Hausvater, Priester, Kastraten Zur Konstruktion von Mannlichkeit in Spatmittelalter und Frillier Neuzeit
Herausgegeben von Martin Dinges
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagbild:
Niklaus Manuel Deutsch: Holzapfelchen »Verkehrte Welt« urn 1518 vol!., Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett (Foto: Offentliche Kunstsammlungen Basel, Martin Buhler).
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hausviiter, Priester, Kastraten:
zur Konstruktion von Miinnlichkeit in Spatmittelalter und friiher Neuzeit / hrsg. von Martin Dinges. Gottingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Sammlung Vandenhoeck) ISBN 3-525-01369-8
© 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen Printed in Germany. - Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwendung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Satzspiegel, Norten-Hardenberg Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co., Gottingen
Inhalt
Martin Dinges
Einleitung: Geschlechtergeschichte - mit Mannern! . . . . . . . .
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DISKURSE UBER » ZENTRALE« UND » PERIPHERE« MANNERROLLEN Heike Talkenberger
Konstruktion von Mannerrollen in wurttembergischen Leichenpredigten des 16.-18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .
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Renate Durr
. . . die Macht und Gewalt der Priestern aber ist ohne Schrancken«. Zum Selbstverstandnis katholischer Seelsorgegeistlicher im 17. und 1 8. Jahrhundert . . . . . . . . . . »
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Bernd-Ulrich Hergemoller
Die Konstruktion des "Sodornita« in den venezianischen Quellen zur spatmittelalterlichen Homosexuellenverfolgung
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Patrick Barbier
Uber die Mannlichkeit der Kastraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Cordula Bischoff
Die Schwache des starken Geschlechts: Herkules und Omphale und die Liebe in bildlichen Darstellungen des 16. bis 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
PRAKTIKEN ZUR KONSTRUKTION VON »MANNLICHKEIT« Michael Frank
Trunkene Manner und nuchterne Frauen. Zur Gefahrdung von Geschlechterrollen durch Alkohol in der FrUhen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
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Inhalt
Heinrich R. Schmidt
Hausvater vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert . . . . . . . . . . . . . .
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......."
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Gerd Schwerhoff
Starke Worte. Blasphemie als theatralische Inszenierung von Mannlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Fruhen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 .
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Francisca Loetz
Zeichen der Mannlichkeit? Kbrperliche Kommunikations formen streitender Manner im fruhneuzeitlichen Stadtstaat Zurich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
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Einleitung: Geschlechtergeschichte - mit MannernP
1. Mannergeschichte - ein schwaches Rinnsal Die Frauen- und Geschlechtergeschichte bliiht und gedeiht seit zwei Dekaden und etabliert sich zunehmend im Wissenschafts betrieb. Die fast ausschlieBlich von Frauen produzierten Unter suchungen fiillen mittlerweile sowohl regelmaBig etliche Spe zialzeitschriften als auch bereits traditionsreiche und immer wieder neue Verlagsreihen. International boomt diese For schungsrichtung ebenfalls.2 Die methodischen und inhaltlichen Ertrage sind so erheblich, daB die Vertreterinnen der Frauen und Geschlechtergeschichte mit guten Argumenten eine Revi sion des gesamten Geschichtsbildes fordern.3 Heide Wunder zielt dar auf ab, »Geschlechterbeziehungen als gesellschaftliche - nicht nur als individuelle - Beziehungen anzuerkennen und die Geschichte der sozialen Ungleichheit nicht erst mit Grup pen wie Schichten und Klassen beginnen zu lassen« .4 Paradig matisch fordert sie: »Es muB also das Vorhaben angegangen werden, die bisherige Geschichte der Menschheit auf eine neue Basis zu stellen und erkennbar zu machen, in welcher Weise die Geschichte der Frauen und die Geschichte der Geschlechterbe ziehungen entscheidende Einsichten dariiber vermitteln, wie Gesellschaften sich organisieren und Ressourcen fiir politisches Handeln bereitstellen. « 5 Nun wurden Manner in der Frauen- und Geschlechterge schichte zwar mitthematisiert. Sie sind aber legitimerweise le diglich Kontext fur die Untersuchung der Lebensbedingungen von Frauen. Innerhalb der Frauen- und Geschlechtergeschichte changierte und changiert die Bewertung der Manner zwischen Einschatzungen, die die ganze Bandbreite vom Patriarchen bis zum Partner umfassen. Jedenfalls miissen Manner nicht not-
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wendig zu einem eigenstandigen Gegenstand des Interesses in nerhalb dieses Forschungsansatzes werden.6 Insofern lalSt sich ein gewisser Widerspruch zwischen dem erklarten Anspruch der Geschlechtergeschichte, beide Geschlechter zu thematisie ren, und dessen bisherige Einlosung beobachten: Aufgrund des besonderen Erkenntnisinteresses vieler Frauen wird nicht das ganze Feld abgedeckt. Schon von daher gibt es gute Grunde, die »Mannergeschichte« zu entwickeln. »Mannergeschichte«, die Manner als Personen mit Geschlecht thematisiert, ist denn auch im Unterschied zur Frauen- und Geschlechtergeschichte im deutschen Sprachraum bisher noch kaum als Forschungs feld erkennbar.7 Die wenigen vorliegenden Studien bilden be stenfalls ein schwaches Rinnsal. Weiterhin fallt auf, daIS fast al les, was bisher zur deutschsprachigen Mannergeschichte ent standen ist, aus der Feder von Historikerinnen, Volks- oder Volkerkundlerinnen stammt.8 Frauen haben also auch das Ver dienst, die entsprechenden Fragen aufgeworfen und in ersten Studien bereits untersucht zu haben. So kann man mit Fug und Recht Ute Frevert in Deutschland als die Pionierin der »Man nergeschichte« bezeichnen.9 Manner traten demgegenuber al lenfalls als Autoren zur Geschichte der Sexualitat und der Ho mosexualitat in Erscheinung. lO Demgegenuber wurde die all gemeinere Frage, was den Mann fruher zum Mann machte, bisher von ihnen praktisch nicht aufgegriffen. »Mannerge schichte« ist also ein auffallend kleines, vorwiegend von Frauen entwickeltes Forschungsfeld. Dieser Befund kann im Blick auf englischsprachige - beson ders aulSereuropaische - Lander etwas relativiert werden. Dort sind zumindest die vorwiegend soziologisch und psychologisch orientierten » Men's Studies« starker entwickelt, durch die auch historische Studien angeregt wurdenY DaIS die Men's Studies in Anlehnung an die Homosexuellenbewegung und in einer pro duktiven Spannung zum Feminismus, also insgesamt im Zu sammenhang mit aktueller politischer Interessenartikulation entstanden sind, mag mit ein Grund dafur sein, daIS der bisher bevorzugte Untersuchungszeitraum das 19. und 20. Jahrhundert iSt.12 Auch im deutschen Sprachraum betreffen die ersten Ansat ze zu einer Mannergeschichte fast ausschlielSlich die letzten bei den Jahrhunderte, von denen aus gelegentlich noch das 18. Jahr hundert als Vorlauf zur Moderne mit betrachtet wird. B Fur das Spatmittelalter und die Fruhe Neuzeit sucht man deshalb noch
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immer fast vergeblich nach Studien, die explizit Manner als Per sonen mit Geschlecht thematisieren.14 In dieser Fokussierung lage namlich der entscheidende Un terschied zu der »alten Mannergeschichte«, die Frauen seit den 1970er Jahren eindringlich kritisieren, weil sie fast ausschlie15lich Manner und deren Lebensbereiche zum Gegenstand ma che. Frauen sowie die traditionell ihnen zugeordneten Lebens bereiche wie Haushalt und Familie, Kinderaufzucht und Kran kenpflege habe sie totgeschwiegen oder aus der historischen Gesamtbetrachtung ausgegliedert und als Randphanomen be handelt. In der traditionellen Historiographie dieser Art soIl ten geschlechtslose Manner »das Allgemeine« menschlicher Ge schichte reprasentieren. Dementsprechend entstanden Klassifi kationen des Wichtigen fur das Fach, die formelle politische Herrschaft, formelle Offentlichkeit, bezahlte Berufsarbeit, marktformige Okonomie und ahnliche Mannerdomanen als wichtig betrachteten. Demgegenuber sei alles andere als Ne bensache eingestilft worden, die bei der Volkskunde oder allen falls in Randbereichen der Sozialgeschichte abzuhandeln Ware.15 Hinsichtlich der Geschlechtergeschichte ist deshalb ein drei faches Defizit zu konstatieren: Insgesamt werden Manner fast nicht eigenstandig thematisiert; das gilt zweitens besonders fur die Zeit vor dem 19. Jahrhundert; Manner spielen drittens als Autoren fast keine Rolle. Dadurch kann sich innerhalb der Ge schlechtergeschichte schwerlich ein Dialog zwischen Historike rinnen und Historikern entwickeln.16 Urn diesen Gesamtbefund zu erklaren, mil15te man sicher ebenso die Geschlechterverhaltnisse selbst wie den For schungsgegenstaud, au15erdem die Entwicklung der Frauen und Geschlechtergeschichte und ihre - sich selbst wiederum andernde - Wahrnehmung durch die mannlichen Historiker in Betracht ziehen.17 Das wilrde aber den Rahmen dieser Einlei tung sprengen. Statt dessen scheint es zweckma15iger, einige Anknilpfungspunkte zu skizzieren, an denen sich die neue Mannergeschichte orientieren kann und die auch fUr die Auto rinnen und Autoren dieses Bandes wichtig waren.
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2. Ankniipfungspunkte - Geschlechtergeschichte und
Geschichte der »Homosexualitat« Anknupfungspunkte bietet in erster Linie die Geschlechterge schichte, in der auch Fragen nach dem mannlichen Geschlecht sowie nach den gegenseitigen Rollenzuschreibungen von Man nern und Frauen untersucht werden. Aus der Fulle neuer Er kenntnisse und Ansatze der frauen- und der aus ihr entstande nen geschlechtergeschichtlichen Forschung der letzten 20 Jahre sollen hier nur kurz diejenigen skizziert werden, die fUr eine neue Mannergeschichte grundlegende Bedeutung gewinnen konnten. So betont das in der Geschlechtergeschichte mittler weile herrschende Paradigma, der Genderbegriff, die Domi nanz des kulturellen gegenuber dem biologischen Geschlecht.18 Es stellt die Konstruiertheit und Historizitat von Geschlecht in den Vordergrund sowie die mit Geschlechterbeziehungen im mer einhergehenden ungleichen Verteilungen von Ressourcen, die sich meist als Herrschaft von Mannern uber Frauen darstel len. Hinsichtlich der konstitutiven Bedeutung von Herrschaft fUr das Geschlechterverhaltnis sei hier allerdings in Erinnerung gerufen, daB es langst Standard der Geschlechtergeschichte ist, dominante Positionen fur Vertreter beider Geschlechter - also z. B. auch von Frauen gegenuber dem mannlichen Personal anzunehmen. Dementsprechend ist Herrschaft im Genderkon zept als heuristischer Merkposten zu betrachten, der die Frage aufwirft, wie ,»Geschlecht< immer wieder neu definiert wird, urn eine erste gesellschaftliche Ordnung durch eine jeweils neu zu verhandelnde Verbindung von Unter- und Uberardnung, aber auch von Gleichheit, herstellen zu konnen« .19 Die deutschsprachige Summe dieser bisher schwerpunktma Big auf Frauen bezogenen Untersuchungen hat fill das Mittelal ter und die Friihe Neuzeit Heide Wunder mit ihrer Darstellung »Er ist die Sonn, sie ist der Mond« gezogen.20 Das Buch zeichnet sich nicht zuletzt durch einen graBen theoretischen Bogen aus, den Wunder anhand des von ihr so genannten »Arbeitspaares« konstruiert hat. Zentral fur ihr Verstandnis der Geschlechterbe ziehungen ist die Beobachtung, daB seit der Aufhebung der Franhofswirtschaft das dominante Modell des Zusammenle bens von Mannern und Frauen dadurch gekennzeichnet ist, daB beide als Paar gemeinsam relativ unabhangig von Dritten ein Haushaltseinkommen erwirtschaften muBten, zu dem sie in un-
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terschiedlicher Weise beitrugen. Damit wurde im Ruckblick auf die lange Dauer der europaischen Geschichte zunachst das Rol lenkonstrukt des 19. Jahrhunderts, der Mann sei der (einzige) Ernahrer der Familie, als ein historisch spater Mythos durch schaubar, der auch in seiner Entstehungszeit vorwiegend Wir kung auf die burgerlichen Familienverhaltnisse entfaltete. 1m Blick auf die Vormoderne fuhrt er eher in die Irre.21 Weiterhin verankert Wunder die Geschlechterbeziehungen sozialhisto risch liberzeugend in der L asung von Subsistenzfragen. Demgegenuber werden heute vielleicht eher gelaufige Klas sifikationsschemata fur Geschlechterrollen, die z. B. am biolo gischen Geschlecht anknupfen, als Konstruktionen erkennbar, die mehr uber medizinische, politische und andere, meist mannliche, Diskurse verraten als liber gelebte Geschlechterbe ziehungen. Die aus solchen Konstruktionen von Geschlecht hervorgegangene » Polarisierung der Geschlechtscharaktere« ist historisch eine Spiitfolge der Aufklarungsanthropologie.22 Den entsprechenden Mannlichkeitskonstruktionen ging Ute Frevert anhand von Warterbuchern nach.23 Anne-Charlott Trepp zeigte gerade fur die Entstehungszeit dieser Polarisierun gen anhand der Praxis und des Selbstverstandnisses von Ham burger burgerlichen Mannern und Frauen, dag in deren jewei lige Rollenkonstruktionen viel mehr dem anderen Geschlecht zugeschriebene Anteile eingingen, als die bisher bevorzugte Untersuchung stark praskriptiver Diskurse erwarten lieK24 In sofern zeigt sich hinsichtlich der These von der Polarisierung der Geschlechtscharaktere durchaus weiterer Forschungsbe darf. Das wichtigste Ergebnis von Freverts Untersuchungen zum Duell im Zweiten Deutschen Kaiserreich fur eine Manner geschichte der Fruhmoderne ist es, gezeigt zu haben, wie, mit welchen Mitteln und in welchen sozialen Formen Mannlichkeit auch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert historisch immer wieder neu konstruiert wird und bestimmte, inszenierte For men wie das Duell in der sich entfaltenden Industriegesell schaft in eine Krise geraten.25 Damit wurde im deutschen Sprachraum erstmals der Zusammenhang zwischen Manner rollen und sozialem Wandel an einem empirischen Beispiel um fassend untersucht. Daran knlipfte der von Thomas Kuhne 1996 herausgegebene Sammelband »Mannergeschichte - Geschlechtergeschichte« an.26 Er situiert Mannergeschichte als notwendige Erganzung
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der Geschlechtergeschichte, weil Geschlecht auch nach seinem Verstandnis eine relationale Kategorie ist. Kuhne unterscheidet zwischen »Mannsein« und »Mannlichkeit« , um damit mannli che Praxis bzw. Praktiken genauer von der starkeren Konstru iertheit der Leitbilder von Mannlichkeit unterscheiden zu kbn nen. Die Manipulierbarkeit von Mannlichkeitsmodellen je nach politischer Opportunitat kommt dabei ebenso in den Blick wie Bezuge zur Klassenbildung. Jenseits dieser klassischen Verbin dungen zur Herrschaftsthematik zeigen die Untertitel seiner Einleitung, namlich »Krisen der Mannlichkeit« , »militarisierte Mannlichkeit« sowie »gebrochene und rivalisierende Mann lichkeiten« , daB der Sammelband Probleme und Kosten der mannlichen Rollenanforderungen sowie eine Innensicht der Rolle starker als bisher in den Blick nimmt. In diesem Themen zuschnitt durfte gleichzeitig ein weiterer mbglicher Gewinn ei ner starkeren Beteiligung von Mannern an der Geschlechterge schichte anklingen. AbschlieBend betont Kuhne die Historizi tat, Komplexitat und sowohl diachrone wie synchrone Fragilitat von Mann-Sein. Zu bearbeiten seien deshalb » 1 . kul turelle Leitbilder, die Diskurse, 2. soziale Praxis, die praktische Reproduktion des Geschlechtersystems, und 3. die subjektive Wahrnehmung, Erfahrung und Identitat« .27 Diese methodi schen und inhaltlichen Anregungen kbnnen auf friihere Epo chen der Mannergeschichte ubertragen werden. Mann-Sein und Mannlichkeit in der Art des 19. und fruhen 20. Jahrhunderts waren - das wird aus den vorliegenden Un-· tersuchungen uberdeutlich - nur eine sehr spezifische Auspra gung der Lebensformen und -bedingungen von Mannern. Folg lich sind im Spatmittelalter und in der Fruhen Neuzeit durch aus andere Aufschlusse fUr die Geschichte der Manner und der Geschlechterbeziehungen zu erwarten. Diese fruheren Epo chen erbffnen gerade wegen des damals noch nicht dominanten biologischen Diskurses uber das Geschlecht fur die postmoder ne Frage nach der kulturellen Konstruktion von Geschlecht be sonders gunstige Forschungsperspektiven. Das zeigt nicht zuletzt die Studie von Anthony Fletcher zu » gender, sex and subordination« im fruhneuzeitlichen England, die man zumindest hinsichtlich ihres Ansatzes und der thema tischen Breite als Markstein der englischsprachigen geschlech tergeschichtlichen Forschung fUr eine neue Mannergeschichte bezeichnen kbnnte.28 Sie zeichnet sich durch eine gleichgewich-
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tige Betrachtung der Geschlechterrollen von Mannern und Frauen aus. Dabei kommen die Korpervorstellungen aus der Zeit vor dem Zweigeschlechtermodell ebenso in den Blick,29 wie das alltagliche Zusammenleben unter den Bedingungen des Patriarchats und die Tendenzen zur Neukonstruktion der Geschlechterverhaltnisse seit dem letzten Drittel des 17. Jahr hunderts.3o Neben den genannten Untersuchungen hat auch die Ge schichte der mannlichen Gleichgeschlechtlichkeit Pfade fUr ei ne neue Mannergeschichte gebahntY Ihre wesentlichen Merk posten sind die Dezentrierung des Mannerbildes sowie seine Dekonstruktion. »Dezentrierung« verweist auf den notwendi gen Abschied von der Orientierung an einem dominanten Mo dell mannlicher, ehelicher LebensfUhrung - etwa dem des Hausvaters - als Leitvorstellung fur die Mannergeschichte.32 Statt dessen sollen »Masculinities« im Plural Gegenstand der Forschung werden.33 Auch dieser Impuls verdankt wieder den Men's Studies wichtige Anregungen.34 Er deckt sich mit dem zweiten Erkenntnisinteresse, herrschende Mannlichkeitsbilder hinsichtlich ihrer Entstehung, Funktionalitat und Dysfunktio nalitat fUr den einzelnen und die Gesellschaft zu dekonstruie ren und dabei insbesondere ihren Herrschaftscharakter fur die Manner selbst und die Geschlechterbeziehungen herauszustel len. Dabei wird unterstrichen, daB es in jeder gegebenen Gesell schaft hegemoniale Formen und Leitbilder von Mannlichkeit gibt, die sich gegenuber den »unterlegenen« Modellen und ih ren Vertretern selbst wieder als Form von Herrschaft mit ent sprechenden psychosozialen Kosten fUr die betroffenen Man ner auswirken.35
3. Mannsbilder in Spiitmittelalter und Friiher Neuzeit Beitriige und Perspektiven Die Voraussetzungen fUr eine neue Mannergeschichte sind also gar nicht schlecht, da man auf weiterfuhrende Anregungen zu ruckgreifen kann: Aus der dem Gender-Konzept verpflichteten Geschlechtergeschichte sind dies Konstruiertheit, Historizitat und Herrschaftsbezug des kulturellen Geschlechts, aus denen sich auch rollenimmanente Widerspruche ergeben; aus der Ge-
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schichte der mannlichen Gleichgeschlechtlichkeit ist es die De zentrierung von Mannlichkeitsvorstellungen. Vor diesem kon zeptuellen Hintergrund ist fUr eine Geschichte der Mannsbilder in Spatmittelalter und Fruher Neuzeit die Konzentration auf die Konstruktion von Mannerrollen ein zweckmaBiger erster Schritt. Das zeigt sich auch am Forschungsstand zu den einzel nen Themen, den die Autoren jeweils reflektieren, so daB er hier nicht gesondert behandelt wird. Demgegenuber wird die Un tersuchung von »subjektiver Wahrnehmung, Erfahrung und Identitat« spateren Projekten vorbehalten.36 Ais Quellen dienen im ersten Teil des Bandes sprachliche und visuelle Diskurse, mit denen Leitbilder des Wichtigen und Richtigen fUr Manner und Frauen gesellschaftlich produziert und von ihnen angeeignet wurden.37 Ein besonderer inhaltli cher Ertrag ergibt sich aus der Untersuchung von Lebensfor men, die nicht den gangigen Leitbildern entsprachen, wei! sie vom Mainstream des gesellschaftlich Erwarteten innerhalb ei ner gegebenen Rolle abwichen, wie etwa kranke Hausvater oder sich dem Modell dominanter Mannlichkeit teilweise oder weitgehend entzogen wie Priester, Sodomiter oder Kastraten. 1m zweiten Teil des Bandes stehen mit den Praktiken die alltag lichen Konstruktionen der Geschlechterrollen durch Handlun gen - in der Gaststatte, vor Gericht oder auf der StraBe - im Vordergrund, auch wenn uns diese natiirlich ebenfalls fast aus schlieBlich in bestimmten Diskursen uberliefert sind. Talkenberger nutzt die in der Forschung mittlerweile gut ein gefuhrten Leichenpredigten erstmals systematisch, urn die dar in enthaltenen Madelle fur mannliche Lebenswege im hohen und niederen Adel sowie im Burgertum zu rekonstruieren und mit entsprechenden Rollenmustern fur Frauen zu vergleichen. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Krankheitserfahrung als Auslbser mannlicher Lebens(lauf)krisen sowie deren Bewalti gung. Ob der an diesem Quellenkorpus erkennbare hohe Stel lenwert religioser Praktiken fur mannliche Lebensbewaltigung in der Fruhen Neuzeit verallgemeinerbar ist, ware zu erfor schen. Durr greift die paradoxe Mannlichkeit katholischer Seelsor gegeistlicher auf, die zwar ehelos bleiben, aber gleichzeitig die »Herde« der Glaubigen wie ein »guter Hirte« fuhren sollten. Nach den von ihr ausgewerteten Predigten gehen in die prie sterliche Selbstdeutung mannliche und weibliche Bilder ein.
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Damit wird eine interessante Losung fUr das - eben erst moder ne - Problem vorgestellt, Gender unter zumindest impliziter Ausklammerung von Sexualitat zu konstruieren. Hergemoller greift die Diskursivierung von Sexualitat im Ve nedig des 15. Jahrhunderts auf. Damals sollte Heterosexualitat als Standard entwickelt und durchgesetzt werden. Er be schreibt damit eine wichtige Grenzziehung einer »Obrigkeit« fUr gesellschaftlich erwiinschte und nicht erwiinschte Mann lichkeit. Die hier dargestellte Sexualitatskonstruktion als Ergeb nis obrigkeitlicher Repression eroffnet nicht nur Perspektiven auf weitere repressive Diskursformationen wie etwa die Inqui sition des 16. Jahrhunderts mit ihrem graBen Interesse an mann licher Sexualitat, sondern auch auf andere, »produktive« Dis kurse zur Sexualitat und zum Korper, deren Funktionsweise Michel Foucault dargestellt hat.38 Barbiers Thema ist die Mannlichkeit der Kastraten, die er an hand von Selbst- und Fremddeutungen untersucht. Dabei kom men auch Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen mannli chen Geschlechtsrollen in den Blick. Barbier prasentiert eine er staunliche friihneuzeitliche Konstruktion von Mannlichkeit, die offenbar der Zeugungsfahigkeit als Grundlage nicht be durfte. Damit wird nicht zuletzt an den bisher ebenfalls fast nicht erforschten Bereich der mannlichen Impotenz als For schungsdesiderat erinnert.39 Barbier bietet also ein methodisch besonders eindrucksvolles Beispiel fUr die erstaunlich freie Konstruierbarkeit von Geschlechterrollen. Weit iiber einseitige Zuschreibungen - etwa in repressiven oder padagogischen Dis kursen - hinaus fUhren hier gerade die Attributionen zwischen Personen verschiedener Geschlechter - also die im Genderkon zept wichtigen relationalen Aspekte - zu bemerkenswerten Umdeutungen der »iiblichen« Mannerrolle beim Aushandeln der Rollenkonstruktion.4o Vorstellungen iiber Geschlechterbeziehungen werden nicht erst seit dem Beginn der allgegenwartigen Werbung von bild lichen Darstellungen mitgepragt. Bischoff untersucht ein der artiges friihneuzeitliches Quellenkorpus, die Darstellung von Herkules und Omphale. W ahrend diese Ikonographie im 16. Jahrhundert die Geschlechterhierarchie noch erkennbar in Frage stellte, indem sie Herkules als der Omphale untergeord net vorfiihrte, setzt sich in spateren Darstellungen immer mehr eine Umdeutung des Stoffes zu einer Liebespaarszene durch.41
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Der Beitrag regt dazu an, andere Bildthemen und Medien sowie deren Rezeption fur die Geschichte der Konstruktion von Mannlichkeit heranzuziehen.42 Mit dem Beitrag von Frank treten die Praktiken starker in den Vordergrund. Er greift ein als typisch mannlich geltendes Verhalten, das gesellige Trinken auf. Ausgehend von anderen Forschungen zum mannlichen Alkoholkonsum unterstreicht Frank die Schwierigkeiten der Rollenerfullung, die er zunachst aus dem herrschenden Diskurs uber das richtige Trinken rekon struiert.43 Widerspruchliche Anforderungen an Mannerrollen hatte schon die Frauen- und Geschlechtergeschichte konsta tiert, das Bewaltigen der damit zusammenhangenden Proble me konnte gut ein T hema der neuen Mannergeschichte werden, worauf auch der Beitrag von Schwerhoff hindeutet. Schmidt greift ein zentrales Interpretament der fruhneuzeit lichen Gesellschaft, das Patriarchat, wieder auf, und unter streicht dabei dessen bisher zu wenig beachtete Zweischneidig keit fur die Manner.44 Er bestreitet nicht, daB der Diskurs uber die Hausvaterrolle ein besonders geeignetes Beispiel fur Legi timationen von Mannerherrschaft innerhalb patriarchalisch ge pragter Geschlechterbeziehungen war. Das Modell patriarcha lischer Herrschaft weist nach Schmidt neben dieser zentralen Asymmetrie aber sekundar Einschrankungen fur mannliches Verhalten auf, die zu einer langsamen Veranderung traditionel ler Mannerrollen beitragen konnten. Insofern erweist sich selbst eine erneute Analyse des Patriarchats, die seine Funktionsweise in der Praxis beachtet, als fruchtbarer Ansatz fur die Rekon struktion von differenzierteren Aspekten der Mannerrolle. Schwerhoff geht der Frage nach, ob und wie Manner durch Fluchen ihre Rolle inszenierten. Auf einem geschlechterge schichtlich eleganten Umweg uber die fluchenden Frauen ar beitet er das spezifisch »Mannliche« am Fluchen heraus und unterstreicht so den relationalen Charakter der Kategorie Ge schlecht. Schwerhoff wirft das Problem der kompensatorischen Funktion lautstarker Rolleninszenierungen innerhalb bestimm ter Formen von Mannlichkeit als ein Zeichen besonderer Fragi litat machtloser Manner auf. Als Perspektive ergibt sich daraus die allgemeinere Frage nach den psychosozialen Hintergrun den expressiver Formen von Mannlichkeit.45 Loetz arbeitet kbrpersprachliche Umgangsformen von Man nern anhand von Handeln im Zuricher Umland heraus. Sie un-
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tersucht, ob einige der untersuchten Verhaltensweisen als ty pisch »mannlich« charakterisiert werden kbnnen. Kbrperspra che wird, wie die entstehende Geschichte der Gesten zeigt, au lSerhalb von Beleidigungsritualen in vielen anderen sozialen Feldern eingesetzt: Die Protestforschung bietet dazu ebenso rei ches Material wie die religibse Ikonographie oder die Darstel lung von Ehepaaren.46 Anhand dieser Forschungsgegenstande und Quellen lielSe sich unser Bild von der Geschlechtsspezifik der Kbrpersprachen erheblich erweitern. Diese Beitrage lassen neben den genannten Forschungsper spektiven die Umrisse einer empirisch gesattigten Theorie der Konstruktion von Mannerrollen erkennen. Bereits unter den Autoren solcher Konstruktionen zeigen sich neben dem betrof fenen Mann oder der Frau selbst eine ganze Reihe weiterer Per sonen, die das eigene oder ein anderes Geschlecht haben kbn nen, der eigenen oder einer fremden Kultur angehbren kbn nen.47 Schon auf dieser Ebene entsteht eine Ftille von Konsens oder Dissensmbglichkeiten tiber eine Rollenkonstruktion. Ge schlechtsrollenkonstruktionen verfahren mindestens nach drei Modellen. Sie sind erstens binar nach dem Schema mann lich/weiblich, mannlich/unmannlich und menschlich/tierisch konstruiert. Die Bilder von Mannlichkeit und Unmannlichkeit sind nicht immer gleich auf eine Mann-Frau-Polaritat reduzier bar. Sie verdienen deshalb neben der letztgenannten Differenz eine eigenstandige Betrachtung. Das Schema menschlich/tie risch verweist hinsichtlich der alkoholisierten Manner, ahnlich wie bei den betrunkenen Frauen, auf tiefsitzende Angste vor dem Abgleiten in einen tierischen Zustand, der offenbar gegen tiber den Verweiblichungs- oder den Angsten vor Unmannlich keit eine weitere Grenze der Mannlichkeit bezeichnet.48 Zweitens ist eine trinare Variante weiblich/ mannlich/ an ders feststellbar, die bereits an spiitere Versuche zur Konstruk tion eines »dritten Geschlechtes« erinnert.49 Bei allen diesen Po larisierungen ware erst noch zu klaren, ob mannlich/weiblich durchgehend die Dominante ist oder nicht die allgemeinere Di stinktion mannlich/unmannlich im Vordergrund steht.50 Drittens kommen neben den Polarisierungen Losungen nach dem Modell mehr oder weniger erfolgreicher, richtiger oder an derer Rollenerfiillung haufig vor. Hat man erst einmal akzep tiert, daIS mannliches Geschlecht in hohem MalS kulturell kon struiert wird, dann werden weitere Forschungen die vielfalti-
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gen Rollenaneignungen, also das »doing gender« vertiefen milssen. In der Praxis dilrften sich dann »mannliche« Ge schlechtsrollen oft als eine komplexe Mischung der angeblich mannlichen bzw. weiblichen Elemente der Geschlechtsrollen konstruktion darstellen.51 Gerade dies filhrt dann zu den be kannten Angsten vor Unmannlichkeit oder »Effeminierung« , also unzureichender Rollenerfilllung.52 Inwieweit das von Loetz praferierte Subtraktionsverfahren weiterfilhrt, das den gemeinsamen Fundus von Praktiken als ungeeignet zur Ab grenzung der Geschlechter ausgliedert und nur den unter schiedlichen Rest zur Geschlechtsrollenkonstruktion beibehalt, mil15te deshalb an weiteren Beispielen geprilft werden. Schlie15lich gehen in die Rollenkonstruktion Orte, Objekte und Situationen ein, die dann noch nach den sozialen (Stand, Vermogen) und anderen Stufungen (Alter, Zivilstande) unter schiedliche Bedeutungen gewinnen konnen. Die Vielfalt der Konstruktionsmoglichkeiten und der damit einhergehenden Varianten und Dissense verstarkt sich weiter auf der Ebene der eingesetzten Medien. Von der Vielfalt denkbarer »Texte« wur den hier nur Sprache und Bilder betrachtet; das T heater ware ein weiteres interessantes Medium, das wie die anderen jeweils spezifische Produktions- und Aneignungsmoglichkeiten kon stituiert. Neben diesen vielschichtigen Elementen, die in die Rollen konstruktion eingehen, mil15te man weiterhin die unterschied lichen Weisen, Rollen zu erfilllen bzw. zu inszenieren, untersu chen. Da15 und in welchem Ausma15 Wahl- und Aneignungs moglichkeiten bestanden, erwies selbst die Analyse der relativ typisierten Leichenpredigten. Diese bewu15t schematisierenden Uberlegungen zeigen zweierlei: Einerseits konnte das Thema der Konstruktion von Geschlechterrollen mit den hier vorliegenden Untersuchungen nur angerissen werden, urn auf die Vielfalt weiterer For schungsmoglichkeiten zu verweisen. Andererseits setzt sich je der Versuch, schnell dominante Mannerrollen zu behaupten, dem Verdacht aus, von den dargestellten vielfaltigen Bedingun gen zu abstrahieren und den enormen Rollenvorrat auch -der stratifizierten und sich ausdifferenzierenden Gesellschaften des Spatmittelalters und der Frilhen Neuzeit zu unterschatzen. Bei der Rekonstruktion von Geschlechterrollen ist die auswahlende und gewichtende, bewertende und synthetisierende Rolle des
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Historikers bzw. der Historikerin offenbar in besonderer Weise entscheidend fUr die Ergebnisse.53 Deshalb scheinen mir rekon struierte Identitaten in der Geschlechtergeschichte nur dann ak zepta�el, wenn sie auch die Widerspruchlichkeit und Bruchig keit innerhalb eines Lebens zum Konstituens von »Mannlich keiten« und »Weiblichkeiten« machen. Die neue Mannergeschichte steht aufgrund ihrer doppelten Herkunft aus der Geschlechtergeschichte und der Geschichte der »Homosexualitat« sowie mit den an sie gerichteten aktuel len Publikumserwartungen in einem ahnlichen Spannungsfeld wie die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Sie wird die schwierige Balance zwischen einer Geschichtsschreibung als Argument fur Emanzipation und einer Historiographie als Re konstruktion »historischer Mannlichkeiten« herstellen mussen. Aufgrund des eingangs erwahnten Ruckstands der deut schen mannergeschichtlichen Forschung kann mit diesem Band nur ein AnstolS zum weiteren Dialog uber eine »neue Manner geschichte« gegeben werden. Dieser ist ganz im Sinn von Nathalie Zemon Davis gemeint, die bereits 1976 in einem erst 1989 ins Deutsche ubersetzten Aufsatz schrieb: »Auf jeden Fall ist fUr den Bereich der Frauengeschichte klar, daIS die von Mau ern umgebene Stadt der Damen dem offenen Forum, vielleicht dem Kampfplatz fur die ernsthafte Forschung uber die Ge schlechter weichen mulS: von den Bedeutenden [sic!] Frauen zu einer bedeutenderen Zunft.«54 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben damit begonnen. Es kame nun nicht zu letzt darauf an, daIS weitere Manner das Dialogangebot der Ge schlechtergeschichte aufgreifen. Es ist Zeit fur eine >>neue Man nergeschichte«!
Anrnerkungen 1 In diesen Text sind Diskussionen uber Vortrage des Autors zu den Perspektiven einer »Mannergeschichte« an den Universitaten Heidelberg (Mai 1994) und Osnabruck (Dezember 1997), bei einer Tagung zur Frauen und Geschlechtergeschichte in der Akademie der Diozese Rottenburg Stuttgart in Stuttgart-Hohenheim (Oktober 1994) sowie die Gesprache mit Studenten und Studentinnen der Universitat Mannheim, die an einer Quel lenubung zur Mannergeschichte im Sommersemester 1996 teilnahmen, ein geflossen. Der vorliegende Band wurde zunachst im Juni 1996 auf einer
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Werkstattagung im Institut fUr Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, vorbereitet; im September 1996 wurden beim Histori kertag in Miinchen einige Beitrage in einer gut besuchten Sektion disku tiert,vgL Mannergeschichte als Geschlechtergeschichte,in: Weinfurter,Ste fan/Siefarth, Frank Martin (Hg.): Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in Miinchen,17.-20. September 1996,Berichtsband,Munchen 1997, 114-120. S. dazu Minkmar, Nils: »Historiker im Weltraum<<. Welches Geschlecht hat die Geschichte?, in: Suddeutsche Zeitung 21./ 22.9.1996,18, - Fur Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung danke ich Erik Rundal (M.A.). 2 Dazu ist der im Auftrag der International Federation for Research in Women's History herausgebrachte Forschungsuberblick sehr instruktiv: Offen, Karen (Hg.): Writing Women's History : International Perspectives, Bloomington 1991; vgL zuletzt Rosenberger, Sieglinde: Women's History ein Fach macht Geschichte,in: L'Homme. Zeitschrift fur Feministische Ge schichtswissenschaft (Z.F.G.) 6 (1995), 187-200,sowie weitere Beitrage die ser Nummer; Freist, Dagmar: Zeitschriften zur historischen Frauenfor schung. Ein internationaler Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996),97-117. 3 Zuletzt Rosenhaft, Eve: Zwei Geschlechter - eine Geschichte? Frau engeschichte, Mannergeschichte, Geschlechtergeschichte und ihre Folgen fur unsere Geschichtswahrnehmung,in: Eifert,CHristiane/Epple,Angelika u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Manner? Geschlechterkonstruktio nen im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1996, 257-274, 271; vgL auch Pomata,Gianna: Partikulargeschichte und Universalgeschichte. Bemerkun gen zu einigen Handbuchern der Frauengeschichte, in: L'Homme. Z.F.G. 2 (1991),5-44. Der litel dieser Zeitschrift, die mit der Namensgleichheit der franzosischen ethnographischen Zeitschrift spielt,reprasentiert gut den be schriebenen Anspruch. Dem dienen auch die entstehenden Handbucher wie z. B. Kleinau,Elke/Opitz,Claudia (Hg.): Geschichte der Madchen- und Frauenbildung, 2 Bde.,Frankfurt/M. 1996 oder Gerhard,Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, Miinchen 1997. 4 Wunder, Heide: "Er ist die Sonn, sie ist der Mond«, Munchen 1992, 7. 5 Wunder (1992),9. Demgegenuber wirkt der Untertitel des folgenden, urn 1987 entstandenen Aufsatzes, noch etwas verhaltener: Dies.: Histori sche Frauenforschung. Ein neuer Zugang zur Gesellschaftsgeschichte, in: Affeldt,Werner (Hg.): Frauen in Spatantike und Fruhrnittelalter. Lebensbe dingungen - Lebensnormen - Lebensformen, Sigmaringen 1990, 31-41. 6 In einigen rezenten Sammelbanden zur »Geschlechtergeschichte« oder den »Geschlechterverhaltnissen« findet man folgende Anteile von Ar tikeln, die vorwiegend Frauen (erste Zahl), vorwiegend Manner (zweite Zahl),gleichwertig beide Geschlechter (dritte Angabe) behandeln: Hausen, Karin (Hg.): Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung, Gottingen 1993: (4/1/4); Jaun, Rudolf/ Studer, Brigitte (Hg.): weiblich - mannlich. Ge schlechterverhaltnisse in der Schweiz: Rechtsprechung,Diskurs,Praktiken, Zurich 1995: (10/4/ 4); Meinel, Christoph/Renneberg, Monika (Hg.): Ge schlechterverhaltnisse in Medizin,Naturwissenschaft und Technik,Bassum 1996: (24/4/6); Eifert/Epple (1996): (6/2/3); Wunder, Heide/Vanja, Chri-
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stina (Hg.): Weiber,Menscher,Frauenzimmer. Frauen in der landlichen Ge sellschaft, 1500-1800, Gottingen 1996: (12/ 0/0); vgl. auch Bd. 45 der West falischen Forschungen (1995) zu »Weiblichkeit und Mannlichkeit als soziale und kulturelle Praxis im 19. und 20. Jahrhundert«. Ahnlich verteilt waren die Themenzuschnitte auf dem »31. Kongre15 der Deutschen Gesellschaft fur Volkskunde« 1997 in Marburg zu dem Thema »Mannlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur«. Uber Zuordnungen mag man im einzelnen trefflich streiten. Derartige Berechnungen sind m. E. aber grundsatzlich auch dann zulassig, wenn man Geschlecht immer als relationale Kategorie betrachtet und Diskurse von Mannern tiber Frauen oft mehr tiber die Manner als tiber die Frauen aussagen; vorrangige Erkennt nisinteressen bleiben trotzdem offensichtlich. 7 Zu solcher Forschung wird auch in Deutschland aus dem Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit 1988 eingeladen, vgl. bes. Bock, Gisela: Women's History and Gender History: Aspects of an Inter national Debate, in: Gender & History 1 (1989), 7-30, 17 f.; weitere Einzel nachweise bei Ktihne, Thomas: Mannergeschichte als Geschlechterge schichte, in: Ders. (Hg.): Mannergeschichte - Geschlechtergeschichte. Mannlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt/ M. 1996, 7-30, 24, Anrn. 10; s. zuletzt die Forschungsnotiz zur Geschlechtergeschichte in Ro per, Lyndal: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt/M. 1995,228-232,vgl. auch Dies.: Odipus und der Teufel. Korper und Psyche in der Frtihen Neuzeit,Frankfurt/M. 1995. Mogliche Konturen des Feldes wurden im deutschsprachigen Raurn bisher in einem Themen heft von WerkstattGeschichte 6 (1993) sowie jiingst mit dem Band der Lite raturwissenschaftler Erhart, Walter/Herrmann, Britta (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Mannlichkeit, Stuttgart 1997, expli ziert. Deshalb empfiehlt sich ein Blick auf die letzten Forschungsberichte zur »Geschlechtergeschichte«, vgl. z. B. Habermas, Rebecca: Geschlechter geschichte und »anthropology of gender«. Geschichte einer Begegnung,in: Historische Anthropologie 1 (1993), 485-509, 490, 505; Ulbrich, Claudia: Frauen- und Geschlechtergeschichte,in: Geschichte in Wissenschft und Un terricht 45 (1994), 108-120; Dies: Uberlegungen zur Erforschung von Ge schlechterrollen in der landlichen Gesellschaft, in: Peters, Jan (Hg.): Guts herrschaft als soziales Modell, Miinchen 1995, 359-364, sowie auf die in Anrn. 6 genannten Sammelbande. 8 Als besonders anregende Beispiele mogen gentigen: Frevert, Ute: Ehrenrnanner. Das Duell in der btirgerlichen Gesellschaft, Mtinchen 1991; Dies.: »Mann und Weib und Weib und Mann«: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, Miinchen 1995. EinflulSreich war auch der folgende Ausstel lungskatalog: V olger,Gisela/ Weick,Karin v. (Hg.): Mannerbtinde,Manner bande. Zur Rolle des Mannes irn Kulturvergleich, 2 Bde., Koln 1990. Dar tiber hinaus waren hier einige weitere Aufsatze zu nennen,die die Autoren dieses Bandes in den einzelnen Beitragen aufgreifen. 9 Frevert, Ute: Mannergeschichte oder die Suche nach dem »ersten« Geschlecht, in: Hettling, Manfred/Huerkamp, Claudia u. a. (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, Mtinchen 1991a, 31-43. 10 Vgl. z. B. Ltitkehaus, Ludger: »0 Wollust,0 Holle«. Die Onanie. Sta-
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tionen einer Inquisition, Frankfurt/M. 1992; Rohlje, Uwe: Autoerotik und Gesundheit. Untersuchungen zur gesellschaftlichen Entstehung und Funk tion der Masturbationsbekampfung im 18. Jahrhundert, Munster 1991; vgl. aber Erlach, Daniela (Hg.): Privatisierung der Triebe. Sexualitat in der fru hen Neuzeit, Frankfurt/M. 1994; vgl. auch das Themenheft 3 »Sexualitat« der Osterreichischen Zeitschrift fur Geschichtswissenschaften (OZG) 5 (1994); auch hier mehr im englischsprachigen Ausland,vgl. Cohen,Ed: Talk on the Wilde Side: Towards a Genealogy of a Discourse on Male Sexualities, New York 1993; sowie allgemeiner Rousseau, G.5./Porter, Roy (Hg.): Se xual Underworlds of the Enlightenment, Manchester 1987; Maccubin, Ro bert P. (Hg.): 'Tis Nature's fault: Unauthorized Sexuality During the Enligh- . tenment, Cambridge 1987; Porter, Roy /Teich, Mikulas (Hg.): Sexual Knowledge. Sexual Science: The History of Attitudes to Sexuality, Cam bridge 1994; Porter, Roy / Hall, Lesley (Hg.): The Facts of Life: The Creation of Sexual Knowledge in Britain 1650-1950, New Haven, 1995. Zur Ge schichte der »Homosexualitat« vgl. auch die Anmerkungen 31 und 30. 11 Die aktuellste Bibliographie ist von August, Eugene R: The New Men's Studies. A Selected and Annotated Interdisciplinary Bibliography,2. Ausgabe,Englewood 1994, nunmehr mit einer eigenen Sektion »History «, 99-113, und einigen Angaben zur quantitativen Entwicklung des For schungsfeldes auf dem Buchmarkt (Durchbruch als »Seller« seit 1990) und in den Universitaten (Verzehnfachung der Kurse zwischen 1985 und 1994 sowie Griindung eines ersten Center for Men's Studies in Berkeley), XI f. 1m Internet verfugbar ist Flood, Michael (Hg.): A Comprehensive Bibliog raphy of Writing on Men, Masculinities and Sexualities, 6. Aufl., 1997, mit einer Sektion »History of Masculinity«. Als Zeitschriften sind »The Journal of Men's Studies« und »Masculinities« zu nennen. Literaturuberblicke und -hinweise bieten Schissler, Hanna: Mannerstudien in den USA, in: Ge schichte und Gesellschaft 18 (1992), 204-220; Roper, Michael/Tosh, John (Hg.): Manful Assertions: Masculinities in Britain since 1800, London 1991, 1-24; Brod, Harry/ Kaufman, Michael (Hg.): Theorizing Masculinities, Thousand Oaks 1994; KUhne (1996), 7-30; s. als Beispiel fur eine anregende Konzeptualisierung, die Lebenszyklen und historischen Wandel beriick sichtigt Rotundo, Anthony E.: American Manhood: Transformations in Ma sculinity from the Revolution to the Modem Era,New York 1993. 12 So bezeichnen Brod/ Kaufman (1994), 2, ihren Ansatz als »profemi nist, gay affirmative, and dedicated to the enhancement of men's lives«. Aus dieser Interessenlage heraus durfte auch der folgende Band entstanden sein: Kimmel, Michael S./Mosmiller, Thomas E. (Hg.): Against the Tide: Pro-feminist Men in the United States 1776-1990. A Documentary History, Boston 1992. 13 Das gilt auch fur den ersten deutschsprachigen Sammelband zur Mannergeschichte von Kuhne (1996). 14 S. aber Lees, Clare A. (Hg.): Medieval Masculinities, Minneapolis 1994; vgl. auch Signori, Gabriela: Die verlorene Ehre des heiligen Joseph oder Mannlichkeit im Spannungsfeld spatmittelalterlicher Altersstereoty pen. Zur Genese von Urs Grafs »Heiliger Familie« (1521), in: Schreiner, Klaus/ Schwerhoff, Gerd (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaf ten des Mittelalters und der Fruhen Neuzeit, Kbln 1995, 183-213.
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15 Hintergrunde dieser Bewertung benennt Wunder (1990), 31. Vgl. weitere Einschatzungen bei Frevert (1991a), 35, und Karin Hausen: Wirt schaften mit der Geschlechterordnung, in: Dies. (1993), 40-67, 42. Zur Ge nesis des Gegenstandskanons des Faches s. auch Stollberg-Rilinger, Barba ra: Vater der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), 39-71; s. a. Hausen, Karin: Geschichte als patrilineale Konstruktion und hi storiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Burgertum in Deutschland, Berlin 1989, in: L'Homme. Z.F.G. 8 (1997), 109-131. 16 Dieser kommt auch dadurch nicht voran, daB auf den meisten Ta gungen zur » Frauen- und Geschlechtergeschichte« nur ganz wenige Man ner anzutreffen sind, die dort allerdings interessante Vergleiche mit dem Status von »Quotenfrauen« anstellen kiinnten. 17 Einige Hinweise bei Tosh, John: W hat Should Historians do with Masculinity ? Reflections on Nineteenth-Century Britain, in: History Work shop Journal 38 (1994), 179-202, 179. 18 Scott, Joan w.: Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 97 (1986), 1053-1075, 1067, hat die klassische Definition gepragt: »Gender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power«. Hilfreich sind die Zusammen stellung »klassischer Artikel« und die Einleitung bei Schissler, Hanna (Hg.): Geschlechterverhaltnisse im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1993. Die weitere Diskussion zum Konzept ist vielschichtig; vgl. z. B. das Editorial von Gender & History 1 (1989), 1-{i, sowie Hey, Barbara: Die Entwicklung des gender-Konzepts [sic] vor dem Hintergrund poststrukturalistischen Denkens, in: L'Homrne. Z.F.G. 5 (1994), 7-27; Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Einige kritische Anrnerkungen zu aktuellen Versuchen zu einem neuen Verstandnis von »Geschlecht« , in: Institut fUr Sozialfor schung Frankfurt (Hg.): Geschlechterverhaltnisse und Politik, Frank furt/ M. 1994, 168-187; vgl. Anrn. 51. 19 Wunder (1992), 9. Die Meinung mancher Manner, es gehe beim Gen derkonzept lediglich darum, Mannerherrschaft zu entlarven, ist also unzu treffend. 20 Ebd., zum folgenden bes. 96 ff. 21 S. zur Rekonstruktion der asy mmetrischen Chancen auf dem Ar beitsmarkt und der Diskursivierung von Arbeit im Sinn des Ernahrermy thos auch Zachmann, Karin: Manner arbeiten, Frauen helfen. Geschlechts spezifische Arbeitsteilung und Maschinisierung in der Textilindustrie des 19. Jahrhunderts, in: Hausen (1993), 71-96, sowie die Beitrage von Ursula Baumann und Susanne Rouette, ebd.; vgl. auch Gilmore, David: Mythos Mann. Wie Manner gemacht werden, Munchen 1993. 22 Hausen, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« . Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stutt gart 1976, 363-393; vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnungen der Geschlech ter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850, Frank furt/M. 1991.
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23 Frevert (1995), 13 ff. Zu Wbrterbuchern als Quelle vgl. Reichardt, Rolf: Einleitung, in: Ders./ Schrnitt,Eberhard (Hg.): Handbuch politisch-so zialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Heft 1/2, Munchen 1985, 39-148,86 ff. 24 Trepp,Anne-Charlott: Sanfte Mannlichkeit und selbstandige Weib lichkeit. Frauen und Manner im Hamburger Burgertum zwischen 1770 und 1840,Gbttingen 1996; vgl. dazu ebenfalls anhand von nicht zur Verbffentli chung gedachten brieflichen Aul5erungen Herrmann, Britta: Auf der Suche nach dem sicheren Geschlecht. Mannlichkeit urn 1800 und die Briefe Hein rich von Kleists, in: Erhart/Herrmann (1997), 212-234. 25 Frevert (1991). 26 KUhne (1996). 27 Ebd., 23. 28 Fletcher, Anthony : Gender, Sex, and Subordination in England 1500--1800, New Haven 1995. 29 Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. 1992. Einzelkritik zu Laqueurs Kbrperbild des Mittelalters kbnnte seine Gesamtthese etwas rela tivieren. Die Bezuge einer neuen Mannergeschichte zur Kbrpergeschichte lotet Schmale in seiner Einleitung Gender Studies, Mannergeschichte, Kbr pergeschichte aus: Schmale, Wolfgang (Hg.): MannBilder. Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Mannerforschung, Berlin 1998, 7-33, die er mir freundlicherweise vorab zur Lekrure uberliel5; vgl. Dinges, Martin: Se xualitatsdiskurse in der Friihen Neuzeit, in: Sozialwissenschaftliche Infor mationen (SOWI) 24 (1995),12-20. 30 An dieser Periodisierung durch Fletcher wird ubrigens der enge zeit liche Zusarnrnenhang zwischen starkeren Polarisierungen der Geschlechts charaktere und der kulturellen Konstruktion neuer »verweiblichter« Ty pen von Homosexuellen erkennbar,auf den die Geschichte der Homosexualitat bereits fruher hingewiesen hatte; vgl. Meer,Theo van der: Sodoms zaad in Nederland. Het ontstaan van homoseksualiteit in de vroegmoderne tijd, Nijmegen 1995,38, mit Bezug auf altere Arbeiten. 31 Die verschiedenen Bezeichnungen fur diese Forschungsrichtung,die zumeist als »Geschichte der Homosexualitat« (mit oder ohne Anfiihrungs striche) firmiert, verweisen auf unterschiedliche thematische Akzentset zungen, vgl. Lautmann, Rudiger (Hg.): Homosexualitat. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt/M. 1993. Vgl. als Hinweis auf einen nach Hergemoller notwendigen historiographischen Perspekti venwechsel Hergemoller,Bernd-Ulrich: Miinster von hinten,in: Stadtbuch. 1200 Jahre Munster, Miinster 1993, 57-70; ansonsten zum Stand der deutschsprachigen Forschung: Ders.: Homosexuelles Alltagsleben im Mit telalter, in: Zeitschrift fur Sexualforschung 5 (1992), 111-127, bes. 114 ff.; Ders.: Sodomiter. Erscheinungsformen und Kausalfaktoren des spatmittel alterlichen Kampfes gegen Homosexuelle, in: Ders. (Hg.): Randgruppen in der spatmittelalterlichen Gesellschaft, 2. Aufl., Warendorf 1994, 361-403; Schneider-Lastin,Wolfram/Puff, Helmut: Und solt man alle die so das tu end verbrennen,es bliben nit funffzig mannen jn Basek Homosexualitat in der deutschen Schweiz im Spatrnittelalter, in: Puff, Helmut (Hg.): Lust, >
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Angst und Provokation. Homosexualitat in der Gesellschaft, G6ttingen 1993, 79-103. - AuBerhalb des deutschen Sprachraums ist bereits mehr auch uber die Fruhe Neuzeit - entstanden, vgl. den aktuellsten Forschungs uberblick bei Meer (1995), 37 ff., sowie Gerard, Kent/Hekma, Gert (Hg.): The Pursuit of Sodomy: Male Homosexuality in Renaissance and Enligh tenment Europe, New York 1989; Dubennan, Martin u. a. (Hg.): Hidden from History. Reclaiming the Gay and Lesbian Past, New York 1989. Anre gend ist auch Brug, Barry Richard: Sodomy and the Pirate Tradition. Eng lish Sea Rovers in the Seventeenth-Century Caribbean, New York 1984. 32 Diese Rolle ist bezeichnenderweise bisher vorrangig Gegenstand der wenigen Untersuchungen zu fruhneuzeitlichen Mannerrollen gewesen: Fruhsorge, Gotthard: Die Begriindung der >vaterlichen Gesellschaft< in der europaischen oeconomia christiana, in: Tellenbach, Hubertus (Hg.): Das Va terbild im Abendland, Bd. 1, Stuttgart 1978,110-123; Tellenbach, Hubertus: Niedergange und Aufstiege des Vaters in der europaischen Dichtung der Neuzeit, in: ebd., Bd. 2,Stuttgart 1978,7-14; Knibiehler, Yvonne: Les peres aussi ont une histoire, Paris 1987 (deutsch als: Die Geschichte der Vater, Freiburg 1996); Dumas, Maurice: Les conflits familiaux dans les milieux dominants au XVIIIe siecle, in: Annales E.5.C. 42 (1987), 901-923, bes. 916 ff.; Miinch, Paul: Die »Obrigkeit im Vaterstand«. Zur Definition und Kritik des »Landesvaters« wahrend der Fruhen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982),15-40; Ders.: »Vater Staat«. Staatsmanner als Vaterfiguren?, in: Faul stich, Werner/ Grimm, Gunter E. (Hg.): Sturz der Gotter? Vaterbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989, 67-97; Roper, Lyndal: Mannlichkeit und mannliche Ehre, in: Wunder, Heide/Hausen, Karin (Hg.): Frauenge schichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt/M. 1992, 154-172, mit Beto nung der dysfunktionalen Wirkungen mannlicher Trinksitten fur die Haus vaterrolle; Roper (1995); Muller, Maria E.: Naturwesen Mann. Zur Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Ehelehren der Fruhen Neuzeit, in: Wunder, Heide/Vanja, Christina (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehun gen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991,43-68; zuletzt Lenzen, Die ter: Kulturgeschichte der Vaterschaft, in: Erhart/ Hernnann (1997),87-113; s. a. Habermas, Rebekka: Die Sorge urn das Kind: Die Sorge der Frauen und Manner. Mirakelerzahlungen im 16. Jahrhundert, in: Bachorski, Hans-Jur gen (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualitat in Spat mittelalter und Fruher Neuzeit, Trier 1991,165-183. 33 Vgl. den Titel von Connell, R[obert] w.: Masculinities. Knowledge, Power and Social Change, Berkeley 1995, und von Brod/ Kaufman (1994). Dezentrierung wird zur Leitvorstellung postmoderner Geschichts schreibung; vgl. dazu Conrad, Christoph/Kessel, Martina: Geschichte ohne Zentrum, in: Dies. (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beitrage zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 9-36. 34 Darin trifft sich diese Forschung mit dekonstruktivistischen Tenden zen in der Ethnography; vgl. etwa Cornwall, Andrea/Lindisfarne, Nancy (Hg.): Dislocating Masculinity. Comparative Ethnographies, London 1994, wo in den Titeln der Einzelbeitrage auch mehrfach die »masculinities« im Plural auftauchen. 35 Diese Oberlegung geht zuruck auf Connell, R[obert] w.: Gender and Power, Cambridge 1987; vgl. Ders. (1995), 76 ff.; die bereits vorangeschrit-
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tene historiographische Umsetzung im englischen Kontext reflektiert Tosh (1994), 191 f. 36 Das entspricht dem dritten zu erforschenden Bereich der Mannerge schichte bei Kiihne (1996), 23. Vgl. bereits Wunder, Heide: Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15.-17. Jahrhundert), in: Ei fert/Epple (1996), 122-155,sowie mit einer Betonung konkurrierender,Rol lenanforderungen Wortman,Richard: Images of Rule and Problems of Gen der in the Upbringing of Paul I and Alexander I, in: Mendelsohn, Ezra/ Shatz, Marshall S. (Hg.): Imperial Russia 1700-1917, State, Society, Opposition (Essay s in Honor of Marc Raeff), Dekalb 1988, 58-75, und als Vorarbeiten des Herausgebers Dinges, Martin: Soldatenkarper in der Frii hen Neuzeit. Erfahrungen mit einem unzureichend geschiitzten,formierten und verletzten Karper in Selbstzeugnissen,in: Diilmen,Richard van (Hg.): Karper-Geschichten, Frankfurt/M. 1996, 71-98; Dinges, Martin: Schmerz erfahrung und Miinnlichkeit. Der russische Gutsbesitzer Andrej Bolotow (1738-1795), in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 15 (1997), 55-78. Mannliche Identitatsbildung kommt in den Beitragen zu Schulze,Winfried (Hg.): Ego-Dokumente. Annaherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, nur marginal in den Blick, vgl. z. B. 162 (Ulbricht), 221 (Ul brich). 37 Ich orientiere mich dabei am Diskursbegriff von Michel Foucault. 38 Foucault, Michel: Geschichte der Sexualitat, Bd. 1-3, Frankfurt/M. 1977,1986. Zur Auseinandersetzung mit der von Foucault inspirierten »Or thodoxie« vgL Broughton, Trev: Birds, Bees, and Hamsters. New Histories of Sex, in: Isis 87 (1996), 319-322; Eder, Franz X.: Die Historisierung des sexuellen Subjekts. Sexualitatsgeschichte zwischen Essentialismus und so zialem Konstruktivismus,in: bZG 5 (1994),311-327; Ramazanoglu,Caroli ne (Hg.): Up against Foucault. Explorations of Some Tensions Between Fou cault and Feminism, London 1993; Foxhall, Lin: Pandora Unbound. A Feminist Critique of Foucault's History of Sexuality, in: Cornwall/Lindis fame (1994),133-146. Vgl. die Hinweise auf einige Diskurskorpora fiir die Friihe Neuzeit bei Dinges (1995), 12 ff. Geschlechtsspezifische Diskurs macht driickt sich auch bei der Zurechnung von Vernunft hinsichtlich der medizinischen Behandlung des Karpers aus,vgl. am Beispiel eines medizi nischen »Aufklarers« Dinges, Martin: Medizinische Aufklarung bei Johann Georg Zimmermann. Zum Verhaltnis von Macht und Wissen bei einem Arzt der Aufklarung, in: Fontius, Martin/Holzhey, Helmut (Hg.): Schwei zer im Berlin des 18. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 137-150,140 f. 39 Vgl. Pierre Darmon: Le tribunal de l'impuissance. Virilite et defail lances conjugales dans l'Ancienne France, Paris 1979. Eine Dissertation zur Impotenz in der Friihen Neuzeit wurde auf Anregung des Herausgebers (M.D.) begonnen. 40 Damit fiihrt sein Ansatz wesentlich weiter als entsprechende For schungen zu den by zantinischen Eunuchen,vgL Tougher,Shaun E : Byzan tine Eunuchs: An Overview, with Special Reference to their Creation and Origin, in: James, Liz (Hg.): Women,Men and Eunuchs. Gender in Byzan tium,London 1997. 41 Zur Rekonstruktion der weiteren Geschichte dieses Paares anhand literarischer Quellen vgl. Kimmich, Dorothee: Herakles,Heldenposen und
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Narrenpossen. Stationen eines Mannermy thos?, in: Erhart/Herrmann (1997), 173-191. 42 Beispiele bei Hughes, Diane 0.: Representing the Family. Portraits and Purposes in Early Modern Italy, in: Rotberg, Robert/Rabb, Theodore K. (Hg.): Art and History. Images and their Meaning, Cambridge 1988,7-38; bei Wunder (1996) (Nutzung von Trachtenbuchern); Hammer-Tugendhat, Daniela: Korperbilder. Abbild der Natur? Zur Konstruktion von Geschlech terdifferenz in der Aktkunst der Friihen Neuzeit, in: L'Homme. Z.F.G. 5 (1994),45-58. 43 Roper (1992); Tlusty, B. Ann: Das ehrbare Verbrechen. Die Kontrolle uber das Trinken in Augsburg in der Fruhen Neuzeit, in: Zeitschrift des historischen Vereins fUr Schwaben 85 (1992), l33-155. 44 Davon ist zunachst das Patriarchatskonzept aus der Friihzeit der Frauengeschichte zu unterscheiden, dessen Ambivalenzen fur diesen For schungsansatz schon Hausen, Karin: Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts fur Frauengeschichte und Frauenpolitik, in: Journal fur Ge schichte 5 (1986), 12-21, 58, unterstrich. Eine theoretische Neubewertung bei Offenbartl, Susanne: Keine Moderne ohne Patriarchat? Das Geschlech terverhaltnis als handlungsleitende Denkstruktur der Moderne. Ein politik wissenschaftliches Modell, Opladen 1995. 45 Ein ahnliches Beispiel fur mannliche Inszenierung ware der mannli che Drohbarock« im Kontext von Ehrenhandeln; vgl. dazu Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Gottingen 1994,369, und allgemeiner Ders.: Ehre und Geschlecht in der Friihen Neuzeit, in: Backmann, Sibylle u. a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Fruhen Ne.uzeit. Identitaten und Abgrenzungen, Berlin 1998, 123-147. Zur Stilisierung vgl. Ders.: »Historische Anthropolo gie« und » Gesellschaftsgeschichte«: Mit dem Lebensstilkonzept zu einer » Alltagskulturgeschichte« der Friihen Neuzeit?, in: Zeitschrift fUr Histori sche Forschung 24 (1997), 179-214. 46 Bremmer, Jan/Roodenburg, Herman (Hg.): A Cultural History of Gesture, Ithaca 1991; vgl. auch Hughes (1988) sowie den Versuch bei Vol ker-Rasor, Annette: Bilderpaare - Paarbilder. Die Ehe in Autobiographien des 16. Jahrhunderts, Freiburg 1993. Vgl. zum Theater Roodenburg, Her man: Manliness Embodied: Painting, Acting and Civility in the Dutch Re public, in: Weinfurter/Siefarth (1997),119. 47 Vgl. dazu vorerst Jiitte, Robert: Der judische Mann. Selbst- und Fremdstereotypen, in: Weinfurter/Siefarth (1997), 118; Cantor, Aviva: Je wish Women/Jewish Men. The Legacy of Patriarchy in Jewish Life, San Francisco 1995. 48 V gl. dazu Kimmel, Michael S.: Masculinity as Homophobia: Fear, Shame, and Silence in the Construction of Gender Identity, in: Brod/Kauf man (1994),119-142. 49 Vgl. dazu Jones, Ann Rosalind/Stallybrass, Peter: Fetishizing Gen der: Constructing the Hermaphrodite in Renaissance Europe, in: Epstein, Julia/Straub, Kristina (Hg.): Body Guards. The Politics of Gender Ambigui ty, New York 1991,80-111; Trumbach, Randolph: London's Sapphists: From Three Sexes to Four Genders in the Making of Modern Culture, in: ebd., 112-141; sowie als empirisches Beispiel Brown, Kathleen: » Changed . . . into »
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the Fashion of Man<<: The Politics of Sexual Difference in a Seventeenth Century Anglo-American Settlement,in: Journal of the History of Sexuality 6 (1995), 173-193; zum Kulturvergleich ist anregend Ramet, Sabrina Petra (Hg.): Gender Reversals and Gender Cultures. Anthropological and Histo rical Perspectives, London 1996; zum »dritten Geschlecht« vgl. auch Port wich, Philipp: Geschlechtsvorstellungen und medizinische Theorienbil dung in sexualpathologischen Konzepten der Jahrhundertwende, in: Meinel/Renneberg (1996), 142-147 sowie Rosario, Vernon A.: Science and Homosexualities, New York 1997; vgl. auch Anm. 30. 50 Das gilt trotz des einleuchtenden Arguments, daB mannlich/weib lich im Lebenslauf stabil und durchgehend leicht erkennbar als Unterschei dungskriterium sei. Vgl. dazu Ty rell,Hartmann: Oberlegungen zur Univer salitiit geschlechtlicher Differenzierung, in: Martin, Jochen/ Zoepffel, Renate (Hg.): Aufgaben,Rollen und Riiume von Frau und Mann,Bd. 1,Frei burg 1989,37-78, bes. 66-78. 51 Dazu zuletzt Frank, Blye W.: Masculinity Meets Postmodernism: Theorizing the >Man-Made< Man, in: Canadian Folklore Canadien 19, 1 (1997),15-34 (Sonderheft »Masculinities/Masculinih?s«). 52 Vgl. zur Frage der »Efferninierung« und damit zusammenhiingen der Angste auch: Levine,Laura: Men in Women's Clothing: Anti-theatrica lity and Effeminization from 1579 to 1642,in: Criticism 28/2 (1986),121-143; Straub, Kristina: Sexual Susp'ects: Eighteenth-Century Players and Sexual Ideology, Princeton 1992, bes. Kapitel II und III; dazu zuletzt Merrick,Jef frey: Sodomitical Inclinations in Eighteenth-Century Paris, in: Eighteenth Century Studies 30 (1997),289-295. 53 Dazu bleibt als Merkposten lesenswert Riisen,Jorn: >Schone< Partei lichkeit. Feminismus und Objektivitiit in der Geschichtswissenschaft, in: Becher, Ursula A,J./Riisen,Jorn (Hg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Per spektive, Frankfurt/M. 1988,517-542. 54 Deutsche Obersetzung in: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt/M. 1989, zuerst als Women's History in Transition: The European Case, in: Feminist Studies III (1976), 83-103. Mit der Formulie rung »Bedeutende Frauen« spielte N. Z. Davis ironisch auf eine damalige Tendenz der Frauengeschichte an,analog zur friiher iiblichen »GroBe-Man ner-Geschichte« bevorzugt »Bedeutende Frauen« zu untersuchen.
Heike Talkenberger
Konstruktion von Mannerrollen in wiirttembergischen Leichenpredigten des 16.-18. Jahrhunderts
1. Einleitung Aus einem recht unbedeutenden schwabischen Adelsge schlecht stammte der jung verstorbene Johann Wilhelm von Kechler (1728-1752).1 In der Leichenpredigt2 von Pfarrer Conz aus Iiaiterbach finden wir die Beschreibung von Leben und Personlichkeit des Adligen. Die Vorstellungen von Mannlich keit,3 wie sie uns an dieser Stelle entgegentreten, erschienen mir ungewohnlich, widersprechen sie doch den gemeinhin als >mannlich< angesehenen Tugenden von Aktivitat und Starke. Zunachst bewegte sich der Lebenslauf des Verstorbenen in >normalen< Bahnen: Er erhalt seine Ausbildung durch einen Hauslehrer in, wie es heiJSt, »allen nothigen so geistlichen als politischen Wissenschaften« 4 und wird mit 14 Jahren Page am fUrstlich-wurttembergischen Witwensitz zu Goppingen.5 Eine Kavalierstour konnte sich die bereits im 16. Jahrhundert ver armte Familie fUr ihre Sohne nicht leisten. Als Johann Wilhelm wegen »kranklicher Leibeskonstitu tion« 6 den Pagendienst quittieren muJS, ist dies ein erster Bruch in der auf eine Militar- oder Hofkarriere angelegten Biographie. Auch als Kadett im wurttembergischen Infanterieregiment bzw. der von Uxkullschen Kompanie kann er nur 15 Monate dienen: eine erneute Erkrankung verhindert die weitere Befor derung. Positiver gestaltet sich sein Privatleben: eine Heirat mit Agnes Maria von Schlepegrell im Jahre 1 748 und die Geburt eines Sohnes und einer Tochter kann Pfarrer Conz vermelden. Weitere auJSere Erfolge jedoch bleiben aus. Statt dessen werden nun die hausliche Sphare und die private Frommigkeit des Ver storbenen zum eigentlichen Bezugspunkt der Beschreibung. AusfUhrlich werden die liebevollen Beziehungen Johann
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Heike Talkenberger
Wilhelms zu seiner Ehefrau und den Kindem sowie zur feme ren Verwandtschaft dargestellt. Die ihm zugeschriebenen Ei genschaften entbehren jeglichen Herrschaftsaspekts und beto nen die GefUhlswelt: Johann Wilhelm von Kechler wird als ge horsam gegen die Mutter, treu, liebreich, friedlich, freundlich, geflissen, voll devoter Ergebenheit, als gnadig gegenuber den Dienstboten und dienstfertig gegenuber Vorgesetzten bezeich net. Abgerundet wird das Charakterbild durch die Formulie rung, es handele sich bei Kechler urn einen Herm »antiqua vir tute et fide« : er sei ein Herr eines »rechten altteutschen, redli chen, aufrichtigen Gebliiths« .7 Die in Leichenpredigten fur Militarpersonen ubliche Beschreibung von kampferischen Tu genden wird nur noch auf den Bereich der Religion angewen det: Als » christlicher Ritter« habe von Kechler »gegen die Sunde gestritten« ,s der vom Verstorbenen selbstgewahlte Leichen spruch lautet: »Ich habe einen guten Kampf gekampft!« Die tie fe Religiositat des Adligen verdeutlicht der Pfarrer in der Schil derung des Todeskampfes: von Kechler singt »mit heller Stim me, gleich einem Gesunden« ,9 bis zum Ende Chorale; er, der im Leben so gezeichnet und behindert war durch seine Brust krankheit, zeigt Starke auf dem Totenbett. Von Kechler stirbt schliefSlich mit einem versohnten Herzen und » ausnehmender Zartlichkeit« gegenuber seinen Kindem und Dienstboten.lO Die dem Verstorbenen unerreichbar gebliebene Militarkarriere wird also in dieser Leichenpredigt konterkariert durch eine Karriere des Herzens. Von Kechler erscheint als emotionaler, sanfter, ja, kindlicher junger Mann - bedenkt man die noch im mer von Gehorsam gekennzeichnete Beziehung zur Mutter, was selbst fUr einen jungen Mann ungewohnlich istll -, der im Familienkreis aufgeht und dessen kampferische Qualitaten die der Mannerrolle12 entsprechen wurden - nur im Sieg uber Sunde und Tod ausgelebt werden konnen. Diese Leichenpredigt legt folgende Hypothese nahe: Bei einem Mann, der wegen einer chronischen und damit lebens bestimmenden Krankheit seinen Wirkungskreis nicht mehr au fSerhalb der Familie entfalten kann, werden GefUhlskultivie rung, Religiositat und familiares Engagement zum Kennzei chen eines Lebens, das offenbar keinen Bruch mit den Normen mannlicher Rollenerfullung, sondem eher deren Erweiterung darstellt. Dieses Rollenbild steht im Widerspruch zu der den Geschlechterdiskurs bestimmenden, eigentlich mit Bezug auf
Mannerrollen in wurttembergischen Leichenpredigten
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Entwicklungen des 19. Jahrhunderts formulierten, geschlechts spezifischen Konstruktion, daB der Mann fur den 6ffentlichen Bereich, die Frau fUr den hauslichen sowie die Religion zustan dig gewesen sei.13 Es muBte somit auch die Rolle von Religion und Frommigkeit fur beide Geschlechter in ihrer jeweils offent lichen und privaten Ausubung uberpruft werden. Daruber hinaus widerspricht die starke Hervorhebung der emotionalen Beziehungen des Verstorbenen zu seiner Familie der in der Adelsforschung herausgestellten Tatsache, daB die adligen Fa milienbeziehungen - sowohl der Ehegatten zueinander als auch der Eltem zu ihren Kindem - kaum durch Liebe, sondem vielmehr durch okonomische und familienpolitische Oberle gungen gekennzeichnet waren.14 Vor diesem Hintergrund ist auch ungewohnlich, daB Johann Wilhelm von Kechler sich of fenbar allen seinen Kindem gewidmet hat, wahrend doch die innerfamiliare Erziehung des Nachwuchses normalerweise der Ehefrau und Mutter, spater einem Hauslehrer15 oder einer Gou vemante oblag, und der Vater sich lediglich der Erziehung des Erstgeborenen als dem Stamrnhalter widmete.16 SchlieBlich bleibt die These Maurers zu uberprufen, daIS sich im 18. Jahr hundert der Adel durch Obernahme eines neuen, starker emo tionalisierten Menschenbilds dem Burgertum kulturell an gleicht.17 Daraus ergeben sich weiter die Fragen, ob das Lebensschick sal des Johann Wilhelm von Kechler ein Einzelfall ist, wie uber haupt Mannerrollen in Leichenpredigten konstituiert werden, wie von den Rollenkonstruktionen abweichende individuelle Lebenswege geschildert werden und ob von den empirischen Befunden ausgehend die Forschung uber burgerliches oder ad liges mannliches Verhalten sowie uber entsprechende herr schende Rollenmuster relativiert werden mutS. Weiterhin ist zu klaren, in welchem Verhaltnis nonkonformes oder abweichen des Mannerverhalten zu weiblichen Rollenmustem und Le bensentwurfen steht: Verweist das Quellenmaterial eher auf ein polares oder komplementares Geschlechterverhaltnis?18 Untersucht werden solI insbesondere die Bedeutung von Krankheiten fUr die mannliche Lebensgestaltung, da die Erfah rung von Schwache eine Krise der Mannlichkeit auslosen kann. Eine Krankheit bringt aulSerdem eine generalisierte Storung der Leistungsfahigkeit einer Person fur die normalerweise erwar tete ErfUllung von Aufgaben und Rollen mit sich.19 Normab-
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weichungen in bezug auf die Erfullung der Mannerrolle konn ten hier also besonders gut greifbar werden. Es wurden exemplarisch insgesamt 60 wurttembergische Leichenpredigten, 40 fur mannliche und 20 fUr weibliche Ver storbene aus dem hohen und dem niederen Adel sowie dem Burgertum aus dem Zeitraum zwischen 1560 und ca. 1800 un tersucht. Die Texte fUr weibliche Verstorbene als Kontrollgrup pe sollen die Geschlechtsspezifik erfafSbar machen.20 Den hohen Adel reprasentiert das Haus Wurttemberg, je weils mit regierenden und nicht zur Regierung gelangten Mit gliedern, fur den niederen Adel und z. T. fur das Burgertum wurden vornehmlich Leichenpredigten von Familienverban den herangezogen. 21 Ais soziale Binnendifferenzierung wurden bei der Auswahl der Leichenpredigten fUr Personen aus dem niederen Adel sowie dem Burgertum die moglichen Berufs und Tatigkeitsfelder22 der Verstorbenen berucksichtigt.23
2. Leichenpredigten als Quelle24 Die Leichenpredigt kam mit der Reformation auf und bestand, vom Pfarrer am Grab eines oder einer Verstorbenen gehalten, im 16. Jahrhundert vornehmlich aus dem Leichenspruch, d. h. dem einschlagigen Bibeltext, mit anschliefSender predigtmafSi ger Auslegung sowie aus Gebeten. 1m Laufe des 1 7. und 18. Jahrhunderts entwickelten sich diese Predigten zu immer langeren Abhandlungen, die in grofSer Anzahl auch gedruckt wurden.25 Der fUr die historische Forschung wichtigste Teil der Predigt ist der Personalteil (»Personalia«, » Ehrengedachtnis« ), in dem der Pfarrer der Trauergemeinde den Lebensgang und den Charakter des/ der Verstorbenen vorstellte und mit seelsor gerischer Intention das vorbildliche christliche Engagement so wie das selige Sterben nach dem Vorbild der »ars moriendi« 26 herausstrich. Das Leben des/ der Verstorbenen diente als Exem pel zur Erbauung und Belehrung der Gemeinde. Insbesondere prasentierte der Geistliche empirische Indizien fur die Glau bensuberzeugung des/ der Verschiedenen. DafS es in diesem Zusammenhang zu Dbertreibungen und Schonfarberei kam, ist oft quellenkritisch bemerkt worden. Dies sahen bereits die Zeit-
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genossen so: Leichenpredigten muBten eigentlich Lugenpre digten heilSen, so lautete ein bekanntes Verdikt. AnlaB waren die Personalteile, bei denen, so Johann Matthias Cappelmann, der 1 746 einen »Philosophisch-Theologischen Unterricht von den Leichenpredigten« veroffentlichte, oft Unwahrheit und Schmeichelei Hand und Feder gefUhrt hiitten und Gewinnsucht der Prediger ausschlaggebend gewesen seien.27 Die Pfarrer wurden bezichtigt, nur ihre eigene Karriere im Auge zu haben, wenn sie Leichenpredigten abfaBten28, und in Heinrich MulIers Erquickstunden findet sich folgende Passage: »Der Todte muB geruhmet sein, war er auch gleich ein Auszug aller Laster in seinem Leben gewesen; sein Geiz muB Sparsamkeit, sein fleischlicher Zorn ein gottlicher Eifer, seine Unflaterei Kurzweil heiBen.«29 Cappelmann halt dem entgegen, daB nur wahre Ver dienste geruhmt werden durften und zudem nicht die hohen Amter, EhrenstelIen, Ansehen, Adel, Wissenschaften, Gemuts krafte, Tapferkeit usw. fUr sich, sondern nur, »wenn sie gut sind gebraucht worden« .30 Diese Forderung reflektiert die Span nung zwischen einer >ehrlichen< Predigt auf der einen Seite und dem Auftrag an den Geistlichen, eine >erbauliche< und dabei >gefalIige< Ansprache zu halten. Zunachst ist also festzuhalten, daB die Schilderungen des Le bens und der Personlichkeit des/der Verstorbenen im Personal teil einer Leichenpredigt nicht mit der Lebensrealitat der Person verwechselt werden durfen. Tatsachlich war der Predigttext oft formelhaft abgefalSt und wenig geeignet, die Individualitat des/der Betroffenen herauszustellen. Dies war auch nicht der eigentliche Zielpunkt, kam es doch auf die Prasentation des/der Verschiedenen als mustergUltiges Gemeindemitglied und die Reprasentation der Familie im Rahmen der Trauerfei erlichkeiten bzw. durch das gedruckte Gedenken an. So ent standen stark stilisierte Texte, die jedoch gerade deshalb auf schlulSreich fur die hier verfolgte Fragestellung sein konnen, da sie in ihrer Stereotypisierung uber die gesellschaftliche Kon struktion von Manner- und Frauenrollen Auskunft geben. Die se wurden popularisiert durch den Seelsorger und damit sozial wirksam gemacht. Rollenklischees und gesellschaftliche Er wartungen an normgerechtes Verhalten werden so greifbar. An dererseits durfen die Texte nicht vollig dem realen Leben des/ der Verstorbenen widersprechen, da die Rede vor den an deren Gemeindemitgliedern gehalten wurde und diesen
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der/die Betroffene bekannt gewesen war. Kritik am Verstorbe nen findet sich nur versteckt und indirekt, da der Sozialstatus des Geistlichen meist deutlich unter dem Rang des/ der be treffenden Person lag. Trotz ihrer reprasentativen und erbau lichen Funktion sind die Ehrengedachtnisse also keineswegs frei von Schilderungen individueller Lebensentscheidungen und -schicksale, treten uns doch in manchen berichteten Details Sorgen, Note und Freuden der historischen Personen vor Au gen. In einem zweiten Schritt sind deshalb diese Anhaltspunkte fUr individuelles Verhalten und Befinden mit den RoUenstereo typen zu konfrontieren, um Ubereinstimmungen und Abwei chungen - und die gesellschaftlichen Bewertungen fur nicht normkonformes Verhalten - herauszusteUen. Auch soU uber pruft werden, ob in ungedruckten Texten, die nur fUr die So zialgruppe des niederen Adels greifbar waren, starker Erweite rungen des erlaubten mannlichen - und weiblichen -Hand lungsspielraums oder Normabweichungen sichtbar werden als in gedruckten Texten, die ja die Ehre der Familie nach auBen befordern soUten. Methodisch muB berucksichtigt werden, daB es fur den Per sonalteil verschiedene Autoren geben konnte: Neben dem Geistlichen kamen der Verstorbene selbst (selten die Verstorbe ne) oder die nahere Verwandtschaft bzw. der Ehegatte/die Ehe gattin als Autoren (oder Mitautoren) in Frage. Bei aller Unter scheidung zwischen Selbst- und Fremdkonstruktion von Le benswegen ist jedoch beobachtbar, daB die von weiblichen31 oder mannlichen Autoren selbstverfaBten Leichenpredigten keine wesentlichen Unterschiede in Aufbau, Diktion und Wer tungen im Vergleich zu den fremdverfaBten erkennen lassen, auch wenn der Lobgesang auf die eigene Person zuruckhalten der, die Schilderung einzelner Lebensstationen ausfuhrlicher ausfallt. Personliche Beziehungen werden aUerdings rnitunter mit starkerer emotionaler Anteilnahme geschildert.32 Das Rol lenklischee bestimmt jedoch auch die autobiographischen Tex te, es liegt also kein grundsatzlich andersartiger oder >authen tischerer< Text vor. Weiterhin muB stets die territoriale und konfessioneUe Be schrankung der QueUe bedacht werden, die ein Spezifikum der Ober- und Mittelschichten protestantischer Lander iSt.33 Der ho he und niedere Adel sind stark vertreten, dazu das erfolgreiche, oft mit Amtern versehene stadtische Burgertum. DaB fur den
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hohen und niederen Adel die Leichenrede obligatorisch war, konnte zu einer groi5eren Streubreite der vorgestellten Lebens wege und damit eventuell im Rahmen des bei einer Leichen predigt Moglichen zur Formulierung auch von Normabwei chungen im Leben eines/r Verstorbenen fuhren.
