Über den Autor Yukio Mishima, geboren am 14. Januar 1925 in Tokio, studierte an der Universität seiner Heimatstadt ...
155 downloads
1327 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Über den Autor Yukio Mishima, geboren am 14. Januar 1925 in Tokio, studierte an der Universität seiner Heimatstadt Jura, ehe er 1947 Finanzbeamter wurde. Doch gab er seine Stellung bereits nach acht Monaten auf, um sich ganz seinen literarischen Arbeiten zu widmen. Schon 1948 erschien sein erstes Prosawerk. Es folgten Theaterstücke, Romane, Reiseberichte und über fünfzig short stories. Zwischen 1950 und 1955 entstanden seine «N6‐Spiele». In ihnen erweckte Mishima eine uralte Form japanischen Theaters zu neuem Leben. Westliche Einflüsse und asiatische Traditionen verbanden sich unter seiner stilsicheren Hand zu neuartigen poetisch‐dramatischen Szenen. Mishimas Kunst fand internationale Bewunderung. Doch der zunehmend nationalistisch‐konservative Impetus seiner Werke und die öffentliche Inszenierung seines eigenen Lebens machten den Dichter zu einer politisch umstrittenen Erscheinung. Er wurde sich «im Laufe seines Lebens selbst zum Kunstwerk, das er vollendet, indem er sich selbst mit 45 Jahren entleibt» (Wolfram Schütte): Am 25. November 1970 nahm er sich durch öffentlich angekündigtes Harakiri das Leben. Der amerikanische Filmema‐ cher Paul Schrader widmete dem bedeutenden Dichter mit seinem 1985 in Cannes uraufgeführten Film «Mishima» eine Hommage.
Yukio Mishima
Geständnis einer Maske Roman Rowohlt
Aus dem Amerikanischen von Helmut Hilzheimer nach der im Verlag New Directions, New York, unter dem Titel «Confessions of a Mask» erschienenen amerikanischen Ausgabe, die von Meredith Weatherby aus dem Japanischen übertragen wurde. «Confessions of a Mask» stellt die erste autorisierte Veröffentlichung nach der japanischen Originalausgabe dar, die unter dem Titel «Kamen No Kokuhaku» bei Kawado Shobo, Tokio, erschien. Umschlaggestaltung Walter Hellmann Foto von Yukio Mishima: Eikoh Hosoe 8. Auflage Dezember 2002 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1985 Die deutsche Erstausgabe erschien im August 1964 in der Reihe «Rowohlt Paperback» Copyright © 1964 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Confessions of a Mask» Copyright © 1958 by New Directions, New York «Kamen No Kokuhaku» Copyright © 1949 by Yukio Mishima Originally published in Japan All rights reserved Foto des Autors auf Seite 6: Tokeyoshi Tanuma Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 15652 0
«Die Schönheit ist ein furchtbares und schreckliches Ding! Furcht‐ bar, weil sie unbestimmbar ist, und bestimmen kann man sie nicht, weil Gott lauter Rätsel aufgegeben hat. Hier berühren sich die Ufer; hier leben alle Widersprüche beisammen. Weißt du, Freund, ich bin sehr ungebildet, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Es gibt so furchtbar viele Geheimnisse! Zu viele Rätsel bedrücken den Menschen auf Erden. Da heißt es, sie lösen, so gut manʹs kann, und trocken aus dem Wasser kommen. Die Schönheit! Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand – meistens sind es sogar Männer mit edlem Herzen und hohem Verstand – mit dem Ideal der Madonna beginnt und bei dem Weibe Sodoms endet. Noch furchtbarer aber ist, wer mit dem Ideal Sodoms in der Seele doch das Ideal der Madonna nicht verneint, nach der sein Herz lechzt und glüht; wahrlich, wahrlich, es glüht und sehnt sich nach ihr wie in der Jugend, in den noch lasterlosen Jahren. Nein, breit ist der Mensch, sogar allzubreit, ich hätte ihn enger gemacht. Weiß der Teufel, was er eigentlich ist! Was dem Verstände als Schmach erscheint, erscheint dem Herzen gewöhnlich als Schönheit. Ist denn in Sodom Schönheit? Glaube mir, für die übergroße Mehrzahl der Menschen sitzt sie gerade in Sodom – wußtest du schon um dieses Geheimnis oder noch nicht? Schrecklich ist das, daß die Schönheit nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch etwas Geheimnisvolles ist. Hier ringen Gott und Teufel, und der Kampfplatz ist – des Menschen Herz... Übrigens, das ist ja immer so: was einem weh tut, davon redet man. Höre, jetzt komme ich zur Sache.» Dostojevskij, ‹Die Brüder Karamasov›
Erstes Kapitel Jahrelang hatte ich behauptet, ich könne mich noch an Dinge erinnern, die ich im Augenblick meiner Geburt sah. Immer wenn ich das sagte, lachten die Erwachsenen zunächst, doch dann fragten sie sich verwundert, ob ich sie verspotte und blickten voller Mißtrauen und Unwillen in dies bleiche unkindliche Kinder‐ gesicht. Manchmal behauptete ich es auch in Gegenwart von Besuchern, die nicht zum intimen Freundeskreis unserer Familie gehörten. Doch dann wurde ich jedesmal von meiner Großmutter, die fürchtete, man könne mich für einen Idioten halten, in schar‐ fem Ton unterbrochen und aufgefordert, hinauszugehen und zu spielen. Für gewöhnlich versuchten die Erwachsenen mich lächelnd mit einer Art wissenschaftlicher Erklärung zu widerlegen. Sie bemüh‐ ten sich dabei um Erklärungen, die der Verstand eines Kindes begreifen konnte und schwatzten dann mit großem Eifer drauflos und sagten, die Augen eines Neugeborenen seien während der Geburt noch geschlossen, und selbst wenn sie geöffnet wären, könne ein Säugling unmöglich die Dinge klar genug wahrnehmen, um sich ihrer später zu erinnern. «So istʹs doch, nicht wahr?» meinten sie und schüttelten das keineswegs überzeugte Kind an den Schultern. Und dabei schien ihnen dann plötzlich der Gedanke zu kommen, daß sie im Begriff waren, auf einen Trick des Kindes hereinzufallen: Auch wenn wir glauben, daß er ja noch ein Kind ist, müssen wir auf der Hut sein. Sicherlich will uns der kleine Strolch nur dazu bringen, ‹darüber› noch mehr zu erzählen, und was soll ihn dann davon abhalten, mit noch kindlicherer Unschuld zu fragen: «Wo komme ich her? Wie bin ich geboren worden?» Und schließlich musterten sie mich mit 9
einem dünnen, gefrorenen Lächeln auf den Lippen wieder schwei‐ gend und ließen erkennen, daß ich aus irgendeinem Grunde, den ich niemals begreifen konnte, ihre Gefühle zutiefst verletzt hatte. Doch ihre Befürchtungen waren grundlos. Ich hatte nicht den leisesten Wunsch, sie ‹darüber› zu befragen. Und selbst wenn ich diese Absicht gehabt hätte, wäre ich doch viel zu ängstlich gewesen, die Gefühle der Erwachsenen zu verletzen. Der Gedanke, mich zu verstellen, wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Und wie sehr sie es mir auch erklärten und wie sehr sie auch über mich lachten, ich war fest überzeugt, daß ich mich an meine Geburt erinnern konnte. Vielleicht lag der Grund einfach darin, daß ich von jemandem, der damals dabeigewesen war, etwas auf‐ geschnappt hatte. Oder das Ganze lag einfach an meiner eigen‐ willigen Einbildungskraft. Wie dem auch sei, ich war überzeugt, daß ich etwas klar mit eigenen Augen gesehen hatte: den Rand der Wanne, in der ich zum erstenmal gebadet worden war. Es war eine nagelneue Holzwanne, die so glattgehobelt war, daß das Holz wie Seide glänzte, und als ich herausschaute, fiel ein Lichtstrahl auf eine Stelle des Randes. Das Holz glänzte nur an dieser einen Stelle wie Gold. Das Wasser schwappte mit lauter kleinen Zungen zu ihr empor, als wollte es diese Stelle belecken, doch die Zungen reich‐ ten niemals bis dorthin. Und ob es nun infolge einer Spiegelung geschah oder einfach dadurch, daß der Lichtstrahl ins Wasser drang: unterhalb der Stelle am Wannenrand leuchtete das Wasser sanft auf, und winzige schimmernde Wellen schienen dort ständig mit den Köpfen zusammenzustoßen... Der stärkste Gegenbeweis für meine Behauptung war, daß ich nicht am Tage, sondern um neun Uhr abends auf die Welt gekom‐ men bin: also konnte kein Sonnenstrahl mehr dagewesen sein. Obgleich man mich damit aufzog, daß es wohl elektrisches Licht gewesen sein müsse, vermochte ich mich mühelos in den absurden Glauben hineinzusteigern, daß selbst um Mitternacht ein letzter Sonnenstrahl zumindest diesen einen Fleck am Wannenrand beschienen hätte. Auf diese Weise also blieben der Rand der
Wanne und das flackernde Leuchten in meinem Gedächtnis zurück, als ob ich es tatsächlich während meines ersten Bades gesehen hätte. Ich kam zwei Jahre nach dem großen Erdbeben zur Welt. Zehn Jahre zuvor hatte mein Großvater als Folge eines Skandals, der sich während seiner Amtszeit als Kolonialgouverneur ereignete und in dem er die Schuld für die Verfehlungen eines Untergebenen auf sich genommen hatte, seinen Posten aufgegeben. (Ich sage das nicht, um etwas zu beschönigen: doch bis zum heutigen Tage habe ich niemals wieder einen derart närrischen Glauben an die Mit‐ menschen angetroffen wie bei meinem Großvater.) Danach ging es geschwind mit meiner Familie bergab, und sie war dabei so unbe‐ kümmert, daß ich fast sagen möchte, sie trällerte sich noch eins auf ihrem Weg nach unten – riesige Schulden, verfallene Hypotheken, Verkauf des Landbesitzes der Familie und schließlich, als sich die finanziellen Schwierigkeiten häuften, ein übersteigertes Selbstge‐ fallen, das sich spreizte und blähte wie unter einem bösen Zwang... Das alles hatte zur Folge, daß ich in einem alten Mietshaus zur Welt kam, das in einem nicht gerade besonders vornehmen Stadt‐ teil von Tokio an einem Abhang lag. Es war ein prätentiöser Eck‐ bau von uneinheitlichem Charakter, der ziemlich schmutzig und verfallen aussah. Es hatte ein imposantes schmiedeeisernes Tor, einen Vorgarten und eine Empfangshalle im europäischen Stil, die so groß wie das Innere einer Vorstadtkirche war; drei Stockwerke lagen unter dem ersten Dach, zwei weitere unter dem oberen. In diesem Haus mit seinen düsteren Zimmern standen zehn Men‐ schen morgens auf und legten sich abends hin: Großvater und Großmutter, Vater und Mutter und die Dienstboten. Die Ursache für die Familienschwierigkeiten war einerseits die Leidenschaft meines Großvaters für zweifelhafte Unternehmun‐ gen, andererseits die Krankheit und die Verschwendungssucht meiner Großmutter. Mein Großvater ließ sich durch zwielichtige Bekannte oft zu Reisen nach weit entfernten Orten überreden und träumte von Gold und Reichtum. Meine Großmutter kam aus einer 11
alten Familie und haßte und verachtete meinen Großvater. Sie besaß einen engen, herrischen und dabei schwärmerisch‐poeti‐ schen Geist. Eine chronische Kopfneuralgie nagte zwar indirekt, doch ständig an ihren Nerven und bewirkte gleichzeitig, daß sich ihr Intellekt unnötig verschärfte. Und wer vermag zu sagen, ob die Tobsuchtsanfälle, die sie bis zu ihrem Tode heimsuchten, nicht durch die Erinnerung an jene Laster ausgelöst wurden, denen mein Großvater in seinen besten Jahren gefrönt hatte? In dieses Haus hatte mein Vater meine Mutter gebracht, eine zarte und schöne Braut. Am Morgen des 4. Januar 1925 hatte meine Mutter ihre ersten Wehen, und um neun Uhr abends brachte sie ein Kind zur Welt, das nur knapp fünf Pfund wog. Am Abend des siebenten Tages wurde das Kind in ein Hemd aus Flanell und Unterwäsche aus cremefarbener Seide gekleidet und in einen schön gemusterten, bunten Kimono aus Seidenkrepp gehüllt. In Gegenwart der versammelten Familie tuschte mein Großvater meinen Namen auf Reispapier und legte das Blatt im tokonoma auf das Opfergabentischchen. Meine Haare waren lange Zeit fast blond, aber man rieb sie mit Olivenöl ein, bis sie schließlich schwarz wurden. Meine Eltern wohnten im ersten Stockwerk des Hauses. Unter dem Vorwand, daß es gefährlich sei, ein Kind nicht im Erdgeschoß aufwachsen zu lassen, nahm mich meine Großmutter am neun‐ undvierzigsten Tag meines Lebens meiner Mutter einfach aus dem Arm. Mein Bett wurde im Krankenzimmer meiner Großmutter aufgeschlagen, in dem ein erstickender Geruch nach Krankheit und Alter herrschte, weil es ständig verschlossen war. Ich wurde neben ihrem Krankenbett großgezogen. Als ich ungefähr ein Jahr alt war, fiel ich von der dritten Trep‐ penstufe hinunter und verletzte mich an der Stirn. Meine Groß‐ mutter war ins Theater gegangen, und meine Mutter und die Vettern meines Vaters erfreuten sich lärmend ihrer Abwesenheit.
Meine Mutter benutzte die Gelegenheit, etwas aus der unteren Wohnung hinaufzutragen. Ich lief ihr nach, verwickelte mich dabei in die Schleppe ihres Kimonos und stürzte. Meine Großmutter wurde telefonisch aus dem Kabuki‐Theater gerufen. Als sie ankam, ging ihr mein Großvater entgegen. Sie blieb im Hausflur stehen, ohne sich die Schuhe auszuziehen, lehnte sich auf ihren Stock, den sie in der rechten Hand hielt, und starrte meinen Großvater unbeweglich an. Endlich sprach sie in seltsam ruhigem Ton und artikulierte jedes einzelne Wort: «Ist er tot?» «Nein.» Daraufhin streifte sie ihre Schuhe ab, trat ins Haus und ging stolz wie eine Priesterin den Korridor entlang. Am Neujahrsmorgen, der meinem vierten Geburtstage voran‐ ging, erbrach ich etwas, das die Farbe von Kaffee hatte. Der Haus‐ arzt wurde geholt, und nachdem er mich untersucht hatte, meinte er, es sei ungewiß, ob ich wieder gesund würde. Man gab mir so viel Kampfer und Traubenzuckerinjektionen, bis ich wie ein Nadelkissen aussah. Der Puls war sowohl am Handgelenk wie auch am Oberarm nicht mehr wahrnehmbar. Zwei Stunden vergingen. Die Familie stand um mich herum und blickte auf meinen Leichnam herab. Ein Totengewand wurde geholt, meine Lieblingsspielsachen her‐ beigetragen, und man benachrichtigte die Verwandten. Es ver‐ strich fast noch eine ganze Stunde. Plötzlich wurde Urin sichtbar, und der Bruder meiner Mutter, der Arzt war, sagte: «Er lebt!» Er erklärte uns, der Urin zeige an, daß das Herz seine Tätigkeit wiederaufgenommen habe. Kurz danach erschien abermals Urin. Nach und nach kehrte das Leben zurück und schimmerte schwach durch meine blassen Wan‐ gen hindurch. Diese Krankheit – eine Selbst‐Intoxikation des Körpers – wurde chronisch. Sie trat ungefähr einmal im Monat auf, die Anfälle 13
waren teils leichterer, teils ernsterer Natur. Ich machte viele Krisen durch. Und im Laufe der Zeit erwarb ich die Fähigkeit, jedesmal, wenn sich die Krankheit an mich heranschlich, schon an ihren ersten Schritten zu hören, ob ein Anfall lebensgefährlich würde oder nicht. Aus jener Zeit etwa stammt meine erste, unbestreitbare Erinne‐ rung, die mich mit einer seltsam lebendigen Vorstellung verfolgt. Ich weiß nicht, ob es meine Mutter oder das Kinderfräulein, eines der Dienstmädchen oder eine meiner Tanten war, die mich an der Hand führte. Ebensowenig steht die Jahreszeit für mich fest. Das schwache Licht der Nachmittagssonne lag auf den Häusern des Abhangs. An der Hand jener Frau, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, kletterte ich den Hang hinauf. Jemand kam uns entgegen, die Frau zog mich auf die Seite, um Platz zu machen, und wir warteten. Zweifellos hat der Eindruck, den ich empfing, die ungezählten Male, da ich ihn mir vergegenwärtigt habe, eine neue verstärkte und verschärfte Bedeutung für mich angenommen. Denn von der nebelhaft verschwommenen Szene steht nur noch die Gestalt, «die den Abhang herunterkam», unverhältnismäßig scharf vor meinen Augen. Und das nicht ohne Grund: diese Vorstellung ist die erste von denen, die mich mein ganzes Leben hindurch gequält und erschreckt haben. Der Mensch, der den Abhang herunterkam, war ein junger Mann mit frischer Gesichtsfarbe und glänzenden Augen. Um seine Stirn hatte er sich einen schmutzigen Leinenstreifen als Schweißband gewunden. Er kam uns mit einer Stange über der Schulter ent‐ gegen, an der vorn und hinten je ein Jaucheeimer hingen, die er beim Gehen geschickt balancierte. Es war ein Latrinenreiniger, der den Kot aus den Latrinen holte. Er trug die übliche Kleidung der Arbeiter, seine Schuhe hatten Gummisohlen und Kappen aus
schwarzem Leinen, die an der großen Zehe aufgeschlitzt waren, und er hatte enganliegende, dunkelblaue Hosen an. Der prüfende Blick, mit dem ich den jungen Mann beobachtete, war für ein Kind von vier Jahren ungewöhnlich. Obwohl ich es damals nicht klar empfand, war er für mich die erste Offenbarung einer gewissen Macht, die erste Aufforderung einer fremden und geheimnisvollen Stimme. Es ist bezeichnend, daß es ein Jauche‐ träger war, durch den mir das zum ersten Male offenbar wurde: Kot ist ein Symbol der Erde, und zweifellos war es die übelwollen‐ de Liebe der Mutter Erde, die mich rief. Ich bekam eine Vorahnung davon, daß es in dieser Welt eine Sehnsucht gibt, die wie ein stechender Schmerz ist. Während ich zu dem schmutzigen jungen Mann aufsah, erstickte ich fast vor Verlangen und dachte: ‹Ich möchte mich gerne in ihn verwandeln› und ‹Ich möchte gerne er sein›. Ich kann mich noch genau daran erinnern, daß sich dieser Wunsch auf zwei Dinge bezog: einmal auf seine dunkelblauen Hosen, zum anderen auf seine Tätigkeit. Die enganliegenden Hosen ließen die untere Hälfte seines Körpers klar hervortreten. Er bewegte sich geschmeidig und schien direkt auf mich zuzukommen. Eine unerklärliche Bewunderung für diese Hosen wurde in mir wach. Warum, wußte ich nicht. Seine Tätigkeit... Wie andere Kinder Generäle werden wollen, so‐ bald sie die Fähigkeit des Sich‐Erinnerns erlangt haben, überkam mich in diesem Augenblick der Wunsch, Latrinenreiniger zu werden. Diesem Wunsch mögen zum Teil die dunkelblauen Hosen zugrunde gelegen haben, doch sicherlich nicht ausschließlich. Und im Laufe der Zeit wurde dieses Verlangen immer stärker in mir, erfaßte mich ganz und gar und beschwor schließlich eine seltsame Entwicklung herauf. Ich will damit sagen, daß der Gedanke an seine Tätigkeit in mir etwas wie ein Sich‐Sehnen nach großen Schmerzen, nach herzer‐ schütterndem Leid wachrief. Seine Beschäftigung ließ mich ahnen, was ‹Tragik› war, und zwar Tragik in der sinnlichsten Bedeutung des Wortes. Sie vermittelte mir ein gewisses Gefühl für Selbstauf‐ 15
gabe oder Gleichgültigkeit, für Vertrautsein mit der Gefahr, ein Gefühl ähnlich einer ungewöhnlichen Mischung aus Nichtigkeit und Lebenskraft – all diese Gefühle wurden durch seinen Beruf in mir hervorgerufen, sie prägten sich mir ein und nahmen mich gefangen, und das im Alter von vier Jahren. Wahrscheinlich war ich über die Arbeit eines Latrinenreinigers falsch unterrichtet. Möglicherweise hatte man mir von irgendeinem anderen Beruf erzählt, und ich hielt – durch seine Kleidung irregeführt – seine Beschäftigung zwangsläufig für das, was ich gehört hatte. Anders kann ich es nicht erklären. Es muß schon so gewesen sein, denn bald übertrug sich mein Verlangen mit den gleichen Gefühlen auf die Schaffner der hana‐ densha – der Straßenbahnwagen, die an Festtagen so lustig mit Blumen geschmückt waren – oder auf die Fahrkartenkontrolleure der Untergrundbahn. Beide Beschäftigungen vermittelten mir einen starken Eindruck von dem, was ich mir unter einem ‹tragi‐ schen Leben› vorstellte, einem Leben, von dem ich nichts wußte und von dem ich für immer ausgeschlossen schien. Ganz beson‐ ders bei den Fahrkartenkontrolleuren traf das zu: Die Reihen goldener Knöpfe an ihren blauen Uniformjacken vermischten sich in meinem Geiste mit dem Geruch, der in jenen Tagen in den Untergrundbahnschächten lag, ein Geruch nach Gummi oder Pfefferminz, der schnell in meinem Gehirn Assoziationen an ‹tragi‐ sche Dinge› hervorrief. Denn irgendwie empfand ich es als ‹tra‐ gisch›, daß jemand seinen Lebensunterhalt inmitten eines solchen Geruches verdienen mußte. Existenzen und Vorgänge, die sich ohne Beziehung zu mir selber ereigneten, die an Orten geschahen, die nicht nur meine Phantasie in Erregung versetzten, sondern mir außerdem verschlossen waren – das alles bildete, im Zusammen‐ hang mit den Leuten, die darin verwickelt waren, meine Vorstel‐ lung von ‹tragischen Dingen›. Es schien, daß mein Kummer, ewig davon ausgeschlossen zu sein, in meinen Träumen stets in Sorgen und Mitleid für diejenigen Menschen umgewandelt wurde, die in
jener Sphäre leben mußten, und ich denke, daß ich durch meinen eigenen Kummer versuchte, an ihrem Dasein teilzunehmen. Wenn sich das so verhielt, dann waren die sogenannten ‹tragi‐ schen Dinge›, die ich entdeckte, wahrscheinlich nur Vorahnungen eines größeren Leids in der Zukunft und einer noch einsameren Abgeschlossenheit, die mich erwartete... Eine weitere frühe Erinnerung betrifft ein Bilderbuch. Obgleich ich im Alter von fünf Jahren Lesen und Schreiben lernte, konnte ich die Worte in jenem Buch noch nicht lesen. Diese Erinnerung muß also auch aus meinem vierten Lebensjahre stammen. Ich besaß zu jener Zeit mehrere Bilderbücher, doch meine Phan‐ tasie wurde ausschließlich und vollständig durch dieses eine gefangengenommen, und zwar durch ein ganz bestimmtes Bild darin. Ganze langweilige Nachmittage konnte ich damit verbringen, dieses Bild anzustarren, und wenn sich zufällig einer der Erwach‐ senen näherte, fühlte ich mich grundlos schuldig und schlug schnell eine andere Seite auf. Es quälte mich sehr, wenn ich dabei von einer Krankenschwester oder einem Dienstmädchen beobach‐ tet wurde. Ich sehnte mich nach einem Leben, in dem ich unge‐ hindert den ganzen lieben langen Tag jenes Bild anstarren konnte. Immer wenn ich diese Seite aufblätterte, schlug mir das Herz im Halse. Keine andere Seite hatte irgendeine Bedeutung für mich. Das Bild stellte einen Ritter dar, der auf einem Schimmel saß und ein Schwert in die Höhe hob. Mit schnaubenden Nüstern scharrte das Pferd mit seinen schweren Vorderhufen, der Ritter trug über seiner silbernen Rüstung einen schönen Waffenrock. Sein hübsches Gesicht wurde teilweise durch das Visier verdeckt. Er schwang sein blankes Schwert so furchterregend unter dem blauen Himmel, als wolle er den Tod selber oder zumindest ein anderes verderbli‐ ches Wesen voll böser Kraft zum Zweikampf herausfordern. Ich war davon überzeugt, daß er im nächsten Augenblick getötet 17
würde. Ich dachte mir, daß ich dies zu sehen bekäme, wenn ich die Seite nur schnell genug umwendete. Sicherlich gäbe es so etwas wie eine geheime Vorrichtung, durch die ein Bild in einem Bilder‐ buch, noch ehe man es nur ahnt, in den ‹nächsten Augenblick› verwandelt werden kann... Doch eines Tages schlug meine Krankenschwester das Buch zu‐ fällig bei dem Bilde auf. Während ich noch hastig danach schielte, sagte sie: «Kennt der junge Herr die Geschichte dieses Bildes?» «Nein.» «Der Ritter sieht wie ein Mann aus, nicht wahr? Es ist jedoch eine Frau. Sie hieß Jeanne dʹArc. Man sagt, daß sie mit einer Rüstung in den Krieg zog und so ihrem Land half.» «Eine Frau?» Mir war, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf erhalten. Der Ritter, den ich für einen Mann gehalten hatte, war eine Frau. Wenn dieser schöne Ritter eine Frau war und kein Mann, was blieb da übrig? (Selbst heute fühle ich einen tief in mir wurzelnden und schwer erklärbaren Widerwillen gegen Frauen in Männerkleidern.) Es war das erstemal in meinem Leben, daß sich ‹die Wirklichkeit an mir rächte›, und zwar in besonders grausamer Weise, wie mir schien, wenn ich an die herrlichen Träume dachte, die ich um seinen Tod gesponnen hatte. Von jenem Tage an legte ich das Bilderbuch beiseite. Ich schwor mir, es niemals wieder in die Hand zu nehmen. Jahre später sollte ich auf die Verse von Oscar Wilde stoßen, die den Tod eines schönen Ritters verherrlichten: Schön ist der Ritter, der erschlagen liegt zwischen Binsen und Schilf.. *
*
Fair is the knight who lieth slain Amid the rush and reed . . .
In dem Roman «Tief unten» beschreibt Huysmans den Charakter von Gilles de Rais, der von Karl VII. zum Leibwächter der Jung‐ frau von Orleans ernannt wurde. Er behauptet, daß er, obgleich kurz darauf von einem ‹perversen Hang zu den raffiniertesten Grausamkeiten, den abgefeimtesten Verbrechen› verführt, den ursprünglichen Impuls zu seinem Mystizismus empfing, weil er mit eigenen Augen die Wunder gesehen habe, die Jeanne dʹArc vollbrachte. Obwohl die Jungfrau von Orleans auf mich eine entge‐ gengesetzte Wirkung ausübte und in mir eher ein Gefühl des Widerwillens hervorrief, spielte sie dennoch auch in meinem Fall eine wichtige Rolle. Und an noch etwas anderes erinnere ich mich: an den Geruch von Schweiß, einen Geruch, der mich vorwärts trieb, meine Sehn‐ süchte weckte und mich überwältigte... Ich lausche und höre in der Ferne einen knirschenden Laut, der noch ganz schwach ist, doch irgendwie bedrohlich klingt. Hin und wieder ertönt ein Hornsignal. Dann folgt seltsam klagender Ge‐ sang, der näher kommt. Eines der Dienstmädchen hält mich an der Hand, und ich versuche, sie schnell, schnell zum Gartentor zu zerren. Es waren die Soldaten, die, vom Übungsplatz kommend, vorbei‐ marschierten. Soldaten haben Kinder gern, und ich freute mich immer auf die leeren Patronenhülsen, die sie mir schenkten. Da mir meine Großmutter verboten hatte, diese Hülsen zu behalten (sie behauptete nämlich, sei seien gefährlich), wurde meine Erwar‐ tung durch die Freude am Verbotenen noch angestachelt. Das schwere Stampfen der Soldatenschuhe, die staubbedeckten Unifor‐ men und der Wald von geschulterten Gewehren, all das genügte, ein Kind aufs äußerste zu faszinieren. Doch es war einfach der Schweißgeruch der Soldaten, der mich anzog und einen Reiz aus‐ übte, der sich hinter dem Wunsch verbarg, Patronenhülsen von ihnen zu bekommen. 19
Der Schweißgeruch der Soldaten – jener Geruch, der wie die zu Gold verbrannte Luft über der Küste ist, wie eine Seebrise – drang in meine Nase und berauschte mich. Wahrscheinlich ist das meine früheste Erinnerung an Gerüche. Ich brauche nicht zu betonen, daß dieser Geruch, zumindest nicht in dieser frühen Zeit, irgendeinen unmittelbaren Zusammenhang mit sexuellen Empfindungen hatte; doch langsam und hartnäckig weckte er in mir etwas wie eine sinnliche Begier, an dem Schicksal der Soldaten teilhaben zu dürfen, an der tragischen Natur ihres Handwerks, eine Sehnsucht nach den fernen Ländern, die sie sehen würden, und nach der Art ihres Todes... Diese seltsamen Vorstellungen waren die ersten, denen ich im Leben begegnete. Von Anfang an standen sie in geradezu meister‐ hafter Vollkommenheit vor mir. Auch nicht die geringste Kleinig‐ keit fehlte darin. In späteren Jahren suchte ich in diesen Bildern nach Antrieben für meine eigenen Gefühle und Handlungen, und wieder fehlte nicht die geringste Kleinigkeit. Von Kindheit an sind meine Vorstellungen von der mensch‐ lichen Existenz auch nicht ein einziges Mal von der Augusti‐ nischen Prädestinationslehre abgewichen. Immer wieder wurde ich von unsinnigen Zweifeln gequält – selbst heute noch ist das so –, doch ich ließ mich in meinen deterministischen Ansichten nicht beirren und betrachtete diese Zweifel nur als eine andere Art der Versuchung zur Sünde. Es war mir sozusagen in einem Alter, da ich noch viel zu jung war, sie lesen zu können, die komplette Speisekarte sämtlicher Kümmernisse meines Lebens überreicht worden. Ich brauchte nur meine Serviette auseinanderzufalten und mich an den Tisch zu setzen. Selbst die Tatsache, daß ich jetzt ein so seltsames Buch schreibe, war genau auf der Speisekarte ver‐ merkt und muß also von Anfang an vor meinen Augen gewesen sein.
In der Kindheit fließen Zeit und Raum ineinander. Da waren zum Beispiel die Nachrichten über andere Länder, die ich von den Erwachsenen hörte, sagen wir der Ausbruch eines Vulkans oder die Meuterei einer Armee und das, was unmittelbar vor meinen Augen geschah, wie zum Beispiel die Launen meiner Großmutter oder die albernen Familienstreitigkeiten oder die phantastische Welt der Märchen, in die ich gerade zu jener Zeit eindrang: diese drei Dinge erschienen mir immer von gleichem Wert und von gleicher Art. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Welt noch etwas komplizierter sein könnte als das Haus aus den Bauklötzen meines Baukastens, noch vermochte ich mir vorzustellen, daß die sogenannte ‹menschliche Gesellschaft›, in die ich bald eintreten sollte, verwirrender sein konnte als die Welt meiner Märchen‐ bücher. So, ohne daß ich es merkte, war eines der bestimmenden Elemente meines Lebens wirksam geworden. Und weil ich mich dagegen sträubte, war meine Phantasie von Anfang an mit Ver‐ zweiflung durchsetzt und überdies in seltsamer Weise vollkom‐ men und eigentlich mehr einem leidenschaftlichen Verlangen ähnlich. Eines Nachts sah ich von meinem Bett aus eine leuchtende Stadt, deren Licht die tiefe Dunkelheit überflutete, die mich umgab. Diese Stadt war merkwürdig still und doch zugleich von Glanz und Geheimnis überstrahlt. Deutlich konnte ich ein geheimnis‐ volles Mal erkennen, das die Gesichter der Menschen in dieser Stadt zeichnete. Es waren Erwachsene, die mitten in der Nacht nach Hause zurückkehrten und dabei seltsame Gesten vollführten, die wie verabredete Geheimzeichen aussahen, nach Freimaurerei schmeckten. In ihren Gesichtern las ich etwas wie eine große Müdigkeit, die sie offenbar davon abhielt, sich gegenseitig in die Augen zu blicken. Ähnlich wie die Festtagsmasken, die Silber‐ puder auf den Fingerspitzen hinterlassen, wenn man sie berührt, schien mir, daß ich auch auf ihren Gesichtern die Farbe hätte berühren können, mit der die Stadt der Nacht sie bemalt hatte.
21
Auf einmal war es, als hebe sich unmittelbar vor meinen Augen der Vorhang der Nacht, und ich erblickte die Bühne, auf der Shokyokusai Tenkatsu ihre Zauberkünste zeigte. (Sie trat damals einige seltene Male in einem Theater des Shinjuku‐Viertels auf; und obwohl die Kunst des Zauberers Dante, den ich einige Jahre später im selben Theater sah, viel großartiger war, machten weder er noch die Völkerschau des Zirkus Hagenbeck auf mich einen so nachhaltigen Eindruck wie meine erste Begegnung mit Tenkatsu.) Sie lümmelte sich frech und herausfordernd auf der Bühne herum, ihr üppiger Leib war in Schleier gehüllt wie der der ‹Großen Hure der Apokalypse›. An ihren Armen trug sie blitzen‐ de, mit falschen Steinen übersäte Armreifen; ihr Make‐up war so dick aufgetragen wie das einer unserer japanischen Schlagersänge‐ rinnen, und weißer Puder bedeckte selbst ihre Fußzehen. Dazu trug sie ein Flittergewand, das viel Ähnlichkeit mit einem Messinglüster hatte, wie man sie nur in Kitschläden findet. Doch seltsamerweise stimmte das alles irgendwie in melancholischer Harmonie überein mit ihrem hochmütigen und von sich einge‐ nommenen Wesen, das für Verschwörer und im Exil lebende Adelige so charakteristisch ist, und mit ihrem dunklen Zauber, ihrem heroinenartigen Benehmen. Das zarte Gewebe des Schat‐ tens, den diese disharmonischen Elemente warfen, schuf eine eigene erstaunliche und einzigartige Illusion von Harmonie. Ich verstand schließlich, wenn auch unklar, daß der Wunsch, ‹Tenka‐tsu zu werden› und der andere, ‹Straßenbahnschaffner zu werden›, ihrem Wesen nach verschieden waren. Das hervorste‐ chendste Merkmal dieser Ungleichheit war, daß im Falle Tenkatsu das Verlangen nach dem ‹Tragischen› fast vollständig fehlte. Ich empfand bei meinem Wunsch, Tenkatsu zu werden, nicht jene bittere Mischung von Sehnsucht und Scham. Dennoch stahl ich mich eines Tages wildklopfenden Herzens in das Zimmer meiner Mutter und öffnete ihre Kleidertruhe. Ich suchte den prächtigsten Kimono mit den auffallendsten Far‐ ben heraus. Als Schärpe wählte ich einen Obi, auf den scharlach‐
rote Rosen in Öl gemalt waren, und schlang ihn in der Art eines türkischen Paschas mehrfach um meine Hüften. Ich machte mir eine Kopfbedeckung aus Crepe de Chine. Als ich vor dem Spiegel stand, glühten meine Wangen vor Entzücken, denn dieses impro‐ visierte Kopftuch erinnerte mich an die Piraten in Stevensons «Schatzinsel». Doch war mein Werk noch weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Bis in die Fingerspitzen mußte mein ganzer Körper dem Geheimnis meiner Maskerade würdig gemacht werden. Ich steckte einen Handspiegel in meine Schärpe und puderte mir leicht das Gesicht. Dann bewaffnete ich mich mit einer silbernen Taschen‐ lampe, einem alten Füllhalter aus ziseliertem Silber und mit ande‐ ren Dingen, auf die zufällig mein Blick fiel. Ich nahm eine feierliche Miene an und stürzte in das Wohn‐ zimmer meiner Großmutter. Ich konnte meine Freude und mein ausgelassenes Lachen nicht länger unterdrücken, sprang im Zim‐ mer herum und rief: «Ich bin Tenkatsu! Ich – ich bin Tenkatsu!» Meine Großmutter lag krank zu Bett, meine Mutter und ein Besucher waren im Zimmer. Doch ich nahm niemand wahr, mein ganzes Sinnen und Trachten war nur auf den Gedanken konzen‐ triert, daß durch meine Verwandlung Tenkatsu allen sichtbar geworden war. Kurz: ich sah nur mich selbst. Dann erblickte ich zufällig einen Augenblick das Gesicht meiner Mutter. Sie war ein wenig bleich geworden und saß wie geistes‐ abwesend auf dem Stuhl. Unsere Blicke trafen sich, sie schlug die Augen nieder. Ich verstand. Tränen verschleierten meinen Blick. Was war es, was ich in jenem Augenblick verstand oder zu verstehen glaubte? Sollte das Motiv späterer Jahre, ‹die Reue als Vorspiel zur Sünde›, hier seine ersten Spuren zeigen? Oder lehrte mich jener Augenblick, wie seltsam meine Einsamkeit den Augen der Liebe erscheinen mußte, und lehrte er mich nicht vielleicht gleichzeitig, wie unfähig ich selber war, Liebe zu empfangen?
23
Das Mädchen schnappte mich und nahm mich mit in ein anderes Zimmer, und im Handumdrehen, geradeso als wäre ich ein Hühn‐ chen, das gerupft werden sollte, hatte sie mir mein beschämendes Kostüm ausgezogen. Meine Leidenschaft für diese Art von Verkleidungen verstärkte sich noch, als ich anfing, ins Kino zu gehen. Das dauerte bis zu meinem neunten Lebensjahr. Einmal ging ich mit unserem Hausburschen ins Kino, um eine Filmversion der Oper ‹Fra Diavolo› zu sehen. Der Schauspieler, der den Diavolo darstellte, trug ein mir unvergeßliches Hofkostüm mit ganzen Kaskaden von Spitzen an den Handgelenken. Als ich äußerte, wie gern ich ebenso gekleidet wäre, und daß ich auch eine solche Perücke tragen möchte, lachte der Hausbursche verächtlich. Dennoch wußte ich, daß er selbst oft die Dienstmädchen belustigte, wenn er die Prinzessin Yaegaki, eine der Kabuki‐Gestalten, nach‐ äffte. Tenkatsu wurde durch Kleopatra abgelöst, die mich in gleichem Maße fesselte. An einem Schneetag gegen Ende Dezember nahm mich ein freundlicher Arzt auf meine Bitten mit ins Kino. Zu dieser Jahreszeit waren nur wenige Leute in der Vorstellung. Der Arzt legte seine Füße auf die Logenbrüstung und schlief ein. Ganz allein sah ich völlig verzaubert zu, wie die Königin von Ägypten auf einer altertümlichen und seltsam gewundenen Sänfte, die von unzähligen Sklaven auf den Schultern getragen wurde, in Rom einzog. Eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Melancho‐ lische Augen, die Lider dick mit Augenschatten bedeckt. Und dann, später, ihr bernsteinfarbener, halbnackter Leib auf einem persischen Teppich... Diesmal empfand ich bereits ein gründliches Vergnügen daran, ungehorsam zu sein, als ich mich mit Hilfe meiner jüngeren Ge‐ schwister, ungesehen von meiner Großmutter und meinen Eltern, als Kleopatra verkleidete. Was erhoffte ich mir von dieser femini‐
nen Verkleidung? Erst viel später entdeckte ich ähnliche Hoffnun‐ gen bei Heliogabal, dem römischen Kaiser der Verfallszeit, dem Zerstörer der alten Götter, jenem dekadenten und bestialischen Herrscher... Der Latrinenreiniger, die Jungfrau von Orleans, der Schweißge‐ ruch der Soldaten, all das bildete einen Teil des Vorspiels zu meinem Leben. Tenkatsu und Kleopatra waren der zweite Teil. Doch ich muß noch von einem dritten berichten. Obwohl ich als Kind jedes Märchen las, das in meine Hände geriet, mochte ich keine Prinzessinnen. Einzig und allein die Prin‐ zen gefielen mir, vor allem jene, die ermordet wurden oder todge‐ weiht waren. In jeden Jüngling, der getötet wurde, war ich ver‐ liebt. Doch ich verstand noch nicht, weshalb von Andersens zahlrei‐ chen Märchen allein die Geschichte vom Rosenelf mein Herz erzittern ließ, das Märchen von dem hübschen Jüngling, den ein Räuber ersticht und mit einem großen Messer köpft, als er die Rose küßt, die ihm seine Herzallerliebste als Zeichen der Treue ge‐ schickt hat. Damals konnte ich noch nicht verstehen, weshalb mich von Oscar Wildes vielen Märchen einzig und allein der Leichnam des jungen Fischers in «Der Fischer und die Meerjungfrau» ergriff, der, eine Meerjungfrau an sich geklammert, an das Ufer gespült wird. Natürlich liebte ich auch andere kindliche Dinge. «Die Nachtigall» aus Andersens Märchen entzückte mich und ebenso ein großer Teil der vielen Bilderbücher. Doch meine Vorliebe für Tod und Nacht und Blut ließ sich nicht verleugnen. Hartnäckig verfolgten mich Visionen ‹erschlagener Prinzen›. Wer hätte mir damals zu erklären vermocht, weshalb mich die Vorstellung der enganliegenden Strumpfhosen, wie sie die Prinzen trugen, in Verbindung mit dem Gedanken an ihren grausamen Tod so entzückte? Es gibt ein ungarisches Märchen, an das ich 25
mich in diesem Zusammenhang besonders gut erinnere. Lange Zeit wurde meine Phantasie durch eine äußerst realistische Illu‐ stration zu diesem Märchen gefesselt. Die Darstellung zeigte in grellen Farben den in schwarze Strumpfhosen und eine rosenfarbene goldbestickte Tunika geklei‐ deten Prinzen. Ein dunkelblauer Umhang, innen mit schimmern‐ der, scharlachroter Seide gefüttert, hing um seine Schultern, und um die Hüften trug er eine grün‐goldene Schärpe. Auch der Helm, der seinen Kopf schützte, war aus Gold, und an seiner Seite hingen ein leuchtend rotes Schwert und ein Köcher aus grünem Leder. In der mit einem weißen Handschuh bekleideten linken Hand hielt er einen Bogen, seine rechte Hand ruhte auf dem Zweig eines uralten Baumes. Mit ernstem, entschlossenem Ausdruck blickte er in den schrecklichen Rachen eines wütenden Drachen, der sich auf ihn stürzen wollte. Wenn es das Schicksal dieses Prinzen gewesen wäre, als Sieger aus dem Zweikampf mit dem Drachen hervorzu‐ gehen, wie gering wäre dann mein Interesse für ihn gewesen! Doch glücklicherweise war diesem Prinzen der Tod bestimmt. Dennoch bedauerte ich, daß sein beklagenswertes Schicksal un‐ vollkommen war. Um nämlich seine Schwester zu befreien und eine hübsche Prinzessin zu heiraten, mußte er siebenmal die Schrecken des Todes erdulden. Dank der Zauberkräfte eines Dia‐ manten, den er im Munde trug, stand er jedoch siebenmal wieder vom Tode auf und lebte schließlich glücklich und in Freuden. Die Illustration zeigte eine Szene, die unmittelbar dem ersten seiner sieben Tode voranging: er wurde von einem Drachen ver‐ schlungen. Danach wurde er ‹von einer großen Spinne gefangen, und nachdem sein Leib ganz voll von ihrem Gift war, wurde er von ihr gierig verspeist›. Dann mußte er ertrinken, wurde darauf lebendig über einem großen Feuer geröstet, schließlich von Hornis‐ sen gestochen und von Schlangen gebissen, in eine Grube gewor‐ fen, in der zahllose Messer mit der Spitze nach oben aus dem Boden ragten. Dann wurde er von vielen großen Felsblöcken zer‐ quetscht, die ‹wie ein Wolkenbruch auf ihn niederprasselten›.
Sein Tod durch den Drachen wurde besonders eingehend be‐ schrieben: ‹Im Handumdrehen verschlang ihn der Drache und riß ihn gierig in kleine Stücke. Das war fast mehr, als der Prinz aushal‐ ten konnte; doch er nahm alle Kraft zusammen und ertrug die Qualen standhaft, bis er vollständig zerfetzt war. Blitzschnell war er plötzlich wieder zusammengewachsen und sprang aus dem Rachen des Ungeheuers heraus. Nicht der kleinste Kratzer war an seinem Körper zu sehen. Der Drache jedoch sank zu Boden und war auf der Stelle tot.› Ich las diese Stelle einige hundert Male. Doch der Satz: ‹Es war nicht der kleinste Kratzer an seinem Körper› schien mir so falsch, daß ich ihn nicht widerspruchslos hinnehmen konnte. Ich hatte das Gefühl, der Autor habe mich nicht nur betrogen, sondern zudem noch einen großen Irrtum begangen. Kurz darauf machte ich eine Entdeckung. Beim Lesen dieser Stel‐ le verdeckte ich die Worte: ‹... war er plötzlich wieder zusammen‐ gewachsen und sprang aus dem Rachen des Ungeheuers heraus. Nicht der kleinste Kratzer war an seinem Körper zu sehen. Der Drache je‐ doch...› unter meiner Hand. Nun war die Geschichte nach meinem Geschmack: ‹Im Handumdrehen verschlang ihn der Drache und riß ihn gie‐ rig in kleine Stücke. Das war fast mehr, als der Prinz aushalten konnte, doch er nahm alle Kraft zusammen und ertrug die Qualen standhaft, bis er vollständig zerfetzt war. Blitzschnell sank er zu Boden und war auf der Stelle tot.› Ein Erwachsener hätte sicherlich gewußt, wie unsinnig es war, diese Sätze auszulassen. Und selbst ich, der arrogante junge Zen‐ sor, empfand damals den offensichtlichen Widerspruch zwischen ‹vollständig zerfetzt› und ‹sank zu Boden›, doch ich war derart in meine eigenen Phantasien versponnen, daß mir diese Patentlösung die einzig mögliche erschien. Andererseits wiederum entzückten mich Vorstellungen, bei de‐ nen ich selber entweder auf dem Schlachtfeld starb oder ermordet 27
wurde. Dennoch hatte ich eine abnorme Angst vor dem Tode. Ich vermochte zuweilen eines unserer Dienstmädchen bis zu Tränen zu ärgern und sah dann, wie es am nächsten Tage mit lächelnder Miene mein Frühstück hereinbrachte, als ob nichts geschehen wäre. Jedesmal glaubte ich dann, alle möglichen unheilvollen Be‐ deutungen aus ihrem Lächeln herauszulesen. Mir war, als nähme ich etwas Teuflisches hinter diesem Lächeln wahr, und ich war davon überzeugt, daß sie siegesgewiß war und mich aus Rache vergiften wollte. Ich kam fast um vor Angst. Bestimmt hatte sie Gift in meine Suppe getan, und ich war um alles in der Welt nicht mehr dazu zu bewegen, auch nur einen einzigen Löffel davon zu essen. Manchmal sprang ich dabei vom Stuhl auf und starrte das Mädchen durchbohrend an, als ob ich sagen wollte: ‹Ich weiß Bescheid!› Jedesmal hatte ich dabei den Eindruck, das Mädchen sei so entsetzt darüber, daß ich ihre Vergiftungspläne durchkreuzt hatte, daß sie sich nicht vom Stuhl erheben konnte. Sie starrte dann über den Tisch hinweg auf meine Suppe, die inzwischen völlig kalt geworden war, und sagte sich wohl, daß ich zuwenig von ihr gegessen hatte, als daß das Gift hätte wirken können. Wegen meiner anfälligen Gesundheit und auch, um mich vor schlechtem Umgang zu bewahren, hatte meine Großmutter mir verboten, mit den Jungen der Nachbarschaft zu spielen. Mit Aus‐ nahme der Dienstmädchen und Krankenschwestern waren meine einzigen Gefährten drei Mädchen, die meine Großmutter unter den Nachbarskindern für mich ausgesucht hatte. Der geringste Lärm verursachte ihr Nervenschmerzen, selbst das Öffnen oder Schließen einer Tür, der Ton einer Kindertrompete oder wenn wir uns balgten, kurzum, eigentlich jeder kleinste Laut. Daher mußten wir beim Spielen leiser sein, als das sonst sogar unter Mädchen üblich ist. Ich las lieber allein für mich ein Buch oder spielte mit meinem Baukasten, oder ich träumte und zeichnete. Als meine Ge‐ schwister geboren wurden, überließ man sie nicht – wie seinerzeit mich – meiner Großmutter, und mein Vater achtete darauf, daß sie in einer gewissen Freiheit aufwuchsen, die Kinder brauchen.
Dennoch beneidete ich sie nicht um ihre Freiheit und Rüpelhaftig‐ keit. Doch dies war anders, wenn ich bei meinen Kusinen zu Besuch war. Dann wurde auch von mir verlangt, mich als Junge, als ‹Mann› zu benehmen. Hier muß von einem Vorfall berichtet wer‐ den, der sich in meinem siebenten Lebensjahr zu Beginn des Früh‐ jahrs, bevor ich in die Grundschule eintrat, ereignete, und zwar im Hause einer bestimmten Kusine, die ich Sugiko nennen werde. Bei unserer Ankunft rief meine Großtante immer wieder bewundernd: «Wie groß er geworden ist!», und meine Großmutter, die mich be‐ gleitet hatte, fühlte sich derart geschmeichelt, daß sie mir aus‐ nahmsweise meine Diät erließ. Durch meine häufigen Anfälle von Selbst‐Intoxikation, die ich schon erwähnt habe, war sie derart ver‐ ängstigt, daß sie mir zum Beispiel alle ‹Fische mit blauen Schup‐ pen› zu essen verboten hatte. Auch durfte ich nur Fische essen, die weißes Fleisch haben, wie Heilbutt, Steinbutt oder Rotbarsch. Kartoffeln durfte ich nur als Püree zu mir nehmen. Alle Konfitüren waren verboten, erlaubt waren nur leichte Kekse, Waffeln und ähnliches Trockengebäck. Was Obst betraf, so durfte ich nur Mandarinen und in dünne Scheiben geschnittene Äpfel essen. Bei meinem Besuch bekam ich also zum erstenmal einen Fisch mit ‹blauen Schuppen›, eine Seezunge, vorgesetzt, die ich mit großer Genugtuung verschlang, weil ihr zarter Geschmack mir anzeigte, daß mir endlich das erste meiner zukünftigen Rechte als Erwach‐ sener zugestanden wurde. Doch zugleich hinterließ dies auch einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge, ein gewisses Unbe‐ hagen bei dem Gedanken, erwachsen zu werden. Und immer, wenn ich Seezunge esse, werde ich daran erinnert. Sugiko war ein gesundes Mädchen, das vor Leben überschäum‐ te. Ich schlief nie leicht ein, und als ich nun in ihrem Hause wohnte und im selben Zimmer auf der Matte neben ihr lag, beobachtete ich mit einer Mischung von Neid und Bewunderung, wie leicht Sugi‐ ko, fast unmittelbar nachdem sie ihren Kopf aufs Kissen gelegt hatte, einschlief. 29
Ich hatte bei Sugiko bedeutend mehr Freiheit als zu Hause. Da die angeblichen Feinde, die mich rauben wollten – kurz, meine Eltern –, nicht anwesend waren, gewährte mir meine Großmutter beruhigt größere Freiheit. Daher hielt sie es nicht für notwendig, ständig auf mich aufzupassen, wie sie das zu Hause zu tun pflegte. Dennoch konnte ich an dieser mir gewährten Freiheit kein beson‐ deres Vergnügen finden. Wie ein Rekonvaleszent, der wieder seine ersten Schritte macht, fühlte ich mich steif, so als handelte ich unter dem Zwang einer eingebildeten Verpflichtung. Ich entbehrte mei‐ nen gewohnten Müßiggang. In diesem Hause wurde von mir still‐ schweigend verlangt, mich wie ein richtiger Junge zu benehmen. Die widerliche Maskerade hatte begonnen. Etwa um jene Zeit begann ich, zum erstenmal unklar zu begreifen, daß das, was die Leute als eine Pose meinerseits ansahen, in Wirklichkeit nur krampfhafte Bemühungen waren, meine wahre Natur zu verteidi‐ gen, und daß gerade das, was sie als mein wahres Selbst ansahen, eine Maskerade war. Diese unfreiwillige Schauspielerei war es, die mich eines Tages sagen ließ: «Wir wollen doch einmal Krieg spielen!» Dies war kaum ein geeignetes Spiel für uns, da meine beiden Spielkameraden – Sugito und eine andere Kusine – Mädchen waren. Die Amazonen waren von meinem Vorschlag offensichtlich wenig begeistert. Daß ich ihn gemacht hatte, lag hauptsächlich an meinem ‹verdrehten, gesellschaftlichen Pflichtbewußtsein›, lag kurz gesagt darin, daß ich fühlte, ich dürfte den beiden Mädchen nicht schmeicheln, sondern müßte es ihnen irgendwie schwer machen. Obgleich wir uns dabei alle gründlich langweilten, setzten wir unser ungeschicktes Kriegsspielen im Haus und draußen bis zum Einbruch der Dämmerung fort. Hinter einem Busch ahmte Sugiko das Geräusch eines Maschinengewehres nach: «Päng! Päng! Päng!»
Schließlich glaubte ich, es sei an der Zeit, der Sache ein Ende zu machen und veranstaltete eine wilde Flucht ins Haus. Die Frauen‐ soldaten liefen hinter mir her und riefen unausgesetzt: «Päng! Päng! Päng!» Ich griff nach meinem Herzen, ließ mich mitten im Wohnzimmer auf den Boden fallen. «Um Gottes willen, was ist los?» Die beiden Mädchen kamen ängstlich näher. «Ich bin auf dem Schlachtfeld gefallen», antwortete ich, ohne die Augen zu öffnen oder mich zu bewegen. Ich war von der Vorstellung besessen, daß mein eigener Leich‐ nam zusammengekrümmt auf der Erde läge. Ich empfand ein unsagbares Entzücken darüber, erschossen worden zu sein und auf der Schwelle des Todes zu stehen. Ich glaubte, daß ich sicher keinen Schmerz verspüren würde, wenn ich tatsächlich von einer Kugel getroffen worden wäre. Die Jahre der Kindheit... In meiner Erinnerung taucht eine Szene auf, die wie ein Symbol für diese Jahre ist. Heute verkörpert diese Szene für mich die Kindheit, die unwiderruflich vergangen und vorüber ist. Schon als ich diese Szene erlebte, fühlte ich, daß die Kindheit mir die Hand zum Abschied reichte. In diesem Augenblick hatte ich eine Vorahnung, daß mein Gefühl für subjektive Zeit oder Zeitlo‐ sigkeit eines Tages aus mir hervorströmen und in eine Gußform dieser Szene fließen werde, um eine genaue Imitation ihrer Men‐ schen, Handlungen und Laute zu bilden; daß gleichzeitig durch die Vollendung dieses Abbildes das Original sich in den weitläufi‐ gen Perspektiven der realen und objektiven Zeit verflüchtigen werde; und daß ich mit nichts anderem als der bloßen Imitation oder, um es anders zu sagen, mit nichts anderem als dem sorg‐ fältig durchgezeichneten Miniaturbild meiner Kindheit zurück‐ bleiben würde.
31
Jeder hat in seiner Kindheit ähnliche Erlebnisse. In den meisten Fällen jedoch sind sie so unauffällig, daß man sie kaum ein Erleb‐ nis nennen kann, und meist gehen sie fast unbemerkt vorüber. Die Szene, von der ich spreche, fand an einem Tag statt, an dem in Tokio das große Sommerfest gefeiert wird. Eine Menschenmen‐ ge strömte lärmend durch das schmiedeeiserne Tor in unseren Garten. Meinetwegen und im Hinblick auf ihr krankes Bein hatte meine Großmutter die Feuerwehr in der Nachbarschaft dazu überredet, anzuordnen, daß die Festtagsumzüge in unserem Viertel an unse‐ rem Hause vorüberzögen. Ursprünglich war eine andere Route vorgesehen worden, doch der Chef der Feuerwehr nahm es jedes Jahr auf sich, den Festzug diesen kleinen Umweg machen zu las‐ sen, und es hatte sich bereits eingebürgert, daß die Prozession an unserem Hause vorbeizog. An jenem Tag stand ich mit den anderen Bewohnern unseres Hauses vor dem Gartentor. Beide Flügel des mit Weinblättern ver‐ zierten schmiedeeisernen Tores waren geöffnet, und das Pflaster vor dem Hause war frisch gesprengt worden. Aus der Ferne ver‐ nahm man das näher kommende Schlagen von Trommeln. Die klagende Melodie eines Gesanges, von dem einzelne Worte nur nach und nach unterscheidbar wurden, drang durch den ver‐ worrenen Tumult der Festtagsmenge und verkündete das wahre Leitmotiv des so zwecklos erscheinenden Aufruhrs – eine schein‐ bare Wehklage über die äußerst vulgäre Verschmelzung von Menschheit und Ewigkeit, die nur durch eine solche fromme Sünd‐ haftigkeit wie diese vollzogen werden konnte. In dem Durcheinan‐ der von Tönen konnte ich allmählich das metallische Klingeln der Ringe an der Stange unterscheiden, die der voranschreitende Prie‐ ster trug. Dann vernahm ich auch die rhythmischen Rufe der Jüng‐ linge mit dem Heiligen Schrein auf ihren Schultern und das dump‐ fe Dröhnen der Trommeln. Mein Herz hämmerte so wild, daß ich kaum stillstehen konnte. (Von jenem Tage an steigerte sich jede heftige Vorfreude für mich stets zu einer Qual.)
