevorstehende Trennung als eine Wiederholung früherer Erfahrungen und als so bedrohlich erlebt wird, dass Teile dieses Erlebens nicht oder nicht vollständig oder korrekt symbolisiert werden. In Folge dessen kommt es nicht selten vor Therapieabschluss zu einem Wiederauftreten bzw. zu einer Erhöhung der Häufigkeit der bulimischen Symptomatik. In solchen Fällen sollte vor allem versucht werden, die Klientin in diesem Erleben richtig zu verstehen. An der Symptomatik kann so gearbeitet werden, dass auf die im Verlauf der Therapie bereits freigesetzten Selbstheilungskräfte fokussiert wird. Unter Umständen kann auch auf die in der Eingangsphase angewendeten Tagebuchtechniken und Informationen verwiesen oder zurückgegriffen werden. Auch wenn Rückfälle in dieser Phase ausbleiben, sollte grundsätzlich mit der Klientin die Möglichkeit besprochen werden, dass in der Zeit nach der Therapie und vor allem im Verlauf psychischer Krisen bulimische Symptome wieder (oder wieder verstärkt) auftreten können. In der Therapie können solche Rückfälle »vorweg genommen« werden. So hat die Klientin die Möglichkeit, dieses Geschehen dann später nicht als Katastrophe zu bewerten, sondern als Signal für problematisches psychisches Erleben zu betrachten (vgl. auch Umgang mit Rückfällen in der mittleren Therapiephase).
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Kapitel 23 · Behandlungsleitlinien
Fallvignette
Rückfälle »vorweg nehmen«
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Kl.: Als ich mich entschlossen hatte, Therapie zu machen, war für mich ganz klar, dass ich nicht mehr erbrechen werde. Das kommt für mich nicht in Frage. Ich habe in der Zeit der Therapie so vieles erlebt, ohne erbrechen zu müssen, dass ich es auch weiterhin ohne schaffen werde. … Aber ich habe ja auch nicht diese ausgeprägten Essattacken, die hatte ich noch nie. Th.: Was wäre wenn? Kl.: Ich könnte mir auf jeden Fall den »Ausrutscher« verzeihen. Wahrscheinlich würde ich alles verharmlosen, verniedlichen, … vor mir selbst vertuschen – geht glaube ich nicht mehr. (Atmet tief ein.) Dann müsste ich mich ernst nehmen, fragen, wie es dazu kam, was ich übersehen habe. Welche Warnsignale ich nicht habe erkennen wollen. Oh, wenn ich daran denke, kann ich einen Rückfall für mich nicht als »Ausrutscher« beschreiben. Auf jeden Fall ziehe ich alle Register, um nicht weiter in die Bulimie zu rutschen. Sollte es aber doch der Fall sein, muss ich noch mal ’ne Runde drehen. Th.: Könnten Sie sich das vorstellen? Kl.: Noch mal zu Ihnen zu kommen? Th.: Auch. Aber eher, dass Sie über eine längere Zeit wieder Bulimie haben werden. Kl.: Nein, eigentlich nicht, aber man weiß ja nie. Zu Ihnen würde ich gerne wieder kommen, weil ich nicht von vorne anfangen müsste, sondern eher, wie so ´ne Auffangbehandlung, wie bei Alkoholikern.
Handlungsempfehlung: Bilanzieren des in der Therapie Erreichten. Natürlich ist zum Ende der
Therapie Bilanz zu ziehen: Was ist aus den eingangs vereinbarten Therapiezielen geworden? Was läuft gut? Wo gibt es noch Schwierigkeiten? Wie können diese Probleme angegangen werden? Wir empfehlen, das Erreichen der Therapieziele detailliert zu besprechen. Klientin und Therapeutin/ Therapeut sollten getrennt voneinander auf den Formularen der Psychotherapeutischen Basisdokumentation das Ausmaß einschätzen, in dem die zu
Beginn von beiden formulierten Ziele erfüllt werden konnten (Psy-BaDo, Heuft & Senf, 1998, S. 18–20). Gleiches gilt für die Veränderungsdokumentation entsprechend der Psychotherapeutischen Basisdokumentation. Klientin und Therapeutin/Therapeut sollten getrennt voneinander die 10 Items zu möglichen Einschränkungen und Problembereichen entsprechend der Psychotherapeutischen Basisdokumentation schriftlich bearbeiten (Psy-BaDo, Heuft & Senf, 1998, S. 28). Im Nachhinein sollten beide Einschätzungen besprochen werden.
Zusammenfassung spezifischer Empfehlungen für die Therapieabschlussphase 5 Den Abschluss der Therapie mit der Klientin zusammen vorbereiten. 5 Den Umgang mit Rückfällen vorbereiten. 5 Bilanz bezüglich des in der Therapie Erreichten ziehen.
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Literatur
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501 Literatur
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502
24
Kapitel 24 · Literatur
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25 25
Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
25.1
Ausbildung und Ausbildungsstätten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz – 503
25.1.1 25.1.2 25.1.3
Deutschland – 503 Österreich – 504 Schweiz – 505
25.2
Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG zum Psychologischen Psychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie – 506
25.2.1
Präambel: Was ist Gesprächspsychotherapie? – 506 Allgemeines – 506 Curriculum – 508 Organisation und Durchführung der Ausbildung – 508
25.2.2 25.2.3 25.2.4
25.1
Ausbildung und Ausbildungsstätten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz
25.1.1
Deutschland
In Deutschland ist die Psychotherapieausbildung für die zugelassenen Ausgangsberufe Arzt, Psychologe, Pädagoge und Sozialpädagoge formal unterschiedlich. Für Ärzte handelt es sich um eine Weiterbildung im Zusammenhang mit einer Facharztausbildung (z. B. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) oder eine gesonderte Post-Facharzt-Weiterbildung, z. B. Erwerb des Zusatztitels Psychotherapie, für die anderen Berufsgruppen handelt es sich um eine Ausbildung. Ärzte können sich in Gesprächspsychotherapie im Rahmen der Weiterbildungsordungen der Landesärztekammern weiterbilden lassen. Die Ausbildung für Psychologen zum Psychologischen Psychotherapeuten und zum Kinder- und Jugendlichentherapeuten regelt das Psychotherapeutengesetz (PsychThG). Sie erfolgt an staatlich anerkannten Ausbildungsstätten und wird mit der Approbation abgeschlossen. Voraussetzung für eine Ausbildung ist das Diplom im Fach Psychologie, das
das Fach Klinische Psychologie einschließt, bei einer Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichtherapeuten genügt alternativ ein staatlich anerkannter Abschluss in den Studiengängen Pädagogik oder Sozialpädagogik. Die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten dauert in Vollzeit mindestens 3, berufsbegleitend mindestens 5 Jahre und umfasst insgesamt 4200 Stunden Theorie und Praxis, von der 1800 Stunden als praktische Tätigkeit in psychiatrischen klinischen und Einrichtungen der psychosomatischen/psychotherapeutischen Versorgung abgeleistet werden müssen Es gibt in Deutschland drei Fachverbände für Gesprächspsychotherapie, von denen einer, die GwG, alle Berufsgruppen vertritt, während die ÄGG die ärztlichen und die DPGG die psychologischen Gesprächspsychotherapeuten vertritt. ! Adressen der deutschen Fachverbände für
Gesprächspsychotherapie 4 Ärztliche Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (ÄGG), c/o Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Ludwig Teusch, Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie, Ev. Krankenhaus,
6
504
Kapitel 25 · Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
Grutholzallee 21, D-44577 Castrop-Rauxel www.aegg.de
25
4 Deutsche Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG) c/o Sigrid Adomeit (Sekretariat) Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 5, D-20146 Hamburg www.dpgg.de 4 Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) c/o Bundesgeschäftsstelle Melatengürtel 125a, 50825 Köln www.gwg-ev.org
Ausbildungsstätten zum Psychologischen Psychotherapeuten (PP) mit Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie (GPT). Gesprächpsychotherapie ist ein
im Sinne des PsychThG wissenschaftlich anerkanntes Verfahren, aber über den Antrag auf Anerkennung als sog. Richtlinienverfahren, d. h. als ein Verfahren, dessen Kosten die gesetzlichen Krankenkassen regelhaft übernehmen, ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch nicht entschieden. Daher gibt es derzeit auch nur einen staatlich anerkannten Ausbildungsgang mit Schwerpunkt GPT in Deutschland. ! Staatlich anerkannte Ausbildungsstätte für
eine Ausbildung zum PP mit Schwerpunkt GPT Institut für Psychotherapie (IfP) der Universität Hamburg Sekretariat. Frau Sigrid Adomeit c/o Fachbereich Psychologie Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg; Tel. 040/428385366 E-Mail: adomeit@uni-hamburg.de; Homepage: www.rrz.uni-hamburg.de/psychotherapie/
25.1.2
Österreich
Mit dem Psychotherapie-Gesetz ist die Psychotherapie-Ausbildung in Österreich seit 1991 gesetzlich geregelt. Sie besteht aus zwei Teilen, einem allgemeinen und einem speziellen Teil.
4 Der erste allgemeine Teil, das so genannte Propädeutikum, ist für alle Ausbildungsteilnehmer verbindlich. Er ist die gemeinsame Grundlage für alle Psychotherapeuten. 4 Der zweite spezielle Teil, das so genannte Fachspezifikum, ist die konkrete Ausbildung in einer von 19 anerkannten Psychotherapie-Methoden.