3. Ergebnisse 3.1. Abstammung, Geburt und Kindheit Insbesondere beim Hochadel, aber auch beim niederen Adel ist eine Aufzahlung von Ahnenreihen ublich. Meist schliei5t sie zu mindest die Urgroi5eltern mit ein. Das Selbstbewui5tsein und das Sozialprestige des Adels grundeten sich allererst auf die adlige Abstammung, die in langen Ahnenreihen dokumentiert werden sollte.34 1m Burgertum ist dagegen lediglich die Nen nung der Eltern ublich; nur bei bedeutenderen Familien, etwa bei Patrizierfamilien, geht die Ahnenreihe daruber hinaus. 1m Unterschied zu anderen Burgerlichen wurde der Sozialstatus dieser Familie starker von den Vorfahren mitbestimmt, waren die hohen stadtischen Amter doch haufig uber Generationen in der Hand einer Familie. Aui5erdem mag bereits an dieser Stelle die kulturelle Imitation des Adels durch die stadtischen Ober schichten fai5bar werden.35 Zuweilen wergen in allen Sozial gruppen besondere Verdienste oder Lebensumstande der Vor fahren genannt. Insgesamt konnen keine geschlechtsspezifi schen Ausfuhrungen festgestellt werden. Zu Geburt und Taufe lassen sich nur allgemeine, geschlechts unspezifische Wendungen finden.36 Die Kindheit der Verstor benen wird meistens sehr sporadisch erwahnt. Fur beide Ge schlechter gleichermai5en galt der Verlust eines Elternteils oder gar beider Eltern37 als Katastrophe; die Versorgung und Erzie hung der Kinder mui5te nun u. U. neu oder allein von der Mut ter geregelt werden, finanzielle Schwierigkeiten blieben oft nicht aus. Beim Tod der Mutter konnte die Kinderversorgung durch eine Stiefmutter ubernommen werden, seltener ist von Stiefvatern zu lesen.38 Die Auswirkung des Elterntods auf die Psyche der Kinder wird kaum fai5bar: dai5 sich in der Leichen predigt fur Dorothea Sibylla von Schlepegrell (1694-1773) fol-
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gende Formulierung findet, ist eher die Ausnahme: »Bei diesen Schmerzenspeinen [nach dem Tod der Eltern] wurde sie dann hin und wieder in die Kost getan und an zerschiedenen [sic!] Orten wie ein Ball herumgeworfen«.39 Dagegen wird sonst for melhaft betont, daIS sich Verwandte oder Vormunde der Kinder liebevoll angenommen und sie weiter gefordert hatten. Des of teren wird aber von einer besonderen Zuneigung unter Ge schwistern berichtet, wie etwa von dem liebevollen Verhaltnis des jungen Herzogs Albrecht von Wurttemberg und Teck (1657-1670) zu seiner Schwester.40
3.2. Ausbildung Eindeutig geschlechtsspezifisch dagegen ist die Schilderung der AusbildungY Sie leistete die standesspezifische Einubung in das sozial geforderte mannliche Rollenverhalten. Kennzeich nend fur die mannliche Sozialisation42 war zunachst generell, daIS die Sohne fruhzeitig das Elternhaus verlielSen, urn durch Universitat bzw. Ritterakademie, Hofdienst oder Lehre Kennt nisse und Fahigkeiten fur das spatere Berufsleben zu erwerben. Allerdings folgte im hohen und z. T. im niederen Adel eine lan gere Phase familieninternen Lernens, denn - nach der Mutter war der Hauslehrer die erste padagogische Instanz fur die SprolSlinge. Die Vermittlung von Wissen war gekoppelt mit der fur den Adel wichtigen Weitergabe von ritualisierten Brauchen und Farnilientraditionen.43 Neue Freiraume taten sich anschlie lSend auf: Fur die meisten mannlichen Jugendlichen aus dem Hochadel schlolS sich der Besuch des >Collegium illustre<, der ersten deutschen Ritterakademie, zu Tubingen an.44 Die >Kava lierstour< an die deutschen und europaischen Hofe, bei der Sprachkenntnisse, besonders die des Franzosischen, hofische Umgangsformen sowie Kenntnis der Standesgleichen vermit telt wurden, komplettierte das Bildungsangebot fur den mann lichen Hochade1.45 Die jungen Adligen sollten dadurch ein si cheres und gewandtes, Weltlaufigkeit signalisierendes Auftre ten erhalten, das als Merkmal einer standesspezifischen Uberlegenheit galt. Meist wird gesondert die Einubung von >ritterlichen Exercitien< erwahnt. Zum Mannlichkeitsbild des Adels gehorte nach wie vor Korperschulung nach ritterlichem Vorbild. Entscheidend fUr den mannlichen Werdegang war, daIS
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mit dem Verlassen der Familie das soziale Umfeld nun von Mannern gepragt wurde. So begleitete der Hauslehrer den ad ligen Knaben auch wahrend des Aufenthalts an der Ritteraka demie und auf der Kavalierstour; von ihm als der eigentlichen Vertrauensperson gingen wesentliche Impulse fur die Ein ubung mannlichen Verhaltens aus. Hieruber gibt die Leichen predigt keine Auskunft, wohl aber wird das besondere Verhalt nis von Hauslehrer und SchUler angesprochen. So bestand eine starke affektive Bindung des jungen Friedrich, Herzog von W urttemberg und Teck (1615-1682) an seinen bohmischen Hof meister, der ihn auf der ersten Reise nach Frankreich begleitet hatte und dort an der Pest starb: es heiiSt, daiS nicht nur der Prinz selbst von der Krankheit betroffen war, »sondern auch Dero daran todtlich erkrancketen Hofmeisters, (den Sie aus sonderer Affection und Liebe mehrmalen halb kriechend be sucht) beraubet worden«.46 AuiSerdem spielte die Gruppe der gleichaltrigen Studenten eine wichtige Rolle fur die Einubung von mannlichem Verhalten. Eine ungewohnlich detaillierte Schilderung des Bildungs gangs eines hochadligen Knaben findet sich in der Leichenpre digt fur den jung verstorbenen Albrecht, Herzog von W urttem berg und Teck.47 Von dem schon als Kind kranklichen Albrecht wird zunachst behauptet, er habe schon im zartesten Alter in nige Liebe zur Religion empfunden, »obwolen das Band seiner Zunge noch nicht aufgelOset war«.48 Seine christliche Erziehung und Ausbildung hat er seit seinem vierten Lebensjahr am Stutt garter Hof bei seinem Onkel, dem regierenden Herzog Eber hard III., erhalten und sich dort mit dem Auswendiglernen zahlreicher Psalmen, zwanzig geistlicher Lieder sowie »gUlde ner Spruche«49 aus den Katechismen Luthers und Brenz' be schaftigt. Danach wurden weitere geistliche Schriften, auch die des Erasmus von Rotterdam, durchgenommen. Der Knabe ver faiSte auch eine Anweisung zur Bibellekrure im Jahreslauf und absolvierte diese mehrfach selbst. Der Prediger schildert neben der christlichen Unterweisung auch den weiteren Bildungs gang. Der Junge lernte Latein und Franzosisch, weitere Unter richtsgegenstande waren die Musik - und zwar nur das »als was in der Kirchen GOrr zu loben nothig ist«sO -, das Zeichnen sowie ritterliche Exerzitien, namlich zunachst das Laufen, Rei ten und Jagen. SchlieiSlich widmete er sich der Regierungskunst in Frieden und Krieg: Fur den Frieden studierte er Arithmetik,
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Geographie, Chronologie, Genealogie sowie Numismatik und Geschichte, wobei er mit der griechischen und romischen Ge schichte vertraut gemacht wurde und selbst einige »TabeHas Historicas« auf das J ahr Anno 1615 und 1 621 verfaBte. Urn auch fur Kriegsfalle gerustet zu sein, beschiiftigte er sich mit dem Fortifikationsbau, indem er Festungen im Garten selbst anlegte, dazu lernte er das Exerzieren und die Artilleriekunst. Zur prak tischen Einubung des Gelernten, hatten, so berichtet der Geist liche, der Herzog und seine Bruder »eine Republic zusammen formieret« 51 und jeder reihum ein Amt versehen: einer war Re gent, der zweite Bibliothekar, der dritte Friedens- und der vierte Kriegsminister.52 Soweit der Bildungsgang des Herzogs Albrecht, aus dem das Bildungsideal des Adels im 1 7. Jh. erkennbar wird: nicht mehr die humanistische Gelehrtenbildung mit ihrer Orientierung am antiken Vorbild stand im Vordergrund, sondern eine den Erfor dernissen des Hoflebens und Regierens Rechnung tragende Ausbildung mit dem Schwerpunkt auf der Vermittlung und praktischen Einubung von Orientierungswissen fur die >reale Welt<.53 Hier wurde Regierungshandeln vorbereitet. Wie uber ragend jedoch der Stellenwert der religiosen Bildung, - die au torspezifisch besonders detailliert geschildert wird - ist, zeigt sich an der Bemerkung, die Musik sei rein aus Glaubensgrun den vermittelt worden. Diese implizite Ablehnung der sonst ublichen musikalischen Betatigung zur Gestaltung von Fest lichkeiten bei Hofe verweist auf die aHer kostspieligen hofi schen Reprasentation kritisch gegenuberstehende Haltung des Hofklerus sowie der Landstande.54 Der Bildungsgang des Her zags Albrecht bei Hofe zeigt neben der starken religiosen Pra gung die zwei Aspekte adlig-miinnlicher Ausbildung: Wissens erwerb und Korpertraining. DaB durch das Leben bei Hof auch die dortigen Umgangsformen erlernt wurden, der Hof also >Schule< in diesem Sinne war, findet keine Erwahnung 55 Fur die Sohne aus dem niederen Adel waren die Ausbil dungsstufen ahnlich konzipiert, doch es gibt signifikante Un terschiede. Auch hier wird nach der Mutter als erster >Lehrerin< der Hauslehrer genannt, doch spielten offentliche Schulen eine gewisse Rolle.56 Schon in jungen Jahren verlieB eine groBere An zahl von Sohnen aus dem niederen Adel die Familie und trat in Hofdienste, zumeist als Pagen, urn eine spatere Militar- oder Hofkarriere anzustreben. Durch die SteHung bei Hofe wurden
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fruhzeitig die relevanten Verhaltensstandards vermittelt und sowohl soziale Unterordnung als auch standesspezifisches mannliches Rollenverhalten eingeubt. Eine allgemeine Univer sitatsausbildung wurde vor allem bei den Familien mit wenig Vermogen nicht angestrebt; vorrangig sollten die mannlichen Nachkommen versorgt werden. Die Sohne der wohlhabenden niederadligen Familien erhielten dagegen eine ahnliche Ausbil dung wie die des Hochadels, auch hier standen die Einubung in die standesublichen >Manieren< und die ritterlichen Exerzi tien neben dem Bildungserwerb, bei dem es den adligen jungen Mannern eher urn die Arrondierung ihrer Allgemeinbildung als urn einen akademischen AbschluiS ging. 1m Gegensatz zur mi litarisch gepragten erforderte die bildungsbezogene adlige Mannerrolle, daIS man sich auch unter Gelehrten auskannte und uber entsprechende Kontakte verfugteY Allerdings finden sich auch Hinweise auf den Abbruch des Studiums trotz eines >guten Ingeniums< wegen finanzieller Schwierigkeiten, so daiS manchem hoffnungsvollen Studiosus aus dem niederen Adel nur den ungeliebten Weg als Kostganger blieb. So mancher muiSte auch friihzeitig, nach dem Tode des Vaters, die Verwal tung der Familienguter ubernehmen.58 Wohlhabende Familien dagegen konnten ihren Sohnen die Kavalierstour spendieren, urn deren Umgangsformen und Kenntnissen den letzten Schliff zu verleihen. Fur manche Sohne des Burgertums stand der Bildungsweg einschlieiSlich der Universitat offen.59 Elementar- und Latein schule spielten die entscheidende Rolle fur die padagogische Vorbereitung.60 Anders als im Adel war jedoch das Studium Be rufsvorbereitung, akademische Abschliisse wurden explizit an gestrebt und erreicht.61 Auch Bildungsreisen unternahmen die jungen Burger, doch fuhrten diese bezeichnenderweise nicht an die Hofe, sondern in verschiedene Stadte des benachbarten Auslands, wo man vor allem Fremdsprachen lernte.62 Das ur bane Leben war pragendes Vorbild der mannlichen Sozialisa tion von Burgern, nicht der Hof. Yom Ausbildungsweg des nie deren Adels wich aulSerdem der Werdegang derjenigen ab, die eine starker kaufmannisch-handwerkliche Ausbildung erhiel ten: der Aufenthalt in der Fremde ist dabei durch die Lehrjahre bei einem oder mehreren Dienstherren gepragt.63 Vor die Phase der eigenverantwortlichen Berufsausubung war die Lehre, und damit die Einubung in soziale Unterordnung geschaltet. Fur
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Lehre wie fUr Universitatsausbildung galt, daB die mannliche Sozialisation nun stark von Mannergruppen bestimmt wurde.64 Mannliche Umgangsformen vermittelten sowohl die Studen tengruppen als auch die Gesellenbunde.65 Eine militarisch ge pragte Mannerrolle spielt im vorliegenden Quellenkorpus fUr Burgerliche kaum eine Rolle.66 Insgesamt lassen sich jedoch in den Leichenpredigten viele Parallelen beim Bildungsweg der Sohne aus dem unvermogenden Niederadel und dem stadti schen Burgertum aufweisen.67 So ausfUhrlich die Ausbildung der Sohne aus den drei sozia len Schichten dargestellt wird, so durftig sind die Angaben bei den Tochtern. 1m Unterschied zum Bildungsgang der Jungen generell dominierte bei den adligen Madchen die familieninter ne Ausbildung. W ahrend die adligen Sohne auBerhausliche Bil dungsinstitutionen aufsuchten und reisten, also Freiraume nut zen konnten, blieben die Tochter bis zu ihrer Verheiratung im elterlichen Haushalt oder in dem von Verwandten68 und wur den von Hauslehrern erzogen. Ihr soziales Bezugsfeld wurde also weiterhin durch Eltern oder andere Autoritatspersonen beiderlei Geschlechts bestimmt. Der elterliche Haushalt war auch der Ort, wo die WirtschaftsfUhrung als wichtiger Teil der Madchenbildung erlernt wurde.69 1m vorliegenden Material trifft dies auch fUr die burgerlichen Tochter zu, die allerdings z. T. durch den Besuch einer offentlichen Schule auBerhausliche Bildungsinstitutionen in Anspruch nahmen.70 Als Lehrgegen stande tauchen in allen sozialen Schichten Lesen, Schreiben, Bi belkenntnis, dazu Handarbeiten auf. 1m Adel findet sich mehr fach das Erlernen der franzosischen Sprache.71 Von Dorothea Sibylla von Schlepegrell heiBt es summarisch: »Sie gibt sich mit standesgemaBen Wissenschaften und Geschaften ab« .72 1m nie deren Adel dominiert dabei das Ideal der tuchtigen, erfolgreich wirtschaftenden Landedelfrau, weniger das der in adlig-stadti scher Geselligkeit gewandten Dame. Beispiel kann hier Maria Agnes von Reischach (1640-1667) sein, die Gottesfurcht, Lesen, Schreiben, tugendhaftes Verhalten, allerlei Kunste und Arbeiten zur >jungfraulichen Bezierung<, Beten, Singen und die Haus haltsversorgung gelernt hat,73 Anders Ursula Margaretha Varn biller von Gemmingen (1649-1698): Nach der Vermahlung ihrer Schwester mit dem markgraflich-brandenburgischen Haushof meister, dem Grafen von Crailsheim, ubersiedelte Ursula Mar garetha in den dortigen Haushalt und lernte bei Hof die »Hof-
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manieren«.74 Insgesamt erfahren wir jedoch wenig uber die Ausbildung der Tachter in einer Leichenpredigt: Der weitere Bildungsstand ist fur den Prediger weitgehend unwichtig, ein zig die Unterweisung in religiasen Dingen und Fertigkeiten, die sich daraus ergeben, wie z. B. das perfekte Rezitieren der Psal men, werden lobend erwahnt.
3.3. Weiterer Lebensweg: Beruf, Karriere, Ehe Der Blick auf den weiteren Lebensgang von Mannern und Frau en enthullt einen wichtigen Unterschied in der Prasentation der Person: wahrend der Prediger nun bei den Mannern den Be rufsweg und die weitere Karriere, also das affentliches Wirken vorstellt, und den privaten Bereich von Ehe und Familie davon abgrenzt, ist die »Karriere« der Frauen ausschlieBlich durch Ehe (bzw. Ehelosigkeit) und/oder Mutterrolle bezeichnet. 1m For mular der Leichenpredigt existiert kein Abschnitt fUr eine an dersartige Tatigkeit von Frauen, obwohl eine ganze Reihe von Frauen vorgestellt werden, die zumindest zeitweise Betati gungsfelder auBerhalb der Familie gefunden haben?5 Aus schlaggebend hierfUr ist die Tugendlehre der lutherischen Theologie, die zwischen >prudentia civilis< fur den Mann und >prudentia oeconomica< fUr die Frau unterscheidet?6 Der Mann soU sich in der Offentlichkeit bewahren, die Frau im Haus. Verfolgen wir zunachst die Mannerkarrieren und die damit verbundenen RoUenerwartungen in den verschiedenen sozia len Schichten: Bei denjenigen Sahnen des Hochadels, die sich fur eine Militarkarriere entschieden hatten, werden nun minu tias aIle Dienstverhaltnisse und -grade, Einsatzgebiete, Erfolge und Erlebnisse aufgezahlt, die diese Tatigkeit ausmachten und dabei die Tapferkeit, das Geschick und die militarische Bega bung der jeweiligen Person geruhmt.77 Nur selten klingen MiB erfolge oder ein unbefriedigendes Avancement durch, wie z. B. bei Ulrich, Herzog von W urttemberg und Teck (1 61 7-1671 ) . Nach jahrelangem Militardienst war ihm nur die Stelle als Ob ristwachtmeister im kaiserlichen Heer angeboten worden, die er fur zu gering hielt.78 Die andere, teilweise mit einer vorhergehenden Militarkar riere verbundene Sozialrolle ist die des weisen und gerechten Herrschers, der sich durch gnadige Fursorge fUr seine Unterta-
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nen und kluge Lenkung des Staatswesens auszeichnet.79 Nicht integrierbar in ein positives Herrscherbild ist ubergroBe Pracht entfaltung bei Hofe. Wenn sich z. B. der bereits genannte Her zogs Friedrich durch Sammelleidenschaft und Forderung der Gelehrsamkeit hervorgetan hat, muB gleichzeitig dessen Spar sarnkeit betont werden.80 Doch nicht immer werden der Herrscher gelobt bzw. andere hochadlige Personen positiv dargestellt. In der Lebensbeschrei bung Ludwigs, Herzog von W urttemberg und Teck (1 5541593), der zunachst als gewissenhafter Regent und Verteidiger der wahren (d. h. evangelisch-lutherischen) Religion geruhmt wird, fallt die mehrfache Erwahnung der »unnottige(n) Kla gen« des Volkes81 uber seinen Herrscher auf. Es habe des ofteren uble Nachrede und Beleidigungen gegen den Herzog verlauten lassen, ja, es habe ihm »Schadlin« und »Despect«82 angetan, er aber sei nicht rachsuchtig gewesen und habe urn des lieben Friedens willen keine harten Strafen verhangt. Tatsachlich ent sprach das Bild des patriarchalischen, aber; milden Herrschers - der Prediger nennt ihn >Hausvater< - der Selbststilisierung Ludwigs, der wegen seiner defensiven Politik jedoch auf die Kritik der Landstande stieB.83 Noch deutlicher wird ein Charak termangel des Herzogs genannt und nur muhsam in das posi tive Herrscherbild integriert: »Ob aber wol ettwo zun zeiten Ire F.G. nach [ . J raisen oder von grossen und vilen Geschefften mud und matt worden sich mit reichlicherm Trunck erquicken wollen und nicht eben die rechte MalS getroffen: so ist doch sol ches auB keinem bosen Fursatz beschehen, sich selbsten oder andere mit uberfhissigem Trunck zubeschweren: sondern ist auB lauter guthertzigkeit hergeflossen, daIS Ihre F. G. gern der selben Gast uber dero Tafel frolich und lustig gemacht hetten.«84 Dieser Hinweis auf unmaBige Trinkpraktiken, zusammen mit dem Bemerken, der Furst sei mit seinen Dienern so umgegan gen, »als wann er nicht ein Furst, sonder ihres gleichen gewesen were«,85 habe also nicht genugend den Rangunterschied beach tet, benennen auch Schwachstellen im Charakter des Herzogs und zeigen damit Abweichungen von der Norm des guten Herrschers als einer Mannerrolle. Etwas kummerlich Wlt schliefSlich die Lebensbeschreibung fur Friedrich Achillis, Herzog von W urttemberg und Teck (1591-1631) aus.86 Dieser nicht zu einer regierenden Linie des Hauses W urttemberg gehorende Adlige zeichnete sich eigent. .
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lich durch gar nichts aus: er durchlief den tiblichen Ausbil dungsweg, ohne bis zum Studium zu gelangen und lebte dann, unverheiratet und anscheinend var allem dem leiblichen Wohl verpflichtet, auf seinem StammschlolS, das er nur dann verlielS, als er wegen Kriegsgefahr zu seinem Bruder Johann Friedrich (1582-1628) nach Stuttgart floh.87 Wegen seines »sehr schweh ren Leibs und Heroischer Statur« konnte er sogar die obligato rische Bildungsreise nicht antreten.88 Die besondere Liebe des Herzogs zur Religion, die der Pfarrer erwahnt, wirkt als Verle genheitslbsung, ist doch sonst wenig Rtihmliches tiber den SprolS aus hohem Hause zu sagen. Das Herrscherbild wird durch mannliche Tugenden, aber auch Untugenden bezeichnet: Frbmmigkeit, Gerechtigkeit, Weisheit, Tatkraft und Wehrhaftigkeit werden gelobt, aber auch Unmal5igkeit im Essen und Trinken sowie Tatenlosigkeit wer den nicht verschwiegen. 1m niederen Adel finden sich wieder der Militar- und der Bildungsweg sowie die Tatigkeit als Gutsherr. W ahrend bei den einen die verschiedenen Stationen der Militarkarriere erwahnt und die dart notwendigen mannlichen Tugenden herausgestri chen werden, kennzeichnet die Beschreibung der anderen als kluge Verwalter der Familiengtiter bzw. selbstlose und gerechte Amtsinhaber den gesellschaftlichen Erwartungshorizont an diese Manner. Eher untypisch ist die erfolgreiche Tatigkeit des Wolf Helrnhardt von Hohberg (1612-1688) in zwei sozialen Fel dem: er zeichnete sich sowohl als tiberragender Kampfer, der es bis zum Oberst brachte, als auch als ungewbhnlich Bildungs beflissener aus.89 In den verschiedenen Kriegsztigen lemte er nicht weniger als sieben Sprachen und verfalSte spater mehrere Schriften weltlichen und religibsen Inhalts.9o 1m niederen Adel finden sich jedoch auch einige Beispiele von Beendigungen mi litarischer Karrieren durch Unfall oder Krankheit: Franz Daniel Besserer von Thalfingen (1797-1879) erlitt bei einem Sturz vom Pferd einen Schenkelbruch und mulSte seinen Dienst als Major quittieren.91 1m Btirgertum schlielSlich werden, ahnlich wie im niederen Adel, die Amtstrager wegen ihrer vorbildlichen Verwaltungs tatigkeit gertihmt. Abweichend aber, in bezug auf das Rollen modell des niederen Adels, wurde im Btirgertum gearbeitet, und zwar erfolgreich und fleilSig. Als Krbnung der beispielhaf ten Berufstatigkeit konnte die Emennung zum stadtischen Rat
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in fortgeschrittenem Alter hinzukommen. Aber auch bei den burger lichen Personen werden Krankheit und Leiden ange sprochen, die die Berufstatigkeit zumindest behinderten: Jo hann Daniel Andler (1630-1668) konnte wegen schwerer Krankheit seine Aufgaben als Expeditionsrat kaum versehen, wurde aber wegen friiherer Verdienste dennoch im Amt belas sen.92 Wie die jeweiligen adligen oder biirgerlichen Manner die se Abweichung von der sozial erforderlichen Rollenerfiillung verarbeiteten, wird weiter unten erlautert. Die Frauen dagegen werden fast ausschlieBlich uber ihre Lei stungen als Ehefrau und Mutter qualifiziert; nur die hochadlige Regentin stellt ein abweichendes Rollenkonzept dar: So konnte z. B. Barbara Sophia, Herzogin von W iirttemberg und Teck (1584-1636) als >Landesmutter< auch bffentliche Akzente set zen.93 Bezeichnend ist allerdings der Vergleich zum mannlichen Regenten: der Herrschaftsaspekt tritt bei ihr hinter >weibliche< Tatigkeiten zuruck.94 W ahrend der Mann dem auBeren Feind militarisch begegnen kann, bleibt der Regentin nur die Flucht, das Exil, sowie das flehentliche Beten fur die armen Unterta nen.95 Besondere Auszeichnung erfahrt Barbara Sophias religib ses Engagement, hier darf auch sie Tatkraft entwickeln: sie habe sich gegen die >Papisten< durchgesetzt und die >wahre Religion< gefbrdert, heiBt es; einige Kirchen hat sie von der katholischen Kirchenausstattung >gereinigt< und eine neue Ausstattung teils gestiftet, teils sogar selbst gefertigt.96 Geldausgaben werden, anders als beim mannlichen Herrscher, der sich zum Ruhm des Hauses mit aufwendigen Sammelobjekten umgibt, nur im reli gibsen Kontext erwahnt. SchlieBlich lobt der Geistliche sie we gen ihrer besonderen Nachstenliebe, da sie den Armen aus der herzoglichen Apotheke allerlei Arzneien zukommen lieB.97 Die Regentschaft der Anna Maria, Herzogin von Wurttemberg und Teck (1 526-1589) wird wesentlich weniger ausfiihrlich be schrieben: sie habe fur ihren Sohn Ludwig »trewlich und wol HauB gehalten, sonderlich aber« dafur gesorgt, »daB Gerech tigkeit, Zucht und Erbarkeit im Land erhalten wurden«.98 Vor allem habe sie sich fUr die Reinheit der christlichen Lehre (d. h. fur die evangelisch-Iutherische) eingesetzt und den Calvinisten paroli geboten. Sie ist also vor allem fUr Moral und Religion zustandig, daruber hinaus werden, anders als bei den Man nern, ihre Regierungsgeschiifte nicht erwahnt. Die Wendung, sie habe fUr ihren Sohn >hausgehalten<, entspricht der weibli-
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chen Zustandigkeit fUr das Hauswesen. Die offentliche Tatig keit der Regentin wird unter ihre Zustandigkeit fur das Haus gefaBt, entsprechend dem Ideal der >Hausmutter< . Diese Beob achtung trifft auch dann zu, wenn man die zeitubliche Betrach tung des Staates als >Hauswesen< mitdenkt. 1st die Frau aus dem Hochadel jedoch keine Regentin, so bleibt wieder nur die Rolle als Ehefrau und Mutter. Barbaras, Herzogin von Baden, (1593-1627) einziger Verdienst scheint ih re Fruchtbarkeit zu sein.99 Wie auch andere adlige Mutter, zeich nete sie sich im >weiblichen Bereich< der Kindererziehung be sonders aus und wird » beste Hofmeisterin« ihrer Kinder ge nannt.100 Bei unverheiratet und jung verstorbenen hochadligen Da men tritt schlieBlich ein drittes Rollenmuster auf: das der > Braut Christi<.101 Heinrica, Herzogin von Wurttemberg und Teck (1610-1623) wird als kluge Jungfrau geschildert, die vom Ster belager direkt in die Arme ihres Brautigams Christus sinkt.102 Dieses Rollenmuster findet sich fur jung Verstorbene auch im niederen Adel. Das Lebensschicksal von Frauen aus dem Niederadel stimm te nach den vorliegenden Texten weitgehend uberein mit dem der burgerlichen Frau: Oftmals trat neben die Pflichten als Ehe frau und Mutter die hausliche Krankenpflege, sei es, daB der Ehemann, sei es, daB die Eltern oder andere Verwandte pflege bedurftig wurden. Etwas ungewohnlich ist die Entscheidung der Maria Maximiliane von Kechler, geb . von Barilli (17331 761), auch nach der EheschlieBung mit Heinrich Siegfried von Kechler (1720-1763) weiterhin bei ihrer kranken Mutter zu ver weilen und sie zu pflegen.103 Erst ein Jahr nach der Hochzeit zog sie zu ihrem Gatten. Arme und Kranke auch in der Nach barschaft mit tatiger Hilfe zu unterstutzen, gehorte in beiden sozialen Gruppen zu den Aufgaben der Frauen. Dies galt ganz besonders, wenn diese Frauen kinderlos blieben. Verstarktes soziales Engagement konnte die eigene Kinderlosigkeit aus gleichen. DaB ein Leben als Witwe ein besonders schweres Los darstellte, eint ebenfalls adlige und burgerliche Frauen. Nur in wenigen Fallen konnen Abweichungen von diesen Rollenmu stern festgestellt werden: So gelangte Anna Margaretha von Hohberg (1614-1688) zu offentlichem Ruhm durch ihre ausge zeichneten Kenntnisse in der Arzneikunde, die sogar bei » aus wartigen Fursten« angefragt wurden.104 Magdalena Besserer
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von Thalfingen (1595-1654) wird wegen ihrer Klugheit beson ders gelobt.10S 1m niederen Adel findet sich schlielSlich ein wei teres Beispiel fur eine Frau mit offentlichem Amt: Ursula Mar garetha Varnbiiler von Gemmingen, geb. Schilling von Cann statt war als Hofmeisterin tiitig.106 Nach dem Tod ihres Mannes begab sie sich mit ihrer Stieftochter zu ihrem Schwager, dem Bischof von Wurzburg, urn dessen Mlindel zu erziehen. Spiiter lebte sie zuniichst einige Jahre auf ihrem Witwensitz, urn schliel51ich am Hofe der verwitweten Herzogin Anna Eleonora von Wlirttemberg als Hofmeisterin flir die wlirttembergischen Prinzessinnen tiitig zu sein. Nach dem Tad der Herzogin 1685 kehrte sie zuniichst wieder auf ihren Witwensitz zurlick. Damit endete offenbar ihre Tiitigkeit bei Hofe, die wohl nur aulSerhalb einer Ehe denkbar war: ein Jahr spiiter verheiratete sie sich er neut. DaIS ihre Geschicke als Unverheiratete bzw. als Witwe so ausfUhrlich geschildert werden, zeigt, daIS Leichenpredigten jenseits des Stereotyps auch Auskunft liber individuelle Biogra phien geben konnen, Anhaltspunkte fUr gelebtes Frauenleben jenseits der festgelegten Rollen. 1m Blirgertum ist zusiitzlich zum bisher Genannten wieder - wie bei den Miinnern - die Arbeit ein wichtiger Bestandteil des Rollenstereotyps. Hiiufig findet sich die Wendung, die Ver storbene habe »das Hauswesen mit ungespartem FleilS be sorgt«I07 und zeichne sich durch Sparsamkeit und Umsicht in diesem Bereich aus. In einem Fall werden vor der Ehe verrich tete Hausdienste bei einer Dienstherrin erwiihnt: Johanna Loff ler (t 1679), Ehefrau des Handelsmannes Johann Gottlob Loff ler, hatte vor ihrer Ehe eine entsprechende Stellung bei der Riitin und Hofmeisterin von Menzingen.108 Der Bereich von Familie und Ehe, der bei den Frauen stets konstitutiv fUr ihren Lebensgang ist, liiBt sich bei den Miinnern aus dem Adel und dem Blirgertum durchaus separat abhan deln. Normalerweise wird der ausfUhrliche Bericht liber den weiteren Lebensweg mit dem Einschub unterbrochen, daIS sich der Verstorbene nun auch vermiihlt habe. Kinder, verstorbene und liberlebende, sowie Enkel werden genannt, z. T., wie bei den Leichenpredigten fUr Frauen, auch deren Karrieren und Ehen. Eine groBe Kinderzahl gilt als Ausweis miinnlicher Zeu gungsfiihigkeit und des gottlichen Segens. So hatte Jacob Chri stoph Demler (1644-1725) die stattliche Anzahl von 28 lebenden Enkeln und 33 Urenkeln, was angesichts der hohen Kinder-
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sterblichkeit tatsachlich hbchst ungewohnlich iSt.109 Die Kin derlosigkeit in einer Ehe muBte jedoch nicht vom Ehemann durch verstarktes soziales Engagement ausgeglichen werden: Das Faktum der Unfruchtbarkeit wird einseitig den Frauen zu gerechnet. Niemals beschaftigten sich die Manner mit der haus lichen (oder auBerhauslichen) Krankenpflege; bei Wolf Helmhardt von Hohberg wird lobend erwahnt, er habe »das Krankenlager der Frau geduldig ausgestanden«}l° habe also die Beschwemisse, mit einer kranken Frau leben zu mussen, gut getragen, ohne daB er sich weiter nutzlich gemacht hatte. Manner werden haufiger als >liebender Gatte und Vater< be zeichnet; eine affektive Bindung zur Familie gehort durchaus zum Rollenmuster. AuBerdem trauerten die Vater besonders stark, wenn der erstgeborene Sohn verstarb, ihm hatten sie sich in der Erziehung auch besonders gewidmet, da er Stammhalter werden soUte. Besonders intensiv war das Verhaltnis von Hans Jacob von Reischach (1595-1642) zu seinen Kindem: Er sah die Kindererziehung in besonderem MaBe als seine Aufgabe an und widmete ihr, vor allem der Unterweisung der Kinder im Christentum, seine ganze Sorgfalt.11l Es heiBt: » daB er [ . . J sie selbsten auch examinirt, wie er auch noch in seiner Krankheit viel mit ihnen umbgangen, alles dahin, damit er ihnen den be sten Schatz und WeiBheit hinterlassen mochte.« 112 Herzog Friedrich beschaftigte sich vor allem mit der Erziehung seiner Sohne: er gab ihnen mit auf den Weg, daB sie » sich vor allem befleissigen sollen; zu denen jenigen Qualitaten zuerheben, we1che Dieselbe bey hohen Potentaten beliebt machen konnen, dann dises wurde das beste Mittel seyn, Ihren geringen Ein kunfften eine starcke Beyhulffe zuthun, wann Sie sonderlich in die FuBstapfen Ihres Herm Vatters Hochfurstl. Durchl. treten: und sich in Kriegen versuchen wurden« /13 eine wertvoUe Ma xime fUr so manchen adligen SproB ohne groBeres Vermogen. Am Sterbebett befiehlt der Herzog seinen Sohnen auBerdem, Eintracht zu bewahren und die Frau Mutter zu lieben und zu respektieren - ein Versuch, familiare Harmonie uber seinen Tod hinaus zu schaffen. SchlieBlich gehort eine gute Ehe zum erfolgreichen mannli chen Leben, sie bewahrt sich im Ungliick: Mehrfach wird er wahnt, daB die Ehegatten ein schweres Schicksal gemeinsam ertragen und bewaltigt hatten. Friedlich und freundlich soU der Umgang der Ehepartner miteinander seiny4 Aber auch das .
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Scheitern einiger Ehen wird vermerkt: Der Hauptmann Wil helm Friedrich von Kechler (1684-1733) heiratete die Tochter seines Oberst, » mit welche auch einige Jahre solchen Ehestand fortgesetzt, durch unterloffene MiBverstandni15 aber wieder ge trennet worden«,115 wie es im Personalteil hei15t. Noch konkre ter wird das Ehezerwurfnis von Lieutenant Friedrich Ludwig von Barilli (t 1760) und dessen Ehefrau, Catharina Regina, geb. von Freudenberg (t 1759) in der Leichenpredigt fUr die Tochter Maria Maximiliane von Kechler, geb. von Barilli beschrieben: » Als es aber [ . . . ] zwischen hochbemelten Eltern in ansehung des ungleichen Religionswesens zerschiedene [sic!] Differenzi en und langwierige Zwistigkeiten sezten, so resolvirten sich endlich dero frau Mutter, Thren bisherigen Sedem und sorgliche umstande zu verandern. Und urn dem allen zu entgehen und mehrere ruhe und sicherheit zugenuessen, verfugten sie sich nach Neuenburg.« 116 » Ruhe und Sicherheit« hatte es offenbar fUr sie in der Ehe nicht mehr gegeben, vielleicht ein Hinweis auf Gewalttatigkeiten des Ehemanns. Auffallend ist, daB die Trennung von Ehepartnern nur in die sen beiden ungedruckten Leichenpredigten thematisiert wird. Das ist ein Indiz fUr die These, daB hier Normabweichungen eher Erwahnung finden als in gedruckten, zur Reprasentation der Familie dienenden Texten.
3.4. Verhaltnis zur Religion und christliches Sterben Das Verhaltnis zur Kirche und die personliche Frommigkeitll7 werden bei allen Texten fUr Manner wie fUr Frauen themati siert, doch geschieht dies in unterschiedlicher Intensitat und zuweilen mit unterschwelliger Kritik. Zunachst zu den Texten fUr Manner: Neben den stereotyp wirkenden Qualifizierungen, der Verstorbene habe >die Bibel geliebt< oder sei >ein guter Christ< gewesen, gibt es eine ganze Reihe individueller Be schreibungen des religiosen Engagements. 1m Hochadel finden wir zunachst den >frommen Fursten<, der die Bibel liest, an dachtig der Predigt lauscht und taglich Gebete spricht, wie dies von Karl Rudolf, Herzog von Wurttemberg und Teck (16671 742) berichtet wirdYs Von dem sich ansonsten vornehmlich militarisch auszeichnenden Magnus, Herzog von Wurttemberg und Teck (1594-1622) heiBt es, er habe als Kind » eine sonderli-
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che Lust und Begierde zu der hlg. Schrift gespurt« ;119 in der Schilderung seines spateren Lebens wird er jedoch auffallend oft als »Sunder« bezeichnet. Die hohe weltliche Position, die es manchem Herzog erlaubte, besonders wohltatig fur die Reli gion zu wirken, kann auch als Verfuhrung zum Bosen angese hen werden: So konvertierte Herzog Ulrich von Wurttemberg zum Katholizismus, nicht ohne danach in schwere Seelenpein zu geraten und seine Konversion wieder ruckgangig zu ma chen. Seine Schuld, so der Geistliche, konnte er schlieBlich durch den Kampf gegen den Religionsfeind par excellence, die Turken, suhnenYo Demgegenuber wird normalerweise bei der Schilderung des Lebenswegs eines jeden wurttembergischen Regenten dessen Standfestigkeit im wahren Glauben und die BefOrderung der evangelisch-lutherischen Lehre hervorgeho ben. Dabei liegt insbesondere im 16. und fruhen 1 7. Jh. der Schwerpunkt weniger auf der strikten Ablehnung des Katholi zismus als vielmehr auf der Bekampfung der Abtrunnigen im eigenen Lager: den Calvinisten. So wird Sibylle, Herzogin von Wurttemberg und Teck (1564-1 614) gelobt, weil sie nicht nur die » Papistische Abgotterey« » von Hertzen gehasset« habe, sondem auch wider » den Calvinischen Greweln [ . . . J ein sonder hertzlich erschrocknus unnd entsetzen getragen« habe.l 21 Von Herzogin Anna Maria heiBt es, sie habe » in den eingefallenen Religionsstritten ein herrlich iudiciurn und Verstandt gehabt. Und sein Ire FG. sonderlich den Zwinglischen und Calvini schen Irrthumben hertzlich feind gewesen. « 122 Der Verstand der Frau wird, autorspezifisch, besonders positiv hervorgehoben, wenn er sich im Kampf gegen den Glaubensgegner bewahrt. Herzog Ludwig von Wurttemberg hatte nach Ausweis seiner Leichenpredigt keine Ketzerei geduldet und sich mit Visitatio nen und einer verbesserten Ausbildung fur die evangelischen Prediger urn die Verbreitung der >wahren Lehre< verdient ge macht. Besonders zu lob en ist Herzog Friedrichs Treue zur >wahren Religion<, denn ihm wurde yom Grafen von Traut mannsdorf das Angebot unterbreitet, die Regentschaft - statt seines Bruders Eberhard - zu erhalten, wenn er das Herzogtum Wurttemberg rekatholisieren wurde. Dies lehnte Friedrich » als Standhaffter Bekenner der Evangel. aHein Seeligmachenden Lehre« ab, wie der Prediger zufrieden verzeichnet, denn der Herzog habe ein » wolgefalliges Gewissen, der Furstl. Stand massigen Fortun weit furgezogen« .123 Daraufhin fiel Friedrich
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beim Kaiser in Ungnade: zuvor in Aussicht gesteHte Amter wurden ihm verweigert. Fur die Angehorigen des niederen Adels findet sich eine brei te Palette an religiosen Verhaltensmoglichkeiten und Betati gungsfeldern: Ob nun religiose Schriften oder personliche Glaubensbekenntnisse verfaBt,124 erbauliche >Diskurse< ge pflegt, die Bibel ersthaft studiert, Erbauungsliteratur und Cho rale besonders geliebt und der Gottesdienst uberdurchschnitt lich haufig besucht wurden oder ob die tatige Nachstenliebe zur Einrichtung von Stiftungen fuhrte: die Manner des niederen Adels zeichneten sich in groBem MaBe durch personliche From migkeit und tatiges Christentum aus. Einige Verstorbene waren schon Zeit ihres Lebens fromm, wie Georg Wilhelm von Rei schach (1673-1724), der als Student in Kontakt zum Pietismus kam und von friih an, so der Geistliche, sich ernstlich urn » Gott seligkeit« bemiihte, diese vor aHem in Privatandachten su chend.125 Das Evangelium war fur Johann Wilhelm von Kechler die selbstverstandliche Zuflucht bei Schicksalsschlagen und Krankenlager, hatte er sich doch schon fruh » zum Herrn Chri stus bekannt« .126 Anderen dagegen wurde erst durch Krank heitserfahrungen die Religion zum wichtigen Lebensinhalt, wie fUr Christoph von Lutzelburg und Christoph Ferdinand von Reischach, auf deren Leben und Sterben weiter unten naher ein gegangen wird. Ungewohnlich ist schlieBlich der Hinweis in der Leichenpredigt fur Christoph Martin von Degenfeldt (1599-1653), eine Schmahschrift seiner Gegner habe falschli cherweise verbreitet, er sei zum Katholizismus konvertiert, worauf er eine » Formulam Refutationis wider die geschehene Verleumbdung geschrieben« 127 und zusatzlich ein zwanzig Jah re zuvor im Feld verfaBtes Glaubensbekenntnis publiziert habe. Hier werden in einer Zeit starker konfessioneller Streitigkeiten personliche Glaubensauseinandersetzungen greifbar. Bei den dem Burgertum angehorenden Mannern finden sich etliche Frommigkeitsaspekte wieder: auch hier wurde der Got tesdienst fleiBig besucht, die Privatandacht gepflegt, Bibel und Erbauungsschriften gelesen oder Glaubensdiskussionen ge fuhrt, ja, die Bibel schriftmaBig ausgelegt, wie dies von Johann Christoph Lutz (1576-1632) gesagt wird.128 Auch Armenstiftun gen spielten im wohlhabenden Burgertum eine Rolle, dazu kam z.B bei Jakob Christoph Demler eine besondere Forderung der Kirchenmusik.129 Yom Buchdrucker Lorber wird lobend er-
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wahnt, daB er trotz langeren Aufenthalts unter den >Papisten< seiner Religion stets treu geblieben sei.130 Krankheitserfahrung konnte zum >Bekehrungs- und Erweckungserlebnis< werden: Johann Gottlob Loffler (1700-1755) gibt in seiner selbstverfaB ten Leichenrede an, daB sein zuvor unsittlicher Lebenswandel durch das Eintreten »kranklicher, schwachlicher Leibesumstan de«131 gelautert worden sei: »Gott fienge mich nach und nach als einen Thon« zu bearbeiten, 132 schreibt er. Sein stark gefUhls betonter Lebensbericht im Rahmen der Leichenpredigt wird zum Medium der religiosen Selbstdarstellung. Johann Daniel Andler schlieBlich zog sich wegen einer Krankheit vollig auf das Familienleben zuruck und findet Hilfe in der Religion, hier in unserem Ausgangsbeispiel, Johann Wilhelm von Kechler, ahnlich. 133 Die Religiositat des/der Verstorbenen zeigt sich fur den Pre diger besonders in seinem/ihrem Verhalten auf dem Sterbela ger. Bis ins 18. Jh. hinein halt sich die Auffassung in den Lei chenpredigten,134 daB in der Todesstunde Gericht uber den Ster benden gehalten werde und daB Gott bereits zu diesem Zeitpunkt entscheide, ob der / die Betreffende in die Ewigkeit aufgenommen werden konne. Dadurch wurde das Sterben zum »hochdramatischen Akt«135 mit genauen Choreographie, der »Kunst des Sterbens«,136 nach der jeder Christ sich verhalten sollte. So gehort es insbesondere zum >richtigen< Sterben, ge duldig den Tod zu erwarten, bis zuletzt Trost in Gott zu suchen, sich mit allen Mitmenschen zu versohnen137 und schlieBlich ru hig und sanft zu entschlafen. Die Leichenpredigt wollte dieses rechte christliche Sterben vermitteln, ist also zunachst normativ zu verstehen. Doch sie zeigt nicht nur das Ideal, sondern wir erfahren auch, wie tatsachlich gestorben wurde, indem der Pfarrer Abweichungen von der Norm nicht verschweigt.138 In unserem Kontext ist insbesondere zu fragen, ob es geschlechts spezifische Normen des >richt�gen Sterbens< bzw. mannliches oder weibliches Sterbeverhalten gab. So wurde nur fUr Manner eine totliche Krankheit zum Motiv der religiosen Umkehr nach einem eher den weltlichen Genus sen zugeneigten Leben. Christoph von Lutzelburg (1682-1 721) etwa erkannte auf dem Krankenlager, ein groBer Sunder gewe sen zu sein.139 Seine Krankheitserfahrung wird als Weg zu Gott gedeutet: statt nach weltlicher Anerkennung zu jagen, steht nun Weltverachtung im Mittelpunkt, was sich u. a. daran zeigt, daB
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der Adlige seine »masqueraden-Kleider«14o verkaufte, sich also auch bewuBt von dem Reprasentationsverhalten des Adels ab wendete und statt dessen christliche Mildtatigkeit ubte:141 von dem Erlbs der Kleider wurde eine Stiftung fUr Arme errichtet. Bei fortschreitender Krankheit begruBte von Lutzelburg den Tod, das Leben wurde ihm ganzlich unwichtig; als Vorbote sei ner Aufnahme in das Reich Gottes hbrte er auf dem Sterbelager Himmelsmusik.142 Ahnlich erging es dem Rittmeister Chri stoph Ferdinand von Reischach (1749-1778).143 Todkrank such te er, der vorher offenbar wenig religibs war, nur noch den Ruhm in Jesu; »Geburt, Stand, Bltithe der Jahre, vorteilhafte, leibliche Aussichten, schmeichelnder Beifall«144 wurden ihm ganzlich gleichgtiltig. Auch als eine Genesung nahe schien, »er liegt er nicht der Versuchung«145 und erkannte den Tod als hb heren Lohn. Gerade Manner, die im Militardienst standen, kommen oft erst durch eine >Krankheit zum Tode< zur Gottes erkenntnis. Mancher bereute erst in der Todesstunde seine Stin den: von Wilhelm Friedrich Kechler (1684-1733) heiBt es, er ha be » seiner vilen und schweren Stinden halben mit seinem be leidigten Gott und Vatter im Himmel Richtigkeit [ . . . J machen und sich recht versbhnen« 146 wollen und habe schlieBlich ge duldig und andachtig seine Seele Gott ubergeben. Obwohl das Ideal ein sanfter Tod ist, schildert der Pfarrer des hiiufigeren in bezug auf sterbende Manner einen Todeskampf, wie z. B. beim im Leben wie im Angesicht des Todes tapferen Herzog Magnus oder bei Christoph Martin von Degenfeld, des sen gesamtes Leben durch Kampfmetaphern umschrieben wird, der sich aber besonders im Tod als guter Kampfer be wahrte.147 Das Verscheiden jedoch muB nach den Vorstellungen vom >richtigen Sterben< ein stilles Hinubergleiten in die Ewig keit sein. Bei Frauen wird dagegen nirgends von einem Todes kampf berichtet, was jedoch an der Quellenauswahl liegen mag.148 Ganz so idealtypisch dem » christlichen Sterben« und seinen Verhaltensanforderungen entsprechend liest sich aber nicht je de Beschreibung der Todesstunde: So sah zwar Heinrich Sieg fried von Kechler (1720-1763) sein schuldvolles Leben ein, als er den Tod herannahen ftihlte, doch von Glaubens- und Aufer stehungsgewiBheit fehlte jede Spur: er bangte um die gbttliche Vergebung, zeigte groBe Unruhe und Schwachheit und wollte gar noch langer leben.149 Eklatanter als dies Verhalten ist die
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Abweichung vom geforderten Verhalten bei Johann Friedrich von Kechler (1696-1761):150 Er hatte schon in fruheren Tagen den bffentlichen Gottesdienst wegen seines Alters und seiner » Engbrustigkeit«151 nicht besucht, sondern nur Privatandach ten abgehalten. Durch seinen plbtzlichen Tod starb er nun sogar ohne Abendmahl. Es kann auch nicht, wie sonst ublich, wenig stens der Zeitpunkt des letzten Abendmahls in der Kirche ge nannt werden. Selbst wenn man konzediert, daB in einem pie tistisch beeinfluBten Milieu die Privatandacht einen groBen Stellenwert genieBt und nicht generell als Kritik des GHiubigen an der Institution Kirche aufzufassen ist, so fallt doch bei dieser Leichenpredigt der miBbilligende Unterton des Geistlichen auf. Immerhin kann er von einem letzten Gebet des Sterbenden be richten.152 Festzuhalten ist also, daB es neben formelhaften Fassungen des Verhaltnisses zum Christentum und des >richtigen Ster bens< eine Fulle von Beispielen gelebter Religiositat sowohl im Bereich der privaten als auch der bffentlich dokumentierten Frbmmigkeit bei Mannern der drei Sozialgruppen gibt. Eine be sondere Bedeutung kommt dabei der Religion als Hilfe bei Leid- und Krankheitserfahrung sowie dem >Erweckungserleb nis< angesichts von Krankheit und Tod zu, das sich sowohl im niederen Adel als auch im Burgertum findet. Die pietistisch be einfluBte Darstellung der Glaubenserlebnisse zeigt dabei stark gefuhlsorientiertes mannliches Verhalten. Eine unterschwellig kritisierte Religions- und Kirchenferne ist dagegen unbedingt als Normabweichung zu werten; diese findet sich ausschlieB lich in ungedruckten Leichenpredigten des niederen Adels. Ein Blick auf die Autobiographik des 16. Jahrhunderts zeigt jedoch, daB dort haufiger von einem nicht den Regeln des >schbnen Sterbens< folgenden Tod berichtet wird - auch hier erweist sich die Leichenpredigt also als eine QuelIe, die Normabweichun gen eher selten thematisiert.153 Bei der Religiositat von Frauen fallt auf, daB es von keiner der Verstorbenen heiBt, sie habe ein >sundiges Leben< geftihrt und sei erst durch Krankheit und Tod gelautert worden. AIle Frauen sind, nach Darstellung des Pfarrers, in ihrem ganzen Leben immer schon fromm gewesen. Wieder sind es nur die Manner, bei denen Normabweichungen auftreten. Ansonsten finden sich etliche Dbereinstimmungen im Bereich der persbn lichen Frbmmigkeit bei Personen beiderlei Geschlechts. So wird
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bei Barbara, Herzogin von Baden die groJ5e Liebe zur Bibel, der fleiJ5ige Besuch des Gottesdienstes und das geduldige Akzep tieren von leidvollen Lebenserfahrungen hervorgehoben. Ge bet und Evangelium waren auch die Stiitze der Barbara Sophia, Herzogin von Wiirttemberg und Teck, die noch in ihrer Krank heit aus einem Nebengemach den Gottesdienst verfolgte und als Regentin die Augsburger Konfession wirkungsvoll vertei digen konnte. Bei den Frauen des niederen Adels finden wir neben stereo typen Formeln, z. B. die der >christlich gesitteten Witwe<, Bei spiele personlicher Devotion und Schicksalsergebenheit, aber auch gute Werke wie die Mildtatigkeit und Hilfe fiir Kranke und Arme. Catharina Regina von Barilli, geb. von Freudenberg trennte sich gar von ihrem Ehemann wegen religioser Differen zen - ein in unserer Auswahl einzigartiger Fall, bei dem das Mitgefiihl des Geistlichen eindeutig der Frau gilt.154 Biirgerliche Frauen werden in den Leichenpredigten haufig als ausnehmend fromm dargestellt. So heiJ5t es von Anna Maria Andler (1563-1626), sie habe ihr »Christentum hoch gefiih ret« ,155 und sei besonders haufig, nicht nur sonntags, zur Kirche gegangeri.. »Wollte Gott es waren mehr Leut also gesinnt« , seufzt der Pfarrer.156 Fiir das Hausgesinde habe sie den Morgen und Abendsegen gesprochen und sei dariiber hinaus ein leuch tendes Beispiel fur ihre Kinder gewesen, »da sie schier alle Psal men deJ5 koniglichen Propheten Davids auJ5wendig geken net« .157 Sabina Regina Andler (1657-1702) wird als Witwe be schrieben, die in geziemender Einsamkeit gelebt, alle Hoffnung auf Gott gesetzt und Tag und Nacht gebetet habe,158 Johanna Loffler zeichnete sich nach Meinung des Pfarrers durch » einfal tige Zuversicht in Christus«, kindliche Zuwendung zu Gott 'und Geringschatzung der Welt aus.159 Uberhaupt gelten die Ab kehr von der Welt und ein sittlicher Lebenswandel als Ausweis weiblichen gottgefalligen Verhaltens, Wie auch Maria Magdalena von Varnbiiler (t 1684)160 verfaJ5t Maria Salome Besserer (t 1612) selbst ein >Trostbiichlein<,161 1m Unterschied zu den Mannern hatten Frauen in den Augen der Pfarrer ein eher kindlich-demiitiges Verhaltnis zum christlichen Glauben und erlebten ihre Religiositat, die angeblich schon im mer ihr Leben bestimmte, in allen schweren Lebenslagen als Trost und Stiitze, Aktive Nachstenliebe war bei ihnen vornehm lich Armen- und Krankenpflege. Nur vermogendere Frauen
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traten als Stifterinnen auf, wie z. B. die als Hofmeisterin tatige Ursula Margaretha Varnbiiler von Gemmingen, die einzige nicht hochadlige Frau, die selbst fiir Kirche und Arme stiftete: Es wird eine Brotverteilung fiir die Armen von Jebenhausen und Hemmingen erwahnt ebenso wie die Stiftung von Kirchen ausstattungen, besonders fiir die Kirche von Hemmingen, wo »der Taufstein mit silbernem Taufbecken und kanten [siC!]« so wie das Gelaut auf ihre Stiftung zuriickgehen.162 Finanzielle Unterstiitzung von Bediirftigen findet sich dagegen bei Man nern haufig. 1m Unterschied zu den Frauen hatten Manner nach Ausweis der Leichenpredigten des ofteren einen wissenschaft lichen oder poetischen Zugang zum Glauben. Bei beiden Geschlechtern sollte sich die Religiositat beson ders in der Sterbesituation bewahren: Nicht nur die Rezitation von Psalmen und Gesangen bis zur letzten Minute, das Sehnen nach dem Eintritt in das ewige Leben, das Flehen urn die Ver gebung der Siinden und die demiitige Annahme des Todes fin den sich bei beiden Geschlechtern, sondern auch der zartliche Abschied von der Familie und die Aussohnung mit den Ver wandten am Totenbett. Es ergibt sich, daB die Normen des >Schonen Sterbens< nicht geschlechtsspezifisch angelegt sind, wahl aber stellen die Geistlichen Frauen als diejenigen dar, die sich eher nach den Normen verhalten konnten. Die kampferi sche Auseinandersetzung mit dem Tod schildert der Pfarrer in unserem Quellenkorpus nur bei Mannern.
3.5. Eigenschaften und Lebenswandel Ein normatives Rollenkonzept spiegelt sich besonders in der sozial- und geschlechtsspezifischen Schilderung von Eigen schaften und Lebenswandel der betreffenden Person.163 Mann liche Angehorige des Hochadels werden mit den Tugenden fromm, gnadig, gerecht, guttatig, rechtschaffen, freundlich, ge duldig und friedlich beschrieben. Dazu treten, sofern die Ver storbenen eine militarische Position bekleidet haben, die Eigen schaften heldenhaft, tapfer, ritterlich, bestandig, mannhaft, un verdrossen, treu, patriotisch und herzhaft. Uberraschender sind jedoch Charakterisierungen, die zunachst eher mit weiblichen Eigenschaften konnotiert zu sein scheinen: Genannt werden de miitig, bescheiden, sanftmiitig, gehorsam, ziichtig, keusch, ehr-
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bar, lieb und zartlich. 1m niederen Adel finden sich fast aile ge nannten Tugenden wieder, doch treten Eigenschaften hinzu, die die dienende Position der Niederadligen in bezug auf den Hochadel umschreiben. Besonders haufig werden Treue, De mut und Gehorsam betont, auiSerdem werden ratgebig, auf richtig, teutsch, leutselig, vemiinftig, pflichtbewuiSt und dienst haft genannt. Die Tugenden >heldenhaft< und >gnadig< sind je doch filr den herrschenden Stand reserviert. Zufall mag sein, daiS sich in den Texten fUr die Manner des niederen Adels nicht die Eigenschaften Keuschheit und Zucht finden, die jedoch im Bilrgertum wieder auftauchen. Auch fUr die Angehorigen des Bilrgertums stimmen groiSe Teile der genannten Tugenden ilberein. Insbesondere sind die Eigenschaften der mit einem Amt Betrauten in niederem Adel und Bilrgertum identisch. Auffallend haufig werden aber Dankbarkeit und Gewissenhaf tigkeit im Bilrgertum hervorgehoben, auiSerdem erscheinen die Eigenschaften still und eingezogen sowie arbeitsam und fleiiSig. Es versteht sich, daiS im Bilrgertum keine militarischen Tugen den auftauchen, da nur ein Bilrger in unserem Queilenkorpus vorilbergehend eine militarische Position bekleidete,1 64 es fehlt aber auch die Tugend der Gerechtigkeit. Ob dies signifikant ist, kann hier nicht geklart werden, doch ist eindeutig festzustellen, daiS Arbeit und Hauslichkeit165 die bilrgerlichen Manner aus zeichnen. Bei den Charakterisierungen filr die Angehorigen des Adels spielen sicherlich die traditionellen Adelstugenden, wie sie sich seit dem Mittelalter feststelIen lassen, eine Rolle: der Adlige solI hochgemut, selbstgewiiS, mutig, fest und voll Vertrauen in seine Kraft und Weisheit sein, aber auch maiSvoll, ruhig und den an deren zugewandt. Schutz der Schwachen und Unterstiitzung der Armen als ritterliches Ideal bleiben auch in den Leichenpre digten erhalten.166 Eine zweite Quelle der genannten Tugenden sind christliche Idealvorstellungen der Gottesfurcht, Nachsten liebe, Friedfertigkeit und Zuriickhaltung gegenilber weltlichen Genilssen, aber auch der Demut, Bescheidenheit und dem Ge horsam gegenilber Gott. SchlieBlich erklaren sich Keuschheit und Zucht als mannliche Tugenden wohl ebenfalls aus dem christlichen Wertekontext der Prediger. Die von Maurer heraus gestellte Verbilrgerlichung von Werten gerade im pietistischen Milieu konnte hier zum Tragen kommen; auffallend jedenfalls ist, daiS auch adlige Manner mit bilrgerlichen, nicht hofischen
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Tugenden wie Bescheidenheit, Liebe und Demut charakterisiert werden.167 Klar wird, daIS auch die MiilSigung des Tempera ments eine generelle Lebensmaxime sein soIl: so erfiihrt Max Christoph Besserer von Thalfingen (1678-1737) deutliche Kritik durch den Pfarrer, der ihm Dbereilung und Jiihzorn beschei nigt.168 Offenbar sind ihm diese Eigenschaften zum Verhiingnis geworden, wurde er doch von seinem Amtsvorgiinger durch einen PistolenschulS niedergestreckt. Auch bei den Frauen ilberwiegen die standesunabhiingigen Tugenden: Frauen sollen in erster Linie fromm,169 gehorsam, freundlich, friedlich, vertriiglich, guttiitig, lieb, treu, geduldig, bulSfertig, sanftmiltig, zilchtig, keusch, und ehrbar sein. Diese Tugenden sind offenbar nicht nur standes- sondern auch ge schlechtsunspezifisch, das vorbildliche christliche Verhalten wird von beiden Geschlechtern gefordert. Frauen und Miinner werden zu Modellen christlicher Tugend im wirklichen Le ben.170 Nur in einigen, aber fur die Rollenkonstruktion sehr auf schluBreichen Fiillen kommen geschlechtsspezifische Eigen schaften vor: Es wird zuallererst der Gehorsam gegenilber dem Gemahl - bei unverheirateten Frauen gegenilber den Eltern oder Vormiinden - betont, wiihrend bei den Miinnern der Ge horsam gegenilber dem sozial Hoherrangigen oder direkt Vor gesetzten gemeint ist. Die Eigenschaft der Treue ist filr Frauen nur auf die Ehe bezogen, wiihrend sie bei den Miinnern auch das Dienstverhiiltnis kennzeichnen kann. Nur von den Frauen gefordert wird eine zurilckgenommene K6rpersprache, die von der Zucht und Sittsamkeit der Frau Zeugnis ablegt, dazu ein besonders zurilckhaltendes Auftreten in der Offentlichkeit. Das gilt auch wiihrend der Ausilbung eines ansonsten von Miinnern versehenen Amtes, der Regentschaft. Bei Frauen treten schlieB lich die Eigenschaften als Trosterin der Armen und Kranken sowie Filrsorgerin fur die Kinder in den Mittelpunkt, auch wenn Mitleid und Hilfeleistung filr Arme nicht geschlechtsspe zifisch konnotiert sind. Auf der anderen Seite sind die militiiri schen Tugenden die eigentlich >miinnlichen<, da nur sie allein den Miinnern vorbehalten sind. Interessanterweise werden Frauen aber auch nie als >teutsch< oder >patriotisch< bezeichnet, denn diese Begriffe sind mit miinnlichem Verhalten konno tiert.l7l Standesbezogene weibliche Tugenden finden sich dage gen nur wenige in unseren Texten: Auch hier, wie bei den Miin nern, konnen einzig Angehorige des Hochadels mit der Eigen-
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schaft >gnadig< bezeichnet werden. Allein bei Frauen aus dem Adel kommt die Charakterisierung als >fein<, aber auch als >ge recht< vor, letzteres als Hinweis auf den dem Stand gemaf5en Umgang mit dem Dienstpersonal. Burgerliche Frauen werden auf5erdem, ahnlich wie die Manner, durch Arbeit und Hauslich keit gekennzeichnet, wenn sie als still, hauslich, fleif5ig und ar beitsam bezeichnet werden. Auffallend ist die Erwahnung von einem >gutem Verstand< in mehreren Fallen, wo adlige Frauen sich durch besondere Kenntnisse und Fahigkeiten oder durch entschiedenen Einsatz fur das Luthertum ausgezeichnet haben. Standesubergreifend wurde fur alle Manner am haufigsten die Eigenschaft >fromm, gottesfurchtig<, an zweiter Stelle >mild tatig<, an dritter Stelle >ehrbar, aufrichtig, redlich< genannt, fur alle Frauen ebenfalls am haufigsten >fromm, gottesfurchtig<, an zweiter Stelle >gehorsam< und an dritter Stelle >freundlich<.172 Dieser Befund bestatigt, daf5 die in den Leichenpredigten auf gefuhrten Tugenden sowohl geschlechtsunspezifische Verhal tensnormen fur alle Christen als auch geschlechtsspezifische Schwerpunkte aufweisen. Die haufige Nennung von >Mildta tigkeit< bei den Mannern mag dabei auch Aufforderungscha rakter fur die zuhbrenden Gemeindemitglieder gehabt haben. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse muf5te die These Ka rin Hausens, daf5 vor dem 18. Jahrhundert Manner und Frauen uber ihre Standeszugehbrigkeit und ihre gesellschaftlichen Aufgaben definiert wurden und sich erst ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Polarisierung der Geschlechtscharak tere durchgesetzt habe, zumindest teilweise revidiert werden: Das normative Geschlechterkonzept der Leichenpredigten ver weist mit der Festlegung der Frauen auf den Gehorsam diese auf eine gesellschaftlich abhangige Position, selbst wenn es sich urn Frauen des Hochadels handelt, sowie ihre Verpflichtung auf den hauslichen Bezugsrahmen. Es erlegt Frauen zudem beson dere Zuruckgenommenheit, bis hin zu einer entsprechenden Kbrpersprache, in der Offentlichkeit auf, auch wenn die reale gesellschaftliche Position der Betroffenen, so im Falle der Re gentin, bffentliche Wirksamkeit beanspruchen konnte. Eine ge wisse Polarisierung der Geschlechtscharaktere fand also bereits fruher statt.