Der Priester mit der Stange trug eine Fuchsmaske. Die goldenen Augen des Geistertieres waren starr auf mich gerichtet, als wollten sie mich behexen, und die vorbeiziehende Prozession erregte in mir eine Begeisterung, die fast an Schrecken grenzte. Bevor es mir noch zum Bewußtsein kam, merkte ich, wie ich mich am Rock des erstbesten Menschen festhielt, der zu unserem Hause gehörte und neben mir stand: ich wäre sonst im nächsten Augenblick unter irgendeinem Vorwand davongelaufen. (Von jenem Tage an wurde das meine typische Lebenseinstellung: Vor Dingen, die ich zu hef‐ tig herbeisehne, die ich zu sehr mit vorwegnehmenden Tagträu‐ men verschöne, bleibt mir zum Schluß nichts anderes übrig als davonzulaufen). Dem Priester folgte eine Gruppe von Feuerwehrleuten, auf den Schultern die mit den heiligen Strohgirlanden verzierte Opfertru‐ he, und dahinter hüpfte eine Schar Kinder, die einen winzigen Schrein mit sich führte, den sie übermütig auf‐ und abbewegte. Endlich kam der große Hauptschrein in Sicht, der majestätische, schwarze und goldene omikoshi. Aus der Ferne hatten wir schon den goldenen Phönix auf seinem Dach über dem Gewirr der Men‐ ge hin und her schwanken sehen, ähnlich einem Vogel, der dicht über die Wellenkämme des Meeres gleitet, und sein Anblick hatte uns alle mit einem bestürzenden Gefühl des Unbehagens erfüllt. Und jetzt bewegte er sich auf einmal unmittelbar auf uns zu, und eine Art giftige tödliche Stille herrschte plötzlich um uns her, die wie die heiße Luft der Tropen über dem Schrein hing. Etwas wie bösartige Trägheit schien heiß über den nackten Schultern der jun‐ gen Männer, die den omikoshi trugen, zu zittern. Jenseits der dicken, scharlachroten und weißen Absperrtaue, hinter diesen schwarzlackierten, vergoldeten Ketten und diesen mit Blattgold beschlagenen Türen war ein Kubikmeter pechschwarzer Dunkel‐ heit. Dieser vollkommene Würfel aus leerer Nacht, der unablässig auf und ab schwankte, hin und her, auf und nieder, beherrschte den wolkenlosen Frühsommertag. 33
Der Schrein kam näher und näher. Die jungen Leute, auf deren Schultern er ruhte, trugen alle ähnlich gemusterte Sommerkimo‐ nos. Die dünne Baumwolle ließ die Formen ihrer Leiber klar hervortreten. Ihre Bewegungen erweckten den Anschein, als sei der Schrein betrunken. Ihre Beine schienen sich ineinander zu verwickeln, und es war so, als blickten ihre Augen nicht auf das, was um sie geschah. Der junge Mann, der als Zeichen seiner besonderen Würde einen großen runden Fächer in der Hand hielt, lief um die Gruppe herum und stachelte die Träger mit wunderbar lauten Zurufen an. Von Zeit zu Zeit neigte sich der Schrein be‐ denklich zur Seite, jedesmal wurde er dann unter lautem Gebrüll wieder gerade gerichtet. Obgleich sich die jungen Leute nicht anders benahmen als sonst üblich, schien doch heute eine besondere Kraft und Wildheit in ihnen zu sein, die nach einem Ausbruch verlangte. Vielleicht hatten die Erwachsenen meiner Familie das schon gespürt, denn plötzlich schob mich die Hand der Person, an die ich mich klammerte, beiseite. «Paßt auf!» schrie jemand. Was danach eigentlich geschah, kann ich nicht genau sagen. Von jener Hand gezogen, rannte ich durch den Vorgarten ins Haus, stürzte durch eine Seitentür hinauf in den zweiten Stock auf den Balkon. Von dort aus beobachtete ich atemlos das Geschehen unter mir. Gerade in diesem Augenblick drangen die Leute mit ihrem schwarzen Schrein in unseren Vorgarten. Später zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Macht sie zu dieser Handlung zwang. Ich weiß es bis heute nicht. Wie war es zu erklären, daß alle diese vielen jungen Leute plötzlich wie unter einem einzigen gemeinsamen Entschluß handelten und in unseren Garten stürmten? Mit wahrer Inbrunst machten sie sich daran, alle Pflanzen niederzutrampeln, es war eine Orgie der Zerstörung, und der Vorgarten, der mich seit langem nicht interessiert hatte, verwan‐
delte sich plötzlich in eine andere Welt. Der Schrein wurde im ganzen Garten herumgetragen, und jede Pflanze wurde dabei ver‐ nichtet, jeder Strauch zertreten. Ich konnte nur schwer begreifen, was vor sich ging. Die Geräusche schienen sich gegenseitig aufzu‐ heben, und ich hatte den Eindruck, als schlügen in Abständen Wellen gefrorener Stille und sinnlosen Gebrülls an meine Ohren. Ebenso war es auch mit den Farben – gold und zinnoberrot, purpur und grün, gelb und dunkelblau –, alles tanzte und kochte durcheinander und schien eine einzige Farbe zu sein, in der bald Gold, bald Zinnoberrot vorherrschte. Nur eines vermochte ich durch all das hindurch klar zu erken‐ nen, etwas, was mich gleichermaßen entsetzte und innerlich aufs tiefste verwundete und mich mit einem beispiellosen Grauen erfüllte: der Ausdruck in den Gesichtern der jungen Männer, die den Schrein trugen, ein Ausdruck der obszönsten und zügellose‐ sten Trunkenheit, die man sich vorstellen kann...
35
Zweites Kapitel Über ein Jahr schon litt ich unter der Angst eines Kindes, das mit einem seltsamen Spielzeug ausgestattet ist. Ich war zwölf Jahre alt. Dieses Spielzeug konnte bei jeder Gelegenheit seinen Umfang ver‐ größern und versprach, bei richtigem Gebrauch, äußerst köstlich zu sein. Doch die Gebrauchsanweisungen waren nirgends aufge‐ schrieben, daher war meine Verwirrung jedesmal unvermeidlich, wenn jenes Spielzeug von sich aus die Initiative ergriff und mit mir spielen wollte. Gelegentlich wurden meine Beschämung und Un‐ geduld so groß, daß ich sogar daran dachte, das Spielzeug zu zerstören. Doch blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als mich dem aufsässigen Spielzeug und seinem süßen Geheimnis zu unter‐ werfen, und untätig darauf zu warten, was geschehen würde. Danach nahm ich mir vor, weniger leidenschaftlich auf seine Wünsche zu hören. Ich stellte fest, daß es bereits seinen eigenen und unmißverständlichen Geschmack entwickelt hatte, oder auch das, was man seinen eigenen Mechanismus nennen könnte. Die Natur dieser Geschmacksrichtungen war nicht nur mit meinen Kindheitserinnerungen verknüpft, sondern verband sich nach und nach mit dem Anblick der nackten Leiber von jungen Männern am sommerlichen Strand, der Schwimmriegen im Meiji‐Bad, des dun‐ kelhäutigen jungen Mannes, den eine meiner Kusinen heiratete, und mit den Bildern der Helden in vielen Abenteuerbüchern. Ich hatte bis dahin irrtümlicherweise angenommen, daß ich von all dem nur aus poetischen Gründen angezogen werde. Auf diese Weise hatte ich die wahre Natur meiner sinnlichen Begierden mit den Problemen der Ästhetik verwechselt. Das Spielzeug hob den Kopf und sehnte sich gleichermaßen nach Tod und Vernichtung und nach Strömen von Blut und schwellen‐ 37
den Muskeln. Zweikampfszenen auf den Titelseiten der Abenteu‐ ermagazine, die ich mir insgeheim von unserem Hausdiener lieh, Abbildungen junger Samurai‐Krieger, die sich die Bäuche auf‐ schlitzen, Soldaten, die ihre Hände krampfhaft gegen die Brust pressen, aus der Blut hervorquillt; Fotos muskulöser Sumo‐Ring‐ kämpfer des ‹Dritten Grades›, die also noch nicht zu dick sind: beim Anblick all dieser Dinge hob das Spielzeug prompt seinen neugierigen Kopf (falls das Adjektiv ‹neugierig› zu wenig genau sein sollte, kann man dafür entweder ‹erotisch› oder ‹lustvoll› set‐ zen). Im gleichen Maße wie ich diese Zusammenhänge zu verstehen begann, suchte ich bewußt und absichtlich dabei das physische Vergnügen. Das Prinzip der Auswahl und der richtigen Anord‐ nung spielte dabei eine Rolle. Wenn mir beispielsweise die Kom‐ position eines Bildes in einem Abenteuermagazin mangelhaft erschien, zeichnete ich es erst mit Buntstiften ab, um es dann zu meiner Zufriedenheit zu korrigieren. Daraus wurden dann Bilder wie das eines jungen Zirkusakrobaten, der zusammenbricht und sich mit beiden Händen an die Brust greift, wo in Strömen Blut aus einer Schußwunde quillt, oder das eines Drahtseilkünstlers, der, abgestürzt, sterbend mit zerschmettertem Schädel in einer Blutla‐ che am Boden liegt. Oft wurde ich in der Schule dermaßen von Angst überwältigt, daß diese blutrünstigen Zeichnungen, die ich zu Hause in einem Schubfach meines Bücherschrankes versteckt hatte, während meiner Abwesenheit entdeckt werden könnten, daß ich nicht einmal mehr die Stimme des Lehrers vernahm. Mir war klar, daß ich sie gleich, nachdem ich sie gezeichnet, hätte zer‐ stören müssen. Doch mein Spielzeug war so von ihnen angezogen, daß dies für mich einfach unmöglich war. Auf diese Weise ließ mein rebellisches Spielzeug viele unnütze Tage und Monate vergehen, ohne sein zweites Ziel zu erreichen – das ich von nun an ‹meine schlechte Gewohnheit› nennen werde –, geschweige denn sein erstes und eigentliches.
Inzwischen hatten viele Veränderungen um mich her stattgefun‐ den. Meine Angehörigen hatten das Haus, in dem ich geboren war, verlassen, die Familie hatte sich geteilt und war in zwei getrennte Häuser gezogen, die allerdings in der gleichen Straße nur einen halben Häuserblock voneinander entfernt lagen. Meine Großeltern und ich wohnten in dem einen, während meine Eltern, mein Bru‐ der und meine Schwester in dem anderen lebten. Mein Vater wurde damals in Staatsgeschäften ins Ausland geschickt und reiste durch einige europäische Länder, ehe er wieder nach Tokio zu‐ rückkehrte. Nach nicht allzu langer Zeit zogen meine Eltern aber‐ mals um. Mein Vater hatte endlich den verspäteten Entschluß gefaßt, mich in seinem eigenen Hause aufwachsen zu lassen. Ich machte eine Abschiedsszene mit meiner Großmutter durch, die mein Vater ein ‹modernes Melodrama› nannte, und kam so endlich dazu, mit meinen Eltern zusammenzuleben. Von dem Haus, in dem meine Großeltern wohnten, war ich nun durch mehrere Sta‐ tionen der staatlichen Eisenbahn und der städtischen Straßenbahn getrennt. Tag und Nacht preßte meine Großmutter weinend mein Foto an ihre Brust und hatte jedesmal einen Weinkrampf, wenn ich unseren ‹Friedensvertrag› verletzte, demzufolge ich jede Woche einmal bei ihr übernachten mußte. So hatte ich im Alter von zwölf Jahren eine sechzigjährige treue Geliebte. Dann wurde mein Vater nach Osaka versetzt, der Rest der Fami‐ lie aber blieb in Tokio zurück. Eines Tages, als ich wegen einer leichten Erkältung der Schule fernbleiben durfte, nahm ich die Gelegenheit wahr, einige Kunst‐ bände, die mein Vater als Andenken an seine Reisen ins Ausland mitgebracht hatte, in mein Zimmer mitzunehmen, wo ich sie aufmerksam und in Ruhe durchsehen konnte. Besonders erregten mich die Reproduktionen griechischer Skulpturen in verschiede‐ nen italienischen Museumsführern. Als ich auf die Akt‐Darstel‐ lungen stieß, waren es unter all den vielen Meisterwerken diese schwarz‐weißen Bildtafeln, die meinen Neigungen entgegenka‐ 39
men. Wahrscheinlich lag das an der einfachen Tatsache, daß selbst bei Reproduktionen eine Plastik am ehesten lebensecht wirkt. Es war das erste Mal, daß ich die Bücher sah. Mein vorsichtiger Vater, der Angst hatte, daß Kinderhände sie beschmutzen könnten, und der außerdem befürchtete – wie sehr irrte er sich in diesem Fall! –, ich könnte mich zu den Darstellungen nackter Frauen hin‐ gezogen fühlen, hatte die Bücher in den untersten Schubladen eines Schrankes verborgen gehalten. Was mich betraf, so hatte ich bis zu jenem Tage niemals geahnt, daß diese Abbildungen interes‐ santer sein könnten als die Bilder in den Abenteuermagazinen. Ich schlug eine Seite ganz am Schluß des Bandes auf. Plötzlich erblickte ich auf der nächsten ein Bild, von dem ich fast denken mußte, daß es die ganze Zeit geradezu auf mich gewartet habe. Es war eine Reproduktion von Guido Renis ‹Hl. Sebastian›, der zu der Sammlung des Palazzo Rosso in Genua gehört. Gegen einen tizianähnlichen düsteren und fernen Hintergrund von finsterem Wald und abendlichem Himmel hob sich der schwarze und leicht geneigt stehende Baumstamm ab, an dem die Hinrichtung stattfand. Ein bemerkenswert hübscher Jüngling stand nackt vor einem Baum. Seine gekreuzten Hände waren hoch über seinem Haupt an den Stamm gefesselt. Andere Fesseln waren nicht zu sehen, und um seine Nacktheit zu verbergen, war um seine Lenden locker ein grobleinenes, weißes Tuch geknotet. Ich vermutete, daß es sich um die Darstellung eines christlichen Märtyrers handeln mußte. Doch da das Bild von einem Maler der eklektischen Schule, die auf die Renaissance folgte, stammt, hat selbst diese Darstellung des Märtyrertodes eines Heiligen einen stark heidnischen Akzent. Der Leib dieses Jünglings – der wegen seiner Schönheit mit Antinous, dem Geliebten Hadrians, vergli‐ chen werden kann, der so oft in Bildwerken verewigt worden ist –, zeigt keine Spuren von Leiden oder Gebrechlichkeit, wie sie bei der Darstellung anderer Heiliger so oft zu finden sind; Licht und Schönheit, Jugend und Freude umgeben ihn.
Seine weiße, makellose Nacktheit leuchtet vor dem dämmerigen Hintergrund. Seine muskulösen Arme – die Arme eines Prätoria‐ ners, die gewohnt sind, den Bogen zu spannen und das Schwert zu schwingen – sind in einem anmutigen Winkel gehoben, und die gefesselten Handgelenke sind über seinem Kopf gekreuzt. Sein Ge‐ sicht ist leicht aufwärts gewandt, seine Augen sind weit geöffnet, und er schaut voll unermeßlicher Gelassenheit auf die Herrlichkeit des Himmels. Es ist nicht Schmerz, der seine schweratmende Brust, seinen angespannten Unterleib, seine leicht verzerrten Hüf‐ ten umspielt, sondern ein Hauch, fast ein Ton melancholischer Wonne. Wären da nicht die Pfeile, die bis zum Schaft in seiner linken Achselhöhle und in der rechten Seite stecken, so würde man ihn eher für einen römischen Athleten halten, der sich müde in einem Garten gegen einen Baum lehnt und ausruht. Die Pfeile haben sich in das gespannte und atmende junge Fleisch gebohrt und verzehren den Leib von innen her mit den Qualen der äußersten Agonie und Ekstase. Doch man sieht weder Blut noch einen Schwarm von Pfeilen wie auf den meisten anderen Darstellungen des heiligen Sebastian. Vielmehr werfen nur zwei einzelne Pfeile ihre ruhigen und feinen Schatten auf die glatte Haut, so wie die Schatten eines Zweiges auf Marmorstufen fallen. Doch alle diese Auslegungen und Beobachtungen machte ich spä‐ ter. Als ich an jenem Tage das Bild betrachtete, durchzuckte mich eine heidnische Freude. Das Blut schoß mir ins Gesicht, und meine Lenden schwollen an wie im Zorn. Das monströse Glied war nahe daran zu zerplatzen und verlangte mit brennender neuer Heftig‐ keit, daß ich es gebrauche; es klopfte vorwurfsvoll, entrüstet über meine Unwissenheit. Meine Hände begannen sich vollkommen unbewußt auf eine Weise zu bewegen, die sie nie gelernt hatten. Ich spürte, wie sich in mir ein geheimnisvolles strahlendes Etwas schnellfüßig erhob und zum Angriff überging. Plötzlich brach es hervor, blendete und berauschte mich... Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich schlechten Gewissens die Dinge um mich her wieder 41
wahrnehmen konnte. Der Ahornbaum vor dem Fenster warf auf alle Gegenstände einen hellen Widerschein, auf das Tintenfaß, meine Schulbücher und Hefte, auf das Wörterbuch und den hl. Sebastian. Wolkenweiße Flecken lagen auf der Goldprägung eines Buchtitels, auf dem Tintenfaß, auf einer Ecke des Wörterbuches. Sie tropften träge und schleimig oder glänzten matt wie die Augen von toten Fischen. Glücklicherweise hatte eine instinktive Bewe‐ gung meiner Hand das Buch vor Flecken bewahrt. Dies war meine erste Ejakulation. Außerdem war es der unbe‐ holfene und völlig unvorhergesehene Beginn meiner ‹schlechten Gewohnheit›. (Es ist eine seltsame Koinzidenz, daß bei Magnus Hirschfeld Bil‐ der des heiligen Sebastian unter den Kunstwerken, an denen der Invertierte eine besondere Freude hat, die erste Stelle einnehmen. Diese Beobachtung Hirschfelds führt leicht zu der Mutmaßung, daß bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle von Inversion, besonders bei der angeborenen, der invertierte und der sadistische Impuls unentwirrbar miteinander verwoben sind.) Nach der Überlieferung wurde der heilige Sebastian ungefähr um die Mitte des dritten Jahrhunderts geboren. Er wurde Haupt‐ mann in der Prätorianer‐Garde, und er starb schon mit ungefähr dreißig Jahren als Märtyrer. Er soll im Jahre 288, also während der Regierungszeit des Kaisers Diokletian gestorben sein. Diokletian, ein Emporkömmling, der das Leben kannte, wurde seiner Groß‐ mut wegen bewundert. Doch Maximilian, der Mitkaiser, verab‐ scheute das Christentum und verurteilte den numidischen Jüng‐ ling Maximilianus zum Tode, weil er sich aus christlichem Pazifis‐ mus geweigert hatte, den geforderten Militärdienst abzuleisten. Der Zenturio Marcellus wurde wegen derselben religiösen Stand‐ haftigkeit hingerichtet. Dies also ist der historische Hintergrund, durch den das Martyrium des heiligen Sebastian verständlich wird. Sebastian bekehrte sich heimlich zum Christentum, benutzte seine Stellung als Hauptmann der Prätorianer‐Garde, um die ein‐
gekerkerten Christen zu ermutigen und bekehrte zahlreiche Römer, selbst den Oberbefehlshaber der Truppe. Als dies bekannt wurde, verurteilte man ihn zum Tode. Eine fromme Witwe, die gekommen war, um ihn nach seiner Hinrichtung zu beerdigen, fand noch Leben in dem von zahllosen Pfeilen durchbohrten Kör‐ per, nahm ihn mit nach Hause und pflegte ihn gesund. Kaum genesen, forderte er erneut den Kaiser heraus und verhöhnte seine Götter. Diesmal wurde er mit Keulen erschlagen. In großen Umrissen mag diese Legende auf Wahrheit beruhen; fest steht, daß es zu jener Zeit viele solcher Märtyrer gab. Was den Einwand anbetrifft, daß kein menschliches Wesen mit so vielen Pfeilwunden im Körper jemals mit dem Leben davonkommen kann, so mag es sich hier einfach um eine spätere Ausschmückung handeln unter der üblichen Verwendung des Auferstehungs‐ mythos, die dem Verlangen der Menschheit nach Wundern entge‐ genkommt. Ich wünsche, daß meine Begeisterung für die Legende und für dieses Bildnis deutlicher verstanden wird als das, was sie war, nämlich ein bestürzendes sinnliches Ereignis; darum schiebe ich dieses Fragment ein, das ich einige Jahre später geschrieben habe. Der heilige Sebastin – ein Gedicht in Prosa Einst erblickte ich durch eines der Fenster unseres Klassenzimmers einen Baum; er war nicht sehr hoch und schwankte im Wind. Als ich näher hinsah, begann mein Herz wild zu pochen, denn der Baum war von nahezu erschreckender Schönheit. Wie ein Dreieck, das von einem Rund überdeckt wird, erhob er sich über dem Rasen. Schwer lastete das Grün auf seinen Ästen, die aufwärts ragten wie die symmetrischen Arme eines Kandelabers; und unter dem Grün befand sich wie ein Ebenholzpodest ein derber Stamm. Da stand er, der Baum, vollkommen, wunderbar ge‐ schmückt, ohne seine natürliche Grazie und Kunstlosigkeit zu verlieren, verharrte in erhabener Stille, als sei er sein eigener Schöpfer. Und den‐ 43
noch war er unzweifelhaft etwas Geschaffenes, vielleicht eine musikalische Komposition; Kammermusik eines deutschen Meisters, die eine religiöse, ruhige Freudigkeit schenkt, daß man sie ‹heilig› nennen muß, erfüllt mit dem feierlichen Ernst und der Sehnsucht, wie sie in den Mustern maje‐ stätischer Wandteppiche zu finden sind. Die Gleichheit der Umrisse des Baumes und der Klänge der Musik war von bestimmter Bedeutung für mich. Als ich von beiden gemeinsam an‐ gegriffen wurde, die in dieser Gemeinsamkeit noch mächtiger waren, war es kein Wunder, daß sich mein unbeschreibliches, mysteriöses Gefühl nicht dem Lyrismus näherte, sondern jenem finsteren Rausch, der aus der Vereinigung von Religion und Musik entsteht. Plötzlich fragte mich eine innere Stimme: «Ist das nicht derselbe Baum, jener Baum, an dem der junge Heilige mit den Händen über dem Kopf gefesselt stand, derselbe Baumstamm, an dem sein geheiligtes Blut nieder‐ rann wie Tropfen nach dem Regen, jener römische Baum, an dem er sich wand, strahlend in seiner Agonie, jener Baum, an dessen Rinde sich sein junges Fleisch wundriß als der letzte Beweis aller irdischen Freuden und Schmerzen?» In den historischen Annalen des Märtyrertums wird berichtet, daß zu jener Zeit, da Diokletian den Thron bestiegen hatte und von schranken‐ loser Macht träumte, ein junger Hauptmann der Prätorianer‐Garde er‐ griffen und beschuldigt wurde, einem verbotenen Gott zu dienen. Dieser junge römische Krieger hatte nicht nur einen geschmeidigen Körper, der an den berühmten orientalischen Lieblingssklaven des Kaisers Hadrian erinnerte, sondern auch die Augen eines Verschwörers, die so kalt und gefühllos wie das Meer blicken konnten. Er war von bezaubernder Arro‐ ganz. Auf seinem Helm trug er eine weiße Lilie, die ihm jeden Morgen die Mädchen aus der Stadt brachten. Wenn er graziös nach anstrengenden Turnieren den Kopf hängen ließ, sah die weiße Lilie auf seinem Haar wie ein Schwanenhals aus. Seinen Geburtsort kannte niemand, noch wußte man, wo er herstamm‐ te. Alle, die ihm begegneten, spürten diese Jugend und fühlten bei dem Anblick dieses Jünglings mit dem Körper eines Sklaven und den Zügen eines Prinzen, daß er ein wandernder Fremdling war, der bald diese Erde
verlassen werde, daß dieser Hyazinth ein Nomade war, der seine Herde leitete, daß dies der Mensch war, ausgewählt, grünere Weidegründe als andere zu finden. Einige der Mädchen glaubten fest, daß er von jenseits des Meeres ge‐ kommen war. Denn in seiner Brust vermeinten sie das Brausen der wil‐ den See zu hören, und in seinen Augen schimmerte der Widerschein des mystischen und ewigen Horizonts, die nie ersterbende Sehnsucht, die das Meer bei allen hinterläßt, die an seinen Küsten geboren werden und ins Binnenland ziehen. Seine Seufzer waren schwül wie die Passatwinde im Hochsommer, die einen leichten Duft von Seetang mit sich bringen, der an den Strand getrieben wurde. Es war Sebastian, der junge Hauptmann der Prätorianer‐Garde. Und war nicht eine solche Schönheit dem Tode geweiht? Und die robusten Frauen Roms, die guten starken Wein, der in den Kopf steigt, und saftige Braten gewöhnt waren, noch rot vom Blut – ahnten sie nicht sein ihm selbst bisher noch unbekanntes böses Schicksal und liebten ihn aus diesem Grund? Sein Blut floß schneller als bei anderen Menschen durch seinen weißen Körper und suchte nach einer Öffnung, aus der es hervorquellen konnte, wenn das Fleisch in Stücke gerissen würde. Wie sollten die Frauen das stürmische Sehnen eines solchen Blutes nicht gehört haben? Doch sein Schicksal verdiente in keiner Weise Mitleid. Es war ein stol‐ zes und tragisches Schicksal, das man sogar leuchtend nennen könnte. Wenn man etwas nachdenkt, so ist es wahrscheinlich, daß oft, selbst bei einem Kuß, seine Stirn vom Vorgeschmack des Todeskampfes flüchtig, doch schmerzvoll umwölkt gewesen sein muß. Und er wird, wenn auch nur dunkel, vorausgesehen haben, daß am Ende seines Weges der Märtyrertod auf ihn wartete, und daß ihn gerade dieses Zeichen, das das Schicksal ihm aufgedrückt hatte als das Merkmal seiner Besonderheit, von allen anderen Menschen dieser Erde unterschied. An diesem besonderen Morgen schlug Sebastian die Decken zurück und sprang bei Tagesanbruch von seinem Lager empor, weil ihn seine militärischen Pflichten riefen. Der Traum, den er im Morgengrauen ge‐ träumt hatte – Elstern, die Schlimmes ankündeten, hatten in seiner Brust 45
genistet und seinen Mund mit ihren Schwingen bedeckt –, war noch nicht von seinem Kopfkissen gewichen. Das harte Lager, auf dem er jede Nacht schlief, strömte einen Wohlgeruch von Seetang aus, wie er über die Küste zieht; sicherlich war es dieser Duft, der ihn so manche Nacht von der See und fernen Horizonten träumen ließ. Während er so am Fenster stand und seine klirrende Rüstung anlegte, blickte er zum Tempel hinüber, der von einem Hain umgeben war. Und am Himmel sah er die Sternhaufen, die ‹Mazzaroth› genannt werden, verblassen. Er blickte auf den prächtigen heidnischen Tempel, und seine feingeschwungenen Augenbrauen zogen sich verächtlich zusammen, als ob er leide. Dies stand seiner Schönheit wohl an. Er rief den Namen des Einzigen Gottes an und begann dann leise schreckenkündende Verse aus der Heiligen Schrift zu singen. Und es schien, als ob sich seine Stimme vertausendfacht hätte und sich mit ungeheurer Stärke an den Wänden des Tempels bräche. Er hörte ein lautes Stöhnen, das ohne Zweifel aus dem verfluchten Tempel drang, hinter den Säulenreihen hervor, die in den sternenbesäten Himmel ragten. Es war das Geräusch, als stürze ein sonderbares Gebäude in sich zusammen, und es hallte von dem sternen‐ besäten Himmelsdom wider. Er lächelte und blickte auf eine Stelle unter seinem Fenster hinab. Dort befand sich eine Gruppe von jungen Mädchen, die heimlich zu seinen Gemächern heraufstiegen, um sich dort zum Morgengebet zu versam‐ meln, wie sie das in der Dunkelheit vor jedem Sonnenaufgang taten. Und jedes Mädchen trug in der Hand eine weiße Lilie, deren Blüte noch, als schliefe sie, geschlossen war... Es war im Winter meines zweiten Jahres auf der Mittelschule. Inzwischen hatten wir uns an lange Hosen gewöhnt und nannten uns gegenseitig einfach beim Vornamen. (In der Grundschule war es verboten gewesen, mit nackten Knien herumzulaufen, wir durf‐ ten das nicht einmal im Sommer. Außerdem wurde unsere Freude, zum erstenmal lange Hosen anziehen zu dürfen, noch verdoppelt, weil wir uns nun nicht länger mit Strumpfhaltern herumplagen mußten. In der Volksschule mußten wir auch die offizielle Form
der Anrede gebrauchen, wenn wir uns bei Namen nannten.) Wir ärgerten die Lehrer, gewöhnten uns daran, vor dem Schul‐Teehaus Schlange zu stehen, Spiele zu spielen, bei denen wir durch den Schulwald rannten, und an das gemeinsame Leben im Schlafsaal. Meine übervorsichtigen Eltern hatten meine schwache Gesundheit zum Vorwand genommen und erreicht, daß ich nicht wie alle anderen Schüler während der Mittelschulzeit ein oder zwei Jahre in der Schule wohnen mußte. Wieder einmal war der eigentliche Grund hierfür, daß meine Eltern Angst hatten, ich könnte dort schlechte Dinge› lernen. Die Zahl der Externen war ziemlich klein. Gegen Ende des zwei‐ ten Jahres kam ein ‹Neuer› dazu. Er hieß Omi. Wegen schlechten Betragens war er aus dem Schulheim verwiesen worden. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich ihm keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, doch seitdem ihm das Odium eines ‹Missetäters› anhaf‐ tete, fand ich es auf einmal schwierig, ihn nicht zu beachten. Eines Tages kam ein gutmütiger und etwas dicklicher Schulkamerad kichernd und seine Grübchen zeigend zu mir gelaufen. Aus seinem ganzen Gehabe erkannte ich sofort, daß er irgendwelche geheimnisvollen Neuigkeiten wußte. «Mensch, ich muß dir etwas erzählen!» sagte er. Ich ging mit ihm auf den Flur hinaus, und wir blieben an einem Fenster stehen, von dem man in den windgepeitschten ‹Bogen‐ schützen‐Hof› hinuntersehen konnte. Jenes Fenster war der Platz, an dem wir uns gewöhnlich Geheimnisse anvertrauten. «Also – es handelt sich um Omi.» Er hielt plötzlich inne, wurde rot und schien verlegen zu sein, weiterzusprechen. (Einmal, ich glaube, es war im fünften Jahr der Grundschule, als wir alle über ‹das Thema› sprachen, hatte uns jener Junge ganz einfach mit der köstlichen Behauptung widersprochen: «Das Ganze ist ja erlogen. Ich weiß ganz genau, daß niemand so etwas tut.» Und ein anderes Mal, als er gehört hatte, daß der Vater eines Freundes gelähmt wurde, schärfte er mir ein, ich sollte mich dem Jungen um keinen Preis nähern, weil Lähmungen ansteckend seien.) 47
«Na – nun, was ist los mit Omi?» Obgleich ich mich zu Hause noch immer der bei uns üblichen sanften und höflichen Redeweise befleißigte, redete ich in der Schule genauso ungehobelt wie die anderen Jungen. «Dieser Bursche – dieser Omi – nun, es soll stimmen, daß er schon eine ganze Masse Mädchen gehabt hat! Das ist los mit ihm!» Ich wollte das gern glauben. Omi muß einige Jahre älter gewesen sein als wir anderen, da er zwei‐ oder dreimal sitzengeblieben war. Er übertraf uns alle an Körperkraft, und sein Gesicht zeigte eine Art privilegierte Jugendlichkeit, die die unsere bei weitem über‐ traf. Er besaß eine angeborene hochmütige Art. Es gab nichts, was er nicht verächtlich fand. Zum Beispiel war es für uns eine unwan‐ delbare Tatsache, daß ein Musterschüler ein Musterschüler und ein Lehrer ein Lehrer war. Für uns waren Polizisten oder Studenten und Büroangestellte eben einfach Polizisten, Studenten und Büro‐ angestellte. In der gleichen Weise war auch Omi für uns einfach Omi, es war unmöglich, seinen verachtungsvollen Blicken und seinem zornigen Lachen zu entgehen. «Wirklich?» fragte ich, und aus irgendeinem unbekannten Grund mußte ich sofort an Omis geschickte Hände beim Reinigen der Gewehre denken, die wir für die vormilitärische Ausbildung benutzten. Ich dachte an sein gewandtes Benehmen als Rotten‐ führer und daran, daß er einzig und allein beim Turnlehrer beliebt war. «Verstehst du nun –?» Mein Schulkamerad gab ein Kichern von sich, das nur Mittelschüler kennen. «Und man sagt», fuhr er fort, «‐ du weißt ja, was ich meine, sein... wäre unheimlich groß. Wenn wir das nächste Mal wieder beim ‹Pfui‐Spiel› sind, fühlʹs nur mal in seinen Hosen an und überzeug dich selbst!» Das ‹Pfui‐Spiel› war ein traditioneller Sport unserer Schule, der bei den Jungen des ersten und zweiten Schuljahres immer sehr beliebt war. Wie das bei allen solchen Dingen geht, die nur dem Zeitvertreib dienen, handelte es sich im Grunde eigentlich weniger
um ein wirkliches Spiel als vielmehr um eine Art übler Seuche. Wir spielten es am hellen Tage und ungeniert vor allen Leuten. Es ging folgendermaßen vor sich: Wenn beispielsweise ein Junge – nennen wir ihn A. – irgendwo, auf dem Hof oder in der Klasse in Gedan‐ ken ahnungslos herumstand, dann sprang ein anderer flugs von der Seite mit einem wohlgeübten Griff auf ihn zu. War dieser Griff erfolgreich, so zog sich B. siegreich auf eine gewisse Entfernung zurück und brüllte: «Hoh – was für einen großen der A. hat!» Was auch immer der ursprüngliche Anlaß zu solchem Spiel gewesen sein mag, sein einziges Ziel schien lediglich das komische Bild zu sein, das das Opfer abgab, wenn es seine Schulbücher oder was es sonst gerade bei sich trug, fallen ließ, um die angegriffene Stelle mit beiden Händen zu schützen. In Wahrheit entdeckten die Jungen bei diesem Spiel ihr Schamgefühl. Sie maskierten es durch ihr Gelächter; und dann aus der Sicherheit ihres noch lauteren Gelächters hatten sie die Genugtuung, ihre gemeinsame Scham lächerlich zu machen, die sich darin zeigte, daß das Opfer errötete. Der Angegriffene schrie dann jedesmal, wie vorher verabredet: «Pfui – was ist dieser B. für ein schmutziger Kerl!» Woraufhin dann die Herumstehenden im Chor einfielen: «Pfui – was ist dieser B. doch für ein schmutziger Kerl!» Omi befand sich bei diesem Spiel in seinem Element. Seine An‐ griffe waren dabei fast immer so schnell von Erfolg gekrönt, daß man im stillen den Verdacht hegen mußte, die Jungen wären insgeheim darauf aus gewesen, von Omi angegriffen zu werden. Umgekehrt suchten sich seine Opfer ständig an ihm zu rächen. Doch keine ihrer Anstrengungen waren jemals erfolgreich. Er ging immer mit der linken Hand in der Hosentasche herum, so daß er sich in dem Augenblick, in dem er angegriffen wurde, auf doppel‐ te Weise schützen konnte, durch die Hand in der Hosentasche und die freie Rechte. Die Äußerungen meines Schulkameraden über Omi wirkten auf mich wie Dünger auf die giftige Saat eines Gedankens, der tief in 49
mir verwurzelt war. Bis dahin hatte ich mich mit den gleichen unschuldigen Gefühlen an dem Spiel beteiligt wie meine Klassen‐ kameraden. Doch das, was mein Freund über Omi gesagt hatte, schien meine ‹schlechte Gewohnheit› – das einsame Leben, das ich unbewußt von allem streng getrennt gehalten hatte – in eine un‐ trennbare Verbindung mit diesem Spiel und mit meinem Leben in der Schule zu bringen. Dafür, daß eine solche Verbindung nun auf einmal vorhanden war, sprach die Tatsache, daß – ob ich wollte oder nicht – die Worte: «Fühlʹs nur mal in seinen Hosen an und überzeug dich selbst!» für mich jetzt eine besondere Bedeutung an‐ genommen hatten, eine Bedeutung, die keiner meiner unschuldi‐ geren Mitschüler verstanden hätte. Von jenem Zeitpunkt an hielt ich mich von diesem Spiel fern. Ich fürchtete mich vor dem Augenblick, da ich Omi hätte angreifen müssen, und fast noch mehr davor, daß er mich angreifen würde. Ich war ständig auf meiner Hut, und sowie Anzeichen dafür vor‐ handen waren, daß das Spiel im nächsten Augenblick beginnen könnte – wie ein Aufstand oder eine Revolte konnte es durch ein ganz belangloses Ereignis in Gang gesetzt werden –, machte ich mich aus dem Staube und ließ aus sicherer Entfernung Omi nicht aus den Augen... Tatsächlich hatte Omis Einfluß uns bereits verführt, ehe wir des‐ sen gewahr wurden. Da waren zum Beispiel seine Socken. Dem korrupten Erziehungssystem, das darauf abzielte, aus uns Soldaten zu machen, wurde damals auch schon an unserer Schule gehul‐ digt. General Enokis Vermächtnis vom Totenbett «Seid einfach und seid männlich!» war erneut aufgewärmt und serviert worden, und farbige Halstücher oder Socken waren natürlich tabu. Ja, an sich war überhaupt schon jeder Schal verpönt, und es wurde vor‐ geschrieben, daß Hemden weiß und Socken schwarz sein mußten oder zumindest von dunkler Farbe. Omi allein trug immer einen weißseidenen Schal und auffallend gemusterte Socken. Dieser erste Herausforderer des Tabus besaß eine gefährliche Gewandtheit, seine Bosheit damit zu verkleiden, daß er sich als
Anstifter einer Revolte gebärdete: Durch seine eigenen Erfahrun‐ gen hatte er entdeckt, welche Schwäche Jungen für den Zauber einer Revolte haben. Unmittelbar vor der Nase des Turnlehrers – jenes ungebildeten Unteroffiziers, der vom Lande stammte und ein Busenfreund Omis zu sein schien oder zumindest sein Anhänger – wickelte er sich seelenruhig seinen Schal um den Hals und schlug prahlerisch in der Art Napoleons den Kragen seines Regenmantels mit den Goldknöpfen hoch. Doch wie das immer der Fall ist, war die Revolte der blinden Massen nicht mehr als eine kärgliche Nachahmung. In der Hoff‐ nung, den Gefahren der Revolte zu entgehen und nur ihre Freuden zu kosten, übernahmen wir von Omis waghalsigen Beispielen nur die Socken. Auch ich machte keine Ausnahme. Wenn wir morgens in der Schule eintrafen, schwatzten und prahlten wir, bevor der Unterricht begann, und dabei saßen wir nicht auf den Bänken, sondern auf den Pulten. Jeder, der farbige Socken mit einem neuen Muster trug, zog, ehe er sich setzte, wich‐ tigtuerisch die Umschläge seiner Hosen hoch. Sofort wurde er mit lauten Ausrufen der Bewunderung belohnt. «Oh – was für schicke Socken!» ‹Schick› war in unserem Wortschatz der Ausdruck höchsten Lobes. Omi kam immer erst im letzten Augenblick, doch jedesmal, wenn das Wort ‹schick› über unsere Lippen kam, hatten wir, auch wenn er nicht zugegen war, sein hochmütiges Gesicht vor Augen. Eines Morgens, als es geschneit hatte, kam ich sehr früh zur Schule. Am Vorabend hatte ein Freund angerufen, um mir zu sagen, daß am nächsten Morgen eine Schneeballschlacht stattfin‐ den werde. Da ich von Natur aus immer vor einem großen, in Aus‐ sicht stehenden Ereignis früh aufwache, hatte ich sehr zeitig am nächsten Morgen kaum meine Augen geöffnet, als ich mich schon zur Schule aufmachte, ohne auf die Zeit zu achten.
51
Der Schnee lag wenige Zentimeter hoch, und als ich auf der Fahrt zur Schule aus einem Fenster der Hochbahn auf die Stadt hinausblickte, sah die Schneedecke, da die Strahlen der aufgehen‐ den Sonne sie noch nicht erreicht hatten, eher düster als schön aus. Der Schnee lag wie ein schmutziger Verband auf den offenen Wunden der Stadt, auf diesen unregelmäßigen Einschnitten der willkürlich verlaufenden Straßen, den gekrümmten Gassen, Hin‐ terhöfen und gelegentlichen Bauplätzen, die das einzig Schöne im Panorama unserer Städte sind. Während sich der Zug, noch fast leer, der Schulstation näherte, sah ich hinter dem Industrieviertel die Sonne aufgehen. Alles wur‐ de mit einem Male freundlich und hell. Jetzt hockten hinter dem lärmenden Gelächter dieser hellglänzenden Schneemaske die Rei‐ hen drohend emporragender Schornsteine und das triste Auf und Ab der eintönigen Ziegeldächer. Gerade eine solche Schneeland‐ schaft wird oft die tragische Szenerie für Aufstände oder Revolu‐ tionen. Und selbst die Gesichter der Passanten, verdächtig bleich im Widerschein des Schnees, ließen mich an Verschwörer denken. Als ich gegenüber der Schule ausstieg, schmolz der Schnee be‐ reits, und ich hörte das Wasser vom Dach des Lagerhauses, das an die Schule grenzte, heruntertropfen. Ich konnte mich von der Vor‐ stellung nicht befreien, daß nun aller Glanz hinwegschmolz. Glit‐ zernde und funkelnde Brocken klatschten selbstmörderisch auf den trügerischen Morast auf dem Pflaster, alles vermatscht unter den Schuhen der Passanten. Als ich unter den Dachrinnen entlang‐ ging, klatschte mir ein Brocken irrtümlich in den Nacken... Im Schulhof sah man im Schnee noch keine Fußstapfen. Der Raum mit unseren Kleiderschränken war noch geschlossen, doch die Türen zu den anderen Räumen standen offen. Ich öffnete ein Fenster im Erdgeschoß und blickte auf den Schnee im Garten hinter der Schule. Auf dem Pfad, der vom Hinterein‐ gang über den Hang eines kleinen Hains zum Schulgebäude füh‐ rte, in dem ich mich befand, konnte ich große Fußstapfen erken‐ nen, unmittelbar bis zu einer Stelle unter dem Fenster, aus dem ich
herausschaute. Dann machten sie kehrt und verschwanden hinter dem Bibliotheksgebäude, das man schräg zur Linken sehen konn‐ te. Es war also schon jemand vor mir dagewesen, und es war offen‐ sichtlich, daß er durch den Hintereingang gekommen war, durch das Fenster in die Klasse gespäht hatte und zur Bibliothek gegan‐ gen war, als er sah, daß noch niemand da war. Nur einige der auswärts wohnenden Schüler kamen durch den Hintereingang zur Schule. Es ging das Gerücht, daß Omi, der zu diesen wenigen gehörte, jeden Morgen aus dem Hause irgendeiner Frau käme. Er erschien immer erst im letzten Augenblick, unmittelbar vor dem Unterricht. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, von wem sonst diese Fußstapfen hätten stammen sollen, und ihrer Größe nach zu urteilen, war ich davon überzeugt, daß es Omis Fußstap‐ fen sein mußten. Ich lehnte mich aus dem Fenster, kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erblickte stellenweise frische, schwar‐ ze Erde in den Fußspuren, was sie noch geheimnisvoller und an‐ ziehender für mich machte. Eine unbeschreibliche Macht zwang mich, diesen Fußspuren zu folgen. Mir war, als müßte ich kopf‐ über aus dem Fenster springen, um mein Gesicht in ihnen zu ver‐ graben. Doch wie gewöhnlich bewahrten meine trägen Bewegun‐ gen mich davor, einem plötzlichen Einfall nachzugeben. Und an‐ statt aus dem Fenster zu springen, legte ich meine Schulmappe auf ein Pult und kletterte dann langsam auf das Fensterbrett. Die Haken und Ösen vorn an meiner Uniformjacke hatten kaum das steinerne Fensterbrett berührt, als sie sich schon wie Dolchspitzen in meine Rippen bohrten und einen Schmerz hervorriefen, der mit einem Gefühl ängstlicher Süße gemischt war. Ich sprang in den Schnee hinab, und der leichte Schmerz blieb als ein angenehmes Stimulans, das mich mit einem erregenden Vorgefühl von Aben‐ teuerlichkeit erfüllte. Ich bemühte mich, genau in die Fußabdrücke zu treten. 53
Sie hatten ziemlich groß ausgesehen, doch nun stellte ich fest, daß sie nicht größer als meine eigenen waren. Ich hatte nicht daran gedacht, daß derjenige, von dem sie stammten, sicherlich ebenfalls Gummischuhe trug, wie es damals Mode war. Es konnte also nicht Omi gewesen sein, glaubte ich, denn die Fußabdrücke waren nicht groß genug. Doch trotz meines unbehaglichen Gefühls, daß ich wahrschein‐ lich enttäuscht und Omi nicht hinter dem Bibliotheksgebäude antreffen würde, war ich von der Idee besessen, diesen Spuren folgen zu müssen. Vielleicht war es weniger der Wunsch, Omi zu finden, als vielmehr eine Art sehnsüchtigen und zugleich rach‐ süchtigen Verlangens nach jener Person, die noch früher als ich gekommen war und diese Spuren hinterlassen hatte. Ich keuchte, als ich meine Füße sorgfältig in die Abdrücke vor mir auf dem Boden setzte. Die Fußabdrücke legten einmal glasharte, schwarze Erde bloß, dann tote Torferde, festgetretenen Schnee oder die Pflastersteine. Plötzlich entdeckte ich, ohne es mir gegenwärtig zu machen, daß ich mit langen Schritten in eine Gangart verfallen war, die haar‐ genau der Omis glich. Ich folgte den Spuren zur Rückseite des Bibliotheksgebäudes, durchquerte den langen Schatten, den das Gebäude über den Schnee warf und gelangte schließlich zu dem Hügel, von dem man das gesamte Sportfeld überblicken konnte. Der glitzernden Schnee‐ decke wegen, die alles einhüllte, war die Dreihundert‐Meter‐Ellip‐ se der Aschenbahn von dem sie umgebenden gewellten Feld nicht zu unterscheiden. In einer Ecke des Sportplatzes standen zwei große Bäume dicht beieinander. Ihre in der frühen Morgensonne stark verlängerten Schatten fielen über den Schnee und verliehen der Szene Bedeutung, indem sie die glückliche Unvollkommenheit unterstrichen, mit der die Natur immer Größe auszeichnet. Die großen ulmenartigen Bäume türmten sich plastisch und elegant in den blauen Winterhimmel, gegen die schrägfallenden Strahlen der Morgensonne, im spiegelnden Licht, das der Schnee von unten
zurückwarf; ab und zu rieselte der Schnee wie Goldstaub von den starken blattlosen Astgabeln nieder. Die Dächer der Schlafsaalge‐ bäude am Ende des Sportfeldes und die Büsche davor, alles schien noch reglos in tiefem Schlaf zu liegen. Es war so still, daß das geräuschlose Herabgleiten des Schnees ein weithallendes Echo hervorzurufen schien. Einen Augenblick lang konnte ich durch all das Glitzern nichts sehen. Die Schneelandschaft sah wie eine Schloßruine aus: diese Halluzination war wie gebadet in dasselbe grenzenlose Licht und Gleißen, das nur auf den Ruinen alter Schlösser liegt. Und dort, in einer Ecke der Ruine, auf der fast fünf Meter breiten Aschenbahn, waren riesige lateinische Buchstaben in den Schnee gezeichnet. In meiner Nähe befand sich ein großer Kreis, der ein O darstellte. Dem schloß sich ein M an, dahinter wurde gerade ein dritter Buch‐ stabe geschrieben, ein langes, dickes I. Es war Omi. Die Fußspuren, denen ich gefolgt war, führten zum O, vom O zum M und schließlich zu Omi selber, der gerade mit seinem rechten Gummischuh über den Schnee zog, um das I zu vollenden; er schaute über seinen dicken weißen Schal weg, hatte beide Hände in den Taschen seines Überziehers vergraben, und sein Schatten streckte sich lang und trotzig über den Schnee, paral‐ lel zu den Schatten der zwei Bäume. Meine Wangen glühten. Ich formte mit meinen behandschuhten Händen einen Schneeball und warf nach ihm, ohne ihn jedoch zu treffen. Gerade in diesem Augenblick hatte er den Buchstaben vollendet und blickte, sicherlich zufällig, in meine Richtung. «Heh!» rief ich. Obgleich ich fürchtete, daß er lediglich unmutig sein würde, rannte ich gleich darauf, von unbeschreiblicher Leidenschaft ge‐ trieben, so schnell ich konnte den Abhang zu ihm hinunter. Als ich loslief, vernahm ich einen Ruf, an den ich im Traum nie gedacht hätte – freundlich und voller Kraft schrie er mir zu: 55
«Paß auf! Tritt nicht auf die Buchstaben!» Wie umgewandelt erschien er mir an diesem Morgen! Für ge‐ wöhnlich pflegte er überhaupt keine Hausaufgaben zu machen, sondern ließ seine Schulbücher in seinem Wandschrank und kam des Morgens kurz vor Beginn des Unterrichts zur Schule, die Hän‐ de in den Taschen, kaum rechtzeitig genug, um seinen Mantel auf‐ hängen und sich am Ende der Klasse aufstellen zu können. Welch ein Unterschied an diesem Morgen! Er mußte sich seit lan‐ gem hier die Zeit vertrieben haben, und er begrüßte mich mit seinem unnachahmlichen Lächeln, einem Lächeln, das freundlich war und zugleich etwas Verächtliches an sich hatte, begrüßte mich, den er stets nur wie einen rotznäsigen Schulbuben behandelt hatte. Wie hatte ich mich nach diesem Lächeln, dem Blitzen dieser schneeweißen Zähne gesehnt! Doch als ich nahe genug war, um sein lächelndes Gesicht deutli‐ cher sehen zu können, war ich plötzlich vor Angst wie gelähmt, und alle Leidenschaft war aus meinem Herzen gewichen. Mit einem Schlage wurde mir klar, daß Omi einsam war. Wahrschein‐ lich diente sein Lächeln nur dazu, die schwache Stelle in seinem Panzer zu verbergen, die mein Verstehen entdeckt hatte. Doch die‐ se Erkenntnis schmerzte mich weniger, als daß sie vielmehr das Bild zerstörte, das ich mir von ihm gemacht hatte. In dem Augenblick, da ich das riesige OMI, das in den Schnee gezeichnet war, sah, verstand ich – vielleicht halb unbewußt – die verborgenen Stellen und Winkel seiner Einsamkeit, verstand ich auch den wahren Grund dafür, vielleicht besser als er selbst, was ihn zu dieser frühen Stunde hierhergebracht hatte... Wenn mein Idol jetzt mir gegenüber eine Ausrede gebraucht hätte, wie ‹Ich bin heute wegen der Schneeballschlacht so früh hierhergekommen›, dann hätte ich innerlich dabei wahrscheinlich mehr verloren als er, der nur seinen Stolz eingebüßt hätte. Ich hatte das Gefühl, daß es an mir wäre, etwas zu sagen, und nervös dachte ich darüber nach, wie ich beginnen sollte.