Fachspezifikum – Voraussetzungen 5 Vollendetes 24. Lebensjahr 5 Eigenberechtigung 5 Abgeschlossenes psychotherapeutisches Propädeutikum 5 Abgeschlossenes Studium Medizin, Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Publizistikund Kommunikationswissenschaft oder Theologie oder ein Studium für das Lehramt an höheren Schulen oder 5 Abgeschlossene Ausbildung für Sozialarbeit, für Pädagogik, eine Ausbildung zum Ehe- und Familienberater oder eine Ausbildung in Musiktherapie oder 5 Aufgrund besonderer Eignung nach Einholung eines entsprechenden Gutachtens des Psychotherapiebeirates
Das Fachspezifikum umfasst mindestens 300 Stunden Theorie, 120 Stunden Supervision, 200 Stunden Selbsterfahrung (Lehrtherapie), 550 Stunden Praktikum in einer Institution, 30 Stunden Praktikumsupervision und 600 Stunden psychotherapeutische Praxis. Es dauert – je nach gewählter Methode und Ausbildungsträger – ca. zwischen 4 und 9 Jahren. Informationen findet man unter www.psychotherapie.at/ausbildung/ und direkt bei den unten aufgeführten Verbänden, die in Österreich eine Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und personzentrierter Gesprächsführung anbieten (7 Kasten). ! Staatlich anerkannte Ausbildungsträger für
eine Psychotherapieausbildung mit Schwerpunkt GPT 4 Arbeitsgemeinschaft Personenzentrierter Psychotherapie, Gesprächsführung und Supervision (APG) (hier wird die Ausbildung
6
505 25.1 · Ausbildung und Ausbildungsstätten
in zwei autonom organisierten Sektionen durchgeführt): – Sektion Forum der APG A-1060 Wien, Otto Bauer Gasse 5/14; Tel: 01/9667944 e-mail: apg-forum@chello.at; Homepage: www.apg-forum.at – Institut für Personzentrierte Studien (IPS) A-1030 Wien, Dißlergasse 5/4; Tel: 01/7137796 e-mail: office@ips-online.at; Homepage: www.ips-online.at 4 Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche, klientenzentrierte Psychotherapie und personorientierte Gesprächsführung (ÖGwG) Altstadt 17, A-4020 Linz; Tel.: 070/784630 (Mo, Mi 9–13 Uhr) e-Mail: oegwg@psychotherapie.at; Homepage: www.psychotherapie.at/oegwg 4 Vereinigung Rogerianische Psychotherapie (VRP) A-1091 Wien, Postfach 33; Tel.: 01/3195003 E-Mail: office@vrp.at; Homepage: www.vrp.at
25.1.3
Schweiz
In der Schweiz sind Psychotherapeuten befugt, seelische und seelisch bedingte Krankheiten und Störungen in selbstständiger Berufsausübung privat oder in Institutionen zu diagnostizieren und zu behandeln. Die Praxisbewilligung ist kantonal unterschiedlich geregelt und wird Personen mit Universitätsabschluss und qualifizierter Weiterbildung erteilt. Eine Bundesregelung wird im Rahmen des Psychologengesetzes vorbereitet. Die Psychotherapeuten sind in Fach- und Kantonalverbänden organisiert, die sich ihrerseits in zwei Dachverbänden zusammengeschlossen haben, dem Schweizer Psychotherapeuten Verband (SPV) und der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). In der »Schweizer Charta für Psychotherapie« haben private Ausbildungsinstitutionen, Fach- und Kantonalverbände und der SPV eine Übereinkunft über Standards für die Ausbildung und zur Qualitätssicherung getroffen. Die FSP hat ebenfalls Standards für den Titel »Fach-
25
psychologe/Fachpsychologin für Psychotherapie FSP« erlassen. Die Ausbildung in Personzentrierter Psychotherapie wird von der Schweizerischen Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (SGGT), einem Gliedverband der FSP und Mitunterzeichnerin der Schweizer Charta angeboten. Die Weiterbildung erfolgt in zwei Phasen von je 2,5 Jahren Dauer. Die erste Weiterbildungsphase umfasst Selbsterfahrung, Theorie, Training, Supervision und eigene therapeutische Tätigkeit in einer fortlaufenden Gruppe von maximal 16 Personen und mit zwei Ausbildern In der zweiten Weiterbildungsphase wird verlangt: obligatorische und fakultative Spezialseminare, Supervision in der Kleingruppe und eigene therapeutische Tätigkeit. Während der Weiterbildung sind außerdem 100 Stunden Einzeltherapie als Lehrtherapie zu absolvieren. Die Weiterbildung schließt mit der Vorlage von Prozessanalysen und mit einer Zertifizierungssitzung ab. Sowohl der Standard der FSP wie der Standard der Charta – mit je unterschiedlichen quantitativen Anforderungen – können erreicht werden. Die SGGT bietet im Rahmen eines breiten Kursangebotes ferner die Weiterbildung in Personzentrierter Beratung auf zwei Niveaustufen an. Stufe I findet in einer fortlaufenden Gruppe statt, dauert etwa zwei Jahre und besteht in Selbsterfahrung, Theorie zum Personzentrierten Konzept, Training in Personzentrierter Gesprächshaltung und Supervision. Sie schließt mit einer Kursbestätigung ab. Stufe II dauert weitere etwa 2,5 Jahre und schließt mit einem Diplomierungsverfahren ab. Sie findet in integrativen Lerngruppen statt und umfasst neben den frei wählbaren Lernmodulen ein Prozessanalyse- und Qualifizierungsseminar. ! Ausbildungsträger für eine Psychotherapie-
ausbildung mit Schwerpunkt GPT Schweizerische Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung (SGGT) Sekretariat: Josefstraße 79, CH-8005 Zürich www.sggt-spcp.ch
506
Kapitel 25 · Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
25.2
Curriculum1 für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG zum Psychologischen Psychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie
25.2.1
Präambel: Was ist Gesprächspsychotherapie?
25
Die von dem amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902–1987) begründete Gesprächspsychotherapie ist auch unter dem Namen Klientenzentrierte oder Personzentrierte Psychotherapie bekannt. Gesprächspsychotherapie könnte in Anlehnung an Hans Strotzka allgemein definiert werden als ein geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Störungen des Erlebens und Verhaltens, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal aber auch averbal in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Änderung des Selbstkonzeptes bzw. Abbau von Inkongruenz) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. Das klientenzentrierte Konzept gehört neben dem psychoanalytischen, dem lerntheoretischen und dem systemischen zu den großen Paradigmen der Psychotherapie. Es unterscheidet sich von diesen vor allem in den anthropologischen Grundannahmen (Menschenbild) und in den Annahmen über den anzustrebenden psychotherapeutischen Prozess. Das Menschenbild wurzelt in der Humanistischen Psychologie, Begegnungs- und Existenzphilosophie und ist gekennzeichnet durch Annahmen, dass sich das menschliche Sein und Werden durch Begegnung, Wachstum, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit auszeichnet. 1
Erstellt von den Mitgliedern des Ausbildungsausschusses der Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie DPGG: Doris Müller, Henriette Petersen, Angelika Hilburg-Vogel und Dorothee Wienand-Kranz.
Der psychotherapeutische Prozess ist gekennzeichnet durch eine anzustrebende spezifische Therapeut-Patient-Beziehung, die auf Seiten des Therapeuten durch die Aspekte Empathie, Bedingungsfreie Positive Beachtung (unbedingte Wertschätzung) und Kongruenz gekennzeichnet ist und auf Seiten des Patienten durch eine gewisse Ansprechbarkeit auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot. Ein gelungener gesprächspsychotherapeutischer Prozess mündet auf Seiten des Patienten in mehr Selbstempathie und mehr Selbstwertschätzung, begleitet von abnehmender Inkongruenz. Die therapeutische Beziehung ist ferner gekennzeichnet durch ein tiefes Vertrauen des Therapeuten in die Entwicklungsmöglichkeiten (Ressourcen) des Menschen, so dass in den Anfangszeiten das von Rogers entwickelte therapeutische Konzept als nichtdirektive Therapie bezeichnet wurde. Die Gesprächspsychotherapie fühlt sich einer phänomenologischen Grundposition bei der Erkenntnisgewinnung sowie einer empirischen Überprüfung der psychotherapeutischen Prozesse und Effekte verpflichtet. Im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts wurde nicht nur die Gesprächspsychotherapie als heilkundliche Behandlung entwickelt. Das Konzept hat auch außerhalb der Klinischen Psychologie und Psychotherapie Verbreitung gefunden, z. B. in der Pädagogik und der Seelsorge.
25.2.2
Allgemeines
Ziele der Ausbildung 1. Die Teilnehmer sollen durch die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten die Fachkunde erwerben, die die Grundlage für einen Antrag auf Approbation bildet. Dementsprechend orientiert sich die Ausbildung an der jeweils gültigen staatlichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Die Ausbildung soll zu selbstständiger und eigenverantwortlicher psychotherapeutischer Tätigkeit befähigen. 2. Die Teilnehmer sollen Grundkenntnisse über wissenschaftlich anerkannte Verfahren und zusätzlich vertiefte Kenntnisse in Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie erwerben.
507 25.2 · Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG
3. Die Teilnehmer sollen umfassende theoretische Kenntnisse als Grundlage für die Ausübung von Psychotherapie erwerben. Sie erstrecken sich insbesondere auf die Bereiche der Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, auf Krankheits- und Störungskonzepte sowie das Gebiet der Psychiatrie. Weiterhin sollen die Teilnehmer theoretische Kenntnisse und praktische Fertigkeiten in der Diagnostik sowie der störungsspezifischen Behandlung unterschiedlicher psychischer Störungen, psychosomatischer und somatopsychischer Erkrankungen, seelischer Behinderungen unterschiedlicher Genese, Prävention und Rehabilitation erwerben. 4. Die Teilnehmer sollen die Modalitäten interdisziplinärer Kooperation und die unterschiedlichen Voraussetzungen bezüglich institutioneller Rahmenbedingungen kennenlernen und reflektieren. 5. Die Teilnehmer sollen mit den rechtlichen und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen der psychotherapeutischen Tätigkeit vertraut werden. 6. Die Teilnehmer sollen die ethischen Grundlagen der psychotherapeutischen Tätigkeit eingehend reflektieren und eine selbst- und sozial verantwortliche Haltung auf dem Hintergrund fachlicher und menschlicher Kompetenz entwickeln.
