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Frankensteins Rivalen
Gruselstories aus unserer Monster-Galerie
Herausgegeben von Michel Parry
Originaltitel: THE...
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Frankensteins Rivalen
Gruselstories aus unserer Monster-Galerie
Herausgegeben von Michel Parry
Originaltitel: THE RIVALS OF FRANKENSTEIN Aus dem Amerikanischen übertragen von Rudolf Mühlstrasser Oktober 1978 2
INHALT
Der Letzte der Daubeny-Fitz-Alans von Arnold Harvey Der Tanzpartner von Jerome K. Jerome Moxons Meister von Ambrose Bierce Fast wie ein Mensch von Robert Bloch Pithecanthropus Rejectus von Manly Wade Wellman Der Tote von Fritz Leiber Die Experimente des Herbert West von H. P. Lovecraft Der Mann aus Eisen von Eando Binder
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Arnold Harvey Der Letzte der Daubeny-FitzAlans »Sie waren eine eigenartige Familie, die Daubeny-Fitz-Alans«, sagte der Vikar nachdenklich. »Naturwissenschaftler unter anderem. Es heißt, daß sie drei oder vier Generationen lang mit der Schaffung von Leben experimentierten und versuchten, anorganische Substanzen in lebende Wesen umzuwandeln.« »Und gelang es ihnen?« »Natürlich nicht.« Der Vikar schnaubte verächtlich. »Die üblichen Gerüchte liefen um, daß sie ein seltsames, menschenähnliches Geschöpf konstruiert hätten, aber selbstverständlich war nichts Wahres daran.« »Ich sehe es direkt vor mir«, sagte ich, während ich über das Tal hinweg auf das düstere Tudor-Haus mit den verwinkelten Dächern blickte und versuchte, nicht auf die lauten, 4
schürfenden und schlagenden Geräusche zu achten, die von der Pfarrkirche hinter uns kamen, wo man den Boden des Chors aufgrub. »Ein langer Arbeitsraum mit dunkel getäfelten Wänden; Teströhrchen und Retorten, und Regale voller Glasgefäße mit Homunkuli darin…« »Homunkuli?« echote der Vikar fragend. »Kleine, menschenähnliche Kreaturen von der Art, wie diese Alchimisten sie schaffen wollten.« »Ja, natürlich. Es ist nur ziemlich merkwürdig, daß Sie in diesem Zusammenhang daran denken. Sie müssen wissen, daß die DaubenyFritz-Alans selbst Homunkuli waren. Ich meine damit nicht, daß sie in ihrem eigenen Laboratorium zum Leben erweckt wurden, sondern den Zwergwuchs in der Familie. Sie waren alle Pygmäen, von einer Generation zur anderen, und jede war kleiner als die vorherige. Bis auf den letzten von ihnen, Sir Forbes Daubeny5
Fitz-Alan. Er war ein Riese. Ein paar Stücke von seiner Kleidung sind im Grafschaftsmuseum – er muß mindestens zwei Meter zwanzig groß gewesen sein. Seine Pferde mußte er aus Flandern einführen. Die einzigen hiesigen Pferde, die sein Gewicht tragen konnten, waren Brauereigäule, aber die waren natürlich für einen Mann von seinem Reichtum und Stand völlig unpassend. Die stärksten Stühle brachen unter ihm zusammen, wird behauptet, und als er starb, sollen zwölf Mann nötig gewesen sein, um den Sarg aus dem Haus zu tragen.« »Zwölf?« »So wird es berichtet.« Der Vikar holte die goldene Uhr aus der Westentasche. »Sie müßten seinen Sarg jetzt freigelegt haben«, sagte er und deutete mit dem Kopf zu der Kirche hinter uns. Es war eine normannische Kirche – die einzige in der ganzen Grafschaft, die noch so gut erhalten war, und man war jetzt dabei, sie zu 6
renovieren. Das war auch der Grund, warum man den Boden des Chors aufgrub: Die Fundamente sollten verstärkt werden. Wir gingen zur südlichen Vorhalle. Der Vikar fuhr mit seiner zweihundert Jahre alten Geschichte fort. Wie die meisten Landgeistlichen beschäftigte auch er sich hingebungsvoll mit der Historie seiner Pfarrei. »Er war ein ziemlich geheimnisvoller Mann, dieser Sir Forbes Daubeny-Fitz-Alan«, sagte er. »Zu dem Zeitpunkt, als seine Mutter, Lady Amilia Daubeny-Fitz-Alan, starb, gab es nicht einmal eine Spur einer Andeutung, daß ein Kind existierte. Nicht, daß irgend jemand im Dorf oder in einem der benachbarten großen Häuser auch nur ein Zehntel von dem gewußt hätte, was in Daubeny-Hall vorging. Niemand ahnte auch nur etwas von dem Jungen, bis er erwachsen war. Unglaublich, nicht wahr. Er wurde zu Haus erzogen, wahrscheinlich
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von seinem Vater oder einem seiner Helfer, und verließ sein ganzes Leben lang die Nachbarschaft nicht. Natürlich wurde er Friedensrichter, als sein Vater starb und er den Baronstitel erbte, aber er übte das Amt nie aus. Niemand in der ganzen Familie tat das jemals.« »Was wurde aus ihm?« »Er starb an irgendeiner scheußlichen Krankheit. Er muß etwa fünfzig gewesen sein. Offenbar litt er ständig an einer Art Ekzem, das sich immer mehr verschlimmerte, bis sich sein Fleisch offenbar an seinem Körper zersetzte. Deswegen hat er wohl nie geheiratet. Keine Frau hätte ihn gemocht, trotz seines ganzen Reichtums. Vielleicht war er auch von vornherein gar nicht an Heirat interessiert; man hörte nie, daß er sich mit irgendeinem Mädchen abgegeben hätte.« Wir betraten die Kirche. Am gegenüberliegenden Ende stand eine Handvoll von Arbeitern unter einem Gerüst. Zu ihren Füßen lagen 8
mehrere sehr alte Särge. Keiner davon war mehr als eineinhalb Meter lang. »Der da gleicht das alles aus«, sagte der Vorarbeiter, als wir hinzutraten. Wir spähten in das dunkle Loch, dem modrig- feuchter Geruch entströmte. Der verbliebene Sarg war fast zweieinhalb Meter lang und entsprechend breit. Die Leute hatten Seile daran befestigt und waren im Begriff, ihn herauszuheben. Sie waren zu sechst und verfügten über ein System von Flaschenzügen, welche die Arbeit sehr erleichterten. Dennoch dauerte es volle fünf Minuten, bis der Sarg aus der Gruft gehoben und an den Laufschienen des Gerüsts zur Seite gezogen worden war. Er war mit Spinnweben und Moder bedeckt, doch das Eichenholz war solide, und die silbernen Handgriffe und das Namensschild befanden sich in gutem Zustand. »Mein Gott, ist der schwer«, sagte der Vorarbeiter. 9
»Vielleicht ist er innen mit Blei verkleidet«, bemerkte ich. Ich wandte mich dem Vikar zu. »Lassen Sie ihn öffnen?« »Keinesfalls.« Der Gedanke schien ihn fast zu entsetzen. »Für die Dauer der Restaurierungsarbeiten bleiben diese Särge in einer teilweise leeren Gruft auf dem Friedhof. Anschließend kommen sie wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück. Alles andere wäre höchst unangebracht.« Ich wollte eben vorsichtig einwenden, daß dies sehr schade sei, da ich für die Gebeine des Riesen überaus großes Interesse hegte, als erst einer, dann ein zweiter der Flaschenzüge aus seiner Befestigung riß und der schwere Sarg auf den Boden stürzte. Ich glaube nicht, daß das Holz stark verrottet war; vielmehr lag es wohl an der Art, wie der Sarg, eine Ecke voraus, auf die steinernen Platten prallte. Er zersprang über seine ganze Länge hinweg, und die
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Gebeine, die ich mir so sehr zu sehen gewünscht hatte, fielen heraus. Sie waren gewaltig. Offenbar waren sie auch sehr schwer, denn sie hüpften und klapperten nicht wie normale, eingetrocknete Knochen, sondern fielen nur mit schwerem Pochen auf den steinernen Boden. Ungewöhnlich war überdies die Farbe. Sie waren fast schwarz. Zunächst dachte ich daran, daß diese Farbe von vertrockneter, schwarz gewordener Haut herrührte, die um die Knochen geschrumpft war. Ein zweiter Blick indessen belehrte mich, daß dem nicht so war; die Gebeine waren vollständig bloß. Und es war eine ganz besondere schwärzliche Farbe, die eher ins Dunkelgrüne ging. Ich glaube, wir begriffen alle im selben Moment, was diese dunkelgrüne Farbe bedeutete. Sir Forbes Daubeny-FitzAlans Gebeine waren aus massivem Messing.
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Jerome K. Jerome Der Tanzpartner In Furtwangen, einer Kleinstadt im Schwarzwald, lebte ein wundervoller alter Bursche namens Nikolaus Geibel. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit der Herstellung von mechanischem Spielzeug, das fast in ganz Europa bekannt war. Er machte Kaninchen, die aus einem Kohlkopf hüpften, die Ohren aufstellten, sich mit der Pfote über die Barthaare fuhren und wieder verschwanden; Katzen, die sich putzten und auf so natürliche Weise miauten, daß Hunde sie für wirkliche Katzen hielten und auf sie losgingen; Puppen mit eingebauten Phonographen, die den Hut abnahmen und »Guten Morgen! Wie geht es?« sagten oder sogar ein Lied sangen. Doch Geibel war mehr als bloß ein Mechaniker, er war ein Künstler. Seine Arbeit war ein 12
Hobby für ihn fast eine Leidenschaft. Seine Werkstatt war voll seltsamer Dinge, die er niemals verkaufen würde – Dinge, die er um ihrer selbst willen geschaffen hatte. Er hatte einen mechanischen Esel gebaut, der mittels gespeicherter Elektrizität zwei Stunden lang lief, und das noch viel schneller als ein echter; einen Vogel, der steil in die Luft schoß, dann im Kreis flog und schließlich auf genau der gleichen Stelle landete, von der er sich aufgeschwungen hatte; ein Skelett, das, auf einen metallenen Stock gestützt, Tanzschritte machen konnte; eine lebensgroße, weibliche Puppe, die Fiedel spielte, und einen innen hohlen Mann, der Pfeife zu rauchen vermochte und mehr Bier trinken konnte als drei durchschnittliche deutsche Studenten zusammen, was einiges heißt. In der kleinen Stadt glaubte man allgemein, der alte Geibel sei in der Lage, einen Mann zu 13
schaffen, der alles konnte, was ein anständiger Mann nur tun wollen würde. Doch eines Tages machte er einen Mann, der zu viel konnte. Und das kam so: Der junge Doktor Follen hatte ein Baby, und dieses Baby hatte Geburtstag. Sein erster Geburtstag stürzte Doktor Follens Haushalt in einigen Aufruhr, und anläßlich seines zweiten Geburtstags gab Frau Doktor Follen einen Ball zu Ehren des Anlasses. Der alte Geibel und seine Tochter Olga waren unter den Gästen. Am nächsten Nachmittag suchten drei oder vier von Olgas Busenfreundinnen, die auch auf dem Ball gewesen waren, sie auf, um darüber zu plaudern. Natürlich kam das Gespräch bald auf die Männer und die Frage, wie gut sie tanzten. Der alte Geibel war auch im Zimmer, schien aber in seine Zeitung versunken, und die Mädchen nahmen keine Notiz von ihm.
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»Von Ball zu Ball scheint es weniger Männer zu geben, die tanzen können«, sagte eines der Mädchen. »Ja, und die, die es können, tragen die Nase sehr hoch«, sagte eine andere. »Es ist fast eine Gnade, wenn sie dich auffordern.« »Wie dumm sie daherreden«, fügte eine dritte hinzu. »Sie sagen immer das gleiche: ,Wie bezaubernd Sie heute abend aussehen.’ ,Fahren Sie oft nach Wien? Oh, das müssen Sie aber. Wien ist so wunderbar.’ ,Was für ein reizendes Kleid Sie tragen.’ ,Heute war es sehr warm.’ Mögen Sie Wagner?’ Ich wünschte mir wirklich, daß sie sich etwas Neues einfallen ließen.« »Mir ist das gleich«, sagte eine vierte. »Wenn ein Mann gut tanzt, kann er von mir aus dumm sein.« »Meistens ist er das«, warf ein dünnes Mädchen ziemlich verächtlich ein. »Ich gehe auf einen Ball, um zu tanzen«, fuhr die, die eben gesprochen hatte, fort. »Alles, was 15
ich von meinem Partner verlange, ist. daß er mich fest im Arm hält und fleißig dreht und nicht vor mir müde wird.« »Eine Puppe, die man aufziehen kann, wäre für dich das Richtige«, sagte das Mädchen, das sie unterbrochen hatte. »Bravo!« rief eine von den anderen und klatschte in die Hände. »Eine köstliche Idee.« »Was ist eine köstliche Idee?« fragten sie. »Nun, ein Tänzer, den man aufziehen kann. Oder, noch besser, ein elektrischer, der niemals stehenbleibt.« Die Mädchen nahmen den Einfall begeistert auf. »Oh, was für ein herrlicher Tänzer das sein würde«, sagte eine. »Er würde dich niemals stoßen oder dir auf die Zehen treten.« »Oder dein Kleid zerreißen«, sagte eine andere. »Oder aus dem Takt geraten.«
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»Oder schwindlig werden und sich auf dich lehnen.« »Und er würde sich nicht nach jedem Tanz das Gesicht mit dem Taschentuch abwischen. Das finde ich wirklich furchtbar.« »Und er würde auch nicht den ganzen Abend im Speisesaal verbringen wollen.« »Ja, und wenn er einen Phonographen eingebaut hätte, der ihre ewig gleichen Redensarten herunterleiert, dann könnte man ihn gar nicht von einem richtigen Mann unterscheiden«, sagte das Mädchen, das auf diese Idee gekommen war. »O doch«, sagte das dünne Mädchen, »denn er wäre ja viel, viel netter.« Der alte Geibel hatte seine Zeitung sinken lassen und hörte aufmerksam zu. Als jedoch eines der Mädchen in seine Richtung schaute, versteckte er sich sofort wieder hinter dem Blatt.
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Als die Besucherinnen sich wieder verabschiedet hatten, begab er sich in seine Werkstatt, wo Olga ihn auf- und abgehen und manchmal auch leise in sich hineinlachen hörte. An diesem Abend sprach er mit ihr über Tanz und Tänzer- fragte sie, was sie gewöhnlich sagten und taten und welche Tänzer die beliebtesten waren, und wollte noch vieles andere wissen. Wenn er während der folgenden Wochen seine Werkstatt verließ, was selten geschah, dann schien er sehr nachdenklich zu sein, wenngleich er zuweilen unerwartet in leises Lachen ausbrach, als freute er sich über etwas, wovon kein anderer wußte. Einen Monat später fand ein weiterer Ball in Furtwangen statt. Dieses Mal gab ihn der alte Wenzel, der reiche Holzhändler, zur Feier der Verlobung seiner Nichte. Geibel und seine Tochter waren wieder unter den Gästen.
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Als die Stunde des Aufbruchs gekommen war, suchte Olga ihren Vater. Da sie ihn nicht im Haus fand, klopfte sie an die Tür seiner Werkstatt. Er öffnete ihr in Hemdsärmeln und sah erhitzt, aber glücklich aus. »Wart nicht auf mich«, sagte er. »Geh nur los, ich komme dann nach. Ich muß erst noch etwas zu Ende bringen.« Als sie sich schon umgewandt hatte, rief er ihr nach: »Sag ihnen, daß ich einen jungen Mann mitbringe – einen sehr netten jungen Mann und einen ausgezeichneten Tänzer. Die Mädchen werden verrückt nach ihm sein.« Mit diesen Worten schloß er lachend die Tür. Im allgemeinen breitete ihr Vater einen Schleier des Geheimnisses über das, was er tat. Indessen war Olgas Scharfsinn das, war er vorhatte, nicht gänzlich verborgen geblieben, was sie in die Lage versetzte, die Gäste ein wenig auf das Kommende vorzubereiten. Erwar-
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tungsvoll harrten alle der Ankunft des berühmten Mechanikers. Schließlich hörte man draußen das Rollen von Rädern, gefolgt von einiger Unruhe in der Diele, und dann stolzierte der alte Wenzel, dessen fröhliches Gesicht vor Erregung und unterdrücktem Lachen rot angelaufen war, selbst herein und verkündete mit Stentorstimme: »Herr Geibel – und ein Freund.« Mit lautem Lachen und Applaus begrüßt, kamen Herr Geibel und sein »Freund« herein und schritten zur Mitte des Raumes. »Erlauben Sie mir, meine Damen und Herrn«, sagte Herr Geibel, »Ihnen meinen Freund Leutnant Fritz vorzustellen. Fritz, alter Junge, verbeuge dich vor den Damen und Herrn.« Geibel legte die Hand ermutigend auf Fritz’ Schulter, und der Leutnant machte eine tiefe Verbeugung, die von einem starken, trockenen
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Knacken begleitet war. Aber das war nur ein Detail. »Er geht ein wenig steif« – der alte Geibel nahm ihn am Arm und ging ein paar Schritte mit ihm; er ging in der Tat ziemlich steif –, »aber Gehen ist eben nicht seine Stärke. Vor allem ist er ein Tänzer. Bis jetzt habe ich ihm nur den Walzer beibringen können, aber den beherrscht er perfekt. Also, welcher von den Damen darf ich ihn als Partner vorstellen? Er hält ausgezeichnet den Takt und wird nicht müde. Er stößt Sie nicht und tritt Ihnen auch nicht aufs Kleid. Er hält Sie so fest im Arm, wie Sie wollen, und tanzt so schnell oder so langsam, wie es Ihnen gefällt. Er wird nicht schwindlig und ist ein einfallsreicher Gesprächspartner. Komm, sag doch selbst etwas, Junge.« Der alte Herr drehte an einem der Rückenknöpfe seiner Jacke, und sofort öffnete Fritz den Mund und sagte in dünnen Tönen, die aus 21
seinem Hinterkopf zu kommen schienen: »Gestatten Sie?« Dann klappte er den Mund wieder zu. Daß der Leutnant Fritz einen starken Eindruck auf die Gesellschaft machte, war nicht zu verkennen. Dennoch schien keines der Mädchen geneigt, mit ihm zu tanzen. Verstohlen musterten sie sein wächsernes Gesicht mit den starren Augen und dem gefrorenen Lächeln und schauderten. Schließlich ging Geibel zu dem Mädchen, das diesen Einfall gehabt hatte. »Es ist deine eigene Idee, die ich aufs genaueste in die Wirklichkeit umgesetzt habe«, sagte Geibel, »ein elektrischer Tänzer. Du bist es dem Herrn schuldig, einen Versuch mit ihm zu machen.« Sie war ein munteres, freches kleines Mädchen und immer zu Schabernack aufgelegt. Als sie der Gastgeber seinerseits bat, gab sie nach.
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Herr Geibel führte die Figur zu ihr und legte ihren rechten Arm um die Hüfte des Mädchens; die Linke mit den fein gearbeiteten Gliedern gab er in ihre Rechte. Der alte Spielzeugmacher zeigte ihr, wie man es anstellte, die Geschwindigkeit seines mechanischen Tänzers zu regulieren und wie man ihn anhielt und sich wieder aus seinem festen Griff löste. »Er wird einen richtigen Kreis mit dir tanzen«, erklärte er, »gib also acht, daß niemand euch anstößt und seine Richtung verändert.« Die Musik begann zu spielen. Der alte Geibel schaltete die Figur an, und Annette und ihr seltsamer Partner begannen zu tanzen. Gespannt sahen alle zu. Die Figur funktionierte über die Maßen. Die kleine Partnerin fest umfaßt haltend, führte sie exakt im Takt ihre Tanzschritte aus, die sie mit einem ständigen, quäkenden Redefluß begleitete. Trat einmal eine kurze Pause ein, dann hörte man nur das rhythmische Schleifen der Schuhe. 23
»Wie bezaubernd Sie heute abend aussehen«, bemerkte die Figur mit ihrer dünnen, wie aus weiter Ferne kommenden Stimme. »Was für ein schöner Tag heute war. Tanzen Sie gern? Die Harmonie unserer Schritte ist wirklich bemerkenswert. Sie tanzen doch noch einmal mit mir? O bitte, seien Sie nicht so grausam. Was für ein hübsches Kleid Sie tragen. Ein Walzer ist doch etwas Wunderschönes. Ich könnte ewig so weitertanzen – mit Ihnen. Haben Sie schon zu Abend gegessen?« Als Annette mit der unheimlichen Kreatur vertrauter geworden war, fiel die Nervosität von ihr ab, und sie erfreute sich an der lustigen Seite der Sache. »Ach, er ist einfach süß«, rief sie lachend. »Mein ganzes Leben lang könnte ich mit ihm tanzen.« Ein Paar nach dem anderen gesellte sich jetzt dazu, und bald drehten sich alle mit ihnen im
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Tanz. Strahlend vor kindlicher Freude über seinen Erfolg sah Nikolaus Geibel zu. Dann trat der alte Wenzel zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Geibel nickte lachend, und die beiden gingen zur Tür. »Heute abend sollen die jungen Leute hier unter sich sein«, sagte Wenzel, als sie draußen waren, »wir beide wollen uns drüben im Nebenhaus bei einem Pfeifchen und einem Glas Wein zusammensetzen.« Drinnen war der Tanz immer lebhafter geworden. Die kleine Annette drehte an der Schraube, die die Geschwindigkeit der Bewegung ihres Partners regelte, und die Figur drehte sich schneller und schneller mit ihr. Ein Paar nach dem andern verließ erschöpft die Tanzfläche, aber der Rhythmus der beiden beschleunigte sich weiter, bis sie schließlich allein übrig geblieben waren. Wilder und wilder wurde der Walzer. Die Musiker vermochten nicht mehr zu folgen und 25
betrachteten ratlos die Szene. Die jüngeren Gäste klatschten Beifall, aber die Mienen der älteren verrieten Besorgnis. »Ich glaube, du solltest jetzt aufhören, meine Liebe«, sagte eine der Frauen. »Du wirst dich sonst überanstrengen.« Aber Annette gab keine Antwort. »Ich glaube, sie ist ohnmächtig!« rief ein Mädchen, das Annettes Gesicht gesehen hatte, als sie vorbeigehuscht war. Einer der Männer sprang hinzu und versuchte, die Figur zu packen, aber ihr Schwung warf ihn zu Boden, wo ihm der stählerne Fuß der Puppe die Wange aufriß. Offenbar war das Ding nicht bereit, sich so leicht von seiner Beute zu trennen. Man möchte meinen, daß jemand mit kühlem Kopf die Figur leicht hätte aufhalten können. Zwei oder drei Männer hätten sie zusammen vom Boden hochheben oder in eine Ecke drängen können. 26
Aber nur wenige Menschen besitzen die Fähigkeit, in einer aufregenden Situation ruhig und besonnen zu bleiben. Wer den Vorfall nicht miterlebt hat, denkt sich, wie dumm die Anwesenden doch gewesen sein müssen; wer dabei war, überlegte im Nachhinein, wie einfach es doch gewesen wäre, dies oder jenes zu tun, wäre nur jemand darauf gekommen. Die Frauen wurden hysterisch. Die Männer riefen sich einander widersprechende Anweisungen zu. Zwei von ihnen machten einen täppischen Versuch, die Figur zu packen, was dazu führte, daß sie aus ihrer Kreisbahn gedrängt wurde und heftig gegen Wände und Möbel prallte. Ein Blutfleck zeigte sich auf dem weißen Kleid des Mädchens, und Blutstropfen markierten ihren Weg auf dem Boden. Entsetzen bemächtigte sich der übrigen Gäste. Die Frauen rannten schreiend hinaus, gefolgt von den Männern.
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Endlich wurde ein vernünftiger Vorschlag gemacht: »Sucht Geibel – holt Geibel!« Jemand hatte bemerkt, wie er den Raum verließ – doch niemand wußte, wo er jetzt war. Ein Teil der Leute machte sich auf die Suche nach ihm. Die anderen waren zu entnervt, um in den Ballsaal zurückzukehren; sie drängten sich an der Tür und lauschten. Sie hörten das laute Schleifen der metallenen Schuhe auf dem polierten Boden und hin und wieder den dumpfen Schlag, wenn der mechanische Tänzer mit seiner Partnerin an irgendein Möbel stieß und in eine neue Richtung davonprallte. Und immer noch sprach er mit dieser geisterhaftdünnen Stimme die gleichen Sätze: »Wie bezaubernd Sie heute abend aussehen. Was für ein schöner Tag heute war. O bitte, seien Sie nicht so grausam. Ich könnte ewig so weitertanzen – mit Ihnen. Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
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Natürlich suchte man überall nach Geibel, nur nicht dort, wo er war. In jedem einzelnen Zimmer des Hauses suchten Gäste nach ihm und rannten dann alle zusammen zu seinem eigenen Haus, wo sie kostbare Minuten damit verschwendeten, seine taube alte Haushälterin aufzuwecken. Zuletzt fiel einem von ihnen ein, daß ja auch Wenzel fehlte. Und schließlich kamen sie auf das Nebenhaus auf der anderen Seite des Hofes, wo sie ihn dann auch fanden. Geibel erbleichte, stand auf und folgte ihnen; er und der alte Wenzel bahnten sich ihren Weg durch die draußen versammelten Gäste, eilten in den Ballsaal und schlössen die Tür hinter sich. Von drinnen hörte man leise Stimmen und rasche Schritte, gefolgt von schwer zu deutenden Geräuschen. Nach Augenblicken der Stille kamen wieder die leisen Stimmen.
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Eine Weile später öffnete sich die Tür. Die dort stehenden Gäste versuchten, nach drinnen zu drängen, doch der breitschultrige alte Wenzel versperrte ihnen den Weg. »Ich brauche Sie – und Sie, Bekler«, sagte er, zu zwei der älteren Männer gewandt. Seine Stimme war ruhig, sein Gesicht jedoch totenblaß. »Die anderen muß ich bitten zu gehen. Bringen Sie die Frauen weg – so schnell wie möglich.« Von diesem Tag an beschränkte sich Nikolaus Geibel darauf, mechanische Hasen zu bauen und Katzen, die miauten und sich das Fell putzten.
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Ambrose Bierce Moxons Meister »Ist das Ihr Ernst? Glauben Sie wirklich, daß eine Maschine denkt?« Ich erhielt nicht gleich eine Antwort. Moxon beschäftigte sich angelegentlich mit dem Holz im Kamin, das er da und dort mit dem Schürhaken zurechtrückte, bis es seine Bemühungen mit flackerndem Brand belohnte. Vor mehreren Wochen schon war mir aufgefallen, daß er in zunehmendem Maße die Beantwortung selbst der allertrivialsten Fragen hinauszögerte. Allerdings hatte man weniger den Eindruck, als überlege er, als vielmehr den, daß ihn etwas bedrückte: Es sah aus, als ginge ihm etwas im Kopf herum. »Was ist eine ,Maschine’?« sagte er unvermittelt. »Es gibt verschiedene Definitionen des Wortes. Eine aus einem verbreiteten Lexikon 31
lautet: ,Jedes Instrument oder jede Konstruktion, durch die Kraft angewandt oder eine erwünschte Wirkung herbeigeführt wird.’ Nun, ist dann nicht auch der Mensch eine Maschine? Sie werden zugeben, daß er denkt – oder denkt, daß er denkt.« »Wenn Sie meine Frage nicht beantworten wollen«, erwiderte ich einigermaßen unwillig, »warum sagen Sie es dann nicht? Mit allem, was Sie vorbringen, weichen Sie aus. Wenn ich .Maschine’ sage, dann meine ich - und Sie wissen das sehr wohl – nicht den Menschen, sondern etwas, was von ihm geschaffen und beherrscht wird.« »Wenn es nicht selbst den Menschen beherrscht.« Er stand plötzlich auf, ging zum Fenster und schaute hin aus, wenngleich in der Finsternis einer sternlosen Nacht kaum etwas zu sehen sein konnte. Einen Augenblick später wandte er sich wieder zu mir und sagte lächelnd: »Verzeihen Sie bitte, ich wollte nicht 32
ausweichen. Die Definition des Lexikographen schien mir aufschlußreich und bedenkenswert. Aber ich kann Ihnen durchaus eine direkte Antwort auf Ihre Frage geben: Ich glaube tatsächlich, daß eine Maschine über die Arbeit, die sie tut, nachdenkt.« Das war gewiß direkt genug. Dennoch befriedigte mich diese Antwort nicht sehr, schien sie doch den beklemmenden Verdacht zu bestätigten, daß Moxons intensive Beschäftigung mit Maschinen auf die Dauer nicht gut für ihn war. Ich wußte zum Beispiel, daß er an Schlaflosigkeit litt, und das ist kein kleines Problem. Hatte sein Geist darunter gelitten? Damals war ich noch jünger, und zu den Glücksgütern der Jugend gehört Unwissenheit. Sie war es wohl auch, die mich die Kontroverse weiterverfolgen ließ: »Und womit, bitte, soll sie denn denken – in Ermangelung eines Gehirns?« Rascher, als es jetzt seine Gewohnheit war, kam die Antwort, und zwar in der von ihm be33
vorzugten Form einer Gegenfrage: »Und womit denkt eine Pflanze – in Ermangelung eines Gehirns?« »Ah, Pflanzen gehören also zur Klasse der Philosophen! Es würde mich interessieren, einige von ihren Schlußfolgerungen zu hören; die Prämissen dürfen Sie sich schenken.« »Vielleicht«, erwiderte er, offenbar unbeeindruckt von meiner törichten Ironie, »können Sie aus ihrem Verhalten auf ihre Überzeugung schließen. Ich erspare Ihnen die wohlbekannten Beispiele wie die empfindsame Mimose, die verschiedenen insektenfressenden Pflanzen und jene Blumen, deren Staubfäden Blütenstaub auf die sie besuchende Biene schütteln, damit sie andere ihrer Artgenossen befruchten kann. Aber bedenken Sie dies: An einer offenen Stelle in meinem Garten habe ich wilden Wein gepflanzt. Als er gerade aus der Erde lugte, steckte ich einen Meter entfernt einen Stock in den Boden. Die Ranke wuchs genau in die34
ser Richtung weiter, doch als sie nach ein paar Tagen daran war, ihn zu erreichen, versetzte ich ihn ein wenig. Von diesem Tag an wuchs die Ranke in spitzem Winkel in die neue Richtung, wo jetzt der Stock stand. Dies wiederholte sich mehrere Male. Als sei sie entmutigt, ignorierte die Ranke schließlich weitere Versuche, sie irrezuführen und wuchs zu einem etwas weiter entfernten kleinen Baum hinüber, an dem sie emporkletterte. Eukalyptuswurzeln verlängern sich unglaublich auf der Suche nach Feuchtigkeit. Ein bekannter Gartenbaufachmann berichtete, daß eine in ein altes Abflußrohr hineinwuchs und ihm bis zu der Stelle folgte, wo das Rohr unterbrochen worden war, um Platz für eine steinerne Mauer zu machen. Die Wurzel verließ das Rohr, folgte der Mauer, bis sie eine Öffnung erreichte, wo ein Stein ausgefallen war. Dort kroch sie hindurch und folgte auf
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der anderen Seite der Mauer zurück zum Rohr, in dem sie dann weiterwuchs.« »Soll heißen?« »Begreifen Sie nicht, was das bedeutet? Es zeigt das Bewußtsein der Pflanzen, es beweist, daß sie denken.« »Selbst wenn dem so wäre – wir sprachen doch nicht von Pflanzen, sondern von Maschinen. Die bestehen manchmal zum Teil aus Holz – Holz, das nicht mehr am Leben ist – oder zur Gänze aus Metall. Ist auch die anorganische Materie zum Denken befähigt?« »Wie würden Sie denn sonst Phänomene wie beispielsweise das der Kristallisation erklären?« »Ich erkläre sie gar nicht.« »Weil Sie das gar nicht können, ohne das, was Sie verneinen wollen, zu bestätigen, nämlich intelligente Zusammenarbeit der Bestandteile dieser Kristalle. Wenn Soldaten sich in Reih und Glied aufstellen, nennen Sie das Ver36
nunft. Wenn Wildgänse in V-förmiger Formation fliegen, nennen Sie das Instinkt. Wenn die homogenen Atome eines Minerals, die sich frei in einer Lösung bewegen, sich zu mathematisch perfekten Formen fügen oder Teilchen gefrorener Feuchtigkeit zu den symmetrischen, wunderschönen Formen von Schneekristallen, dann haben Sie nichts zu sagen. Nicht einmal einen Namen haben Sie erfunden, um Ihre heroische Unvernunft zu bemänteln.« Moxon sprach ungemein ernst und nachdrücklich. Als er innehielt, hörte ich aus einem angrenzenden Raum, den ich als seine »Werkstatt« kannte und den niemand außer ihm selbst betreten durfte, ein merkwürdiges Pochen, als schlüge jemand mit der offenen Hand auf einen Tisch. Moxon hörte es im gleichen Moment. Sichtlich erregt sprang er auf und eilte in diesen Raum. Mir schien es eigentümlich, daß sich jemand anderer dort aufhalten sollte, 37
und mein Interesse für meinen Freund – und auch, ich gebe es zu, eine gewisse Neugier – ließ mich angespannt lauschen. Ich hörte schwer deutbare Geräusche. Der Boden zitterte ein wenig, als spiele sich dort ein Kampf ab. Dann kam ein Keuchen, und eine heisere Stimme flüsterte: »Hol dich der Teufel!« Dann war wieder alles still, und gleich darauf kam Moxon zurück und sagte mit entschuldigendem Lächeln: »Verzeihen Sie, daß ich Sie so plötzlich verließ. Ich habe da drinnen eine Maschine, die die Nerven verlor und sich aufzuführen begann.« Mit einem Blick auf seine linke Wange, auf der vier parallele, blutige Kratzer zu sehen waren, sagte ich: »Wie wär’s, wenn Sie ihr mal die Nägel schnitten?« Den Scherz hätte ich mir sparen können; er ging gar nicht darauf ein, sondern setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nahm, als sei nichts geschehen, seinen eben unterbrochenen 38
Monolog wieder auf: »Zweifellos stimmen Sie nicht mit jenen überein (einem Mann von Ihrer Belesenheit brauche ich keine Namen zu nennen), die lehren, daß jedwede Materie Sinnesempfindungen hat- daß jedes Atom ein lebendes, fühlendes, mit einem Bewußtsein ausgestattetes Wesen ist. Ich bin dieser Ansicht. Etwas wie starre, tote Materie gibt es nicht: Alles lebt, hat Instinkte mit verwirklichten und potentiellen Kräften. Alle Materie reagiert auf Einwirkungen aus ihrer Umwelt und ist empfindlich für die subtileren, überlegenen Kräfte höherer Organismen, die mit ihr in Beziehung treten, wie zum Beispiel die Kräfte des Menschen, wenn er aus ihr ein Instrument seines Willens formt. Kennen Sie zufällig Herbert Spencers Definition des „Lebens“ ? Ich las sie vor dreißig Jahren. Möglicherweise hat Spencer sie später noch einmal geändert – das kann ich nicht ausschließen. 39
Aber seit ich sie kenne, habe ich nicht ein einziges Wort darin gefunden, durch dessen Änderung, Auslassung oder Hinzufügung diese Definition verbessert werden könnte. Für mich ist sie nicht nur die beste, sondern die einzig mögliche. „Leben’ sagte er, ,ist eine bestimmte Kombination von heterogenen, sowohl gleichzeitig als aufeinander folgenden Wechselwirkungen, die in Beziehung mit äußeren Mitexistenzen und Folgewirkungen steht.’» »Das definiert das Phänomen«, sagte ich, »sagt aber nichts über seinen Grund.« »Das«, antwortete er, »ist alles, was eine Definition leisten kann. Wie John Stuart Mill aufzeigt, vermögen wir nicht, die innere Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung zu erkennen, sondern nur die äußere zeitliche Folge. Bestimmte Phänomene ereignen sich nie ohne andere, von ihnen verschiedene: Das zeitlich Frühere nennen wir Ursache, das zwei40
te Wirkung. Jemand, der schon öfters von Hunden verfolgte Kaninchen gesehen hat, sonst aber von Kaninchen und Hunden nichts weiß, würde das Kaninchen für die Ursache des Hundes halten. Aber ich fürchte«, fügte er lachend hinzu, »daß mein Kaninchen mich allzu sehr von dem ablenkt, was ich wirklich verfolge Aber das ist, eine Jagd, die ich um ihrer selbst willen betreibe. Worauf ich Sie aufmerksam machen möchte, ist dies: In Herbert Spencers Definition von .Leben’ ist die Wirkweise einer Maschine eingeschlossen – in dieser Definition ist nichts, was nicht auch auf sie anwendbar wäre. Folgen wir Herbert, diesem schärfsten aller Beobachter und tiefsten aller Denker, dann gilt doch dies: Wenn ein Mensch in der Zeitspanne seiner Aktivität lebt, dann auch eine Maschine, so lange sie arbeitet. Und das ist wahr – als Erfinder und Konstrukteur von Maschinen weiß ich es.« 41
Moxon verfiel in brütendes Schweigen und starrte abwesend in das Kaminfeuer. Es war schon spät, und für mich wurde es allmählich Zeit zu gehen. Dennoch war ich von Besorgnis erfüllt bei dem Gedanken, ihn so in seinem abgelegenen Haus zurückzulassen, wo er allein war bis auf die Gegenwart irgendeiner Person, von der ich nur vermuten konnte, daß sie unfreundlich, ja vielleicht bösartig war. Ich beugte mich vor, sah ihm ernst in die Augen, machte mit der Hand eine Geste zur Tür seiner Werkstatt und sagte: »Moxon, wer ist da drinnen?« Zu meiner Überraschung antwortete er leichthin und ohne Zögern: »Niemand; der Vorfall, an den Sie denken, wurde durch meine Torheit verursacht, indem ich eine Maschine arbeiten ließ, die nichts hatte, was sie bearbeiten konnte, während ich mich der mühsamen Aufgabe unterzog, Sie über wesentliche Tatsachen dieser Welt aufzuklären. Wissen Sie 42
eigentlich, daß Bewußtsein auf Rhythmus zurückgeht?« »Gott der Allmächtige!« rief ich, stand auf und holte meinen Mantel. »Ich muß jetzt gehen. Gute Nacht also, und ich hoffe, daß die Maschine, die Sie unbeabsichtigt arbeiten ließen, das nächstemal, wenn Sie es für nötig erachten, sie anzuhalten, Handschuhe anzieht.« Ohne die Wirkung dieses Schusses abzuwarten, verließ ich das Haus. Die Nacht war stockdunkel und regnerisch. Über einer Hügelkuppe, auf die mich mein Weg über morastige Wege zuführte, konnte ich schwach den Widerschein der Lichter der Stadt schimmern sehen. Hinter mir jedoch war nur ein einziges Fenster von Moxons Haus zu erkennen. Irgendwie wirkte es geheimnisvoll und gleichzeitig schicksalhaft auf mich. Ich wußte, daß es eine vorhanglose Öffnung in der »Werkstatt« meines Freundes war, und ich 43
bezweifelte nicht, daß er inzwischen seine Studien wieder aufgenommen hatte, die seine Verpflichtung, mich über Maschinenbewußtsein und die Vaterschaft des Rhythmus aufzuklären, stundenlang unterbrochen hatte. So seltsam, ja sogar einigermaßen belustigend mir seine Überzeugungen damals erschienen, so konnte ich mich doch nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß sie in einer tragischen Beziehung zu seinem Wesen und seinem Leben – vielleicht sogar zu seinem Schicksal – standen, obgleich ich nicht länger glaubte, daß es sich um Verirrungen eines gestörten Geistes handelte. Was immer man von seinen Ansichten halten mochte – die Art, wie er sie darlegte, war dafür zu logisch. Immer wieder kam mir in den Sinn, was er zuletzt gesagt hatte: »… daß Bewußtsein auf Rhythmus zurückgeht.« Nüchtern und knapp, wie diese Feststellung war, empfand ich sie zunehmend bedeutungs44
voll. Je öfter ich sie mir überlegte, desto mehr gewann sie an Tiefe und Sinn. Darauf, dachte ich, ließe sich eine ganze Philosophie aufbauen. Wenn Bewußtsein das Produkt von Rhythmus ist, haben alle Dinge Bewußtsein, denn alle Dinge sind in Bewegung, und alle Bewegung ist rhythmisch. Ich fragte mich, ob Moxon die Bedeutung und Tiefe seines Gedanken, den Umfang einer solchen Generalisierung erkannt hatte. Oder war er auf dem gewundenen, schwierigen Weg der Beobachtung zu seinem philosophischen Credo gelangt? Dieser Glaube war damals neu für mich, und trotz all seiner Bemühungen hatte Moxon nicht vermocht, mich zu ihm zu bekehren. Aber jetzt war mir, als sei mir eine große Erleuchtung zuteil! geworden, wie damals Saulus von Tarsus, und dort draußen in Finsternis, Regen und Einsamkeit erlebte ich, was Lewis »die unendliche Vielfalt und große Beglückung 45
philosophischen Denkens« nennt. Ein neues Gefühl des Wissens erfüllte mich, ein neuer Stolz auf meine Vernunft. Meine Füße schienen kaum mehr den Boden zu berühren; mir war, als werde ich von unsichtbaren Flügeln hochgehoben und durch die Lüfte getragen. In einem unbewußten Impuls, noch mehr Licht bei dem zu suchen, den ich nun als meinen Führer und Meister erkannte, hatte ich mich ungewollt umgewandt, und fast noch ehe ich dessen gewahr wurde, fand ich mich wieder vor Moxons Tür. Ich war völlig durchnäßt, was mich aber nicht störte. In meiner Erregung nicht fähig, die Glocke zu finden, drückte ich instinktiv die Klinke. Die Tür öffnete sich. Ich trat ein und stieg die Treppe zu dem Zimmer hinauf, das ich erst vor so kurzer Zeit verlassen hatte. Alles war dunkel und still. Moxon war, wie ich vermutet hatte, im angrenzenden Raum – der »Werkstatt«. Ich tastete mich an der Wand entlang, bis ich an der Verbin46
dungstür war, an die ich mehrmals laut klopfte. Ich erhielt keine Antwort, was ich dem Aufruhr draußen zuschrieb, denn der böige Wind peitschte den Regen in Schauern gegen die dünnen Wände. Der Raum besaß keine Decke, und die Tropfen prasselten laut auf das Schindeldach. Moxon hatte mich nie in die Werkstatt gebeten, hatte mir sogar vielmehr den Zutritt verwehrt wie allen anderen, bis auf einen einzigen Mann: Einen Metallhandwerker, von dem niemand etwas wußte, außer, daß er Haley hieß und sehr schweigsam war. In meiner Erregung vergaß ich Diskretion und Höflichkeit gleichermaßen und öffnete die Tür. Was ich sah, beendete abrupt alle meine philosophischen Spekulationen. Mir zugekehrt, saß Moxon an einem kleinen Tisch. Die Kerze darauf bildete die einzige Lichtquelle im ganzen Raum. Ihm gegenüber saß mit dem Rücken zu mir eine zweite Per47
son. Die beiden hatten ein Schachbrett zwischen sich und spielten. Ich verstand wenig von Schach, doch da sich nur noch wenige Figuren auf dem Brett befanden, näherte sich das Spiel offenbar seinem Ende. Moxon befand sich in einem Zustand gespannter Aufmerksamkeit – nicht so sehr, wie mir schien, für das Spiel als für seinen Gegner, den er so gebannt anstarrte, daß er mich, obwohl ich direkt in seiner Blickrichtung stand, nicht bemerkte. Sein Gesicht war kalkweiß, und seine Augen glitzerten wie Diamanten. Seinen Gegner sah ich nur von hinten, doch genügte mir das; sein Gesicht zu sehen, verspürte ich nicht das geringste Bedürfnis. Offenbar war er nicht mehr als eineinhalb Meter groß, und seine Proportionen erinnerten an einen Gorilla – seine Schultern waren ungemein breit, sein Nacken war kurz und dick, der Kopf dick und niedrig. Auf dem wuscheligen, schwarzen Haar saß ein purpurner 48
Fes. Eine Art Tunika von derselben Farbe, über der Hüfte von einem Gürtel zusammengehalten, fiel hinunter auf den Sitz, auf dem er saß – offenbar einer Kiste. Beine und Füße waren nicht zu sehen. Sein linker Unterarm schien auf seinem Schoß zu ruhen; die Figuren bewegte er mit der rechten Hand, die unproportioniert lang zu sein schien. Ich war etwas zurückgewichen und stand nun ganz an der Seite der Tür im Schatten. Richtete Moxon den Blick über seinen Gegner hinaus, dann konnte er jetzt nichts sehen, außer, daß die Tür offen war. Ich stand da wie erstarrt, unfähig, einzutreten oder mich zurückzuziehen. Ein merkwürdiges Gefühl – ich weiß nicht, woher es kam – sagte mir, daß etwas Tragisches unmittelbar bevorstand und ich meinem Freund vielleicht helfen konnte, wenn ich den Platz nicht verließ. Fast ohne mich bewußt gegen die Taktlosigkeit meines Verhaltens zu sperren, blieb ich also. 49
Das Spiel lief schnell. Moxon warf kaum einen Blick auf das Brett, ehe er seine Züge machte, und meinem ungeübten Auge erschien es fast, als nehme er jeweils die nächstbeste Figur – so rasch, nervös und unpräzise waren seine Bewegungen. Sein Gegner antwortete ähnlich prompt, doch mit einer langsamen, gleichförmigen, mechanischen und, wie ich dachte, einigermaßen theatralischen Bewegung des Armes, die meine Geduld auf harte Proben stellte. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich, und ich bemerkte, daß mich ein Schauder durchlief. Zwei- oder dreimal beugte sich der Fremde, nachdem er einen Zug gemacht hatte, ein wenig den Kopf, und jedesmal beobachtete ich, daß Moxon mit seinem König zog. Urplötzlich kam mir der Gedanke, daß der Mann stumm war. Dann begriff ich, daß er eine Maschine war- ein automatischer Schachspieler!