«Heute ist die Schneeballschlacht, nicht wahr?» brachte ich end‐ lich hervor. «Ich hatte gedacht, es würde stärker schneien.» «Hm.» Er blickte teilnahmslos vor sich. Dann wurde sein Ge‐ sichtsausdruck hart und ein verächtlicher Blick traf mich. Offenbar machte er Anstrengungen, mich wieder als Kind zu betrachten, und er sah mitleidig auf mich herab. Dabei war er mir sicherlich heimlich dafür dankbar, daß ich mich noch kein einziges Mal nach den Buchstaben im Schnee erkundigt hatte, und es faszinierte mich zu sehen, welche qualvollen Anstrengungen er machte, um dieses Gefühl der Dankbarkeit abzuschütteln. «Pah!» sagte er. «Du trägst ja Kinderhandschuhe! Ich hasse Kin‐ derhandschuhe!» «Aber selbst die Erwachsenen tragen doch solche wollenen Handschuhe wie ich.» «Du armer Kerl, ich wette, du weißt noch nicht einmal, wie sich Lederhandschuhe anfühlen. Hier –» und damit schlug er mir plötzlich seinen schneenassen Lederhandschuh ins Gesicht. Ich duckte mich, und ein starkes sinnliches Verlangen schlug wie eine Flamme in mir hoch und machte meine Wangen glühen. Ich merkte, daß ich ihn mit kristallklaren Augen anstarrte... Von der Stunde an war ich in Omi verliebt. Es war die erste Liebe meines Lebens, und es war eine Liebe – man möge mir die eindeutige Ausdrucksweise verzeihen –, die un‐ mittelbar mit fleischlicher Begierde im Zusammenhang stand. Ungeduldig sehnte ich den Sommer herbei oder wenigstens den Sommeranfang. Sicherlich, so dachte ich, wird der Sommer eine Gelegenheit mit sich bringen, seinen nackten Körper zu sehen. Auch nährte ich dabei in meinem tiefsten Inneren eine noch schamlosere Hoffnung. Ich wollte sein ‹großes Ding› sehen. Auf dem Schaltbrett meiner Erinnerungen sind zwei Paar Hand‐ schuhe zusammengekoppelt – Omis Lederhandschuhe und ein 57
Paar Abendhandschuhe. Es wird mir offenbar niemals möglich sein, genau zu wissen, welche meiner Erinnerungen echt ist und welche falsch. Vielleicht paßten die Lederhandschuhe mehr zu seinen rohen Gesichtszügen, vielleicht aber waren es gerade wegen dieser rohen Gesichtszüge die Abendhandschuhe, die ihm besser standen. ‹Rohe Gesichtszüge› – hiermit gebe ich nur den Eindruck wieder, den ein einsamer junger Bursche mit einem gewöhnlichen Gesicht unter Kindern hervorruft. Dabei war er keinesfalls der Größte von uns. Doch die auf unserer Schule vorgeschriebene anmaßende Uni‐ form, die an die der Marineoffiziere erinnerte, schlotterte um unse‐ re kindlichen Körper, während Omi allein darin durchaus männ‐ lich und erwachsen wirkte und Sexualität ausstrahlte. Gewiß war ich nicht der einzige, der mit neidischen und sehnsüchtigen Augen auf das Muskelspiel seiner Schultern und seiner Brust starrte, auf das Muskelspiel, das man selbst durch den blauen Stoff wahrneh‐ men konnte! Etwas wie ein heimliches Gefühl von Überlegenheit lag ständig auf seinem Gesicht. Vielleicht handelte es sich bei ihm um Stolz, der immer maßloser wird, je mehr er verletzt worden ist. Man hatte den Eindruck, daß für Omi solche Mißgeschicke, wie Versa‐ gen in Prüfungen und Sitzenbleiben, Symbole eines verhinderten Willens waren. Wohin zielte sein Wille? Unklar stellte ich mir vor, daß sein ‹böser Dämon› ihn irgendeinem Ziel zutrieb. Ich war davon überzeugt, daß nicht einmal er selber etwas von dieser mächtigen Verschwörung gegen ihn ahnte. Etwas in seinem Gesicht ließ vermuten, daß das Blut kraftvoll und schnell durch seine Adern schoß; es war ein rundes Gesicht, mit bronzener Haut und hohen Backenknochen, verhältnismäßig fein geschwungenen Lippen, kräftigen Kinnbacken und einer zwar etwas flachen, doch wohlgeformten Nase. Hinter diesen Zügen verbarg sich seine ungezähmte Seele. Wie konnte man von einem solchen Menschen annehmen, daß er ein geheimes inneres Leben besäße? Lediglich konnte man hoffen, in ihm das Muster jener
längst vergessenen Vollkommenheit wiederzufinden, die wir anderen in einer fernen Vergangenheit verloren haben. Zuweilen warf er in einer plötzlichen Laune einen Blick in Bücher, die ich las und die für mein Alter viel zu schwierig waren. Fast jedesmal klappte ich dann mit einem unverbindlichen Lächeln das Buch zu, das ich gerade in der Hand hatte, damit er es nicht sähe. Ich tat dies nicht aus Scham, sondern weil mir bei ihm jedes Anzeichen von Interesse für Bücher und irgendwelche geistigen Dinge schmerzlich gewesen wäre. Es hätte ihn verlegen machen, seiner unbewußten Vollkommenheit schaden können. Ich fand den Gedanken schrecklich, daß dieser einfache Fischerjunge dem Jonien seiner Geburt abtrünnig werden könnte. Ich beobachtete Omi unaufhörlich, sowohl in der Klasse wie auf dem Spielfeld. Und dabei schuf ich mir nach und nach eine voll‐ kommene, makellose Vorstellung von ihm. Daher kann ich auch in dem Bild, das in meinem Gedächtnis eingeprägt ist, keinen einzi‐ gen Fehler entdecken. Bei einem Buch wie diesem sollte ein Cha‐ rakter dadurch lebendig gemacht werden, daß man einige beson‐ ders hervorstechende Eigenschaften, einige liebenswerte Fehler beschreibt, doch in meiner Erinnerung an Omi, ist nicht eine einzi‐ ge derartige Unvollkommenheit. Natürlich gab es zahllose andere Eindrücke, die ich von Omi empfing, eine unendliche Vielzahl von Eindrücken, alle erfüllt von zarten Nuancen. Kurz und gut, er war für mich zum Muster des Mannestums und der Vollkommenheit geworden, und dies drückte sich für mich in seinen Augenbrauen, in seiner Stirn, seinen Augen, seiner Nase, seinen Ohren, Wangen, Backenknochen, Lippen und Kinnbacken aus, in der Form seines Nackens, in seinem Hals, seiner Hautfarbe, in seinen Armen und Händen, seiner Brust und in zahlreichen anderen Einzelheiten. Auf dieser Grundlage kam nun das Auswahlprinzip zur Wir‐ kung, so daß schließlich ein ganzes System von Neigungen und Abneigungen zustande kam: Seinetwegen kann ich keinen intellek‐ tuellen Menschen mehr lieben, seinetwegen werde ich nicht von Menschen angezogen, die eine Brille tragen. Und seinetwegen 59
begann ich, Kraft und Stärke zu lieben, Unwissenheit, ungehobelte Gesten, rohe Redensarten und die wilde Schwermut, die Menschen eigen ist, die noch in keiner Weise vom Intellekt berührt worden sind... Dennoch war in diesem sonderbaren Geschmack ein logischer Widerspruch enthalten, der meine Wünsche für immer unerfüllbar machte. Normalerweise gibt es kaum etwas Logischeres als die fleischliche Begierde, doch in meinem Fall erlosch sofort das Verlangen nach einem Menschen, wenn ich mit ihm irgendein intellektuelles Interesse teilte. Die Entdeckung selbst der kleinsten intellektuellen Neigungen in einem Kameraden hatte zwangsläufig eine von der Vernunft bestimmte Einschätzung seines Wertes zur Folge. Bei einer so wechselseitigen Beziehung wie der Liebe muß man dem anderen das gleiche geben, was man von ihm verlangt. Daher forderte mein Verlangen nach unverbildeter Naivität bei einem Kameraden, wenn auch zeitweilig, von mir eine Art ‹Revol‐ te gegen die Vernunft›. Aber eine solche Revolte war für mich absolut unmöglich. Wenn ich nämlich den vom Intellekt völlig unberührten jungen Burschen, Seeleuten, Soldaten, Fischern begegnete, blieb mir nichts anderes übrig, als sie von weitem mit leidenschaftlicher Gleichgül‐ tigkeit zu beobachten und sorgfältig darauf zu achten, kein Wort mit ihnen zu wechseln. Vielleicht wäre der einzige Ort, an dem ich mich wohl gefühlt hätte, irgendein unzivilisiertes Land in den Tro‐ pen gewesen, wo ich die Sprache der Eingeborenen nicht verstehen konnte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir klar, daß ich von frühester Kindheit an eine Sehnsucht nach den heißen Som‐ mern hatte, die diese wilden Inseln verbrennen... Aber ich wollte von den weißen Handschuhen erzählen. An gewissen Festtagen war es in meiner Schule Sitte, weiße Handschuhe zu tragen. Noch heute brauche ich nur ein Paar weiße Handschuhe mit Perlmuttknöpfen an den Handgelenken und drei
dekorativen Nähten auf dem Handrücken anzuziehen, um in mir die Erinnerung an sämtliche Festtage wachzurufen: An die düstere Versammlungshalle, in der die Zeremonien stattfanden, die Schachtel mit Shioze‐Konfekt, die man beim Abschied erhielt, und an die wolkenlosen Himmel, unter denen solche Tage, immer wenn die Sonne am höchsten steht, strahlende Klänge hervorzu‐ bringen scheinen, um dann in sich zusammenzufallen. Es war ein nationaler Feiertag im Winter, zweifellos der ‹Tag des Kaiserreichs›. An diesem Morgen war Omi wieder ungewöhnlich früh zur Schule gekommen. Die Schüler des zweiten Jahrgangs hatten bereits – und das machte ihnen grausames Vergnügen – die Neulinge vom Schwebe‐ balken auf das Spielfeld neben dem Schulgebäude verjagt und ihn damit ganz für sich erobert, und indem sie die Neulinge wegtrie‐ ben, konnten sie so tun, als vergnügten sie sich damit halb zufällig und ohne jede Ernsthaftigkeit. Die Jüngeren umstanden den Schwebebalken etwas entfernt in einem Kreis und beobachteten das harte Spiel der Älteren, die sich ihrerseits ganz bewußt waren, ein Publikum zu haben. Der an Ketten aufgehängte Schwebebal‐ ken pendelte hin und her mit der Bewegung eines Rammbocks, und das Spiel bestand darin, sich gegenseitig von dem Balken zu stoßen. Omi stand fest mit beiden Beinen in der Mitte des Balkens und sah sich unbekümmert nach Gegnern um; es war die Haltung eines Mörders, den man gestellt hatte. Niemand aus unserer Klasse konnte es mit ihm aufnehmen. Schon waren mehrere Schüler der Reihe nach auf den Balken ge‐ klettert und von Omi schnell wieder hinabgestoßen worden; mit ihren Schuhen hatten sie die gefrorene Erde um den Balken herum, die vorher in der Sonne geglitzert hatte, weichgetreten. Nach jedem Sieg schlug Omi seine Hände über dem Kopf zusammen wie ein siegreicher Boxer und lächelte strahlend. Die jüngeren Schüler jubelten ihm von weitem zu, sie hatten schon vergessen, 61
daß er der Anstifter gewesen war, als man sie von dem Balken vertrieben hatte. Meine Augen folgten seinen weißbehandschuhten Händen. Sie bewegten sich ungestüm und faßten genau zu wie die Pfoten eines jungen Tieres, vielleicht die eines Wolfes. Von Zeit zu Zeit durch‐ schnitten sie die Luft des Wintermorgens wie die Federn eines Pfeiles und landeten genau auf der Brust eines Gegners. Und jedes‐ mal fiel der Gegner zu Boden, auf den Hintern oder auf seine Füße. Manchmal, wenn er versuchte, einen Gegner vom Balken zu stoßen, fiel Omi selbst beinahe herunter; wenn er darum kämpfte, seinen schwankenden Körper im Gleichgewicht zu halten, schien er sich da oben auf dem Balken, der von glitzerndem Reif schlüpf‐ rig war, in Agonie zu winden. Aber, dank seiner kräftigen und geschmeidigen Hüften fand er immer wieder in seine gewalttätige Haltung zurück. Der Balken schaukelte langsam hin und her, völlig unbeteiligt und mechanisch... Während ich so zusah, wurde ich von einer gewissen Unruhe gepackt, einer Unruhe, die unerklärlich und quälend war. Es war fast wie ein Schwindelgefühl, das vielleicht der Anblick des hin und her schwingenden Balkens verursacht hatte. In Wirklichkeit schien es jedoch vielmehr etwas wie eine seelische Ohnmacht zu sein, etwas, das beinahe mein inneres Gleichgewicht zerstörte, wenn ich Omi anblickte, der auf dem Balken gefährlich hin und her balancierte. Dieser Zustand verschlimmerte sich noch dadurch, daß zwei entgegengesetzte Kräfte an mir zerrten, von denen jede den Sieg über mich davontragen wollte: die eine war der Selbster‐ haltungstrieb, die andere – die stärkere, zwingendere, die an der Zerstörung meines inneren Gleichgewichts arbeitete – war der Hang zur Selbstvernichtung, die subtile und geheime Neigung zum Selbstmord, der sich so oft Menschen unbewußt ausliefern. «Was ist los mit euch, ihr verdammten Feiglinge? Wagt es keiner mehr?»
Omis Körper schwankte leicht hin und her, und seine Hüften, in die er seine weißbehandschuhten Hände stemmte, glichen die Bewegungen des Balkens aus. Das vergoldete Abzeichen unserer Schule glitzerte auf seiner Mütze in der Sonne. Er war mir niemals so hübsch erschienen wie in diesem Augenblick. «Ich wage es!» rief ich. Mein Herz schlug heftiger denn je. Ich hatte lange abgewartet, um diese Worte zu rufen. Dann hatte ich das gleiche Gefühl wie immer, wenn ich einem Verlangen nachgebe. Es kam mir vor, als sei mein in den nächsten Sekunden stattfindender Kampf mit Omi mehr ein mir vorbestimmtes Ereignis als nur eine impulsive Hand‐ lung. In späteren Jahren führte mich das zu der irrigen Annahme, daß ich ein Mensch von besonderer ‹Willensstärke› sei. «Nimm dich in acht! Nimm dich in acht! Er wirft dich hinunter!» schrien alle. Unter ihren höhnischen Rufen kletterte ich auf das eine Ende des Balkens; meine Füße glitten mehrmals ab, und wieder war die Luft von Hohngelächter erfüllt. Omi begrüßte mich mit einer Grimasse. Er spielte den Hans‐ wurst mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und tat so, als ob er jeden Augenblick ausgleiten würde. Gleichzeitig neckte er mich und fuchtelte mir mit ausgespreizten Fingern vor dem Gesicht herum. In meinen Augen waren diese Finger scharfe Spitzen einer gefährlichen Waffe, die mich durchbohren wollten. Unsere weißbehandschuhten Handflächen trafen sich mehrmals mit schmerzenden Hieben, und jedesmal wankte ich unter der Wucht des Schlages. Es war offensichtlich, daß er mit Absicht seine Kraft zurückhielt, um recht lange mit mir wie die Katze mit der Maus zu spielen und um meine Niederlage möglichst lange hinauszuzögern. «Oh!» rief er. «Ich habe Angst – ach, wie stark du bist! Ich falle – da! Siehst du?! Ich falle gleich hinunter!» Er streckte seine Zunge
63
heraus und tat, als ob er im nächsten Moment vom Balken stürzen werde. Es war für mich unerträglich, mit ansehen zu müssen, wie er durch die Grimassen seine Schönheit zerstörte. Da ich jetzt lang‐ sam auf dem Balken vor ihm zurückweichen mußte, konnte ich es nicht verhindern, dabei meine Blicke zu senken. Gerade in diesem Augenblick traf mich ein Schlag seiner rechten Hand. Um das Gleichgewicht zu halten, griff ich unwillkürlich in die Luft, und es gelang mir, mich an die Fingerspitzen seiner rechten Hand zu klammern. Ich spürte die Kraft seiner Finger durch die weißen Handschuhe hindurch. Einen Moment sahen wir uns in die Augen. Es war tatsächlich nur eine Sekunde. Die Grimasse auf seinem Gesicht war ver‐ schwunden und statt dessen hatte er mit einemmal einen merk‐ würdig offenen Blick, der weder Feindschaft noch Haß ausdrückte. Oder vielleicht war es nur meine Einbildung. Vielleicht war es auch nur der jähe, leere Blick in dem Moment, in dem er, von meinen Fingern gezogen, fühlte, er könne die Balance verlieren. Wie auch immer, ich wußte instinktiv und genau, daß er gespürt hatte, in welcher Weise ich ihn in dieser Sekunde angesehen hatte. Er mußte die Spannung empfunden haben, die bei der Berührung unserer Hände zu einem Schlag führte. Er hatte mein Geheimnis erraten: daß ich verliebt in ihn war, in niemanden auf der Welt als in ihn. Fast im gleichen Augenblick fielen wir beide vom Balken hinun‐ ter. Jemand half mir vom Boden auf. Es war Omi. Er zog mich derb am Arm empor und klopfte wortlos den Schmutz von meiner Uni‐ form. Seine Ellbogen und Handschuhe waren mit Erde und glit‐ zerndem Eis beschmutzt. Er legte seinen Arm um mich und ging mit mir davon. Ich sah in sein Gesicht, als wolle ich ihn für diese Zurschaustellung unserer Intimität tadeln. In meiner Schule war es nichts Ungewöhnliches,
daß jemand dem anderen den Arm um die Schultern legte. Im Gegenteil, als jetzt die Schulglocke erklang, konnte man die Mehr‐ zahl der Jungen umschlungen davongehen sehen. Die Tatsache, daß Omi mit mir zusammen vom Balken herabgefallen war, bedeutete für sie nicht mehr als das Ende eines Spiels, das zum Schluß schon langweilig geworden war, und selbst, daß er und ich jetzt Arm in Arm davongingen, war nicht weiter bemerkenswert. Ein übermächtiges Entzücken durchströmte mich, als ich seinen Arm auf meiner Schulter fühlte. Infolge meiner schwachen Ge‐ sundheit hatte ich gewöhnlich bei jeder Freude eine Ahnung von kommendem Unheil. Doch jetzt, in diesem Augenblick, fühlte ich nichts als die milde, jähe Gegenwart seines Arms: dieses Gefühl schien von seinem Arm auf meinen überzuströmen und schließlich meinen ganzen Körper zu erfüllen. Ich fühlte, daß ich so mit ihm bis ans Ende der Welt hätte gehen können. Er ging aber mit mir nur bis zu der Stelle auf dem Schulhof, wo sich die einzelnen Klassen in Gruppen für die Morgenfeier aufstell‐ ten. Dort ließ er mich los und ging zu seiner Gruppe. Danach blickte er nicht mehr zu mir herüber. Während der anschließenden Morgenfeier saß er vier Plätze von mir entfernt. Immer wieder sah ich von meinen eigenen beschmutzten weißen Wollhandschuhen hinüber auf die Omis... Meine blinde Verehrung für Omi entbehrte jeder bewußten Kri‐ tik, und noch weniger kam ich auf den Gedanken, ihn unter mora‐ lischen Aspekten zu betrachten. Immer wenn ich versuchte, diese blinde Verehrung einer Analyse zu unterwerfen, verflüchtigte sie sich. Wenn es so etwas wie eine Liebe ohne Dauer noch Weiter‐ entwicklung gibt, dann war das genau mein Gefühl. Die Art, in der ich Omi sah, war stets die des ‹ersten Blicks›, oder man kann viel‐ leicht besser sagen: die des ‹ursprünglichen Blicks›. Es war von meiner Seite aus eine ganz unbewußte Haltung, eine erfolglose Anstrengung, meine vierzehnjährige Unschuld vor dem Prozeß der Zerstörung zu bewahren. 65
Konnte man es überhaupt Liebe nennen? Angenommen, es war eine Form von Liebe – denn obwohl sie auf den ersten Blick ihre Unzerstörbarkeit auf ewig zu behalten schien, fortwährend diese Unzerstörbarkeit bestätigend – war auch sie von einer besonderen Art von Entwurzelung und Verfall bedroht. Und sie entwürdigte mich mehr als jede normale Liebe. In der Tat, denn von allen For‐ men des Verfalls in dieser Welt ist die Dekadenz der Reinheit die widerlichste. Nichtsdestoweniger war ich in meiner unerwiderten Liebe für Omi – dieser ersten Liebe, die ich in meinem Leben kennenlernte – wie ein junger Vogel, der seine wahrhaft unschuldig‐animalischen Begierden noch unter den Flügeln verbirgt. Ich wurde nicht durch die Begierde nach Besitz in Versuchung geführt, sondern einfach durch die unverblümte Versuchung selber. Es war noch das Harmloseste, daß ich in der Schule, besonders, wenn der Unterricht mich langweilte, meine Augen nicht von Omi abwenden konnte. Und was hätte ich auch schon anderes tun sollen, wo ich doch nicht einmal wußte, daß Liebe beides bedeutet: Suchen und Gesuchtwerden? Für mich bestand Liebe nur aus un‐ zähligen kleinen Rätseln, die ich nicht lösen konnte. Was meinen Hang zur Verehrung anbetraf, so vermochte ich mir nicht einmal vorzustellen, daß auch er nach einer Erwiderung verlangte. Eines Tages hatte ich eine Erkältung, und obgleich sie nicht ernsthaft war, blieb ich zu Hause. Als ich am nächsten Tag wieder zur Schule ging, stellte ich fest, daß ich am Vortage ausgerechnet die jedes Frühjahr stattfindende ärztliche Untersuchung versäumt hatte. Ich machte mich daher also mit einigen anderen Schülern, die am Vortag ebenfalls gefehlt hatten, auf den Weg zum Arzt. Im Wartezimmer befand sich ein Gasofen, in dem eine so schwa‐ che, blaue Flamme brannte, daß sie bei der Helligkeit, die im Zim‐ mer herrschte, kaum sichtbar war. Es roch nach Desinfektions‐ mitteln; ein fader Geruch, wie nach heißer gezuckerter Milch, der gewöhnlich im Zimmer liegt, wenn eine Gruppe Knaben auf die Untersuchung wartet, wenn sie ihre nackten Leiber aneinanderrei‐
hen und sich balgen. Schweigend entkleideten wir uns – wir waren nur eine Handvoll Schüler – und zitterten vor Kälte. Als erster betrat ein magerer Junge die Waage, der ebenso wie ich ständig erkältet war. Während ich seinen blassen knöchernen Rücken betrachtete, den ein feiner Flaum bedeckte, hatte ich erneut eine wilde Begierde, Omis nackten Körper vor mir zu sehen. Ich machte mir meine Dummheit klar, nicht vorausgesehen zu haben, welche günstige Gelegenheit die ärztliche Untersuchung am Vorta‐ ge geboten hätte, um meinen glühenden Wunsch zu befriedigen. Ich hatte die beste Gelegenheit verpaßt, und es blieb mir nur, auf eine ähnliche in der Zukunft zu hoffen. Ich wurde blaß und bekam plötzlich eine Gänsehaut. Ich starrte vor mich hin und kratzte die häßlichen Impfnarben an meinen dünnen Armen. Da wurde mein Name gerufen. Die Waage sah aus wie ein Schafott, auf dem in der nächsten Minute meine Hinrich‐ tung stattfinden würde. «Achtundachtzig», rief der Assistent des Schularztes. Der Assi‐ stent war früher in einem Militärlazarett Unteroffizier gewesen und hatte den barschen Ton beibehalten. Als der Arzt die Zahl auf meiner Karteikarte sah, murmelte er: «Wünschte, er brächte es wenigstens auf neunzig Pfund.» Ich hatte mich an dies alles im Laufe der Zeit bei den Unter‐ suchungen bereits gewöhnt, und heute war ich so froh darüber, daß Omi nicht Zeuge meiner Demütigung war, so daß die Worte des Arztes mich nicht wie sonst ärgerten. Einen kurzen Augenblick lang grenzte das Gefühl der Erleichterung, das ich empfand, fast an Freude... «Gut, der nächste.» Der Assistent schob mich ungeduldig zur Seite. Diesmal warf ich ihm dabei keinen gereizten und haßerfüllten Blick zu wie gewöhn‐ lich.
67
Dennoch muß ich wohl – wenn auch unklar – das Ende meiner ersten Liebe vorausgefühlt haben. Höchstwahrscheinlich waren diese Vorahnung und die damit verbundene Unruhe die eigent‐ liche Keimzelle meines Vergnügens. Es kam ein Tag im späten Frühjahr, der war wie ein Schnitt‐ musterbogen für die Sommermodelle oder wie eine Kostümprobe für die nächste Saison. Es war jener Tag des Jahres, der als des Sommers Vertreter erscheint, um jedermanns Kleiderschrank zu inspizieren und sich zu vergewissern, daß alles komplett ist. Es war jener Tag, an dem die Menschen ihre Sommersachen tragen, um zu zeigen, daß sie die alten ausgemustert haben. Trotz der Wärme war ich erkältet und hatte einen leichten Bron‐ chialkatarrh. Einer meiner Freunde hatte sich zufällig den Magen verdorben, und wir gingen beide zum Schularzt, um uns Entschul‐ digungen schreiben zu lassen, damit wir beim Turnunterricht nur zuzusehen, aber nicht daran teilzunehmen brauchten. Auf dem Rückweg zur Turnhalle gingen wir so gemächlich wie möglich. Unser Besuch beim Arzt war eine gute Entschuldigung, wenn wir zu spät zum Unterricht kamen. Wir waren darauf be‐ dacht, auf diese Weise die Langeweile etwas abzukürzen, die uns beim Zusehen des Turnunterrichts erwartete. «Himmel – ist das eine Hitze heute!» sagte ich und zog meinen Uniformrock aus. «Du solltest das mit deiner Erkältung lieber nicht tun», meinte mein Schulkamerad, «wenn du ohne Jacke kommst, mußt du so‐ fort am Turnunterricht teilnehmen.» Hastig zog ich meine Jacke wieder an. «Ich kann es mir leisten, meine Jacke auszuziehen, weil ich nur einen verdorbenen Magen habe.» Statt meiner war es nun mein Freund, der seine Jacke auszog, als wolle er mich verspotten. Als wir in der Turnhalle ankamen, sahen wir an den Sachen, die auf den Kleiderhaken hingen, daß alle Schüler ihre Sweater und einige sogar ihre Hemden ausgezogen hatten. Wir blickten aus der
dunklen Turnhalle ins Freie hinaus, wo auf dem Rasen die Reck‐ stangen und andere Turngeräte in der Sonne glänzten. Meine kränkliche Konstitution ließ mich wie gewöhnlich reagieren, und ich wurde von meinem lästigen Husten geschüttelt, als ich auf die Turngeräte zuging. Der unbedeutende kleine Turnlehrer blickte kaum auf die ärztli‐ chen Atteste, die wir ihm zeigten. Statt dessen wandte er sich so‐ fort zu den wartenden Schülern und sagte: «Also – nun wollen wir uns einmal dem Reck zuwenden. Omi, zeig du ihnen, was du kannst.» Daraufhin wurde mehrmals nach Omi gerufen. Er hatte sich ein‐ fach davongemacht, wie er das öfters während des Turnunterrichts zu tun pflegte. Niemand wußte, was er dann unternahm, oder wo er sich verbarg. Doch diesmal kam er langsam hinter einem Baum hervorgeschlendert, dessen Laub im Licht des Sommers zitterte. Als ich ihn erblickte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Er hatte sein Oberhemd ausgezogen und hatte nun ein blendend‐ weißes, ärmelloses Trikot an. Seine bronzene Haut ließ das Weiß des Trikots fast zu sauber erscheinen. Es war ein Weiß, das aus der Entfernung beinahe zu riechen war wie Stuck. Die kühne Kontur seiner Brust und der beiden Warzen zeichnete sich darauf wie ein Relief ab. «Übungen am Reck?» fragte er den Lehrer. Man hörte an seiner Stimme, wie selbstbewußt er war. «Ja.» Mit hochmütiger Gemächlichkeit, sich seines gewandten Körpers bewußt, langte Omi vor sich auf den Boden und rieb seine Hand‐ flächen mit Sand ein. Danach blickte er zum Reck empor. Seine Augen blitzten kühn, als wolle er die Götter herausfordern, und einen Augenblick lang spiegelten sich in seinen Pupillen die Wol‐ ken und der blaue Mai‐Himmel. Aber sie blieben kalt und blickten verächtlich.
69
Ein Ruck ging durch seinen Körper und im nächsten Moment hing er am Reck. Seine kräftigen Arme hätten es gewiß verdient, mit einem Anker tätowiert zu sein. «Ah!» Ausrufe der Bewunderung schwebten durch die warme Sommerluft. Jeder der Zuschauer, hätte er jetzt in sein Inneres geblickt, würde entdeckt haben, daß seine Bewunderung nicht nur durch Omis Kraft und Gewandtheit erregt worden war, sondern daß er hier die Jugend, das Leben, die Überlegenheit bewunderte. Zugleich waren alle erstaunt über die dichten Haarbüschel, die man jetzt, als Omi die Arme hob, in seinen Achselhöhlen sehen konnte. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß wir solch starken Haarwuchs erblickten. Er war fast verschwenderisch wie üppig wucherndes lästiges Unkraut. Und wie das Unkraut oft nicht nur einen ganzen Garten überwuchert, sondern sich sogar über steiner‐ ne Treppenstufen ausbreitet, so breiteten sich diese Haare von Omis Achselhöhlen bis zu seiner Brust hin aus. Die zwei schwar‐ zen Büschel glänzten feucht, als die Sonne darauf schien, und seine überraschend weiße Haut schimmerte durch sie hindurch wie weißer Sand. Beim Klimmzug wölbten sich seine Armmuskeln, und seine Schultern schwollen an wie Sommerwolken. Die Büschel in seinen Achselhöhlen wurden zu dunklen Schatten, allmählich wurden sie unsichtbar, und schließlich war seine Brust in gleicher Höhe mit der Eisenstange und zitterte ein wenig. Indem er diesen Bewe‐ gungsvorgang mehrere Male wiederholte, machte er schnell einige Klimmzüge. Lebenskraft – es war die schiere, überschäumende Lebenskraft, die die Jungen fesselte. Es überwältigte sie der Anblick von über‐ schüssiger Kraft, von zweckloser Kraftvergeudung, für die als einzige Erklärung nur das Leben um seiner selbst willen gelten konnte. Hinzu kam seine Art von übellauniger Unbeteiligtheit. Es war gerade so, als hätte sich – ohne daß er es gewahr geworden –
irgendeine Macht seines Körpers bemächtigt und von ihm Besitz ergriffen. Sie durchraste ihn und schien wieder aus ihm hervorzu‐ brechen. In dieser Hinsicht glich die Macht einer Krankheit. Von ihr infiziert, war sein Körper einzig und allein auf dieser Welt, um sinnlos geopfert zu werden und scheute keine Ansteckungsgefahr. Menschen, die in einer ständigen Furcht vor Ansteckung leben, müssen in einem solchen Körper einen bitteren Vorwurf sehen... Die Jungen zogen sich langsam zurück. Was mich betraf, so war mir wohl ebenso wie den anderen zu‐ mute, doch mit einem grundlegenden Unterschied. Ich hatte näm‐ lich – und dies ließ mich natürlich schamrot werden – vom ersten Augenblick an, da ich jene Überfülle von Kraft vor mir sah, eine Erektion. Ich trug dünne Sommerhosen und hatte Angst, daß die anderen Schüler merken würden, was mit mir geschehen war. Und selbst wenn ich diese Furcht beiseite ließ, war in meinem Innern noch eine andere Empfindung, die bestimmt nicht reine Begeiste‐ rung genannt werden konnte. Denn hier stand ich nun und blickte auf den nackten Leib, den ich so sehnsüchtig zu sehen verlangt hatte – doch jetzt hatte der Schock, den der Anblick mir versetzte, unerwarteterweise ein Gefühl in mir hervorgerufen, das genau das Gegenteil von Freude war. Es war Eifersucht... Omi ließ sich mit befriedigter Miene zu Boden fallen. Als ich den dumpfen Aufprall seines Körpers hörte, schloß ich die Augen und schüttelte den Kopf. Dann sagte ich mir, daß ich nicht mehr in Omi verliebt war. Es war Eifersucht, es war eine so wilde Eifersucht, daß ich frei‐ willig meine Liebe zu ihm abschwor. Wahrscheinlich empfand ich aus diesem Grund jetzt plötzlich das Bedürfnis, an einem ‹Kursus in spartanischer Selbstdisziplin› teilzunehmen. (Die Tatsache, daß ich dieses Buch schreibe, ist bereits ein Beweis für die fortgesetzten Anstrengungen in dieser 71
Richtung.) Infolge meiner ständigen Kränklichkeit und der verzär‐ telnden Pflege, die ich seit meiner Kinderzeit empfing, war ich stets zu schüchtern gewesen, den Menschen geradewegs in die Augen zu blicken; aber jetzt war ich nur von einem einzigen Wahl‐ spruch besessen: «Sei stark!» Zu diesem Zweck hatte ich mir als Übung ausgedacht, in der Straßenbahn, mit der ich zur Schule fuhr, dem einen oder anderen Fahrgast herausfordernd und unverwandt ins Gesicht zu starren. Die Mehrzahl der Leute, die ich mir aufs Geratewohl aussuchte, legten keine besonderen Zeichen von Furcht an den Tag, wenn sie von mir – einem blassen, schwächlich aussehenden Knaben – ange‐ starrt wurden. Sie blickten meist einfach verärgert in eine andere Richtung; selten starrte jemand zurück. Das war für mich ein Triumph. Auf diese Weise erzog ich mich allmählich dazu, daß ich den Leuten in die Augen sehen konnte... Nachdem ich mich nun einmal dazu entschlossen hatte, auf die Liebe zu verzichten, verbannte ich jeden weiteren Gedanken daran aus meinem Geiste. Doch das war ein voreiliger Beschluß gewesen, dem die intuitive Erkenntnis fehlte. Ich hatte nämlich einen der einfachsten und klarsten Beweise, den es für die sexuelle Liebe gibt, in Rechnung zu stellen vergessen: das Phänomen der Erek‐ tion. Ich hatte diese Erektionen ziemlich lange Zeit hindurch und überließ mich überdies, wenn ich allein war, meiner ‹schlechten Gewohnheit›, die diese Erektionen hervorrief, ohne daß ich mir dabei jemals über die Bedeutung meiner Handlungen klarwurde. Obgleich man mich schon in der üblichen Weise über das Geschlechtliche aufgeklärt hatte, litt ich noch nicht unter dem Be‐ wußtsein, anders zu sein. Hiermit will ich nicht sagen, daß ich meine Begierden, die von der allgemein üblichen Art abwichen, für normal oder orthodox ansah; ebensowenig unterlag ich etwa dem irrtümlichen Eindruck, daß meine Klassenkameraden die gleichen Begierden besäßen. Überraschenderweise lebte ich so stark in alten, romantischen Liebeserzählungen, daß ich meistens von der Liebe zwischen
Mann und Frau träumte oder ans Heiraten dachte wie ein junges Mädchen, das noch nichts von der Welt gesehen hat. Wie schon so manches ungelöste Rätsel, ließ ich das meiner Liebe zu Omi ein‐ fach liegen und machte mir niemals die Mühe, über die Bedeutung meiner Beziehung zu ihm nachzudenken. Wenn ich heute die Worte Liebe oder Zuneigung niederschreibe, haben sie eine völlig andere Bedeutung für mich als zu jener Zeit. Und nicht einmal im Traum dachte ich daran, daß solche Begierden, wie ich sie Omi gegenüber hatte, einen wichtigen Zusammenhang mit der Wirk‐ lichkeit meines Lebens hätten. Dennoch verlangte ein Instinkt in meinem Innern, daß ich die Einsamkeit aufsuchte, daß ich mich für ‹anders› hielt. Dieser Drang war wie eine rätselhafte und seltsame Übelkeit. Ich habe schon beschrieben, wie mich ein Gefühl der Beklemmung nieder‐ drückte, wenn ich daran dachte, erwachsen zu werden, und auch späterhin war die Vorstellung des Erwachsenwerdens immer von einer seltsam quälenden Unrast begleitet. In den Jahren meines Wachstums hatten alle meine neuen Hosen einen großen Saum, damit man sie jedes Jahr verlängern konnte. Und genau wie in anderen Familien wurde mein ständiges Größer‐ werden mit Bleistiftstrichen an einem der Pfosten unseres Hauses festgehalten. Die kleine Zeremonie dieser periodisch stattfinden‐ den Messungen fand immer im Wohnzimmer und unter den Augen der gesamten Familie statt. Jedesmal wurde ich dabei ge‐ neckt, weil man offenbar allein schon an der Tatsache, daß ich wieder größer geworden war, ein harmloses Vergnügen fand. Ich hatte dann stets nur ein gezwungenes Lächeln. In Wahrheit erfüllte mich der Gedanke, daß ich eines Tages die Größe eines Erwachsenen haben sollte, mit der Vorahnung einer furchtbaren Gefahr. Auf der einen Seite steigerte die unbestimm‐ bare innere Unruhe meine Fähigkeit, mich Träumen hinzugeben, die fern aller Realität waren, und auf der anderen Seite trieb sie mich der ‹schlechten Gewohnheit› in die Arme, so daß ich wiede‐ 73
rum bei Träumen Zuflucht suchte. Diese Ruhelosigkeit war meine Rechtfertigung... «Du wirst bestimmt sterben, ehe du zwanzig bist», sagte mir ein Freund eines Tages im Scherz und spielte damit auf meine schwa‐ che Gesundheit an. «Wie kannst du so etwas sagen!» erwiderte ich und verzog mein Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln, doch in Wahrheit hatte seine Äußerung eine seltsam süße und romantische Anziehungs‐ kraft für mich. «Wollen wir wetten?» fuhr er fort. «Aber wenn du wettest, daß ich sterben werde, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als leben zu bleiben.» «Das stimmt. Ja, du hast recht. Schade, findest du nicht?» antwortete er mit der Grausamkeit der Jugend. «Du würdest bestimmt verlieren, nicht wahr?» Nicht nur ich, auch keiner meiner Mitschüler hatte schon solch starken Haarwuchs in den Achselhöhlen wie Omi. Statt dessen zeigten sich bei uns dort nur winzige Härchen, die nicht mehr waren als ein Versprechen für die Zukunft. Darum hatte ich bisher dieser Stelle meines Körpers noch keine besondere Aufmerksam‐ keit gewidmet. Zweifellos war es der Anblick von Omis Haaren, die die Achselhöhle für mich zum Fetisch werden ließ. Es kam dahin, daß ich mich jedesmal, wenn ich ein Bad nahm, lange vor den Spiegel im Badezimmer stellte und mein unschönes Spiegelbild betrachtete. Ich war wie das häßliche junge Entlein in Andersens Märchen, das in dem Wahn lebt, eines Tages werde ein Schwan aus ihm. Nur war bei mir die Geschichte genau umge‐ kehrt. Obgleich meine enge Brust und meine knochigen Schultern nicht die geringste Ähnlichkeit mit Omi hatten, starrte ich meinen Körper im Spiegel an und war überzeugt, eines Tages eine Brust wie Omi, Schultern wie Omi zu haben. Dennoch spürte ich dabei hier und da ein leises Unbehagen in mir aufsteigen. Es war mehr als nur ein Unbehagen: Es war eine Art masochistischer Überzeu‐
gung in mir, die immer stärker wurde, als ob sie sich auf göttlicher Offenbarung gründe, eine Überzeugung, die mich sagen ließ: «Nie‐ mals in deinem Leben kannst du Omi gleichen.» Auf den Holzschnitten der Genroku‐Periode findet man bei den Liebespaaren oft eine überraschende Ähnlichkeit der Gesichtszüge, die es schwierig macht, Frau und Mann zu unterscheiden. In der griechischen Plastik, die das Ideal der Schönheit darstellt, fällt ebenfalls eine starke Ähnlichkeit zwischen den Geschlechtern auf. Ist dies nicht eines der Geheimnisse der Liebe? Könnte es nicht sein, daß in den innersten Bezirken der Liebe eine Art unerreich‐ baren Verlangens wirksam ist, durch das Mann und Frau den sehnsüchtigen Wunsch haben, einer des anderen genaues Abbild zu werden? Und wäre es nicht weiterhin möglich, daß dieses Ver‐ langen schließlich die tragische Folge hat, daß sie ins entgegen‐ gesetzte Extrem verfallen, um das unmögliche Ziel dadurch errei‐ chen zu können? Um es mit wenigen Worten zu sagen: Wenn sie in ihrer wechselseitigen Liebe nicht vollkommene wechselseitige Gleichheit erlangen können, gibt es da nicht einen seelisch‐geisti‐ gen Prozeß, bei dem beide die sie unterscheidenden Eigenschaften betonen – der Mann seine Männlichkeit, die Frau ihre Weiblichkeit – und daß sie durch diese Revolte noch miteinander zu kokettieren versuchen? Wenn es ihnen jedoch tatsächlich gelingt, eine gewisse wechselseitige Ähnlichkeit zu erreichen, dann nur für einen vorübergehenden Augenblick der Illusion. Denn im gleichen Maße, wie das Mädchen kühner und der Junge scheuer wird, nähern sich beide dem Punkt, an dem sie ihre Grenzen überschrei‐ ten und in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeigehen, bis sie schließlich ins Grenzenlose gelangt sind. In diesem Lichte gesehen, war meine Eifersucht – eine Eifersucht, die so stark war, daß ich mir einredete, ich liebte Omi nicht mehr – nichts anderes als Liebe. Ich begann schließlich alle Dinge zu lieben, die mich an Omi erinnerten, wie die Haare in den Achsel‐ höhlen, die jetzt auch unter meinen Armen zu wachsen begannen und immer dunkler wurden... 75
Es nahten die Sommerferien. Obwohl ich sie ungeduldig herbei‐ gesehnt hatte, erwiesen sie sich als eine Art Zwischenakt, wo man nicht recht weiß, was man mit sich anfangen soll. Obwohl ich nach diesen Ferien gehungert hatte, sollten sie in gewisser Weise recht unangenehm für mich werden. Seit meiner Kindheit litt ich an einer leichten Tuberkulose, und unser Arzt hatte mir verboten, mich starken ultravioletten Strahlen auszusetzen. Wenn wir an der See waren, wurde mir niemals er‐ laubt, mich länger als eine halbe Stunde den prallen Sonnenstrah‐ len auszusetzen. Verletzte ich dieses Verbot, folgte sofort die Strafe in Form einer heftigen Fieberattacke. Es war mir nicht einmal gestattet, an dem Schwimmunterricht der Schule teilzunehmen. Infolgedessen habe ich niemals Schwimmen gelernt. Später hatte die Tatsache, daß ich nicht schwimmen konnte, eine neue Bedeu‐ tung für mich in Verbindung mit der ständigen Faszination, die das Meer auf mich ausübte, mit jenen Momenten, wo es eine unge‐ heure Gewalt über mich hatte. Zu dem Zeitpunkt, von dem ich spreche, hatte ich die überwälti‐ gende Versuchung des Meeres noch nicht kennengelernt. Und so, um mir auf irgendeine Weise die Langeweile einer Jahreszeit zu vertreiben, die immer ganz besonders fürchterlich für mich war, eine Jahreszeit, die darüber hinaus eine unerklärliche Sehnsucht in mir weckte, verbrachte ich den Sommer mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Bruder an der See... Plötzlich stellte ich fest, daß man mich allein auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Wenige Minuten vorher war ich mit meinem Bruder und mit meiner Schwester am Strand entlang bis zu dem großen Felsen gegangen. Wir hatten nach den winzigen Fischen gespäht, die sich in den Rinnsalen zwischen den großen Steinen tummelten. Unsere
Beute war nicht so reich, wie wir erwartet hatten, und meine Ge‐ schwister langweilten sich. Ein Dienstmädchen hatte uns zum Sonnenschirm zurückgerufen, unter dem meine Mutter saß. Ich hatte mich energisch geweigert, mitzukommen, und das Mädchen war mit meinem Bruder und meiner Schwester fortgegangen und ließ mich allein zurück. Die Strahlen der Nachmittagssonne flimmerten unablässig auf der Wasseroberfläche, und die ganze Bucht glänzte schillernd und blendend. Am Horizont standen unbeweglich einige Wolken, und ihre majestätischen, trauernden, prophetischen Formen, die wie bleicher Alabaster schimmerten, versanken halb im Meer. Einige Segelboote und Kähne und ein paar Fischerboote waren aus den sandigen Buchten hinausgefahren und bewegten sich träge aufs offene Meer hinaus. Mit Ausnahme der winzigen Gestal‐ ten in den Booten war weit und breit kein menschliches Wesen zu sehen. Lautlose Stille lag über dem Wasser. Von der See wehte eine leichte Brise und summte in meinen Ohren, als schlügen frohge‐ mute Insekten mit ihren unsichtbaren Flügeln oder als habe sich ein liebreizendes Wesen zu mir geschlichen, um mir seine Geheim‐ nisse zuzuraunen. Das nahe Ufer bestand fast nur aus flachen Fel‐ sen, deren Oberfläche sich leicht nach dem Wasser zu neigte. Nur zwei oder drei Klippen wie die, auf der ich hockte, ragten etwas höher hinaus. Die Wellen kamen von der offenen See her und glitten rastlos in Form von grünen, langgestreckten Hügeln über den Sand. Hier und da ragten kleine Gruppen niedriger Klippen aus dem Wasser, und die Wellen brachen sich an ihnen, daß der Gischt hochauf schäumte wie weiße Hände, die um Hilfe winkten. Die Klippen tauchten in den Überfluß des Meeres und schienen von losgeris‐ senen Bojen zu träumen. Doch im Handumdrehen raste die Welle an ihnen vorbei und glitt mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Ufer zu. Während sie sich dem Strand näherte, erwachte etwas in ihr und hob sich innerhalb ihres grünen Kammes. Die Welle streckte sich und zeigte, so weit das Auge reichte, die rasiermesser‐ 77
scharfe Schneide einer ungeheuren Axt, erhoben und zum Schlage bereit. Plötzlich fiel die dunkelblaue Guillotine herab und sandte weiße Gischt zum Himmel empor. Der Leib der Welle verfolgte kochend und zischend ihren getrennten Kopf und reflektierte einen Augenblick das reine Blau des Himmels, das gleiche unirdi‐ sche Blau, das sich im Auge eines Menschen an der Schwelle des Todes spiegelt... Während des kurzen Angriffs der Welle hatten sich die glatten und ausgewaschenen Klippen unter weißem Schaum verborgen, doch jetzt tauchten sie allmählich wieder aus dem Wasser auf und glitzerten in den sich zurückziehenden Über‐ resten der Welle. Von der Höhe des Felsblocks aus, auf dem ich saß und alles beobachtete, konnte ich sehen, wie die Einsiedler‐ krebse seitwärts und wie verrückt über die glitzernden Felsen liefen und wie die Krabben in dem Sonnenglast bewegungslos erstarrten. Ganz unvermittelt mischten sich Erinnerungen an Omi in mein Gefühl der grenzenlosen Einsamkeit. Dies ging in folgender Weise vor sich: Schon lange übte Omis Einsamkeit große Anziehungs‐ kraft auf mich aus; seine Einsamkeit – die entstanden war, weil ihn das Leben versklavte – hatte ich mir auch gewünscht; und nun, da ich vor der Überfülle des Meeres eine Einsamkeit fühlte, die zu‐ mindest nach außen hin der seinen glich, wollte ich sie auch voll‐ ständig kennenlernen, und zwar mit seinen Augen. Ich wollte eine Doppelrolle spielen, mich und Omi. Doch um dies bewerkstelligen zu können, mußte ich zuerst gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir entdecken und sollten diese auch noch so geringfügig sein. Das versetzte mich in die Lage, gewissermaßen Omi zu werden und bewußt genauso zu handeln, als werde ich von der gleichen Einsamkeit überwältigt, die wahrscheinlich nur unbe‐ wußt in ihm war; so näherte ich mich einer Verwirklichung jenes Tagtraums, in dem die Freude, die ich beim Anblick Omis ver‐ spürte, zu seiner eigenen wurde. Seitdem ich von dem Bilde des hl. Sebastian besessen war, hatte ich, ohne es zu wissen, die Gewohnheit angenommen, immer
dann, wenn ich gerade zufällig nackt war, meine Hände über dem Kopf zu kreuzen. Zwar besaß ich nur einen schwächlichen Körper, der kaum der Schatten der üppigen Schönheit des hl. Sebastian war, doch wieder einmal gefiel ich mir jetzt in dieser Pose und schielte dabei in meine Achselhöhlen, und ein absonderliches sexuelles Verlangen kochte in mir... Der Sommer war gekommen und mit ihm waren in meinen Achselhöhlen die ersten Ansätze zu den schwarzen Haarbüscheln erschienen, die zwar gewiß nicht mit denen Omis zu vergleichen waren, doch auf jeden Fall waren sie nun da. Und endlich hatte ich hier etwas gefunden, das ich mit ihm gemeinsam besaß. Es besteht für mich nicht der geringste Zweifel darüber, daß Omi selber in meiner sexuellen Begierde eine Rolle spielte. Doch ebensowenig war zu leugnen, daß meine Begierde sich in der Hauptsache auf meine eigenen Achselhöhlen richtete. Getrieben von dem Zusam‐ mentreffen verschiedener Umstände –ich spürte die salzige Brise, die vom Meer her kam, in meiner Nase, die starke Sommersonne brannte auf mich hernieder, daß mir Brust und Schultern schmerz‐ ten, weit und breit war kein einziges menschliches Wesen zu se‐ hen –, frönte ich zum erstenmal in meinem Leben meiner ‹schlechten Gewohnheit› in freier Natur, dort unter dem blauen Himmel. Meine eigenen Achselhöhlen erregten mich... Danach wurde mein Körper von seltsamen Schmerzen geschüt‐ telt. Ich brannte vor Einsamkeit so wild wie die Sonne. Meine Badehose aus marineblauer Wolle klebte unangenehm an meinem Bauch. Langsam kletterte ich vom Felsen und trat in eine Wasser‐ lache am Strand. Meine Füße sahen darin wie bleiche tote Mu‐ scheln aus, und ich sah auf dem Grund Muscheln, die in dem gekräuselten Wasser flimmerten. Ich kniete nieder und ließ mich von einer Welle überspülen, die gerade in diesem Augenblick don‐ nernd und schäumend auf mich zukam. Sie schlug mich vor die Brust und begrub mich fast im aufzischenden Schaum... Als sie wieder zurückflutete, war meine Schande fortgewaschen, und zugleich mit dieser zurückweichenden Woge, zugleich mit 79
unzähligen lebenden Organismen, die sie enthielt – Mikroben, Samen von Meerpflanzen, Fischeiern – führte sie auch meine Myriaden von Spermatozoen mit sich fort ins schäumende Meer. Als im Herbst das neue Quartal in der Schule begann, war Omi nicht mehr bei uns. Eine Notiz über seine Entlassung wurde am Schwarzen Brett ausgehängt. Sofort fingen alle Klassenkameraden an, über Omis Missetaten zu reden; sie benahmen sich wie die Bevölkerung nach dem Tode eines Tyrannen. «... von mir hat er sich zehn Yen geliehen und nicht zurückge‐ zahlt... Als er mir meinen neuen Füllhalter klaute, hat er sogar noch gelacht... Und mich hätte er einmal fast erwürgt...» Der Reihe nach erzählten sie sich gegenseitig, was er ihnen alles angetan hatte. Ich schien schließlich der einzige zu sein, der Omis Bösartigkeit nie am eigenen Leibe erfahren hatte. Ich wurde halb verrückt vor Eifersucht. Indessen wurde meine Verzweiflung etwas durch die Tatsache gemildert, daß keiner genau wußte, weshalb er eigentlich aus der Schule verwiesen worden war. Selbst die überschlauen Schüler, die es an jeder Schule gibt und die immer alles zu wissen glauben, konnten diesmal keinen plausiblen Grund finden, der allgemein anerkannt worden wäre. Wenn wir die Lehrer fragten, lächelten sie natürlich und sagten, er habe etwas ‹Böses› getan. Es schien, als habe nur ich eine geheime Kenntnis von diesem ‹Übel›. So gut wie sicher erschien es mir, daß er an irgendeiner geheimen Verschwörung teilgenommen hatte, deren Ausmaße nicht einmal er selber ganz verstanden hatte. Sein Drang zum Bösen, den irgendein Dämon in ihn gelegt hatte, gab seinem Leben eine besondere Bedeutung und bildete sein Schicksal. Zumindest erschien mir das so... Wenn ich weiter darüber nachdachte, begann das ‹Übel› in Omi eine andere Bedeutung für mich anzunehmen. Es konnte ja gar
nicht anders sein, so sagte ich mir, als daß es sich um eine riesige Verschwörung um eines verbotenen Gottes willen handelte, zu der ihn sein Dämon getrieben hatte, eine Verschwörung mit einer bis in die kleinsten Einzelheiten durchorganisierten Geheimzentrale und genauestens geplanten Intrigen. Omi hatte diesem Gott ge‐ dient, hatte versucht, andere zu diesem Glauben zu bekehren, war verraten und schließlich heimlich hingerichtet worden. Eines Nachmittags hatte man ihn entkleidet und zum Hain auf dem Hügel geführt. Dort hatte man ihn an einen Baum gebunden und seine Hände hoch über ihm an den Stamm gefesselt. Der erste Pfeil hatte die linke Seite seiner Brust durchbohrt, der zweite seine Achselhöhle. Je mehr ich mir das Bild dieses Nachmittags vergegenwärtigte, da Omi am Reck hing, um den Klimmzug zu machen, desto mehr gewahrte ich seine große Ähnlichkeit mit dem hl. Sebastian. Im vierten Jahr der Mittelschule litt ich plötzlich unter einer star‐ ken Anämie. Ich wurde noch bleicher als sonst, und meine Hände hatten die Farbe von totem Gras. Wenn ich eine steile Treppe hinaufgestiegen war, mußte ich mich jedesmal erst hinsetzen und Luft schöpfen. Dabei war mir dann meist zumute, als ob ein weißer Nebelstrahl auf meinen Hinterkopf herniedergewirbelt sei und dort ein Loch gebohrt hätte, so daß ich fast ohnmächtig wurde. Meine Familie ging mit mir zum Arzt, der eine Anämie feststell‐ te. Er war ein umgänglicher Mann und ein Freund unserer Familie. Als man ihn nach Einzelheiten über meine Krankheit fragte, sagte er: «Nun –dann wollen wir mal sehen, was in meinem Buch über Anämie steht.» Die Untersuchung war vorüber, und ich saß neben dem Arzt und konnte mitlesen, was er vorlas. Die Familie saß uns gegenüber und konnte die Seiten des Buches nicht sehen.
81
«...also, da haben wir hier zunächst die Bleichsucht und die Ur‐ sachen dieser Krankheit. Hakenwürmer sind zum Beispiel eine sehr häufige Ursache. Möglicherweise ist dies bei dem Jungen der Fall. Daher müssen wir nachher noch eine Stuhluntersuchung machen. Dann gibt es die eigentliche Chlorose, doch sie ist selte‐ ner, und vor allem eine Frauenkrankheit...» An dieser Stelle stand in dem Buch eine weitere Ursache für Anämie, doch der Arzt las sie nicht vor. Statt dessen überflog er den Absatz nur flüchtig, murmelte den Schluß vor sich hin und klappte das Buch zu. Doch ich hatte die Stelle gesehen, die er aus‐ gelassen hatte; sie handelte von ‹Selbstbefleckung›. Ich schämte mich derart, daß ich mein Herz hämmern fühlte. Der Arzt hatte mein Geheimnis entdeckt. Doch was niemand jemals hätte entdecken können, war die ab‐ sonderliche, wechselseitige Verwandtschaft zwischen meiner Blut‐ armut und meiner blutdürstigen Phantasie... Mein Blutmangel hatte mir von vornherein die Sucht eingege‐ ben, vom Blutvergießen zu träumen. Andererseits hatte diese Sucht eine Verringerung meiner roten Blutkörperchen zur Folge, wodurch sich mein ‹Blutdurst› ständig vergrößerte. Das mich schwächende Traumleben schärfte und leitete meine Phantasie. Noch kannte ich die Werke de Sades nicht, doch schon die Beschreibung des Kolosseums in «Quo vadis» hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, so daß ich mir selber in meinen Wachträumen eine Art ‹Blut‐Theater› schuf. Dort, auf meiner Mörderbühne, opferten junge römische Gladia‐ toren ihr Leben, um mich zu ergötzen. Alle Hinrichtungen, die dort stattfanden, mußten nicht nur in Blut schwimmen, sondern mußten auch mit der entsprechenden Zeremonie vollzogen wer‐ den. Ich schwelgte in der Vorstellung von allen möglichen Hinrich‐ tungsarten und Henkerwerkzeugen. Doch erlaubte ich weder Galgen noch solche Folterinstrumente, die kein strömendes Blut zur Schau stellten. Ebenso verbot ich alle Arten von Schußwaffen
wie Pistolen oder Gewehre. Soweit als möglich bevorzugte ich primitive und rohe Waffen wie Pfeile, Dolche oder Speere. Um den Todeskampf zu verlängern, mußte auf den Bauch gezielt werden. Das Opfer mußte lange, trauervolle, klagende Schreie ausstoßen, damit dem Zuhörer die wortlose Einsamkeit des Lebens bewußt wurde. Daraufhin pflegte ich dann selbst in laute, exaltierte Freu‐ denschreie auszubrechen, die tief aus einem geheimen Winkel meines Innern kamen und eine Antwort auf die Schreie der Opfer waren. War meine Freude nicht genau die gleiche, die der Ur‐ mensch bei der Jagd empfand? In meiner Phantasie schlachtete ich auf diese Weise so manchen griechischen Soldaten, so manchen weißen arabischen Sklaven, viele Prinzen wilder Stämme, Liftboys, Kellner, junge Burschen, Offiziere, Zirkusakrobaten... Ich war wie ein Wüstling, der irrtüm‐ licherweise die Menschen umbringt, die er liebt, weil er nicht weiß, wie er seine Liebe zum Ausdruck bringen soll. Im Geiste pflegte ich die Lippen der Opfer, die am Boden im Todeskampf zuckten, zu küssen. Aus irgendeiner Anspielung in einem Buch hatte ich mir in meiner Phantasie einen Hinrichtungsapparat erfunden. Ein dickes Brett, auf dem Dutzende von aufrecht stehenden Dolchen in der Form einer menschlichen Gestalt angeordnet waren, glitt auf einer Schiene langsam auf ein Hinrichtungskreuz hinab, das sich am Ende der Schiene befand. Es gab auch eine Hinrichtungsfabrik, in der ohne Unterlaß mechanische Bohrer menschliche Leiber durch‐ drangen und in der das Blut gesüßt, in Büchsen abgefüllt und auf den Markt gebracht wurde. Zahllose Opfer wurden in meinem Geiste mit gefesselten Händen zum Kolosseum gebracht. Diese Phantasien wurden stärker in mir und steigerten sich eines Tages zu einer Wahnvorstellung, die höchstwahrscheinlich das Niedrigste war, wozu ein Mensch überhaupt fähig ist. Wie schon früher war das Opfer einer meiner Schulkameraden, ein geübter Schwimmer mit einer bemerkenswert guten Figur. 83
Das Ganze spielte sich in einem Keller ab. Es wurde ein heim‐ liches Bankett abgehalten. Elegante Leuchter standen auf einem schneeweißen Tischtuch; neben jedem Teller lagen Silberbestecke. Sogar die üblichen Nelkenbuketts standen auf dem Tisch. Sonder‐ bar war es jedoch, daß in der Mitte des Tisches ein so außerge‐ wöhnlich großer Platz freigelassen worden war. Sicherlich mußte die Platte unverhältnismäßig groß sein, die hereingebracht und dorthin gestellt werden sollte. «Noch immer nicht?» fragte mich einer der Gäste. Sein Gesicht befand sich im Schatten und war nicht zu sehen. Seine feierliche Stimme war die eines alten Mannes. Wenn ich heute daran zurückdenke, erinnere ich mich, daß sich bei jenem Essen alle Gesichter im Schatten befanden; nur die Hän‐ de der Tischgäste schimmerten hell im Licht und spielten mit den silbernen Messern und Gabeln. Ein ständiges Murmeln hing im Raum; man unterhielt sich miteinander mit gedämpfter Stimme oder sprach leise vor sich hin. Es war ein Beerdigungsfest. Der einzige Laut, der klar unterschieden werden konnte, war das gele‐ gentliche Quietschen oder Rutschen eines Stuhls. «Es muß bald soweit sein», antwortete ich. Wieder breitete sich die düstere Stille aus. Ich merkte deutlich, daß allen meine Antwort mißfiel. «Soll ich gehen und nachsehen?» Ich erhob mich und öffnete die Tür zur Küche. In einem Winkel führte eine Steintreppe zur Straße hinauf. «Noch immer nicht?» fragte ich den Koch. «Wie? Ach so. Oh – nur noch eine Minute», antwortete der Koch, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Er schnitt grünen Salat und schien schlechter Laune zu sein. Auf dem Küchentisch war nichts außer einem sehr großen und dicken Brett zu sehen, das ungefähr einen Meter breit und knapp vier Meter lang war. Jetzt klang Gelächter aus dem Treppenschacht. Ich blickte auf und sah einen zweiten Koch die Stufen herunterkommen; er führte
einen muskulösen Schulkameraden von mir am Arm. Der Junge trug Leinenhosen und ein dunkelblaues Polohemd, das seine Brust frei ließ. «Ach – du bist es, B.», sagte ich beiläufig. Am Ende der Treppe blieb er einen Augenblick unbekümmert und mit den Händen in den Hosentaschen stehen. Daraufhin wandte er sich zu mir um und begann übermütig zu lachen. Genau in diesem Augenblick stürzte sich einer der beiden Köche aus dem Hinterhalt auf ihn und packte ihn mit einem Würgegriff am Hals. B. wehrte sich mit aller Kraft. Während ich seinen erbarmungswürdigen Anstrengungen, sich zu befreien, zusah, sagte ich mir: ‹Das ist ein Judogriff – ja, ich weiß, es ist ein Judogriff –, aber wie nennt man ihn? So ist es rich‐ tig, würge ihn noch einmal – er kann noch nicht wirklich tot sein – er hat nur das Bewußtsein verloren .. .› Plötzlich hing der Kopf des Knaben reglos über dem fleischigen Arm des Kochs. Der Koch hob den Jungen auf und ließ ihn achtlos auf den Küchentisch fallen. Der andere Koch ging zum Tisch und begann, B. mit geübten Griffen das Polohemd auszuziehen, ihm die Armbanduhr vom Handgelenk zu nehmen, ihm die Hosen abzustreifen. Im Handumdrehen hatte er ihn splitternackt ausgezogen. Der nackte Jüngling lag so, wie er auf den Küchentisch geworfen worden war, mit dem Gesicht nach oben. Seine Lippen waren ein wenig geöffnet. Ich gab diesen Lippen einen zögernden Kuß. «Wie soll es diesmal sein – mit dem Gesicht nach oben, oder sollen wir ihn umdrehen?» fragte der Koch. «Mit dem Gesicht nach oben», sagte ich und dachte, daß in dieser Lage die Brust des Jungen zu sehen wäre, die wie ein gold‐ brauner Schild aussehen mußte. Der andere Koch nahm eine fremdartig aussehende, riesige Platte von einem Gestell an der Wand herab und brachte sie zum Tisch. Sie hatte genau die Größe
85
für einen menschlichen Körper, und am Rand seltsamerweise an jeder Seite fünf kleine, runde Öffnungen. «Hebt – hoch!» riefen die beiden Köche gleichzeitig und hoben den bewußtlosen Knaben vom Tisch und legten ihn mit dem Ge‐ sicht nach oben auf die große Platte. Dann pfiffen sie lustig vor sich hin und zogen eine Schnur durch die Löcher an beiden Seiten, wodurch der Körper B.s auf die Platte gefesselt wurde. Ihre geüb‐ ten Hände erfüllten diese Aufgabe in kürzester Zeit. Schließlich garnierten sie den nackten Leib sorgfältig mit großen Salatblättern und legten zum Schluß ein Tranchiermesser und eine Gabel von ungewöhnlichen Ausmaßen auf die Platte. «Hebt – hoch!» riefen sie wieder und setzten die Platte auf ihre Schultern. Ich öffnete ihnen die Tür, die ins Eßzimmer führte. Stumm wandten die Anwesenden uns ihre Gesichter zu. Die Platte wurde niedergesetzt; sie paßte genau auf den freien Platz in der Mitte des Tisches, der vorher so weiß und leer im Licht geflim‐ mert hatte. Ich kehrte zu meinem Platz zurück, griff nach dem großen Vorlegemesser und nach der Gabel und fragte: «Wo soll ich anfangen?» Niemand antwortete. Es war mehr zu spüren als zu sehen, daß sich jetzt viele Gesichter der Platte entgegenreckten. «Ich glaube, dies ist eine gute Stelle», sagte ich und stieß die Gabel mit aller Kraft in B.s Herz. Ein Strahl roten Blutes spritzte mir mitten ins Gesicht. Ich hielt das Messer in der rechten Hand und begann langsam das Fleisch, vorerst in dünnen Scheiben, von der Brust zu lösen... Meine ‹schlechte Gewohnheit› wurde schlimmer, auch nachdem meine Anämie geheilt worden war. Der jüngste unserer Lehrer war der Geometrie‐Lehrer. Ich wurde nie müde, ihm während des ganzen Unterrichtes hindurch ins Gesicht zu starren. Er hatte eine dunkle Stimme wie ein Fischer, und seine Haut war von der
Küstensonne verbrannt. Ich hatte gehört, daß er früher Schwimm‐ lehrer gewesen war. An einem Wintertag schrieb ich im Geometrieunterricht etwas von der Wandtafel in mein Schulheft und ließ dabei eine Hand in meiner Hosentasche. Plötzlich irrten meine Augen unbewußt von meiner Arbeit ab, und ich beobachtete den Lehrer. Er ging vor dem Katheder auf und ab und erklärte mit seiner jugendlichen Stimme der Klasse erneut ein schwieriges mathematisches Problem. Schon vorher hatte ich oft tagsüber quälende sexuelle Anwand‐ lungen gehabt. Und als ich jetzt den Lehrer anblickte, verwandelte er sich vor meinen Augen langsam in ein Standbild des nackten Herkules. Er hatte soeben die Wandtafel gereinigt und hielt in seiner linken Hand einen Schwamm und in der anderen ein Stück Kreide. Er löschte etwas auf der Tafel, streckte den rechten Arm aus und begann eine Gleichung anzuschreiben. Dabei wurden vor meinen vernebelten Sinnen die Falten seines Jacketts zu den Mus‐ kelsträngen des ‹bogenspannenden Herkules›. Und schließlich kam es dahin, daß ich mitten während des Unterrichts meine ‹schlechte Gewohnheit› ausübte... Es läutete zur Pause. Halb betäubt und mit hängendem Kopf folgte ich den anderen auf den Schulhof. Ein Junge, den ich damals besonders gern hatte – es war auch eine unerwiderte Liebe; eben‐ falls ein Schüler, der sitzengeblieben war –, kam zu mir und fragte: «Heh – du, bist du nun endlich gestern bei Katakura gewesen? Wie war es?» Katakura war ein recht stiller Klassenkamerad gewesen, der plötzlich an Tuberkulose gestorben war. Zwei Tage vorher waren die Bestattungszeremonien beendet worden. Da ich von einem Freund gehört hatte, daß sich sein Gesicht im Tode vollkommen verändert hätte, und Katakura wie ein böser Dämon aussähe, hatte ich mit meinem Beileidsbesuch gewartet, bis ich sicher sein konnte, daß seine Leiche schon eingeäschert war. Mir fiel im Augenblick keine passende Antwort auf die Frage meines Mitschülers ein, 87
daher sagte ich nur kurz: «Ach, es war nichts weiter; und außer‐ dem war er ja schon eingeäschert.» Plötzlich fiel mir etwas ein, das ihm schmeicheln würde: «Ach, ja, richtig – Katakuras Mutter hat mich mehrmals gebeten, dich von ihr zu grüßen.» Ich kicherte sinnlos. «Sie hat mir aufgetragen, dir zu bestellen, sie um jeden Preis zu besuchen, weil sie jetzt so allein ist...» «Ach – rede doch keinen Unsinn!» Ganz überraschend gab er mir dabei einen Schlag vor die Brust. Obwohl er ziemlich kräftig zuge‐ schlagen hatte, war der Schlag freundlich gemeint. Vor Verlegen‐ heit war er auf einmal rot geworden wie ein kleines Kind. In seinen Augen schimmerte eine ungewohnte Vertraulichkeit, und er schien mich plötzlich in irgendeiner Sache als seinen Komplicen anzu‐ sehen. «Rede keinen Unsinn!» wiederholte er. «Was du auch für schmutzige Gedanken hast! Und schon die Art, wie du lachst –» Zuerst wußte ich nicht, was er meinte. Ich lächelte zögernd, und eine halbe Minute lang verstand ich ganz und gar nicht, was er eigentlich meinte. Dann begriff ich: Katakuras Mutter war Witwe, sie war noch jung und hatte eine hübsche Figur. Mir wurde ganz elend zumute; weniger, weil meine Schwerfäl‐ ligkeit ein Beweis meiner Dummheit war, sondern vielmehr, weil dieser Vorfall mir deutlich den Unterschied unserer Interessen klarmachte. Ich spürte den ungeheuren Abgrund, der uns trennte, und ärgerte mich darüber, daß mich diese reichlich späte Ent‐ deckung, die ich naturgemäß hätte voraussehen müssen, über‐ haupt noch überraschen konnte. Ich hatte ihm die Grüße von Katakuras Mutter bestellt, ohne einen Augenblick an seine Reak‐ tion zu denken, und ich hatte es nur getan, weil ich unbewußt ahnte, daß ich mich damit bei ihm einschmeicheln könnte. Jetzt jedoch entsetzte mich meine eigene Unerfahrenheit, die so häßlich war wie getrocknete Tränen auf dem Gesicht eines Kindes. Innerlich war ich in diesem Moment zu erschöpft, um mir die Frage zu stellen, die ich mir schon tausendmal vorgelegt hatte:
Weshalb war es verkehrt, wenn ich einfach so blieb, wie ich war? Ich verabscheute mich, und trotz all meiner Keuschheit ruinierte ich meinen Körper. Ich hatte geglaubt, durch ‹ernsthaftes Streben› (was für ein rührender Gedanke!) könnte auch ich meinem kindli‐ chen Stadium entrinnen. Es war mir noch nicht ganz klargewor‐ den, daß das, was ich jetzt so verabscheute, mein wahres Selbst und ein Teil meines wahren Lebens war. Es war, als ob ich statt dessen glaubte, ich hätte die bisherigen Jahre nur verträumt und könnte mich jetzt dem ‹wirklichen Leben› zuwenden. Ich fühlte den Drang in mir, endlich zu leben. Mein wirkliches Leben zu leben? Selbst wenn es eine reine Maskerade werden und mit meinem wirklichen Leben überhaupt nichts zu tun haben würde, so war es für mich jedenfalls an der Zeit, endlich anzufan‐ gen und meine unbeholfenen Füße in Bewegung zu setzen.