Ausbildungskonzeption 1. Zukünftige Psychotherapeuten-Persönlichkeiten benötigen neben der Fachkunde eine hinreichende Belastbarkeit auf der Grundlage eigener psychischer Gesundheit. Im Rahmen der Psychotherapieausbildung mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie ist daher die Möglichkeit zur Entwicklung der Therapeutenpersönlichkeit nicht auf die Lehrtherapie beschränkt. Das pädagogisch-methodische Vorgehen orientiert sich – zumindest in den am Ausbildungsinstitut durchgeführten Teilen – an den Grundprinzipien des personzentrierten Konzepts und dessen Vorstellungen von einer hilfreichen Beziehung. Die auf dieser Grundlage gestalteten Seminare, Trainings-, Selbsterfahrungs- und Supervisionsveranstaltungen beziehen dementsprechend neben kognitiven auch emotionale, körperliche und soziale Prozesse mit ein und finden in einer möglichst angstfreien und wertschätzenden Atmosphäre statt. Das schließt
25
zwar Konfrontation und konstruktiv kritische Bewertung von Verhalten mit ein – eine Abwertung der Person jedoch aus. Organisation und Durchführung der Ausbildung sollen deshalb auf der Grundlage des Vertrauens in die Aktualisierungstendenz des Individuums geschehen, die menschlichen Grundbedürfnisse respektieren u. beziehungstiftend sein. Von den Dozenten und Supervisoren wird daher neben der Fachkompetenz für das inhaltliche Angebot auch die Fähigkeit zur Gestaltung einer gesprächspsychotherapeutischen Beziehung erwartet, um auch in dieser Hinsicht das Lernen am Modell zu ermöglichen. Gleichgültig, welches Thema behandelt wird, soll die Durchführungsmethodik ein hohes Ausmaß an Selbstwahrnehmung, Selbsterfahrung, Selbstreflexion und Selbstbestimmung ermöglichen. 2. Die Durchführung der Ausbildung orientiert sich an den Qualitätsstandards und Erkenntnissen einer modernen teilnehmerorientierten Erwachsenenbildung, d. h. u. a., dass vielfältige Lernmöglichkeiten angeboten werden, die unterschiedliche Erfahrungen erlauben und verschiedenen Lernstilen gerecht werden. 5 Veranstaltungsformen – Theorieseminare – Trainings- und Übungsgruppen – Encountergruppen – Kollegiale Supervisionsgruppen 5 Methoden – Informationen und Demonstrationen durch die Dozenten – Übungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung – Übungsgespräche, Rollenspiele (Training therapeutischen Verhaltens) – Themenzentrierte Selbsterfahrung 5 Arbeitsformen – Einzelarbeit – Literaturstudium, Erstellung von Referaten – Gruppenarbeit und Gruppendiskussionen – Dokumentation von Übungsgesprächen (Kassette, Video, Transskripte) zum Zwecke der Supervision – Therapeutische Arbeit mit Patienten (unter Supervision)
508
Kapitel 25 · Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
Zulassungsvoraussetzungen Zur Ausbildung in Psychologischer Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie werden Diplompsychologen zugelassen, die einen Universitätsabschluss im Studiengang Psychologie, Fachrichtung Klinische Psychologie, absolviert haben, ebenso Diplompsychologen, die nach dem Psychotherapeutengesetz äquivalente Eingangsvoraussetzungen nachweisen können.
25
Umfang und Dauer der Ausbildung Die Ausbildung dauert in der Regel als Vollzeitausbildung mindestens 3 Jahre (6 Semester) und als berufsbegleitende Ausbildung mindestens 5 Jahre und umfasst mindestens 4570 Unterrichtsstunden. Fakultativ kann eine Zusatzausbildung in Klientenzentrierter Gruppenpsychotherapie sowie in Personzentrierter Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen jeweils im Umfang von 300 Unterrichtsstunden absolviert werden.
25.2.3
Gliederung/Aufbau der Ausbildung Bestandteile der Ausbildung (in Stunden) Theoretische Grundausbildung
200
Vertiefte praxisorientierte theoretische Ausbildung
400
Selbsterfahrung (inkl. Einzel-Lehrtherapie mit mindestens 80 Sitzungen)
240
Praktische klinische Tätigkeit Psychiatrie andere anerkannte PT-Einrichtungen
1200 600
Training und Reflexion therapeutischen Basisverhaltens
280
Praktische Ausbildung mit Krankenbehandlung unter Supervision
600 150
Kasuistisch-technische Seminare, störungsspezifische Interventionen, Anamnese, Psychotherapieprozess
400
Literaturstudium, Referatserstellung, kollegiale Supervision
500
Summe
4570
Curriculum
. Tab. 25.1. Curriculum (Mindeststundenzahlen) Theoretische Grundausbildung
200
Philosophische, anthropologische und historische Grundlagen der Psychotherapie, kulturelle Aspekte
10
Psychologische Grundlagen der Psychotherapie (entwicklungs-,sozial-, persönlichkeitspsychologische und systemtheoretische Aspekte)
12
Theorien, Konzepte und Modelle über die Entstehung, Aufrechterhaltung und den Verlauf psychischer Erkrankungen 5 Überblick über die allgemeine und spezielle Krankheitslehre aus Sicht der wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren
12
5 Grundbegriffe der Gesprächspsychotherapie
16
5 Allgemeine und spezielle Krankheits- und Störungslehre der Gesprächspsychotherapie, Ätiologie und Pathogenese
12
5 Psychiatrische Krankheitslehre
12
Methoden und Ergebnisse der Psychotherapieforschung
12
Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Klassifikationssysteme
12
Geschlechtsspezifische Aspekte der Persönlichkeit und der Psychopathologie am Beispiel verschiedener psychischer Störungen
12
Diagnostik, Indikation und Psychotherapiemethodik in Bezug auf verschiedene Lebensalter
12
Theoretische Grundlagen der Behandlung von Paaren, Familien und Gruppen
12
Prävention und Rehabilitation im ambulanten und stationären und halbstationären Setting
12
Medizinische und pharmakologische Grundkenntnisse für Psychotherapeuten
12
25
509 25.2 · Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG
. Tab. 25.1 (Fortsetzung) Theoretische Grundausbildung Dokumentations- und Evaluationsmethoden von Behandlungsverläufen und Behandlungsergebnissen in Bezug auf Forschung und Qualitätssicherung Berufsrechtliche und sozialrechtliche Grundlagen, interdisziplinäre Kooperation mit Institutionen und unterschiedlichen Versorgungssystemen Ethische Grundlagen psychotherapeutischen Handelns Vertiefte praxisorientierte theoretische Ausbildung
12 8 12 400
Theorie und Praxis der Diagnostik, Anamnese, Indikationsstellung, Prognose und des Behandlungsplans auf gesprächspsychotherapeutischer Grundlage
48
Rahmenbedingungen der Psychotherapie, verschiedene Behandlungssettings (ambulant, teilstationär, stationär), störungsspezifische Behandlungsplanung (Setting, Struktur, Dauer), Gestaltung des Behandlungsbeginns und des Abschlusses
48
Theorie und Praxis des gesprächspsychotherapeutischen Behandlungskonzepts, Aufbau und Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung, Verwirklichung der gesprächspsychotherapeutischen Grundprinzipien
48
Störungsspezifische Interventionen auf Gesprächspsychotherapie-Basis, erlebnisaktivierende Methoden, Focusing, Traumarbeit
48
Krisenintervention und Behandlung im Rahmen der Notfallpsychologie
48
Kasuistiken, Fallseminare
64
Personzentrierte Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
24
Personzentrierte Psychotherapie bei alten Menschen
24
Personzentrierte Psychotherapie bei Paaren, Familien und Gruppen
24
Probatorische Sitzungen, Antragstellung in der ambulanten Psychotherapie
12
Gutachtertätigkeit (Gericht, Rente, Glaubwürdigkeit u. a.)
12
Selbsterfahrung und Lehrtherapie Die Selbsterfahrung ist zentraler Bestandteil der Psychotherapieausbildung mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie. Sie sollte in der Regel im ersten Abschnitt der Ausbildung beginnen. Die Selbsterfahrung bietet den Ausbildungskandidaten die Möglichkeit zur individuellen Erfahrung von und mit gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangeboten. Sie dient insbesondere der Reflexion eigener Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungen und Verhaltensweisen, die für die psychotherapeutische Tätigkeit von Bedeutung sind, und unterstützt die Entwicklung durch die Auseinandersetzung mit der biographischen Vergangenheit und der sozialen Gegenwart. Die Lehrtherapie kann darüber hinaus zu Bearbeitung persönlicher Schwierigkeiten genutzt werden. In der Gruppenselbsterfahrung steht die soziale Lernerfahrung hinsichtlich Selbst- und Fremdwahrnehmung, Beziehungsaufnahme, -gestaltung, -ängsten und -konflikten im Vordergrund. Einzelpsychotherapie (durch einen Lehrtherapeuten, der weder Dozent noch Prüfer ist) Gruppenselbsterfahrung
240
80 160
Praktische klinische Tätigkeit
1800
Die klinische Tätigkeit dient dem Erwerb praktischer Erfahrungen in Diagnostik und Behandlung von psychiatrischen Störungen und Erkrankungen. Sie findet unter Anleitung von befugten Fachkräften statt. Der Ausbildungskandidat ist während dieser Zeit an der Diagnostik und Behandlung von mindestens 30 Patienten zu beteiligen. Bei mindestens 4 dieser Patienten muss das soziale Umfeld in das Behandlungskonzept einbezogen sein. Die Krankheitsverläufe und Behandlungsprozesse müssen dokumentiert werden.