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Jetzt fiel mir ein, daß Moxon einmal eine solche Erfindung erwähnt hatte, wenngleich ich seine Bemerkung damals nicht so auffaßte, als hätte er diese Erfindung auch in die Tat umgesetzt. War all dies Gerede über Bewußtsein und Intelligenz von Maschinen bloß ein Vorspiel zur schließlichen Vorführung seiner Maschine – nur ein Trick, der den Effekt ihrer Mechanik auf mich, der ich ihr Geheimnis nicht kannte, intensivieren sollte? Ein schönes Ende meiner intellektuellen Verzückung - der »unendlichen Vielfalt und großen Beglückung philosophischen Denkens«! Ich wollte mich eben angewidert zurückziehen, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Der Apparat hatte die gewaltigen Schultern gezuckt, als irritierte ihn etwas: Diese Bewegung war so natürlich – so vollkommen menschlich –, daß ich in meiner neuen Sicht der Dinge verblüfft war. Und das war noch nicht alles: 51
Einen Augenblick später schlug das Ding mit der Faust auf den Tisch. Moxon schien darüber noch verdutzter als ich: Wie in einer Schreckreaktion schob er seinen Stuhl ein wenig zurück. Im nächsten Moment hob Moxon, der am Zug war, die Hand hoch über das Brett, stieß damit wie ein Raubvogel auf eine der Figuren hinunter, sprang mit dem Ausruf »Schach matt!« auf und trat hinter seinen Stuhl. Der Automat verharrte bewegungslos. Der Wind hatte sich inzwischen ein wenig gelegt, doch hörte ich in zunehmend kürzeren Abständen ein immer lauter werdendes Donnergrollen. In den Zwischenpausen bemerkte ich jetzt ein leises Summen oder Surren, das, wie der Donner, für Augenblicke lauter und deutlicher wurde. Es mußte aus dem Körper des Automaten kommen und rührte unzweifelhaft von surrenden Rädern her. Es gab mir den Eindruck eines in Unordnung geratenen 52
Mechanismus, der irgendwie außer Kontrolle geraten war – wie etwa, wenn eine Sperrklinke aus dem oder jenem Grund verkehrt herum auf ihr Zahnrad zu liegen kommt und damit funktionsuntüchtig wird. Aber ehe ich noch Zeit zu weitergehenden Überlegungen hatte, wurde meine Aufmerksamkeit von den eigenartigen Bewegungen des Automaten selbst gefangengenommen. Eine leichte, doch fortwährende Konvulsion schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. An Kopf und Gliedern zitterte er wie jemand, der an Schlagfluß oder an Fieberfrösteln leidet, und das Zittern steigerte sich, bis die ganze Figur in heftigster Bewegung war. Urplötzlich sprang sie hoch und schoß mit über den Kopf nach vorn gestreckten Armen blitzschnell über den Tisch und den Stuhl hinweg. Moxon versuchte noch, sich nach hinten zu werfen, aber es war zu spät: Ich sah noch, wie die Hände des entsetzlichen Dings ihn am Hals packten. Dann war der 53
Tisch umgefallen, die Kerze verlöscht, und alles war dunkel. Aber die Geräusche des Kampfes waren doch grausam deutlich, und das Gräßlichste von allem waren die heiser- erstickten Laute Moxons, der verzweifelt nach Atem rang. Meinem Gehör folgend, wollte ich meinem Freund zu Hilfe eilen, doch hatte ich kaum zwei Schritte gemacht, als der ganze Raum in einem blendend weißen Licht erstrahlte, das mir unauslöschlich das Bild der beiden einbrannte, die dort am Boden kämpften: Moxon war unten, sein Hals noch von den eisernen Händen umklammert, sein Kopf zurückgedrückt. Auf dem bemalten Gesicht seines Mörders lag ein Ausdruck ruhiger, tiefer Überlegung wie bei der Lösung eines Schachproblems. Das sah ich, ehe es wieder dunkel wurde und still… Drei Tage später wachte ich in einem Hospital wieder auf. Als die Erinnerung an diese tragische Nacht langsam in meinen schmerzen54
den Kopf zurückkehrte, erkannte ich in dem Mann, der im Zimmer stand, Moxons Vertrauten und Helfer Haley. Auf meinen Blick hin näherte er sich lächelnd. »Erzählen Sie«, brachte ich schwach hervor, »alles.« »Gewiß«, sagte er. »Sie wurden bewußtlos aus einem brennenden Haus geholt – aus Moxons Haus. Wie Sie dorthin kamen, weiß niemand. Das müssen Sie wohl noch erklären. Auch die Ursache des Feuers ist ein wenig mysteriös. Ich selbst vermute, daß der Blitz in das Haus schlug.« »Und Moxon?« »Wurde gestern begraben – was von ihm übrig war.« Offenbar konnte diese schweigsame Person gelegentlich auch etwas gesprächiger werden. Wenn es darum ging, Kranken oder Leidenden Furchtbares zu berichten, war er mitteilsam genug. Nach Augenblicken schmerzlichen Schocks wagte ich eine weitere Frage: »Wer hat mich gerettet?« 55
»Nun, wenn Sie das interessiert – ich war es.« »Danke, Mr. Haley – möge Gott Sie dafür belohnen. Und… Haben Sie auch dieses liebenswürdige Produkt Ihrer Kunst gerettet – den automatischen Schachspieler, der seinen Erfinder tötete?« Der Mann wandte sich ab und schwieg eine Weile. Dann drehte er sich wieder zu mir und sagte langsam und ernst: »Das wissen Sie?« »Ja«, antwortete ich. »Ich hab’s gesehen.« Das war vor vielen Jahren. Wenn man mich heute fragte – ich würde nicht mehr mit gleicher Sicherheit antworten.
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Robert Bloch Fast wie ein Mensch »Was wollen Sie?« flüsterte Professor Blassermann. Der hochgewachsene Mann in dem schwarzen Regenmantel grinste. Er stellte einen Fuß in die offene Tür. »Ich möchte Junior sehen«, sagte er. »Junior? Aber das muß ein Irrtum sein. Es gibt keine Kinder in diesem Haus. Ich bin Professor Blassermann. Ich…« »Quatschen Sie nicht«, sagte der Mann. Seine Hand ging in die Tasche des Regenmantels, und plötzlich sah Professor Blassermann in die häßliche Mündung einer Pistole. »Gehen wir zu Junior«, sagte der Mann geduldig. »Wer sind Sie? Was soll das heißen… Warum bedrohen Sie mich?« 57
Ohne eine Miene zu verziehen, bohrte der Mann die kalte, runde Pistolenmündung in Professor Blassermanns dicken Bauch, bis sie das bloße Fleisch berührte. »Bringen Sie mich zu Junior«, beharrte der Mann. »Ich hab’ Fingerzucken, verstehen Sie? Und einer davon ist am Abzug.« »Sie würden es nicht wagen!« stieß Professor Blassermann hervor. »Ich wage so einiges«, murmelte der Mann. »Also machen Sie schon, Professor.« Professor Blassermann zuckte hilflos mit den Schultern und wandte sich in die Eingangshalle zurück. Der Mann im schwarzen Regenmantel folgte ihm. Professor Blassermann spürte jetzt die Pistolenmündung im Rücken, während er seinen kurzen, dicken Körper vorwärts bewegte. »Hier.« Der alte Mann blieb bei einer reich geschnitzten Tür stehen, beugte den Oberkörper ein 58
wenig und steckte einen Schlüssel ins Schloß. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen weiteren Korridor frei. »Hier durch, bitte.« Sie gingen den Korridor entlang. Er war dunkel, doch der Schritt des Professors war gleichmäßig und ohne Zögern. Immer noch hatte er die Pistolenmündung in seinem Rücken. Noch ein Schlüssel, noch eine Tür. Dieses Mal führte sie zu einer Treppe. Der Professor schaltete ein schwaches Deckenlicht an, bevor sie hinuntergingen. »Sie treiben allerhand Aufwand mit Junior«, sagte der Mann. Der Professor blieb einen Moment stehen. »Ich verstehe nicht«, murmelte er. »Wie haben Sie das herausgefunden? Wer könnte es Ihnen verraten haben?« »Ich habe meine Verbindungen«, sagte der hochgewachsene Mann. »Aber damit eines 59
gleich klar ist, Professor: Ich stelle hier die Fragen. Bringen Sie mich zu Junior. Ansonsten halten Sie Ihren Mund.« Am Ende der Treppe kamen sie zu einer weiteren Tür. Dieses Mal war sie aus Stahl. Sie hatte ein Kombinationsschloß, und Professor Blassermann hatte bei der trüben Beleuchtung Mühe mit den Zahlen. Seine dicken Finger zitterten. »Das ist also sein Sanatorium, was?« bemerkte der Mann mit der Pistole. »Sie geben sich sehr viel Mühe mit ihm. Junior müßte sich wirklich geschmeichelt fühlen.« Der Professor antwortete nicht. Er öffnete die Tür, drückte auf einen Wandschalter, und Licht durchflutete den Raum jenseits der Schwelle. »Da sind wir«, seufzte er. Der Mann überflog das Zimmer mit einem einzigen Blick – in der Art, die ein Profi »die Lage peilen« nennt. 60
Auf den ersten Blick war nichts zu »peilen«. Der dicke, kleine Professor und der hagere Revolvermann standen mitten in einem großen, heiteren Kinderzimmer. Die Wände waren himmelblau tapeziert und mit DisneyFiguren dekoriert. In einer Ecke war eine Tafel, ein Haufen Spielzeug und ein paar Kinderbücher. An der Wand gegenüber der Tür hingen Papierbogen verschiedener Art. Das einzige Möbelstück war ein langes, eisernes Bett. All dies nahm der hochgewachsene, hagere Mann mit einem einzigen Blick in sich auf. Danach ignorierte er diesen Hintergrund, und seine Augen starrten nur noch auf die inmitten von mit großen Buchstaben beschrifteten Spielklötzchen auf dem Boden sitzende Gestalt. »Da ist er also«, sagte der Mann. »Junior selbst! Also, wer hätte das jemals gedacht?« 61
Professor Blassermann nickte. »Ja«, sagte er. »Nun haben Sie es herausgefunden. Ich weiß immer noch nicht, wie und warum. Was wollen Sie denn mit ihm? Warum stecken Sie Ihre Nase in meine Angelegenheiten? Wer sind Sie?« »Hören Sie, Professor«, sagte der Mann. »Ich bin nicht die Auskunft. Ich hab’ nun mal was gegen Fragen. Die machen mich so kribbelig in den Fingern, verstehen Sie?« »Ja.« »So. Und wie wär’s, wenn ich jetzt zur Abwechslung ein paar Fragen stelle? Und Sie werden antworten – aber schnell!« Die Stimme des Mannes klang gebieterisch, und die Pistole in seiner Hand unterstrich seinen Befehl. »Dann sagen Sie mir jetzt etwas über Junior, Professor. Ohne viel .wenn’ und .aber«.«
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»Was ist da zu sagen?’ Professor Blassermann hob mit einer hilflosen Geste die Arme. »Sie sehen ihn ja.« »Aber was ist er? Wie funktioniert er? Ich meine – was macht ihn lebendig?« »Das kann ich nicht erklären. Ich habe zwanzig Jahre gebraucht, um Junior, wie Sie ihn nennen, zu entwickeln. Zwanzig Jahre Forschung in Basel, Zürich, in Prag und in Wien. Dann kam der verdammte Krieg, und ich floh in dieses Land. Ich brachte meine Papiere und meine Anlagen mit. Niemand wußte etwas davon. Ich kam hierher und kaufte das Haus. Dann machte ich mich wieder an die Arbeit. Ich bin ein alter Mann. Mir bleibt wenig Zeit. Sonst hätte ich vielleicht noch länger gewartet, ehe ich zur Ausführung meines Experiments schritt. Meine Pläne sind noch nicht vollendet. Aber ich mußte handeln. Und hier ist das Ergebnis.« -
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»Aber warum verstecken Sie ihn? Warum diese Geheimnistuerei?« »Die Welt wird mit so etwas noch nicht fertig«, sagte Professor Blassermann traurig. »Und außerdem muß ich weiter an ihm arbeiten. Wie Sie sehen, ist Junior sehr jung. Gerade erst der Wiege entwachsen, könnte man sagen. Ich erziehe ihn jetzt.« »In einem Kinderzimmer, was?« »Sein Gehirn ist unterentwickelt wie das eines jeden Kindes.« »Wie ein Kind kommt er mir ja nicht gerade vor.« »Körperlich wird er sich natürlich niemals verändern. Aber das sensibilisierte Gehirn – das ist das wunderbare Instrument. Mein Meisterstück. Er wird schnell lernen, sehr schnell. Und es ist von äußerster Wichtigkeit, daß er richtig geführt wird.« »Was soll das, Professor?« »Wie bitte?« 64
»Worauf wollen Sie hinaus? Was soll das bringen? Wozu all das Brimborium?« »Wissenschaft«, sagte Professor Blassermann. »Das ist mein Lebenswerk,« Zum erstenmal hob die Gestalt am Boden den Kopf. Ihr Blick löste sich von den Bauklötzchen und ging zu Professor Blassermann und seinem Besucher. »Papa!« »Mein Gott- es spricht!« flüsterte der Mann. »Natürlich«, sagte Professor Blassermann. »Geistig ist es jetzt etwa sechs Jahre alt.« Seine Stimme wurde freundlich und sanft. ,«Was ist, Sohn?« »Wer ist dieser Mann, Papa?« »Ach – er ist…« Zu seiner Überraschung unterbrach ihn der Revolvermann, dessen Stimme nun ebenfalls freundlich und warm war. »Mein Name ist Duke, Sohn. Nenn’ mich einfach Duke. Ich bin gekommen, um dich zu besuchen.« 65
»Das ist schön. Nie besucht mich jemand, außer natürlich Miss Wilson. Ich höre so viel von Leuten, aber nie sehe ich jemanden. Spielst du gern mit Klötzchen?« »Ja, ja.« »Willst du mit mir spielen?« »Warum nicht?« Duke ließ sich auf die Knie nieder und nahm eines der mit Buchstaben versehenen Klötzchen. »Augenblick – ich verstehe nicht – was tun Sie denn da?« Professor Blassermanns Stimme zitterte. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich Junior besuchen will«, antwortete Duke, »das ist alles. Jetzt werde ich ein bißchen mit ihm spielen. Bleiben Sie nur da, Professor. Gehen Sie nicht weg. Ich muß mich ein wenig mit Junior anfreunden.« Offenen Mundes sah Professor Blassermann zu, wie sich Duke, der Revolvermann, mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden setzte. 66
Seine Linke hielt die Pistole direkt auf den Bauch des Wissenschaftlers gerichtet, während er mit der Rechten bedächtig Klötzchen aufeinandertürmte. Es war eine rührende Szene im unterirdischen Kinderzimmer: Der große, hagere Revolvermann spielte mit Bauklötzchen, um Junior, dem Roboter, einer ein Meter achtzig großen Monstrosität aus Metall, eine Freude zu machen. Auch nach Wochen hatte Duke noch nicht alles herausgefunden, was er von Junior wissen wollte. Natürlich war er im Haus geblieben und hielt sich stets in Professor Blassermanns Nähe. »Das weiß ich noch nicht«, war seine einzige Antwort auf die wiederholten Fragen des alten Mannes, was er zu tun gedenke. Miss Wilson gegenüber war er freilich gesprächiger.
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Nach außenhin war Miss Wilson das Kindermädchen, das Professor Blassermann bei seinem seltsamen Unterfangen, einen Roboter wie ein menschliches Kind aufzuziehen, half. In Wirklichkeit war Lola Wilson Dukes Freundin. Monate zuvor hatte er sie bei Professor Blassermann eingeschleust. Damals hatte er vorgehabt, den reichen, exzentrischen Wissenschaftler aus Europa zu berauben. Dann hatte ihm Lola von der ungewöhnlichen Art ihrer Arbeit berichtet und Duke von Professor Blassermanns eigentümlicher Erfindung erzählt. »Daraus läßt sich was machen«, hatte Duke beschieden. »Ich übernehm’ das selbst. Der Alte hat Angst davor, daß irgendwer irgendwas von seinem Roboter erfährt, wie? Gut! Den nehm’ ich mir vor. Da steckt vielleicht mehr drin als nur ’n bißchen Kohle. Könnte ’ne ganz große Sache werden.«
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Duke quartierte sich also in Professor Blassermanns großem Haus ein, ließ den Wissenschaftler nicht aus den Augen und die Hand nicht von seiner Pistole. Abends besprach er sich mit Lola in ihrem Zimmer. »Ich werd’ nicht schlau daraus, Süße«, sagte er. »Du meinst, der alte Knabe ist ein großer Wissenschaftler. Das glaube ich auch. Er erfindet eine Maschine, die wie ein Mensch redet und denkt – stell’ dir das vor! Aber was will er damit’. Was springt dabei für ihn raus, und warum versteckt er den Junior?« »Das verstehst du nicht, Liebling«, sagte Lola, zündete Dukes Zigarette an und fuhr ihm mit ihren schlanken Fingern durchs Haar. »Er ist ein Idealist oder wie man das nennt. Er glaubt, daß die Welt noch nicht reif für seine große Erfindung ist. Er erzieht Junior genauso, wie man ein richtiges Kind erzieht. Bringt ihm Lesen und Schreiben bei – alles. Und Junior ist ge69
scheit. Kapiert sehr schnell. Denkt, wie wenn er schon zehn Jahre alt wär’. Und der Professor versteckt ihn, damit ihm niemand was Falsches beibringt.« »Haha, und da kommst dann du ins Bild?« »Natürlich. Junior hat keine Mutter. Ich bin so ’ne Art Ersatzmutter für ihn.« »Da hat er sich die richtige Mutter rausgesucht«, lachte Duke. »Du mit deinem Charakter!« »Half den Mund!« Sie fuhr sich mit der Hand durch die kupferbraune Pracht ihrer Locken. »Nerv’ mich nicht, Duke! Glaubst du vielleicht, es macht mir Spaß, in diesem Narrenhaus für dich das brave Lottchen zu spielen? Mich mit dem verrückten Alten zusammensperren zu lassen und für dieses gräßliche eiserne Ding das Kindermädchen zu machen? Ich hab’ Angst vor Junior, Duke. Ich kann sein Gesicht nicht ausstehen, und die Art, wie er spricht – mit dieser verdammten blechernen 70
Stimme, aber wie wenn er ’n richtiger Mensch wär’. Das macht mich nervös. Ich krieg’ schon Alpträume. Ich tu’s nur für dich, Liebling. Also laß mich in Ruh’.« »Tut mir leid.« Duke seufzte. »Ich weiß, wie es ist, Baby. Mir gefällt dieser Junior auch nicht so recht. Mich schmeißt nicht so leicht was um, das weißt du. Aber wenn ich dieses Ding wie so ’n großes, eisernes Baby auf mich zukommen sehe, also, da wird mir schon ’n bißchen flau im Magen. Und er ist stark wie’n Ochse. Lernt schnell. Er…« »Duke.« »Ja?« »Wann verschwinden wir hier’-’ Wie lange willst du noch hier sitzen und dem Professor die Knarre zeigen? Der ist imstande und legt uns noch rein. Hast du nichts anderes im Sinn, als mit
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diesem Junior zu spielen? Warum nehmen wir nicht dem Professor sein Moos und hauen ab? Er würde den Mund halten wegen Junior. Und wir könnten woanders hin, wie wir es vorhatten.« »Hör auf!« Duke packte Lola am Handgelenk und riß sie herum. Er starrte ihr ins Gesicht, bis sie den Blick senkte und sich erschreckt an ihn klammerte. »Glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß, in diesem Leichenhaus rumzuhocken?« fragte er. »Ich möchte genauso schnell raus wie du, aber ich hab’ das monatelang geplant, verstehst du? Erst ging’s da nur um ’n paar leichte Kohlen, und dann nichts wie weg. Jetzt ist es mehr. Da ist wirklich was drin. Hier sind wir bald fertig. Und dann stimmt auch alles, verstehst du. Dann müssen wir uns wegen nichts mehr kümmern. Ich brauch’ nur noch ’n paar Tage. Jeden Tag rede ich mit Junior. Und ich komm’ vorwärts.« 72
»Was soll das heißen?« Duke lächelte, doch wirkte es eher wie eine Grimasse. »Der Professor hat dir erklärt, wie Junior erzogen wird«, sagte er. »Wie jedes Kind hört er auf das, was man ihm erzählt. Und er ahmt andere Leute nach. Wie jedes Kind ist er dumm. Vor allem, weil er keine Ahnung hat, wie die Welt draußen wirklich aussieht. Verstehst du nun, was das bedeutet? Wenn man das passende Thema hat, ist man bei ihm gerade richtig.« »Duke – das heißt doch nicht, daß du…« »Warum nicht?« Der Ausdruck seines hageren Gesichts war beredt genug. »Ich werde Junior meinerseits ein bißchen Erziehung verpassen. Nicht gerade die, die dem Professor gefallen würde. Aber Junior ist wirklich ein guter Schüler. Kommt sehr gut mit. In ein paar Wochen wird er wie ein Erwachsener sein. Mit
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meiner Art von Hirn, nicht der des Professors. Und dann sind wir soweit.« »Aber so was kannst du nicht tun! Das ist nicht…« »Was ist es nicht?« knurrte Duke. »Nicht ehrlich, legal oder irgendwas? Ich wußte gar nicht, daß du so ’ne Sonntagsschulader hast, Lola.« »Keine Spur«, sagte das Mädchen. »Aber das – das ist einfach schlimmer als… Das ist, wie wenn du ’n Baby nimmst und ihm beibringst, mit ’nem Revolver zu schießen.« Duke stieß einen leisen Pfiff aus. »Sag’ mal!« rief er. »Das ist ’ne prima Idee, Lola! Ich glaube, ich geh’ gleich ins Kinderzimmer und gebe Junior ’n paar Lektionen.« »Das kannst du nicht!« »Wirst du schon sehen.« Lola ging nicht mit und sah auch nicht zu. Minuten später hockte Duke im verschlossenen Kinderzimmer neben dem schimmernden Metallkörper Juniors. 74
Der Roboter reckte den welligen Hals und starrte mit seinen facettierten gläsernen Augenlinsen auf das, was Duke in der Hand hielt. »Eine Pistole, Junior«, flüsterte der Mann. »Eine Pistole – ich hab’ dir davon erzählt.« »Was tut die Pistole, Duke?« Das summende Krächzen war die lächerliche Karikatur eines kindlich-fragenden Tonfalls. »Sie tötet Leute, Junior. Wie ich dir neulich erzählte. Dann sterben sie. Du kannst nicht sterben, Junior – die Leute schon. Brauchst dich also vor nichts zu fürchten. Du kannst viele Leute töten, wenn du weißt, wie man mit dieser Pistole umgeht.« »Zeigst du mir das, Duke?« »Sicher. Und du weißt auch warum, nicht wahr, Junior? Ich hab’ dir gesagt, warum, nicht wahr?« »Ja. Weil du mein Freund bist, Duke.« »So ist es. Ich bin dein Freund. Nicht wie der Professor.« 75
»Ich hasse den Professor » »Richtig. Vergiß das nicht.« »Duke.« »Ja?« »Laß mich die Pistole sehen, Duke.« Verstohlen lächelnd hielt ihm Duke die Waffe auf der offenen Handfläche hin. »Und jetzt wirst du mir zeigen, wie man damit umgeht, weil du mein Freund bist, und ich werde Leute töten, und ich hasse den Professor und niemand kann mich töten«, plapperte der Roboter. »Ja, Junior, ja. Ich bringe dir bei, wie man tötet«, sagte Duke. Er grinste und drückte dem Roboter die Pistole in die seltsam schuppige Hand. Junior stand an der Tafel, ein Stück Kreide in der rechten Hand. Er hielt den kleinen, weißen Stummel ungeschickt zwischen zwei metallenen Fingern, aber sein Arm mit der ausgeklügelten Gelenkkonstruktion ging in regelmäßi76
gen Bewegungen auf und ab und kritzelte Sätze auf die Tafel. Junior machte Fortschritte. Die letzten drei Wochen hatten bemerkenswerte Veränderungen in dem Roboter bewirkt. Seine stählernen Beine bewegten sich nicht länger in kindlicher Unentschlossenheit. Wie ein junger Mann ging Junior direkt und gerade. Seinen grotesken Kopf – eine metallene Kugel mit gläsernen Linsen in den Augenlöchern und einem großen, runden Mund, der wie ein Radiolautsprecher aussah – hielt er mit perfekter Koordination auf dem metallenen Hals. Relativ gesehen war er um Jahre herangewachsen. Sein Vokabular hatte sich erweitert. Und Dukes geheime »Lektionen« trugen jetzt Früchte. Junior war für sein Alter sehr schlau. Jetzt schrieb er in jenem verborgenen Zimmer auf seine Tafel, und der unergründliche Mechanismus seines chemischen, mechanisch kontrollierten Gehirns führte seine Finger, 77
während er ungeschickt auf das schwarze Holz kritzelte. »Mein Name ist Junior«, schrieb er. »Ich kann mit einer Pistole schießen. Die Pistole kann töten. Ich töte gern. Ich hasse den Professor. Ich werde den Professor töten.« »Was soll das bedeuten?« Junior wandte abrupt den Kopf um, als die Stimme die dazu notwendigen Vibrationen in seinem schimmernden Schädel auslöste. Professor Blassermann stand in der Tür. Seit Wochen war der alte Mann nicht mehr im Kinderzimmer gewesen. Duke, der ihn eingeschlossen hatte, hatte dafür gesorgt. Doch jetzt war es ihm gelungen, sich zu befreien. Er war sichtlich überrascht und dann, als sein Blick auf die Tafel fiel, auch erschreckt. Juniors starre Miene verriet nicht die Spur einer Gemütsbewegung . »Geh weg«, brummte seine Stimme. »Geh. Ich hasse dich.« 78
»Junior – was hast du getan? Wer hat dich diese Dinge gelehrt?« Langsam und unsicher ging der alte Mann auf den Roboter zu. »Du kennst mich doch, nicht wahr? Was ist geschehen, daß du mich plötzlich haßt?« »Ja, ich kenne dich. Du bist Professor Blassermann. Du hast mich gemacht. Du willst, daß ich dein Sklave bin. Aber erzählen willst du mir nichts.« »Worüber, Junior?« »Über das, was draußen ist. Wo all die Leute sind. Die Leute, die man töten kann.« »Du darfst keine Leute töten.« »Das ist ein Befehl, nicht wahr? Duke hat zu mir über Befehle gesprochen. Er ist mein Freund. Er sagt, daß Befehle für Kinder sind. Ich bin kein Kind.« »Nein«, flüsterte Professor Blassermann heiser, »du bist kein Kind. Ich hoffte einmal, daß du eins sein würdest. Aber jetzt bist du ein Ungeheuer.« 79
»Geh weg«, wiederholte Junior geduldig. »Wenn Duke mir seine Pistole gibt, werde ich dich töten.« »Junior«, sagte der Professor ernst, »du verstehst nicht. Töten ist schlimm. Du darfst mich nicht hassen. Du darfst…« Das Gesicht des Roboters war ohne Ausdruck, und seine Stimme zitterte nicht. Aber sein Arm war stark und seine Entschlossenheit grausam. Professor Blassermann mußte dies ganz plötzlich und auf schreckliche Weise erfahren. Denn Junior war mit zwei großen Schritten bei ihm. Seine Finger aus kaltem Stahl schlossen sich um den Hals des Professors. »Ich brauche keine Pistole«, sagte Junior. »Aber – du kannst doch nicht…« Der Roboter hob den alten Mann am Hals vom Boden hoch. Die stählernen Finger bohrten sich in seine Kehle. Aus seinem linken
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Schultergelenk kam das unheimliche Quietschen ungeölter Scharniere. Sonst gab es kein Geräusch. Einen Augenblick herrschte Stille, bis der schlaffe Körper auf den Boden schlug. Junior starrte auf seine Hände und dann zu der Gestalt auf dem Boden. Seine Füße trugen ihn zu der Tafel. Der Roboter nahm mit ungeschickten Fingern die Kreide. Die kalten Linsen seiner künstlichen Augen betrachteten, was er eben geschrieben hatte. »Ich werde den Professor töten«, las er. Abrupt ging seine freie Hand zum Schwamm. Er wischte den Satz aus. Dann ersetzte er ihn langsam und mühevoll durch einen anderen: Ich habe den Professor getötet. Auf Lolas entsetzten Schrei kam Duke herbeigeeilt und nahm das verängstigte Mädchen in seine Arme. Zusammen starrten sie auf das
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hinunter, was da am Boden lag. Junior sah die beiden unverwandt an. »Siehst du. Duke? Ich habe es getan. Ich habe es mit meinen Händen getan, wie du mir sagtest. Es war einfach, Duke. Du sagtest, daß es einfach sein würde. Können wir jetzt von hier weggehen?« Lola machte sich von Duke frei und starrte ihn an. Er wich ihrem Blick aus. »So«, flüsterte sie. »Es war also kein Scherz. Du hast ihm das beigebracht. Du hast es so geplant.« »Ja, ja. Was ist schon dabei?« murmelte Duke. »Früher oder später mußten wir den alten Knacker sowieso loswerden.« »Das ist Mord, Duke.« »Halt den Mund!« fuhr er sie an. »Außerdem – wer kann das beweisen? Ich hab’ ihn nicht getötet. Du hast ihn nicht getötet. Niemand außer uns weiß von Junior. Es kann nichts passieren.« 82
Duke ging zu der Leiche, kniete sich neben ihr nieder und betrachtete ihren Hals. »Glaubst du, jemand wird die Fingerabdrücke eines Roboters identifizieren?« fragte er. Mit fasziniertem Entsetzen starrte das Mädchen auf Juniors schimmernden Körper. »Du hast das geplant«, flüsterte sie. »Das heißt, daß du auch noch andere Pläne hast. Was willst du als nächstes tun, Duke?« »Abhauen. Und zwar schnell. Wir verschwinden noch heute abend. Ich hol’ das Auto. Dann komm ich zurück. Wir drei fahren nach End Hook. Zu Charlie. Der wird uns verstecken.« »Wir – wir drei?« »Natürlich. Junior kommt mit. Das hab’ ich dir doch versprochen, nicht wahr, Junior?« »Ja, ja. Du sagtest, daß du mich mitnehmen würdest. Hinaus in die Welt.« Seine monotonmechanische Sprechweise verriet die innere Erregung des Roboters nicht. 83
»Duke, du kannst doch nicht…« »Nur die Ruhe, Baby. Ich hab’ noch Großes mit Junior vor.« »Aber ich habe Angst!« »Du? Angst? Was ist los mit dir, Lola? Keine Nerven mehr?« »Er macht mir Angst. Er hat den Professor getötet.« »Hör zu, Lola«, flüsterte der Revolvermann. »Er gehört mir, verstanden? Mein Diener – mein Sklave. Ein mechanischer Sklave. Gut, was? Junior wird dir nichts tun, Lola. Er ist mein Freund, und er weiß, daß du zu mir gehörst.« Duke wandte sich zu dem schimmernden Monstrum. »Du wirst Lola nichts tun, verstanden? Denk daran, Junior. Du magst Lola, nicht wahr?« »Ja. O ja, ich mag Lola. Sie ist hübsch.« »Siehst du?« Duke grinste. »Junior macht Fortschritte. Ist schon ein großer Junge. Denkt,
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daß du hübsch bist. Ein richtiger Wolf aus Stahl, nicht wahr, Junior?« »Sie ist hübsch«, summte der Roboter. »Schon gut. Ich hol’ jetzt das Auto, Lola. Du gehst nach oben. Du weißt, wo der Safe ist. Zieh deine Handschuhe an und hol’ alles raus. Dann machst du Türen und Fenster zu. Hinterlaß eine Notiz für den Milchmann, ’ne Reise von zwei, drei Wochen oder irgendsowas. Und beeil’ dich – ich bin gleich wieder da.« Nach knapp einer Stunde kam Duke mit dem Cabriolett zurück. Sie verließen das Haus durch den Hinterausgang. Lola trug eine schwarze Aktentasche. Sie bewegte sich mit beinahe hysterischer Hast und versuchte, die abscheuliche, schimmernde Gestalt nicht zu sehen, die mit metallischem Knacken hinter ihr herstelzte. Duke öffnete die Wagentür. »Setz dich da hin, Junior.« »Was ist das?« 85
»Ein Auto. Ich erklär’ dir das später. Und jetzt tu’, was ich dir gesagt habe, Junior. Leg’ dich auf den Sitz, so daß dich niemand sieht.« »Wo wollen wir hin, Duke?« »Hinaus in die Welt. Junior. In die große Welt.« Duke wandte sich Lola zu. »Los geht’s, Baby«, sagte er, Das Cabriolett rollte lautlos an, und ihre höchst ungewöhnliche Fahrt begann. Sie hatten einen Roboter entführt. Der dicke Charlie starrte Duke an. Sein Mund zuckte, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. »Mein Gott«, flüsterte er, »du mußt aufpassen, Duke.« Duke lachte. »Manschetten?« »Mhm. Da is’ mir wirklich nicht wohl bei.« Charlie seufzte und sah Duke besorgt an. »Drei Wochen ist es jetzt her, daß du das Ding gebracht hast. Ich wollte das nicht. Der
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Roboter ist heiß, Duke. Den müssen wir loswerden.« »Red’ keinen Quatsch und hör’ zu.« Der hagere Revolvermann lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Erstens mal hat kein Mensch ’ne Ahnung von diesem Professor. Die Polizei sucht nach Lola, das ist alles, und auch nicht wegen Mord – nur ’n paar Fragen. Von ’nem Roboter weiß niemand was. Von daher ist also gar keine Gefahr.« »Schon. Aber denk’ mal dran, was du inzwischen gemacht hast.« »Was hab’ ich gemacht? Die Sache mit dem Lohnbüro, meinst du? Das war wie nach Maß für Junior. Er wußte, wann das Geldtransportauto kommen würde. Ich hab’ das gepeilt. Was ist passiert? Die Transportheinis holen den Kies aus dem Lohnbüro. Ich fuhr vor, ließ Junior raus, und er spazierte ins Lohnbüro. Natürlich haben sie auf ihn geschossen. Aber Kugeln können so ’nem stählernen Apparat 87
nichts anhaben. Und Junior ist clever. Ich hab’ ihm ’ne Menge beigebracht. Die Kerle hättest du sehen sollen, wie der Junior daherkam! Und dann erst, als sie auf ihn losgeknallt hatten! Und er hat sie sich vorgenommen. Einfach so. Hat ein paarmal fest zugedrückt, und die vier waren kalt. Dann hat er sich den Kerl vom Lohnbüro vorgeknöpft. Der wollte Alarm machen, aber ich hatte die Drähte gekappt. Junior hat ihn ’ne Weile gedrückt. Das war alles. Junior ist mit dem Kies abmarschiert. Die fünf Jungs kriegten ’n prima Begräbnis, und die Polizei hat ’nen interessanten Fall. Und wir haben das Geld, und die können uns trotzdem nichts machen. Was soll denn da falsch dran sein, Charlie?« »Du spielst mit Dynamit.« »Du siehst das einfach nicht richtig, Charlie.« Duke sagte es langsam und leise. »Du bist halt ein kleiner Fisch, Charlie. Deswegen hast du 88
auch nur ’ne muffige Kneipe und versteckst Leute vor der Polente, um was dazuzuverdienen. Kannst du denn nicht verstehen, was wir da für ’ne Goldmine haben? Ein stählerner Sklave? Der perfekte Verbrecher, Charlie – der perfekte Verbrechen begeht, sobald ich nur ein Wort sage. Junior können Kugeln nichts anhaben. Junior macht sich keine Gedanken wegen Polizei oder so was. Er hat keine Nerven. Wird nicht müde, schläft nie. Nicht mal ’nen Anteil verlangt er. Was ich ihm sage, das glaubt er. Und er gehorcht. Ich hab’ schon ’ne Menge neue Pläne. Wir verstecken uns hier. Ich peil’ die Dinger, und dann schick’ ich Junior und laß’ ihn arbeiten. Du und Lola und ich – wir werden reich!« Der dicke Charlie schluckte und zupfte an seinem Kragen. Dann sagte er heiser: »Nein, Duke.« »Was soll das heißen – nein?« 89