89
Drittes Kapitel Man sagt, das Leben sei eine Bühne. Doch die meisten Leute sind anscheinend von diesem Gedanken nicht so besessen wie ich, auf jeden Fall nicht in einem solch frühen Alter. Meine Kindheit war noch nicht ganz vorüber, als ich schon fest davon überzeugt war, daß es so ist und daß ich meine Rolle auf dieser Bühne spielen mußte, ohne jemals mein wahres Ich zu zeigen. Da meine Überzeu‐ gung von einem im höchsten Grade naiven Mangel an Erfahrung begleitet wurde – wobei irgendwo in meinem Geist der leise Verdacht vorhanden war, daß ich mich vielleicht auch irren könn‐ te –, war ich eigentlich sicher, daß alle Menschen auf diese Weise lebten. Ich war so optimistisch, zu glauben, daß, wenn das Spiel erst einmal zu Ende wäre, der Vorhang fallen werde und das Pub‐ likum den Schauspieler niemals abgeschminkt zu sehen bekomme. Meine Erwartung, früh zu sterben, war ebenso ein Bestandteil dieses Glaubens. Im Laufe der Zeit sollte jedoch dieser Optimis‐ mus oder, besser gesagt, dieser Wachtraum grausam enttäuscht werden. Vorsichtsweise sollte ich hinzufügen, daß es sich hier nicht um den üblichen Minderwertigkeitskomplex handelt. Statt dessen ist es nichts als eine Sache der Sexualität, nämlich die Rolle, durch die man – oft sogar vor sich selbst – die wahre Natur seiner sexuellen Neigungen zu verbergen sucht. Im Augenblick beabsichtige ich nicht irgend etwas zu berichten, was darüber hinausgeht. Es mag durchaus der Fall sein, daß ein sogenannter ‹zurückge‐ bliebener Schüler› ein Produkt seiner Erbanlagen ist. Nichtsdesto‐ weniger wollte ich mit den anderen Schulkameraden in der Schule des Lebens auf normale Weise Schritt halten, und ich bediente mich hierzu einer Art Bluffmethode. Um es kurz zu sagen, bestand 91
sie darin, daß ich die Examensantworten meiner Freunde ab‐ schrieb, ohne überhaupt zu wissen, was ich da schrieb, um dann danach das Geschriebene mit gespielter Unschuld abzugeben. Zuweilen erreicht man mit dieser Methode, die mehr dumm und schamlos als schlau ist, einen äußeren Erfolg: der Schüler hat das Examen bestanden. In der Klasse, für die er die Aufnahmeprüfung abgelegt hat, wird von seinen Lehrern angenommen, daß er die Materie der unteren Klassen beherrscht. Da aber der Schwierig‐ keitsgrad bei den einzelnen Unterrichtsfächern in fortschreitendem Maße zunimmt, ist er dann meist vollständig verloren. Obgleich er hört, was der Lehrer sagt, versteht er kein einziges Wort. Es blei‐ ben ihm dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder er geht vor die Hunde, oder er blufft sich weiterhin durch den Unterricht, indem er stets mit all seiner Kraft vorgibt, alles zu verstehen. Welche dieser beiden Möglichkeiten für ihn in Frage kommt, hängt von der Qualität, nicht von der Quantität seiner jeweiligen Schwäche oder Kühnheit ab. Beide erfordern den gleichen Grad von Schwä‐ che oder Kühnheit und zudem noch ein bestimmtes lyrisches und andauerndes Verlangen nach Faulheit. Eines Tages ging ich mit einer Gruppe meiner Mitschüler nach der Schule spazieren. Wir diskutierten ziemlich laut das Gerücht, daß sich einer unserer Freunde, der nicht zugegen war, in die Schaffnerin des Autobusses verliebt habe, mit dem er jeden Tag zur Schule fuhr. Sehr rasch wandte sich der Klatsch der theoreti‐ schen Auseinandersetzung zu, ob man sich überhaupt in eine Autobus‐Schaffnerin verlieben könne. In dem Moment mischte ich mich ein, nahm mutwillig einen kaltschnäuzigen Ton an und sprach brüsk, als stieße ich die Worte hervor: «Aber weshalb denn nicht?! Es liegt eben an ihren Uniformen! Sie liegen doch so eng am Körper an –» Ich brauche nicht erst zu sagen, daß ich im Gegensatz zu der Vermutung, die meine Worte nahelegte, noch nie zuvor die gering‐ ste sexuelle Anziehung zu Bus‐Schaffnerinnen empfunden hatte.
Meine Äußerung war einfach durch eine gewisse Analogie ent‐ standen – eine vollkommene Analogie, ich stellte mir die gleiche Uniform auf einem ganz anderen Körper vor –, und außerdem wollte ich unbedingt in den Augen meiner Mitschüler als routi‐ nierter, zynischer Lüstling gelten, der in solchen Dingen Bescheid wußte. Die anderen reagierten sofort. Sie waren alle sogenannte ‹Mu‐ sterschüler›, legten ein tadelloses Betragen an den Tag und galten – wie das oft an meiner Schule der Fall war – als sehr prüde. Man konnte aus den halb scherzhaft vorgebrachten Äußerungen deut‐ lich ihr Entsetzen über meine Worte heraushören. «Uff! Na, du weißt aber genau Bescheid, was?» «Na, hör mal – so wie du kann wahrhaftig nur jemand reden, der mit allen Wassern gewaschen ist!» rief ein anderer. «Du bist ja ein ganz Ausgekochter, wie?» Die erregte und naive Kritik ließ mich befürchten, daß die Medi‐ zin, die ich ihnen verabreicht hatte, wohl doch ein wenig zu stark gewesen war. Ich überlegte, daß ich wahrscheinlich mehr erreicht hätte, selbst wenn ich dieselbe Sache gesagt und wenn ich nur etwas weniger arrogant und provozierend gesprochen hätte, und daß etwas mehr Zurückhaltung vernünftig gewesen wäre. Wenn ein vierzehn‐ oder fünfzehnjähriger Junge entdeckt, daß er mehr als seine Mitschüler zur Selbstbetrachtung neigt und sich seines eigenen Ichs bewußter ist als sie, dann verfällt er leicht in den Irrtum, zu glauben, er sei reifer als seine Klassenkameraden. In meinem Falle war dieser Gedanke sicherlich ein Fehler. Die ande‐ ren Jungen hatten wahrscheinlich weniger als ich das Bedürfnis, sich selber zu verstehen: ihnen war es vergönnt, ihre wahre Natur zu zeigen, wohingegen ich stets bemüht sein mußte, eine bestimm‐ te Rolle zu spielen; und dies erforderte beträchtliches Verständnis und Selbstbeobachtung. Es war daher also nicht meine Reife, son‐ dern meine Unsicherheit, mein Unbehagen, das mich dazu zwang, 93
eine gewisse Kontrolle über mich zu erlangen. Sie stellte einfach eine Vorstufe meiner Verirrung dar. Mein ganzes Denken bestand nur aus ungewissen und vagen Vermutungen. Mein Unbehagen war, wie Stefan Zweig sagt, das, ‹was wir das Böse nennen, und das nichts anderes ist als die Unbeständigkeit, die der ganzen Menschheit innewohnt, und die den Menschen aus sich heraustreten und über sich hinauswachsen und auf ein boden‐ loses Etwas zutreiben läßt, geradeso, als hätte die Natur unseren Seelen aus ihrem Vorrat von Ur‐Chaos einen unvergänglichen Teil dieser Unbeständigkeit verliehen›. Diese vererbte Unruhe erzeugt Druck und ‹versucht sich wieder in übermenschliche und über‐ sinnliche Elemente zurückzuverwandeln›. Es war also diese Unbe‐ ständigkeit, die mich vorwärts trieb, während die anderen Jungen, die eine solche Selbsterkenntnis nicht nötig hatten, sozusagen auch einer gewissen Innenschau entraten konnten. Jedenfalls besaßen Bus‐Schaffnerinnen nicht die geringste sexuel‐ le Anziehungskraft für mich; ich sah jedoch, daß meine Worte, die ich infolge jener Analogie und der vorhergehenden Erwägungen geäußert hatte, meine Mitschüler nicht nur tatsächlich schockiert und vor Verlegenheit hatten erröten lassen, sondern daß sie auch mit ihrer jugendlichen Empfänglichkeit für zweideutige Vorstel‐ lungen gespielt und ein dunkles sexuelles Verlangen in ihnen erregt hatten. Bei diesem Anblick stieg natürlich ein verächtliches Gefühl von Überlegenheit in mir auf. Hiermit war jedoch mein Gefühl keineswegs erschöpft. Denn jetzt kam ich selber dahin, betrogen zu werden, mein Gefühl der Überlegenheit wurde ernüchtert. Dies ging folgendermaßen von‐ statten: Ein Teil meines Überlegenheitsgefühls wurde Einbildung, ich war in dem Wahn befangen, der Menschheit einen Schritt voraus zu sein. Dann, als dieser Wahn mich ein wenig verließ, beging ich sogleich den anderen Fehler, alles mit meinem nüchtern geworde‐ nen Bewußtsein zu beurteilen und nicht zu berücksichtigen, daß noch Spuren des Rausches in mir waren. Der berauschende Gedan‐
ke ‹Ich bin allen anderen voraus› wurde dann umgewandelt in: ‹Nein, ich bin selbst nur ein menschliches Wesen wie alle anderen auch.› Dieses Fehlurteil erweiterte ich dann zu: ‹Auch ich bin ein menschliches Wesen wie alle anderen, und zwar in jeder Beziehung.* Der Teil meines Wesens, der noch nicht ernüchtert war, ermöglich‐ te eine solche Erweiterung und unterstützte sie, so daß ich schließ‐ lich zu der trügerischen Schlußfolgerung gelangte: ‹Jeder ist so wie ich.› Diese Denkart, die ich vorher eine Vorstufe meiner Verirrung genannt habe, wurde, indem ich zu dieser Schlußfolgerung kam, übermächtig. So war es mir also gelungen, mich selber zu hypnoti‐ sieren. Und von dem Zeitpunkt an wurden neunzig Prozent meines Lebens durch diese Autohypnose beherrscht, durch eine irrationale, verrückte, gefälschte Hypnose. Ich selbst erkannte die Fälschung genau, und man mag sich mit gutem Grund wundern, wie es eigentlich möglich war, daß ich derart leichtgläubig sein konnte. Wird dies der Leser verstehen? Es gab einen sehr einfachen Grund, weshalb ich ohne weiteres fähig war, in auch nur andeu‐ tungsweise sinnlichen Ausdrücken über Autobus‐Schaffnerinnen zu reden. Und genau dieser Grund war mir entgangen... Es war wirklich ein sehr einfacher Grund: es handelte sich um nichts anderes als die Tatsache, daß ich, was Frauen anging, völlig bar jener Scheu war, die anderen Jungen angeboren ist. Um der Beschuldigung zu entgehen, daß ich mir möglicherweise eine Urteilsfähigkeit zubillige, die ich damals noch nicht besitzen konnte, möchte ich hier eine Stelle aus einem Aufsatz zitieren, den ich im Alter von fünfzehn Jahren schrieb: ... Ryotaro schloß sich schnell dem neuen Freundeskreis an. Zuversicht‐ lich glaubte er, seine grundlose Schwermut und Langeweile dadurch be‐ siegen zu können, daß er – wenn es auch nicht stimmte – vorgab, fröhlich zu sein. Leichtgläubigkeit, der Gipfel des Glaubens, hatte ihn in einen 95
Zustand von ‹glühender Ruhe› versetzt. Immer wenn er eine Zote hörte oder an einem gemeinen Streich teilnahm, sagte er sich: ‹Nein, ich bin nicht traurig, nein, ich langweile mich nicht.› Er nannte dies: ‹Die Sor‐ gen vergessene Die Mehrzahl der Menschen ist sich stets darüber im Zweifel, ob sie glücklich ist oder nicht, zufrieden oder nicht. Da der Zweifel etwas Na‐ türliches ist, ist dies der normale Glückszustand. Ryotaro ist der einzige, der einfach sagt: «Ich bin glücklich», und sich selbst überzeugt, daß es stimmt. Aus diesem Grunde neigen die meisten Leute dazu, an Ryotaros so‐ genanntes ‹unzweifelhaftes Glück› zu glauben. Und schließlich wird eine schwache kleine Wirklichkeit zu einer machtvollen Fälschungsmaschine, die mit voller Kraft zu arbeiten beginnt; und die Leute merken nicht einmal, daß Ryotaro nur aus Selbstbetrug besteht... «Die Maschine beginnt mit voller Kraft zu arbeiten...» Traf dies in meinem Falle nicht tatsächlich zu? Es ist ein weitverbreiteter falscher Glaube, daß man in der Kind‐ heit aus einem Dämon einen Helden machen und so den Dämon zufriedenstellen könne. Es war also der Zeitpunkt gekommen, da ich auf die eine oder andere Weise die Fahrt ins Leben antreten mußte. Die Kenntnisse, mit denen ich für diese Reise ausgerüstet war, beschränkten sich im wesentlichen auf die Romane, die ich gelesen hatte, auf eine Enzyklopädie des Geschlechtslebens für den Hausgebrauch und auf eine pornographische Schrift, die unter den Schülern von Hand zu Hand ging, sowie auf eine Fülle schmutziger Witze, die ich bei unseren vormilitärischen nächtlichen Felddienstübungen gehört hatte. Wichtiger als dies alles zusammen war jedoch die Tatsache, daß brennende Neugierde meine zukünftige treue Reisebegleiterin war. Um meine Reise zu beginnen, mußte ich am Gartentor Ab‐ schied nehmen, und dafür war die Entscheidung, eine ‹Fäl‐ schungsmaschine› zu sein, überaus geeignet.
Ich las sehr viele Romane aufmerksam, um festzustellen, was die Jungen meines Alters normalerweise fühlten und wie sie sich mit‐ einander unterhielten. Ich schlief nicht im Schlafsaal des Internats, ich nahm nicht am Sportunterricht der Schule teil. Es wimmelte in meiner Schule von kleinen Snobs, die, nachdem sie für das ‹Pfui‐ Spiel› zu groß geworden waren, kaum mit irgendwelchen anstößi‐ gen Dingen etwas zu tun hatten. Und zu alledem war ich außerge‐ wöhnlich schüchtern. Wenn man all diese Tatsachen zusammen‐ faßt, so war es ziemlich schwierig für mich, die Psyche meiner Mit‐ schüler zu kennen. Infolgedessen bestand meine einzige Zuflucht darin, mir rein theoretisch vorzustellen, was ein Junge meines Alters ungefähr fühlte, wenn er mit sich allein war. Die Pubertät – soweit meine Neugierde dabei im Spiele war, lernte ich sie genauestens kennen – ließ sich ziemlich kläglich an. Meine Klassenkameraden schienen nichts anderes zu tun zu ha‐ ben, als fortgesetzt unzüchtig an Frauen zu denken, sich Mitesser auszudrücken und schlüpfrige Verse zu schreiben. Sie hatten zunächst alle eine Sex‐Broschüre gelesen, in der die gefährlichen Wirkungen der Onanie übertrieben wurden, darauf eine andere, die beruhigend von ihrer Ungefährlichkeit berichtete. Das Ergebnis dieser Lektüre war, daß nun auch alle anderen leidenschaftlich der schlimmen Gewohnheit frönten. Hier gab es also abermals einen Punkt, so sagte ich mir, in dem ich ihnen völlig glich. Dabei übersah ich jedoch in meinem Stadium der Autohypnose die Tatsache, daß trotz der gleichen physischen Betätigung ein ungeheurer Unter‐ schied zwischen ihnen und mir vorhanden war, und zwar in bezug auf die vorgestellten Phantasieobjekte. Am bedeutungsvollsten erschien mir dabei, daß die anderen Jun‐ gen schon bei dem bloßen Wort ‹Frau› ungewöhnlich erregt wur‐ den. Sie wurden bereits rot, wenn das Wort ihnen auch nur in den Sinn kam. Mich andererseits vermochte das Wort ‹Frau› so wenig sinnlich zu beeinflussen wie meinethalben die Worte ‹Bleistift›, ‹Wagen› oder ‹Besen›. Selbst in Gesprächen mit Freunden zeigte sich oft, daß ich nicht die gleichen Assoziationen hatte, wie zum 97
Beispiel bei dem Vorfall mit Katakuras Mutter. Dann pflegte ich Dinge zu äußern, die in ihren Ohren absolut sinnlos klingen muß‐ ten. Meine Freunde lösten dieses Rätsel zu ihrer Zufriedenheit, indem sie mich als Dichter ansahen. Ich jedoch wollte durchaus nicht als Dichter betrachtet werden: ich hatte gehört, daß die Mitglieder jener Gilde, die sich so nannten, ausnahmslos in Frauen vernarrt waren. Um also meine Unterhaltung mit meinen Freun‐ den sinnvoller zu gestalten, kultivierte ich fortan bei mir die Fähig‐ keit, die gleichen Gedankenassoziationen herzustellen wie sie. Niemals ahnte ich auch nur im geringsten, daß sich meine Kame‐ raden grundlegend von mir unterschieden, und zwar nicht nur in ihren Gefühlen, sondern auch was verborgene äußere Anzeichen betraf. Um es kurz zu sagen: ich wußte nicht, daß sie sofort, wenn sie eine nackte Frau abgebildet sahen, eine Erektion hatten, wohin‐ gegen ich der einzige war, der bei solchen Gelegenheiten unbeein‐ druckt blieb. Ebensowenig ahnte ich, daß ein Objekt, das bei mir eine Erektion hervorrief – wie zum Beispiel die Statue eines nack‐ ten jonischen Jünglings –, sie nicht im geringsten erregt hätte. (Seltsam genug, vom ersten Moment an beschränkten sich diese Objekte auf die typischen ‹sexuellen Objekte› des ‹Introvertierten›.) Wenn ich im vorhergehenden Kapitel eine detaillierte Beschrei‐ bung meiner Erektionen gab, wollte ich ein wichtiges Faktum meiner Unwissenheit verständlicher machen. Mein Mangel an Kenntnis der Objekte, die andere Schüler erregten, half mit, meine Autohypnose zu verstärken und mich glauben zu machen, ich sei ihnen ähnlich. Und wo hätte ich mir schließlich Aufklärung holen sollen? Romane können sich in der Schilderung von Kuß‐Szenen nicht genug tun, aber las ich je etwas über eine Erektion, die bei dieser Gelegenheit stattfindet? Dies war an sich nur zu natürlich, da es sich kaum um etwas handelt, was in Romanen beschrieben werden kann. Doch selbst die Enzyklopädie des Geschlechtslebens sagte nichts über die Erektion als physiologischen Begleitfaktor des Küssens. Statt dessen hatte ich den Eindruck, die Erektion sei nur ein Vorspiel zum Geschlechtsakt oder die Antwort auf einen in der
Phantasie vorgestellten Geschlechtsakt. Ich dachte, wenn die Zeit käme, dann würde auch ich – selbst wenn ich ohne Begierde wä‐ re – eine Erektion haben, als handele es sich um eine Inspiration aus heiterem Himmel. Doch etwas in meinem Innern flüsterte mir dabei unausgesetzt zu: «Nein, allein bei dir wird das vielleicht nicht geschehen.» Und dieser kleine Zweifel kam in all meiner Un‐ sicherheit zum Ausdruck. Doch wenn ich meiner ‹schlechten Gewohnheit› oblag, stellte ich mir denn dabei niemals gewisse weibliche Körperteile vor? Nicht einmal versuchsweise? Nein, niemals! Diesen eigentümlichen Mangel erklärte ich mir mit meiner Trägheit. Kurz und gut, ich wußte über andere Jungen so gut wie nichts. Ich wußte nicht, daß alle Mitschüler außer mir jede Nacht von Frauen träumten, die sie erst gestern an einer Straßenecke gesehen hatten, und daß sie diese entkleideten und an sich vorbeidefilieren ließen. Ebenso wußte ich auch nicht, daß in solchen Träumen oft die Brüste einer Frau wie hübsche Quallen aus dem Meer der Nacht auftauchten. Und schließlich war mir völlig unbekannt, daß in den Träumen der Knaben oft der edelste Teil einer Frau seine feuchten Lippen öffnete und einen Sirenengesang anstimmte, zehmal, hundertmal, tausendmal, ewig... War meine Trägheit daran schuld, daß ich nicht auch solche Träume hatte? Konnte Trägheit die Ursache dafür sein? fragte ich mich immer wieder. Mein ganzer Ernst dem Leben gegenüber resultierte aus dem Verdacht, ich wäre einfach nur zu träge. Schließlich verbrauchte sich dieser Ernst bei dem Versuch, mich selbst gegen die Schuld der Trägheit in diesem einen Punkt zu verteidigen; denn mir wurde langsam klar, daß meine Trägheit sich niemals ändern werde. Der erwähnte Ernst weckte in erster Linie in mir den Entschluß, alle meine Erinnerungen, die ich je an Frauen gehabt hatte, in mir
99
wachzurufen. Doch welch ungewöhnlich magere Sammlung kam zusammen! Ich entsinne mich eines Vorfalls, der in meinem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr stattgefunden hat. Es war der Tag, an dem mein Vater nach Osaka versetzt wurde, und wir hatten ihn alle zum Tokioer Hauptbahnhof begleitet. Danach waren einige der Verwandten mit uns nach Haus zurückgekehrt. Unter ihnen be‐ fand sich auch meine Kusine Sumiko, ein unverheiratetes Mädchen von zwanzig Jahren. Ihre Vorderzähne standen ein wenig vor. Sie waren unverhält‐ nismäßig weiß, und wenn sie lachte, schimmerten sie so glänzend, daß man sich fragte, ob sie nicht absichtlich lachte, damit man ihre Zähne sehen konnte. Ihr geringfügiges Hervorstehen gab ihrem Lächeln einen fast unmerklichen Reiz; in ihrem Fall war der kleine Defekt der vorstehenden Zähne wie ein zusätzlicher Akzent in der harmonischen Grazie und Schönheit ihres Gesichts und verlieh der Ebenmäßigkeit ihrer Schönheit einen bestimmten Ton. Wenn auch das Wort ‹Liebe› hier nicht anwendbar ist, so mochte ich doch meine Kusine sehr. Von Kind an hatte ich sie gern von ferne beobachtet. Wenn sie mit einer Stickerei beschäftigt war, konnte ich stundenlang bei ihr sitzen und sie anstarren. Nach einiger Zeit begaben sich meine Tanten in ein anderes Zim‐ mer und ließen mich und Sumiko allein im Wohnzimmer. Wir saßen beide nebeneinander auf dem Sofa und schwiegen. In unse‐ ren Ohren dröhnte der Lärm des Bahnhofs. Ich war ungewöhnlich erschöpft. «Oh, ich bin müde», sagte sie und gähnte. Sie hob lässig ihre weiße Hand und schlug sich mehrere Male leicht mit den Fingern auf den Mund, als sei dies ein abergläubisches Ritual. «Bist du nicht auch müde, Kochan?» Aus einem mir unbekannten Grund bedeckte sie auf einmal ihr Gesicht mit beiden Ärmeln ihres Kimonos und verbarg es mit einem Plumps auf meinem Oberschenkel. Dann drehte sie ihre
Wange langsam auf meine Hosen, wandte ihr Gesicht empor und blieb eine Zeitlang reglos liegen. Die Hosen meiner Uniform zitter‐ ten über die Ehre, ihr als Kissen zu dienen. Der Duft ihres Parfüms und ihres Puders verwirrte mich. Ich blickte in ihr unbewegtes Gesicht und in ihre müden hellen weitgeöffneten Augen und wur‐ de verlegen... Das ist alles, was geschah. Dennoch vergaß ich niemals das Gefühl, das ich verspürte, als sich dieses kostbare Gewicht für Minuten gegen meine Schenkel drückte. Ich spürte keine sexuelle Erregung, eher ein höchst angenehmes Gefühl, als hinge ein gewichtiger Orden an meiner Brust. Oft traf ich im Autobus zur Schule eine blaß aussehende junge Dame, deren unnahbare Miene mein Interesse weckte. Immer starrte sie aus dem Fenster hinaus, als ob sie alles im höchsten Grade langweile. Der eigenwillige Gesichtsausdruck und ihre leicht aufgeworfenen Lippen beeindruckten mich. Wenn sie nicht im Bus war, hatte ich jedesmal das Gefühl, es fehle irgend etwas, und atemlos hoffte ich schon beim Einsteigen, sie wiederzusehen. Ich überlegte, ob das Liebe genannt werden konnte. Ich wußte es einfach nicht. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich, ob es eine Ver‐ bindung zwischen Liebe und sexuellem Verlangen gäbe. Unnötig zu sagen, daß ich während der Zeit, in der ich in Omi vernarrt war, nie den leisesten Versuch gemacht habe, das Wort Liebe mit der diabolischen Faszination in Zusammenhang zu bringen, die Omi auf mich ausübte. Und jetzt, da ich darüber nachdachte, ob das vage Gefühl, das ich für das Mädchen im Bus empfand, Liebe sei, wurde ich im gleichen Augenblick von dem vulgären Bus‐Schaff‐ ner angezogen, dessen Haar von Pomade glänzte. Meine Unwissenheit war so groß, daß ich den Widerspruch nicht empfand, der hierin lag: Ich verstand nicht, daß in meiner Art, das Profil des jungen Schaffners zu betrachten, etwas Atembeklem‐ mendes, Unvermeidliches, Schicksalhaft‐Bedrückendes lag – wo‐ 101
hingegen ich die bleichsüchtige junge Dame mit leicht gezwunge‐ nem, gekünsteltem, erlahmendem Interesse musterte. So lange ich den Unterschied der beiden Verhaltensweisen nicht merkte, exi‐ stierten sie in mir einträchtig nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu stören und ohne den geringsten Konflikt. Für einen Jungen in meinem Alter schien ich hinsichtlich dessen, was man moralische Sauberkeit zu nennen pflegt, von einer son‐ derbaren Gleichgültigkeit zu sein, oder um es in anderen Worten auszudrücken, es mangelte mir vollkommen die Fähigkeit der Selbstkontrolle. Selbst wenn ich diese Tatsache dadurch erklären könnte, daß ich behaupte, meine ungewöhnlich große Neugier habe sich meiner Veranlagung gemäß nicht auf irgendwelche moralischen Ziele hin bewegt, dann bleibt noch immer die Tat‐ sache, daß diese Neugierde einerseits der hoffnungslosen Sehn‐ sucht eines bettlägerigen Invaliden nach der äußeren Welt glich und andererseits untrennbar mit dem Glauben an die Möglichkeit des Unmöglichen verquickt war. Und es war diese Verbindung von unbewußtem Glauben und unbewußter Verzweiflung, die meine Begierden derart anfeuerten, daß sie fast besessenem Ehr‐ geiz glichen. Obgleich ich noch jung war, kannte ich das reine und klare Gefühl platonischer Liebe noch nicht. War dies ein Unglück? Doch welche Bedeutung hätte das, was man normalerweise unter ‹Un‐ glück› versteht, schon für mich haben können? Die vage Unruhe, die meine sexuellen Gefühle begleitete, hatte praktisch die fleischli‐ chen Begierden zu einer Art Albtraum für mich werden lassen. Daher war meine Neugierde tatsächlich rein intellektuell und nicht sehr verschieden vom gewöhnlichen Wissensdurst, aber ich ge‐ wann eine gewisse Fertigkeit darin, mir selber vorzumachen, daß es sich um normale fleischliche Begierden handelte. Und darüber hinaus brachte ich es zu einer wahren Meisterschaft im Selbstbe‐ trug, bis ich mich schließlich für einen regelrechten Lüstling hielt. Dies hatte zur Folge, daß ich mich in einer manierierten Weise wie
ein Erwachsener gebärdete, wie ein Mann von Welt, der der Frau‐ en vollkommen überdrüssig geworden ist. So kam es, daß die Vorstellung des Kusses für mich zum ersten‐ mal zur fixen Idee wurde. Tatsächlich stellte der physische Vor‐ gang des Kusses für mich nichts anderes dar als etwas, bei dem mein Geist Schutz suchen konnte. Jedenfalls kann ich dies heute sagen. Doch damals mußte ich in raffinierter Weise meine wahre Natur verbergen, um mir selber vormachen zu können, daß mein Verlangen gewöhnlicher animalischer Wollust entsprang. Das unbewußte Schuldgefühl, das sich aus diesem Selbstbetrug ergab, führte unabweisbar dahin, daß ich dauernd gezwungen war, eine Rolle bewußt falsch zu spielen. Doch mit Recht kann man fragen, ist es überhaupt möglich, daß jemand so gegen seine eigene Natur handeln kann, auch nur einen Augenblick lang? Falls man dies mit einem Nein beantworten will, dann sehe ich keine Möglichkeit, den geheimnisvollen psychischen Vorgang erklären zu können, der uns alle zuweilen nach Dingen verlangen läßt, die wir im Grunde gar nicht haben wollen. Wenn es feststeht, daß ich das genaue Gegenteil eines Menschen war, der seine unmoralischen Wünsche aus ethischen Motiven unterdrückt, bedeutet dies dann notwendigerweise auch, daß ich in meinem Innern die unmoralischsten Wünsche hegte? Und waren meine Wünsche denn nicht auf alle Fälle außergewöhnlich unbedeutend? Oder war mein Selbstbetrug vollständig geworden? Handelte ich vielleicht bis in die kleinsten Einzelheiten wie ein Sklave der Kon‐ vention? Die Zeit sollte kommen, da ich die Notwendigkeit nicht länger unterdrücken konnte, auf all diese Fragen eine Antwort zu finden... Bei Kriegsbeginn ging eine Welle von heuchlerischem Stoizismus über unser ganzes Land. Selbst die höheren Schulen waren hiervon nicht ausgenommen: auf der Mittelschule hatten wir uns auf den glücklichen Tag gefreut, an dem wir auf die höhere Schule kämen, wo wir unser Haar wachsen lassen konnten. Aber nun, da der Tag 103
herankam, wurden wir bitter enttäuscht – wir mußten nach wie vor unsere Köpfe scheren lassen. Farbige Socken gehörten eben‐ falls der Vergangenheit an. Statt dessen lösten vormilitärische Kurse immer häufiger den Unterricht ab, und viele andere alberne Neuerungen wurden eingeführt. Doch dank der langen Praxis sich zumindest nach außen den Anschein der Konformität zu geben, war es uns Schülern möglich, unser Leben wenigstens ohne zu große Einbuße der bisherigen Freiheiten fortzusetzen. Der vom Kriegsministerium unserer Schu‐ le zugeteilte Oberst war ein verständnisvoller Mann, und selbst der Sonderfeldwebel, dem wir den Spitznamen Su gegeben hatten, weil in seinem starken Dialekt ständig ein stimmhaftes ‹s› zu hören war, erfaßte bald den Geist unserer Schule und paßte sich ihm in vernünftigster Weise an wie seine Kollegen Booby und der stups‐ näsige Snout. Unser Schuldirektor war ein weibischer ehemaliger Admiral, der, unterstützt vom Kaiserlichen Haushaltsministerium, seine Stelle hielt, indem er das zeitvergeudende und harmlose Prinzip der Mäßigung in allen Dingen befolgte. Während dieser Zeit lernte ich rauchen und trinken, das heißt, ich lernte es vorzugeben. Der Krieg hatte in uns eine seltsame sentimentale Reife hervorgebracht. Dies rührte daher, daß wir alle in der Vorstellung lebten, mit zwanzig Jahren wäre unser Leben plötzlich zu Ende. Niemals erwogen wir überhaupt nur die Mög‐ lichkeit, daß es nach diesen paar uns noch verbleibenden Jahren ein Weiterleben für uns geben könnte. Das Leben erschien uns als etwas außergewöhnlich Flüchtiges. Es war genauso, als ob es ein Salzsee sei, von dem der größte Teil des Wassers plötzlich verdun‐ stet ist und eine solche schwere Konzentration von Salz zurück‐ läßt, daß unsere Körper unbeschwert an der Oberfläche trieben. Da der Augenblick, in dem der Vorhang fallen mußte, nicht in weiter Ferne zu liegen schien, hätte man vielleicht erwarten können, daß ich mich um so eifriger der Maskerade hingab, die ich mir ausge‐ klügelt hatte. Doch obwohl ich mir oft sagte, daß ich morgen damit beginnen würde – morgen ganz bestimmt –, verschob ich meine
Reise ins Leben von einem Tag zum anderen, und die Kriegsjahre gingen vorüber, ohne das geringste Anzeichen eines Aufbruchs. War dies nicht eine einzigartige Glücksperiode für mich? Ob‐ gleich ich noch immer ein gewisses Unbehagen fühlte, war es nur noch sehr schwach, und noch immer blickte ich voller Hoffnung dem unbekannten blauen Himmel eines jeden Morgens entgegen. Phantastische Träume von der zukünftigen Reise ins Leben, Visio‐ nen zu erwartender Abenteuer, das geistige Bild der Persönlich‐ keit, die ich eines Tages sein würde, ebenso das Bild meiner entzückenden Braut, die ich bisher noch niemals gesehen hatte, Hoffnungen zukünftigen Ruhmes – all diese Dinge wurden damals hübsch geordnet in einen Koffer gepackt, den ich am Tag meiner Abreise benutzen würde, ungefähr so, wie jemand einen Reisefüh‐ rer, Handtuch und Zahnbürste einpackt. Ich empfand ein nahezu kindliches Vergnügen am Krieg, und trotz der Nähe von Tod und Zerstörung um mich her, hörten meine Wachträume, in denen ich mich außerhalb der Reichweite jeder feindlichen Kugel glaubte, nicht auf. Statt dessen versetzte mich der Gedanke an meinen Tod in einen Zustand von schauderndem Entzücken. Mir war zumute, als gehörte mir die ganze Welt. Und dies war nicht weiter verwun‐ derlich, denn niemals gehört uns eine Reise so bis in die kleinsten Einzelheiten, als wenn wir sie vorbereiten. Danach bleibt dann nichts anderes als die Reise selbst, die nur der Prozeß ist, bei dem wir nach und nach unser Besitzrecht über sie wieder verlieren. Dies ist der Grund, der das Reisen so außerordentlich sinnlos macht. Allmählich konzentrierte sich mein besessenes Denken ans Küs‐ sen auf bestimmte Lippen. Und selbst hierbei wurde ich wahr‐ scheinlich durch nichts anderes als den Wunsch geleitet, glauben zu können, daß meine Träume edler waren als die Wirklichkeit. Wie ich schon erklärt habe, versuchte ich verzweifelt, mich davon zu überzeugen, daß ich diese Lippen begehrte, obgleich ich in Wirklichkeit weder das Verlangen danach noch sonst ein Gefühl hatte. Kurz, ich verwechselte das irrationale und sekundäre Begeh‐ 105
ren, glauben zu wollen, ich verzehre mich nach jenen Lippen, mit der tatsächlichen und echten Begierde. Ich verwechselte das wilde unmögliche Verlangen, nicht ich selbst zu sein, mit der männlichen sexuellen Gier auf die Welt, mit dem Verlangen, das daraus ent‐ steht, man selbst zu sein. Zu dieser Zeit besaß ich einen Freund, mit dem ich auf sehr ver‐ trautem Fuße stand, obgleich wir nicht im geringsten zusammen‐ paßten, nicht einmal in unseren Gesprächen. Er hieß Nukada und war außerordentlich dreist. Mich schien er in erster Linie als einen höchst bereitwilligen Partner auserkoren zu haben, dem er zahlrei‐ che Fragen über den Deutschunterricht stellen konnte, der ihm große Schwierigkeiten bereitete. Da ich mich für alles, solange es noch neu für mich ist, begeistere, erweckte ich den Eindruck eines außerordentlich guten Deutsch‐Schülers, allerdings nur im ersten Jahr. Nukada mußte instinktiv gemerkt haben, wie sehr ich das Prädikat des ‹Musterschülers› insgeheim verabscheute und wie sehr ich mich statt dessen nach einem ‹schlechtem Ruf› sehnte. Musterschüler, so sagte ich mir, war eine Bezeichnung, die eher einem Theologiestudenten anstand, und dennoch vermochte ich mir keine auszudenken, die eine bessere Tarnung für mich gewe‐ sen wäre. Nukadas Freundschaft enthielt etwas, das auf meinen schwachen Punkt verwies, denn er wurde von den ‹wirklichen Männern› unserer Schule oft beneidet. Durch ihn hatte ich so etwas wie eine schwache Verbindung zu der Welt der Frauen in genau der gleichen Weise, wie man durch ein Medium zu der Geisterwelt Verbindung erhält. Omi war das erste Medium zwischen mir und der Welt der Frau‐ en gewesen. Doch als ich ihn kannte, war ich noch mehr ich selbst gewesen und begnügte mich damit, seine besonderen Fähigkeiten eher als die eines Mediums zu werten, denn als Teil seiner Schön‐ heit. Nukadas Rolle als Medium wurde das übernatürliche Rah‐ menwerk für meine Neugierde. Dies war wahrscheinlich – zumin‐ dest teilweise – auf die Tatsache zurückzuführen, daß Nukada ganz und gar nicht hübsch zu nennen war.