1200
Tätigkeit an einer von einem Sozialversicherungsträger anerkannten psychosomatischen oder psychotherapeutischen Einrichtung bzw. in einer psychotherapeutischen Praxis, deren Inhaber/in eine Ausbildungsbefugnis besitzt
600
510
Kapitel 25 · Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
. Tab. 25.1 (Fortsetzung) Praktische klinische Tätigkeit Neben der fachlichen Anleitung am Ort wird im Rahmen der praktischen klinischen Tätigkeit vom Ausbildungsinstitut Einzelsupervision im Umfang von 24 Stunden durchgeführt. Training und Reflexion therapeutischen Basisverhaltens
1800 24 280
Das Training therapeutischen Basisverhaltens ist ein Kernstück der Ausbildung mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie. Es fördert die Selbstwahrnehmung der Ausbildungskandidaten in Bezug auf Eigenheiten des Kommunikationsstils und der Beziehungsgestaltung.
25
Die Ausbildungskandidaten haben im Rahmen dieses Trainings die Möglichkeit, durch Übungsgespräche und Rollenspiele mit Teilnehmern der Ausbildungsgruppe – ohne den Leistungsdruck, therapeutisch wirksam sein zu müssen – Erfahrungen mit ihrem eigenen therapeutischen Verhalten zu sammeln. Die Übungsgespräche und Rollenspiele werden dokumentiert, kommentiert und theoretisch reflektiert. Praktische Ausbildung mit Krankenbehandlung unter Supervision Im Rahmen der praktischen Ausbildung müssen mindestens 150 Stunden Supervision (davon 50 Stunden Einzelsupervision) nacheinander von 3 verschiedenen vom Ausbildungsinstitut anerkannten Supervisoren durchgeführt werden.
600
In den Fallsupervisionen werden die Ausbildungsteilnehmer bei ihren Krankenbehandlungen kontinuierlich begleitet. Die Fähigkeit, theoretisches Wissen umzusetzen, wird überprüft. Diagnostische und indikative Entscheidungen sowie das therapeutische Handeln bei Patienten mit verschiedenen Störungen werden reflektiert. Die Ausbildungsteilnehmer sollen sich mit ihren individuellen Kommunikations-, Handlungsund Beziehungsmustern auseinandersetzen, ihre Stärken und Schwächen wahrnehmen und für ihre eigene Abwehr sensibilisiert werden. Es müssen mindestens 15 Krankenbehandlungen vorgestellt werden. 5 Behandlungen müssen mindestens je 50 Sitzungen umfassen. Die Behandlungen müssen folgendermaßen dokumentiert werden: Anamnese, Diagnose, Genese der Störung aus gesprächspsychotherapeutischer Sicht, Therapieplanung, Prognose. Prä- und Posttest, Stundenprotokolle, Ton- oder Videoaufnahmen von den Sitzungen, Therapeut- und Patient-Begleitbögen zur Erfassung des Psychotherapieprozesses. Außerdem müssen Protokolle der Supervisionssitzungen angefertigt werden und der Einfluss der Supervision auf die Behandlung schriftlich reflektiert werden. Methodische Aspekte der Supervision: Supervision in der Gesprächspsychotherapie hat vorrangig die Unterstützung des Ausbildungsteilnehmers/der Ausbildungsteilnehmerin zum Ziel (»facilitative supervision«) und baut auf die Effektivität des Erfahrungslernens (»experiential supervision«) (7 Ausbildungskonzeption). Kasuistisch-technische Seminare, störungsspezifische Interventionen, Anamnese, Psychotherapieprozess Die Seminare dienen der Professionalisierung in Bezug auf die Behandlung unterschiedlicher Störungen. Es werden Fallbeispiele vorgestellt und theoretisch reflektiert. In Bezug auf Anamnese und Erstgespräch werden Übungen durchgeführt. Die Erstellung von Anträgen und Gutachten wird besprochen und geübt.
400
Literaturstudium, Referaterstellung, kollegiale Supervision Zu den in den Seminaren behandelten Themen wird Pflichtlektüre vorgegeben, die von den Teilnehmern zu bearbeiten ist. Zu einzelnen Themen müssen Referate erstellt und gehalten werden. Erwartet wird außerdem, dass die Teilnehmer in Kleingruppen theoretische Inhalte in der Diskussion vertiefen und kollegial Fälle supervidieren. Die Bedeutung der kollegialen Supervision im Rahmen der Ausbildung entspricht der personzentrierten Auffassung, dass das Vertrauen in die Aktualisierungstendenz die Entwicklung von Selbst- und Sozialkompetenz ermöglicht. Das bedeutet auch, dass es ein Ziel von Dozenten, Supervisoren und Lehrtherapeuten sein muss, ihre besondere Bedeutung für den Lernfortschritt der Teilnehmer zunehmend zurückzunehmen zugunsten einer wechselseitigen Förderung in der Gruppe. Im Rahmen der kollegialen Supervision sollen die Teilnehmer ohne Hilfe von Experten ihre Kompetenz weiterentwickeln: 5 Sich selbst zu reflektieren 5 Reflexionen offen den Gruppenmitgliedern mitzuteilen 5 Positive und negative Kritik anzunehmen 5 Sich gegenseitig fachlich zu unterstützen 5 Sich gegenseitig im Sinne des klientenzentrierten Beziehungsangebotes zu unterstützen 5 Eine Gruppenarbeit zu moderieren, dokumentieren und evaluieren
500
25
511 25.2 · Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG
. Tab. 25.1 (Fortsetzung) Fakultative Zusatzausbildung Gruppenpsychotherapie
300
Klientenzentrierte Selbsterfahrung in der Gruppe
100
Sozialpsychologie der Gruppe, Theorie der Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie Kontinuierliche gruppenpsychotherapeutische Tätigkeit
40 120
Supervision der gruppenpsychotherapeutischen Tätigkeit
40
Fakultative Zusatzausbildung in Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und Bezugspersonen mit personzentriertem Schwerpunkt
300
Theorie
50
5 Allgemeine historische und schulenübergreifende Aspekte der Kinder- und Jugendpsychotherapie
10
5 Theorie der psychologischen Diagnostik und Indikationsstellung bei Kindern und Jugendlichen
10
5 Psychosomatik und Psychopathologie der Kindes- und Jugendalters
10
5 Prozesse und Effekte personzentrierter Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen
10
5 Analyse des sozialen Umfelds, der Rahmenbedingungen für eine Behandlung. Kooperationsmöglichkeiten und -notwendigkeiten
10
Praxis
150
5 Praktisches Training in kinderpsychotherapeutischer – insbesondere spieltherapeutischer Methodik
50
5 Durchführung einer Langzeit u. zweier Kurzzeitbehandlungen mit Kindern oder Jugendlichen oder 2 Langzeitbehandlungen unter Supervision
100
Supervision der kindertherapeutischen Praxis
40
Themenzentrierte Selbsterfahrung
60
25.2.4
Organisation und Durchführung der Ausbildung
Gruppengrößen Die Theorieseminare umfassen 16 Teilnehmer, in den praktischen Seminaren, Trainings und Selbsterfahrungskursen wird in Gruppen mit 8 Teilnehmern gearbeitet. Die Supervision erfolgt in Vierergruppen. Die Grundausbildung wird möglichst so organisiert, dass die 16 Teilnehmer einer Ausbildungsgruppe die Ausbildung in ein und derselben Gruppe absolvieren können. Auf diese Weise entsteht in der Regel ein Lernklima, das die Verwirklichung der o. g. humanistisch-pädagogischen Ziele am ehesten ermöglicht.
2.
3.
4.
Zulassung 1. Die Bewerber stellen an das Lehrinstitut einen schriftlichen Antrag auf Zulassung, der folgende Unterlagen enthält:
5.
5 Tabellarischer Lebenslauf 5 Motivationsbericht 5 Kopie des Diplomzeugnisses bzw. Äquivalenzbescheinigung durch die Aufsichtsbehörde Die Bewerber führen mit zwei Mitgliedern des Ausbildungsausschusses des Instituts je ein Eignungsinterview durch, nach denen über die Zulassung entschieden wird. Eine erfolgte Zulassung bezieht sich auf die Ausbildungsteile, die bis zur Zwischenprüfung absolviert werden. Im Ausbildungsvertrag verpflichten sich die Bewerber, die Ausbildungsordnung, die Lehrpläne und die Durchführungsbestimmungen des Ausbildungsausschusses bzw. der Institutsleitung anzuerkennen. Nach der Zwischenprüfung kann auf Antrag die Fortsetzung der Ausbildung mit Praxis und Patientenbehandlung unter Supervision erfolgen. Das Ausbildungsinstitut entscheidet, ob dem Antrag stattgegeben wird.
512
25
Kapitel 25 · Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie
Prüfungen
Das Lehrpersonal
1. Nach der Hälfte der Ausbildungszeit (Vollzeitausbildung mindestens 1,5 Jahre, berufsbegleitende Ausbildung mindestens 2,5 Jahre bzw. ca. 2200 Ausbildungsstunden) wird eine Zwischenprüfung abgelegt. Vor der Zwischenprüfung müssen folgende Ausbildungsteile absolviert sein: 5 Theoretische Grundausbildung (200 Stunden) 5 50% der Selbsterfahrung (120 Stunden) 5 Das Training therapeutischen Basisverhaltens (280 Stunden) 5 50% des Eigenstudiums (Literaturstudium, Referatserstellung) (250 Stunden) 5 50% der praktischen klinischen Tätigkeit (900 Stunden) Die Prüfung erfolgt nach der Prüfungsordnung des Ausbildungsinstituts. 2. Die Abschlussprüfung erfolgt nach den staatlichen Bestimmungen und umfasst: 5 Schriftliche Prüfung (120 Minuten) 5 Mündliche Einzelprüfung (30 Minuten) 5 Mündliche Gruppenprüfung (120 Minuten) 3. Die Zulassung zur staatlichen Abschlussprüfung erfolgt durch die Prüfungskommission des Ausbildungsinstituts. Voraussetzungen zur Zulassung sind: 5 Bestätigung der Zulassung durch das Ausbildungsinstitut 5 Eine schriftliche Hausarbeit 5 6 dokumentierte und kommentierte Falldarstellungen von im Rahmen der Ausbildung supervidierten und abgeschlossenen Psychotherapien mit Patienten mit unterschiedlichen Störungen 5 Eine Selbstreflexion über die persönliche und fachliche Entwicklung
Die Ausbildung wird von Dozenten und Supervisoren durchgeführt, die die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen erfüllen und die vom Ausbildungsinstitut und der aufsichtsführenden Behörde anerkannt sind.