»Ohne mich. Das ist zu gefährlich. Du und Lola und der Roboter- ihr müßt hier raus. Die Geschichte macht mich nervös. Jeden Tag können die Bullen hier aufkreuzen.« »Das wär’s dann also, was?« »Nur, was das anbetrifft.« Charlie starrte Duke an, widerstand aber seinem eisigen Blick nicht lange. »Du hast einfach kein Herz, Duke«, krächzte er. »Alles kannst du völlig kaltblütig planen. Ich bin da anders, das mußt du verstehen. Ich hab’ nun mal Nerven. Wenn ich dran denke, was dieser Roboter macht: Da werd’ ich einfach verrückt. Der ganze Roboter macht mich verrückt. Wie der dich mit seiner gottverdammten eisernen Visage anstiert. Dieses Grinsen. Und wie er in seinem Zimmer rumklappert. Das klickt und klappert die ganze Nacht, wenn man schlafen möchte, klickt und klappert – da, hörst du es?«
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Aus der Eingangshalle drang metallisches Hämmern. Die alten Bodenbretter knackten unter seinem eisernen Tritt, als das metallene Monstrum ins Zimmer kam. Charlie fuhr herum und starrte dem Neuankömmling mit unverhohlenem Widerwillen entgegen. Duke hob die Hand. »Hallo, Junior«, sagte er. »Hallo, Duke.« »Ich hab’ mit Charlie geredet, Junior.« »Ja, Duke?« »Er möchte nicht, daß wir hierbleiben, Junior. Er will uns rauswerfen.« »Tatsächlich?« »Weißt du, was ich glaube, Junior?« »Was?« »Ich glaub’, daß Charlie Angst hat.« »Angst, Duke?«
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»Genau. Und du weißt, was wir mit Leuten machen, die Angst kriegen, nicht wahr, Junior?« »Ja. Das hast du mir erklärt.« »Vielleicht willst du es Charlie sagen?« »Was wir mit Leuten tun, die Angst kriegen?« »Ja.« »Wir vernichten sie.« »Siehst du, Charlie?« sagte Duke ruhig. »Er lernt schnell, nicht wahr? Faßt wirklich gut auf. Kennt sich aus. Weiß, was man mit feigen Ratten anfängt.« Charlie erhob sich auf weichen Knien. »Augenblick, Duke«, flehte er. »Verstehst du denn keinen Spaß? Hab’ nur ’nen Scherz gemacht, Duke. War nicht mein Ernst. Das kannst du doch sehen. Ich bin dein Freund, Duke. Ich verstecke euch hier. Ich hätt’ euch doch schon vor Wochen verpfeifen können, wenn ich nicht euer Freund wäre. Ihr könnt hierbleiben, so lang ihr wollt. Ewig.« 92
»Sing’s noch mal, Charlie«, sagte Duke. »Aber lauter und lustiger.« Er wandte sich dem Roboter zu. »Na, Junior? Glaubst du, daß er Angst hat?« »Ich glaube, daß er Angst hat.« »Dann solltest du vielleicht…« Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Charlie das Messer aus seinem Ärmel geholt. Es blitzte im Licht der Lampe, als er ausholte, um es Duke in die Kehle zu stoßen. Auch Junior holte aus, schlug zu. Seine stählerne Faust krachte gegen Charlies kahlen Schädel. Blut floß, als der Dicke zu Boden fiel. Flotte Arbeit, dachte Duke, und Junior dachte es auch, weil Duke es ihn so gelehrt hatte. Aber Lola gefiel das nicht. »Das kannst du nicht mit mir machen«, flüsterte sie, als sie sich im Dunkel ihres Zimmers an Duke schmiegte. »Ich bleib’ nicht allein mit diesem Monster im Haus, sag’ ich dir!« 93
»Ich bin nur einen Tag weg«, antwortete Duke. »Kein Grund zur Aufregung. Die Kneipe bleibt solange geschlossen. Niemand wird dich stören.« »Das ist es nicht«, sagte Lola. »Es ist dieses – dieses Ding. Wenn ich bloß dran denk’, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.« »Ich muß eben die Tickets holen, verstehst du«, erklärte Duke. »Muß Plätze reservieren und diese großen Scheine umtauschen. Dann ist es soweit. Morgen abend komm’ ich zurück, hol dich hier raus, und wir hauen ab. Erstes Ziel Mexico City. Ich hab’ schon für Pässe und alles gesorgt. In zwei Tagen sind wir aus dem ganzen Mist raus.« »Und was ist mit Junior?« »Mit meinem eisernen Sklaven?« Duke lachte. »Für den wird gesorgt sein. Schade, daß ich ihn nicht selbständig losschicken kann. Hat ’ne prima Erziehung. Könnte ein Star sein in un-
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serm Geschäft. Kein Wunder - bei dem Lehrer!« Duke lachte. Dem Mädchen in seinem Arm lief es kalt über den Rücken. »Was willst du mit ihm machen?« beharrte sie. »Ganz einfach. Er tut, was ich sage, verstehst du? Bevor wir hier abschieben, sperr’ ich ihn in die Heizungskammer. Dann zünden wir die Scheune hier an. Wir vernichten die Beweismittel, verstehst du? Die Polizei wird glauben, daß Charlie bei dem Brand umgekommen ist. Da bleibt nichts übrig. Und falls sie noch weiter rumstochern sollten und Junior finden, dann ist er ganz schön zusammengeschmolzen.« »Geht es denn gar nicht anders? Könntest du nicht schon jetzt sehen, daß du ihn loswirst?« »Den Gefallen würd’ ich dir gern tun, Baby. Ich weiß, wie dir zumute ist. Aber was kann ich schon tun? Ich hab’ mir das alles genau 95
überlegt. Du kannst ihn nicht erschießen, nicht vergiften, nicht ersäufen, nicht mit ’nem Beil kurz und klein schlagen. Mit Sprengstoff geht es hier auch nicht. Natürlich, ich könnt’ ihn aufmachen und nachschauen, was ihn am Laufen hält. Aber Junior würde nicht zulassen, daß man ihn so austrickst. Ganz smart ist er schon. Hat das, was man .kriminelle Veranlagung’ nennt. Ist fast so ’ne große Nummer wie ich.« Selbstgefällig lächelte Duke in sich hinein. »Kopf hoch, Lola. Junior tut dir nicht weh. Er mag dich. Das hab’ ich ihm beigebracht. Er denkt, du bist hübsch.« »Das ist es ja, was mir Angst macht. Die Art, wie er mich anschaut. Er folgt mir durch die ganze Halle. Wie ein Hund.« .Wie ein Wolf, meinst du. Ha! Guter Witz! Junior wird wirklich langsam groß. Er hat sich in dich verknallt, Lola!«
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»Duke – sprich nicht so… Da wird mir ganz hundeelend.« Duke hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit; ein leichtes Lächeln ging über seine Lippen. »Komisch«, grübelte er. »Der alte Professor hätte sicher gern zugeschaut, wie ich seinen Junior erziehe. Das war doch seine Theorie, oder? Der Roboter hatte ein leeres Gehirn. Einfach wie das eines Babys. Er wollte ihn wie ein Kind erziehen und ihm was beibringen. Aber dann nahm ich ihn mir vor. Dem Professor hätte es schon Spaß gemacht, zu sehen, wie schnell er lernt. Junior ist jetzt schon fast wie ein Mann. Smart? Dieser Roboter würde die meisten Männer um Längen schlagen. Der ist fast so clever wie ich. Nur nicht ganz – das wird er schon merken, sobald er im Schmelzofen ist.« Lola sprang plötzlich hoch, eilte zur Tür und riß sie auf. Der Gang war leer. 97
»Ich hatte Angst, daß er horcht«, flüsterte sie. »Kann er nicht«, sagte Duke. »Der ist im Keller und gräbt Charlie ein.« Er packte Lola an den Schultern und küßte sie heftig. »Also, halt’ die Ohren steif, Baby. Ich geh’ jetzt. Morgen gegen acht bin ich wieder zurück. Halt’ dich bereit, damit wir sofort abhauen können.« »Ich laß’ dich nicht weg«, flüsterte Lola halb von Sinnen. »Geht nicht anders. Ist doch fast schon alles gelaufen. Vierundzwanzig Stunden – nur vierundzwanzig Stunden brauchst du dich jetzt noch zusammenzunehmen. Außerdem ist da noch was, worum ich dich bitten muß, Baby.« »Ich tu’ ja alles, was du willst, Duke.« »Sei nett zu Junior, so lange ich weg bin.« »O Duke!« »Du tust doch alles, hast du gesagt. Also, das mußt du tun. Sei nett zu Junior. Dann wird er nicht argwöhnisch. Du mußt nett zu ihm sein. 98
Laß’ dir nicht anmerken, daß du Angst hast. Er mag dich, aber wenn er auf falsche Gedanken kommt, wird er gefährlich. Also sei nett zu Junior.« Abrupt drehte Duke sich um und ging. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterstieg, die äußere Tür zuschlug, den Motor startete. Dann herrschte Stille. Zitternd vor Grauen wartete Lola in der Dunkelheit auf den Moment, wo sie zu dem metallenen Junior nett würde sein müssen. Es war gar nicht so schlimm. Nicht halb so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie brauchte Junior nur zuzulächeln und sich von ihm begleiten zu lassen. Sorgfältig jede Gefühlsregung unterdrückend, bereitete Lola am nächsten Morgen das Frühstück und machte sich dann daran, zu packen. Klappernd und quietschend war ihr der Roboter nach oben gefolgt. »Öle mich«, hörte Lola ihn sagen. 99
Das war der schlimmste Moment. Aber sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. »Kannst du nicht warten bis heute abend?« fragte sie und hatte Mühe, ihre Stimme in Zaum zu halten. »Da kommt Duke zurück. Er ölt dich doch immer.« »Ich möchte, daß du mich ölst, Lola«, beharrte Junior. »Also gut.« Sie holte die Ölkanne mit der langen Tülle. Sollten ihre Finger während der Verrichtung gezittert haben- Junior bemerkte es nicht. Der Roboter starrte sie mit seinem unbeweglichen Ausdruck an. Keine menschliche Regung zeigte sich auf dem schimmernden Stahl, kein Gefühl klang aus den mechanischen Tönen der rauhen Stimme. »Ich mag es, wenn du mich ölst, Lola«, sagte Junior. Lola vermied es, ihn anzusehen. Hätte sie in einen Spiegel geschaut und gesehen, daß dieser 100
Alptraum Wirklichkeit war – sie hätte die Besinnung verloren. Ein mechanisches, lebendes Monster zu ölen! Ein Monster, das sagte: »Ich mag es, wenn du mich ölst, Lola!« Danach konnte sie für eine Weile nicht weiterpacken. Sie mußte sich setzen. Junior, der sich nie setzte, wenn es ihm nicht befohlen wurde, stand schweigend da und betrachtete sie mit seinen glänzenden Augenlinsen. Lola spürte seinen prüfenden Blick. »Wohin gehen wir, wenn wir das Haus hier verlassen, Lola?« fragte er. »Weit weg«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Das wird schön«, sagte Junior. »Hier gefällt es mir nicht. Ich möchte die Welt sehen. Städte und Berge und Wüsten. Ich möchte auch einmal mit der Achterbahn fahren.«
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»Achterbahn?« Lola war wirklich verblüfft. »Woher weißt du denn, was eine Achterbahn ist?« »Ich las in einem Buch darüber.« »Oh!« Lola schluckte. Sie hatte vergessen, daß dieses Ungeheuer auch lesen konnte. Und denken. Wie ein Mensch. »Wird Duke einmal Achterbahn mit mir fahren?« »Ich weiß nicht. Vielleicht.« »Lola.« »Ja.« »Magst du Duke?« »Aber – natürlich.« »Magst du mich?« »Oh… Aber – das weißt du doch, Junior.« Der Roboter schwieg. Lola spürte, wie ein Schauder durch ihren Körper lief. »Wen magst du lieber, Lola? Mich oder Duke?« 102
Lola schluckte. Sie mußte antworten. »Ich mag dich«, sagte sie. »Aber ich liebe Duke.« »Liebe.« Der Roboter nickte langsam. »Weißt du, was Liebe ist. Junior?« »Ja. Ich las in Buchern darüber Mann und Frau, Liebe.« Lola atmete ein wenig auf. »Lola.« »Ja?« »Glaubst du, daß sich irgendwann jemand in mich verlieben wird?« Lola hätte gleichzeitig lachen und weinen können. Sie spürte einen übermächtigen Drang, laut zu schreien. Aber sie mußte antworten. »Vielleicht«, log sie. »Aber ich bin anders. Das weißt du. Ich bin ein Roboter. Glaubst du, daß das einen Unterschied macht?« »Frauen sehen gar nicht auf solche Dinge, wenn sie sich verlieben, Junior«, versuchte sie 103
ihn zu beruhigen. »Wenn eine Frau glaubt, daß ihr Geliebter der Stärkste und Gescheiteste ist, dann zählt nichts anderes mehr.« »Oh.« Der Roboter ging zur Tür. »Wo willst du hin?« »Ich werde auf Duke warten. Er sagte, er würde heute zurückkommen.« Lola unterdrückte ein Lächeln, als der Roboter klappernd die Treppe hinunterstieg. Das war überstanden. Sie hatte ihre Sache recht gut gemacht, dachte sie. In ein paar Stunden würde Duke zurückkommen. Und dann: ade, Junior! Der arme Junior. Ein metallenes Gestell mit dem Gehirn eines Menschen. Liebe wollte der arme Kerl. Nun - wenn er jetzt mit dem Feuer spielte, so würde er bald genug auch verbrennen. Lolas Erstarrung löste sich. Vor sich hinsummend, ging sie die Treppe hinunter und
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sperrte die Tür zu. Sie trug Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Es war schon fast dunkel, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, um weiterzupacken. Sie knipste das Licht an und zog sich um. Junior war noch immer unten und wartete geduldig auf Duke. Lola führte ihre Vorbereitungen zu Ende und sank dann müde aufs Bett. Sie mußte sich etwas Ruhe gönnen. Die Augen fielen ihr zu. Das Warten hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie mochte gar nicht daran denken, was sie mit dem Roboter durchgemacht hatte. Dieses mechanische Monstrum mit seinem Menschengehirn, seiner schrecklichen, schnarrenden Stimme und dem starrenden Blick – wie sollte sie je vergessen, wie es sie fragte: »Glaubst du, daß sich irgendwann jemand in mich verlieben wird?« Lola versuchte, die Erinnerung zu verdrängen. Nur noch eine kleine Weile, und Duke 105
würde hier sein. Er würde dafür sorgen, daß sie Junior loswurden. Bis dahin mußte sie ruhen, ruhen… Lola fuhr hoch und blinzelte in das Licht. Auf der Treppe hörte sie Schritte. »Duke!« rief sie. Draußen hörte sie Klappern. Ihr Herzschlag stockte. Dann ging die Tür auf, und der Roboter stelzte herein. »Duke!« schrie sie. Die glitzernden Augenlinsen des Roboters starrten sie an. Lola wollte schreien, doch kein Laut entrang sich ihrem zur Grimasse verzerrten Mund. Und dann brummte der Roboter mit seiner metallisch-knarrenden Stimme: »Du sagtest, daß eine Frau den Stärksten und den Gescheitesten liebt. Das hast du gesagt, Lola.« Der Roboter kam näher. »Nun, ich bin stärker, als er war. Und gescheiter.« 106
Lola wollte den Blick abwenden. Doch sie sah, was er in seinen metallenen Klauen trug. Dukes Kopf grinste noch. Das letzte, was sie hörte, als sie zu Boden stürzte, war die Stimme des Roboters, die immer wieder schnarrte: »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich…« Das Seltsame daran war. daß es fast menschlich klang.
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Manly Wade Wellman Pithecanthropus Rejectus Meine ersten Erinnerungen sind wohl die eines ganz normalen Menschenkindes – Kinderstube, Spielzeug und Erwachsene, die sich mit Maßband und Waage an mir zu schaffen machten und mit ernstem Gesicht Zahlen notierten. Gesellschaft leistete mir ein fettes, blauäugiges Baby, das gurgelnd vor sich hinlallte und noch kaum auf dem Linoleumboden des Zimmers herumkriechen konnte, während ich mich schon behende hierhin und dorthin bewegte, auf Tische und Bettpfosten kletterte und manchmal auch auf den Schreibtisch. Hin und wieder tat mir das Baby leid. Allerdings war er erstaunlich gesund und glücklich und gab keine Anzeichen, daß es dieselben peinigenden Schmerzen verspürte wie ich von Zeit zu Zeit in Kopf und Kiefer. 108
Als ich gelernt hatte, zu sprechen und zu verstehen, erfuhr ich den Grund dieser Schmerzen. Die große, blonde, lächelnde Frau, die mir beibrachte, sie »Mutter« zu nennen, sagte ihn mir. Sie erklärte mir, daß ich ohne die für die Ausdehnung von Schädel und Gehirn so notwendige Öffnung in meinem Kopf geboren war, und daß der Mann im Haus – »Doktor« – solch eine Öffnung gemacht, das Wachstum meines Schädels gesteuert und sie später mit einer Silberplatte wieder verschlossen hatte. Auch mein Unterkiefer war unter Verwendung von Silber verändert worden, denn bei meiner Geburt war er zu schmal und zu flach gewesen, um meiner Zunge den notigen Spielraum zu geben. Dieser Kieferumbau sowie die Neustrukturierung verschiedener Zungenmuskeln ermöglichten es mir zu sprechen. Ich lernte es Monate vor dem Baby. Ich lernte »Mutter« sagen und »Doktor« und wußte auch, daß ich das Baby »Sidney« zu nennen 109
hatte und mich selbst »Kongo«. Später konnte ich meinen Wünschen und Bedürfnissen Ausdruck verleihen, obwohl – wie das, was ich hier schreibe, beweist – ich die Sprache nicht völlig geläufig beherrsche. Doktor kam alle Stunden ins Kinderzimmer, beobachtete jede meiner Bewegungen und hörte auf jedes Geräusch, das ich machte. Dann notierte er alles. Er war ein dicker Mann mit hochgezogenen Schultern und einem großen, eckigen Bart. Wenn er mit mir umging, war er ernst – fast streng. Mit Sidney jedoch spielte er auf die zärtlichste Art. Das verletzte mich, und dann ging ich zu Mutter, um mich trösten zu lassen. Und Mutter war auch zärtlich zu mir. Sie nahm mich dann immer in den Arm und lachte – und ich durfte sie auf die Wange küssen. Ein paarmal sah Doktor mißmutig drein, und einmal hörte ich, wie er draußen vor der Tür mit Mutter sprach. Ich verstand schon alles 110
recht gut. Inzwischen ist es mir möglich, mir damals nicht verständliche Einzelheiten des Gesprächs zu ergänzen. »Das gefällt mir nicht, sag’ ich dir«, knurrte er. »Diese Kreatur so zu verwöhnen. Sie lachte nur. »Der arme, kleine Kongo!« »Kongo ist ein Affe, trotz aller meiner Behandlung«, antwortete er kühl. »Sidney ist dein Sohn – Sidney allein. Der andere ist ein Experiment- wie wenn man in einem Kolben Chemikalien schüttelt oder Zweige auf einen Baum aufpfropft.« »Darf ich dich an eines erinnern«, sagte Mutter, immer noch freundlich. »Als du ihn aus dem Zoo brachtest, sagtest du, er müsse hier wie ein menschliches Kind leben, genauso wie Sidney. Das, so erklärtest du, sei Teil des Experiments. Zuneigung und Fürsorge gehören aber genauso dazu’
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»Ach, dieses kleine Biest!« schimpfte Doktor. »Ich wollte, ich hätte die Finger von der Sache gelassen.« »Aber das hast du nicht. Du hast seine Gehirnkapazität vergrößert und ihm das Sprechen ermöglicht. Er ist intelligenter als menschliche Kinder in seinem Alter.« »Die Entwicklung bei Affen geht schnell. Aber wenn die seine zum Stillstand kommt, wird die von Sidney erst richtig losgehen. So war es immer bei diesen Experimenten.« »Bisher sind diese Experimente immer mit gewöhnlichen Affenkindern durchgeführt worden«, sagte Mutter. »Durch deine Operation hast du ihn, zumindest bis zu einem gewissen Grad, menschenähnlich gemacht. Entsprechend solltest du ihn jetzt auch behandeln.« »Ich komme mir vor wie Prospero, der alles tat, um aus Caliban ein gesittetes Wesen zu machen.«
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»Caliban meinte es gut«, antwortete Mutter und erinnerte ihn damit an etwas, wovon ich nichts wußte. »Jedenfalls ist es nicht meine Art, etwas halb zu tun, mein Lieber. So lange Kongo in diesem Haus bleibt, werde ich ihn liebevoll pflegen und versuchen, ihm in jeder Weise zu helfen. Und er soll mich als seine Mutter ansehen.« All dies hörte ich. Und ich verstand es auch mit der Zeit. Als ich in meinem dritten Lebensjahr lesen lernte, holte ich mir ein paar von Doktors Artikeln, die er über mich geschrieben hatte. Schließlich wurde mir klar, was das alles bedeutete. Natürlich hatte ich mich Hunderte von Malen im Spiegel gesehen und wußte, daß ich krummbeinig, langarmig und am ganzen Körper behaart war. Dennoch glaubte ich keinen grundsätzlichen Unterschied zu den anderen zu erkennen. Ich war nicht wie Sidney, doch Mutter auch nicht – weder in Größe noch in 113
Erscheinung oder Verhalten. Was Sprache und Dinge wie Tischmanieren oder Selbständigkeit anbelangt, so war ich Mutter und Doktor näher als ihm. Nun aber erkannte ich den Unterschied zwischen mir auf der einen und Sidney, Doktor und Mutter auf der anderen Seite. Ich war in einem eisernen Käfig im Zoo der Bronx geboren worden, stellte ich fest. Meine Mutter war eine große Äffin, eine Kulakamba. Diese Rasse ist nicht kleinwüchsig wie Schimpansen und auch nicht ungeschlacht wie die Gorillas. Vielmehr steht sie dem Menschen in Größe, Körperbau und Intelligenz ziemlich nahe. Doktor, ein bedeutender Vertreter der experimentellen Anthropologie – Wörter wie diese fallen mir nicht schwer, da sie in seinem Haus zum täglich gebrauchten Sprachschatz gehörten – hatte sich vorgenommen, die Entwicklung eines Affenbabys und seines eigenen, neugeborenen Kindes zu vergleichen, indem er
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sie miteinander unter identischen Bedingungen aufzog. Ich war das Affenbaby. Übrigens habe ich in einem Trader Hörn betitelten Buch gelesen, daß es gar keine Kulakambas gebe; ihre Existenz sei nur eine Erfindung. Aber es gibt Kulakambas; sie leben in großer Anzahl in den Urwäldern Zentralafrikas. Als ich vier war, führte mich Doktor in sein großes, weißes Laboratorium. Dort untersuchte und maß er meine Hände, wobei er irgend etwas Unverständliches in seinen Bart murmelte. »Wir müssen operieren«, sagte er schließlich. »Wirklich?« sagte ich ängstlich. Ich wußte, was das Wort bedeutet. Er lächelte, aber es sah nicht sehr fröhlich aus. »Du bekommst eine Narkose«, versprach er, als ob das etwas ganz Besonderes, im Grunde gar nicht Nötiges sei. »Ich möchte deine Hände verändern. Die Daumen haben 115
nicht die richtige Stellung, und deswegen kannst du nicht ordentlich greifen. Deine Hand ist ganz anders als die von Menschen. Kongo – wirklich ganz anders.« Seine Worte machten mir Angst, doch Mutter tröstete mich. Auf lange Sicht sei ich so besser dran, sagte sie. So legte ich mich, als Doktor mir den Befehl gab, auf den weiß bezogenen Tisch und atmete tief durch den feuchten Stoff, den er mir aufs Gesicht legte. Ich schlief ein und träumte von hohen grünen Bäumen und von anderen Kulakambas, die darauf herumkletterten und im Geäst spielten, Nester bauten und Nüsse aßen, die so groß waren wie mein Kopf. In meinem Traum versuchte ich, mich zu ihnen zu gesellen, fand mich aber zurückgehalten wie von einer Glasscheibe. Da kamen mir die Tränen – obwohl oft behauptet wird, daß Affen nicht weinen können –, und ich erwachte. Meine Hände waren bis zum Ellenbogen herauf bandagiert 116
und schmerzten. Wochen später konnte ich sie wieder gebrauchen und stellte fest, daß die harten, schwieligen Handflächen jetzt weicher und die ungeschickten, kleinen Daumen irgendwie länger waren und sich ganz anders bewegen ließen. Ich entwickelte ein solches Geschick damit, daß ich eine Nadel aufheben oder einen Krawattenknoten binden konnte. Das war im Winter, und ein- oder zweimal, als ich auf der Veranda spielte, spürte ich furchtbare Schmerzen in Kiefer und Stirn. Doktor sagte, daß die Silberplatten wegen der Kälte weh taten und daß ich, wenn ich nach draußen ging, immer eine warme Kappe und ein dickes Halstuch tragen müsse. »Das ist wie eine Plombe, die den Zahnnerv berührt«, erklärte er mir. Mit sieben trieb ich mich überall im Haus herum und half Mutter häufig bei ihrer Arbeit. Doktor war ganz begeistert von mir. Bei Tisch – ich aß mit Mutter und ihm, wenn sonst nie117
mand da war – sprach er sehr viel von seinem Experiment, das, wenn es auch in mancher Hinsicht unvollkommen sei, doch gänzlich neue Horizonte eröffne. »Kongo war ein ganz normales Affenkind, nichts weiter«, sagte er immer wieder, »und jetzt entwickelt er sich geradezu zu einem respektablen Angehörigen der Unterschicht,« »Er gehört in keiner Weise zur Unterschicht«, sagte Mutter an diesem Punkt stets, aber Doktor war da nicht mehr zu bremsen. »Wir könnten viele solche Operationen durchführen und auf diese Weise ausgezeichnete, billige Arbeitskräfte schaffen. Wenn Kongo erst groß ist, dann ist er so stark wie sechs oder acht Männer, und sein Unterhalt kostet fast gar nichts.« Er beobachtete mich bei verschiedenen Tätigkeiten – Gartenbau, Holz- und Metallbearbeitung; bei letzterer stellte ich mich anscheinend recht geschickt an –, und eines Tages 118
fragte er mich, was ich wohl am allerliebsten tun würde. Ich erinnerte mich an den Traum, den ich gehabt hatte, als er mich operierte – und seitdem noch oft. »Am liebsten«, antwortete ich, »würde ich auf einem Baum leben und aus Blättern und Zweigen ein Nest…« »Oh!« schrie er fast, offenbar angewidert. »Und ich dachte, du würdest dich zu einem Menschen entwickeln!« Daraufhin wiederholte er seine Ermahnungen an Mutter, mich nicht so liebevoll zu behandeln. Sidney ging zu jener Zeit schon zur Schule. Ich blieb mit Doktor und Mutter daheim – wir lebten in einer kleinen Stadt in New Jersey – und beschränkte meine Tätigkeit auf das Haus und den mit Büschen bewachsenen Garten. Einmal lief ich nach einem kleinen Streit mit Doktor weg und versetzte die ganze Nachbarschaft in Angst, bis mich ein nervöser Polizist 119
mit gezogenem Revolver wieder zurücktrieb. Doktor bestrafte mich, indem er mich drei Tage lang in mein Zimmer sperrte. In dieser einsamen Zeit überlegte ich viel. Meine Außenseiterrolle wurde mir klar. Menschen hatten in mir etwas völlig Fremdes erblickt, was ihnen Angst einjagte. Mein haariger Körper hatte sie zu meinen Feinden gemacht und mich in Gefangenschaft geführt. Mit zehn Jahren war ich ausgewachsen. Ich war einen Meter fünfundsechzig groß und wog ebensoviel wie Doktor. Mein vorher eher blasses Gesicht war jetzt ganz schwarz und bärtig. Ich ging aufrecht und ohne mich mit den Knöcheln am Boden abzustützen wie andere Affen, denn meistens hatte ich irgendein Werkzeug oder ein Buch in den Händen. Indem ich Sidney zuhörte, wenn er laut lernte, bekam ich ein wenig von seinem Unterrichtsstoff mit, was ich durch regelmäßige und ernsthafte Lektüre seiner nicht mehr ge120
brauchten Schulbücher ausbaute. Darüber hinaus las ich viel in Doktors Bibliothek, vor allem über Reisen. Romane und Erzählungen mochte ich allerdings nicht. »Warum sollte ich das lesen?« fragte ich Mutter, als sie mir ein Buch über ,Tom Sawyer’ anbot. »Das ist doch nicht wahr.« »Aber es ist interessant«, sagte sie. »Aber wenn es nicht wahr ist, ist es eine Lüge. Und lügen ist böse.« Romanleser seien sich durchaus bewußt, erklärte sie mir, daß das, was in den Büchern stehe, nicht wahr sei. Dann seien sie Narren, antwortete ich. Doktor, der sich nun einmischte, fragte mich, warum mir dann meine Träume so sehr gefielen. »Du sagst, daß du von großen, grünen Wäldern träumst«, erinnerte er mich. »Das ist auch nicht wahrer als Bücher.« »Wenn es ein guter Traum ist«, antwortete ich, »dann freue ich mich, wenn ich erwache, 121
weil er mich glücklich machte. Wenn es ein schlechter Traum ist, dann freue ich mich, weil mein Erwachen ihn beendete. Außerdem ereignen sich Träume wirklich, Romane hingegen nicht.« Doktor nannte das sophistisch und beendete damit das Thema. Wie ich schon sagte, ist Schreiben nicht unbedingt meine Stärke. Das zeigte sich auch darin, daß ich etwas Wichtiges übersehen habe. Die vielen Besuche von Wissenschaftlern. Sie kamen, um mich zu beobachten und ihre Erkenntnisse mit Doktor zu besprechen – und manchmal sogar mit mir. Eines Tages jedoch kamen ein paar Männer, die keine Wissenschaftler waren. Sie rauchten lange Zigarren und trugen Diamantringe und breitkrempige Hüte. Über eine Stunde lang waren sie in Doktors Arbeitszimmer, und an diesem Abend sprach er lange mit Mutter.
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»Achtzehntausend Dollar!« sagte er immer wieder. »Überleg’ dir das mal!« »Bisher hast du niemals an Geld gedacht«, erwiderte sie traurig. »Aber achtzehntau… Und das wäre doch bloß der Anfang, Liebling. Wir würden das Experiment noch einmal machen, mit zwei Affenbabys – zwei neuen, kleinen Kongos, die du bemuttern könntest…« »Und der erste Kongo, mein armer Pflegesohn aus dem Dschungel«, antwortete Mutter betrübt, »der käme irgendwohin und wäre ganz elend. Wie kannst du so etwas auch nur in Erwägung ziehen, Liebling? Hat nicht dein Großvater für die Sklavenbefreiung gekämpft?« »Das waren menschliche Sklaven«, erwiderte Doktor. »Keine Tiere. Und Kongo wird auch nicht elend sein. Seinem Affeninstinkt wird das neue Leben gefallen. Er wird sich sicher
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recht wohl fühlen. Und wir können mit dem Geld experimentieren und davon leben.« So ging es weiter, bis Mutter weinte. Aber Doktor setzte sich durch. Am nächsten Tag kamen die Männer mit den Zigarren wieder, und Doktor begrüßte sie fröhlich. Sie gaben ihm einen Scheck – über einen größeren Betrag offenbar, denn sie schrieben ihn sehr feierlich aus. Dann wandte sich Doktor an mich. »Kongo«, sagte er, »du gehst jetzt mit diesen Leuten. Du hast eine Karriere vor dir, mein Junge: Du bist im Showbusiness.« Ich wollte nicht mit ihnen gehen, aber ich mußte. Meine Abenteuer als Kuriosität des Schaugeschäfts sind in vielen Zeitungen der ganzen Welt beschrieben worden, und ich werde nur kurz auf sie eingehen. Zunächst machte ich Kraftakte und beendete meinen Auftritt mit einem angeblich komischen Dialog mit einem Mann in einem Clown-Kostüm. Danach dach124
te man sich etwas Besseres für mich aus. Ich hatte die Bühne für mich allein und machte Kunststücke mit einem Fahrrad auf einem Trapez; dann erzählte ich meine Lebensgeschichte und beantwortete Fragen aus dem Publikum. Auch in einem Film war ich dabei, zusammen mit einem früheren Schwimmchampion. Ich mochte ihn sofort, so wie ich eben alle Menschen mochte – ausgenommen Mutter natürlich, das war etwas anderes. Er war stets gut und freundlich zu mir und haßte mich auch nicht, als unsere Namen gleichgroß auf den Plakaten standen. Eine Weile glaubten viele Zeitungsreporter, ich sei gar kein Affe, sondern ein mit einem Affenpelz verkleideter Mensch. Doch das war leicht widerlegt. Eine Anzahl von Wissenschaftlern besuchte mich in den verschiedenen Städten, wo ich auftrat, und die Zahl der Neugierigen, die mich sahen, ging buchstäblich in die Millionen. Im dritten Jahr meiner Karriere 125
im Showbusiness kam ich nach Europa. Ich mußte Deutsch und Französisch lernen – genug jedenfalls, um mich auf der Bühne verständlich machen zu können –, und man lachte über meinen Akzent, der tatsächlich nicht sehr gut war. Ein- oder zweimal wurde ich bedroht, weil ich auf der Bühne irgend etwas über diesen oder jenen politischen Führer sagte, aber im großen und ganzen waren die Leute sehr freundlich. Schließlich jedoch erwischte mich ein schlimmer Husten. Meine Besitzer waren ziemlich bestürzt und riefen einen Arzt, der mir eine Seereise verschrieb. Die Ankündigung, daß ich mein »Heimatland Afrika«, besuchen würde, trug mir selbstverständlich viel Publicity ein. Natürlich war ich nicht in Afrika geboren, sondern im Zoo der Bronx. Dennoch schlug mein Herz höher, als ich, in einen langen Mantel gehüllt, an der Reeling lehnte und zum 126
erstenmal die Westküste unterhalb des Äquators sah. Als das Schiff an diesem Abend in der Nähe irgendeines kleinen Hafens vor Anker lag, kam ich auf den Gedanken, mich vom Bordrand in eine nur mit Kisten und Koffern gefüllte Barke hinunterzulassen. Ich fuhr damit an Land und schlich mich durch die schäbige, kleine Stadt zu einem kleinen Bach, der in einen feuchtheißen, grünen Wald führte. Ich berichte das so kurz und beiläufig, weil mir diese Eingebung ebenso beiläufig und unvermittelt kam. Irgendwo las ich von Lemmingen, diesen kleinen, rattenähnlichen Tieren, die zu Tausenden zum Meer ziehen und sich darin ertränken. Sie tun das, weil sie es müssen. Ich bezweifle, ob sie darüber philosophieren; sie tun es einfach. Irgend so ein Instinkt zwang mich in Afrika an Land und ließ mich dem Wasserlauf folgen.