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4. Schluflfolgerungen Nach dies em Durchgang durch 60 Leichenpredigten wird deut lich, daB die in den Leichenpredigten konstituierten Manner rollen differenzierter ausfallen, als dies aus einer lediglich den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts verpflichteten Sicht zu er warten ware: Neben dem erfolgreichen Kriegshelden und wei sen Herrscher stand der liebende Ehemann und Vater, neben dem in offentlichen Amtern pflichtbewuBt wirkenden Beamten stand der fromme Adlige oder Biirger, der sich durch seine be sonders intensive religiose Praxis auszeichnete. Die genannten Profile von Mannerrollen iiberlagerten sich und schlossen ein ander, wenigstens zum Teil, nicht aus. Dies wird an den Cha raktereigenschaften erkennbar, die den Mannern zugeschrie ben werden und die sich auch bei in der Offentlichkeit stehen den Adligen und Biirgern iiberraschend defensiv ausnehmen: von Demut, Keuschheit und Zartlichkeit ist die Rede - Tugen den, die eher als weiblich besetzt gelten und das Mannerbild ausdifferenzieren. Religion war auch Mannersache:173 Prazisierend kann die Be obachtung hinzugefiigt werden, daIS sich das religiose Engage ment der Manner noch intensivierte, wenn sie wegen Krankheit die von ihnen erwartetet soziale Rolle nur noch unvollkommen erfiillen konnten. Entsprechend trat auch die intensive Beschaf tigung mit ihren Kindern vor allem bei denjenigen Mannern auf, die wegen Krankheit aus dem Erwerbsleben oder der Amtsausiibung ausscheiden muBten. Fiir diese Art der Lebens fiihrung fanden sich mehrere Beispiele in Leichenpredigten des 18. Jahrhunderts- der Fall des Johann Wilhelm von Kechler steht nicht einzig da. Besonders in den Fallen, wo ein durch Krankheit hervorgerufenes >Erweckungserlebnis< unter pieti stischem Vorzeichen geschildert wurde; war zu beobachten, daB ein stark emotionales Verhalten von Mannern beider Stan de positiv bewertet wurde. Dies bestatigt die Beobachtung von Maurer, daIS mit dem Pietismus eine Gefiihlskultivierung ver bunden war, die nicht nur das Biirgerturn, sondern Z. T. auch den Adel pragte. 174 Emotionalitat und Religiositat waren fiir Manner wie fiir Frauen konstitutiv, doch gibt es signifikante Unterschiede: wahrend wir bei den Frauen fast ausschlieBlich die tatige Hilfe fiir Arrne und Kranke finden, war Frommigkeitspraxis in Form
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des Stiftungswesens bei Mannern weit verbreitet. Diese betatig ten sich auBerdem wissenschaftlich oder mit poetischen Ambi tionen, wenn sie Diskussionen uber den Glauben fiihrten oder religiose Gedichte verfaBten. Manner erhielten also einen gro Beren Spielraum in der Aneignung religioser Themen - den Frauen blieb der kindliche Glaube und der rein repetitive Zu gang zu religiosen Texten durch das Auswendiglernen von Psalmen. Fur die Bewaltigung der Krankheitssituation spielte die Re ligion fur beide Geschlechter· eine herausragende Rolle. Es konnte aber festgestellt werden, daB Krankheit und damit ein hergehender Karrierebruch beim Mann nicht automatisch ei nen Normbruch darstellte. Vielmehr konnte Krankheit auch ei ne Befreiung von Rollen- und Aufgabenverpflichtungen dar stellen. Hier war allerdings die Finanzierbarkeit der Krankheit entscheidend: Der Adlige Johann Wilhelm von Kechler konnte als Rentier ohne Berufsausubung leben, ohne vollig zu verar men und sozial abzusteigen. Anders ist der Fall des Johann Da niel Andler, der wegen seiner Krankheit das Amt als Expedi tionsrat kaum versehen konnte. Wegen seiner fruheren Verdien ste wurde er jedoch im Amt belassen, so daB hier ebenfalls kein sozialer Abstieg erfolgte.175 Fur von Kechler wie fur Andler spielte die Religion eine her ausragende Rolle fur die Krankheitsbewaltigung. Krankheit stellte zwar ein abweichendes Verhalten dar, doch wurde die gesellschaftliche Konformitat durch die religios gelauterte Ubernahme der Krankenrolle wiederhergestellt. Auch bei den Frauen war die Religion der Trost auf dem Krankenlager, wobei die soziale Rollenerfullung der Frau durch Krankheit weniger in Frage gestellt wurde als beim Mann. Von der Frau wurde zwar erwartet, daB sie dem Hauswesen vorstand und eine treu sorgende Ehefrau und Mutter war, doch konnte sie aus Krank heitsgriinden diese Rolle nicht erfullen, wird dies zumindest in Leichenpredigten nicht als problematisch dargestellt. Die Hochschatzung des personlichen Leids als Lauterung und Hin fiihrung zu Gott uberlagert das Versagen in den weltlichen Auf gaben. Die Tatsache, daB die religiose Praxis der Verstorbenen vom Geistlichen sehr positiv hervorgehoben werden, zeigt wohl starker eine christliche als eine allgemein gesellschaftlich ver breitete Sicht, wie ja uberhaupt Leichenpredigten durch ihren
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AnlaiS und ihre Intention mehr als andere Texte das Verhaltnis des/ der Verstorbenen zur Religion thematisieren und dariiber hinaus die Schilderung der Lebenslaufe stark von christlicher Semantik getiirbt sind. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daiS die geschilderten Verhaltensweisen der Personen vollig unzutreffend waren. Auch ist zwar die spezifische Be wertung von individuellem Verhalten durch den Prediger mit seinen religios bestimmten Praferenzen nicht allgemeiner ge sellschaftlicher Konsens, doch verstieiS der Geistliche mit sei nen AUiSerungen nicht vollig gegen gesellschaftlich akzeptierte Wertvorstellungen, sondern pragte diese im Gegenteil mit. Hierfiir ist von Bedeutung, daiS gedruckte Leichenpredigten in hohem MaiSe auch Lesetexte waren. Die Rezeption beschrankte sich also nicht auf die zuhorende Trauergemeinde. 176 Nicht jedes mannliche Verhalten war mit den Anforderun gen an eine mannliche Lebensfiihrung vereinbar: Wenigstens im Sterben muiSte die Aussohnung mit Gott erfolgen, muiSten die Siinden bereut werden, auch wenn das bis dahin gefiihrte Leben vor allem an weltlichen Werten orientiert war. 1m vorlie genden Quellenmaterial waren es nur Manner, die einen harten Todeskampf zu bestehen hatten - die Sterbesituation wird durch den Geistlichen geschlechtsspezifisch stilisiert. Ebenfalls ausschlieiSlich bei den Mannern fanden sich Beispiele, bei de nen ein zuvor ausschweifendes Leben mehr oder weniger deut lich vom Geistlichen kritisiert wurde. Schwer geriigt wurde die Abwendung von der >wahren Religion<, die sich Herzog Ulrich von Wiirttemberg zu schulden kommen lieR Auch der Jahzorn und andere Neigungen zur UnmaiSigkeit, wie sie offenbar nur Manner zugeschrieben wurden, stellten ei ne Normabweichung dar: nur der kiihle Kopf, der verniinftige, beherrschte, maiSvolle und sparsame Mann war erwiinscht. So laiSt sich resiimieren: Der jahzornige Biirgermeister, der von seinem Amtsvorganger ermordet wurde, der dem Trunk ergebene bzw. der zum Katholizismus konvertierte Herzog und der ohne Abendmahl verstorbene Gutsbesitzer, das waren die Personen mit der deutlichsten Abweichung von der Norm. Da neben war auch die Ehescheidung ein Makel im Leben von Ver storbenen, wurde jedoch nicht moralisch bewertet. Normab weichungen und -briiche wurden durchweg nur fiir Manner und vor allem in Leichenpredigten fiir den Adel thematisiert. Die Vermutung, daiS wegen der obligatorischen Abfassung ei-
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ner Leichenrede fur diesen Stand eine groBere Streubreite von sozialen Verhaltensweisen beobachtbar sein wurde als im Bur gertum, hat sich vollauf bewahrheitet. Nicht bestatigen lieB sich dagegen die Hypothese, daB in ungedruckten Leichenpredig ten generell offener Normabweichungen thematisiert werden. Zwar findet sich Entsprechendes bei den ungedruckten Predig ten der Familie von Kechler, jedoch nicht in der Kontrollgruppe der ungedruckten Texte fUr die Familie von Varnbuhler, wah rend in gedruckten Texten sogar fUr den Hochadel manch kri tisches Wort, wenn auch verbramt, geauBert wurde. Die Frauen waren offenbar, zumindest in den Augen des je weiligen Geistlichen, an die gesellschaftlichen Normen stiirker angepaBt. Dies kann jedoch auch bedeuten, daB von ihnen uber das Medium der Leichenpredigt eben diese Anpassung auch starker gefordert wurde. So gilt zunachst die Beobachtung Hei de Wunders, daB in den Leichenpredigten die geschlechtsspe zifische Arbeitsteilung, namlich die Zustandigkeit des Mannes fur die Offentlichkeit, die der Frau fUr Haushalt, Kirche und Kirchengemeinde dargestellt wird.177 Dabei ist davon auszuge hen, daB Frauen durchaus eine offentliche Wirksamkeit uber ihr religioses Engagement in Nachbarschaft, Gemeinde oder gar Herzogtum erlangen konnten, der Begriff der >Offentlich keit< also anders gefaBt werden muB als fur das 19. Jahrhun dert.178 Doch auch andere Tatigkeitbereiche von Frauen wurden in den Leichenpredigten sichtbar, etwa die der Ursula Marga retha Varnbiiler von Gemmingen als Hofmeisterin. Dennoch stellt ihr Lebensweg keine Abweichung von der Norm dar, laBt er sich doch gut in das Bild der fur die Kindererziehung zustan digen Frau integrieren. Gleiches gilt fUr die besonderen Kennt nisse von Frauen in der Heilkunde, waren sie doch fur die Kran kenpflege zustandig. Auffallend ist die Wertschatzung von Klugheit bei Frauen. Insbesondere aber durfte sich der scharfe Verstand von Frauen beim Kampf gegen die >Irrlehre< der Cal vinisten bewahren. Dies gilt vor allem fur die Regentinnen, die sich in einer von Mannern dominierten Sphare bewegten. Eine, wenn auch wohl meist unfreiwillige Abweichung von dem ge sellschaftlich Geforderten war bei den Frauen feststellbar: die Kinderlosigkeit. Kompensiert werden konnte diese durch auf opfernde Hilfe und Fursorge fur die Armen unr' Kranken bzw. die mutterliche Zuwendung zu den Kindern des Bhemanns aus erster Ehe.179 Lediglich an der emotionalen Zuruckhaltung, mit
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der der Lebensweg der shirker an ihren Verstandeskriiften als an religibsen Erbauungsschriften orientierten Anna Marga retha von Hohberg vorgestellt wurde, ist die Mi15billigung uber ein differierendes weibliches Rollenverstandnis abzulesen, gin gen die Kenntnisse der Freifrau in der Arzneikunde doch weit uber das ubliche Ma15 hinaus.180 So ist ein weiteres Ergebnis der Untersuchung, da15 Manner- und Frauenrollen nicht einfach komplementar sind. Es zeigen sich auf der anderen Seite aber auch Bereiche, die ausschlie15lich einem der beiden Geschlechter zugesprochen wurden. Die Verwiesenheit der Frau auf Ehe und Familie war, wie es auch der gesellschaftlichen Realitat entsprach, ungleich hoher. Hier fand sie nach wie vor ihr hauptsachliches Betati gungsfeld, sollte es aber auch finden, entsprechend der luthe rischen Ehelehre.l8l Dabei war das Verhaltnis der Frau zu ihrem Gatten durch Gehorsam gepragt. Ihr Lebensweg lie15 sich gar nicht, wie beim Mann, von diesen Aspekten abtrennen. Ent sprechend unwichtig war fur die Darstellung des weiblichen Lebenslaufs die Ausbildung der Tochter. Eine rein weibliche Domane war auch die Krankenpflege, sei es im Familien- oder Verwandtenkreis, sei es in der Nachbarschaft.182 Das Verhalten in der Offentlichkeit war bei Frauen schlie15lich deutlicher re glementiert als beim Mann: Zuruckgezogenheit und Beschei denheit sollten starker hervOEtreten, besonders wenn die Frau eine Witwe war. Als Frau ohne direkte mannliche Kontrolle mu15te sie besonders auf eine offentlichkeitsferne Rolle einge schworen werden. Schlie15lich zeigt die Analyse der Standesspezifik eine gro15e Ahnlichkeit von Lebensstil und Rollenmustern beim niederen Adel und dem Burgertum, jedenfalls soweit die Personen Amtstrager waren. Die pflichtgetreue und gerechte Ausubung eines offentlichen Amtes sowie andere vergleichbare Lebens umstande einten die beiden Stande. Dagegen finden sich vollig unterschiedliche Rollenmuster beim adligen Angehorigen des Militars, wo das alte Ritterideal fortlebte und beim burgerlichen Kaufmann oder Handwerker, der sich durch die Burgertugend der flei15igen Arbeit und Hauslichkeit auszeichnete. Insgesamt la15t sich fur die Quellengattung der Leichenpre digt mit ihrem Personalteil festhalten, da15 ihr sowohl gesell schaftliche Erwartungen an geschlechts- und standesspezifi sche Rollenerfiillungen als auch individuelle Lebenswege und
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Abweichungen von Rollenstereotypen zu entnehmen sind. Die hier vorgestellten Ergebnisse muBten jedoch in einem zweiten Schritt mit der neueren Biographie- und Lebenslaufforschung bzw. der fruhneuzeitlichen Autobiographik183 verglichen werden, urn noch scharfer die spezifischen Leistungen und Aussagegrenzen des Quellentypus Leichenpredigt zu fassen. Dennoch laBt sich feststellen, daB im Spannungsfeld von Rol lenkonstruktion und tatsachlichen Lebensentwurfen ein diffe renzierteres Bild der lebbaren Manner- und Frauenrollen ent steht, wofur sicherlich auch der christliche Interpretationshin tergrund fur den Lebensweg einer Person ausschlaggebend ist: Hier wirkt sich die besondere Wertschatzung der Emotionalitat, faBbar in gesteigerter personlicher Frommigkeit und intensi vierten Familienbeziehungen, aus. Partielle Ubereinstimmun gen in der Miinner- und Frauenrolle sowie eine erweiterte Skala von Verhaltensmoglichkeiten beider Geschlechter werden greifbar: Darin liegt der spezifische Ertrag einer Analyse von Leichenpredigten fur die Manner- und Geschlechtergeschichte.
Anmerkungen 1 Hauptstaatsarchiv (im folgenden abgekurzt HStA) Stuttgart, Archiv der Freiherren Kechler von Schwandorf, Leichenpredigt (im folgenden LP) auf Johann Wilhelm von Kechler (1752) Q 3/49 Bu. 13. (Die Angabe des Autors erfolgt nur, wenn fur eine Person Leichenpredigten von unter schiedlichen Autoren vorliegen.). 2 Zu Leichenpredigten s. vor allem: Lenz, Rudolf (Hg.): Leichenpre digten als Quelle historischer Wissenschaften, Koln bzw. Marburg/Lahn 1975, 1979 und 1984; Ders. (Hg.): Studien zur deutschsprachigen Leichen predigt der fruhen Neuzeit, Marburg/Lahn 1981; Winkler, Eberhard: Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener, Munchen 1967. 3 S. fur das 18.-20. Jh. KUhne, Thomas (Hg.): Mannergeschichte, Ge schlechtergeschichte. Miinnlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt/M. 1996; auBerdem Gilmore, David D.: Mythos Mann. Wie Manner gemacht werden. Rollen, Rituale, Leitbilder, Miinchen 1993; Cornwall, Andrea/Lin disfarne, Nancy (Hg.): Dislocating Masculinity. Comparative Ethnogra phies, London 1994; Schneider, Gisela (Hg.): Frauen Forum II, Trier 1996; Frevert, Ute: Mannergeschichte oder die Suche nach dem »ersten« Ge schlecht, in: Hettiing, Manfred u. a. (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, Munchen 1991. 4 LP J. w. v. Kechler, non fo!.
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5 Zum Pagendienst s. Arnold, Klaus: Familie, Kindheit, Jugend, in: Hammerstein, Notker (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. I : 15-17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskampfe, Munchen 1996, 135-152, 140 f. Auf die mit telalterliche Tradition verweist Berg, Ralf: Leichenpredigten und Bildungs verhalten, in: Lenz (1984), 139-160, hier 148. 6 LP J. w. v. Kechler, non fol. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. die Ausfuhrungen zum Gehorsam S. 57 dieses Beitrags. 12 Die Verwendung des Rollenbegriffs lehnt sich an die Definition an, wie sie Karin Hausen formuliert hat: er umschreibe den »Sachverhalt, daB mit verschiedenen strukturell festgelegten sozialen Positionen bestimmte Verhaltensmuster gesellschaftlich vorgegeben sind, denen sich das tatsach liche Verhalten des Positionsinhabers nicht entziehen kann«. Hausen, Ka rin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« . Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): So zialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363-393, hier 364. 13 Zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere s. Hausen (1976). Zu offentlichen und privaten Raumen s. Dies.: Offentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlech terbeziehungen, in: Dies./Wunder, Heide (Hg.): Frauengeschichte, Ge schlechtergeschichte, Frankfurt/M. 1992, 81-88; Davidoff, Leonore: » Alte Hute« . Offentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschrei bung, in: L'Homme Z.F.G. 4,2 (1993), 7-36. Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Mannlichkeit und selbstandige Weiblichkeit. Frauen und Manner im Ham burger Burgerturn zwischen 1770 und 1840, Gottingen 1996. 14 Vgl. Rei£, Helmut: WestfaIischer Ade1 1770-1860. Yom Herrschafts stand zur regionalen Elite, Gottingen 1979, 106, bzw. 107-112. Zum Adel s. weiterhin Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Europaischer AdeI 1750-1950, Gottin gen 1990, darin insbesondere Oexle, Otto Gerhard: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Fruhen Neuzeit, 19-56; Reeden-Dohna, Armgard von/Melville, Ralph (Hg.): Der Adel an der Schwelle des burger lichen Zeitalters 1780-1860, Stuttgart 1988; Kuchenbuch, Ludolf: Adel, in: DUlmen, Richard van: Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/M. 1990; De wald, Jonathan: The European Nobility 1400-1800, Cambridge 1996. 15 Dazu Fertig, Ludwig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrstandes und der burgerlichen Intelligenz, Stuttgart 1979. 16 Reif (1979), 110. 17 S. Maurer, Michael: Die Biographie des Burgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Burgertums (16801815), Gottingen 1996. 18 Zur Geschlechtergeschichte s. Scott, Joan W.: Gender: A Useful Cate gory of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91,4 (1986), 1053-1075; Habermas, Rebekka: Geschlechtergeschichte und » anthropolo-
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gy of gender«. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 3 (1993), 485-509; Ulbrich, Claudia: Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), 108-120. 19 Parsons, Talcott: The social system. London 1951. Zur Bewiiltigung von Krankheit in historischer Perspektive sowie einer Historisierung der Begriffe Krankheit und Gesundheit s. Jiitte, Robert: Arzte, Heiler und Pa tienten. Medizinischer Alltag in der friihen Neuzeit, Miinchen 1991, bes. 7-17 und 195-224; Dohner, Otto: Krankheitsbegriff, Gesundheitsverhalten und Einstellung zum Tod im 16.-18. Jahrhundert. Eine historisch-medizin soziologische Untersuchung anhand von gedruckten Leichenpredigten, Frankfurt/M. 1986, untersucht lediglich anhand der von Fritz Rohr erstell ten Regesten die Krankheiten und deren Behandlung, ohne jedoch die Krankheitserfahrungen mit dem vorherigen Leben der Betroffenen zu ver kniipfen. Zudem beriicksichtigt er weder standes- noch geschlechtsspezi fische Unterschiede. 20 Zur Rekonstruktion von weiblichen Lebenszusammenhiingen an hand von Leichenpredigten s. Wunder, Heide: Frauen in den Leichenpre digten des 16.-17. Jahrhunderts, in: Lenz (1984), 57-68; Dies.: Der gesell schaftliche Ort von Frauen der gehobenen Stiinde im 17. Jahrhundert, in: Hausen/Wunder (1992), 50-56; s. aufSerdem Dies.: Er ist die Sonn', sie ist der Mond. Frauen in der Friihen Neuzeit, Miinchen 1992; Kloke, Ines Eli sabeth: Die gesellschaftliche Situation der Frauen in der Friihen Neuzeit im Spiegel der Leichenpredigten, in: Schuler, Peter-Johannes (Hg.): Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, 147-163. 21 So z. B. von den Familien Besserer von Thalfingen, von Kechler, von Reischach, von Vambiihler und im Biirgertum von der Familie Andler. , 22 Hier folge ich den Angaben im Findbuch fiir den Bestand »J 67 Lei chenreden« im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. 23 Die Geistlichen wurden als Gruppe nicht aufgenommen, da ihnen bereits der Beitrag von Renate Diirr (5. 75-99 in diesem Band) gewidmet ist. 24 Dazu Lenz, Rudolf: Gedruckte Leichenpredigten (1550-1750), in: Ders. (1975), 36-51; Ders.: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidiszipliniire Quelle unter besonderer Beriicksichtigung der Histori schen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturge schichte, Sigmaringen 1990. 25 Sie konnten in ihrer ausfiihrlichsten Form mehrere Predigten fiir den Verstorbenen, weitere Ansprachen, Begriibnisgedichte, eine eigens fiir den AnlafS komponierte Trauermusik, » Epicedien«, d. h. Trauergedichte der Freunde, Giistelisten sowie Bildschmuck, etwa Kupferstiche der Person bzw. der Trauerprozession oder der geschmiickten Kirche, enthalten. Die Gestaltung der Drucke wurde immer aufwendiger und auch kostspieliger. So manche Familie verschuldete sich sogar wegen der hohen Kosten der Drucklegung, vgl. Lenz (1975), 41 f. Zur Herrschaftsrepriisentation durch Leichenpredigten s. Bepler, Jill: Das Trauerzeremoniell an den Hofen Hes sens und Thiiringens in der ersten Hiilfte des 17. Jahrhunderts, in: Berns, Jorg Jochen/Ignasiak, Detlef (Hg.): Friihneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thiiringen, Erlangen 1993, 249-265. 26 Zum Mittelalter s. Rudolf, Rainer: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Koln 1957; grundlegend ist Chaunu, Pier-
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re: La mort it Paris. 16e, 17e, 18e siecles, Paris 1978; Kummel, Werner Fried rich: Der sanfte und selige Tod. Verklarung und Wirklichkeit des Sterbens im Spiegel lutherischer Leichenpredigten des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Lenz (1984), 199-226. 27 Cappelmann, Johann Matthias: Philosophisch-Theologischer Unter richt von den Leichen-Predigten und Sittlichkeit derselben, nach mathema tischer Lehrart aufgesetzet. Nebst Untersuchung der Frage ob Leichenpre dig ten Lugenpredigten zu nennen? und hinlanglichen Anmerkungen, Lemgo 1746, 69. 28 Ebd., 37. 29 Muller, Heinrich: Geistliche Erquickstunden, Tubingen 1732, 277. 30 Cappelmann (1746), 16. 31 Wurttembergische Landesbibliothek (im folgenden WLB), Leichen reden, LP auf Maria Salome Besserer (1612), Fam. Pr. oct. K. 1297. 32 S. hierzu die Leichenpredigt auf Johann Gerlach VarnbUler von Gernrningen, bei der der Prediger die vom Verstorbenen selbst verfa./Sten Teile mit AnfUhrungsstrichen kennzeichnet und das darstellende Subjekt zum » ich« wechselt. Auffallend ist die Betonung einer starken emotionalen Beziehung des Verstorbenen zu seinen Brudern. Vom Tod seiner ersten Frau ist Varnbuler von Gernrningen sehr betroffen: es sei sein » au./Serstes Leid wesen« gewesen, schreibt er. HStA Stuttgart, Archiv der Familie von Varn bUler, LP auf Johann Gerlach VarnbUler von Gernrningen (1707), P 10, Bu. 439, non foL 33 Sie findet sich vor allem in den mittel- und oberdeutschen Territori en, den schweizerischen Stadten sowie dem protestantischen Sudwesten. Fur Wurttemberg verwahren das Hauptstaatsarchiv Stuttgart sowie die Wurttembergische Landesbibliothek in Stuttgart mehrere tausend Leichen predigten, die in der Mehrzahl gedruckt sind. 34 S. dazu Oexle (1990), 21-26. 35 Dazu Lerner, Franz: Ideologie und Mentalitat patrizischer Leichen predigten, in: Lenz (1979), 126-157. 36 Standesspezifisch ist die Wendung, die adlige Geburt genuge nicht, sondern der wahre Adel entstehe nur durch die christliche Taufe. Dies ver weist auf die Verchristlichung des Adelsideals seit dem Mittelalter. 37 VgL dazu Kloke, Ines E.: Das Kind in der Leichenpredigt, in: Lenz (1984), 97-120, hier 111-119 zum Elternverlust bzw. der Erziehung der ver waisten Kinder durch eine Stiefmutter. 38 Ebd., 114. 39 LP D. S. V. Schlepegrell, non foL 40 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Georg Friedrich Stoffel auf Al brecht von Wurttemberg (1670), J 67, Bu. 5, 10. 41 Die Leichenpredigt reduziert die Ausbildungswege des Betroffenen auf die wesentlichen Stationen und verschweigt dabei Konflikte. VgL Berg (1984), 140. S. a. Ders.: Die Leichenpredigt als QueUe der Bildungsgeschich te, in: Lenz (1981), 86-131. 42 S. hierzu Wunder, Heide: Wie wird man ein Mann? Befunde am Be ginn der Neuzeit (15.-17. Jahrhundert), in: Eifert, Christiane u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Manner? Geschlechtskonstruktionen im his tori schen Wandel, Frankfurt/M. 1996, 122-155.
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43 Reif (1979), 132 f. 44 Das Tubinger Collegium wurde von Herzog Friedrich 1. 1596 in eine Ritterakademie umgewandelt. Vgl. Weller, Karl und Arnold: Wurttember gische Geschichte im slidostdeutschen Raum, 7. Aufl., Stuttgart 1972, 172. Zum Universitiitsbesuch des Adels s. Muller, Rainer A: Universitiit und Adel. Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Lan desuniversitiit Ingolstadt 1472-1648, Berlin 1974; Reif (1979), 122-156; Berg (1984). Zu Ritterakademien s. Conrads, Norbert: Ritterakademien der Frli hen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, Got tingen 1982; zur Adelsbildung Stichweh, Rudolf: Der friihmoderne Staat und die europiiische Universitiit. Zur Interaktion von Politk und Erzie hungssystern im ProzeE ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert), Frankfurt/M. 1991, 261-280. 45 Dazu s. Kuhnel, Harry: Die adlige Kavalierstour im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch fUr Landeskunde von Niederosterreich, N.F. 36 (1964), 364-384; Loebenstein, Eva-Marie: Die adlige Kavaliersto�r im 17. Jahrhun dert. Ihre Voraussetzungen und Ziele, Diss. Wien 1965. 46 HStA Stuttgart, Leichenpredigten, LP von J.w. Dietthrich auf Fried rich von Wlirttemberg (1682), J 67, Bu. 8, 35. 47 LP Albrecht v. Wurttemberg. 48 Ebd., 2. Herzog Albrecht hatte zuniichst unter einem Sprachfehler gelitten. 49 Ebd., 3. 50 Ebd., 12. 51 Ebd., 17. 52 Als Friedensminister muEte man auf die Armenhiiuser und den Ge meinen Kasten acht haben, als Kriegsminister wurden die Bruder beauf sichtigt, wie sie exerzierten und auf Scheiben schossen. LP Albrecht v. Wurt temberg, 17. 53 Zu diesem Zusammenhang s. Reif (1979), 122-125. Dasselbe Bil dungsideal ist fur den Niederadel feststellbar: Berg (1984), 151 f. 54 Vgl. Fischer, Joachim: Herzog Eberhard III. (1628-1674), in: Uhland, Robert (Hg.): 900 Jahre Haus Wurttemberg. Leben und Leistung fur Land und Yolk, Stuttgart 1984, 195-210, hier 206 f. 55 So bei Stichweh (1991), 71-76. 56 Eberhard Ernst von Gaisberg (t 1695) besuchte » die Schule« in Ess lingen. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Eberhard Ernst von Gaisberg (1695), J 67, Bli. 46, 20. Georg Wilhelm von Reischach erhielt seine hohere Schulbildung auf dem Stuttgarter Gymnasium. HStA Stuttgart, Leichenre den, LP auf Georg Wilhelm von Reischach (1724), J 67, Bu. 79, 55. 57 Vgl. Reif (1979), 125. 58 So etwa Eberhard Ernst von Gaisberg, der sich zwar zuniichst auf eine Verwaltungskarriere vorbereitet und die franzosische Sprache erlernt, dann jedoch die Familienguter libernehmen muE. LP E. E. v. Gaisberg, 2l. 59 Zum Universitiitsbesuch der Burgerlichen s. Handbuch der deut schen Bildungsgeschichte (1996), 216 f., sowie Maurer (1996), 494-517. Man cher kann nur durch ein Stipendium Universitiitsbildung erlangen. S. Berg (1984), 156.
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60 So wird von Johann Christoph Andler (1626-1699) berichtet, er habe die Elementarschule zu Tubingen und danach das Gymnasium zu Speyer besucht. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johann Christoph Andler (1699), J 67, Bu. 29, 23. 61 Studienfach ist, wegen seiner uberragenden Bedeutung fur die Ver waltung, vor allem Jura, daneben Philologie und Philosophie. So bei Johann Christoph Andler. LP J. c. Andler, 23. Studienort ist neben Tubingen auch Stral5burg, wie bei Christoph Martin von Degenfeldt. HStA Stuttgart, Lei chenreden, LP von Christoph Martin von Degenfeldt, (1653), J 67, Bu. 41, 60. 62 Johann Christoph Andler reiste mit seinem Herrn, Freiherr Steegen von Ladendorff, nach Holland und Frankreich, wo er Franzosisch lernte. LP J. c. Andler, 24. 63 So beim Buchdrucker Melchior Gerhard Lorber (1651-1701). HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Melchior Gerhard Lorber (1701), J 67, Bu. 67. 64 Zur Sozialisation in der Universitat s. Stichweh (1991), 314-340. 65 Volger, Gisela/Weick, Karin v. (Hg.): Mannerbande, Mannerbunde. Zur Rolle des Mannes irn Kulturvergleich, 2 Bde., Koln 1990, bes. Bd. 2, 33-40. 66 Eine militarische Position wird nur in einem Fall erwiihnt: Johann Jakob Andler (1616-1683) war » Freireiter« bei der franzosischen Armee. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johann Jakob Andler, J 67, Bu. 29, 18. Der Begriff meint einen Offiziersdiener. Vg!. Deutsches Rechtsworterbuch, Bd. 3, 1938, Sp. 805-806. 67 S. auch Berg (1984). 68 So lebte Ursula Margaretha Varnbuler von Gemrningen, geb. Schil ling von Cannstadt (1649-1698) zunachst in den Haushalten verschiedener weiblicher Verwandter, dann bei ihrer verheirateten Schwester. HStA Stutt gart, Archiv der Familie Varnbuler, LP auf Ursula Margaretha Varnbuler von Gemrningen (1698), P 10, Bu. 442, non. fo!' 69 Hierzu Durr, Renate: Von der Ausbildung zur Bildung. Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter in der FrUhen Neuzeit, in: Kleinau, Elke/ Opitz Claudia (Hg.): Geschichte der Madchen- und Frauenbildung. Bd. 1: Yom Mittelalter bis zur Aufklarung, Frankfurt/M. 1996, 189-206. 70 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Sabina Regina Andler (1702), J 67, Bu. 29, 43. S. dazu Conrad, Anne: » Jungfraw Schule« und Christenlehre. Lutherische und katholische Elementarbildung rur Madchen, in: Klein au/Opitz (1996), 175-189. 71 Albrecht, Herzog von Wurttemberg und Teck lehrt seine Schwester die franzosische Sprache: » Hat sie mit Betbuchern beschenket, aul5 einem Frantzos(ischen) Buch gewiesen, wie sie die Sprach erlernen konne« ; LP Albrecht v. Wurttemberg, 10. Die Tochter Johann Gerlach VarnbUlers von Gemmingen hat in Genf Franzosisch gelernt. Vg!. LP J. G. Varnbuler, non fo!. 72 LP D. S. v. Schlepegrell, non fo!' 73 WLB, Leichenreden, LP auf Maria Agnes von Reischach (1667), Fam.Pr.oct.K. 13769, 29. 74 LP U. M. VarnbUler v. Gemmingen, non fo!.
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75 Vgl. die Ausfuhrungen weiter unten iiber die Regentinnen, iiber Ur sula Margaretha Vambiiler von Gemmingen, die als Hofmeisterin tatig war, sowie biirgerliche Frauen, die in einem Dienstverhaltnis gestanden haben. Zur Frauenarbeit s. Wunder, Sonn' (1992). 76 Darauf macht aufmerksam Bepler, Jill: Women in German Funeral Sermons. Models of Virtue or Slice of life?, in: German Life and Letters 44,5 (1991), 392-404. Zur lutherischen Ehelehre s. Lemmer, Manfred: Haushalt und Familie aus der Sicht der Hausvaterliteratur, in: Ehlert, Trude (Hg.): Haushalt und Familie in Mittelalter und friiher Neuzeit, Sigmaringen 1991, 181-192; Wunder, Heide/Vanja, Christina (Hg.): Wandel der Geschlechter beziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991; bes. die Beitrage von Heide Wunder, Jan-Dirk Miiller, Maria E. Miiller sowie Gerta Scharffenorth. 77 Beispiel kann Karl Rudolf von Wiirttemberg sein. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP Johann Christoph Schiitz auf Karl Rudolf von Wiirttem berg (1742), J 67, Bii. 14 1. 78 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Christoph Wolfflin auf Ulrich von Wiirttemberg (1671), J 67, Bii. 5, 45. 79 So in der LP auf Karl Rudolf, Herzog von Wiirttemberg und Teck. 80 » [ . . . J daB Sie mit den lieben llirigen sich im iibrigen gantz eng ge halten, allem Pracht, Stolz und Hochmuth von herzen feind gewesen, und sich mit wenigem beholfen« . LP Friedrich v. Wiirttemberg, 42. 81 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Lucas Osiander auf Ludwig von Wiirttemberg (1593), J 67, Bii. 1, 92. 82 LP Ludwig v. Wiirttemberg, 84. 83 Vgl. Rudersdorf, Manfred: Herzog Ludwig (1568-1593), in: Uhland (1984), 163-173. Vgl. auch Miinch, Paul: Die »Obrigkeit im Vaterstand«. Zur Definition und Kritik des »Landesvaters« wahrend der Friihen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982), 15-40. 84 LP Ludwig v. Wiirttemberg, 87. 85 Ebd., 86. 86 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Erhard Weinmann auf Friedrich Achillis von Wiirttemberg (1631), J 67, Bii. 4. 87 Ebd., 81. 88 Ebd., 79. 89 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Wolf Helmhardt von Hohberg (1688), J 67, Bii. 56. 90 Ebd., E 3 ro, vo. 91 WLB, Leichenreden, LP auf Franz Daniel Besserer von Thalfingen (1879), Fam.Pr.oct.K. 21014, 10. 92 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johann Daniel Andler (1668), J 67, Bu. 29, 28. 93 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Christoph Zeller auf Barbara Sophia von Wiirttemberg (1636), J 67, Bii. 4. 94 Wenn sich eine Herrscherin eher durch >miinnliche< Eigenschaften ausgezeichnet hat, muB dies entschuldigt werden. Vgl. Kloke (1987), 158 f. 95 LP Barbara Sophia v. Wiirttemberg, 52 und 61 f.
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96 Ebd., 51 f. Der Prediger erwahnt, daB Barbara Sophia eigenhandig Altartucher gestickt habe. 97 Ebd., 57. Dieser Aspekt wird haufiger erwahnt; so auch bei Herzogin Anna Maria von Wurttemberg. Vgl. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Lucas Osiander auf Anna Maria von Wurttemberg (1589), J 67, Bu. 1, 17. Zur Versorgung von Armen mit Arzneien s. TelJe, Joachim (Hg.): Pharmazie und der gemeine Mann. Hausarznei und Apotheke in deutschen Schriften der fruhen Neuzeit (AusstelJung der Herzog August Bibliothek Wolfenbiit tel 1982/1983), Braunschweig 1982. 98 LP Anna Maria v. Wurttemberg, 17. 99 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Tobias Lotter auf Barbara von Baden (1627), J 67, Bu. 3. 100 Ebd., 64. 101 Die Bezeichnung als >Braut Christi< steht hier im Zusammenhang mit dem Gleichnis von den klugen und tOrichten Jungfrauen. Mt. 25, 1 if. 102 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Bernhard Ludwig Loher auf Heinrica von Wurttemberg (1623), J 67, Bu. 3, 6. 103 HStA Stuttgart, Archiv der Freiherren Kechler von Schwandorf, LP auf Maria Maxirniliane von Kechler (1761), Q 3/49, Bu. 13, non fol. 104 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Anna Margaretha von Hoh berg (1688), J 67, Bu. 56, E va. 105 WLB, Leichenreden, LP auf Magdalena Besserer von Thalfingen (1654), Fam.Pr.oct.K. 1298, 44. Sie habe vom Rat das Amt einer » oberhandi gen Frau« verliehen bekommen. 106 LP U. M. Varnbuler v. Gemmingen, non fol. 107 S. z. B. HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Anna Dorothea Andler (1683), J 67, Bu. 29, 35. 108 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johanna Loffler (1679), J 67, Bu. 67, 21. 109 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Jacob Christoph Demler (1725), J 67, Bu. 41, 32. 110 LP W. H. v. Hohberg, G 2 va. 111 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Hans Jacob von Reischach (1642), J 67, Bu. 79. 112 Ebd., 30 f. Ahnlich bei Jacob Christoph Demler: »Was er vor eine schone Privat-HauB-Kirche mit Seinen Kindem gehalten [ . . . J wie Er auch nachgehends Seine libe Enckel und Ur-Enckel wie ein anderer HauB- und Sitten - Lehrer in der Catechisation und Christenthum geiibet und unter wiesen«; LP J. c. Demler, 33. 113 LP Friedrich v. Wurttemberg, 42. 114 Seit Ende des 16. Jahrhunderts wird im Zeichen einer zunehmen den Intimisierung des Ehelebens das Verhaltnis der Eheleute zueinander in den LP geschildert. Vgl. Lenz (1990), 53-67. S. a. Dugan, Eileen T.: The Fu neral Sermon as a Key to Familial Values in Early Modern Nordlingen, in: The Sixteenth Century Journal 20,4 (1989), 631-M4. 115 HStA Stuttgart, Archiv der Freiherren Kechler von Schwandorf, LP auf Wilhelm Friedrich von Kechler (1733), Q 3/49, Bu. 13, non fol. 116 Ebd., non fol.
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117 Dazu Wunder, Heide: von der ,frurnkeit< zur ,Frommigkeit<. Ein Beitrag zur Genese burgerlicher Weiblichkeit (15.-17. Jahrhundert), in: Be cher, Ursula A.J./Rusen, Jorn (Hg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Per spektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der histori schen Frauenforschung, Frankfurt/M. 1988, 174-188. Saurer, Edith (Hg.): Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religioser Mentalitaten, Wien 1995. 118 LP Karl Rudolf v. Wurttemberg, 37. 119 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Bernhard Ludwig Loher auf Magnus von Wurttemberg (1622), J 67, Bu. 3. 120 LP Ulrich v. Wfuttemberg, 56 f. 121 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP von Matthias Hafenreffer auf Si byllevon Wurttemberg (1614), J 67, Bu. 1, 277. Es folgt eine langere Abhand lung uber die Disputation mit dem Calvinisten Beza zu Mompelgard; die Leichenpredigt wird zur Einschworung der Gemeinde auf die lutherischen Glaubenssiitze genutzt. 122 LP Anna Maria v. Wurttemberg, 17. 123 LP Ludwig v. Wurttemberg, 37. 124 LP C. M. v. Degenfeldt, 74. 125 LP G. W. v. Reischach, 57. 126 LP J. w. v. Kechler, non fol. 127 LP C. M. v. Degenfeldt, 72 f. 128 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johann Christoph Lutz (1632), J 67, Bu. 67, 39. 129 LP J. c. Demler, 34. 130 LP M. G. Lorber, 22. 131 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Johann Gottlob Loffler (1755), J 67, Bu. 67, 17. 132 32 Ebd., 19. 133 LP J. D. Andler, 28 f. 134 Dies im Gegensatz zu geistlichen Traktaten des 16. und 17. Jahrhun derts, die starker darauf zielen, das ganze Leben als Bewiihrungsprobe zu fassen. Vgl. auch Aries, Philip: Geschichte des Todes, Miinchen 1982, 42. Zur Schilderung der Sterbesituation in Leichenpredigten s. Kummel (1984). 135 Kiimmel (1984), 199. 136 Vgl. Anm. 27. 137 Dazu Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremonialwissen schaft der Privat-Personen. Hg. und kommentiert v. Gotthardt Fruhsorge (Neudruck der Ausgbe 1728), Leipzig 1990, 661 f. 138 Vgl. Kummel (1984), 202. 139 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Christoph von Lutzelburg (1721), J 67, Bu. 67. 140 Ebd., 33. 141 Vgl. Maurer (1996), 376 f., zum Verhiiltnis von christlich-burgerli chem und adligem Verhalten. 142 LP C. v. Lutzelburg, 44. 143 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Christoph Ferdinand von Rei schach (1778), J 67, Bu. 79.
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144 Ebd., 24. 145 Ebd. 146 LP W. F. v. Kechler, non fol. 147 LP C. M. v. Degenfeldt, 61. 148 Kummel berichtet von einem Fall, wo auch eine Frau einen harten Todeskampf auszustehen hat. Vgl. Kummel (1984), 206. 149 HStA Stuttgart, Archiv der Freiherren Kechler von Schwandorf, LP auf Heinrich Siegfried von Kechler (1763), Q 3/49, Bu. 13, non fol. 150 HStA Stuttgart, Archiv der Freiherren Kechler von Schwandorf, LP auf Johann Friedrich von Kechler (1761), Q 3/49, Bu. 13. 151 Ebd, non fol. 152 Ebd., non fol. Dies war das Minimum des erwartbaren Verhaltens. Vgl. Ktimmel (1984), 214. 153 S. dazu Jtitte (1991), 208. 154 LP M. M. v. Kechler. Ob Catharina Regina Protestantin war, konnte nicht geklart werden. 155 HStA Stuttgart, Leichenreden, LP auf Anna Maria Andler (1626), J 67, Bu. 29. 156 Ebd., 17. 157 Ebd., 18. 158 LP S. R. Andler, 44. 159 LP J. Loffler, 24. 160 HSta Stuttgart, Archiv der Familie Vambtiler, LP auf Maria Magda lena von Vambtiler, P 10, Bu. 441, non fol. 161 LP M. S. Besserer, 39. Vgl. auch Anm. 31. 162 LP U. M. Vambtiler v. Gemmingen, non fol. Testamente berichten jedoch haufiger von Stiftungen durch Frauen. 163 Urn einen Wandel dieser Zuschreibungen vom 16. zum 18. Jahrhun dert gesichert feststellen zu konnen, ist m. E. die Quellenbasis dieser Unter suchung zu gering. S. zum Wandel der Tugenden bei Mannem und Frauen des Burgertums anhand der Haller Totenbucher Durr, Renate: Magde in der Stadt. Das Beispiel Schwabisch Hall in der FrUhen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, bes. 109-126; Ehlert, Trude: Die Rolle von >Hausherr< und >Hausfrau< in der spatmittelalteriichen volkssprachlichen Okonomik, in: Dies. (1991), 153-166. 164 Vgl. Anm. 66. 165 S. Durr (1995), 124-126. 166 Vgl. zu den Kardinaltugenden sapientia, fortitudo, iustitia und temperantia Oexle (1990), 22-26. 167 So bei Maurer (1996), 376 f. 178 HStA Stuttgart, Leichenreden LP auf Max Christoph Besserer v. Thalfingen (1737), J 67, Bu. 33, 25. 169 S. dazu Durr (1995), 119-123. 170 Den Modellcharakter des weiblichen Rollenbildes ohne Beruck sichtigung der Mannerrolle betonen Wunder (1991), 56, und Bepler (1991), 394-396. 171 >Patriotisch< wird mit >vateriandsliebend< gleichgesetzt, hat also ei nen offentlichen Bezug. Nur auf Manner bezogen: Deutsches Worterbuch,
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Bd. 13, Sp. 1505. >Teutsch< >deutsch< wird u. a. mit den Synonymen >va terlandsliebend, edel, trefflich, redlich, tapfer, treu, tiichtig< versehen und ebenfalls nur auf Manner bezogen. Vgl. Deutsches Worterbuch, Bd. 2, Sp. 1043-1048. 172 Ein Vergleich mit den Tugenden, wie sie im 17. Jahrhundert den biirgerlichen Mannern und Frauen am haufigsten zugeschrieben wurden, zeigt die Dominanz der standesspezifischen Tugenden der Zuriickgezo genheit und Arbeitsamkeit, was Hausens These eher stiitzt. Vgl. Diirr (1995), 109-126. 173 S. hierzu Schlog!, Rudolf: Glaube und Religion in der Sakularisie rung. Die katholische Stadt. KOln, Aachen, Miinster - 1700-1840, MUnchen 1995. Schlogl legt dar, dail bis zum 18. Jahrhundert Manner und Frauen eine gemeinsame religiose Sphare hatten und erst im 19. Jahrhundert Religion zur Frauensache wird. 174 Maurer (1996), 376 f. 175 Vgl. Jiitte (1991), 195-203, zu den Kosten von Krankheiten. 176 Dazu Niekus Moore, Cornelia: Erbauungsliteratur als Gebrauchsli teratur fiir Frauen im 17. Jahrhundert: Leichenpredigten als Quelle weibli cher Lesegewohnheiten, in: Bodeker, Hans Erich (Hg.): Le livre religieux et ses pratiques: etudes sur l'histoire du livre religieux en Allemagne et en France a l'epoque moderne./Der Umgang mit dem religiosen Buch: Studi en zur Geschichte des religiosen Buches in Deutschland und Frankreich in der friihen Neuzeit, Gottingen 1991, 291-315; Bepler (1991), 392 f. 177 Vgl. Wunder, Ort (1992), 51. 178 Vgl. Wunder (1988) sowie Dies.: Von Vermogen und Frommigkeit. Frankfurter Biirgerinnen im Spatmittelalter und in der Friihen Neuzeit, in: Hessische Landeszentrale fiir Politische Bildung (Hg.): FrauenStadtGe schichte. Zum Beispiel: Frankfurt am Main, Konigstein 1995, 57-76. 179 Kloke bringt jedoch Beispiele dafiir, dail nicht jede Ehefrau auch gern Stiefmutter sein wollte. Vgl. Kloke (1984), 112-119. 180 Bepler nennt dagegen mehrere Beispiele von Frauen, die in Man nerspharen erfolgreich waren, wie z. B. eine Apothekerin ·und eine Kauf frau; dies erwahnt der Geistliche eher entschuldigend. Vgl. Bepler (1991), 398-40l. 181 Vgl. Anm. 75. 182 Abweichend hiervon Keil, Gundolf: Der Hausvater als Arzt, in: Eh lert (1991), 219-244. 183 Zur Autobiographieforschung s. Schulze, Winfried: Ego-Dokumen teo Annaherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Bernhei den, Inge: Individualitat im 17. Jahrhundert. Studium zum autobiographi schen Schrifttum, Frankfurt/M. 1966; von Krusensljern, Benigna: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Dberlegungen. an hand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropolo gie 2 (1994), 462-471; wenig ergiebig Lumme, Christoph: Hollenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Korper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1996; demnachst Meise, Helga: Das archivierte Ich. Vom fiirstlichen Schreibkalender zum Tagebuch am Darmstadter Hof (1624-1790). =
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die Macht und Gewalt der Priestern aber ist ohne Schrancken«
Zum Selbstverstandnis katholischer Seelsorgegeistlicher im 17. und 18. Jahrhundert
AUe katholischen Priester sind Manner. Inwieweit jedoch ist die Geschichte des Seelsorgeklerus damit schon ein Thema der » Mannergeschichte«? Zwei Antworten auf diese Frage drangen sich auf: So ist von feministischen Theologinnen die Selbstver standlichkeit der mannlichen Amtstragerschaft immer wieder kritisiert worden, ergab sich doch der AusschlulS von Frauen aus dem Priesteramt in den Anfangen der Kirche nicht zwangs laufig.l Des weiteren fUhrte die Verpflichtung der Priester zu einer zblibataren Lebensweise zu Spannungen mit ihrer Ge schlechtlichkeit, die - wenn auch in unterschiedlicher Intensitat - die Geschichte des Priestertums durch samtliche Jahrhunder te begleiteten.2 Obwohl die Frage nach der Amtspraxis fUr eine Gesamteinschatzung des katholischen Priestertums zweifeUos zentral ist, mbchte ich in diesem Beitrag einen dritten Weg ein schlagen und nach dem Selbstverstandnis der Priester fragen. Die Debatten urn das Zblibat zeigen, daIS Fehltritte der Prie ster als besonders » schandlich« galten, weil sie dem Gebot en gelsgleicher Reinheit widersprachen. Noch im 20. Jahrhundert verteidigte etwa der spatere Miinchner Erzbischof und Kardi nal Michael Faulhaber das Keuschheitsgeliibde mit den Wor ten: » Die Hand, die den Leib des Herrn in Brotgestalt taglich auf die Patene legt und den Glaubigen reicht, soU etwas von jenen Engelhanden haben, die den Leib des Herrn in Kindesge stalt in die Wiege legten.« 3 In direkter Umkehr dieser Argumen tation wiederum schrieb Ende des 18. Jahrhunderts ein westfa lischer Geistlicher in seinem flammenden Pladoyer gegen das Zblibat: »Denn Menschen sind sie ja so gut wie wir aUe, und nicht Engel«,4 Kultische Reinheit und Abwendung von aUem Fleischlichen galten zumindest seit den tridentinischen Refor-
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men als zentrale Voraussetzung ftir die in der Messe vollzogene Opferhandlung des Priesters.5 Allerdings zeigen konkubinarische Priester, Geistliche in Wirtshausern und militarisch kurzen Rocken, daB auch die Seelsorger von dem gesellschaftlich geformten Mannerbild nicht ablassen wollten oder konnten. So bat in der zweiten Half te des 16. Jahrhunderts ein Monch aus der Diozese Mtinster urn Dispens ftir folgende Fehltritte: 1 . sei er in volltrunkenem Zu stand tiber die Ttirschwelle seines Vaters getreten; 2. habe er einem Madchen ein schriftliches Heiratsgelobnis erteilt, das er nicht gehalten habe; 3. habe er ftinf Monate als Soldat bei der Kolner Stadtwache gedient; 4. habe er eine verwandte Magd geschwangert und 5. habe er das Erbe verbraucht.6 In manchen Fallen also handelten Priester wie andere Manner auch, was insbesondere den Visitationsakten des 16. und der ersten Halfte des 1 7. Jahrhunderts entnommen werden kann? Die Diszipli nierungsbemtihungen im Zuge der Katholischen Reform ver suchten, diese » MiBstande« abzuschaffen und die Priester zu einem geistlichen Leben zu fiihren. Visitationsberichten aus der 2. Halfte des 17. Jahrhunderts kann entnommen werden, daB sie zu weiten Teilen erfolgreich waren. Der Abstand zu der » Welt« - d. h. unter anderem zu den tibrigen Mannern ihrer Gemeinde - hatte sich vergroBert, was einer Betrachtung des Priesterstandes unter der Perspektive der » Mannergeschichte« zu widersprechen scheint. Nun zeigt aber eine Sichtung der Predigten katholischer Seelsorgegeistlicher, daB sie zur Be schreibung ihres Selbst- und Amtsverstandnisses eine groBe Zahl mannlich oder weiblich konnotierter Bilder verwandten, deren Analyse unter theologischen und geschlechtergeschicht lichen Aspekten Erkenntnisse tiber das priesterliche Selbstver standnis sowie tiber die Definition mannlicher und weiblicher Geschlechtsrollen zu geben verspricht. Die Metaphernwelt der Vergleiche, die die Priester zu Hilfe nahmen, zeigt zunachst einmal, daB sich auch die geistlichen Wtirdentrager trotz der pratendierten » engelhaften Reinheit« nicht jenseits der Manner- und der Frauenwelt definierten. Al lerdings dtirfen weiblich konnotierte Metaphern nicht mit einer Frau, mannlich konnotierte Bilder nicht mit einem Mann ver wechselt werden, weil das » Mannliche« und das » Weibliche« in mittelalterlichen und frtihneuzeitlichen Texten nicht Manner und Frauen, sondern gegensatzliche Prinzipien beschrieben. So
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galt das Fleisch etwa als weiblich, der Geist dagegen als mann lich. Sowohl Manner wie Frauen aber waren deshalb von bei den Prinzipien durchdrungen. Die Geschlechter trennte infol gedessen nur ein gradueller, aber kein wesensmafsig vorgege bener Unterschied.8 Infolgedessen ist die Feststellung weiblich konnotierter Metaphern zur Veranschaulichung von Priester aufgaben ein neuerlicher Hinweis darauf, daB ein dualistisch antagonistisches Verstandnis von Mannern und Frauen erst in spiiterer Zeit vorherrschend wurde.9 Weiblich konnotierte Me taphern zur Beschreibung von Mannern besagen demnach we der, daB Priester nicht als wirkliche Manner galten, noch daB die vorindustrielle Gesellschaft keine » Zwei-Geschlechtlich keit« gekannt hatte. Die » erhebliche Vermischung der Ge schlechter«, die Caroline Walker Bynum zu Recht konstatiert, ist nicht mit einer » Verwischung« der Geschlechter zu verwech seln. 1m Gegenteil basierte das gesamte Denkgebaude der ka tholisch-theologischen Tradition auf der Vorstellung zweier Ge schlechter. » Ein-Geschlecht-Modelle« sowie die » Auflosung« der Materialitat des Korpers zugunsten eines rein diskursiven Begriffes von Geschlecht sind m. E. Resultat einer zu buchsta bengetreuen Lesart dieser Texte, deren metaphorischer Sinn uns in vielen Hillen offensichtlich verloren gegangen ist.10 Denn bei der Analyse der Metaphern, insbesondere sofern sie aus dem biblisch-theologischen Bereich resultieren, ist groBe Vorsicht geboten, weil die weiblich und mannlich konnotierte Bildersprache nicht nur ein Spiegel gesellschaftlicher Rollentei lung war. Wenn etwa in spatrnittelalterlichen Bildern Maria in Priestergewandern gezeichnet wurde, sollte damit verdeutlicht werden, daB Maria den Priestern gleich sei, weil sie den ge wohnlichen Sterblichen das erlosende Fleisch Gottes gegeben hatte, wie es der Priester in der Messe immer wieder neu voll bringt. Mit Uberlegungen iiber die Stellung der Frauen in der Kirche dagegen haben diese Bilder nichts zu tun.ll Andererseits wurde Christus in manchen mittelalterlichen und friihneuzeit lichen Erbauungstexten als weiblich dargestellt, teils, weil » ec clesia« (das ist der Leib Christi) als weiblich personifiziert, teils weil der zartliche, nahrende Aspekt der Sorge Gottes fUr die Seelen stets als miitterlich beschrieben wurdeY Entsprechende weibliche Darstellungen priesterlicher Aufgaben sind demnach Ausdruck einer » Imitatio Christi« durch Ubernahme von Fiir sorgefunktionen und der Reprasentation der Kirche. Diesbe-
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zuglich ist eine weiblich konnotierte Metapher sowohl als eine theologische Aussage wie auch als Ausdruck gese11schaftlicher Ro11enverteilung zu lesen. In vielen Hillen namlich verwandte man weiblich konnotierte Bilder fur den Bereich der Nahrung und Sorge, mannlich konnotierte Bilder dagegen zur Beschrei bung von Kampf und Autoritat. 1m folgenden sol1 danach gefragt werden, welche Bilder die Geistlichen zur Darste11ung ihres Selbstverstandnisses ge brauchten. Dabei mbchte ich von einem weiten Metaphernbe griff ausgehen, der - wie in anderen historischen Arbeiten nicht grundsatzlich zwischen Metapher, Bild, Allegorie und Vergleich unterscheidet, weil diese rhetorisch-poetischen Stil mittel trotz ihrer Unterschiede in Wirksamkeit und Funktion semantisch dasselbe leisten.13 BewuBt wird hier yom Selbstverstandnis der Geistlichen und nicht yom Amtsverstandnis gesprochen, weil sich die folgen den Ausfiihrungen nicht auf theologische Traktate oder Syn odalbeschliisse und Agenden beziehen, mit denen im Zuge der nachtridentinischen Reformen quasi » von oben« ein positives Leitbild des Priesters zu schaffen versucht worden war. Statt dessen bilden hier Predigten die Que11engrundlage. Wie auch im protestantischen Bereich gaben zahlreiche Geistliche ihre Predigten in dickleibigen, bis zu uber tausend Seiten starken Sammelwerken in Druck - als Hilfeste11ung fur die geplagten Landgeistlichen, die sich aufgrund der Stadtferne und ihrer muhseligen A11tagsarbeit nur wenig auf die Predigtvorberei tung konzentrieren konnten.14 DaB dieses Angebot aufgegriffen wurde, kann einer Klage von Johann Laurenz Helbig entnom men werden, der sich uber die groBe Zahl unfahiger und unge lehrter Geistlicher beschwerte, die ihre Predigten a11ein aus den Sammlungen anderer Prediger schbpften.15 In diesen Predigten beschrieben die Geistlichen die Grund lagen des Amtsverstandnisses aus ihrer eigenen Perspektive und begrundeten dieses mit zahlreichen Zitaten, in erster Linie von Kirchenvatern, daneben aber auch haufig mit Thomas von Aquin und Bernhardin von Siena. AulSerdem zeichneten sie das Bild des idealen Priesters, das zwar nicht als Ausdruck ihrer tatsachlichen Amtspraxis miBverstanden werden darf, das aber nicht ganzlich davon unabhangig formuliert werden konnte. In beiden Fallen sol1te nicht ubersehen werden, daIS es sich bei den Ub erlegungen nicht urn innertheologische Diskurse, sondern
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urn vor Laien gehaltene Predigten handelt, deren AulSenwir kung eine zentrale Rolle spielte. Die gedruckten Predigten mar kieren insofern eine Zwischenstellung zwischen gelehrter Hochtheologie und gelebter Pfarrealitat. Leider sind Predigten mit wenigen Ausnahmen noch nicht systematisch analysiert worden, so daIS die folgenden AusfUh rungen lediglich eine erste Annaherung darstellen.16 Das Pre digtcorpus, auf das sich dieser Beitrag bezieht, ist in erster Linie dem » Katalog der gedruckten katholischen Predigten« aus der Wiener Staatsbibliothek entnommen. 17 Der raumliche Schwer punkt liegt auf dem bayerisch-steiermarkisch-bsterreichischen Gebiet. Zeitlich ergibt sich eine Konzentration auf das halbe Jahrhundert zwischen 1660 und 1710, was mit der sog. » Bliite zeit der barocken Volkspredigt« zusammenfallt.18 Die Analysen basieren auf tiber 30 Sammelbanden von 23 Geistlichen, in de nen aussagekriiftige Predigten tiber das Leitbild des Priesters ausgemacht werden konnten. Die Priester selbst gehbrten zu etwa je gleichen Anteilen unterschiedlichen Ordensgemein schaften (den Jesuiten, Kapuzinern, Praemonstratensern, Bene diktinern, Augustiner-Eremiten, Franziskanern sowie den Do minikanern) und der Weltgeistlichkeit an. Bekanntlich gab es zwischen den einzelnen Ordensrichtungen und zwischen Welt und Ordensgeistlichen zahlreiche Differenzen, die zum Teil in haltlich begrtindet, zum Teil lediglich Ausdruck von Rivalitaten waren. Der Weltgeistliche Johannes Laurenz Helbig etwa ver wahrte sich in mehreren Predigten gegen die Verachtung, die die Weltgeistlichen seiner Meinung nach vonseiten der Ordens geistlichen und der Gemeindeglieder zu sptiren bekamen.19 Ohne weiteren, differenzierenden Forschungen vorgreifen zu wollen/o erscheint mir iedoch die inhaltliche Zielrichtung des Selbstverstandnisses der Priester nicht ordensspezifisch. Denn die Unterschiede zwischen den einzelnen Predigten lassen sich m. E. nicht auf die Herkunft des Geistlichen, sondern auf den AnlalS der Predigt zurtickfUhren. Predigten tiber das priesterli che Selbstverstandnis wurden aus AnlalS einer Primizfeier eines neugeweihten Priesters, daneben in manchen Fallen aus AnlalS eines 50jahrigen Amtsjubilaums oder des Todes eines Geistli chen gehalten. AulSerdem finden sich in Neujahrspredigten ausdrtickliche Beschreibungen des eigenen Selbstverstandnis ses. SchlielSlich wurden am zweiten Sonntag nach Ostern regel malSig Predigten tiber Johannes 10, 11 » Ego sum pastor bonus«
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gehalten, die ebenfalls ausfuhrliche Erlauterungen zum Hirten amt beinhalteten. Wahrend in den Primizfeiern das Hauptge wicht auf die Bedeutung der Weihehandlung und die damit einhergehende Sakramentsvollmacht gelegt wurde, themati sierten die Neujahrspredigten als Standespredigten in erster Li nie die Vorrangigkeit des geistlichen vor allen weltlichen Stan den. Die Hirtenpredigten nach Ostern schlielSlich richteten sich vorrangig an die Priester selbst und mahnten zu einer vorbild lichen Lebensweise und Amtserfullung. Alle Facetten gehbren zusammen, auch wenn sie aus Grunden der Analyse nun ge trennt werden.
1. »Ego sum pastor bonus«21 Das Tridentinum hatte mit grolSer Dringlichkeit darauf hinge wiesen, dalS die Aufgabe der Priester darin bestehe, fur das Heil der Glaubigen zustandig zu sein. Um Heil spenden zu kbnnen, benbtigten die Geistlichen jedoch Leitbilder, die sie anspornten und ihre spirituelle Kompetenz uber den Zeitpunkt der Weihe hinaus aufrecht erhielten. Zwar hatte das Konzil selbst kein ge schlossenes priesterliches Leitbild erstellt, doch gingen die nachtridentinischen Reformen durchgangig von dem Bild des »Guten Hirten« aus, der dem Mietling, welcher nur um sein eigenes leibliches Wohl bemuht sei, gegenubergestellt wurde.22 Dieses Bild griffen auch zahlreiche Predigten auf - als Klage uber MilSstande: » sie weiden sich selbst, aber nicht ihre Her de« ,23 oder aber als positive Referenz, die dann ausgeschmuckt wurde. Zur Erlauterung des Bildes wurden weitere Metaphern entworfen, die das jeweils Gemeinte konkretisieren und veran schaulichen sollten und im folgenden analysiert werden sollen. Zwei Funktionen des Priesters kreuzten sich in dem Bild des Guten Hirten, namlich das im Dienste der Gemeinde stehende Seelsorge- und das uber der Gemeinde stehende Lehrer- oder Wachteramt. »Prediger seynt Fischer [ . . J und nit Jager« , predigte etwa der Chorherr Andreas Strobl, weil die Fischer ein grol5es Netz auswurfen, und keine Unterschiede zwischen grolSen und klei nen Fischen machten.24 Wie die Sonne ebenfalls ohne Unter.
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schied in arme Bauernhutten und reiche Hauser schiene, soIlten sich auch Priester urn aIle Gemeindeglieder in gleicher Weise kummern.2S Gerade die Fursorgefunktion wurde von manchen Predigern sehr stark herausgestrichen. Interessanterweise fin den sich dabei zahlreiche weiblich konnotierte Bilder. So um schrieb Seraphinus da Vicep.za die Aufgabe der Hinwendung zur Gemeinde mit dem Bild einer » liebreichen Saugamme«26 und Franciscus Hunolt verglich den Prediger in Paulinischer Tradition (Gal 4,19) mit einer Mutter, die ihre Kinder (neu) ge biert: » meine liebe Kindlein, die ich abermahl mit meinem zu reden rnich bemuhe zu gebahren.«27 Mit diesen Vergleichen, wie in dem haufig verwandten Bild der Barenmutter, sollte auf bestimmte Tugenden hingewiesen werden, die dem Priester zu eigen seien oder sein sollten.28 Der Kapuzinermbnch Prokop von Templin etwa schrieb von der Barin, daIS sie » ihre Jungen nit im Leibe zu der rechten perfection unnd VoIlkommenheit bringet wie andere Thier thun, sondern nach dem sie ihn auff die Welt gebracht, siehet er gar nicht einem formirten Thier, son dern nur einem gantz unfbrmlichen Stuck Fleisch gleich, ohne GHeder, ohne Augen, ohne Haar, aulSgenommen die Klauen sie het man ein wenig: Nichts desto weniger machet sich die Mut ter Beerin druber her, erkennet es fur illr rechtes Kind, fanget an daran zu lecken, bleibet auch bestandig bey der Arbeit so lang, bilS sie es zu rechtem Form unnd Gestalt bringet, daIS es aIle seine GHeder bekommet, unnd zu einem voIlkommen jun gen Beeren wird, was die Natur versagt, das erstattet die Kunst, Mutterliche Treu, Liebe und unverdrolSner FleilS«.29 Wie die Ba renmutter, predigte auch Michael Staudacher SJ, » also solI auch ein Prediger ohne sparung von Miihe und Arbeit [ . . . J darob seyn/ das die angefangene/ aber noch nicht vollendte BildnulS GOTTes/ in den Seelen seiner Zuhbrer/ jhr endliche Vollstan digkeit [ . . . J erreiche«.30 Die Vergleiche mit Frauen und weibHchen Tieren haben also das Ziel, bestimmte Tugenden hervorzuheben, die in erster Li nie mit mutterlicher Geduld und Liebe, Treue und Bestandig keit assoziiert werden. Auch die Lehrplane der jesuitischen Priesterseminare legten grolSen Wert auf die Erziehung zur Tu gendhaftigkeit ihrer Sprbl5linge. Uber den Erfolg der Jesuiten schule in Munster schrieb Matthaeus Tympius: » Sie tragen jren discipuln eintrechtig fur die Fackel aller tugenten/ erzeigen in euserlichem wandel die massigkeit/ einfaltigkeit/ zucht/
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unnd schamhafftigkeit/ wie ehrbaren Priestern und geistlichen Mannern geburt« .31 Bartholomaus Holzhauser schliefSlich for derte von den Priestern: 1 . christliche Sanftmut in Wort, Hand lung und Gebarden; 2. Demut, die mit Ehrbarkeit der Kleidung, Kraft des Wortes, Anmut der Erscheinung und geistlicher Wur de gepaart sein muB; 3. Leutseligkeit; 4. Sittsamkeit, diese un erlalSliche Begleiterin der Leutseligkeit; 5. Humor; 6. Liebens wurdigkeit, die anderen den Vortritt lalSt, viel Entgegenkom men zeigt und mit jedermann Frieden halt.32 Diese Tugenden, die in ihrer Zielsetzung dem Tugendkatalog fUr Frauen nicht unahnlich waren, stellten fUr den Begrtinder einer Weltgeistli chenbruderschaft den rechten Kontakt des Seelsorgers mit der Gemeinde her. Denn die Priester hatten sich in ihrem Seelsor geauftrag auf die Bedurfnisse anderer einzustellen, wie das sonst in erster Linie von Frauen erwartet wurde, die ihre Auf merksamkeit auf den Ehemann, ihre Kinder, auf kranke Ver wandte oder Nachbarn zu richten hatten.33 Die Ahnlichkeiten des Tugendkataloges sind als ein Indiz dafUr zu werten, daIS die Tugendanforderungen in der Zeit vor der Ausbildung der »Geschlechtscharaktere« tatsachlich in engem Zusammenhang mit den Standesaufgaben standen.34 Insoweit Manner » fursorg liche« Aufgaben zu ubernehmen hatten, die den Arbeitsfeldern der Frauen ahnelten, erwartete man auch von ihnen entspre chende Tugenden. Dabei galt die Fursorge als ein Teil der Auf gaben jedes Regenten - in geistlicher wie in weltlicher Sphare. Denn schliefSlich war das Bild des Hirten mit seiner Herde nicht nur eine biblische Metapher fur die Umschreibung priesterli cher Aufgaben, sondern seit alters her auch eines der zentralen Bilder fur eine gute Regentschaft eines Konigs oder Fursten.35 Auch weltliche Fursten wurden zur Hervorhebung der Pflicht obrigkeitlicher Fursorge mit dem Bild der » Saugamme« be schrieben.36 Ausgerechnet weiblich konnotierte Bilder stellten demnach die Schnittflache religioser und politischer Herr schaftsmetaphorik dar, die in dieser Hinsicht weitgehende Par allelen aufzuweisen hat.37 Herrschaft widersprach offensicht lich nicht immer schon dem Bild von » Mutterlichkeit« und » Weiblichkeit« als ordnendes Prinzip der Geschlechterkon struktionen im oben ausgefuhrtem Sinne. Die geforderte Tugendhaftigkeit des Priesters erhielt durch seine Vorbildfunktion, die in vielen Predigten hervorgehoben wurde, besondere Brisanz.38 Sie stellt aber auch das Bindeglied
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zu der zweiten im Bild des Guten Hirten angelegten Funktion des Wachter- und Lehramtes dar, wie das haufig verwandte, auf Reinheit des Amtstragers zielende Bild der Tuba deutlich macht, die »non nisi vacua sonat«. Wie die Tuba nur ertont, wenn sie offen und leer ist, so findet auch jener Prediger nur Gehor, der von weltlicher Absicht frei iSt.39 Dann aber solle sie mit groBer Kraft ertonen. Abraham a Sancta Clara beschrieb die Geistlichen mit uniiberhorbarem Crescendo als » wachsame Hirten im Ambtl brennende Fackeln in der Liebl erschallende Posaunen in dem Predigenl ohnbemailligte Spiegel in den Wandel! ohniiberwindliche Lowen in der Starkel Diener Got tes in allem« .40 Wahrend zur Beschreibung der gemeindespezifischen Seel sorgefunktion zahlreiche Bilder mit weiblichen Konnotationen gebraucht wurden, verwandten die Priester zur Erlauterung des Wachter- und Lehramtes in erster Linie mannlich konno tierte Metaphern, wie den eben zitierten uniiberwindlichen Lo wen, den bellenden Hund oder auch den Turmhahn als Wahr zeichen der Wachsamkeit.41 Denn die Geistlichen hatten die Verantwortung fUr ihre christliche Gemeinde iibernommen und hatten sie in religiosen und sittlichen Belangen zu unter weisen. In diesem Zusammenhang werden Priester zu Bandi gern der ungezugelten Natur, wie der Jesuit Michael Stauda cher eindrucklich schilderte: » Gleich wie von dem Orpheus ge dichtet wirdl er habe durch den sussen Klang seiner Lauten den Felsen bewegetl die Winde gezaumetl die Wasser=Strom gestilletl die wilde Thier zu sich gezogenl und sanfft gema chet; Also so11 ein tapfferer Prediger I jene Hertzenl welche zur Andaacht unbegweglichl wie die Felsen I sindl durch Krafft und EinflufS seiner Zunge ermunterenl auff den Weeg der Ge botten GOttes frolich fortzulauffen [ . . J Er soll jene unbandige Zorn=Gemuther I die wie stolze Wasser=Stroml aller Orten auBreissen und vorbrechenl in die Schrancken bringenl und zu Ruh legen« .42 Diesen Sinnzusammenhang theologisch wen dend rief Prokop von Templin seiner Gemeinde entgegen: » Und aller meiner Predigen Summarischer Inhalt wird seyn: [ . J Thut BuefSl lebet woll denn das Himmelreich hat sich her zu genahet!« 43 Nicht anders als ihre protestantischen Kollegen sahen die katholischen Geistlichen der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts namlich eine ihrer zentralen Aufgaben in der RuckfUhrung ihrer Gemeinden zur bufSfertigen Umkehr, eine .
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Aufforderung, der diese nicht immer in lbblicher Weise entspra chen.44 Andreas Strobl jedenfalls klagte: »Noch weit schadlicher ist es, den getreuen Rat des Beichtvaters ausschlagen, alle gute Ermahnungen verwerfen. Es stehet namlich unser Seligkeit darauf. Die Beichtvater heiGt man nicht umbsonst Vater oder Geistliche Vater, dann sie ihren Beichtkindern alles Guts raten. Derowegen solI man ihrem Vaterlichen Rat vor all andern nach kommen.« 45 1m Rahmen ihres Lehramtes begriffen sich folglich die Prediger als Vater, die wie jene besondere Macht und Kom petenz zur Fiihrung der ihnen Untergebenen hatten. Diese Gleichsetzung konnte bis hin zur Stilisierung des Priesters als eines Hausvaters fiihren, was ja in Anbetracht des Zblibatgebo tes und in der sonst diesbeziiglich so vehement verfochtenen Abgrenzung zum protestantischen Pfarrerbild verwunderlich erscheint.46 So griffen zahlreiche Geistliche zu Martini den Brauch auf, eine Martinsgans aufzutischen. » Aus diesem Grun de« , predigte beispielsweise Johann Laurenz Helbig Anfang des 18. Jahrhunderts, »haben die Prediger AnlaB genommen, ihren Zuhbrern und Pfarr-kinderen gleichsam als HauBgenos senen eine Martins-GanB von der Cantzel auszutheilen« . Denn in der Kirche vertrete der Prediger die Stelle des Vaters und teile einem jedem gerecht das seine zu. Auffallig ist die Konkretion des eigentlich nur im iibertragenen Sinne gemeinten Bildes. So reagierte der Redner auf eine Unruhe in seiner Zuhbrerschaft mit den Worten: » Da ich aber in der Arbeit mit Ausropffung und Austheilung der Federen beschafftiget bin, bitte ich, meine Zuhbrer wollen fein unbewegt sitzen bleiben, dann durch das Auffstehen, hinweg gehen und Kirchen Thiir aufmachen, ver ursacht ihr einen Wind, so wist ihr ja auch, daB der Wind die Feder hinweg wehe und voneinandertreibe.« 47 Allerdings scheinen die Priester nicht nur wiihrend der Pre digt mit der Gleichgiiltigkeit, ja der Verachtung der Gemeinden ihrer Arbeit gegeniiber zu kampfen gehabt zu haben, woriiber haufig geklagt wurde. » Ein ungliickseliger Stand ist der Stand und das Ambt eines Predigers / welcher sich offentlich dem Urthel des Pbvels darstellen/ und einen solchen schlechten Menschen unter dem Volcke fbrchten muB/ den er sonsten al lein nit angeschauet hatte.« 48 Infolgedessen wurde die Predigt und BuBarbeit auch als ein Kampf geschildert, in welchem die Prediger die Jager, die Zuhbrer den Fang darstellten49 und der sehr miihselig war. » Ein Hirt/ ein Bischoff! ein Seelsorger/
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tragt auf seiner Achsel! keinen lebendigen Ochsen/ wie Milo, kein Welt=Kugel! wie Atlas oder Hercules, sondern einen Schhissel/ welcher so schwer/ daB darvor die Englischen Schultern zittern«.50 Aufgrund des schweren Predigtamtes for derte Prokop von Templin vom Priester »mannliche Bestandig keit« wie Johannes sie gezeigt hatte. Er solIe kein bewegliches Rohr sein wie die Juden, sondern » eine starcke Saul und Grund feste der Warheit/ eine unbewogliche Eychen/ die sich durch allerhand Verfolgung lieber zu Stucken zurschmettern unnd durch den Todt lieber gar von der Wurtzel auBreuten/ als/ son derlich im Predigampt/ mit Guten oder Bosen von der Warheit abbiegen lasset«.51 Von diesem Bild ist es nur noch ein Schritt zu Schilderungen, in denen sich Priester als Martyrer fur ihre Sache prasentieren und » sich marteren und peynigen/ auffs grausambste todten lassen« .52 Denn wenn der Prediger, wie Prokop von Templin ausfUhrt, Unzucht einstellen und » bose Gesellschaft und Practicken verjagen« will, wird er allzuoft Opfer einer Gegen wehr: » man hat jhn lieber dort wo der Pfeffer wachset/ steini gen oder kopffen mochte man jhn! « 53 Indessen sei er dazu be reit, Hunger und Not zu leiden, Ehre, Gut und Blut, Leib und Leben aufs Spiel zu setzen, von der Welt nichts als Spott und Tod zu ernten, » wann man nur Seelen gewinnet« .54 Dabei ist die Opfertat sowohl Voraussetzung fUr die Martyrerkonzeption als auch im Sinne der » Imitatio Christis« fUr das gesamte Prie sterverstandnis zentral. In einer EinfUhrungspredigt fUhrte Prokop von Templin namlich aus: » Meine Exercitia unnd ubun gen seyn/ daB ich dem Allerhochsten Gott ohn underlaB ein dryfaches oder dreyerley Opffer auffopffere; erstlich opffere ich jhme taglich ein Ambt der heiligen MeB seinem lieben eunge bornen Sohn im hochwurdigen Sacrament deB Altars; Zum an dern opffere ich jhme mich selbsten durch ein Religiosisches geistliches Leben/ in dem ich mich befleisse fromb zuseyn [ . . . ]; Drittens bemUhe ich mich jhme auch andere Leuth zugewin nen/ in dem ich fleissig studire/ meine anvertrawte Cantzel nach Muglichkeit versihe/ die Leuth gern Beicht hore« .55 Nicht zufallig steht am Ende der Analyse des » Guten Hir ten« -Bildes die Opfertheologie, die zugleich den Ausgangs punkt der folgenden AusfUhrungen bilden wird. Denn die Zen tralitat der Eucharistie fUr das gesamte Verstandnis katholi scher Theologie ist unbestritten. So vermachte der Franziskaner
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Leo Wolff der Priesterschaft einen Denk-Pfennig als Neujahrs geschenk, damit sie niemals vergesse, wozu sie berufen sei, namlich urn Opfer zu verrichten dem unsterblichen Gott,56 und der Benediktiner Ignaz Trauner predigte: » Das H. MeelS=Opfer ist die Seel/ das Leben/ die Essentz/ und Wesenheit/ der vor nembste Theil unserer Religion [ . . . J gleichwie die unsrige Re ligion die erste und Vortrefflichste ist aulS allen. «57
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»Hoc est enim corpus meum«58
Die Abendmahlsfeier gilt - neben der Taufe - in allen christli chen Konfessionen als das zentrale Sakrament, so daIS diesbe zugliche Berilhrungspunkte offenkundig sind. Zugleich filhr ten unterschiedliche Auffassungen yom Wesen dieses Sakra mentes zu grundsatzlichen Divergenzen, die als eine der theologischen Hauptursachen fur die Trennung in verschiede ne Konfessionen anzusehen sind. Luther und die anderen Re formatoren negierten den Opfercharakter des Abendmahls, wahrend das Tridentinum den Opfercharakter der Messe zum Dogma erhob.59 Die unterschiedlichen Konzeptionen beruhten auf zwei Grundlagen: Zum einen lehnten die Reformatoren die Moglichkeit einer Wiederholung des Opfertodes Christi als Ab schwachung des eigentlichen Opfers auf dem Berg Golgatha abo Dagegen war, neben einer vergegenwartigenden Memoria des Kreuzesgeschehens, die Darbringung des tatsachlich pra senten Christus in der Eucharistiefeier das zentrale Anliegen der katholischen Theologie. Das Abendmahl sei infolgedessen auch als » wahres Opfer« zu verstehen.60 Zum anderen erwuchs die reformatorische Ablehnung einer Wiederholung des Opfers in der Eucharistie aus der Oberzeugung, daIS Christus nicht nur das entscheidende Opfer, sondern auch dessen ausschlielSlicher Priester sei. Nach Calvin bedeutete dies, daIS Priester, die den Anspruch erhoben, taglich die Messe zu feiern, sich Christi Priesteramt anmalSten 61 Dagegen rechtfertigten katholische Theologen ihre Opfervollmacht mit der Sendu�g Christi und der damit begrundeten Tradition. Wahrend also die Parallelen zwischen den Konfessionen hinsichtlich der Theologie yom » Guten Hirten« auf der Hand liegen, berilhrt die Analyse des
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Priesterbildes aus dem Umfeld der Opfertheologie das Zen trum konfessioneller Auseinandersetzungen. Dies darf bei der Einschatzung der nun zu referierenden Aussagen , nicht aus dem Blick verloren werden.62 Weil nach katholischer Auffassung die Priesterweihe zur Sa kramentenverwaltung befahigte, wurde dieser Handlung eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Dies bezeugen die zahlrei chen erhaltenen Primiz-Predigten, deren Augenmerk auf der Wiirde des Priesterstandes und der mit der Weihe erhaltenen Vollmacht lag. »Destwegen jhr meine Zuhorer I «, so rief Floren tius Schilling der Gemeinde entgegen, » die 2 . Herrenl so heut das erste mal das hohe Opffer der H. MeB auffopffernl miissen hinfiiro von euch mit andern Augen angesehenl mit andern Ehren gewiirdigtl mit anderm Hertzen beobachtet werden« .63 Urn die Wiirde des geistlichen Priesterstandes herauszuhe ben, suchten die Prediger Vergleichsmomente in jeweils sich iiberbietender Reihung. Demnach iiberstieg die Macht und Vor trefflichkeit der Priester zunachst einmal diejenige der Konige und Kaiser, weil diese eine begrenzte Gewalt besitzen - »die Macht und Gewalt der Priestern aber ist ohne Schrancken« .64 Die Wiirde des Priesterstandes iibertraf des weiteren diejenige der Heiligen, wie schon Franciscus ausgefiihrt habe, der, wenn ihm ein Heiliger aus dem Paradies und ein Priester begegnen sollte, zuvor den Priester und dann erst den Heiligen ehren wiirde.65 Denn »Priester seynd Engel« , weil diese wie jene als »Mittler zwischen GOtt und den Menschen« anzusehen wa ren.66 Aber auch die Gewalt der Engel werde von der Macht der Priester iibertroffen. Denn - so fragt etwa Ignaz Trauner - wann hat Gott je einem Engel den Schliissel des Himmels anvertraut? Zu welchem Engel ist gesagt worden, nimm Brot und Wein und spreche meine Worte? Welcher Engel hat je die Macht der Siin denvergebung erhalten?67 In der kirchlich-katholischen Hierarchie noch iiber den En geln stand die Jungfrau Maria. Allerdings erreichte auch ihre Vortrefflichkeit nicht des Priesters Wiirde. Nach einer Predigt von Bernhardin von Siena, die in zahlreichen Ausfiihrungen referiert wurde, hatte der Priester in vier Hinsichten eine gro Bere Gewalt als die Mutter Gottes: in der Kiirze, in der GroBe, in der Unsterblichkeit und in der Wiederholung.68 Denn wah rend Maria acht Worte gebraucht habe, urn Christus in ihr zu einem Menschen zu wandeln,69 brauche der Priester nur die
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flinf Worte: Hoc est enim corpus meum. Der Mensch in Maria sei zweitens nicht grofSer als eine Imme gewesen. Dagegen sei Christus in der Eucharistie » dem Leib nachl in der Grossel wie er sichl alfS er das Hochwurdige Sacrament eingesetztl uber der Taffel eingefunden«?O Drittens sei Christus in Mariae Leib sterblich gewesen, wahrend er in der priesterlichen Wandlung unsterblich sei. Und schliefSlich habe Maria die Wandlung nur einmal vollzogen, der Priester aber konne, sooft er wolle und wenn er die Wandlung hundert Mal am Tag vollzoge, Christus vom Himmel herunterholen.71 Die Schlusselgewalt sowie die sakramentale Vollmacht in Eucharistie und Siindenvergebung also begrundeten die GrofSe des Priesterstandes, deren von Gott abgeleitete Starke die Prie ster gottgleich, ja zu » irdischen Gottem« werden lieR Auch in dieser Hinsicht ist die Selbstdarstellung der Priester uberaus eloquent. Denn in zahlreichen Predigten findet sich mit Cle mens von Rom die Feststellung: » Was ist ein Priester? ein irrdi scher Gott«.72 Dabei ergibt sich die Argumentation von selbst, denn wenn der Priester » ein purer Mensch« ware, so lasterte man Gott, wenn man die grofSe Gewalt der Priester behauptete. 1st er aber kein » purer Mensch? so mufS er was Gottliches seynl dann sonst kunnte er ja so grosse I unbegreiffliche Wunder nit wurcken« .73 Der Benediktiner Ignaz Trauner erklarte die Gott lichkeit der Priester durch die Priesterweihe, die dazu fuhre, dafS in der Sakramentenverwaltung nicht mehr der Mensch, sondem »Christus der HErr selbsten« handle. Dagegen deutete der Franziskaner Leone Wolff den Zusammenhang konkreter. Hier wirkte nicht mehr Christus in dem Priester, sondem im Vollzug der Eucharistie wurde der Priester zu Christus selbst: » Ist disem nach der Priester GOttes ein anderer Christusl ein gleich Gewalt=habender Christus; dan weilen der Priester in Kraft defS empfangenen Gewalts bey der Wandlung des Leibs und Bluts Christi sprechen thut: Hoc est Corpus meum [ . . . J Nicht sagt er: Hoc est Corpus Christi« .74 Auch Fursten und Konige wurden als Ebenbilder und Stell vertreter Gottes, ja als » irdische Gotter« bezeichnet und inso fern konnen diese Begriffe als Ausdruck eines monarchischen Kirchenverstandnisses gedeutet werden?5 Doch gingen die Priester in ihrer Selbstdarstellung noch einen Schritt weiter. In vielen Predigten namlich gerat der Priester in eine Position, die in letzter Konsequenz Gott selbst ubertrifft. Gott spricht, so pre-
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digte etwa Ignaz Trauner das eine Mal: »Gehet hinl und zeigt euch den Priesternl dise seynd meine Vice=Konig auff Erdenl jhnen hab ich volligen Gewalt ertheiletl sie konnen euch bin den oder lOsenl euerem Begehren willfahrenl oder solches ab schlagen [ . . . J was sie werden machenl solI auch bey uns in dem himmlischen Consistorio vor genehm gehalten werden« ?6 Und ein anderes Mal: »0 unbegreiffliche Demuth deB AlIer hochstenl welcher sich einem Menschen unterwiirflich ge macht! 0 unaussprechliche Hochheit eines GOtt=geweihten Priesters! dessen drey=vier Worten so schleuniger Gehorsamb von GOtt selbsten geleistet wird.« 77 Der Gehorsam Gottes ge geniiber den Priestern wurde dabei sowohl in Hinsicht auf die Wandiungsvollmacht in der Eucharistie als auch in Bezug auf die Moglichkeit der Siindenvergebung betont, in welcher der Priester ja durch die Worte: »ego te \ibsolvo« Tatsachen schaffe, die Gott nur noch anerkennen konne. Auch diese Einschatzung der Wiirde des Priesters konnte noch eine Steigerung erfahren. Denn wahrend hier der Gehor sam Gottes ein Zeichen seiner wunderbaren GroBe war, stellte der Benediktiner Edmundo Manincor es schlicht als eine »Gliickseligkeit« des Priesters dar, wenn er Christus »als einen Gefangenen« in Handen halt und iiber dem Altar den Leib Christi wandelt und opfert.78 Mit Berufung auf Augustinus schlieBlich gipfelt diese Seibstdarstellung in der Einschatzung des Praemonstratensermonches Michael Stainmayr: » 0 Heilig keit der Handen! der mich erschaffenl hat mir gegeben zuer schaffen sichl und der mich erschaffen ohne michl wird er schaffen durch mich.9 Der Selbststilisierung als Erschaffer des Herrn entsprechen Allmachtsphantasien, die noch einmal ausfiihrlicher zitiert werden solIen, weil sie den Bogen zu der eingangs gestellten Frage nach dem Ertrag der » Mannergeschichte« fUr die Erfor schung des Seelsorgeklerus schlagen, wird hier doch die Ver kniipfung theologischer Aussagen mit gesellschaftlichen Rol lenmustern besonders deutlich. » 0 Ehrwiirdige Priester« , rief beispielsweise Ignaz Trauner aus, » 0 wie ansehlichl vornehml und aller Ehren wert ist euer Priesterlicher Standi disem kan sich noch auff Erdenl noch im Himmel was vergleichen. Euch ist die Gewalt gebenl die Menschen von jhren Siinden zu ent bindenl und auB Freund deB Teufflsl Kinder GOttes zu ma chen: Euch seynd die SchliBlen zu den Pforten deB Himmels
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und der Hollen anvertraut worden [ . . J. Durch eueren Gewalt/ a jhr Ehrwurdigen Priester/ gehet der Mensch ein in den wah ren Glauben/ bekommt Perdon seiner Sunden/ und wird fahig gemacht der Gnaden GOttes: durch euch werden gantze Lan der in erwunschter Ruhe/ Statt und Marckt im liben Friden erhalten: durch euch werden die gute Sitten gepflanzet/ die bo sen aufSgereutet/ die Unwissende unterrichtet/ die Betrubten getrostet. 1hr in Gatt geweyhte Priester / seyt das jenige Saltz / von welchem die Gottliche WeifSheit redet/ [ . . . J . 1hr seyt der Gottliche Schatz=Kasten/ in welchem die kostbare Kleinodien der Gottlichen Gnaden so lang wol verwahrt verbleiben/ bifS euch beliebt solche unter die Menschen auff Erden/ und in dem heissen Fegfeuer sitzende Seelen aufSzutheilen.«80 .