Die Lippen, von denen ich besessen war, gehörten seiner älteren Schwester. Ich sah sie, wenn ich ihn daheim besuchte. Es war für das schöne Mädchen von 23 Jahren sehr leicht, mich als Kind zu behandeln. Als ich die Männer kennenlernte, die sie umgaben, wurde mir bald klar, daß ich nicht das geringste besaß, was eine Frau anzuziehen vermochte. So gestand ich mir schließlich selber ein, daß ich niemals wie Omi werden konnte und daß bei genauerer Betrachtung, mein Wunsch, wie Omi zu werden, in Wirklichkeit nur meine Verliebtheit in ihn gewesen war. Und dennoch war ich noch immer davon überzeugt, daß ich Nukadas Schwester liebte. Ich benahm mich genauso wie jeder andere unerfahrene Schüler meines Alters. In der Hoffnung, ihr zu begegnen, streunte ich in der Nachbarschaft des Hauses herum und verbrachte geduldig lange Stunden in einer Buchhandlung in der Nähe. Ich umschlang ein Kissen und stellte mir vor, daß ich sie umarmte, ich zeichnete unzählige Male ihre Lippen und begann Selbstgespräche zu führen, als hätte ich den Verstand verloren. Und wozu diente das alles? Diese künstlichen Anstrengungen riefen in meinem Kopf nur eine seltsame, stumpfe Müdigkeit her‐ vor. Der realistische Teil meines Geistes empfand das Gekünstelte dieser ewigen Liebesschwüre, durch die ich mir meine Verliebtheit einreden wollte. Eine geistige Erschlaffung war die Folge, die ein schreckliches Gift in sich zu bergen schien. In den Pausen dieser gekünstelten Phantasie‐Anstrengungen wurde ich zuweilen von einer lähmenden Leere überwältigt. Um ihr zu entgehen, ging ich dann schamlos zu einer genau entgegen‐ gesetzten Art von Tagtraum über. Dabei wurde ich sofort quickle‐ bendig, wurde ich selbst und entflammte mich erneut an meinen sonderbaren und abartigen Träumen. Darüber hinaus blieb dann meist die auf solche Art geschaffene Glut als ein abstraktes Gefühl in meinem Geist zurück, ein Gefühl, das von der Realität des Bildes, das seine eigentliche Ursache gewesen, völlig getrennt war. Ich legte mir dieses Gefühl dann so aus, daß ich es als Beweis für 107
die durch das Mädchen hervorgerufene Leidenschaft ansah... Und so betrog ich mich abermals. Wenn es Leute gibt, die behaupten, daß das, was ich soeben beschrieben habe, zu verallgemeinernd, zu abstrakt sei, kann ich darauf nur erwidern, daß ich nicht die Absicht habe, eine peinlich genaue Beschreibung einer Phase meines Lebens zu geben, deren äußere Aspekte sich in keiner Weise von denen anderer normaler junger Leute unterscheiden. Bis auf die Scham in meinem Innern war meine Jünglingszeit in keiner Weise ungewöhnlich. Ich war genau wie andere junge Menschen meines Alters. Der Leser braucht sich nur einen einigermaßen guten Schüler vorzustellen, der noch nicht zwanzig Jahre alt ist und der eine durchschnittliche Neugierde und einen durchschnittlichen Lebenshunger besitzt und der außerdem gern allein ist, weil er sich wahrscheinlich ein wenig zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ein Schüler, der bei der gering‐ sten Kleinigkeit rot wird und der, weil ihm das Selbstvertrauen fehlt, das daher kommt, wenn man hübsch genug ist, um den Mädchen zu gefallen, beharrlich über seinen Büchern sitzt. Es genügt vollkommen, sich vorzustellen, wie dieser Schüler sich nach Frauen sehnt, wie seine Brust brennt und wie er sich in sinn‐ losen Qualen windet. Kann man sich etwas denken, das prosaischer oder leichter vor‐ zustellen wäre? Es ist zwar richtig, daß ich alle diese Einzelheiten hätte lieber fortlassen sollen, weil sie nur wiederholen, was jeder‐ mann schon bekannt ist. Es genügt also, wenn ich sage, daß ich – immer den einen beschämenden Unterschied ausgenommen, den ich beschreibe – in dieser farblosesten Phase als schüchterner Schü‐ ler genau wie alle anderen jungen Menschen war und daß ich dem Regisseur des Stückes, das ‹Jünglingsalter› genannt wird, bedin‐ gungslosen Gehorsam geschworen hatte. Während dieser Zeit verlagerte sich die Anziehung, die ich frü‐ her nur älteren Schülern gegenüber gefühlt hatte, und schloß mehr und mehr auch die jüngeren ein. Das war nur natürlich, da sie zu
dieser Zeit so alt waren wie Omi, als ich in ihn verliebt war. Aber diese Veränderung meiner Neigung, nämlich daß ich mich jetzt Menschen einer anderen Altersgruppe zuwandte, hing mit einer grundlegenden Veränderung meiner Liebe zusammen. Genau wie früher hielt ich dieses neue Gefühl in meinem Herzen verborgen, doch zu meiner bisherigen Liebe für das Rohe und Wilde kam nun die Liebe für das Graziöse und Zarte. Zugleich mit meinem natür‐ lichen Wachstum entwickelte sich etwas wie Liebe des Beschützers zu seinen Zöglingen in mir, etwas, das der Knabenliebe sehr ver‐ wandt ist. Hirschfeld teilt die Invertierten in zwei Kategorien ein: in die Androphilen, die nur von Erwachsenen angezogen werden, und in die Ephebophilen, die Jünglinge zwischen vierzehn und einund‐ zwanzig lieben. Ich begann die Gefühle der Ephebophilen zu ver‐ stehen. Im alten Griechenland wurde ein junger Mann im Alter zwischen achtzehn und zwanzig, der in der militärischen Ausbil‐ dung war, Ephebe genannt. Der Ausdruck stammt von dem grie‐ chischen Namen der Göttin Hebe, der Tochter des Zeus und der Hera, Mundschenkin der olympischen Götter, Gemahlin des un‐ sterblichen Herkules und Symbol für den Frühling des Lebens. Es gab bei uns einen hübschen Jungen, der noch nicht siebzehn und vor kurzer Zeit erst in unsere Oberschule gekommen war. Er hatte eine auffallend helle Hautfarbe, besaß schön geschwungene Lippen und edel geformte Augenbrauen. Ich hatte gehört, daß er Yakumo hieß. Sein Gesicht gefiel mir über die Maßen gut. Ohne daß er selber es merkte, empfing ich von ihm eine Reihe von Geschenken, von denen jedes einzelne eine ganze Woche Freu‐ de für mich bedeutete. Die Klassenältesten, zu denen auch ich gehörte, waren dazu verpflichtet, abwechselnd je eine Woche lang beim morgendlichen Appell und beim Nachmittagsdrill das Kom‐ mando zu führen. Letzterer bestand aus dreißig Minuten Schwim‐ men; danach schulterten wir unsere Werkzeuge und mähten Gras oder schaufelten Luftschutzgräben. Ich kam alle vier Wochen an die Reihe. Selbst unsere Schule unterwarf sich trotz all ihrer sonsti‐ 109
gen Vornehmtuerei den harten Gepflogenheiten der Zeit, und so‐ bald der Sommer anfing, mußten wir uns für die Morgengym‐ nastik und für die nachmittäglichen Übungen bis zum Gürtel nackt ausziehen. Die Reihenfolge der Pflichten eines Klassenältesten bestand darin, zunächst beim Morgenappell von einer Plattform aus die Kommandos zu geben. War der Appell vorüber, so befahl er: «Jacken ausziehen!» Dann kam er von der Plattform herunter und stellte sich an einer Seite der Gruppe auf. Er gab den Schülern das Kommando, sich vor dem Sportlehrer zu verneigen, der inzwi‐ schen auf die Plattform getreten war. Hiermit war die Tätigkeit des Klassenältesten beendet, da der Lehrer nun die Übungen leitete. Er hatte nun zur letzten Reihe seiner Abteilung zurückzulaufen und sich ebenfalls bis zum Gürtel zu entkleiden und an den Übungen teilzunehmen. Ich fürchtete mich so sehr davor, Kommandos geben zu müssen, daß ich schon bei dem bloßen Gedanken daran innerlich fror. Den‐ noch ermöglichte mir der steife militärische Drill des Ganzen eine sehr seltene Gelegenheit, daß ich jedesmal die Woche herbeisehnte, in der ich an die Reihe kam: ich hatte Yakumos Körper, Yakumos halbnackten Körper unmittelbar vor Augen, ohne befürchten zu müssen, daß er sähe, wie unschön ich selbst nackt aussah. In der Regel stand Yakumo in der ersten oder zweiten Reihe vor der Plattform. Seine Wangen waren leicht gerötet, und ich war ent‐ zückt, wenn er außer Atem im letzten Augenblick herbeigerannt kam und mit hastigen Bewegungen die Knöpfe seiner Uniform‐ bluse öffnete. Danach riß er sich dann jedesmal das Hemd aus der Hose, als wolle er es zerfetzen. Selbst wenn ich entschlossen gewesen wäre, ihn nicht anzu‐ blicken, so war es von der Stelle aus, wo ich stand, einfach unmög‐ lich, seinen glatten weißen Körper nicht zu sehen, den er mit solchem Gleichmut den Blicken aussetzte. Einmal erstarrte ich vor Entsetzen, als ein Freund die unschuldige Bemerkung machte: «Du gibst deine Kommandos oben auf der Plattform immer mit nieder‐
geschlagenen Augen – bist du wirklich so zimperlich?» Doch ich hatte keine Gelegenheit, Yakumos halbnackten Körper näher zu kommen. Im Sommer fuhren sämtliche Oberklassen zu einer Studienwo‐ che an einer Marine‐Ingenieurschule in M. Eines Tages schwam‐ men wir alle in dem zur Schule gehörenden Becken. Ich wollte nicht zugeben, daß ich nicht schwimmen konnte und schützte einen verdorbenen Magen vor. Ich hatte gehofft, einfach zuschau‐ en zu dürfen, doch irgendein Hauptmann sagte, Sonnenbäder wären eine gute Medizin für jede Krankheit, und selbst diejenigen von uns, die behauptet hatten, zu krank zu sein, um schwimmen zu können, mußten sich bis auf die Unterhosen ausziehen. Plötzlich stellte ich fest, daß Yakumo zu unserer Gruppe gehörte. Er lag mit hinter dem Nacken verschränkten Armen in der Sonne, seine Brust war leicht gebräunt, und er nagte mit seinen weißblit‐ zenden Vorderzähnen ständig an seiner Unterlippe. Die sogenann‐ ten Kranken hatten sich im Schatten eines neben dem Schwimm‐ becken stehenden Baumes versammelt, und es war für mich nicht weiter schwierig, mich neben Yakumo niederzuhocken. Ich be‐ wunderte seine schlanken Hüften und beobachtete, wie sich beim Atmen sein Unterleib leicht hob und senkte. Und dabei fiel mir ein Vers von Walt Whitman ein: Die jungen Männer treiben auf ihren Rücken – ihr weißer Bauch wölbt sich zur Sonne empor... Schweigend hockte ich neben Yakumo. Ich schämte mich meiner eigenen mageren Brust, meiner knochigen, bleichen Arme... Im September 1944, das Jahr vor Kriegsende, absolvierte ich die Schule, die ich seit meiner Kindheit besucht hatte, und bezog die Universität. Da mir mein Vater keine andere Wahl ließ, mußte ich Jura studieren. Doch ich war darüber nicht allzusehr betrübt, weil 111
ich davon überzeugt war, bald eingezogen zu werden und im Krieg zu fallen. Auch glaubte ich fest daran, daß meine ganze Familie ebenfalls barmherzigerweise bei einem der Luftangriffe ums Leben kommen werde. Wie es damals allgemein üblich war, lieh ich mir von einem an‐ deren Studenten, der gerade eingezogen worden war, die Studen‐ tenuniform und versprach, sie seiner Familie zurückzugeben, wenn ich selbst einberufen wurde. Ich trug die Uniform und besuchte die Vorlesungen. Inzwischen waren die Luftangriffe häufiger geworden. Einerseits hatte ich ungewöhnliche Angst vor ihnen, auf der anderen Seite sehnte ich mich irgendwie geradezu ungeduldig, mit einer süßen Erwartung nach dem Tod. Wie ich schon mehrmals gesagt habe, lag die Zukunft wie eine schwere Last auf mir. Von Anfang an hatte das Leben mir einen tiefen Sinn für Pflicht eingeprägt, ob‐ gleich ich ganz offensichtlich unfähig war, diese Pflicht zu erfüllen. Meine Pflichtvergessenheit quälte mich, und ich dürstete nach der großen Freiheit, die der Tod mir sicherlich bringen würde, wenn ich nur – ähnlich einem Ringkämpfer – die schwere Bürde des Lebens von meinen Schultern wälzen konnte. Mit ganzem Herzen teilte ich den Todesglauben, der damals während des Krieges herrschte. Ich dachte, daß ich, wenn ich nur die Möglichkeit hätte, ‹den Heldentod an der Front zu sterben› (wie schlecht wäre mir das bekommen!), ein wirklich ironisches Ende für mein Leben ge‐ funden hätte; ein Ende, über das ich dann in alle Ewigkeit aus dem Grab heraus lachen könnte... Aber wenn die Sirenen heulten, war ich es, der schneller als irgend jemand anders in den Bunker rannte... Ich hörte Klavierspielen; es klang ein wenig unbeholfen. Ich befand mich im Hause eines Freundes, der sich erst kürzlich entschlossen hatte, freiwillig als Fahnenjunker einzurücken. Er hieß Kusano, und ich hielt sehr viel von ihm. Ich sah ihn als den
einzigen Freund an, den ich auf der Universität hatte, und mit dem ich mich auch über ernstere Dinge zwanglos unterhalten konnte. Tatsächlich schätze ich noch heute seine Freundschaft. Ich bin ein Mensch, der nicht sonderlich daran interessiert ist, Freunde zu besitzen. Doch etwas in meinem Innern zwingt mich dazu, das Folgende zu erzählen, obgleich ich dadurch höchstwahrscheinlich die einzi‐ ge Freundschaft zerstören werde, die ich besitze. «Sag mal, glaubst du, daß derjenige, der dort am Klavier sitzt, überhaupt Talent hat? Ich finde nämlich, das Spiel klingt manch‐ mal ein wenig holprig. Findest du nicht auch?» «Es ist meine Schwester, die übt», sagte er. «Vorhin war ihre Leh‐ rerin hier, sie ist vor kurzem fortgegangen.» Wir hörten auf zu sprechen und lauschten eine Weile aufmerk‐ sam. Da Kusano kurz vor seiner Einberufung stand, hing ihm mit dem Klang des Klaviers aus dem Zimmer nebenan auch etwas Vertrautes, Alltägliches in den Ohren – eine Art ungeschickter, fast störender Schönheit –, das er bald würde verlassen müssen. Der Anschlag verriet ein Gefühl von Vertrautheit, so als schaue jemand in seine Rezepte, während er versucht, selber Konfekt zu machen, und ich fragte unwillkürlich: «Wie alt ist sie?» «Siebzehn», antwortete er, «es ist meine jüngere Schwester.» Je länger ich zuhörte, desto deutlicher konnte ich mir das junge Mädchen im Nebenzimmer vorstellen: Sicherlich war es verträumt und schüchtern, ein halbes Kind noch, und seine eigene Schönheit war ihm noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Insgeheim betete ich, daß das Klavierspiel niemals mehr aufhören möge. Mein Gebet wurde erhört. Denn in meinem Herzen wirkt der Ton dieses Klaviers selbst heute noch fort, obgleich fünf Jahre seit‐ dem vergangen sind. Wie oft habe ich versucht, mir klarzumachen, daß es sich nur um eine Halluzination handelt. Wie oft hat mein Verstand sich über diese Sinnestäuschung lustig gemacht. Und wie 113
oft hat mein schwacher Wille sich über meine Fähigkeit zum Selbstbetrug mokiert. Trotz alledem bleibt die Tatsache bestehen, daß die Töne, die damals erklangen, von mir Besitz ergriffen haben und daß sie für mich, sofern man den dunklen Unterton des Wortes fortläßt, tatsächlich zum ‹Schicksal› wurden. Ich erinnerte mich an den seltsamen Eindruck, den ich kurze Zeit zuvor von dem Wort Schicksal erhalten hatte. Nach der Examens‐ feier in unserer Schule war ich mit unserem Direktor, dem alten ehemaligen Admiral, zum Kaiserpalast gefahren, um dort den üblichen Dankbesuch abzustatten. Während wir beide im Auto saßen, hatte der mürrische alte Herr, in dessen Augenwinkeln sich kleine Schleimklümpchen befanden, meinen Entschluß kritisiert, mich nicht freiwillig als Fahnenjunker zu melden, sondern auf meine Einberufung als einfacher Rekrut zu warten. Und er hatte mich darauf hingewiesen, daß ich mit meiner schwachen Konsti‐ tution niemals das harte Leben des gemeinen Soldaten aushalten würde. «Aber ich habe mich nun doch schon einmal dazu entschlossen.» «Das sagen Sie nur, weil Sie nicht wissen, was das bedeutet. Doch auf alle Fälle ist der Termin zur Meldung längst überschrit‐ ten. Es ist also nichts mehr zu machen, es ist Ihr ‹destiny›.» Er gebrauchte das englische Wort ‹destiny› und sprach es in der altmodischen Weise falsch aus. «Was?» fragte ich. «‹Destiny› – Schicksal, es ist Ihr Schicksal.» Er wiederholte es einige Male monoton und mit dem gleichgülti‐ gen, argwöhnischen Ton in der Stimme, der so charakteristisch für alte Leute ist, die ständig auf der Hut sind, weil sie Angst haben, für komische Großmütter gehalten zu werden. Bei meinen letzten Besuchen bei Kusano hätte ich eigentlich die jüngere, Klavier spielende Schwester sehen müssen. Aber Kusanos
Familie war sehr zugeknöpft und nicht mit der umgänglichen Familie Nukadas zu vergleichen. Immer wenn einer von Kusanos Freunden erschien, verschwanden seine drei Schwestern sofort, und es blieb nur ihr scheues Lächeln im Raum. Als Kusanos Einberufung näherrückte, besuchten wir uns immer häufiger und konnten uns immer schwerer voneinander trennen. Seitdem ich das Klavierspiel gehört hatte, war ich in allem, was seine Schwester betraf, völlig unbeholfen, denn ich hatte das Ge‐ fühl, dem jungen Mädchen seine Geheimnisse abgelauscht zu haben. Und seitdem war ich nicht imstande, ihr ins Gesicht zu sehen oder mit ihr zu sprechen. Wenn sie gelegentlich den Tee hereinbrachte, schlug ich meine Augen nieder, und dann sah ich nichts als ihre dünnen Beine und zarten Füße, die leicht über den Boden glitten. Die Schönheit ihrer Beine hatte mich vollständig bezaubert, vielleicht weil ich bisher noch nicht daran gewöhnt war, daß Frauen in der Stadt die gleichen kniefreien Hosen wie die Bauersfrauen oder die Blue jeans trugen, die in dieser gefährlichen Zeit Mode geworden waren. Und dennoch wäre es verkehrt, den Eindruck hervorrufen zu wollen, daß der Anblick ihrer Beine auch nur die geringste ge‐ schlechtliche Erregung bei mir hervorgerufen hätte. Wie ich schon früher sagte, fühlte ich überhaupt kein sexuelles Begehren dem anderen Geschlecht gegenüber. Ein guter Beweis hierfür ist die Tatsache, daß ich niemals den Wunsch gehabt habe, eine Frau nackt zu sehen. Dennoch gewöhnte ich mich daran, mir ernsthaft einzureden, daß ich in ein Mädchen verliebt war. Und die hassens‐ werte Müdigkeit, von der ich schon berichtet habe, begann sich über meine Seele zu legen, und daraufhin entzückte mich dann der Gedanke, ein reiner Vernunftmensch zu sein. Ich kam mir unge‐ heuer erwachsen vor und verglich meine frigiden und ständig wechselnden Gefühle mit denen eines Mannes, der zu viele Frauen kennt und ihrer müde geworden ist. Solche geistigen Akrobaten‐ kunststücke waren mir allmählich selbstverständlich geworden, so daß ich darin eine gewisse mechanische Fertigkeit erlangte, als 115
wäre ich ein Automat für Süßigkeiten und Schokolade: Sobald man eine Münze hineinwirft, gleitet schon unten die Schokolade heraus. Ich gaukelte mir vor, daß ich ein Mädchen ohne irgendwelche fleischlichen Begierden lieben könnte. Es war dies wahrscheinlich das närrischste Unterfangen in der Geschichte des Menschenge‐ schlechtes überhaupt. Ohne es zu merken, versuchte ich so etwas Ähnliches – man verzeihe mir meine angeborene Neigung zur Übertreibung – wie ein Kopernikus der Liebestheorie zu werden. Auf diese Weise war ich, offenbar unbeabsichtigt, bei nicht mehr als einem Glauben an die platonische Liebe angelangt. Obgleich es wahrscheinlich den Anschein hat, daß dies im Widerspruch zu dem steht, was ich vorher gesagt habe, glaubte ich dennoch rein und mit ehrlicher Überzeugung an diese platonische Idee wie an einen unbestrittenen Wert. Und war es nicht doch die Reinheit selbst und nicht die Idee der Reinheit, an die ich glaubte, der ich mich insgeheim verschworen hatte? Später mehr davon. Wenn ich zuweilen nicht an die platonische Liebe zu glauben schien, dann konnte ich auch das meinem Verstand anlasten, der so schnell bereit war, die Idee der fleischlichen Liebe zu akzeptie‐ ren, die in meinem Gefühlsleben überhaupt nicht vorhanden war, und jener durch meine Gekünsteltheit hervorgerufenen Müdigkeit, die mich bei meinem Verlangen, als blasierter Erwachsener zu erscheinen, ständig begleitete. Kurz, meiner Unrast. Das letzte Kriegsjahr nahte, und ich feierte meinen zwanzigsten Geburtstag. Anfang des Jahres wurden sämtliche Studenten mei‐ ner Universität zu den Flugzeugwerken geschickt, die in der Nähe der Stadt M. lagen. Achtzig Prozent der Studenten wurden Fabrik‐ arbeiter, während die weniger robusten, die die verbleibenden zwanzig Prozent ausmachten, mit allen möglichen Arten von Büroarbeiten beschäftigt wurden. Ich fiel unter die letztgenannte Kategorie. Und trotzdem war ich im Jahr zuvor bei der Musterung für diensttauglich erklärt worden und lebte nun in der ständigen
Furcht, daß meine Einberufung morgen, wenn nicht schon heute, kommen könnte. Die Flugzeugfabrik lag in einer trostlosen, schmutzigen Gegend und war derart ausgedehnt, daß man eine halbe Stunde brauchte, um von einem Ende zum anderen zu gelangen. Sie beschäftigte einige tausend Arbeiter. Ich war einer von ihnen mit der Bezeich‐ nung des zeitweiligen Angestellten 953 und der Ausweisnummer 4409. Dieses riesige Unternehmen arbeitete in der Hauptsache auf der Basis eines geheimnisvollen Produktionskostensystems: Unbeküm‐ mert um den ökonomischen Grundsatz, daß Kapitalinvestierungen einen Gewinn abwerfen müssen, verschwand hier das Kapital im Schlund eines ungeheuren Molochs. Es war daher nicht weiter verwunderlich, daß die Arbeiter jeden Morgen einen mystischen Schwur wiederholen mußten. Ich habe nie wieder eine so merk‐ würdige Fabrik gesehen. Sämtliche Errungenschaften der moder‐ nen Wissenschaft und der Verwaltung arbeiteten zusammen mit den exakten und rationalen Denkmethoden überragender Geister einzig und allein auf ein Ziel hin: Tod und Vernichtung. Es wur‐ den in dieser riesigen Fabrik die Einmann‐Flugzeuge für die To‐ desflieger hergestellt. Das Ganze erinnerte an eine religiöse Geheimgesellschaft, deren Mitglieder stöhnend, schreiend und heulend einem schrecklichen Kult oblagen. Und es war ja auch einfach gar nicht möglich, daß eine solche ungeheure Organisation ohne religiösen Schwulst hätte auskommen können. Die Fabrik besaß tatsächlich so etwas wie religiösen Pomp, angefangen von den priesterlichen Direktoren, die sich ihre Bäuche zu mästen verstanden. Von Zeit zu Zeit heulten die Sirenen und gaben Fliegeralarm. Dies war die Stunde, in der diese pervertierte Religion ihre Schwarze Messe feierte. Dann begann es sich in den Büros zu regen. Da es keine Radio‐ apparate gab, besaßen wir keine Möglichkeit, festzustellen, was draußen überhaupt vor sich ging. Meistens sagte dann irgendeiner 117
von uns in einem breiten Bauernjargon: «Möchte bloß wissen, was da schon wieder los ist!» Dies war der Zeitpunkt, wo gewöhnlich ein junges Mädchen aus dem Vorzimmer des Oberaufsehers mit der Meldung kam: «Mehrere Formationen feindlicher Flugzeuge im Anflug.» Kurz darauf ertönten die durchdringenden Stimmen der Lautsprecher und befahlen den Studentinnen und jüngeren Schülern der höheren Lehranstalten, die Luftschutzräume aufzusu‐ chen. Sanitäter liefen umher und verteilten rote Zettel mit der Auf‐ schrift: «Aufhören der Blutung: Stunde..., Minute...» Im Falle einer Verwundung mußten diese Zettel ausgefüllt und dem Betreffen‐ den um den Hals gehängt werden, um den Zeitpunkt anzuzeigen, an dem eine Ader abgebunden worden war. Ungefähr zehn Minu‐ ten nach der Vorwarnung verkündeten die Lautsprecher: «Alle Angestellten in die Luftschutzräume.» Die Büroangestellten griffen nach den wichtigsten Papieren, um sie in die unterirdischen Gewölbe zu bringen, wo unentbehrliche Akten aufbewahrt wurden. Danach liefen sie zu den Ausgängen zurück und eilten mit den Gruppen der Arbeiter über den Fabrik‐ hof zu den Luftschutzbunkern. Alle trugen Luftschutzhelme oder gepolsterte Schutzkappen und rannten dem Hauptportal zu. Außerhalb der Fabrikanlagen war eine große Fläche Ödland. Ungefähr in sieben‐ oder achthundert Meter Entfernung waren in einen fichtenbewachsenen Hang zahlreiche Bunker hineingebaut. In zwei Strömen raste der schweigende, hastige, blinde Mob durch den Staub auf diese Bunker zu – raste auf etwas zu, was in jedem Fall nicht der Tod hieß, gleichgültig ob es auch nur eine kleine Höhle von leicht einstürzender roter Erde war, in keinem Fall war es der Tod... An den Tagen, da ich frei hatte, fuhr ich nach Hause, und hier fand ich eines Abends um elf Uhr meinen Einberufungsbefehl vor, ein Telegramm, in dem mir befohlen wurde, mich am 15. Februar bei einer bestimmten Einheit zu melden.
Auf den Rat meines Vaters hin hatte ich mich nicht in Tokio, son‐ dern bei der Regimentsdienststelle untersuchen lassen, die in der Nähe der neuen Wohnung meiner Eltern in der Osaka‐Kioto‐Pro‐ vinz lag. Mein Vater glaubte nämlich, daß meine schwächliche Konstitution auf dem Lande mehr beachtet werde als in der Stadt, wo dies ohnehin keine Seltenheit war, so daß ich möglicherweise untauglich geschrieben würde. Tatsächlich waren die Militärärzte in Gelächter ausgebrochen, als es sich erwies, daß ich noch nicht einmal fähig war, einen Sack mit Reis, den die Bauernjungen mit Leichtigkeit zehnmal über den Kopf stemmten, auch nur bis in Brusthöhe zu heben. Dennoch war ich schließlich diensttauglich geschrieben worden. Ich mußte mich also bei einer ländlichen Einheit melden; meine Mutter weinte besorgt, und sogar meinen Vater schien meine Ein‐ berufung sehr mitzunehmen. Was mich betraf, so erweckte der Anblick meines Gestellungsbefehls zwar keinerlei Begeisterung in mir, nichtsdestoweniger kam ich mir jedoch wie ein Held vor. Ich hoffte, einen leichten Tod zu haben. Alles in allem hatte ich das Gefühl, als müßte es eben so sein. Eine leichte Erkältung, die ich mir in der Fabrik geholt hatte, ver‐ schlimmerte sich an Bord des Schiffes, das zwischen den Inseln verkehrte und mit dem ich zu meiner Einheit fuhr. Und als ich zu dem Haus von Freunden unserer Familie kam, in dem Dorf, in dem wir wohnten – uns selber gehörte seit dem Bankrott meines Großvaters auch nicht das kleinste Stückchen Land mehr –, hatte ich derart hohes Fieber, daß ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte. Doch dank der liebevollen Pflege, die man mir zuteil werden ließ, und namentlich mit Hilfe riesiger Mengen Tabletten war ich schließlich fähig, am Gestellungstag durch das Kasernen‐ tor zu schreiten, zu dem mich die befreundete Familie rührender‐ weise gebracht hatte. Mein Fieber, das durch die Medikamente nur herabgedrückt worden war, kehrte jedoch zurück. Bei der ärztlichen Untersu‐ chung, die der endgültigen Eintragung in die Heeresstammrolle 119
vorausging, mußte ich eine Weile splitternackt wie ein wildes Tier herumstehen und warten. Ich mußte dauernd niesen. Der Grün‐ schnabel von Militärarzt, der die Untersuchung leitete, hielt das Geräusch meiner Bronchien irrtümlicherweise für eine Erkrankung der Lunge und meine aufs Geratewohl gegebenen Antworten über meine bisherige Krankheit bestärkten ihn noch in seinem Irrtum. Man machte eine Blutprobe, deren Ergebnis, hervorgerufen durch das starke Fieber meiner Erkältung, zu der Fehldiagnose einer beginnenden Tuberkulose führte. Noch am gleichen Tage wurde ich als dienstuntauglich nach Hause geschickt. Kaum lagen die Kasernentore hinter mir, rannte ich aus Leibes‐ kräften den schneebedeckten Abhang hinunter, der zum Dorf führte. Es war genau wie in der Flugzeugfabrik: Meine Beine trugen mich, so schnell sie konnten, einem Ziel entgegen, das auf jeden Fall nicht der Tod war – welches auch immer dieses Ziel sein mochte, es war nicht der Tod... Als ich nachts im Zug saß, bekam ich Schüttelfrost und Kopf‐ schmerzen. Durch die zerbrochene Scheibe des Abteilfensters wehte kalter Wind. Wo sollte ich eigentlich jetzt hingehen, fragte ich mich. Da mein Vater unfähig war, jemals eine endgültige Ent‐ scheidung zu treffen, wohnte meine Familie noch immer in unserem Haus in Tokio. Sollte ich dorthin zurückkehren, wo jeder‐ mann eingeschüchtert und in Spannung lebte? Sollte ich in diese Stadt zurückkehren, die unser Haus mit ihrer Nacht umzingelte? Sollte ich mich in das Menschengewimmel begeben, wo alle Kuh‐ augen haben und sich ständig zu fragen scheinen: «Geht es Ihnen gut, geht es Ihnen gut?» Sollte ich in den Schlafsaal der Flugzeug‐ fabrik zurückkehren, wo ich nichts als die bleichen Gesichter der tuberkulösen Universitätsstudenten sehen würde? Die Holzleisten des Sitzes waren von dem Druck meines Rückens lose geworden und bewegten sich nun im gleichen Rhyth‐ mus mit dem Zug. Von Zeit zu Zeit schloß ich die Augen und stellte mir vor, wie meine gesamte Familie während meines Be‐
suchs durch einen Luftangriff ums Leben kam. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit erfüllte mich mit unbeschreiblichem Ekel. Nichts flößte mir einen so starken Abscheu ein wie der Gedanke, daß das tägliche Leben eng mit dem Tod verbunden war. Ver‐ stecken sich nicht sogar die Katzen, wenn sie den Tod kommen fühlen, damit niemand sie sterben sieht? Bei dem Gedanken, daß ich mit eigenen Augen zusehen müßte, wie meine Angehörigen auf gräßliche Weise ums Leben kamen, und daß sie umgekehrt auch Zeuge meines grauenhaften Todes sein könnten, wurde mir übel. Die Vorstellung, wie eine ganze Familie, Mutter, Vater, Söhne und Töchter, vom Tode überwältigt und gemeinsam das Grauen des Todes teilen würde, die Blicke, die sie miteinander austau‐ schen würden – dies alles erschien mir nichts anderes als eine obszöne und perverse Karikatur des glücklichen und harmoni‐ schen Familienlebens. Ich wollte unter Fremden sterben, ungestört und unter einem wolkenlosen Himmel. Dennoch unterschied sich mein Wunsch von dem jenes alten Griechen, der in strahlender Sonne sterben wollte. Was ich wollte, war eigentlich mehr eine Art natürlichen, spontanen Selbstmords. Ähnlich wie ein Fuchs wollte ich sterben, der noch nicht die Schlauheit der alten Tiere besaß, der sorglos einen Gebirgspfad entlangläuft und wegen seiner eigenen Dumm‐ heit von der Kugel eines Jägers tödlich getroffen wird. War die Armee in diesem Fall für meine Absicht nicht geradezu ideal? Warum hatte ich dem Militärarzt ins Gesicht gelogen? Warum hatte ich behauptet, daß ich länger als ein halbes Jahr Fie‐ ber gehabt hätte, daß meine Schulter schmerzte und steif wäre, daß ich Blut spuckte, daß ich erst in der letzten Nacht ganz naß von Schweiß gewesen wäre? (Letzteres beruhte zufällig auf Wahrheit, doch war dies angesichts der Unmenge von Aspirintabletten, die ich eingenommen hatte, nicht weiter verwunderlich.) Und weshalb konnte ich nur mit größter Mühe ein Lächeln unterdrücken, als man mich dienstuntauglich erklärte und ich noch am selben Tage nach Hause gehen konnte? Warum war ich so gelaufen, als ich das 121
Kasernentor hinter mir hatte? Waren nicht meine Hoffnungen zu Nichts zerronnen? Was war mit mir los, daß ich den Kopf nicht hatte hängen lassen und mit schweren Füßen davongeschlichen war? Lebhaft stellte ich mir vor, daß ich in meinem zukünftigen Leben niemals solche Höhen des Ruhmes erklimmen würde, um die Tat‐ sache zu rechtfertigen, dem Heldentod entronnen zu sein. Daher konnte ich auch die tiefere Ursache der Macht nicht begreifen, die mich zwang, so eilig dem Kasernentor davonzulaufen. Bedeutete dies, daß ich trotz allem am Leben bleiben wollte? Und jene völlig automatisch gewordene Reaktion, die mich stets atemlos zu den Luftschutzräumen stürzen ließ – war sie denn etwas anderes als der Wunsch, am Leben zu bleiben? Da meldete sich plötzlich mein zweites Ich und machte mir klar, daß ich auch nicht ein einziges Mal wirklich hatte sterben wollen. Bei diesen Worten überflutete mein Schamgefühl den Damm, hinter den es zurückgedrängt worden war. Die Wahrheit tat weh, doch in diesem Augenblick wußte ich, daß ich mich selber belogen hatte, als ich behauptete, aus Todessehnsucht in die Armee eintre‐ ten zu wollen. Ich begriff, daß ich insgeheim gehofft hatte, in der Armee eines Tages die Gelegenheit zu finden, meine seltsamen sinnlichen Gelüste zu befriedigen. Und ich wußte, daß – weit davon entfernt, den Tod zu suchen – das einzige, was es mir über‐ haupt möglich gemacht hatte, dem Soldatenleben gefaßt entgegen‐ zusehen, die feste Überzeugung gewesen war, die irgendwie allen Menschen gemeinsam ist und einem Glauben an primitive Zau‐ berei entspringt – daß allein ich niemals sterben würde... Doch wie äußerst unangenehm waren diese Einsichten für mich! Viel lieber hätte ich in mir eine Persönlichkeit gesehen, die selbst vom Tode verschmäht worden war! Ungefähr in der gleichen Art wie ein Arzt, der einen chirurgischen Eingriff an einem inneren Organ vornimmt, alle seine Fähigkeiten auf diese Operation kon‐ zentriert und dennoch dabei unpersönlich bleibt, hatte ich ein Vergnügen daran, mir die seltsamen Qualen eines Menschen vor‐
zustellen, der gern gestorben wäre, jedoch vom Tode verschmäht wurde. Das innere Vergnügen, das ich mir dabei verschaffte, erschien mir fast unmoralisch. Zwischen der Universität und der Flugzeugfabrik hatte es Mei‐ nungsverschiedenheiten gegeben, und gegen Ende Februar kehr‐ ten wir alle wieder auf die Universität zurück. Es war geplant, daß wir im März an den Vorlesungen teilnehmen und anschließend dann im April zu einer anderen Fabrik geschickt werden sollten. Doch Ende Februar fand ein Luftangriff von beinahe tausend feindlichen Maschinen statt, und es wurde offensichtlich, daß die für März vorgesehenen Vorlesungen in Wirklichkeit nur auf dem Papier standen. So hatten wir auf dem Höhepunkt des Krieges einen Monat Ferien. Ebensogut hätte man uns feuchtgewordene Feuerwerkskör‐ per schenken können. Trotzdem hätte ich viel lieber nasse Feuer‐ werkskörper als irgendwelche albernen praktischen Geschenke angenommen, die typischer für unsere Universität gewesen wären, wie zum Beispiel eine Schachtel gesalzenes Gebäck. Es war das Ungewöhnliche des Ganzen, das mir Vergnügen machte. Die bloße Tatsache, daß die Ferien völlig nutzlos für uns waren, machte sie in jenen Tagen zu einem großartigen Geschenk. Wenige Tage nachdem ich mich von meiner Erkältung wieder erholt hatte, rief Kusanos Mutter bei uns an. Sie erzählte uns, daß man vom 10. März an Kusano in seinem Regiment besuchen dürfe, und fragte, ob ich nicht Lust hätte, sie und ihre Familie zu beglei‐ ten. Ich nahm die Einladung an und ging kurz darauf zu ihr, um alles Weitere zu vereinbaren. Damals hielt man die Abenddämmerung für verhältnismäßig sicher vor Luftangriffen. Als ich eintraf, hatte die Familie gerade das Abendessen beendet. Da Kusanos Vater tot war, bestand die Familie jetzt nur noch aus seiner Großmutter, der Mutter und den drei Schwestern. Man lud 123
mich ein, vor dem kleinen elektrischen Heizofen Platz zu nehmen, um den sich die Familie versammelt hatte. Die Mutter stellte mich der Schwester vor, die ich seinerzeit hatte Klavier spielen hören. Sie hieß Sonoko. Weil es eine bekannte Pianistin gleichen Namens gab, erlaubte ich mir einen etwas bissigen Scherz, der sich darauf bezog, daß ich sie früher einmal am Klavier hatte üben hören. In dem schwachen Schein der abgeblendeten Verdunkelungslampe errötete die Acht‐ zehnjährige und antwortete nichts. Sie trug eine rote Lederjacke. Am Morgen des 9. März wartete ich auf Kusanos Familie auf dem Bahnsteig der in der Nähe ihres Hauses gelegenen Station. Viele Läden entlang des Bahndamms wurden auf Anordnung der Regierung abgerissen, um Platz für Feuerschneisen zu schaffen, und die Abbrucharbeiten, mit denen bereits begonnen worden war, konnte man genau beobachten. Durch die klare Vorfrühlings‐ luft schallte Krachen und Brechen. Zwischen den Trümmern wurde jetzt das nackte Holz sichtbar und blendete die Augen. Die Morgen waren noch kalt. Seit mehreren Tagen war nicht ein einziges Mal Alarm gegeben worden. In dieser Pause schien die Luft klarer geworden zu sein und sich so überdehnt zu haben, daß sie jeden Augenblick zu reißen schien. Die Atmosphäre war wie die gespannte Saite eines Samisen * , die beim leisesten Zupfen einen durchdringenden Ton von sich gibt. Jene Spannung erinnerte an die kurzen Momente voller Stille, hörbar in ihrem Schweigen, die sich in einem Ausbruch der Musik gleichsam erlösen. Selbst das kalte Sonnenlicht, das auf den verlassenen Bahnsteig fiel, schien in Vorahnung von Musik zu vibrieren. Da erblickte ich Sonoko; sie trug einen blauen Mantel und ging mit ihren zwei Schwestern die gegenüberliegende Treppe hinun‐ ter. Sie hielt die jüngste an der Hand und führte sie vorsichtig
*
Japanisches Saiteninstrument
Stufe um Stufe hinab. Der anderen Schwester, die ungefähr vier‐ zehn oder fünfzehn war, ging das zu langsam, und sie sprang im Zickzack vor den beiden her. Sonoko schien mich bisher noch nicht bemerkt zu haben. Ich konnte sie deutlich beobachten. Nie in meinem Leben war ich bisher von der Schönheit einer Frau derart ergriffen worden. Mein Herz klopfte wie rasend, ich fühlte mich geläutert. Der Leser, der mir bis hierhin gefolgt ist, wird mir wahrschein‐ lich kein Wort mehr glauben. Er wird zwischen meiner gekünstel‐ ten und unerwiderten Liebe zu Nukadas Schwester und dem ra‐ senden Klopfen meines Herzens, von dem ich jetzt spreche, keinen Unterschied sehen. Denn auf den ersten Blick gibt es scheinbar keinen plausiblen Grund, der die Tatsache hinreichend erklärt, daß ich bei dieser Gelegenheit auf einmal meine Gefühle nicht in der gleichen Weise wie damals einer unbarmherzigen Analyse unter‐ warf. Wenn der Leser weiterhin zweifelt, ist der Versuch, mich auszudrücken, von Anfang an sinnlos gewesen: Der Leser wird denken, daß ich irgendwelche Tatsachen ohne jegliche Rücksicht‐ nahme auf die Wahrheit nur einfach erzähle, weil sie mir in den Sinn kommen und weil ich damit meine Erzählung schlüssig ma‐ chen möchte. Nichtsdestoweniger ist es der zuverlässigste Teil meines Gedächtnisses, der einen grundlegenden Unterschied zwi‐ schen den Gefühlen, die ich vorher hatte und jenen, die der Anblick Sonokos in mir erweckte, hervorhebt. Daß ich jetzt etwas wie Reue fühlte, war der Unterschied. Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte, bemerkte Sonoko mich und lächelte mir zu. Ihre frischen Wangen waren von der Kälte gerötet. Ihre Augen – große schwarze Pupillen und schwere Lider gaben ihnen etwas leicht Schläfriges – leuchteten, als wollten sie sprechen. Dann, nachdem sie ihre kleine Schwester der zweiten an die Hand gegeben hatte, rannte sie den Bahnsteig entlang auf mich zu in einer graziösen Bewegung wie flirrendes Licht. Was mir da entgegengesprungen kam, war kein Mädchen, nicht eine der fleischlichen Verkörperungen, wie ich sie mir seit meiner 125
Knabenzeit vorzustellen gezwungen war, nein, sie war etwas wie der Herold des strahlenden Morgens. Andernfalls wäre ich ihr sicherlich mit meiner üblichen selbstbetrügerischen Hoffnung begegnet. Doch zu meiner Bestürzung war ich auf einmal gezwun‐ gen, in Sonoko eine mir bis jetzt verborgene Eigenschaft zu ahnen, und dies gab mir das beschämende Gefühl, ihrer nicht würdig zu sein. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl liebedienerischer Unter‐ legenheit. In jedem Augenblick, in dem Sonoko sich mir näherte, überfiel mich unerträgliche Trauer. Es war ein Gefühl, wie ich es nie zuvor empfunden hatte. Trauer schien mich zu unterminieren und die Fundamente meiner Existenz zu erschüttern. Bis zu die‐ sem Augenblick waren die Gefühle, die ich Frauen entgegenge‐ bracht hatte, mehr oder weniger eine Mischung von kindlicher Neugierde und vorgetäuschtem sexuellem Verlangen gewesen. Noch nie zuvor war mein Herz von solch tiefem und unerklär‐ lichem Schmerz, der nicht zu meiner bisherigen Maskerade gehör‐ te, gerührt worden. Ich war mir bewußt, daß dieses Gefühl Reue war. Aber hatte ich denn eine Sünde begangen, die ich bereuen mußte? Und obwohl dies offenbar ein Widerspruch ist: Gibt es nicht eine Art Reue, die der Sünde vorausgeht? War es Reue einfach darüber, daß ich exi‐ stierte? Hatte der Anblick Sonokos irgend etwas in mir angerührt und dieses Reuegefühl geweckt? Oder war dieses Gefühl mögli‐ cherweise nur ein Vorgefühl der Sünde? Sonoko stand bereits ein wenig verlegen vor mir und verbeugte sich auch schon. Doch als sie mich in Gedanken verloren sah, ver‐ beugte sie sich noch einmal mit großer Akkuratesse. «Habe ich Sie warten lassen? Mutter und Großmutter haben –» Sie hatte die Familienmitglieder in der üblichen Höflichkeitsform genannt, doch plötzlich hielt sie inne und wurde rot. Offenbar war ihr auf einmal klargeworden, daß es gegen die Sitte verstieß, diese Form vor einem Menschen, der nicht zur Familie gehört, anzuwenden. «Sie waren noch nicht fertig und werden etwas später kommen. Warten Sie also bitte noch ein wenig.» Sie unterbrach sich abermals und
verbesserte sich: «Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, dann haben Sie bitte noch ein wenig Geduld, und wenn sie nicht bald kommen, gehen wir zum Bahnhof voraus – das heißt, wenn es Ihnen recht ist.» Nachdem sie diese lange Rede endlich stockend und so höf‐ lich wie möglich von sich gegeben hatte, seufzte sie sichtlich er‐ leichtert auf. Sonoko war ziemlich groß, sie reichte mir bis zur Stirn. Ihr Körper war außerordentlich graziös und ebenmäßig, und sie hatte hübsche Beine. Ihr rundes, kindliches Gesicht, das sie nicht schminkte, spiegelte eine reine und unverbildete Seele wider. Ihre Lippen waren etwas aufgesprungen und wirkten dadurch um so röter. Wir wechselten einige verlegene Worte. Ich verabscheute meine Rolle und doch versuchte ich mit aller Macht, den unbeschwerten und fröhlichen jungen Mann zu spielen, der vor Geist sprüht. Neben uns hielten viele Hochbahnzüge mit einem kreischenden, knirschenden Geräusch und fuhren dann weiter. Die ein‐ und aus‐ steigenden Fahrgäste wurden immer zahlreicher. Jedesmal, wenn ein Zug kam, zerschnitt er die Sonnenstrahlen, die uns mit ihrer freundlichen Wärme umfingen. Und jedesmal, wenn ein Zug ab‐ fuhr, wurde ich aufs neue von der Milde des Sonnenlichts auf meiner Haut überrascht. Ich nahm es für ein schlechtes Omen, daß die gesegneten Son‐ nenstrahlen mich so trafen, daß meinem Herzen leere Momente blieben, in denen nichts begehrenswert war. Sicherlich würde schon in wenigen Minuten ein überraschender Luftangriff oder ein ähnlicher Unglücksfall uns beide auf der Stelle töten. Bestimmt, so dachte ich, verdienten wir nicht einmal dieses kleine bißchen Glück. Oder hatten wir vielleicht alle bereits die üble Gewohnheit angenommen, selbst das kleinste bißchen Freude als eine große Gunst anzusehen, für die man über kurz oder lang bezahlen muß? Jedenfalls hatte ich genau dieses Gefühl, als ich Sonoko gegenüber‐ stand. Und sie schien das gleiche zu empfinden wie ich.
127
Wir warteten ziemlich lange, doch als Sonokos Mutter und Groß‐ mutter nicht kamen, stiegen wir schließlich in einen der Hoch‐ bahnzüge und fuhren zum Bahnhof. In dem Gedränge des Bahnhofs wurden wir von einem gewissen Herrn Ohba begrüßt; er wollte seinen Sohn besuchen, der im selben Regiment wie Kusano war. Er war ein Bankier in mittleren Jahren, der die damals allgemein übliche khakifarbene Ziviluni‐ form verabscheute und hartnäckig einen Homburger und einen weiten Mantel trug. Ihn begleitete seine Tochter, die Sonoko und ich flüchtig kannten. Warum wehrte ich mich gegen die Tatsache, daß dieses Mädchen weit entfernt davon war, schön zu sein, verglich man sie mit Sonoko? Was für ein Gefühl war das? Trotz Sonokos naiver Alberei, die ich mit ansehen mußte – sie tätschelte dem Ohba‐Mädchen die Hände und führte mir eine große Intimi‐ tät vor –, merkte ich durchaus, daß Sonoko die Gabe liebenswürdi‐ ger Herablassung besaß, die das Vorrecht der Schönheit ist, und daß es dies war, das sie so erwachsen scheinen ließ, mehrere Jahre älter, als sie wirklich war. Der Zug, in den wir stiegen, war leer. Wie durch Zufall nahmen Sonoko und ich am Fenster Platz und saßen uns gegenüber. Mit dem Dienstmädchen zählte Herrn Ohbas Gesellschaft drei Personen, während wir alle zusammen inzwischen sechs waren. Da wir also insgesamt neun waren, fand eine Person auf den beiden Sitzreihen im Abteil keinen Platz. Ich hatte das schnell, fast unbewußt festgestellt. Sonoko auch? Auf jeden Fall wechselten wir einen verschmitzten Blick, als wir uns auf der anderen Seite des Mittelgangs einander gegenübersetz‐ ten. In Anbetracht der Tatsache, daß wir ohnehin nicht alle im selben Abteil Platz gehabt hätten, ließ man uns schweigend gewähren. Die Höflichkeit erforderte, daß Sonokos Mutter und Großmutter Herrn Ohba und seiner Tochter gegenübersaßen. Sonokos jüngere
Schwester setzte sich wie wir auf einen gegenüberliegenden Fensterplatz, von dem aus sie zu ihrer Mutter hinüberblicken und zugleich aus dem Fenster sehen konnte. Die andere Schwester gesellte sich zu ihr, dann auch das Dienstmädchen, um auf die beiden übermütigen Kinder aufzupassen. Sonoko und ich waren von der ganzen Gesellschaft durch die Rückwand unserer Sitz‐ bänke getrennt. Der gesprächige Herr Ohba riß sofort die Unterhaltung an sich, noch ehe der Zug den Bahnhof verließ. Seine leise, weibische Geschwätzigkeit ließ dem Zuhörer keine andere Möglichkeit, als ihm zuzustimmen. Selbst die gesprächige Großmutter, die große Schwätzerin der Kusano‐Familie, war vor Erstaunen verstummt. Sowohl sie wie die Mutter konnten nur «Ja, ja, ja» sagen und waren überdies voll damit beschäftigt, über die sich überstürzenden Poin‐ ten in Herrn Ohbas Monolog gebührend zu lachen. Über die Lip‐ pen seiner Tochter kam kein einziges Wort. Jetzt setzte sich der Zug in Bewegung. Als wir außerhalb des Bahnhofs waren, schien die Sonne mit aller Macht durch die schmutzigen Scheiben. Ihre Strahlen fielen über das abgenutzte Fensterbrett, neben dem Sonoko und ich saßen, in unseren Schoß. Wir schwiegen und hörten Herrn Ohbas Geschwätz zu. Hin und wieder glitt ein Lächeln über Sonokos Mund; allmählich steckte mich ihre Fröhlichkeit an. Wenn sich unsere Blicke trafen, nahm Sonoko eine aufmerksame Miene an, als höre sie nur dem Nachbar zu und wich gleich meinem Blick aus. «... und wenn ich sterbe, dann möchte ich genauso wie jetzt angezogen sein. Man kann doch nicht in einer Khaki‐Uniform und in Gamaschen sterben. Und ich will auch nicht, daß meine Tochter Hosen trägt. Gehört es nicht zu meinen Pflichten als Vater, dafür zu sorgen, daß sie als Frau gekleidet stirbt?» «Ja, ja.» «Ach, übrigens lassen Sie mich es doch bitte wissen, wenn Sie Ihre Sachen aus der Stadt schaffen wollen. Ohne die Hilfe eines 129
Mannes ist das sicherlich zu schwierig für Sie. Wenn es soweit ist, lassen Sie es mich bitte wissen.» «Sie sind zu liebenswürdig.» «Oh, ich bitte Sie... Wir konnten in Tonozawa einen Lagerraum kaufen und schicken alle Sachen unserer Bankangestellten dorthin. Alles ist dort in Sicherheit, ganz bestimmt, und Sie können, was Sie wollen, schicken, Ihr Klavier oder was auch sonst.» «Sie sind zu liebenswürdig.» «Und nebenbei gesagt, der Hauptmann Ihres Sohnes scheint ja ein ordentlicher Mann zu sein... Ich habe nämlich gehört, daß der Hauptmann, dem mein Sohn untersteht, immer am Besuchstag von den Mitbringseln etwas abfordert. Es ist genau das, was man von diesen zugereisten Kerlen erwartet, finden Sie nicht auch? Er soll nach dem Besuchstag stets Magenkrämpfe haben.» «Du lieber Gott...» Ein Lächeln erschien wieder auf Sonokos Gesicht, und sie schien beunruhigt. Dann nahm sie ein Buch aus ihrer Reisetasche, und ich war ein wenig enttäuscht, zeigte jedoch Interesse an dem, was sie las. «Was lesen Sie da?» fragte ich. Sie deutete auf den Rücken des aufgeschlagenen Buches und hielt es lächelnd wie einen Fächer vor ihr Gesicht. «Die Erzählung vom Wassergeist.» Darunter stand der deutsche Originaltitel: «Un‐ dine.» Wir hörten, daß in diesem Augenblick jemand hinter uns auf‐ stand. Es war Sonokos Mutter. Ich glaubte, sie wollte Herrn Ohbas Geschwätz entgehen, indem sie sich um die kleinste Tochter küm‐ merte, die auf ihrem Fensterplatz lärmend herumsprang. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß sie noch eine andere Absicht hatte. Sie brachte das schreiende Kind und die vorlaute ältere Schwester zu uns herüber und sagte: «Paß bitte etwas auf die ungezogenen Kin‐ der auf –»
Sonokos Mutter war hübsch und anmutig. Zuweilen hatte das Lächeln, das ihre sanfte Sprechweise begleitete, etwas Rührendes an sich, und auch diesmal schien es mir traurig und bekümmert. Sie kehrte auf ihren Platz zurück und überließ uns die Kinder. Sonoko und ich blickten uns kurz an. Ich nahm ein Notizbuch aus meiner Brusttasche und schrieb mit Bleistift auf einen Zettel: «Ihre Mutter ist sehr vorsichtig.» «Was heißt das?» Sonoko hob den Kopf, ich reichte ihr den Zet‐ tel. Ihr Haar duftete wie das eines Kindes. Als sie gelesen hatte, errötete sie bis zum Haaransatz und schlug die Augen nieder. «Stimmt es vielleicht nicht?» fragte ich. «Oh, ich...» Wieder trafen sich unsere Blicke, und wir verstanden uns. Ich fühlte, daß auch meine Wangen wie Feuer brannten. «Schwester, was ist das?» Die Jüngste streckte ihre Hand nach dem Papier aus. Hastig steckte Sonoko den Zettel weg. Die andere Schwester war alt genug, um offenbar die Bedeutung unseres Tuns zu verstehen. Sie wurde ziemlich ärgerlich und schmollte. Man konnte das daran erkennen, wie übertrieben sie ihre kleine Schwester ausschimpfte. Aber wir ließen uns durch sie nicht verdrießen; wir überwanden durch den kleinen Zwischenfall vielmehr unsere Scheu, und die Unterhaltung fiel uns leichter. Sonoko erzählte von ihrer Schule, von einigen Romanen, die sie gelesen hatte, und von ihrem Bruder. Ich brachte das Gespräch bald auf allgemeine Themen und tat den ersten Schritt in der Kunst der Verführung. Als wir so vertraut mit‐ einander sprachen und uns gar nicht mehr um die Kinder küm‐ merten, begaben sie sich nach kurzer Zeit wieder auf ihre früheren Plätze. Offensichtlich waren beide keine guten Spione. Doch die Mutter lächelte erneut bekümmert und befahl ihnen, sofort wieder zu uns zurückzukommen. Nachdem wir endlich alle in einem Gasthaus der Stadt M. in der Nähe von Kusanos Kaserne untergebracht waren, war es schon 131
Zeit, ins Bett zu gehen. Ein Zimmer war Herrn Ohba und mir zugeteilt worden. Als ich mit ihm allein war, begann er von selbst offen zu reden, ohne zu verbergen, wie sehr er gegen eine Fortsetzung des Krieges war. Solche kriegsgegnerischen Ansichten wurden damals im Flü‐ sterton geäußert, sobald Leute zusammenkamen, noch im Frühjahr 1945, und ich hatte diese Rederei satt. Herr Ohba sprach und sprach mit seiner leisen Stimme. Er erzählte mir, daß die große Keramikfabrik, von der er Aktien besaß, sich schon auf den Frie‐ den vorbereitete; unter dem Vorwand der Beseitigung von Kriegs‐ schäden plane sie bereits eine Produktion größten Umfanges für Haushaltsgegenstände. Außerdem scheine Japan ja über die Sow‐ jetunion Friedensangebote zu machen. Ich wollte viel lieber über mich selbst nachdenken. Endlich knip‐ ste er das Licht aus, und sein Gesicht, das ohne seine Brille seltsam geschwollen aussah, verschwand im Dunkeln. Zwei‐ oder dreimal hörte ich ihn noch leise seufzen, dann verrieten seine tiefen und gleichmäßigen Atemzüge, daß er schlief. Ich fühlte den frischen kühlen Kissenbezug an meinen heißen Wangen und verlor mich in Gedanken. Zu der dunklen Unruhe, die mich stets befiel, wenn ich allein war, gesellte sich nun noch der Schmerz, der an diesem Morgen, als ich Sonoko erblickt hatte, die Grundfesten meines ganzen Wesens erschüttert hatte, heftiger denn je. Jedes Wort, das ich gesprochen, und alles, was ich tagsüber getan hatte, kam mir jetzt falsch vor. Nachdem ich einmal festgestellt hatte, daß es für mich weniger qualvoll war, etwas in seiner Gesamtheit als falsch anzu‐ sehen, statt mich mit Zweifeln darüber zu peinigen, was im einzel‐ nen richtig oder verkehrt war, war ich allmählich immer mehr damit vertraut geworden, meine eigene Verlogenheit entschlossen und unnachsichtig zu demaskieren. Und selbst, als ich überaus be‐ drückt dalag und über die Grundlagen dessen nachdachte, was Menschsein heißt, über das, was ich die positive menschliche Psy‐ chologie nannte, führte mich dieses Grübeln nirgendwohin als im
Kreise endloser Selbstbetrachtung herum. Wie würde mir zumute sein, wenn ich ein anderer Junge wäre? Welche Gefühle hätte ich, wenn ich ein normaler Mensch wäre? Diese Fragen nahmen voll‐ ständig von mir Besitz. Sie quälten mich und zerstörten auch das letzte bißchen Glück, das ich fest zu besitzen glaubte. Meine ‹Maske›, so sagte ich mir selbst, hatte schließlich aufge‐ hört Maske zu sein, weil sie Bestandteil meines Wesens geworden war. Dadurch, daß ich mir bewußt geworden war, daß ich mich als normaler Mensch maskierte, hatte ich selbst das zersetzt, was an echt Normalem ursprünglich in mir gewesen ist; das endete damit, daß ich mir wieder und wieder sagte, selbst dies sei nur eine vor‐ gespiegelte Normalität. Um es mit anderen Worten zu sagen: ich war auf dem besten Wege, zu einem Wesen zu werden, das schließlich an nichts anderes mehr glauben konnte als an Maskera‐ de. Doch wenn dies stimmte, dann war auch der Wunsch, Sonoko anzublicken, große Fälschung, nichts als eine Maske, hinter der ich meinen wirklichen Wunsch verbarg, selber daran zu glauben, daß ich sie wirklich liebte. So werde ich vielleicht zu einem Menschen, der unfähig ist, wider seine wahre Natur zu handeln, und viel‐ leicht liebe ich sie wirklich... Solche Gedanken bewegten sich in endlosen Kreisen in meinem Gehirn und als ich schließlich beinahe eingeschlafen war, vernahm ich plötzlich durch die Stille der Nacht den klagenden Sirenenton, der zwar stets etwas Drohendes an sich hatte, mich jedoch immer wieder von neuem faszinierte. «Ist das nicht Fliegeralarm?» fragte Herr Ohba sofort. Es über‐ raschte mich, wie leicht sein Schlaf gewesen war. «Das frage ich mich auch», gab ich vage zur Antwort. Man hörte die Sirenen noch lange schwach in der Ferne heulen. Da man die Kaserne in den frühen Vormittagsstunden besuchen durfte, standen wir alle um sechs Uhr auf. Im Waschraum traf ich
133
Sonoko. Nachdem wir uns beide guten Morgen gewünscht hatten, sagte ich: «Die Sirenen haben heute nacht geheult, nicht wahr?» «Nein», sagte sie und sah mir ins Gesicht. Als wir in unsere nebeneinanderliegenden Zimmer zurückkehr‐ ten, blieb die Verbindungstür offen und ich hörte, wie ihre Ant‐ wort auf meine Frage den Schwestern dazu diente, sie zu necken. «Sonoko ist die einzige von uns allen, die die Sirenen heute nacht nicht gehört hat. Gott, wie komisch!» sagte die Jüngste. «Ich wachte durch die Sirenen auf, und da hörte ich Sonoko laut schnarchen.» «Ja, das stimmt, ich habe es auch gehört. Sie schnarchte so laut, daß ich kaum die Sirenen hören konnte.» «Das behauptet ihr beide, aber ihr könnt es nicht beweisen!» Sonoko wurde rot, weil ich im Zimmer war und nahm eine belei‐ digte Miene an. «Wenn ihr so lügt, werdet ihr es noch bereuen.» Ich hatte nur eine Schwester. Von Kindheit an hatte ich mich nach einer Familie mit vielen Schwestern gesehnt. Mir schien die‐ ser halb scherzhafte, lärmende Streit zwischen den Schwestern das freundliche und getreue Abbild des Glücks dieser Welt zu sein. Er erweckte auch meinen Schmerz von neuem. Während des Frühstücks drehte sich die gesamte Unterhaltung um den nächtlichen Alarm, der seit Anfang März der erste gewe‐ sen war. Da es sich nur um eine Vorwarnung gehandelt hatte und nicht um tatsächlichen Fliegeralarm, beruhigte man sich schließlich und war überzeugt, daß nicht viel passiert sein konnte. Mir war es ohnehin gleichgültig. Selbst wenn unser Haus in meiner Abwesen‐ heit abgebrannt wäre, selbst wenn meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und meine Schwester ums Leben gekommen wären – mir war alles egal... Zu jener Zeit schien ein solcher Gedanke nicht besonders kalther‐ zig. Unsere Vorstellungskraft war einfach durch die Tatsache verkümmert, daß die phantastischsten Ereignisse, die man sich überhaupt nur ausdenken konnte, im nächsten Augenblick Wirk‐
lichkeit wurden. Es war viel leichter geworden, sich die Ausrot‐ tung seiner ganzen Familie vorzustellen als Dinge, die jetzt einer fernen, legendär gewordenen Vergangenheit angehörten wie bei‐ spielsweise Likörflaschen in den Schaufenstern der Ginza oder der Anblick ihrer leuchtenden Neonreklamen unter dem Nachthim‐ mel. Die Phantasie beschränkte sich auf einfachere Pfade, ging den Weg des geringsten Widerstandes und hatte nichts mit Herzens‐ kälte zu tun, so grausam es erscheinen mag. Sie war das Opfer eines müden, lauen Geistes geworden. Im Gegensatz zu der tragischen Rolle, in die ich mich während der Nacht hineingesteigert hatte, wollte ich am Morgen, als wir das Gasthaus verließen, doch den fröhlichen jungen Kavalier spielen und Sonokos Reisetasche tragen. Ich wollte alle beeindrucken. Wenn ich darauf bestehe, ihre Tasche zu tragen, so sagte ich mir, dann wird sie einfach aus einem natürlichen Gefühl von Zurück‐ haltung mir gegenüber sich dagegen wehren. Doch ihre Mutter und Großmutter werden dann bestimmt glauben, es bestehe eine intime Verbindung zwischen uns und Sonoko habe Angst, die anderen könnten sich dabei etwas denken und als Ergebnis wird Sonoko ihrerseits selbst das Gefühl haben, zwischen uns existiere so etwas wie eine geheime Zuneigung, die sie ihrer Mutter und Großmutter verbergen müsse. Meine kleine List war erfolgreich. Sie blieb an meiner Seite, als hätte ihr die Tatsache, daß sie mir ihre Tasche anvertraut hatte, eine Entschuldigung dafür gegeben, daß sie es zuließ. Obwohl Herrn Ohbas Tochter im gleichen Alter wie Sonoko war, beachtete sie sie so gut wie gar nicht und sprach nur mit mir. Von Zeit zu Zeit schaute ich Sonoko mit einem seltsamen Gefühl an. Der Ton ihrer Stimme, die sanft und rein war, daß sie mich seltsam traurig machte, wurde zerfetzt von dem staubbeladenen Wind des Vor‐ frühlings, der uns direkt ins Gesicht wehte. Ich hob und senkte meine Schultern, über der ihre Reisetasche hing. Das geringe Gewicht dieser Tasche rechtfertigte kaum das 135
Gefühl, das tief in meinem Innern war und das dem Schuld‐ bewußtsein eines Menschen glich, der die Gerechtigkeit flieht. Als wir den Vorort der Stadt erreicht hatten, begann Sonokos Großmutter über den weiten Weg zu jammern. Herr Ohba ging zum Bahnhof zurück, wo es ihm durch irgendeine List gelungen sein mußte, zwei Taxi – die damals so rar waren – zu mieten, mit denen er zu uns zurückkehrte. «Na, das hat aber ziemlich lange gedauert –» Ich reichte Kusano die Hand und erschrak, als hätte ich einen Krebs angefaßt. «Was ist mit deiner Hand los?» Kusano lachte. «Das überrascht dich – nicht wahr?» Seine ganze Körperhaltung drückte schon die Mutlosigkeit aus, die für junge Rekruten so charakteristisch ist. Er streckte mir seine beiden Hände entgegen, damit ich sie besser sehen konnte. Sie waren aufgesprungen. Verkrusteter Schmutz und Schmieröl hafte‐ ten in den Rissen, Kratzern und Frostbeulen, so daß sie tatsächlich an den Rücken eines Krebses erinnerten. Sie waren feucht und kalt. Seine Hände erschreckten mich auf dieselbe Weise, wie Wirklich‐ keit es tat. Es packte mich ein instinktives Entsetzen beim Anblick dieser Hände. Ich fürchtete etwas, was diese mitleidlosen Hände in mir ausgelöst hatten, etwas, wofür sie mich anklagten und verur‐ teilten. Es war die Furcht, daß ich nichts vor ihnen würde verber‐ gen können, daß jeder Betrug vor ihnen aufgedeckt würde. Und sofort bekam Sonoko eine neue Bedeutung für mich – sie war jetzt mein einziger Schutz, mein einziger Schild, mit dem ich mein schlechtes Gewissen diesen Händen gegenüber verteidigen konnte. Ob es richtig war oder nicht, ob es ehrlich zuging oder nicht: ich mußte Sonoko lieben. Dieses Gefühl wurde in mir eine moralische Verpflichtung, die wie ein Klumpen Blei auf meiner Seele lag und schwerer wog als mein Schuldgefühl.
Kusano, der von alledem nichts ahnte, sagte unschuldig: «Man braucht wenigstens keine Bürste zum Baden, wenn man solche Hände hat, mit denen man sich schrubben kann.» Ein kaum hörbarer Seufzer kam über die Lippen seiner Mutter. In meiner Lage fühlte ich mich wie ein aufdringlicher, uneingela‐ dener Gast. Sonoko sah mich in diesem Augenblick zufällig an. Ich ließ meinen Kopf hängen. Mir war zumute, als müsse ich sie wegen irgend etwas um Verzeihung bitten, so absurd das auch war. «Gehen wir raus», sagte Kusano und schob in seiner Verlegen‐ heit seine Mutter und Großmutter einfach zur Tür hinaus. Jede Familie saß in einem Kreis auf der Erde des Barackenhofes und behandelte ihren Soldaten wie bei einem Fest. Ich muß geste‐ hen, daß ich, so sehr ich mir auch Mühe gab, nichts Schönes an dieser Szene fand. Wir bildeten ebenfalls einen Kreis um Kusano, der mit unterge‐ schlagenen Beinen in der Mitte saß. Er stopfte sich einige europä‐ ische Süßigkeiten in den Mund und konnte mir nur stumme Zeichen mit den Augen geben, um mich auf die Richtung hinzu‐ weisen, in der Tokio lag. Von der hügeligen Landschaft aus, in der wir uns befanden, konnte ich über die staubigen Ebenen hinweg die Mulde erspähen, in der die Stadt M. lag. Dahinter könne man durch eine Vertiefung in den niedrigen Bergketten ein Stück des Himmels von Tokio sehen, sagte Kusano. Düstere Frühlingswol‐ ken verdunkelten diese ferne Gegend. «Vergangene Nacht war der Himmel dort hinten ganz rot. Es sah schrecklich aus, und keiner weiß, ob sein Haus noch steht oder nicht. Noch nie war bei einem Luftangriff der Himmel so rot...» Niemand sagte ein Wort. Kusano plauderte unbekümmert wie‐ ter; er beklagte sich, daß er keine Nacht mehr ruhig schlafen kön‐ ne, wenn seine Mutter und Großmutter nicht bald auf das Land evakuiert würden.
137
«Ich stimme mit dir überein», sagte die Großmutter lebhaft, «wir werden so bald wie möglich ausziehen. Ich verspreche dir das.» Aus ihrem Obi zog sie ein kleines Notizbuch und einen silbernen Bleistift hervor, der kaum größer als ein Zahnstocher war, und begann, sorgfältig etwas zu notieren. Auf der Rückfahrt herrschte eine gedrückte Stimmung im Zug. Selbst Herr Ohba, mit dem wir uns am Bahnhof verabredet hatten, schien sich plötzlich verwandelt zu haben und sagte kaum ein Wort. Alle diese Menschen wirkten niedergebeugt von der Be‐ schäftigung mit dem, was man gemeinhin die ‹Liebe zum eigenen Fleisch und Blut› nennt, es war, als seien diese Gefühle, die gewöhnlich verborgen bleiben, plötzlich sichtbar und schmerzlich auf ihren Gesichtern zu lesen. Sie alle hatten ihre Söhne, Brüder und Enkel besucht, hatten ihnen ihr Herz dargeboten –alles, was sie darzubieten hatten –, und nun auf dem Höhepunkt machten sie sich wahrscheinlich klar, daß es nichts als ein vergeblicher Blut‐ verlust füreinander gewesen war. Ich selbst wurde noch immer im Geist von dem Anblick der schrecklichen Hände verfolgt. Als der Zug die Station außerhalb Tokios erreicht hatte, wo wir in die Hochbahn umsteigen mußten, war schon die Dämmerung herein‐ gebrochen, die Straßenbeleuchtung mußte jeden Moment ange‐ schaltet werden. Hier sahen wir zum erstenmal die Zerstörungen, die der Fliegerangriff der vorigen Nacht angerichtet hatte. Auf der Fußgängerbrücke, die über die Geleise führte, lagen Ver‐ wundete. Sie waren in Decken gehüllt, so daß man nur ihre Augen sehen konnte oder, besser gesagt, nur ihre Augäpfel, denn es waren Augen, die nichts sahen und wahrnahmen. Eine Mutter schien ihr Kind für alle Ewigkeit wiegen zu wollen und wich von dem Bogen, den ihr schwingender Körper beschrieb, nicht um Haaresbreite ab, hin und her, hin und her. Ein Mädchen schlief gegen einen Korb gelehnt, im Haar trug sie noch künstliche Blu‐ men, die angesengt waren.