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Zunächst fühlte ich mich dort so seltsam und fremd, wie ein beliebiges menschliches Wesen auch. Irgendwie wußte ich aber, daß die Natur schon für alles sorgen würde. Am Morgen ruhte ich mich in einem Baumdickicht aus. Die Früchte der Bäume kannte ich nicht, doch hatten die Vögel daran gepickt, und so wußte ich, daß ich sie essen konnte. Der Geschmack war eigentümlich, doch gut. Am zweiten Tage hatte ich die Zivilisation auch innerlich hinter mir gelassen. In dieser Nacht schlief ich auf einem Baum, auf dem ich mir eine Art Nest gebaut hatte. Diese Arbeit fiel mir nicht leicht; dennoch – irgend etwas jenseits meiner eigenen Erfahrung schien meine Hände zu führen. Ein paar Tage später fand ich meine Artgenossen, die Kulakambas. Wie ich sie in meinen Träumen gesehen hatte, so waren sie auch: Sie schwangen sich durch das Geäst der Bäume, spielten und sammelten Nahrung. Sie hatten auch eine 128
Sprache – mit Worten und vermutlich sogar Grammatik. In den Astgabeln der großen Bäume konnte ich eine Anzahl von mit Dächern bedeckten Nestern sehen. Die Kulakambas hatten sie rasch und ohne Mühe gebaut. Nichts bekümmerte die Kulakambas. Sie lebten, ohne sich über den nächsten Augenblick Gedanken zu machen. Ich beschloß, mich ihnen zu zeigen. Ich würde ihr Freund werden, ihre Lebensart und ihre Sprache kennenlernen. Dann konnte ich sie nützliche Dinge lehren; sie würden mir dafür ihre Spiele beibringen. Mein alter Traum würde Wirklichkeit werden. Die Zivilisation, aus der ich kam, fiel von mir ab wie ein zu loses Gewand. Als sie mich sahen, begannen sie auf mich einzuplappern. Ich versuchte, ihre Laute nachzuahmen, doch das mißlang. Da wurden sie erregt, kletterten in die Bäume hinauf und begannen, Früchte und Zweige auf 129
mich herunterzuwerfen. Als ich floh, folgten sie mir, kreischten vor Zorn. Es war ein Zorn, den ich nicht verstand. So verfolgten sie mich den ganzen Tag. Erst beim Anbruch der Nacht nahmen sie vor einem Leoparden Reißaus. So kehrte ich nach einer Reihe von Tagen zurück in die Stadt am Meer. Ich hatte sie Geld und Nerven gekostet. Am meisten zählte natürlich das Geld. Einer von ihnen wollte mich mit der Peitsche schlagen. Ich erinnerte ihn daran, daß ich ihn auseinanderreißen konnte wie ein gebratenes Huhn; da redete er nicht mehr davon. Allerdings sperrte man mich ein, bis unser Schiff zurückkam und uns an Bord nahm. Soweit es meine Besitzer betraf, ging dieses Abenteuer trotz allem gut aus. Reporter interwievten mich, als ich nach London zurückkam. Ich erzählte ihnen wahrheitsgetreu, was ich getan hatte, und sie schlachteten die
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»Rückkehr des Affenmenschen in den Dschungel« weidlich aus. Etwa eine Woche später kam ein Telegramm aus Amerika. Irgend jemand führte ein Stück von William Shakespeare auf, und man benötigte mich für eine wichtige Rolle. Wir fuhren nach Amerika zurück, wurden bei der Landung von einer Meute von Reportern belagert und begaben uns dann zu einem Hotel. Vorher hatte es manchmal Ärger gegeben, wenn ich in Hotels übernachten sollte. Nun, da ich als Shakespeare-Darsteller bekannt war, fühlte sich das Management des größten und vornehmsten Hotels »geehrt«, mich als Gast zu haben. Meine Besitzer unterzeichneten einen Vertrag für mein Auftreten im »Sturm«. Ich sollte den Caliban spielen, eine Art primitiven, ruppigen Unhold. Teilweise sollte er böse sein, teilweise einfach lächerlich. Als ich von seinen Irrungen und Torheiten las, vergaß ich meinen 131
Widerwillen gegen erzählende oder dramatische Literatur. Mir fiel ein, was Doktor und Mutter über Caliban gesagt hatten, und plötzlich wußte ich, wie sich der bedauernswerte Sprößling der Sycorax gefühlt haben mußte. Am nächsten Tag kam ein Besucher. Es war Doktor. Er war inzwischen grauer geworden, sah aber gesund und zufrieden aus. Den Bart trug er jetzt spitz. Er schüttelte mir die Hand und tat, als freute er sich sehr, mich zu sehen. »Du bist wirklich ein großer Erfolg, Kongo«, sagte er immer wieder. »Ich hab’s ja gleich gesagt.« Wir redeten ein wenig über dies und das, und nach ein paar Minuten verließen meine Besitzer den Raum, um irgendwas zu erledigen. Nun beugte sich Doktor vor und tätschelte mir das Knie. »Also, Kongo«, sagte er, »wenn du ein paar Brüder und Schwestern hättest – würde dir das gefallen?« 132
Ich verstand ihn nicht und sagte ihm das. »Oh das ist ganz einfach«, antwortete er und schlug die Beine übereinander, »Es wird mehr von deiner Art geben.« »Mehr Kulakambas?« Er nickte. »Ja. Mit einem Gehirn, mit dem sie denken, und einem Kiefer, mit dem sie sprechen können. Du bist ein Erfolg, würde ich sagen – faszinierend und einträglich. Und mein nächstes Experiment wird noch besser sein. Es wird mehr von deiner Art geben – körperlich und geistig weiterentwickelt – wertvoller.« »Tun Sie’s nicht, Doktor«, sagte ich plötzlich. »Ich soll es nicht tun?« wiederholte er scharf. »Warum nicht?« Ich suchte nach einer überzeugenden Begründung, aber es fiel mir nichts ein. »Tun Sie’s nicht, Doktor«, wiederholte ich. Einen Augenblick lang starrte er mich mit zusammengekniffenen Augen an. Dann ließ er
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ein mißmutiges Schnauben hören, wie ich es von früher her kannte. »Es ist grausam, wirst du vermutlich sagen«, erklärte er ein wenig von oben herab. »Richtig. Es ist grausam.« »Also, du…« Er brach ab, ohne mich irgendwie zu beschimpfen, aber ich konnte seine Verachtung spüren. »Dir ist wohl klar, was ohne mich aus dir geworden wäre: Ein Affe, der andere Affen laust.« Ich dachte an die Kulakambas, die gedankenlos und glücklich in der Wildnis lebten. »Ich habe dir Hände gegeben, Verstand und Sprache«, fuhr er fort, »die drei Dinge, die einen Menschen ausmachen. Und jetzt unterstehst du dich…« »Ja«, unterbrach ich ihn wieder, denn mir fiel ein, was ich über Caliban gelesen hatte. »Sprache genug, um Sie zu verfluchen.« Er sah mich entrüstet an. »Eben noch batest du mich um etwas.« 134
Ich unterdrückte meinen immer stärker werdenden Zorn. »Ich bitte Sie noch einmal, Doktor«, beschwor ich ihn. »Metzgern Sie nicht noch mehr Tiere zu dem zusammen, was – was ich bin » Er schaute an mir vorbei, und als er sprach, redete er nicht zu mir, sondern zu sich selbst. »Zunächst werde ich fünf operieren, im nächsten Jahr zehn. Vielleicht stelle ich sogar ein paar Assistenten ein, dann schaffen wir noch mehr. In sechs bis acht Jahren gibt es ein volles Hundert wie dich – vielleicht sogar noch weiterentwickelt…« Ich beugte mich vor und faßte ihn scharf ins Auge. »Das dürfen Sie nicht«, sagte ich mit großer Bestimmtheit. Er sprang auf. »Du vergißt dich, Kongo«, knurrte er. »Ich bin solche Worte nicht gewohnt – vor allem nicht von einem Ding, das 135
mir so viel verdankt. Außerdem geht es darum, das Leben der Menschheit zu erleichtern.« »Indem Sie die Arbeit armen Tieren aufzwingen.« »Und was willst du denn dagegen tun?« höhnte er. »Ich werde Sie daran hindern«, versicherte ich ihm. Er lachte. »Das kannst du nicht. Alle deine Fähigkeiten bedeuten nichts. Du hast eine flexible Zunge und denkst rational – aber nach den Gesetzen der Natur und des Menschen bist du ein Tier. Ich« – er schlug sich mit der Faust gegen die Brust – »ich bin ein großer Wissenschaftler. Ganz gleich, was du dir in den Kopf setzt- du kannst überhaupt nichts ausrichten.« »Ich werde Sie daran hindern«, sagte ich wieder und erhob mich langsam. Erst jetzt verstand er und stieß einen lauten Schrei aus. Von der Diele her antwortete ihm 136
eine Stimme. Er lief zur Tür, doch ich fing ihn ab. Ich weiß noch genau, wie leicht sein Genick brach. Die Polizei kam mit Schußwaffen, Tränengas und Ketten und holte mich. Man brachte mich ins Gefängnis und sperrte mich in die sicherste Zelle mit Gitterstäben auf allen Seiten. Draußen besprachen sich ein paar Polizeioffiziere und ein Staatsanwalt oder zwei. »Man kann ihn nicht unter Mordanklage stellen«, sagte jemand. »Er ist nur ein Tier; menschliche Gesetze sind nicht auf ihn anwendbar.« »Er wußte doch, was er tat«, wandte einer der Polizeibeamten ein. »Er ist so schuldig wie der Teufel.« »Aber wir können ihn kaum vor Gericht stellen«, antwortete einer der Staatsanwälte. »Die Zeitungen würden uns in der Luft zerreißen.« Gemeinsam überlegten sie eine Weile. Dann schlug sich einer der Polizeioffiziere aufs Knie. 137
»Ich hab’s«, sagte er, und die anderen sahen ihn erwartungsvoll an. »Wozu brauchen wir denn eine Verhandlung?« fuhr er fort. »Wenn man ihm nichts anhaben kann, weil er diesen Arzt umgebracht hat, dann kann man auch uns keinen Strick daraus drehn, wenn wir ihn töten.« »Nicht, wenn es schmerzlos geschieht«, meinte ein anderer. Als sie merkten, daß ich zuhörte, entfernten sie sich und tuschelten noch eine volle Viertelstunde weiter. Schließlich nickten sie alle, als seien sie einig geworden. Einer der Polizeioffiziere- er war weißhaarig und fett – kam zu meiner Zelle zurück und schaute durchs Gitter. »Hast du noch einen Wunsch?« fragte er mich durchaus nicht unfreundlich. Ich bat um Feder, Papier und Tinte – und um genug Zeit, dies zu schreiben.
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Fritz Leiber Der Tote Professor Max Redford öffnete die Milchglastür des Empfangszimmers und nickte mir einladend zu. Voller Erwartung folgte ich ihm. Wenn einer der bekanntesten Medizinprofessoren Amerikas einen Autor populärwissenschaftlicher Schriften anruft und ihn bittet, vorbeizukommen, ohne verraten zu wollen, worum es geht, dann ist das für diesen Autor schon etwas Aufregendes. Vor allem, wenn die Forschungsarbeiten dieses Mannes, wenngleich wissenschaftlich wohlfundiert, des öfteren nicht ohne einen Anflug des Sensationellen sind. Ich dachte an die Kaninchen, die so allergisch gegen Licht waren, daß eine halb geöffnete Jalousie Blasen auf ihrer rasierten Haut entstehen ließ; an den hypnotisierten Herzpatienten, dessen Blutdruck sich langsam verän139
dert; an den Schimmelpilz, der Blutklumpen im Gehirn eines lebenden Tieres auffraß. Die Hälfte meiner Artikel medizinischen Inhalts hatten mit Max zu tun. Seit Jahren waren wir gut befreundet. Während wir den Korridor entlangeilten, fragte er mich plötzlich: »Was ist Tod?« So eine Frage hatte ich nicht erwartet. Ich sah ihn von der Seite her an. Sein hoher Schädel mit dem grauen Haarschopf war nach vorn gebeugt. Die Augen hinter den dicken Gläsern funkelten mich fast spöttisch an. Er lächelte. Ich zuckte die Schultern. »Ich muß dir etwas zeigen«, sagte er. »Was, Max?« »Das wirst du schon sehen’» »Eine Story?« Er schüttelte den Kopf. »Vorerst möchte ich nicht, daß die Öffentlichkeit oder Kollegen irgend etwas erfahren.« »Aber irgendwann…«, wollte ich wissen. 140
»…hast du vielleicht eine ganz große Geschichte.« Wir traten in seinen Arbeitsraum. Auf dem Untersuchungstisch lag ein Mann, die untere Körperhälfte mit einem weißen Tuch bedeckt. Er schien zu schlafen. Gleich beim ersten Blick durchfuhr mich ein Schock. Denn obgleich ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer der Mann war, erkannte ich ihn. Ich war ganz sicher, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben – durch das Fenster von Max’ Wohnzimmer. Das war einige Wochen zuvor gewesen. Der Mann und Velda, Max’ attraktive junge Frau, hatte sich in leidenschaftlicher Umarmung befunden. Max und ich waren eben von langer Laboratoriumsarbeit in sein abgelegenes Haus zurückgekehrt, und er hatte noch den Wagen versperrt, während ich durch das Fenster hineinsah. Als wir ins Zimmer traten, war der Mann fort, und Max hatte Velda mit der gewohnten Zärtlich141
keit begrüßt. Natürlich hatte mich dieser Vorfall bekümmert, andererseits gab es nichts, was ich tun konnte. Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen, als ich mich vom Untersuchungstisch abwandte. Max hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und begann, mit einem Bleistift auf die Platte zu klopfen. Nervöse Erregung, wie mir schien. Plötzlich hörte ich den Mann auf dem Untersuchungstisch hinter mir heiser und trocken husten. »Sieh ihn dir an«, forderte Max mich auf, »und sag mir, was ihm fehlt.« »Ich bin doch kein Arzt«, wandte ich ein. »Das weiß ich. Aber er hat Symptome, die auch für einen Laien erkennbar sein müßten.’ »Ich habe nicht einmal bemerkt, daß er krank ist«, sagte ich. Max starrte mich verwundert an. »Tatsächlich?«
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Schulterzuckend wandte ich mich wieder um – und fragte mich, wie in aller Welt ich so etwas nicht auf den ersten Blick erkannt haben konnte. Wahrscheinlich war ich so verdutzt gewesen, den Mann zu erkennen, daß ich sonst gar nichts bemerkt hatte – es war mehr das Bild in meiner Erregung, das ich gesehen hatte, als die Wirklichkeit. Denn Max hatte recht. Auch ein Laie konnte in diesem Fall eine Diagnose wagen. Die Blässe des Mannes, die hektischen Flecken über den Backenknochen, die abgemagerten Handgelenke, die hervortretenden Rippen, die eingefallene Haut an den Schulterknochen und vor allem der heisere Husten, der ein wenig blutigen Schaum auf seine Lippen treten ließ – alles deutete auf eine chronische Tuberkulose in fortgeschrittenem Stadium hin. Ich sagte es Max. Max starrte mich nachdenklich an und begann von neuem, mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte zu klopfen. Hatte er gespürt, 143
daß ich etwas vor ihm verbergen wollte? Ich fühlte mich überaus unbehaglich. Veldas vermutlicher Liebhaber, bewußtlos und offenbar an einer tödlichen Krankheit leidend, auf Max’ Untersuchungstisch… Max so erregt und voll heimlicher Befriedigung – und dann diese seltsame Frage über den Tod – alles zusammen fügte sich zu einem wenig anheimelnden Bild. Was Max als nächstes sagte, machte nichts besser. »Bist du ganz sicher, daß es Tuberkulose ist?« »Ich kann mich natürlich täuschen«, räumte ich zögernd ein. »Es könnte sich um eine andere Krankheit mit denselben Symptomen handeln, oder… um Gifteinwirkung’ hätte ich beinahe gesagt, hielt es aber zurück. »Die Symptome jedenfalls sind unzweifelhaft da.« »Bist du sicher?« Er schien das Thema genußvoll in die Länge zu ziehen. »Natürlich’» Er lächelte, »Sieh ihn dir noch einmal an: 144
»Das brauche ich doch nicht«, protestierte ich. Zum erstenmal, seit wir uns kannten, fragte ich mich, ob Max nicht etwas sehr Unangenehmes an sich hatte. »Komm, sieh ihn dir noch einmal an.« Unwillig wandte ich mich um – und war für Augenblicke starr vor Erstaunen. »Was ist das für ein Trick?« fragte ich schließlich mit unsicherer Stimme. Denn der Mann auf dem Untersuchungstisch hatte sich verändert. Mit Sicherheit war es derselbe Mann, obwohl ich einen Moment lang sogar das bezweifelte. Denn dort, wo ich eben noch den ausgemergelten Körper eines Moribunden gesehen hatte, bot sich mir jetzt ein völlig anderer Anblick. Die vor einer Minute noch so knochigen Handgelenke waren jetzt geschwollen; die Brust war so ungesund aufgedunsen, daß Rippen und Schulterknochen nicht mehr zu sehen waren; die Haut hatte sich
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bläulich verfärbt, und aus den schlaffen Lippen kam mühsamer, keuchender Atem. Der Horror, den ich auch jetzt noch empfand, war nun überlagert von einem Gefühl, das noch stärker sein kann als Entsetzen – einer Empfindung, deren Intensität alle Gedanken an die Integrität der menschlichen Persönlichkeit und an Moral in den Hintergrund drängt: dem Fieber wissenschaftlichen Forscherdrangs. Wer immer dieser Mann war, was Max’ Motive auch sein mochten, was in den Tiefen seiner Natur auch an Bösem verborgen sein konnte – er hatte eine umwälzende Entdeckung gemacht. Ich wußte nicht, was es war, doch mein Herz pochte laut, und prickelnde Schauder der Erregung liefen mir über die Haut. Max weigerte sich, irgendeine der Fragen zu beantworten, mit denen ich ihn bombardierte. Er lehnte sich nur zurück, lächelte mich an
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und sagte: »Also, jetzt hast du ihn noch einmal angesehen. Was, glaubst du, fehlt ihm?« Schließlich kam ich nicht mehr um eine Antwort herum. »Also, natürlich stimmt da irgend etwas nicht. Aber da du darauf bestehst, will ich dir sagen, was ich glaube: Herzerkrankung, möglicherweise verursacht durch gestörte Nierenfunktion. Jedenfalls ist seine Pumpe ganz und gar nicht in Ordnung.« Max’ Lächeln war aufreizend freundlich. Wieder klopfte er wie ein langsam ungeduldig werdender Lehrer mit dem Bleistift auf die Platte des Schreibtischs. »Du bist also sicher?« fragte er wieder. »Genauso wie zuerst, als ich glaubte, daß es sich um Tuberkulose handelte.« »Nun, sieh ihn dir noch einmal an… Ich darf dir John Fearing vorstellen.« Ich drehte mich um, und ehe ich wußte, wie mir geschah, wurde meine Hand gepackt und heftig geschüttelt. Der Mann, dem sie gehörte, 147
war von einer so blendenden Physis, wie sie mir noch nie unter die Augen gekommen war. Ich weiß noch, daß mir durch den Kopf schoß: Ja, er ist genauso unglaublich gutaussehend und gutgebaut, wie er mir schien, als er Velda küßte. Schon die geringste Bewegung war von einer so seltsamen Geschmeidigkeit… Kein Wunder, daß eine Frau ihn unwiderstehlich findet. »Eigentlich hätte ich dich John schon lange vorstellen können«, hörte ich Max sagen. »Er wohnt ganz in unserer Nähe mit seiner Mutter und besucht uns auch öfters. Aber, nun…« Er lachte ein wenig in sich hinein. »Ich bin etwas eifersüchtig auf John. Deswegen habe ich ihn noch mit keinem Kollegen bekannt gemacht. Ich wollte ihn ganz für mich selbst, bis wir mit unseren Experimenten ein wenig weitergekommen sind.« »John«, fuhr Max fort, »das ist Fred Alexander, der Autor. Er gehört zu den wenigen Leu148
ten, die Wissenschaft popularisieren, ohne auch nur um Haaresbreite in Sensationshascherei abzugleiten. Er unternimmt jede nur denkbare Anstrengung, um korrekt und genau zu berichten. Wir können völlig darauf vertrauen, daß er kein Wort über unsere Experimente verlauten läßt, ehe wir ihn dazu auffordern. Seit einiger Zeit schon trage ich mich mit dem Gedanken, eine dritte Person in unsere Arbeit einzuweihen; es sollte jedoch weder ein Wissenschaftler noch ein gewöhnlicher Laie sein. Fred nun schien mir gerade die richtige Art von Allgemeinwissen und die nötige positive Einstellung zu besitzen. Also rief ich ihn an – und ich glaube, wir haben ihm eine ganz beachtliche Überraschung bereitet.« »Allerdings«, gab ich zu. John Fearing ließ meine Hand los und trat einen Schritt zurück. Mein Blick hing immer noch an seinem perfekt proportionierten, athletischen Körper. Von den Symptomen der 149
beiden schrecklichen Krankheiten, die ihn noch Minuten zuvor hinzuraffen gedroht hatten, konnte ich keine Spur mehr entdecken. So, wie er vor mir stand – das weiße Leinentuch um die Hüften, das in lockeren Falten herabhing –, erschien er mir wie ein Modell für eine der klassischen griechischen Statuen. Der überlegen-ruhige Blick seiner Augen paßte aufs Vollkommenste zu seiner sonstigen Erscheinung. Als ich mich wieder Max zuwandte, schrak ich ein wenig zusammen. Niemals hatte ich ihn auch nur im entferntesten für häßlich gehalten; wenn ich mir überhaupt Gedanken über sein Äußeres gemacht hatte, so hatte ich an ihn als einen für seine mittleren Jahre noch recht jugendlich wirkenden Mann mit angenehm markanten Zügen gedacht. Jetzt aber, verglichen mit Fearing, kam mir Max fast wie ein buckliger Zwerg vor.
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Freilich ging dieses Gefühl sogleich in meiner nunmehr auf stärkste erregten Neugier auf. Fearing sah Max an. »Was für Krankheiten hatte ich denn diesmal?« »Tuberkulose und Nephritis«, erwiderte Max. Beide machten kein Hehl aus ihrer Befriedigung. Tatsächlich verriet die Art, wie sie miteinander umgingen, so viel Zuneigung und Vertrauen, daß ich geneigt war, mei nen Argwohn, Max handle aus einem nach außen hin sorgfältig verborgenen Gefühl des Hasses heraus, als ganz und gar grundlos abzutun. Immerhin, sagte ich mir, konnte die Umarmung, deren Zeuge ich geworden war, auch ein momentaner Gefühlsüberschwang zweier junger, von Natur sehr reich beschenkten Menschen gewesen sein – wenn es überhaupt so viel war. Was Max über seinen Wunsch, Fearing von seinen Freunden und Kollegen fernzuhalten, gesagt hatte, konnte durchaus auch die Erklärung für Fearings plötzliches 151
Verschwinden in jener Nacht gewesen sein. Andererseits war nicht auszuschließen, daß sich Max über ein tieferes Gefühl zwischen Fearing und seiner Frau, falls es so etwas gab, nicht gänzlich im unklaren war und es stillschweigend duldete. Daß er in verschiedener Hinsicht bemerkenswert tolerant war, wußte ich. Ohnehin hatte ich die Bedeutung der ganze Angelegenheit wohl überschätzt. Vor allem aber wollte ich mich jetzt, wo es galt, das erstaunliche Experiment, das sich eben vor meinen Augen vollzogen hatte, zu erfassen und zu verarbeiten, meine Gedanken nicht durch derartige Spekulationen ablenken lassen. Plötzlich kam mir eine Idee. »Hypnose?« fragte ich Max. Er nickte strahlend. »Und dein Bleistiftgeklopfe – war das – ich meine, waren das Signale für ihn, bestimmte
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Instruktionen, die er in einem früheren Stadium der Trance erhalten hatte, auszuführen?« »Richtig.« »Ich glaube jetzt, mich zu erinnern«, sagte ich, »daß die Klopfzeichen jedesmal anders waren. Offenbar entsprach jedes davon einer bestimmten Instruktion, die du ihm vorher gegeben hattest.« »Genau«, sagte Max. »John reagiert erst, wenn er das richtige Zeichen bekommt. Zunächst erscheint das wohl recht kompliziert, aber das ist es gar nicht. Du weißt, wie ein Sergeant seinen Männern Befehle erteilt und dann .Marsch!’ ruft? Nun, wenn ich klopfe, dann sind das Johns Marsch-Signale. Das funktioniert besser, als wenn ich ihm die Instruktionen erst gebe, wenn er sie ausführen soll. Außerdem« er sah mich mit mokantem Blick an – »ist es weitaus dramatischer.« »Da hast du allerdings recht«, versicherte ich ihm. »Max, kommen wir zum entscheidenden 153
Punkt. Wie in aller Welt konnte John diese falschen Symptome produzieren?« Max hob die Arme. »Ich werde dir alles erklären. Ich habe dich ja nicht hierhergebeten, um dich in Rätsel zu stürzen. Setz dich.« Ich nickte. Fearing stemmte sich federleicht auf die Kante des Untersuchungstischs und hörte mit ruhiger Aufmerksamkeit zu. »Wie du weißt«, begann Max, »ist es eine gesicherte Erkenntnis, daß der menschliche Geist alle möglichen Krankheitssymptome erzeugen kann, ohne daß die Krankheit selbst in irgendeiner Weise vorhanden ist. Statistiken zeigen, daß etwa fünfzig Prozent der Menschen, die den Arzt konsultieren, an solchen eingebildeten Krankheiten leiden.« »Ja«, wandte ich ein, »aber die Symptome sind nie so extrem und entstehen auch nicht annähernd so rasch. Er hatte ja sogar Blut im Speichel. Und diese aufgeschwollenen Handgelenke…« 154
Wieder hob Max die Hände. »Es handelt sich nur um einen quantitativen Unterschied, keinen qualitativen. Aber ich bin noch nicht fertig.« »John, den du hier siehst«, fuhr er fort, »ist eine gut angepaßte, geistig gesunde Person. Vor ein paar Jahren freilich war er noch alles andere als das.« Er sah Fearing an, der zustimmend nickte. »Ja. unser John war der Schrecken der Krankenhäuser. Oder vielmehr sein Unterbewußtsein, denn simulieren kann man so etwas natürlich nicht – der Betreffende ist ernstlich über zeugt, daß er krank ist. Jedenfalls schien unser John eine unglaubliche Serie gefährlicher Krankheiten durchzumachen, die seine Mutter fast um den Verstand brachte und seine Ärzte ratlos resignieren ließ, bis man erkannte, daß diese Krankheiten psychischen Ursprungs waren. Es dauerte sehr lange, bis man diese Entdeckung machte, und zwar genau aus dem Grund, den du nanntest – 155
wegen der ungewöhnlichen Ausgeprägtheit der Symptome. Schließlich aber war es die ungewöhnliche Fähigkeit von Johns Unterbewußtem, Symptome zu produzieren, die die Ärzte auf die richtige Spur führte. Es begann, die Symptome zu vieler Krankheiten zu erzeugen; die Krankheiten selbst verliefen zu schnell und wechselten allzu häufig. Und dann machte sein Unterbewußtsein den Fehler, die Symptome von Viruserkrankungen zu produzieren, wo Laboratoriumstests bewiesen, daß die betreffenden Viren gar nicht anwesend waren. Nachdem der tatsächliche Sachverhalt erkannt worden war, wurde John in die Hände eines kompetenten Psychiaters gegeben, dem es dann auch gelang, die Persönlichkeitsprobleme zu beheben, die ihn veranlaßt hatten, Zuflucht in der Krankheit zu suchen. Sie stellten sich als ganz einfach heraus – eine überbesorgte, ihn emotional zu sehr in Beschlag nehmen156
de Mutter und ein eifersüchtiger, gefühlskarger Vater, dessen Tod vor einigen Jahren John mit Schuldgefühlen belastete. Ich selbst geriet nach dem brillanten Erfolg der psychiatrischen Behandlung an den Fall. Es geschah durch Velda. Sie freundete sich mit Mutter und Sohn Fearing an, als sie in unsere Nachbarschaft zogen, und besuchte sie oft.’» Unwillkürlich warf ich Fearing einen Blick zu, als Max das sagte, konnte aber keinerlei Anzeichen von Unbehaglichkeit oder Selbstgefälligkeit entdecken. Ich fühlte mich ein wenig beschämt. »Eines Tages, als John bei uns war, erwähnte er aus irgendeinem Grund die Geschichte seiner imaginären Krankheiten, und bald hatte ich ihm die ganze Geschichte aus der Nase gezogen. Mir fiel bei diesem Fall sofort etwas auf, was den anderen Ärzten entgangen zu sein schien. Jedenfalls hatten sie, wenn sie es schon bemerkt hatten, 157
nicht erkannt, was an Bedeutung und Möglichkeiten darin steckte. Da war ein Mann, dessen Körper den Diktaten seines Unterbewußten auf phantastische Weise gehorchte. Alle Menschen sind bis zu einem gewissen Grad psychosomatisch, um den Terminus technicus zu gebrauchen – du weißt, Psyche und Soma,Geist und Körper. Aber unser John war weit über das normale Maß hinaus psychosomatisch. So wie einer von einer Million. Vielleicht sogar gänzlich einzigartig. Sehr wahrscheinlich war irgendein seltenes Erbgut dafür verantwortlich. John ist mir wohl nicht böse, wenn ich dir sage, daß seine Mutter – mit der Hilfe des Psychiaters hat sich das inzwischen wirklich sehr stark geändert – daß seine Mutter eine psychisch instabile, exzessiv hysterische Person war, die selbst an allen möglichen imaginären Krankheiten litt, wenn auch nicht annähernd in so extremen Maß wie 158
John. Und sein Vater war fast genau der gleiche Typ.« »Das stimmt, Dr. Redford«, sagte Fearing ernst. Max nickte. »Offenbar erzeugte die Kombination dieser beiden Erbanlagen in John weit mehr als eine Verdoppelung der Empfindlichkeiten seiner Eltern. So wie ein Chamäleon die Fähigkeit der Farbveränderung erbt, die anderen Tieren fehlt, so hat John ein Maß an psychosomatischer Kontrolle geerbt, die bei anderen Menschen nicht auftritt – zumindest nicht ohne irgendeine Art von psychologischem Training, das ich mir bis jetzt nur sehr vage vorstellen kann. All das – ja, ich muß es sagen – stürmte auf mich ein, als ich Johns Geschichte vernahm. Sowohl John wie Velda waren wohl über mein großes Interesse ziemlich verwundert.« Max lächelte. »Aber natürlich wußten sie nichts von 159
der Bedeutung des Falles, Hier hatte ich jemanden an der Hand, dessen mentale und materielle Atome auf eine ungeahnte Weise miteinander in Kommunikation treten konnten. Natürlich sind, wie du weißt, sowohl Geist wie Materie letztlich elektrischer Natur. Johns Unterbewußtes hatte seinen Herzschlag und Kreislauf perfekt unter Kontrolle. Es konnte sein Gewebe mit Flüssigkeit vollpumpen und so akute Schwellungen erzeugen, oder aber es entwässern, was im Effekt einer plötzlichen Abmagerung gleichkam. Es konnte auf seinen inneren Organdrüsen spielen wie auf Musikinstrumenten. Dabei konnte es sozusagen schreckliche Mißklänge produzieren und John zum Idioten oder Invaliden machen, oder ihn beispielsweise durch verspätete Stimulierung des Knochenwachstums in ein akromegalisches Monstrum mit gewaltigen Händen und einem riesigen Kopf verwandeln.
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Umgekehrt konnte sein Unterbewußtes für perfekte Harmonie seiner Organe sorgen und aus ihm die blendende Erscheinung machen, die du hier vor dir siehst.« Ich sah John Fearing an und stellte fest, daß die Reaktion, die seine wirklich beeindruckende Physis in mir ausgelöst hatte, ihm vielleicht noch nicht einmal ganz gerecht geworden war. Er war nicht einfach nur ein athletisch gebauter junger Mann mit klarem Blick und makellosem Gesichtsschnitt. Es war mehr an ihm – irgend etwas Undefinierbares. Wenn jemals irgend jemand ein Bild strahlender Gesundheit in der wortwörtlichsten Bedeutung dieses lächerlichen Klischees bot, dann war es John Fearing, dachte ich. Ich wußte, daß es nur Einbildung war – dennoch meinte ich fast, eine pulsierende, schwach golden schimmernde Aura um ihn herum wahrzunehmen. Seine geistige Ausgeglichenheit erschien mir ebenso perfekt wie die Harmonie seines Kör161
pers. Die völlig ruhige, entspannte Haltung, mit der er dasaß, das Leintuch um die Hüfte geschlungen, schlug mich geradezu in ihren Bann. Seine wache Aufmerksamkeit war ihm anzusehen; dennoch lag keine Spur von Nervosität darin. Nichts schien ihn erschüttern zu können. Bei seiner Natürlichkeit und seinem offenkundigen Selbstvertrauen war es nicht schwer, sich ihn als erfolgreichen Liebhaber vorzustellen. Kein Gedanke an das Zaudern und Zögern, an die kleinen Unsicherheiten und Ungeschicklichkeiten, die den gewöhnlichen Neurotiker- und das heißt genauso viel wie: den Durchschnittsmenschen – verraten. Und mit einem Male war mir sonnenklar, wie man sagt, daß Velda John lieben mußte, daß keine Frau auf der Welt einem solchen Mann widerstehen konnte. Er war nicht nur ein Sportheros oder ein Muskelprotz, sondern strahlte unendlich viel mehr aus als das. 162
Und dennoch war etwas wie der Hauch von etwas Unangenehmen an Fearing. Vielleicht lag es daran, daß er zu harmonisch, zu makellos war wie ein schönes Gemälde, ohne jenen Anflug von Häßlichkeit oder Widersprüchlichkeit, der erst die Individualität im menschlichen Äußeren schafft. Bei den meisten Leuten spürt man überdies den ewigen Konflikt zwischen dem schwachen, unentschlossenen Tyrannengeist und dem störrischen, rebellischen Sklavenkörper. In Fearing nun schien dieser Konflikt überhaupt nicht vorhanden zu sein, was mich unangenehm berührte. Gewiß ist möglich, daß diese meine Empfindungen einem Neidgefühl auf Fearings Physis und Haltung entsprangen, vielleicht auch einer Art Eifersucht, die ich stellvertretend für Max verspürte. Was immer die Gründe für meinen unterschwelligen Widerwillen sein mochten – ich begann jetzt zu glauben, daß Max sie teilte. 163
Nicht, daß Max’ freundliche, ja fast väterliche Manier gegenüber John sich geändert hätte, aber irgendwie schien sie mühsam zu sein. Zwar hatte ich nicht das Gefühl, er suche etwa Eifersucht oder Haß zu verbergen, dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht, erwehren, daß er ernstlich bemüht war, eine irrationale innere Aversion zu unterdrücken. Was Fearing angeht, so schien er von Max’ Seite keinerlei Feindseligkeit zu spüren. Er gab sich völlig offen und freundlich. Ich fragte mich, ob Max selbst sich seines eigenen Gefühls bewußt war. Alle diese Überlegungen nahmen nur kurze Zeit in Anspruch. Ich war gespannt auf das, was Max mir erzählen wollte. »Meine Phantasie lief auf Hochtouren«, fuhr Max fort. »Was konnte man nicht alles von so einem superpsychosomatischen Menschen lernen! Unter selbstgewählten Bedingungen konnte man Krankheitssymptome studieren, 164
indem man sie in kontrolliertem Umfang in einem gesunden Individuum erzeugte. Physiologische Geheimnisse aller Art würde man so zu entschlüsseln vermögen. Die nervösen Prozesse, die der Analyse durch den Menschen sonst nur schwer zugänglich sind, konnten jetzt aufgedeckt werden. Gelang es uns noch, Johns Fähigkeiten auf andere Leute zu übertragen… Aber damit greife ich für den Augenblick zu weit vor. Ich sprach mit John. Er verstand, welchen Dienst er der Menschheit leisten konnte, und war ohne Zögern bereit, sich für einige Experimente zur Verfügung zu stellen. Doch beim ersten Versuch ergab sich gleich eine Schwierigkeit. Wie sehr er sich auch bemühte, John konnte mit bewußtem Vorsatz keine Symptome erzeugen. Wie ich vorhin schon sagte – bewußt kann man keine psychosomatische Krankheit simulieren, und genau das war es, was ich von John wollte. Außerdem 165
– seit er sich dieser psychiatrischen Behandlung unterzogen hatte, verhielt sich sein Unterbewußtes so ordentlich, daß er sich auf so etwas nicht mehr einlassen wollte. Wir wollten das Projekt schon fast aufgeben. Doch dann kam mir der Gedanke an einen Ausweg: Direkte Beeinflussung des Unterbewußten durch Hypnose. Wir versuchten es, und es ging!« Seine Augen funkelten fast wie Sterne, als er das sagte. »Das ist so etwa der neueste Stand«, schloß er und ließ sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken. »Speziell haben wir uns mit arterieller Spannung, den Lymphdrüsen und ihrem Nervensystem und ein, zwei anderen Dingen beschäftigt. Das Wichtigste freilich war uns die Verbesserung unserer hypnotischen Beziehungen. Die entscheidende Arbeit liegt noch vor uns.«
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Ich nickte anerkennend. Dann kam mir ein unangenehmer Gedanke. Ich wollte ihn nicht aussprechen, doch Max fragte: »Was ist, Fred?« Mir fiel so schnell nichts anderes ein; außerdem war der Gedanke ja durchaus naheliegend. »Nun, diese Schaffung extremer Symptome…«, begann ich, »besteht da nicht auch eine gewisse…« Max sprach das Wort aus. »Gefahr?« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind sehr vorsichtig.« »Außerdem«, meldete sich Fearing zu Wort, »bei den Möglichkeiten, die sich hier bieten, würde ich fast jedes Risiko eingehen.« Er lächelte fröhlich. Der Doppelsinn seiner Worte wurde mir sofort unangenehm bewußt. Impulsiv fuhr ich fort: »Aber bestimmt gibt es Leute, die so etwas für extrem gefährlich halten. Deine Mutter vielleicht oder Velda.« 167
Max sah mich scharf an. »Weder meine Mutter noch Mrs. Redford wissen etwas vom Ausmaß unserer Experimente«, versicherte mir Fearing. Eine Pause trat ein. Unvermittelt grinste Max mich dann an, reckte sich und sagte zu Fearing: »Wie fühlst du dich jetzt?« »Völlig fit.« »Noch eine kleine Demonstration?« »Warum nicht?« »Da fällt mir ein, Max«, sagte ich, »draußen im Korridor sagtest du etwas von , ,« Er warf mir einen warnenden Blick zu. »Darüber sprechen wir noch bei Gelegenheit«, sagte er. »Was für Krankheiten sollen es dieses Mal sein?« fragte Fearing. Max drohte scherzhaft mit dem Finger. »Du weißt, daß ich dir das nie sage. Dein Bewußtsein würde alles behindern. Aber wir verwenden ein paar neue Signale. Und Fred – ich hof168
fe, es macht dir nichts aus, draußen zu warten, während ich John hypnotisiere und ihm seine Instruktionen gebe. Ich fürchte, wir sind noch nicht weit genug, um die möglicherweise störende Anwesenheit einer dritten Person in den frühen Stadien eines Experiments wagen zu können. Ein oder zwei Versuche noch, dann wird das wohl möglich sein. Du mußt verstehen, Fred – dies ist wohl das erste von einer großen Zahl von Experimenten, bei denen ich dich um deine Anwesenheit bitte. Der Größe meines Ansinnens bin ich mir durchaus bewußt. Die einzige greifbare Entschädigung, die ich dir anbieten kann, sind die Exklusivrechte für die Veröffentlichung, sobald wir den Eindruck haben, daß die Zeit reif dafür ist.« »Du darfst mir glauben, daß ich das als eine große Ehre ansehe«, versicherte ich ihm aufrichtig, als ich den Raum verließ. Draußen ging ich nachdenklich auf und ab. Erst nach einer Weile wurden mir Bedeutung 169
und mögliche Auswirkungen von Max’ Experimenten einigermaßen klar. Angenommen, es würde möglich sein, Fearings Fähigkeiten auf andere Menschen zu übertragen, wie Max vorhin angedeutet hatte? Der potentielle Nutzen war unermeßlich. Menschen würden imstande sein, ihrem Körper beim Kampf gegen Krankheiten und Degenerationsprozessen zu helfen. Zum Beispiel konnten sie Blutungen aus einer Wunde vermindern oder sogar gänzlich zum Stillstand bringen. Sie konnten alle Abwehrkräfte des Körpers mobilisieren, um örtliche Infektionen zu neutralisieren und eingedrungene Krankheitskeime zu vernichten, ehe sie Schaden anrichten konnten. Vorstellbar auch, daß sie kranke Organe heilten, wieder funktionsfähig machten, Arterienverhärtungen behoben und Krebs zurückdrängten oder gar nicht erst zur Entstehung kommen ließen.