3. Zusammenfassung Katholische Predigten der zweiten Halfte des 17. und des be ginnenden 18. Jahrhunderts wurden in diesem Beitrag nach dem Selbstverstandnis der Seelsorgegeistlichen in nachtriden tinischer Zeit befragt, das in bewufSter Abgrenzung zum ekkle siologischen Amtsverstandnis theologischer Reflexionen be griffen wurde. Hier ging es nicht urn Theologiegeschichte, son dem urn eine »Sozialgeschichte der 1deen«, d. h. darum, in welcher Weise sich Pfarrgeistliche theologische Traditionen und Vorgaben angeeignet haben. So ist etwa die in den analy sierten Predigten mit grofSter Selbstverstandlichkeit benutzte Beschreibung der Priester als Mittler zwischen Christus und den Menschen innerhalb der eigentlichen theologischen Dis kussion von Augustinus bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil umstritten.81 Eine Abhangigkeit von der »Hochtheologie« wenn auch in eigenwilliger Verkurzung und Zuspitzung, kann allerdings sehr wohl konstatiert werden, bezogen sich doch die Geistlichen in ihren Predigten in erster Linie auf Kirchenvater (dabei vorrangig auf Augustin und Clemens von Rom), dane ben vor allem auf Thomas von Aquin und Bemhardin von Sie na. Anhand der Predigten kann insofem studiert werden, wel che Deutungsmuster jeweils aus dem umfassenden Corpus ka tholischer Schriften aufgegriffen und in welcher Weise sie fur
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eine eigene Interpretation neu zusammengestellt wurden. Die Ahnlichkeit zahlreicher Predigten des 1 7. Jahrhunderts bis hin zu fast wortlichen Entsprechungen wiederum belegt, daiS die referierten Positionen nicht nur Einzelwahrnehmungen reflek tieren, sondern fur die bearbeitete Zeit typisch zu sein scheinen. Das Konzil von Trient und die anschlieiSenden Reformen ha ben als Reaktion auf die Reformation zwei Elemente des Prie stertums zu starken versucht: zum einen den seelsorgerlichen Aspekt, der sich im Bild des Guten Hirten konkretisierte, zum anderen den sakramentalen Aspekt des durch die Priesterwei he bevollmachtigten Sakramentsverwalters. Beide Bereiche spielten in den Predigten eine groiSe Rolle. Die Analyse der Schilderungen des Selbstverstandnisses in Primizfeiern und Neujahrspredigten auf der einen Seite, nachosterlichen Hirten predigten auf der anderen Seite zeigt, daiS das facettenreiche Bild nicht auf einen einzigen Nenner gebracht werden kann. Dabei hat m. E. gerade die Untersuchung der Predigten unter der Fragestellung mannlich oder weiblich konnotierter Bilder die Vielschichtigkeit des Priesterbildes deutlich machen kon nen. Denn zu unterscheiden ist zunachst einmal zwischen Amtsbegrundung und Amtspraxis (in ihrer normativen Aus formulierung). Das Leitbild der Amtspraxis konnte mit dem Bild des Guten Hirten umschrieben werden, das wiederum zwei Aspekte beinhaltete: Einem ganz im Dienste der Gemein de stehenden Priester, der in erster Linie durch fiirsorgliche De mut gezeichnet wurde, stand der leitende Wachter uber Sitten und Gebrauche gegenuber, welcher formend in den Gang der Geschichte einzugreifen habe. Hier wurden zahlreiche kraftvol Ie Bilder bemuht, die Assoziationen mit dem Kampfgeschehen und der Bandigung der Natur evozierten. 1m Rahmen der Amtsbegrundungen dagegen, die vorwiegend in Primizfeiern ausgebreitet wurden und insoweit bewuiSte Identifizierungsan gebote an neugeweihte Priester darstellten, verstiegen sich die Geistlichen zu einer Selbststilisierung, die auch vor dem Vor rang vor Gott nicht halt machte. In diesen Predigten wurden Priester nicht mehr nur mit Orpheus und seiner naturbandigen den Macht verglichen, sondern sie gerieten unversehens zum Schopfer dieser Welt selbst. Ich bin geneigt, diese Aussagen, trotz ihrer Konkretion nicht als wortlich gemeint zu verstehen, sondern als eine Bildersprache aufzufassen. Doch wird man zu mindest eine Unsicherheit in der Festlegung der Grenze dessen,
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was im iibertragenen Sinn und was tatsachlich wbrtlich ge meint war, ausmachen kbnnen. Aus theologischer Blickrich tung kbnnte diese Ambivalenz in der jeweils doppeldeutigen Auffassung von Fleischlichkeit begriindet sein. Denn das eu charistische Opfer war zugleich lediglich sakramentales Ge dachtnis und tatsachliche Opferung des realgewordenen Chri stus. Der Priester wiederum » ist zwar von Fleisch/ doch gleich sam durch sein Geliibd der Continenz ohne Fleisch«.82 Aus ideengeschichtlicher Blickrichtung drangen sich Fragen nach der Bedeutung monarchischer Vorstellungen fiir die Ausfor mung des barocken Katholizismus auf.83 Aus sozialhistorischer Perspektive liegen im Zeitalter der Konfessionalisierung sowie - unter Umstanden sogar noch drangender - der beginnenden Sakularisierung Fragen nach dem apologetischen Charakter dieser Selbststilierung nahe. Weil die zitierten Prediger in al ler Regel aus rein katholischen Gebieten stammten, in denen die Konfessionsgegensatze urn die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert nicht eigentlich dringlich waren, erscheint mir bei aller Vorsicht in Bezug auf eine Interpretation ex negativo eine Rechtfertigung der Position vor den eigenen Gemeinden sogar wahrscheinlicher.84 Eingangs war auf die Gefahren eines buchstablichen Ver standnisses von Metaphern hingewiesen worden, worauf ich noch einmal abschlieBend zuriickkommen will. Die Geistlichen verwandten die Metaphern zur Veranschaulichung theologi scher Aussagen und zur DarsteHung ihres Selbstverstandnis ses. Eine vorschnelle Vermengung beider Ebenen ist unzulas sig, weil die postulierte Gottgleichheit der Wiirde des Priester amtes nicht mit der Wiirde des einzelnen Priesters in eins gesetzt werden kann. Allerdings scheint die Tendenz zu einem zunehmend wbrtlichen Verstandnis metaphorischer Bilder nicht erst ein Phanomen der Neuzeit zu sein. So hat Caroline Walker Bynum herausgearbeitet, in welcher Weise MeBvollzug und » Imitatio Christi« schon im Spatmittelalter zunehmend buchstablich verstanden worden waren.8S In meinem Predigt corpus sind es vor aHem die Aussagen iiber die Macht der Prie ster in der Wandlung und der Absolutionsgewalt, die trotz ihrer Bildhaftigkeit durch die Art und Weise ihrer Prasentation ein wbrtliches Verstandnis nahelegen. Vergleiche mit Engeln, Hei ligen, Maria und Jesus Christus hatten in diesem Zusammen hang weniger den Anspruch einer Veranschaulichung komple-
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xer Sachverhalte, als die Funktion einer rationalistischen Argu mentation zur ErkHirung der Hoheit des Priesteramtes. Das Ter tium comparationis des Vergleiches mit Maria etwa war hier nicht die Darbringung Christi fur den Menschen, wie dies in mittelalterlichen Texten deutlich wurde.86 Statt dessen geriet in den Predigten des 17. Jahrhunderts der Vergleich mit Maria zu einem einseitigen Symbol der Macht des Priesters in nahezu mathematischer Perfektion. Sicherlich wird man die Entwicklung zu einer zunehmend buchstablichen Interpretation theologisch motivierter Bilder noch in weiteren Predigtanalysen verifizieren mussen. Nach den hier untersuchten Predigten aus der zweiten Halfte des 17. und vom Beginn des 18. Jahrhunderts zu urteilen, scheint mir aber ein wortliches Verstandnis der Bilder in erster Linie hin sichtlich der mannlich konnotierten Metaphern deutlich zu werden, insbesondere sofern mit ihnen Autoritat und All machtsphantasien der Geistlichen begrundet werden konnten. Theologisch motivierte Bilder und gesellschaftliche Rollenvor gaben gingen hier wohl eine spezifische Allianz ein, die zu einer Verselbstandigung des zunachst nur im ubertragenen Sinne Ge meinten fiihrten. Insoweit pragte das Mannsein der Priester ih re Selbstsicht und ihre Theologie.
Anmerkungel'! Dieser Aufsatz entstand im Zusammenhang mit einem von Prof. Dr. Schorn-Schutte (Potsdam) geleiteten und der VW-Stiftung finanzierten For schungsprojekt uber » Katholische und evangelische Geistlichkeit in der friihen Neuzeit«. Fur zahlreiche Anregungen danke ich Martin Dinges, Bernd-Ulrich Hergem611er, Francisca Loetz, Luise Schorn-Schutte, Heike Talkenberger, Sven Tode und Heide Wunder. Vgl. z. B. Schussler Fiorenza, Elisabeth: Die Anfiinge von Kirche, Amt und Priestertum in feministisch theologischer Sicht, in: Hoffmann, Paul (Hg.): Priesterkirche, Dusseldorf 1987, 62-95. 2 Vgl. Denzler, Georg: Papsttum und Amtsz6libat, 2 Bde., Stuttgart 1973-1975; Ders.: Die Geschichte des Z6libates, Freiburg u. a. 1993; stellver tretend fur die ausufernde Literatur uber Visitationsakten sei genannt: Hahn, Alois: Die Rezeption des tridentinischen Pfarrideals des 16. und 17. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte der katholischen Reform im Erzbistum Trier, Luxemburg 1974; Lang, Peter Th.: Reform im Wandel. Die katholischen Visitationskategorien des 16. und 17. Jahrhunderts, in:
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Zeeden, Ernst W./Lang, Peter Th. (Hg.): Kirche und Visitation. Beitrage zur Erforschung des friihneuzeitlichen Visitationswesen in Europa, Stuttgart 1984, 131-190; Becker, Thomas P.: Konfessionalisierung in Kurkiiln. Unter suchungen zur Durchsetzung der katholischen Reform in den Dekanaten Ahrgau und Bonn anhand von Visitationsprotokollen 1583-1761, Bonn 1989. 3 Gehalten 1911, zit. in: Denzler (1993), 75. 4 Ueber den ehelosen Stand der Riimisch=Katholischen Geistlichkeit. Von einem katholischen Priester in Westphalen, Giittingen 1 782, 7. 5 Vgl. dazu v. a. Denzler (1993). 6 » Peccata quae peregi. In primis pede incursi ianuam patris mei cum vino eram obrutus. Secundo dedi puellae chirographum quod velim illam ducere in uxorem, verum non contraxi matrimonium nec duxi illam. Tertio inservivvi Senatui Coloniensi pro milite ut ianuas civitatis custodirem per quinque menses. Quarto famula parentis se adiunxit mihi nocturno tempo re et sic inde concepit. Quinque patrimonium quod habui consumpsi co opernique me et in iure usum sum.« . Abgedruckt in: Tamburini, Filippo (Hg.): Santi e peccatori. Confessioni e suppliche dai Registri della Peniten ziaria dell' Archivio Segreto Vaticano (1451-1586), Mailand 1995, Nr. 100, 360. 7 Zu den Visitationsakten gibt es inzwischen eine lebhafte internatio nale Forschungsdiskussion, vgl. Anm. 2. 8 Vgl. dazu Laquer, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenie rung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. 1992; die mittelalterliche Sichtweise analysiert sehr eindriicklich: Bynum, Caroline Walker: Fragmentierung und Erliisung. Geschlecht und Kiirper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt/M. 1996. 9 Vgl. Hausen, Karin: Die Polarisierung der » Geschlechtscharaktere« - eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und FamilienIeben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363-393. 10 Insbesondere bei Judith Butler ist m. E. die durchgangige Verwi schung der Grenze zwischen dem Gegenstand und seinem Begriff/seinem Bild Voraussetzung ihrer Thesen, die auf eine Negierung des biologischen Geschlechtes hinauslaufen. Vgl. ihre Eingangsiiberlegungen: » Die Kiirper tendierten nicht nur dazu, eine Welt jenseits ihrer selbst anzudeuten, son dern diese Bewegung iiber ihre eigenen Grenzen hinaus, eine Bewegung der Grenze selbst, schien von ganz zentraler Bedeutung fiir das zu sein, was Kiirper sind.« Butler, Judith: Kiirper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1 995, 13; vgl. auch Dies.: Das Unbehagen der Ge schlechter, Frankfurt/M. 1991. 11 Bynum (1996), 80 und 177-179. 12 Ebd., 170 u.ii.; vgl. auch Dies.: Jesus as Mother. Studies in the Spiri tuality of the High Middle Ages, Berkeley u. a. 1982. 13 Peil, Dietrnar: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetapho rik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, Miinchen 1983, 13 f.; vgl. ebenso Demandt, Alexander: Metaphern fiir Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, Miinchen 1978, 3 f.; und die Spezialuntersuchungen: Pumplum, Cristina M.: » Begriff
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des Unbegreiflichen« . Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Ge burtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694), Amsterdam 1995; Muller, Christoph Georg: Gottes Pflanzung - Gottes Bau - Gottes Tempel. Die metaphorische Dimension paulinischer Gemeinde theologie in 1. Kor 3,5-17, Munster 1995; Schumacher, Meinolf: Sunden schmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sunde in latei nischer und deutscher Literatur des Mittelalters, Munchen 1996. Eine Einfuhrung bietet: Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, 3. Aufl., Gottingen 1993. Fur die literaturwissenschaftlich-linguistische Diskussion vgl. Arntzen, Helmut/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Metapherngebrauch, Munster 1993. 14 Vgl. z. B. Prambhofer, Johannes: Samsonischer Honig=Fladen ( . . . ) Das ist: Uber Honig susses Wort Gottes/ Worrnit ein Christ=Catholisches Volek durch ( . . . ) wohl gezierte Sonntags=Predigen das Jahr hindurch kan geleitet und gespeiset werden. ( . . . )/ Denen Seelsorgern und Predigern auf dem Land zu Diensten ( . . . ), Augsburg 1712. 15 Zit. in: Moser-Rath, Elfriede: Predigtrnarlein der Barockzeit. Exem pel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes, Berlin 1964, 79. Zur Bedeutung der Predigtvorlagen fUr die Pfarr geistlichen vgl. auch Schorn-Schutte, Luise: Evangelische Geistlichkeit in der Friihneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung fruhmoderner Staatlich keit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Furstentums Braun schweig-Wolfenbuttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, Gottingen 1996. 16 Diese Ansicht aulSert auch: Barley, Peter: Preaching, in: O'Malley, John W. SJ (Hg.): Ca tholicism in Early Modern History. A Guide to Research, Ann Arbor 1988, 299-313; wichtige Ausnahmen: Moser-Rath (1964); Dies.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel suddeutscher Ba rockpredigten, Stuttgart 1991; Lemaitre, Nicole: Un predicateur et son public. Les sermons du Pere Lejeune et Ie Limousin, 1653-1672, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 30 (1983), 33-65; Herzog, Urs: Geist liche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt, Munchen 1991; ein schlagig sind auch einige Arbeiten aus der Literaturwissenschaft, so z. B. Bayley, Peter: French Pulpit Oratory 1598- 1650. A study in themes and styles, with a Descriptive Catalogue of printed texts, Cambridge 1980; Eybl, Franz M.: Gebrauchsfunktionen barocker Predigtliteratur. Studien zur ka tholischen Predigtsamrnlung am Beispiel lateinischer und deutscher Ober setzungen des Pierre de Besse, Wien 1982, mit zahlreichen Literaturhinwei sen. Aus der Kirchengeschichte sind in erster Linie einzelne Prediger oder das Predigtwesen einzelner Ordenskongregationen behandelt worden; wichtig z. B.: Mehr, Bonaventura von: Das Predigtwesen in der kolnischen und rheinischen Kapuzinerprovinz im 17. und 18. Jahrhundert, Rom 1945. 17 Welzig, Werner (Hg.): Katalog gedruckter deutschsprachiger katho lischer Predigtsammlungen, 2 Bde., Wien 1984-87. 18 Moser-Rath (1964), 19. 19 Helbig, Johann Laurentz: Alveare catholicum ( . . . ), Nurnberg 1714, 238 u.o. 20 Vgl. O'Malley, John W. SJ: Priesthood, Ministry, and Religious Life: Some Historical and Historiographical Considerations, in: Ders. (Hg.): Re.
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ligious Culture in the Sixteenth Century. Preaching, Rhetoric, Spirituality, and Reform, Norfolk 1993, XIII. 21 Ich bin der gute Hirte. 22 Jedin, Hubert: Das Leitbild des Priesters nach dem Tridentinum und dem Vaticanum II, in: Theologie und Glaube 60 (1970), 102-124; Aufder beck, Paul: Weltpriesterliche Spiritualitat nach Quellen des 17. Jahrhun derts, in: Scheele, Paul-Werner (Hg.): Paderbornensis Ecclesia. Beitrage zur Geschichte des Erzbistums Paderborn, Paderborn 1972, 343-359; Lenzen weger, Johannes: Wandel des Priesterbildes zwischen Tridentinum und Va tikanum II, in: Priesterbild im Wandel. Theologische, geschichtliche und praktische Aspekte des Priesterbildes, Linz 1973, 195-220; Meier, Johannes: Der priesterliche Dienst nach Johannes Gropper (1503-1559), Munster 1977; Freitag, Werner: Konfessionelle Kulturen und innere Staatsbildung. Zur Konfessionalisierung in westfalischen Territorien, in: Westfalische For schungen 42 (1992), 75-191; Schorn-Schutte, Luise: Evangelische Geistlich keit und katholischer Seelsorgeklerus in Deutschland. Soziale, mentale und herrschaftsfunktionale Aspekte zur Entfaltung zweier geistlicher Sozial gruppen vom 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, in: Julia, Domi nique (Hg.): Aux sources de la competence professionelle. Criteres scolaires et classements sociaux dans les carrieres intellectuelles en Europe XVIIe XIXe siecles, Gent 1994, 39-8l. 23 Peter Binsfeld, Euchiridion, zit. in: Hahn (1974), 257. 24 Strobl, Andreas: Das Geistliche Teutsche Karten=Spil ( . . . ), Sultzbach 1691, Theil II, 47. 25 Strobl, Andreas: Au15gemachter Schliissel Zu dem Geistlichen Kar ten=Spihl ( . . . ), Augsburg 1708, 36. 26 Seraphinus da Vicenza, zit. in: Herzog (1991), 129. 27 Hunolt, Franciscus: Christliche Sitten-Lehr II, 455a, zit. in: Herzog (1991), 128. 28 Vgl. dazu allg. Herzog, Urs: » Der Beerin Ampt und Dienst«, geistli cherweise. Zur emblematischen Predigt des Prokop von Templin, in: Sim pliciana 11 (1989), 149-159; Lexikon des Mittelalters, Artikel Bar, Bd. l: Sp. 1432. 29 Zit. in: Herzog (1989), 153. 30 Vgl. Staudacher, Michael SJ: Geistliche und sittliche Redverfassun gen I, Innsbruck 1656, 8; vgl. au15erdem Manincor, Edmund OSB: Filius pro digus Oder Verlohrne und Verthunliche Sohn ( . . . ), Salzburg 1676, 4. 31 Tympius, Matthaeus: Kinderzucht ( . . . ), Munster 1610, 155 f. 32 Referiert in: Arneth, Michael: Das Ringen urn Geist und Form der Priesterbildung im Sakularklerus des 17. Jahrhunderts, Wurzburg 1970, 220 f. 33 V gl. Durr, Renate: Magde in der Stadt. Das Beispiel Schwabisch Hall in der Fruhen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995; Dies.: Von der Ausbildung zur Bildung. Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter, in: Kleinau, Elke/Opitz, Claudia (Hg.): Geschichte der Madchen- und Frauenbildung, Bd. 1, Frank furt/M. 1996, 189-206. 34 Vgl. Hausen (1976). 35 Peil (1983), 29-165.
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36 Pei!, Dietmar: Der Baum des Konigs. Anmerkungen zur politischen Baummetaphorik, in: Euchner, Walter u. a. (Hg.): Die Macht der Vorstellun gen. Die politische Metapher in historischer Perspektive, Bologna 1993, 33-65, hier 41. 37 Starke Uberschneidungen der politischen und religiosen Metaphorik betonen Peil (1983), 164; Schumacher (1996), 29; Schorn-Schutte (1996). 38 Z. B. Athanasius von Dillingen OFMCap: Hortus Mysticus ( . . . ), Dil ling en 1691, Primizpredigt im Anhang, ohne Seitenzahlung; Schilling, Florentius: Zusatz Der Ausgegangenen Predigten, Sultzbach 1681, 298. 39 Filippo Picinelli, zit. in: Herzog (1991), 147; vgl. auBerdem: Prokop von Templin OFMCap: Adventuale ( . . . ). Teil I, Munchen 1666, 244; Selha mer, Christoph: Tuba rustica ( . . . ), Augsburg 1701. 40 Abraham a Sancta Clara: Etwas fUr aile ( . . . ), Wurzburg 1699, 3. 41 Prokop von Templin OFMCap: Adventuale, 10; Trauner, Ignaz OSB: Gallus cantans, Das ist: Krahender HauB=Hahn/ dem im Siinden=Schiaf ligenden HauB=Gesind des grossen HauB=Vatters zum Aufferwecken be stellt ( . . . ), Augsburg/Dillingen 1695; vgl. auch Moser-Rath (1964), 357-363; Intorp, Leonhard: Westfalische Barockpredigt in volkskundlicher Sicht, Munster 1964, 85. In dieser Hinsicht sind weitgehende Parallelen zum pro testantischen Amtsverstandnis feststellbar, vgl. Schorn-Schutte (1996), 430. Hinsichtlich der Tiermetaphern vgl. allgemein Rigotti, Francesca: Die Macht und ihre Metaphern. Uber die sprachlichen Bilder der Politik, Frank furt/M. 1994. 42 Staudacher, Michael SJ: Geistliche und sittliche Redverfassungen, 8. AhnIiche Bilder vgl. Manincor, Edmundo OSB: Filius prodigus, 4; Schmut zer, Ludwig OP: Diurnale ( . . . ), Dillingen 1694, 39. 43 Prokop von Templin OFMCap: Adventuale, 2. 44 Z. B.: Faber, Vitus OFM: Supplementum Oder Neuer Zusatz DeB Teutschen Historien=Predigers ( . . . ), Wurzburg 1686; Heffner, Franciscus OPraem: Concionator extemporalis ( . . . ), Nurnberg 1 693; Prambhofer, Jo hannes: Samsonischer Honig=Fladen fur die schleckige Adams=Kinder ( . . . ), Augsburg 1712; Nattenhausen, Mauritius von OFMCap: Homo sim plex et rectus, Oder/ der alte redliche Teutsche Michel ( . . . ), Augsburg 1701; zur Bedeutung der BuBpredigt im Kapuzinerorden vgl. Mehr (1945); fUr die protestantische Tradition vgl. Haag, Norbert: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640--1740, Mainz 1992; Holtz, Sabine: Theo logie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tubinger Theolo gen, Tubingen 1993. 45 Andreas Strobl, Predigt abgedr. in: Lohmeier, Georg (Hg.): Bayeri sche Barockprediger, Munchen 1961, 190. 46 1m Rahmen der katholischen Okonomik dagegen hatte der » Haus vater« augenscheinlich eine der protestantischen Okonomik vergleichbare Stellung, vgl. dazu Fruhsorge, Gotthardt: Einubung zum christlichen Ge horsam: Gesinde im >ganzen Haus<, in: Ders. u. a. (Hg.): Gesinde im 18. Jahrhundert, Hamburg 1995, 109-121, hier 116 f. 47 Johann Laurenz Helbig: Alvere Catholicum, Numberg 1714, zit. in: Herzog (1991), 134. Ahnlich auch: Archangelus a Sancto Georgio, Predigt abgedr. in: Lohmeier (1961), 65-78; Intorp (1964), 131. Vgl. allgemein auch Moser-Rath (1964), 15.
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48 Schmutzer, Ludwig OP: Diurnale, 35. 49 Bodler, Johannes SJ: Fest= und Feyr=taglicher Predigen Curs ( . . . ), Dillingen 1683, 736. 50 Schilling, Florentius: Zusatz, 296; vgl. auch Moser-Rath (1964), 347 f. 51 Prokop von Templin OFMCap: Adventuale, 167. 52 Athanasius von Dillingen OFMCap: Hortus mysticus, 344. Vgl. auch Marnncor, Edmund OSB: Horoscopus sacer, Oder Geistliches Uhr=Werck ( . . . ), Salzburg 1681, 6. 53 Prokop von Templin OFMCap: Adventuale, 211. 54 Ebd., 208. 55 Ebd., 9 56 Wolff, Leone OFM: Rugitus Leorns, Geistliches Lowen=Brullen. ( . . . ), Augsburg 1705, 255. 57 Trauner, Ignaz OSB: Fragmenta Sacra ( . . .), Dillingen 1698, 839; vgl. auch Fischer, Benedict OPraem: Centifolium Mysticum, Das ist: Hundert Predigten uber die Heilige Me15/ In welchen das Hochheilige/ Unblutige Me15=Opffer/ kurtzlich und deutlich erklaret wird. ( . . . ), Nurnberg 1669. 58 Dies ist mein Leib. 59 Jungmann, Josef A. SJ: Missarum sollernnia . Eine genetische Erklii rung der romischen Messe, 2 Bde., Wien 1948, 234 f., betont die Veranderun gen in der Opfertheologie, die sich durch die apologetischen Tendenzen im Reformationszeitalter ergeben haben: " Wiihrend sich die vortridentinische Theologie wegen dieser Unterscheidung [zwischen Darbringung und ei gentlicher Opferhandlung, R.D.) keine Sorge gemacht hat und fUr sie der Opfercharakter der Messe mit der oblatio gegeben war, sieht man sich jetzt durch das Fragen der Gegner gedrangt, auch nach dem eigentlichen Op fercharakter der Messe zu suchen.« Vgl. auch: TRE 1, Art. Abendmahl III,3--4,107-145; LThK 1, 1993, Art. Amt, Sp. 544-554; LthK 7, 1962, Art. Op fer, 1166-1176; TRE 25, 1995, Art. Opfer V, 278-286; Schillebeeckx, Edward: Das kirchliche Amt, Dusseldorf 1981; Lecuyer, Joseph: Le sacrement de l'or dination. Recherche historique et theologique, Paris 1983. 60 Z. B. Johannes Eck: »Ja, die Messe ist memoria und als solche kein Opfer, aber hinzu kornrnt noch die Darbringung des realgewordenen Chri stus, und deshalb ist es wahres Opfer« , zit. in: TRE 1, Art. Abendmahl III/3, 125. 61 Ref. in: TRE 25, Art. Opfer V, 281. 62 Vgl. Aufderbeck (1972), 352-354. 63 Schilling, Florentius: Geistliche Ehrnporten MARIAE. ( . . . ), Wien 1668, 225 f. 64 Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd/ ( . . .), Dillingen 1685, 907; Ertl, Ignatius: Miscellaneae conciones. ( . . . ), Augsburg 1715, 213 f. 65 Schilling, Florentius: Geistliche Ehrnporten MARlAE, 224. 66 Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 899 und 921 f. 67 Ebd., 930-934. 68 San Bernardino da Siena: Le prediche volgari, hg.v. Ciro Cannarozzi OFM, Bd. 2, Florenz 1958, 225-242. 69 Namlich: Ecce ancilla Domini fiat mihi secundum verbum tuum. 70 In dieser Aussage wandeln die Geistlichen des 17. Jahrhunderts die
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Predigt Bernhardins von Siena ab, der davon sprach, daB Christus in der Dreieinigkeit gewandelt werde. Moglicherweise ist das ein Indizi fiir ein zunehrnend kronkretes Verstandnis des Wandlungsvorganges in der Messe. 71 Schilling, Florentius: Geistliche Ehmporten MARIAE, 226 f. In beina he wortlicher Entsprechung findet sich diese Argumentation in zahlreichen Predigten, z. B.: Ert!, Ignaz Aug.Erem.: Miscellaneae conciones, 214 f.; Ma nincor, Edmund OSB: Fasciculus sacer, Oder Geistlicher Maybusch. ( . . . ), Salzburg 1681, 189 f.; Stainrnayr, Michael OPraem: Rationale ecclesiasticum. Oder Geistliches Brustblat ( . . ), Miinchen 1679, 818 f.; Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 935 f. 72 Manincor, Edmund OSB: Fasciculus sacer, 189; Schilling, Florentius: Geistliche Ehrnporten MARIAE, 226; Stainrnayr, Michael OPraem: Rationa le ecclesiasticum, 818; Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 940. 73 Trauner, Ignaz OSB: Fragmenta Sacra: Das ist: iiberblieberer Geistli cher Brosamen/ Ander Theil ( . . . ), Dillingen 1702, 985; ahnlich: Schilling, Florentius: Geistliche Ehrnporten MARIAE, 225. 74 Wolff, Leone OFM: Rugitus Leonis, 253. Auch in dieser Hinsicht ist moglicherweise im Vergleich zum mittelalterlichen Verstandnis eine Ver schiebung hin zu einer zunehmend buchstablichen Deutung zu konstatie ren, vgl. dazu Bynum (1996),122 f. 75 Vgl. Dreitze!, Horst: Monarchiebegriffe in der Fiirstengesellschaft. Semantik und Theorie in Deutschland von der Reformation bis zum Vor marz, 2 Bde., Koln u. a. 1991, Bd. 2, 481; Ders.: Absolutismus und absoluter Staat, Wiesbaden 1992, 67. In dieser Hinsicht sind wohl Unterschiede zum protestantischen Verstandnis feststellbar, vgl. Schorn-Schiitte (1996), 20-31 . 76 Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 943. 77 Trauner, Ignaz OSB: Fragmenta Sacra, 983. Dies widerspricht theolo gischen Vorgaben, nach.denen sich Gott das dargebrachte Opfer auch ver weigern kann, Jungmann (1948), 275 f. 78 Manincor, Edmundo OSB: Fasciculus sacer, 185. 79 Stainrnayr, Michael OPraem: Rationale ecclesiasticum, 819. Ebenso: Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 907. 80 Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 902 f. 81 Schillebeeckx (1981), 113. Die Theologiegeschichte des Messever stiindnisses wird detailliert nachgezeichnet bei: Jungmann (1948). 82 Trauner, Ignaz OSB: Geistliche Seelen=Jagd, 921. 83 Vgl. zum Gottesgnadentum im weltlichen Bereich Weber-Mock!, An nette: » Das Recht des KOnigs, der iiber euch herrschen solk Studien zu 1 Sam 8,11 ff. in der Literatur der friihen Neuzeit, Berlin 1986, 62 f. 84 Ironischerweise versuchten dann aber diese Geistlichen den Sakula risierungstendenzen durch eine iiberaus »weltliche« Sicht ihres Amtes ent gegenzutreten. Denn nicht nur einrnal weckte die Selbstdarstellung dieser Geistlichen Assoziationen zu »Prometheus«, wie ihn Goethe als Prototyp des »neuen Menschen«, der Gott nicht mehr bedurfte, iiberliefert hat. Der Sakularisierung des Denkens innerhalb einer dezidiert christlich-kirchli chen Welt nachzugehen, diirfte sicherlich ein lohnendes Unterfangen wei terer Forschungen sein. 85 Bynum (1996), 132 f. 86 Vgl. oben. .
Bernd- Ulrich Hergemoller
Die Konstruktion des »50domita« in den venezianischen Quellen zur spatmittelalterlichen Homosexuellenverfolgung
Der Versuch, die kollektiven Mannlichkeitskonzepte des Mit telalters zu beschreiben und zu untersuchen, wirft notwendi gerweise die Frage nach dem spezifischen Charakter der se xualethischen Normen und Werte auf, auf denen diese Kon struktionen basieren. Die mittelalterlichen Theologen pflegten - unter Ruckgriff auf Paulus und Augustinus - die Phanomene der Genitalitat und Korperlust mit dem Trieb zur Artvermehrung zu erklaren und die Ausubung des erlaubten Sexualhandelns auf die zeugungsorientierte monogame Verbindung von Mann und Frau ,zu reduzieren. Die »narurliche« innereheliche Sexualitat bildete die grundsatzliche Basis fur die Gewaltunter worfenheit der Frau, die Herrschaft des Ehemannes uber Kinder und Gesinde, Haus und Okonomie. Die Definitionsmacht der statthaften Sexualitat uberformte somit den gesamten Bereich des zwischenmenschlichen Zusammenlebens.1 Sie wirkte sich aber auch spiegelbildlich auf ein alternatives Modell von Mannlichkeit aus, das dem mittelalterlichen Mann ebenfalls die gesamte Skala der hierarchischen Chancen eroffnete, das des zolibataren Klerikers. Die Unterschiede zwischen dem geistlichen und weltlichen Mann bezogen sich nur auf den religiosen und sozialen, nicht aber auf den anthropologischen Bereich, sehen wir von den Versuchen ab, einigen Klerikern, vor aHem dem Papst, ein essentieHes MaB an subjektiver Heiligkeit und somit auch eine spezifische Wesensdifferenz zuzuschreiben. Ein drittes »Modell«, das allerdings allenfalls in okonomischen Notzeiten geduldet und keineswegs favorisiert wurde, bildete der ledige Mann im heiratsfahigen Alter - beispielsweise der Geselle, der noch keine Meisterstelle erlangt oder der Adelige, der noch keine ebenburtige Gattin gefunden hatte. Da die »De-
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markationslinien« zwischen diesen drei » Mannermodellen« durch die geistlichen und weltlichen Institutionen scharf be wacht waren, wurden alle Ubertretungen, vor allem » Ehe bruch«, ,;Blutschande« oder Verletzung der geistlichen Standes ehre mit strengen Strafen bedroht. Als gefahrlichste aller sUn der und Verbrecher aber galten seit dem 13. Jahrhundert diejenigen, die sich »wider die Natur« vergingen, das heifSt, die alle drei statthaften Konzepte der Mannerexistenz verlassen hatten.2 Vier Bereiche waren es, die von Thomas von Aquin und an deren Theologen zu den »Unzuchtssunden wider die Natur« gerechnet wurden: die Onanie (mollities), Zoophilie (bestiali tas), Homosexualitat (vitium sodomiticum) und der »falsche Verkehr zwischen Mann und Frau« (vitium non debitum).3 Un ter Bezugnahme auf die Sodom-Erzahlung des Alten Testamen tes (Genesis 19) wurden diejenigen Manner, die mit anderen Mannern »Unzucht« trieben, uberwiegend mit einem Derivat des Toponyms »Sodoma« belegt, das heiBt, als »sodomita« oder »sodomiticus« bezeichnet.4 1m spaten 13. Jahrhundert begannen die ersten italischen Stadte, die »Sodomiter« mit Hilfe der Folter und Todesstrafe zu verfolgen. Erst im 15. Jahrhundert aber riefen einige GroBstadte - Florenz,5 Brugge und Gent6 sowie die »Serenissima« eigene kommunale Inquisitionsinstanzen ins Leben, urn die »sodomi tische SUnde« zu kontrollieren und auszumerzen. Die »Sodo miter« wurden in diesem Zusammenhang durchweg wie ande re fallweise delinquierende Schwerverbrecher, wie Mbrder, Brandstifter, Ketzer oder Hochverrater, betrachtet. Die Vorstel lung, daB die »Sodomiter« als eine eigenstandige, separate Menschengruppe, als ein »drittes Geschlecht« oder als sich selbst reflektierende »Homosexuelle«7 qualifiziert werden kbnnten, war dem mittelalterlichen Denken vbllig fremd. Urn so erstaunlicher wirken die Untersuchungsergebnisse aus der »Sodomiterverfolgung« Venedigs, die sich in den »Ver mischten Akten« der »Zehnherren« niedergeschlagen haben. Die verfolgenden Instanzen legten das Schwergewicht auf die Ermittlung derjenigen Details des Sexualhandelns, die geeignet waren, Unterschiede oder Ahnlichkeiten zum Sexualhandeln zwischen Mann und Frau offenzulegen. Sie gelangten auf diese Weise im Laufe der Untersuchung zu Erkenntnissen und Ein sichten, die das traditionelle Bild yom fallweise strauchelnden
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Sunder durchbrachen, weil sie Konturen und Ansatze eigen standiger »sodomitischer« Lebensmbglichkeiten und Verhal tensformen erkennen lieiSen. In einem ProzeiS der selbstreferen tiellen Inquisitionsjustiz wurden die »Zehnherren« auiSerdem dazu bewogen, in der zweiten HaUte des 15. Jahrhunderts ge legentlich auch das »sodomitische« Verbrechen zwischen Mann und Frau in die Verfolgung einzubeziehen. Insofern kbnnen diese Akten - auch wenn sie selbst keinerlei sexualtheoretische Binnenreflexion aufweisen und wenn viele Anklagen aus Grun den subjektiver Rache fingiert worden sein mbgen - als Zeug nisse fUr die Mbglichkeit zahlreicher Manner und einiger Frau en interpretiert werden, sich weit von den beiden herrschenden Sexualrollen zu entfernen: Es deuten sich die schwachen Kon turen eines » sodomitischen Menschen« an, der gewohnheits maiSig und langfristig sowohl die Formen des >>natiirlichen« Fortpflanzungsverhaltens durchbricht als auch die Mbglichkeit des zblibataren Lebens zuruckweist. Wenngleich sich der vene zianische » Sodomita« noch in grundsatzlichen Formen yom » modernen« Homosexuellen unterscheidet, so hat er mit diesem doch den » essentiellen« Grundbestand der sexuellen Handlungsfiguren gemein. Daher war es kein Zufall, daiS gerade Magnus Hirschfeld (1868-1935), der einfluiSreiche Verfechter der » Zwischenstufentheorien« und der Vorstellung yom » Dritten Geschlecht« , als erster Deutscher das Augenmerk auf diesen Aktenbestand lenkte und die venezianische Sodomiterverfolgung in den transepochalen Rahmen der allgemeinen historischen Homosexuellendiskriminierung einordnete.8 Da Hirschfelds Informationen aber (bis heute) von keinem einzigen Mediavisten zum AnlaiS fur intensivere Forschungen oder um fassende Editionsarbeiten genommen wurden, mangelt es noch immer sowohl an einer umfassenden Darstellung der venezia nischen Homosexuellenverfolgung als auch an einer Zusam menstellung der wichtigsten Quellen.9 Das Geheimkollegium der Dieci wurde im Jahre 1310, im Zu sammenhang mit dem Aufstand des Benjamino Tiepolo, ins Le ben gerufen, urn fortan uber die gefahrlichsten Verbrechen wie Hochverrat, Mord oder Munzfalschung zu richten.lO Die Ver folgung der Sexualdelikte, auch derjenigen » wider die Natur« , lag dagegen bis 1418 weitgehend in den Handen der » Signori di Notte al Criminal« (» Herren der Nacht in Kriminalsa chen« )Y Nach einem aufsehenerregenden » Sodomiterskan-
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dal«, in den die Contarini und andere hohe Adelsfamilien ver wickelt waren, gelang es den Dieci im Jahre 1418, den »Herren der Nacht« die Zustandigkeit iiber die Sodomiter zu entrei15en. Sie stellten in diesem Jahr aus ihren eigenen Reihen ein neues Vierergremium, das »Collegium contra sodomitas« (bzw. »Col legium sodomitarum« ) auf, das nunmehr regelma15ig die pein liche Befragung und die Aburteilung der Sodomitae durchfiihr teo Die entsprechenden Akten - bis zum Jahre 1500 wurden 28 Registerbande gefiillt12 - verzeichnen fiir den Zeitraum von 1401 bis 1500 etwa 500 Einzelprozesse gegen »sodomitische« Knaben und Manner sowie etwa 34 Verhandlungen gegen Ehe frauen und Prostituierte, die der Anreizung zur Sodomie (Anal verkehr) angeklagt wurden,13 ca. 70 von diesen hatten den Voll zug der Todesstrafe durch Enthauptung und Einascherung auf der Piazetta zur Folge.14 Die » einfachen Unzuchtsdelikte« , vor allem die Ma15regelungen nicht lizensierter Prostituierter sowie die Erlasse in Bordellangelegenheiten, wurden dagegen im 15. Jahrhundert weitgehend den »Signori di Notte al Civil« (Herren der Nacht in Zivilsachen) iiberlassen.15 Die Register der venezianischen » Zehnherren« vereinigen ei ne Fiille von Informationen iiber die strafrechtliche Befragung und Aburteilung von » Hochverratern« , Miinzfalschern und » Sodomitern« . Je detailfreudiger und umfangreicher die Proto kolle iiber den Proze15verlauf, desto zahlreicher werden die se xualgeschichtlich interessanten Textzeugnisse, die von ihren Urhebern zwar iiberwiegend als unvermeidliche oder unfrei willige Formeln oder Erganzungen eingeriickt wurden, von uns Heutigen aber als willkommene Interpretationshilfen zur Erhellung der zeitgenossischen Vorstellungswelt aufgefalSt werden konnen. Die sich iiber ein Jahrhundert erstreckende Auseinandersetzung mit sachlich begriindeten oder fingierten Sodomie-Anklagen zwang die » ZehrIherren« nolens-volens in einen Proze15 der differenzierten Reflexion iiber die Erschei nungsformen und Folgewirkungen der » widernatiirlichen Siinde« hinein, der zur quantitativen Ausweitung der Verfol gungsma15nahmen und zur strafrechtlichen Erfassung stets neuer Personenkreise fiihrte. Nur selten lassen sich den lakonisch formulierten Registerein tragen Anhaltspunkte iiber die Motive entnehmen, die die Dieci bewogen haben, ihr spezielles Interesse gegen die » Sodomiter« zu richten. Die antisodomitischen Argumentationsfiguren Vene-
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digs decken sich bis ins spate 15. Jahrhundert weitgehend mit denjenigen, die aus den Novellen des Codex Justinianus bekannt waren. Demnach wurden kollektiv erlittene Katastrophen, vor allem Hungersnot, Erdbeben und Pest, als Rache Gottes ftir die Verletzung der Schopfungsordnung durch die » Sodomiter« und Blasphemiker interpretiert.I6 In einem Mmderheitenvotum zur Verscharfung des Sodomiterstrafrechts yom 25. August 1464 wird der spezifische Bezug dieses Kausalsyndroms zur serenis sima hergestelIt: »In Kenntnis derjenigen Dinge, die laut wahrer Uberlieferung der Majestat des allmachtigen Gottes zu MiBfallen und Abscheu gereichen, sind wir als Christen gehalten, die Taten unseres Gottes nachzuahmen, welcher das sodomitische Yolk verabscheute: Denn als er in die Herzen der Kinder der Stadt Sodoma blickte und erkannte, wie sie sein wtirden im erwach senen Zustand, verschonte er sie in keiner Beziehung, sondern lieB vielmehr alle ihre Stadte und Lander in Wasser und Schwefel untergehen, so daB die Stadte seitdem bis heute auf unerklarliche Weise wtist liegen und die Lander bis heute stinken. Da wir nun aber, die wir in diese ruckischen Stimpfe verschlagen sind, nicht etwa durch den FleiB und die Anstrengung unserer Vorfahren, sondern allein durch die Gtite und Gnade Gottes, eine soleh' ausgedehnte Stadt und ein soleh' weites Doganat tibernommen haben, sind wir verpflichtet, die Werke des allmachtigen Gottes und unserer Altvorderen nachzuahmen, die die Sodomitae mit Feuer verfolgten. Daher geht der BeschluB, daB alIe, die in Zu kunft das Ubel der Sodomie begehen, welehes sich gegen Gott sowie gegen die menschliche und nattirliche Fortpflanzung rich tet, lebendigen Leibs auf erhohtem Podest [ . . . J zwischen den beiden Saulen des Marcusplatzes [ . . . J zur Abschreckung ver brannt werden, damit wir die Gnade des lebendigen Gottes er langen, und damit Gott selbst und unser Herr Jesus Christus uns, unseren Stand und unsere Regierung zu seinem Ruhme erhohen moge«.17 In dem Wunsche, ihr Handeln im gottlichen Willen zu ver ankern, berufen sich die Herren auf die Erzahlung tiber die Zer storung von Sodom und Gomorrha nach dem 19. Kapitel des Buches Genesis: In ktihner Analogiebildung beschreiben sie ei ne ParalIeIe zwischen dem rachenden Gott und der veneziani schen Obrigkeit, die - eher am Rande - auch eine biblische Le gitimation des Verbrennungstodes liefert. Urn aber den Sodom Mythos auf die konkrete Situation Venedigs zu tibertragen,
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behaupten sie entgegen dem Wortlaut der Schrift, die biblischen Stadte seien » in Wasser und Schwefel«, statt in » Feuer und Schwefel« untergegangen. Damit schlagen sie die Brticke zu der jederzeit in Venedig prasenten Furcht vor Oberflutungskata strophen und vor der schleichenden Zersetzung der architek tonischen Fundamente. Allein die korperliche Priisenz der So domiter - unabhangig von potentiellen GesetzesverstofSen wurde demnach als latente Bedrohung der gesamten Republik aufgefafSt. Die Gefiihrdung des Gemeinwesens und der Obrigkeit resul tiere, so wird gesagt, noch aus einem zweiten Moment, aus der Weigerung der Sodomiter, sich zu vermehren. In Abweichung von Schrift und Codex Iustinianus fugen die Verfasser des Textes die Begrtindung hinzu, das » Vitium sodomie« richte sich » contra deum et humanam ac naturalem generationem«. Das Substantiv » generatio« - einmalig in vorliegendem Aktenbestand - umfafSt zwei Bedeutungsvarianten: » Zeugungsakt« oder » Fortpflan zung«. Die Sodomie wird somit zum lebensbedrohenden Maxi maltibel erklart, weil sie der >>narurlichen« Form des Ge schlechtsverkehrs widerspreche und weil sie dem biblischen Vermehrungsgebot zuwiderlaufe. Somit trtigen die Sodomiter auf doppelte Weise zum Schaden der Republik bei: zum einen dadurch, dafS sie aufgrund ihres stindhaften Handelns den Zorn Gottes provozierten; zum anderen dadurch, dafS sie die Gebur tenrate und die Anzahl der Einheimischen verringerten.18 Aus diesen Griinden wurde es als zentrale Aufgabe der ver folgenden Behorden angesehen, nicht nur die Sodomiter aufzu sptiren, sondern auch, moglichst exakte Einzelangaben tiber deren korperliche Befindlichkeit und tiber deren sexuelle Ver haltensformen zusammenzutragen. Da das » crimen sodomiti cum« zunachst nicht anders qualifiziert wurde als jedes andere, singulare Kapitaldelikt auch, wurden die aufgrund von Akku sation oder Denunziation ergriffenen mannlichen Sodomiter19 zunachst nach den tiblichen strafrechtlich relevanten Fakten be fragt, nach Personennamen, Datum, Ort und Tatumstanden. DafS die Verhorenden aber ein spezifisches Erkenntnisinteresse an der detaillierten Erhebung aller sexuellen Praktiken ent wickelten, wird daran deutlich, dafS sie die diesbeztiglichen Nachforschungen - teilweise mit Hilfe der Folter - auch dann fortsetzten, wenn die Delinquenten den Tatbestand selbst langst zu Protokoll gegeben hatten und ohnehin der Kapital-
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strafe entgegensahen. Diese inquisitorischen Fragen der Dieci bzw. des von ihnen beschickten Vierergrerniums » Collegium contra sodomitas« basieren auf der dichotomen Konstruktion des mittelalterlichen Menschenbildes und der Gesamtgesell schaft. Demnach wird der » Sodomita« prinzipiell einem Krite rienkatalog unterworfen, der der herrschenden Vorstellung yom » heterosexuellen« Mann entnommen ist. Ein erster Fra genkomplex betrifft die Aktiv-Passiv-Relation: Das » aktive« , aggressive, penetrierende Verhalten wird als mannlich, das » passive« , rezeptive als weiblich angesehen. In sprachlicher Form druckt sich diese Zweiteilung in den damaligen Neolo gismen » sodomita agens« und » sodomita patiens« aus. Ober dies lielSen sich die Verhorenden von der Vorstellung leiten, daIS das » aktive« Verhalten den Alteren, das » passive« den Jungeren zuzuschreiben sei, ein Muster, das ihnen sowohl aus der ubli chen Heiratspraxis als auch aus den Zeugnissen der antiken Jiinglingsliebe bekannt gewesen sein durfte. 1m allgemeinen wurde nur der altere Mann als Sodomit » erkannt« und mit dem Tode bestraft, wahrend dem jiingeren die Chance gegeben wur de, nach diversen Leibes-, Ehren- und Geldstrafen entlassen zu werden. Ein sehr frillier Prazedenzfall war derjenige des Petrus de Ferrara:20 Dieser wird nach intensiven Foltern im Januar 1349 zu dem » Gestandnis« gezwungen, wahrend seiner Lehrzeit bei Franciscus Asturio im Rialto-Viertel mehrfach des Nachts in die Schenkel seines Schlafgenossen Jacobellus de Bononia einge drungen zu sein und sich auf diese Weise mit Einverstandnis des anderen befriedigt zu haben; daher wird er am 20. Februar 1349 zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Der durch diese Aussagen schwer belastete Jacobellus wurde ebenfalls dreimal der schweren Tortur unterworfen, danach aber freige sprochen, weil er glaubhaft versichert hatte, keine Zustimmung zur Durchfuhrung der Verkehrs gegeben zu haben. Juristisch korrekt wird stets der Zeitpunkt des Tathergangs, nicht derjenige der Verhandlung zur Bemessungsgrundlage der Altersangabe erhoben. So heilSt es im Jahre 1424, Bernardus Sal vador, Sohn des Jacobus, sei erwiesenermalSen zu demjenigen Zeitpunkt, an dem er passiv an der » subdomitischen Sunde« teilgenommen habe, noch nicht strafmundig gewesen.21 Einigen Verhoren ist jedoch die Aussage zu entnehmen, daIS im sodomitischen Verkehr die Aktiv-Passiv-Relation durch den
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Jiingeren durchbrochen wurde, so im Falle des stadtischen Bo ten Benedictus Capello und des dreizehn- bis vierzehnjahrigen Lehrlings Anthonius von 1368: Wahrend Benedictus, der die sexuelle Beziehung in ungewohnlich dreister Form auf dem Ge lande des Dogenpalastes eroffnet hatte, urspriinglich die »akti ve« Sexualrolle behauptet, beginnt sich im Laufe der Zeit auch der Lehrling gegenuber dem Preco als »sodomita agens« zu be tatigen.22 1m Zuge der weiteren Differenzierung bemuhten sich die »Signori di Notte« bzw. die Dieci darum, Naheres tiber die Kor perlage der beteiligten Manner zu ermitteln. Die entsprechen den Vorstellungen entstammten wiederum dem dichotomisch gepragten Fundus der heterosexuellen Modelle. Demnach wur de die Rtickenlage der Frau als » naturgemaB« , die Bauch- bzw. Hockenlage aber als » tierisch« und » widernatiirlich« angese hen. Der » passive« Sodomiter stand somit grundsatzlich in Ver dacht, die » widernatiirliche« Stellung zu favorisieren und die Penetration » in parte posteriore« oder » in posterioribus« anzu streben. Allerdings finden sich auch in diesem Fall Ausnahmen von der Regel, das heiBt gewissenhaft protokollierte Hinweise auf die Rezeption des » agens« » in parte anteriore«. Die Fragen uber das Verhalten des » passiven Sodomiters« richteten sich so mit grundsatzlich nach den Vorstellungen uber die Ehefrau aus, konzentrierten sich aber darauf, den Sodomitern die verbotene und nicht die erlaubte Korperstellung zuzuschreiben. Offen sichtlich wurde erst auf dem Umweg tiber diese sexualstraf rechtliche Erhebung und Analogiebildung etwa ab 1460 das so domitische Verbrechen der Frau » entdeckt« , das in der Folge zeit nicht minder grausam (wenngleich in weitaus geringerem Umfang) verfolgt wurde wie dasjenige der Manner. Eine dritte Differenzierung betraf den Vorgang des Samen austritts (emissio seminis) . Viele Opfer werden in auffalliger Form danach befragt, ob bzw. wie oft der Samen ausgetreten sei. Wiederum wird das Interrogatorium von den traditionellen Ehe- und Sexualitatsbildern bestimmt: Das angestrebte Ziel des » aktiven Mannes« , die causa finalis des Sexualaktes, bildet die » emissio seminis« zum Zweck der Artvermehrung (procreatio proliS) .23 Dementsprechend muBte es auch das erklarte Ziel des sodomitischen Mannes sein, die Ejakulation herbeizuftihren. Die Vorstellung eines Modells nicht-genitaler Erotik lag auBer halb jeglicher Mannlichkeitsvorstellung.
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Dennoch lassen sich Einzelbelege dafur beibringen, dafS selbst die »einfache Beruhrung«, die nicht zum Samenaustritt fiihrte, zur Grundlage der Verurteilung erhoben wurde. So wur de der Adelige Andreas Coppo im Jahre 1474 auf den Stufen der Rialtobrucke ausgerufen, »mit der Beschuldigung, dafS er sich mit dem Goldschmied, dem inzwischen eingeascherten So domit Marinus, am mannlichen Glied betatigte, ohne stattge habte Pollution«.24 Das Bild des mannlichen Sodomiters, das sich aus diesen all gemeinen Leitfragen abzuzeichnen begann, wich in einigen wichtigen Punkten von der herrschenden Vorstellung ab, dafS der Sodomita in allen Verhaltensweisen prinzipiell dem » hete rosexuellen« Mann gleichzustellen sei: Die Sodomiter waren in der Lage - im Unterschied zu Mann und Frau - das Aktiv-Pas siv-Verhaltnis in ein Passiv-Aktiv-Verhiiltnis zu verkehren. Nur in Ausnahmefallen nahmen sie diejenige Kbrperlage beim Ge schlechtsverkehr ein, die im Eheleben vorgeschrieben war.25 AufSerdem kannten sie aufSer penetrativen Genitalakten auch die Form wechselseitiger manueller Befriedigung. Allerdings lafSt sich keinerlei Beleg dafur beibringen, dafS dieser objektive Widerspruch zwischen dem zugrundeliegenden anthropologi schen »Einheitsmodell« und der inquisitorischen » Beweiserhe bung« im Kreis der Dieci jemals reflektiert oder diskutiert wor den ware. In einem ersten Dreischritt wurde bislang verdeutlicht, dafS sich in den Kriminalakten das erkenntnisleitende Interesse der Verhbrenden an sexualtheoretischer Spezifizierung und » Dis kursivierung« 26 abzuzeichnen beginnt. Sicherlich lag es aufSer halb des damaligen Denkhorizontes, iiber anthropologische Unterschiede zwischen dem » Sodomiter« und dem » Ehemann« nachzusinnen oder Konzeptionen iiber eine eigene » sodomiti sche Natur« oder ein » drittes Geschlecht« zu entwickeln. Den noch demonstrieren zahlreiche Textzeugnisse mit hinreichen der Deutlichkeit, dafS die Zehnherren prinzipielle Abweichun gen von der zugrundeliegenden Einheitsnorm in Erfahrung brachten. Die Abweichungen lagen nicht allein im Tatbestand des » widernatiirlichen« Sexualverkehrs begriindet, sondern auch in den kbrperlichen Aktivitaten und sozialen Verhaltens mustern, durch die sich die » delinquierenden« von den » geset zestreuen« Mannern abhoben. Dariiber hinaus enthalten die Register zahlreiche Eintrage,
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die die langsame Entwicklung neuer Sozialrollen anzeigen und zumindest implizit die UnzuHinglichkeit des justinianischen Verbrechermodells belegen: Wahrend nach dieser Theorie der Sodomit - ahnlich wie der Marder - als ein strauchelnder Kri mineller betrachtet wurde, beginnen sich nun in den Registern die Anzeichen daftir zu mehren, daB die soziale Realitat zahl reicher Sodomiter von konstanten, affektiv gepragten Grund neigungen oder langfristigen spezifischen Lebensformen be stimmt war. Sehen wir von Einzelfallen wie der »mannlichen Dirne« Rolandinus-»Rolandina« Ronchaia (1354?7 oder dem Ziegen-Sodomita und Onanisten Simone Furlan (1365?8 ab, zeichnen sich vor allem drei neue » Sodomiter-Modelle« in den Niederschriften der Dieci aus dem 15. Jahrhundert ab, die mit den Kurzbegriffen » Dauersodomit« , » Sodomiterknabe« und » Sodomiterin« belegt werden kannen.
1. Der »Dauersodomit« Wenngleich sich das venezianische » Sodomiter-Collegium« am Bild des Sodomiters als fallweise und sporadisch auftretendem (Schwer)verbrecher orientiert, wird es im Lauf der Jahrzehnte mit zahlreichen Hinweisen auf langfristige, ehe-ahnliche Le bensgemeinschaften » sodomitischer« Manner konfrontiert, die die Vorstellung durchkreuzen, daB es sich bei den » Delinquen ten« stets urn Ausnahmetater handelt. Auf der Folie der seriel len Beweiserhebung zeichnen sich somit die noch unreflektier ten Konturen eines neuen Mannlichkeitsmodells ab, das sich von den beiden » Basisangeboten« , dem » Ehemann« und dem » Zalibataren« , grundsatzlich unterscheidet: Einer der friihesten Belege datiert von 1 357, stammt also noch aus der aktiven Phase der » Signori di Notte«: Der Barca rolo Nicoletus Marmagna aus Mestre gesteht nach heftigen Fol tern, seit etwa vier Jahren genitale Kontakte zu seinem Lehrling Johannes Braganza unterhalten zu haben. Zunachst habe sich Johannes gegen den Schenkel- und Analverkehr gewehrt, dann habe er dies gerne hingenommen. Urn die Beziehung auBerlich zu kaschieren, habe Nicoletus seinen Lehrling nunmehr mit sei ner Nichte Rubea verheiratet. Nach der Hochzeit aber habe er
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die Sexualkontakte fortgesetzt, zumeist im Ehebette des Johan nes. Beide Manner wurden enthauptet und verbrannt. Die Her ren der Nacht zeigen grolSes Interesse an der Darstellung der nachtlichen Begebenheiten: Nicoletus pflegte sich etwa gegen Mitternacht zu erheben und sich ins Bett des Johannes zu legen, urn denselben im »Akt der Lust zu umarmen« (et ipse amplec tabatur ipsum per actum libidinis) . Ausdrucklich wird betont, daJS er sich seinem Partner auch von vorne genahert habe, urn »dieselbe Sunde« durchzufiihren und sein »Sperma zu vergie JSen« (ponebat eidem suum membrum virile in coxis a parte anteriori et isto modo et sumebat peccatum predictum, emitten do sperma continue). DaIS diese Aussagen wortwortlich im Ge standnis des Johannes wiederkehren, ist sicherlich auf die Tech nik des Verhors zuruckzufuhren, das heilSt auf die in der Quelle detailliert beschriebenen Folterpraktiken. In diesem Fall wird auch der eindeutig jungere, passive Mann mit derselben Strafe wie der altere belegt, weil er sich - trotz anfanglichen Straubens - freiwillig fUr langere Zeit in die Rolle des Sexualpartners be geben und somit auch sein eheliches Lager und das geheiligte Ehesakrament geschandet hat. Wie die beteiligte Frau auf diese »Mannerliebe« reagiert hat, ist den Registern nicht zu entneh men, da Rubea offensichtlich nicht vorgeladen wurde. Der aus heutiger Sicht auffallige Tatbestand, daIS die Quelle kein einzi ges Wort des Erstaunens daruber verliert, daIS es sich in diesem Fall nicht urn eine kurzfristige Verbrechensbeziehung, sondern offenbar urn eine auf Lebenszeit angelegte Mannerfreundschaft handelte, ist offensichtlich auf den Gattungscharakter des Tex tes zuruckzufUhren: Die Strafregister dienten ausschlie1Slich der Protokollierung der Verhore und nicht der theoretischen Refle xion 29 Zeugnisse ahnlicher Art fur lebenslanglich konzipierte Freundschaften sind aulSerordentlich selten. Haufiger lassen sich Nachrichten daruber finden, daIS gemeinschaftlich ergrif fene Mannerpaare mehrere Jahre in hauslicher oder sexueller Gemeinschaft zusammen verbracht haben. Benedictus Capello verwendet zur Bezeichnung seiner Beziehung zu dem stadti schen Diener bereits 1368 die Bezeichnung » Freundschaft« (amicitia).
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Der minderjiihrige Sodomiter
1m Jahre 1425 beschliefSen die Dieci, das Strafalter fur Heran wachsende urn vier Jahre herabzusetzen, das heifSt, aIle Kna ben, die das zehnte Lebensjahr uberschritten haben, in das Sy stem der Leib- und Ehrenstrafen einzubeziehen. Damit wird das Modell des aktiven erwachsenen Sodomiters urn die Ge stalt des subjektiv schuldigen, das heifSt, lustempfindenden, passiven » Jung-Sodomiters« erweitert. Es heifSt in dem ErlafS diesen Jahres: » Wahrend in der Vergangenheit hinreichende Vorkehrungen dafur getroffen wurden, dafS dieser Rat gegen die Sodomiter, speziell gegen die erwachsenen, vorgehe, er weist es sich nunmehr als notwendig, urn jede Grundlage zur Eroffnung des besagten schandlichen Verbrechens aufzuheben, auch MafSnahmen gegen die Minderjahrigen zu treffen, damit sich dieselben angesichts der Strafandrohungen vom Umgang mit den Bosen zuruckhalten und damit sie sich nicht mit den jenigen vermischen, die sich an diesem besagten Verbrechen de lektieren« .3o 1m folgenden Jahr wird daher die Anweisung er teilt, alle Knaben aus der Altersgruppe zwischen zehn und vier zehn Jahren mit drei Monaten Kerkerhaft und zwolf bis zwanzig Peitschenhieben zu bestrafen. Diese Androhungen wurden mit grausamem Ernst in die Wirklichkeit umgesetzt, so dafS wir von schweren Korperleiden und Foltern horen, denen die Knaben in den Gefangnissen ausgesetzt waren. Aber die » Zehnherren« gelangten nach einigen Jahren zu der Uberzeugung, dafS auch dieses Modell des » passiven« Jugend lichen unzureichend sei, urn alle Falle zu erfassen. Urn die » ak tiven« Sodomiterknaben abzuschrecken, begannen sie, exem plarische StrafmafSnahmen zu verhangen: So wird im Juli 1462 ein Verfahren gegen den » gelahmten, aktiven Griechen-Knaben Theodorus« eroffnet. Es wird schliefSlich angesichts seines ju gendlichen Alters beschlossen, dafS er 25 Peitschenhiebe, eine Geldstrafe von 25 Pfund erhalten und dafS ihm die Nase bis auf die Knochen abgeschnitten werden soll, damit er sich fortan in Venedig wie eine MifSgeburt bewege.31 Wenige Tage spater wird dasselbe Urteil gegen den Knaben Gaspar Calegari gefallt. Trotz der vorgeblichen Furcht vor der leiblichen Prasenz der Sodomiter verzichten die Herren darauf, die besagten Knaben hinzurichten oder ins Exil zu schicken, weil sie ihnen eine grau same soziale Funktion zuweisen mochten: Sie sollten fortan kraft
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ihrer blofSen Existenz allen Menschen die differentia specifica zwischen Natur und Widernatur vor Augen halten. In ihrem zwiegespaltenen Dasein als kiinstliche »MifSgeburten« sollen sie zugleich den Zwischenstatus jener Menschen dokumentieren, die auf zweifache Weise den herrschenden Mannlichkeits- und Sexualitatskonzepten zuwidergehandelt haben: Sie haben so wohl dem Vitium sodomiticum gefrbnt, als auch ihre altersge mafSe Sexualrolle vertauscht, und damit ein subjektives Eigen interesse an mannmannlicher Sexualitat an den Tag gelegt. Damit trat auch der minderjahrige aktive Sodomiter als bf fentlich sichtbare Abschreckungsfigur in das Sozialleben der Lagunenstadt ein. Es setzte sich zudem eine strenge Unterschei dung zwischen »aktiven« und » passiven« Knaben (Pueri) durch: So wurden am 7. Dezember 1475 zwei miteinander ver wandte Knaben gleichzeitig wegen des » sodomitischen De likts« verurteilt, aber zu unterschiedlichen Strafen: Petrus Tinc tor sollte » wegen aktiven Handelns irn sodomitischen Verbre chen« (pro agente in crimine subdomitii) 25 Hiebe erhalten und auf ewig ins Exil gehen, wahrend Hieronymus Tinctor » wegen passiven Handelns« (pro patiente) zwar dieselbe Anzahl von Peitschenhieben erleiden, jedoch von der Verbannung ver schont werden sollte. 1m Fall minderjahriger Madchen verhielten sich die Dieci moderater: Die jungen, nicht lizensierten Prostituierten wurden meist nach.harten Kbrperstrafen in die Terra ferma gejagt, aber ansonsten an Leib und Leben geschont. Sie hatten sich in den Augen der Strafverfolger - wenngleich in unstatthafter Form namlich nicht aus dem normativen Rahmen der >>natiirlichen« mannweiblichen Geschlechtlichkeit hinausbegeben und nicht den Versuch unternommen, die traditionellen Mannlichkeits vorstellungen zu konterkarieren.