Wir gingen über die Brücke, aber niemand beachtete uns. Man würdigte uns keines Blickes, wir waren für diese Menschen einfach nicht da. Da wir nicht von dem gleichen Unglück betroffen waren wie sie, hatten wir aufgehört zu existieren; wir waren nur noch Schatten für sie. Irgend etwas brannte in mir. Der Anblick des Elends, an dem wir vorübergingen, stärkte und festigte mich. Ich hatte ein ähnliches Gefühl der Aufregung, wie es eine Revolution verursacht: diese Unglücklichen waren Zeugen der totalen Vernichtung alles Menschlichen gewesen, vor ihren Augen hatten sie alle menschli‐ chen Beziehungen, Liebe und Haß und Vernunft und Besitz in Flammen aufgehen sehen. Und es waren diesmal nicht Flammen gewesen, gegen die sie kämpfen mußten, sondern gegen Menschen selbst, gegen Liebe und Haß, gegen Vernunft, gegen Besitz. Wie die Besatzung eines untergehenden Schiffes hatten sie sich in einer Lage befunden, in der einer den anderen umbringen durfte, nur um zu überleben. Ein Mann, der seine Freundin zu retten versuch‐ te, fand dabei den Tod – jedoch nicht durch die Flammen, sondern durch seine Freundin, und das Kind tötete die Mutter, als sie es retten wollte. Die Lage, in der sie sich befunden und gegen die sie angekämpft hatten – Tod oder Leben –, war wohl die universalste und elementarste, die die Menschheit kennt. Ich sah in ihren Gesichtern noch Spuren der Erschöpfung, die von einem aufregenden Drama zeugte. Plötzlich durchströmte mich eine Welle des Vertrauens, und obwohl auch nur sekunden‐ lang, fühlte ich, wie alle meine Zweifel über die fundamentalsten Ansprüche der Menschheit hinweggefegt wurden. Meine Brust barst nahezu vor einem unterdrückten Schrei. Hätte ich mich ein wenig besser selbst verstehen können oder hätte ich ein wenig mehr Weisheit besessen, dann hätte ich auch meine eigenen Bedürfnisse genau untersuchen können, dann hätte ich schließlich auch die wahre Bedeutung meiner eigenen Person als mensch‐ liches Wesen begriffen. Statt dessen, sonderbar genug, legte ich wie in einem freundlichen Traum zum erstenmal meinen Arm um 139
Sonoko. Vielleicht wurde mir durch diese Geste und den geschwi‐ sterlichen, beschützenden Geist, in dem sie geschah, deutlich, daß das, was man Liebe nennt, für mich nicht existierte. Wenn das stimmte, dann war es ein plötzliches Begreifen der Wahrheit, das ebenso rasch vergessen wurde... Noch immer lag mein Arm um ihre Hüfte; wir gingen, so schnell wir konnten, vor den anderen her über die Brücke. Sonoko sagte kein Wort. Wir stiegen in den Hochbahnzug, dessen Lampen uns unge‐ wöhnlich hell vorkamen. Ich konnte sehen, daß Sonoko zu mir herüberstarrte. Ihre großen schwarzen Augen waren sanft wie immer, aber sie schienen mich um irgend etwas zu bitten. Als wir später in die Stadtbahn umstiegen, stellten wir fest, daß ungefähr neunzig Prozent der Fahrgäste Ausgebombte waren. In ihren Kleidern hing noch der Geruch von Rauch. Sie benahmen sich laut und auffallend und brüsteten sich gegenseitig mit dem, was sie durchgemacht hatten. Im wahren Sinne des Wortes: es war ein rebellierender Pöbelhaufen. Ein Mob voll lärmender Unzufrie‐ denheit, einer überschäumenden und beinahe triumphierenden Unzufriedenheit. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo ich aussteigen mußte, gab ich Sonoko die Reisetasche zurück. Auf dem Wege durch die pechfinsteren Straßen zu meinem Haus dachte ich dauernd, daß ich nun nicht mehr Sonokos Tasche trug. Ich erkannte, welch wichtige Rolle die Tasche in unserer Beziehung gespielt hatte. Zwar war das Tragen der Tasche eine kleine Plackerei gewesen, aber jede Art von Plackerei war recht gut für mich, weil sie mein Gewissen davor bewahrte, sein Haupt zu sehr zu erheben. Zu Hause wurde ich von der Familie begrüßt, als ob nichts ge‐ schehen wäre. Letzten Endes ist Tokio eine riesige Stadt, und selbst ein Luftangriff wie der der letzten Nacht konnte nie die gesamte Stadt treffen.
Wenige Tage später besuchte ich Kusanos Familie und nahm einige Bücher mit, die ich Sonoko leihen wollte. Es erübrigt sich, ihre Titel im einzelnen anzuführen, es genügt, wenn ich sage, daß es sich um Romane handelte, die ein junger Mann von zwanzig Jahren für ein achtzehnjähriges Mädchen aussucht. Ich empfand ein ungewöhnliches Vergnügen daran, mich recht konventionell zu benehmen. Sonoko war zufällig nicht zu Hause, doch sie sollte jeden Augenblick zurückkommen. Ich wartete auf sie im Wohn‐ zimmer. Draußen bezog sich allmählich der Frühjahrshimmel, und schließlich begann es zu regnen. Sonoko war offenbar auf dem Nachhauseweg von dem Schauer überrascht worden, denn als sie in das düstere Wohnzimmer trat, glitzerten hier und dort noch kleine Tropfen wie Diamanten in ihrem Haar. Sie schüttelte sich den Regen ab und setzte sich in eine Ecke des tiefen Sofas in den Schatten und lächelte. Sie trug eine karminrote Jacke, unter der sich die Form ihrer runden Brüste in der Dämmerung undeutlich abzeichnete. Wie schüchtern wir diesmal bei unserer Unterhaltung waren, mit wie wenig Worten wir auskamen! Dies war die erste Gelegenheit, miteinander allein zu sein. Die unbekümmerte Art und Weise, in der wir uns während unserer kurzen Bahnfahrt miteinander unter‐ halten hatten, war offensichtlich nur auf das Geschnatter von Herrn Ohba und die Gegenwart der beiden Schwestern zurückzu‐ führen. Heute jedoch war auch nicht mehr ein Rest der Kühnheit vorhanden, mit der ich ihr vor ein paar Tagen eine einzeilige Liebeserklärung auf einen Zettel geschrieben hatte. Mehr als je zuvor wurde ich von einem Gefühl der Demut über‐ wältigt. Ich wußte, daß ich zu den Menschen gehörte, bei denen aus einem Spiel leicht Ernst wird, doch bei Sonoko hatte ich keine Angst davor. Hatte ich meine übliche Maskerade vergessen? Hatte ich vergessen, daß ich entschlossen war, mich wie jeder andere junge Mann grenzenlos zu verlieben? Doch wie auch immer, ich 141
war kein bißchen in das zauberhafte Mädchen verliebt; dennoch fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wohl. Der kurze Regenschauer hörte auf, und die untergehende Sonne schien ins Zimmer. Sonokos Augen und Lippen schimmerten, und ihre Schönheit stimmte mich traurig, weil sie mich an mein Gefühl der Hilflosigkeit erinnerte. Dieses qualvolle Gefühl ließ Sonoko um so vergänglicher erscheinen. «Was uns beide betrifft», murmelte ich, «wer weiß, wie lange wir überhaupt noch leben werden. Nehmen wir an, es wäre in dieser Minute ein Luftangriff, und eine Bombe würde uns direkt tref‐ fen...» «Wäre das nicht wundervoll!» Sie sprach im Ernst. Sie hatte wäh‐ rend unserer Unterhaltung mit den Falten ihres Schottenrockes gespielt. Als sie das sagte, hob sie den Kopf und blickte mich an, und das Licht zeigte, daß sie ein wenig verzagt aussah. «Oh, wenn nur jetzt leise ein Flugzeug käme und eine Bombe uns träfe – so wie wir hier sitzen.» Es war ihr nicht klar, daß sie mir in diesem Moment ihre Liebe gestand. «Hm... ja, das wäre schön!» erwiderte ich höflich. Sie konnte un‐ möglich wissen, wie sehr meine Antwort von einem heimlichen Wunsch diktiert war. Wenn ich heute an diese Unterhaltung zurückdenke, hat sie etwas höchst Komisches für mich. In Friedenszeiten wäre eine solche Unterhaltung nur zwischen zwei Menschen möglich gewesen, die sehr ineinander verliebt waren. «Ich habe es wirklich satt, daß man ständig entweder durch den Tod oder durch lebenslängliches Abschiednehmen voneinander getrennt wird», meinte ich und versuchte, durch einen zynischen Ton meine Verlegenheit zu verbergen. «Haben Sie nicht auch zu‐ weilen das Gefühl, daß es in unserer Zeit das Normale ist, sich zu trennen und jedes Wiedersehen ein Wunder – daß, wenn man darüber nachdenkt, selbst die Tatsache, daß wir beide jetzt hier gemütlich sitzen und uns eine Zeitlang unterhalten können, gera‐ dezu etwas Wunderbares ist?...»
«Ja, ich finde auch –» Sie schien zu zögern, dann fuhr sie ernst, aber in ruhigem Ton fort: «Aber als ich glaubte, wir würden uns gerade kennenlernen, müssen wir uns schon wieder trennen. Großmutter hat es sehr eilig mit der Evakuierung. Kaum waren wir neulich nach Hause zurückgekehrt, da sandte sie schon ein Telegramm an meine Tante, die in dem Dorf N. wohnt. Sie soll dort für uns ein Haus finden. Heute vormittag hat meine Tante angerufen, es wären keine Häuser zu bekommen, soviel man auch suchte. Sie bat uns, bei ihr zu wohnen. Sie sagte, sie wäre glücklich, uns bei sich aufzunehmen, weil sie dann nicht mehr so allein wäre. Großmutter hat sich daraufhin sofort entschlossen und ihr geant‐ wortet, wir würden in zwei oder drei Tagen bei ihr sein.» Hierauf konnte ich keine konventionelle Antwort geben. Ich fühlte einen wilden Schmerz in meinem Innern, der mich über‐ raschte. Das angenehme Gefühl, daß ich in Sonokos Gegenwart hatte, war zu der Illusion geworden, wir würden von nun an immer zusammenbleiben, und alles bliebe so, wie es war. In einem tieferen Sinn war das eine zweifache Illusion: die Worte, mit denen sie den Satz von der Trennung ausgesprochen hatte, hoben die Be‐ deutungslosigkeit unseres jetzigen Treffens hervor und verdeut‐ lichten, daß mein augenblickliches Gefühl nur ein flüchtiges Glück war; indem sie die kindliche Illusion zerstörten, daran zu glauben, daß dies für alle Ewigkeit so bliebe, öffneten sie mir die Augen für den Umstand, daß selbst ohne Abschied zwischen Jungen und Mädchen keine Beziehung bleiben konnte, die gleich bleibt. Es war ein schmerzliches Erwachen. Warum war alles so falsch eingerichtet? Die Fragen, die ich mir seit meiner Kindheit schon unzählige Male gestellt hatte, kamen mir erneut in den Sinn. Weshalb ist uns die Pflicht aufgebürdet, alles zu zerstören, alles zu verändern, nichts von Dauer zu besitzen? Ist diese qualvolle Pflicht das, was die Welt ‹das Leben› nennt? Oder bin ich der einzige, für den dies eine qualvolle Pflicht bedeutet? Zumindest bestand kein Zweifel darüber, daß ich allein diese Pflicht als eine furchtbare Bürde ansah. 143
Schließlich sagte ich: «Sie werden Tokio also verlassen... Doch selbst wenn Sie hierblieben... ich selbst muß ja ebenfalls über kurz oder lang fort –» «Wohin?» «Es wurde beschlossen, uns wieder in irgendeine Fabrik zu schicken, entweder in diesem Monat oder im April.» «Aber eine Fabrik – das ist sehr gefährlich. Die Luftangriffe und...» «Ja, es ist gefährlich», antwortete ich verzweifelt. Und sobald ich konnte, verabschiedete ich mich... Den ganzen folgenden Tag über war ich in strahlender Laune; der Gedanke, sie nicht lieben zu müssen, machte mich glücklich. Ich sang laut vor mich hin und schleuderte das verhaßte juristische Lehrbuch in eine Ecke. Diese merkwürdige optimistische Geistesverfassung hielt den ganzen Tag über an. An diesem Abend schlief ich wie ein Kind sofort ein. Doch mitten in der Nacht wurde ich plötzlich von den Alarmsirenen geweckt, die von allen Seiten zu hören waren. Widerwillig suchten alle Hausbewohner die Luftschutzräume auf, doch die Flugzeuge kamen nicht, und bald darauf tönte das Entwarnungssignal. Da ich im Bunker eingenickt war, trat ich als letzter ins Freie; mein Stahlhelm und die Feldflasche baumelten über meiner Schulter. Der Winter des Jahres 1944 hielt lange an. Obwohl der Frühling sich schon verstohlen wie ein Leopard herbeigeschlichen hatte, umgab ihn der Winter noch immer wie ein Käfig und hinderte seinen Einzug mit grauer Hartnäckigkeit. Das Eis glitzerte unter dem sternenbesäten Himmel. Durch die grünen Äste eines Nadelbaumes unterschied ich einige Sterne, die warm und verschwommen aussahen. Die scharfe Nachtluft vermischte sich mit meinem Atem. Plötzlich überkam mich der Gedanke, daß ich in Sonoko verliebt war und daß eine
Welt, in der Sonoko und ich nicht existierten, für mich keinen Heller wert wäre. Doch etwas in meinem Innern sagte mir, daß es besser wäre, Sonoko zu vergessen. Fast unmittelbar darauf, als hätte er auf der Lauer gelegen, überflutete mich wieder jener Schmerz, der abermals die Grundfesten meines ganzen Wesens erschütterte, genau wie an dem Tag, da ich Sonoko die Bahnhofs‐ treppe hatte herunterkommen sehen. Der Schmerz war unerträglich. Ich stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Trotzdem hielt ich noch einen Tag länger aus. Dann aber konnte ich nicht länger widerstehen und besuchte sie. Vor dem Hauseingang waren gerade die Packer an der Arbeit. Sie banden Strohmatten um eine rechteckige, längliche Kiste, die auf dem Kies des Gartenweges stand. Der Anblick verursachte mir Unbehagen. Im Hauseingang kam mir die Großmutter entgegen. Hinter ihr sah ich viele verschnürte Kisten, die darauf warteten, hinausgetra‐ gen zu werden. Der ganze Eingang lag voller Stroh. Als ich den leicht erschrockenen Gesichtsausdruck der Großmutter bemerkte, beschloß ich, sofort wieder zu gehen, ohne Sonoko gesehen zu haben. «Bitte, geben Sie doch diese Bücher Fräulein Sonoko.» Wie ein Bote von einer Buchhandlung hielt ich ihr ein paar sentimentale Romane entgegen. «Haben Sie recht vielen Dank für Ihre Liebenswürdigkeit», sagte sie und machte keine Miene, Sonoko zu rufen. «Wir haben uns entschlossen, morgen abend Tokio zu verlassen. Alles hat über‐ raschend gut geklappt, und daher können wir früher von hier fort, als ursprünglich geplant war. Herr T. hat unser Haus als Schlaf‐ stätte für seine Angestellten gemietet. Es ist ja wirklich traurig, daß wir uns nun trennen müssen. Meine Enkelkinder waren so froh über Ihre Bekanntschaft. Besuchen Sie uns doch bitte bald auf dem
145
Land. Sowie wir uns einigermaßen installiert haben, geben wir Ihnen Bescheid. Sie müssen dann ganz bestimmt kommen –» Es war angenehm, ihrer korrekten und umgänglichen Sprech‐ weise zuzuhören. Doch ebenso wie ihre viel zu gleichmäßig ge‐ formten falschen Zähne sollten ihre konventionell höflichen Worte offensichtlich nur etwas verdecken, das nicht ganz intakt war. «Ich hoffe sehr, daß Sie dort alle gut aufgehoben sein werden», war alles, was ich zu sagen vermochte. Sonokos Namen konnte ich nicht über die Lippen bringen. Auf einmal – und es war geradeso, als hätte sie mein Zögern her‐ beigelockt – erschien Sonoko in der Diele am Fuß der Treppe. In der einen Hand trug sie eine große Hutschachtel, und in der anderen hielt sie einige Bücher. Ihre Haare schimmerten in dem Licht, das durch ein Fenster der Diele fiel. Als sie mich sah, rief sie so laut, daß ihre Großmutter zusammenfuhr: «Bitte, warten Sie einen Augenblick.» Mit ungestümen Schritten lief sie die Treppe hinauf. Ihre Groß‐ mutter schien überrascht, und dies erfüllte mich mit Genugtuung, denn mir wurde klar, wie sehr Sonoko mich lieben mußte. Die alte Dame entschuldigte sich, daß sie mich nicht ins Haus bitten könne, da alles in einer entsetzlichen Unordnung sei. Daraufhin eilte sie geschäftig ins Hausinnere zurück. Sonoko kam die Treppe wieder heruntergelaufen. Ihr Gesicht war sehr gerötet. Wortlos zog sie sich die Schuhe an, und ich stand wie versteinert in einer Ecke der Diele. Dann richtete sie sich auf und erklärte, daß sie mich zum Bahnhof begleiten werde. Der Kommandoton in ihrer Stimme war von einer Schärfe, die mich überraschte. Obgleich ich sie fortgesetzt anstarrte und dabei meine Uniformmütze unbeholfen in der Hand drehte, war mir plötzlich zumute, als stünde die Welt still. Schweigend gingen wir beide zur Haustür und dicht nebeneinander über den Kiesweg des Gartens zur Straße.
Plötzlich hielt Sonoko inne und bückte sich, um einen Schuhrie‐ men zu schlingen. Sie brauchte merkwürdig lange dazu, so daß ich langsam zum Gartentor vorausging und auf die Straße hinaus‐ blickte. Ich begriff noch nicht, daß sie lediglich beabsichtigt hatte, mich etwas vorausgehen zu lassen und diesen kleinen Trick mit dem Schuhriemen, typisch für ein 18jähriges Mädchen, nur zu diesem Zweck angewendet hatte. Gänzlich unerwartet fühlte ich plötzlich, wie sie mich von hinten am Arm faßte. Ich erschrak wie jemand, der geistesabwesend herumspaziert und von einem Auto angefahren wird. «Bitte... hier...» Ein steifer, fremdländischer Briefumschlag be‐ rührte meine Handfläche. Ich ergriff ihn so hastig, daß ich ihn beinahe zerknüllte, so wie man einen jungen Vogel erwürgt. Irgendwie glaubte ich meinen Sinnen nicht zu trauen, als ich das Gewicht des Umschlags fühlte. Aber ich hielt ihn wirklich in meiner Hand, einen Umschlag, wie Schulmädchen ihn gern benut‐ zen. Ich schielte auf ihn, als sei es etwas, was man eigentlich nicht ansehen dürfe. «Nicht jetzt, lies ihn zu Hause», flüsterte sie mit einer erstickten leisen Stimme, als hätte man sie gekitzelt. «Wohin soll ich die Antwort senden?» fragte ich. «Es steht im Brief, an unsere Adresse auf dem Land. Schreib mir bitte dorthin.» Es ist seltsam, aber plötzlich freute ich mich über unsere Tren‐ nung. Das Vergnügen, das ich empfand, ähnelte dem Augenblick des Versteckspiels, bei dem derjenige, der ‹dran› ist, die Augen zuhält und zählt, während die anderen fortlaufen und sich verstecken. Ich hatte eine merkwürdige Fähigkeit entwickelt, mich an allem auf diese Weise zu erfreuen. Wegen dieser seltsamen Fähigkeit wurde meine Feigheit fälschlicherweise – zuweilen sogar von mir selbst – für Mut gehalten.
147
Wir trennten uns im Bahnhof vor der Sperre und gaben uns zum Abschied nicht einmal die Hand. Ich war irrsinnig aufgeregt über den ersten Liebesbrief meines Lebens. Ich konnte nicht warten, bis ich zu Haus war, und öffnete ihn im Hochbahnzug vor aller Augen. Dabei fiel beinahe der gesamte Inhalt auf den Boden. Ich hielt einige Scherenschnitte und ein Bündel ausländischer bunter Postkarten in der Hand, die das Entzücken der Missionsschüler zu sein scheinen. Der Brief war auf doppelt gefaltetem blauem Briefpapier geschrieben, dessen Kopf‐ ende mit einer Walt‐Disney‐Figur von Rotkäppchen und dem Wolf verziert war. Darunter hatte sie mit einer sehr sorgfältigen Hand‐ schrift, die ganz nach ‹Musterschülerin› aussah, folgende Mittei‐ lung geschrieben: «Ich bin überwältigt vor Dankbarkeit für Ihre Liebenswürdig‐ keit, mir die Bücher zu leihen. Ich habe es Ihnen zu verdanken, daß ich sie mit großem Interesse lesen konnte. Ich werde dafür beten, daß Ihnen bei den Luftangriffen nichts geschieht. Wenn wir unse‐ ren Bestimmungsort erreicht haben und eingerichtet sind, werde ich Ihnen wieder schreiben. Meine Anschrift gebe ich am Briefende an. Nehmen Sie bitte die beigefügten Kleinigkeiten als Zeichen meiner Dankbarkeit.» Was für ein wunderbarer Liebesbrief! Meine Freude zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich wurde kreidebleich und mußte laut lachen. Wie sollte man einen solchen Brief überhaupt beantworten, fragte ich mich. Das wäre ebenso dumm wie ein vorgedrucktes Dankschreiben zu bestätigen. Dennoch hatte ich von Anfang an den Wunsch, ihr eine Antwort zu schicken, und nun, während der dreißig oder vierzig Minuten, die ich brauchte, um zu Hause anzukommen, veränderte sich dieser Wunsch in den, diese erste ‹Verrücktheit›, die mir je begeg‐ net war, zu verteidigen. Ihre häusliche Umgebung, sagte ich mir sofort, wird wohl kaum dazu geeignet sein, ihr das Schreiben von
Liebesbriefen zu erleichtern. Zudem ist es wohl nur zu natürlich, daß sie von allerlei Zweifeln und Hemmungen und von Schüch‐ ternheit geplagt wurde, denn es war sicherlich der erste Liebes‐ brief, den sie an einen Jungen schrieb. Und hatte nicht schließlich ihr Betragen heute nachmittag deutlicher gesprochen als jedes Wort in diesem nichtssagenden Brief? Zu Hause packte mich plötzlich die Wut aus einem ganz anderen Grund, und ich schleuderte wieder das juristische Lehrbuch gegen die Wand meines Zimmers. Was für ein Schlappschwanz bist du doch, warf ich mir vor. Wenn du mit einem achtzehnjährigen Mäd‐ chen allein bist, dann wartest du begierig darauf, daß sie sich in dich verliebt. Weshalb hast nicht du die Initiative ergriffen? Ich weiß, daß der Grund für dein Zögern wieder in dieser seltsamen Unruhe lag, die wer weiß woher stammt. Doch wenn dies so ist, weshalb hast du sie dann besucht? Erinnere dich! Mit vierzehn warst du ein Junge wie die anderen und selbst noch mit sechzehn warst du ihnen im großen und ganzen ähnlich. Doch wie ist es jetzt, da du zwanzig bist? Ein Schulkamerad meinte einst, du wür‐ dest mit neunzehn sterben, doch seine Prophezeiung ging nicht in Erfüllung. Schließlich hattest du selber auch gar nicht mehr den Wunsch, auf dem Schlachtfeld zu sterben, und jetzt mit zwanzig bist du mit deiner Weisheit am Ende und himmelst ein achtzehn‐ jähriges Schulmädchen an, das völlig unwissend ist. Pfui, was für ein herrlicher Fortschritt! Jetzt mit zwanzig beabsichtigst du zum erstenmal in deinem Leben Liebesbriefe zu schreiben – hast du dich etwa in deinem Alter geirrt? Und stimmt es vielleicht nicht, daß du noch nie ein Mädchen geküßt hast? Was bist du doch für ein seltsamer Kerl! Dann wieder machte sich eine andere Stimme heimlich und hart‐ näckig über mich lustig. Sie war von einer geradezu fiebrigen Offenheit, eine Empfindung, wie ich sie noch nie zuvor erfahren hatte. Sie bombardierte mich mit Fragen: «Ist es wirklich Liebe, was du empfindest? Wenn ja, schön und gut. Doch hast du ein Verlangen nach Frauen? Betrügst du dich nicht, wenn du sagst, 149
daß du nur Sonoko gegenüber niemals ein ‹sexuelles Begehren› empfunden hast? Verbirgst du nicht vor dir die Tatsache, daß du in Wahrheit keine Frau je begehrt hast? Welches Recht auf Erden hast du, das Wort ‹Begehren› zu gebrauchen? Hattest du jemals auch nur das geringste Verlangen, eine Frau nackt zu sehen? Hast du dir ein einziges Mal Sonoko nackt vorgestellt? Du, mit deiner besonderen Vorliebe für Analogien – du mußt doch gewußt haben, was jeder weiß, daß nämlich ein Junge in deinem Alter gar nicht fähig ist, ein Mädchen anzusehen, ohne es sich nackt vorzustellen. Frage dich selber einmal ehrlich, warum ich hierauf anspiele. Be‐ nutze deine Analogien – du brauchst nur eine kleine Einzelheit zu verändern, um sofort zu begreifen, wie andere Jungen empfinden. Hast du nicht gerade erst wieder letzte Nacht deiner kleinen Ge‐ wohnheit gefrönt, bevor du einschliefst? Behaupte, es sei etwas Ähnliches wie Beten, wenn du willst. Sage, es sei nur ein kleiner heidnischer Ritus, den alle vollziehen. Gut. Selbst ein Ersatz ist nicht unangenehm, wenn du dich daran gewöhnt hast, namentlich dann, wenn du festgestellt hast, daß es ein so wirksames Schlaf‐ mittel ist. Doch erinnere dich, daß es nicht Sonokos Bild war, das letzte Nacht vor deinem geistigen Auge aufstieg. Es bleibe dahin‐ gestellt, was es war; deine Phantasie ging wieder so seltsame und unnatürliche Wege, daß es selbst mich entsetzte, der daran ge‐ wöhnt ist, dich bei allem zu beobachten. Am Tage gehst du die Straße hinunter und hast nur Augen für Seeleute und Soldaten. Dies sind die jungen Männer nach deinem Geschmack, gerade in dem Alter, das du bevorzugst, dazu schön von der Sonne gebräunt, mit sinnlichen Lippen und ohne eine Spur von Intelligenz. Immer, wenn du einen von ihnen erblickst, schätzt du ihn mit den Augen ab, als wolltest du später Schneider werden, wenn dein Jurastudium zu Ende ist! Du empfindest eine große Zärtlichkeit für den schlanken Leib eines einfachen jungen Mannes von zwanzig Jahren, der wie ein junger Löwe gebaut ist, nicht wahr? Wie viele solcher jungen Leute hast du gestern in Ge‐ danken entkleidet? Deine Einbildungskraft gleicht einer Botanisier‐
trommel. Du hebst darin die nackten Leiber aller Epheben auf, die du tagsüber gesehen hast, und wenn du zu Hause bist und im Bett liegst, dann wählst du einen aus deiner Sammlung, der dein be‐ sonderes Wohlgefallen erregt hat, als Ritualopfer für deine heidni‐ sche Zeremonie aus. Was dann folgt ist abscheulich. Du führst dein Opfer zu einer merkwürdigen sechseckigen Säule und verbirgst einen Strick hinter deinem Rücken. Du bindest seinen nackten Leib mit dem Strick an die Säule, die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Du hast gern, wenn er sich mit aller Macht dagegen sträubt und laut schreit. Du gibst dem Opfer eine sorg‐ fältige Beschreibung seines bevorstehenden Todes, und die ganze Zeit über spielt ein sonderbares, unschuldiges Lächeln auf deinen Lippen. Du holst ein scharfes Messer aus der Tasche und drängst dich dicht an ihn und kitzelst die Haut seiner sich wölbenden Brust leicht und zärtlich mit der Messerspitze. Er stößt einen ver‐ zweifelten Schrei aus und windet sich angestrengt, um dem Messer zu entgehen. Er schnaubt und keucht vor Angst, seine Beine zittern und seine Knie schlagen aneinander. Langsam bohrt sich das Messer in die Brust (das ist das empörendste, das du tust!). Das Opfer krümmt sich und gibt einen langen erbarmungs‐ würdigen Schrei von sich; die Muskeln um die Wunde herum krampfen sich zusammen. Du treibst das Messer so ruhig in das Fleisch, als stecktest du es in die Scheide. Eine Blutfontäne sprudelt hervor, strömt aus und ergießt sich über seine glatten Schenkel. Das Vergnügen, das du in diesem Augenblick empfindest, ist ein unverfälschtes menschliches Gefühl. Ich sage dies, weil du in die‐ sem Moment jene Normalität besitzt, die deine besondere Beses‐ senheit darstellt. Was immer du dir auch in deiner Phantasie vorstellst, du bist sexuell bis in die Tiefen deiner Körperlichkeit erregt, und diese Erregung ist vollkommen normal und weicht nicht um ein Jota von der anderer Männer ab. Die tiefe Lust eines Wilden wird in deiner Brust wiedergeboren, deine Augen glänzen, das Blut rast durch deinen Körper, und du bist voll wild über‐ schäumenden Lebens, das bei wilden Stämmen verehrt wird. 151
Selbst nach der Ejakulation bleibt ein fiebriger, wilder Freuden‐ rausch zurück; du wirst nicht überfallen von der Traurigkeit wie nach dem Liebesakt mit einer Frau. Du glänzst von wollüstiger Einsamkeit. Für kurze Zeit treibst du auf dem ungeheuren, uralten Strom der Erinnerung. Vielleicht hat durch Zufall die Erinnerung an die tiefsten Gefühle in der Lebenskraft deiner wilden Vorfahren von deinen sexuellen Möglichkeiten und Freuden Besitz ergriffen. Ich kann nicht verstehen, weshalb du, der zuweilen die höchste Lust der menschlichen Existenz empfindet, es für notwendig hältst, solch einen faden Humbug über Liebe und Seele von dir zu geben. Wie wäre es mit folgendem Vorschlag: nimm an, du müßtest deine Doktorarbeit Sonoko zeigen. Eine tiefschürfende Dissertation mit dem Titel: ‹Über die funktionellen Beziehungen zwischen dem Körperbau eines Epheben und seinem Blutkreislauf›. Um es kurz zu sagen, der Körper, den du für deine Träumereien wählst, hat eine glatte Haut, er ist zart und dennoch fest. Es ist vor allem ein junger Körper, auf dem das Blut die schönsten Spuren hinterlassen wird, wenn es aus der Wunde quillt. Habe ich nicht recht? Wählst du nicht stets den Körper, bei dem das fließende Blut die hübsche‐ sten und natürlichsten Muster hinterläßt, Muster wie sie ein sich mäanderförmig durch die Ebene windender Strom bildet oder die Rinde eines uralten Baumes? Kannst du das leugnen?» Ich konnte es nicht leugnen. Dennoch war meine Fähigkeit zur Selbstanalyse so beschaffen, daß jede Klärung von vornherein unmöglich war, ähnlich wie bei einem Reifen, den man aus einem Streifen Papier herstellt, indem man seine Enden zusammenklebt. Dadurch wird die Innenseite scheinbar zur Außenseite und die Außenseite scheinbar zur Innen‐ seite. Obgleich ich in späteren Jahren meiner Selbstanalyse langsa‐ mer das Innere dieses Reifens nach außen bog, schoß er, als ich zwanzig war, mit rasender Geschwindigkeit, angetrieben durch die Nervosität, mit der man das Ende des Krieges erwartete, durch den Kosmos meiner Gefühle; die Schnelligkeit der Umdrehung
war so groß geworden, daß sie mich jeglichen Sinn für Gleich‐ gewicht verlieren ließ. Ich hatte keine Zeit, Ursache und Wirkung sorgfältig zu erwägen, keine Zeit, mich um Widersprüche oder Wechselbeziehungen zu kümmern. So blieben die Widersprüche unverändert und machten die Umdrehungen des Reifens mit einer solchen Geschwindigkeit mit, daß ich ihnen überhaupt nicht zu folgen vermochte. Ungefähr eine Stunde nach all diesen Überlegungen hatte ich nur noch den einzigen Gedanken, mir auf Sonokos Brief eine möglichst kluge Antwort auszudenken... Inzwischen blühten die Kirschbäume, doch niemand schien Zeit zu haben, sie zu betrachten. Meine ehemaligen Mitschüler waren wahrscheinlich die einzigen Menschen in ganz Tokio, die über‐ haupt Gelegenheit hatten, die blühenden Bäume zu sehen. Auf dem Nachhauseweg von der Universität schlenderte ich entweder allein oder mit zwei oder drei Kollegen unter den Kirschbäumen am S.‐Teich entlang. Die Blüten schienen gerade dieses Jahr ungewöhnlich schön. Die rot und weiß gestreiften Markisen fehlten, die sonst so unregel‐ mäßig zwischen den blühenden Bäumen hingen, daß man sie für die Kleider der Kirschbäume hielt. Und es gab auch keine umla‐ gerten Teebuden, keine festlich gekleidete Menge, es wurden keine Papier‐Luftballons oder Windräder feilgeboten. Diesmal blühten die Bäume ungestört zwischen den immergrünen Sträuchern und gaben dem Betrachter das Gefühl, als sähe er die nackten Leiber der Blüten. Der Überfluß und die Verschwendung der Natur waren mir noch nie so phantastisch vorgekommen wie in diesem Frühling. Mich quälte der Verdacht, die Natur wäre im Begriff, die Erde wieder für sich zurückzuerobern. Gewiß war etwas Unge‐ wöhnliches an der Pracht dieses Frühlings. Das Gelb der Raps‐ blüten, das frische Grün des jungen Rasens, die schwarzen Stämme der Kirschbäume, der Baldachin aus Blüten, deren Gewicht die Zweige niederbog – dies alles erschien mir wie leuchtende Farben 153
mit einem Beigeschmack von Boshaftigkeit. Es war ein Feuerwerk der Farben. Eines Tages gingen wir auf dem Rasen zwischen den Kirsch‐ baumreihen und Bänken am Ufer des Teiches spazieren und disku‐ tierten irgendeine sinnlose Gesetzestheorie. Ich hatte damals die ironische Art, in der Professor X. seine Vorlesung über internatio‐ nales Recht hielt, sehr gern. Mitten in der Zeit der schlimmsten Luftangriffe hielt der Professor seine endlosen Vorlesungen über den Völkerbund. Mir war zumute, als hörte ich Vorlesungen über Mahjong * oder Schach. Friede! Friede! Ich konnte nicht glauben, daß dieses stete glockenähnliche Geräusch in der Ferne etwas anderes als ein Ohrensausen war. «Ist es nicht einfach eine Frage der Ausschließlichkeit des Grund‐ rechts?» wandte A. ein und setzte damit unsere Unterhaltung fort. Obgleich dieser vom Land kommende Student ein stämmiger Bursche zu sein schien und er eine gesunde Farbe besaß, litt er an chronischen Lungenblutungen und war nicht eingezogen worden. «Hören wir doch endlich mit dieser blödsinnigen Unterhaltung auf», unterbrach ihn B. Er war bleich, und man konnte auf den ersten Blick sehen, daß er tuberkulös war. «In der Luft die feindlichen Flugzeuge, am Boden die verfluchte Jurisprudenz! O Gott!» Ich lachte ärgerlich. «Ist das eure Vorstel‐ lung vom Frieden im Himmel und auf Erden?» Ich war der einzi‐ ge, der nicht wirklich etwas an der Lunge hatte. Statt dessen täuschte ich einen Herzfehler vor. Man mußte damals entweder einen Orden oder eine Krankheit haben. Plötzlich blieben wir stehen, weil wir nahebei unter den Kirsch‐ bäumen Schritte im Gras hörten. Es war ein junger Mann, der ebenfalls erschreckt zu sein schien. Er trug schmutzige Arbeitsklei‐ dung und Holzpantoffeln. Daß er jung war, konnte man lediglich an der Farbe seiner kurzgeschorenen Haare feststellen, die unter *
Mahjong: chinesisches Gesellschaftsspiel in der Art des Dominos.
seiner Feldmütze hervorkamen. Seine schmutzige Gesichtsfarbe, sein spärlicher Bart, seine ölbeschmierten Hände und Füße, sein rußiger Hals – alles wirkte abstoßend und paßte so ganz und gar nicht zu seiner Jugend. Hinter dem Jungen stand ein Mädchen, das vor sich auf den Boden starrte und zu schmollen schien; ihre Haare waren hastig, aber nicht unschön nach hinten gekämmt, und sie trug die Khaki‐ Bluse, die damals Mode war. Das einzige Kleidungsstück des Pär‐ chens, das neu und sauber aussah, waren die kniefreien Arbeits‐ hosen, die das Mädchen trug. Man konnte leicht erkennen, daß beide in der gleichen Fabrik arbeitsverpflichtet waren und sich hier zu einem Stelldichein getroffen hatten, wahrscheinlich die Arbeit schwänzten und hier herausgekommen waren, um die Kirschblüten zu sehen. Als sie uns hörten, waren sie aufgescheucht worden, weil sie uns für Poli‐ zisten hielten. Sie blickten unfreundlich zu uns herüber, als sie an uns vorbei‐ gingen. Danach hatten wir keine große Lust mehr, uns zu unterhal‐ ten. Vor dem Ende der Kirschblüte hob die juristische Fakultät die Vorlesungen wieder auf, und die Studenten wurden auf eine Marinewerft geschickt, die einige Meilen von der S.‐Bucht entfernt lag. Zur selben Zeit zogen meine Mutter und meine Geschwister zu meinem Großvater mütterlicherseits, der einen kleinen Bauern‐ hof in einer Vorortgegend Tokios besaß. Unser Hausknecht, ein Mittelschüler, der zwar klein gewachsen, aber seinen Jahren weit voraus war, blieb in unserem Haus in Tokio zurück, um für mei‐ nen Vater zu sorgen. An den Tagen, an denen es keinen Reis gab, kochte der Junge für sich und meinen Vater Sojabohnen in einem Mörser und stellte Brei her, der aussah, als hätte sich jemand er‐ brochen. Wenn mein Vater nicht zu Hause war, aß er heimlich von unserem kleinen Vorrat an eingemachtem Gemüse. 155
Wir hatten auf der Marinewerft ein bequemes Leben. Ich arbeite‐ te halbtags in der Bücherei, in der übrigen Zeit grub ich mit einer Gruppe junger Arbeiter aus Formosa einen langen Stollen für die Evakuierung der Ersatzfabrik. Diese kleinen Teufel von zwölf oder dreizehn Jahren waren meine einzigen Bekannten. Sie brachten mir ihre Sprache bei, und ich erzählte ihnen dafür Märchen. Sie waren davon überzeugt, daß ihre formosischen Götter sie vor Bombenan‐ griffen beschützen und sie eines Tages unversehrt wieder in ihre Heimat zurückkehren lassen würden. Ihr Appetit erreichte unmo‐ ralische Ausmaße. Ein besonders schlauer Bursche verstand es, unter den Augen des Küchenpersonals Gemüse und Reis ver‐ schwinden zu lassen, woraus sie in Maschinenöl Reiskuchen buken. Ich verabscheute dieses Festmahl, weil der Reis nach Zahn‐ rädern schmeckte. In einem knappen Monat war meine Korrespondenz mit Sonoko immer seltsamer geworden. In meinen Briefen legte ich mir keiner‐ lei Zurückhaltung mehr auf. Eines Morgens fand ich, kurz nach‐ dem das Entwarnungssignal ertönte, auf meinem Pult im Büro einen Brief von Sonoko vor. Meine Hände zitterten, als ich ihn las, mir war zumute, als wäre ich leicht berauscht. Eine Zeile des Brie‐ fes las ich immer wieder. «... ich habe Sehnsucht nach dir...» Ihre Abwesenheit hatte mich kühner gemacht. Durch die Entfer‐ nung beanspruchte ich, mich ‹normal› zu nennen. Ich hatte sozusa‐ gen ‹das Normale› vorübergehend als Teilhaber in die Komman‐ ditgesellschaft meines Körpers mitaufgenommen. Eine Person, die durch Raum und Zeit von einem getrennt ist, nimmt die Eigen‐ schaft des Abstrakten an. Vielleicht war dies der Grund dafür, daß sich die blinde Verehrung, die ich für Sonoko empfand, und meine stets vorhandenen unnatürlichen Begierden in mir zu einer einzi‐ gen homogenen Masse verbanden und daß ich festgehalten wurde, unbeweglich im Ablauf der Zeit, als ein menschliches Wesen ohne innere Widersprüche.
Ich war frei. Das tägliche Leben war für mich zu einer unsagbar glücklichen Angelegenheit geworden. Es ging das Gerücht um, daß die Alliierten wahrscheinlich bald in der Bucht von S. landen würden und daß das Gebiet, in dem sich die Werft befand, über‐ rannt würde. Und abermals, diesmal stärker als je zuvor, empfand ich eine starke Todessehnsucht. Ich entdeckte, daß der Tod mein eigentliches Lebensziel war. An einem Samstag in der Mitte des April bekam ich zum ersten‐ mal seit langer Zeit Urlaub. Zuerst fuhr ich nach Tokio, um mir dort aus unserem Haus einige Bücher zu holen, die ich in der Werft lesen wollte. Danach wollte ich sofort zum Hof meines Groß‐ vaters in der Vorstadt fahren, wo meine Mutter und die übrigen Familienmitglieder lebten und wo ich die Nacht verbringen wollte. Doch unterwegs, als der Zug wegen des Fliegeralarms verschie‐ dentlich die Fahrt unterbrach, bekam ich plötzlich Schüttelfrost. Mir wurde schwindelig und eine ungeheure Mattigkeit überfiel meinen Körper. Ich wußte aus Erfahrung, daß ich eine Mandelent‐ zündung ausbrütete. Sobald ich unser Haus in Tokio erreicht hatte, ließ ich den Hausdiener mein Bett beziehen und legte mich schla‐ fen. Nach kurzer Zeit schlug von unten aus dem Treppenhaus die Stimme einer Frau an meinen fiebrigen Kopf. Ich hörte, wie jemand die Treppe heraufkam und dann den Korridor entlangtrip‐ pelte. Als ich meine Augenlider einen Spalt öffnete, sah ich den Saum eines großgemusterten Kimonos. «... Ja, was ist denn das hier? Bist du aber ein Faulpelz!» «Oh», sagte ich, «guten Tag, Chako!» «Was heißt hier ‹Oh, guten Tag, Chako›, nachdem wir uns fast fünf Jahre lang nicht gesehen haben?» Sie war die Tochter einer mit uns entfernt verwandten Familie. Ihr eigentlicher Name Chieko war von uns in Chako umgeändert worden, und wir nannten sie alle nur noch so. Sie war fünf Jahre 157
älter als ich. Das letzte Mal hatte ich sie bei ihrer Hochzeit gesehen. Doch voriges Jahr war ihr Mann an der Front gefallen, und es wurde behauptet, sie sei ziemlich ‹leichtlebig› geworden. Jetzt sah ich, daß das Gerücht anscheinend auf Wahrheit beruhte, und ich war nicht fähig, ihr in der üblichen Weise zu kondolieren. Ich schwieg ein wenig ratlos und dachte bei mir, daß sie besser daran getan hätte, die großen, weißen künstlichen Blumen nicht in ihr Haar zu stecken. «Heute habe ich Tatchan in seinem Geschäft besucht», sagte sie und nannte meinen Vater bei der vertraulichen Form seines Namens ‹Tatsuo›. «Ich wollte ihn wegen der Evakuierung unserer Sachen um Rat fragen. Neulich trafen Papa und Tatchan sich zufäl‐ lig irgendwo, und da sagte dein Vater, er wolle uns einen sicheren Ort empfehlen, wo wir die Sachen hinschicken könnten.» «Mein alter Herr wollte heute ein wenig später nach Hause kom‐ men. Doch das macht ja nichts.» Ich blickte auf ihre zu rot geschminkten Lippen, und mir wurde unbehaglich zumute. Wahr‐ scheinlich war mein Fieber daran schuld, aber die karmesinrote Farbe brannte in meinen Augen und verursachte mir Kopfschmer‐ zen. «Du hast soviel Make‐up – ich meine, wie kann man in dieser Zeit soviel Make‐up auflegen, ohne daß die Leute auf der Straße mit dem Finger auf einen deuten?» «Bist du schon alt genug, um das Make‐up einer Frau zu bemer‐ ken? So wie du jetzt dort im Bett liegst, siehst du wie ein Säugling aus, der vor kurzem erst entwöhnt wurde.» «Was bist du für eine Plage! Mach, daß du fortkommst!» Sie trat entschlossen näher. Ich wollte nicht, daß sie mich in meinem Schlafanzug sehe und zog die Decke bis zum Hals herauf. Auf einmal streckte sie ihre Hand aus und legte sie auf meine Stirn. Die eisige Kälte ihrer Hand an meiner Haut löste zuerst einen Schreck bei mir aus, und dennoch tat sie mir wohl. «Du hast Fieber. Hast du schon deine Temperatur gemessen?» «Ja, 103 Grad Fahrenheit.»
«Du müßtest einen Eisbeutel auflegen.» «Es ist bestimmt kein Eis im Haus.» «Dann werde ich mich darum kümmern.» Chieko eilte fröhlich aus dem Zimmer; die weiten Ärmel ihres Kimonos flatterten. Sie ging die Treppe hinunter, kehrte bald danach zurück und setzte sich ruhig hin. «Ich habe den Hausburschen losgeschickt.» «Danke.» Ich starrte zur Decke. Sie griff nach dem Buch auf meinem Nachttisch, und die kühle Seide ihres Ärmels streifte meine Wange. Plötzlich hatte ich ein Verlangen nach diesen kühlen seidenen Ärmeln. Schon wollte ich sie darum bitten, mir ihre Kimonoärmel auf die Stirn zu legen, doch ich brachte es nicht fertig. Die Däm‐ merung breitete sich im Raum aus. «Was für ein langweiliger Hausbursche», sagte sie. Jemand, der Fieber hat, bemerkt das Verstreichen der Zeit mit einer geradezu morbiden Genauigkeit, und ich wußte, Chieko konnte nicht verlangen, daß er bereits zurück sei. Doch einige Minuten darauf sagte sie abermals: «Wie langsam er ist! Möchte bloß wissen, wo der Junge sich herumtreibt!» «Er treibt sich nicht herum!» schrie ich nervös. «Ach, du armer Kerl, du bist aufgeregt. Bitte, mach die Augen zu. Bitte, versuche doch nicht mit diesem schrecklichen Blick ein Loch in die Zimmerdecke zu starren.» Ich schloß die Augen, aber meine heißen Lider peinigten mich. Plötzlich fühlte ich, daß etwas meine Stirn berührte, und ich spürte einen sanften Atemhauch auf meiner Haut. Ich wandte den Kopf und seufzte leise. In diesem Augenblick mischte sich mein fiebri‐ ger Atem mit dem ihren. Etwas Weiches und Fettiges bedeckte meine Lippen. Unsere Zähne schlugen gegeneinander. Ich fürchte‐
159
te mich die Augen zu öffnen. Da nahm sie meine Wangen entschlossen zwischen ihre kalten Hände. Einen Augenblick später lehnte Chieko sich zurück und ich rich‐ tete mich halb auf. Wir starrten uns durch die Dunkelheit an. Es war allgemein bekannt, daß ihre Schwestern ‹leichte Frauenzim‐ mer› waren. Jetzt wurde mir klar, daß in Chiekos Adern das gleiche Blut fließen mußte. Aber in diesem Moment bestand eine unerklärliche und seltsame Verwandtschaft zwischen dem Fieber ihrer Leidenschaft und dem meiner Krankheit. Ich setzte mich gerade auf und sagte: «Noch einmal!» Wir begannen uns unzählige Male zu küssen, bis der Hausbur‐ sche kam. Da sagte sie: «Wir küssen uns nur... Wir küssen uns nur...» Ich weiß nicht, ob ich, während wir uns küßten, irgendwelche sexuellen Begierden empfand. Doch da das, was man ‹das erste Erlebnis› nennt, ohnehin eine Art sexuelles Erlebnis ist, wäre es wahrscheinlich nutzlos, wollte man in diesem Falle einen Unter‐ schied feststellen. Es war sinnlos, vom rauschhaften Zustand jenes Augenblicks das übliche sexuelle Element des Kusses unterschei‐ den zu wollen. Das Wichtigste war auf jeden Fall, daß ich nun ein Mann geworden war, der zu küssen verstand. Und die ganze Zeit über, während wir uns umarmten, hatte ich an niemand anderen als an Sonoko gedacht, genauso wie ein Junge, der irgendwo Süßigkeiten bekommt und sofort denkt, ich könnte davon doch etwas meiner kleinen Schwester abgeben. Von da an konzentrier‐ ten sich meine sämtlichen Träumereien auf die Vorstellung, Sonoko zu küssen. Dies erwies sich jedoch als meine erste und auch als meine gefährlichste Fehlkalkulation. Auf alle Fälle wurde dieses erste Erlebnis allmählich in meinen Augen zu etwas Häßlichem, weil ich fortfuhr, dabei an Sonoko zu denken. Als Chieko mich am nächsten Tage anrief, log ich ihr vor, daß ich sofort zur Werft zurück müßte. Ich hielt nicht einmal unser verabredetes Rendezvous ein. Ich verschloß meine Augen vor der
Realität, glaubte, daß ich ihr gegenüber absolut kein sexuelles Ver‐ langen verspürte, weil ich das Küssen nicht schön gefunden hatte. Statt dessen machte ich mir vor, daß diese Küsse mir einfach häß‐ lich vorkamen, weil ich Sonoko liebte. Dies war das erste Mal, daß ich meine Liebe zu Sonoko als Rechtfertigung für meine wahren Gefühle benutzte. Sonoko und ich tauschten Fotos miteinander aus wie alle jungen Leute bei ihrem ersten Liebeserlebnis. Sie schrieb mir, sie hätte mein Bild in ein Medaillon getan, das sie auf der Brust trüge. Leider war das Foto, das sie mir von sich schickte, so groß, daß es kaum in meine Brieftasche paßte. Ich brachte es nicht in meiner Brusttasche unter und trug es immer in einem großen Umschlag bei mir. Da ich fürchtete, die Fabrik könnte eines Tages mitsamt dem Bild in Flammen aufgehen, nahm ich es auch immer mit, wenn ich nach Hause fuhr. Eines Abends saß ich im Zuge auf der Rückfahrt zur Werft, als plötzlich die Sirenen ertönten und das Licht ausging. Wenige Se‐ kunden später war Hauptalarm. Man mußte sofort die Luftschutz‐ räume aufsuchen. Ich tastete in der Finsternis im Gepäcknetz herum, doch der Proviantbeutel, den ich dort hinaufgelegt hatte, war gestohlen worden. Und damit war auch Sonokos Bild fort. Da ich abergläubisch bin, war ich von diesem Augenblick an von der fixen Idee besessen, daß ich Sonoko bald besuchen müsse. Der Luftangriff in der Nacht vom 24. Mai, bei dem der Umfang der Zerstörungen ebensogroß war wie bei dem mitternächtlichen Angriff am 9. März, brachte mich zu einer endgültigen Entschei‐ dung. Vielleicht erforderte mein Verhältnis zu Sonoko, dachte ich, so etwas wie eine geballte Katastrophenatmosphäre; vielleicht war unser Verhältnis einer Art chemischer Verbindung vergleichbar, die erst durch das Vorhandensein von Schwefelsäure wirksam werden konnte. Ich verließ mit den anderen Fahrgästen den Zug und suchte eine der Höhlen auf, die am Fuß einer Hügelkette gegraben worden waren. Die Eingänge dieser Höhlen öffneten sich auf die Ebene, 161
und wir konnten von hier aus sehen, wie sich in der Ferne der Himmel über Tokio karminrot färbte. Von Zeit zu Zeit verursach‐ ten die Explosionen einen Widerschein am Himmel, und plötzlich konnten wir sekundenlang zwischen den Wolken einen geisterhaft blauen Himmel wie am Tage sehen, mitten im Dunkel der Nacht. Das Licht der Scheinwerfer war sinnlos, schien eher wie Leucht‐ turmfeuer die feindlichen Flugzeuge zu begrüßen. Die Flügel eines Flugzeugs schimmerten auf, wenn zwei Scheinwerfer es mit ihrem Licht ergriffen hatten und es gleichsam höflich begleiteten, es einander zureichten, immer näher an Tokio heran. Auch das Flak‐ feuer war nicht sehr heftig in diesen Tagen. Die B‐29‐Maschinen erreichten den Himmel über Tokio unbehelligt. Von unserem Beobachtungsort aus war es ziemlich unwahr‐ scheinlich, daß man tatsächlich bei dem Luftkampf, der sich über Tokio abspielte, unsere Flugzeuge von den feindlichen unterschei‐ den konnte. Dennoch hörte ich die Leute in meiner Nähe jedesmal im Chor in ein Begeisterungsgebrüll ausbrechen, wenn sie gegen den karminroten Hintergrund den Schatten einer Maschine erblickten, die getroffen worden war und brennend abstürzte. Die jungen Arbeiter schrien am lautesten. Überall aus den Höhlenöff‐ nungen konnte man, als sei man im Theater, Händeklatschen und Freudenrufe vernehmen. Was das Schauspiel betraf, schien es ja auch, aus dieser Entfernung gesehen, keinen wesentlichen Unter‐ schied zu machen, ob die abstürzenden Flugzeuge fremde oder unsere eigenen waren. Das liegt wohl in der Natur des Krieges. Statt zur Werft zurückzukehren, fuhr ich, sobald es hell gewor‐ den war, nach Hause. Die halbe Strecke einer der Vorortlinien, die außer Betrieb war, mußte ich zu Fuß gehen. Ich überquerte halb‐ verbrannte Fußgängerpassagen und ging zwischen den Schienen auf den halbverkohlten und teilweise noch glimmenden Eisen‐ bahnschwellen weiter. Als ich mich unserem Hause näherte, entdeckte ich, daß das gesamte Stadtviertel, mit Ausnahme unserer unmittelbaren Nachbarschaft, brannte. Unser Haus war unver‐ sehrt. Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder waren
zufällig in dieser Nacht im Haus gewesen, und ich traf sie trotz des Brandes in einer überraschend frohen Stimmung an. Sie feierten ihr Glück, dem Angriff entkommen zu sein, und taten sich an eingemachten Bohnen gütlich, die sie irgendwo im Keller aufgestö‐ bert hatten. Im Verlauf des Tages kam meine sechzehnjährige Schwester in mein Zimmer und sagte: «Du bist heftig in jemand verliebt, nicht wahr?» «Wer behauptet das?» «Ich weiß es ganz genau.» «Und ist etwas nicht in Ordnung, wenn ich verliebt sein sollte?» «O nein... Wann wollt ihr heiraten?» Ihre Worte trafen mich tief. Mir war genauso wie einem Verbre‐ cher zumute, der geflohen ist und mit jemandem zusammen‐ kommt, der nichts von seiner Tat weiß, aber ahnungslos eine Bemerkung darüber macht. «Heiraten? Ich denke ja überhaupt nicht daran.» «Was, das ist gemein! Du bist in ein Mädchen verliebt und denkst überhaupt nicht daran, es zu heiraten? Das finde ich ein‐ fach abscheulich. Männer sind doch wirklich gemein –» «Wenn du dich nicht sofort aus dem Zimmer scherst, fliegt dir das Tintenfaß an den Kopf!» Doch als sie fort war, gingen mir ihre Worte nicht aus dem Kopf. Ich sagte mir: Es stimmt – vielleicht gäbe es doch so etwas auf dieser Welt wie Heirat und Kinder. Wie konnte ich das nur verges‐ sen oder zumindest so tun. Ich machte mir nur etwas vor, wenn ich mir einredete, daß die Ehe ein zu zerbrechliches Glück in einem Krieg war, der sich der endgültigen Katastrophe näherte. Doch jetzt überlegte ich, daß die Ehe für mich wahrscheinlich doch ein sehr gewichtiges Glück bedeuten könnte. Gewichtig genug, um – ich möchte sagen – die Haare meines Körpers zu elektrisieren... Diese Gedanken spornten mich zu dem widersinnigen Entschluß an, Sonoko unter allen Umständen und so bald wie irgend möglich 163
zu besuchen. Ob mich tatsächlich Liebe zu diesem Entschluß be‐ wog? Ob es sich nicht viel eher um die seltsame und leidenschaft‐ liche Neugierde handelte, die man angesichts einer in sich schlum‐ mernden Furcht zeigt und die den Wunsch auslöst, mit dem Feuer zu spielen? Mittlerweile war ich mehrmals nicht nur von Sonoko, sondern auch von ihrer Mutter und Großmutter aufgefordert worden, sie zu besuchen. Da ich keine Lust hatte, im Hause ihrer Tante zu wohnen, hatte ich Sonoko geschrieben und sie gebeten, für mich ein Zimmer in einem Hotel zu reservieren. Doch sie sah sich vergebens nach einem Zimmer für mich um. Sämtliche Hotels waren entweder zu einem Zweigbüro irgendeiner Regierungsstelle geworden oder Ausländern vorbehalten, deren Staaten inzwischen auf die Seite der Alliierten übergetreten waren. Ein Hotel... ein eigenes Zimmer... ein Schlüssel... die Vorhänge vor den Fenstern... sanftes Widerstreben... das gegenseitige Einver‐ ständnis, die Eroberung zu beginnen. Gewiß, dieses Mal gewiß, wäre ich fähig, es zu tun. Gewiß würde das Normale in mir auflo‐ dern mit der Kraft einer göttlichen Offenbarung. Gewiß würde ich als ein anderer Mensch wiedergeboren, als ein richtiger Mann, wie plötzlich befreit von dem Bann eines bösen Dämons. In dem Mo‐ ment wäre ich fähig, Sonoko ohne Zögern zu umarmen, mit all meiner Kraft, und sie wirklich zu lieben. Alle Zweifel und bösen Ahnungen wären mit einem Male wie fortgeblasen, und ich könnte aus tiefster Überzeugung sagen: «Ich liebe dich.» Von jenem Tage an wäre ich in der Lage, bei einem Luftangriff über die Straße zu gehen und, so laut ich kann, zu rufen: «Ich habe eine Freundin.» Romantikern ist ein leises Mißtrauen dem Intellekt gegenüber eigen, und diese Tatsache führt oft zu jener an sich unmoralischen Handlung, die man Tagtraum nennt. Im Gegensatz zur allgemei‐ nen Annahme handelt es sich beim Tagtraum nicht um einen intellektuellen Vorgang, sondern eher um einen Fluchtversuch vor dem Intellekt...