Nach bestandener Abschlussprüfung kann die Approbation beantragt werden.
Kosten Die Kosten entsprechen den Ausbildungsgebühren der jeweiligen Ausbildungsinstitute.
513
A–B
Sachverzeichnis A Abstraktionsebene 133–135, 418 Abwehr 94, 98, 114 – Definition 103 Abwehrmechanismen 157 Affekt – Angemessenheit 80 – Bedeutung für den empathischen Kontakt 77 – organische Veränderungen 395, 396 Affektwahrnehmung, Verbesserung 401, 404 Aggressivität 420 Akkommodationsprozess 341 Aktualisierungstendenz 39–44, 69, 96, 97, 306, 450, 457 – als allgemeines Lebensprinzip 54 – Autopoiese 53 – Definition 39, 40, 93 – Entfalten 41, 42 – Erhalten 41, 42, 69 – Familie 430 – Gruppe 417, 418 – als Motiv 54, 55 – operationale Abgeschlossenheit 53 – Selbstorganisation 43–50 – strukturelle Koppelung 51, 53 – therapeutisches Handeln 56, 57 Aktualkonflikt 397 Akzentuieren 354 Akzeptanzproblem 85 Alkoholabhängigkeit 453 Allgemeines Modell von Psychotherapie 211, 212 Anerkennungsbedürfnis 340 Angehörigenarbeit 321, 405
Angst 395, 397, 453, 467 – durch Inkongruenz 108, 109 – panische 461 Annäherungsmuster 342 Anpassungsstörungen – Formen 462 – Gesprächspsychotherapie 461, 462 Ansprechbarkeit 194, 196 Äquifinalität 50 Äquivalenzparadoxon 270, 420 Assimilationsprozess 341 Aufmerksamkeit 230 – Lenkung 343 – Zentrierung 229, 231, 232 Ausbildung, Gesprächspsychotherapie 503–508 Autonomie 143 Autopoiese 51, 53
B Balintgruppe 284 Beachtung, positive 7 Bedingungsfreie Positive Beachtung Bedeutungsarbeit 446 Bedingungsfreie Positive Beachtung 76, 77, 96–99, 105, 120–122, 340, 388 – Abweichungen 367 – Ansprechbarkeit des Patienten 196 – Bedürfnis 62, 108, 222 – beeinträchtigte 224 – Beratung 340 – Definition 121, 222, 223 – Kinderpsychotherapie 317, 318 – Kommunikation 318 – PET 447 – Selbstaktualisierung 310
– Umsetzungsprobleme 122, 123 – Wahrnehmung durch den Patienten 129, 132 – Wahrnehmung durch den Therapeuten 289 Behandlung… 7 Therapie… Behandlungsabschluss 258–260 Behandlungsdauer 158 Behandlungsergebnis 256 Behandlungsleitlinien 263–265, 461–482 – Anpassungsstörungen 462–464 – Bulimia nervosa 470–482 Behandlungsprobleme 260–262 Behandlungsunterbrechung 261 Behandlungsverlauf 249–258 Behaviorismus 29 Belastungsreaktion – akute 379, 461 – posttraumatische 97, 379, 380 Belastungsstörung, posttraumatische 397, 461, 462 Berater, Selbstmitteilung 366 Beratung – Alltagshandeln 333, 334 – Anfangsphase 350–357 – Anlass 350 – anthropologisches Paradigma 340 – Aufgaben 344–346, 349 – Äußerungen – – mit Selbstbezug 360 – – ohne Selbstbezug 360 – – prozessbezogene 358 – Bedingungslogik 360 – Definition 335 – Dringlichkeit 350 – Ethik 338, 339 – Genderaspekte 337, 338 – Gesprächsstrukturierung 349–351
514
Sachverzeichnis
Beratung – Hindernis 369 – Indikationen 346–348, 350 – interkulturelle 349 – Interventionen 348, 349, 357, 361, 365 – Klientel 345 – Konfrontation 365 – Konsequenzen 369 – kontextbestimmte 336, 369 – Kontraindikationen 346, 347 – Kosten 350 – Kulturspezifität 337 – Mittelphase 357–368 – personzentrierte 333–372 – präventive Funktion 346 – professionelle 333–339 – Rahmenbedingungen 350 – Schlussphase 368–370 – Umfeld 336 – Unterschied zur Psychotherapie 335 – Vertraulichkeit 350 – Widerstand 367, 368 – Zeitperspektive 369 – Zwischenbilanzierung 369 Beratungsanliegen 369 Beratungsbedürfnis 334, 369 Beratungsbeziehung 344, 353 Beratungserfahrung 366, 367 Beratungsfelder 349 Beratungsfertigkeiten 353, 354, 360 Beratungskompetenz 335 Beratungsprozess 350, 351 – Evaluation 369 Beratungssetting 347, 348 Beratungssitzung, Beenden 368, 369 Beratungsziel, individuelles 350 Bewältigung, Entwicklungsaufgabe 55, 56 Bewältigungsmethoden 52 Bewältigungsstrategien 157, 342, 344 Bewertung, implizite 362 Bewertungsschema 457 Bewunderung, hinderliche 226
Bewusstsein, Definition 61 Bewusstseinsfundamentalismus 63 Bewusstseinsmodell, von Prinz 63, 64 Bewusstseinsnaturalismus 63 Beziehung, therapeutische 7, 17, 119, 130–132, 219–226, 418, 445, 447 – Abstraktionsebenen 227 – Beitrag des Patienten 226 – Fragebogen 276, 277 – Reflexion 288, 289 – Störung 261 Beziehungsangebot, therapeutisches 130, 135, 194, 195, 219–226, 316–321, 419 Beziehungsdialog 446 Beziehungserfahrung 312 Beziehungserwartung 215 – Persistenz 262 Beziehungsfähigkeit 147 Beziehungsform 134 Beziehungskonzept 426, 427 Beziehungsproblem 452 Beziehungsstörungen 110 Beziehungszufriedenheit 276 Bielefelder Fragebogen zu Klientenerwartungen 205 Bielefelder Klienten-Erfahrungsbogen 276 Bindung 157 – Charakteristika 83 – Definition 103 Bindungsbedürfnis 83, 313 Bindungsforschung 314 Bindungsmuster 83–85 – ablehnend-distanziertes 85 – ängstlich-ambivalentes 84 – anklammernd-verwickeltes 85 – desorganisiertes 85, 313 – sicheres 84, 313 – unsicher-ambivalentes 313, 466 – unsicher-vermeidendes 84, 313, 465 Bindungsperson 84
– Bindungsverhalten 84 – Zugänglichkeit 84 Bindungsstil 205, 313 Bindungstheorie 82–86, 115, 132, 313 Bindungsverhalten 465 Borderline-Persönlichkeitsstörung 112, 215, 453 Brief Symptom Inventory 279 Bulimia nervosa 421 – Ätiologie 467, 468 – Behandlungsleitlinien 470–482 – Charakteristika 465 – Diagnostik 464 – Hauptmerkmale 464 – Prävalenz 464 – Risikofaktoren 468
C Chaostheorie 374, 375 Coaching 349 Compliance 20 Consulting 348 Coping 336
D Delir 394 Demenz 394 Denken – egozentrisches 314–316 – magisches 314–316 Depression 453, 466 – nach Herzinfarkt 404 Determinismus 45 Diagnostik 101, 115, 151–157, 204, 206, 302, 303 – interdisziplinäre 303 Dialog, imaginierter 365 Differenzielles Inkongruenzmodell 457–460 Diskontinuität 387 dissipative Struktur 53
515 Sachverzeichnis
E Echtheit 120 Effektanzgefühl 81 Effektivität, Definition 268 Effektstärke 270, 272 Effizienz, Definition 268 Egozentrismus 314–316 – Definition 315 Eigenständigkeit 52 Eigenverantwortlichkeit, Patient 20 Eigenwartegruppe 269 Einzelberatung 347, 348 Elternarbeit 321 Elternberatung 303, 349 Emotion – Bedeutung 341 – bewusstes Erfassen 362 – Definition 343 – Funktion 343 – Prozesstheorie 342 – Wahrnehmung 395, 401, 404 Emotionsforschung 341, 342 Emotionsprozess 341, 342, 345, 362 Emotionsschema 342, 441–443 Emotionstheorie 441, 447 Empathie 126, 127, 220 – Definition 126, 220 – Mangel 455 Empathiefähigkeit 221 Empathisches Verstehen 125–127, 129, 431, 455, 456 – Bedingungen 220, 221 – Definition 318 – Kinderpsychotherapie 318 – Wirkung 221, 237 Empfindung, sinnliche, Bewusstwerden 363 Empowerment 336 Encounter-Gruppe 415, 416 Entfaltung 41, 42 Entropie 46 Entscheidung, Legitimation 360 Entwicklung, psychosoziale 308, 309
Entwicklungsaufgabe 55 Entwicklungslehre, klientenzentrierte 7 Klientenzentrierte Entwicklungslehre Entwicklungsprozess 50 – therapeutischer 16 Entwicklungspsychologie 55, 306–316 – Selbst 76 Entwicklungsziel 143 EPD 101 Erfahrung – Bewertung 60, 96, 99 – Bewusstwerden 75, 96 – Definition 58 – emotionale, Exploration 362 – Integration 96 – im Klientenzentrierten Konzept 58–60, 435 – Kongruenz mit Selbst 70, 87, 88, 95 – Reflexion 75, 363 – Verzerrung 114 Erfahrungsbereich 59 Erfahrungsoffenheit 143 Erfolgszufriedenheit 276 Erhaltung 41, 42 Erleben – Beschreibung 358 – Integration 307 – thematische Strukturierung 5 Erlebensprozess, aktueller 361 Erlebnisinhalte, emotionale – Reflektieren 319 – Verbalisierung 227, 229, 234, 235, 275, 358 Erlebnisverarbeitung 447 Erziehungsberatung 349 Essprotokoll 474 Essstörung 453 – 7 Bulimia nervosa Evaluation 342 Experiencing 128, 234, 435, 436 – Definition 436 Experiencing-Skala 274, 275 Expertenwissen 16, 18 Explorationssystem 83 Externalität 466