3. Die » Sodomiterin« Etwa vierzig Jahre nach dem sodomitischen Knaben wird auch die sodomitische, genauer die sodomitisierte oder die zur So domie animierende Frau » entdeckt« : 1m Jahre 1463 wird erst mals vom sodomitischen Verkehr zwischen Mann und Frau be-
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richtet: Jacobinus a Maretis wird beschuldigt, Franceschina Sclavona wider deren Willen »sodomitisiert« zu haben; das Ur teil lautet auf vier Jahre Kerker und anschlieBendes Exip2 Die Griinde, die die Dieci veranlassen, nunmehr auch mann weibliche Sodomie-Vergehen zu verfolgen, werden nicht arti kuliert: Die allgemeinen theoretischen Analogien zwischen So domiter-Mannern und Ehe-Mannern diirften als geistige Folie gedient haben; vereinzelte Klagen iiber anale Vergewaltigung sowie iiber » sodomitische« Praktiken in Bordellen33 werden den AniaB zu weiteren Nachforschungen geboten haben. Fol gerichtig werden die Barbiere und Arzte Venedigs am 7. Januar 1467 ausdriicklich darauf hingewiesen, neben den Jiinglingen auch aIle Frauen zu denunzieren, deren » Hinterteil« durch so domitischen Verkehr verletzt worden sei.34 In Folgewirkung der Strafverscharfung werden gelegentlich sogar Todesurteile aus gesprochen: Der Fischer Johannes Furlanus wird wegen sodo mitischen Verkehrs mit seiner eigenen Ehefrau im Jahre 1481 wie ein mannmannlicher Sodomiter behandelt und auf dem Scheiterhaufen eingeaschert.35 Die Verfolgung in mannweiblichen Sodomiedelikten betraf aber nicht in erster Linie Eheleute, sondern iiberwiegend Pro stituierte. Welche Griinde sie bewogen, mit ihren Kunden Anal verkehr zu praktizieren, wird niemals artikuliert: Zum einen konnten sie die Absicht verfolgt haben, homosexuelle Manner anzuziehen;36 zum anderen diirfte der Analverkehr dem Ziel gedient haben, unerwiinschte Schwangerschaft zu verhiiten. Die EinzelmaBnahmen nahmen ihren Ausgang beim ProzeB ge gen Lucia Astulfi, die » gestandig« war, daB ihre » Schiilerin« (famula) Vrsia Veronensis in ihrem Hause sodomitisiert worden war (1475). Diese lakonischen Notizen lassen auf einen Bordell betrieb schlieBen, in welchem Analverkehr systematisch prak tiziert und eingeiibt wurde. Eine deutJichere Sprache weisen die Eintragungen zum Jahre 1500 auf: Rada de Jadra, die »hochstkriminelle Kupplerin« (scelestissima rufiana), wurde beschuldigt, in ihrem Hause eine » Schule der Sodomie« (scola sodomiae) betrieben zu haben. Ihre » Schiilerinnen« Angela Cre ca und Ana Furlana wurden auf der Folter gezwungen, diesen Verdacht zu bestatigen. Rada wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt; ihre » Schiilerinnen« muBten an der Exekution teil nehmen, konnten aber ihr Leben retten. Einer dritten Frauen hauswirtin, die wegen desselben Tatbestands belangt werden
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soUte, Marieta del Beretina war es gelungen, vor ihrer Festnah me zu fliehen.37 Dieser kurze Einblick in die umfassenden Dieci-Register soU te verdeutlichen, daiS sich hinter der monotonen serieUen Fas sade der Akten die Umrisse einer sexualtechnischen Nomen klatur verbergen, die geeignet sind, unsere VorsteUungen uber das Mannlichkeits- und Sexualitatskonzept dieser Zeit zu er weitern. Zu diesem Zweck wurden drei zentrale Aspekte ent wickelt, die das gesamte Quellenmaterial durchziehen, sowie drei soziale Opfergruppen vorgestellt, die sich aus der Gesamt menge der Verhorten herauslOsen lassen. Wenngleich sich die Verfolgenden niemals von ihren anthropologischen Prinzipien entfernen, sich also, modern gesprochen, stets auf der »Kon struktionsebene« bewegen und wenngleich sicherlich ein hoher Prozentsatz fiktiver Sodomie-Anklagen in Rechnung zu stellen ist, so laiSt der Gesamtcharakter der unverfalscht erhaltenen Ak tenserie insgesamt doch keinen Zweifel daran, daiS den Diver sifikationen des sodomitischen Rollenverhaltens ein Substrat auf der » Realitatsebene« entsprach. Dernnach geht aus den Re gistern hervor, daiS sich das »horrible Delikt« nicht nur in » kri minellen« Einzeltaten konkretisierte, sondern auch in dauer haften Lebensgemeinschaften; daiS die Verfolgenden yom Bild des unschuldigen minderjahrigen Knaben abzurucken began nen und auch den JUngeren ein eigenes Lustempfinden zu schrieben sowie daiS sie schlieiSlich auch dazu ubergingen, die » Sexualitat« der Frau zu entdecken und die » Sodomiterin« in ihre Untersuchung einzubeziehen. Allerdings durfte es selbst bei genauer Quellenanalyse fur immer verwehrt bleiben, mit der wunschenswerten statistischen Exaktheit zwischen denje nigen Anklagen zu differenzieren, die aus personlicher Rach sucht oder Denunziationslust fingiert wurden, um andere Men schen auf quasi-legalem Wege zu vernichten, und denjenigen, die sich auf das sexualpraktische Alltagsverhalten der Venezia nerinnen und Venezianer bezogen. Aus heutiger Sicht lassen sich diese Ergebnisse auch als Be lege fUr eine zeitgenossische Erweiterung und Ausgestaltung der herrschenden Mannlichkeitskonzepte interpretieren. Die » Mannerwelt« war prinzipiell von zwei favorisierten Typen, dem Ehemann und dem Kleriker, und einem » geduldeten« Typ, dem unverheirateten Erwachsenen, gepragt. Nun scharfen sich die Konturen eines differenzierten » Sodomiter Typs« : Dieser
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verftigt tiber eine Bandbreite des sexuellen Verhaltens, die die herkommlichen Klischees tibersteigt, und er vermag auf Dauer angelegte Bindungen einzugehen. Durch die Kinder-Inquisi tion wurde sodann verdeutlicht, daIS viele der "Sodomiter« ho mosexuelles Empfinden offenbar bereits in der Frtihphase der Adoleszenz zur Geltung bringen. Mit einer zeitlichen Verzoge rung von einem halben Jahrhundert werden sodann auch die herrschenden Weiblichkeitsmodelle urn den Typ der »Sodomi terin« erweitert, daIS heilSt, derjenigen Frau, die mit Vorliebe auf Dauer » widernarurlichen« Verkehr praktiziert. Da die Register und die anderen Quellen keinerlei detaillier te Grtinde ftir die Sodomiterverfolgung nennen, ist es nicht leicht, kommunal-spezifische Motive zu eruieren, die tiber die allgemeinen Erkenntnisse zur generellen spatmittelalterlichen Homosexuellenfeindschaft hinausweisen. Wie das eingangs angefuhrte Zitat von 1464 verdeutlicht, scheint die gemeinsame Grundlage aller VerfolgungsmalSnahmen das Ziel gewesen zu sein, jede Form der zeugungsfeindlichen oder -widrigen Sexua litat auszumerzen. Tatsachlich aber richteten sich die inquisito rischen MalSnahmen der Dieci nicht generell gegen alle Sach verhalte dieser Art, sondern ausschlielSlich gegen die verschie denen Erscheinungsformen der Analitat. So enthalten die Register keinen einzigen Fall einer Verurteilung wegen Selbst befriedigung, obwohl auch die Onanie zweifelsohne zu den zeugungswidrigen Formen der genitalen Betatigung gehorte und dementsprechend von einigen Theologen - Wilhelm von Auvergne38 und Jean Gerson beispielsweise - hart gegeilSelt wurde. Nur per Zufall - zwei bis dreimal - werden »Gestand nisse« tiber gegenseitige Onanie zwischen Mannern einge rtickt, die die Dieci aber nicht dazu veranlassen, systematische Aussagen tiber diese zeugungsfeindliche Praxis zu erfoltern. Ferner fehlen alle Hinweise auf oral-genitale Kontakte, auf Fel latio und Cunnilingus. Dies bedeutet, daIS keineswegs alle Pha nomene der zeugungsfeindlichen oder -widrigen Genitalitat bekampft wurden, sondern lediglich deren anale Komponen ten. DaIS es den Dieci tiberdies fern lag, die gesamte Bandbreite des Sexualstrafrechts auszuschopfen, wird daran ersichtlich, daIS die vaginale mannweibliche Vergewaltigung in diesem Kontext der geheimen Sonderjustiz vollstandig ausgespart bleibt und den »Herren der Nacht« tiberlassen wird. Da die wenigen Arengen der Dieci-Register keine generel-
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len Begrundungszusammenhange vermitteln und da auch der demographische Aspekt - der in der florentinischen Sodomi terverfolgung eine zentrale Rolle spielt39 - bis auf den oben zitierten Einzelfall nicht naher reflektiert wird, £alIt es schwer, ein gemeinsames Erklarungsmuster fur diesen Tatbestand zu prasentieren. Zweifelsohne aber sollten aIle genannten MaiS nahmen konkreten sozialen Zielen und Funktionen dienen: Sie wandten sich namlich ausnahmslos gegen diejenigen Manner, die im Verdacht standen, die herrschenden Mannlichkeitsan forderungen in dem zentralen Punkt der heterosexuellen Ge nitalitat verlassen zu haben. Offenbar gewannen die Dieci den Eindruck, daiS die Grundlagen von Ehe und Familie und damit die Sozialstruktur der gesamten Staatsgesellschaft durch das sodomitische, das heiiSt anale, Verhalten, gefiihrdet seien: Die ses scheint nicht nur singulare » Einzeltater« und groiSere Gruppen aus hohen und niederen Schichten ergriffen zu ha ben, sondern auch heiratsfahige Manner und sogar die Prosti tuierten, deren Aufgabe es doch gewesen ware, die Manner in die » naturliche« Form der Sexualitat einzufUhren und sie auf ihre Rolle als Ehepartner vorzubereiten. Die Frauenhausbe wohnerinnen wurden nicht deshalb in die Verfolgung einbe zogen, weil ihnen etwa gleichgeschlechtliche (» lesbische« ) Neigungen unterstellt worden waren, sondern, weil sie daran gehindert werden sollten, die Manner in diesem vermeintli chen Ausbruch aus den grundlegenden Mannlichkeitsnormen zu unterstUtzen. Die Vermutung, daiS die Dieci von dem Be muhen urn Forderung der Ehe und Anhebung der Heiratsfre quenz beeinfluiSt worden sein konnten, wird auch durch die Schatzungen uber die hohe Zahl der unverheirateten Manner im heiratsfahigen Alter gestUtzt: Urn 1500 sollen nur 49 % aller 2.274 erwachsenen venezianischen Adeligen in ehelicher Ge meinschaft gelebt, die restlichen 51 % aber auf die Hochzeit verzichtet haben.40 AIle anderen genannten sexuellen Delinquenzweisen bilde ten in den Augen der obersten venezianischen Instanzen offen bar keine so bedeutende Gefahr, daiS sie mit den Mitteln der in quisitorischen Geheimjustiz hatten bekiimpft werden mussen. Diejenigen Manner nun, die im Verdacht standen, sich ihren Pflichten als Familien- und Hausvater zu entziehen, schienen keine Gewahr dafUr zu bieten, ihre anderen sozialen Leistun gen und Aufgaben, ihre Funktionen in Staat und Gemeinschaft,
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in Politik, Militar und Okonomie, angemessen erfullen zu wol len bzw. zu konnen. Somit wurde der Kampf gegen die Sodomie, der faktisch mit einem Kampf gegen die Analitat gleichgesetzt wurde, zum ei nen als notwendiges Palliativ gegen gottgesandte Naturkata strophen, zum anderen als Garant der demographischen Ent wicklung, zum dritten aber auch als Voraussetzung fur die Sta bilitat der sozialen Strukturen von Staat, Gesellschaft, Handel und Gewerbe betrachtet. Gerade diese letzten Stichpunkte konnten eine Erklarung da fur bieten, daB die Verfolgung der Sodomiter - die sich in punk tueller Form auch schon in fruheren Jahrhunderten nachweisen laBt - gerade im 15. Jahrhundert systematisiert, institutionali siert und extensiviert wurde. Sicherlich stehen nicht die allge meinen Vorurteile gegen Homosexuelle, wohl aber die zeitliche Dauer und die lntensitat dieser Verfolgung in engem Kausal zusammenhang mit den sozialen, wirtschaftlichen und politi schen Destabilisierungs- und Korrosionsprozessen dieser De zennien. Wenngleich die gesamte Geschichte Venedigs von einer un unterbrochenen Abfolge von Sozialkonflikten und Kriegen ge pragt ist, zeichnen sich in dieser Zeit die Tendenzen zu epocha len Veranderungen, zur Auflosung des politischen GroBreiches sowie zur Umschichtung der internen sozialen und politischen Hierarchien ab.41 In der ersten Halfte dieses Jahrhunderts vollzieht sich der Aufstieg des benachbarten Mailand zu einer bedrohlich kon kurrierenden Signorie. Die Venezianer suchen diese » Tyrannei« in vier aufreibenden, kostspieligen und durchweg erfolglosen Kriegen (1426/28; 1431 / 1433; 1437/1441; 1448/ 1454) niederzu ringen. Durch die Eroberung Konstantinopels verliert die Sere nissima im Jahre 1453 ihren zentralen Stiitzpunkt im ostlichen Mittelmeer. Schlag auf Schlag folgen die Einnahme von Negro ponte und Euboa durch die Osmanen (1470), die Niederlage von Lepanto (1499), die Besetzung Kretas sowie der Fall von Koron und Modon, der » Augen Venedigs« (1500). 1m lnneren werden die Fuhrungsschichten Venedigs von schwerwiegen den Spannungen belastet. Nach jahrzehntelangen Auseinan dersetzungen wird 1422 die endgiiltige » Serrata« proklamiert, der ZusammenschluB der engeren Fuhrungsgruppen, deren Familien sich in das » Goldene Buch« inskribieren lassen. Diese
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Zentralisierungs- und Hierarchisierungsbestrebungen werden ein Jahr spater, 1423, durch die Aufhebung der allgemeinen Volksversammlung (»concio« , »arenga« ), des letzten Restes der demokratischen Strukturen, verstarkt. Unaufhorlich versuchen jedoch die >meuen Geschlechter« , die alten Familien aus ihrer Monopolstellung zu verdrangen. 1m Jahre 1457 gelingt es den Dieci angesichts der ungeheuren Staatsverschuldung, den Ex ponenten der alten Familien, den Dogen Francesco Foscari, ab zusetzen und damit den Durchbruch fUr die aufstrebenden Krafte zu schaffen. An die Stelle der alten Geschlechter tritt nun eine in sich zersplitterte Schicht von etwa 200 neuen Familien, die vergeblich versucht, in den militarischen Auseinanderset zungen mit Frankreich, Mailand und dem Kirchenstaat konti nuierliche Erfolge zu erzielen und den Staat vor dem vollkom menen Abstieg in die europaische Randlage zu bewahren. An gesichts dieser - hier nur holzschnittartig skizzierten - auiSeren und inneren Wandlungs- und Zersetzungsphanomene nahmen die Dieci, die sich als die einzigen zuverlassigen inneren Garan ten fUr Recht und Ordnung betrachteten, Zuflucht zu einer Po litik der Verfolgung » innerer Feinde« . Das » sodomitische De likt« erschien ihnen offenbar vor allem deshalb als besonders bedrohlich, weil es prinzipiell mannliche Personen jeden Alters und Standes betreffen konnte: Knaben und Heranwachsende, Unverheiratete und Ehemanner. Durch den selbstreferentiellen Charakter der Inquisition erhielt das »Vitium sodomiticum« iiberdies eine Dynamik und Dimension, die auf unaufhorliche Ausweitung der Verdachtigten abzielte. Somit wurden nun mehr auch die unmiindigen Knaben als Sexualtater »entdeckt« , die in Gefahr zu stehen schienen, den AnschluiS an ihre soziale Zweckbestimmung zu verlieren. SchlieiSlich wurde den Zehn herren bewuiSt, daiS das »sodomitische Ub el« sogar ins gehei ligte Ehebett eingedrungen war und in verschiedenen Bordel len geradezu schulmaiSig verbreitet wurde. So ist es wohl kaum ein Zufall, daiS die ersten groiSen » Schauprozesse« gegen die Inhaberinnen der » Sodomiterschulen« gerade in jene Jahre fal len, in denen sich Venedig erbitterte Kampfe mit Frankreich und dessen Verbiindeten lieferte. In einem effizienten ProzeiS der sexualpolitischen Diszipli nierung sollte demnach die gesamte Bevolkerung Venedigs auf ein norm- und wertetreues Geschlechtsleben verpflichtet wer den. Diese Politik schien aber notwendigerweise mit einem ri-
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gorosen Kampf gegen das » vitium sodomiticum« verbunden, das nicht nur als lebendiger Widerstand gegen das biblische Wachstums- und Vermehrungsgebot, nicht nur als Provokation Gottes, sondern auch als grundlegende Abkehr von den herr schenden Mannlichkeits- und Sozialstrukturen empfunden und dementsprechend ebenso intensiv verfolgt wurde wie Hochverrat und Mtinzfalschung.
Anmerkungen 1 Hergembller, Bernd-Ulrich: Artikel: Sexualitiit. Allgemein und West licher Bereich, in: Lexikon des Mittelalters VII, Mu.nchen 1996a, 1812 f. 2 Den ProzeiS der moraltheologischen Eskalation zeichnet nach: Her gembller, Bernd-Ulrich: KrbtenkuiS und schwarzer Kater. Ketzerei, Giitzen dienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts, Warendorf 1996b. 3 Hergembller, Bernd-Ulrich: Sodomiter - Erscheinungsformen und Kausalfaktoren des spiitrnittelalterlichen Kampfes gegen Homosexuelle, in: Ders. (Hg.): Randgruppen der spiitmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand und Studienbuch, 2. Aufl., Warendorf 1994, 361--403, hier 365 f. 4 Zur Begriffsgeschichte: Hergembller, Bernd-Ulrich: Grundfragen zum Verstiindnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens im spiiten Mittelalter, in: Lautmann, Rudiger/Taeger, Angela (Hg.): Miinnerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, Berlin 1992, 9-39. 5 Rocke, Michael J.: Male homosexuality and its regulation in late-me dieval Florence, phil. Diss., 2 Bde., Ann Arbor 1990 (Microfilm). 6 Boone, Marc: 'Ie tres fort, vilain et detestable criesme et pechie de zodomie: Homosexualite et repression a Bruges pendant la periode bour guignonne (fin 14e - debut 16e siecle), in: Beleid end Bestuur in den oude Nederlanden. Liber amicorum M[ichelJ Baelde, hg. v. Hugo Solny und Rene Vermeir, Gent 1993, 1-18. 7 Zur Forschungs- und Begriffsentwicklung: Lautrnann, Rudiger: Ho mosexualitiit. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frank furt/M. 1993. 8 Hirschfeld, Magnus/Spinner, Jakob Richard: Geschlecht und Verbre chen, Leipzig 1 930, Nachdr. Rotterdam o. J. (1986), 62-75 [zahlr., fehlerhafte RegestenJ. Zum rechtshistorischen Neuansatz vgl.: LaBalrne, Patricia H.: Sodomy and Venetian Justice in the Renaissance, in: TIjdschrift voor Rechts geschiedenis LII (1984), 217-254. 9 In diesem Zusarnrnenhang muiSten systernatisch folgende Bestiinde des Archivio di Stato in Venedig durchgesehen werden: Signori di Notte al Criminal ed al Civil; Capi di Sestieri; Quarantia; Cinque aile Pace; Provve ditori alia Sanitii; Esecutori contro al Besternrnia; Provveditori aile Pompe; Provveditori sopra i Monasteri. 1m Druck liegen vor: Le Deliberazioni del
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Consiglio dei XL della Repubblica di Venezia, hg. v. Antonio Lombardo, Venedig-Padua 1957. 10 Ruggiero, Guido: The Ten. Control of Violence and Social Discorder in Trecento Venice, phil. Diss. Universiry of California, Los Angeles 1973; Fulin, Rinaldo: Gl' Inquisitori dei Dieci, in: Archivio Veneto III (1871), 1-64; Ders.: Gl' Inquisitori dei Dieci, in: Archivio Veneto 11/2 (1872), 357-39l. 11 Chojnacki, Stanley: Crime, Punishment and the Trecento Venetian State, in: Martines, Laura (Hg.): Violence and civil disorder in Italian cities 1200-1500, Berkeley 1972, 184-228; Ruggiero, Guido: Sexual criminality in early Renaissance Venice, 1338-1358, in: Journal of Social History 8 (1975), 18-37. 12 Venezia, Archivio di Stato: Consiglio dei Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 1-28 [Reg. 1-6 fragmentarisch; Reg. 7 verlustig; Reg. 8-28 vollstandig] - uberwiegend ungedruckt. Teildrucke und Exzerpte: Leggi e Memorie Ve nete sulla prostituzione, fina alia caduta della Repubblica, hg. v. Conte di Orford, Venedig 1870/72; Einzeleditionen in der Zeitschrift » Archivio Ve neto« verzeichnet: Indice generale dell' » Archivio Veneto« 1871-1930; Bd. II: Testi, Documenti, Iscrizioni, hg. v. Roberto Cessi, Venedig 1940. 13 Ruggiero, Guido: The Boundaries of Eros. Sex Crime and Sexuality in Renaissance Venice, New York 1985, 212; Canosa, Romano: Storia d.i una grande paura. La sodomia a Firenze e a Venezia nel Quattrocento, Mailand 1991, 91. 14 Schatzungen nach archivalischer Erhebung durch den Verfasser; vgl. Hergemoller, Bernd-Ulrich: Das » Collegium contra sodomitas« im spatrnit telalterlichen Venedig, in: Zwei Vortrage der Vorlesungsreihe » (Mannliche) Homosexualitat in Kultur und Wissenschaft« , hg. v. ASTA-Schwulenreferat der Universitat Hamburg, Hamburg 1992, 19-34, hier 23. 15 Aus diesem Quellenbestand zahlreiche Belege in: Pavan, Elisabeth: Police des moeurs, Societe et politique 11. Venise 11. la fin du Moyen Age, in: Revue Historique 164 (1980), 241-298. 16 Corpus Iuris Civilis, Bd. III: Novellae, hg. v. Scholl, Rudolf/Kroll, Wilhelm, 6. Aufl., Berlin 1954, Nov. LXXVII, Nov. CXLI. 17 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 16, fol. 165r., Obersetzung durch Verf. 18 Die Akten vermelden zahlreiche » fremde« Sodomiter, vor allem Griechen, Turken, » Mohren« und » Sarazenen« aus den Kolonien. Bereits Hirschfeld (1930), 62, war der Ansicht, daB sich der Umgang mit » Griechen, Juden und Tiirken« auf das Sexualleben ausgewirkt habe. Pavan (1980), 284 f., stellt einen Kausalnexus zwischen den Immigranten und der Padera stie in Venedig her. Dagegen laBt sich insgesamt feststellen, daB der Anteil der » Fremden« in den Dieci-Registern im Vergleich zu den einheimischen Adeligen, Handwerkern und Klerikern sehr gering war. 19 Zum strafrechtlichen Unterschied von Denunciatio und Accusatio: Hergemoller, Bernd-Ulrich: » Accusatio« und » Denunciatio« im Rahmen der spatrnittelalterlichen Homosexuellenverfolgung in Venedig und Flo renz, in: Rockelein, Hedwig/Jerouschek, Gunter (Hg.): Denunziation, Tu bingen 1997, 64-79. 20 Venezia, Archivio di Stato: Signori di Notte al Criminal, Processi, Reg. 6.
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21 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 10, 13. Sept. 1424: non Etatis legittime, tempore quo sibi opponitur quia fuerit patiens in peccato subdomitij. 22 Venezia, Archivio di Stato: Signori di Notte al Criminal, Processi, Reg. 8, fol. 81 f., vollstandiger Druck: Hergemiiller, Bernd-Ulrich Quellen hang, in: Ders. (1994), 393-397. 23 Zur Ehetheologie Augustins, Gratians und der Kirchenrechtler des 13. Jahrhunderts: Hergemiiller (1996b), bes. 229-239 (Raimund von Penna forte), 261-264 (Albert d. Gr.), 293-300 (Berengar Fredoli). 24 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 18, fol. 133r/v: inculpatus de agitatione membri virilis vicissim facta cum Marino Aurifico Sodomita combusto [ . . . ] sine tamen pollutione. 25 Vgl. den Fall des Benedictus Capello: Venezia, Archivio di Stato: Si gnori di Notte al Criminal, Processi, Reg. 8, fol. 81 f. 26 Vgl. Hergemiiller (1994), 380 f., umschreibt mit diesem Begriff die detailfreudige » Friihform des sexualstrafrechtlichen Binnendiskurses« . Vgl. dessen Einwande gegen Foucault: Ders. : Sodomiterverfolgung im christlichen Mittelalter. Diskussionsstand und Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift fiir Sexualforschung 2 (1989), 317-336. 27 Venezia, Archivio di Stato: Signori di Notte al Criminal, Processi, Reg. 6, fol. 64r. Vgl. Ruggiero (1975), 23; Ders. (1985), 36; Hergemiiller (1994), 44 f., 378. 28 Venezia, Archivio di Stato: Signori di Notte al Criminal, Processi, Reg. 8, fol. 58 r/v. 29 Ebd., Reg. 7, fol. 21v-23v. 30 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 10, fol. 74r., Dbertragung durch Verf. 31 Ebd., Reg. 16, fol. 103v: et stet in Venetiis pro monstro. 32 Ebd., Reg. 16, fol. 151 r. 33 Vgl. LaBalme (1984), 247 f. Sie entwickelt die These einer umgekehrt proportionalen Relation zwischen Sodomiterverfolgung und Bordellord nungen: Die Freiheiten der Prostituierten seien in dem Grade erweitert worden, in dem sich die Sodomiter-Inquisition verscharft habe. Diese These steht allerdings in Widerspruch zu den zahlreichen Ma!5nahmen gegen klandestine Prostitution (Pavan [1980], 250-255) und gegen die Praxis des Analverkehrs zwischen Prostituierten und Kunden. 34 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 17, fol. 81v; vgl. ebd., Reg. 14, fol. 169r (nicht mehrheitsfahiger Vorschlag yom 8. August 1453); ebd., Reg. 16, fol. 64r (nicht mehrheitsfahiger Vorschlag yom 16. Mai 1461). 35 Ebd., Reg. 20, fol. 117v: 7. Sept. 1481. 36 Hierfiir sprechen auch die verschiedenen Verbote, mannliche Klei dung anzulegen: Hergemiiller (1994), 379. 37 Venezia, Archivio di Stato: Dieci, Deliberazioni Miste, Reg. 28, foL 138v I 139r. 38 Hergemiiller (1996b), 217-225. 39 Diesen Unterschied betont Canosa (1991), 176. 40 Ebd. Demnach stieg die Zahl der ziilibataren Adeligen im 18. Jahr hundert sogar auf 66 % an.
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41 Vgl. zum Folgenden: Cessi, Roberto: Storia della repubblica di Vene zia, 2 Bde., Mailand 1946; Beltrami, Daniele: Storia della Popolazione di Venezia dalla fine del secolo XVI alia caduta della Repubblica, Padua 1954; Davis, James Cushman: The decline of the Venetian Nobility as a ruling class, Baltimore 1962; Cracco, Giorgio: Societa e Stato nel Medioevo Vene ziano (sec. XII-XIV), Florenz 1967; Rosch, Gerhard: Der venezianische Adel bis zur SchlieBung des GroBen Rats. Zur Genese einer Fiihrungsschicht, Sigmaringen 1989; Rosch, Eva Sibylle/Rosch, Gerhard: Venedig im Spiit mittelalter, Freiburg 1991; Cozzi, Gaetano (Hg.): Stato, Societa e Giustizia nella Repubblica Veneta (sec. XI-XVIII), 2 Bde., Rom 1980/1985.
Patrick Barbier
Uber die Miinnlichkeit der Kastraten
Obgleich die Praxis der Kastration uralt ist und bei allen Kul turen seit der Antike bekannt war, wird die Geschichte der Ka straten eher mit Beginn und Verbreitung der Barockmusik im Laufe des 17. bzw. 18. Jahrhunderts verbunden. Dieses in der Atmosphare der katholischen Gegenreformation (Ende des 16. Jahrhunderts) entstandene, in der Musikgeschichte einma lige Phanomen, erlebte zu einer Zeit, da die romisch-katholi sche Kirche mit allen kiinstlerischen wie musikalischen Mitteln versuchte, die Glaubigen anzulocken und an sich zu binden, dank des triumphalen Erfolgs der italienischen Oper in ganz Europa einen unvergleichlichen Aufstieg. Drei Jahrhunderte lang (die Kastration blieb weit iiber die Barockzeit hinaus gan gige Praxis) wurden Tausende von Jungen mit dem Ziel ope riert, ihre Knabenstimme zu erhalten: Das war eines der ein schneidendsten musiksoziologischen Phanomene der Neuzeit. Das Schicksal der Kastraten verweist auf weit mehr als den rein musikalischen Rahmen. Es zeigt uns das Bild jener Manner, die durch das ganze barocke Europa reisten und einige Verhaltens weisen unserer Gegenwart vorwegnahmen. Die Entstehung dieses besonderen mannlichen Rollenbilds ist Gegenstand die ses Artikels.
1 . Die Kastration und ihre Folgen Die Kastrationsart, Manner zu Eunuchen (Gefangene, Sklaven, Haremswachter u. a.) zu machen, unterschied sich grundsatz lich von der Methode, die bei den Sangerkastraten zur Anwen dung kam (Friihkastration). 1m ersten FaIle wurden aIle aufSe ren Geschlechtsorgane des Mannes, unabhangig vom Alter, ent fernt, selbst wenn die ersten Anzeichen der Pubertat bereits
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aufgetreten waren. In dieser Form wird die Kastration auch heute noch z. B. in Nordindien, bei den Anhangern der Gottin Bahucharaji, durchgefiihrt. Dort gilt sie als mythisches Symbol der Selbstverstummelung. Nur erwahnt werden kann hier, daB die Kastration im Mittelalter ein Mittel der gerichtlichen Bestra fung bei Verbrechen oder Vergewaltigung war. 1m 17. und 18. Jahrhundert bestand der medizinische Ein griff, der an jungen, zu Sangern ausersehenen Knaben vor genommen wurde, aus einem Einschnitt in die Leiste; durch diesen wurden die Hoden entfernt. Die Samenleiter wurden so dann mit einem Messer durchtrennt und anschlieBend abge bunden. Wurden die Hoden nicht entfernt, lieB man sie an Ort und Stelle verkummern. Auf jeden Fall war durch ihr Fehlen die Bildung von Testosteron nicht mehr moglich und der Knabe verlor seine mannlichen Geschlechtsmerkmale. Diese sehr rasch durchgefuhrte Operation, die im besten Fall durch quali fizierte Chirurgen (die Chirurgen aus Bologna waren bekannt dafur), im schlimmsten Fall durch Dorfbarbiere vorgenommen wurde, fand ohne jede Betaubung statt. Das Eintauchen in ein Milchbad oder in Eiswasser waren, in Kombination mit der Kompression der Halsschlagadern, die einzigen Mittel, urn die Knaben gegen den Schmerz unempfindlich zu machen. Die eventuelle Einnahme von Opium war der Genesungszeit (etwa zwei Wochen) vorbehalten, in der die Gefahr von Infektionen und Blutungen groB war. Wahrend die Anhanger der oben ge nann ten indischen Sekte intensiv psychologisch vorbereitet werden und die Kastration beinahe im Zustand der Trance er leben, handelte es sich im 1 7. und 18. Jahrhundert urn eine Ini tiation ohne vorbereitenden Ritus, der meist von den Eltern be schlossen wurde und bisweilen schwerste, leidvolle Konse quenzen fur das kunftige Leben mancher Knaben hatte. Bemerkenswert jedoch ist, daB einige Jungen die Kastration ge gen den Wunsch ihrer Eltern, in der Hoffnung forderten, eine Art lebende Legende zu werden. Die Kastration wurde von ei nem auferlegten Zwang zu einer in diesen Fallen freiwilligen Handlung, fUr deren Realisierung der Junge bisweilen seinen ganzen Willen und sein gesamtes Engagement aufbieten muB te: Antoine Bagniera, der am franzosischen Hof sang, wollte seine wundervolle Knabenstimme erhalten, lieB sich daher heimlich von seinem Cousin, einem Chirurgen, operieren und zog sich so den Zorn Ludwigs XlV. zu. Ebenso forderte Luigi
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Marchesi, der von seinem Musiklehrer dazu gedrangt wurde, so hartnackig die Kastration von seinen Eltern, bis sie ihm schliefSlich nachgaben. Man hat nie aufgehort, sich Gedanken uber die Beweggrun de zu machen, die Eltern dazu bringen konnten, eine solche Operation fUr einen oder mehrere ihrer Sohne zu wunschen. Philosophen und andere )}aufgeklarte« Personlichkeiten haben ihre Stimme gegen diese barbarische und unmenschliche Prak tik erhoben. 1m 19. und 20. Jahrhundert wurde diese massive Kritik naturlich wieder aufgenommen und die Familien des 17. und 18. Jahrhunderts als unwurdig, feige und grausam betrach tet, weil sie ihrem Nachwuchs ein solches Schicksal zumuteten. Die Verurteilung einer Praktik bzw. einer ganzen damit zu sammenhangenden Kultur ist immer fragwurdig, denn sie er folgt aus dem groBen zeitlichen Abstand, den die Nachgebore nen haben; die Mentalitaten und Lebensgewohnheiten haben sich sehr rasch gewandelt. 1m 17. und am Anfang des 18. Jahr hunderts stammten die Kastraten aus sehr armen, meist bauer lichen Haushalten. Diese Familien waren sehr kinderreich und viele Kinder starben vor Erreichen des Erwachsenenalters. Ohne die Unterstutzung der Kirche und der ihr nahestehenden Gesangsschulen wurde den Kindern keinerlei Ausbildungs moglichkeit geboten. Fur viele Eltern bedeutete die Kastration ihres Sohnes die Entscheidung fUr eine Karriere als Sanger, die durchaus mit der Berufung zum Priester oder dem Eintritt in einen Monchsorden vergleichbar war. Die musikalische Ausbil dung gewahrleistete ebenso wie die theologische fur den SproB mehrere Ausbildungsjahre, deren Kosten von kirchlichen Ein richtungen ubernommen wurden. Diese Zeit bot die Chance eines unvergleichlichen beruflichen und sozialen Erfolgs inner halb eines Rahmens, den die Eltern sonst nicht hatten ermogli chen konnen. Fur sie wie fUr einige Kinder selbst, die entschie dener als andere waren, bedeutete, Kastrat zu werden, sich zum Herrn und Meister des eigenen Schicksals aufzuschwingen: Die gelungene Flucht vor dem Elend und dem Tod war nur um den Preis entsprechender Opfer zu haben! Dies verleitete den fran zosischen Reisenden La Lande (bezuglich der Tradition der Ka stration) zu folgender AuBerung: » Man schenkt dem keinerlei Beachtung in einem Land, in dem die Bevolkerung riesig im Verhaltnis zur vorhandenen Arbeit iSt.«l Aus dies em Grund verschloB auch das Konigreich Neapel die Augen vor Kastra-
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tionsfallen, die in Familien mit mindestens vier Sohnen auftra ten. Vergessen wir auch nicht, daiS sich in einem sehr religiosen Jahrhundert wie dem 17. die Karriere des Kastraten in erster Li nie an der katholischen Kirche ausrichtete und mit der Hoffnung verbunden war, zu hochsten Ehren zu gelangen (in der Papstli chen Kapelle, in San Gennaro in Neapel, San Petronio in Bologna oder San Marco in Venedig). Die Brutalitat der Entscheidung fur die Kastration konnte also fill zogemde Eltem durch diesen Ge danken der »Mission« im Dienste Gottes und der liturgischen Musik ertraglicher gemacht werden. Die Anzahl der Operatio nen an jungen Knaben begann in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu sinken. Damals verlor der gegenreformatorische Katholizis mus leicht an Schwung, und die Zahl der Berufungen, insbeson dere in die Orden, gingen betrachtlich zuruck. Bemerkenswert ist schlieiSlich, daiS die Sexualitat im 17. und 18. Jahrhundert nicht so uberbewertet wurde, wie dies am Aus gang des 20. Jahrhunderts vielleicht der Fall ist. Die Verhaltens weisen bezuglich der Sexualitat unterscheiden sich daher grundlegend von den heutigen. Auf den groiSen Adelsgutem dachte die Dienerschaft nicht einmal im Traum ans Heiraten, denn mit einem Ehepartner und Kindem hatte sie nicht bei ih ren Herrschaften bleiben konnen. Daruber hinaus brachte der Eintritt eines Kindes in die geistliche Laufbahn zahlreiche wirt schaftliche Vorteile mit sich: Die Zahl der Kinder, die in Zeiten wirtschaftlicher Rezession versorgt werden muiSten, verringer te sich. Das ermoglichte die Erhaltung eines ungeteilten land wirtschaftlichen Erbes. Sagte nicht ein deutscher Autor am En de des 18. Jahrhunderts, daiS Monche »sozusagen nicht-operier te Kastraten« seien?2 In einigen Fallen vereinigten sich diese beiden Typen von Zolibataren, also die Kirchenmanner bzw. die Kastraten, in einer einzigen Person: Es kam nicht selten vor, daiS Kastraten, die keine Karriere als Sanger machen konnten, Prie ster oder Monch wurden. Es ist bemerkenswert, daiS sich der Ledigenstand in den mei sten europaischen Landem von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts betrachtlich ausbreitete. Dies durfte auf das steigende Alter bei der ersten EheschlieiSung und die Ent wicklung der auiSerehelichen Sexualitat in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts zuruckzuftihren sein. Die Anzahl der un verheirateten Manner stieg in Frankreich, das hier als Beispiel
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ausreichen mag, von 3,5 % in der Generation von 1 660-1 664 auf 8,9 % in der Generation von 1 720-1 724 und stabilisierte sich bei etwa 8,5 % bei den Generationen nach 1 765 .3 Also scheinen un verheiratete Manner, insbesondere wenn sie sich der Kirche bzw. dem Gesang verschrieben hatten, in diesen Zeiten starker Zunahme des Glaubens und der Religionsausiibung, recht hau fig gewesen zu sein. Dieser Ledigenstatus wurde weder verur teilt noch stellte er ein unzeitgemaBes oder iiberholtes Verhalten dar, so daB sich zahlreiche Bevolkerungsgruppen aus unter schiedlichen Griinden z. B. wirtschaftlicher, religioser, kiinstle rischer, sozialer u. a. Natur damit abfanden.4 Der zum Zolibat bestimmte Kastrat, der keine Kinder zeugen konnte, war in die sem sozialen Kontext somit nicht unbedingt eine Randerschei nung. Kommen wir jedoch auf den chirurgischen Eingriff, den wir oben beschrieben haben, zuriick. Er wurde nur an Knaben im Alter von mindestens sieben Jahren und stets vor dem Auftre ten der ersten Pubertatsanzeichen vorgenommen (Friihkastra tion). Zweierlei Arten von Folgen ergaben sich aus dieser Ope ration. 1 . 1 . Die korperlichen Folgen Die Kastration hatte zunachst die Verhinderung der Pubertat und somit der normalen Entwicklung zum jungen Mann zur Folge. Man stellte bei den Kastraten das fast vollige Fehlen von Behaarung, natiirlich mit Ausnahme des Haupthaars, fest, au Berdem das Fehlen des Adamsapfels und eine Tendenz zur Auspragung weiblicher Korpermerkmale, so z. B. Rundungen an den Hiiften und an der Brust wie bei Frauen. Es muB von vornherein darauf hingewiesen werden, daB diese »Verweibli chung« der korperlichen Erscheinung nicht allgemein auftrat: Sie variierte von Kastrat zu Kastrat, so daB manche eine auBerst ausgepragte Tendenz zu breiten Hiiften entwickelten, wahrend der Korper anderer Kastraten dem der meisten Manner ahnlich sah. Die mogliche Rundlichkeit wurde von denjenigen, die sich iiber die Kastraten lustig machten, in ihren Schriften oder Ka rikaturen iibersteigert dargestellt. Eine andere Besonderheit im Zusammenhang mit der Ka stration war der anomale WachstumsprozeB des Kastraten.
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Dies geht auf den spii.teren Zeitpunkt zuruck, in dem die Epi physenfuge, die fur das Uingenwachstum der Knochen verant wortlich ist, verknochern konnte. So wuchsen viele - wenn auch nicht aIle - Sanger noch nach der eigentlichen Wachstums phase weiter und wurden oft uber 1,80 m oder gar 1,90 m groB, was in dieser Epoche eine immense KorpergroBe war. Die mei sten zeitgenossischen Stiche und Karikaturen, die vielleicht ein wenig zur Dbertreibung neigten, zeigen uns die eklatanten Gro Benunterschiede zwischen den Kastraten und anderen, neben ihnen stehenden Personen. Eine im Konservatorium von Bolo gna aufbewahrte Zeichnung zeigt zum Beispiel Farinelli, wah rend er von Konig Ferdinand IV. von Spanien den Calatrava Orden verliehen bekam. Der Sanger war einen Kopf groBer als der Monarch. SchlieBlich wurde haufig gesagt, daB eine Kastration die Le bensdauer verlangern wurde. Dies wurde im 19. Jahrhundert oft aufgrund des hohen Alters, das die meisten Kastraten des 1 7. und 18. Jahrhunderts erreichten, angenommen. Waren die guten Lebens- und Hygienebedingungen der Kastraten, die einfach auf das von den groBten Sangern angesammelte Ver mogen zuruckzufuhren sind, die Ursache dieses Mythos? Oder gab es eine Verwechslung zwischen ihrer Lebensdauer und der Dauerhaftigkeit ihrer Stimmen, die wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlieiSen? Jedenfalls konnte niemals bewiesen werden, daiS die Kastration tatsachlich irgendeinen EinfluB auf die Verlangerung des Lebens gehabt hatte. 1.2. Die Folgen fur die Stimme Das Hauptziel der Kastration war die Erhaltung der Knaben stimme, denn bei dem kastrierten Knaben setzte die Pubertat nicht ein, er kam auch nicht in den Stimmbruch und behielt daher seine helle Stimme. Diese reifte allmahlich heran, ent wickelte sich und wurde durch die Muskulatur und Lungen kraft des Erwachsenen verstarkt. Aufgrund der Operation kam es nicht mehr zur Senkung des Kehlkopfes: Dieser blieb stets bei den Stimmbandern und die Brustresonanz eines Erwachse nen fur diese kindlichen Stimmbander sicherte dem Sanger ei nen auBerordentlichen Stimmglanz. In allen Kommentaren von Zeitgenossen werden am haufigsten die Worte » Klarheit« ,
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»Strahlen«, »Glanz« verwendet. Oftmals taucht der Ausdruck »durchdringende Stimme« auf. Dies zeigt, daB die Stimme des Kastraten physisch auf den Zuhorer wirkte und so in ihn ein drang, daB sie ihn gewissermaBen aus dem Gleichgewicht brachte und in eine Art Taumel der Sinne versetzte. Zu diesen Merkmalen kamen die Muskulatur und die Elastizitat des Kehl kopfes hinzu, die eine auBerordentliche Beweglichkeit forder ten. So war es moglich, der Vorliebe der damaligen Zeit fur die VirtuosiUit und die »stimmliche Artistik« der Barockmusik zu entsprechen. Wie bei den Frauen gab es auch bei den Kastraten zwei Stimmlagen: Sopran oder Alt. Farinelli beispielsweise war So pranist, Senesino hingegen Altist. Es kam bei einigen Kastraten jedoch auch vor, daB sich ihre Stimme im Laufe der Jahre ver anderte, so daB sie anfanglich Sopran sangen, mit zunehmen dem Alter jedoch zum Alt uberwechselten. In jedem Fall war das Publikum neben Kraft und Reinheit ihrer Stimmen von de ren Umfang beeindruckt sowie von ihrer Fahigkeit, von Tiefen zu Hohen zu modulieren, ohne daB man »Ubergange« von den tiefen zu den mittleren bzw. von den mittleren zu den hohen Tonlagen bemerkt hatte. Einige exzeptionelle Sanger, wie zum Beispiel Farinelli, konnten uber drei Oktaven mit gleichbleiben der Leichtigkeit, Fulle und Samtigkeit von tiefen zu hohen To nen wechseln. Der letzte wichtige Punkt, der die Faszination, die diese San ger auf das Publikum ausubten, erklaren kann, ist die erstaun liche Langlebigkeit ihrer Stimme. Viele Kastraten traten noch in hohem Alter auf, ihre Stimme schien jedoch in keiner Weise be eintrachtigt zu sein. HieB es nicht, daf,S die Leute, die Matteuccio im Alter von 80 Jahren in den Kirchen Neapels singen horten, ihn aber nicht sahen, dachten, er ware ein junger Mann?5 Diese Fahigkeit, die Reinheit der Knabenstimme so lange bewahren zu konnen, trug vom 17. Jahrhundert an zum geradezu mythi schen Ruf der Kastraten bei: Hatte man hier doch einen Mann vor Augen, der einige weibliche Merkmale aufwies, jedoch gleichzeitig lebenslang einen Teil der Kindheit in sich bewahrte. Diese Dreiheit Mann/Frau/Kind trug dazu bei, daB ein Mensch verehrt wurde, der sich jenseits des ublichen menschlichen Schicksals zu bewegen schien.
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Der Kastrat: Welcher Teil der Miinnlichkeit?
Die Frage, die die Historiker nicht losgelassen hat, liegt im We sen des Kastraten selbst begrundet: Handelte es sich urn einen Mann, der lediglich zeugungsunfi:i.hig war, oder aber urn einen Menschen, der so stark verwandelt und seiner eigentlichen Na tur entfremdet war, daB man ihn eher mit Frauen gleichsetzen oder noch genauer als das sogenannte »dritte Geschlecht« be zeichnen konnte, von dem Gioacchino Rossini (1 792-1868) sprach, als er »zwolf Sanger der drei Geschlechter: Manner, Frauen und Kastraten« in seiner Widmung zur »Petite Messe Solennelle« (1864) forderte. Fur eine Antwort ist die Stellung zu berucksichtigen, die der Kastrat in der Welt des Barock als San ger und Interpret innehatte, aber auch seine Rolle als Mann, der zu zartlichen, ja sogar zu Liebesbeziehungen mit der ihn um gebenden Gesellschaft in der Lage war.
2.1. Der Kastrat in der Kirche Ais der Vatikan im Jahre 1599 offiziell anerkannte, daB er Ka straten, die in den Registern unter der Bezeichnung » Eu nuchus« gefuhrt wurden, einsetzte, urn Knaben und Falsetti sten zu ersetzen, gab er, ohne es offen auszusprechen, zu, daB er in ihnen die idealen Interpreten gefunden hatte, urn das Feh len von Frauenstimmen in der geistlichen Musik auszuglei chen. Die Frauen, denen seit dem klassischen Dictum des Apo stels Paulus »Mulier absit a choro« (»Die Frau ist vom Chor raum auszuschlieBen« ) der Eintritt in den Chorraum untersagt war, hatten vor ihren zaghaften Versuchen im 18. Jahrhundert niemals die Moglichkeit, in der Kirche zu singen. So ersetzte der Kastrat auBerst vorteilhaft die Stimmlagen der beiden Gruppen, an deren Stelle er trat: zum einen die Knabenstimme, die in technischer Hinsicht zu begrenzt, weniger kriiftig und dem Stimmbruch unterworfen war, und zum anderen die Stim me des Falsettisten (Altstimme, Kontertenor), die bezuglich ih rer Kraft und ihres Umfangs ebenfalls zu begrenzt war. Hinzu kommt, daB Kastraten, am Ende des 16. Jahrhunderts, in der Blutezeit der musikalischen Revolution, auftraten, als die viel stimmige, per definitionem kollektive Musik von der Monodie,
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also dem Sologesang, verdrangt wurde. Der Kastrat bot mit sei ner virtuosen Stimme, die ebenso umfangreich und kraftvoll wie die der Frauen bzw. ebenso rein und kristallklar wie die der Knaben war, alle Vorteile der Frauenstimme, aufSerdem kindli che Anmut und androgyne Sinnlichkeit im Korper eines Man nes. Die Kirche beeilte sich daher, den Einsatz solcher Sanger zu rechtfertigen, indem sie den unvergleichlichen Glanz, den sie dem Lob Gottes verliehen, ins Feld fiihrte: » Die Stimme«, schrieb der Theologe Robert Sayer zu Beginn des 1 7. Jahrhun derts, » ist ein wertvolleres Gut als die Mannlichkeit, denn durch die Stimme und durch die Vernunft unterscheidet sich der Mensch yom Tier. Wenn es also zur Verbesserung der Stim me notwendig ist, die Mannlichkeit aufzugeben, kann man dies, ohne gottlos zu sein, tun. Nun sind aber die Sopranstim men dermafSen notig, urn das Lob Gottes zu singen, dafS man den Preis fur sie gar nicht hoch genug ansetzen kann.,,6 Des gleichen bemerkte 1642 der Theatinermonch Zaccaria Pasqua ligo, dafS seiner Ansicht nach die Kehle eines Knaben mehr wert sei als seine Hoden. Mit zahlreichen Argumenten versuchte man, Entschuldigungen fur die Kirche, den ersten und wichtig sten Arbeitgeber der Kastraten uber drei Jahrhunderte, zu fin den. Lediglich einige Kasuisten wehrten sich gegen diese Prak tik im Namen einer Tradition, die auf die ersten Jahrhunderte des Christentums zuruckging: Die Kirche hatte stets Personen wie Origenes oder Leonce von Antiochia verurteilt, die sich im Namen des Glaubens selbst verstiimmelten. Erst Papst Bene dikt XIV (1740-1758) wies darauf hin, dafS die Amputation ei nes jeglichen Korperteils nicht rechtmafSig sei, ausgenommen, der gesamte Korper konne auf keine andere Art vor der Zersto rung geschutzt werden. Und selbst diese Warnung wurde nie mals von einer MafSnahme begleitet, die die Kastration definitiv verboten hatte! Innerhalb der katholischen Kirche bestanden niemals ir gendwelche Zweifel an der Mannlichkeit des Kastraten. Da Frauenstimmen ausgeschlossen waren, war es den Kastraten gerade in ihrer Eigenschaft als Manner gestattet, bei den Kan toreien der Kathedralen und sogar in der Sixtinischen Kapelle als dem hochstrangigen Raum fur den Kultus mitzusingen. Auch waren die ersten Kastraten im 17. Jahrhundert oftmals Geistliche, was jeglichen Zweifel uber ihre Qualitat als Mann
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vermied. SchlieBlich verstarkten die italienischen Attribute wie »Virtuoso« oder »Musico« , die ihnen in der Kirche wie auf der Buhne zugeschrieben wurden, diese Vorstellung von Mannlich keit, indem sie ihr einen auBerst lobenden Charakter verliehen. Lediglich zur Bezeichnung ihrer Stimmlage, Sopran oder Alt, verwendete man ein weiblich konnotiertes Vokabular. Die Fo tos, die uns yom Char der Sixtinischen Kapelle am Ende des 19. Jahrhunderts erhalten sind, zeigen einen Mannerchor, bei dem die Kastraten nicht von den Tenoren oder den Bassen zu unterscheiden sind. Selbst die bei vielen Kastraten haufige Nei gung zur Korperfulle unterschied sie nicht von anderen eben falls dazu neigenden Sangern. 2.2. Der Kastrat in der Oper Hier treten aus verschiedenen Grunden die Unterschiede im sozialen Verhalten zutage. Zum einen stimmt es zwar, daB ei nige Kastraten, wenn auch recht selten, Frauenrollen ubernah men, als sie noch sehr jung waren. Diese Sanger, die mit 16 oder 18 Jahren die Konservatarien verlieBen, verfugten uber die ge samte Feinheit, Anmut und strahlende Schonheit ihrer andro gynen Jugend: Ohne Korperbehaarung und Adamsapfel, mit einem feingeschnittenen, glatten Gesicht, das die Frische ihrer Jugend unterstrich, gelang ihnen in Frauenkleidern die voll kommene Tauschung. Das Publikum lieB sich leicht von diesen mit Schleifen geschmuckten und gepuderten jungen Mannern in ihren Bann ziehen, die eine zweideutige, sinnliche Schonheit ausstrahlten, sich auf der Buhne mit weiblicher Eleganz und Anmut bewegten, bevor sie sich am Ende einer Szene endlos in schmachtenden Knicksen ergingen. Es kam sogar vor, daB eini ge Kash:aten, wie zum Beispiel Andrea Marini, ausschlieBlich derartige Frauenrollen sangen, weil ihre Stimme nicht kraftvoll genug war, urn die graBen mannlichen Rollen zu interpretieren, fur die sie ausgebildet worden waren. Einziger Nachteil dabei war die immense KorpergroBe der Kastraten, die eine korper liche Folge der Kastration war: Diese anomale GroBe konnte bisweilen die von den Sangern in ihren Frauenkleidern erzielte Wirkung zunichte machen und die spottischen Bemerkungen ihrer Kritiker auf sich ziehen. Charles de Brosses, Prasident des Parlaments von Dijon, war auBerst erstaunt, als er den Kastra-
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ten Marianini eine Prinzessin verkorpern sah, obwohl dieser tiber 1,80 m groB war und samtliche Mitspieler urn Hauptes Hinge tiberragte! Rom bildet einen zweiten Sonderfall bei cler Besetzung von Frauenrollen mit Sangern. Nach dem Willen verschiedener Papste war Frauen von 1676 bis 1 769 der Zutritt zu allen Btih nen des Kirchenstaates untersagt, damit sie nicht die Tugend der Seminaristen und der Geistlichen, die dort zahlreich vertre ten waren, in Gefahr brachten. So mu15ten aIle Rollen mit hoher Singstimme, gleichgtiltig, ob es sich dabei urn Manner- oder Frauenrollen handelte, von Kastraten interpretiert werden. Das nannte man » far da donna« (» die Frau machen« ), und man fand nichts Au15ergewohnliches dabei, wenn ein Kastrat morgens in der Kirche bei einer religiosen Zeremonie sang und abends in Frauenkleidern auf der Btihne erschien. Einige Reisende berich teten, wie vollkommen die Tauschung war, denn das Haupt hindernis, die Stimme, stand dieser Verwandlung in keiner Weise im Wege: » AIs persische Prinzessin gekleidet, mit Turban und Federbusch, sah er wie eine Konigin oder Kaiserin aus, und man hat vielleicht niemals etwas Schoneres auf der Welt erblickt als ihn in diesen Gewandern.« 7 Viele andere auslandische Be obachter verhehlten jedoch ihre Verwunderung und ihre Ent tauschung nicht: » Wie kann man sich an einem Ballett ergotzen, bei dem die Primaballerina ein Knabe ist?« 8 Bei den Marionet ten grenzte das Ganze schon fast ans Lacherliche. »Ballerinen dtirfen in Rom nicht auf der Btihne auftreten. Statt dessen sind es als Frauen gekleidete Knaben und die Polizei schreibt ihnen vor, kleine schwarze Hosen zu tragen. Dies galt auch ftir die Marionetten-Ballerinen, die ihre Holzschenkel entbW15ten, denn schlie15lich hatten auch sie die Sinne der Seminaristen er regen konnen.«9 Es versteht sich von selbst, da15 man bei diesem Versuch, die offentliche Moral zu kontrollieren, die entgegengesetzte Wir kung erzielte. Nichts war weniger verdorben als die Sitten der romischen Theater. Die » Unmoral« , die man bei den Frauen zu finden meinte, war narurlich bei den Mannern ebenso verbrei tet: Zahlreiche » homosexuelle« Affaren verbanden diese femi ninen Sanger mit ihren geistlichen Zuschauern oder Gonnern. Da auf der Btihne nur Manner auftraten, war es klar, daB man auf diese Art alles dazu tat, Liebesabenteuer zwischen Mannern zu fOrdern. Die Monsignori und andere Gonner machten dem
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Erwahlten ihres Herzens beharrlich den Hof, besuchten ihn morgens, auch beim Schminken und Ankleiden im Theater und uberhauften ihn mit Geschenken und Liebesbriefen. Casanova erzahlte uns, wie er im Theater einen jungen Kastraten namens Aliberti sah, welcher der Liebling des Kardinals Borghese war und jeden Abend mit ihm allein soupierte. Italien, das bereits in ganz Europa den Ruf des Landes der » Homosexualitat« hat te, verstarkte dieses Image noch zusatzlich durch die seltsame Ambiguitat, die in den romischen Theatern herrschte: Schenkt man Montesquieu Glauben, dann gab es nichts, was die Romer starker zu dieser »philosophischen Liebe« inspiriert hatte, als die »Fraumanner« auf der Buhne. Rom blieb also etwa ein Jahrhundert lang ein Sonderfall in Europa: Die Hauptstadt des Papsttums trug dazu bei, daB die Nachwelt ein weitgehend verfalschtes Bild angeblich »homose xueller« Kastraten erhielt, die gewohnlich Frauenkleider getra gen hatten. Davdn unterschied sich die Realitat in den anderen italienischen Staaten grundlegend, angefangen mit dem diesen Sangem zugedachten Repertoire. Man kam selten auf die Idee, groBe Frauenrollen mit Kastraten zu besetzen. Seit dem 17. Jahr hundert gelang es einigen Sangerinnen, sich in den Rollen von Eurydike, Poppaea, Kallisto oder Juno zu behaupten. 1m 18. Jahr hundert setzten die groBen Kiinstlerinnen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni strahlend das Bild einer talentierten und alles erobemden Primadonna in Szene, die oftrnals eine ebenso hohe Gage erhielt wie ihre mannlichen Kollegen. Den Kastraten waren hier die Rollen des »primo uomo«, des »virtuoso«, des triumphierenden mannlichen HeIden vorbehal ten. Die weibliche Singstimme der Kastraten (Sopran oder Alt) hatte keinerlei EinflulS auf die Art der Rolle, die ihnen ubertra gen wurde, und niemand war damals verwundert, Julius Casar, Alexander den GrolSen, Titus oder Achilles mit hoher Stimme singen zu horen. Einige Komponisten bevorzugten die strah lendere, eindrucksvollere und auch prestigetrachtigere Stimm lage des Kastratensoprans wie zum Beispiel die Stimme von Farinelli. Andere hingegen, wie Handel, zogen die Altstimme bei Kastraten vor. Dies erklart, warum die grolSen Mannerrollen bei Handel heute von Kontertenoren, deren Stimmlage der des Kastratenalts sehr ahnlich ist, interpretiert werden konnen, wahrend es praktisch unmoglich ist, die fur Farinelli geschrie benen Partituren wiederaufzufuhren.
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Jedenfalls hatte die Barockzeit eine Vorliebe filr hohe Stim men. So wurden in einer Oper mit etwa zehn Rollen mindestens acht filr Sopran oder Alt (filr Frauen oder Kastraten) geschrie ben. Die Unterscheidung zwischen den Rollen erfolgte somit nicht ilber die Stimmen - wie zum Beispiel bei den Verdi-Opern des 19. Jahrhunderts -, sondern durch die Anzahl der Arien und ihren 1nhalt. Ebenso wie die GeseUschaft extrem hierarchisiert war, gab es eine strenge Hierarchie der Stimmlagen, von den hochsten und am meisten geschiitzten hin zu den tiefsten Stimrnlagen; dies hatte EinfluB auf die Gagen wie auch auf die Arienarten bzw. die Typen der interpretierten RoUen. SchlieB lich ware es ilbertrieben, die Stimme eines Sopran-Kastraten mit der eines weiblichen Soprans gleichzusetzen. Die Stimmla ge war zwar dieselbe, das Timbre jedoch mit Sicherheit ganz anders, viel naher an einem Knabensopran, der durch die Mus kulatur, die Lungenkraft und die Technik des Erwachsenen ge kraftigt war. Die 1902 hergestellte Aufnahme des letzten Kastra ten Alessandro Moreschi zeigt sehr wohl, daB es sich weder urn eine Manner-, noch urn eine Frauen- oder eine Knabenstimme handelte, sondern urn eine Zwischenstimmlage, die sehr eigen artig und fremd, aber auch storend und faszinierend zugleich war. Ich habe bei meinen Vortragen festgestellt, daB das Anho ren dieser Aufnahme heutzutage samtliche Arten von Reaktio nen hervorruft: Einige Zuhorer sind bis zu Tranen gerilhrt, an dere lacheln und schneiden Grimassen, wieder andere empfin den ein so starkes, unerklarliches Unwohlsein, daB sie die Aufnahme kein zweites Mal anhoren wollen. 1st nicht in diesem Paradoxon - dem Einsatz einer femininen Stimme filr eine mannlich-heldenhafte Rolle - eine filr den Ba rock charakteristische Botschaft zu erkennen? Haben nicht das 1 7. und 18. Jahrhundert die Ambiguitat und die Verkleidung kultiviert, urn daraus beherrschende Elemente der Kunst, des Theaters und des taglichen Lebens zu machen? War der Karne val von Venedig, der sich im 18. Jahrhundert ilber einen Zeit raum von sechs Monaten erstreckte, nicht bekannt dafilr, daB er die ZilgeUosigkeit und die Ambiguitat der Beziehungen zwi schen den Menschen durch diese Art von Spiel forderte, das darin bestand, einer Person den Hof zu machen, ohne zu wis sen, wer sich hinter der Maske verbarg? Auch die androgynen und sinnlichen Ephebenengel der ba rocken Kirchen waren nicht »asexueU« sondern »ilbersexuell« ,
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das heiBt zugleich mit starker mannlicher und weiblicher Erotik bela den. Wurden nicht auch die von den Kastraten verkorper ten Figuren durch ihre Doppelnatur verstarkt? 1m Gegensatz zu einer Frau, die eine Frauenrolle spielte, d. h. streng ihrer Na tur entsprechend, kann man der Ansicht sein, daIS der Kastrat dem Publikum eine uberdimensionierte Personlichkeit darbot, die zu beiden Geschlechtern gleichzeitig gehorte und dem HeI den, fernab von der Wirklichkeit des Menschen, gleichzeitig die Tugenden von Mann und Frau verlieh. Orpheus, Renaud oder Artaxerxes waren dann doppelt so bewundernswert, da sie so wohl uber mannliche Korperkraft wie auch uber weibliche An mut verfugten, zwei Trumpfe, die sich in einer hybriden Sinn lichkeit verbargen. Das Barockzeitalter betrachtete Kastraten also stets als Man ner, die sehr gut dazu geeignet waren, die groBen mannlichen HeIden der Geschichte zu verkorpern. Gleichzeitig traute man ihnen zu, diesen eine zusatzliche Dimension zu verleihen, nam lich in ihnen die weibliche Seite zu enthullen, die in jedem Man ne schlummert. Dies rechtfertigte in den Augen des Publikums wie auch der Kirche die Kastration, die als ein Mehr und nicht als ein » Minus« betrachtet wurde. Die franko-irische Abenteu rerin Sara Goudar, die im 18. Jahrhundert lange Zeit in Neapel lebte, hat dies so auf den Punkt gebracht: » MuB man Manner verstummeln, urn ihnen die Perfektion zu verleihen, die sie nicht von Geburt an haben?«l0
3. Die Kastraten in der Sicht der anderen Sieht man von Reiseerzahlungen und von Abhandlungen zur Sangeskunst ab, gibt es nur wenig zeitgenossische Untersu chungen zu Kastraten. Das legt die Vermutung nahe, daIS diese als » normal" , also keiner weiteren Beachtung wert, betrachtet wurden und ein vollkommen integrierter Bestandteil des mu sikalischen und sozialen Lebens waren. Dies gilt besonders fur das 17. Jahrhundert. Damals arbeiteten die Kastraten in groBer Zahl fUr die Kirche und zogerten bisweilen, im Theater aufzu treten. Ihre Aufgabe war in erster Linie das Lob Gottes. Die Ka stration galt deshalb als eine Art personliches Opfer an den
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Herrn, das als ebenso wertvoll wie das Gelubde der Monche oder Priester betrachtet wurde. Weit davon entfernt, seltsame Wesen zu sein, gaben die Kastraten kaum AnlaB zu besonderen Kommentaren, da sie ebenso wie andere Singstimmen in das Musikleben eingebettet waren. Ein leichter Umschwung wurde in den Jahren 1740-1750 spurbar, als es zu bedeutenden Veranderungen in sozialer und religioser Hinsicht kam. Der starke Schwung der Gegenrefor mation flaute in der Mitte des 18. Jahrhunderts betrachtlich abo Der Ruckgang der Berufungen, insbesondere in religiose Or den, lieB das Interesse an geistlichen Choren, die seit eineinhalb Jahrhunderten einer der Hauptarbeitgeber der Kastraten wa ren, zuruckgehen. Die Sixtinische Kapelle und einige groBe ita lienische Basiliken sollten bald die letzten Gotteshauser sein, die noch Kastraten beschiiftigtenY Daruber hinaus prangerten insbesondere franzosische bzw. franzosischsprachige Aufklarer die Absurditat der Kastration und ihres Zwecks an. Diese dien te indirekt als Mittel der Kirchenkritik: Voltaire geiBelte in Can dide Stadte wie z. B. Neapel, in denen man »jedes Jahr zwei oder dreitausend Knaben kastriert«, von denen einige einmal » Staaten regieren werden«, womit er sehr deutlich auf Farinelli anspielteY Auch Rousseau wetterte in seinem Dictionnaire de Musique uber die » barbarischen Vater«, die es wagten, ihren Sohn kastrieren zu lassenP Natiirlich konnten die Vorstellun gen dieser Philosophen die » kleinen Leute« aus dem italieni schen Volk, die von der Kastration betroffen waren, nicht beein flussen. Zur selben Zeit begannen allerdings viele Leute, die noch nie etwas von Voltaire oder Rousseau gehort hatten, die Kastration aus diffusen Griinden abzulehnen, die sowohl mit dem wirtschaftlichen Wiederaufschwung als auch mit einem neuen Respekt gegeniiber der menschlichen Natur innerhalb von Kernfamilien, die das individuelle Schicksal der Kinder for derten, zusammenhingen. Viele Auslander, die mit Sangerkastraten wenig vertraut wa ren, brachten ihr Erstaunen, das mit Emporung oder heimlicher Bewunderung gepaart war, zum Ausdruck, wenn sie Italien oder Regionen bereisten, die von der italienischen Musik beein fluBt waren - wie die siiddeutschen Kleinstaaten, die Stadte London, Dresden oder Sankt-Petersburg, der polnische, der spanische und der portugiesische Hof usw. Der beriihmte Rei sende und Musikforscher Charles Burney konnte gegen Ende
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des 18. Jahrhunderts nicht umhin, das Unbehagen bzw. sogar die Beschamung vieler gebildeter Italiener angesichts der Ka stration zu bemerken, die als absurd und iiberkommen galt.14 Der Blickwinkel, unter dem die Kastraten betrachtet wurden, unterschied sich je nach Land, Publikum und Gesellschaftsform also erheblich. Drei Gruppen erscheinen mir jedoch von beson derem Interesse, wenn man nachvollziehen will, wie andere die Mannlichkeit der Kastraten beurteilten: die Knaben in den Kon servatorien, die Frauen und die Franzosen. 3.1. Der junge Kastrat im Konservatorium Ein Unterschied zwischen der Welt der Kinder und dem Le bensraum der Erwachsenen tritt im Laufe des 17. und 18. Jahr hunderts zunehmend zutage. Wahrend den meisten Erwachse nen das Talent der Kastraten und die Art des sie umgebenden » Starkults« selbstverstandlich erschien, zeigten sich die Knaben in den Konservatorien, die noch nicht auf die professionelle Welt der Musik vorbereitet waren, haufig strenger gegeniiber ihren kastrierten MitschUlern. Mit Ausnahme einiger auBergewohnlicher Knaben, wie Fa rinelli oder Caffarelli, die bei dem Speziallehrer Nicolo Porpora Einzelunterricht erhielten, erlernte die iiberwiegende Mehrheit der Knaben die Musik in den vier groBen neapolitanischen Konservatorien sowie in den Gesangsschulen und den Waisen hausern von Rom, Bologna und anderen Stadten. Die exzellente literarische und musikalische Ausbildung, die dort vermittelt wurde, war gleichzeitig von einer strengen Disziplin, mehr als spartanischen Lebensbedingungen und einer Promiskuitat, un ter der viele Knaben litten, begleitet: Vorzeitiges Verlassen der Schule oder Flucht waren an der Tagesordnung. Das Leben in diesen Internaten war in mancherlei Hinsicht harter als in an deren Erziehungseinrichtungen. Diesen Schlu/5 legen zumin dest die gewalttatigen Konflikte nahe, die die SchUler manch mal dazu trieben, sich gegen ihre geistlichen Oberen aufzuleh nen. 1m Jahre 1 705 kam es im neapolitanischen Konservatorium Pieta dei Turchini zu einer regelrechten Meuterei: Durch den Hunger zum AuBersten getrieben, warfen die SchUler den Rek tor und seinen Stellvertreter urn 2 Uhr in der Friihe hinaus auf die StraBe!15
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In dieser schwierigen Situation waren Auseinandersetzun gen und sarkastische Bemerkungen nicht selten. Da die jungen Kastraten eine zartere Konstitution als die anderen Knaben hat ten, behandelte die Schulleitung sie im allgemeinen besser: Sie erhielten warmere Kleidung im Winter, besser geheizte Zim mer, bessere Ernahrung usw. Neben dem Neid, den dies bei anderen Knaben hervorrufen konnte, schien der sexuelle Un terschied auch die Quelle von Sticheleien, verachtlichem Ver halten und manchmal von Revolten unter den Internatsange horigen zu sein, unter denen die Kastraten stets zu leiden hat ten. Die Tendenz zur Trennung von als »intakt« (integri) und den als »nicht intakt« (non integri) bezeichneten Knaben ver starkte diese Konflikte noch und vergiftete die Atmosphare. In einem neapolitanischen Konservatorium kam es eines Tages zu einer Art Streik, weil sich die »intakten« Knaben weigerten, ihre kastrierten Mitschiiler bei Tisch zu bedienen. In diesem wie in anderen Fallen ist es offenbar, daB die Knaben im Alter zwi schen 10 und 15 Jahren, die noch nicht die Bewunderung des erwachsenen Publikums fUr die spatere Kastratenstimme teil ten, dazu neigten, ihre Mitschiiler einfach deshalb zu verachten, weil dieser »Unterschied« sie in ihren Augen minderwertig werden lieR AuBerhalb der Erwachsenenwelt wurde die Ka stration dennoch als erniedrigender Verlust der Mannlichkeit sowie als beleidigender Unterschied betrachtet, der noch nicht durch musikalisches und kiinstlerisches Konnen aufgefangen wurde. Andererseits scheint es sicher, daB derselbe Unterschied bei den kleinen Kastraten ein SolidaritatsgefUhl beforderte, das zur Grundlage dauerhafter Freundschaften werden konnte. 3.2. Das Verhaltnis zwischen Kastraten und Frauen 1m Verhaltnis zwischen Kastraten und Frauen tritt vielleicht die Mannlichkeit des Kastraten und seine relative Normalitat im Vergleich zu anderen Mannern am deutlichsten zutage. Wenn man die Biographien mehrerer Dutzend dieser Sanger studiert, drangen sich zwei Feststellungen auf: Die Kastration hat sie nie rnais starker zur » Homosexualitat« als zur Heterosexualitat ge drangt, genausowenig wie sie die Sanger urn ein erfiilltes Lie besleben gebracht hat. »Liebesleben« darf allerdings nicht aus schlieBlich mit » Sexualleben« gleichgesetzt werden. In diesem
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Zusammenhang ist es wichtig, sich noch einmal genau die Wir kungen der Kastration in Erinnerung zu rufen. Man durch trennte bekanntlich die Samenleiter; danach entfemte man die Haden oder lieB sie verkiimmem. Bei dieser Operation biiBte der Kastrat nicht - wie die Eunuchen im Orient oder in Indien - seine auBeren Geschlechtsorgane ein. Von dem Gelingen der Operation, vom ausfiihrenden Chirurgen und vom Alter, in dem sie durchgefiihrt wurde, hing eine mbgliche spatere Sexua lWit des Kastraten abo Es gab also kein einheitliches Verhalten, sondem verschiedene Verhaltensweisen, die sich je nach Ka strat unterschieden; einige erlebten praktisch keine Sexualitat, was fiir Farinelli zu gelten scheint, andere hatten ein fast nor males Sexualleben, da sie im besten Fall Erektion und Ejakula tion - allerdings ohne Spermien - erleben konnten. Uber das Sexualleben der Kastraten ist uns nur wenig be kannt, da niemand von ihnen autobiographische Schriften hin terlassen hat. Man kann es nur begriiBen, daB sich diese hin sichtlich ihrer musikalischen Leistungen bereits dermaBen ge nau beobachteten Manner eine Intimsphare bewahren konnten. Einige Anekdoten lassen jedoch Umrisse der Sexualitat dieser Sanger erkennen. Ein Beispiel ist die eindeutige Anspielung von Senesino, der behauptete, daB die keuschen, britischen jun gen Madchen seinen »Baum, der keine Friichte tragt« leiden schaftlich begehrten. Allerdings sind solche Scherze mit Vor sicht zu genieBen, da sie reine Aufschneidereien sein kbnnten. Ein anderer Hinweis auf die Normalitat ihres Lebens als Manner ist die Tatsache, daB einige Kastraten heiraten wallten. Da der Papst die Heirat denjenigen untersagte, die zeugungs unfahig waren, umgingen einige Kastraten dieses Verbot, in dem sie junge protestantische Madchen heirateten, die meist aus Deutschland stammten, wobei sie sagar selbst manchmal konvertierten. Diese Ehen waren von Dauer. Unabhangig von den sexuellen Kontakten der Kastraten wa ren die intensiven Liebesbeziehungen, die sie mit Frauen in ver schiedenen europaischen Landem unterhielten, das Wichtigste. 1m Gegensatz zu dem, was man vielleicht annehmen kbnnte, waren die italienischen, englischen oder bsterreichischen Frau en geradezu verriickt nach Kastraten und hatten sich darum geschlagen, ein Abenteuer mit einem der beriihmtesten von ih nen zu erleben. Am Wiener Hof ging die Mar, daB der Kastrat Marchesi so vergbttert wurde, daB die Frauen Portraits von ihm
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um den Hals, an den Armen und sogar an den FulSknocheln trugen! Die Frauen, die in die Sopran-Kastraten vernarrt waren, gehorten meist dem Adel oder dem GrolSburgertum an. Bei die ser Anziehungskraft einer Art von lebendem Mythos handelte es sich also um ein kulturelles Phanomen, das lediglich auf die Vorlieben und Sehnsuchte dieser privilegierten Gesellschafts schichten verweist, wahrend ein solches Abenteuer eine arme Bauerin aus Suditalien wohl ganzlich kalt gelassen hatte. Zu dieser Anziehung intellektueller, mentaler Art kamen si cherlich auch die Vorzuge einer »ungeHihrlichen Liebschaft« hinzu, die nicht auf die Sexualitat allein beschrankt war: eine Liebesbeziehung, die starker von Zartlichkeit, Sinnlichkeit, Ero tikI Wollust gepragt war, all diesen Eigenschaften, in denen die Kastraten Meister waren, da sie ein verstiimmeltes Geschlecht, eine bisweilen verminderte Mannlichkeit und sexuelle Lust durch einen in allen Teilen erotisierten Korper und durch eine neue Suche nach Liebesfreuden ausgleichen mulSten. Viele Frauen, die mehr oder weniger gegen ihren Willen mit brutalen, groben oder wesentlich alteren Mannern verheiratet waren, schienen die korperliche Zartheit des Kastraten zu schatzen. Dies bestatigt der lange, in Versform von der Englanderin Mrs. Muilman an den » engelsgleichen Signor Farinelli« gerichtete Brief: » Manner, widerwartige Gefahrten! Gift in meinen Augen, Schockierend fUr meine Sinnet Entsetzen meines Geistes, Mon ster mit hartem Bart, Borsten gleich, Nervensagen! Was ist schon eine zarte Frau unter ihren Tatzen? [ . J Dein zartes, bart loses Kinn dagegen, deine rosigen Wangen, die angenehme und melodiose Sanftheit, wenn du sprichst; diese Augen, die strah len wie zwei funkelnde Sterne und aIle Herzen wie das meine durchbohren. Mehr als Worte den Sinnen zu sagen vermogen, Verbreitest Du um dich tausendfachen Charme. [ . . . J Nicht dei ne suBe Stimmel die zwitschernde Zunge, sondern daIS du schon bist, kraftvoll und jung, ruhrt unsere britische Scho nen.« 16 Dieser hier nur in sehr kurzen Passagen zitierte Brief ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Neben der Faszination fur einen legendaren Sanger, zu allem UberflulS noch » schon, vital und jung« , zeigt er das Interesse von Mrs. Muilman fur die feminine erotische Ausstrahlung von Farinelli: Es sind gerade die am wenigsten » mannlichen« Eigenschaften, die sie an ihm liebt. 1st hier einfach eine Ablehnung der Grobheit vieler Man ner ihrer Zeit oder eine Anziehung homosexueller Natur durch . .
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eine Person, die der weiblichen Sinnlichkeit sehr nahesteht, zu verspuren? Wie dem auch sei, eine ganze Reihe von Liebesabenteuern der Kastraten ist uns heute bekannt: die lange wahrende Affare des Kastraten Bernacchi mit der Sangerin Antonia Merighi, die Flucht von Rauzzini, der heimlich den Munchner Hof verlieB, urn der Rache zahlreicher geharnter Ehemanner zu entkom men, die vielen komplizierten Liebesabenteuer von Caffarelli, der einmal eine ganze Nacht in einem Brunnen im Garten zu bringen muBte, urn nicht in flagranti vom betrogenen Ehemann erwischt zu werden, das Duell von Pacchiarotti gegen einen ge krankten Liebhaber, das tragische Ende von Siface, der am 28. Mai 1697 von der Familie der Dame ermordet wurde, mit der er seit Monaten eine leidenschaftliche Liebesbeziehung un terhielt. Der Fall Farinellis, der bereits durch den leidenschaft lichen Brief von Mrs. Muilman angesprochen wurde, ist nicht weniger bewegend. Alles in seiner Korrespondenz scheint dar auf hinzudeuten, daB seine Lieben platonisch blieben. Dies hin derte ihn nicht daran, zwei groBe Aufwallungen der Leiden schaft zu erleben, einmal fUr eine Ballerina, die er in seiner Ju gend in Italien kennengelernt hatte, die andere fUr die Sangerin Teresa Castellini, die zehn Jahre an seiner Seite am spanischen Hofe in Madrid verbrachte. Von seinem ersten Abenteuer, sei ner fruhen »Liebe auf den ersten Blick« hinterlieB er uns die folgenden Zeilen, die charakteristisch fUr seine unendliche Scharnhaftigkeit sind. » Cupido halt mich noch gefangen, und Gott weiB, wann ich wieder freigelassen werde, denn wir beide leiden, wir schweigen, wir empfinden Schmerz und doch ist eine soleh suBe Kette angenehm« .17 Bietet uns Farinelli nicht mit einer so bewegenden Zuruckhaltung die ganze Schanheit einer keuschen, sublimierten, idealisierten Beziehung dar, die uber das allein karperliche Vergnugen hinausgeht? 3.3. Der Kastrat in den Augen der Franzosen Frankreich hatte eine Sonderstellung unter den Landern inne, deren Hafe die Kastraten wohlwollend in ihre Auffuhrungen aufgenommen hatten: Es verhielt sich zuruckhaltend bezuglich ihrer Stimmen und neigte dazu, in bezug auf ihre Mannlichkeit eine schneidende Ironie an den Tag zu legen. Zwar waren Ka-
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straten in all jenen Ui.ndern prasent, die die italienische Oper als Vorbild akzeptiert hatten, d. h. in fast ganz Europa mit Aus nahme einiger protestantischer Lander (Holland, Danemark, einige norddeutsche Hofe usw.). Neben Italien, das Kastraten sowohl auf der Buhne wie auch in der Kirche in den Himmel lobte, machten die meisten koniglichen bzw. fiirstlichen Hofe aus ihnen den »Clou« ihrer Auffiihrungen, Feiern und ihres Karnevalstreibens. Lediglich Frankreich entschied unter EinfluiS von Ludwig XlV., dieses italienische Modell nicht zu importieren und schmuckte sich statt dessen mit einer eigenen landestypischen musikalischen Gattung, der lyrischen Tragodie. Diese neue Art von Oper, ein Erbe der gesprochenen Tragodie von Corneille oder Racine, die stark vom Ballett am franzosischen Hof beein fluiSt wurde, kam ohne Kastraten aus, die andernorts groiSe Er folge feierten; sie bevorzugte die mit Mannern besetzte Altstim me, die als feiner, »nallirlicher« und dem Landesgeschmack an gemessener· galt: Kastraten spielten somit keine vorherrschende Rolle in diesem weltlichen Repertoire, es gab lediglich einige So pranisten in den Choren oder in unbedeutenden Nebenrollen. Die franzosische Haltung war jedoch stets zwiespaltig, da die aufeinanderfolgenden Monarchen immer wieder Interesse fur die Kastraten zeigten. Ludwig XlV. und seine Umgebung waren der Ansicht, daiS sie wegen des Glanzes und der Virtuo sitat, die sie der geistlichen Musik verliehen, in der Koniglichen Kapelle unentbehrlich seien: Hier wie auch andernorts stellte man fest, in welch hohem MaiSe sie die Sopranpartien, die bis dahin Knaben oder Falsettisten vorbehalten waren, zur Geltung brachten. Mehrfach holte man Kastraten aus Italien, urn sie die Sopranpartien in dieser Kirche, zu der Sangerinnen keinen Zu gang hatten, singen zu lassen. Nach und nach lieiSen sich Ka straten in Versailles nieder, wurden wie andere gute Musiker oder Sanger bezahlt und lebten dort wahrend der Herrschaft von Ludwig XlV., Ludwig Xv. und Ludwig XVI. Mehrere von ihnen bildeten die Hohepunkte des geistlichen Konzerts in Pa ris. SchlieiSlich kamen sogar Farinelli und Caffarelli an den fran zosischen Hof und sangen dort zum groBen Entzucken von Ludwig Xv. und seiner Familie. Die Ankunft der ersten italienischen Kastraten zur Zeit von Kardinal Mazarin verlief jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Durch mangelnde Gewohnung an diese Stimmen neigten die
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Franzosen dazu, die Kastraten als »indisponiert«, » verstum melt« oder als »Kapaune« zu bezeichnen, ein Vokabular, das prazise und nicht ohne Boshaftigkeit die korperliche Unvoll standigkeit der Sanger auf den Punkt brachte. 1m 18. Jahrhun dert bekam die franzosische Kritik durch das rationalistische Denken der Philosophen Aufwind, die die Kastration als »wi dernarurlich« und als »aufgeklarter« Nationen fur unwurdig erachteten. Rousseau emporte sich gegen das »Barbarische« soIcher Sitten. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, auf einer Reise nach Venedig voller Vergnugen der »suBen Harmonie« und dem »engelsgleichen Gesang« des Kastraten Carestini zu lauschen. Die bereits erwahnte Abenteurerin Sara Goudar faBte die rationalen Vorstellungen vieler Frauen ihrer Zeit zusam men, indem sie sich fragte, wie die Frauen, die Liebesabenteuer mit Kastraten suchten, »die Halfte dem Ganzen vorziehen« konnten. Viele Reisende der Aufklarung wetterten, ohne selbst Philosophen zu sein, im Namen der »Natur« gegen das Stimm phanomen der Kastraten: »Fur die menschliche Natur ist es bes ser« , so schrieb La Lande, »daB man wie wir daran gewohnt ist, Gefallen an naturlichen, mannlichen, strahlenden Stimmen zu finden, die voller Kraft sind; es ist allein die Gewohnheit, die uber das Vergnugen entscheidet, unsere ist gliicklicher und un ser Vergnugen naturlicher.« 18 Niemand hat jedoch die franzosische Geisteshaltung zu An fang des 18. Jahrhunderts besser zusammengefaBt als der Cal vinist Charles Ancillon, der 1659 in Metz zur Welt kam und durch die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) nach Berlin vertrieben wurde. Sein Werk »Traite des Eunuques« , das wah rend des zunehmenden Erfolgs der Kastraten im Jahre 1707 ver offentlicht wurde, ist der Inbegriff der beiBenden Kritik gegen dieses uberlieferte Phanomen des so storenden »Eunuchen tums« . »Ekelhaft« , »widerwartig« , »abstoBend«, »schandlich« , »verachtenswert« sind nur einige der Adjektive, mit der diese Sorte von »halben Miinnern« belegt wird. Mit der ihm eigenen Logik spricht Ancillon den Kastraten jegliches Vergnugen ab, verdammt aIle auBerhalb der Ehe gelebte Erotik und emport sich allgemein gegen das Liebesleben der Sanger seiner Zeit: »Es ist sicher, daB ein Eunuch nur die Fleischeslust, die Sinn lichkeit, die Leidenschaft, die Ausschweifung, die Unkeusch heit, die Wollust, die Schliipfrigkeit befriedigen kann. Da sie nicht zeugungsfahig sind, sind sie dem Verbrechen naher als
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vollstandige Manner, und sie werden starker von verdorbenen Frauen begehrt, da sie ihnen die Freuden der Ehe bieten, ohne daiS sie dabei irgendwelche Risiken eingingen. [ . . J Eine Frau, die ein solches Begehren hat, ist ein weiblicher Ltistling, und ein Eunuch, den sie in ihr Bett lockt, ein Werkzeug ihres Verbre chens.«19 Ein bewundernswertes Scheinman6ver, bei dem der Verfasser unter dem Vorwand, tiber die Eunuchen alter Zeiten zu sprechen, schonungslos diese Sanger, die das gesamte Euro pa des Barock als »Manner des Begehrens« bezeichnete, geifSelt! Die Franzosen waren nattirlich nicht die einzigen, die die Ka straten verspotteten. Hie und da erschienen insbesondere im 18. Jahrhundert satirische Gedichte, in denen immer wieder die abwertenden Bezeichnungen cappone (Kapaun), castrone (Ka strierter) oder coglione (eigentlich >Dummkopf<, wird jedoch von >cogliodtir >Hoden< abgeleitet) auftraten. Diese Bezeich nungen und die Scherze tiber das Aussehen oder die Sexualitat von Kastraten waren wenig erstaunlich angesichts dieser Grup pe, die gleichermaiSen st6rend und faszinierend, anziehend und abstoiSend wirkte. Wie die Juden oder die Homosexuellen zu anderen Zeiten wurden die Kastraten als Minderheit von der Mehrheit aufgrund ihres »Andersseins« angegriffen. Es handel te sich jedoch weniger urn wirkliche Feindseligkeit als vielmehr urn eine Art von Sp6ttelei, die die Kastraten wiederum aufgrif fen, urn tiber sich selbst lachen zu k6nnen und sich weiterhin mit den Schleier der Ambiguitat zu umgeben, wobei sie sich Sympathie und Bewunderung des GroiSteils des Publikums zu erhalten wuiSten. So enthielt ein Gesangssruck des 17. Jahrhun derts namens Il Castrato viele zweideutige Scherze und eroti sche Wortspiele tiber die unglaublichen sexuelle Vitalitat der Sopranisten. Der Clou bei der Aufftihrung dieses Sttickes war ein Kastrat, der dieses satirische Lied vortrug und sich selbst tiber die darin enthaltenen Dbertreibungen lustig machte! .