Doch mein Traum vom verschwiegenen Hotelzimmer sollte nicht in Erfüllung gehen. Da es nicht möglich war, in irgendeinem Hotel für mich ein Zimmer zu bekommen, bat mich Sonoko wiederholt in ihren Briefen, bei ihnen zu wohnen. Schließlich willigte ich ein. Sofort bemächtigte sich meiner ein Gefühl von Erleichterung, das schon fast einer Erschöpfung gleichkam. Und wie sehr ich auch versuchte, mich selber davon zu überzeugen, daß dieses Gefühl Enttäuschung und Resignation sei, konnte ich nicht umhin, zu erkennen, daß es sich um nichts anderes handelte als Erleichterung. Am 2. Juni fuhr ich aufs Land zu Sonoko. Um jene Zeit herrschte auf der Marinewerft bereits ein derartiges Durcheinander, daß fast jeder Entschuldigungsgrund genügte, um Urlaub zu erhalten. Der Zug war schmutzig und leer. Woher kommt es, daß, von einer einzigen glücklichen Ausnahme abgesehen, meine sämtli‐ chen Erinnerungen an Eisenbahnfahrten während des Krieges stets derart trostlos sind? Auf der Fahrt zum Dorf peinigte mich bei jedem Stoß der Räder mehr und mehr ein Gedanke, der schließlich zu einer kindischen und gleichzeitig rührenden fixen Idee wurde: ich war entschlossen, Sonoko nicht zu verlassen, ehe ich sie nicht geküßt hatte. Diese Entschlossenheit unterschied sich jedoch von jenem stolzgeschwellten Gefühl, das ein Mensch hat, wenn er trotz seiner Schüchternheit versucht, sein Verlangen zu stillen. Mir war zumute, als wollte ich einen Diebstahl begehen, als wäre ich ein ängstlicher Neuling in einer Gangstergruppe, der vom Bandenchef eingeweiht wird. Das Glück, geliebt zu werden, verursachte eine große Aufregung in mir. Vielleicht aber sehnte ich mich unbewußt nach noch größerem Unglück. Sonoko stellte mich ihrer Tante vor. Ich gab mir die größte Mühe, einen guten Eindruck zu machen. Jeder schien den anderen stumm zu fragen: ‹Wie konnte Sonoko sich jemals in diesen Burschen ver‐ lieben? Was für ein bleicher Bücherwurm! Was in aller Welt konnte sie an ihm finden?› 165
Da ich fest entschlossen war, mich bei allen beliebt zu machen, sonderte ich mich nicht so mit Sonoko ab wie seinerzeit auf der Eisenbahnfahrt. Ich half ihren Schwestern bei ihren englischen Schulaufgaben und hörte aufmerksam den Geschichten zu, die die Großmutter von ihrem lange zurückliegenden Aufenthalt in Berlin erzählte. Seltsamerweise schien Sonoko bei solchen Gelegenheiten mir noch näher zu sein als sonst. In Gegenwart ihrer Mutter oder Großmutter tauschte ich oft heimliche Blicke mit ihr aus. Bei den Mahlzeiten berührten sich unsere Füße unter dem Tisch. Sie wurde ebenfalls mehr und mehr von diesem Spiel gefangengenommen. Als ich einmal gelangweilt den Erzählungen ihrer Großmutter zuhörte, lehnte Sonoko am Fenster, durch das ich das grüne Laub und den wolkenbedeckten Himmel der Regenzeit sehen konnte. Hinter dem Rücken der Großmutter, so daß nur ich es allein bemerkte, hielt sie das auf ihrer Brust hängende Medaillon in die Höhe und ließ es vor meinen Augen hin und her baumeln. Wie weiß der Ansatz ihres Busens war, den man über dem halb‐ mondförmigen Halsausschnitt ihres Kleides sehen konnte! Aufre‐ gend weiß. Als ich ihr Lächeln beobachtete, mit dem sie am Fenster stand, konnte ich die Anspielung auf das ‹lose Blut› verstehen, das Julias Wangen färbte. Es gibt eine Art von Unkeuschheit, die nur einem jungen unschuldigen Mädchen wohl ansteht, ganz verschie‐ den von der einer reifen Frau, und die anrührt wie ein sanfter Lufthauch. Sie ist fast ein wenig geschmacklos und doch wieder reizvoll wie beispielsweise der Wunsch, einen Säugling zu kitzeln. In solchen Augenblicken konnte ich mich von einer plötzlichen Glückseligkeit berauschen lassen. Seit sehr langer Zeit hatte ich nicht nach der verbotenen Frucht gegriffen, die man Glück nennt; doch nun führte sie mich mit schwermütiger Beharrlichkeit in Ver‐ suchung. Mir war, als ob Sonoko einen Abgrund darstellte, über den ich mich gebeugt hatte. So verging die Zeit, und es blieben schließlich nur noch zwei Tage, bis ich wieder auf die Marinewerft zurückkehren mußte.
Und noch immer hatte ich das mir selber gegebene Versprechen nicht erfüllt, Sonoko zu küssen. Das gesamte Hochland lag unter einem Regenschleier. Ich lieh mir ein Fahrrad und fuhr zur Post, um einen Brief aufzugeben. Sonoko arbeitete auf einer Verwaltungsdienststelle, um nicht zum ‹Freiwilligen Arbeitsdienst› eingezogen zu werden. Sie hatte mir versprochen, sich mit mir auf dem Postamt zu treffen und den Nachmittag ihren Dienst zu schwänzen. Auf dem Wege kam ich an einem verlassenen Tennisplatz vorbei, der mit seinem verrosteten Drahtzaun, an dem lauter Tropfen hingen, seltsam bedrückend aussah. Ein deutscher Junge fuhr auf einem Fahrrad dicht an mir vorüber; sein blondes Haar und seine weißen Hände schimmerten feucht. Ich wartete einige Minuten in dem altmodischen Postamt, und inzwischen hellte sich der Himmel ein wenig auf. Der Regen hatte aufgehört, es war aber nur ein kurzes Intervall, die Wolken verzo‐ gen sich nicht, und das Licht schien wie Platin. Ich sah jetzt durch die Glastüren, wie Sonoko von ihrem Fahrrad stieg. Sie keuchte, ihr Gesicht war gerötet, aber sie lächelte mir zu. «Jetzt, faß zu», sagte etwas in mir, und ich kam mir tatsächlich wie ein Jagdhund vor, der von der Kette gelassen wurde, um das Wild zu jagen. Ich stand unter dem Druck einer moralischen Verpflich‐ tung, die mir irgendein Dämon aufgezwungen hatte. Ich sprang auf mein Fahrrad, und wir fuhren nebeneinander die Hauptstraße entlang. Wir ließen das Dorf hinter uns und kamen durch ein Wäldchen aus Tannen, Ahornbäumen und Silberbirken, an deren Blättern noch die glänzenden Regentropfen hingen. Sonokos Haar wurde vom Wind zerzaust und sah wunderschön aus. Ihre starken Hüf‐ ten bewegten sich im Rhythmus der Pedale leicht auf und ab. Sie wirkte wie das Leben selber. Am Eingang eines Golfplatzes, der seit längerer Zeit außer Betrieb war, stiegen wir von unseren Fahr‐ rädern und gingen einen aufgeweichten Weg am Spielfeld entlang. 167
Ich war so nervös wie ein frischgebackener Rekrut. Dort drüben ist eine Baumgruppe, sagte ich mir. Der Schatten dort ist gerade richtig für uns. Es sind noch ungefähr fünfzig Schritte bis dorthin. Nach zwanzig Schritten werde ich irgend etwas zu ihr sagen, um die Spannung aufzulockern. Und während der folgenden dreißig wird man am besten über irgend etwas Belangloses reden. Nach fünfzig Schritten stellen wir unsere Räder unter den Bäumen ab und halten inne, um die Berge zu bewundern. Dabei werde ich meine Hand auf ihre Schulter legen. Vielleicht könnte ich sogar mit leiser Stimme zu ihr sagen: «Wie oft habe ich schon davon ge‐ träumt, hier mit dir zu stehen –» Daraufhin wird sie dann irgend‐ eine unschuldige Bemerkung machen. Meine Hand, die auf ihrer Schulter liegt, wird ein wenig fester zupacken, Sonoko wird sich zu mir herumdrehen. Dann muß ich nur alles so machen wie damals mit Chieko... Ich schwor mir, meine Rolle überzeugend zu spielen. Mit Liebe oder Begierde hatte das nichts zu tun... Schließlich lag sie tatsächlich in meinen Armen. Sie atmete heftig, wurde feuerrot und schloß die Augen. Ihre Lippen waren kindlich und schön. Doch weckten sie nicht das geringste Begehren in mir. Dennoch hoffte ich, daß jeden Augenblick etwas in mir geschehen würde – gewiß, dachte ich, wenn ich sie küsse, werde ich sicherlich dabei das Normale in mir entdecken, meine unverfälschte Liebe. Ein Mechanismus war angelaufen, niemand konnte ihm Einhalt gebieten. Ich preßte meine Lippen auf die ihren. Eine Sekunde verging. Ich empfand nicht das geringste Lustgefühl. Zwei Sekunden. Noch immer das gleiche. Drei Sekunden... Da verstand ich alles. Ich machte mich von ihr los, und einen Augenblick stand ich vor ihr und sah sie traurig an. Hätte sie in meine Augen gesehen, sicherlich wäre ihr dann eine Ahnung gekommen, wie seltsam und unerklärbar meine Liebe für sie war. Welcher Art diese Liebe auch war, niemand hätte mit Gewißheit sagen können, ob eine solche
Liebe überhaupt menschenmöglich war. Doch Sonoko hielt noch immer überwältigt von Scham und unschuldiger Freude die Augen niedergeschlagen wie eine Spielzeugpuppe. Ohne ein Wort zu sagen, nahm ich ihren Arm und führte sie wie eine Kranke zu unseren Fahrrädern zurück. Du mußt fliehen, sagte ich mir unaufhörlich. Ohne einen Augen‐ blick Zeit zu verlieren, mußt du fliehen. Ich befand mich in einer Panikstimmung. Um keinen Verdacht zu erregen, gebärdete ich mich lustiger als gewöhnlich. Der Erfolg meiner kleinen List mach‐ te meine Lage noch schwieriger: Beim Abendessen paßte mein glückliches Aussehen so gut zu Sonokos völliger Geistesabwesen‐ heit, daß alle daraus die naheliegende Schlußfolgerung zogen. Sonoko sah jünger und frischer aus als sonst. Von jeher hatten ihr Gesicht und ihre Figur etwas aus einem Märchenbuch für mich. Jetzt war etwas an ihr, das an eine verliebte Märchenfigur erin‐ nerte. Und als ich bemerkte, wie unschuldig sie war, wurde mir klar, daß ich kein Recht besaß, dieses entzückende Wesen in mein‐ en Armen zu halten. Wie sehr ich auch weiterhin bemüht war, fröhlich zu erscheinen, ich brachte kein Wort mehr über die Lippen. Sonokos Mutter bemerkte es und sorgte sich um meine Gesundheit. Sonoko glaubte den Grund meines Verstummens genau zu kennen, und um mich aufzuheitern, bewegte sie ihr Medaillon hin und her, wie um zu sagen: ‹Mach dir keine Sorgen.› Ich überwand mich und lächelte ihr zu. Die Erwachsenen machten teils entsetzte, teils ärgerliche Gesichter über unser verliebtes Lächeln. Plötzlich wurde mir klar, daß die Phantasie in all diesen Köpfen bereits am Werke war, um Bilder einer gemeinsamen Zu‐ kunft für uns beide zu entwerfen, und Entsetzen ergriff mich. Am nächsten Tage gingen wir beide wieder zu derselben Stelle beim Golfplatz. Ich sah, daß wir bei unserem Abschied ein Büschel
169
Blumen zertreten hatten – gelbe Kamillen, Zeugen des gestrigen Tages. Heute war das Gras trocken. Gewohnheit ist etwas Schreckliches. Ich wiederholte den Kuß, den ich so bereut hatte. Doch diesmal war es, als küßte ich meine kleine Schwester. Und gerade deshalb schien es mir um so unmo‐ ralischer. «Wann werden wir uns wohl das nächste Mal wiedersehen», meinte sie. «Wenn die Amerikaner nicht in der Nähe der Werft landen, kann ich in ungefähr einem Monat wieder Urlaub bekommen», antwor‐ tete ich. Dabei hoffte ich, nein, es war mehr als eine Hoffnung, es war schon mehr eine abergläubische Gewißheit, daß im Laufe dieses Monats die Amerikaner bestimmt in der S.‐Bucht landen und daß alle Studenten zu einer Armee zusammengefaßt und bis auf den letzten Mann sterben würden. Oder vielleicht würde mich eine ungeheure Bombe, wie sie sich bisher noch niemand vorstellen konnte, töten, ganz gleich, wo ich auch Schutz suchte... Ob dies nicht eine Vorahnung der Atombombe war, die bald geworfen werden sollte? Wir wanderten auf einen Hügel zu, der im Sonnenlicht lag. Zwei Birken, die wie einträchtige Schwestern aussahen, warfen ihre Schatten. Sonoko senkte ihren Blick und ging neben mir her. Dann brach sie das Schweigen: «Wenn wir uns das nächste Mal treffen, was wirst du mir dann für ein Geschenk mitbringen?» «Was kann man heutzutage schon schenken», antwortete ich ver‐ zweifelt und tat so, als verstünde ich nicht, worauf sie hinauswoll‐ te, «das Beste, das ich mitbringen könnte, wäre allenfalls eine alte Zeltplane oder eine schmutzige Schaufel.» «Ich meine aber etwas Konkretes.» «Hm – was denn wohl sonst?» Je mehr ich vorgab, nicht zu begreifen, desto mehr wurde ich in die Enge getrieben. «Das ist ein
richtiges Rätsel, nicht wahr? Ich werde auf der Rückfahrt in Ruhe versuchen, es herauszufinden.» «Ja, bitte.» Aus ihrer Stimme klang eine seltsame Mischung von Selbstbewußtsein und Würde. «Ich möchte gern, daß du mir ver‐ sprichst, das Geschenk mitzubringen.» Sie hatte das Wort ‹versprichst› betont, und ich konnte nichts anderes tun, um mich zu verteidigen, als weiterhin den Ahnungs‐ losen zu spielen. «Gut!» sagte ich gönnerhaft. «Wir wollen uns die Hand darauf geben.» Wir hakten unsere Finger so ineinander, wie Kinder es tun, um ihre Versprechen zu besiegeln. Obwohl es eine harmlose Geste schien, war ich doch plötzlich von einer Furcht überfallen, wie ich sie noch aus der Kindheit kannte. Ich erinnerte mich daran, daß wir als Kinder sagten, wenn man ein Versprechen bräche, würden einem die Finger abfaulen. Und meine Furcht hatte einen noch realeren Grund: Selbst wenn sie es auch nicht ausgesprochen hatte, so war es klar, daß Sonoko mit dem Geschenk einen Heiratsantrag meinte. Meine Furcht war wie die, von der ein Kind sich nachts eingehüllt fühlt, wenn es Angst davor hat, einen dunklen Gang entlangzugehen. Als es an diesem Abend Zeit war, zu Bett zu gehen, kam Sonoko an meine Schlafzimmertür. Sie verbarg sich halb hinter dem Vor‐ hang und bat mich in schmollendem Ton, noch einen Tag länger zu bleiben. Ich starrte sie lediglich erstaunt an. Meine ganze Berechnung, die ich für so unfehlbar gehalten hatte, war zunichte gemacht worden, weil ich von Anfang an einen Fehler begangen hatte. Ich wußte nicht, was ich jetzt, als Sonoko mir gegenüber‐ stand, fühlte. «Mußt du denn wirklich schon abreisen?» «Ja, es muß sein.»
171
Ich war fast glücklich über meine Antwort. Abermals hatte sich die Maschinerie meines oft geübten Selbstbetrugs in Gang gesetzt. Das Glücksgefühl, das ich empfand, war nichts anderes als die Erleichterung, die man spürt, wenn man einer großen Gefahr entronnen ist. Doch ich legte es so aus, als ob sie dem Bewußtsein meiner Überlegenheit entspränge, die ich ihr gegenüber hatte, und dem Wissen, daß ich jetzt die Macht besaß, sie zu quälen. Der Selbstbetrug war meine letzte Zuflucht, denn jemand, der ernstlich verwundet worden ist, fragt nicht danach, ob der Notver‐ band, der sein Leben rettet, sauber ist. Ich stillte also sozusagen meine blutende Wunde mit dem Verbandszeug des Selbstbetrugs, mit dem ich zumindest schon vertraut war, und dachte an nichts anderes, als zum Lazarett laufen zu müssen. Deshalb schilderte ich Sonoko die Marinewerft wie eine strenge Kaserne. Ich behauptete, wenn ich nicht am nächsten Tag zur Werft zurückkehrte, würde ich höchstwahrscheinlich ins Militärgefängnis geworfen... Der Morgen meiner Abreise war gekommen, und ich starrte Sonoko an, als sähe ich sie zum letztenmal. Ich machte mir klar, daß jetzt alles vorbei war – obwohl die Menschen um mich glaub‐ ten, alles beginne jetzt erst und obwohl ich selber den Wunsch hegte, mich zu betrügen und mich gern der Fürsorge anvertraute, mit der Sonokos Familie mich umhegte. Dennoch stimmte mich Sonokos betonte Ruhe unbehaglich. Sie half mir beim Packen und sah im Zimmer nach, ob ich nicht noch etwas vergessen hätte. Nach einiger Zeit blieb sie vor einem Fen‐ ster stehen und starrte unbeweglich hinaus. Auch heute gab es nichts draußen zu sehen als den wolkenverhangenen Himmel und das frische grüne Laub. Ein Zweig schwankte ein wenig, weil ein Eichhörnchen darüberlief, ohne daß man es erspähen konnte. Als ich auf Sonokos Rücken blickte, machte mir irgend etwas an ihrer Haltung unerbittlich klar, daß sie ruhig und kindlich wartete. Bei meiner pedantischen Art konnte ich dies ebensowenig ignorieren wie ich beispielsweise nicht in der Lage bin, einen Raum zu verlas‐
sen, ohne die Schranktüren zu schließen. Ich ging zu ihr hinüber und umarmte sie zärtlich. «Du wirst bestimmt wiederkommen, nicht wahr?» Sie sprach leise und voller Vertrauen. Es klang, als vertraue sie weniger auf mich selber als vielmehr auf irgend etwas Tieferes, das über mir stand. Ihre Schultern zuckten nicht. Fast stolz bewegte sich die Spitze an ihrer Bluse auf und ab. «Hm – vielleicht, wenn ich am Leben bleibe.» Ich ekelte mich vor mir selber, als ich diese Worte aussprach. Der Vernunft nach wäre es entschieden besser gewesen, wenn ich gesagt hätte: ‹Natürlich komme ich wieder! Nichts kann mich davon zurückhalten. Zweifle nie daran. Bist du nicht meine zukünftige Frau?› Dauernd herrschte dieser merkwürdige Widerspruch zwischen meinen Überlegungen und meinen Gefühlen. Ich wußte, daß ich die lauwarme Haltung des ‹Hm – vielleicht› nicht einfach aus irgendeinem Fehler meines Charakters heraus annahm, den ich hätte ändern können, sondern daß sie auf etwas zurückzuführen war, das bereits schon existiert hatte, ehe ich mir dessen bewußt wurde. Kurzum, ich wußte mit Sicherheit, daß ich keine Schuld hatte. Doch aus diesem Grund hatte ich mir angewöhnt, die Charakter‐ eigenschaften, die ich auf jeden Fall regulieren konnte, ermahnend zu überwachen, daß ich bereits komisch wirkte. Zu einem Teil meines von Kindheit an geübten Selbsterziehungssystems gehörte es, daß ich mir ständig sagte, es wäre besser, zu sterben, als eine laue, unmännliche Persönlichkeit zu werden, eine Persönlichkeit, die ihre eigenen Neigungen und Abneigungen nicht klar erkennt, und die nur den Wunsch hat, geliebt zu werden, ohne zu wissen, wie man liebt. Diese Ermahnung verfehlte natürlich nicht ihre Wirkung auf den Teil meines Wesens, den ich beherrschte, war jedoch, was meine allgemeine Verhaltensweise und Charakterent‐ wicklung anging, von Anfang an ohne Wirkung. Diesmal hätte ich 173
die Kraft eines Samson haben müssen, um Sonoko gegenüber eine männliche und eindeutige Haltung einzunehmen. Das Bild einer lauen Persönlichkeit, das Sonoko jetzt zu sehen bekam, diese Lauheit, die offensichtlich mein Charakter zu sein schien, erregte meinen Ekel, ließ meine ganze Existenz wertlos erscheinen, zerstörte mein Selbstvertrauen vollkommen. Es lief darauf hinaus, daß ich meinem Willen und meinem Charakter mißtraute, oder zumindest zweifelte ich an meiner Willenskraft. Andererseits war diese Denkweise, die soviel Gewicht auf den Willen legte, an sich schon eine Übertreibung, die fast ans Phanta‐ stische grenzte. Nicht einmal eine normale Person kann ihr Beneh‐ men einzig und allein mit dem Willen lenken. Ganz davon abgese‐ hen, wie normal ich war, gewiß war Grund genug dafür vorhan‐ den, ernstlich in Zweifel zu stellen, ob Sonoko und ich in jeder Beziehung die richtigen Partner für eine glückliche Ehe abgaben, Grund genug dafür, um auch mein normales Ich sagen zu lassen: ‹Hm – vielleicht›, aber ich hatte bewußt die Gewohnheit angenom‐ men, selbst solchen offensichtlichen Tatsachen gegenüber die Augen zu verschließen, geradezu als wollte ich auch nicht die kleinste Gelegenheit versäumen, mich selber zu quälen... Dies ist ein alter Trick, der oft von Leuten angewandt wird, die sich, wenn ihnen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, in den sicheren Hafen des Selbstmitleids zurückziehen, sich als tragische Opfer betrach‐ ten... «Mach dir keine Gedanken», sagte Sonoko mit ruhiger Stimme. «Du wirst nicht fallen. Du wirst nicht einmal leicht verwundet werden. Jeden Abend bete ich zum Herrn Jesus für dich, und meine Gebete werden stets erhört.» «Du bist sehr fromm, nicht wahr? Wahrscheinlich ist dies der Grund deiner inneren Ruhe. Mir aber macht das angst.» «Warum?» fragte sie und blickte mich mit ihren klugen schwar‐ zen Augen an.
Ihr Blick und die unschuldige Frage trieben mich in die Enge. Sie schien so voller Vertrauen, daß ich verwirrt wurde. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Bisher hatte ich immer den Wunsch verspürt, dieses Mädchen, das sich gänzlich in die Stille ihres Inneren zurückgezogen hatte und zu schlafen schien, einmal tüchtig zu schütteln, bis es aufwachte. Doch ihr Blick hatte im Gegenteil etwas in mir geweckt, das geschlafen hatte... Für Sonokos jüngere Schwestern war es inzwischen Zeit, sich auf den Schulweg zu machen, und sie kamen zu mir, um sich zu verabschieden. Die Jüngste berührte kaum meine Hand und stürmte dann mit einer karminroten Frühstückstasche, die ein vergoldetes Schnappschloß hatte, aus dem Zimmer. Gerade in diesem Augenblick schien zufällig die Sonne durch die Bäume, und ich sah, wie sie die Tasche über dem Kopf schwenkte. Die Mutter und die Großmutter waren mitgekommen, und daher war der Abschied von Sonoko auf dem Bahnhof förmlich und kurz. Wir scherzten miteinander und benahmen uns gleich‐ gültig. Der Zug kam bald, und ich setzte mich an ein Fenster. Mein einziger Wunsch war, daß der Zug möglichst schnell abfahren möge. Plötzlich hörte ich aus einer gänzlich unerwarteten Richtung meinen Namen rufen. Gewiß war es Sonokos Stimme, aber so vertraut sie mir auch geworden, war es für mich jetzt doch befremdlich, sie wie einen klaren fernen Schrei zu hören. Als ich mir klarmachte, daß es Sonokos Stimme war, wurde es mir warm ums Herz, als habe mich die Morgensonne getroffen. Ich drehte mich um in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sonoko war durch die Tür der Gepäckabfertigung auf den Bahnsteig geschlüpft und stand nun an dem schwarzen Holzgitter, das den Bahnsteig abtrennte. Das Spitzenjabot ihrer Bluse quoll aus ihrem Bolero und flatterte im Windzug. Ihre großen ausdrucksvollen Augen starrten mich an. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ihre ein wenig vollen 175
Lippen schienen Worte zu formen; dann entschwand sie meinen Blicken. Sonoko! Sonoko! Ich wiederholte mir den Namen mit jedem Stoß des Zuges. Der Name hatte jetzt etwas unerklärlich Geheimnisvol‐ les für mich. Sonoko! Sonoko! Bei jeder Wiederholung zog sich mir das Herz mehr zusammen, ein schneidender Schmerz erfaßte mein Inneres, und eine bleierne Gelähmtheit nahm von mir Besitz. Der Schmerz war kristallklar, einzigartig und unbegreiflich, daß ich ihn mir, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht erklären konnte. Er war so außerhalb aller gewohnten menschlichen Empfindungen, daß ich sogar Mühe hatte, ihn als Schmerz zu erkennen. Wenn ich versu‐ chen wollte, ihn zu beschreiben, würde ich sagen, es ist der Schmerz, den ein Mensch empfindet, der an einem strahlenden Tag auf den Donner der Kanone des Kaiserpalastes wartet, und der, nachdem der Zeitpunkt für den Kanonenschuß verstrichen ist und alles still bleibt, versucht, in die wartende Leere irgendwo im blauen Himmel zu dringen. Mit berstender Spannung wartet er auf etwas, das er ersehnt und das lange überfällig ist, und der schreck‐ liche Zweifel quält ihn, daß es nie kommen wird. Er ist der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, daß der mittägliche Kanonenschuß diesmal ausblieb. Es ist alles vorüber, es ist alles vorüber, murmelte ich vor mich hin. Mein Kummer glich dem eines ängstlichen Studenten, der durchs Examen gefallen ist: Ich habe einen Fehler gemacht! Ich habe einen Fehler gemacht! Weil ich das «X» in der Gleichung nicht gelöst habe, ist alles falsch. Wenn ich bloß das «X» am Anfang gelöst hätte, dann wäre alles richtig gewesen! Wenn ich nur die deduktiven Methoden wie alle anderen Menschen benutzt hätte, um die Mathematik des Lebens zu lösen! Halbklug zu sein, war das Dümmste, was ich tun konnte! Ich hatte mich auf die induktive Methode verlassen, und aus diesem einfachen Grunde hatte ich versagt. Mein innerer Aufruhr war so offenbar, daß die beiden Fahrgäste, die mir gegenübersaßen, mich argwöhnisch anblickten. Es waren
eine Krankenschwester vom Roten Kreuz in dunkelblauer Uniform und ihre Mutter, eine ärmlich gekleidete Bauersfrau. Als ich merk‐ te, daß sie mich anstarrten, warf ich einen Blick auf die Rotkreuz‐ schwester. Sie war ein dickliches Mädchen mit einer Gesichtsfarbe, so rot wie eine Kirsche. Sie wurde verlegen, als sich unsere Blicke trafen, und um ihre Verwirrung zu verbergen, sagte sie zu ihrer Mutter: «Ich habe solchen Hunger!» «Nein, es ist noch zu früh.» «Aber ich habe dir doch gesagt, daß ich Hunger habe. Bitte, bitte –» «Quäl mich doch nicht so –» Schließlich gab die Mutter nach und holte die Reisetasche hervor. Ihr Essen schien noch kärglicher zu sein als das, was wir auf der Werft bekamen. Ich sah nur gekochten Reis, der mit sehr viel Taro‐ wurzeln gemischt war, und als Garnierung zwei Scheiben Rettich. Doch das Mädchen machte sich mit Behagen darüber her. Irgendwie war mir die Gewohnheit des Essens noch nie zuvor derart lächerlich vorgekommen. Ich rieb mir die Augen und er‐ kannte, daß ich vollständig den Wunsch zum Weiterleben verloren hatte. Als ich am Abend im Haus in der Vorstadtgegend ankam, dachte ich zum erstenmal in meinem Leben ernsthaft an Selbstmord. Doch nach eingehender Überlegung stellte ich fest, daß es im Grunde ein lächerlicher Gedanke war. Dazu kam, daß ich eine starke Abnei‐ gung dagegen hatte, eine Niederlage einzugestehen. Vor allem aber, so sagte ich mir, bestand keine Notwendigkeit für mich, einen solchen entscheidenden Schritt zu tun, da ich ja von einer reichen Auswahl von Todesmöglichkeiten umgeben war – dem Tod bei einem Luftangriff, dem Tod während ich Dienst tat, dem Tod als Soldat, dem Tod auf dem Schlachtfeld, Tod durch Überfah‐ renwerden, Tod durch Krankheit. Sicherlich war mein Name schon in die entsprechende Liste eingetragen worden: ein zum Tode 177
verurteilter Verbrecher begeht nicht Selbstmord. Nein, wie man es auch ansah, die Zeit war für Selbstmord nicht günstig. Daher woll‐ te ich lieber auf etwas warten, das mir den Gefallen tun würde, mich zu töten. Und dies war letzten Endes das gleiche, als wenn ich gesagt hätte, ich wartete auf etwas, was mir den Gefallen tun würde, mich am Leben zu erhalten. Zwei Tage nach der Rückkehr auf die Werft erhielt ich einen lei‐ denschaftlichen Brief von Sonoko. Es bestand kein Zweifel mehr, daß sie wirklich verliebt war. Ich wurde eifersüchtig. Es war die gleiche unerträgliche Eifersucht, die eine Zuchtperle für eine echte empfinden muß. Kann es überhaupt in der Welt so etwas geben wie einen Menschen, der eifersüchtig auf die Frau ist, die ihn liebt, gerade ihrer Liebe wegen? Sie schrieb, daß sie, nachdem sie mich zur Bahn gebracht, ihr Rad geholt hätte und zu ihrer Dienststelle gefahren wäre. Doch sie sei so geistesabwesend gewesen, daß ihre Mitarbeiter sie gefragt hätten, ob sie sich nicht wohl fühlte. Sie hätte sich öfters beim Ordnen der Akten geirrt. Zum Mittagessen sei sie nach Hause gefahren, doch als sie nach dem Mittagessen zum Büro zurück‐ fuhr, hätte sie einen Umweg gemacht, der sie am Golfplatz vorbei‐ führte. Dort sei sie vom Rad gestiegen und hätte umhergeblickt und die Stelle mit den zertretenen gelben Kamillen gesucht. Als sich der Nebel auflöste, hätte sie die Abhänge der Berge gesehen, die wie gebrannter Ocker leuchteten, als seien sie gewaschen worden. Sie hätte auch dunklen Nebel aus den Schluchten des Gebirges aufsteigen sehen, und sie hätte die beiden Silberbirken gesehen, die wie liebende Schwestern wirken und deren Blätter wie von einer leisen Vorahnung zitterten... Und zur selben Stunde hatte ich im Eisenbahnzug gesessen und mir den Kopf über einen Ausweg zermartert, um der Liebe zu entkommen, die ich selber in Sonoko geweckt hatte! ... Und doch gab es Momente, in denen ich mich gerechtfertigt fühlte, in denen ich mich einer Selbstrechtfertigung überließ, die, wenn auch
erbärmlich, wahrscheinlich der Wahrheit am nächsten war: daß ich ihr deswegen entfliehen müßte, weil ich sie liebte. Ich fuhr fort, ihr häufig Briefe zu schreiben. Einerseits hütete ich mich, etwas zu schreiben, das ihr noch mehr unnötige Hoffnungen machen mußte, andererseits gebrauchte ich einen Ton, der keiner‐ lei Abkühlung von meiner Seite aus mutmaßen ließ. Nach einem knappen Monat teilte sie mir mit, daß sie alle wieder Kusano besu‐ chen würden, der diesmal zu einem Regiment in der Nähe Tokios versetzt worden sei. Ich wurde schwach und begleitete die Familie ein zweites Mal. Denn obwohl ich fest entschlossen war, Sonoko zu meiden, sehnte ich mich zugleich seltsamerweise heftig nach einem erneuten Zusammensein mit ihr. Bei dieser Begegnung stellte ich fest, daß ich mich völlig verän‐ dert hatte, während sie dieselbe geblieben war. Es war jetzt für mich unmöglich geworden, auch nur eine einzige scherzhafte Be‐ merkung zu machen. Alle, Sonoko, Kusano, die Mutter, die Großmutter bemerkten meine Verwandlung, schrieben sie aber lediglich der Ernsthaftigkeit meiner Absicht zu. Während meines Besuches machte Kusano mir gegenüber eine Bemerkung, die mich, obwohl er sie mit seiner gewohnten Freundlichkeit äußerte, vor Furcht erzittern ließ: «In wenigen Tagen werde ich dir einen sehr wichtigen Brief schreiben. Bitte, lies ihn sehr genau –» Eine Woche später kehrte ich wieder in das Vorstadthaus zu meiner Familie zurück. Kusanos Brief war inzwischen angekom‐ men. Er war mit der für ihn so charakteristischen Handschrift geschrieben, und trotz der Unreife spürte man aus jedem Wort die Aufrichtigkeit seiner Freundschaft. «...die ganze Familie macht sich Gedanken um Sonoko und Dich. Man hat mich zum bevollmächtigten Gesandten in dieser Ange‐ legenheit gemacht. Was ich zu sagen habe, ist kurz – ich möchte einfach wissen, wie Du über die ganze Sache denkst. Natürlich baut Sonoko auf Dich, und alle anderen ebenfalls. Meine Mutter überlegt offenbar schon, wann die Hochzeit stattfinden soll. Viel‐ leicht ist es dafür noch zu früh, aber ich denke, es wäre vielleicht 179
richtig, das Datum für das Verlobungsfest anzusetzen. Doch natür‐ lich haben wir nur Vermutungen. Dies ist der Grund, weshalb ich Dich frage, was Du darüber denkst. Die Familie möchte ihre Vor‐ bereitungen treffen, ebenso sich mit Deiner Familie ins Einverneh‐ men setzen, sobald wir von Dir hören. Doch ich habe gewiß nicht die Absicht, Dich zu drängen, irgendwelche Schritte zu unterneh‐ men, zu denen Du Dich noch nicht ganz entschlossen hast. Sage mir nur, was Du wirklich fühlst, und ich werde Dich nicht weiter belästigen. Selbst wenn Deine Antwort ein Nein ist, werde ich es Dir niemals vorhalten oder ärgerlich sein, noch würde dies in irgendeiner Weise unsere Freundschaft beeinträchtigen. Natürlich würde es mich riesig freuen, wenn es ein Ja wäre, doch meine Gefühle würden durch ein Nein nicht verletzt werden. Ich wün‐ sche nur eine offene, ehrliche Antwort. Ich hoffe aufrichtig, daß Du bei Deiner Entscheidung nicht das Gefühl des Zwanges oder einer Verpflichtung hast. Als Dein Dich liebender Freund erwarte ich Deine Antwort...» Ich war wie vom Donner gerührt. Ich sah umher, ob mich bei der Lektüre des Briefes auch keiner beobachtet hatte. Niemals hatte ich auch nur im Traum daran gedacht, daß so etwas geschehen könnte. Ich hatte die Tatsache nicht in Rechnung gezogen, daß Sonoko und ihre Familie dem Krieg gegenüber eine Einstellung haben könnten, die von der meinen völlig verschieden war. Ich war ein Student, der noch nicht einundzwanzig war und in einer Flugzeugfabrik arbeitete. Mehr noch, ich war in einer end‐ losen Kriegszeit aufgewachsen und hatte den Krieg viel zu sehr romantisiert. Tatsächlich zeigte auch trotz aller Schrecknisse des Krieges die Magnetnadel der menschlichen Gefühle noch immer in dieselbe Richtung. Und bis jetzt hatte ja auch selbst ich gedacht, verliebt zu sein. Wie konnte ich vergessen, daß alltägliche Ereignis‐ se und die Verantwortlichkeiten des Lebens auch in Kriegszeiten weiterbestehen? Als ich Kusanos Brief noch einmal las, kräuselte ein sonderbares schwaches Lächeln meine Lippen, und schließlich spürte ich ein
ganz gewöhnliches Gefühl der Überlegenheit. Ich bin ein Eroberer, sagte ich zu mir. Jemand, der nie Glück gekannt hat, hat kein Recht, es von sich zu stoßen. Ich hingegen erwecke den Anschein des Glücks, in dem niemand auch nur den geringsten Makel entdecken kann, daher habe ich das gleiche Recht wie jeder andere, es von mir zu stoßen. Obgleich mein Herz mit Unruhe und unsagbarem Gram erfüllt war, trug ich ein freches und zynisches Lächeln zur Schau. Ich sagte mir, daß ich jetzt nur noch eine kleine Hürde zu nehmen hätte. Alles, was ich zu tun hatte, war, die vergangenen Monate als absurd zu betrachten, ich mußte mir einzureden versuchen, daß ich von Anfang an niemals ein Mädchen namens Sonoko geliebt hatte, daß es sich höchstens um eine vorübergehende Tändelei gehandelt hatte (Lügner!) und daß ich sie getäuscht hatte. Danach gab es dann keinen Grund mehr für mich, weshalb ich sie nicht einfach zurückweisen sollte. Wahrhaftig, ein bloßer Kuß verpflich‐ tete mich zu gar nichts! ... Mich entzückte die Schlußfolgerung, zu der meine Gedanken mich führten: «Ich bin nicht in Sonoko verliebt.» Wie großartig! Ich war also zu einem Mann geworden, der eine Frau verführen konnte, ohne sie zu lieben, und der, wenn bei ihr die Liebe am größten ist, sie einfach ohne Zögern verläßt! Wie weit bin ich doch von dem aufrechten und tugendsamen Studenten ent‐ fernt, für den man mich hält... Und dennoch, mir mußte die Tat‐ sache geläufig sein, daß es so etwas wie einen Don Juan, der eine Frau verläßt, ohne vorher seine Absicht bei ihr erreicht zu haben, nicht gibt. Aber solche Vorstellungen ignorierte ich einfach. Längst hatte ich die Gewohnheit angenommen, allem gegenüber, das ich nicht hören wollte, wie eine halsstarrige alte Frau meine Ohren zu verschließen. Ich mußte jetzt nur noch einen Weg finden, um der Heirat zu entgehen. Ich machte mich an diese Aufgabe heran, als wäre ich ein eifersüchtiger Liebhaber, der den Plan hat, die Heirat zwischen dem geliebten Mädchen und einem anderen Mann zu verhindern. 181
Ich öffnete das Fenster und rief meine Mutter. Der große Gemüsegarten leuchtete im Licht des Hochsommers. Die Tomaten und Eierpflanzen hoben ihre Blätter der Sonne entge‐ gen, die ihre sengenden Strahlen über die dickadrigen Blätter ergoß. So weit man sehen konnte, flirrte das Sonnenlicht über einen dunklen Dschungel von Grün. Hinter dem Garten befand sich ein Wäldchen, in dem eine Götterfigur stand, die mit finsterer Miene zu mir herübersah. Und hinter dem Wäldchen zog sich das flache Land hin, durch das von Zeit zu Zeit elektrische Züge fuh‐ ren, die man nicht sehen konnte und die das Land erzittern ließen. Wenn ein Zug vorübergebraust war, schwangen die Drähte der Oberleitung nach und funkelten im Sonnenlicht. Als Antwort auf meinen Ruf wurde in der Mitte des Gemüsegar‐ tens ein Strohhut mit einem blauen Band über dem Grün sichtbar. Es war meine Mutter. Der andere Strohhut blieb reglos und wie eine Sonnenblume gesenkt. Er gehörte meinem Onkel, dem älteren Bruder meiner Mutter, der sich nicht nach mir umdrehte. Bei ihrer Arbeit im Garten hatte sich das Gesicht meiner Mutter ein wenig gebräunt, und als sie jetzt auf das Haus zukam, konnte ich ihre weißen Zähne blitzen sehen. Als sie nahe genug herange‐ kommen war, so daß ich sie hören konnte, rief sie mit einer schril‐ len Kinderstimme: «Was gibt es? Wenn du mir etwas erzählen willst, komm heraus.» «Es ist etwas Wichtiges. Komm doch bitte eine Sekunde her.» Sie näherte sich langsam, als protestiere sie. Sie trug einen Korb mit reifen Tomaten. Als sie am Haus angekommen war, stellte sie den Korb auf ein Fenstersims und fragte mich, was ich wolle. Ich zeigte ihr nicht den Brief, sondern erzählte ihr nur kurz den Inhalt. Während ich sprach, vergaß ich, weshalb ich sie gerufen hatte. Es mag sein, daß ich einfach sprach, um mich innerlich zu festigen. Ich sagte ihr, daß es für meine zukünftige Frau nicht einfach sein würde, mit meinem nervösen und zerstreuten Vater in einem Haus zusammenzuleben, und daß es trotzdem in der gegen‐
wärtigen Zeit keine Hoffnung gäbe, zu einem eigenen Haus zu kommen. Außerdem bestehe natürlich ein Riesenunterschied in der Lebensweise unserer altmodischen Familie und Sonokos leb‐ haften und umgänglichen Angehörigen. Und was übrigens mich beträfe, so hätte ich gar keine Lust, so früh schon die Verantwor‐ tung für eine Frau zu übernehmen... Alle diese verschiedenen Einwände gegen eine Heirat brachte ich mit einer möglichst unbe‐ teiligten Miene vor, wobei ich die Hoffnung hegte, daß meine Mutter mit mir einer Meinung sein und sich dem Gedanken einer Heirat hartnäckig entgegensetzen würde. Doch sie war so ruhig und nachsichtig wie immer. «Das ist eine seltsame Art zu reden», unterbrach sie mich, als messe sie dem Ganzen wenig Bedeutung bei. «Wie denkst du denn nun in Wirklichkeit darüber? Liebst du sie, oder liebst du sie nicht?» «Natürlich liebe ich sie auch ein wenig», murmelte ich. «Aber ich meinte es doch nicht so ernst. Es war eigentlich halb ein Scherz, verstehst du? Aber dann machte sie daraus Ernst und trieb mich in die Enge.» «Na, dann sehe ich weiter keine Schwierigkeiten. Je eher du den Leuten reinen Wein einschenkst, desto besser. Schließlich will dein Freund ja nur wissen, wie du über die Sache denkst. Das Beste ist, du schreibst ihm ganz offen deine Meinung. So, ich gehe jetzt wie‐ der hinaus. Alles ist doch in Ordnung sonst, oder?» «Hm», machte ich und seufzte leise. Meine Mutter ging bis zum Bambustor, vor dem die Maiskolben wuchsen. Plötzlich machte sie kehrt und kam nervös zum Fenster zurückgelaufen, wo ich stand. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich jetzt verändert. «Hör mal – also wir sprachen doch eben –» Sie blickte mich so merkwürdig an, als wäre sie eine fremde Frau, die mich zum erstenmal sieht. «‐ über Sonoko. Du – sie – wenn ihr – also, ich meine...» 183
Ich begriff, was sie sagen wollte. Ich lachte und sagte: «Sei nicht närrisch, Mutter.» Ich glaubte, niemals in meinem Leben so bitter gelacht zu haben. «Meinst du wirklich, ich hätte so etwas getan? Traust du mir so wenig?» «Doch. Aber ich wollte mich nur vergewissern.» Sie sah wieder fröhlich aus und verbarg ihre Verlegenheit. «Dazu sind eben Müt‐ ter nun einmal da – um sich wegen solcher Dinge Gedanken zu machen. Sorge dich nicht mehr. Ich vertraue dir...» An diesem Abend schrieb ich einen Brief, in dem ich die Heirat indirekt ablehnte. Der Brief kam selbst mir gekünstelt vor. Ich schrieb, das Ganze habe sich doch zu schnell entwickelt, und ich sei mir einfach noch nicht so klar über meine Gefühle. Am nächsten Morgen ging ich auf dem Rückweg zur Werft vor‐ her zum Postamt, um den Brief aufzugeben. Die Beamtin am Ein‐ schreibeschalter blickte argwöhnisch auf meine zitternden Hände. Ich starrte auf den Brief, als sie ihn in ihre rauhen, schmutzigen Hände nahm und schnell stempelte. Ich fand einen gewissen Trost darin, daß mein Unglück in einer so gewandten und geschäfts‐ mäßigen Weise behandelt wurde. Die feindlichen Flugzeuge hatten ihre Ziele gewechselt und grif‐ fen jetzt kleinere Städte und Ortschaften an. Fast hatte es den An‐ schein, als wäre das Leben im Augenblick ohne Gefahren. Unter den Studenten war es Mode geworden, sich für die Kapitulation auszusprechen. Einer unserer jungen Hilfsprofessoren machte Vor‐ schläge über einen Friedensvertrag und versuchte, die Studenten für sich zu gewinnen. Wenn er die skeptischen Ansichten äußerte und ich dabei auf seine Stupsnase sah, dachte ich: ‹Versuche nur nicht, auch mich zum besten zu halten.› Auf der anderen Seite verachtete ich die Fanatiker, die noch immer an einen Sieg glaub‐ ten. Mir war es vollkommen gleich, ob der Krieg gewonnen oder verloren wurde. Ich wollte einzig und allein ein neues Leben be‐ ginnen...
Beim Besuch im Vorstadthaus bekam ich plötzlich hohes Fieber, dessen Ursache unbekannt war. Als ich zur Decke emporstarrte, die sich zu drehen schien, murmelte ich unausgesetzt Sonokos Namen wie den einer Heiligen. Und als ich endlich aufstehen konnte, hörte ich die Nachrichten über die Zerstörung Hiroshimas. Es war unsere letzte Chance. Die Leute sagten, daß jetzt Tokio an der Reihe wäre. Ich ging in einem weißen Hemd und in Shorts durch die Straßen. Die Bevölkerung war nach der anfänglichen Verzweiflung stoisch geworden, die Menschen gingen nun mit gleichgültigen Gesichtern ihren täglichen Geschäften nach. Über Nacht geschah nichts, und überall war eine freudige Erregung zu spüren. Es war gerade so, als bliese man einen schon fast bersten‐ den Luftballon immer weiter auf und fragte sich: ‹Wird er jetzt platzen? Wird er jetzt nicht bald platzen?› Und dennoch geschah über Nacht gar nichts. Dieser Zustand hielt fast zehn Tage an. Wenn er nur noch ein wenig länger gedauert hätte, wäre einem nichts anderes übriggeblieben, als verrückt zu werden. Dann geschah es, daß eines Tages einige Maschinen ihren Weg durch das Flakfeuer hindurchfanden und Propaganda‐Flugzettel vom sommerlichen Himmel herabregnen ließen. Die Flugblätter enthielten die Kapitulationsvorschläge. An diesem Abend kam mein Vater direkt vom Büro in das Vorstadthaus. Er ging durch den Garten, nahm auf der Veranda Platz und begann sofort zu reden. «Hör zu», sagte er, «diese Propaganda beruht auf Wahrheit.» Er zeigte mir den englischen Originaltext, den er von einer ‹zuverläs‐ sigen Quelle› bekommen hatte. Ich nahm das Flugblatt zur Hand, doch noch ehe ich Zeit hatte, es zu lesen, erkannte ich die einschneidende Bedeutung dieser Neuigkeit. Es enthielt für mich nicht lediglich die Nachricht der Niederlage. Es kündete mir vielmehr – und zwar mir allein –, daß jetzt fürchterliche Zeiten begannen. Es bedeutete, daß ich trotz allem, was mich zu dem trügerischen Glauben gebracht hatte, solch einen Tag niemals zu erleben, schon am nächsten Tage mit 185
diesem alltäglichen Lebern eines Mitgliedes der menschlichen Ge‐ sellschaft würde beginnen müssen. Diese Worte allein machten mich zittern.
Viertes Kapitel Im Gegensatz zu meinen Erwartungen gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, daß das alltägliche Leben, das ich so fürchtete, begönne. Im Gegenteil hatte ich mehr das Gefühl, als ob sich das gesamte Land in einer Art Bürgerkrieg befände, und die Menschen schienen sich weniger Gedanken um das Morgen zu machen als in Kriegszeiten. Der Schulkamerad, der mir seine Universitätsuniform geliehen hatte, wurde aus dem Heer entlassen, und ich gab ihm seine Uni‐ form zurück. Danach hatte ich eine Zeitlang die Illusion, mit der Uniform auch von meinen Erinnerungen befreit zu sein, von meinen Erinnerungen an die Vergangenheit. Meine Schwester starb. Als ich entdeckte, daß ich Tränen ver‐ gießen konnte, erlangte ich eine Art von oberflächlichem Seelen‐ frieden. Sonoko feierte in aller Form ihre Verlobung und kurz nach dem Tode meiner Schwester die Hochzeit. Ist es richtig, wenn ich sage, daß ich auf dieses Ereignis reagierte, als wäre eine Last von meinen Schultern genommen worden? Ich log mir vor, ich wäre entzückt, ich brüstete mich vor mir selber, das alles sei nur zu natürlich, da ich es ja selber gewesen war, der die Trennung verursacht hatte und nicht sie. Beharrlich hatte ich seit langem alles, was das Schicksal mich zu tun zwang, als Sieg meines Willens und meiner Intelligenz angese‐ hen, und nun war mittlerweile diese Gewohnheit zu einer an Ver‐ rücktheit grenzenden Arroganz geworden. Im Wesen dessen, was ich meine Intelligenz nannte, gab es ein Element des Illegitimen, gab es die Andeutung eines leicht größenwahnsinnigen Angebers, der durch die Laune eines Zufalls auf den Thron gekommen war. 187
Und dieser Tölpel von Usurpator konnte nicht vorausahnen, daß sich sein stupider Despotismus eines Tages rächen würde. Das nächste Jahr verbrachte ich mit vagen und optimistischen Hoffnungen. Ich betrieb mein Jurastudium sporadisch und ging wie ein Automat von der Universität nach Hause und von daheim zur Universität... Ich kümmerte mich um nichts anderes und trug ein Lächeln der Weltweisheit zur Schau wie ein junger Priester. Mir war zumute, als wäre ich weder lebendig noch tot. Es schien, als sei mein früherer Wunsch nach einem natürlichen und sponta‐ nen Selbstmord, wie er im Kriege möglich gewesen wäre, gänzlich verschwunden und vergessen. Wirkliches Leid kommt nach und nach. Es ist genau wie bei der Tuberkulose, bei der sich das Übel erst zu einem kritischen Stadium entwickeln muß, ehe der Patient die Symptome erkennt. Eines Tages trat ich in einen Buchladen, in dem jetzt wieder langsam neue Bücher zu sehen waren. Mir geriet zufällig eine Bro‐ schüre in die Hand, die Übersetzung einer Sammlung von Essays aus dem Französischen. Ich schlug das Buch aufs Geratewohl auf; eine Zeile sprang mir in die Augen. Mit einem Gefühl von Unbe‐ hagen klappte ich das Buch zu und stellte es in das Regal zurück. Am nächsten Morgen zwang mich etwas, wieder in denselben Buchladen einzutreten, der in der Nähe des Haupteingangs der Universität lag. Ich kaufte das Buch, das ich tags zuvor in der Hand gehalten hatte. In der Vorlesung über Zivilrecht nahm ich das Buch heimlich aus meiner Mappe und legte es neben mein aufgeschlagenes Kollegheft. Ich suchte die bestimmte Zeile. Und jetzt verursachte sie mir ein noch stärkeres Unbehagen als gestern: ... der Maßstab für die Macht einer Frau ist das Ausmaß des Leidens, mit dem sie ihren Liebhaber strafen kann... Ich hatte auf der Universität einen Freund, zu dem ich Vertrauen hatte. Seiner Familie gehörte eine bekannte Konditorei. Auf den ersten Blick schien er ein fleißiger, aber langweiliger Mensch zu sein. Der zynische Ton, den er sich seiner Umgebung gegenüber
angewöhnt hatte, und seine Schwächlichkeit, die der meinen ähnelte, hatten ihn mir sympathisch gemacht. Während jedoch mein Zynismus von dem Wunsch herrührte, Eindruck zu machen und Selbstschutz war, schien er bei ihm in einem stärkeren Selbst‐ vertrauen zu wurzeln. Ich wußte nicht, woher er sein Selbstver‐ trau‐en hatte. Nach einiger Zeit schien er zu ahnen, daß ich noch keusch war und bekannte mir mit einer Mischung von Überlegen‐ heit und Selbstverachtung, daß er schon in einem Bordell gewesen war. Er wollte meine Ansichten über das Thema wissen. «... wenn du also Lust hast, gelegentlich mal mitzukommen, dann brauchst du mich nur anzurufen. Ich nehme dich jederzeit mit.» «Hm. Na schön. Also wenn ich mal Lust habe... Vielleicht... ich werde dir bald Bescheid geben», antwortete ich. Er schien beschämt und zugleich zu triumphieren. Sein Gesichts‐ ausdruck spiegelte mein eigenes Gefühl der Scham wider. Es war so, als ob er in diesem Moment meine augenblickliche Seelenver‐ fassung verstehe, weil sie ihn an die Zeit erinnerte, da er selber genau in der gleichen Verfassung gewesen war. Ich war plötzlich völlig erschöpft. Es war dieses ruhelose Gefühl, das sich bereits in mir festgesetzt hatte, daß ich jene Emotionen, die ich mir zu‐ schrieb, auch wirklich haben wollte. Prüderie ist eine Form des Egoismus, ein Mittel, um sich gegen die Stärke seiner eigenen Begierden zu schützen. Doch meine wahren Begierden waren so versteckt, daß sie nicht einmal diese Form der Selbstsucht ermöglichten. Und zur gleichen Zeit gestatte‐ ten mir alle vorgestellten Begierden – hiermit meine ich die simple und völlig abstrakte Neugier, die Frauen bei mir auslösten – eine derart kühle Freiheit, daß für diesen Egoismus in meinen Begier‐ den nahezu kein Platz blieb. Neugier ist keine Tugend. Tatsächlich ist sie vielleicht sogar die unmoralischste Begierde, die ein Mensch haben kann.
189
Ich gab mich einem rührenden heimlichen Training hin. Es be‐ stand darin, daß ich meine Begierden auf ihre Normalität hin testete, indem ich reglos Bilder von nackten Frauen anstarrte... Wie sich leicht denken läßt, antwortete meine Begierde hierauf weder mit Ja noch mit Nein. Indem ich meiner schlechten Gewohnheit frönte, versuchte ich meine Begierden einer gewissen Schulung zu unterwerfen, wobei ich anfangs meine gewohnten Vorstellungen dabei ausschaltete. Später zwang ich mich dazu, vor meinem geistigen Auge Bilder von Frauen in den obszönsten Stellungen wachzurufen. Zuweilen schien es, als wären meine Anstrengungen erfolgreich. Doch der Erfolg war nur vorgetäuscht, und meine Seele wurde langsam zu Pulver zermahlen. Schließlich erkannte ich: Es gab nur ‹biegen oder brechen›. Ich rief meinen Freund an und bat ihn, sich mit mir am Sonntag‐ nachmittag um fünf Uhr in einem bestimmten Teehaus zu treffen. Dies war Mitte Januar, zwei Jahre nach Kriegsende. «Also hast du dich endlich entschlossen?» Ich hörte ihn fröhlich durch das Telefon lachen. «Also gut, ich komme. Höre – ich kom‐ me ganz bestimmt. Ich würde es dir nie verzeihen, wenn du nicht kommst.» Nachdem ich aufgehängt hatte, klang mir sein Lachen noch in den Ohren. Mir wurde bewußt, daß ich auf sein Lachen nur mit einem gezwungenen, kaum wahrnehmbaren Lächeln reagiert hat‐ te. Und dennoch fühlte ich so etwas wie einen Hoffnungsschimmer oder, richtiger gesagt, eine abergläubische Hoffnung. Es war ein gefährlicher Aberglaube. Nur aus Eitelkeit stürzen die Menschen sich in Gefahren. In meinem Falle war es die banale Eitelkeit, im Alter von zweiundzwanzig Jahren nicht mehr als keusch gelten zu wollen. Dabei fällt mir ein, daß es an meinem Geburtstag war, als ich mich so für den Test stählte...