B–G
F Fachpsychotherapie 6 facilitator 289–291 Fallbesprechung 287 Familienaktualisierungstendenz 430 Familienberatung 349 Familienkonferenz 429 Familientherapie 303, 429–434 – Definition 429 – Interaktionen 432 – klientenzentrierte 429 FBL-R 278 Feedback geben 361, 364, 370 – Definition 364 Feelings, Reactions and Beliefs Survey 280 Felt Sense 436–438 Flash-back 380 Focusing 234, 365, 435–439 – Definition 437 – erlebnisorientiertes 446 – Methodik 437, 438 Fokalisierung 89 Forschung, psychologische 14–17 FPI-R 279 Frage – geschlossene 354 – offene 354 FRBS 205, 280 Freiburger Beschwerdenliste 278 Freiburger Persönlichkeitsinventar 279 Fremdbedingtheit 47
G GBB 278 Gedächtnis 58 Gefühl – 7 Emotion 343 – aktiver Ausdruck 363 – Bedeutung 341
516
Sachverzeichnis
Gefühlsansteckung 220 Gegenübertragung 110 Geschlechtsidentität 310 Gesprächspsychotherapeut 7 Psychotherapeut Gesprächspsychotherapie – 7 Psychotherapie – Ablauf 198 – Aufnahmetechnik 18 – Aus- und Weiterbildung 503–508 – Behandlungsabschluss 258–260 – Behandlungsergebnis 256 – Behandlungsleitlinien 263–265, 461–482 – Behandlungsmodell 229 – Behandlungsprobleme 260–262 – Beziehungsebenen 227 – Curriculum 508–511 – Definition 9 – differenzielle Wirkung 271, 272 – Durchführung 399–407 – Fachverbände 503, 504 – Focusing 438 – geschichtliche Entwicklung 14–17 – Handlungsregeln 229–239 – Handlungsrichtlinien 56 – Indikation 188–217, 393, 394, 448, 453 – Indikationsgespräch 188–191 – Intervention 57, 228 – Kongruenz im therapeutischen Prozess 71 – Kontraindikation 202 – bei körperlich Kranken 393–407 – Krankheitslehre 93–116 – Langzeitwirkung 272 – Manuale 263–265 – Paradigma 33 – Prä-Post-Vergleich 278 – Prognose 191 – prozessorientiert 104 – Prüfung 512 – psychische Entwicklung 73
– psychologische Forschung 14–17 – Selbstkonzept 76, 77, 155 – Sitzposition 189 – stationäre 409–414 – bei Sterbenden 393–407 – störungsbezogenes Konzept 449–456 – störungsspezifisches Vorgehen 263, 265 – Supervision 262 – Testdiagnostik 204 – therapeutische Praxis 14–17 – Therapieprotokoll 239–248 – Therapieziel 144, 145 – Vergleich mit anderen Therapieverfahren 271 – Verlauf 249–258 – Wirksamkeit 267–273, 412, 413 – Wirksamkeitsnachweis 21, 23, 24 – Wirkung 131, 132 – Ziele 71, 139–148 – zielorientierte 106 Gestaltpsychologie 47 Gesundheit – psychische 9, 100, 101 – seelische 94 Gesundheitsberatung 349 ghosting 432 Giessener Beschwerdebogen 278 Gießen-Test 279 Gruppe – bewusstseinserweiternde 416 – Beziehungserfahrungen 417 – Kohäsion 7 – Spiegel des Selbsterlebens 417 – störungshomogene 24 – Verhaltensbewertung 7 Gruppenberatung 348 Gruppenerfahrungsbogen 276 Gruppenkohäsion 417 Gruppenprozess 417, 418 Gruppensupervision 286 Gruppentherapie 198–200, 271, 411, 415–421
– Bedingungsfreie Positive Beachtung 418 – Empathisches Verstehen 418 – Geschichte 415, 416 – Indikationen 420, 421 – Kongruenz 418 – Unterschiede zur Einzeltherapie 417, 418 – Wirksamkeit 420 Gültigkeitsbereich, Theorie 45
H Handeln, therapeutisches 7 therapeutisches Handeln Handlungsanleitung 361, 365 Handlungsbereitschaft 342 Handlungskompetenz 60, 345 Handlungsregeln, therapeutische 229–239 Handlungsrichtlinien 56 Handlungsregulation 49 Handlungsschema 457 Handlungssteuerung 67 Helping Alliance Questionaire 276 Herzinfarkt, Depression 404 Hilfe zur Selbsthilfe 334 Hilfe, soziale 334 Hilflosigkeit 379 Hoffnung 383 Hyperzyklen 53
I ICD-10-Diagnostik 151, 152, 154, 155, 205, 206 Ich 65, 66 Ich-Ideal 115 Identifizierung, projektive 110, 111 Identitätsentwicklung 308, 309 IIP-D 281 Impulskontrolle, Stabilisierung 158
517 Sachverzeichnis
Indikation – Definition 153 – differenzielle 153, 154, 211–216 Indikationsgespräch – Eingangssituation 190 – Gestaltung 188–191 – inhaltliche Strukturierung 190 – Räumlichkeit 189 – Sitzposition 189 – zeitliche Strukturierung 190 Indikationsinterview 159–188 Indikationsstellung 149–217 – differenzielle 211–216 informed consent 197 Initiative 89 INK 279 Inkongruenz 103, 104, 124, 223, 225, 229 – Angst 108, 109 – Definition 87, 94, 107, 119, 223, 458 – Entstehung 458, 459 – extreme 376, 387 – Familie 431 – Formen 458 – Grundlagen 96–99 – Indikation zur Gesprächspsychotherapie 191 – bei Krankheitsbewältigung 396, 397, 404 – Krise 375 – primäre 107, 224, 225, 469 – Psychopathologie 458 – reaktive 224, 225 – sekundäre 107, 224, 225, 469 – Selbst und Erfahrung 70, 71, 87, 88, 95, 119 – Wahrnehmung 193 Inkongruenzanalyse 459, 460 Inkongruenzfragebogen 279 Inkongruenzmodell, differenzielles 457–460 Innerer Bezugsrahmen 125, 128, 221, 233 – Definition 125, 221 – in der Krise 380
Inneres Arbeitsmodell 84–86 – Stabilität 86 Instantiierungsbeziehung 63 Interaktion, in der Psychotherapie 2, 3, 274–276 Interaktionsbedingungen, angstfreie 289 Interaktionserfahrung, Repräsentanz 79, 84, 308 Interaktionsresonanz 317 Inter-Attentionalität 308 intergenerational echoing 432 Interpersonal Process Recall 287 interpersonales Verhalten 291, 292 Intervention 57 – 7 Krisenintervention – konfrontierende 228 – therapeutische 130, 228, 238, 446 – Zurückweisung 238 – strukturierte 447 Interventionsregeln 231, 235, 236, 238 Intervision 283, 387 Intimitätsmuster 465 Intrusion 97, 380 Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme 281 IPR 287
J joining 430
K KASSL 279 Katamnese 257, 278 Katastrophenbelastung 377 Kernbatterie 281 Kernselbst 79, 307 Kieler änderungssensitive Symptomliste 279
G–K
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 295–332 – Diagnostik 302, 303 – Fragestellungen 301, 302 – Ziele 302, 304 Kinderpsychotherapeut 305 Kinderpsychotherapie – Grenzen setzen 320 – klientenzentrierte 298–301 – Rollenspiel 320 Klient 20 Klientenzentrierte Entwicklungslehre 73–91 Klientenzentrierte Gruppenpsychotherapie 415–421 Klientenzentrierte Kinderpsychotherapie 298–301 – Beziehungsangebot 316–321 Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie 37–72 Klientenzentrierte Psychotherapie, Entwicklungsziele 143 Klientenzentrierte Spieltherapie und Familientherapie 429, 433, 434 Klientenzentrierte Spieltherapie 296–301 Klientenzentrierte Therapietheorie 7 Therapietheorie, klientenzentrierte Klientenzentriertes Konzept 11–34 – Behandlung von Anpassungsstörungen 462–464 – Bindungstheorie 115 – Einführung in Deutschland 34 – Empathisches Verstehen 126 – Entwicklungspsychologie 306 – Erfahrung 58–60, 435 – Familientherapie 429–434 – Menschenbild 27, 32 – Organismus 38, 39 – Paartherapie 423–427 – Selbst 64–71 – Selbstkonzept 86 – Supervision 284, 285, 288 – systematische Darstellung 26, 27
518
Sachverzeichnis
Klientenzentriertes Konzept – Taxonomie 226–228 – Theorie 25, 26, 418, 419 – Therapieziele 139–148 – Übertragung auf andere Anwendungsbereiche 25, 26 – Unbewusstes 59 – Vergleichbarkeit mit psychodynamischen Konzepten 155 Klima, psychologisches 117 Kognitionspsychologie 62, 67 Kohäsion, Gruppe 7 Kommunikation – Definition 102 – offene 365 – Psychotherapie 2, 6, 7, 10 Kommunikationsfähigkeit 157 konfrontieren 365 Kongruenz 223, 230, 447 – beeinträchtigte (7 Inkongruenz) 124, 225 – Definition 223, 319 – Kinderpsychotherapie 319, 320 – Selbst und Erfahrung 70, 71, 87, 88, 95 – therapeutische Beziehung 119, 120, 223, 224 Kongruenzdynamik 458 Konsiliardienst, psychotherapeutischer 411 Konstriktion 97, 380 Kontakt, psychologischer 118, 119 Kontaktfähigkeit 147 Kontraindikation – Begründung 202 – Definition 153 Kontrollgruppe 268–270 Konzeptlernen 60 Koppelung, strukturelle 51 Körpermetapher 380 Körperwahrnehmung – gestörte 466 – Verbesserung 401, 404 Kränkbarkeit 454, 455 Krankheit – Definition 5, 6, 144