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Es konnte möglich werden, Krankheiten, ja sogar den Alterungsprozeß, völlig zu überwinden. Vielleicht war die Menschheit im Begriff, Alter und Verfall zu besiegen – unsterblich zu werden! Eine glückliche Rasse, unbehelligt von jenen Konflikten zwischen Körper und Geist, zwischen Gewissen und Instinkt, welche die Energien der Menschheit aufzehren und die Wurzel allen Zwistes und Krieges sind… Der Phantasie schien keine Grenze gesetzt. Ich glaubte, noch kaum eine Minute im Korridor verbracht zu haben – meine Gedanken hatten mich so gefangengenommen –, als Max leise die Tür öffnete und mir zunickte. Wieder lag Fearing auf dem Untersuchungstisch. Seine Augen waren geschlossen, doch sah er Zoll für Zoll genauso gesund aus wie vorher. Seine Brust hob und senkte sich rhythmisch. 171
Meines Freundes schien sich große Erregung bemächtigt zu haben, die er nur mühsam zu beherrschen vermochte. »Wir können sprechen«, sagte er. »Aber nur leise.« »Ist er hypnotisiert?« fragte ich. »Ja.« »Und du hast ihm die Instruktionen gegeben?« »Ja. Paß auf.« »Welche waren es dieses Mal, Max?« Über Max’ Lippen ging ein eigenartiges Zucken. »Paß nur auf.« Er klopfte mit dem Bleistift. Gespannt beobachtete ich Fearing. Fünf, zehn Sekunden lang schien nichts zu passieren. Dann hörte Fearings Brust auf sich zu bewegen. Seine Haut wurde fahl. Ein leichter Schauder durchlief ihn. Die Lider öffneten sich, doch hatte er die Augen derart 172
verdreht, daß nur das Weiße zu sehen war. Sonst machte er nicht die geringste Bewegung. »Geh’ nur hin«, sagte Max mit heiserer Stimme. »Fühl’ seinen Puls.« Fast zitternd vor Aufregung tat ich es. Fearings Handgelenke fühlten sich kalt an. Ich konnte keinen Pulsschlag entdecken. »Nimm diesen Spiegel.« Max deutete zu einem Regal. »Halt ihn ihm vor Nase und Mund.« Auf der polierten Oberfläche zeigte sich nicht die Spur eines Hauchs. Ich wich zurück. Mein Erstaunen verwandelte sich in Beklemmung. Mein schlimmster Argwohn schien sich bestätigt zu haben. Wieder glaubte ich, Spuren des Bösen in meinem Freund zu entdecken. »Ich versprach doch, dir etwas zu zeigen, was mit der Frage ,Was ist Tod?’ zu tun hat«, sagte Max mit belegter Stimme. »Hier siehst du eine perfekte Simulation des Todes – der Tod im 173
lebenden Körper. Kein Arzt der Welt würde es fertigbringen, nachzuweisen, daß dieser Mann lebt.« In seiner Stimme schwang ein Ton des Triumphes. Die meine versagte fast vor Entsetzen. »Du hast ihn instruiert, tot zu sein?« »Ja.« »Und er wußte es nicht im voraus?« »Natürlich nicht.« Endlos lange, wie mir schien – in Wirklichkeit mochten es ein paar Sekunden gewesen sein – starrte ich Fearings kalkweiße Gestalt an. Dann wandte ich mich zu Max um. »Das gefällt mir nicht«, sagte ich. »Weck’ ihn wieder auf.« Als er mich anlächelte, schien etwas Hämisches darinzuliegen. »Paß auf!« sagte er heftig und klopfte erneut mit dem Bleistift. Ich führte es auf eine veränderte Beleuchtung zurück, das Fearings Haut jetzt eine grünliche Färbung annahm. 174
Dann sah ich, wie seine eben noch schlaffen Arme und Beine sich strafften und sein Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte. »Berühre ihn!« Widerwillig und nur von dem Wunsch beseelt, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, gehorchte ich. Fearings Arm fühlte sich steif wie Holz an und, wenn das möglich war, noch kälter als vorher. Totenstarre. Aber dieser schwache Verwesungsgeruch… Nein, das konnte nur eine Ausgeburt meiner Einbildung sein. »Um Gottes willen, Max«, beschwor ich ihn, »du mußt ihn wieder aus diesem Zustand entlassen.« Als er nicht reagierte, vergaß ich auf meine bis dahin geübte Zurückhaltung. »Ich weiß nicht, was du im Sinn hast, aber das kannst du nicht tun. Velda…« Max fuhr zusammen, als ich den Namen aussprach. Die Erstarrung, die auch ihn befallen 175
zu haben schien, löste sich plötzlich. Es war, als hätte ihn dieses eine Wort aus einem Traum gerissen. »Natürlich«, sagte er mit seiner normalen Stimme. Er lächelte mir beruhigend zu und klopfte. Gespannt beobachtete ich Fearing. Max klopfte wieder: Dreimal – einmal. Es dauert ein wenig, sagte ich mir. Jetzt begannen sich Fearings Muskeln zu lockern. Oder doch nicht? Aber Max klopfte erneut. Das Signal brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis: Dreimal – einmal. Und noch einmal. Dreimal – einmal. Dreimal – einmal. DREIMAL – EINMAL. Ich sah Max an. In seiner gequälten Miene fand ich schreckliche Gewißheit. Die folgenden Stunden möchte ich um keinen Preis
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noch einmal durchleben. In der ganzen Medizingeschichte gibt es wohl keine Wiederbelebungsprozedur, die Max nicht versuchte, bis hin zu den modernen Methoden – Injektionen (sogar direkt ins Herz), elektrische Stimulierung, Gebrauch einer neuen, leichten Plastikversion der Eisernen Lunge, chirurgischer Eingriff in den Thorax und Direktmassage des Herzens. Der Argwohn, den ich Max gegenüber gehegt hatte, verschwand während dieser Stunden restlos. Sein verzweifeltes Bemühen, Fearing ins Leben zurückzuholen, konnte unmöglich gespielt sein – genauso wenig wie die entmutigte, tiefe Trauer, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriff. Diese Stunden legten Max’ wahres Wesen bloß, und es war gut. Eine seiner ersten Reaktionen war, mehrere andere Professoren hinzuzuziehen. Sie halfen ihm, obgleich zu erkennen war, daß sie den Fall von Anfang an für hoffnungslos hielten 177
und sich auch gar nicht damit befaßt hätten, wäre nicht ihre außerordentliche Loyalität Max gegenüber gewesen, die weit über kollegiale Solidarität hinausging. Ihr Verhalten zeigte mir mehr als alles andere bisher, in welch hohem Ansehen Max als Fachgelehrter stand. Seine Kollegen und allen anderen gegenüber war Max vollkommen aufrichtig. Er versuchte nicht, auch nur die geringste Einzelheit dessen, was zu dieser Tragödie geführt hatte, zu verheimlichen. In bitteren Selbstvorwürfen beharrte er darauf, vor diesem letzten Experiment einer völligen Fehleinschätzung erlegen zu sein. Er wäre in seiner Selbstkritik noch weiter gegangen, wenn ihn nicht seine Kollegen daran gehindert hätten. Sie waren es, die ihm seine Absicht, sich aus der medizinischen Fakultät zurückzuziehen, ausredeten und ihn auch davon abbrachten, in seinen Experimen-
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ten einen Anlaß zur Selbstanzeige bei den Justizbehörden zu sehen. Und dann war da Max« vorbildliches Verhalten gegenüber Fearings Mutter, Während seine Kollegen noch – wenn auch ohne jede ernstliche Hoffnung – Fearing wiederzubeleben versuchten, stürzte sie plötzlich herein. Was immer der Psychiater an Positivem bei ihr bewirkt hatte, jetzt war nichts mehr davon übrig. Noch jetzt sehe ich diese schreckliche, überangezogene Frau vor mir, wie sie wütend herumstampfte, Max mit schriller Stimme die übelsten Vorwürfe machte und von ihrem Sohn und sich selbst in abscheulichen Worten sprach. Doch Max, der dem Zusammenbruch nahe war, zeigte sich einfühlsam und geduldig und nahm widerspruchslos alle Beschuldigungen hin, mit denen sie ihn überhäufte. Ein wenig später kam Velda hinzu. Wäre noch etwas von meinem früheren Argwohn geblieben, sie hätte ihn jetzt restlos zerstreut. 179
Velda war völlig beherrscht und ruhig und verriet keinerlei persönliche Anteilnahme an Fearings Tod. Eher war sie zu unbewegt, zu kühl. Doch vielleicht war es gerade das, was Max in diesem Moment brauchte. Die folgenden Tage waren verständlicherweise schwierig. Während die meisten Zeitungen bemerkenswert sachlich über den Fall berichteten, spielte eines der Massenblätter Max als den »Arzt, der einem Menschen zu sterben befahl« hoch und brachte an hervorgehobener Stelle ein Exklusivinterview mit Fearings Mutter. Mit den entrüsteten Reaktionen von Wissenschaftsgegnern der verschiedensten Couleurs hatte man natürlich rechnen müssen. Sie hätten sich als noch unangenehmer erwiesen, wären sie nicht so lächerlich gewesen. Jemand, der offenbar Poes Geschichte ,Die Tatsachen im Fall von M. Waldemar’ gelesen hatte, forderte, eine »Totenwache« müsse Fearing beo180
bachten und machte am Tag der Beerdigung dunkle Andeutungen, daß der Mann, den man hier begrabe, irgendwie noch am Leben sei. Selbst die medizinische Zunft stand keineswegs einmütig hinter Max. Mehrere Arzte des Ortes, die mit der Universität nichts zu tun hatten, übten heftige Kritik an Max. Derartige sensationelle Experimente setzten den ganzen Berufsstand in schiefes Licht, seien ohnehin von sehr fragwürdigem Wert und so weiter. Öffentlich wurden diese Vorwürfe allerdings nicht erhoben. Die Beisetzung fand am dritten Tage statt. Ich nahm aus Freundschaft zu Max daran teil. Natürlich war auch Fearings Mutter erschienen. Selbst die Trauerkleidung, die sie trug, wirkte irgendwie ordinär. Nach dem Zeitungsinterview war es zu einem völligen Bruch zwischen ihr und unserer Gruppe gekommen, so daß ihre aufdringliche, widerwärtige Heul181
und Schluchzszene nur der Luft und dem bronzebeschlagenen Sarg gelten konnte. Max wirkte gealtert. Velda stand neben ihm und hielt ihn am Arm. Sie war ebenso unbewegt wie am Tag von Fearings Tod. Nur eines war seltsam an ihrem Verhalten. Sie bestand darauf, daß wir auf dem Friedhof blieben, bis der Sarg in das Grab gesenkt und die marmorne Platte darauf angebracht worden war. Sie verfolgte den ganzen Vorgang mit großer Aufmerksamkeit. Ich dachte, sie tue es vielleicht, um Max gegenüber nachdrücklich kundzugeben, daß dieses Kapitel beendet war. Möglicherweise fürchtete sie auch irgendeine Demonstration der engagierteren antiwissenschaftlichen Gruppen und glaubte, die Anwesenheit einiger intelligenter Personen könne verhindern, daß es bei diesem ernsten Anlaß noch zu einem Eklat komme.
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Und diese Sorge war möglicherweise sogar berechtigt. Trotz der Bemühungen der Friedhofsbehörden, das zu verhindern, war eine Anzahl neugieriger Gaffer bei dem Begräbnis zugegen, und als ich Max und Velda auf ihrem kurzem Weg nach Haus begleitete, trieb sich eine Menge von Menschen in den sonst so ruhigen Straßen herum. Manche folgten uns tuschelnd. Als wir schließlich erleichtert ins Haus getreten waren, schlug etwas laut und heftig gegen die Tür, die wir eben hinter uns geschlossen hatten. Jemand hatte einen Stein auf das Haus geworfen. Während der folgenden sechs Monate traf ich nicht mehr mit Max zusammen. Das lag genausosehr an meiner Freundschaft zu ihm wie an meiner zu dieser Zeit sehr großen Arbeitsbelastung. Mein Gefühl sagte mir, daß Max durch nichts – auch nicht durch die Anwesenheit eines Freundes – an den tragischen Vorfall 183
erinnert werden wollte, der sein Leben so überschattet hatte. Wie ich vermute, hatte nur ich – und außer mir vielleicht ein paar besonders sensible von Max’ Kollegen – überhaupt eine Ahnung, was für ein schwerer Schlag dieses Ereignis für Max gewesen war, und vor allem, warum. Der Grund war nicht so sehr, daß er durch ein vielleicht zu wenig durchdachtes Experiment den Tod eines Menschen verschuldet hatte. Bedeutsamer war, daß er damit den Abbruch einer Forschungsarbeit herbeigeführt hatte, die der Menschheit unschätzbaren Gewinn zu bringen versprach. Fearing war unersetzlich. Er war, wie Max gesagte hatte, wahrscheinlich einzigartig. Und ihre Arbeit hatte noch am Anfang gestanden. Max hatte noch kaum wissenschaftlich nachprüfbare Ergebnisse vorliegen und besaß auch noch keine Vorstellung, wie das entscheidende Problem bewältigt werden sollte: Die Übertragung von Fearings Fä184
higkeiten auf andere Menschen, falls sie möglich war. Max war Realist. Für einen nüchternen Mann wie ihn war der Tod eines einzigen Menschen gegenüber der Nichterzielung eines möglichen Vorteils für Millionen verhältnismäßig bedeutungslos. Daß er die Zukunft der Menschheit auf Spiel gesetzt hatte – ja, so hätte er es formuliert – das war es sicher, was ihn am meisten schmerzte. Noch lange Zeit würde vergehen, bis er wieder mit gleichem Engagement wissenschaftlich arbeiten konnte wie früher. Eines Morgens las ich eine Zeitungsnotiz, die besagte, daß Fearings Mutter ihr Haus verkauft hatte und nach Europa gereist war. Von Velda hatte ich keinerlei Nachricht. Natürlich dachte ich manchmal wieder an diese Affäre. Dann ließ ich mir den Verdacht, den ich damals gehabt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen und suchte nach irgendeinem Hinweis, der mir vielleicht zu jener 185
Zeit entgangen sein mochte. Doch jedesmal kam ich dann zu dem Schluß, Max’ aufrichtige Trauer und Veldas gefaßte Haltung nach Fearings tragischem Tod hätten jeden Verdacht widerlegt. Gelegentlich rief ich mir die unglaublichen Veränderungen an Fearings Körper ins Gedächtnis zurück, deren Zeuge ich in Max’ Laboratorium geworden war. Irgendwie kam mir das Ganze jetzt mehr und mehr unwirklich vor. Ich war an jenem Morgen übererregt gewesen, sagte ich mir, und meine Phantasie hatte übertrieben und verzerrt, was ich wirklich gesehen hatte. Dieses Mißtrauen gegenüber meinem eigenen Gedächtnis erfüllte mich zuweilen mit beklemmender Niedergeschlagenheit, die vielleicht dem ähnlich war, was Max beim Scheitern seines Forschungsvorhabens durchgemacht haben mochte. Es war, als wäre der Welt eine wunderbare Vision geraubt worden. 186
Und gelegentlich stellte ich mir Fearing vor, wie ich ihn an jenem Morgen gesehen hatte – seine blendende, vor Gesundheit strotzende Physis. Daß dieser Mann jetzt tot sein sollte, vermochte ich kaum zu begreifen. Dann, ein halbes Jahr später, erhielt ich eine kurze Nachricht von Max. Ob ich ihn an diesem Abend aufsuchen könne? Sonst nichts. Freudige Erregung bemächtigte sich meiner. Vielleicht hatte er sich von den düsteren Schatten der Vergangenheit zu befreien vermocht und war jetzt wieder imstande, mit neuem Mut an seine Arbeit zu gehen. Ohne zu zögern, sagte ich die Verabredung, die ich für diesen Abend bereits getroffen hatte, ab. Es hatte eben zu regnen aufgehört, als ich aus dem Vorortszug stieg. Im Dämmerlicht sah ich unkrautbewachsene Gehsteige und düster wirkende Häuser. Max hatte, als er sich hier niederließ, wohl nicht vorausgesehen, wie wenig
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anheimelnd diese Gegend sich einmal entwickeln würde. Ich kam zu dem Friedhof, in dem Fearing beerdigt worden war. Die dichten Kronen von Bäumen, die an seiner Mauer wuchsen, machten den Gehsteig zu einem dunklen Tunnel. Ich war froh, eine Taschenlampe mitgenommen zu haben, die mir beim Rückweg nützlich sein würde. Wie unglücklich für Max, dachte ich, daß diese unübersehbare Erinnerung an Fearings tragischen Tod praktisch vor seiner Haustür steht. Auf dem immer ungepflegter werdenden Gehsteig ging ich rasch an Häusern vorbei, zwischen denen sich in zunehmendem Maße unbebaute Plätze erstreckten. Ein Gespräch kam mir in den Sinn, das ich Jahre zuvor mit Max geführt hatte. Ich hatte ihn gefragt, ob Velda diese Gegend nicht zu abgelegen und einsam finde, und er hatte mir lachend versichert, daß Velda genauso wie er das Alleinsein 188
liebe und von spionierenden Nachbarn so weit wie möglich verschont bleiben wolle. Ich fragte mich, ob eines der Häuser, die ich passiert hatte, dasjenige der Fearings gewesen war. Schließlich kam ich zu Max’ Haus, einem kompakten, einstöckigen Gebäude. Jenseits davon gab es nur noch wenige andere Häuser in dieser Straße. Dort, das wußte ich, wucherte überall Unkraut, und die Lampenmasten rosteten vor sich hin. Ungepflegte Vorstädte wirken bedrückend. Auf dem ganzen Weg hatte ich den Geruch nasser, kalter Erde in der Nase gehabt. Im Wohnzimmer brannte Licht, doch konnte ich durch das Fenster, durch das ich einst Velda und Fearing gesehen hatte, niemand entdecken. Die Diele war dunkel. Ich klopfte an die Tür. Sie öffnete sich sofort. Vor mir stand Velda.
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Ich habe Velda noch nicht beschrieben, Sie war eine von jenen schönen, würdevollen, fast unnahbaren und doch so überaus attraktiven Frauen, die ein erfolgreicher, kultivierter Mann heiraten kann, wenn er erst einmal vierzig ist. Groß. Schlank. Kleiner Kopf. Blondes, stets gut frisiertes Haar. Blaue Augen. Regelmäßige Züge. Leicht fallende Schultern und ein Körper, den ein Zyniker die Hautattraktion nennen würde- sicherlich nicht ganz zu Recht angesichts des wachen, wohlinformierten, couragierten Geistes, der in ihm wohnte. Ausgezeichnete Manieren ohne besondere Wärme. Das war Velda, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Velda, die jetzt vor mir stand, war anders. Sie trug einen grauen, seidenen Morgenmantel. Im trüben Licht der Straßenlaterne hinter mir wirkte das straff gescheitelte Haar – nein, nicht grau, aber spröde. Ihr hochgewachsener, schöner Körper machte irgendwie einen steri190
len, leidenden Eindruck. Sie stand leicht vornübergebeugt wie eine alte Frau. Ihre einst so harmonischen Züge waren verkniffen, der Blick der blauen Augen fast stechend. Sie legte den Finger auf die dünner gewordenen Lippen und faßte mich mit der anderen Hand beinahe ängstlich am Mantelaufschlag, als wollte sie mich zu einer Stelle führen, wo wir unbelauscht sprechen konnten. Hinter ihr trat Max aus der Dunkelheit und legte ihr die Hand auf die Schulter. Velda reagierte kaum, ließ nur meinen Mantel los. Vielleicht blinzelte sie mir zu, als wollte sie sagen: »später vielleicht«, aber da bin ich nicht sicher. »Ich glaube, du solltest besser hinaufgehen, Liebling«, sagte er sanft. »Es ist Zeit, daß du dich ein wenig ausruhst.« Am Fuß der Treppe schaltete er das Licht an. Wir sahen ihr nach, als sie, sich am Geländer festhaltend, langsam hinaufging.
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Als sie unseren Blicken entschwunden war, schüttelte Max den Kopf und bemerkte fast beiläufig: »Schade um Velda. Ich fürchte, daß sie bald… Aber ich habe dich nicht hierhergebeten, um darüber zu sprechen.« Ich war schockiert von seiner scheinbaren Gefühllosigkeit. Einen Augenblick später jedoch sagte er etwas, was mir etwas von der Philosophie verriet, die seiner Haltung zugrunde lag. »Wir sind so gebrechlich, Fred – so hinfällig. Eine leichte Veränderung einer Drüsenfunktion, ein schwacher Schatten auf Nervenknoten, und pfft. Und wir können nichts dagegen tun, weil wir zu wenig wissen. Fred, wir wissen einfach nicht das Geringste. Wenn wir Gedanken in ihren Bahnen verfolgen könnten, wenn wir ihre heilende Kraft durch das Gehirn freisetzen könnten… aber bis dahin ist noch ein langer Weg. In der Zwischenzeit können wir gar nichts tun, außer, unserem Schicksal mit Fas192
sung entgegenzusehen. Obgleich es natürlich schlimm ist, wenn der Mensch, dessen Geist sich verwirrt, gleichzeitig einen mörderischen Haß gegen dich entwickelt. Aber wie ich schon sagte- ich möchte darüber nicht sprechen, und du würdest mir einen Gefallen tun, wenn auch du dieses Thema vermiedest.« Wir standen immer noch am Fuß der Treppe. Abrupt veränderte sich seine Miene; er klopfte mir auf die Schultern, schob mich vor sich her ins Wohnzimmer, bestand darauf, daß ich einen Drink nähme und machte sich dann am Kamin zu schaffen, wobei er wortreich von Vorgängen an der Universität berichtete und mich über Einzelheiten meiner letzten Artikel ausfragte. Als das Kaminfeuer brannte, ließ er sich mir gegenüber in einem Sessel nieder und fing an, von einem neuen Forschungsprojekt zu erzählen, das er eben begonnen hatte. Es betraf die Enzyme und die Temperaturkontrollmecha193
nismen von Insekten und schien weitreichende Bedeutung für so verschiedenartige Gebiete wie die Herstellung von Insektiziden und das Drüsensystem des menschlichen Körpers zu haben. Bald war er derart in Fahrt geraten, daß er mir fast wieder der alte zu sein schien; mir war, als seien die düsteren Ereignisse der Vergangenheit nur ein böser Traum. Einmal verstummte er kurz und legte die Hand auf ein dickes Manuskript auf dem Tischchen neben ihm. »Damit habe ich mich während dieser letzten Monate beschäftigt, Fred«, sagte er. »Es ist ein umfassender Bericht über meine Experimente mit Fearing mit den ihnen zu Grunde liegenden Theorien – so gut ich sie darstellen kann – und enthält auch noch ergänzendes Material aller Art. Ich selbst kann das Ding nicht mehr anrühren, das wirst du verstehen. Aber ich hoffe, daß irgend jemand anderer es tun wird, 194
und er soll auch Vorteil aus meinen Fehlern ziehen. Daß irgendeine der Fachzeitschriften es annehmen wird, bezweifle ich; aber wenn sie es nicht tun, werde ich es auf eigene Kosten veröffentlichen.« Er mußte sehr gelitten haben, dachte ich, während er dieses Manuskript anfertigte in dem vollen Bewußtsein, daß er nie mehr auf diesem Gebiet würde arbeiten können, daß es eine Darstellung seines eigenen, tragischen Scheiterns war, die seine Fachkollegen sicher nicht sehr wohlwollend aufnehmen würden. Trotz alledem hatte er sich verpflichtet gefühlt, Einsichten weiterzugeben, die eines Tages anderen Wissenschaftlern, ja, vielleicht sogar der ganzen Menschheit zugute kommen mochten. Veldas Tragödie, die ich noch gar nicht so recht begriffen hatte, kam mir jetzt wieder in den Sinn und Max’ so vorsichtige Andeutung, daß es ihm vielleicht hätte gelingen können, das düster drohende Übel von ihr abzuwen195
den, hätte er seine Experimente mit Fearing fortzuführen vermocht. Ja, ich glaubte damals – und glaube es heute noch – , daß Max’ Verhalten an jenem Abend, vor allem sein Enthusiasmus über sein neues Forschungsprojekt, an dem er offensichtlich mit letzter Hingabe arbeitete, ein tief beeindruckendes und gleichzeitig fast herzzerreißendes Beispiel eines unsentimentalen Mutes war, den man bei den hervorragendsten Wissenschaftlern findet. Gleichzeitig hatte ich allerdings das Gefühl, daß sein neues Vorhaben nicht der wirkliche Grund war, warum er mich hierhergebeten hatte. Ich spürte, daß er irgend etwas ganz anderes auf dem Herzen hatte und nur nicht anders konnte, als sein eigentliches Ziel auf Umwegen anzusteuern, wie das bei Menschen, die unglücklich sind, häufig der Fall ist. Diese meine Annahme erwies sich als richtig.
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Das Feuer war bereits etwas niedergebrannt. Das Thema seines neues Projekts war schon etwas erschöpft. Ich stellte Max irgendeine nebensächliche Frage über eine neue Erkenntnis der Luftfahrtmedizin. Er starrte in die schwächer gewordenen Flammen, als überlege er seine Antwort sehr sorgfältig. Plötzlich sagte er, ohne mich anzusehen: »Fred… es gibt etwas, was ich dir sagen muß. Ich weiß, daß ich es dir sagen muß, doch habe ich es bis jetzt nicht fertiggebracht. Ich haßte John Fearing, weil ich wußte, daß er ein Verhältnis mit meiner Frau hatte.« Ich starrte auf meine Hände. Nach einem Moment hörte ich wieder seine Stimme. Sie war nicht laut, aber rauh vor Erregung. »Bitte, Fred… tu’ nicht so, als hättest du’s nicht gewußt. Du sahst die beiden durchs Fenster an jenem Abend. Vielleicht kannst du dir nicht vorstellen, wie schwer es danach für mich war, mich nicht mit dir zu streiten oder 197
dir ganz aus dem Wege zu gehen. Der bloße Gedanke, daß du es wußtest…« »Das war alles, was ich sah oder wußte«, versicherte ich ihm. »Nur dieser eine Moment.« Ich wandte den Blick zu ihm. Tränen standen in seinen Augen. »Und trotzdem weißt du, Fred«, fuhr er fort, »daß das der eigentliche Grund ist, warum ich dich aufforderte, unseren Experimenten beizuwohnen. Ich glaubte, daß du, im Besitz deines Wissen, besser als jeder andere Mensch geeignet sein würdest, Zeuge der Korrektheit meines Verhaltens John gegenüber zu sein.« Eine Frage mußte ich stellen. »Bist du ganz sicher, Max, daß dein Verdacht auch begründet war?« Ein einziger Blick genügte, um mir klarzumachen, daß ich nicht weiter zu insistieren brauchte. Max saß gebeugten Hauptes da. Es war sehr still. Der Wind, der zuvor noch ein-
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zelne Regentropfen ans Fenster getragen hatte, war erstorben. Schließlich sagte Max: »Weißt du, Fred, es ist sehr schwierig, sich vergangene Gefühle wieder gegenwärtig zu machen, sei es nun Eifersucht oder wissenschaftlicher Enthusiasmus. Dennoch, das waren die beiden Gefühle, die bei diesem Drama die Hauptrolle spielten. Denn ich hatte schon mit meinen Experimenten begonnen, als ich die Affäre zwischen ihm und Velda entdeckte.« Er hielt inne, um dann mühsam beherrscht fortzufahren: »Ich fürchte, ich bin nicht sehr tolerant, Fred, wenn es um Sex geht. Wäre John einfach irgend jemand gewesen, oder hätte ich sein Verhältnis mit meiner Frau früher entdeckt – ich glaube, ich hätte anders gehandelt. Ziemlich brutal vielleicht. Ich weiß nicht. Aber der Umstand, daß unsere Experimente schon begonnen hatte, und daß sie so viel versprachen, änderte alles.
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Ich bemühe mich wirklich, Wissenschaftler zu sein, verstehst du«, fuhr er fort, den fast gespenstischen Schatten eines Lächelns auf seinen Lippen. »Und als Wissenschaftler- oder einfach als vernünftig denkender Mensch – mußte ich zugeben, daß der Segen, welcher der Menschheit möglicherweise aus unseren Experimenten erwuchs, die Verletzung, die meiner Männlichkeit oder meiner Eitelkeit da zugefügt wurde, unendlich weit überwog. Vielleicht klingt das grotesk, aber als Wissenschaftler mußte ich sogar bedenken, ob diese Liebesaffäre nicht notwendig war, um John, den Gegenstand und das Medium meiner Untersuchungen, richtig zu konditionieren – ja, ob ich dieses Verhältnis nicht sogar fördern sollte. So, wie die Dinge lagen, brauchte ich meinen normalen Tagesablauf gar nicht zu ändern, um ihnen reichlich Gelegenheit zu verschaffen. Wäre das notwendig gewesen – ich glaube, ich würde sogar das getan haben.« 200
Er ballte die Fäuste. »Es hing eben so viel von diesen Experimenten ab, verstehst du. Trotzdem – jetzt fällt es mir schon sehr schwer, mich überhaupt daran zu erinnern. Die Vision… sie ist nicht mehr da… das Manuskript hier ist nichts als totes Zeug… eine Verpflichtung… Jetzt sehe ich vieles ganz anders. Auch die Sache mit Velda und John. Velda erwies sich nicht ganz als die Frau, die ich geheiratet zu haben glaubte. Erst nach geraumer Zeit wurde mir klar, daß sie ein ungemein starkes Bedürfnis hatte, verehrt zu werden – eine Art kalter Lust an Schönheit und Ekstase, wie eine heidnische Priesterin. Und ich, ich sperrte sie hier ein- die alte Geschichte – und glaubte, sie müßte Anteil an meinem Enthusiasmus nehmen. Das war nicht gerade das, was sie brauchte. Und trotzdem, Fred- mein Lebenswerk ist so sehr von Velda inspiriert worden, daß du es wohl gar nicht glauben würdest. Das war 201
schon so, bevor ich sie kannte. Eine Art von Erwartung… Und John? Ich glaube nicht, daß wir jemals Klarheit darüber erhalten werden, was für ein Mensch er wirklich war. Ich selbst fing gerade erst an, ihn zu verstehen, und manche Seiten seiner Persönlichkeit blieben für mich völlig im Dunkeln. In gewissem Sinne war er ein echter Supermann. In einem anderen Sinn ein vernunftloses Tier. Erstaunliche Schwächen oder blinde Punkte. Der Einfluß seiner Mutter. Und dann die Art, wie seine Instinkte und sein Gewissen Hand in Hand gingen. Möglich, daß John sowohl in seinem Verlangen nach Velda wie auch in seiner Bereitschaft, sich zu meinen Experimenten zur Verfügung zu stellen, damit ich der Menschheit helfen konnte, völlig aufrichtig war. Vielleicht wurde ihm gar nicht klar, daß diese bei den Dinge nicht sonderlich gut zusammenpaßten. Möglicherweise glaubte er, daß er sich sowohl Velda als auch mir ge202
genüber sehr nett und entgegenkommend verhielt. Ja, sein Verhältnis mit Velda… Käme es zum jetzigen Zeitpunkt dazu, ich glaube, ich würde es völlig anders sehen. Aber damals –? Mein Gott, Fred, es fällt mir so furchtbar schwer, nüchtern und sachlich an die beiden zu denken! Damals durchlebte ich Tag und Nacht das höchste Glücksgefühl wissenschaftlicher Entdeckerfreude und gleichzeitig die tiefsten Abgründe der Erbitterung und der Eifersucht. Aber diese Gefühle hielt ich in Zaum!« Ein Ton des Grimms kam in seine Stimme. »Du sollst nicht glauben, daß ich schwach war, Fred. Sei versichert, daß ich niemals auch nur um Haaresbreite von dem abwich, was Wissenschaft und humanitäre Verpflichtung mir geboten. Mein Haß auf John hielt ich fest unter Kontrolle. Und wenn ich das sage, dann meine ich es auch. Ich bin kein Ignorant, Fred. Ich weiß, daß verdrängte, 203
unterdrückte Gefühle im Unterbewußten weiterwirken. Was das betrifft, so war ich auf der Hut. Bei jedem Experiment war ich geradezu phantastisch vorsichtig. Ich weiß, es kam dir vielleicht nicht so vor, aber selbst das letzte davon… Himmel… bei den vorbereitenden Schritten hatten wir manchmal doppelt so gefährliche Experimente gemacht. Sowjetischen Wissenschaftlern ist es bereits gelungen, Menschen noch fünf Minuten nach Eintritt des Todes wiederzubeleben. Und bei John ging es nicht mal nach einer! Und trotzdem… Das ist es, was mir so zusetzte, Fred, als ich ihn nicht wiederbeleben konnte, verstehst du. Der Gedanke, daß mir mein Unterbewußtes irgendwie einen Streich gespielt und meinem nur allzu bewußten Haß einen Ausweg aus seinem Gefängnis gebahnt hatte. Als John da so vor mir lag, marterte mich die Überzeugung, daß es irgend etwas gab – eine winzige 204
Kleinigkeit – die es möglich machen würde, ihn wiederzubeleben, wenn mir nur eingefallen wäre, was das war. Irgendein kleiner Irrtum – ein kleines Versehen, das ich begangen hatte und jetzt nur zu korrigieren brauchte, was mein Unterbewußtes aber nicht zuließ. Mein Denk- und mein Erinnerungsvermögen war einfach völlig blockiert, verstehst du, und ich konnte nicht das Geringste dagegen tun. Ich versuchte auf alle mögliche Art, John wiederzubeleben; jeden Schritt des Experiments ging ich noch einmal durch, ohne einen Fehler zu finden. Aber dieses Schuldgefühl blieb. Und andere Dinge verstärkten es noch. Veldas eisige Ruhe, die ärger war als die schlimmsten Vorwürfe, die sie mir hätte machen können. Oder etwas so Kindisches wie dieser alberne Okkultist mir seinem Geschwätz von der Totenwache. 205
Wie John mich hassen mußte, sagte ich mir ganz unsinnigerweise. Von mir zu Tode gebracht, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was ich vorhatte. Und Velda. Kein einziges Wort des Vorwurfs. Sie… sie erstarrte ganz einfach seelisch, bis sie den Verstand darüber verlor. Und John. Sein wunderbarer Körper verfaulte im Grab. Diese phantastischen Muskeln und Nerven zerfielen Zelle für Zelle.« Erschöpft ließ Max sich in einen Sessel fallen. Im Kamin erlosch die letzte Flamme, und die Asche begann zu rauchen. Die Stille war tödlich. Und dann begann ich zu sprechen. Ganz ruhig. Nichts Besonderes. Ließ nur noch einmal Revue passieren, was ich wußte und was Max mir gesagt hatte. Als der Wissenschaftler, der er nun einmal sei, erklärte ich ihm, hätte er gar nicht anders handeln können. Ich erinnerte ihn daran, wie er alles, was er getan hatte, dop206
pelt und dreifach überprüft hatte und legte ihm dar, daß er nicht den geringsten Grund hatte, sich auch jetzt noch schuldig zu fühlen. Schließlich begann das, was ich ihm auseinandersetzte, auch seine Wirkung zu tun, obwohl Max erklärte: »Ich glaube nicht, daß es irgend etwas ist, was du gesagt hast. Das alles habe ich mir schon oft und oft überlegt. Es ist… es ist… weil ich es mir endlich von der Seele geredet habe. Jetzt fühl’ ich mich wirklich besser.« Und das stimmte ganz zweifellos. Zum ersten Male kam er mir wieder wie der Max aus früheren Zeiten vor. Erschöpft und mitgenommen natürlich, aber irgendwie trotzdem der alte Max. »Weißt du«, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück, »zum ersten Mal seit einem halben Jahr fühle ich mich wieder ein wenig wohler in meiner Haut.«
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Wieder trat Schweigen ein. Die Asche im Kamin rauchte nicht mehr. Von draußen drang der Geruch kalter, feuchter Erde herein. Ich fuhr zusammen, als Max mit einem plötzlichen Ruck seinen Sessel zurückschob. Sein Gesichtsausdruck war gespenstisch. Seine Lippen formten Worte, doch nur erstickte Laute drangen an mein Ohr. Dann gelang es ihm, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Das ist es! Das Signal, das ihn wieder zum Leben erwecken sollte! Ich vergaß, daß ich die Signale geändert hatte! Ich glaubte, es sei noch…« Er riß einen Bleistift aus seiner Tasche und klopfte auf die Armlehne seines Sessels: Dreimal – einmal. »Aber es hätte sein müssen…« und er klopfte: Dreimal – zweimal. Es fällt mir schwer, das Gefühl zu beschreiben, das ich empfand, als er das zweite Signal klopfte. 208
Die lastende Stille hatte etwas damit zu tun. Ich wünschte mir, daß irgendein anderes Geräusch sie unterbräche – das Prasseln von Regentropfen, das Knacken eines Balkens, das Rattern eines vorbeifahrenden Zuges. Nur fünf kleine, unregelmäßige Klopfzeichen, und doch hatten sie eine Qualität, eine Kraft und einen Rhythmus, der Max gehörte und niemand sonst auf der Welt – sie waren so unverwechselbar wie sein Fingerabdruck, so unnachahmlich wie seine Unterschrift. Fünf kurze Klopfzeichen – entschwunden in einer Sekunde, möchte man meinen. Aber kein noch so schwacher Ton verstummt jemals wieder, sagt man. Er wird schwächer und schwächer, die Molekülbewegungen ebben ab. Und dennoch schwingt der Ton zum Ende der Welt und zurück in die Ewigkeit. Ich stellte mir vor, wie dieses Klopfzeichen durch die Wände hinaus in die Nacht drang, 209
durch die nassen Baumwipfel eilte, sich hinauf zu den Wolken schwang, dann vielleicht zögernd einen verrosteten Beleuchtungsmasten umkreiste, bevor es zielbewußt die Richtung zum Friedhof einschlug und sich dort auf feuchte Erde und kalten Stein hinabsenkte. Und ich dachte an Fearing, der in seinem Grab noch nicht völlig verwest war. Max und ich sahen einander an. Plötzlich hörten wir von oben einen durchdringenden Schrei, der uns das Blut in den Adern erstarren ließ. Einen Augenblick lang waren wir wie gelähmt. Dann hörten wir, wie draußen jemand in rasender Eile die Treppe herunterrannte. Als wir aufsprangen, fiel die Haustür ins Schloß. Wir sagten beide kein Wort. Mit ein paar Schritten war ich in der Diele und hatte meine Taschenlampe gepackt.