4. Das Selbstbild der Kastraten Die Geftihle, die die Kastraten beztiglich ihrer eigenen Situation empfanden, sind besonders schwierig zu ermitteln. Autobio graphische Dokumente fehlen. Eine Reihe von Memoiren-
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schreibern, Chronisten und Journalisten haben sich zu den Ka straten des 17. und 18. Jahrhunderts geauBert, sie haben jedoch lediglich ihrer eigenen, sehr subjektiven Meinung Ausdruck verliehen, ohne daB es ihnen gelungen ware, das Mysterium dieser Sanger zu entschliisseln oder zu verstehen, was diese irn tiefsten 1nnern fuhlten. Mit Ausnahme von Balatri, der ein lan ges, aus mehreren hundert Versen bestehendes Gedicht verfaB te, in dem er sein Leben erzahlte, hat kein Kastrat, nicht einrnal der bertihmteste, seine Memoiren geschrieben. 1st in diesem kollektiven Schweigen der Wille zu erkennen, keine geheimen, auf dem Grunde des BewuBtseins dieser San ger verborgenen Mysterien, keine ihrer eigenen Wahrheiten zu enthtillen? Sicherlich nicht. Zur damaligen Zeit war das Verfas sen von Memoiren weitgehend gebildeten Leuten, Schriftstel lern oder Adeligen, nicht jedoch einfachen Sangern, »Gauk lern«, die bei der Ausfuhrung gesanglicher Pirouetten geschick ter als in der Handhabung der Feder waren, vorbehalten. Dartiber hinaus lieBen den Kastraten ihre bewegte Karriere und ihre standigen Reisen quer durch Europa kaum Zeit ftir vertrau liche AuBerungen in Briefen. Sie auBerten sich allenfalls zu Ver tragen oder verfaBten an ihre jeweiligen Agenten gerichtete Ge schaftsbriefe. Selbst Farinelli, der ebenso von den GroBen Europas wie auch von den armsten Zuschauern vergottert wurde, wollte niemals seine Memoiren schreiben, obwohl all seine Freunde ihn darum baten: »Wozu soll das gut sein?« entgegnete er. » Mir reicht es, wenn man weiB, daB ich niemandem Schaden zuge ftigt habe. Hinzu kommt noch mein Bedauern, daB ich nicht all das Gute tun konnte, das ich gern getan hatte.« 20 Dies war die Antwort eines zutiefst bescheidenen Menschen, der trotz seiner Bertihmtheit niemals versuchte, sich in den Vordergrund zu spielen. Es ist daher ein sehr groBes Gltick, daB der Musikfor scher Carlo Vitali und die Archivarin Francesca Boris ktirzlich in Bologna 68 Briefe Farinellis an seinen Gonner, den Conte Pe poli, entdeckten. Dank dieser Briefe konnte ich eine neue und umfassende Biographie dieses auBergewohnlichen Sangers schreiben.21 Die genannten Briefe bieten eine Ftille von 1nfor mationen tiber die Karriere des Sangers, seine Beziehungen zum Publikum und zu den Theateragenten sowie tiber sein un glaubliches Schicksal in Spanien. Sie enthalten jedoch nichts tiber seine Situation als Kastrat, tiber die Gefuhle, die er hin-
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sichtlich seiner Versrummelung hegte und die Konsequenzen, die sich daraus fur sein gesamtes Leben ergaben. Wir wissen durch Giovenale Sacchi, einen Zeitgenossen Farinellis, daiS Fa rinelli seiner Familie gegenuber niemals GefUhle auiSerte und daB er seinem Vater, der seine Kastration veranlaBte, stets eine tiefe Zuneigung entgegenbrachte. In einem Brief erwahnt er lediglich sehr zuruckhaltend seine Sehnsucht, wie alle anderen zu sein, und den Wunsch, die Freu den der anderen Manner oder sogar anderer Kastraten, die in ihrem Liebesleben gliicklicher waren als er, kennenzulernen: » Der Konig, die Konigin, der Kronprinz und die Prinzessin be gleiteten die beiden liebenswurdigen Herzen (den spanischen Infanten und seine junge Gattin) bis zu ihrem Bett. So ins Bett gebracht, taten sie im Dunkeln das, was aIle in der ersten Nacht tun; nur der, der Ihnen schreibt, kennt soleh ahnlich dunkle und angenehme Nachte nicht.« 22 Daruber hinaus schien Farinelli seinen Status als Kastrat stets positiv zu sehen, indem er die auBerordentliche Karriere, den Reichtum und die ihm angebotenen Ehren wurdigte. Einige Dokumente (Memoiren, Briefwechsel usw.), in denen andere Kastraten erwahnt sind, zeigen ebenfalls, wie sehr diese Sanger den in ihrer Kindheit erlittenen korperlichen Verlust durch die se magische Gabe, die Massen zu verzaubern und ihnen enor mes Vergnugen zu bereiten, ausglichen. Nehmen wir zum Bei spiel die FaIle Carestini und Salimbeni. Der erstere hatte auf allen italienischen Buhnen Triumphe gefeiert, bevor er fur den KurfUrsten von Bayern, danach fUr den Kurfursten von Sachsen und den preuBischen Konig Friedrich II. sang. Der zweite hatte die hochste Gage erhalten, die jemals ein Sanger am Berliner Hof erhalten hatte. Ein Zeuge erklarte, daB diese beiden Sanger in Gelachter ausbrachen, als jemand ihr Schicksal beklagen und sie wegen ihrer verlorenen Mannlichkeit bemitleiden wollte: Beide betrachteten die Kastration lediglich als »Bagatelle«, die im Vergleich zu dem erfolgreichen Leben, das sie fiihrten, kaum ins Gewicht fiel. Desgleichen gelang es Caffarelli, eine beispiel hafte Karriere zwischen Neapel, London, Paris und Lissabon zu machen, die ihm alles verschaffte, wovon ein Sanger nur traumen konnte. Auch er bedauerte seine Kastration nicht und schmeichelte sich im Gegenteil damit, einen Adelstitel erwer ben und sich einen prunkvollen Palast in Neapel bauen zu kon nen, in dessen Eingangsrur er die Worte »Amphion Thebas, ego
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domum« (Amphion lielS Theben errichten und ich dieses Haus) einmeilSeln lielS. Diese beiden bekannten FaIle kbnnen aIlerdings nicht verall gemeinert werden. AulSerdem ware man dabei in Gefahr, die Kastration zu legitimieren und aus ihr einen harmlosen medi zinischen Eingriff zu machen. Bei den Beispielen, die wir ge nannt haben, handelt es sich urn bedeutende, sehr reiche Ktinst ler, die an vielen Hbfen und auf vielen Btihnen BeifaIlssttirme ernteten. Unbekannt ist demgegentiber, was aus den kleinen Sangern, den obskuren Provinzkastraten wurde, die niemals die Kirche ihres Dorfes verlassen oder aber nur zweitklassige Konzerte femab der grolSen Biihnen gegeben hatten? Von ihnen wissen wir zwar fast nichts, es ist allerdings anzunehmen, dalS sie sich selbst weniger positiv sahen. Entstand nicht, fernab von Ehren und Reichrumern, in ihnen ein Gefiihl der Frustration angesichts des kbrperlichen und beruflichen MifSerfolgs in ih rem Leben oder einfach wegen der sarkastischen Bemerkungen eines Teils ihrer Umgebung? Ein Beispiel ftir eine Krise mannlicher Identitat, die sich in einer Revolte gegen eine auferlegte und nicht zufiillige Ver sehrtheit Luft machte, wird uns durch den Kastraten Domenico Mustafa, Sopranist der Sixtinischen Kapelle im 19. Jahrhundert, tiberliefert. Eines Tages, als er mit seinen Freunden zu Tisch salS und ein Ungliickseliger wieder einmal tiber seine >>Versehrt heit« einen Scherz machen wollte, schwang Mustafa ein Messer und rief: » Erfiihre ich in diesem Augenblick, dalS es mein Vater war, der mich so versrummelt hat, wtirde ich ihn unverztiglich mit diesem Messer tbten.« Der Zorn, der ihn dann tiberwaltigte, Ausdruck eines alten und tief sitzenden Schmerzes, hing mit den Zweifeln zusammen, unter denen viele Kastraten beztig lich der Umstande ihrer Operation litten. Da die Kastration in der Frtihen Neuzeit aus allgemein anerkannten medizinischen Griinden wie Epilepsie, Gicht, Wasserbruch, Leistenbruch, BilS oder Tritt in den Genitalbereich usw. vorgenommen wurde, fragten sich namlich viele Sanger ihr Leben lang, ob ihr Vater sie aus medizinischer Notwendigkeit oder nur wegen der Sing stimme hatte operieren lassen.23 Die unbekannten Beweggrtin de ihrer Eltem verursachten einen nagenden Zweifel, der manchmal jah und unerwartet hervorbrach. Mustafas Verhal ten ist wahrscheinlich nur eines von vielen Beispielen, die an sonsten nicht tiberliefert sind. Man kann sich allerdings sehr
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leicht vorstellen, daB einige Kastraten ein sehr positives und triumphverwbhntes Bild von sich hatten, wahrend andere ihre Situation als drama tisch und mitleiderregend betrachteten.
5. Schlufl Es ist stets schwierig, zu einem so komplexen Phanomen wie den Kastraten Verallgemeinerungen zu formulieren. Wahrend einige Sanger sehr gut mit ihrer >>Versehrtheit« leben konnten, so daB sie sie vergaBen oder sogar stolz auf sie waren, litten andere sehr darunter, fiihlten sich erniedrigt, verstiimmelt und somit anderen Mannern gegeniiber minderwertig. Ein groBer Teil des Geheimnisses bleibt in den intimen Gedanken der Be troffenen verschlossen. Das Auffallendste ist das allgemeine Bild, das die Kastraten von sich selbst gaben bzw. wie sie von anderen gesehen wur den. In diesem Zusammenhang ist man iiber die Verfiihrungs kraft, die sie auf ihre Umgebung ausiibten, erstaunt, eine Ver fiihrungskraft, die nicht entsprechend den gangigen Logiken von Mannlichkeit wirkte: Die Kastraten faszinierten ihre Um gebung, gerade weil sie in einer einzigen Person die Anzie hungskraft von Mann, Frau und Kind in sich vereinigten. Die se Dreiheit hat sicherlich eine sehr starke erotische Wirkung auf das Publikum im 1 7. und 1 8. Jahrhundert gehabt, das sich leicht in einem kiinstlerisch-kulturellen Kontext, der eine ge eignete Grundlage fiir das Spiel mit der Illusion war, verzau bern lieR Wenn der Kastrat auch als vollstandiger Mann wahrend der Ausbildung, in der Art und Weise, sich in der Stadt zu kleiden, in seinen Beziehungen zu Frauen oder in seinen im Theater in terpretierten RoUen angesehen wurde, so fiel er doch durch sei ne androgyne Persbnlichkeit, seine Manieren und seine Sprech wie Singstimme aus dem Rahmen. Daher hat er seine Umge bung unentwegt zugleich gestbrt, verstbrt, angezogen und be unruhigt. Ihm zuzuhbren, ihn zu bewundern, war ein Mittel, gliicklich zu sein, den Zugang zu einer Art Traum zu finden. Sich iiber ihn lustig zu machen, war ein Mittel, den unbewuBten Anteil Weiblichkeit, der in jedem Mann angelegt ist, als teuf-
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lisch auszutreiben. Es komrnt nicht von ungefahr, daIS die gegen Kastraten gerichtete Kritik viel haufiger von Mannern als von Frauen kam: War es die unbewulSte Angst, einem nicht nur durch die Stimme ausgelbsten Zauber zu erliegen oder der Wunsch, eine Praktik soweit wie moglich von sich zu weisen, die man intellektuell verurteilte, von der man jedoch emotional angezogen war? Das Phanomen der Kastraten ist auch heute noch von Bedeu tung: Es ist aufschlulSreich fur die Entstehung eines bestimmten Mannerbildes unserer Tage. Am Ausgang des 20. Jahrhunderts haben wir die Barockmusik und die mit ihr verbundenen sozia len Verhaltensweisen mit Vergnugen wiederentdeckt, denn sie lielSen uberall ein wenig » abweichende« Mannerbilder zutage treten. Mit der geschlechtsneutralen Mode, die sich ab 1968 ent wickelte, der androgynen Ausstrahlung von Rockstars wie Da vid Bowie, Prince oder Michael Jackson oder anerkannten bise xuellen Lebensweisen, die zeigen, daIS die sexuelle Differenzie rung in erster Linie auf sozialer oder kultureller Ebene erfolgt, knupft unsere Zeit in mancherlei Weise an dieses sehr spezielle Bild der Mannlichkeit an, das auf die Kastraten zuruckzufuhren ist. Die Konstruktion eines Bildes des Mannes, das nicht nur auf Virilitat beruht, kann auch die derzeitige Begeisterung von Mannern und Frauen fUr den Barockgesang und die Wieder entdeckung'seiner Interpreten (Kastraten, Kontertenore, mann liche Altstimmen USw. ) erklaren, Uberlassen wir jedoch bei einem Thema wie diesem der Mu sik das letzte Wort und erinnern wir uns daran, daIS die Kastra ten neben ihrer sozialhistorisch einzigartigen Rolle einen gan zen Teil un serer Geschichte durch den aulSergewohnlichen Charakter ihrer Singstimme gepragt haben. Fur ihre Bewunde rer waren sie divi assoluti (>absolut gottlich<), die den Zuhorer aus dem Gleichgewicht warfen und ihn verzauberten, » One God, one Farinelli!« , rief eine englische Zuschauerin im Jahre 1734 aus. 1n der von fluchtigen Vergnugungen faszinierten Epo che des Barock ermoglichten die strahlenden gesanglichen Tri umphe der Kastraten ihren Zeitgenossen, zumindest fUr weni ge Momente in den GenulS himmlischer Freuden zu gelangen,
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Anmerkungen La Lande, Jerome de: Voyage en Italie, Genf 1790, VI, 348. Auf Ein zelbelege wird weitgehend verzichtet; der besonders interessierte Leser miige Barbier, Patrick: Farinelli. Der Kastrat der Kiinige. Die Biographie, Dusseldorf 1995, konsultieren. 2 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig: Chronologen, Frankfurt 1779, I, 174. 3 Dupaquier, Jacques: Histoire de la Population franc;aise, Paris 1995, II, 304 f. und 472. 4 Bezuglich aller Fragen zur sozialen Situation von Kastraten und zur Demographie siehe das umfangreiche Werk von Rosselli, John: II cantante d'opera, Bologna 1993, II, 45-78. Zur Demographie siehe auch Delille, Gerard: Famille et propriete dans Ie Royaume de Naples (XVe-XIXe siecles), Paris 1985. 5 Dies berichtet Mancini, Giovanni Battista: Pensieri e rifessioni sopra il canto figurato, Wien 1774. 6 Zitiert nach Defaye, Philippe: Les Castrats, aspects phoniatriques, these de medecine, Limoges 1983, 24. 7 Raguenet, F: Parallele des Italiens et des Franc;ais (in bezug auf den Alt-Kastraten Ferrini), Neuauflage Genf 1976, 100 f. 8 Espinchal (comte d'): Voyage d'immigration, Paris 1912, 75 f. 9 Abbe Richard: Description d'Italie, Paris 1770, IV, 184. 10 Goudar, Sara: Remarques sur la musique et la danse, Venedig 1773, 32. 11 Zu allen Fragen bezuglich der Krise der riimisch-katholischen Kirche im 18. Jahrhundert siehe Delumeau, Jean: Le catholicisme entre Luther et Voltaire, Paris 1971, V. 12 Voltaire: Candide, XXv. 13 Rousseau, Jean-Jacques: Dictionnaire de Musique, in: Ders.: Oeuvres completes, Bd. XII, Paris 1819, Artikel Castrato. 14 Burney, Charles: The present State of Music in France and Italy, Lon don 1770. 15 Zum Leben in den neapolitanischen Konservatorien vgl. die um fangreichen Arbeiten von Di Giacomo, Salvatore: II conservatorio di Sant'Onofrio a Capuana e quello di Santa Maria della Pieta dei Turchini, NeapeI 1924, und Ders.: II conservatorio dei Poveri di Gesu Cristo e quello di Santa Maria di Loreto, Neape1 1928. 16 Mrs. Muilman: The happy Courtezan (An epistle from the celebrated Mrs. C. . . P . . . to the Angelick Signor Far.n . .li), London 1735. 17 Brief von Farinelli an den Conte Pepoli, Lucca, 24.11.1733, Archivio di Stato di Bologna (Staatsarchiv Bologna), Carteggio (Korrespondenz) Pe polio 18 La Lande (1790), 437 f. 19 Ancillon, Charles (Pseudonym C. d'Ollincan): Traite des Eunuques, Berlin 1707, Neuaufrage Paris 1978. 20 Sacchi, Giovenale: Vita del cavaliere Carlo Broschi, Venedig 1784, 43. 21 Barbier, Patrick: Farinelli Ie castrat des Lumieres, Paris 1994; Ders. (1995).
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Patrick Barbier
22 Brief von Farinelli an den Conte Pepoli, Madrid, 14.11.1739, Archivio de Stato di Bologna, Carteggio Pepoli. 23 Eine franzosische Statistik der Societe Royale de Medecine (Konigli che Medizinische Gesellschaft) (1676) verzeichnet tiber 500 Kastrationsfalle wegen Leistenbruch allein in der Diozese von Saint-Papoul (in der Nahe von Carcassonne).
Cordula Bischoff
Die Schwache des starken Geschlechts Herkules und Omphale und die Liebe in bildlichen Darstellungen des 16. bis 18. Jahrhunderts
In der bildenden Kunst der Fruhen Neuzeit gewann der My thos von Herkules und Omphale an Brisanz. Deshalb nahm ab circa 1500 die Anzahl der Darstellungen stark zu und verebbte erst wieder ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Thematik erfreu te sich - wie eine ganze Reihe anderer historischer und bibli scher Geschichten1 auch - offenbar deshalb so groBer Beliebt heit, weil sie das Geschlechterverhaltnis kommentiert. Da in der Erzahlung selbst bereits ein Geschlechterrollentausch themati siert wird, liegt es nahe, aus der Analyse der bildlichen Umset zungen gerade dieses Themas ein historisches Verstandnis von Mannlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen zu rekonstruie reno An Hand von bildlichen Darstellungen solI vor allem ge zeigt werden, wie Bildsprache eingesetzt wurde, urn ge schlechtsspezifische Charakteristika festzuschreiben oder auf zubrechen. Nicht das einzelne Kunstwerk steht dabei im Vordergrund, sondern die ikonographische Entwicklung, abge leitet aus einem Langsschnitt uber 200 Jahre hinweg. Die fol genden Uberlegungen basieren auf der Untersuchung von etwa 60 Herkules und Omphale-Darstellungen von 1520 bis 1750.2 Bildnerische Elemente wie Korpersprache, Kleidung, Attri bute und Stellung im Raum fungierten als Bedeutungstrager. Die Erkennbarkeit einer Geschichte oder Szene war gewahrlei stet durch die korrekte Anwendung tradierter Symbole, Attri bute und kanonischer Bildschemata. Die Kenntnis solcher iko nographischen Bedeutungen gehorte zum Bildungsgut sowohl der Kunstproduzenten und -produzentinnen als auch der ge bildeten Rezipienten und Rezipientinnen. Auf einer zweiten Ebene teilten Kunstler und Kiinstlerinnen daruber hinaus >ver deckte< Informationen mit, die nicht identisch sein muBten mit der vordergrundig getroffenen Aussage. Sie konnten sich der
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Cordula Bischoff
Verstandlichkeit ihrer Botschaften gewif5 sein, da die - unbe wuf5te - Vertrautheit mit kbrpersprachlichen Bedeutungen bei den zeitgenbssischen Bildrezipienten und -rezipientinnen vor ausgesetzt werden konnte. Gerade deshalb liefert die heutige Entschhisselung dieser Zeichen Hinweise auf einen allgemei nen gesellschaftlichen Erfahrungsschatz der Zeitgenossen und -genossinnen. 1m vorliegenden Falle steht das, was als typisch mannlich galt, im Vordergrund. » Mannlichkeit« wird in der Bildsprache gleichgesetzt mit Macht und Dominanz. Definiert werden diese Eigenschaften in einer polaren Gegentiberstel lung mit » Weiblichkeit« , so daf5 das Material gleichermaf5en Aufschluf5 gibt tiber sich bedingende und erganzende Rollen erwartungen an beide Geschlechter. Da die Mehrzahl der Bild entwtirfe von mannlichen Ktinstlern fUr ein mannliches Publi kum entwickelt wurde, erscheint es sinnvoll, von der Ent schhisselung normativer Mannlichkeitskonzepte auszugehen. » Mannergeschichte« steht jedoch in einem dialektischen Ver haltnis zu » Frauengeschichte« und kann nur als Teil der » Ge schlechtergeschichte« betrachtet werden.
1. Der Mythos von Herkules und Omphale Nachdem Herkules seine zwblf Heldentaten vollbracht hatte, beabsichtigte er, lole, die Tochter des Eurytos von Oichalia, zu heiraten.3 Dies wurde ihm jedoch verweigert. 1m Zuge der Aus einandersetzungen tbtete Herkules den Bruder der lole, der sein Gastfreund war. Zur Strafe wurde Herkules von einer Krankheit befallen, die, so das Orakel von Delphi, nur geheilt werden kbnne, wenn er sich eine Zeitlang in die Sklaverei ver kaufen lasse und den Kaufpreis an den Vater des Ermordeten zahle. So kam er an den Hof der Kbnigin von Lydien, Omphale, urn ihr als Sklave zu dienen. Nach der Dberlieferung des ersten vorchristlichen Jahrhunderts verliebten sich die beiden inein ander, und zwar so sehr, daf5 sie einen Kleidertausch und damit einen Rollentausch vornahrnen: Herkules tiberlief5 Omphale die Zeichen seiner Starke, das Lbwenfell und die Keule. Er selbst trug Frauenkleidung und -schmuck und verrichtete Frauenarbeit, indem er den Dienerinnen der Omphale beim Garnspinnen half.
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Die Geschichte ist seit dem 1 . Jh. v. Chr.4 vor allem in der ro mischen Rezeption zum Inbegriff fur die Verweichlichung des Mannes geworden, welcher aus ubergrofSer Liebe seine mann liche Rolle aufgibt und sich dadurch lacherlich macht.5 In der Rezeption der Fruhen Neuzeit sind zwei Interpretationsstrange auszumachen, welche beide in Zedlers Konversationslexikon 1740 folgendermafSen angesprochen werden: »Inmittelst soll seine Liebe gegen sie so heftig gewesen seyn, dafS er auch viele unanstandige Dinge furgenommen, und also die Finger mit giildenen Ringen ausstaffiret, die Haare sich in Locken legen lassen, mit Gold gezierte hohe Schuh angezogen, Frauen-Klei der angeleget, und sich endlich gar an den Rocken gesetzet, und mit gesponnen; wogegen denn die Omphale wohl ehe seine Lo wen-Haut urn, und seine Keule in die Hand genommen haben solI. [ . . . J Allein einige ziehen dieses alles [d.i. Kleidertausch, Rol lentauschJ in Zweifel, und wollen nur, dafS Omphale sich in den Herkules verliebet, weil sie so viel von dessen sonderbaren Tha ten gehoret, weswegen sie ihn denn auch zu sich kommen las sen, und weil sie dieser nicht weniger schon, als sie ihn tapfer befunden, habe er sich von ihr so fern bemeistern lassen, dafS er gethan, was er gemercket, das ihr angenehm sey, ohne dafS er jemals in ihren Diensten gestanden, oder ihr Sclave gewesen sei. Dem sey aber, wie ihm wolle, [ . . . J und Hercules bleibet da bey ein Exempel dessen, dafS die Liebe auch die grosten HeIden zu ihren unanstandigen Dingen bringen kan.«6 Zum einen wird betont, dafS Herkules zu »unanstandigen Dingen« veranlafSt wurde, dafS er also seinen Stand als Mann und als Krieger aufgegeben habe, indem er sich zur Frau und zum Sklaven machen liefS; zum anderen wird die Moglichkeit eingeraumt, Herkules und Omphale gingen eine >neutrale< un hierarchische Liebesbeziehung ein ohne Aufgabe der ihnen ge mafSen Rollen. Wie diese Deutungsansatze in Bilder umgesetzt wurden, soll im Folgenden gezeigt werden.
2.1. Der unmannliche Mann Es sind zwei nebeneinander existierende ikonographische Va rianten zu unterscheiden: einerseits das aufeinander konzen trierte Paar und andererseits Herkules, umringt von mehreren
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Frauen. Die Darstellung des Paares stellt das gelaufigere Motiv dar. Zwei Beispiele dafur seien mit einer Federzeichnung von Niklaus Manuel Deutsch und mit einem Gemalde von Bartho lomaus Spranger vorgestellt. Das Kupferstichkabinett Basel ist im Besitz von zwei Serien a sechs kleinformatigen Holztafelchen des Berner Kiinstlers Ni klaus Manuel Deutsch (wahrscheinl. 1484-1530). Die Tafelchen sind beidseitig mit Silberstiftzeichnungen versehen und dien ten wohl als Mustersammlung fUr die Malerwerkstatt, weshalb sie nachtraglich zu zwei leporelloartig gebundenen Buchlein zusammengebunden wurden. Abgebildet sind ornamentale und figiirliche Darstellungen, u. a. reine Groteskenornamente, Landsknechte, Heilige, Kostumzeichnungen, Frauenakte. Ein Tafelchen, welches in technischer Hinsicht besonders sorgfaltig ausgefUhrt ist,? zeigt auf der Vorderseite ein im fruhen 16. Jahr hundert verbreitetes Thema »Tod und Madchen« , auf der Ruck seite eine Darstellung von Herkules und Omphale (Abb. 1).8 Beide Figuren sind stehend wiedergegeben: Herkules befin det sich links im Bild, Omphale rechts mit dem Rucken zum Betrachter. Beide tragen Frauenkleidung. Herkules' Kleid ist ihm zu eng und zu kurz, das Brusthaar quillt aus dem Aus schnitt, er >platzt formlich aus allen Nahten<. In seiner rechten Hand halt er untatig eine Spindel, in seiner linken, verdeckt durch Omphale, einen Spinnrocken. Das Motiv des Spinnens wird noch verstarkt durch die in den ornamentalen Bildhinter grund eingeschriebene Spindel. Omphale tragt eine Mischung aus Frauenrock und mann lich-weiblichem Warns. Eindeutig mannliche Attribute jedoch sind der Dolch an ihrem Gurtel und die Form des uber ihren Rucken hangenden Federbaretts. Dadurch wird eine Kurzhaar frisur sichtbar, die fur Frauen des 16. Jahrhunderts undenkbar ist. Statt der Herkules'schen Keule halt sie in ihrer rechten Hand einen Stab, sei es das Ende einer Fahnenstange oder eines Spie Bes. Sie wird also mit Elementen der Landsknecht-Tracht aus gestattet und damit als Soldat oder Krieger definiert. Die her kulischen Kampfereigenschaften erfahren so eine Dbertragung in das zeitgenossische Ambiente. Herkules tragt ein fur die Zeit urn 1517 eher alterrumliches Kleid, dessen gezattelte Flugelarmel der Mode des vergange nen Jahrhunderts entstammen zu scheinen, sehr fein und weib lich mit groJ5em Dekollete, Saumborte, Stickerei und Schleifen.
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Omphales Gewand ist deutlich schlichter gehalten, hochge schlossen und mit den modischen Puffarmeln auf der Hbhe der Zeit. » Modern« und » alterhimlich« sind Eigenschaften, die in der Kunst des 16. Jahrhunderts haufig geschlechtsspezifisch eingesetzt werden: in der Regel werden Frauen oder die weib liche Sphare mit Tradition, Manner mit Innovation in Zusam menhang gebracht, eine Gegenuberstellung, die hier umge kehrt wird. Ein Rollentausch wird jedoch nicht nur durch das » cross dressing« vorgenommen. Mindestens genauso augenfallig ist die Kbrperhaltung der Personen. Herkules' enge Beinstellung, der ubertrieben vorgeschobene, eine Schwangerschaft symbo lisierende Bauch sowie die eng am Leib entlang gefiihrten Arme verbildlichen eine typisch weibliche passive Kbrperhaltung, die in zahlreichen Portrats und Gruppenbildnissen sowie in Marien- und Tugenddarstellungen vorgepragt ist. Omphale hingegen steht mit dem Rucken zum Betrachter in einer Schritt stellung; der rechte Arm ist weit ausgestreckt, so daiS die Dre hung Bewegung und damit mannliche Aktivitat suggeriert. Beibehalten bleibt die traditionelle Rechts-Links-Bedeutung. Abgeleitet aus sakralen Zusammenhangen, in denen rechts und links bildimmanent definiert wurden, indem die hbherwertige Person oder Szene zur Rechten Christi oder Gottes, fur die Bild betrachtenden also links im Bild erschien, wurde auch in Dop pelportrats oder Pendantbildnissen der Mann als der hierar chisch Hbherstehende in der Regel links (heraldisch rechts) dar gestellt.9 Die Umkehrung zahlreicher als mannlich und weiblich defi nierter Bildelemente dient in diesem Falle der Komik. Die kari kierenden Zuge bei Herkules kulminieren in der ornamentalen Lockengestaltung und im ubertrieben abstehenden Spitzbart, der fast in das Spinnfaden-Ornament des Hintergrundes uber geM und der ihn zu einer Witzfigur degradiert.lO Diese Auffas sung stellt die Herkules und Omphale-Geschichte in den Zu sammenhang der um 1500 sehr verbreiteten » Weibermacht« Themen,11 deren drastische Komik in der vbllig uberzogenen Verkehrung der Geschlechter- und Hierarchieordnung liegt und damit ein Bild » verkehrter Welt« hervorruft. Ahnlich wie bei Deutsch lassen sich in einem Gemalde, wel ches Bartholomaus Spranger (1546-1611) um 1585 als Kabinett stuck fur Rudolf II. schuf, zwei scheinbar widersprechende Ten-
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denzen festmachen (Abb. 2).12 Herkules' Korperlichkeit selbst ist betont mannlich attribuiert: muskulOs, mit weit ausholenden Bewegungen, grofSen Handen und FilfSen, hat er sein rechtes Bein vorgestreckt. Indem der FufS sich optisch zwischen Omphales Beine schiebt, wird ein sexueller Machtgestus ange deutet. Diese mannliche Symbolik wird konterkariert durch die Komposition und den Kleidertausch. Herkules ilbernimmt nicht nur die Sitzhaltung einer Herrscherin auf einem kostba ren Thronsessel in der linken Bildhalfte, sondern auch die an tikisierende Frauenkleidung: ein changierendes Seidenbrokat Gewand und Schmuck in Form von Haardiadem, Perlenohr ring, Fingerring, Armband und Agraffen. Er wird zu Omphale. Den diagonal das Bildfeld teilenden Spinnrocken halt er zwi schen den Beinen, die Spindel in der weit nach unten gestreck ten Hand. Ein feiner Faden verlauft zwischen den grofSen Fin gern. Der wuchtige Korperbau macht das AusmafS der Lacher lichkeit erst richtig deutlich. Omphale ist als nackter Rilckenakt in der Pose eines Heroen stehend rechts im Bild gezeigt. Das Lowenfell hat sie ilber Vor derseite und Schulter drapiert, der Lowenkopf dient als Haube. In aktivischer Schrittstellung, die Keule dynamisch aus der Bildtiefe herausragend geschultert, nimmt sie Blickkontakt zum Bildbetrachter auf. Scheinbar androgyn, ohne sichtbare primare Geschlechtsmerkmale, ja selbst ohne Andeutung einer weiblichen Frisur, war filr die Zeitgenossen Sprangers dennoch durch den Korperbau, die weifSe Hautfarbe und das Fehlen aus gepragter Muskulatur deutlich erkennbar, dafS es sich urn eine Frau handeln muK 13 Die Szene ist in einem Innemaum angesiedelt und wird von einem Samtvorhang ilberfangen, welcher von Amor (erkennbar am Band seines Pfeilekochers) ilber Herkules geoffnet wird. Die Hoheitsform des Pfeilers am rechten Bildrand ist Omphale zu geordnet. Hinter Herkules ist die Figur einer alten Frau14 er kennbar, deren Spottgestus und herausgestreckte Zunge von ihm nicht wahrgenommen werden kann. Das Geschehen ist sehr stark auf den Bildbetrachter ausge richtet: Omphales auffordernder Blick, Herkules' devot verun sicherter Blick sowie die verspottende Geste der Assistenzfigur fordern geradezu auf, sich in das Bildgeschehen zu begeben. Dem Betrachter wird die - in anderen Bildern Sprangers reich lich zur Schau gestellte - Ansicht weiblicher Reize vorenthalten.
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Und auch Herkules sieht nur Lowenfell, wo er Erfreulicheres erwarten konnte. Spranger steigert die Uicherlichkeit des ver liebten Mannes, indem er einen Topos aus anderen Bildthemen tibemimmt: der Mann, der gerahmt wird von zwei Frauen, de ren eine jung und schon, die andere alt und halSlich iSt.15 Damit wird die verderbenbringende Macht aller Frauen angedeutet, die sich gleichsam als Komplizinnen gegen den Mann schlecht hin verschworen haben.16 Bilddominierend ist der Spinnrocken, das weibliche Attribut schlechthin. Die Arbeit des Spinnens gilt als ureigenste Tiitig keit der Frau, Zeichen ihrer Tugend und ihres FleilSes. Der Spinnrocken wird in der Bildsprache primar positiv gedeutet, etwa in Darstellungen des ersten Menschenpaares, die Adam mit Hacke und Spaten als Bauer und Eva als Mutter charakte risieren oder in Vorstellungen der Heiligen Familie bei der Ar beit, welche Joseph in der Tischlerwerkstatt und Maria spin nend zeigen. Seit Platon wird jedoch auch die unkontrollierbare Macht der Frauen durch das Spinnen symbolisiert, eine Vorstel lung, die in der Bildkunst des 16. Jahrhunderts den Spinn rocken haufig negativ als Zeichen der weiblichen Herrschaft tiber den Mann deutet.17 Die Stellung des Spinnrockens zwischen Herkules' Beinen macht die Verweiblichung des HeIden besonders deutlich - in zahlreichen Bildem des 16. Jahrhunderts ist diese Stelle etwa durch ein Schwert phallisch belegt. Das Pendant Keule, welches als einziges Element Bildtiefe vermittelt und aus dem Bild her aus weist, wird von Omphale >auf die leichte Schulter genom men'. Die Aneignung des Phallus-Symbols durch eine Frau ist vollzogen.18 Die beiden vorgestellten Beispiele verkorpem wie zahlreiche ahnliche Darstellungen das Muster des »weibischen« Mannes. Unmannlichkeit wird dabei nicht durch einen verweiblichten Korper symbolisiert - im Gegenteil: je muskuloser und massi ver der Korperbau des HeIden, desto deutlicher wird die Komik, die sich aus dem Kontrast des von einer zarten schwa chen Frau dominierten Muskelprotzes ergibt. Extrem konstru ierte GrolSenunterschiede finden sich etwa bei Spranger (stellt man sich den HeIden aufrecht stehend vor, wtirde sein Bein bis zur Mitte des weiblichen Rtickens reichen) oder auf einem italienischen Kupferstich des 17. Jahrhunderts, 19 der das Un gleichgewicht der Geschlechter tiberdies dadurch pointiert, daIS
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Omphale den riesigen Herkules wie ein Hundchen am Band hinter sich herfiihrt. Unmannliches Verhalten wird vielmehr durch die Umkeh rung der von jedem Kunstler beherrschten tradierten Regeln der Korpersprache und der Komposition verbildlicht. Elemente wie das Sitzen-Stehen-Motiv, niedergeschlagener oder betrach terorientierter Blick, enggefuhrte oder raumgreifende Gestik sowie die Zuordnung zu Natur oder Kultur im Hintergrund (s. u.) waren bereits ausreichend, urn hierarchische Unterschie de im Bild deutlich zu machen. Der Kleidertausch, der Wechsel geschlechtsspezifisch konnotierter Attribute und die Einfiih rung von Assistenzfiguren erzeugt dariiber hinaus eine plaka tive Wirkung und steigert die Drastik und die Komik der Aus sage. Eine sehr abgeschwachte Negativdeutung des Mannes lafSt sich in einer Federzeichnung Hans Baldung Griens (1484/851545) erkennen (Abb. 3).20 Schon der weitgehende Verzicht auf das Motiv der Kleidung, wie es im Zuge der zunehmenden An tikenrezeption modern wird, zwingt die Kiinstler dazu, starker mit der Korpersprache allein zu argumentieren. Baldung Grien stellt jedoch die ideale Korperlichkeit von Mann und Frau nicht in Frage. Weder Korperbau noch Korperhaltung und Positio nierung der Personen innerhalb des Bildes verweisen auf den unziemlichen Rollentausch. Herkules befindet sich links im Bild, er iiberragt Omphale, sein vollig nackter Korper ist mus kulOs durchgebildet und frontal auf den Betrachter ausgerich tet. Seine breitbeinig offene Haltung mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen, die einen Spinnfaden halten, aber nicht spinnen, entspricht einem mannlichen Muster. Entspre chend iibernimmt Omphale die tradierte weibliche Korperhal tung und -gestalt: sie ist sehr weiblich vorgestellt mit einer scho nen geschmiickten Frisur und einem engen Halsband, ein leich tes Lacheln auf den Lippen. Mit niedergeschlagenem Blick sitzt sie scheinbar unterwiirfig, fast zusammengekauert, und stiitzt den Spinnrocken fiir Herkules. In einer frauenuntypischen Pose hat sie die Beine iibereinandergeschlagen und versperrt damit dem Bildbetrachter einen Blick zwischen dieselben. Das Motiv der Beinverschrankung bei einer Frau wird im 16. Jahrhundert symbolisch als Liebesmotiv gedeutet21 und bezeichnet wohl den sexuell aktiven Part und die Verfiihrungskunst der Ompha Ie.
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Der Baum am linken Bildrand, dessen begrunter Ast auf Her kules' Kopf weist, tragt eine Inschrifttafel mit einem lateini schen Distichon: »Quid non vincat amor torvi domitoris (?) Leo nis / mollia virtuti pensa trahente manu.«22 Die einzige bild sprachliche Andeutung eines Tausches von geschlechtsmaBig besetzten Zeichen erlaubt sich Baldung Grien genau mit diesem Baum. Indem er Herkules darunter plaziert, ordnet er dem Mann die traditionell weibliche Verknupfung mit Natur zu, wahrend der Frau der Vorhang als Abbreviatur eines Balda chins, einer herrscherlichen Nobilitierung zukommt. Diese Durchbrechung der Norm wird gleichzeitig abgeschwacht, in dem die Darstellung dem gangigen Typus des Landschaftsbil des insofern verhaftet bleibt, als der Frau ein durch Busche, Hecken, Hohlen oder eben auch Vorhange abgetrennter Raum zugewiesen wird und sie so in den ihr gemaBen Innenraum zuruckgeholt wird. Herkules hingegen wird der freie Ausblick in die Ferne gewahrt, der den den Mannern zugestandenen tat sachlichen weiten Handlungsraum symbolisiert.23 Baldung Grien bedient sich hier einer feinen Ironie, die durchaus ambivalent gedeutet werden kann. Die lydische Ko nigin agiert korpersprachlich so ubertrieben untergeordnet, daB die ihr zugeschriebene Verfuhrungsmacht unglaubwurdig wird. Der betonte Baum mit dem drastisch abwertenden Vers stellt einen so groBen Kontrast zu dem klassisch konstruierten Liebespaar, dem nichts Lacherliches anhaftet, dar, daB man ver unsichert wird, ob die Handlung des Paares oder die zugrun deliegende Geschichte kritisiert wird. Auch in anderen Paar darstellungen entwickelte der humanistisch gebildete Kunstler eine eigene, mannliche und weibliche Sinnlichkeit positiv deu tende Sicht des Geschlechterverhaltnisses.24 Eine soIche Inter pretation verkorpert den leisen Humor voller feinsinniger An deutungen, die im Gegensatz zu dem derb-plakativen humori stischen Typ steht und sehr viel seltener ins Bild umgesetzt wurde.
2.2. Der versklavte Mann Der zeitlich parallel entwickelte Bildtyp des spinnenden Her kules inmitten der Sklavinnen oder Dienerinnen Omphales setzt einen anderen Akzent in der Bildaussage. Diese Variante
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geht von der Unschuld des Mannes aus und generalisiert das weibliche Geschlecht zum Unterdrticker des mannlichen Ge schlechts, da haufig Frauen jeden Alters und Standes als Kom plizinnen der Omphale erscheinen. Betont wird der Machtver lust des Mannes. Lucas Cranach d. A. (1472-1553) fertigte in den 1530er Jahr�n zahlreiche Varianten des Herkules und Omphale-Themas. Al lein von der Braunschweiger Fassung (Abb. 4)25 existieren noch mindestens flinf weitere Exemplare.26 Daneben sind zwei ahn liche Versionen von ihm27 und eine weitere von seinem Sohn Hans28 bekannt, die sich durch die Anzahl der dargestellten Personen oder durch den Wortlaut des lateinischen Verses leicht unterscheiden. Herkules ist dargestellt inmitten der lydischen Madchen, die ihn zum Spinnen anhalten. Die Geschichte ist durch die gewahlte zeitgenbssische Kleidung aktualisiert wor den. Herkules, zentral im Bildmittelpunkt, ist sitzend inmitten von vier Frauen wiedergegeben. Alle Frauen sind hbfisch ge kleidet mit grofSztigigen Dekolletes und feinen Kopfschleiern. Zwei von ihnen wenden sich Herkules zu und drapieren gerade ein Tuch urn seinen Kopf. Dieses stellt das einzige Symbol weib licher Kleidung dar (die Kette, die er tragt, gibt es auch auf mannlichen Portrats).29 Es findet also kein Kleidertausch statt und im eigentlichen Sinne auch kein Rollentausch, denn keine der Frauen tragt die Keule oder ein mannliches Kleidungsattri but. Die Frau ganz rechts im Bild, ausgezeichnet durch das ftir deutsche adlige Damen typische Barett, halt den Spinnrocken und eine Spindel und kbnnte deshalb mbglicherweise als Omphale, die Herrin tiber ihre Hofdamen, betrachtet werden. Ein erlauternder lateinischer Vers am oberen Bildrand unter sttitzt die Bildaussage: HERCVLEIS MANIBVS DANT LYDAE PENSA PVELLAE / IMPERIVM DOMINAE FERT DEVS ILLE SVAE. / SIC CAPIT INGENTIS ANIMOS DAMNOSA VOLVP TAS / FORTIAQVE ENERVAT PECTORA MOLLIS AMOR.30 Der zentrale Gedanke liegt also nicht wie bei Niklaus Manuel Deutsch und Bartholomaus Spranger in der Ubernahme der weiblichen Rolle, sondern in der Umkehrung des Herrschafts verhaltnisses, das Herkules zu einem Sklaven von Frauen macht. Herkules ist von Frauen umdrangt und wird fOrmlich um klammert von ihren Armen, die seinen Kbrper mehrfach tiber-
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schneiden. Er schaut bedruckt und fiihlt sich sichtlich unwohl. Die Frauen hingegen lacheln andeutungsweise, und die hinter ihm stehende nimmt Blickkontakt mit den Bildbetrachtenden auf und macht diese dadurch zu geheimen Verbilndeten. Die Verbildlichung der Unterordnung erfahrt eine Konzentration im Kopf des Mannes: er befindet sich im Bildzentrum, und aIle Hande fiihren auf ihn zu. Nicht zufallig wird Herkules' Haupt mit einem schlichten Tuch bedeckt, einer Kopfbedeckung, die im hbfischen Bereich - und insbesondere im Kontrast zu den abgebildeten Hauben und Huten der dargestellten Frauen - ei ne Magd charakterisiert. Cranach kommentiert die Geschichte nicht nur durch den Vierzeiler, sondern durch das von ihm haufig verwendete Sym bol des aufgehangten Rebhuhnerpaares in der linken oberen Bildecke. Das Rebhuhn wird in der popularen, die mittelalter lichen Kiinste maBgeblich beinflussenden Naturdeutung »Phy siologus« als Symbol des Teufels gesehen, der die Unmilndigen einfangt, da der brunftige Rebhahn dem Rebhuhn das Gelege zerstbrt. Cranach exemplifizierte verschiedene Deutungsmbg lichkeiten des Rebhuhns und verwendete sie in Gemalden ero tisch-moralischer Thematik. Als Symbol sinnlicher Liebe (der » Physiologus« erwahnt die ungezugelte Libido des Rebhuhns) erscheinen sie in seinen Darstellungen von Herkules und Omphale, Samson und Delila, Die QueIlnymphe und Das gol dene Zeitalter.31 Die »verderbliche Wollust« wird allein durch das Symbol Rebhuhn thematisiert, nicht jedoch etwa durch Nacktheit oder Verfiihrungskunst seitens der Frauen. Auch dies ist ein Hinweis darauf, daB in diesem FaIle die sinnlich-sexuelle Komponente nachgeordnet ist und statt dessen die Angst vor dem Verlust der (politischen) Herrschaft mit dem Verlust von Mannlichkeit gleichgesetzt wird. Der Wittenberger Poet Philipp Engelbrecht aus Engen (Phil ippus Engentinus) schrieb anlaBlich der Wiederverheiratung Herzog Johanns von Sachsen mit Margarethe von Anhalt (1513 auf SchloB Torgau) ein lateinisches Hochzeitsgedicht, welches 1514 publiziert wurde. Darin werden die Malereien Cranachs geschildert, die als Wand- und Deckenmalereien, uberwiegend auf Leinwand, fur das Brautgemach angefertigt wurden. Ver mutlich an den Wanden befanden sich mythologische Darstel lungen, u. a. das Paris-Urteil, die Schiindung des Marsyas, Tri ton, Venus, aber auch Herkules: »Unter den Maonischen [lydi-
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schen] Madchen solI er einst gesessen haben und hier sitzt er auch, von Liebe gebrochen; er, der einst das Himmelsgewblbe trug, fiirchtet, mit der Weiberhaube bekleidet, die Peitsche der Herrin (Omphale). Dazu stellte der geistvolle Kunstler den machtigen Salomo, als Beispiel, dass einst die Frauen alles ver mochten. An letzter Stelle ist die geschandete Rbmerin. Das Schwert ist mit Blut bespritzt, die einst sternahnlichen Augen sind halbgebrochen, das Gewand Lucretias's gleitet von dem gewblbten Busen; der kbnigliche Liebhaber war bei diesen Rei zen der Verzeihung nicht unwerth.« 32 Obwohl sich die zitierte Aussage nicht auf die hier besprochene Variante bezieht, lassen sich dennoch mit einiger Sicherheit zwei Aspekte ablesen, wel che auch fur fast aIle anderen Herkules und Omphale-Darstel lungen Gultigkeit haben: Zum einen handelt es sich urn ein na hezu ausschlieBlich hbfisches Thema, zum anderen ist es offen bar im Kontext von Hochzeiten verwendet worden. Herkules verkbrpert, wie etwa auch Apollo, eine derjenigen mythologischen Gestalten, die in vielfaltiger Weise als Fursten ideal fungierten. Die Verbildlichung von Herrschertugenden wie Starke, Mut, Kampfeskraft und generell der vita activa, aber auch negativ gedeuteter Motive (der trunkene Herkules, Her kules und Omphale) lieBen in ihm die Projektionsflache wider spruchlicher Mannlichkeitsmuster entstehen. In seinem Bild vereinen sich nicht nur die wUnschens- und nachahmenswer ten mannlichen Tugenden, sondern auch die Anfechtungen und Gefahren, denen ein Herrscher ausgesetzt ist. Dies wird zugespitzt ausgedruckt in dem Motiv Herkules am Scheidewe ge zwischen Tugend und Laster. Daher erscheint es folgerichtig, wenn die Angst vor dem sich lacherlich machenden Mann ebenfalls durch diesen HeIden und raumlich mbglicherweise direkt neben dem vorbildhaften Herkules dargestellt wird. Herkules als Figur war dem hbfischen Bereich vorbehalten, nicht jedoch das Motiv des weiblichen Strebens nach dem (Ehe-) Regiment. Gerade im 16. Jahrhundert erhalt die literarisch alte re Metapher des Kampfes urn die Hose eine neue Bildform. In zahlreichen Graphiken bedroht eine Bauers- oder Burgersfrau ihren Mann, oft mit dem Spinnrocken (!), urn ihm die Hose oder Unterhose (Bruche), das Symbol seiner Uberlegenheit, zu ent wenden und diese selbst anzuziehen.33 In einer dem burgerli chen Zielpublikum angepassten Bildsprache spiegelt das Ho senzankthema die offenbar allen Standen gemeinsame kollek-
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tive Angst vor der Aushohlung der herrschenden Gewaltver teilung. Aus den Fallen, in denen Naheres zu den ursprunglichen Kontexten der Herkules- und Omphale-Bilder bekannt ist, laiSt sich erkennen, daiS diese gerne im Zusammenhang mit Hoch zeitsausstattungen oder -geschenken verwendet wurden. Dar uber hinaus sind in vielen Fallen Pendantbilder oder ganze Se rien auszumachen, die den Geschlechterrollentausch ergan zend oder konterkarierend kommentieren. So ist im Torgauer SchloiS die Zusammenstellung der Themen aufschluiSreich: mit >Herkules unter den Dienerinnen der Omphale<, >Salomos G6t zendienst< und der Geschichte der romischen Tugendheldin Lucretia werden eine mythologische, eine biblische und eine historische Geschichte erzahlt, ein beliebtes Mittel, urn die All gemeingultigkeit und die Historizitat der intendierten Aussage zu unterstreichen. Verbindendes Element ist die Angst vor dem Verlust zentraler Herrschaftsbereiche: Sollte der Mann sich aus Liebe einer Frau unterordnen, so drohen ihm Verlust der poli tischen Macht (Herkules als Sklave), Verlust der Rechtglaubig keit (Salomo laiSt sich durch seine heidnischen Frauen zum Got zendienst verfiihren) und Verlust der Ehre (die vergewaltigte Lucretia begeht Selbstmord, urn die Ehre ihrer Familie wieder herzustellen). Scheinbar wurde es fur notig erachtet, jungen Ehemiinnern soIche Warnungen drastisch vor Augen zu fiihren, waren diese Darstellungen doch im Brautgemach, wenn nicht sogar am Brautbett angebracht.34 Eingebunden in ein ganzes System humanistischer Ethik, dienten diese Themen der » sitt lichen Gestaltung des Lebens«.35
3. Aufwertung der Liebe Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ist die vorherrschende Inter pretation in den bildlichen wie in den schriftlichen Darstellun gen diejenige von der verderbenbringenden Liebe. So formu liert Noel Le Comte, Autor einer weit verbreiteten Sammlung mythologischer Fabeln noch 1604: » voila donc ce jadis invinci ble champion faisant pour l'amour d'une putain beaucoup de chases indignes de sa qualite. «36 Ab der Jahrhundertmitte laiSt
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sich eine Verschiebung in der Gestaltung des Bildmotivs und damit eine inhaltliche Neuinterpretation ausmachen. Zumin dest so weit der erhaltene Objektbestand Ruckschliisse zuHifSt, ist deutlich erkennbar, dafS der versklavte Typ des Herkules in mitten der Dienerinnen von Omphale ab der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts nur noch in Ausnahmefallen Verwendung findet.37 Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die Liebe als Verursacherin der mannlichen Erniedrigung in der Regel nicht im Bild thema tisiert, sondern nur indirekt angesprochen uber andere Medien wie beigefugte Verse oder durch den Kontext der Prasentation. Fur die Mehrzahl der erhaltenen Darstellungen lafSt sich ein Pendant oder die Einbindung in eine Serie nachweisen. Die Bil der beziehen sich aufeinander, bilden ein Positiv-, ein Negativ beispiel, zeigen die Auswirkungen der Liebe auf Frauen und auf Manner, oder kommentieren verschiedene Formen der Lie be. So weit die Auftragslage rekonstruiert werden kann, lafSt sich erkennen, dafS soIche Serien als Teil der hofischen Raum ausstattung oder als Geschenke anlaf.Slich von Hochzeiten ent standen sind. Herkules verkorpert also einen ganz bestimmten Typ mann lichen Verhaltens innerhalb eines grofSeren Zusammenhanges normativer Bildsprache in einem Diskurs uber Liebe und Ehe. DafS im Laufe des 1 7. und in der ersten Halfte des 18. Jahrhun derts das Thema Liebe auch im Bild selbst auftaucht und wel che Neuinterpretation damit fur die Mannlichkeit des Herkules eingeleitet wird, soll im Folgenden erlautert werden. Der flamische Kiinstler Jan Sons (auch Giovanni Fiammingo, urn 1548-1611) stand im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts in den Diensten der Farnese und schuf u. a. fur den Hof von Parma einen Zyklus von (mindestens) elf Deckengemalden unter schiedlicher Formate mit Darstellungen von Gotterliebschaf ten.38 Darunter befinden sich vier Ovalbilder, die moglicherwei se die Ecken des Deckenspiegels zierten. In jedem dieser Ovale ist ein mythologisches Liebespaar bildfullend vor einen Land schaftshintergrund gesetzt: Bacchus und Ariadne, Venus und Mars, Apollo und Daphne und Herkules und Omphale (Abb. 5).39 In dieser Deutung der Herkules und Omphale-Thematik sind fast aIle Elemente des Rollentausches vermieden worden. Herkules befindet sich rechts im Bild, Omphale links. Dies be-
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deutet nicht etwa, wie es noch im 16. Jahrhundert der Fall ge wesen ware, eine Umkehrung der traditionellen Hierarchien im Bild, sondern im Laufe der Jahrhunderte ist die urspriinglich christlich bestimmte Bedeutungsrichtung iiberlagert worden von der sich aus der okzidentalen Schtift- und Bildkultur erge benden Lesrichtung. Rechts signalisiert nun und in der Folge zeit bis heute aktiv, agierend, mannlich.40 Ein Kleidertausch hat nicht stattgefunden. Herkules sitzt auf seinem Lowenfell, und die Keule liegt zu seinen (!) FiiBen. Der einzige korpersprachliche Hinweis auf ein verkehrtes Ge schlechterverhaltnis besteht darin, daB Omphale stehend und Herkules sitzend gezeigt wird. (Schon diese kleine Andeutung reichte aus, urn den Geschlechterrollentausch deutlich zu ma chen.) Jedoch beugt sich die lydische Konigin liebevoll zu ihrem Geliebten herab. Sie legt ihren linken Arm urn seine Schultern und halt den Spinnrocken, von dem Herkules einen Faden zieht. Sein Blick ist konzentriert, als wolle er das Spinnen erler nen. Der Kopf des Lowenfells befindet sich rechts neben dem HeIden und wirkt, als habe sich ein lebender Lowe zum Schla fen gelegt, ein deutliches Zeichen fUr eine durch die Liebe ge wahrte Ruhepause, die den Krieger jedoch nicht davon abhal ten konnte, jederzeit wieder aktiv zu werden. Hier ist keine Spur von Lacherlichkeit zu finden. Auch der Landschaftshin tergrund entspricht dem >natiirlichen< Muster insofern als die Frau von einer undefiniert geschlossenen Buschwand hinter fangen wird und dem Mann ein Ausblick in den Himmel, in die Ferne gewahrt wird. Hier laBt sich eine Tendenz erkennen, die in der Folgezeit in immer starkerem AusmaBe die Erzahlung bestimmt: das Mo ment der Unterordnung des Mannes unter die Frau verliert an Bedrohlichkeit. Es scheint nicht mehr notwendig zu sein, die Angst vor dem Machtverlust und damit die Angst vor Verlust an Mannlichkeit durch Bilder zu bannen. Vielmehr wird einem neuen Gedanken Platz gemacht, der es erlaubt, Liebe, Gefiihl und Mannlichkeit miteinander zu vereinbaren. Mit seiner 1 724 gemalten und 1725 im Salon von Paris aus gestellten Version des mythologischen Paares schuf Fran<;:ois Lemoyne (1688-1 737) ein Erfolgsmodell (Abb. 6).41 Auf den er sten Blick scheint die Komposition Elemente verschiedener Vorbilder zu iibernehmen. So ist die Figurenposition des sitzen den Mannes rechts und der stehenden Frau links im Bild sowie
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das Motiv der den HeIden umarmenden Omphale vergleichbar der Ausfiihrung von Sons (Abb. 5). Das unter Kunstlern stark rezipierte Fresko von Annibale Carracci fUr den Palazzo Farne se (begonnen 1597, vollendet 1 608)42 liefert einen ahnlichen Ausblick in die Landschaft mit dem den rechten Bildrand be grenzenden Baum. Der halb liegend und in Verkurzung wie dergegebene mannliche Kbrper findet sich so bereits auf dem urn 1625/27 entstandenen Gemalde von Laurent de la Hyre.43 Neu ist jedoch die innige Zuwendung der Gesichter. Die ste hende Omphale ist nur leicht erhOht, die Kbpfe der beiden be finden sich fast auf einer Hbhe, und die Ruckenlage des Her kules44 suggeriert ein entspanntes Sich-gehen-Iassen im Arm der Frau. Genau im Zentrum des Bildes befindet sich die (ver deckte) Scham des Mannes und verkbrpert, so wie bei Sons der Lbwenschwanz an dieser Stelle, ganz wbrtlich das Zentrum der Mannlichkeit. Es sei daran erinnert, daIS in den >unmannlichen< Herkules-Darstellungen der Spinnrocken haufig als >Phalluser satz< im Mittelpunkt des Bildes steht. Bezeichnenderweise ver liert der Spinnrocken diese Konnotation und damit auch die symbolische Bedeutung der Verweiblichung des Mannes. Bei Sons halt Omphale den Spinnrocken, bei Lemoyne halten ihn beide gemeinsam. In einem Gemalde von Giovanni Battista Piazzetta45 spinnen Herkules, Omphale und Amor zu dritt, wahrend in Jacques Dumont Le Romains46 Version Putti die Ar beit alleine ubernehmen. In anderen Fallen, so bei Carracci, ent fallt der Spinnrocken ganz und wird durch ein Tamburin47 er setzt. 1m Marz 1725 erschien ein Gedicht von Monsieur Moraine im » Mercure de France«, welches Lemoynes Gemalde anlatSlich seiner Ausstellung im Salon feiert und kommentiert. Herkules erklart darin, daIS die burleske Episode des Transvestismus nicht wirklich stattgefunden habe und daIS der Zweck dieser Fiktion innerhalb des Mythos darin liege, die heilsame und de mokratische Macht der Liebe zu illustrieren. » L'Amour seul donne un caractere / De bonne-foi, d'humanite: / Vainqueur de plus d'une chimere / Il introduit par tout l'heureuse ega lite.«48 Eine solche Auslegung der Herkules und Omphale-Ge schichte steht in scharfem Kontrast zu den bis dato ublichen, die negativen Seiten der Liebe betonenden Deutungen. Zu Be ginn des 18. Jahrhunderts wird der Liebe nun eine den Men schen, genauer den Mann lauternde, sinnlich und sittlich ver-
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feinernde Kraft zugesprochen, die durch die Frau aktiviert wird. Der von Leidenschaften getriebene Mann muiS durch das Gefiihl der Frau im Zaum gehalten werden.49 Nicht zuHilli g nehmen Amor oder Putti und Amoretten einen immer wichtigeren Platz innerhalb der Bilder ein. Haben sie anfanglich eher eine hinweisende Funktion (Spranger, Carrac ci), indem Blickkontakt zum Bildbetrachter hergestellt wird und diesem im Zeigegestus die nachteiligen Auswirkungen der Liebe vorgefiihrt werden, so nehmen sie in zunehmendem Ma iSe am Bildgeschehen selbst teil. Meist sind sie Herkules zuge ordnet und >helfen< ihm beim Spinnen oder halten den Spinn rocken.50 Lemoyne gesellt seinem HeIden Amor zur Seite, der ihm eine Schale mit Konfekt (!) anbietet, auch dies wohl ein Zeichen fiir eine hofisch-zivilisierte Lebensweise.51 Mit der di rekten Koppelung von Amor und Herkules wird deutlich ge macht, daiS der Mann der Liebe (als Abstraktum) verfallen ist und nicht der Frau. Die negative Deutung der Frau als VerfUh rerin und Verderberin wird dadurch abgeschwacht.
4. Ein Sanderjail: die keusche Liebe In dem einzigen mir bekannten Beispiel eines von einer Frau in Auftrag gegebenen Herkules und Omphale-Bildes (Abb. 7) wird die Rolle der Omphale sogar positiv interpretiert. Der Kupferstich Michel Dorignys (1616-1665) bildet aller Wahr scheinlichkeit nach das Gemalde ab, welches die Witwe des franzosischen Konigs Marie de Medicis (1575-1642) fiir den Platz iiber ihrem Kamin im Palais du Luxembourg bestellt hat te.52 Aus einem Inventar von 1706 geht hervor, daiS der franzo sische Hofmaler Simon Vouet (1590-1649) zwei Bilder53 schuf, davon eines » un tableau representant Hercule qui file aupres d'Omphale, qui tient une fleche et un arc, et deux petits amours au dessus; figures comme nature« .54 Diese Beschreibung stimmt sehr genau mit der vorliegenden Graphik iiberein: tatsachlich halt Omphale einen entspannten Bogen und einen Pfeil in ihrer Hand.55 Der Kupferstich gibt, wie haufig in graphischen Reproduk tionen, das Gemalde seitenverkehrt wieder. Herkules halt - ent-
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gegen allen anderen Darstellungen - in der Graphik den Spinn rocken rechts und die Spindel links. Der urspriinglichen Kom position des Gemaldes folgend, die sich aus der seitenverkehr ten Betrachtung des Stiches ergibt, lassen sich Ahnlichkeiten zu den bereits beschriebenen Typen feststellen. Herkules sitzt links mit starker Diagonalausrichtung nach rechts. In gleicher Kor perneigung und auf gleicher Hohe sitzt Omphale, ihm zuge neigt. Der Rollentausch wird abgeschwacht durch die breite Schrittstellung des Mannes sowie die ziichtig iibereinanderge schlagenen Beine der Frau. Ein Kleidertausch ist dadurch, daB beide halbnackt gegeben sind und lediglich die Oberschenkel durch Tuchdraperien verdeckt erscheinen, nicht sehr deutlich gemacht. Moglicherweise kam er durch Andeutung der Stoffe und durch Farbigkeit differenzierter im Gemalde zum Aus druck. Der Kopf des Lowenfells liegt schlaff auf der enormen Keule neben Omphale auf dem Boden. Ein Innenraum wird an gedeutet durch FuBboden, Wand und Vorhang, den eine Amo rette iiber Herkules offnet. Der scheinbar gangige Typ weist zwei Besonderheiten auf. Der ansonsten so undifferenzierte Raum ist durch einen sorg faltig wiedergegebenen ParkettfulSboden gestaltet. Einen sol chen Bodenbelag lieB Marie de Medicis in ihrer ab 1615 errich teten Privatresidenz Palais du Luxembourg legen, also in dem Gebaude, fUr das das Gemalde bestirnmt war. Ihre Tochter Hen riette Marie, die anlaBlich ihrer Hochzeit mit Charles 1. im Jahre 1625 das soeben fertiggestellte Palais besuchte, war so angetan von dieser Neuerung, daB sie - angeblich - den ParkettfuBbo den in England einfiihrte.56 Man kann davon ausgehen, daIS Marie de Medicis, ebenfalls stolz auf ihren Geschmack, der ih ren Zeitgenossen nicht verborgen blieb, auf diese Weise einen deutlichen Bezug zu ihrer Person herstellt. Eine ikonographische Neuerung hingegen, die auch zu einer anderen Interpretation fiihrt, ist der Bogen, den Omphale in der Hand halt. Ein solches Attribut ist meines Wissens einzigartig fUr diesen Zusammenhang. Pfeil und Bogen dienen iiblicher weise der keuschen Jagdgottin Diana zur Charakterisierung. Unterstiitzt durch das verkrampfte Zusammenpressen der Bei ne, ist hier offenbar der Gedanke der Keuschheit zum Haupt thema geworden. Damit ergibt sich eine neue Lesart: die Schuld der Omphale an der Verfiihrung des Herkules wird zuriickge wiesen. Nicht die Frau mit ihren korperlichen Reizen ist Ursa-
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che der Verliebtheit des Mannes, sondern alleine Amor (und somit die Liebe selbst), der von oben heranschwebt und seinen Pfeil zielgerichtet auf Herkules abschieBt. Auch die Beischrift der Graphik laBt Amor sprechen: » Te clauam mutare co16 cum cerneret, Heros, / Hrec matri referam ludicra: dixit Amor.
verweiblichten< Form des Mythos wiederfinden kbnnen.
5. Die Sinnlichkeit der Liebe Fran<;ois Bouchers (1 703-1770) Gemalde » Herkules und Omphale« 58 (Abb. 8) wird auf Grund stilistischer Vergleiche auf etwa 1731 bis 1734 datiert. Zu Auftraggeber und Entstehungs anlaB liegen leider keine Quellen vor. Das eher kleine Format laBt an ein Kabinettbild denken, und auch die Tatsache, daB es keine graphische Reproduktion davon zu geben scheint, macht einen groBen reprasentativen Auftrag unwahrscheinlich. Eine heute verschollene Kopie wurde von Bouchers Freund und Kol lege Jean-Honore Fragonard (1 732-1806) zu einem spateren, ebenfalls ungewissen Zeitpunkt (urn 1748-52) ausgefuhrt.59 In den ersten schriftlichen Kommentaren zu diesem Bild aus der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts wurde das Sujet als » Frau mit Satyr« bezeichnet. Diese Fehlinterpretation entstand nicht von ungefahr, ist doch das klassische Schema weitgehend aufgegeben worden. In erster Linie ist ein sich leidenschaftlich umarmendes und kussendes Liebespaar wiedergegeben, so sinnlich und drastisch-zupackend, wie es die Ikonographie nur
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fiir triebhafte, naturnahe Bewohner Arkadiens, fiir Bacchus, Pan, Satyrn, Silene und Manaden, vorsieht. In einem Innenraum ist ein zerwiihltes, von zahlreichen Kis sen und Laken bedecktes Himmelbett zu sehen, auf dem das vollig nackte Paar sitzt. Die Frau ist links im Bild, der Mann rechts zu sehen, und sein Kopf iiberragt den ihren. Somit ist die symbolische Unterordnung des Mannes wieder dem klassi schen Bildschema gewichen. Das Sitzmotiv der Omphale, die ihr linkes Bein weit ausgestreckt iiber die Beine des Herkules legt,60 zitiert das Fresko von Carracci (s. o.). Allerdings geht Boucher weiter in seiner Deutung als Carracci: indem die Arme und Beine des Paares sich wechselnd iiber- und unterkreuzen, verschmelzen sie zu einer gleichberechtigten Einheit. Beide sind voneinander abhangig, keiner dominiert den anderen. Die Sitzhaltung des eng umschlungenen Paares auf einem Bett weist noch starkere Ahnlichkeit auf zu einem anderen klassi schen Liebespaar, zu Venus und Mars.61 Das Motiv der Sklave rei, welches in zahlreichen alteren Herkules und Omphale-Dar stellungen mitschwingt, wurde neutralisiert: den Armreifen am Oberarm, eine Abbreviatur fiir den Sklavenstatus, tragt hier nicht Herkules, sondern, deutlich sichtbar, Omphale.62 In der Darstellung des Paares selbst findet sich kein Hinweis auf ihre Identitat als Herkules und Omphale. 1m Gegenteil: die Identitat des Herkules wird verschleiert, denn er ist entgegen seiner iib lichen Ikonographie nicht mit Vollbart, sondern mit einem eher sparlichen Bartwuchs ausgestattet. Seine spitzen Ohren und seine Haarlocken, die zwei kleine horn-ahnliche Hocker bilden, erwecken unmittelbar Assoziationen an Verbildlichungen eines Satyrs. Dieser galt als Inbegriff animalischer Liisternheit und ungeziigelter Leidenschaft. DaiS es sich dennoch urn den griechischen HeIden und die lydische Konigin handelt, wird nur durch die beiden Putti im Bildvordergrund erkennbar. Diese iibernehmen namlich das ty pische Darstellungsschema des 17. Jahrhunderts. Ein mannli cher Putto ist links sitzend, untergeordnet, mit niedergeschla genem Blick und mit den Attributen Spinnrocken und Spindel einem weiblichen rechts stehenden Putto mit Lowenfell gegen iibergestellt. In einer spielerischen Pose mokieren sich die bei den iiber ihre Rollen. Boucher verdeutlicht durch dieses Bild im Bild seine Intention: nicht das Liebespaar und deren Verhalten ist komisch, sondern die traditionelle Deutung, bzw. das tradi-
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tionelle Bild. Eine Kritik des MaIers an veralteten Posen und unrealistischen Sujets ist offenbar. Ein Rollenwechsel findet nicht mehr tiber den Kleidertausch statt. Einen Verlust der Mannlichkeit oder besser eine veranderte mannliche Rolle muB Herkules dennoch hinnehmen, indem er in die Rolle des natur
und triebhaften Satyrs schltipft. Damit wird ihm ein seit jeher weiblich konnotierter Bereich zugeordnet. Zahlreiche weitere Hinweise deuten darauf hin, daB Sinn lichkeit und Leidenschaft in der Liebe ftir beide Geschlechter nun positiv gedeutet werden. So strahlt das GemiHde zwar eine
ungemein sinnlich-erotische Wirkung aus, es ist aber nicht ftir einen voyeuristischen Betrachterblick konzipiert. In der Mehr zahl aller Paar- oder Liebesdarstellungen des
16. und 17. Jahr
hunderts bezieht der Ktinstler den auBerhalb des Bildes agie renden Betrachter in VerHingerung des Bildgeschehens bewuBt mit ein. Ein solches Wissen urn den Betrachter wird hier nicht thematisiert. Die Protagonisten sind vollig mit sich selbst be
schaftigt. Kein Amor und keine Assistenzfigur nehmen Blick kontakt nach auBen auf, sondern der vergoldete holzerne Amor des Tischchens wendet diskret seinen Blick abo Die Szene ist in das zeitgenossische hofische Milieu verlagert, erkennbar an der Raumausstattung und den Mobeln, und kommentiert so nicht eine historische, sondern eine aktuelle Situation. Die triebhafte, sinnliche Liebe ist das zentrale Thema, nicht die beherrschende Liebe. Dies wird verdeutlicht, indem der KuB in den Mittel
punkt gestellt wird, der eine Wiederholung erfahrt in einem Re lief sich ktissender Putti am Sockel der Saule am rechten Bild rand. Der KuB auf den Mund ist in der bildenden Kunst ver haltnismaBig selten dargestellt und wenn, dann meist als Zeichen moralischer Verwerflichkeit, etwa in Laster-Darstel lungen. 1m Hintergrund ist ein gemaltes Stuckmedaillon an der Wand zu sehen. Leider ist das Motiv auch am Original nur un genau erkennbar. Moglicherweise handelt es sich urn ein alteres Paar, wobei der Mann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Liebespaar deutet. Eventuell wird die Geschichte also in die Le bensalterdarstellung eingebunden: im Vordergrund spielt das
kindliche Paar mit der Liebe, die erotische Liebe kommt dem jungen Paar zu, wahrend sich das alte Paar einer geistigen lie be, basierend auf Gemeinsamkeit und Verstandnis ftireinander erfreut.
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Resiimee
Die bildlichen Darstellungen der Geschichte von Herkules und Omphale belegen einen Bedeutungswandel des Motivs, wel cher sich im Verlaufe des
16. und 1 7. Jahrhunderts vollzogen 17. Jahrhunderts die Angst vor
hat. Standen bis zur Mitte des
dem Verlust der Mannlichkeit und die Angst vor dem Verlust der Macht, symbolisiert durch die karikierte Umkehr des Paar verhaltnisses und durch die Versklavung des Herkules, im Vor dergrund, so zeigt sich in der zweiten Jahrhunderthalfte ein
neues Ideal der gegenseitigen und sinnlichen Liebe, verbild
licht im sich innig zuwendenden Paar. (Diese Idee war vorge pragt in einer singularen, auf die persbnlichen Umstande zu rtickgehenden Bildversion der Marie de Medici.) Nicht die Ge fahrdung des Mannes durch die Liebe, sondern die Liebe selbst
wird zum Thema, wobei Sinnlichkeit und Sexualitat ftir beide
Geschlechter positiv gewertet werden. Herkules' ungewbhnli ches Verhalten, die Unterwerfung unter eine Frau, gilt nicht mehr als unmannlich, sondern wird als Zeichen seiner Liebe geschatzt.63 Die Vorstellung, Liebe ftihre grundsatzlich zur Ver weiblichung des Mannes wird - zumindest fUr kurze Zeit - auf
gegeben.64
Nur wenig spater konnte dasselbe Paar gar als Symbol haus licher Eintracht fungieren. In einem Manuskript des letzten Drittels des
18. Jahrhunderts wird die Prunktreppe der Villa
Bettoni in Bogliaco beschrieben. »Scalone Statue. Mercurio Dio del comercio, e Minerva Dea della scienza, Ercole e Onfale sua moglie, che scambiatisi gli arnesi, allusivi alIa concordia dome stica, e all'amor conjugale.«65 Die Treppe zeigt jeweils paarig Skulpturen, Merkur und Minerva, Mars und Venus, Diana und Apollo und Herkules und Omphale. Ausgerechnet letztere wer den also als Symbole der hauslichen Eintracht und der eheli chen Liebe gedeutet! Der ursprtingliche Sinn der mythologi schen Erzahlung wurde sornit bis in sein Gegenteil verkehrt. Werden Bildquellen kritisch gelesen, bestatigen und ergan zen sie Befunde aus anderen Quellengattungen. Da sie in einer Sprache argumentieren, die an eine jeweilige Adressatengrup pe gerichtet war und folglich von dieser verstanden werden muJ5te, lassen sich dartiber hinaus Erkenntnisse tiber den Wir kungsgrad und die Verbreitung ideengeschichtlicher Phanome ne gewinnen. Gerade Veranderungen gesellschaftlicher Wert-
Die Schwache des starken Geschlechts
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und Normvorstellungen sind haufig eher in non-verbalen als in schriftlichen AufSerungen iiberliefert, denn auch (noch) nicht bffentlich thematisierte oder verschriftlichte Ideen wurden in
Bildmedien reflektiert und verbreitet. Argumentiert wurde da bei nicht nur auf einer bewufSten, intellektuellen Ebene (Sym bole, Embleme), sondern vor allem auch auf einer unbewufSten Bedeutungsebene (Kbrpersprache, Farb- und Raumsymbolik).