Krankheitsbegriff 5, 6, 144 Krankheitsbewältigung 396, 397, 404 Krankheitslehre 93–116, 451 Krise 373–391 – akute 260, 375 – Auslöser 376, 377 – Chance 387–389 – Definition 375, 376 – Inkongruenz 375 – Innerer Bezugsrahmen 380 – Lebensveränderung 377 – psychosoziale 374 – somatische Beschwerden 380 – traumatische 377–379 – Zuspitzung 389 Krisenbehandlung 382–387 Krisenforschung 373, 374 Krisenintervention 373–391 – klientenzentrierte 373 – Stufen 374 – telefonische 382, 383 Krisentheorie 374, 375
L Langzeittherapie 264 Laufbahnberatung 364 Lebensereignis – kritisches 377, 37 – traumatisches 459, 461, 462 Lebenskrise 7 Krise Lebensplan 457 Lebensveränderungskrise 377 Lerntheorie 31 – behavioristische 30
M Macht 31 magisches Denken 314 Mechanik, klassische 45
Menschenbild – bei Freud 29 – Klientenzentriertes Konzept 27, 32 Metakommunikation 361, 366, 367 Metapher 366, 380 Mich 66 Microtraining 288 Misserfolg, therapeutischer 213 Mitschwingen, einfühlendes 319 Mitteilungen, paraverbale 129 Modell 33 Monitorsystem, Organismus 58 Motiv, Definition 54 Motivationsarbeit 411 Mutter-Kind-Beziehung 311, 312, 314 Mutualität 110
N NEO-Fünf-Faktoren-Inventar 280 Neunter-Monats-Wunder 80 Neurose 113 Nicht-Direktivität 13, 21, 22, 122, 229, 230, 320 – PET 447 Notfallintervention 384, 385
O Objektivität, in der Therapie 17 Objektpermanenz 314, 315 – Definition 315 Objektwahrnehmung 157 – Definition 103 Offenheit 120 Öffnungsbereitschaft 85 Ohnmachtsgefühl 388 OPD 115 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 101, 115
519 Sachverzeichnis
Ordnung – fremdbedingte 47 – natürliche 47 Organismus – Definition 3 – Entfaltung 41, 4 – Erhalten 41, 4 – Funktionsfähigkeit 5 – Kennzeichen 3 – Monitorsystem 5 – Wachstum 41
P Paartherapie 423–427 – Definition 423 – klientenzentrierte 426, 427 – Strategie 426 Paradigma – Definition 32 – Funktion 32 – Kennzeichen 33 Paraphrasieren 354 Partnerschaftsberatung 349 Passung – Behandlungsmodell–Störung des Patienten 212 – Patient–Behandlungsmodell 212, 214, 215 – Therapeut–Patient 212–214 – Therapeut–Störung des Patienten 212, 214, 215 Patient 101, 102 – akute psychosoziale Veränderungen 260 – Eigenverantwortlichkeit 20 – innere Welt 128, 129 – Innerer Bezugsrahmen 125, 128 – neurotischer 113 – Selbstauseinandersetzung 274 Patientenaufklärung 197 Patientengruppe 7 Gruppe Patientenschutz 294 Person, funktionsfähige 99, 100
Personalassessment 364 Personenbewertung 60 Persönlichkeit, Definition 38 Persönlichkeitsaspekte, spezifische 205 Persönlichkeitsdynamik 14, 38 Persönlichkeitskonzept 427 Persönlichkeitsmerkmale, Veränderungen 282 Persönlichkeitspsychologie 38 Persönlichkeitsstörung 467 – narzisstische 453–455 – Definition 5 Persönlichkeitsstruktur, Veränderung 4, 140, 142 Persönlichkeitstheorie 17 – klientenzentrierte 7 Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie Persönlichkeitswachstum 306 Perzeption – amodale 307 – physiognomische 307 Placebo 7, 268 Posttestung 204 posttraumatische Belastungsreaktion 97, 379, 380 posttraumatische Belastungsstörung 397, 461, 462 Prädiktoren 153, 158 Prä-Post-Vergleich 278 präsuizidales Syndrom 390 Probetherapie 58, 195, 196 Problemaktualisierung 451 Problembewältigung 71 Problembewältigungsressourcen 362 Problemkind, Behandlung 17, 18 Problemlösung 60, 355 Problemlösungsprozess 319 Prognose – Definition 153 – diagnostische Kriterien 156 – Differenzierung 153 – Gesprächspsychotherapie 191 – Psychotherapie 152, 153
K–P
Prozess – diagnostischer 302, 30 – emotionaler 443, 44 – kognitiver 6 – psychischer, Qualität 5 – – unbewusster 6 – therapeutischer 118, 131, 219–266, 431, 432 – – interpersoneller 431 – – intrapersoneller 431 – – Messinstrumente 269 – – Messung 273 – – Überprüfung 277 – – Ziel 145 Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie 441–448 Prozesskontinuum 101 Psychoanalyse 73, 74, 114 Psychoedukation 399, 406 Psychologie – Klinische 14, 49 – Selbstorganisation 44, 45, 49 Psychologischer Psychotherapeut 6, 504 Psychotherapeut – Abneigung gegenüber dem Patienten 124 – akute psychosoziale Veränderungen 261 – Ausbildung 18, 26 – Beziehung zum Patienten 7, 20, 21, 119, 130–132, 233 – Beziehungsqualitäten 286 – effizientes Verhalten 17 – interpersonelle Fähigkeiten 286 – Kongruenz 119, 120, 223, 224, 230, 431 – psychoanalytischer 214 – psychologischer 6, 504 – Reflexionsvermögen 3, 4 – Respekt gegenüber dem Patienten 17 – Selbsterfahrung 120 – Selbsterleben 231 – Selbstreflexion 225, 285 – Verstehen des eigenen Selbst 17, 18
520
Sachverzeichnis
Psychotherapeut – Wahrnehmung durch den Patienten 2 Psychotherapeutengesetz 6 Psychotherapie – Anwendungsbereiche 149–152 – aufsuchende 412, 413 – als bewusster Prozess 3, 4 – Definition 1, 2, 141, 449 – Diagnostik 152–157, 302, 303 – erkenntnistheoretische Aspekte 13, 14 – Gesprächsaufnahme 18 – Indikation 5, 149–151, 188–217, 398 – als interaktioneller Prozess 2, 3, 10 – Kommunikation 2, 6, 7, 10 – Kontraindikation 153, 202 – körperliche Behinderung 394 – Lebensalter 150 – lehrbare Techniken 8 – Motivation 2 – nicht-direktive 13, 21, 22 – notwendige und hinreichende Bedingungen 9, 118–130, 430, 431 – Prinzipien 449, 450 – Prognose 152, 153 – Prozess-erlebnisorientierte 105, 106, 441–448 – im Rahmen der GKV 150, 151 – Theorie 5, 6, 8, 13, 18, 19 – therapeutenzentrierte 20 – Wirksamkeit 50, 267–273 – Wirksamkeitsstudien 268–272 – Wirkung, differenzielle 272 – Wirkungsweise 117 – Ziele 4, 5, 399, 423, 450 Psychotherapieforschung 18, 23, 269
Q Qualitätskontrolle 273, 277 Qualitätssicherung 273, 286
R Reaktanz 43 Realraum 421 reflective functioning 233 Reflexion des Dazwischen 432 Reflexionskompetenz 345 Repräsentanz, Interaktionserfahrungen 79, 308 Repräsentation – seiner selbst 58 – der Welt 58 Representations of Interactions Generalised 79 Ressourcen 369 – Aktivierung 345, 451 – persönliche 344 – Problembewältigung 362 – soziale 344, 364, 365 Reversibilität 45 Rewiring 4 RIG 79 Rogers – Aktualisierungstendenz 39–41, 54, 93, 94, 98, 450, 457 – Entwicklung der Gesprächspsychotherapie 14–32 – Erfahrung 59 – Kinderpsychotherapie 296–298 – notwendige und hinreichende Bedingungen für therapeutische Veränderungen 9, 118–130, 430, 431 – Persönlichkeitstheorie 37 – positive Selbstbeachtung 86, 87 – psychologischer Kontakt 119 – psychotherapeutischer Prozess 452 – Selbst 54, 65 – Selbstbegriff 427 – Theorie der Therapie 423, 424 – therapeutische Veränderungen 140, 141 – therapeutischer Prozess 131, 132
– Therapieziele 139, 140 – Wahrnehmung 64 Rollenspiel 365 – Kinderpsychotherapie 320 Rückzugsverhalten, soziales 420
S Säugling, kompetenter 307 Schema, emotionales 342, 441–443 Schematheorie 427 Schizophrenie, paranoide 453 Schülerberatung 349 Schweigen 364 SCL-90-R 278 Seelsorge 349 Selbst 64–71, 75 – aktuelles 67 – auftauchendes 307 – Definition 65 – Definition 68, 76 – emotionale Funktion 67 – erwartetes 67 – Funktion 67, 68 – handlungssteuernde Funktion 67 – ideales 67 – interaktionistische Konzeption 341 – Kongruenz mit Erfahrung 70, 87, 88, 95 – Konstruktion 340, 341 – konstruktive Veränderungen 71 – narratives 81 – als Objekt 66 – Phänomenologie 65, 66, 125 – Struktur 457 – strukturierende Funktion 67 – Strukturmerkmale 156 – als Subjekt 66 – subjektives 80, 307, 308 – verbales 81, 307, 308 – Zusammenbruch 109 Selbstablehnung 450