Wir starrten uns gegenseitig an, als wollte jeder versuchen, des anderen Gedanken zu lesen. Diesmal war auch mein Freund der gleichen Überzeugung wie ich, daß sowohl ein ernstes Gesicht als auch ein breites Grinsen gleichermaßen absurd wirkten, und zog heftig an der Zigarette. Nachdem wir uns begrüßt hatten, schimpf‐ te er auf den schlechten Kuchen des Teehauses. Ich hörte kaum zu und unterbrach seine Bemerkungen: «Ich möchte gern wissen, ob du ebenfalls entschlossen bist. Und ich frage mich, ob der, der einen zum erstenmal zu diesem Ort mitnimmt, zum lebensläng‐ lichen Freund oder zum lebenslänglichen Feind wird.» «Mach mir keine Angst. Du weißt, was für ein Feigling ich bin. Ich wüßte nicht einmal, wie ich die Rolle des lebenslänglichen Feindes zu spielen hätte.» «Es ist noch ein Glück, daß du dich zumindest soweit kennst.» Ich sprach absichtlich herablassend, um ihm zu zeigen, was ich für ein Teufelskerl war. «Also gut», sagte er und machte jetzt auf einmal ein so ernstes Gesicht wie der Vorsitzende eines Komitees. «Wir müssen vorher irgendwo etwas trinken. Es ist von einem Anfänger zuviel ver‐ langt, wenn er dabei nüchtern ist.» «Nein, ich möchte vorher nichts trinken.» Ich fühlte, wie ich blaß wurde. «Ich will keinen einzigen Schluck vorher trinken. Ich habe auch so genug Courage.» Rasch folgte aufeinander: eine Fahrt in einer schlecht beleuchte‐ ten Straßenbahn, in einem ebenso düsteren Hochbahnzug, eine unbekannte Station, eine unbekannte Straße, eine Straßenecke mit schäbigen Häusern links und rechts, unter den roten Laternen vor den Eingängen die aufgedunsenen Gesichter der Frauen. Die ‹Kun‐ den› gingen die schmutzige, feuchte Gasse entlang, begegneten sich schweigend; ihre Schritte waren so leise, als gingen sie alle barfuß. Ich fühlte nicht die kleinste Begierde. Es war lediglich mein Gefühl der Unruhe, das mich vorwärts trieb, genauso als wäre ich ein Kind, dem man Naschereien versprochen hat. 191
«Gleichgültig, was für ein Haus es ist», sagte ich, «es kommt gar nicht darauf an.» Mir war zumute, als wolle ich jeden Augenblick umkehren und fliehen, fort von diesem unnatürlich heiseren Flü‐ stern der Frauen: «Warte einen Augenblick, Liebling – nur einen Augenblick, Liebling...» «Die Mädchen in diesem Hause sind gefährlich... Gefällt dir die da? Gott, was für ein Gesicht! Dieses Haus dort ist einigermaßen ungefährlich.» «Auf das Gesicht kommt es nicht an», sagte ich. «Na gut, also, ich nehme die Hübsche dort. Aber mach mir das später nicht zum Vorwurf.» Die beiden Frauen sprangen auf wie vom Teufel besessen, als wir auf sie zugingen. Wir traten ins Haus, das so klein war, daß wir mit den Köpfen fast gegen die Decke stießen. Die Spindeldürre mit dem bäurischen Akzent lächelte mir zu, so daß ich ihre golde‐ nen Zähne sehen konnte, und führte mich in einen winzigen Raum, in dem drei Matten lagen. Aus einem Pflichtgefühl heraus umarmte ich sie und versuchte sie zu küssen. Sie schüttelte sich vor Lachen. «Nein, das nicht! Ha‐ha‐ha! Der Lippenstift färbt ab. Nein, so wird das gemacht –» Die Prostituierte öffnete ihren großen Mund, die Goldzähne wurden jetzt von den roten Lippen eingerahmt und sie streckte ihre Zunge wie einen Stock heraus. Ich folgte ihrem Beispiel. Unse‐ re Zungenspitzen berührten sich... Vielleicht wird man mich nicht verstehen, wenn ich sage, daß es eine Taubheit gibt, die heftigem Schmerz gleichkommt. Ich fühlte, wie mein ganzer Körper von einem solchen Schmerz gelähmt wurde, ein Schmerz, der mich ganz und gar erfaßte und den ich dennoch nicht fühlte. Ich ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken. Zehn Minuten später bestand kein Zweifel mehr über meine Impotenz. Mir zitterten vor Scham die Knie.
Ich nahm an, daß mein Freund keine Ahnung hatte, was gesche‐ hen war, und überraschenderweise überließ ich mich in den nächsten Tagen dem traurigen Gefühl der Genesung. Ich war wie jemand, der an einer unbekannten Krankheit gelitten und sich in Qualen der Angst gewunden hatte. Wenn er schließlich den Namen der Krankheit erfährt, so hat er, selbst wenn er weiß, daß sie unheilbar ist, seltsamerweise ein vorübergehendes Gefühl der Erleichterung. Zwar weiß er sehr gut, daß diese Erleichterung nur vorübergehend ist; doch im innersten Winkel seiner Seele sieht er Hoffnungslosigkeit voraus, der er nicht entgehen kann, die ihm aber ein länger andauerndes Gefühl der Erleichterung verschaffen wird. Ich war nun ebenfalls dahin gekommen, einen Schlag zu erwarten, den man nicht parieren konnte, oder, um es anders aus‐ zudrücken: Ich wartete auf ein unentrinnbares Gefühl der Erleich‐ terung. In den nächsten Wochen traf ich meinen Freund sehr oft auf der Universität, doch keiner von uns beiden kam jemals auf den Vor‐ fall zu sprechen. Ungefähr einen Monat später besuchte er mich eines Abends und brachte einen Freund mit, den ich auch kannte. T. war ein großer Weiberheld. Er war sehr eitel und brüstete sich damit, sich jedes Mädchen in einer Viertelstunde gefügig machen zu können. Im Handumdrehen drehte sich unser Gespräch um das unvermeidliche Thema. «Ohne das kann ich nicht mehr leben – ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen», sagte T. und sah mich dabei forschend an. «Wenn irgendeiner meiner Freunde impotent wäre, würde ich ihn tatsächlich beneiden. Ja, mehr als das, ich würde mich vor ihm verneigen.» Mein Freund bemerkte, daß ich die Farbe gewechselt hatte, und er brachte die Unterhaltung auf ein anderes Thema. Er wandte sich an T.: «Du hast doch versprochen, mir das Buch von Marcel Proust zu leihen, erinnerst du dich? Ist es interessant?» 193
«Und ob es interessant ist! Proust war ein Sodomit» – er gebrauch‐ te das Fremdwort. «Er trieb es mit den Lakaien.» «Was ist ein Sodomit?» fragte ich. Mir war klar, daß ich nur ver‐ zweifelt in die Luft hieb, wenn ich Ignoranz vortäuschte, doch ich klammerte mich an meine Frage, um herauszufinden, was sie dachten. Ich wollte wissen, ob sie nichts von meiner Schande wußten. «Ein Sodomit ist ein Sodomit. Wußtest du das nicht? Es ist ein dan‐shokuka.» «Oh... aber ich habe nie gehört, daß auch Proust einer war.» Ich spürte, wie meine Stimme bebte. Eine betroffene Miene wäre den Freunden ein glatter Beweis gewesen. Ich schämte mich, daß ich mich so schandbar verstellen konnte. Es war ganz offensicht‐ lich, daß mein Freund mein Geheimnis bereits ahnte. Irgendwie schien er zu vermeiden, mir ins Gesicht zu sehen. Meine verwünschten Besucher verließen mich endlich um elf Uhr, und ich schloß mich zu einer schlaflosen Nacht in meinem Zimmer ein. Ich schluchzte und weinte so lange, bis mich schließ‐ lich jene blutrünstigen Visionen trösteten. Und abermals überließ ich mich diesen beklagenswerten wilden Phantasien, die meine eigentlichen Freunde waren. Ablenkung war nötig. Häufig erschien ich jetzt auf Zusammen‐ künften, die im Hause eines alten Schulfreundes stattfanden, und von denen ich wußte, daß sie nur die Erinnerung an müßige Unterhaltungen und keinen bitteren Nachgeschmack in mir hinter‐ ließen. Ich ging deshalb dorthin, weil die Besucher, die den gehobenen Gesellschaftsschichten angehörten, anders als meine Studienkollegen, überraschend liebenswürdig und umgänglich waren. Zu ihnen gehörten einige aufgeschlossene junge Damen, eine berühmte Sopranistin, eine angehende Pianistin und verschie‐ dene junge Frauen, die erst kürzlich geheiratet hatten. Man tanzte, trank ein wenig und spielte alberne Gesellschaftsspiele, dabei eine
leicht erotische Variante des Haschens. Manchmal dauerten diese Gesellschaften bis zum Morgengrauen. In den frühen Morgenstunden geschah es oft, daß wir beim Tan‐ zen einschliefen. Um uns wach zu halten, spielten wir ein Spiel. Wir verstreuten die Kissen über den Fußboden und tanzten im Kreis um sie herum, bis plötzlich der Plattenspieler ausgeschaltet wurde. Auf dieses Zeichen mußte sich jedes Paar sofort auf ein Kissen am Boden setzen, und wer keinen Platz fand, mußte irgend‐ ein Kunststück zum besten geben. Große Aufregung verursachte es regelmäßig, wenn sich die Tänzer eilig auf die Kissen warfen. Im Verlaufe des Spieles, das sehr oft wiederholt wurde, schienen schließlich sogar die Frauen sich nicht mehr um ihr zerzaustes Äußere zu kümmern. Einmal bemerkte ich, wie das hübscheste der Mädchen – viel‐ leicht war es etwas beschwipst – aufgeregt kicherte, und wie sich ihr Rock, als sie sich in dem Durcheinander auf ein Kissen fallen ließ, über die Schenkel schob. Die Haut ihrer Schenkel schimmerte weiß. Bis vor kurzem hätte ich wahrscheinlich das Benehmen anderer junger Männer nachgeahmt, die in einer solchen Situation vor ihrer eigenen Begierde zurückschrecken – und hätte alle meine Kraft zusammengenommen, um die Rolle zu spielen, die ich keinen Moment vergaß –, und sofort meine Augen abgewandt. Doch von diesem Tag an hatte ich mich verwandelt. Ohne das geringste Schamgefühl – und das heißt, ohne die geringste Scham über meine angeborene Schamlosigkeit – starrte ich so ruhig auf die weißen Schenkel, als hätte ich ein Stück leb‐ loser Materie vor mir. Plötzlich durchfuhr mich der schneidende Schmerz, den man empfindet, wenn man zu lange auf etwas starrt. Er brachte mir zum Bewußtsein: du bist kein Mensch. Du bist ein Wesen, das unfähig für jede Art gesellschaftlichen Verkehrs ist. Du bist nur eine Kreatur, etwas nicht Menschliches und irgendwie seltsam ergreifend. 195
Glücklicherweise mußte ich mich um diese Zeit auf das Examen für den Zivildienst vorbereiten und all meine Energie auf diese trockensten aller Studien konzentrieren. Dadurch konnte ich automatisch alles, physisch wie geistig, das mich quälte, in einer gehörigen Distanz halten. Doch war diese Art der Ablenkung nur kurze Zeit wirksam, und nur im Anfang. Das Gefühl der Niederlage, die jene Nacht in mir hervorgerufen hatte, kehrte nach und nach wieder zurück und füllte jeden Winkel meines Bewußtseins aus. Ich wurde deprimiert. Lange Tage war ich unfähig, irgend etwas zu tun. Die Notwendigkeit, mir selber zu beweisen, daß ich dennoch potent war, schien jetzt von Tag zu Tag dringlicher zu werden. Ich konnte ohne einen solchen Beweis ein‐ fach nicht mehr länger leben. Trotzdem fand ich nirgends eine Gelegenheit, um die mir innewohnende Perversität auszupro‐ bieren. Es gab in meiner Umgebung keine Möglichkeit, meine anormalen Begierden zu befriedigen, nicht einmal in ihrer harm‐ losesten Form. Als der Frühling kam, hatte sich hinter meiner Fassade des Gleichmuts eine rasende Nervosität angesammelt. Es war, als ob mir die Jahreszeit selber grollte und ihre Feindseligkeit in den staubgeladenen Winden zum Ausdruck brachte. Immer wenn ein Auto mich fast streifte, schimpfte ich im Geiste hinter ihm her: ‹Verflucht noch mal, weshalb hast du mich nicht überfahren!› Ich war froh über das strenge Studium und das spartanische Leben, das ich mir auferlegt hatte. Selten unterbrach ich die Arbeit für einen kurzen Spaziergang, und oft bemerkte ich dabei, daß die Menschen prüfend meine blutunterlaufenen Augen betrachteten. Selbst wenn ein Beobachter denken müßte, daß ich ein überaus fleißiger Student sei, so lernte ich in Wirklichkeit nur die zermür‐ bende Erschöpfung ausschweifender Phantasien, verdammter Faulheit und ein Leben kennen, für das es keinen Morgen gab. Doch eines Nachmittags zu Beginn des Sommers fuhr ich in der Straßenbahn und fühlte plötzlich mein Herz wie rasend klopfen.
Als ich zwischen den im Mittelgang stehenden Fahrgästen hin‐ durchblickte, sah ich am anderen Ende des Wagens Sonoko sitzen. Unter den kindlichen Brauen sah ich ihre Augen, die so offen und ehrlich dreinblickten und aus denen eine unbeschreibliche Güte leuchtete. Ich wollte gerade aufstehen, da ließ einer der Fahrgäste den Haltegriff los und schob sich zum Ausgang. Jetzt konnte ich das Gesicht des Mädchens klar und deutlich sehen – es war nicht Sonoko. Noch immer hämmerte mein Herz. Ich konnte mir einfach erklä‐ ren, daß dieses Herzklopfen auf Überraschung oder Schuldbe‐ wußtsein zurückzuführen war, aber eine solche Erklärung konnte das reine Gefühl nicht zerstören, das ich in diesem Augenblick gespürt hatte. Ich wurde sofort an das erinnert, was ich empfand, als ich Sonoko am Morgen des 9. März die Bahnhofstreppe hatte hinabgehen sehen. Es war heute genau das gleiche. Auch der Schmerz, der damals mein Herz durchbohrt hatte, war heute genau der gleiche. Dieser kleine Vorfall wurde mir unvergeßlich, er verursachte während der nächsten Tage einen wilden Aufruhr in meinem Innern. Es konnte ganz sicherlich nicht wahr sein, daß ich Sonoko noch immer liebte, ganz gewiß war ich unfähig, eine Frau zu lie‐ ben. Diese Überzeugungen waren meine einzigen treuen Gefolgs‐ leute gewesen, deren Loyalität ich mich absolut sicher wähnte, doch jetzt nahmen sogar auch sie an der allgemeinen Meuterei gegen mich teil. So erlangten die alten Erinnerungen wieder Macht über mich, es war ein regelrechter coup dʹétat: Banale Dinge, die ich vor zwei Jahren hätte vergessen sollen, wurden jetzt auf einmal seltsam mächtig und wurden vor meinen Augen erneut zum Leben er‐ weckt – wie ein uneheliches Kind, das man vergessen hat und das plötzlich als Erwachsener auftaucht. Diese Erinnerungen waren nun keineswegs mit ‹zarten Empfindungen› verbunden, wie ich sie damals bei verschiedenen Gelegenheiten erfunden hatte, noch konnte ich wie einst geschäftig über sie verfügen; sie erfüllten mich 197
vielmehr mit Schmerz. Hätte ich so etwas wie Reue verspürt, dann wäre der ausgetretene Weg, den zahllose Menschen vor mir einge‐ schlagen haben, eine Möglichkeit gewesen, ihn zu ertragen. Doch mein Schmerz war eine seltsam scharfe Qual, keine vage Reue. Es war, als wäre ich gezwungen, von einem Fenster aus auf die Straße im gleißenden Sommersonnenlicht hinabzublicken, das die eine Hälfte der Straße blendendhell macht und über die andere tiefen Schatten wirft. An einem wolkigen Nachmittag während der Regenzeit hatte ich zufällig etwas in Azabu zu erledigen. Dies ist ein Stadtviertel Tokios, in dem ich selten gewesen war. Plötzlich rief hinter mir jemand meinen Namen. Es war Sonoko. Als ich mich umblickte und sie erkannte, war ich nicht so überrascht wie damals in der Straßenbahn, als ich ein anderes Mädchen mit ihr verwechselt hatte. Mir erschien es vollkommen natürlich, daß ich sie zufällig traf. Es war, als hätte ich diesen Augenblick schon vor langer Zeit einmal erlebt. Sie trug ein schlichtes Kleid mit einem Blumenmuster wie das einer eleganten Tapete und als einzigen Schmuck am Hals den Spitzenkragen. Nichts an ihr ließ darauf schließen, daß sie eine verheiratete Frau war. Sie hatte wahrscheinlich die Lebensmittelrationen eingekauft, denn sie trug einen Eimer und hinter ihr ging eine alte Dienerin, die den zweiten Eimer trug. Sie schickte die Frau nach Hause und ging neben mir her. «Du bist ein wenig mager geworden, nicht wahr?» «Ja, daran sind die Examensvorbereitungen schuld.» «So? Achte aber ein wenig auf deine Gesundheit.» Daraufhin schwiegen wir eine Zeitlang. Schwaches Sonnenlicht breitete sich jetzt über die stille Straße aus, die den Bombenangrif‐ fen entgangen war. Eine Ente kam aus einer Küchentür heraus und
watschelte laut quakend vor uns im Rinnstein entlang. Ich war glücklich. «Was liest du jetzt?» fragte ich. «Meinst du Romane? Ich habe letztlich Tanizaki gelesen und –» Ich unterbrach sie. «Hast du nicht ‹Insel der Puppen› gelesen?» fragte ich und nannte einen Roman, der damals in Mode war. «Der, in dem die nackte Frau vorkommt!» sagte sie. «Wie?» sagte ich überrascht. «Es ist abstoßend, ich meine das Bild auf dem Schutzumschlag.» Vor zwei Jahren noch wäre sie niemals fähig gewesen, einem ins Gesicht zu sehen und ‹nackte Frau› zu sagen. Die bloße Tatsache, daß sie diese Worte gebraucht hatte, so alltäglich sie auch an sich waren, brachte mir die schmerzliche Klarheit, daß Sonoko nicht mehr das unschuldige Mädchen von damals war. An einer Ecke blieb sie stehen und sagte: «Hier müssen wir uns verabschieden. Mein Haus liegt am Ende der Straße.» Schmerz durchfuhr mich bei dem Gedanken, mich von ihr tren‐ nen zu müssen. Ich blickte zu Boden, dann auf den Eimer, den sie in der Hand trug. Er war mit Konnyaku gefüllt, einer bräunlich schimmernden, gelatineartigen Masse, die im Sonnenlicht glänzte und wie die von der Meeressonne gebräunte Haut einer Frau aus‐ sah. «Konnyaku verdirbt, wenn du es zu lange der Sonne aussetzt», meinte ich. «Ja, das stimmt», antwortete Sonoko und fügte scherzend hinzu: «Es ist eine große Verantwortung.» «Also, auf Wiedersehen.» «Ja – und viel Glück.» Sie schickte sich an, fortzugehen. Ich rief sie zurück und fragte sie, ob sie manchmal ihre Familie besuche. Sie erwiderte leichthin, sie wäre zufällig am kommenden Samstag dort.
199
Dann trennten wir uns endgültig, und zum erstenmal fiel mir etwas Wichtiges auf – es schien mir heute, als ob sie mir verziehen hätte. Weshalb hatte sie mir verziehen? Konnte es eine größere Beleidigung als solche Großmut geben? Doch vielleicht, sagte ich mir, würde mein Schmerz geheilt, wenn sie mich nur noch einmal richtig kränkte. Die Zeit bis zum Samstag verging langsam. Kusano hörte Vorle‐ sungen an der Universität in Kioto, doch zufällig war er zu Hause auf Besuch. Am Samstagnachmittag ging ich zu ihm, um ihn zu begrüßen. Während wir uns unterhielten, hörte ich etwas, das mich meinen Ohren nicht trauen ließ. Es war der Ton eines Klaviers. Das Kla‐ vierspiel klang nun nicht mehr unbeholfen wie damals, sondern ganz ausgebildet, voller Klangschönheit, die frei dahinzufließen schien, funkelnd und reich. «Wer spielt?» fragte ich. «Sonoko. Sie ist heute hier zu Besuch», antwortete Kusano, der nichts ahnte. Mit einem einzigen Schlag kamen schmerzend alle die alten Erinnerungen zurück, eine nach der anderen. Mich deprimierte die Tatsache, daß Kusano aus Gutmütigkeit nie ein Wort mit mir über meine indirekte Absage an Sonoko gewechselt hatte. Ich wollte einen Beweis dafür haben, daß sie damals zumindest leicht verletzt gewesen war. Ich hätte gern gewußt, ob sie ebenso unglücklich gewesen war wie ich. Doch wieder einmal war die ‹Zeit› dazwischengetreten und hatte sich wie wuchernder Seetang zwischen Kusano, Sonoko und mich geschoben, und jeder offene Ausdruck der Gefühle, ungefärbt von Stolz, Eitelkeit oder Voraussicht, war für uns unmöglich gewor‐ den. Das Klavierspiel brach ab. Kusano fragte mich, ob er seine Schwester hereinholen sollte. Er ging hinaus und kehrte kurz
danach mit ihr zurück. Wir lachten viel und klatschten über gemeinsame Bekannte im Außenministerium, wo Sonokos Gatte arbeitete. Kusano wurde von seiner Mutter gerufen, und er verließ uns. Sonoko und ich waren im selben Raum miteinander allein wie damals vor zwei Jahren. Sie erzählte mir mit nicht geringem kindlichem Stolz, wie es allein den Anstrengungen ihres Mannes zu verdanken gewesen wäre, daß das Haus nicht von der Besatzungsarmee beschlag‐ nahmt worden war. Von Anfang an hatte ich ihren kleinen Hang zur Prahlerei immer anziehend gefunden. Eine zu bescheidene Frau ist reizlos, genau wie eine zu hochmütige, doch um Sonokos ruhiges und zurückhaltendes Sich‐Brüsten war ein unschuldiger und liebenswerter fraulicher Zauber. «Ach, übrigens», sagte sie, immer noch ruhig, «da ist etwas, das ich dich schon so lange habe fragen wollen, doch bisher konnte ich es nicht. Ich habe nie begriffen, weshalb wir nicht geheiratet haben. Als ich damals die Antwort erhielt, die du meinem Bruder schriebst, begriff ich überhaupt nichts mehr. Tag für Tag habe ich darüber nachgedacht, und selbst jetzt noch kann ich nicht verste‐ hen, weshalb wir nicht geheiratet haben...» Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, es hatte den Anschein, als ob sie sich auf einmal ärgerte. Ich sah, wie ihre Wangen rot anliefen. Dann sprach sie weiter, als ob sie etwas laut vorläse. «War es, weil du mich nicht gern hattest?» Es klang geradezu wie eine geschäftliche Frage, und mein Herz schlug vor Freude schneller. Doch im Handumdrehen verwandelte sich diese Freude in Schmerz. Es war tatsächlich ein feiner Schmerz, in dem auch etwas von verletztem Stolz mitschwang, weil ich feststellte, daß die Erinnerung an die ‹banalen Dinge›, die zwei Jahre zurücklagen, mir solchen Schmerz verursachen konnte. Ich hatte mich damals von Sonoko befreien wollen. Doch es war heute ebenso unmöglich wie damals. 201
«Du kennst noch immer die Welt überhaupt nicht», sagte ich zu ihr. «Das ist eine deiner guten Eigenschaften, diese Unkenntnis all dessen, was in der Welt geschieht. Doch hör zu, auf dieser Welt können zwei Menschen, die sich lieben, nicht immer einfach heira‐ ten. Genau dies habe ich damals deinem Bruder geschrieben. Außerdem –» ich wußte, daß ich im Begriff stand, etwas Weibi‐ sches zu sagen und wollte schweigen, aber ich konnte es nicht, «außerdem habe ich in diesem Brief nicht gesagt, daß eine Heirat überhaupt nicht in Frage käme. Wie ich schrieb, lag es nur daran, daß ich noch nicht einundzwanzig und noch immer Student war, und das Ganze kam zu plötzlich. Und während ich noch zögerte, hast du dann in solcher Eile geheiratet.» «Nun, was mich betrifft, so habe ich keinen Grund, das zu be‐ dauern. Mein Mann liebt mich, und ich liebe ihn. Ich bin wirklich glücklich. Mehr kann ich nicht verlangen. Und dennoch, vielleicht ist es schlecht von mir, so zu denken, manchmal – ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücken kann – manchmal sehe ich mich in meiner Phantasie ein anderes Leben führen. Dann bin ich ganz verwirrt und fühle, ich bin im Begriff, etwas zu sagen, das ich nicht sagen darf. Ich fühle, ich bin im Begriff, etwas zu denken, was ich nicht denken darf. Und dann werde ich so aufgeregt, daß ich es nicht ertragen kann. Mein Mann ist mir in solchen Zeiten eine große Hilfe. Er ist sehr sanft zu mir, fast wie zu einem Kind.» «Es mag vielleicht eingebildet klingen, doch soll ich dir sagen, was ich denke? In diesen Augenblicken haßt du mich. Du haßt mich leidenschaftlich.» Sie kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Haß. Sie tat, als schmolle sie und sagte leise und ernst: «Du kannst denken, was du willst.» «Könnten wir uns nicht noch einmal treffen, wir beide allein?» Ganz plötzlich hatte ich einen bittenden Ton angenommen, als triebe mich etwas voran. «Es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich dich anschauen dürfte. Ich habe nicht mehr das Recht, dich um etwas zu bitten.
Selbst wenn du dabei kein Wort sprichst, ist mir das gleich. Selbst nur zehn Minuten würden mir genügen.» «Doch was hätte unser Treffen für einen Sinn? Und wenn wir uns einmal träfen, würdest du nicht bestimmt sagen, wir wollen uns wieder treffen? Meine Schwiegermutter zu Hause ist streng, und immer wenn ich fortgehe, fragt sie, wo ich hingehe und wann ich zurückkomme. Sich unter solchen Umständen zu treffen – doch wenn –» ihre Stimme zitterte ein wenig. «Aber es soll ja noch so etwas wie das menschliche Herz geben, und niemand weiß, warum es schlägt.» «Du hast recht. Aber du bist noch immer genauso ein Blau‐ strumpf wie früher, nicht wahr? Weshalb kannst du die Dinge nicht einfach an dich herankommen lassen?» (Was für Lügen ich von mir gab!) «Das ist alles ganz schön und gut für einen Mann. Doch nicht für eine verheiratete Frau. Du wirst das alles verstehen, wenn du selber eine Frau hast. Ich denke, man kann in solchen Dingen nicht vorsichtig genug sein.» «Jetzt sprichst du wie die ältere Schwester, die Ratschläge er‐ teilt...» Gerade in diesem Moment kehrte Kusano zurück, und wir bra‐ chen unsere Unterhaltung ab. Noch während wir uns unterhielten, wurde ich im stillen von nicht enden wollenden Zweifeln gepeinigt. Ich schwur zu Gott, daß mein Wunsch, Sonoko wiederzusehen, ehrlich war, obwohl ich natürlich nicht das geringste sexuelle Begehren dabei hatte. Doch welcher Art war dann überhaupt mein Wunsch, sie unbe‐ dingt wiedersehen zu wollen? Entsprang dieses Verlangen, das so ganz offensichtlich nicht sexueller Natur war, vielleicht nur wieder meinem Hang zum Selbstbetrug? Und vor allen Dingen, kann es so etwas wie Liebe ohne irgendwelche sexuelle Begierde überhaupt geben? Ist dies nicht eine klare und einleuchtende Absurdität? 203
Doch dann kam mir ein anderer Gedanke: Wenn wir dieser menschlichen Leidenschaft die Macht zugestehen, sich über jegli‐ che Absurdität erheben zu können, wie kann man dann bezwei‐ feln, daß sie nicht auch die Kraft hätte, sich über die Absurditäten der Leidenschaft selber zu erheben? Seit jener entscheidenden Nacht war ich so klug gewesen, jede Begegnung mit Frauen zu vermeiden. Ich hatte seit jener Nacht nicht die Lippen einer einzigen Frau berührt – noch weniger die eines Jünglings, so sehr sie auch meine Begierde weckten. Ja, ich hatte es nicht einmal dann getan, wenn ich mich in einer Situation befand, in der es gemein war, dies nicht zu tun... Der Beginn des Sommers bedrohte meine Einsamkeit noch stärker als der Früh‐ ling. Und der Hochsommer stachelte meine sexuellen Gelüste an. Sie verzehrten und peinigten mich. Um sie zu ertragen, blieb mir nicht anderes übrig, als wieder bei meiner schlechten Gewohnheit Zuflucht zu nehmen, manchmal bis zu fünfmal am Tag. Mein Wissen war inzwischen durch die Lektüre der Werke Mag‐ nus Hirschfelds bereichert worden, der die Inversion als einfaches biologisches Phänomen erklärt. Daher sagte ich mir, daß auch jene entscheidende Nacht eine ganz natürliche Folgeerscheinung dar‐ stellte und also kein Grund vorlag, daß ich mich schämte. Meine Sehnsucht nach dem Epheben, eine Sehnsucht, die sich nicht ein einziges Mal der Päderastie zuwandte, sondern immer in der Phantasie blieb, war in seinen Werken als eine Art Inversion definiert, die ebenso häufig ist wie Päderastie. Man sagt, daß die‐ selbe Neigung in Deutschland nicht ungewöhnlich sei. Das Tage‐ buch des Grafen von Platen bietet ein äußerst aufschlußreiches Beispiel. Bei Winckelmann war es dasselbe. Und wenn wir uns der italienischen Renaissance zuwenden, so wird klar, daß auch Michelangelo dieselben Neigungen wie ich hatte. Doch dies alles bedeutet nicht, daß mein Gefühlsleben durch das intellektuelle Verständnis dieser wissenschaftlichen Theorien in Ordnung gekommen wäre. In meinem besonderen Fall bestand die
Schwierigkeit einfach darin, daß sich die Inversion überhaupt nicht manifestieren konnte, weil bei mir der Hang über das bloße sexuelle Verlangen nicht hinausging und nur ein dunkler Trieb blieb. Selbst die durch einen attraktiven Epheben hervorgerufene Erregung war nichts als bloße sexuelle Begierde. Um eine ober‐ flächliche Erklärung zu geben: Meine Seele gehörte noch immer Sonoko. Um mich verständlicher zu machen, kann ich hier das mittelalterliche Bild vom Kampf zwischen Seele und Körper benut‐ zen, obwohl damit nicht gesagt sein soll, daß ich dieser Anschau‐ ung in Bausch und Bogen zustimme: In mir war eine einfache, klare Trennung zwischen Geist und Fleisch. Sonoko war für mich die Verkörperung meiner Liebe zum Normalen, meiner Sehnsucht nach der Welt des Geistes und nach dem Dauernden. Eine solche Erklärung ist aber zu simpel, um mit ihr dem Pro‐ blem wirklich beikommen zu können. Gefühle entziehen sich einer festen Einordnung. Statt dessen schweben sie wie winzige Partikel in der Atmosphäre frei im Raum umher, und ihr Hauptmerkmal ist die Unbeständigkeit. Es verging ein Jahr, ehe Sonoko und ich erwachten. Ich hatte das Abschlußexamen auf der Universität und die Prüfungen zum Ein‐ tritt in den Zivildienst bestanden und einen Verwaltungsposten in einem der Ministerien angenommen. In diesem Jahr gelang es uns, einander hin und wieder zu treffen, entweder durch Zufall, oder weil wir irgendeine belanglose Angelegenheit zum Vorwand nah‐ men. Doch dies geschah nur alle zwei oder drei Monate, und auch dann nur am Tage und kaum länger als eine Stunde. Bei diesen Begegnungen ereignete sich nicht das geringste zwischen uns, wir trafen uns und trennten uns wieder. Das war alles. Niemand hätte mein Verhalten kritisieren können. Sonoko und ich tauschten bei diesen Unterhaltungen belanglose Erinnerungen aus, oder wir machten uns ein wenig über unsere augenblickliche Situation lustig. Man konnte unsere Beziehung beim besten Willen nicht ein Liebesverhältnis nennen. Ja, man mußte sogar zögern, es über‐ 205
haupt ein Verhältnis zu nennen. Und wenn wir uns trafen, dann hatten wir beim Abschied stets den Wunsch, ein für allemal eine klare, saubere Trennung herbeizuführen. Ich war damit zufrieden. Nicht nur das, ich war sogar dem Schicksal dankbar für den geradezu geheimnisvollen Reichtum dieser nach außen hin so sinnlos erscheinenden Freundschaft. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht an Sonoko dachte, und immer wenn wir uns trafen, war ich erneut beglückt und beruhigt. Es schien geradeso, als ob die leise Spannung und die vollkommene Übereinstimmung zwischen uns mein ganzes Wesen durchziehe und mein Leben einer klaren, jedoch kaum spürbaren Zucht unter‐ werfe. Doch wie ich schon sagte, ein Jahr verging und wir erwachten. Wir entdeckten nämlich, daß wir uns nicht mehr in einem Kinder‐ garten befanden, sondern Bewohner eines für Erwachsene errichte‐ ten Gebäudes waren, in dem jede Tür, die sich nur halb öffnen ließ, sofort repariert werden mußte. Unser Verhältnis war eine solche Tür, die nur bis zu einem bestimmten Punkt geöffnet werden konnte, so daß mit Sicherheit früher oder später eine Reparatur notwendig war. Darüber hinaus bestand zudem noch die Tatsache, daß Erwachsene die eintönigen Spiele, die das Entzücken der Kin‐ der sind, nicht ausstehen können. Wenn man unsere Zusammen‐ künfte der Reihe nach genauer unter die Lupe nahm, so ergab sich, daß sie sich ausnahmslos glichen wie Spielkarten, deren Ränder auch nicht um Millimeterbreite voneinander abweichen, wenn sie in einem Stapel aufeinanderliegen. Von diesem allem abgesehen, sog ich voller List aus unserer Freundschaft ein unmoralisches Vergnügen, auf das nur ich allein mich verstand. Meine Unmoral war von einer ganz besonderen Art, und sie ging sogar noch einen Schritt über die gewöhnlichen Laster hinaus. Da das Unmoralische die eigentliche Basis meiner Natur war und zu meinen ersten Grundsätzen gehörte, fand ich ein um so teuflerischeres Vergnügen an meinem nach außen hin so tugendhaften Betragen, an diesem makellosen Verhältnis mit einer
Frau, an meiner ehrenwerten Lebensführung und darin, daß ich als ein Mensch mit erhabenen Grundsätzen galt. Sonoko und ich hatten uns gegenseitig die Arme entgegenge‐ streckt und dabei gemeinsam etwas in unseren Händen zu halten versucht, das jedoch eine Art Gas gewesen war, das nur existiert, wenn man an seine Existenz glaubt, und das verschwindet, wenn man daran zweifelt. Die Aufgabe, es festzuhalten, scheint auf den ersten Blick einfach, erfordert aber tatsächlich eine letzte Verfeine‐ rung der Berechnung und eine vollkommene Technik. Ich hatte in dem Raum zwischen unseren Händen eine künstliche ‹Normalität› ins Leben gerufen und hatte Sonoko dahin gebracht, sich an der gefährlichen Beschäftigung zu beteiligen, eine nahezu schemenhaf‐ te ‹Liebe› von einem Augenblick zum andern zu tragen. Sonoko schien selber zu einem Bestandteil meines Planes geworden zu sein, ohne dies zu merken. Und das war höchstwahrscheinlich der einzige Grund dafür, daß ihre Mitwirkung so erfolgreich gewesen war. Doch es kam die Zeit, da sogar Sonoko sich der unbezwingbaren Macht dieser namenlosen Gefahr dunkel bewußt wurde, dieser Gefahr, die sich so sehr von den gewöhnlichen kompakten Gefah‐ ren der Welt unterschied, die eine genau zu bestimmende und meßbare Stärke besitzen. Eines Tages im Spätsommer traf ich Sonoko in einem Restaurant wieder, das Coq dʹOr hieß. Sie war gerade aus einem Kurort im Gebirge zurückgekehrt. Ich erzählte ihr sogleich nach unserer Begrüßung, daß ich aus dem Zivildienst ausgeschieden sei. «Was wirst du nun unternehmen?» «Ach, das überlasse ich der Zukunft.» «Es überrascht mich immerhin.» Etwas anderes hatte sie dazu nicht zu sagen. Sich nicht in die Angelegenheiten des andern ein‐ zumischen, war zwischen uns längst zu einer ‹Etikette› geworden.
207
Sie war von der Gebirgssonne gebräunt, und ihre Haut hatte am Ansatz des Busens das strahlende Weiß eingebüßt. Selbst der Glanz der großen Perle an ihrem Ring war durch die Hitze matt geworden. Der Ton ihrer hohen Stimme, die stets eine Mischung von Trauer und Trägheit hatte, paßte gut zur Jahreszeit. Eine Zeitlang hielten wir eine belanglose, sich unaufhörlich im Kreis drehende und gekünstelte Unterhaltung aufrecht. Wir hatten dabei das Gefühl, als hörten wir der Unterhaltung von zwei Frem‐ den zu. Wir befanden uns auf der Grenze zwischen Wachen und Schlaf, wenn man mit Gewalt wieder einschlafen will, ohne dabei aus dem schönen Traum aufzuwachen, den man gerade hatte, und damit eine Fortsetzung des Traumes erst recht unmöglich macht. Ich stellte fest, daß unsere Herzen von irgendeinem bösartigen Virus durch das unbehagliche Erwachen, das klirrend und dröh‐ nend in unseren Traum drang, nach und nach zerfressen wurden. Wir ahnten die Nutzlosigkeit des Traumes, weil wir uns bereits auf der Schwelle des Bewußtseins befanden. Wie auf ein vorher verab‐ redetes Zeichen hatte das Übel unsere beiden Herzen beinahe gleichzeitig befallen. Wir reagierten darauf mit gespielter Lustig‐ keit, als fürchte jeder das, was der andere vielleicht im nächsten Augenblick sagen könne. Wir erzählten uns eine lustige Geschichte nach der anderen. Obgleich ihre sonnengebräunte Hautfarbe einen winzigen Miß‐ ton in ihrer Erscheinung darstellte, ging dennoch von ihren ein wenig feuchtschimmernden Augen, ihren kindlichen Augenbrau‐ en, ihren vollen Lippen die gleiche Ruhe aus wie früher. Jedesmal wenn andere Frauen an unserem Tisch vorüberkamen, blickten sie zu Sonoko hin. Ein Kellner ging mit einem silbernen Tablett mit Speiseeis umher, das sich auf einem Eisblock befand, der die Gestalt eines Schwanes hatte. Sonoko spielte mit dem Schloß ihrer Plastikhandtasche, ein Ring glitzerte an ihrem Finger. «Langweilst du dich?» fragte ich. «Bitte, sage das nicht –»
Ihre Stimme klang so seltsam müde. Es war fast bezaubernd zu nennen. Sie hielt den Kopf halb von mir abgewandt und blickte durch das Fenster auf die sommerliche Straße hinaus. Dann be‐ gann sie langsam zu sprechen: «Zuweilen bin ich ganz verwirrt. Ich denke darüber nach, weshalb wir hier sitzen und weshalb wir beide immer wieder von neuem zusammenkommen.» «Wahrscheinlich, weil es zumindest kein bedeutungsloses Minus darstellt – vielleicht eher ein bedeutungsloses Plus –» «Aber ich habe immerhin zu Hause noch so etwas wie einen Mann, bedenke das. Und selbst wenn das Plus bedeutungslos ist, so sollte eigentlich überhaupt für kein Plus mehr Platz sein.» «Schwierige Arithmetik, nicht wahr?» Ich bemerkte, daß Sonoko jetzt endlich selber an der ‹Tür des Zweifels› angekommen war: Sie fühlte, daß eine Tür, die sich nur zur Hälfte öffnen läßt, unbedingt in Ordnung gebracht werden muß. Vielleicht war es nun dahin gekommen, daß die Unordnung, die wir beide spürten, den größten Teil unserer gemeinsamen Gefühle einnahm. Denn auch ich war noch weit von dem Alter entfernt, wo man die Dinge einfach so akzeptiert, wie sie sind. Dennoch kam es mir so vor, als ob ich plötzlich den klaren Beweis dafür in Händen hielt, daß ich Sonoko mit meiner namenlosen Furcht angesteckt hatte, ohne daß sie es ahnte. Ja noch mehr: Ich sah jetzt, daß das einzige Gemeinsame zwischen uns in dieser bei‐ derseitigen Furcht bestand. Und sie begann nun dieser Furcht Ausdruck zu geben. Ich bemühte mich, nicht auf ihre Worte zu hören. Doch gegen meinen Willen gab ich seichte Antworten auf ihre Fragen. «Was wird geschehen, wenn wir so weitermachen wie bisher», sagte sie. «Werden wir nicht dabei vielleicht in eine Sackgasse geraten, aus der wir nicht mehr entkommen können?» «Ich glaube, daß ich dich achte und daß wir keinen Grund ha‐ ben, uns vor irgend jemandem zu schämen. Was ist daran ver‐ kehrt, wenn zwei Freunde sich treffen?» 209
«So war es bis jetzt. Es ist genauso, wie du sagst. Und ich denke, du hast dich sehr ehrenhaft benommen. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Obgleich wir nicht das geringste tun, dessen wir uns zu schämen hätten, habe ich dennoch schreckliche Träume. Mir ist dann zuweilen, als ob Gott mich für meine zukünftigen Sünden bestrafte.» Der düstere Klang des Wortes ‹zukünftig› ließ mich schaudern. «Wenn wir so fortfahren, habe ich Angst», beharrte sie, «daß eines Tages etwas geschehen könnte, das uns beiden schadet. Und wird es dann nicht zu spät sein? Denn spielen wir beide nicht mit dem Feuer?» «Was meinst du, wenn du sagst, daß wir mit dem Feuer spielen?» «Oh, alles mögliche –» «Du kannst aber unmöglich das, was wir tun, ein Spiel mit dem Feuer nennen. Es ist eher ein Spiel mit Wasser...» Sie lächelte nicht. Während der gelegentlichen Pausen in unserer Unterhaltung hielt sie die Lippen fest zusammengepreßt. «Allmählich glaube ich, daß ich ein ganz schreckliches Frauen‐ zimmer bin. Wirklich, ich halte mich für ein ganz schlechtes Frauenzimmer mit einer schmutzigen Seele. Selbst in meinen Träu‐ men sollte ich von Rechts wegen an niemand anderen als an meinen Mann denken. Ich habe mich jetzt dazu entschlossen, mich diesen Herbst taufen zu lassen.» Ich vermutete, daß dieses eitle Bekenntnis einerseits auf die Tat‐ sache zurückzuführen war, daß sie sich am Klang ihrer eigenen Worte berauscht hatte, daß es andererseits aber dem paradoxen und typisch fraulichen Hang entsprang, das Gegenteil dessen zu meinen, was sie sagte, wobei sie außerdem unbewußt den Wunsch hatte, etwas zu sagen, was eigentlich hätte unausgesprochen blei‐ ben sollen. Was mich betraf, so hatte ich weder das Recht, mich hierüber zu freuen, noch mich darüber zu beklagen. Denn wie hätte ich, der ich auf ihren Gatten nicht im geringsten eifersüchtig
war, von diesem Recht überhaupt Gebrauch machen können? Ich schwieg. Der Anblick meiner Hände, die selbst jetzt mitten im Hochsommer weiß und zerbrechlich aussahen, erfüllte mich mit Verzweiflung. «Und jetzt in diesem Augenblick?» murmelte ich schließlich. «Jetzt?» Sie senkte den Blick. «Ja, an wen denkst du gerade jetzt in diesem Augenblick?» «... an meinen Mann.» «Dann brauchst du dich auch nicht taufen zu lassen, meinst du nicht auch?» «Doch... ich fürchte schon. Ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich geschüttelt.» «Jetzt auch?» «Jetzt?» Sonoko blickte ernst auf, als ob sie unbewußt jemanden um Hilfe herbeiflehe. Ich entdeckte in ihren großen ernsten Augen eine Schönheit, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Es waren tiefe, glanzlose, fatalistische Augen wie Springbrunnen, aus denen ein steter Strahl von Gefühlen hervorbrach. Ich verstummte wie im‐ mer, wenn ich in diese Augen blickte. Ich langte über den Tisch zum Aschenbecher, um meine halbgerauchte Zigarette auszu‐ drücken. Dabei warf ich die Vase um, die auf dem Tisch stand, so daß der ganze Tisch benäßt wurde. Ein Kellner eilte herbei, um den Schaden zu beheben. Doch der unerfreuliche Anblick des nassen Tischtuchs war uns ein willkom‐ mener Anlaß, das Lokal früher zu verlassen. Die sommerlichen Straßen waren überfüllt. Gesund aussehende Liebespärchen gingen an uns vorüber, die jungen Männer mit stolzgeschwellter Brust und bloßen Armen. Mir war zumute, als ob jeder einzelne von ihnen mich verachtete. Und dies schmerzte mich ebenso wie die sengenden Strahlen der Sonne.
211
Es war noch eine halbe Stunde, bis wir uns trennen mußten. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, ob es nur der Abschieds‐ schmerz war, auf alle Falle hatte die düstere, nervöse Verfassung, in der ich mich befand, plötzlich den Wunsch in mir ausgelöst, diese letzte halbe Stunde wie ein Ölbild mit dicken Farben zu verträumen. Ich blieb vor einem Tanzlokal stehen, wo aus einem Lautsprecher die Melodie eines Rumbas auf die Straße dröhnte. Ich mußte an eine Zeile in einem Gedicht denken, das ich vor langer Zeit gelesen hatte: ... Doch immer warʹs ein Tanzen ohne Ende... Den Rest hatte ich vergessen. Ich glaube, es war ein Gedicht von André Salmon... Obgleich Sonoko noch nie ein solches Lokal betreten hatte, nickte sie mir zu und ging mit mir für eine halbe Stunde tanzen. Das Lokal war überfüllt mit Büroangestellten, die jeden Tag für ein oder zwei Stunden zu einem Tanz kamen und auf diese Weise ihre Mittagspause ausdehnten, um sich etwas zu amüsieren. Sticki‐ ge Hitze schlug uns ins Gesicht, denn die Entlüftungsanlage schien höchst mangelhaft oder nicht in Ordnung zu sein. Dicke Portieren ließen keine frische Luft herein, und die fiebrige Hitze in dem Lokal ließ milchige Nebel von Staubteilchen zu den Lampen auf‐ steigen. Man konnte mit einem einzigen Blick feststellen, was das für Leute waren, die hier tanzten und denen die Hitze nichts aus‐ machte und die einen Geruch von Schweiß, schlechtem Parfum und billiger Pomade ausströmten. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich Sonoko dorthin gebracht hatte. Doch es war nun zu spät, umzukehren. Wir drängten uns durch die Menge der Tanzenden. Selbst einige elektrische Ventilatoren verursachten nicht den geringsten spürbaren Luftzug. Junge Bur‐ schen tanzten mit den verschwitzten Kellnerinnen Wange an Wan‐ ge. Der Puder auf den Gesichtern der Mädchen hatte sich mit dem
Schweiß gemischt, und es sah aus, als sei ihre Haut mit Pickeln übersät. Ihre Kleider waren am Rücken feuchter als das Tischtuch, auf das ich das Wasser verschüttet hatte. Es war ganz gleich, ob man tanzte oder nicht, man war sofort in Schweiß gebadet. Sonoko atmete heftig, als ersticke sie. Auf der Suche nach etwas frischer Luft gelangten wir durch einen mit künstlichen Blumen umrankten Bogengang auf den Hof und setzten uns dort auf zwei der rohen Holzstühle. Hier waren wir zwar im Freien, doch von dem Betonboden strahlte die Hitze mit einer derartigen Stärke zurück, daß auch die Stühle im Schat‐ ten heiß geworden waren. Unsere Münder waren klebrig von der zuckrigen Süße der Coca‐Cola. Sonoko war offenbar ebenso wie ich über diese ganze Umgebung entsetzt und schwieg. Nach einer Weile konnte ich die Stille nicht mehr länger ertragen und blickte umher. Ein dickes Mädchen lehnte träge an der Mauer und fächelte sich die Brust mit ihrem Taschentuch. Die Swing‐Kapelle spielte einen Quickstep, der überwältigend schien. In einer anderen Ecke des Hofes bemerkte ich einige immergrüne Topfpflanzen. Alle Stühle im Schatten der Markise, unter der wir saßen, waren besetzt; keiner wollte sich dem Sonnenlicht aussetzen. Doch nun sah ich auf der gegenüberliegenden Seite eine einzelne Gruppe mitten in der prallen Sonne sitzen. Es waren zwei Mäd‐ chen und zwei Burschen. Sie unterhielten sich so laut und unbe‐ kümmert miteinander, als wären sie ganz allein. Eines der Mäd‐ chen rauchte eine Zigarette, aber man konnte unschwer an dem Hüsteln nach jedem Zug erkennen, daß sie sonst nie rauchte. Beide Mädchen trugen ein wenig sonderbare Kleider, die offensichtlich aus einem für Sommer‐Kimonos bestimmten Material angefertigt worden waren; sie ließen die Arme frei, die so rot wie die von Fischweibern und von Insekten zerstochen waren. Jedesmal wenn die Burschen einen derben Witz machten, sahen sich beide Mäd‐ chen an und begannen affektiert zu lachen. Die sengenden Strah‐ 213
len der Sonne, die ihnen direkt auf den Kopf schienen, machten ihnen offenbar nicht allzuviel aus. Einer der Burschen trug ein ‹Texas‐Hemd›, das damals bei den jungen Leuten in der Stadt sehr beliebt war. Er hatte ein bleiches Gesicht mit einem listigen Ausdruck, seine Arme waren kräftig. Um seine Lippen spielte ständig ein durchtriebenes Lächeln. Er brachte die Mädchen dadurch zum Lachen, daß er mit einem Fin‐ ger nach ihren Brüsten stieß. Meine Aufmerksamkeit wandte sich dem andern zu, einem Jüngling von einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren mit einem grobgeschnittenen Gesicht, dessen Züge aber von großem Ebenmaß waren. Er hatte sein Hemd ausgezogen und stand nun halbnackt da und wand sich eine Leibbinde um die Hüfte. Das grobe Baumwollzeug war schweißdurchtränkt und hatte eine hell‐ graue Farbe angenommen. Der Bursche schien sich bei seiner Tätigkeit mit Absicht nicht zu beeilen, er nahm ständig an der Unterhaltung teil und stimmte von Zeit zu Zeit in das Gelächter und das Schwatzen seiner Begleiter ein. Seine nackte Brust war muskulös, der tiefe Spalt in der Mitte seiner Brust ging fast bis zum Nabel. Dicke, strickähnliche Muskeln wanden sich um seinen Oberkörper. Sein kräftiger, schweißnasser Körper war wie einge‐ zwängt von der durchnäßten Baumwollbinde. Seine sonnenge‐ bräunten kräftigen Schultern glänzten, als habe er sie mit Öl einge‐ rieben. Aus seinen Achselhöhlen standen schwarze, dichte Haar‐ büschel hervor und glitzerten im Sonnenlicht, das ihnen einen goldenen Schimmer verlieh. Bei diesem Anblick, vor allem als ich die tätowierte Päonie auf seiner Brust sah, wurde ich von sexueller Begierde überwältigt. Ich verschlang diesen robusten Leib mit seinen derben Gliedmaßen, der unvergleichlich schön war, mit meinen Augen. Der junge Bursche stand in der Sonne und lachte. Wenn er den Kopf zurück‐ warf, konnte ich seinen starken muskulösen Hals sehen. Ein selt‐ samer Schauder durchdrang mein Innerstes. Ich konnte die Augen nicht mehr von ihm abwenden.
Sonokos Gegenwart hatte ich völlig vergessen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als einzig und allein daran, daß er halbnackt auf die in der Hochsommerhitze brütende Straße hinausging und dabei in eine Schlägerei mit einer anderen Bande Halbwüchsiger verwickelt wurde und wie ein scharfer Dolch die Leibbinde zerschneiden würde. Und im Geiste sah ich, wie die schmutzige Binde sich wunderschön rot färbte und wie man dann seinen blutigen Leichnam auf eine Bahre legte – vielleicht auf einen hölzernen Fensterladen – und hierher zurückbrachte... «Wir haben nur noch fünf Minuten.» Es war Sonokos hohe und traurige Stimme, die an mein Ohr drang. Ich wandte mich verwun‐ dert nach ihr um. In diesem Moment wurde etwas in meinem Innern mit brutaler Gewalt zerstört. Es war, als wäre soeben ein Donnerkeil vom Him‐ mel herabgefallen und hätte einen lebenden Baum zerspalten. Ich merkte, wie das Gebäude, das ich mühsam Stück für Stück aufge‐ baut hatte, kläglich zusammenbrach. Ich hatte das Gefühl, ich sei Zeuge des furchtbaren Augenblicks, in dem mein ganzes Sein sich in ein grauenhaftes Nicht‐Sein verwandelte. Ich schloß die Augen, mir wurde schwindelig. Doch schon nach wenigen Sekunden kam mir mein eiskaltes Pflichtgefühl zu Hilfe. «Nur noch fünf Minuten? Es war überhaupt verkehrt, mit dir in dieses Lokal zu gehen. Bist du mir böse? Ich finde, daß Menschen wie du die Gemeinheit des Pöbels überhaupt nicht zu sehen be‐ kommen sollten. Neulich hörte ich, daß diese Halbstarken‐Banden jetzt schon nicht einmal mehr das Eintrittsgeld bezahlen, wenn sie hierherkommen. Die Besitzer wagen nicht, den Kerlen das Lokal einfach zu verbieten.» Aber nur ich hatte die Burschen betrachtet. Sonoko hatte sie nicht einmal bemerkt. Sie war darin geübt, die Dinge zu ignorieren, die man nicht sehen sollte. Sie hatte die ganze Zeit über geistesab‐ wesend auf die schweißfeuchten Rücken der Leute vor uns ge‐ starrt, die den Tanzenden zusahen. 215
Dennoch schien die gesamte Atmosphäre des Orts bewirkt zu haben, daß in Sonokos Herz eine Art chemischer Umwandlung vor sich gegangen war, ohne daß sie etwas davon ahnte. Der Anflug eines scheuen Lächelns war jetzt auf ihren Lippen, als freue sie sich im voraus auf das, was sie sagen wollte. «Es ist vielleicht eine komische Frage – aber du hast es doch sicherlich schon getan, nicht wahr? Du weißt schon, was ich mei‐ ne – natürlich hast du es schon getan, nicht wahr?» Ich war völlig wie vor den Kopf geschlagen. Dennoch verfügte ich wenigstens noch über die Geistesgegenwart, beinahe automa‐ tisch die richtige Antwort zu geben. «Hm – ja, du hast recht – ich muß gestehen, daß du recht hast.» «Wann?» «Letztes Frühjahr.» «Mit wem?» Mich entsetzte die Naivität und Schlauheit ihrer Frage. Sie konn‐ te sich nicht vorstellen, daß ich ein Mädchen kannte, von dem sie nichts wußte. «Ich kann dir ihren Namen nicht sagen –» «Komm, komm, wie heißt sie?» «Bitte frage mich nicht.» Vielleicht hatte es an dem ein wenig zu beschwörenden Tonfall gelegen, in dem ich diese Worte hervorgebracht hatte. Jedenfalls schwieg sie augenblicklich, als wäre sie erschreckt. Ich fühlte, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und tat, was ich konnte, um zu verhindern, daß sie es merkte. Der Augenblick der Trennung war gekommen. Gerade zur rechten Zeit leierte ein vulgärer Blues. Reglos, wie auf den Fleck gebannt, hörten wir der sentimentalen Stimme aus dem Lautsprecher zu. Wir blickten beinahe im gleichen Augenblick auf unsere Arm‐ banduhren...
Es war soweit. Ich erhob mich und warf noch einen letzten verstohlenen Blick auf die Stühle in der Sonne. Die beiden Mäd‐ chen waren mit den Burschen anscheinend zur Tanzfläche hinübergegangen. Die Stühle standen jetzt verlassen im gleißenden Licht. Irgendeine Flüssigkeit war auf der Tischplatte verschüttet worden und glitzerte drohend.
217
Der große japanische Autor Yukio Mishima stellt in seinem Roman mit analytischer und erzählerischer Kraft ein Seelendrama dar: die allmähliche Selbstentdeckung eines Außenseiters, eines Homosexuellen. In der Rückschau des Erzählers, die die eigene Kindheit und Jugend erforscht, werden frühe Züge seiner Veranlagung deutlich. Die ersten Berührungen mit dem anderen Geschlecht werden durch ein Gefühl der Befremdung, der kritischen Distanz irritiert. Um zu der Welt des Normalen eine Beziehung herzustellen, greift er zur Maske; die Maske ist ihm aber nicht Mittel zur Täuschung und Möglichkeit des Verstecks, sondern der Versuch, eine neue Identität zu gewinnen: er befreundet sich mit dem Mädchen Sonoko und denkt an Heirat. Aber zugleich wird er sich bewußt, daß seine Veranlagung unüberwindlich ist. Der Roman mit autobiographischen Zügen gilt als ein bedeutendes Zeugnis der poetischen Kraft Yukio Mishimas.