Die Entschliisselung genau solcher non-verbalen Botschaften hat ergeben, dafS sich im adligen Bereich Mitteleuropas66 Mann
lichkeitskonzepte verandert haben. Ob diese Vorstellungen mit gesellschaftlichen Veranderungen konform gingen, mufS in wei teren Untersuchungen prazisiert werden. Der Verdacht liegt je denfalls nahe, dafS dem friihneuzeitlichen Adelssohn die Liebe durch die Drohung des Mannlichkeitsverlustes vergallt werden mufSte, urn eine Vernunftehe besser durchsetzen zu kbnnen. Mbglicherweise ist urn
1700 durch die innerhbfische Institutio
nalisierung der Matresse eine Mbglichkeit fiir die Liebe geschaf
fen worden, so dafS die sinnliche Liebe fUr den adligen Mann denkbar und erlebbar wurde. Eine Sehnsucht nach Verkniipfung von Liebe und Ehe kbnnte die Folge gewesen sein.
Anmerkungen 1 Beispielsweise Judith und Holofemes, Susanna und die beiden Alte sten, Joseph und Potiphars Frau, Diana und Endymion etc. 2 Eine Reihe davon sind genannt in Reid, Jane Davidson: The Oxford guide to classical mythology in the arts, 1300-1900, 2 Bde., New York 1993, Stichwort Heracles and Omphale, und in Poensgen, Georg: Herkules und Omphale. Zu einem neuerworbenen Gemalde des Kurpfalzischen Muse ums, in: Bibliotheca docet. Festgabe Carl Wehmer, Amsterdam 1963, 303-310. Zu dieser Form der empirischen Ikonologie vgl. ausfiihrlich Bi schoff, Cordula: Strategien barocker Bildpropaganda. Aneignung und Ver fremdung der heiligen Elisabeth von Thiiringen, Marburg 1990. 3 In der bildlichen Darstellung erfolgt haufig eine Verwechslung von Omphale und Iole. Dies geht zuriick auf nach-antike Texte wie etwa Boc caccios » De Claris Mulieribus«, die das Omphale-Thema auf Iole iibertra gen haben. Meist wird die Dargestellte in einer Beischrift als Iole bezeich net. Die Attribute und der Zusammenhang der Geschichte verweisen jedoch auf Omphale (z. B. Spielstein fiir ein Brettspiel des Kaisers Ferdi nand 1., geschnitzt von Hans Kels 1537, Kunsthistorisches Museum Wien). 4 Eine Genese der Quellentexte und der Anderungen in der Deutung untemahm Beate Wagner-Hasel auf der Tagung » Geschlechterperspektiven
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Cordula Bischoff
6. Resiimee Die bildlichen Darstellungen der Geschichte von Herkules und Omphale belegen einen Bedeutungswandel des Motivs, wel cher sich im Verlaufe des
1 6. und 17. Jahrhunderts vollzogen 17. Jahrhunderts die Angst vor
hat. Standen bis zur Mitte des
dem Verlust der Mannlichkeit und die Angst vor dem Verlust der Macht, symbolisiert durch die karikierte Umkehr des Paar verhiHtnisses und durch die Versklavung des Herkules, im Vor dergrund, so zeigt sich in der zweiten Jahrhunderthalfte ein neues Ideal der gegenseitigen und sinnlichen Liebe, verbild licht im sich innig zuwendenden Paar. (Diese Idee war vorge pragt in einer singularen, auf die personlichen Umstande zu ruckgehenden Bildversion der Marie de Medici.) Nicht die Ge fahrdung des Mannes durch die Liebe, sondern die Liebe selbst wird zum Thema, wobei Sinnlichkeit und Sexualitat fur beide Geschlechter positiv gewertet werden. Herkules' ungewohnli ches Verhalten, die Unterwerfung unter eine Frau, gilt nicht mehr als unmannlich, sondern wird als Zeichen seiner Liebe geschatzt.63 Die Vorstellung, Liebe fuhre grundsatzlich zur Ver weiblichung des Mannes wird - zumindest fur kurze Zeit - auf gegeben.64 Nur wenig spater konnte dasselbe Paar gar als Symbol haus licher Eintracht fungieren. In einem Manuskript des letzten Drittels des
18. Jahrhunderts wird die Prunktreppe der Villa
Bettoni in Bogliaco beschrieben. » Scalone Statue. Mercurio Dio del comercio, e Minerva Dea della scienza, Ercole e Onfale sua moglie, che scambiatisi gli arnesi, allusivi alla concordia dome stica, e all'amor conjugale. « 65 Die Treppe zeigt jeweils paarig Skulpturen, Merkur und Minerva, Mars und Venus, Diana und Apollo und Herkules und Omphale. Ausgerechnet letztere wer den also als Symbole der hauslichen Eintracht und der eheli chen Liebe gedeutet! Der ursprungliche Sinn der mythologi schen Erzahlung wurde somit bis in sein Gegenteil verkehrt. Werden Bildquellen kritisch gelesen, bestatigen und ergan zen sie Befunde aus anderen Quellengattungen. Da sie in einer Sprache argumentieren, die an eine jeweilige Adressatengrup pe gerichtet war und folglich von dieser verstanden werden mufSte, lassen sich daruber hinaus Erkenntnisse uber den Wir kungsgrad und die Verb reitung ideengeschichtlicher Phanome ne gewinnen. Gerade Veranderungen gesellschaftlicher Wert-
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und Normvorstellungen sind haufig eher in non-verbalen als in schriftlichen Augerungen uberliefert, denn auch (noch) nicht bffentlich thematisierte oder verschriftlichte Ideen wurden in Bildmedien reflektiert und verbreitet. Argumentiert wurde da bei nicht nur auf einer bewugten, intellektuellen Ebene (Sym bole, Embleme), sondern vor aHem auch auf einer unbewugten Bedeutungsebene (Kbrpersprache, Farb- und Raumsymbolik). Die Entschlusselung genau so1cher non-verbalen Botschaften hat ergeben, dag sich im adligen Bereich Mitteleuropas66 Mann lichkeitskonzepte verandert haben. Ob diese VorsteHungen mit geseHschaftlichen Veranderungen konform gingen, mug in wei teren Untersuchungen prazisiert werden. Der Verdacht liegt je denfalls nahe, dag dem fruhneuzeitlichen Adelssohn die Liebe durch die Drohung des Mannlichkeitsverlustes vergallt werden mugte, urn eine Vernunftehe besser durchsetzen zu kbnnen. Mbglicherweise ist urn 1700 durch die innerhbfische Institutio nalisierung der Matresse eine Mbglichkeit fur die Liebe geschaf fen worden, so dag die sinnliche Liebe fUr den adligen Mann denkbar und erlebbar wurde. Eine Sehnsucht nach Verknupfung von Liebe und Ehe kbnnte die Folge gewesen sein.
Anmerkungen Beispielsweise Judith und Holofemes, Susanna und die beiden Alte sten, Joseph und Potiphars Frau, Diana und Endymion etc. 2 Eine Reihe davon sind genannt in Reid, Jane Davidson: The Oxford guide to classical mythology in the arts, 1300--1900, 2 Bde., New York 1993, Stichwort Heracles and Omphale, und in Poensgen, Georg: Herkules und Omphale. Zu einem neuerworbenen Gemalde des Kurpfalzischen Muse ums, in: Bibliotheca docet. Festgabe Carl Wehmer, Amsterdam 1963, 303-310. Zu dieser Form der empirischen Ikonologie vgl. ausfiihrlich Bi schoff, Cordula: Strategien barocker Bildpropaganda. Aneignung und Ver fremdung der heiligen Elisabeth von Thiiringen, Marburg 1990. 3 In der bildlichen Darstellung erfolgt haufig eine Verwechslung von Omphale und Iole. Dies geht zuriick auf nach-antike Texte wie etwa Boc caccios » De Claris Mulieribus«, die das Omphale-Thema auf Iole iibertra gen haben. Meist wird die Dargestellte in einer Beischrift als Iole bezeich net. Die Attribute und der Zusammenhang der Geschichte verweisen jedoch auf Omphale (z. B. Spielstein fiir ein Brettspiel des Kaisers Ferdi nand 1., geschnitzt von Hans Kels 1537, Kunsthistorisches Museum Wien). 4 Eine Genese der Quellentexte und der Anderungen in der Deutung unternahm Beate Wagner-Hasel auf der Tagung » Geschlechterperspektiven
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in der Friihen Neuzeit« (Frankfurt/M. Oktober 1996), Workshop: Herkules und Omphale: der Mann als Frau. Ich danke Beate Wagner-Hasel fiir die Mbglichkeit zur Einsichtnahme in das unverbffentlichte Vortragsma nuskript. 5 Quellen: Apollodor 2,6,2 f.; Diodor 4,31,8; Ovid: Fasti 3,303 ff.; Heroi den 9,55 ff. 6 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollstandiges Universal-Lexi con . . . ; Bd. 25, Halle/Leipzig 1740, 1441-1443, Stichwort Omphale. 7 Niklaus Manuel Deutsch. Maler, Dichter, Staatsmann. Zeichnungen, bearb. v. Hans Christoph von Tavel. Ausstellungskatalog ( AK) Kunstmu seum Bern 1979, Kat. Nr. 195 u. 5. 349; Koegler, Hans: Niklaus Manuel der Zeichner, in: Niklaus Manuel Deutsch, Basel o. J., XXXVII-LIT. 8 In der kunstwissenschaftlichen Literatur wird die Zeichnung bisher als » Weibische Manner« oder als >>Verkehrte Welt« betitelt. Vorderseite Tod und Madchen, Feder in Braun, koloriert, weiB gehbht, auf Holz, 10,7 x 8 cm, Inv.-Nr. 1662.74. Riickseite » Verkehrte Welt« , urn 1518 voll., evtl. schon 1517, Stift auf weill grundiertem Holz, Hintergrund s�hwarz abgedeckt, 10,7 x 8 cm, Inv.-Nr. 1662.74, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett. 9 Vgl. Lurker, Manfred: Die Symbolbedeutung von Rechts und Links und ihr Niederschlag in der abendlandisch-christlichen Kunst, in: Symbo lon, N.F. 5 (1980), 95-128. 10 Der Bart, » des Mannes Zier« , ist in der ersten Halfte des 16. Jahrhun derts ein zentrales mannliches Attribut. 11 So etwa Aristoteles und Phyllis, Salomos Gbtzendienst, Samson und Delilah, David und Bathseba, Herodes, Herodias und Salome, Judith und Holofernes u. a., die aile den Grundgedanken variieren, daB sich machtige und weise Manner durch tbrichte Liebe dazu verleiten lassen, die Selbstbe herrschung zu verlieren und sich liicherlich zu machen oder gar das Leben zu verlieren. Vgl. Eva/ Ave. Woman in Renaissance and Baroque prints. AK National Gallery of Art Washington, New York 1990. 12 OI/Kupfer, 24 x 19 cm, bez. links auf dem Fuf.lgestell: BAR.SPRAN GERS.ANT.FESIT, Wien Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. 1126. Gegen sruck: Vulkan und Maia, Ol/Kupfer, 23 x 18 cm, Inv.-Nr. 1128. Prag urn 1600. Kunst und Kultur am Hof Rudolfs II. AK Essen, Freren 1988, Kat. Nr. 155; Eros und Mythos. Kunst am Hofe Rudolfs II. AK Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 1995, Kat. Nr. 20. 13 Eine bewuBte Doppeldeutigkeit ist jedoch intendiert: die Szene kbnnte auch gelesen werden als eine homoerotische Beziehung, in der der Jiingling die Rolle der Frau einnimmt. 14 Als Frau ist sie gekennzeichnet durch den Kopfschleier. 15 Als Beispiele seien genannt: Judith und ihre altere Dienerin Abra, die gemeinsam Holofernes tbten, oder zahlreiche Varianten der jungen Prosti tuierten, die mit Hilfe einer alten Kupplerin einen Freier umgarnt. 16 Besonders drastisch gestaltete Peter Paul Rubens urn 1606 seine Ver sion des Herkules und Omphale-Themas (Paris, Louvre). 17 Schlapeit-Beck, Dagmar: Frauenarbeit und Stand der Technologie als Thema der Malerei. Das Motiv der spinnenden Frau, in: Kritische Berichte 15 (1987), H. 2, 20-31. =
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18 Das Liebespaar auf dem zugehorigen Bildpendant ist nicht eindeutig bestimmbar. Es ist einem traditionellen Paar-Schema entsprechend darge stellt und mulS deshalb nicht lacherlich gemacht werden. 19 Kupferstich mit Radierung, 18,6 x 26 em, Kunstmuseum Dusseldorf, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. KA (FP) 1867 1 D, Abb. 70 in Baumgartel, Bettina/Neysters, Silvia: Die Galerie der Starken Frauen. Die Heldin in der franzosischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, AK Kunstmu seum Dusseldorf 1995. 20 Federzeichnung, laviert, bez. u. dat. HB 1533, 27,2 x 39,2 em, Paris, Ecole des Beaux Arts. 21 So etwa bei Jan Gossaert: Herkules und Deianira, 1517, Birmingham, The Barber Institute of Fine Arts und Jacques de Backer: Die Wollust, urn 1570, Neapel, Museo di Capodimonte. 22 » Was uberwindet Amor nicht, wenn des grimmigen Lowenbesiegers Hand Spinnarbeit verrichtet, die den HeIden zum Weichling macht!« Uber setzung nach Koch, zitiert nach Bernhard, Marianne (Hg.): Hans Baldung Grien. Handzeichnungen und Druckgraphik, Munchen 1978, 243, und Koch, Carl: Die Zeichnungen Hans Baldung Griens, Berlin 1941, Kat. Nr. 135, S. 145. 23 Vg!. Bischoff, Cordula: Maria Magdalena oder die Lust der Reue. Zu Weiblichkeitsvorstellungen der Barockzeit, in: Sciurie, Helga/Bachorski, Hans-Jurgen (Hg.): Eros, Macht, Askese. Geschlechterspannungen als Dia logstrukturen in Kunst und Literatur, Trier 1996, 423-443. 24 Vg!. Gagel, Hanna: Wie unvemunftig ist Evas Bedurfnis nach sinn licher Erkenntnis? Wie unvemiinftig sind Baldungs Frauen?, in: Bischoff, Cordula u. a. (Hg.): Frauen Kunst Geschichte. Zur Korrektur des herrschen den Blicks, GielSen 1984, 79-97. 25 Bez. u. dat. 1537, Ol/Holz, 82 x 118,9 em, Braunschweig, Herzog-An ton-Ulrich-Museum, Inv.-Nr. 25. Friedlander, Max J./Rosenberg, Jakob: Die Gemalde von Lucas Cranach, Stuttgart 1989 (1. Auf!., Berlin 1932), Kat. Nr. 274. 26 Ebd., Kat. Nr. 274 A-E. 27 Ebd., Kat. Nr. 272, 273. 28 Ebd., Kat. Nr. 275. 29 Die Variante von Hans Cranach (Lugano-Castagnola, Slg. Thyssen Bomemisza) zeigt den ebenfalls sitzenden Herkules bis zum Knie. Er tragt ein ahnliches Warns wie auf dem Braunschweiger Gemalde und Hosen mit betonter Braguette. 30 » Den Handen des Herkules teilen die lydischen Madchen Arbeit zu [pensa=Tagesarbeiten der Wollspinnerinnen, abgewogene Wolle]; die Herr schaft seiner Herrin erduldet jener Gottliche. So ergreift verderbliche Wol lust machtige Geister, und selbst die tiichtigsten Gemuter werden von der weichen Liebe entkrattet.« Ubersetzung nach Koepplin, Dieter/Falk, Til man: Lukas Cranach. Gemalde, Zeichnungen, Druckgraphik, AK Basel, Ba se1 1976, Bd. 2, 574. 31 Lexikon der christlichen Ikonographie, Rom 1968-1976, Bd. 3, Stich wort Rebhuhn. Vg!. auch Grimm, Claus u. a. (Hg.): Lucas Cranach. Ein Ma ler-Untemehmer aus Franken, AK Kronach / Leipzig, Coburg 1994, Nr. 184, 188.
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32 Zitiert nach Bauch, Gustav: Zur Cranachforschung, in: Repertorium fUr Kunstwissenschaft, Bd. XVII, 1894, 421--435, 425. Bauch paraphrasiert den Text von Engentinus, der nicht von Omphale, sondem von Iole spricht. Siehe auch Matsche, Franz: Lucas Cranachs mythologische Darstellungen, in: Grimm (1994), 78-88, 83. 33 Metken, Sigrid: Der Kampf urn die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols, Frankfurt/M. 1996. 34 Matsche (1994) vermutet, daB die Bilder die Wande des Brautge machs schmiickten (83); Bauch (1894, 425) hingegen folgert: »Es ist schwer zu begreifen, wie alle diese Schildereien, auch wenn das Lager ein machti ges Himmelbett war, angebracht sein mbgen. Man kbnnte geneigt sein, >cu bile' mit Schlafgemach zu iibersetzen; aber kein anderweitiges Wort des Dichters unterstUtzt diese Meinung.«. 35 Matsche, Franz: Humanistische Ethik am Beispiel der mythologi schen Darstellungen von Lucas Cranach, in: Eberhard, Winfried/Stmad, Alfred A. (Hg.): Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation, Kbln 1996, 29-70, 46. 36 Le Comte, Noel: Mythologie, c'est a dire explication des fables, con tenant les genealogies des dieux . . . , 2 Bde., Lyon 1604, Bd. 2, 695. Zitiert nach Bailey, Colin B.: Les Amours des dieux. La peinture mythologique de Watteau a David, AK Paris, Paris 1991, 150. SinngemaB etwa: »So war der ehemals unbesiegbare Held darauf reduziert, zahlreiche Dinge zu tun, die seiner unwiirdig sind, und alles fUr die Liebe einer Hure.« . 37 Mir sind nur ftinf Beispiele dieses Themas aus der Zeit nach 1640 bis 1750 bekannt: Luca Giordano, urn 1680, ehem. Gemaldegalerie Alte Meister Dresden, wobei hier eher ein Bacchanal im Freien gezeigt ist; Gregorio Laz zarini, 1680er Jahre, Gemaldegalerie Alte Meister Kassel, wobei die Mad chen nur noch als Begleitfiguren im Hintergrund fungieren; Gregorio Laz zarini, urn 1700, Venedig Museo Correr; Sebastiano Ricci, urn 1701, Belluno Museo Civico; ein anonymes italienisches Gemalde aus dem Ende des 17. Jahrhunderts, Pinacoteca Civica di Pesaro. 38 Der Glanz der Famese. Kunst und Sammelleidenschaft in der Re naissance, AK Parma, Miinchen 1995, 269-277. 39 Urn 1594 (7), Ol/Lw., 62 x 40,7 cm (oval), Neapel, Museo di Capodi monte, Inv.-Nr. Q 134. Alle vier Ovalbilder sind farbig reproduziert in: Der Glanz der Famese (1995), Abb. 80-83. 40 Diese Urn deutung fiihrte dazu, daB in der Portratmalerei des 19. Jahrhunderts in genauer Umkehrung zum 16. Jahrhundert der Mann in der Regel rechts, die Frau links angeordnet ist. 41 Sign. u. dat., 1724, Ol/Lw. 184 x 149 cm, Paris Louvre, Inv.-Nr. M. 1. 1086. Der Kardinal de Rohan bestellte eine Kopie davon, die allerdings erst ca. 1 732 in verkleinertem MaBstab ausgefiihrt wurde und sich heute in ei ner Privatsammlung (New York, Stair Sainty Matthiessen) befindet. 1728 erschien eine seitenverkehrte graphische Reproduktion von Laurent Cars und etwas spater eine seitenrichtige von Du Bose. Zahlreiche andere Kiinst ler fertigten Kopien oder Pasticci davon an. Vgl. Bailey (1991), Kat. Nr. 23; Bordeaux, Jean-Lue: Fran<;:ois Le Moyne (1688-1737) and his generation, Neully-sur-Seine 1984, 93-95. 42 Deutungsversuche fUr die direkten Pendantbilder Herkules und
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Omphale, Diana und Endymion, Juno und Jupiter und Venus und Anchises innerhalb eines komplizierten Gesamtprogrammes untemahrnen Marzik, Iris: Das Bildprogramm der Galleria Famese in Rom, Berlin 1986, insbeson dere 149-165, und Reckermann, Alfons: Amor mutuus. Annibale Carraccis Galleria-Famese-Fresken und das Bild-Denken der Renaissance, Kiiln 1991. 43 Heidelberg Kurpfalzisches Museum. Rosenberg, Pierre/Thuillier Jacques: Laurent de La Hyre (1606-1656). l' homme et l'oeuvre, AK Gren oble, Genf 1988, Kat. Nr. 3l. 44 In der Interpretation von La Hyre bedeutet die gleiche Haltung durch den anderen Kontext genau das Gegenteil: Emiedrigt unterhalb meh rer Frauen sitzend, die alle mit ausgestreckten Armen auf ihn zeigen, verrat seine Position Schwache und Labilitat. 45 Urn 1 720, Privatbesitz USA, Abb. 27 bei Poensgen (1963). 46 1728, Tours, Musee des Beaux-Arts. 47 Marzik (1986), 155, deutet das Tamburin als Attribut der Muse und Beschiitzerin der Ehe Erato, so daB hier die eheliche Verbindung des Her kules mit Omphale gemeint sei. Anscheinend hat sich dieses Attribut in der Rezeption jedoch nicht durchsetzen kiinnen: direkt auf Carracci zuriickge hende Nachschiipfungen haben wieder den Spinnrocken anstelle des Tam burins eingefiihrt, z. B. Stuckrelief von Diego Carlone, urn 1716, westliche Spiegelgalerie in SchloB Ludwigsburg. Ein einziges weiteres Mal erscheint das Tamburin zusatzlich zum Spinnrocken in einer Kreidezeichnung von Charles Lebrun, urn 1660, Paris, Cabinet des Estampes. 48 Zitiert nach Scott, Katie: The rococo interior. Decoration and social spaces in early eighteenth-century Paris, New Haven 1995, 299, Anm. 153. Ubersetzung: »Nur die Liebe verleiht einen Charakter der Aufrichtigkeit und der Menschlichkeit. Sie ist Siegerin iiber mehr als ein Himgespinst [oder mehr als eine Chimare] und fiihrt die gliickliche Gleichheit iiberall ein.«. 49 Dieser Gedanke durchzieht leitmotivisch einen GroBteil der bildli chen Darstellungen im hiifischen Bereich und laBt sich auch in der zeitge niissischen Literatur verfolgen. Vgl. etwa Beaujean, Marion: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts, in: Wolfenbiitteler Studien zur Aufklarung, Bd. 3, Wolfenbiittel 1976, 9-28. 50 Beispielsweise Pietro da Cortona, urn 1626, ehem. Potsdam-Sans souci; Jacques Dumont Le Romain, 1728, Tours Musee des Beaux-Arts; Gas pare Diziani, urn 1740-1747, Bordeaux Musee des Beaux-Arts. 51 Nach mittelalterlicher Vorstellung stellt die Liebe eine Krankheit dar. Konfekt wurde Kranken zur Aufmunterung gereicht und sollte dadurch heilen. Lemoyne benutzt hier also altere Topoi und deutet sie neu. 52 Baumgartel, Bettina: Die Tugendheldin als Symbol kirchlicher und staatlicher Macht. Uber die Galerie der Starken Frauen in Ausstattungspro grammen und als Buchillustrationen, in: BaumgartellNeysters (1995), 140-157, 156; Thuillier, Jacques u. a.: Vouet, AK Paris 1990; Crelly, William R.: The painting of Simon Vouet, New Haven 1962, 83. 53 Uber das Sujet des Pendants ist nichts bekannt. 54 Zitiert nach Thuillier u. a. (1990), 112. 55 Baumgartel bezeichnet den Bogen falschlich als Peitsche, Dies. (1995), 156.
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56 Sykes, Susan Alexandra: Henrietta Maria's >house of delight<. French influence and iconography in the Queen's House, Greenwich, in: Apollo. The international magazine of arts, Vol. CXXXIII, No. 351, May 1991, 332-336, 332. 57 » AIs Amor sah, daB Du die Keule mit dem Spinrocken vertauschtest, sagte er: diese Spielereien werde ich der Mutter [= Venus] berichten.« (Fur Hilfestellung bei der Dbersetzung danke ich Michael Trauth, Trier.) Da die Graphik erst nach dem Tode Maries de Medici (t 1642) entstanden ist, stellt der Text eine nachtriigliche Interpretation des Gemiildes dar, gibt aber den noch einen Hinweis darauI, wie die Zeitgenossen das Bildgeschehen ver standen. 58 Ol/Lw., 90 x 74 cm, Moskau Puschkin-Museum, Inv.-Nr. 2764. 59 Wildenstein, Daniel: l' opera completa di Fragonard, Milano 1972, Kat. Nr. l. 60 Das Motiv der ubereinandergeschlungenen Beine wird seit dem 16. Jahrhundert als Metapher fUr die sexuelle Vereinigung gelesen. Stein berg, Leo: The metaphors of love and birth in Michelangelo's pietas, in: Bowie, Theodore/Christenson Cornelia V. (Hg.): Studies in erotic art, New York 1970, 231-335. 61 Vgl. etwa das Pendant Venus und Mars zu Herkules und Omphale von Jan Sons (s. Anm. 38 u. 39), das Boucher fast wortlich ubernommen zu haben scheint. 62 U. a. statteten folgende Kunstler ihren Herkules mit einem Armrei fen aus: Carracci (s. Anm. 42); Dumont Le Romain (s. Anm. 50); Charles Antoine Coypel, 1737, Paris Louvre. 63 Niklas Luhmann kommt anhand der Analyse von literarischen Quellen zu dem gleichen SchluB: im Laufe des 17. Jahrhunderts werde Lie be verstanden als eine von Leidenschaften gepriigte Passion, die (fUr den Mann) in Kampf urn die Frau und Selbstunterwerfung unter den Willen der Frau bestehe. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion zur Coclierung von Inti mitiit, Frankfurt/M. 1982. 64 1m 19. Jahrhundert kehrt der Topos der durch ihre Sexualitiit Verder ben bringenden Frau (Femme Fatale) in womoglich noch rigiderer Form wieder. 65 Das Manuskript befindet sich im Privatarchiv der Grafen Bettoni Cazzago. Zitiert nach Terravoli, Valerio: La decorazione pittonica di villa Bettoni-Cazzago a Bogliaco del garda attraverso una » guida« settecentesca, in: Arte Veneta 39 (1985), 157-164, 162. 66 In methodischer Hinsicht ist zu unterscheiden zwischen der Unter suchung des jeweils spezifischen Kontextes eines Kunstwerkes (wie am Beispiel Maria de Medici exemplifiziert) und der ideengeschichtlich ergie bigen Reihenuntersuchung eines Motivs, welche unabhiingig von der Indi vidualgeschichte daruber hinausgehende Erkenntnisse ermoglicht.
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Offentliche Kunstsammlung Basel, Martin Buhler Abb. 2: Kunsthistorisches Museum Wien Abb. 3: Ecole nationale superieure des Beaux-Arts, Paris Abb. 4: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig. Foto: Museumsfoto B. P. Keiser Abb. 5: Soprintendenza Gallerie, Napoli Abb. 6: Photo Reunion des Musees Nationaux, Paris Abb. 7: Cliche Bibliotheque Nationale de France, Paris Abb. 8: Repro-Photo
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Abb. l : Niklaus Manuel Deutsch: Holztafe1chen » Verkehrte Welt« urn 1518 vol!., Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett.
Abb. 3: Hans Baldung Crien: Herkules und Omphale, 1533, Federzeichnung, laviert, Paris, Ecole des Beaux Arts.
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Abb. 2: Bartholomaus Spranger: Herkules und Omphale, urn 1585, Ol/Kupfer, Wien, Kunsthistorisches Museum.
Abb. 5: Jan Sons: Herkules und Omphale, um 1594 (7), Ol/Lw., Neapet, Museo di Capodimonte.
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Abb. 4: Lucas Cranach d. A.: Herkules bei Omphale, 1537, Ol/Holz, Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich Museum.
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Abb. 6: Fran.;ois Lemoyne: Herkules und Omphale, 1724, Ol/Lw., Paris, Musee du Louvre.
Abb. 8: Fran.;ois Boucher: Herkules und Omphale, urn 1731-34, Ol/Lw., Moskau, Puschkin-Museum.
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Abb. 7: Michel Dorigny: Herkules und Omphale, 1643, Kupferstich mit Radierung (nach einem verlorenen Gemiilde Simon Vouets von vor 1631), Paris, Bibliotheque Nationale.
Michael Frank
Trunkene Manner und niichterne Frauen Zur Gefahrdung von Geschlechterrollen 1 durch Alkohol in der FrUhen Neuzeit
»Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann« 2 - dies jedenfalls ist die Meinung eines bekannten deutschen Sprichwortes. Volkes Stimme geht mithin von einem direkten
Zusammenhang zwischen Mannsein und Trunkenheit aus, sieht das Trinken als Element der mannlichen Selbstdarstel lung, ja als Zeichen von Mannlichkeit schlechthin. Genau ent gegengesetzt werten die volksrumlichen Lebensweisheiten das namliche Verhalten indes beim anderen Geschlecht. So konze diert man wohl gerne, daB »ein trunken Weib
[
. . .
J ein Engel im
Bette« sei, fUgt sofort jedoch einschrankend hinzu: » aber ein Satan im Hause« .3 Doch auch der Rausch des Mannes wird nicht nur positiv eingeschatzt; er kann destruktive Wirkungen entfalten, eine ernstzunehmende Gefahr fUr das Gemeinwesen darstellen. Insofern bemerkt ein anderes Sprichwort kritisch: »Branntwein geht gut ein, aber er macht aus dem Mann ein Schwein« .4
Zwischen
»Mannlichkeit«
und
»Entmenschli
chung« changierte also offensichtlich die Einschatzung des AI koholkonsums, zumindest beim ersten Geschlecht. 1m folgenden mbchte ich nun untersuchen, wie die Gesell schaft den Konsum alkoholischer Getranke geschlechtsspezi fisch bewertete, welchen Stellenwert das Trinken bei der Kon stituierung von Mannlichkeit einnahm und welche Gefahren daraus fUr den Mann im allgemeinen und fUr die Geschlechter ordnung im besonderen erwachsen konnten. Diese Fragen sol len auf der Grundlage einer Diskursanalyse beantwortet wer den. Unter dem in der Forschung oftmals sehr unscharfbenutz ten DiskursbegriffS werden hier
die Gedankenkonstrukte
gefaBt, die das Denken und Handeln der Menschen bestimmen. Fur den Historiker greifbar sind diese Vorstellungen in einer groBen Reihe sehr unterschiedlicher Quellengattungen, bei-
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Michael Frank
spielsweise in politischen Reden, juristischen Sachkommenta ren, Predigten und Erbauungsschriften. Durch die Analyse ent sprechender Quellen, eingebettet in deren spezifische soziale, politische und okonomische Entstehungsbedingungen, konnen Aussagen daruber getroffen werden, wie Individuen ihre ge sellschaftliche Wirklichkeit konstituierten, wahrnahmen, be werteten und VorschHige zur Veranderung entwickelten. Auf die hier zugrunde gelegte Fragestellung gewendet: Inwiefern spiegeln sich in den Diskursen geschlechtsspezifische Wertun gen bezuglich des Alkoholkonsums? Ais zentrale Quellengat tung dient mir die sogenannte Trinkliteratur, ein umfangreicher Bestand aus dem
16. Jahrhundert mit stark padagogisierendem
Impetus, der sich speziell mit dem Problem des Alkoholkon sums auseinandersetzt.6 Hierunter fallen u. a. so bekannte Wer ke wie Johann von Schwarzenbergs Zutrinken«/ Sebastian Francks
(1463-1528) » Buchlein vom (1499-1542) Traktat »Von dem
grewlichen Laster der Trunckenheit« 8 sowie Matthaus Friede richs (gest.
1559) Schrift »Widder den Sauffteuffel« .9 Diese Lite
raturgattung, die in ihren Wurzeln auf Sebastian Brants
(1458-1521) moralkritische Narrensatire zuruckgeht und stark von den sozialethischen Prinzipien der Reformation gepragt ist,lO fand im Alten Reich eine grofSe Resonanz, abzulesen an ihrer aufSergewohnlichen Verbreitung. So erfuhr allein Friede richs »Sauffteuffel« nach der Erstausgabe weitere Auflagen bis zum Jahr
1552 in Leipzig elf 1567.11 Erganzend zur Trinklite
ratur wurden Predigten aus dem Bereich der drei grofSen Kon fessionen herangezogen, die den hier zugrunde gelegten Un tersuchungszeitraum (vom
16. bis zum 18. Jahrhundert) ent
stammen. Urn die ansonsten erdruckende Flut bewaltigen zu konnen, habe ich mich auf die Predigttexte beschrankt, die in den Bestanden der Landesbibliotheken Kiel und Detrnold vor hand en sind. Damit neben den lutherischen und evangelisch reformierten Positionen auch die der Katholiken in die Diskurs analyse einfliefSen, erfolgte eine zusiitzliche Untersuchung der von Elfriede Moser-Rath fur den oberdeutschen Raum gesam melten Barockpredigten.12 AufSerdem wurden in beschranktem MafSe medizinische Traktate ausgewertet. Durch den gewahl ten methodischen Zugriff, und das ist wichtig zu betonen, wird in erster Linie die Sichtweise der Autoren reflektiert. Die All tagswirklichkeit bleibt dagegen weitgehend ausgeblendet; nur in einzelnen Punkten wird diese thematisiert. In einem ersten
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Schritt werde ich allgemein auf die Bewertung des Alkoholkon sums eingehen, urn in einem zweiten die geschlechtsspezifi schen Unterschiede herauszustellen. AbschlieBend solI auf die charakteristischen Konflikte eingegangen werden, die der AI koholkonsum im Verhaltnis der Geschlechter hervorrief.
1. Anniiherungen: Ansichten zum Alkoholkonsum in der Vormoderne 1980 vertraten die Soziologen Herbert Berger, Aldo Legnaro 16. Jahr
und Karl-Heinz Reuband die Auffassung, daB sich im
hundert ein entscheidender Wandel in der Einstellung zum AI koholkonsum vollzogen habe: Die katholische Konvivialitat sei durch die protestantisch-calvinistische Askese ersetzt wor denY 1m Kern baut ihre These auf der Annahme auf, daB die Katholiken dem Alkohol sinnenfroh zugewandt gewesen seien, wahrend die Anhanger der Reformation diesen strikt abgelehnt hatten. Es stimmt, daB im Zuge der konfessionellen Neugestal tung eine breite Diskursgattung entstand, die in z. T. scharfer Form die Alkoholsucht der » Deutschen« anklagte. So wetterte beispielsweise Luther
(1483-1546), daB offensichtlich jedes
Land seinen eigenen Teufel haben miisse: » Unser Deudscher Teuffel
/ wird ein guter Weinschlauch sein / und muB Sauff / das er so durstig und hellig ist / der mit so grossem Sauffen / Weins und Biers / nicht kan gekuehlet werden« .14 In heissen
zahlreichen Schriften und Predigten prangerten die Anhanger der Reformation das Trinkverhalten der Bevolkerung an, wobei in erster Linie das mannliche Geschlecht im Fadenkreuz der Kritik stand. Dies sollte mit Hilfe einer realistischen Darstellung des Ubels, der daraus entstehenden Folgen sowie dem mahnen den Verweis auf die Bibel zu einem angemessenen Verhalten erzogen werden.IS Trotzdem glaube ich nicht, daB der Bruch so scharf war, wie die Soziologen es uns mit der Gegeniiberstel lung von Sinnenfreude hie und Askese dort nahelegen wollen. Weder waren die Theologen vor dem
16. Jahrhundert dem AI
koholgenuB so riickhaltlos zugetan, noch wollten die Reforma toren eine sauertopfische Abstinenz verwirklicht sehen. Bereits Augustinus
(354-430) hatte sich gegen den iibermaBigen Alko-
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Michael Frank
holkonsum vehement zu Wort gemeldet,16 worin ihm spater z. B. Thomas von Aquin (urn
1225-1274),17 Berthold von Re 1210-1272)18 und Erasmus von Rotterdam (1466 oder 1469-1536)19 beipflichteten. Einig waren sich alle in der gensburg (urn
Ablehnung der Trunkenheit bzw. Trunksucht (ebriositas), wor unter man, in Absetzung zum Rausch (ebrietas), das haufigere, tiber das MaiS des Durstlbschens hinausgehende Trinken ver stand.20 Nach unserer heutigen Terminologie dtirfte dem der Begriff des Alkoholismus am nachsten kommen. So sah der Pre diger von Halberstadt, Eberhard Weidensee
(1486-1547), urn 1540 Trunkenheit dann als gegeben, wenn man sich stetig »toll
und voll« saufe, wobei er ausdrticklich auf die Einschrankung
von Kbrperbeherrschung und Vernunft verweist.21 Der Roten burger Superintendent Johann Ludwig Hartmann
(1640-1684) 1679 den namlichen Sachverhalt folgendermaiSen: »Die ses sey eigentlich eine Trunckenheit / wann sich einer aIle Tag voll trincket / und zwar so voll / daiS er weder stehen noch gehen kbnne / sondern heimgetragen werden mtisse: Herge gen wann man sich in 8. oder 14. Tagen / in drey oder 4. Wochen einmal berausche / und noch heim gehen kbnn t / das sey keine umriiS
Trunkenheit« .22 Weidensee und Hartmann liefern im Vergleich zu Isidor von Sevilla
(560-636) eine wesentlich verfeinerte De
finition. Dieser charakterisiert Trunkenheit lediglich als Uber maiS, das die Vernunft raube.23 Auch wenn Luther vehement gegen den » Deudschen Teuf fel« wetterte, so vertrat er in seinen AUiSerungen jedoch nicht die Position eines strikten Abstinenzlers. Er, der im Alltag ei nem Trunk keineswegs abgeneigt war,24 konzedierte durchaus, daiS man beispielsweise im Rahmen einer Feierlichkeit » ain trtincklein mehr thete« als es angemessen sei. Dagegen sprach er sich nachdrticklich gegen die Veralltaglichung der UnmaiSig keit aus: Die » aber also aIle tag und nacht on auffhbren mit hauffen in sich giessen und wider von sich geben, das man flugs auffs new sich fulle, das ist
[ . . J ainer rechten nattirlichen Saw .
leben und werck«.25 Den tibermaiSigen AlkoholgenuiS lehnte er ab, da seiner Auffassung nach daraus nicht nur unsittliches Handeln wie Unzucht, Faulheit und Unkeuschheit entstehe, sondern auch, weil hierdurch das Verhaltnis zwischen Gott und dem Menschen an einem entscheidenden Punkt gestbrt werde. Der Rausch verhindere die Gotteserkenntnis, er blockiere die Zwiesprache mit ihm, das fromme Gebet.26 Das eigentlich
Trunkene Manner und ntichteme Frauen
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Sundhafte war fur ihn dabei die Verschwendung der gottlichen Gaben.27 Auch Calvin
(1509-1564) kommt es, iihnlich wie Lu
ther, bei diesem Problem auf den rechten Gebrauch der von Gott gestifteten irdischen Guter an. Dabei lehnt Calvin den
Wein zur Ergotzung der Menschen keinesfalls abo Denn der Schopfer habe diese Gaben dem Menschen zur Verfugung ge stellt, damit er sich daran labe und erfreue. Die Grenze zur ver abscheuungswurdigen Sunde werde jedoch dann uberschrit
ten, wenn die Verehrung Gottes darunter leide.28 Calvin fordert
daher im Umgang mit dem Alkohol als sittliche Norm die »mo
deratio« , den selbstbeherrschten Umgang. Gelingt dies nicht, stellt sich der Trinker selbst auf die Stufe eines Tieres, vernichtet das Ebenbild Gottes in sich und verfi:illt damit der Sunde.20 Es bleibt also festzuhalten, daB sowohl bei den Katholiken als auch bei den Reformatoren im Umgang mit Alkohol das MaBhalten die handlungsleitende moralische Norm war. Mit
Hilfe des rechten MaBes wollte man den idealen Mittelweg zwi schen den zwei Extremen, der Askese der Monche und der Vol
lerei der Saufer, gewahrleistet sehen. Hiermit stand man auf dem Boden der christlichen Morallehre, die Vollerei als Todsun de, MaBigkeit dagegen als Kardinaltugend wertete. An diesem Punkt trafen sich Protestanten und Katholiken, personifiziert in Luther und dem Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara
(1 644-1709), denn auch fur letzteren war der gelegentliche Rausch durchaus gerechtfertigt, das stete Vollsaufen dagegen wurde von ihm als Sunde verdammt.30 Die Argumentationsbasis der mittelalterlichen und friihneu zeitlichen Moralisten war die Bibel. Auf den ersten Blick spiegelt sich auch in der Heiligen Schrift die Ambivalenz im Umgang mit Alkohol wider, wie sie selbst heute noch fur die Auseinan dersetzung mit der Problematik kennzeichnend ist. In Psalm 104 wird der Wein beispielsweise als Gabe Gottes geriihmt, die das Herz des Menschen erfreue,31 und das Buch Jesus Sirach stellt sogar hera us: »Was ist das fur ein Leben, wenn man keinen Wein hat, der doch von Anfang an zur Freude geschaffen wurde?«.32 Auf der anderen Seite lassen sich jedoch auch eine Reihe von Stellen anfiihren, die den Alkoholkonsum negativ bewerten. Da nach reize der Wein zu unzuchtigem Verhalten, wie die Beispiele von Noa33 und Lot34 eindrucklich beweisen, sturze den Trinker
in Armut35 und verkurze sein Leben durch Krankheit.36 Der Pro
phet Jesaja mahnt sogar: » Wehe denen, die Heiden sind, wenn
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Michael Frank
es gilt, Wein zu trinken, und tapfer, wenn es gilt, starke Getranke zu brauen«,37 wobei die scharfsten Worte zweifellos der Apostel Paulus im Neuen Testament findet, der den Trinkem mit dem AusschluB aus dem Reiche Gottes droht.38 Insofem vermochten sowohl BefUrworter als auch Gegner die Heilige Schrift als Kron zeugen heranzuziehen. In der Bibel finden sich jedoch ebenso Hinweise, die zwischen den beiden Extremen vermitteln, wozu der Begriff der MaBigkeit den Schliissel bietet. Danach ist der GenuB von Alkohol grundsatzlich erlaubt, jedoch nur insoweit, als das UbermaB vermieden wird. So wird im Buch Sirach her
ausgesteIlt, daB Wein »Frohsinn, Wonne und Lust« bringe, je
doch nur unter der Bedingung, daB er » zur rechten Zeit und geniigsam getrunken« werde.39 MaBig zugesprochen habe der Wein sogar die Qualitat eines Lebenswassers.4o Ansonsten gelte die Regel: » Zu viel Wein ist eine FaIle fUr den Toren, er schwacht die Kraft und schlagt viele Wunden«.41 Beim Trinken darf also die Grenze zum »Zuviel« nicht iiberschritten werden. Es stellt damit eine immerwahrende Probe fiir die Selbstbeherrschung, einen standigen Kampf gegen den Hang zu Zucht- und Ziigel losigkeit dar.42 In der Frage des zweckmaBigen Umgangs mit alkoholischen
Getranken dominierte also bereits vor der Reformation die Norm der MaBigkeit. Bis in das
17. Jahrhundert hinein war dies
auf der normativen Ebene gleichsam das allgemeine Grund prinzip im Umgang mit Alkohol. Doch hiermit handelte man sich in der Praxis ein schier unlbsbares Problem ein: Die aus dem MaBigkeitspostulat abzuleitende Selbstkontrolle war nur
schwer im Alltag einzulosen und stand zudem der Trinkkultur der Bevolkerung diametral entgegen. Dort pflegte man den sporadischen, dann zumeist aber exzessiven Alkoholkonsum, z. B. auf Festen. Zwar hatten bereits die Taufer vollige Enthalt samkeit gefordert, doch erst mit dem Pietismus sollte die unge mein radikale Forderung nach totaler Abstinenz irn Diskurs zu nehmend an Boden gewinnen.43 Das Feld fiir die radikale An ti-Alkoholbewegung des
19. Jahrhunderts war damit bereitet.44 18. Jahrhundert
Ebenfalls ein neuer Zungenschlag fand im
Eingang in die Debatte vor dem Hintergrund der sich ausbrei tenden aufklarerischen Schriften: Durch eine starkere Beschaf tigung mit naturwissenschaftlichen Fragen war der Blick ge scharft fiir die physiologischen Wirkungen des Alkoholkon sums. Auch hierbei erkannte man, daB » MaBigkeit zwar eine
Trunkene Manner und niichterne Frauen
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sehr schone Tugend« sei, daB letztlich aber nur vollige Enthalt samkeit vor dem Absturz in den Alkoholismus schiitzen kon ne.45
So unterschiedlich die einzelnen Autoren und Prediger nach
Alter, konfessioneller Zugehorigkeit und moralischem Stand
punkt auch sein mochten, in der Wahl der Adressaten ihrer Schriften und Predigten stimmten sie alle weitgehend iiberein.
Zumeist wurde die Ansprache ganz unspezifisch an ein Kollek tivsubjekt (»die Deutschen« ) gerichtet, oder die Autoren ver blieben haufig im unpersonlichen »man« , wobei der Kontext allerdings zeigt, daB hiermit in der Regel die Manner gemeint waren. Uber diese geschlechtsspezifische Differenzierung hin aus werden jedoch auch Unterscheidungen in der standischen Zugehorigkeit vorgenommen. Dabei ist insbesondere die Tatsa che bemerkenswert, daB nicht eine bestimmte soziale Gruppe im Zentrum der Kritik stand, so z. B. die Bauern, sondern daB
das Problem der Trunkenheit in allen Standen und Schichten der Gesellschaft verortet wurde. So verweist z. B. Leonhard
Schertlin46 darauf, daB ohne Unterschied alle, hoch und niedrig, arm und reich, jung und alt, Geistliche und Gelehrte yom iiber maBigen Trinken betroffen seien.47 Auch Johann Ludwig Hart
mann stellt resignierend fest, daB alle Stande von dem Laster befallen seien und oftmals selbst die Obrigkeiten dem Alkohol fronten.48 Diese Analyse muBte in hochstem MaBe alarmierend wirken und so sah auch Sebastian Franck hierin das Zeichen, daB das Ende der Welt nicht mehr fern sei.49
Doch warum bildeten in der Friihen Neuzeit alle Autoren,
Theologen wie Mediziner, eine geschlossene Abwehrfront ge gen die Praxis wiederholter Berauschung? Welche Begriindun gen fiihren sie an? Drei Gesichtspunkte bewegten sie beson ders. Als erstes betonen sie die okonomische Bedrohung, die
aus dem AlkoholmiBbrauch folgt. In dies em Zusammenhang verweisen die Autoren auf die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen, die man als Folgen der Vollerei fiirchtete. Der Trinker vernachlassige Haus und Hof, die Familie verarme, ge lange im schlimmsten Fall an den Bettelstab und belaste damit die kommunale Armenfiirsorge. Dariiber hinaus ruiniere der Alkohol das Band der Ehe, sowohl durch die emotionale Unbe rechenbarkeit der Partner als auch durch die zermiirbende oko
nomische Situation. 50 Die zweite Gefahr sahen sie in den ge sundheitlichen Folgen: Das Trinken schadige den Korper, rui-
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niere seine Kraft, lasse giftige Dampfe ins Hirn steigen und zie he damit einen Nebel vor die Vernunft.s1 Johann von Schwar zenberg charakterisiert die Trunkenheit daher auch als willent liche Krankheit, welche Leib, Seele und Ehre in Mitleidenschaft ziehe.s2 Als drittes sahen sie die Kirchenzucht gefiihrdet: So ver wei sen die Autoren wiederholt auf den Zusammenhang von ubermafSigem AlkoholgenufS und Gotteslasterung. Die durch den Alkohol gelockerte Zunge schmahe ihrer Ansicht nach nur
zu leicht den Namen des Herrn.s3 Man siindige auch, indem man die Gaben Gottes zum eigenen Verderben mifSbrauche,s4 sich der Fahigkeit beraube, zwischen heilig und unheilig zu un terscheiden,ss den Geist zum Sklaven der Begierden degradie reS6 und sich als ein von Gott mit Vernunft beschenktes Wesen selbst zum unverniinftigen Tier erniedrige.s7
2. Diskurse: Trinken und Miinnlichkeit Soweit seien die Ubedegungen von Theologen, Juristen und Medizinern zum Umgang mit dem Alkohol dargestellt, die,
wenn auch in den seltensten Fallen explizit vermerkt, sich fast ausschliefSlich an das mannliche Geschlecht als Zielgruppe richteten. Doch kommen wir nun zu der zentralen Frage, wann uberhaupt ein Mann als »rechter« Mann akzeptiert wurde und welche Rolle dabei der Alkohol spielte? In seiner Studie »Man hood in the making« stellt der Ethnologe David Gilmore mehr mals nachdrucklich heraus, dafS Mannlichkeit keine biologische Gegebenheit, nichts Angeborenes sei, sondern ein kulturelles Produkt, das lediglich mit Anstrengungen erworben werden kanne. Nach landlaufiger Meinung zeichne einen » richtigen« Mann vor allem Kraft, Harte gegen sich selbst und andere, se xuelle Potenz und auch eine gewisse Trinkfestigkeit aus.s8 Of fenbar scheint der GenufS alkoholischer Getranke in vielen Zei ten und Kulturen ein Bewahrungsfeld fUr den Mann gewesen zu sein. So bemerkte schon 1531 Matthaus Friederich in seinem » Sauffteuffel« kritisch, dafS ein jeder » seine Mannheit mit Sauf fen beweisen
/ Ritter werden / und das Feldt behalten will /
da ein jeglicher fur dem andern im Sauffen gelobet werden Will« .s9 Bereits der Kirchenlehrer Augustinus hatte in einer Pre-
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digt speziell gegen die Trinker gewettert, die, mit Wein ange fUllt, denjenigen verspotten und verachten, der nicht mit ihnen mithalten wollte. » Schamet euch
/
das ir nicht sovil wie wir
sauffen konnet« wurden sie hohnisch gegen den stacheln, der sich zuruckhalte.60 DemgemalS prangerte ger Domprediger Siegfried Sack
1595 der Magdebur (1527-1596) die sog. » Kannen
helden« an, die es nach seinem DafUrhalten als die grolSte Schande erachteten, » wenn man nicht Bescheid thun und nicht rein aussaufen kann«. Die Saufleistung selbst sah man laut Sack als Tugend und Heldentat an.6J Ein wahrer Mann, so die ein hellige Meinung in breiten Kreisen der Bevolkerung, war nur der, der sich der Herausforderung stellte und mit anderen Man
nern betrachtliche Mengen an Alkohol konsumierte. Deutlich zu Tage tritt in den Aussagen der agonale Charak
ter, der den Trinkgelagen eigen war. Mannlich war dernnach
derjenige, der mithalten konnte, der nicht, weil der Alkohol ihm die Besinnung raubte, vorzeitig aufhoren mulSte. Sieger des Wettstreits und damit im gewissen Sinne der » mannlichste Mann", war derjenige, der aufrecht, ohne erkennbaren Verlust der Kontrolle seines Korpers, die Wallstatt verlassen konnte. Als oberste Norm galt Trinkfestigkeit; selbst der Konsum be
trachtlicher Mengen Alkohol durfte sich nicht gravierend auf die Fahigkeit zur Selbstbeherrschung auswirken.62 Diese Ban
digung des eigenen Korpers auch in extremsten Situationen stand fUr Kraft und Uberlegenheit. Ein wichtiges Element in der Inszenierung dieser Hypermannlichkeit war die Prasenz eines Publikums, das die Heldentaten goutierte. Insofern stellten bei spielsweise Feste wichtige Buhnen fur diese Form mannlicher Selbstvergewisserung dar, ebenso wie Kneipen und Gasthau ser. Sowohl in der Stad t als auch auf dem Land waren die Schen ken gleichsam die zentralen Orte der Geselligkeit. Hier traf man sich, vor allem an Sonntagen, und sprach, oftmals angeheizt durch das Ritual des Zutrinkens, exzessiv dem Alkohol
ZU.63
Sicher, es fanden sich in Kneipen auch hin und wieder Frauen ein,64 doch war die Wirtsstube in erster Linie ein mannlicher Raum, an dem uber Spiel und Trunk, uber Wettbewerb und Konflikt, uber Aggression und Kommunikation eine spezifisch mannliche Identitat immer wieder aufs neue bestatigt wurde. Es gab jedoch auch eigens definierte Gelegenheiten, zu de nen die Frauen fUr sich, unter AusschlulS der Offentlichkeit, zu
sammentrafen und dabei Alkohol in z. T. exzessivem MalSe kon-
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196
sumierten. Solche » Frawen Versamlung« nannte man in Schles wig-Holstein beispielsweise » Kindsfoot«, und verstand darun ter den Brauch, >?daB, wenn eine Frau entbunden worden (ist), aIle Weiber im Dorfe zusammenkommen und sich in Gesell schaft derjenigen, die der Kindbetterin beygestanden sind, auf des Vaters Kosten, mehrentheils auf eine sehr ausschweifende und zumal dem weiblichen Geschlechte unanstandige Art be lustigen« .65 Als unanstandig wurde dabei vor allem das Trinken der Frauen gewertet.6G Charakteristischerweise war das ent scheidende Kennzeichen dieser Zusammenkunfte, daB die Frauen unter sich blieben, abgeschirmt vor den Augen der Manner, die durch die Ubernahme mannlicher Verhaltensfor men nicht provoziert werden konnten. Solange dieses Exil ge wahrt blieb, erfolgten keine Sanktionen. Erst wenn die Isolie rung durchbrochen, eine breite Offentlichkeit hergestellt wur de, setzte die Verfolgung ein.67 Auch filr andere Regionen des Reiches finden sich entsprechende Hinweise auf spezielle Ge legenheiten, bei denen Frauen in exzessivem MaBe dem Alko
hoI zusprachen, geduldet von der dorflichen (mannlichen) Of fentlichkeit. Solche » Weiberzechen« konnten vor allem im ale mannischen Raum nachgewiesen werden. An bestimmten Tagen, z. B. am Aschermittwoch, am Montag nach Invocavit oder am Pfingstmontag trafen sich die zum Teil maskierten Frauen am Marktplatz des Ortes und zogen mit zwei Fassern
Wein durch dessen StraBen. AuBerhalb des DorfE:s wurden die
mitgefuhrten Fasser geleert, wobei die Manner von diesem Ge lage ausgeschlossen blieben. Bezeichnenderweise zeigten die Frauen unter dem AlkoholeinfluB ein Verhalten, das charakte ristisch fur die Manner war: sie pobelten, fluchten, prugelten sich und warfen Fenster ein. Diese im lokalen Rahmen akzep tierte Rollenuberschreitung wurde von der Obrigkeit jedoch als Argernis wahrgenommen und entsprechend verfolgt.68 Denn bezuglich des ubermaBigen Trinkens bei Frauen waren sich aIle mannlichen Autoren und Prediger, gleich welcher Kon fession und welchen Alters, einig. Die in der Offentlichkeit trin kende Frau galt als
das
Ubel schlechthin. Bereits Sebastian
Franck hatte in seiner 1531 erschienenen Schrift » von dem greh·lichen Laster der Trunckenheit« gewettert, daB in diesen Zeiten nicht alleine die Manner, sondern sogar die Frauen ohne Scheu den Wein trinken wurden.69 Dies stellte fur den eifrigen Prediger nurmehr ein weiteres untrugliches Zeichen fur den
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Trunkene Manner und nuchteme Frauen
Niedergang aller weltlichen Ordnung dar. Luther selbst predig te acht Jahre spater, daB ein trunkenes Weib so schandlich sei, »das man solche mit fussen trette auff der gassen«?O Johann von Schwarzenberg, der Autor der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V, reimte gar
1516 in seinem popularen » Buchlein
vom Zutrinken« : » Wiewol die fUll bringt niemand ehr, So
schent sie doch die weybspild mehr«.71 Auch der wortgewaltige katholische Prediger Abraham a Santa Clara stellte noch 1709 in seinem » Centi-folium stultorum« die betrunkene Frau als das verachtenswerteste Ceschopf auf Erden dar. Wahrend man beim Mann ein Rauschlein noch ab und zu dulde, werde die Frau, deren Wesen durch Leichtfertigkeit, Wankelmutigkeit und Schwache charakterisiert sei, durch Trunkenheit nur noch schlimmer. Sie verliere hierdurch ihren groBten Schatz, die Eh re.72 In seiner medizinischen Dissertation » De ebrietate femi narum« aus dem Jahr
1737 hatte Johann Christoph Cohrs nicht
nur festgestellt, daB die Frau viel schneller vom Alkohol be rauscht werde als der Mann, sondern auch darauf verwiesen, daB aIle schlechten Eigenschaften des weiblichen Ceschlechts durch die Wirkung des Alkohols noch starker zu Tage traten.73 Der wahre Charakter der Frauen, im nuchternen Zustand oft
mals nur unzulanglich verdeckt, wird infolge des Trinkens of fenbar - eine neue Variante des Satzes » in vino veritas« . Die Crunde fUr diese vehement vertretene Position, die als
solche bis in das
18. Jahrhundert hinein eingenommen wurde,
bestanden darin, daB sich das berauschte Weib in keines der Rollenklischees von der anstandigen, keuschen, demutigen und zuruckgezogenen Frau fUgen wollte.74 Interessanterweise zeigen sich in der Trinkliteratur zwei einander ausschlieBende Bewertungen der trinkenden Frau. Zum einen wird die Angst der Manner formuliert, daB der Alkohol die Frauen zu Huren mache, sie hierdurch den Haushalt ruinieren, und die Manner bzw. die Familien ins Ungliick stiirzen. So fuhrt beispielsweise Sebastian Franck aus: » Und welches weib verhuret auff den wein ist, die schleuBt allen tugenden die thur zu
/ und thuts J Wie viI huren machet der wein / Wie vil eebruchs richt das hoflen / zechen / banketieren an. [ . . J AIda wurfft manche fraw yr angesicht entpor / und thut yr hertz auff / die nuchter die augen fein zuchtig under sich schiuB / scham rot wurd / und nit ein summ gelts nem andere man recht an allen lastern auff. [ . .
.
.
zusehen.« 75 Zum anderen wird von Autoren wie Johann von
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Michael Frank
Schwarzenberg und Matthaus Friederich als die groBte Gefahr herausgestellt, daB die Rollenuberschreitung der trunkenen Frau die Identitat der Manner angreife: Sie werde dadurch zu einem Mann.76 Die Frau kann also mit Hilfe des ubermaBigen Alkoholgenusses in die Rolle des Mannes schliipfen, dabei ver liert sie jedoch ihre weibliche Ehre. Wie Ann Tlusty zu Recht gezeigt hat, uberschreitet die trinkende Frau die klar definier ten Geschlechtergrenzen und bringt auf diese Weise die fein ausbalancierten Geschlechterbeziehungen in Unordnung.77 Nicht zuletzt diese Verunsicherungen durften dazu gefuhrt ha ben, daB das weibliche Trinkverhalten tatsachlich unter einer weit scharferen sozialen Kontrolle stand. War also Alkohol der
geheimnisvolle Stoff, aus dem Manner gemacht wurden? Dann muBte der Rausch notgedrungen ein Privileg des ersten Ge schlechts sein und bleiben.
3. Miinnlichkeitsbeweise: Regeln und Regelbruche Versuchen wir nun genauer in den Blick zu nehmen, we1che Konflikte sich aus dem Alkoholkonsum bei der Konstituierung von Mannlichkeit ergeben konnten. Denn in den Diskursen der Theologen, Juristen und Mediziner spiegeln sich sowohl die Idealvorstellungen des mannlichen Mannes als auch die Note und Gefahren bei der Formung desselben. Inwieweit der Alkohol ein zentrales Instrument fUr die Dar stellung und Ausgestaltung mannlichen Rollenverhaltens war, wurde bereits angefiihrt: Durch ausgiebigen Konsum konnte man korperliche Starke, Kraft, Uberlegenheit, Selbstkontrolle und Heldentum einer breiten Offentlichkeit eindrucksvoll un ter Beweis stellen?8 Man ging davon aus, daB die dem Getrank zugesprochene Starke auf den Konsumenten uberging und da
mit gleichzeitig das Gefuhl von Uberlegenheit vermittelte.
Doch dieser scheinbar allmachtige Stoff barg auch groBe Risi ken fur die so heiB erstrebte Mannlichkeit. Es genugte namlich nicht, dieses Getrank lediglich in sich hineinzuschutten, und
dann davon auszugehen, daB parallel zur konsumierten Menge
ein Zuwachs an mannlicher Ehre zu gewinnen sei. Die Spielre geln waren diesbezuglich wesentlich komplizierter, anspruchs-
Trunkene Manner und niichterne Frauen
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voller, was gleichzeitig die Gefahr erhohte, gegen sie zu versto iSen. Mit Hilfe des Alkohols konnte Mannlichkeit immer wieder neu konstituiert, andererseits aber auch vermindert, gar zer stort werden.
So war z. B. der regelkonforme Konsum an die Gegenwart
anderer Manner und damit an Offentlichkeit gebunden. Diese diente als Forum der gezeigten Heldentaten, zudem aber auch als Kontrollorgan. Das Trinken, der exzessive Konsum in den eigenen vier Wanden, abgeschottet vor den Augen der anderen,
konnte dagegen zur Ausgrenzung fiihren. Dies trat vor allem dann ein, wenn es sich urn einen permanent wiederholten Ex zeiS handelte, der zum dauerhaften Verlust der Selbstkontrolle fiihrte. Verlassen wir an dieser Stelle kurz die Diskursebene, urn zur Konkretisierung ein Beispiel aus dem Alltag anzufiihren. Der Meier HeiSloh, groiSter Bauer der gleichnamigen Gemeinde in der Grafschaft Lippe, erfuhr in der zweiten Halfte des
18. Jahr
hunderts am eigenen Leib die verschiedenen Stufen der sozia len Kontrolle bei VerstoiS gegen die Normen des Alkoholkon sums. Da er sich nicht mehr nur auf Festen oder bei gemeinsa men Zusammenkiinften mit den anderen Mannern des Dorfes betrank, sondern offensichtlich dem Branntwein so verfallen war, daiS er den Konsum veralltaglichte und es hierbei zu schlimmen, die Sicherheit des Dorfes gefahrdenden Auftritten kam, wurde er zunehmend ausgegrenzt. Zuerst versuchte man, ihn mit Ermahnungen, Drohungen und Schlagen von seinem Weg abzubringen. Erst als die informellen Mittel versagten, er folgte die Anzeige bei der Obrigkeit.79 HeiSloh hatte auch andere Regeln miiSachtet: Nicht nur, daiS er im Suff herumpobelte und wiiste Drohungen gegen die Dorf gemeinschaft und einzelne Bewohner ausstieiS, ungleich wich tiger war, daiS er die Selbstbeherrschung verlor, sich und seinen Konsum nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das Ideal bestand namlich im Beweis der Trinkfestigkeit; man sollte moglichst viel trinken konnen, jedoch ohne sichtbaren Kontrollverlust. Bereits Bernhard von Clairvaux
(1090-1153) hatte miiSbilligend
dar auf hingewiesen, daiS viele es als Ehre ansahen, groiSe Men gen zu saufen, ohne davon trunken zu werden.80 Ahnlich kriti sierte der Magdeburger Prediger Siegfried Sack
1595, es werde
allgemein als erstrebenswert angesehen, viel saufen zu konnen, ohne daiS dabei der Kopf schmerze.81 Der Mann, der im Rahmen
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200
des uberkommenen patriarchalischen Systems selbst herrschen sollte, konnte in den Trinkduellen seine Selbstbeherrschung un ter Beweis stellen. Sinnlose Betrunkenheit, sofern sie nicht eng in kollektive Berauschungsrituale eingebunden war, wurde als Zeichen karperlicher Schwache gewertet. Man hatte sich dem Alkohol gegenuber als unterlegen erwiesen, war von ihm » ubermannt« worden. Insofern stellten die mannlichen Trink wettbewerbe in erster Linie einen Test fur die karperliche Be lastbarkeit der Teilnehmer dar. Leistungsfahigkeit, Potenz sollte demonstriert, die Krafte im offenen Duell gemessen werden. Ais Sieger galt derjenige, der aufrecht das feuchte Schlachtfeld verlassen konnte. Entsprechende Hinweise gibt in seinen Le benserinnerungen aus dem 16. Jahrhundert der Ritter Hans von Schweinichen
(1552-1616). Eindringlich beschreibt er die wu
sten Gelage an den deutschen Hafen seiner Zeit, das hohe An sehen, das demjenigen sicher war, der alle anderen unter den Tisch zu saufen vermochte:
» In CelIe ist's einmal geschehen, daIS die Liegnitzer und Lu neburger Junker miteinander um den Vorrang im Saufen ge stritten haben. Da hab' ich neben einem Luneburger das Feld behauptet, und zuletzt sind wir beide allein nachgeblieben. Ich hab' mich nun wohl in der Lage gefiihlt, den andern im Trinken zu bezwingen. Ich hab's aber nicht gewollt, damit wir Schlesier nicht in den Ruf kamen, als hielten wir 's fur eine besondere Ehre, die Einheimischen in anderen Landesteilen wegzusaufen. Ob ich nun wohl schon mehr getrunken hatte, hab' ich's dabei gelassen, daIS die Partie unentschieden blieb. Und das hat allen Fursten grolSe Freude gemacht.« 82 Schweinichen zeigt in diesem Saufduell ein hohes MalS an diplomatischem Geschick. Bezeichnenderweise lalSt er seinen Gegner nicht siegen, sondern fUhrt eine Patt-Situation herbei eine Niederlage ware fur sein mannliches Selbstverstandnis doch zu weit gegangen. Die Trinkduelle waren jedoch nicht auf den Adel beschrankt; Hinweise auf diese Form des Mannlich keitsbeweises finden sich sowohl fUr die Bauern als auch fur die Stadtburger.83 Wenden wir uns nun anderen Gefahren zu, die sich aus den spezifischen Regeln des Mannlichkeitskomments eraffnen konnten, die das klagliche Scheitern affentlich zu mach en droh ten. Auch hier spiegeln wir wieder die Sichtweise der Prediger und der anderen Autoren, blenden also die Perspektive der
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Konsumenten weitgehend aus. Sebastian Franck verweist ein dringlich auf einen Aspekt moglicher Bedrohung: Durch ge waltiges Saufen strebe man an, als Weinritter und Bierheld ge riihmt zu werden, doch zu guter letzt obsiege der Wein iiber den Kopf. Der Alkohol werfe den HeIden von der Bank und auf diese Weise werde der Saufritter ein Saukoch, der sich schmah
lich iibergeben miisse. Der, der ein stolzer Held sein wollte, lie
ge nun da als unvemiinftiges Tier, hilflos dem Spott der Kinder
preisgegeben. Die AusfUhrungen des Autors gipfeln in der re signierenden Feststellung: »Mich wundert das wir ritter und sollich heIden wollen sein
/ kiinden noch den wein nit uber
winden«.84 Franck konstatiert letztlich die Aussichtslosigkeit
des Unterfangens, iiber das exzessive Trinken Mannlichkeit zu erringen. Der Alkohol erweist sich am Ende doch als starker. Der hierdurch bewirkte Kontrollverlust, die Entgrenzung und Befleckung des eigenen Korpers durch Erbrechen kontrastiert in frappanter Weise mit dem Bild mannlicher Starke: Der iiber
mannte Zecher wird zum Gespott der Kinder, den Zudringlich
keiten von Schweinen und Hunden hilflos ausgeliefert. Wie ein kleines Kind bzw. ein yom hohen Alter gezeichneter Mensch vermag er seine KorperfunktioDen nicht mehr zu beherrschen, sabbert, kotzt, beschmutzt seine Hosen.8s Die mangelnde Korperkontrolle liefS den Trunkenen in den Augen der Autoren zum kleinen Kind bzw. zum alten Men schen werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage der Schrift von Leonhard Schertlin zu verstehen, der
1538 be
tonte, dafS, je mehr die Manner tranken, sie urn so mehr zu Kin dem und Narren wiirden.86 Beide, sowohl Kind als auch Greis, vermochten ihre Korperfunktionen noch nicht bzw. nicht mehr ausreichend zu kontrollieren, standen somit als Symbole von Unvollkommenheit bzw. Verfall.87 Die strengen Regeln der Mannlichkeitsrituale bargen fUr die Teilnehmer also grofSe Konfliktpotentiale. Wie bereits hera us gestellt, galt das ungeschriebene Gesetz, dafS selbst nach grofSe ren Trinkmengen der Mann seinen Korper unter Kontrolle ha ben sollte und im Demonstrieren der Trinkfestigkeit moglichst allen anderen Teilnehmem iiberlegen sein mufSte. Damit eroff nete sich aber leicht die Gefahr, nicht mehr »mittun« zu konnen, den Wettb ewerb zu verlieren, an einen Starkeren zu geraten und letztlich als weibisch, viehisch oder gar kindisch ge schmaht zu werden. Die mannliche Ehre konnte durch das Sau-
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fen gemehrt, noch leichter konnte sie aber auch durch Versagen geschmalert werden. Dem geforderten Mannlichkeitsideal ver mochte man nur schwer, unter grolSen Anstrengungen und Ge fahren gerecht zu werden. Die Anforderungen mulSten auf den Einzelnen sicherlich bedrohlich wirken. In ethnologischen Un tersuchungen wird bezeichnenderweise auf die Versagensang ste hingewiesen, die durch die schier erdruckenden Leitbilder der Mannlichkeit hervorgerufen wurden, dem Zwang zur Ab grenzung vom weiblichen Geschlecht, zur Abgrenzung von
den Angsten des Kind- und Altseins.88 1m Diskurs uber den trunkenen Mann wurde als eine der grblSten Gefahren die Bedrohung der uberkommenen Ge schlechterrollen gesehen. Der Prediger August Zacharia wies beispielsweise
1809 mit drohend erhobenem Zeigefinger dar
auf hin, dalS der ubermalSige Alkoholkonsum die klassische Rollenverteilung in der Familie gefahrde: Da der standig be trunkene Ehemann nicht mehr seine ihm zugewiesenen Aufga ben nachkommen kbnne, musse die Frau notgedrungen seine Pflichten ubernehmen und nun fur den Unterhalt der Familie Sorge tragen, urn das Uberleben der Kinder zu gewahrleisten.89 Auf diese Weise wurde der Mann mitversorgt, war der Unter legene, der von der Kraft und der Leistungsfahigkeit seiner Frau abhangig war - eine letztlich unertragliche Vorstellung fur den Prediger.90 Auch Luther wertete die Trunkenheit des Man nes als grolSe Gefahr fur die uberkommene Geschlechterord nung. In seiner Predigt am Sonntag Exaudi des Jahres
1539, sei
ner Hauptpredigt gegen das Laster des »Saufens« , verweist der Reformator eindringlich auf die besondere Schmach, die den Mannern aus dem Laster der Trunkenheit erwachse. Wenn man schon einer Frau den MilSbrauch des Alkohols als Schande an rechnen musse, urn wieviel mehr » solte sich das Manns volek dafiir schamen?« Denn » ainem Mann ist ja mehr und hbher ver stand, mut und bestendigkait gegeben. Darumb solI er auch verniinfftiger und weniger ain Saw sein« .91 Luther knupft da mit an die scholastische Tradition eines Thomas von Aquin an, der in seiner Summa theologica den Mann als das von Gott mit mehr Vernunft als die Frau ausgestattete Wesen ansieht. Diese setze Menschen in die Lage, den Leidenschaften Widerstand zu leisten.92 Doch der Vernunft, gbttliches Zeichen der Mannlich keit, entzieht sich der Saufer. Der Mann, der mit hbherem Ver
stand ausgestattet sei, gebe dies en selbst mit Hilfe des Alkohols
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auf. Nun zeigt sich, daB plOtzlich die Frau trotz ihres geringeren Verstandes den Verlockungen der Stinde eher Widerstand lei sten kann, also sittlicher ist, als der Mann. Sie erweist sich ihm als tiberlegen, stellt damit an einem entscheidenden Punkt die Geschlechterhierarchie auf den Kopf. Der trunkene, unverntinf tige Mann hier, die ntichterne, verntinftige Frau dort - das war der Skandal ftir die mannlichen Theologen.
4. Resiimee »Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann«. Dieses eingangs zitierte Sprichwort hat vor dem Hintergrund der eben gemachten Darlegungen einen zusatzlichen Bedeu tungsgehalt gewonnen: Es zeigte sich, welcher Druck auf dem einzelnen Mann lastete, sich tiber das in agonale Rituale der mannlichen Selbstdarstellung eingebundene exzessive Trinken als richtiger Mann zu beweisen. Dabei schwebte jedoch perma nent das Damoklesschwert moglichen Scheiterns tiber dem Ein zelnen, die Gefahr, den Spielregeln des Mannlichkeitsbeweises nicht gerecht werden zu konnen, zu versagen und im Extrem fall aus der Gruppe der Manner ausgeschlossen zu werden. Das scheinbar so harmlose Trinken der Manner erwies sich im Spiegel der Theologen, Juristen und Mediziner als eine zen trale Gefahr ftir die Aufrechterhaltung der Geschlechterord nung. Diese beruhte, wie Heide Wunder unlangst wieder be tonte, auf der Dialektik von »mannlicher Starke« einerseits und » weiblicher Schwache« andererseits.93 Doch gerade die » mann liche Starke« konnte durch das exzessive Trinken Schaden neh men, denn die Frau vermochte sich nun durchaus als die Ver nunftbegabtere erweisen. Entsprechend btindelte Sebastian Franck seine Beftirchtungen auch in der Ansicht, daB die nattir liche Ordnung der Geschlechter durch das Saufen aufgehoben wtirde, da » kein fraw keins mans mehr achtet<<» 94 Als ab schreckendes Beispiel muBte daher das Alte Testament herhal ten: Der assyrische Heerftihrer Holofernes konnte von der scho nen Judith nicht zuletzt deswegen getotet werden, da er sich mit Wein betrunken hatte.95 Dies war geradezu der symbolische Triumph der ntichternen Frau tiber den trunkenen Mann!
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Abschliegend fallt es schwer, eine spezifische Entwicklungs dynamik im dargelegten Trinkdiskurs zu erfassen. Sein Cha rakteristikum scheint geradezu die weitgehende Statik gewe sen zu sein, und dies sowohl, was die Einschatzung des Alko holkonsums generell als auch was die geschlechtsspezifische Perspektive anbetrifft. Denn in der ersten Halfte des 16. Jahr hunderts wurden die zentralen Argumente formuliert, die den spateren Autoren, Theologen wie Medizinern, als immer wie derkehrende Folie dienten. Bis Ende des 17. Jahrhunderts wird man in der Erorterung des Problems vergeblich etwas Neues oder Originelles suchen; die alten Denkmuster werden weiter reproduziert. Ein klarer Einschnitt im theologischen Diskurs zeichnet sich erst mit dem Pietismus und seiner radikalen Ab lehnung des Alkoholkonsums abo Die Entdeckung der Trunk sucht als Krankheit und damit die Aufhebung des moralischen Verdikts personlicher Siindhaftigkeit sollte bei den Medizinern erst rund 100 Jahre spater Bewegung in den festgefahrenen wis senschaftlichen Diskurs bringen.96 1m Ruckblick erweist sich Mannlichkeit historisch als sehr widerspruchlich. Die Ambivalenz von Starke und Schwache, von Wettkampf und Zuruckhaltung, von Rausch und Korper kontrolle produzierten einen unsicheren, da standig bedrohten Status. Alkohol war in diesem Zusammenhang ein machtiger Stoff: Er konnte aus Miinnern HeIden aber ebenso Memmen machen. Der richtige Umgang mit diesem Teufelselexier ver mag jedoch auch heute noch nicht zu gelingen. Am Ende stellt sich die Frage, welche Moglichkeiten und Grenzen der hier skizzierte Ansatz fur die Geschlechtergeschich te bietet. Eine selbstkritische Bilanz verdeutlicht zum einen, dag es mit Hilfe der Diskursanalyse moglich ist, die Vorstellungen eines bestimmten Personenkreises zum Alkoholkonsum im all gemeinen und zur geschlechtsspezifischen Konnotierung im be sonderen zu entschlUsseln. Auf diese Weise konnen hochst dif ferenzierte Einblicke in die Vorstellungswelten, Erwartungshal tungen und Wirklichkeitskonstruktionen einzelner Menschen gewonnen werden. Doch was mit dem hier praktizierten Zugriff zum anderen weitgehend ausgeblendet bleiben mug, sind die Vorstellungen der Bevolkerungsmehrheit und die Spiegelungen dieser Konstruktionen in der Umsetzung des Alltagshandelns. Hier durfte sicherlich ein lohnendes Feld weiterer geschlechter geschichtlicher Forschung liegen.