521 Sachverzeichnis
Selbstaktualisierung 69, 75, 95, 308–311, 375, 380, 430 Selbstannahme 450 Selbstauseinandersetzung, Patient 274 Selbstbeachtung, positive 86, 87, 98 Selbstbehauptungstendenz 87 Selbstbestätigung 89 Selbstbestimmung 143 Selbstbild, doppeltes 453 Selbsteinbringen 320 Selbstempfindung – auftauchende 78 – Entwicklung 307 – Formen 307 – subjektive 89, 108, 112 Selbstentwicklung 74, 75 – frühkindliche 88, 89 Selbstentwicklungstendenz 96, 97 Selbstentzweiung 7 Inkongruenz Selbsterfahrung 75, 121, 359 – bewusstseinsfähige 77 – Definition 75 – Integration 76, 77, 79, 90, 107, 360 – – gestörte 376 – Prozess 77, 78 – Repräsentanz 114, 115 – subjektive 107 Selbsterfahrungsgruppe 416 Selbsterhaltungstendenz 86, 87, 96, 97 – Definition 99 Selbsterleben 231 Selbstexploration 105, 156, 194, 227, 232, 233, 344, 362, 365 – Ausmaß 232, 275 – Definition 232 – Förderung 356–368 – Gruppentherapie 418 – Skala (SE) 275 Selbstherstellung 7 Autopoiese Selbsthilfe 334 Selbsthilfeberatung 349 Selbsthilfegruppe 416 Selbstkonfiguration 366 Selbstkonstanz 90
Selbstkonzept 65, 74, 75, 86, 155, 233, 310, 341, 419, 457 – Bewertungsbedingungen 87, 98 – Diagnose 155 – Entwicklung 88–91 – Entwicklungsbedingungen 77 – Entwicklungsphasen 107 – Entwicklungsstörungen 110–113 – gestörtes 465, 466 – Integration 74, 76, 77, 79, 96, 107, 360, 375 – – gestörte 376 – Stabilität 82 – Veränderungen 141, 142, 427 Selbstmordgefahr 389, 390 Selbstorganisation 41, 43–50 – in der Naturwissenschaft 49, 50 – in der Psychologie 44, 45 selbstreferenzielles System 51 Selbstreflexion 418 Selbstreflexivität 156 Selbstregulation 28, 108 – dynamische 48 – gestörte 452 Selbstrepräsentanz 76 Selbstschema, doppeltes 453 Selbststeuerung 157 – Definition 102 Selbststruktur 65, 75 Selbstübereinstimmung 7 Kongruenz Selbst-Umwelt-System 340 Selbstverantwortung 143 Selbstvertrauen 143 Selbstwahrnehmung 65, 74, 86, 102, 156 – beeinträchtigte 124 – Veränderung 140 – Verbesserung 345 Selbstzweifel 454, 455, 480 Sensitivität 279 Setting – stationäres 410, 411 – therapeutisches 158, 447 Situationsbewertung 342 social referencing 308 Sokratische Methode 287
P–S
Sozialisation, primäre 457 Sozialpsychologie, Selbstorganisation 49 Sozialverhalten, gestörtes 462 Spieltherapie – klientenzentrierte 296–301, 429, 433, 434 – nondirektive 299 Sprache, mehrdeutige 12 Stabilisierung, emotionale 398 Sterbevorgang 395 Störung – posttraumatische 379 – schwere 410 – somatoforme 453 – frühe 110–112 – kognitive 394 – organische affektive 393 – psychische 141, 347 – Psychotherapie-indikative 149, 216 Streitsucht 420, 421 Struktur, dissipative 53 Stundenbogen 275 Subjektivität, wissenschaftliche Fragestellung 31 Suchtberatung 349 Suchterkrankung 420 Suizidalität 389, 390, 410 Suizidphantasie 390 Supervision 273, 283–293 – in der Ausbildung 18 – Dauer 287 – Definition 283, 284 – Effekte 286 – Formen 286 – Frequenz 287 – Herstellung angstfreier Interaktionsbedingungen 289 – klientenzentrierte 288 – kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierte 285 – kollegiale 286 – Modelle 284 – psychoanalytisch orientierte 284 – Reflexion der therapeutischen Beziehung 289
522
Sachverzeichnis
Supervision – Rollenmodelle 285 – Rollenspiel 292 Supervisionsforschung 286 Supervisionsgruppe 290 Supervisor 290, 291 – Aufgaben 285 – Funktion 284 Symbolisierung 61–63, 74 – inhaltliche Vollständigkeit 61 – Qualität 61 – unvollständige 62, 452 – verzerrte 61, 62 – vollständige 61 Sympathie 123, 124 Symptom-Checkliste 205, 278 Symptomminimalisierung 10, 142 Synchronizität 314 Synergetik 53 System – autopoietisches 5 – bewertendes 5 – selbstreferenzielles 51 Systemtheorie 7 – allgemeine 51
T Tabuisierung 394, 395, 401 Tagebuch 474 Teamsupervision 286 Testdiagnostik 204 Theorie, Gültigkeitsbereich 45 Therapeut 7 Psychotherapeut Therapeutenverhalten 22 – Aktualisierungstendenz 56 – effizientes 17 – Grenzen 22 – Richtlinien 22 therapeutische Beziehung 7, 119, 130–132, 219–226, 418, 445, 447 – Abstraktionsebenen 227 – Beitrag des Patienten 226 – Fragebogen 276, 277 – Reflexion 288, 289 – Störung 261
therapeutische Veränderungen 118, 140, 141, 271 therapeutisches Beziehungsangebot 130, 135, 194, 195, 219–226, 316–321, 419 therapeutisches Handeln 122, 123 – Aktualisierungstendenz 56, 57 therapeutisches Setting 158, 447 Therapieabbruch 258, 259, 262 – angedrohter 262 Therapieabschluss 258–260 Therapiedosis 270 Therapieerfahrungsbogen 287 Therapieerfolg 148, 153 – Messung 275–283 – Prädiktor 275 Therapieergebnis, Optimierung 277 Therapieforschung 18, 23 Therapiemanuale 264 Therapiemotivation 2 Therapieprogramme 264 Therapieprozess 7 Prozess, therapeutischer Therapieraum 421 Therapietheorie 76, 118, 145, 451, 459, 460 – Fragestellungen 117 – klientenzentrierte 117–137 Therapieunterbrechung 261 Therapievergleichsstudie 270 Therapievertrag 411 Therapieziel 139–148, 158, 450 – individuelles 282 – Kinderpsychotherapie 304 – normatives 143 – des Patienten 145, 146 – störungstheoretische 142 Therapiezielveränderung 147, 196 Therapiezielvereinbarung 147, 148, 200, 201, 475 Thermodynamik 45, 46 Tiefenpsychologie 114 Tonbandaufnahme 273, 274, 287 TPF 279 Trainingsgruppe 415 Trauer 374
Trauma 397, 406 – Emotionsverarbeitung 442 – Nacherleben 462 Triebtheorie 73, 74 Trierer Persönlichkeitsfragebogen 279
U Übererregtheit, vegetative 462 Übererregung 380 Überforderung 388 Über-Ich 115 Unbedingte Positive Beachtung 7 Bedingungsfreie Positive Beachtung Unbewusstes 59, 114 Urvertrauen 309
V VEE 227, 229, 234, 235, 275 Verallgemeinerung 355 – symbolische 33 Veränderungen, therapeutische 118–130, 140, 141, 271, 430, 431 Veränderungsdokumentation 475 Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens 278 Veränderungskrise 377 Verarbeitung – erlebnisorientierte 446 – kognitive 58 – soziale 60 Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte 227, 229, 234, 235, 275 – Evaluierung 237 – Grundregeln 234–237 Verhalten – interpersonales 291, 292 – therapeutisches 18 – unmenschliches 28, 29 Verhaltensanleitung 365
523 Sachverzeichnis
Verhaltensdisposition, Veränderungen 118, 140 Verhaltensstörungen, Minimalisierung 4, 10 Verhaltenstherapeut 214 Verhaltenswissenschaft 31 Verletzlichkeit 376 Verleugnung 114 Verlustereignis 378 Vermeidungsmuster 342 Verstehen – empathisches 7 Empathisches Verstehen – konkretisierendes 319 – organismusbezogenes 319 – selbstkonzeptbezogenes 319 VEV 278 Videoaufzeichnung 287 Vitalismus 46 Vitalitätsaffekt 307
W Wachstum, Organismus 41 Wahrnehmung – anderer Personen 66 – Beziehung zu anderen 66 – implizite 60 – Interpretation 343 – Kommunikation 359 – soziale 126 – unbewusste 60 – unterschwellige 60 Wahrnehmungsbeziehung 63 Wahrnehmungsfeld 341, 345 Wahrnehmungspsychologie 49, 64 Wärmelehre 45, 46 Weiterbildung, Gesprächspsychotherapie 503–508 Wertintrojekt 457 Wertschätzung 120, 121 – 7 Bedingungsfreie Positive Beachtung Wertung, Bewusstwerden 362
Wertungsprozess, Entwicklung 140 Wertvorstellung, internalisierte 233 Wiedererzählen 446 Wille, autonomer 309 Wirkfaktoren, therapeutische 7, 450 Wirksamkeit – Gesprächspsychotherapie 267–273 – Psychotherapie 50, 267–273 Wirksamkeitsstudien 20, 21, 268–272
Z Zirkumplexmodell 281 Zuhören – aufmerksames 230 – empathisches 229, 231 Zustimmung, informierte 197, 202 Zuwendungsbedürfnis 85 Zwangsstörungen 467 Zwei-Stuhl-Technik 446
S–Z