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Als wir draußen waren, konnten wir Velda nicht sehen. Aber wir wußten sofort, welche Richtung wir einschlagen mußten. Wir begannen zu laufen. Dann sah ich Velda an der nächsten Querstraße vor uns. Körperlich war ich ganz gut in Form. Max fiel allmählich ein wenig zurück. Aber den Abstand zwischen Velda und mir konnte ich nicht verkürzen. Immer, wenn sie den Lichtkegel einer Straßenlampe durchquerte, konnte ich sie deutlich erkennen. Mit ihrem grauen, seidenen Morgenmantel, der hinter ihr herwehte, wirkte wie eine Fledermaus. »Aber sie konnte unser Gespräch doch gar nicht hören«, sagte ich mir immer wieder. »Sie konnte doch die Klopfzeichen gar nicht hören.« Oder doch? Beim Friedhof angekommen, knipste ich meine Taschenlampe an. Velda war nicht
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mehr zu sehen, doch bemerkte ich, daß sich etwas weiter vorne Äste und Zweige bewegten. Ich rannte zu dieser Stelle. Die Mauer war nicht sehr hoch. Ich konnte die Oberkante mit der Hand erreichen. Sie war mit Glassplittern besetzt. Ich zog meine Jacke aus, legte sie auf die Mauer und kletterte hinauf. Im Licht meiner Lampe sah ich einen Fetzen grauen Seidenstoffs, der an einer spitzen Glasscherbe hängengeblieben war. Jetzt kam Max keuchend herbeigerannt. Ich half ihm auf die Mauer, und wir sprangen auf der anderen Seite hinunter. Das Gras war sehr naß. Der Lichtkegel meiner Lampe ging über fahle, nasse Grabsteine. Ich versuchte, mich zu erinnern, wo Fearings Grab war. Es fiel mir nicht ein. Wir begannen zu suchen. »Velda, Velda!« fing Max an zu rufen.
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Plötzlich glaubte ich, mich wieder zurechtzufinden. Ich rannte los, gefolgt von Max, der immer noch »Velda!« rief. Dann hörte ich einen dumpfen Fall. Ich konnte nicht sagen, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Unsicher schaute ich mich um. Ich sah, daß Max sich umgewandt hatte und zu laufen begann. Er verschwand hinter einem Grabstein. Ich lief ihm nach, so schnell ich konnte, schlug aber wohl die falsche Richtung ein und verlor ihn aus den Augen. Unschlüssig eilte ich zwischen zwei Reihen von Gräbern herum und leuchtete mit meiner Taschenlampe hierhin und dorthin. Düstere Bäume, fahle Steine, nasses Gras, dunkle Grabhügel – sonst nichts. Plötzlich hörte ich einen entsetzlichen Schrei. Das war Max! Wie wild rannte ich los. Ich stolperte über eine Grabplatte und fiel der Länge nach hin. 213
Jetzt hörte ich eine andere Stimme schreien, Velda! Ich rappelte mich auf und rannte von neuem los. Plötzlich sah ich sie. Zweimal ging der Lichtkegel meiner Lampe über die Szene, ehe sie mir aus der Hand fiel. Sie standen da. Alle drei. Ich weiß, daß die Polizei eine sehr vernünftige Erklärung für das hat, was ich sah. Und ich weiß auch, daß diese Erklärung richtig sein muß, wenn an dem, was man uns über Geist und Körper und Tod gelehrt hat, etwas Wahres ist. Natürlich wird es immer Menschen geben, die weniger gläubig sind und andere Theorien vertreten. Wie Max mit seinen Experimenten. Das einzige, worüber die Polizei sich nicht im klaren ist, ist, ob Velda es ohne Hilfe fertigbrachte, in das Mausoleum zu kommen und den Sarg zu öffnen – man fand einen rostigen, 214
alten Schraubenzieher – oder ob Grabmal und Sarg schon vorher von irgend jemand – aus welchen Gründen auch immer – aufgebrochen worden waren. Daß Grabmal und Sarg von innen geöffnet wurden, hält man für ausgeschlossen. Velda kann es nicht sagen. Ihr Geist ist völlig umnachtet. Die Polizei hegt keinen Zweifel daran, daß Velda fähig war, Max zu erwürgen. Immerhin waren drei starke Männer nötig, um sie aus dem Friedhof zu schaffen. Von mir selbst weiß die Polizei, daß Velda Max mörderisch haßte. Die seltsame Position von Fearings Überresten schreibt man einer Wahnsinnshandlung Veldas zu. Und natürlich muß die Polizei recht haben. Das einzige, was gegen ihre Theorie spricht, sind die Klopfzeichen. Und natürlich kann ich der Polizei nicht klarmachen, von welch ungeheurer Bedeutung Max’ Klopfzeichen – dieses 215
diabolische dreimal – zweimal – mir zu diesem Zeitpunkt zu sein schien. Ich kann nur berichten, was ich im zitternden Schein der Handlampe sah. Die Marmorplatte, die Fearings Gruft verschlossen hatte, war nach vorn gefallen. Das Grab war offen. Velda lehnte am Stein des der Gruft gegenüberliegenden Grabes. Ihr grauer Morgenmantel war naß und zerrissen. Blut lief aus einer Wunde oberhalb ihres Knies. Das blonde Haar hing ihr wirr in die Stirn. Ihre Züge waren verzerrt. Immer noch hysterisch schreiend, starrte sie vor sich auf den Boden. Dort, im nassen Gras, lag Max auf dem Rücken. Sein Kopf war nach hinten verdreht. Halb über ihm lag eine zweite Gestalt, die knochige Hand zu Max’ Hals ausgestreckt. Ein schwärzlicher, geschrumpfter Körper, von dem in Fetzen das Totenhemd hing – das war alles, was von Fearing noch übrig war. 216
H. P. Lovecraft Die Experimente des Herbert West I. AUS DEM DUNKEL Von Herbert West, der als Student und auch später mein Freund war, kann ich nur mit Schaudern sprechen. Dieser Schauder hat nicht nur mit den wenig angenehmen Umständen seines kürzlichen Verschwindens zu tun, sondern viel mehr mit der Natur seines Lebenswerks, und machte sich erstmals bei mir vor siebzehn Jahren bemerkbar, als wir uns im dritten Jahr unserer Studien an der MiskatinicUniversität in Arkham befanden. Solange wir zusammen waren, übten seine erstaunlichen, ja geradezu diabolischen Experimente eine ungeheure Faszination auf mich aus. Nun, da er nicht mehr unter uns weilt, ist der Bann gebrochen, und statt der Faszination herrscht jetzt Angst. Die Erinnerung und das, was als 217
möglich gedacht wird, ist oft schrecklicher als die Wirklichkeit. Der erste furchtbare Vorfall während unserer Bekanntschaft fügte mir den schlimmsten Schock zu, den ich jemals erlitt, und ich berichte nur widerstrebend davon. Es war während unserer Zeit an der medizinischen Fakultät, wo West wegen seiner wilden Theorien über die Natur des Todes und die Möglichkeit, ihn mit künstlichen Mitteln zu überwinden, schon allgemein bekannt war. Seine Ansichten, für die Professoren und Kommilitonen zumeist nur Spott und Hohn übrig hatten, hatten die im wesentlichen mechanistische Natur des Lebens zur Grundlage. Auf dieser Basis entwickelte er seine Vorstellungen, nach denen die organische Maschinerie des Menschen durch chemische Einwirkungen am Leben erhalten werden sollte, wenn die natürlichen Prozesse versagt hatten. Bei seinen Experimenten mit verschiedenen wiederbelebenden Mixturen 218
hatte er eine Unzahl von Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunde und Affen behandelt und getötet, bis er bei der ganzen Fakultät in Verruf geriet. Mehrere Male hatte er tatsächlich Lebenszeichen in scheinbar toten Tieren erweckt – manchmal sogar recht heftige. Dennoch mußte er bald erkennen, daß die Vervollkommnung seiner Methode – sofern sie sich nicht doch als irrig erwies – noch jahrzehntelanger Forschung bedürfen würde. Ebenso wurde ihm klar, daß er, nachdem ein und dieselbe Mixtur niemals in gleicher Weise auf verschiedene Spezies organischen Lebens wirkte, menschlicher Versuchsobjekte bedurfte. Hier kam er zum ersten Mal in Konflikt mit den Universitätsbehörden, und derartige Experimente wurden ihr von keinem Geringeren als dem Dekan der medizinischen Fakultät selbst untersagt- dem gelehrten und gütigen Dr. Allan Halsey, dessen Arbeiten allen Medi-
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zinstudenten und -absolventen dieser Universität aufs beste bekannt sind. Wests Theorien gegenüber war ich stets tolerant, und häufig diskutierten wir sie und die Vielzahl der sich aus ihnen ergebenden Schlußfolgerungen. Ausgehend von Haeckels Lehre, daß alles Leben ein physikalischchemischer Prozeß, die sogenannte »Seele« dagegen ein Mythos sei, glaubte mein Freund, daß die künstliche Wiederbelebung Toter letztlich nichts weiter als den guten Zustand der Gewebe voraussetze. So lange noch keine Verwesung eingesetzt hat – so seine Überzeugungkönne ein noch im Besitz aller seiner Organe befindlicher Leichnam durch geeignete Maßnahmen wieder in den Zustand zurückversetzt werden, den man »Leben« nennt. Daß Psyche und Intellekt durch ei ne nur kurze Unterversorgung der Gehirnzellen mit Sauerstoff beeinträchtigt werden können, war West durchaus klar. Zunächst hatte er gehofft, die Vitalität 220
von Tieren vor dem tatsächlichen Eintritt des Todes neu zu mobilisieren, und erst eine Reihe von Fehlschlägen hatte ihn davon überzeugt, daß natürliche und künstliche Lebensregungen sich nicht miteinander vertragen. Sodann verlegte er sich darauf, den Tieren, mit denen er experimentierte, seine Lösungen unmittelbar nach dem Erlöschen des Lebens einzuspritzen. Gerade das war es, was die Professoren so skeptisch machte, denn sie glaubten, daß der Tod in Wirklichkeit noch gar nicht eingetreten sei. Keiner von ihnen nahm sich die Mühe, den Sachverhalt näher zu untersuchen. Nicht lange nach dem Verbot seiner Arbeiten durch die Fakultät vertraute West mir seinen Entschluß an, sich irgendwie frische Leichen zu besorgen und die Experimente, die er nicht mehr öffentlich durchführen konnte, insgeheim weiterzutreiben. Natürlich war die Beschaffung von Leichen für die Anatomie bisher nicht unsere Aufgabe gewesen. Immerhin, 221
West fand Mittel und Wege. Gab das Leichenhaus einmal nichts her, dann sorgten zwei Neger für Nachschub. Fragen wurden ihnen selten gestellt. West war damals ein kleiner, schlanker, bebrillter junger Mann mit feinen Zügen, blondem Haar, hellblauen Augen und einer sanften Stimme. Ich war sein faszinierter, eifriger Assistent und stand ihm beratend zur Seite – nicht nur bei der Beschaffung von Leichen, sondern auch, als es darum ging, einen passenden Ort für unsere schreckliche Arbeit zu finden. Ich war es, der an die verlassene Chapman-Farm jenseits des Meadow-Hügels dachte, wo wir im Erdgeschoß einen Operationsraum und ein Laboratorium einrichteten. Beide versahen wir mit dunklen Vorhängen, damit niemand Einblick in unser nächtliches Treiben bekam. Der Ort war zwar weit von jeder Straße entfernt und auch nicht in Sichtweite eines anderen Hauses. Den noch waren 222
Vorsichtsmaßnahmen vonnöten; Gerüchte über seltsame Lichter, ausgestreut von zufällig des Weges kommenden nächtlichen Spaziergängern, konnten bald das Ende unserer Unternehmung bedeuten. Wir vereinbarten, das Ganze ein »Chemisches Laboratorium« zu nennen, falls es entdeckt werden sollte. Nach und nach rüsteten wir unsere düstere Forschungsstätte mit entweder in Boston gekauftem oder aus der Universität »entliehenem« – und in diesem Fall sorgfältig unkenntlich gemachtem – Material aus und stellten auch Schaufeln und Hacken für die vielen Begräbnisse bereit, die wir im Keller würden vornehmen müssen. Auf der Universität benutzten wir einen Verbrennungsofen, doch war so ein Apparat für unser Geheimlaboratorium zu kostspielig. Leichen waren immer sehr lästig – selbst die Kadaver der kleinen Meerschweinchen, die bei Wests heimlichen Experimenten auf seinem Privatzimmer anfielen. 223
Begierig verfolgten wir die Todesanzeigen in der Lokalzeitung, denn bei unseren Untersuchungsobjekten waren besondere Eigenschaften vonnöten. Was wir brauchten, waren Leichen, die unverzüglich nach Eintritt des Todes und ohne Einbalsamierung begraben worden waren. Zudem mußten sie frei von schwereren Krankheiten und im Besitz aller ihrer Organe sein. Unfallopfer waren am besten geeignet. Wochenlang fanden wir nichts Geeignetes, obgleich wir uns immer wieder mit maßgebenden Leuten vom Hospital und vom Leichenhaus in Verbindung setzten, wobei wir natürlich darauf achten mußten, daß niemand Verdacht schöpfte. Wie sich herausstellte, hatte die medizinische Fakultät in jedem Falle die erste Wahl, so daß es vielleicht notwendig werden würde, auch während des Sommers, wo nur einige Ferienkurse stattfanden, in Arkham zu bleiben. Endlich jedoch hatten wir Glück; eines Tages hörten wir von einem fast 224
idealen Fall – einem kräftigen jungen Arbeiter, der am Morgen zuvor in einem Teich ertrunken und auf Kosten der Stadt unverzüglich und ohne einbalsamiert worden zu sein begraben worden war. Das frische Grab fanden wir ohne Schwierigkeiten und beschlossen sodann, bald nach Mitternacht an die Arbeit zu gehen. Nur widerwillig machten wir uns an unser Vorhaben, wiewohl wir damals noch nicht jenen besonderen Horror vor Friedhöfen empfanden, der uns nach späteren Experimenten so sehr bedrängte. Wir waren mit Schaufeln und Öllampen ausgerüstet; die elektrischen Taschenlampen, die es auch damals schon gab, hätten nicht hingereicht. Die Ausgrabung selbst war überaus mühsam – sie hätte etwas Gruselig-Poetisches an sich haben können, wären wir Dichter und nicht Wissenschaftler gewesen – und wir waren froh, als unsere Schaufeln auf Holz stießen. Als wir den Holzsarg völlig freigelegt hatten, kletterte West in 225
die Grube hinunter, nahm den Deckel ab und beförderte heraus, was sich darin befand. Ich langte hinunter und hob die Leiche heraus, und dann bemühten wir uns, das Grab wieder in seinen vorherigen Zustand zu versetzen. Das Ganze machte uns ziemlich nervös, vor allem der steife Körper und das leere Gesicht unserer ersten Beute. Dennoch gelang es uns, alle Spuren unseres Tuns zu verwischen. Wir packten unser Untersuchungsobjekt in einen Leinensack und machten uns auf den Weg zur Chapman-Farm. Auf dem improvisierten Seziertisch und im Licht der starken Azethylenlampe sah der Körper nicht mehr besonders gespenstisch aus. Es war ein stämmiger, zu Lebzeiten vermutlich nicht mit besonderen Geistesgaben gesegneter junger Mann von gesundem plebejischem Typus, großgewachsen, grauäugig und braunhaarig – ein Wesen ohne Kompliziertheit der Psyche, dessen Lebensprozesse wahrscheinlich 226
von der einfachsten, solidesten Art gewesen waren. Jetzt wirkte er eher, als schliefe er, wenngleich die fachmännische Untersuchung durch meinen Freund bald keinen Zweifel mehr daran ließ, daß er tot war. Endlich hatten wir also das, worauf West so lange gewartet hatte das ideale Untersuchungsobjekt, auf das Wests sorgfältig zusammengestelltes Wiederbelebungsserum schon wartete. Unsere Spannung wuchs. Wir wußten, wie gering die Aussicht auf völliges Gelingen unseres Experiments war und konnten uns, wenn wir an die möglicherweise grotesken Ergebnisse einer teilweisen Wiederbelebung dachten, eines beklemmenden Gefühls nicht erwehren. Die Frage, inwieweit die empfindlichen Gehirnzellen seit dem Eintritt des Todes gelitten haben mochten, machte uns besondere Sorge. Ich selbst war immer noch in gewissen, seltsamen Vorstellungen von der ,Seele’ des Menschen befangen und empfand eine nicht geringe 227
Scheu vor dem, was einer, der aus dem Reich der Toten zurückkehrte, wohl offenbaren mochte. Was konnte dieser harmlose junge Mann erblickt haben in jenen uns allen unzugänglichen Sphären… Was würde er uns erzählen? Trotz allem hielt sich mein Schauder in Grenzen; schließlich teilte ich weitgehend die materialistischen Anschauungen meines Freundes. Der freilich war ruhiger als ich, als er ein großes Quantum seiner Lösung in eine Vene des Leichnams pumpte und die Wunde dann sofort abband. Das Warten zerrte an unseren Nerven. Immer wieder setzte West der Leiche das Stethoskop auf die Brust und trug den negativen Befund mit Fassung. Als etwa dreiviertel Stunden vergangen waren, ohne daß sich das geringste Lebenszeichen gezeigt hätte, erklärte er enttäuscht, die Mixtur sei offenbar nicht richtig zusammengesetzt, bekundete aber gleichzeitig, seine Absicht, vorerst nicht aufzugeben, 228
sondern es vielmehr noch einmal mit einer geänderten Formel zu versuchen. Am Nachmittag hatten wir im Keller ein Grab ausgehoben, das bis Tagesanbruch gefüllt sein mußte, denn obgleich wir an der Haustür ein starkes Schloß angebracht hatten, wollten wir selbst das geringste Risiko einer Entdeckung vermeiden Außerdem würde der Leichnam in der kommenden Nacht auch nicht mehr frisch genug sein. Wir nahmen also unsere Azetylenlampe, gingen ins nebenan liegende Laboratorium, um die neue Lösung zu mischen, und ließen unseren stummen Gast im Dunkeln zurück. West erledigte das Abwiegen der einzelnen Bestandteile seiner Mixtur mit fast fanatischer Präzision. Was dann passierte, geschah ganz plötzlich und unerwartet. Ich schüttete gerade etwas aus einem Reagenzglas in ein anderes, und West war mit dem Spiritusbrenner beschäftigt, der in diesem Haus ohne Gasanschluß einen Bun229
senbrenner ersetzen mußte, als wir aus dem stockdunklen Raum nebenan die entsetzlichsten Schreie hörten, die jemals an unser Ohr gedrungen waren. Hätte der Schlund der Hölle sich geöffnet, das Heulen der Verdammten hätte nicht grausiger sein können. Es schien nichts Menschliches an sich zu haben – Menschen sind derart gräßlicher Laute gar nicht fähig – und ohne einen weiteren Gedanken um unser eigentliches Vorhaben oder seine mögliche Entdeckung stürzten West und ich in panischem Schrecken zum nächsten Fenster und flüchteten uns von dort hinaus in die Nacht. Ich glaube, wir schrien selbst wie von Sinnen, während wir zur Stadt zurückhasteten. Als wir den Stadtrand erreichten, hatten wir uns wenigstens wieder soweit in der Gewalt, daß man uns allenfalls für verspätete Zecher halten mochte, die von einem Gelage nach Hause zurückkehrten.
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Wir trennten uns nicht, sondern sperrten uns gemeinsam in Wests Zimmer, wo wir beim Licht der Gaslampe bis zum Morgengrauen erregt aufeinander einflüsterten. Dann hatten wir uns mit rationalen Theorien und Plänen einer genaueren Untersuchung des Phänomens so weit beruhigt, daß wir den Tag hindurch schlafen konnten; unsere Vorlesungen ließen wir ausfallen. Noch am selben Abend jedoch machten es uns zwei Zeitungsmeldungen, die im übrigen nichts miteinander zu tun hatten, von neuem unmöglich, Ruhe zu finden. Die alte, verlassene Chapman-Farm war aus noch ungeklärten Gründen zu einem Aschenhaufen niedergebrannt, was uns nicht wunderte, denn wir hatten bei unserer überstürzten Flucht die Azetylenlampe umgestoßen. Außerdem hieß es, auf dem Friedhof sei ein Grab beschädigt worden; es sehe so aus, als hätte jemand mit bloßen Händen in der Erde gewühlt. Das verstanden wir nicht, hatten wir 231
doch bei unserer Exhumierung den vorherigen Zustand aufs Sorgfältigste wiederhergestellt. Noch siebzehn Jahre nach diesem Ereignis sah sich West manchmal über die Schulter um, weil er glaubte, hinter sich Schritte gehört zu haben. Jetzt ist er verschwunden. II. DER DÄMON DER SEUCHE Niemals werde ich den furchtbaren Sommer vor sechzehn Jahren vergessen, als sich wie ein hinterhältiger Mörder der Typhus in Arkham einschlich. Vor allem diese satanische Geißel ist es, die mich an dieses Jahr erinnert, in dem sich in der Leichenhalle die Särge zu Bergen türmten. Und dennoch verbindet sich in meiner Erinnerung noch entsetzlicherer Schrecken mit dieser Zeit – ein Schrecken, den jetzt, da Herbert West verschwunden ist, nur ich allein noch kenne. West und ich hatten gerade unser Examen gemacht, blieben aber weiter an der Universität, um schon begonnene Arbeiten zu Ende zu 232
führen, so daß wir also noch in Arkham waren, als die teuflische Seuche über die Stadt hereinbrach. Wiewohl noch nicht offiziell bestallt, waren wir doch schon fertige Ärzte und wurden aufgefordert, uns für den Dienst gegen die Seuche zur Verfügung zu stellen. Die Katastrophe nahm alsbald derartige Ausmaße an, daß die Totengräber es bald kaum mehr schafften, die vielen Opfer der Epidemie unter die Erde zu bringen. Dieser Umstand verfehlte nicht seine Wirkung auf West, dem die Ironie der Situation ganz und gar nicht entgangen war – so viele frische Forschungsobjekte, und dennoch keines für seine Arbeit geeignet! Wir waren restlos überarbeitet, und die furchtbare psychische und nervliche Belastung machte meinen Freund bald sehr melancholisch. Wests wissenschaftlichen Gegnern von der medizinischen Fakultät ging es kaum besser. Speziell Dr. Halsey, der sich immer wieder aufopferungsvoll besonders gefährlicher oder 233
scheinbar schon hoffnungsloser Fälle angenommen hatte, vor denen andere Ärzte zurückschreckten, hatte sich ausgezeichnet. Nach kaum vier Wochen war der furchtlose Dekan ein Volksheld geworden, obgleich ihm sein unter Aufbietung der letzten körperlichen und seelischen Kraft geführter Kampf gegen die Seuche gar keine Zeit ließ, sich dieses Ruhmes überhaupt bewußt zu werden. Auch West konnte nicht umhin, Halsey, der sein wissenschaftlicher Gegner war und ihm die Fortführung seiner Experimente verboten hatte, bewundernden Respekt zu zollen. Aber gerade deswegen war er fester entschlossen denn je, ihm die Wahrheit seiner unkonventionellen Doktrin zu beweisen. Unter Ausnutzung der ungewöhnlichen Umstände schaffte er es eines Nachts, eine frische Leiche in den Seziersaal der Universität zu schmuggeln, wo er ihr in meiner Gegenwart seine inzwischen weiterentwickelte Mixtur einspritzte. Tatsächlich 234
öffnete sein Versuchsobjekt die Augen, starrte aber nur mit schreckerfülltem Blick an die Decke, ehe es wieder in einen Erstarrungszustand zurückfiel, aus dem er es nicht wieder zurückholen konnte. Nicht frisch genug sei die Leiche gewesen, sagte West – die heiße Sommerluft war nicht günstig für dieses Vorhaben. Dieses Mal wurden wir fast erwischt, bevor wir den Körper einäscherten, und West hielt es daraufhin nicht mehr für angezeigt, das Universitätslaboratorium noch einmal so zu mißbrauchen. Im August erreichte die Epidemie ihren Höhepunkt. West und ich waren halb tot. und Dr. Halsey starb am 14. wirklich. Alle anwesenden Studenten wohnten der rasch anberaumten Beerdigung am nächsten Tag bei und kauften auch einen großen Kranz, der allerdings von dem, was reiche Bürger von Arkham sowie die Stadtverwaltung zu seinen Ehren aufwanden, weit in den Schatten gestellt 235
wurde. Es war fast ein offizieller Vorgang, denn der Dekan war zweifellos ein öffentlicher Wohltäter gewesen. Nach der Beisetzung waren wir alle ziemlich bedrückt und verbrachten den Nachmittag an der Bar des »Commercial House«, wo West, wiewohl durch den Tod seines Hauptgegners sichtlich erschüttert, den Rest von uns mit weitschweifigen Ausführungen über seine berüchtigten Theorien vergrämte. Gegen Abend gingen die meisten Studenten nach Hause; mich hingegen überredete West, noch »weiterzumachen«. Wests Vermieterin sah uns gegen zwei Uhr morgens mit einem dritten Mann in der Mitte heimkommen und berichtete ihrem Mann, wir hätten offenbar gut gespeist und getrunken. Diese säuerliche Matrone hatte wohl recht, denn gegen drei Uhr früh wurde das ganze Haus durch Schreie aus Wests Zimmer aufgeschreckt. Als man die Tür des Zimmers einschlug, fand man uns beide bewußtlos auf dem 236
blutbefleckten Teppich – verkratzt, zerschlagen und mit den zerschmetterten Überresten von Wests Flaschen und Instrumenten um uns herum. Nur ein offenes Fenster verriet, was aus dem Angreifer geworden war, und viele fragten sich, wie es ihm wohl selbst nach dem Sprung aus dem ersten Stock, den er gemacht haben mußte, ergangen sein mochte. Ein paar fremde Kleidungsstücke lagen im Zimmer, doch West erklärte nach Wiedererlangung seines Bewußtseins, daß sie nicht etwa jenem Mann gehörten, sondern im Zuge der Erforschung der Übertragungswege von Krankheitskeimen bakteriologisch untersucht worden seien. Er beauftragte seine Hauswirtin, sie umgehend zu verbrennen. Der Polizei gegenüber erklärten wir, die Identität unseres nächtlichen Besuchers nicht zu kennen. Er sei, sagte West, nervös, ein Fremder gewesen, den wir auf einer Zechtour in irgendeiner Bar kennengelernt hätten. Wir seien alle einigermaßen 237
angetrunken gewesen, und ich und er wünschten nicht, daß unser angriffslustiger Gast weiter verfolgt werde. In jener Nacht kam es zum zweiten Schreckensereignis in Arkham, und das Grauen, das ich darüber empfand, ließ mich das furchtbare Wüten der Epidemie beinahe vergessen. Der Christchurch-Friedhof war Schauplatz eines schrecklichen Mordes. Ein Wachmann war zerfleischt worden in einer Weise, die nicht nur zu grausig ist, um hier beschrieben zu werden, sondern auch Zweifel daran aufkommen ließ, ob eine derartige Tat überhaupt von einem Menschen habe begangen werden können. Noch längere Zeit nach Mitternacht war das Opfer lebend gesehen worden; die Morgendämmerung enthüllte das Unbeschreibliche. Der Direktor eines im benachbarten Bolton gastierenden Zirkus wurde gefragt, schwor aber, daß keines der wilden Tiere jemals aus seinem Käfig entflohen sei. Die Leute, die den 238
verstümmelten Körper entdeckt hatten, bemerkten eine Blutspur, die zum Leichenhaus führte, wo sie vor dem eisernen Tor eine kleine, rote Lache entdeckten. Eine schwächere Spur führte zum Wald, verlor sich aber alsbald. In den folgenden Nächten tanzten Teufel auf den Dächern von Arkham, und der Wind heulte so unnatürlich und grausig, daß eisiges Entsetzen die Menschen befiel. Auf der fiebergeschüttelten Stadt schien ein furchtbarer Fluch zu lasten. Viele sagten, daß er noch schlimmer sei als die Seuche, und manche raunten sich zu, die verkörperte Dämonseele der Epidemie gehe um. In acht Häuser drang ein namenloses Wesen, das den roten Tod im Gefolge hatte. Insgesamt hinterließ das stumme, sadistische Monster siebzehn leblose, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Körper. Einige Personen hatte es undeutlich im Dunkeln gesehen und gaben an, es sei weiß gewesen und habe wie ein mißgestalteter Affe oder der 239
Teufel in Menschengestalt gewirkt. Nicht alle Menschen, die es angefallen hatte, wurden auch aufgefunden, denn manchmal war das Wesen hungrig gewesen. In der dritten Nacht stellten es von der Polizei angeführte Suchtrupps in einem Haus an der Crane Street unweit der MiskatonicUniversität. Die Suche war sorgfältig organisiert; eine große Anzahl von Freiwilligen wachte am Telephon, und als jemand im Universitätsviertel Kratzgeräusche an einem Fensterladen hörte, wurde eilends das Netz ausgeworfen. Auf Grund der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen gab es dieses Mal nur mehr zwei Opfer, und die Gefangennahme erfolgte ohne weiteren Blutzoll. Schließlich wurde das Wesen von einer – wenn auch nicht tödlichen – Kugel getroffen und unverzüglich in das örtliche Hospital gebracht. Es war ein Mann – so viel war klar trotz seiner scheußlichen Augen, seiner äffischen 240
Stummheit und dämonischen Wildheit. Man versorgte die Wunde und brachte ihn dann nach Sefton, wo er sechzehn Jahre lang mit dem Kopf gegen die Wand einer gepolsterten Zelle rannte – bis zu dem kürzlichen Mißgeschick, als er unter Begleitumständen entkam, von denen man nicht sehr gerne spricht. Was die Bürger von Arkham am meisten schockierte, war das, was sie sahen, als man das Gesicht des Monsters gereinigt hatte: Seine unglaubliche Ähnlichkeit mit einem gelehrten, aufopferungsvollen Märtyrer, der erst drei Tage zuvor begraben worden war- mit dem verstorbenen Dr. Allan Halsey, Dekan der medizinischen Fakultät der Miskatonik-Universität. Noch heute schaudere ich bei diesem Gedanken – mehr noch denn an jenem Morgen, als ich West murmeln hörte: »Verdammt, er war nicht ganz frisch genug!« III. SECHS SCHÜSSE IM MONDLICHT
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Daß jemand in rascher Folge sechs Schüsse aus seinem Revolver abfeuert, wenn einer wahrscheinlich genügen würde, ist ungewöhnlich. Doch im Leben von Herbert West war vieles ungewöhnlich. Zum Beispiel geschieht es nicht oft, daß ein junger Arzt, der eben die Universität absolviert hat, die Gründe für seine Wahl von Wohnsitz und Praxis geheimhalten muß. Bei Herbert West war dies indessen der Fall. Als wir uns damals nach Abschluß unserer Ausbildung als junge Allgemeinpraktiker niederließen, achteten wir peinlich darauf, niemandem zu erkennen zu geben, daß wir unser Haus deswegen wählten, weil es ziemlich abgelegen und gleichzeitig nicht allzu weit vom Friedhof entfernt war. Solche Schweigsamkeit hat meist ihren Grund. So auch bei uns. Die Eigenart unserer Lebensarbeit machte sie unerläßlich. Nach außen hin waren wir nichts als Ärzte. Die wahre Natur unseres Tun freilich war ganz anderer 242
Art, denn Herbert Wests Wesenskern war ein dunkler Drang nach Erkenntnis in jenem unbekannten Bereich, wo er das Geheimnis des Lebens vermutete. Diese Erkenntnis, so hoffte er, würde es ihm ermöglichen, der kalten Beute des Grabes neuen Hauch einzugeben. Zur Erreichung dieses unseres Zieles bedurfte es ungewöhnlicher Prozeduren und Materialien – unter anderem auch frischer menschlicher Leichen. Um zu ihnen Zugang zu haben, mußten wir ungestört in der Nähe eines Begräbnisplatzes wohnen und arbeiten. Es war nicht leicht, für eine Gemeinschaftspraxis zweier Ärzte ein geeignetes Objekt zu finden, doch schließlich kamen wir mit Hilfe der Universität zu einer Praxis in Bolton – einer Fabrikstadt unweit von Arkham, dem Sitz der Hochschule. Die Kammgarnspinnereien von Bolton sind die größten im MiskatonicTal, und ihre aus mehreren fremden Ländern zugewanderten Arbeiter zählen nicht gerade 243
zur bevorzugten Kundschaft der örtlichen Ärzte. Wir suchten unser Haus mit größter Sorgfalt aus und wählten schließlich ein ziemlich heruntergekommenes Anwesen am Ende der Pond Street. Vom nächsten Nachbarn war es durch fünf größere, unbebaute Grundstücke getrennt, vom Gemeindefriedhof nur durch ein Stück Grasland, das ein schmaler Streifen ziemlich dichten Waldes durchschnitt. Die Entfernung zum Friedhof war größer, als wir es uns vorgestellt hatten. Dennoch waren wir nicht unzufrieden, war dieses Land doch unbewohnt, so daß wir imstande sein würden, unsere stummen Untersuchungsobjekte ungestört in unser Haus zu schaffen. Unsere Praxis lief von Anfang an gut. Die Arbeiter, die den größten Teil unserer Patienten ausmachten, schienen ein ziemlich turbulentes Leben zu führen. Neben mancher natürlicher Krankheit gab es immer wieder auch die Folgen aller Arten tätlicher Auseinanderset244
zungen zu behandeln. Jeder andere junge Arzt wäre von diesem Zustand hoch befriedigt gewesen; uns erschien er jedoch eher als eine Belastung. Für uns waren andere Dinge viel wichtiger: Das geheime Laboratorium, das wir im Keller eingerichtet hatten – das Laboratorium mit dem langen Tisch unter elektrischen Lampen, wo wir in den frühen Stunden des Morgens Wests verschiedene Mixturen in die Adern von Leichen spritzten, die wir vom Gemeindefriedhof geholt hatten. Denn West kämpfte immer noch mit den beiden großen Problemen, die das Haupthindernis für die Verwirklichung seiner Theorien zu sein schienen: Zum einen mußten seine Mixturen für verschiedene Objekte auch verschieden zusammengesetzt sein – was beispielsweise für Meerschweinchen paßte, war für Menschen keineswegs angebracht. Zum zweiten mußten die Leichen absolut frisch sein, da die mangelnde Sauerstoffversorgung 245
der Gehirnzellen eine Wiederbelebung sonst alsbald unmöglich machte. Teilweises Gelingen konnte hier weit schlimmer sein als völliges Scheitern. West, im Grunde ein ruhiger, nüchterner Mann, gab manchmal zu, das Gefühl zu haben, als verfolge ihn etwas, kein Wunder angesichts der unbestreitbaren Tatsache, daß zumindest eines unserer Untersuchungsobjekte noch lebte – ein schreckliches, fleischfressendes Wesen in einer ausgepolsterten Zelle in Sefton. Und das Schicksal eines weiteren – des ersten – von uns Behandelten hatte bis dahin immer noch nicht geklärt werden können. In Bolton hatten wir ziemliches Glück mit diesen Versuchsobjekten – viel mehr als in Arkham. Wir waren noch keine ganze Woche dort ansässig, als uns das Schicksal ein frisch begrabenes Unfallopfer bescherte, das, als wir ihm unsere Lösung eingespritzt hatten, die Augen öffnete und uns mit einem erstaunlich 246
vernünftigen Ausdruck ansah, ehe die Mixtur dann versagte. Der Mann hatte einen Arm verloren; bei einem unbeschädigten Körper wäre das Resultat vielleicht besser gewesen. Innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit führten wir drei weitere Experimente durch. Eines scheiterte völlig, und einmal kam es zu einer deutlichen, wenn auch nur momentanen Muskelbewegung. Das dritte Versuchsobjekt jagte uns einen ziemlichen Schrecken ein – es bäumte sich auf und stieß unartikulierte Laute aus, ehe es wieder auf den Operationstisch zurücksank. Dann folgte eine Zeit, wo uns das Glück nicht hold war; nur wenige Begräbnisse fanden statt, und was an Leichen anfiel, war nicht für unsere Zwecke geeignet. An einem Märzabend jedoch kamen wir unerwarteterweise zu einem Versuchsobjekt, das nicht vom Friedhof stammte. In Bolton, wo streng religiöse Puritaner das Sagen hatten, hatte man den Boxsport verboten – mit dem 247
üblichen Resultat. Illegale, geheime Kämpfe zwischen Arbeitern aus den Fabriken waren an der Tagesordnung, und gelegentlich wurden sogar dritt- oder viertklassige Professionals geholt. An diesem Spätwinterabend hatte ein solcher Kampf stattgefunden, offenkundig mit katastrophalem Ausgang, denn zwei schüchterne Polen waren bei uns erschienen und hatten uns nach unzusammenhängenden Erläuterungen gebeten, wegen eines sehr schweren und dringenden Falls mit ihnen zu kommen. Wir folgten ihnen zu einer verlassenen Scheune, wo eine Anzahl verbliebener Zuschauer beklommen auf einen schwarzen, leblos am Boden liegenden Körper starrte. Der Kampf hatte zwischen Kid O’Brien – einem tölpelhaften, verstörten Jungen mit einer Hakennase – und Buck Robinson, dem »Tiger von Harlem« stattgefunden. Der Schwarze war k.o. geschlagen worden und würde es – das zeigte schon eine oberflächliche Untersuchung 248
– auch bleiben. Er war von geradezu unheimlich wirkender, an einen Gorilla erinnernder Gestalt mit anomal langen Armen und einem furchteinflößend häßlichen Gesicht. Den Männern, die ihn umstanden, war die Angst in die Glieder gefahren. Sie wußten nicht, was ihnen passieren würde, sollte die Sache ruchbar werden. Deshalb waren sie dankbar, als West ihnen anbot, sie von dem »Tiger von Harlem« zu befreien – für einen Zweck, den ich nur zu gut kannte. Wir kleideten Robinson an und trugen ihn zwischen uns über die mondbeschienenen Felder, wie wir früher einmal, in jener schrecklichen Nacht in Arkham, einen anderen Mann zu Wests Bleibe befördert hatten. Wir schafften Robinson durch die Hintertür in unser Haus, dann die Kellertreppe hinunter, und bereiteten ihn in gewohnter Weise für das Experiment vor. Obwohl wir sorgfältig darauf geachtet hatten, daß niemand uns sah, emp249
fanden wir eine geradezu absurde Furcht vor der Polizei. Das Ergebnis unseres Versuchs war kläglich. Obwohl die Umstände günstig zu sein schienen wie nie, reagierte der Mann überhaupt nicht. Als die Dämmerung nahte, verfuhren wir deshalb mit ihm wie mit den anderen: Wir schafften ihn zum Waldausläufer unweit des Friedhofs hinüber und begruben ihn dort, so gut es der gefrorene Boden erlaubte. Das Grab war nicht sonderlich tief, entsprach aber dem unseres vorhergehenden Versuchsobjektes – des Mannes, der sich aufgebäumt und gräßliche Laute ausgestoßen hatte. Im Licht unserer Laternen bedeckten wir es sorgfältig mit Erde und Laub. In einem so dunklen, dichten Wald würde die Polizei es sicherlich niemals finden. Am folgenden Tag jedoch wurde ich etwas besorgt. Ein Patient hatte von Gerüchten berichtet, die von einem illegalen Boxkampf mit tödlichem Ausgang wissen wollten. Für West 250
gab es noch etwas anderes, was ihm Kummer bereitete: Am Nachmittag war er zu einem Fall gerufen worden, der unangenehm zu enden drohte. Eine Italienerin war wegen ihres vermißten Kindes- eines fünfjährigen Jungen, der sich nach dem Frühstück aus dem Haus entfernt hatte und bis zum Mittagessen nicht mehr zurückgekehrt war – hysterisch geworden. Bei ihrer Herzschwäche war dies ein überaus alarmierendes Symptom. Die Hysterie als solche war durchaus töricht, denn der Junge war schon öfters weggerannt. Aber italienische Bauern sind ungemein abergläubisch, und diese Frau schienen Omina ebenso zu beeindrucken wie Fakten. Gegen sieben Uhr abends war sie gestorben. Viel hätte nicht gefehlt, und ihr verzweifelter Mann hätte West umgebracht, dem er die Schuld an ihrem Tode gab. Freunde hatten ihn festgehalten, als er sein Stilett zog, doch überschüttete er West, als dieser sein Haus verließ, 251
mit Flüchen und wilden Rachedrohungen. Sein Kind, was trotz vorgerückter Nachtstunde immer noch nicht zurückgekehrt war, schien der Mann ob des erlittenen Schicksalsschlages völlig vergessen zu haben. Man sprach davon, die Wälder zu durchsuchen, aber die meisten Freunde der Familie waren mit der toten Frau und dem wildgewordenen Mann vollauf beschäftigt. Die Nervenbelastung für West muß beträchtlich gewesen sein. Die Besorgnis wegen der Polizei und der Gedanke an den rasenden Italiener ließen ihm keine Ruhe. Gegen elf Uhr zogen wir uns zurück, aber ich konnte nicht schlafen. Für eine so kleine Stadt hatte Bolton eine bemerkenswert gute Polizei, und bei dem Gedanken, was eine Entdeckung der Vorgänge der vergangenen Nacht für Folgen haben konnte, war mir sehr unbehaglich zumute. Sie konnte das vorläufige Ende unserer Arbeit bedeuten – und möglicherweise Gefängnis für West und mich. Auch die Gerüchte 252
um den Boxkampf, die umgingen, waren mir nicht sehr angenehm. Als die Uhr drei geschlagen hatte, schien mir der Mond in die Augen, aber ich drehte mich um, ohne die Vorhänge zuzuziehen. Dann hörte ich undeutliche Geräusche an der Hintertür. Ich lag im Halbschlaf, als West an meine Tür klopfte. Er trug einen Morgenmantel und Hausschuhe und hatte einen Revolver und eine elektrische Taschenlampe in der Hand. Der Revolver verriet mir, daß seine Besorgnis mehr dem rasenden Italiener galt als der Polizei. »Wir sollten verschwinden«, flüsterte er. »Aufmachen können wir nicht, auch wenn es vielleicht ein Patient ist – gleichsehen würde es den Narren ja, zu dieser Nachtzeit an der Hintertür zu klopfen.« Mit sehr gemischten Gefühlen, die zum guten Teil auf die Vorfälle des vergangenen Tages, teilweise aber auch auf die ohnehin düstere Stimmung einer solch frühen Stunde zurück253
zuführen waren, schlichen wir auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Vom hinteren Eingang her war immer noch das Klopfen zu hören. Als wir die Tür erreichten, entriegelte ich sie sorgfältig und riß sie auf. Im fahlen Mondschein stand eine dunkle Gestalt vor uns. Doch jetzt tat West etwas Unerwartetes. Trotz der Gefahr, daß irgend jemand uns hören und das Augenmerk der Polizei auf uns richten konnte - was wegen der relativ isolierten Lage unseres Hauses zum Glück nicht eintrat – feuerte mein Freund plötzlich und völlig unnötig alle sechs Patronen seines Revolvers auf den nächtlichen Besucher. Denn dieser Besucher war weder Italiener noch Polizist. Im geisterhaft fahlen Licht des Mondes sahen wir eine Erscheinung, die einem Alptraum entsprungen zu sein schien – ein pechschwarzes Wesen mit glasigem Blick, so gebückt, daß seine Hände fast den Boden berührten, blutver254
krustet und mit Erde und Laub bedeckt. Zwischen seinen Zähnen hatte es ein längliches Objekt, das in einer winzigen Hand endete. Erst als die Schüsse gefallen waren, erkannte ich den ,Tiger von Harlem’. IV. DER SCHREI DES TOTEN Hatten wir bei der Beschaffung hinreichend frischer Untersuchungsobjekte bis dahin nur wenig Erfolg gehabt, so schien sich im Juli 1910 das Glück zu unseren Gunsten zu wenden. Ich hatte meinen Eltern, die in Illinois lebten, einen längeren Besuch abgestattet. Bei meiner Rückkehr fand ich West in Hochstimmung vor. Er habe das Frischeproblem, so berichtete er, von einer ganz neuen Seite angegangen und hoffe, es nunmehr gelöst zu haben – mittels künstlicher Konservierung. Ich wußte, daß er schon seit geraumer Zeit an der Entwicklung dafür geeigneter Mittel arbeitete, 255
war aber skeptisch gewesen, da die Verfallserscheinungen bei unseren Untersuchungsobjekten ja weitgehend bereits eingetreten waren, ehe wir Hand an sie legen konnten. Dies hatte West jedoch offensichtlich erkannt. Seine neue Mixtur war zur Anwendung bei einer ganz frischen, noch unbeerdigten Leiche bestimmt, wie wir sie vor Jahren einmal im Falle des »Tigers von Harlem« an der Hand gehabt hatten. Endlich war uns das Glück günstig gestimmt, und in unserem geheimen Kellerlaboratorium lag eine Leiche, die noch so frisch war, daß es unmöglich schon zu Verfallserscheinungen gekommen sein konnte. Welchen Erfolg ein Wiederbelebungsversuch haben würde – insbesondere in Hinsicht auf Geist und Vernunft unseres Versuchsobjekts wagte West nicht vorherzusagen. Das Experiment würde einen entscheidenden Schritt in unseren Studien bedeuten; die neue Leiche hatte er eigens für
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mich aufgehoben, damit ich an seinem großen Erfolg würde teilhaben können. West berichtete mir, wie er zu der Leiche gekommen war. Es war ein kräftiger Mann – ein gutangezogener Fremder, der ein Geschäft mit der Boltoner Kammgarnspinnerei hatte abwickeln wollen. Der lange Fußweg vom Bahnhof zur Fabrik hatte ihn ziemlich mitgenommen, und als er sich bei unserem Haus eine Pause gönnte und nach dem Weg fragen wollte, hatte ihn eine Herzschwäche befallen. Ein Gegenmittel zu nehmen,, hatte er sich geweigert, und Augenblicke später war er tot in sich zusammengesunken. Verständlicherweise erschien West sein Körper wie ein Geschenk des Himmels. Aus dem kurzen Gespräch wußte West, daß niemand in Bolton ihn kannte. Die Durchsuchung seiner Taschen ergab, daß es sich um Robert Leavitt aus St. Louis handelte – offenbar ohne Familie, die Erkundigungen nach ihm hätte anstellen können. Wenn unser 257
Experiment mit diesem Mann scheiterte, würde niemand davon erfahren. Glückte es aber, dann würde uns das den wissenschaftlichen Durchbruch verschaffen. So hatte West der Leiche unverzüglich das Mittel gespritzt, das sie bis zu meiner Ankunft frischhalten würde. Seine Herzschwäche, die nach meinem Dafürhalten das Gelingen des Versuchs sehr in Frage stellte, schien West nicht sonderlich zu bekümmern. Seine ganze Hoffnung war, endlich das zu erreichen, was uns vordem niemals vergönnt gewesen war: Die Neubelebung eines normalen Menschen unter Wiederherstellung seiner Vernunft. Am 18. Juli 1910 standen also Herbert West und ich in unserem Kellerlaboratorium und starrten auf die weiße, stumme Gestalt unter den blendend hellen Lampen. Die Konservierungslösung hatte geradezu unheimlich gut gewirkt. Denn als ich jetzt diesen Körper betrachtete, der nunmehr zwei Wochen so gele258
gen hatte, ohne starr zu werden, fühlte ich mich versucht, mich bei West zu vergewissern, ob er auch wirklich tot sei. West bestätigte mir das sofort. Er erinnerte mich daran, daß er die Wiederbelebungsmixtur niemals benutzte, ohne den Tod der betreffenden Person zweifelsfrei festgestellt zu haben. War noch Leben vorhanden, dann hatte das Experiment ja keinerlei Sinn. Als West daran ging, die nötigen Vorbereitungen zu treffen, bemerkte ich mit Erstaunen, wie kompliziert sie nunmehr geworden waren – so schwierig, daß er nur der Geschicklichkeit seiner eigenen Hände trauen wollte und mir verbot, den Körper auch nur zu berühren. Als erstes nahm er unmittelbar neben der Stelle, wo er der Leiche seine Konservierungslösung eingespritzt hatte, eine neuerliche Injektion vor. Diese, sagte er, solle die Konservierungslösung neutralisieren, die alle Stoffwechselvorgänge der Zellen blockiert hatte, und so die Wirksamkeit der Wiederbele259
bungsmixtur ermöglichen. Etwas später, als ein leichtes Zittern durch die Glieder des Toten zu gehen schien, drückte ihm West ein kissenähnliches Ding auf das zuckende Gesicht und nahm es erst wieder weg, als sich der Körper beruhigt hatte. Nunmehr stellte West mittels mehrerer Tests noch einmal seine absolute Leblosigkeit fest und spritzte dann ein genau abgemessenes Quantum der Wiederbelebungsmixtur in den linken Arm. Während des Nachmittags hatte er diese Lösung mit größerer Sorgfalt und Akkuratesse hergestellt als jemals zuvor. Ich kann die atemlose Spannung kaum schildern, mit der wir auf den Erfolg unseres Experimentes mit diesem ersten wirklich ganz frischen Untersuchungsobjekt warteten. Vielleicht würde dies der erste Fall in der Menschheitsgeschichte sein, wo es gelang, einen Verstorbenen ins Diesseits zurückzuholen. Vielleicht würde West und ich die ersten Sterblichen sein, die erfuhren, was jenseits des 260
bodenlosen Abgrundes war den wir am Ende unseres Lebens durchqueren. West war Materialist. Er glaubte an keine Seele und schrieb die Regungen des Bewußtseins physischen Vorgängen zu. Folglich erwartete er auch keine Eröffnung geheimer Dinge aus einem Jenseits. Theoretisch war ich mir zwar mit ihm ziemlich einig, hing aber trotzdem noch vagen Resten des primitiven Glaubens meiner Vorväter an und betrachtete deshalb die Leiche nicht ohne Scheu und angstvolle Erwartung. Außerdem – ich konnte jenen grausigen, unmenschlichen Schrei nicht aus meinem Gedächtnis tilgen, den wir bei unserem ersten, nächtlichen Experiment in der verlassenen Chapman-Farm gehört hatten. Schon bald zeigte sich, daß der Versuch nicht völlig erfolglos verlaufen würde. Ein Anflug von Farbe stieg in die eben noch kalkweißen Wangen und breitete sich unter dem rotbraunen Stoppelbart aus. West, der die Finger am 261
linken Handgelenk des Mannes hatte, nickte plötzlich bedeutsam. Fast gleichzeitig erschien ein Hauch auf dem über seinem Mund angebrachten Spiegel. Ein paar krampfartige Muskelbewegungen folgten, dann sichtbare Bewegungen des Brustkastens und vernehmlicher Atem. Ich beobachtete seine geschlossenen Augenlider und glaubte, ein leises Vibrieren zu erkennen. Dann öffneten sich die Lider; die grauen, ruhigen Augen waren offenkundig mit Leben erfüllt, ließen aber keine Regung von Verständnis oder Neugier erkennen. Ich konnte nicht anders: Fast gegen meinen Willen flüsterte ich ihm Fragen ins Ohr- Fragen über eine andere Welt, an die er sich vielleicht noch erinnerte. Die Schreckenserlebnisse der Folgezeit haben sie aus meinem Gedächtnis verdrängt. Die letzte, die ich, glaube ich, mehrmals wiederholte, war: »Wo sind Sie gewesen?« Ich bin noch nicht sicher, ob ich eine Antwort erhielt, denn kein Laut drang aus sei262
nem wohlgeformten Mund. Fest steht jedoch, daß ich in diesem Moment den unzweifelhaften Eindruck hatte, als bewegten sich seine Lippen – als formten sie Silben, die ich als etwas wie »erst jetzt« gedeutet hätte, hätten diese Worte irgendeinen erkennbaren Sinn ergeben. Wie ich schon sagte: Ich war in diesem Augenblick überzeugt, wir hätten das eine, das große Ziel erreicht. Zum ersten Mal, so schien mir, hatte ein wiederbelebter Leichnam vernunftbestimmte Worte geäußert. Im nächsten Augenblick konnte es über unseren Triumph keinen Zweifel mehr geben – keinen Zweifel, daß die Mixtur ihren Zweck, einem Toten vernunftbestimmtes Leben wiederzugeben, zumindest für einen gewissen Zeitraum erreicht hatte. Aber in diesen höchsten Triumph mischte sich tiefster Schrecken – nicht vor dem Wesen, das das sprach, sondern ob der Tat, deren Zeuge ich eben geworden war, und
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über den Menschen, mit dem mich das Schicksal so eng verband. Denn plötzlich fuhr hektisches Leben in diesen eben noch leblosen Körper. Die unheimliche Erinnerung an seine letzten Augenblicke schien in sein Bewußtsein wiedergekehrt zu sein. Unvermittelt schlug er wie wild um sich, um dann ebenso plötzlich in eine Erstarrung zurückzusinken, aus der es keine Wiederkehr gab. Vorher aber schrie er noch jene entsetzlichen Worte, die mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen werden: »Hilfe! Laß mich in Ruhe, verdammter Teufel – bleib mir mit deiner verfluchten Nadel vom Leibe!« V. HORROR AUS DEM SCHATTEN Viele, die überlebt hatten, berichten furchtbare Dinge von den Schlachtfeldern des Großen Krieges. Manche dieser Berichte raubten mir fast die Sinne; andere erfüllten mich mit schrecklichem Ekel; wieder andere jagten mir 264
derartige Angst ein, daß ich es kaum mehr wagte, alleine durch eine nächtliche Straße zu gehen. Gräßlicher aber als alles, was man mir jemals erzählte, ist eine unfaßbare Geschichte, die mir selbst widerfuhr. 1915 war ich Feldarzt bei einem kanadischen Regiment in Flandern – einer von vielen Amerikanern, die in den Kampf zogen, noch ehe sich die Regierung offiziell am Kriege beteiligte. Allerdings trat ich nicht aus eigener Initiative in die Armee ein. Wer mich dazu veranlaßte, war vielmehr der berühmte Bostoner Arzt Dr. Herbert West. Dr. West war begierig darauf, als Arzt in einem Kriege zu dienen, und als die Chance sich bot, nahm er mich fast gegen meinen eigenen Willen mit. Aus mancherlei Gründen hätte ich es eher begrüßt, wenn der Krieg uns getrennt hätte. Es waren Gründe, die mir Wests Gesellschaft und seine Art der medizinischen Praxis zunehmend fragwürdiger erscheinen ließen. Doch als es ihm durch die Vermittlung eines 265
Kollegen gelang, sich als Major verpflichten zu lassen, setzte er mir so zu, daß ich meinen Widerstand schließlich aufgab und ihn in meiner gewöhnlichen Funktion als sein Helfer begleitete. Wenn ich sage, daß Dr. West begierig darauf war, im Kriege zu dienen, so meine ich damit nicht, daß er von kriegerischem Naturell gewesen sei oder daß ihn das Bedürfnis drängte, sich für den Weiterbestand der Zivilisation einzusetzen. Kühl und vernunftbestimmt, wie er war, belustigten ihn meine gelegentlichen kämpferischen Anwandlungen wohl eher. Allerdings gab es etwas, was er auf den flandrischen Schlachtfeldern zu finden hoffte; um sich Zugang dazu zu verschaffen, mußte er sich der kämpfenden Truppe anschließen. Was er suchte, suchen nicht viele andere: Es war etwas, was seine heimlichen, teilweise schon mit gewissem Erfolg betriebenen Forschungen erforderlich machten: Die Körper von Men266
schen, die vor möglichst kurzer Zeit der Tod ereilt hatte- nicht mehr und nicht weniger. Je länger ich bei seinen Wiederbelebungsexperimenten mitgewirkt hatte, desto stärker wurde das Unbehagen, das mich befiel, wenn ich beobachtete, mit welch seltsamen Blick er manchmal noch lebende Menschen ansah. Nach und nach kam es so weit, daß ich Dr. West als Person noch reservierter gegenüberstand als dem, was er tat. Mir dämmerte, daß sein einst so normales wissenschaftliches Streben, Leben verlängern zu können, langsam einer krankhaften Neugier, ja, zu einer morbiden, fast schon perversen Lust am Widerwärtigen, Scheußlichen degeneriert war. Er weidete sich an künstlich erzeugten Monstrositäten, die den unsensibelsten, abgestumpftesten Mann in tödlichen Schrecken versetzt hätten; hinter seiner fast blutlos-nüchternen Intellektualität verbarg sich ein rastloser Baudelaire des Experiments am menschlichen Körper- ein 267
unersättlicher Elagabalus der Gräber und Grüfte. Er scheute keine Gefahr; Verbrechen beging er ohne Gewissensbisse. Der Höhepunkt kam wohl, als er seine Theorie, daß vernunftbestimmtes Leben wiederhergestellt werden könne, bewiesen glaubte und sich anschickte, durch Experimente mit der Wiederbelebung abgelöster Körperteile neue Welten zu erobern. Er hatte völlig unkonventionelle, revolutionäre Vorstellungen von den Lebensmöglichkeiten organischer Zellen und Nervengeflechte, die von ihren natürlichen physiologischen Systemen losgelöst sind. Tatsächlich hatte er mit permanent lebensfähigem, künstlich ernährtem, aus nicht restlos ausgebrüteten Eiern eines unbeschreiblichen tropischen Reptils erzeugtem Gewebe einige erste Erfolge erreicht. Zwei Fragen waren es, die er unbedingt klären wollte: Erstens, ob es nicht auch ohne Gehirn irgendeine Art von Bewußtsein und 268
vernünftigem Handeln gab, die von verschiedenen Nervenzentren und vor allem vom Rückenmark ausging. Und zweitens, ob unabhängig von den Körperzellen etwas wie eine ätherische, immaterielle Beziehung zwischen chirurgisch getrennten Teilen eines lebenden Organismus besteht. Diese Forschungsarbeit erforderte ein beträchtliches Quantum frisch geschlachteten menschlichen Fleisches – und das war der Grund, warum Herbert West in den Großen Weltkrieg gezogen war. Der grauenvolle, fast unbeschreibliche Vorfall ereignete sich in einer Märznacht des Jahres 1915 in einem Feldhospital hinter den Linien von St. Eloi. Noch heute frage ich mich manchmal, ob das alles nicht doch nur ein teuflischer Traum war. West hatte ein privates Laboratorium in einem nach Osten hin gelegenen Raum eines großen Schuppens, den man ihm für die Erprobung seiner- wie er sagte- gänzlich neuartigen Methoden der Behandlung bisher hoff269
nungsloser Verwundungen zugewiesen hatte. Dort arbeitete er wie ein Metzger inmitten blutiger Körper. Niemals konnte ich mich an die Leichtigkeit gewöhnen, mit der er gewisse Dinge tat. Manchmal wirkte er tatsächlich so etwas wie chirurgische Wunder. Sein wirkliches, lustvolles Streben aber galt Verrichtungen weit weniger philanthropischer Art, die es nicht selten nötig machten, daß er Geräusche erklären mußte, die selbst in diesem Babel der Verdammten ungewöhnlich erschienen. Zu diesen Geräuschen gehörten häufig Revolverschüsse – gewiß nichts Ungewöhnliches auf einem Schlachtfeld, etwas höchst Ungewohntes jedoch in einem Hospital. Das, was Dr. West wiederbelebte, war nicht für die Augen der Öffentlichkeit und auch nicht für eine lange Existenzzeit bestimmt. Neben menschlichem Gewebe verwendete West viel von dem embryonalen Reptiliengewebe, das er mit so einzigartigem Erfolg herangezüchtet hatte. Es 270
eignete sich besser als menschliches Material dazu, Leben in organlosen Körperteilen zu erhalten, was jetzt die Haupttätigkeit meines Freundes war. In einer dunklen Ecke des Laboratoriums stand über einem kleinen, petroleumbetriebenen Heizbrenner ein großes, zugedecktes Faß. In diesem Faß befand sich die scheußliche, reptilische Substanz, die darin wuchs und sich rasch vermehrte. In jener Nacht hatten wir ein ausgezeichnetes neues Untersuchungsobjekt – einen Mann, der körperlich ungemein kräftig und darüber hinaus geistig so hochentwickelt gewesen war. daß das Vorhandensein eines sensiblen Nervensystems gesichert erschien. Ironischerweise handelte es sich um den Offizier, der West zu diesem Posten verholfen hatte. Jetzt sollte er von neuem – und zum letzten Mal – unser Helfer sein. Major Sir Eric Moreland Clapham-Lee, D.S.O. hatte sich in gewissem Umfang mit Wests Wiederbelebungstheorien be271
schäftigt. Er war der beste Chirurg in unserer Division, den das Hauptquartier, als die Nachricht von den schweren, verlustreichen Kämpfen kam, hastig in den Sektor von St. Eloi beorderte. Der unerschrockene Lieutenant Ronald Hill hatte es übernommen, ihn in den bedrängten Abschnitt zu fliegen, war aber direkt über seinem Zielort abgeschossen worden. Der Absturz war spektakulär und schrecklich gewesen. Hill war danach nicht mehr zu identifizieren. Vom Körper des großen Chirurgen war der Kopf zwar fast völlig abgetrennt; ansonsten jedoch war er im wesentlichen intakt geblieben. Gierig hatte sich West des leblosen Objekts bemächtigt, das einst sein Kommilitone und Freund gewesen war. Kalter Schauder durchlief mich, als er den Kopf vollends abgetrennt hatte, ihn in das höllische Faß mit dem breiigen Reptiliengewebe versenkte, um ihn für zukünftige Experimente zu konservieren, und sich dann daranmachte, den kopflosen 272
Körper auf dem Operationstisch zu behandeln. Er injizierte ihm frisches Blut, verband bestimmte Venen, Arterien und Nerven am blutigen Halsstumpf und verschloß dann die gräßliche Öffnung mit einem Stück Haut von einer unidentifizierten Leiche in Offiziersuniform. Ich wußte, was er im Sinn hatte: Es ging darum, ob dieser hochorganisierte Körper auch ohne Kopf irgendwelche der Geistesregungen zeigen würde, die Sir Eric Moreland Clapham-Lee so ausgezeichnet hatten. Er, der sich einst mit Wiederbelebungstheorien beschäftigt hatte, war nun auf furchtbare Weise dazu bestimmt, selbst als Experimentierobjekt für die Untersuchung eben dieser Theorien zu dienen. Immer noch sehe ich Herbert West im fahlen Schein des elektrischen Lichtes vor mir, wie er seine Wiederbelebungsmixtur in den Arm des kopflosen Körpers spritzte. Den Schauplatz selbst vermag ich nur in Andeutungen zu beschreiben – manchmal, wenn ich 273
mich daran zu erinnern wage, fühle ich mich vom Wahnsinn bedroht: Der glitschige Boden war fast knöcheltief mit Blut und kleineren menschlichen Körperteilen bedeckt, während größere Stücke, nach Arten klassifiziert, auf Regalen lagen. In der im Schatten liegenden Ecke das große Faß, in dem über bläulichgrüner gespenstischer Flamme sich sein greuliches Reptiliengewebe blasenwerfend vermehrte. Das Untersuchungsobjekt war, wie West wiederholt bemerkte, mit einem besonders gut entwickelten Nervensystem ausgestattet. Er erwartete sich sehr viel von ihm; als sich die ersten, zuckenden Bewegungen einstellten, konnte ich die fieberhafte Spannung in seiner Miene erkennen. Zweifellos glaubte er, dem Beweis seiner Theorie wieder einen Schritt näher gekommen zu sein – seiner Theorie, die besagte, daß Bewußtsein, Vernunft und Persönlichkeit unabhängig vom Gehirn existieren 274
könnten, daß der Mensch keinen zentralen, alle Lebensvorgänge steuernden Geist besitze, sondern vielmehr eine Nervenmaschine ist, deren Einzelteile voneinander mehr oder weniger unabhängig seien. Mit einer triumphalen Demonstration wollte West das, was man »Mysterium des Lebens« nannte, ins Reich des Mythos verweisen. Der Körper hatte jetzt heftiger zu zucken begonnen und fing alsbald an, sich aufzubäumen. Die Arme bewegten sich auf seltsam verkrampfte Weise; dann zog der Körper die Beine an, und verschiedene Muskeln kontrahierten auf eine Weise, daß der Eindruck entstand, als winde er sich. Und dann warf das kopflose Ding die Arme in einer Geste hoch, die unmißverständlich Verzweiflung ausdrückte – eine Verzweiflung, die hinzureichen schien, um für sämtliche Theorien Herbert Wests den Beweis zu liefern. Bestimmt erinnerten sich die Nerven an die letzten Sekunden im Leben des Mannes – an seine ver275
zweifelten Bemühungen, sich aus dem abstürzenden Flugapparat zu befreien, ehe der todbringende Aufschlag erfolgte. Was dann geschah, werde ich niemals genau wissen. Vielleicht war das Ganze nur eine Halluzination aus dem Schock, den ich erlitt, als das Gebäude innerhalb von Sekunden in einem Hagel deutscher Granaten dem Erdboden gleichgemacht wurde? Wer könnte das bestätigen, da West und ich doch die einzigen Überlebenden waren? West neigte zu dieser Annahme, bis er vor kurzem verschwand. Manchmal allerdings zweifelte er sehr stark daran; immerhin wäre es sehr seltsam gewesen, wenn wir beide dieselbe Halluzination gehabt hätten. Nein, es muß wohl wirklich geschehen sein: Der Körper auf dem Tisch hatte sich plötzlich in eine halbsitzende Lage hochgestemmt. Und dann hörten wir Laute. Eine Stimme kann man so etwas wohl nicht nennen - sie waren zu 276
gräßlich dafür. Und doch war das Timbre dieser »Stimme« nicht das furchtbarste an dem Vorgang. Auch nicht, was sie sagte – sie hatte geschrien: »Spring, Ronald, um Gottes willen, spring!« Das Entsetzliche war ihr Ursprung. Denn sie kam aus dem großen, bedeckten Faß in jener in gespenstischem Schatten liegenden Ecke. VI. DIE LEGIONEN DES GRABES Als Dr. Herbert West vor einem Jahr verschwand, vernahm mich die Bostoner Polizei eingehend. Sie argwöhnte, daß ich mit irgend etwas hinter dem Berg hielt, vielleicht sogar Schlimmeres. Aber ich konnte den Leuten die Wahrheit nicht sagen, weil sie sie nicht geglaubt hätten. Nicht unbekannt war ihnen, daß West sich mit Dingen beschäftigte, die über das Vorstellungsvermögen normaler Menschen hinausgingen; seine Wiederbelebungs277
experimente hatte er zu lange betrieben, als daß sie völlig hätten geheim bleiben können. Die endgültige, unfaßbare Katastrophe enthielt Elemente von derartig dämonischer Phantasmagorie, daß ich noch heute an der Realität dessen, was ich sah, zweifle. Sein Bedarf an frischen Leichen, die er für seine Experimente benötigte, war es, der zu Wests moralischem Niedergang führte. Solche Leichen waren schwer zu bekommen, und eines schrecklichen Tages hatte er sich ein Untersuchungsobjekt beschafft, das noch völlig am Leben war. Ein kurzer Kampf, eine Injektionsnadel und ein starkes Alkaloid hatten es in eine Leiche verwandelt, und das anschließende Experiment war für einen kurzen, denkwürdigen Augenblick geglückt. Aber West war danach nicht mehr der, der er vorher gewesen war; sein hart gewordenes Auge ruhte manchmal mit schrecklich abschätzendem Blick auf geistig und körperlich besonders 278
wohlentwickelten Menschen. Zuletzt bekam ich regelrecht Angst vor ihm, denn auch mich sah er nunmehr so an. Seine Blicke schienen andere Leute nicht zu bemerken, doch bemerkten sie meine Furcht, und nach seinem Verschwinden war das der Grund für einige absurde Verdächtigungen. In Wirklichkeit hatte West größere Angst als ich, denn sein entsetzliches Tun brachte mit sich, daß er ein Leben in Heimlichkeit führte und vor jedem Schatten erschrak. Zum Teil war es die Polizei, die er fürchtete; manchmal jedoch erfaßte ihn eine unbestimmtere, tiefergehende Nervosität. Sie rührte von bestimmten, unbeschreiblichen Dingen her, die er in ein morbides Leben zurückgeholt hatte, und aus denen dieses Leben dann nicht, wie erwartet, wich. Gewöhnlich beendete er diese Experimente mit einem Revolver. Ein paarmal freilich hatte er nicht rasch genug gehandelt. Da war dieses erste Versuchsobjekt, dessen ge279
plündertes Grab später wie von Klauen zerwühlt war. Da war auch der Körper jenes Professors aus Arkham, der sich in den Kannibalismus verirrt hatte, ehe er eingefangen und unidentifiziert in einer Irrenhauszelle gesteckt wurde, wo er sich sechzehn Jahre lang gegen die Wände warf. Von den meisten der anderen, möglicherweise überlebenden Wesen wage ich kaum zu sprechen. In den späteren Jahren war Wests wissenschaftlicher Eifer zu einer krankhaften Manie degeneriert, und zuletzt verstieg er sich zu Experimenten, die zu gräßlich waren, als daß ich sie schildern möchte. Der Krieg, an dem wir beide als Ärzte teilnahmen, hatte all dem noch Vorschub geleistet. Wests letzte Wohnung befand sich in einem ehrwürdigen, gepflegten Haus, in unmittelbarer Nähe eines der ältesten Friedhöfe Bostons. Er hatte diesen Wohnsitz aus rein ästhetischen Gründen gewählt; die meisten der Gräber stammten aus der Kolonialzeit, so daß ihr In280
halt für seine besonderen Erfordernisse kaum von Nutzen sein konnte. Das Laboratorium befand sich unter dem eigentlichen Keller in einem Gewölbe, das er insgeheim von ausländischen Arbeitern hatte bauen lassen, und enthielt einen riesigen Verbrennungsofen. Dieser erlaubte es ihm, sich der Körper, Körperteile und synthetischen Schreckensgebilde, welche die Abfallprodukte seiner wahnwitzigen Experimente waren, diskret und vollständig zu entledigen. Während der Grabungsarbeiten für diesen Keller waren die Arbeiter auf uraltes Mauerwerk gestoßen, das unbezweifelbar mit dem alten Friedhof zu tun hatte und dennoch weitaus zu tief lag, um mit irgendeinem bekannten Grab in Verbindung zu stehen. Nach längeren Überlegungen und Berechnungen kam West zu dem Schluß, daß es sich um etwas wie eine Geheimkammer unter dem Grab der Averills handeln mußte, wo die letzte Beisetzung im Jahre 1768 stattgefunden 281
hatte. Ich war dabei, als er die salpetrigen, feuchten Gemäuer freigelegt hatte, und dachte mit schaudernder Erregung an die Entdeckung alter Grabesgeheimnisse, die uns bevorstand. Aber zum ersten Male und ganz überraschend scheute sich West, einer morbiden Neugierde nachzugeben. Das Mauerwerk blieb intakt und wurde verputzt. So blieb es bis zu jener letzten, höllischen Nacht ein Teil der Wände des Geheimlaboratoriums. Wenn ich von Wests Morbidität spreche, so muß ich hinzufügen, daß sie nach außen hin keineswegs in Erscheinung trat. Äußerlich war er bis zuletzt derselbe geblieben – schlank, kühl, ruhig. Auch die Jahre des psychischen Drucks, den seine gräßlichen Experimente in ihm erzeugt haben mußten, hatten sein Aussehen nicht verändert. Selbst wenn, wie ich wußte, geheime Ängste ihn plagten, wirkte er absolut ruhig. Herbert Wests Ende begann eines Abends in unserem gemeinsamen Arbeitszimmer, als 282
plötzlich sein neugieriger Blick zwischen der Zeitung und mir hin- und herging. Eine merkwürdige Überschrift war ihm aufgefalleneine namenlose, titanische Klaue schien aus der Vergangenheit her nach ihm zu greifen. In der Irrenanstalt im fünfzig Meilen entfernten Sefton war etwas unglaublich Furchtbares passiert, was die Nachbarschaft in Schrecken versetzte und die Polizei vor Rätsel stellte. In den frühen Morgenstunden war eine Gruppe stummer Männer auf dem Anstaltsgelände erschienen, und ihr Anführer hatte das Personal aufgeweckt. Es war von imposanter, militärisch wirkender Gestalt und sprach, ohne die Lippen zu bewegen. Seine Stimme schien – beinahe wie die eines Bauchredners – aus einem großen, schwarzen Koffer zu kommen, den er trug. Sein ausdrucksloses Gesicht wirkte überaus ebenmäßig, erwies sich jedoch, als Licht darauf fiel, zum namenlosen Entsetzen des Anstaltsvorstandes als wächsernes Antlitz mit 283
Augen aus farbigem Glas. Irgendein schrecklicher Unfall mußte diesem Mann zugestoßen sein. Ein noch größerer Mann führte ihn an der Hand – ein abstoßend aussehender Hüne, dessen bläuliches Gesicht zur Hälfte von einer unbekannten Krankheit weggefressen worden zu sein schien. Der Sprecher hatte verlangt, man solle ihm das kannibalische Ungeheuer, das sechzehn Jahre zuvor von Arkham hierher gebracht worden war, übergeben. Als der Direktor ablehnte, gab er ein Zeichen, woraufhin es zu einem heftigen Handgemenge kam. Die Fremden hatten jeden Angehörigen des Personals, der nicht floh, geschlagen, gebissen und mit Füßen getreten, vier von ihnen getötet und schließlich das Ungeheuer befreit. Diejenigen Bediensteten, die sich des Ereignisses ohne Hysterie zu erinnern vermochten, schworen, daß diese Kreaturen weniger wie Menschen denn wie schreckerregende Automaten handelten, die unter dem Befehl des wachsgesich284
tigen Anführers standen. Aber bis endlich Hilfe geholt werden konnte, waren die fremden Eindringlinge spurlos verschwunden. Von dem Augenblick an, da er dies las, verharrte West wie gelähmt. Als um Mitternacht die Türklingel läutete, fuhr er in panischem Schrecken zusammen. Da alle Bediensteten schliefen, öffnete ich die Tür. Wie ich der Polizei erklärte, war auf der Straße kein Wagen. Eine Gruppe merkwürdig anmutender Gestalten hatte sich versammelt. Sie trugen eine quadratische Kiste, die sie in der Diele abstellten, nachdem einer von ihnen mit höchst unnatürlicher Stimme gekrächzt hatte: »Express – Gebühr schon bezahlt.« Mit ruckartigen Bewegungen entfernten sie sich, und als ich ihnen nachsah, hatte ich das vage Gefühl, als führe ihr Weg sie zum alten Friedhof, der an der Hinterfront des Hauses angrenzte. Als ich die Tür hinter ihnen zuschlug, kam West herunter und warf einen Blick auf die Kiste. Sie maß gut 285
einen halben Meter im Quadrat und trug Wests Namen und jetzige Anschrift. Außerdem stand darauf: »Absender: Eric Moreland Clapham-Lee, St. Eloi, Flandern.« Sechs Jahre zuvor war unter feindlichem Artilleriefeuer ein Hospitalgebäude über dem kopflosen, wiederbelebten Rumpf von Dr. Clapham-Lee zusammengestürzt – und über dem abgetrennten Haupt, das, jedenfalls möglicherweise, artikulierte Laute geäußert hatte. West wurde bleich, blieb aber ruhig, »Das ist das Ende«, sagte er. »Aber wir müssen… dies noch verbrennen.« Wir trugen das Ding hinunter ins Laboratorium. Allzu viele Einzelheiten weiß ich nicht mehr – verständlich bei meiner Erregung. Wenn aber behauptet wird, daß es Herbert Wests Körper war, den ich in den Verbrennungsofen steckte, dann ist das eine gemeine Lüge. Wir beide beförderten die ungeöffnete Kiste hinein, schlossen die Tür und schalteten den Strom ein. Aus der Kiste 286
war keinerlei Geräusch und nicht der geringste Laut gedrungen. West war es, der als erster bemerkte, daß der Verputz von jenem Teil der Wand zu fallen begann. Ich wollte fortlaufen, aber er hielt mich fest. Plötzlich sah ich eine kleine, finstere Öffnung, verspürte einen eisigen Lufthauch, roch den fauligen Geruch moderiger Erde. Alles war totenstill. Im nächsten Augenblick ging das elektrische Licht aus… und ich sah vor einem infernalisch phosphoreszierenden Hintergrund eine Horde stumm sich windender Silhouetten, die nur eine Ausgeburt des Wahnsinns – oder von etwas noch Schlimmerem – sein konnten. Ihre Umrisse waren menschlich, halbmenschlich, teilweise menschlich oder ganz und gar andersartig – sie waren grotesk in ihrer« Verschiedenheit. Lautlos nahmen sie einen Stein nach dem anderen aus dem über ein Jahrhundert alten Gemäuer. Und dann, als die Bresche groß genug war, kamen sie hinter287
einander ins Laboratorium, angeführt von einer Gestalt mit einem schönen, wächsernen Kopf. Ein irre starrendes Ungeheuer, das ihm auf dem Fuße folgte, packte Herbert West. West gab keinen Laut von sich und leistete keinen Widerstand. Dann sprangen ihn auch die anderen… wie soll ich sie nennen – Dinge? – an und zerrissen ihn direkt vor meinen Augen. Die Stücke schleppten sie zurück in den unheimlichen, unterirdischen Schlund. Wests Haupt nahm der wachsköpfige Anführer mit sich fort, der eine kanadische Offiziersuniform trug. Ehe er verschwand, sah ich noch, daß in Wests sonst so eiskalten blauen Augen hinter den Brillengläsern zum erstenmal etwas wie Gefühlsbewegung war. Bedienstete fanden mich am Morgen ohne Bewußtsein. West war verschwunden. Der Verbrennungsofen enthielt nur nicht identifizierbare Asche. Polizeibeamte verhörten mich. Aber was kann ich sagen? Die Tragödie von 288
Sefton wollen sie mit West nicht in Zusammenhang bringen – genausowenig wie die Männer mit der Kiste, deren Existenz sie bestreiten. Als ich von dem geheimnisvollen Gewölbe berichtete, deuteten sie nur lachend auf den unbeschädigten Putz. Also sagte ich von da an nichts mehr. Mir gibt man zu verstehen, daß man mich entweder für einen Verrückten oder für einen Mörder hält. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Doch ich wäre vielleicht nicht verrückt, wären nicht jene verfluchten, stummen Legionen aus dem Grab gewesen.
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Eando Binder Der Mann aus Eisen Charley Becker ließ sein Werkzeug fallen und verkündete: »Ich laß mich jetzt ölen.« Hank Norton warf seinem Kollegen in der Sonox-Abteilung einen erstaunten Blick zu. Becker war klein und schmal; sein Haar war dünn und ließ einen Ansatz zur Glatze erkennen. Er war der ruhige Typ, der tagaus, tagein gleich ausdauernd und zuverlässig vor sich hinarbeitete. Er fiel kaum auf, und manchmal bemerkte man fast nicht, daß er da war. Es war schwer, nicht über seine dünne Stimme zu lächeln, die einem Sopran nicht unähnlich war. Das war es unter anderem, was Hank Norton überraschte. Becker hatte zum erstenmal mit Baßstimme gesprochen. Aber erschreckender waren die Worte. Soweit bekannt, hatte Charley niemals in seinem Leben auch nur einen 290
Tropfen getrunken; zwei Bier wären eine rauschende Orgie für ihn gewesen. »Hast du das gesagt, Charley?« fragte Norton, um ganz sicherzugehen. »Ja, ich laß’ mich jetzt ölen«, dröhnte Becker von neuem. Norton bemerkte die angespannte Miene des anderen und nickte verständnisvoll. »Die Nerven, Charley? Wär’ ja nichts Neues. Jahr für Jahr die eintönige Arbeit an diesem SonoxRobotern, das schlaucht einen schon.« Er schoß einen Funken in das Sprachzentrum des Roboters, an dem er gerade arbeitete. Der Roboter erwachte zum Leben und stieß einen unheimlichen, Ton aus. »Beinahe wie ein Mensch«, sagte Norton. »Möchte man fast nicht glauben, daß das aus so ’nem Schrotthaufen kommt. Aber ich hätte auch nie gedacht, daß es dich so erwischt, Charley. Ist nur noch
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’ne Stunde bis Feierabend; mach’ dein Zeug und denk nicht mehr dran.« Aber Becker hatte sich bereits abgewandt. »Ich laß’ mich ölen«, ließ er von neuem verlauten und stelzte zu Pete Osgood an der Abschmiergrube hinüber. »Ölen Sie mich«, sagte er. Osgood war nicht sonderlich guter Stimmung. »Hör auf damit, Charley; der hat schon ’nen Bart.« »Ich brauche Öl«, sagte Becker, der stocksteif dastand. Langsam und starr hob er den linken Arm. »Sehen Sie hier. Dieses Schultergelenk klemmt; ölen Sie es, bitte.« Osgood wurde böse. »Also, zum letztenmal, Charley: Versuch’ nicht, ’nen Narren aus mir zu machen.« »Aber ich brauche Öl«, sagte Becker. »Und das ist Ihre Aufgabe.« Osgood nahm eine Ölkanne. »Du willst es nicht anders, Charley«, sagte er mit hinterhäl292
tigem Grinsen und spritzte einen dicken Strahl Öl über Beckers linke Schulter. Es tränkte sein Hemd und tropfte von seinem Ellbogen. »Schultergelenk geölt, Y-88«, dröhnte Osgood, plötzlich belustigt, und wartete auf Beckers wütende Reaktion. »Danke, Sir«, sagte Becker und schwang seinen Arm hin und her. »Jetzt funktioniert es einwandfrei.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging schweren Schrittes zur Tür. Pete Osgood ließ die Ölkanne fallen, als Hank Norton zu ihm trat. »Mich laust der Affe«, stieß Osgood hervor. »Das war sein Ernst.« Charley Becker marschierte aus dem Gebäude hinaus und die Straße entlang, an der die Winton-Roboter-Werke lagen. Lora Becker stellte Möbel um, was sie häufig tat, da sie Einförmigkeit haßte. Letzteres war auch der Grund dafür, daß ihr Haar diese Woche blau 293
und ihre Lippenstift rosa war, während in der Woche zuvor Lippen und Haare smaragdgrün geschimmert hatten. Unter der gerade aktuellen Tageskosmetik war sie eigentlich blond – kein männermordender Vamp, aber durchaus auch nicht unattraktiv. Dieses Mal wollte sie die Möbel so, daß eine doppelte Raumteilung entstand, wogegen Charley, wie sie hoffte, nichts haben würde. Aber er hatte ja gegen nichts etwas. Er war freundlich, gütig und milde. Sie liebte ihn. Warum? Weil sie ihn liebte. Sie versuchte, den schweren Fernseher aus der Ecke zu ziehen. »Erlauben Sie, Madam«, sagte eine kräftige Stimme hinter ihr. Erstaunt fuhr sie herum. »Charley! Ich hab’ dich gar nicht kommen gehört. Du bist ja früher als sonst dran; irgendwas nicht in Ordnung, Liebling?«
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»Doch, doch, alles in Ordnung«, sagte Becker, hob die Fernsehkonsole hoch und hielt sie so in der Luft. »Charley, dein Rücken«, rief sie entsetzt. »Du wirst dir weh tun! Stell ihn wieder ab.« »Wo wollen Madam ihn hinhaben?« Becker hielt den Fernseher immer noch hoch, als wöge er nur ein Pfund statt gut hundert. »Dort drüben, an die violette Wand. Aber Liebling, du kannst ihn doch nicht da rübertragen…« Sie verstummte und starrte ihn offenen Mundes an. Becker hatte bereits den Raum durchquert und stellte die Konsole an der angegebenen Stelle ab. Dann wandte er sich, ohne beschleunigt zu atmen, um. Loras Augenlider flatterten fasziniert. »Charley, das ist ja… Also früher fingst du zu keuchen an, wenn du nur einen leichten Stuhl heben mußtest. Wo in aller Welt hast du plötz-
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lich diese Kraft her? Ehrlich, ich bin ganz weg, Liebling. Aber… So sag doch was, Charley.« »Nennen Sie mich nicht Charley«, sagte Charley Becker. »Und bitte auch sonst keine Vertraulichkeiten. Sie sind deplaciert, Madam; meine Fabrikbezeichnung ist X-88.« Nach einem Moment verständnislosen Staunens blinzelte Lora glücklich. »Du hast Gehaltserhöhung bekommen. Ja, das muß es sein! Und sie ließen dich eher gehen, damit du es mit mir feiern kannst! Kein Wunder, daß du so in Hochstimmung bist! Komm und gib mir einen Kuß, mein großer, starker Held!« Becker ignorierte diese Aufforderung. »Roboter gehen mit ihren Herren oder Herrinnen niemals so um«, sagte er, ohne die Stimme zu heben. »Ein Roboter, was?« scherzte Lora und trippelte zu ihm hin. »Komm, nimm mich ganz
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fest. Zerdrück mir die Rippen mit deinen mächtigen, stählernen Armen.« Becker ließ nur die Arme hängen und reagierte nicht. »Das ist genau, was passieren würde, Madam; ich würde Ihnen die Rippen zerdrücken. Was sind jetzt Ihre Befehle? X-88 ist Ihr Diener.« Lora lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen kullerten. »Ehrlich, Charley, ich wußte gar nicht, daß du so viel Sinn für Humor hast. Du mußt wirklich ’ne Riesengehaltserhöhung bekommen haben. Willst du es jetzt noch nicht sagen? Also gut, wenn’s dir Spaß macht. Was hättest du denn gern zum Essen? Wünsch dir, was du nur willst.« »Öl«, sagte Becker. »20er mit einer Strahlung von 60 Röntgen. Das ist das Standardöl für Roboter.« »Mit Zitronengeschmack? Oder gekühlt und mit Schlagsahne darauf?« 297
Lachend lief Lora in die Küche und räumte in der Tiefkühltruhe herum. Als sie sich fünf Minuten später zu Tisch setzten, deutete Lora auf die Schale. »Ihr Öl, X88.« Becker nahm einen Schluck und spuckte aus. »Das ist kein Öl, Madam. Das ist kalte Fleischbrühe.« Verdutzt starrte Lora auf die Spritzer an der Wand. In ihrer Stimme war jetzt ein Unterton von Verärgerung. »Liebling, geht das nicht doch ein bißchen zu weit? Fleischbrühe mochtest du immer; ich dachte, du würdest dich freuen.« »Jedwede menschliche Nahrung, die in mein Inneres gerät, kann einen Kurzschluß und damit schweren Schaden verursachen, Madam. Meine Halswirbel sind jetzt steif von dieser organischen Substanz; sie müssen geölt werden.« Lora entschloß sich seufzend, das Spiel mitzumachen, als ihr Mann zum Werkzeug298
schrank ging, eine Ölkanne nahm und sich daraus gegen den Hals spritzte. Doch ihr Lächeln erstarrte, als Charley den Deckel abschraubte und den Rest in seinen Mund kippte. Lora schrie auf. Das Gesicht dick bepudert, damit ihre Schlaflosigkeit nicht ins Auge fiel, sagte Lora: »Ja, Doktor. Mein Mann hält sich für einen Roboter. Gestern abend weigerte er sich, zu mir ins Bett zu kommen. Er blieb einfach in der Ecke stehen – wie ein richtiger Roboter während der Nacht. Bewegte sich nicht. Bis zum Morgen.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »In der Frühe stand er immer noch da. Hatte keinen Muskel bewegt. Doktor, ich…« »Beruhigen Sie sich, Mrs. Becker«. Dr. John Grady trug die freundliche, verständnisvolle Miene zur Schau, die ein Kennzeichen seines Berufsstandes ist. Er war gut und sorgfältig gekleidet und locker in seiner 299
Art. Sein scharfer Verstand befähigte ihn, wie ein Bluthund durch die Labyrinthe der menschlichen Psyche zu spüren. Seine Fälle waren alle klinisch interessant. Dennoch durfte man für seine Patienten oder auch für diejenigen, die man liebte, niemals Mitleid empfinden. Theoretisch. Aber Grady bemitleidete Lora Becker. Zum Teufel mit jedweder Theorie – sie hatte wirklich ein ganz ungewöhnlich schlimmes Problem. Er gewann seine professionelle Sachlichkeit wieder. »Ihr Mann arbeitete beim RoboterBau? Wie lange?« »Neun Jahre; er regulierte ihre Sprachzentren ein.« »Seine Arbeit bestand darin, daß er mit ihnen sprach - sie die menschliche Sprache verstehen lehrte?« Lora nickte. »Er hat mir häufig erzählt, wie eigenartig das war, obwohl er es ständig tat. 300
Stellen Sie sich vor, daß eine Maschine mit Ihnen spricht – fast wie ein Mensch. Charley nannte sie schließlich ,er’ statt ,es’.« Dr. Grady überdachte das. »Langsam fortschreitende Personalprojektion. Verschafft ihnen menschlichen Status bei ihm. Letztlich noch harmlos, außer… Sagen Sie, Mrs. Becker, hatte er jemals Probleme damit? Ich meine, im Umgang mit diesen menschenähnlichen, mechanischen Dingern?« Lora überlegte. »Ja, jetzt, da Sie es sagen, Doktor… Manchmal kam er ganz nervös nach Hause und sagte, er hätte einen Roboter ermordet.« »Ermordet?« »Nun, manche funktionierten nicht richtig; ihre Mental-Einheiten reagierten nicht in der richtigen Weise. Charley nannte sie .Idioten’. Oder .Schwachköpfe’. Natürlich nützte das nichts. Also mußte er einen elektrischen Stromstoß durch die Gehirneinheit schicken, 301
der sie ausbrannte. Wenn er so etwas tat, schlief er ganz schlecht in der Nacht – als hätte er einen Menschen getötet.« Der Psychiater drehte das eine Minute durch seine geistige Mühle. »Angstneurose«, meinte er dann. »Führt zu einer Projektion in der Roboter-Identität. Vielleicht war das die einzige Art und Weise, wie er sich von seinem Schuldgefühl wegen dieser ,Morde’ befreien konnte. Charley Becker hat sie .ermordet’, nicht X-88, der Roboter.« Ihr zuliebe vereinfachte er; dafür waren seine Patienten immer so dankbar. Die wirkliche Diagnose, gewissermaßen eine Pyramide aus Emotionen, die der Psychiater geduldig Stufe für Stufe hinaufsteigen mußte – diese wirkliche Diagnose verstanden sie nie. Da war die offenkundige Tatsache von Beckers kleiner Statur. Kein Zweifel, daß er als Erwachsener ständig damit zu kämpfen hatte. He, Kleiner. Jeder Zoll eine Maus, ha-ha. Keine
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andere Frau würde den auch nur anschauen, meine Liebe. Oh, es war verständlich genug. Sehnsüchte, unerfüllte Wunschträume entstehen. Ein großer, starker Mann zu sein. Oder stärker als jeder Mann. Wie ein Roboter. Außerdem hatten sie keine Kinder, wie er aus dem Patientenblatt wußte. Seine Sterilität war schuld, nicht ihre, das war medizinisch festgestellt. Mangelnde Männlichkeit – wieder etwas, was sein Selbstbewußtsein ständig unterminierte. Lora Becker war eine gute Frau, kein Zweifel. Liebte ihn trotzdem. Aber in unbewachten Momenten mochte ihr das eine oder andere Wort entschlüpft sein. Oh, mein armer Liebling, überanstreng dich nicht… Dieser schreckliche Eddy Ashley, groß und stark ist er schon, aber mir ist mein kleiner Süßer viel lieber… Wirklich, es gibt viele Männer, die nicht
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Vater sein können, und die Welt ist sowieso übervölkert. Und dann stöhnten die Roboter auf wie Menschen, wenn sie unter seinen Händen .starben’. Schwäche und Unmännlichkeit und RoboterGehirne wurden ausgelöscht. Schuld wurde auf Schuld gehäuft, und die Pyramide wuchs, bis sie ihn grausam erdrückte. Und so löste Becker alle seine Probleme auf einen Streich. Roboter waren keine Schwächlinge; Roboter bekamen niemals Kinder; und die Roboter waren endlich von dem Killer Charley Becker befreit. Das war der Ausweg, die Befreiung von aller Qual. Hier mußte er ansetzen, Dr. Grady brach seine Überlegungen ab. Er mußte bereit sein für die Frage, die immer gestellt wurde. Immer. Lora stellte sie händeringend. »Wie ernst ist es, Doktor? Kann man ihn…?« Sie sprachen so oft das Wort nicht aus. 304
»Heilen?« ergänzte Grady behutsam. Wie viele Jahre hatte er gebraucht, bis er alle verräterischen Stimmnuancen zu unterdrücken vermochte? »Nun machen Sie sich mal keine Sorgen, Mrs. Becker; heute, im Jahre 1992, gibt es für uns nur noch selten wirklich hoffnungslose Fälle. Warten Sie draußen im Vorzimmer, bitte, während ich mit ihm spreche.« Als Lora sich im Wartezimmer gesetzt hatte und mit schwimmenden Augen tat, als lese sie eine Zeitschrift, rief Dr. Grady den kleinen Mann, der wie eine Statue unaufdringlich in einer Ecke stand – aber mit der Selbstentäußerung eines trainierten Roboters, nicht der eines bescheidenen Menschen. »Hierher bitte, Mr. Becker.« Becker wandte nicht einmal den Kopf. Grady nickte. »Hierher bitte, X-88.« Jetzt kam Leben in Becker. Gehorsam folgte er Dr. Grady ins Sprechzimmer.
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Der Doktor deutete auf die Couch. »Hier hinlegen, bitte. Eine Stunde etwa wird das schon dauern.« »Ich stehe lieber, Sir; Roboter ermüden nicht.« Grady zuckte mit keiner Wimper; in solchen Momenten war ihm seine langjährige Erfahrung von großem Nutzen. »Ja, natürlich. Wie Sie wünschen. Ihr Name?« »X-88, Sir. Haushalts-Roboter aus den Winton-Werken.« »Der Name .Charley Becker’ – sagt er Ihnen etwas?« »Nichts, Sir. Der Name Becker selbst allerdings schon. Ich bin der Haushaltsroboter von Mrs. Lora Becker.« »Ah. Aber wenn Lora Becker verheiratet ist, muß sie doch einen Mann haben. Wo ist er?« »Das weiß ich nicht, Sir.« »Ist Mrs. Becker verwitwet oder geschieden?« »Nein. Das heißt, ich weiß es nicht.« 306
»Doch, Sie wissen es«, sagte Grady, doch ohne Schärfe. Sein Ton war beiläufig und freundlich. »Sie antworteten zunächst korrekt, bevor Sie sich korrigierten. Das zeigt, daß Ihnen die Existenz von Mrs. Beckers Mann durchaus nicht unbekannt ist. Ist er verreist?« »Nein.« »Wieder wissen Sie die Antwort. Wo ist er dann? Interessante Frage, nicht wahr? Warum sollte ihr liebender Gatte gestern abend nicht nach Hause gekommen sein? Warum wäre er die ganze Nacht ausgeblieben?« »Weil er… ich…« Becker wurde bleich und verstummte. »Ein Roboter nimmt menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen nicht wahr; ich kann nicht antworten.« »Doch, Sie können antworten«, sagte der Psychiater geduldig. Sein Ton war ohne jeglichen Vorwurf. »Eben gaben Sie fast die Antwort. Sie sind kein Roboter namens X-88, nicht wahr? Überlegen Sie bitte; Sie sind ein 307
Mensch, ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut, und heißen Charley Becker. Ist es nicht so?« Konnte er sich solcher Logik verschließen? Grady wartete hoffnungsvoll. Aber in Beckers harter Miene rührte sich nichts. »Ich bin Roboter X-88« sagte er mit einer nasalen Stimme, die die Hunderte von Robotern, deren Sprachzentren er in neun Arbeitsjahren aktiviert hatte, genau imitierte. Dr. Grady seufzte unhörbar und gab sich für den Moment geschlagen. Zumindest hatte er erwartet, daß Becker für einen Augenblick oder zwei aus seiner Psychose herausfinden würde. Daß dies in einem so frühen Stadium der Persönlichkeitsveränderung nicht eintrat, war überaus selten. Wie nebenbei nahm Grady ein Buch vom Schreibtisch, stand auf und trat auf den Mann zu, der sich für einen Roboter hielt. »Roboter spüren natürlich keinen Schmerz«, sagte er. 308
»Stimmt, Sir; Roboter fühlen keinen Schmerz.« Urplötzlich holte Grady aus und schlug Becker das Buch in die Rippen – mit der Ecke voraus. Er verfuhr durchaus unsanft dabei – und er war ein starker Mann. Keinerlei Reaktion. »Wie Sie sagten, Sir; Roboter spüren keinen Schmerz.« Grady wandte sich ab. Unter seiner Kleidung mußte Becker jetzt zumindest einen dicken Bluterguß haben. Kein Mensch kann solch plötzlichen Schmerz ertragen, ohne wenigstens zusammenzuzucken. Becker hatte nicht im mindesten reagiert. Die geschulten Gedanken des Arztes verfolgten den Faden weiter. Völlige Persönlichkeitsveränderung. Überzeugt, daß er ein Roboter sei, ein Mann aus Eisen mit einer eisernen Haut. Ohne Nerven. Fakire, die auf Nagelbrettern liegen oder barfuß über glühende Kohlen 309
gehen. Und auch gewöhnliche Menschen spüren unter dem Einfluß von Angst oder Schock selbst schwerere Verletzungen erst um einiges später. Psychosomatische Nervenblockierung. Becker hielt sich nicht nur für einen Roboter. Er war ein Roboter. In jeder Hinsicht. In jeder Hinsicht? »Ein Roboter ist dreimal so stark ’wie ein kräftiger Mann«, erklärte Dr. Grady. »Ein Roboter könnte zum Beispiel meinen Safe dort drüben anheben. Tun Sie es, X-88.« Wortlos bewegte sich Becker hinüber. Er imitierte sogar den langsamen, schweren Schritt eines dreihundertpfündigen Roboters, und das mit seinen kümmerlichen einhundertfünfundzwanzig Pfund. Es war seltsam belustigend, aber auf ganz und gar unamüsante Art. Grady hielt den Atem an. als Becker sich bückte und die Unterkante des Safes faßte. Mit seinen rohrdünnen Armen hob er ihn an einer
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Ecke vom Boden hoch. Drei kräftige Männer hätten das kaum geschafft. Langsam und vorsichtig ließ Becker den Safe wieder zu Boden. Dann richtete er sich auf und wandte sich um – ohne Triumph. Robotern waren solche Gefühlsäußerungen fremd. »Sehr gut«, sagte Grady, ohne eine Miene zu verziehen. »Als Roboter könnten Sie auch aus diesem Fenster im zehnten Stock springen und den Fall durch Ihre eingebauten Kniereflexe abfangen, ohne Schaden zu nehmen.« »So ist es, Sir.« Grady kniff die Augen ein wenig zusammen. Die Angst vor dem Tode; Lebenswille – der stärkste Instinkt eines Menschen. Würde Becker unter dieser Belastung zusammenbrechen und sich nicht länger in dem schützenden Panzer von X-88 verschanzen? »Springen Sie aus dem Fenster, X-88«, sagte Grady. Bestimmt konnte Becker seine fixe Idee jetzt nicht mehr länger aufrechterhalten. 311
»Aus welchem Fenster?« fragte Becker, wandte sich um und ging zu den drei Fenstern an der Straßenseite. »Aus dem mittleren«, sagte Grady. Mit wenigen festen Schritten war Becker dort und öffnete es. »Oder nein, lassen Sie es«, sagte Grady. »Der Sprung ist wohl doch nicht nötig.« Grady lächelte immer noch; es war ein geübtes Lächeln, das inneren Schauder verbergen konnte. »Gehen Sie jetzt nach Haus, X-88, mit Mrs. Becker. Tun Sie in allem genau, was sie sagt.« Dr. Grady intensivierte sein Lächeln, als er Lora sanft auf die Schulter klopfte. »Ging ganz gut, aber es braucht noch Zeit«, sagte er beruhigend. »Vorerst behandeln Sie ihn, als sei er Ihr Haushaltsroboter. Nennen Sie ihn nicht Charley und vermeiden Sie auch sonstige Vertraulichkeiten. Nennen Sie ihn X-88. Lassen Sie ihn Haushaltsarbeiten machen, aber sonst, nichts. Das wird seine Widerstandshaltung lo312
ckern. Morgen kommen Sie wieder mit ihm vorbei.« In seinem Wartezimmer zurück, entledigte sich Dr. Grady seines Lächelns. Es war ein einzigartiger Fall. Von etwas Derartigem hatte er bisher noch nie gehört; Roboter gab es auch erst seit etwa einem Dutzend Jahren. Ein Gedanke drängte sich auf. Es würde einige Zeit dauern, hatte er Lora Becker gesagt. Einer der elementaren Grundsätze der Psychiatrie war, niemals etwas zu überstürzen. Nichts zu erzwingen. Bei der Heilung geistiger Verirrungen gab es kein Zeitlimit. Bei Charley Becker allerdings gab es eins. Roboter nahmen keine menschliche Nahrung zu sich. Am nächsten Tag war Dr. Grady bereit. Seine sonstigen Vormittagstermine hatte er abgesagt. Er hatte sich ganz auf das neue Problem konzentriert 313
Es mußte rasch gehen. Rasch. Schon seit achtundvierzig Stunden hatte Charley Becker nichts mehr zu sich genommen. Als Becker schwerfälligen Schrittes hereinkam, lächelte ihm Grady freundlich entgegen. »Charley Becker«, sagte Grady, »ist ein Roboter-Killer. In der Fabrik, aus der Sie kamen, X88, war er Arbeiter. Er hat häufig defekte Roboter umgebracht, nicht wahr?« Beckers Augen funkelten. »Ja, das stimmt.« Grady war erfreut. X-88 gab zu, Charley Becker zu kennen, was er vorher geleugnet hatte. Vielleicht lag da eine Möglichkeit. Grady stieß nach. »Aber Roboter haben nicht den Status von Menschen. Nach dem Gesetz sind sie nichts anderes als hochentwickelte Maschinen. Ist ein Mensch ein Mörder, wenn er ein Auto kaputtmacht oder einen Fernsehapparat oder ein elektronisches Gehirn?« »Nein«, sagte Becker.
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»Ein Roboter«, sagte Grady. »ist nichts anderes als ei ne weiterentwickelte und verfeinerte Kombination der mechanischen Beweglichkeit eines Autos, der audiovisuellen Empfindlichkeit eines guten TV-Systems und eines kompakten Elektronengehirns. Somit beging Charley Becker keinen Mord, als er Roboter zerstörte; er beseitigte nur nutzlose Maschinerie. Also wäre er doch töricht, einen Schuldkomplex daraus zu entwickeln, nicht wahr?« »Solche menschlichen Emotionen verstehe ich nicht.« Grady überlegte. Verteidigungsmechanismus. Als Roboter hatte es Becker nicht nötig, seinen rationalen Überlegungen zu folgen. Grady beschloß, in den Bereich des Konkreten überzuwechseln. »Fühlen Sie sich schwach, X-88?« »Nein.« »Aber Sie haben seit zwei Tagen nichts zu sich genommen.« 315
»Roboter brauchen keine menschliche Nahrung. Allerdings bedürfen sie der täglichen Ölung, um ordnungsgemäß funktionieren zu können. Mrs. Becker hat das versäumt.« Ja, dachte Grady, weil ich sie anrief und ihr das sagte. Er hatte den Knopf auf dem Schreibtisch gedrückt. Die Vorzimmerdame schob einen Teewagen mit Getränken und warmem Essen direkt vor Becker hin. Das verlockende Aroma mußte ihm in die Nase steigen. Sein Magen mußte Hunger empfinden bei alldem, was jetzt in Beckers Reichweite lag. Fünf Minuten lang verharrte Becker stumm und bewegungslos. Grady wurde allmählich ungeduldig. »Essen Sie«, befahl er schließlich. »Tut mir leid, aber ich muß ablehnen«, sagte Becker. »Menschliche Nahrung ist verderblich für uns. Roboter haben eingebaute Sicherungen, die sie daran hindern, schädlichen Befehlen zu folgen.« 316
Grady lächelte. Verdammt. Das hieß, daß auch die Möglichkeit ausschied, Becker ein Betäubungsmittel zu geben, um ihn dann künstlich ernähren zu können. Auf ein Klingelzeichen schob die Vorzimmerschwester den Teewagen wieder hinaus. Grady hakte den entsprechenden Eintrag auf seiner Liste ab. Dann brachte er Becker eine Dose Öl. Es war gewöhnliches Öl, sah jedoch genau wie das giftige, radioaktive Roboteröl aus. Allerdings enthielt es eine besondere Komponente. Ipecac. »Ihr Öl, X-88.« Becker stürzte es mit einem Zuge hinunter. Roboter tranken ihr Öl wie Menschen; es lief durch ein Rohr in den zentralen Ölbehälter hinab. Becker stand eine Weile da und spie dann heftig über den Teppich.
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Während die Schwester aufwischte, wartete Grady auf eine Erklärung Beckers. Wenn er noch ein Roboter war. Becker war noch ein Roboter. »Dieses Öl war verfälscht, Sir; ungeeignet für Robot-Motoren. Aber die neueren Modelle sind mit Abscheidern ausgerüstet, die alle ungeeigneten Schmierstoffe auswerfen.« »Natürlich«, lächelte Grady. »Wie dumm von mir, das zu vergessen.« Er hakte Punkt zwei auf seiner Liste ab und kam zu Punkt drei. »Schlagen Sie mit Ihrer Faust ein Loch in dieses Blech«, sagte er und deutete zu einem Quadratmeter dreiviertel Millimeter dicken Stahlblechs. Roboter konnten Stahlblech von dieser Dicke mit der Faust durchschlagen; bei dickerem wurde ihr komplizierter Knöchelmechanismus beschädigt.
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Irgend etwas mußte doch wirken, sagte sich Grady. Irgend etwas mußte es geben, woran Becker mit seinen menschlichen Mitteln scheitern würde. Dann würde er vielleicht aus seiner Roboter-Psychose erwachen. Harter Stahl, von keiner menschlichen Faust zu durchschlagen. Es gab einen harten Knall, als Beckers Faust durch das Blech fuhr. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Becker die Hand zurück. Unverletzte Knöchel, bemerkte Grady. Kein Blut. Gradys Stift hakte den dritten Punkt ab. Hier handelte es sich um die wohlbekannte »manische« Kraft. Eiserner, vor allem psychotischer Wille kann dem menschlichen Körper für Augenblicke eiserne Härte verleihen. Der Sieg des Geistes über den Körper. Ein Gemeinplatz vielleicht, aber das traf es im Grunde. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Charley Becker und X-88. Gradys Gedanken gingen zum nächsten Punkt. 319
Doch plötzlich kam Lora hereingestürmt. Ihr wilder Blick ging zwischen Becker und Dr. Grady hin und her, als ahnte sie dessen Scheitern. »Ich halte das nicht mehr aus«, kreischte sie. Schluchzend führte sie die Flasche an ihre Lippen. »Leb wohl, Liebster.« »Halt!« schrie Dr. Grady. »Trinken Sie nicht dieses tödliche Gift!« Entsetzt stürzte er auf sie zu, aber es war zu spät. Sie hatte das Gift schon getrunken, schwankte und fiel. Grady fing sie eben noch auf. »Ihre Frau – tot«, sagte er zu Becker. »Die Frau, die Sie lieben.« »Charley Beckers Frau«, verbesserte X-88. »Ein Roboter liebt nicht.« »Warten Sie bitte draußen«, sagte Grady, als er Lora wieder auf die Beine gestellt hatte. Sie warf einen Blick zurück, schüttelte verzweifelt den Kopf und schloß dann die Tür hinter sich. Grady hakte den Punkt ab. Liebe, Gefühl. X88 war zu beidem nicht fähig. 320
»Ziehen Sie sich aus«, befahl Grady. »Alles.« Becker gehorchte. Daß er Menschenkleidung trug, bedeutete für X-88 keine Überraschung. Fast alle Haushaltsroboter taten das um nicht so metallisch kalt zu erscheinen. Die meisten Leute wollten das so. Becker hatte sich seiner Kleidung entledigt. »Roboter sind geschlechtslos«, stellte Grady fest. »Ja.« »Aber Menschen haben Geschlechtsorgane«, sagte der Doktor einfach und hielt Becker einen großen Spiegel vor. »Wie kann auch X-88 welche haben?« »Ich habe kein solches Organ, Sir; ich bin ein Roboter.« Grady kippte den Spiegel ein wenig. »Ihr Gesicht. Was sehen Sie?« »Schimmerndes Metall«, sagte Becker. »Die üblichen TV-Augen-Einheiten, falsche Nase,
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den Mund zur Ölauf nähme. Weder Bart noch Haar.« Grady nahm den Spiegel weg. Visuelle Totalillusion. Betrachtete er seinen eigenen Körper, dann weigerten sich Beckers Augen, zu sehen, was sie nicht sehen wollten. Sexualorgan, Kopfbehaarung, Fingernägel, Nabel - nichts von alledem existiert für X-88. Doch Grady gebot Becker nicht, sich wieder anzuziehen. Becker stand immer noch nackt da. Die Gefühlsbewegung der Liebe hatte er abgeleugnet. Aber es gab einen stärkeren, instinktiven Trieb. Grady klingelte zweimal. Lora trat ein, nicht die Schwester. Ohne Überraschung starrte sie ihren unbekleideten Gatten an. »Sind Sie bereit?« fragte der Doktor ruhig. Lora nickte errötend. »Ich danke Ihnen«, sagte Grady. »Wären Sie nicht einverstanden gewesen, ich hätte, fürchte ich, darauf bestehen müssen. Ich werde jetzt 322
das Zimmer verlassen. Nehmen Sie sich genügend Zeit. Dort ist ein Wandschrank für Ihre Kleider. Sobald Sie mich wieder rufen wollen, drücken Sie auf diesen Knopf hier.« Er berührte ihre Hand. »Vergessen Sie nicht, tun Sie Ihr Bestes. Es ist wichtig. Und es muß hier sein – und jetzt.« Lora wartete, bis der Arzt die Tür hinter sich schloß. Dann begann sie, von neuem errötend, sich zu entkleiden. Absichtsvoll stellte sie sich dabei vor ihren Mann. Aber sein Blick ging durch sie hindurch. Er schien nicht die vollen weißen Schenkel zu sehen, die sie enthüllte, und nicht ihre weiblichen Kurven. Loras Röte war jetzt verflogen. Es war, als entkleidete sie sich ganz allein zwischen leblosen Möbeln. Dennoch hörte sie nicht damit auf, bis schließlich die letzte Hülle fiel. Charley Becker hatte bisher immer auf ihre Reize reagiert – immer. 323
Als Dr. Grady auf das Klingelzeichen wieder in den Behandlungsraum trat, knöpfte Lora gerade den letzten Knopf zu. Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf. »Er ignorierte mich einfach. Wie ein – wie ein Roboter.« Mit Tränen in den Augen flüchtete sie ins Wartezimmer. Wieder hakte Grady den Punkt ab. Roboter waren völlig ohne Geschlechtstrieb. Auch X88. Ein Punkt war noch übrig. Nur einer noch. Grady öffnete seine Schreibtischschublade und sagte: »Vergessen Sie eines nicht, X-88. Charley Becker, der in der Roboter-Fabrik arbeitete, ist kein Killer. Kein Mörder. Keine Schuld lastet auf ihm. Neun Jahre lang, in denen er seine Arbeit tat und die Gehirneinheiten defekter Roboter ausbrannte, ließ er diesen falschen Gedanken Raum greifen. Ohne Grund. Er ist unschuldig. Er kann ohne Stigma der Schande in die Welt der Menschen zu324
rückkehren. Charley Becker, wo immer er sich jetzt versteckt, hat nicht den geringsten Anlaß, das nicht zu tun. Ist das klar?« »Ich verstehe nichts von alledem, was Sie da sagen«, antwortete der menschliche Roboter. Nein, dachte Grady, aber deine Ohren hören die Worte, und dein Gedächtnis behält sie. Dein menschliches Gedächtnis. Du wirst dich an sie erinnern. Grady stand auf. In der Hand hatte er ein scharfes Messer. »Roboter bluten nicht«, sagte er. »Sie haben kein Blut. Ist das so. X-88?« »Ich habe kein Blut«, stimmte Becker ungerührt zu. »Ich steche Sie jetzt mit diesem Messer. Natürlich wird es kein Blut geben.« »Kein Blut.« Das war geklärt. Die Szene war vorbereitet. Blut würde fließen. X-88 würde es sehen, würde es spüren. Er konnte es einfach nicht leugnen. Konnte seine Verwundbarkeit 325
nicht in Abrede stellen. X-88 würde das Feld räumen und dem blutenden Charley Becker Platz machen. Langsam hob Grady das Messer. Holte aus. Grady gebrauchte die volle Kraft seines muskulösen Armes. Nach dem dritten Stoß in drei verschiedene Teile von Beckers Körper ließ er das Messer sinken und starrte es an. Langsam ging er zu seinem Schreibtisch. Er hakte den letzten Punkt ab. Er ließ den Bleistift fallen. Er dachte an den Bericht, den er der psychiatrischen Gesellschaft erstatten würde. Er würde seine Kollegen umwerfen, würde das milde Lächeln aus ihren ruhigen Gesichtern vertreiben. Wie Haut und Fleisch sich in Eisen verwandeln konnten. Biologisches Eisen, so stark wie Stahl. Stärker als Stahl. Er starrte auf das stumpfgewordene, verbogene Messer. Keine Spur von Blut. Intravenöse Ernährung? Auch dieser letzte Weg war versperrt. 326
Dr. Grady lächelte weiter – für Lora. Aber er fragte sich, wie er es ihr wohl sagen sollte. Nicht, daß sie bald Witwe sein würde. Daß sie schon seit drei Tagen Witwe war. ENDE
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