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Anmerkungen Der vorliegende Beitrag ist das erste Ergebnis eines von der Volks wagen-Stiftung finanzierten und von Wolfgang Mager an der Universitat Bielefeld geleiteten Forschungsprojektes zur Sozialgeschichte des Alkohol konsums in der Fruhen Neuzeit (1500-1800). Fur wertvolle Hinweise und Kritik bin ich Gabriela Signori zu Dank verpflichtet. Eine vorlaufige Version dieses Aufsatzes wurde in dem von Gisela Bock geleiteten Bielefelder Kol loquium »Aktuelle Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte« vorgestellt. Allen Teilnehmerinnen danke ich fur die anregende Diskussion. 2 Lipperheide, Franz Freiherr von: Spruchworterbuch, 3. Aufl., Berlin 1934, 705; Wander, Karl Friedrich Wilhelm: Deutsches Sprichworter-Lexi kon, Bd. 3, Leipzig 1873 (Neudruck Darmstadt 1964), Sp. 1509. 3 Wander, Bd. 5, Leipzig 1880 (Neudruck Aalen 1963), Sp. 24. 4 Ebd., Bd. 1, Leipzig 1867 (Neudruck Aalen 1963), Sp. 446. 5 Als informativer Einstieg in den Problemzusammenhang der Dis kurstheorien dienen u. a. die Beitrage in dem von Jiirgen Fohrmann und Harro Muller herausgegebenen Sammelband Diskurstheorien und Litera turwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, insbesondere der Aufsatz von Frank, Manfred: Zum Diskursbegriff bei Foucault, 25-44. Vgl. daruber hinaus den Beitrag von Schottler, Peter: Mentalitaten, Ideologien, Diskurse. Zur sozial geschichtlichen Thematisierung der » dritten Ebene« , in: Ludtke, Alf (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Le bensweisen, Frankfurt/M. 1989, 85-136. 6 Zur TrinkIiteratur des 16. Jahrhunderts als eigenstandige Gattung vgl. Hauffen, Adolf: Die Trinklitteratur in Deutschland bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift fur Literaturgeschichte 2 (1889), 481-516; Klaa/5, Eberhard: Artikel Trunkenheitsliteratur, in: Mer ker, Paul/StammJer, Wolfgang (Hg.): Reallexikon der deutschen Literatur geschichte, Bd. 4, Berlin 1931, 102-104. 7 Schwarzenberg, Johann von: Das Buchlein vom Zutrinken 1534 (Neudruck Halle as. 1900). 8 Franck, Sebastian: Von dem grewlichen laster der trunckenheit, so in disen letsten zeiten erst schier mit den Frantzosen auffkommen, [Justenfel den) 1531. 9 Friederich, Matthaus: Widder den Sauffteuffel / gebessert / und an vielen Ortern gemehret . . . » O. O. 1557, in: Stambaugh, Ria (Hg.): Teufelbu cher in Auswahl, Bd. 5, Berlin 1980, 5-114. 10 Vgl. Brant, Sebastian: Das Narrenschiff, Stuttgart 1964 (Erstausgabe Basel 1494). 11 Die Angaben zu den einzelnen Auflagen mit Erscheinungsjahr fin den sich bei Roos, Keith L.: The devil in the 16th century German literature. The Teufelsbucher, Bern 1972. 12 Moser-Rath, Elfriede (Hg.): Predigtmaerlein der Barockzeit. Exem pel, Sage, Schwank und Fabel in geistJichen Quellen des oberdeutschen Raumes, Berlin 1964; Dies.: » Lustige Gesellschaft<<. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts im kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext,
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Stuttgart 1984; Dies.: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spie gel siiddeutscher Barockpredigten, Stuttgart 1991. 13 Diese These findet sich in Berger, Herbert/Legnaro, Aldo/Reuband, Karl Heinz: Alkoholkonsum als soziales Problem: Zur soziologischen Ana lyse gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse, in: Dies. (Hg.): Alkoholkon sum und Alkoholabhiingigkeit, Stuttgart 1980, 9-14, hier 11. 14 Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe ( WA), Bd. 51, Weimar 1914, 257. Auch in seiner beriihmten Schrift aus dem Jahr 1520 » An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besse rung« findet sich ein entsprechender Hinweis. Luther spricht hier von dem »Miszprauch fressens und sauffens, davon wir Deutschen, als einem szon dern laster, nit ein gut geschrey haben in frembden landen« (WA 6 [1888], 467). 15 Zur Trinkliteratur vgl. Hauffen (1889), 481-516; dariiber hinaus Klaa15 (1931), 102-104. 16 Vgl. z. B. Augustini, Sancti Aurelii: Sermo CCXCIV Admonitio ut ebrietatis malum totis viribus caveatur, in: Ders.: Opera Omnia, hg. v. J.-P. Migne, Bd. 39, Tumhout 1841, 2303-2306; ebenso Ders.: Bekenntnisse. Uber tragen von Carl Johann Perl, 5. Aufl., Paderborn 1963, 272, 382 (1543), 12. 17 »Ebrietas ligat rationem. Adjuvat autem ad iram« ; Aquin, Thomas von: Summa Theologica, Quaestio 46, Articulus IV, Bd. 10, Heidelberg 1955, 391 . Mit Verweis auf die Kardinaltugend der »temperantia« vgl. Ders.: Quaestio 61, Articulus II, Bd. 11, Salzburg 1940, 225. 18 Dargelegt z. B. in der Predigt »Von den sieben Schiipfungstagen« , in: Ders.: Deutsche Predigten, hg. v. Dieter Richter, Miinchen 1968, 49 f. Vgl. dariiber hinaus Stubbe, Ch.: Berthold von Regensburg, in: Alkoholismus 3 (1902), 187-192. 19 Rotterdam, Erasmus von: Laus Stultitiae. Das Lob der Torheit, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1975, 108: »Proinde cum inter multas Bacci laudes, illud habeatur, ut est primarium, quod animi curas eluat, idque ad exiguum modo tempus, nam simulatque villum edormieris, protinus albis, ut aiunt, quadrigis recurrunt anirni molestiae« . 20 Zur Differenzierung von »ebriositas« und »ebrietas« in der Ortho doxie vgl. Schmidt, Kurt Dietrich: Die Alkoholfrage in Orthodoxie, Pietis mus und Rationalismus, Berlin 1927, 10. 21 Vgl. Weidensee, Eberhard: Sermon von dem grausamen und un menschlichen Laster des Vollsaufens, Goslar 1540. 22 Hartmann, Johann Ludwig: Saufteufels Natur, Censur und Cur, Be schaffenheit, Abscheulichkeit, Vermeydung Notwendigkeit und Entschul digung Nichtigkeit, Niirnberg 1679, 17. 23 »Ebrietas est, per quam menti quaedam sui oblivio generatur, ex su perfluorum potuum indulgentia<<. Zit. nach Hartmann (1679), 19. 24 Vgl. die entsprechenden Hinweise zu Luthers Lebensfiihrung bei Allwohn, Adolf: Luther und der Alkohol, Berlin 1929, bes. 21 ff. 25 Luther WA 47 (1912), 762. 26 Umfassend zur Position Luthers beziiglich der Alkoholproblematik vgl. Allwohn (1929), bes. 9-13; ebenso Blanke, Fritz: Reformation und Al koholismus, in: Zwingliana 9 (1949/53), 75-89, bes. 86 f. 27 Luther WA 47 (1912), 762. =
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28 Calvin, Johannes: Corpus Reformatorum, Bd. 30, Braunschweig 1886, 565 f. (Auslegung des 1. Buch Samuel): » quemadmodum vinum da tum est non tantum ad cor humanum sustentandum, sed etiam ad illud exhilarandum«. 29 Vgl. Ders.: Corpus Reformatorum, Bd. 54, Braunschweig 1895, 510: » Car qU'est-ce que que l'yvrongnerie, sinon une brutalite qui est pour effa cer toute raison et intelligence en ceux qui sont creez 11 l'image de Dieu? Car nous sc;avons qu'en un homme yvre il n'y a plus ni honnestete, ni discreti on, non plus qu'en un asne ou en un cheval, et encores il est beaucoup pire. Car les bestes retienent encores leur naturel: mais un homme est tout des figure, c'est un monstre«. Ebenso: » Fortes vel robustos ad bibendum vocan do facete eos perstringit, quod vires suas in Bacchi militia consumant. Est autem haec foeda et belluina ambitio, quod firma valetudine praeditus vi gorem suum large potando ostentat«. Corpus Reformatorum, Bd. 36, Braunschweig 1888, 118. Die Haltung Calvins zum Alkohol legen dar: Brun ner, Peter: Die Alkoholfrage bei Calvin. Ein Beitrag zum Verstandnis der Ethik Calvins und zur Geschichte der Nuchternheitsbewegung, Berlin 1930; ebenso Blanke (1949/53), 75-89. 30 Vgl. Santa Clara, Abraham a: Centi-Folium Stultorum In Quarto. Oder Hundert Ausbiindige Narren In Folio ( . . . ) und erbaulichen Sitten Lehren angerichtet, Nurnberg 1709 (Faksimile Ausgabe Dortmund 1978), 367: » Zwar einer Manns Persohn gehet es noch bilSweilen hin / ob er schon ein Reuschel heimb bringt; Dann wir lesen / daIS nicht allein der unfreundlich und abgeschmache Nabal, sondern auch Joseph mit seinen Brudern / und Boos mit seinen Schnitteren / haben einen Trunck gethan; [ . . . J Aber widerumb auf die Zech und Wein Bruder zu kommen / sage ich / daIS kein bessere Gelegenheit zur Sund / kein nahenderer Weeg zur Hbll / kein grbssere Gefahr den Himmel zu verschertzen / seye / als das statte Vollsauffen / wegen dessen viel tausend Schlemmer in der Hbllen bey dem Bach deB Uberflusses sitzen«. 31 Vgl. Psaimen, 104:15. 32 Sirach, 31:27. 33 Zur EntblblSung des berauschten Noa vgl. Genesis, 9:18--29. 34 Zur Verfiihrung Lots zum Beischlaf mit seinen Tbchtern mittels AI kohol vgl. ebd., 19:30-38. Ikonographische Zeugnisse dieser Thematik wie auch des berauschten Noa finden sich in Chayette, Herve: Le yin 11 travers la peinture, Paris 1984. 35 Vgl. Sirach, 18:33; 19:1. 36 Ein entsprechender Hinweis findet sich z. B. ebd., 37:27. 37 Jesaja, 5:22. 38 Diese Drohung spricht Paulus gleich an zwei Stellen aus: Zum einen in 1 Korinther, 6:9-10, zum anderen in Galater, 5:19-21. 39 Sirach, 31:28. 40 So bezeichnet Sirach in diesem Zusammenhang den Wein; vgL ebd., 31:27. 41 Ebd., 31:30. 42 Der Begriff der Selbstbeherrschung ist zentral bei Sirach; vgL z. B. ebd., 31 :26. =
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43 Zur Haltung des Pietismus vgl. Spener, Philipp J.: Pia desideria, 3. Aufl., Berlin 1964; jiingst dazu: Brecht, Martin: Der Pietismus im acht zehnten Jahrhundert, Gottingen 1995; Witt, Ulrike: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus, Halle 1996; ansonsten zur Einstellung des Pietismus speziell zur Alkoholfrage vgl. Schmidt (1927), 12-17. 44 Zur Entwicklung der Abstinenzbewegung im 19. Jahrhundert vgl. Bergman, Johann/Kraut, R : Geschichte der Antialkoholbestrebungen. Ein Uberblick, Hamburg 1907; Spode, Hasso: Die Macht der Trunkenheit. Kul tur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993; Tap pe, Heinrich: Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduk tion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland yom fruhen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1994. 45 Schmidt (1927), 20. 46 Die genauen Lebensdaten von Leonhard Schert1in lassen sich nicht ermitteln. Resignierend vermerkt die Allgemeine Deutsche Biographie: »Von seinem Leben ist weiter nichts bekannt, als daB er am 10. Februar 1538, als er die Widmung seines Dialogs uber die Trunkenheit schrieb, zu Klin genmunster in der Pfalz wohnte«. Bd. 31, 1890 (ND Berlin 1970), 13l. 47 Vgl. Schertlin, Leonhard: Kiinstlich trincken. EYn Dialogus von Kunstlichem, vnd hoflichem, Auch vihischem vnd vnzuchtigem trincken, StraBburg 1538, [10]. 48 So Hartmann (1679), 80, 92. 49 Franck (1531), 24, 53. 50 Nachdrucklich dazu vor allem Zacharia, August: Predigten, Altona 1808, 319, sowie Jochims, Jacob: Hauspostille oder Predigten, dem Zweck gemaB zur Erbauung der Christen und insbesondere der Landleute, Mel dorf 1788, 428. 51 So beispielsweise der Hinweis bei Franck (1531), [38]. 52 Vgl. Schwarzenberg (1534), 9. 53 Vgl. Vom zutrincken laster unnd miBbrauch die schentlichen daraufS erfolgen, Darmit yetzt die gantze Teutsch Nation befleckt ist, Eylenbrugk 1524, [1]; Franck (1531), [38]; Friederich (1557), 39, 87. 54 Jochims (1788), 40. 55 So Nuber, Veit: Ein kurtze unnd nutzliche warnung, des grewlichen lasters des zutrinckens, Nurnberg 1545, [14]. 56 Diese Einschatzung bei Cramer, Johann Andreas: Sammlung einiger Predigten, Theil 1, Kopenhagen 1755, 130. 57 Stellvertretend fur eine Reihe von Autoren: Zacharia (1808), 303; San ta Clara (1709), 154. 58 Gilmore, David G.: Manhood in the making. Cultural concepts of masculinity, London 1990 (deutsch: Mythos Mann. Wie Manner gemacht werden. Rollen, Rituale, Leitbilder, Miinchen 1993). 59 Friederich (1557), 12; zu den Teufelbuchern allgemein Osborn, Max: Die Teufelsliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1893 (Neudruck Hildes heim 1965); Roos (1972). 60 Augustinus, Aurelius: Von Zusauffen und Trunckenheit, sampt jren schonen fruchten, Drey Christliche Predige s. Aurelii Augustini, verteutscht Durch Melchior Ambach, Frankfurt/M. 1543, 12.
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b: Zit. nach Bode, Wilhelm: Kurze Geschichte der Trinksitten und Ma l5igkeitsbestrebungen in Deutschland, Miinchen 1896, 16. 62 Hierzu Hinweise bei diversen Vertretern der Trinkliteratur. Vgl. z. B. Hartmann (1679), 31; Oberbreyer, Max (Hg.): Jus potandi oder Deutsches Zech Recht. Commentbuch des Mittelalters (1616), 2. Aufl., Heilbronn 1874, 63 f.; Franck (1531), [30]; zur Darstellung des Predigers Siegfried Sack vgl. Bode (1896), 16. 63 Zu diesem Aspekt vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genul5mittel, Frank furt/M. 1980, 186; Wrightson, Keith: Alehouses, order and reformation in rural England, 1590-1660, in: Yeo, E. u. S. (Hg.): Popular culture and class conflict 1590-1914, Brighton 1981, 1-27, hier 1; Clark, Peter: The English alehouse. A social history 1200-1830, London 1983. 64 Fur Lippe zeigt dies Roland Linde am Beispiel der Kneipenvisitiati onsakten; Ders.: Landliche Kriige. Wirtshauskultur in der Grafschaft Lippe .im 18. Jahrhundert, in: Baumeier, Stefan/Carstensen, Jan (Hg.): Beitrage zur Volkskunde und Hausforschung 7, Detmold 1995, 7-50, hier 34; fur die Grafschaft vgl. auch Frank, Michael: Alkohol und landliche Gesellschaft in der Friihen Neuzeit. Untersuchungen am lippischen Fallbeispiel, in: Lippi sche Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 65 (1996), 107-127; fur Augsburg: Tlusty, B. Ann: Das ehrbare Verbrechen. Die Kontrolle uber das Trinken in Augsburg in der friihen Neuzeit, in: Zeitschrift des historischen Vereins fUr Schwab en 85 (1992), 133-155; Dies.: The Devil's Altar: Taverns and Society in Early Modem Augsburg, PhD. diss. University of Maryland, 1994; fUr Holstein: Publicola, Quintus Aemilius: Eindrucke aus den Elbmar schen yom Ende des 18. Jahrhunderts, in: Archiv fUr Agrargeschichte der holsteinischen Elbmarschen 10 (1988), 29-31, hier 31; Potthof, C. H./ Kossenhaschen, Georg: Kulturgeschichte der deutschen Gaststatte, Berlin o. J. (1933), 42, 150; Schultze, Rudolf: Geschichte des Weins und der Trink gelage. Ein Beitrag zur allgemeinen Kultur- und Sittengeschichte, Berlin 1867, 18I. ; 65 Kramer Karl-Sigismund: Volksleben in Holstein. Eine Volkskunde aufgrund archivalischer Quellen, 2. Aufl., Kiel 1990, 244. Kramer bezieht sich hier auf die }) Verordnung wegen Abstellung der bei Hochzeiten, Kinds taufen, Begrabnissen etc. auf dem Lande vorgehenden Uppigkeiten« Yom 14.10.1778, abgedruckt in den Schieswig-Hoisteinischen Anzeigen des Jah res 1778, 854-861; 870-873, hier 859. Eine genaue Definition des » Kindsfoot« gibt Schutze, Johann Friedrich: Hoisteinisches Idioticon, Bd. 1, Hamburg 1800, 82 ff. 66 Vgl. z. B. die diesbezugliche harsche Kritik des koniglich-danischen Konsistorialrats und Kirchenprobstes Jacob Joachims, in: Ders.: Hauspostil Ie oder Predigten, dem Zweck gemal5 zur Erbauung der Christen und ins besondere der Landleute . . . , Bd. 1, Meldorf 1788, 181. 67 Zur Verfolgung bei Herstellung von Offentlichkeit vgl. Kramer (1990), 249. 68 Das Institut der Weiberzeche war am ausgepragtesten im EIsal5. Zu den beschriebenen, lokal unterschiedlich gehandhabten Formen vgl. Pfle ger, Alfred: Weibertage und Frauenrechte im EIsal5, in: ElsaBland 10 (1930), 33-37, 67-70; Ehret, 1.: Weinbau, Weinhandel und Weinverbrauch in Geb=
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weiler. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Furstabtei Murbach, Hei delberg 1932, 233 f. 69 Franck (1531), [35]. 70 Luther WA 47 (1912), 76l. 71 Schwarzenberg (1534), 24. Die erste Ausgabe erschien 1516. 72 Vgl. Santa Clara (1709), 367. 73 Gohrs, Johann Christoph: Dissertatio inauguralis medica de ebrieta te feminarum. Von versoffenen Weibspersonen etc., Halle 1737, 17 f. Zur Dissertation Gohrs und deren medizinhistorischer Einordnung vgl. Diep gen, Paul: Der Alkohol in der Medizingeschichte, in: Jahrbuch der Gesell schaft fur die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens e. V. (1937), 7-30, bes. 10 f. 74 Zu den gewiinschten Tugenden der Ehefrau vgl. Scrivern, Christian: Die Geheiligte und Gott wolgefallige Christliche HauB-Haltung . . . , Frank furt 1688, 976. 75 Franck (1531), [14]. 76 So z. B. die Aussagen von Johann von Schwarzenberg und Matthaus Friederich; vgl. Schwarzenberg (1534), 40; Friederich (1557), 77. 77 Tlusty, B. Ann: Crossing gender boundaries: Women as drunkards in early modem Augsburg, in: Backmann, Sibylle, u. a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Fruhen Neuzeit. Identitaten und Abgrenzungen, Berlin 1998, 185-197; ebenso Dies.: Gender and alcohol in early modem Augsburg, in: Histoire sociale - social history 27 (1994), 241-260. 78 Vgl. hierzu beispielsweise die AusfUhrungen von Sebastian Franck (1531). 79 Die Angaben zur Trinkerkarriere des Hermann Simon HeBloh finden sich im Staatsarchiv Detmold in folgenden Faszikeln: L 13 Nr. 41 u. 42; L 69 Nr. 205; L 107 B Nr. 2; L 89 A I Nr. 12l. 80 Der Hinweis findet sich bei Hartmann (1679), 10. Des weiteren zur Einschatzung des Alkoholkonsums beim Kirchenlehrer Bernhard von Clairvaux vgl. Ders.: Sententiae, in: Winkler, Bernd (Hg.): Samtliche Werke, Bd. 4, Innsbruck 1993, 698 (» Exterior ebrietas est voluptatis effluxio«). 81 Zit. nach Bode (1896), 16. 82 Goos, M. (Bearb.): Deutsches Burgertum und deutscher Adel im 16. Jahrhundert. Lebens-Erinnerungen des Burgermeisters Bartholomaus Sastrow und des Ritters Hans von Schweinichen, Bd. 1, Hamburg 1907, 211. 83 So weist beispielsweise Adolf Hauffen darauf hin, daf5 die Sitte des Zutrinkens im 16. Jahrhundert in allen Standen gleichermaBen betrieben wurde; vgl. Ders. (1889), 491 f. 84 Franck (1531), [53]. 85 Zur Aburteilung leichterer Vergehen, z. B. bei Feld- oder Gartendieb stiihlen, wurde der Delinquent in manchen Regionen des Alten Reiches in ein sog. Drillhauschen gesperrt. Hierbei handelte es sich urn einen holzer nen Kafig, der so befestigt war, daB er urn seine eigene Achse gedreht wer den konnte. Zur Belustigung des Publikums wurde der Ubeltater solange herumgewirbelt, bis dieser sich ubergeben muBte. Die Schmach der Selbst beschmutzung wurde insofern fUr Belange der Strafrechtspflege instru mentalisiert. Vgl. Schild, Wolfgang: Alte Lemgoer Kriminalgerichtsbarkeit, in: Johanek, Peter/Stower, Herbert (Hg.): 800 Jahre Lemgo. Aspekte der
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Stadtgeschichte, Lemgo 1990, 141-170, hier 154. Zur Frage der Selbstbeflek kung des mannlichen Karpers durch Uberfiillung, wie sie im Reinheitsdis kurs des 15. Jahrhunderts thematisiert wird, vgL die interessanten Ausfiih rungen von Burghartz, Susanna: Jungfraulichkeit oder Reinheit? Zur Anderung von Argumentationsmustern vor dem Basler Ehegericht im 16. und 17. Jahrhundert, in: Diilmen, Richard van (Hg.): Dynamik der Traditi on. Studien zur historischen Kulturforschung IV, Frankfurt/M. 1992, 13-40, hier 31. Das Problem des Umgangs des Menschen mit seinem Karper und die Veriinderungen, denen dieser unterlag, wird in den Beitragen des fol genden Sammelbandes thematisiert: Diilmen, Richard van (Hg.): Karper Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung V, Frankfurt/M. 1996. Aus kulturanthropologischer Sicht befaBt sich mit dieser Thematik z. B. Douglas, Mary: Reinheit und Gefahrdung. Eine Studie zu Vorstellun gen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985. 86 Schertlin (1538), [10]. 87 Gabriela Signori hat am Beispiel der spatmiUelalterlichen Josephs Ikonographie die Ambivalenz aufgezeigt, die in der affentlichen Bewertung des Greises gegeben war: Zum einen wurde ihm zweifellos im popularen Meinungsbild der Respekt und die Anerkennung des Alters zugestanden, zum anderen galt aber auch die Vorstellung von Gebrechlichkeit und sexu eller Impotenz, Merkmale, die im diametralen Gegensatz zur Mannlichkeit standen. VgL Dies.: Die verlorene Ehre des heiligen Joseph oder Mannlich keit im Spannungsfeld spatmittelalterlicher Altersstereotypen. Zur Genese von Urs Grafs » Heiliger Familie« (1521), in: Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Friihen Neuzeit, Kaln 1995, 183-213. 88 Zu diesem Aspekt vgL z. B. Gilmore (1993), 11, 20, 87 ff. Vielleicht resultierten aus diesen Angsten zumindest teilweise die von Lyndal Roper hervorgehobenen sozial starenden Aspekte der Mannlichkeit, die Gewalt tatigkeiten, die sich gerade unter dem GenuB von Alkohol eruptiv entladen konnten. VgL))ies.: Mannlichkeit und mannliche Ehre, in: Hausen, Ka rin/Wunder, Heide (Hg.): Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Frankfurt/M. 1992, 154-172, hier 155. 89 Zacharia, August: Predigten, Altona 1809, 319. 90 VgL ebd., 920. 91 Luther WA 47 (1912), 761. 92 Aquin, Thomas von: Summa Theologica, Quaestio 156, Articulus I sowie Quaestio 168, Articulus I, Bd. 22, 131, 331, Graz 1993. 93 VgL Wunder, Heide: » Weibliche Kriminalitat« in der FrUhen Neu zeit. Uberlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ulbricht, OUo (Hg.): Von Huren und RabenrniiUem. Weibliche Kriminalitat in der Friihen Neuzeit, Kaln 1995, 39-61, hier 56. 94 Franck (1531), [3]. 95 Zur Tatung des Holofernes durch Judith vgL Judith, 13:1-10. 96 Als einer der ersten stellte Christoph Wilhelm Hufeland den patho logischen Charakter des iibermaBigen Trinkens heraus, wobei die Ausbil dung des neuen Paradigmas, das den Begriff der Schuld durch den der Krankheit ersetzte, sich iiber Thomas Trotter hin zu C. von BrUhl-Cramer vollzog. VgL Hufeland, Christoph W: Ueber die Vergiftung durch Brannt-
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wein, Berlin 1802; Trotter, Thomas: Ober die Trunkenheit und deren EinfluB auf den menschlichen Karper. Eine philosophische, medizinische und che mische Abhandlung, Lemgo 1804 (1821); Bruhl-Cramer, C. v. : Ober die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben, Berlin 1819. Eine dezidierte Darstellung der Entwicklung des Suchtbegriffs gibt Spode, Has so: Das Paradigma der Trunksucht. Anmerkungen zu Genese und Struktur des Suchtbegriffs in der Modeme, in: Zur Sozialgeschichte des Alkohols in der Neuzeit Europas, hg. v. H. W. Fahrenkrug, Lausanne 1986, 178-191; Ders.: Krankheit des Willens. Die Konstruktion der Trunksucht im medizi nischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, in: Sociologia-Internationalis 29 (1991), 207-234.
Heinrich R. Schmidt
Hausvater vor Gericht Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert
1. Einleitung In einer der neuesten Veroffentlichungen zum Verhaltnis von Mann und Frau in der Fruhen Neuzeit, der a jour gebrachten Studie von Lyndal Roper zum »Frommen Haus« , steht zu lesen, die Annahme, die Lage der Frauen habe sich durch die Refor mation gebessert, sei eine »tiefgreifende Fehldeutung« .! Viel mehr habe der Protestantismus zu einem »erneuerten Patriar chalismus« gefuhrt, der »die Frauen als ihren Mannern unterge bene Ehefrauen definierte« .2 Damit ist das Thema angesprochen, urn das es im folgenden gehen wird: die Bedeutung der Ideologie »Patriarchalismus« fur das Verhaltnis von Mann und Frau in der Friihen Neuzeit (1500-1800). Die Mannerrol1e des » pater farnili as« , des Herrn im Hause, wird dabei im Zentrum stehen. Prinzipiell war das Geschlechterverhaltnis standisch oder schichtspezifisch bestimmt, also nur eine Facette oder ein Aspekt allgemeiner gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen, dennoch war der Patriarchalismus in allen Standen wahrend der Fruhen Neuzeit in ahnlicher Weise giiltige Grundnorm. Das hangt damit zusammen, daf5 die Ideologie des » Hauses« 3 sozu sagen das Grundmodell der gesamten Gesellschaft war. Staat, Kirche, ja selbst die Relation der Menschen zu Gott4 wurde in diesem Modell erfafSt. Und in diesem Haus hatte der Vater (» Landesvater« ,5 » Papst« , Gottvater6) stets eine herausragende Rolle zu spielen. Der Patriarchalismus war also so etwas wie eine Basis-Ideologie der fruhneuzeitlichen Gesellschaft. Seine Beurteilung als Verhaltnisbestimmung von Mann und Frau hat damit Folgen fUr die Einschatzung seiner politischen Indienst nahme (» Landesvater« ), die hier zwar nicht thematisiert wer den kann, aber mitbedacht werden sollte. 1m folgenden wird die Beziehung von Mann und Frau in der
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Familie oder Ehe untersucht, die im Eingangszitat eindeutig, aber vielleicht auch einseitig charakterisiert worden ist. Die Ideologie »Patriarchat« war namlich einem standigen Diskurs ausgesetzt, weil iiber ihren Inhalt und / oder ihre Giiltigkeit un terschiedliche Auffassungen bestanden. In diesem Diskurs wurde der Patriarchalismus verlebendigt und immer wieder neu geschopft, aber auch umgestaltet. Diesem ProzeJS solI nach gegangen werden. Ais Studienobjekte besonders geeignet er scheinen dabei Ehekonflikte vor kirchlichen Gerichten im Re formiertentum (Staat Bern, Stadte Emden, Basel), Luthertum (Staat Wiirttemberg, Stadte Frankfurt, Augsburg [lutherisch mit katholischer Minderheit]) und Katholizismus (Archidiako nate Baumburg, Chiemsee, Gars in Bayem, Bistum Konstanz, Stadt Freiburg), weil hier Manner und Frauen iiber ihre jewei ligen Rollen stritten. Es wird weniger urn einen interkonfessio nellen oder standischen Vergleich mit der Absicht der Differen zierung gehen, sondern im Gegenteil darum, die Rollendefini tionen fUr den Hausherrn im patriarchalen System des Ganzen Hauses an ausgewahlten Beispielen skizzenhaft nachzuzeich nen. Ziel ist es, gemeinsame Grundprinzipien des alteuropai schen Patriarchalismus herauszuarbeiten, ungeachtet der kon fessionellen, schichtspezifischen oder standischen Differenzen. Nach einem Uberblick iiber die Forschung zum Patriarchalis mus in der Friihen Neuzeit (Teil 2) solI versucht werden, die konfessionellen Rollen zu beschreiben, die sich aus dem Ge richtsdiskurs erheben lassen (Teil 3).
2. Forschung zum Patriarchalismus 2.1. Patriarchalismus als Recht - die Hausvaterideologie Der Patriarchalismus ruht auf der Idee des Hauses, in welchem der Hausvater regiert. Das » ganze Haus« ist ein Modell, das Otto Brunner als Leitkategorie der Sozial- und Verfassungsge schichte fiir Mittelalter und Friihe Neuzeit herausgearbeitet hat? Das Haus war der » Kern aller Herrschaft« oder anders gewendet: war von Herrschaft gepragt.8 Nur wer ein Haus re gierte, war Herr oder konnte - im Dorf wie in der Stadt - gleich berechtigter Genosse sein und an der kommunalen Selbstregie-
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rung teilhaben.9 Der Herr des Hauses, der Hausvater, schtitzte, verwaltete, pflegte und regierte die Familia derer, die zu ihm gehorten.lO Diese Familia, damit auch die Frau, die Gattin des Hausvaters, standen in seiner Huld und Gnade; sie leisteten ihm TreueY Der Herr schuldete daftir Schutz und Schirm, und die Holden, also die, welche in seiner Obhut standen, konnten Versorgung, Schutz und Hilfe fordernP Das Patriarchat war deshalb, weil es als » rechte Herrschaft« gedacht und nur als solche legitimiert war, prinzipiell von der Tyrannis geschieden. Es blieb an das Recht gebunden.13 Die Hausvaterliteratur14 ftihrte diese patriarchale Konzep tion weiter aus: » Ein Hausswirth muss ein GottsfOrchtiger wei ser verstandiger erfahrner und wolgetibter Mann sein, der Gott vor Augen habe, fleissig bete und arbeite und niemands unrecht thue, weder seinen Nachbarn oder seinem Gesinde, dann also erhalt man Lieb und Freundschafft und einen guten Willen bei allen Menschen. « 15 Das Haus blieb in dieser Vorstellung auch nach der Reformation zwar von einer rechten Herrschaft, aber eben von Herrschaft durchdrungen:16 » Alle Abhangigkeitsver haltnisse im Haus sind auf den Hausherrn bezogen, der als der leitende Kopf aus ihnen tiberhaupt erst ein Ganzes schafft. Dazu befahigt ist eben nur der Mann, der nach Aristoteles allein alle dazu notigen Tugenden besitzt. Das Haus (Oikos) ist also ein Ganzes, das auf der Ungleichartigkeit seiner Glieder beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit zusam mengeftigt werden.« 17 Erst im 18. Jahrhundert wurde dieser herrschaftliche durch einen »sentimentalen« Familienbegriff abgelOst.lB Steven Ozment beschreibt die Zeit der Reformation als » Blti tezeit der patriarchalen Kleinfamilie« .19 Die Eingliederung der Frau in den Haushalt unter der Leitung ihres Mannes schloiS diese starker aus dem offentlichen Leben aus und unterwarf sie der Herrschaft ihres Mannes. Das ist auch der Grundtenor der feministischen Ansatzen verpflichteten Arbeit von Lyndal Ro per tiber Augsburg.20 Sie spricht von der » zentralen Pflicht der . Frauen zur Unterordnung« .21 Durch diese Verhaltnisbestimmung wurde die Gesellschaft anscheinend als mannlich dominiert festgeschrieben. Man kann auch sagen: Ftir die Manner wurden Vorrechte reserviert, den Frauen blieben nur mindere Rechte. Der Patriarchalismus war danach eine Ideologie zur Domestizierung der Frauen.
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Philippe Aries und Lawrence Stone meinen, es habe keine af fektive Beziehung zwischen den Gatten gegeben, und die Be schrankung der Frau auf das Haus sei eine Art Horigkeit gewe sen.22 Die Hausvater-Literatur war zwar eine typisch lutherische Erscheinung, doch lassen sich auch fur den Katholizismus ganz ahnliche Ideale in Predigten und in der Gerichtspraxis feststel len, wie Rainer Beck gezeigt hat. Beispielhaft formulierte der katholische Pfarrer Andreas Strobel von Buchbach im Jahr 1708: » Der Mann ist das Haupt des Weibs. Ihr Weiber seyet euren Manneren unterthan, wie sich das gebiihrt in dem Herrn [. . . J Das Weib wolle fein dem Mann nachgeben, sich nicht umb die Herrschaft anmassen, sondern dem Man das Regiment lassen - wann er doch sonst verntinfftig und bey gutem Verstand oder kein Schwendter [= VerschwenderJ iSt.« 23 Ahnlich Wigulaus von Kreittmayr: Die mannliche » Direction und Herrschaft« uber die Frau grtindet fUr ihn auf gottlichem Recht.24
2.2. Patriarchalismus als Pflicht die Rolle des Hausvaters als Anspruch Doch darf auch auf der ideologischen Ebene nicht iibersehen werden, daB dem Herrn des Hauses ein bestimmtes, ihn dis ziplinierendes Ideal ubergeordnet wurde, das seine Gewalt re lativierte. Aus einer Analyse der Ehelehren der Fruhen Neu zeit folgert Maria E. Muller, die traditionelle (!) Auffassung der Frau als subsidiar und des Mannes als Herr des Hauses werde gerade im 15. und 16. Jahrhundert » abgelost durch eine Kon zeption, die die Frau als komplementar auffaBt. Damit ist die Moglichkeit, nicht die Notwendigkeit einer Gleichwertigkeit von Mann und Frau angelegt auf der Basis ihrer funktionalen Komplementaritat, wie sie die sogenannte Partnerschaftsehe unterstellt. « 25 Innerhalb der Ehe geriet der Mann sogar tenden ziell in die Position, sich selbst starker als die Frau als ein lei tungsbedurftiges Triebwesen verstehen zu miissen, das der Lebensklugheit und Fuhrung seiner Frau bedarf.26 Muller ver tritt damit eine Position, die ahnlich vorher von Edmond Lei tes formuliert worden ist: Die traditionelle Abwertung der Frau als eines triebhaften Wesens ohne Vernunftkontrolle wur de im Protestantismus - Leites argumentiert vom Puritanis-
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mus aus - umgekehrt. Nun erschien der Mann als das seinen sexuellen Wunschen blind folgende Wesen und die Frau als »rein« . In einer Gesellschaft, die Selbstbeherrschung als Grundlage von Herrschaft verstand, bedeutete das eine Auf wertung der FrauY Heide Wunder relativiert die Annahme einer Domestizie rung der Frau: » Gegenuber diesem ProzeB des zunehmenden Allgemein- und Offentlich-Werdens von Ehe seit dem 15. Jahr hundert ist die >Domestizierung< der Frauen als Anbindung an das Haus vergleichsweise schwach ausgepragt.« 28 Sie hebt die schon vorreformatorische Tendenz zu einer Komplemen taritat der Frau hervor, die durch das reformatorische Glau bensverstandnis noch forciert werde: » Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille: Stabilisierung der Geschlechterbeziehun gen uber Unterordnung der Ehefrauen, verbunden mit obrig keitlichen Intentionen, alle Frauen in das >Ehejoch< einzubin den [ . . . J Gleichzeitig waren im reformatorischen Glaubens verstandnis und in der Neudefinition der Mutterrolle Legitimationen und Anforderungen enthalten, die dargelegte Begrenzung zu uberwinden. Insbesondere die Zustandigkeit der Mutter fUr die religiose Erziehung der Kinder setzte eine gewisse eigene religiose Bildung voraus und damit Teilhabe wenigstens an religioser Bildung.« 29 Wunder faBt die Ergeb nisse der neueren Forschung im Begriff der » Komplementari tat« griffig zusammen.30 Gerta Scharffenorth stellt gegen die Forschung, die Luther fUr die Domestizierung der Frauen verantwortlich macht,31 ei ne Gegenthese auf: Die Anerkennung, die Luther der Frau und ihrer Leistung im Haus und bei der Geburt und Aufzucht der Kinder zollte, erhohte ihre Position. Das Amt der Mutter war Gottesdienst.32 Luther vollzog » einen Wandel im Selbstver standnis des Mannes, das eine Gefiihrtenschaft von Mann und Frau ermoglichte« .33 Luise Schorn-Schutte bestimmt die Rolle der Frau im Protestantismus am Exempel der Pfarrfrau als ein » notwendiges Element einer sich wechselseitig erganzenden, gleichwohl hierarchischen Ordnung« .34 Die Frau war als wirt schaftende Hausmutter und Erzieherin » Gefahrtin und Mitre gentin« des Mannes - jedenfalls in der Theorie.35 Schorn Schutte kommt aufgrund einer Analyse von theologischen Schriften zu dem SchluB, daB » nach dem Ideal die Rolle der Frau im Protestantismus des spaten 1 6. und 1 7. Jahrhunderts
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nicht so entscheidend zuruckgedrangt worden ist, wie es stets angenommen wurde«.36 Die Beschrankung auf eine Wirksam keit im Haus, die auch sie annimmt,37 engte zwar den Aktions radius der Ehefrau ein, minderte aber nicht ihren Status, der im Haus sogar aufgewertet wurde. Der Patriarchalismus sei, meint Schorn-Schutte, in der luthe rischen Hausvater-Literatur nur ein Mittel zu einem h6heren Zweck gewesen und habe dann, wenn er dies en nicht erfUllte, von augen korrigiert werden mussen: » Denn in der >Okono mia< des Hauses, mussen jene Verhaltensweisen eingeubt wer den, die fUr die Gesamtheit, fur Gerechtigkeit, Frieden und ge meinsamen Nutzen notwendig sind: Nachstenliebe, Wahrhaf tigkeit, magvoller Gebrauch von Gutern und Gaben der Natur, vorausschauendes Planen, rucksichtsvoller Umgang mit Men schen und Kreaturen.«38 Die gemeinsame Aufgabe verlangte ei ne » Gefahrtenschaft von Mann und Frau«.39 Tendenziell postuliert die Forschung also neuerdings - und nicht traditionellerweise, wie Roper sagt - eine relative Aufwer tung der Frau und ihrer Stellung in Ehe und Familie bei gleich zeitiger Einordnung in ein Rollenbild, das sie auf das Haus ein schrankte und dem Patriarchalismus unterordnete. Das hat Konsequenzen fUr die Beurteilung der Rolle des Hausvaters. Den Patriarchalismus sieht ein groger Teil der Forschung nicht nur als Recht, sondern auch als ein Set von Mannerpflichten, das yom Rollentrager erhebliche Vorleistungen fur die Aner kennung als pater familias verlangte. Damit wird nicht nur die Frau, sondern auch der Mann als dem Patriarchalismus unter worfen begriffen.
3. Ehediskurs var Gericht 1m folgenden wird versucht, die Mannerrollen » Hausvater« und » Ehegatte« hinsichtlich ihrer Pflicht-Dimension aus der Praxis naher zu bestimmen und damit an die neuere Forschung anzuknupfen. Es 5011 bewugt darauf verzichtet werden, den Herrschaftsaspekt in der Beziehung des Herrn zur Frau »aus gewogen«, also gleichgewichtig mit den Rollenanforderungen an den Mann, zu beschreiben. Denn uber den Herrschafts-
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aspekt besteht kein Dissens in der Forschung. Lediglich die Fra ge, ob er die ganze Wahrheit erfaBt, ist einer weiteren KHirung bedurftig. Hier wird die » zweite Schneide« des Patriarchalis mus, also die Unterwerfung des Mannes unter das Bild des rechten Hausvaters, akzentuiert. Urn sich der Alltagswirklich keit anzunahern, sind Auseinandersetzungen vor Ehe- und Sit tengerichten besonders aufschluBreich, weil vor ihnen Manner und Frauen bei Ehekonflikten ihre gegenseitigen Rollen diskur siv und streitig zu bestimmen suchten.
3.1. Klager Fur die Beantwortung der Frage nach der Definitionsgewalt in nerhalb des Diskurses vor Gericht ist die quantitative Bestim mung, wer klagte und wer sich auf der Anklagebank wieder fand, nicht unerheblich. Und hier ist das Bild ganz eindeutig: Klagen gegen Frauen waren durchgangig sehr selten. Klar uberwogen Klagen gegen Manner, die dem Bild des rechten Hausvaters nicht entsprachen. Die Frauen benutzten das Ge richt dazu, ihre Manner zu friedlicher und fleifSiger Haushalts fuhrung zu zwingen. Fur Vechigen, eine Gemeinde in der Nahe von Bern, das hier und im folgenden als Beispiel fur ein reformiertes Territorium herangezogen wird, laBt sich zwar lediglich in 28 % aller FaIle zweifelsfrei sagen, von wem die Klage ausgegangen ist. Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts sind wesentlich haufiger Anzeigen von Betroffenen nachzuweisen, vermutlich, weil ihr Anteil gegenuber den Offizialprozessen angestiegen war. Wie bei der Verfolgung vorehelicher Sexualitat wurde auch bei der Behandlung von Ehestreit fast nur noch » Nachsorge« betrieben. Das Chorgericht [= Berner Sittengerichtl handelte nicht mehr von sich aus, sondern reagierte nur noch auf Klagen Betroffener. Ungeachtet dieses Wandels blieb aber eines unverandert: Es waren in den allermeisten Fallen die Ehefrauen, die klagten.
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Frauenanteil an ermittelten Klagern bei Ehestreit in Vechigen bei Bern Frauenanteil Frauenanteil an an Klagen in % Klagen absolut
Zeitraum 1572-1600 1601-1650 1651-1700 1701-1750 1751-1798 •
80 58 78.5 77.7 79.3
4 von 5 18 von 31 11 von 14 14 von 18 23 von 29
KlagenFaile' Ehestreit anteil 19 100 53 74 46
5 von 19 = 26 % 31 von 100 = 31 % 14 von 53 = 26 % 18 von 74 = 24 % 29 von 46 = 63 %
Hier ist die Zahl der Falle, nicht die der Angeklagten, ma15gebend.
1m lutherischen Wiirttemberg sind nach den Forschungen Da vid Sabeans zu Neckarhausen fiir die Zeit von 1730-1846 in 52 von 78 Fallen, in denen bekannt ist (von total 113), wer geklagt hat, Frauen die Klager. Das sind genau zwei Drittel. Zahlt man die Klagen von Verwandten der Frauen (9) dazu, erhoht sich die Rate auf 78 %.40 Obwohl katholische Kirchengerichte nicht iiber alltagliche Ehekonflikte urteilten und lokale Altestengremien normaler weise41 nicht existierten, suchten die Frauen doch ahnlich wie im Protestantismus bei der Kirche Hilfe gegen ihre Manner. Vor den archidiakonalen bayerischen Gerichten, die iiber eine Tren nung von Tisch und Bett verhandelten, klagten nach der Studie von Rainer Beck in drei Vierteln aller Falle, in denen festgestellt werden kann (70 % aller Falle), wer den ProzeB angestrengt hat, die Frauen.42
3.2. Kampf gegen Gewalt - und fur die Liebe Der zentrale Angriff richtete sich gegen die mannliche Gewalt. Zwar galt es nach herrschender Lehre als Recht des Hausvaters, seine Kinder, sein Gesinde und auch seine Frau zu »ziichtigen«. Doch darf man sich das nicht als Freibrief fur Gewalt vorstellen. Besonders die Frau sollte nicht geschlagen, sondern mit Worten zurechtgewiesen werden. Selbst wenn eine Frau » zu recht" ge schlagen worden war, wurde der Mann wegen seiner Gewalt tatigkeit bestraft: In einem Fall aus dem reformierten Bern von 1704 wurde die Frau ermahnt, sie solIe » di empfangene schleg vnd streichen fiir ihr straff halten [ . . . j, der David aber ist sechs stund gan Vtzigen [= Weiler Utzigen in der Berner Kirchenge meinde Vechigen] in dgfangenschafft gethan worden«.43 Die
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UnverhiiltnismaiSigkeit der Mittel war dabei das Hauptargu ment. Auf verbale Bescrumpfungen hatte kein Gewaltausbruch zu erfolgen: Nikolaus Sterchi » hatte seine frau wegen einigen empfindlichen worten, so sie ihme sol1 gegeben haben, eine maulsche11e gegeben und ruerauf war selbige von ihm gelaufen; dieses verfahren wurde ihm denn als zu hart vorgehalten und er aufs kriiftigste ermahnt, seine frau wider zu sich nach hause zu holen, sich mit ihr zu versohnen und in frid und eintracht mit einander zu leben« ,44 UnverhaltnismaiSige Gewalt war Ty rannei: Manner wurden »gstrafft wegen sy beider mit iren wy beren gar tyrannisch handlen«,45 Die Beziehung der Eheleute sol1te durch »Preundlichkeit« und »Liebe« gepragt sein, »vnfrtindlikeit, die er gegen synem wyb erzeigt«, war ein Klagegrund,46 Streitende wurden er mahnt, daiS sie »von a11er klag stehen, allen vnwillen fahren sollen lassen, die alte liebe wide rum an dhand nemmen, einan der verzeichen, vergeben, summa: wie ehehith [, ' ,J bei einan der wohnen, leben; sol1en daruff vns solches mit mund vnd hand globen vnd versprechen, welches sie nach langem beden ken entlich gethan, dem amman vnd dem predicanten globt, solches stif zhalten«,47 Die Liebe war der Kern der Ehe, und gegen den Gatten konnte geklagt werden, wenn er »wenig lie be, trtiw vnd frtindtlikeit, weder in wortten noch in werken ge gen ira erzeigt hab«,48 Zur Ehe gehorte unzweifelhaft eine tiber Ro11enerfti11ung im Haus hinausgehende Warme, die »rechte liebe«,49 »Das weib klagte, daiS ihr man sie nit liebe vnd sich nit gegen ihro auftihre, wie es einem ehemann gezimme, sonder es schienne, als ob er seines bruders selig weib mehr liebte als aber sie«,50 1776 wurden »die eheleute wider zusammen gesprochen und friedfertig bey einander zu wohnen vermahnt, dem ehe mann insbesondere eingescharft, daiS er sich anstandiger und liebreicher gegen sein eheweib betrage, maiSen er sonst auf fer nere gegrtindete klagden hin mit angemesener gefangenschaft [, , ,J belegt werden wurde, wie den auch die ehefrau ihrer seits keine ursache zum klagen geben sol1e«,51 Peter Liechti aus dem Lindental wurde zur Auflage gemacht, »daiS er mit seinem weib den friden machen, seinen fehler be kennen und fersprechen solIe, daiS er sie ruefort nicht mehr schla gen wolle, Weil er aber solches nicht anderst hat versprechen wollen als mit dem beding, daiS sie ihn nicht mehr zum zorn reitze, so ist er urn 3 lb gebtiiSet und als ein halsstarriger unwir-
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scher Peterskopfby denen hochg[eehrtenl hem lobl[ichenl obem chorgrichts angegeben und verleidet worden. Da er dann etwel che tag lang in die chorgrichtliche gefangenschafft erkent und betretit worden mit harterer straff angesehen zu werden, wo er sich nicht vertraglicher gegen seinem weib hinkonfftig verhalten wurde.«52 Bentz Roth wurde vorgeladen, » weilen er seiner fra wen gar wtist thut, sonderlich das er si an einem sontag znacht, als er voll heimkommen, zum haus ausgeschlagen« .53 Es gelang eigentlich nie, dem Chorgericht eine Gewaltanwendung als hausvaterliche Korrektion plausibel zu machen. Es muiS aber be tont werden, daiS es bei den Fallen, die vor das Chorgericht ka men, um » vorabgeklarte« Falle ging. Eine nicht bestimmbare Menge von Schlagen konnte von vornherein als nicht strafwtir dig ausgeschieden worden sein. Dennoch darf der Anspruch des Chorgerichts nicht zu gering veranschlagt werden, der Gewalt der Manner zu steuem. Das ist umso bemerkenswerter, als die Chorrichter selbst Manner waren. Eine langfristige Analyse von reformierten Presbyterialpro tokollen zu Ehekonflikten hat Heinz Schilling jtingst vorge nommen.54 Auch er sieht die Ehezucht als eine von den Frauen forcierte, vor allem gegen die Gewalt der Manner gerichtete Er ziehungsarbeit an.55 rm lutherischen Wtirttemberg, dessen Kirchenkonvente [= Sittengerichtel Gegenstand meiner derzeitigen Untersuchung sind, wurden die lokalen Presbyterien gleicherweise genutzt. Die Eintrage in den Manualen spiegeln ein hohes MaiS an mannlicher Gewalt, aber auch das stete Bemtihen der Frauen, das nicht hinzunehmen. Vielmehr wehrten sie sich gegen ihre schlagenden Manner, indem sie ihnen das Kirchengericht auf den Hals hetzten, das im Namen des Patriarchalismus vom Hausherrn Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und MaiS ver langte. Weil das in Streitigkeiten selten gegeben war, konnte die Gewaltanwendung der Manner nicht als » hausvaterliche Kor rektion« durchgehen. Dadurch wurde das mannliche Vorrecht legitimer Gewalt ausgehohlt, wurden die Manner einem Diszi plinierungsdruck ausgesetzt. Ein Angeklagter stand in Unterjesingen 1655 vor dem Kon vent, weil » er am nachtiS dem 29ten novembris erst nach 12 uhr trunken heimkommen, die fenster ausgeschlagen, den offen ni der gerissen vnd daiS weib vbel tractiert vnd bluttig geschlagen. Vber diiS hefftig geengsit [= geangstigtl, daiS sie zum kammer
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laden vBgestiegen, aber das weib im hemmet iiber den garten zuun auB forcht vnd gefahr ihres manB, der ihr nachgeloffen seig [= sei], miissen.«56 Jede Gewalt wurde auf ihre RechmaBigkeit hin iiberpriift. Die Definition, was » rechtmaBig« sei und was » iibel« oder » mit schlechter Ursache« erfolgt war, blieb nicht den Mannern iiber lassen, sondern wurde von der offentlichen Instanz des Dorf oder des Sittengerichts » verhandelt«. Dabei stand den offentli chen Sittenzuchtorganen die » hohe Obrigkeit« als Sanktionsin stanz bei. Als Drohung, sie anzurufen, war sie stets gegenwar tig: » Nach dem Johannes Heinrich Heyer sein junges weib iibel tractieren vnd gar zu hart halten solIe, dessentwegen vor dem kirchenconvent angebracht; ist er darauf mit den seinigen auf daB rathaus vor daB kirchenconvent erfordert vnd iiber verhor, weihlen si�h befunden, daB schlechte vrsach deB vbeln verhal tens abhanden, ist ihme ernstlich auferlegt wordten, daB er fiirauB mit seinem eheweib friidsamer leben oder im widrigen [Fall] bey oberampt verclagt werdten mieBe.« 57 Selbst wenn der Mann versuchte, sein Dreinschlagen als Re aktion auf Angriffe und auf Fehlverhalten der Frau, etwa wegen ihrer schlechten Haushaltsfiihrung, zu rechtfertigen, eines blieb: Er war stets im Rechtfertigungsnotstand. » Darbey ist von Maria, HannB Gehrings, Jergen sohns weib, angebracht wor den, daB gemelter ihr mann sie ohnlangsten ohncristlich ge schlagen und tractiert habe, warumben er beschickhet und ver hort worden, welcher gesagt, daB sie ihme boBe wortt geben und noch darzu gesagt, er habe ihr alles verthon und bringe sie aIle vmb ihr sach, derentwegen er sie geschlagen, und weilen sie ihme nicht hab schweigen wollen, habe er sie so iibel trac tiert. Dariiber ihme solches von dem kirchenconvent scharpf vndersagt worden.« 58 » HannB Jerg Oberbacher wurde nebest Philipp Crafften scharpf anerinnert, der compagnien und zusa men kiinfften sich zue bemiiBigen, auch nicht tyrannen iiber ihre weiber zue seyn, oder man werde nachster tagen ein solch procedere mit ihnen vornemmen, daB sie und andere sich daran striglen werden.« 59 Sabean untersucht den Dbergang von Friiher Neuzeit zur Moderne am Wiirttemberger Dorf Neckarhausen.60 1m Zuge der agrarischen Revolution im 18. und friihen 19. Jahrhundert vollzog sich seiner Meinung nach eine Aufwertung der Arbeits und Produktionsleistung der Frau, nicht zuletzt in den armeren
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Schichten.61 Die Klagen der Frauen vor wiirttembergischen Niedergerichten und Kirchenkonventen zielten in letzter Kon sequenz auf eine neue Frauenrolle, die den okonomisch-sozia len Veranderungen Rechnung triige: Die Frau beanspruchte, »Partnerin« zu sein.62 Damit wurde der traditionelle Rahmen iiberschritten, weil die Frauen » Reziprozitat und gegenseitige Verpflichtung« in den Vordergrund stellten und nicht Herr schaft.63 Hauptklagepunkt der Frauen gegen ihre Manner war auch nach Sabeans Forschungen die Gewalt in physischer (31 %) und verbaler Hinsicht (19 %).64 Zahlt man die Klagen wegen iiber maBigen Trinkens hinzu, kommt man insgesamt auf 70 %.65 Be sonders die bestandige Gegenwehr der Frauen gegen die mannliche Gewalt durch Klagen bei staatlichen und kirchlichen Instanzen stellte das zentrale mannliche Herrschaftsrecht der » Korrektion« der Haus-Angehorigen in Frage.66 1m 18. Jahr hundert wurde die traditionelle Hausherrschaft der Manner briichig.67 Indem die Frauen die Gewalt der Manner, die diese als Teil ihres hausvaterlichen Rechte- und Pflichtenkatalogs verteidigten, als grausam, ungerechtfertigt, eben unrechte Ge walt, angriffen, stellten sie die patriarchale Ideologie selbst in Frage. » Patriarchale Werte, noch immer zentral fiir das 18. Jahr hundert, waren nun >verhandelbar<.« 68 Frauen und obrigkeitliche Richter » schlossen ein Biindnis« .69 Sie verbanden zwei verschiedene Teilideologien, das Patriar chalismus-Ideal des » Hausvaters« und die einem » reziproken« Konzept der Frauen entspringende Idee des » guten Haushal ters« . Selbst wenn sie vor Gericht gezwungen waren, in Begrif fen des patriarchalen Systems zu argumentieren, interpretier ten die Frauen sie in ihrem Sinne?O Das Hausvater-Ideologem war ein Programm, das eine moralische Reform seines Haupt tragers, des Mannes, miteinschloB und stellte deshalb eine Waf fe zur Domestizierung der Manner in der Hand der Frauen dar.7l Auch nach dem Quellenbefund Lyndal Ropers vereinigten sich stadtische und weibliche Interessen im Kampf gegen die Gewalt der Ehemanner.72 Theoretisch erkannte der Augsburger Rat das Recht der Manner an, ihre Frauen zu ziichtigen. In der Praxis beurteilte er aber besonders Manner aus niederen Schichten, die Gewalt anwandten, als disziplinlos?3 Der Auf satz von Rebekka Habermas iiber Frankfurter Ehekonflikte im
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17. und 18. Jahrhundert ruckt die weibliche Gegenwehr gegen die mannliche Gewalt ebenfalls in den Vordergrund?4 Die Untersuchung von Rainer Beck zu katholischen bayeri schen Archidiakonaten, die sich mit Trennungen von Tisch und Bett zu beschaftigen hatten, kommt zu erstaunlich ahnlichen Ergebnissen. 1761 wird von einer Ehe berichtet, in der der Mann »unfridlich gehauset« und die Frau »solcher Gestalten mit Schlogen tractiert, dafS sye [sichl des Baders Kur bedinen mie sen, - wobei sye noch yber das seith soleh empfangenen Schlo gen auf der linkhen Seithen grosse Schmerzen empfinde und mit Gehen nit mehr fortkommen konne« . Die Frau bat, da »bey ihrem Mann keine Besserung zu hoffen« , urn Trennung?5 Die mannliche Gewalt wurde keineswegs als etwas Normales, als ein Recht des Hausvaters, betrachtet, sondern, sobald sie iiber die Strange schlug, als tyrannisch gebrandmarkt.76 Diese Klage wegen Gewalttatigkeiten machte mit rund zwei Dritteln aller Klagen von Frauen das ganz iiberwiegend perhorreszierte Ver halten der Manner aus?7 Rainer Beck kommt zu dem SchlufS: » Gewalt scheint fiir die grofSe Mehrheit dieser Frauen eine do minante Erfahrung und womoglich das entscheidende Motiv gewesen zu sein, gerichtlich gegen ihre Manner vorzugehen.« 78 Dabei war nicht nur die physische, sondern auch die psychi sche, die »Beziehungsdimension« , wichtig.79 Gewalt war Lieb losigkeit, sie brach den Konsens, die Basis des Verstandnisses der katholischen Ehe als Sakrament; das sich die Brautleute ge genseitig spendeten. Ebenso wie verbale Gewalt der Frau gegen den Hausherrn nicht nur als Gewalt an sich, sondern geradezu als »Majestatsbeleidigung« ausgelegt werden konnte, die die Ordnung umkehrte, ebenso war auch die Gewalt der Manner im gestuften, aber reziproken, auf christliche Liebe gegriinde ten System rechter Hausherrschaft ordnungswidrig.80 1m Postulat der Liebe verbanden sich egalitare und asymme trische Konzepte.81 Die Frau hatte zuvorderst zu gehorchen, und die Liebe des Mannes konkretisierte sich zuallererst als Schutz und Schirm. »Zwar verburgt diese >Liebe< eine gewisse Reziprozitat in den beiderseitigen Beziehungen, doch als Sen timent gibt sie sich sprod, zumal die Neigungen der Frau unter dem Mantel des Respekts im verborgenen bleiben.« 82 »Der pau linische Appell an die Liebe des Mannes diente dazu, der Sub ordination der Frau ihre allzu harschen Zuge zu nehmen; urn eine positive Moral der ehelichen Gemeinschaft zu entwickeln,
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war dieses ungleiche Gesetz nicht besonders gut geeignet. So bediente sich selbst Stengel,83 gewiB kein groBer Verehrer der Frauen, doch auch noch einer anderen Sprache, eines egalitaren Entwurfes, denn daB die Untertanigkeit der Frau schon das ganze Wesen der Ehe, zumal einer christlichen Ehe umreiBe, das wollte auch er nicht behaupten [ . . . J: >Die ehe, wann wir sie in dem nahirlichen Weesen betrachten, ist ein Contract und Ver sprechung des Mannes und des Weibs bey einander zu Leben und zu sterben, in allem Elend, Aengsten und Noethen mit ein ander zu heben und zu legen, in der ehelichen Pflicht einander treu zu seyn, und sich mit keinem anderen gemein zu machen.< [ . . . J Aus soleh wechselseitiger Unterstiitzung heraus erwachse dem Ehestand seine >Einigkeit<; und das gemeinsame Hausen, die beiderseitige >Hiilff< ist auch das Tatigkeits- oder Bewah rungsfeld einer nun wechselseitig gedachten >ehelichen Lieb<.« 84 Beck folgert abwagend und die Forderungen an die Mannerrollen akzentuierend: »Was die Kirche iiber all dem kei nen Moment in Frage zu stellen bereit war, sondem selbstver standlich von neuem in ihr Konzept der Liebe zu integrieren versuchte, war die strukturelle Asymmetrie der Geschlechter, die Vorherrschaft des Mannes. Aber die Manner hatten fUr die Aufrechterhaltung ihres Primats den Preis einer neuen Diszi plin und Moralitat zu bezahlen« .85 Thomas M. Safley war in seiner Analyse von Ehegerichtspro zessen aus Konstanz (katholisches Ordinariat), Freiburg (katho lisch) und Basel (reformiert) ftir die Zeit von 1550-1600 zu ahn lichen Ergebnissen gekommen.86 Der Kampf gegen die Gewalt tatigkeiten der Ehemanner wurde durch das theoretisch und praktisch anerkannte Ztichtigungsrecht in keiner Weise behin dert.87 »Deshalb bot das Gericht einen gewissen Grad an Schutz fUr verheiratete Frauen.« 88 Safley schatzt die protestantische Konfession dabei besonders hoch ein: »Die Reformation zentra lisierte nicht nur die institutionelle Kontrolle tiber die Ehe, son dem stiftete auch eine groBere Sensibilitat gegeniiber den Be diirfnissen der Klagerinnen, wie sie sich in den Gerichtsurteilen offenbart. In diesem Sinn verbesserte die Reformation die Kon trolle der Ehe, schtitzte sie die eheliche Harmonie und Stabilitat und sicherte sie allen Frauen eine rechtliches Refugium.« 89
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3.3. Kampf gegen liederliche Haushalter Die Konflikte, urn deren gewalttatigen Austrag es bisher gegan gen ist, entziindeten sich besonders haufig am Problem des Hausens, d. h. der bkonomischen Sicherheit.90 Frauen klagten auf Einhaltung der hausvaterlichen Pflichten, im BewuBtsein, damit dem reformierten Vechiger Chorgericht bei der Durch setzung seiner eigenen Vorgaben zu helfen. Werchmanns Frau warf ihrem Mann vor: » In 19 jahren ihrer ehe habe er nit 2 mal etwas ins haulS gewendet, wol aber dargegen fiir sich selbsten vil verthan und viles versoffen etc. und was der erbitterten jam merklagten noch mehr waren.«91 Der Kampf urn rechte christ liche Haushaltung war zugleich einer gegen Trunksucht und MiilSiggang. In schweren Fallen wurde ein Wirtshausverbot ausgesprochen: Sein liederliches versoffenes Wesen ist » vff sy nes wybs vnd kinden vilfaltigs begaren« in Bern » schriftlich fiirgebracht vnd imme von ir gnaden bilS zu augenscheinlicher besserung aIle wirts- vnd wynschankhuser wie ouch alles vnnothwendig merkten abgestrickt vnd verpotten worden« .92 1710 wurde in Vechigen Wilhelm Zedi verrrufen und » dem wirth verbotten, ihme nit mehr als des tags ein vierteli zugeben, jetz ist er gleitig [ = sanft] vnd kan vff dem herd [= Feld] arbeiten vnd hatt friden mit seiner frawen« .93 In den beiden fUr eine Studie iiber die Berner Chorgerichte hauptsachlich untersuchten Gemeinden Stettlen und Vechigen war schlechtes Hausen ein Hauptdelikt der Manner: Zu drei Vierteln standen Manner deswegen vor Gericht (Vechigen: 81 %; Stettlen: 74 %). In Biel, das vergleichend herangezogen wurde, lag der Wert fiir Manner mit 68 % nur geringfiigig nied riger. Hier waren die Manner in ihrer patriarchalen Haupt pflicht gepackt, das Haus nicht nur zu regieren, sondern zu er nahren.94 Es hat ganz den Anschein, als sei das nach Max Weber eher typisch reformierte Beharren auf Disziplin und Arbeitsamkeit auch zentral fiir die Vorstellung von rechtem Hausen im Lu thertum. 1m Wiirttemberger Flecken Unterjesingen klagte 1655 » Maria, Jacob Gartners weib, vor dem kiirchen convent (1) ihr mann sey ein faullentzer unnd miiBigganger, (2) sey er ein fres ser vnnd weinsaufer, zieht des nachts von eim haulS zum an dern, komme endtlich in der middernacht gesoffen heim und schlag sie, begehrt allso ihrer kinder halben hiilff«. Dabei kam
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aber mitunter zu Tage, daB die Frauen auch seIber tatkraftig bei der Korrektion der Manner waren, bevor sie den Kirchenkon vent anriefen: » Jacob Gartner verantworddet sich vnd dagt hin gegen wider sein weib (1) schilt sie ihne c. v. [= mit Verlaub] ein schellmen vnd dieb, miiBigganger und saufer, wie sie dann ihne vor dreyen in einem tag mehr dan einmahl solcher gestalten iniuriert hab und habe sie ihne nicht allein vbell geschlagen, sondern auch wie er vorgewiBen zwey locher in finger gebissen mit fernerer betrowung, sie wolle ihme noch einmahl des nachtIS im schlaff die augen auBstechen (3) habe sie ihme die eheliche trew versagt vnnd reve. [= reverenter, salvatorische Klausel des Schreibers] zur geiB vnd hunden gewiBen! Neben andern vnchristlichen wordden, die nicht wohl nachzusagen. Ja er solIe sie vor vmbbringen vnndt als da die eheliche bey wohnung mit ihro pfleegen. Sollen deBwegen ihr striddige sach herren vogten angebracht werden.« 95 Die Frauen und die Obrigkeit kampften eigentlich fUr die glei chen Werte: lim ein rechtes Hauswesen, das dem Staat materiell (Steuern) und ideell (Herrschaftsbasis des Staates) diente. Ubles Haushalten wiedersprache dem diametral: » Hans Jerg Goll, deme als einem iibelen hauBhalter das gesetzt wohl gescharfft auf jeniges gar ernstliche verwiesen worden, so er seiner frauen halber wider ihren pfarrern auBgestoBBen, [solI] kiinfftighin bes ser hauBen, mit seiner frau friedlich leben, beserung zaigen und nunmehro herren pfarrern urn verzeyhung bitten«.96 Wie zu erwarten war auch in Wiirttemberg haufig der Alko hoI mit angeklagt: Vor dem Kirchenkonvent Unterjesingen wurde » Johannes Laur, burger und weingartner allhier vorge nommen, welcher von seinem weib verklagt worden, daB er dem trunk ergeben und wenn er betrunken heimkomme, sie und seine kinder mishandle. Johannes Laur gestund in der hauptsache, daB die anschuldigungen seines weibes grund ha ben und wurde ermalmt, sein leben zu bessern, auch bedroht, daB man im fall diB nicht geschehen sollte, zu scharferen mit telen zuschreiten genothigt seyn wurde. Auch des Lauren weib wurde erinert, alles nur mogliche zur erholung ihres mannes beyzutragen.«97 Der Hausvater, so folgert Sabean aus seiner Untersuchung Neckarhausens, war dem steten Zwang unterworfen, sich als fleiBig, sorgfaltig und niichtern zu erweisen.98 Die Frauen nutz ten die Ideologie des guten Hausvaters bewuBt und instrumen-
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tell zur Disziplinierung der Manner.99 » Der Patriarchalismus war eher ein Programm als ein Zustand oder besser: ein Idiom, durch das eine substantielle und kritische Diskussion stets moglich war.«100 Lyndal Roper hat die Tiitigkeit der Augsburger Sittenzucht gremien untersucht und dabei im Detail vieles ermittelt, was den hier vorgetragenen Thesen entspricht und damit einen fak tischen Erkenntnisfortschritt erzielt, der aber in ihrer Arbeit nicht interpretationsleitend wird: » je mehr der Rat versuchte, die Ehe zu stabilisieren und je mehr er in unordentliche Ehen eingriff, gewalttatige Manner strafte oder ziinkische Frauen er mahnte, desto mehr offenbarte er die Briichigkeit der patriar chalen Ordnung, die er starken wollte.«101 Wenn der Ehemann die Pflicht, fUr Frau und Kinder materiell zu sorgen, miBachte te, griff der Rat zugunsten der Familie in deren innere Angele genheiten ein.102 » Frauen, die ihre Pflicht zur Sicherung der Grundlagen des Haushaltes wahrnahmen, [ . . . j stellte sich das Trinken im Wirtshaus als Hauptquelle ihres Argers dar [. . . j Der Rat war der Wirtshauskultur ebenfalls feindlich gesonnen und wollte die Trinkerei der Miinner schon lange kontrollieren, weil sie ihm als einer der Hauptgriinde der Lasterhaftigkeit galt. Er fand sich mit der Einschatzung der Frauen im Einklang, daB Unordnung in der Ehe hier ihre Ursache hiitte«.103 Leider hat Roper diesen Quellenbefund ihren interpretatorischen Voran nahmen geopfert und nicht weiter ausgefiihrt. Der Kampf urn die eigene Notdurft,l°4 also darum, die Sub sistenz gesichert zu erhalten, richtete sich auch im Katholizis mus gegen die schlechten Haushalter. Rainer Beck berichtet iiber eine Handwerkersfrau aus Walkersaich, die sich iiber » mangelnde Alimentation« beschwerte, und eine andere, die klagte, daB ihr Mann » ihr nit allein die nothwendige Verpfle gung nit verschaffen will, sondern [ . . . j alles, was selbe ihme zuebringe, widerum mit Spillen« verschwende.105 Dieses Fehl verhalten wird als >>Verhausen« apostrophiert.106 Beck meint, » Hausen« sei iiberhaupt so etwas wie ein Schliisselbegriff ge wesen, der neben dem okonomischen auch die herrschaftliche Seite des Hausvater-Daseins tangierte. 107 » Wer als Ehemann nicht zu arbeiten und zu haushalten gewillt war, wer seinen Versorgungspflichten gegeniiber der Familie [ . . . j nicht nach kam, der geriet in die Defensive, sah sich zunehmend zu einer Randfigur der Gesellschaft erkliirt.« 108
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4. Fazit FaBt man die vorgetragenen Quellenstudien zu Berner und Wtirttemberger Sittengerichten sowie die Arbeiten von Safley, Sabean, Habermas und Schilling zusammen,l°9 so fallt auf, daB alle Autoren eine Btindnisthese vertreten: Die obrigkeitlichen Zuchtinstanzen paktierten mit den Frauen zur Disziplinierung der Ehemanner und zur Pazifizierung der Gesellschaft, zu nachst ihres Kerns: der Ehe. GewiB ruhte die Zusammenarbeit von Sittengerichten und Ehefrauen auf dem gemeinsam aner kannten Prinzip rechter Hausherrschaft. Besonders die Ach tung der Gewalt aber weist tiber den hierarchischen Bezie hungsrahmen, den Brunner beschrieben hat, hinaus auf das Ziel eines » reziproken« innerehelichen Austauschs. Die Allianz von geistlichen und weltlichen Gerichten und Frauen scheint in der Friihen Neuzeit durchgangig bestanden, im 18. und frti hen 19. Jahrhundert aber eine neue Qualitat gewonnen zu ha ben: Das systemimmanente Argumentieren der Frauen trug da zu bei, so Sabean, im Kontext eines gesellschaftlichen Wandels das patriarchale System zu sprengen. Skeptisch muB man aller dings die Frage betrachten, ob dieser Wandel im Verhaltnis von Mann und Frau von Dauer war. Sabean stellt ein Wiedererstar ken des Patriarchalismus schon vor der Mitte des 19. Jahrhun derts fest. Die Arbeiten tiber protestantische und katholische Ehege richte bahnen einen vollig neuen Zugang zum Geschlechterver haltnis an, der in die Richtung auf eine » historiographische Emanzipation der Frau« ftihrt. Damit einher geht die Erkennt nis, daB der Patriarchalismus keineswegs eine einseitige Domi nanz der Manner tiber die Frauen vorangetrieben hat. Ganz im Gegenteil wurde den Frauen tiber die patriarchalen Ideale, die als Pflichten an die Hausvater herangetragen wurden, ein Sttick Definitionsmacht in die Hand gegeben, das sie nutzen konnten, wei! die Obrigkeit durch die Zielvorgabe der Verchristlichung der Gesellschaft mit ihnen zusammenarbeitete. Ftir eine be trachtliche Anzahl von Hausvatern wurde das Ideologem, dem sie ihr Amt verdankten, zu einer schweren Hypothek. Sie wur den von Herren zu Untertanen der Hausvaterideologie, die sich damit als ein zweischneidiges Schwert erweist.
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Anmerkungen 1 Roper, Lyndal: Das fromrne Haus. Frauen und Moral in der Refor mation, Frankfurt/M. 1 995, 7. Noch krasser im Klappentext: "Bis auf den heutigen Tag halt sich die Meinung, die Reformation habe fill die Emanzi pation der Frauen einen Schritt nach vome bedeutet . . . Eine Legende - wie Lyndal Roper in ihrem faszinierenden Buch zeigt.« 2 Roper (1995), 8. 1m folgenden wird auf die englische Fassung der Arbeit Bezug genommen. 3 Dazu neuerdings Trossbach, Werner: Das » ganze Haus« - Basiskate gorie fur das Verstandnis der landlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Friihen Neuzeit, in: Blatter fur deutsche Landesgeschichte 129 (1993), 277-314. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit Brunner bei Durr, Renate: Magde in der Stadt. Das Beispiel Schwabisch Hall in der Friihen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, bes. 11-22; Richarz, Irmintraut: Oikos, Haus und Haus halt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsbkonomik, Gbttingen 1991, bes. 137-181. Zu Brunner spezie1l 4, 148 f., 156 f. 4 Schmidt, Heinrich Richard: Die Achtung des Fluchens durch refor mierte Sittengerichte, in: Zeitschrift fUr Historische Forschung ( ZHF), Bei heft 15 (1993), 65-120, zur Rolle des zuchtigenden Vatergottes. Vgl. auch Ders.: Environmental Occurrences as the Lord's Immediate Preaching to us from Heaven: The Moral Cosmos of the Early Modern Era, in: Kaufmann Hayoz, Ruth (Hg.): Bedingungen umweltverantwortlichen Handelns von Institutionen, Bern 1997, 35-42. 5 Miinch, Paul: Die » Obrigkeit im Vaterstand«. Zur Definition und Kritik des » Landesvaters« wahrend der friihen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982), 15-40. 6 So Sibeth, Uwe: Eherecht und Staatsbildung. Ehegesetzgebung und Eherechtsprechung in der Landgrafschaft Hessen(-Kassel) in der friihen Neuzeit, Darmstadt 1994, 52 f., bes. 53, Anm. 14; vgl. Miinch (1982). 7 Brunner, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Osterreichs im Mittelalter, Darmstadt 1984, 240--273; Ders.: Adeliges Landleben und europaischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg 1949, bes. 237-280. 8 Brunner (1984), 254. 9 Brunner, Otto: Das » Ganze Haus« und die alteuropaische » Okono mik«, in: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufi., Gbttingen 1968, 103--127, hier 108. 10 Brunner (1984), 258--260; Ders. (1968), 111 f. 11 Brunner (1984), 260-262, 269-272. 12 Ebd., 265 f. 13 Vgl. ebd., 133--146. 14 Zu ihr gehbrt Hohbergs » Georgica Curiosa«. Zum Verhaltnis Haus vater - Familia vgl. Brunner (1949), 252, 262, 284--290 [am Beispiel des Ver haltnisses Grundherr-Grundholden). Vgl. zur Hausvater-Literatur insge samt Hoffmann, Julius: Die » Hausvaterliteratur« und die » Predigten uber den christlichen Hausstand« . Lehre und Bildung fUr das hausliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim 1959. =
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15 Coler, Johannes: Oeconomia ruralis et domestica. Darinn das gantz Ampt aller trewen Hauss-Vatter und Hauss-Mutter bestandiges und allge meines Hauss-Buch etc., Frankfurt 1680, I, 1, v, 3, zitiert nach Ozment, Ste ven: When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge (Mass.) 1983, 50. Ein ahnliches Zitat auch bei Brunner (1968), 111 f. 16 Brunner (1968), 109: " Die hausherrliche Gewalt alterer Art hatte bis ins 18. Jahrhundert wenig verandert bestanden.« Vgl. auch Mitterauer, Mi chael: Grundtypen alteuropaischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in vorindustriellen Gesellschaften, Stuttgart 1979. 17 Brunner (1968), 112. 18 Ebd., 112, 113, 117, 118 f. Vgl. auch Mitterauer, Michael: Artikel »Fa milie« , in: Diilmen, Richard van (Hg.): Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/M. 1990, 161-176. 19 Ozment (1983), 2: »heyday of the patriarchal nuclear family« . 20 Roper, Lyndal: The Holy Household. Women and Morals in Refor mation Augsburg, Oxford 1989, 1-3. 21 Roper (1989), 168 f.: »central duty of wifely subordination« , vgl. 2, 156, 164. 22 Aries, Philippe: Geschichte der Kindheit, 8. Aufl., Munchen 1988, 502-564. Vgl. Ders.: Liebe in der Ehe, in: Ders. u. a.: Die Masken des Begeh rens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexuali tat im Abendland, 4. Aufl., FrankfurtiM. 1984, 165-175, bes. 165, 170; Stone, Lawrence: The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800, London 1977, 136-146. Stone stellt einen Wandel zu einer mehr affektiven Bezie hung nach 1650 fest: ebd., 217-254. 23 Zitiert nach Beck, Rainer: Frauen in Krise. Eheleben und Eheschei dung in der landlichen Gesellschaft Bayerns wahrend des Ancien regime, in: Diilmen, Richard van (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt/M. 1992, 137-212, hier 179. 24 Ebd., 180. 25 Muller, Maria E.: Naturwesen Mann. Zur Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in Ehelehren der Fruhen Neuzeit, in: Wunder, Hei de/Vania, Christina (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991, 43-68, hier 44 f., Zitat 45, vgl. 48. 26 Ebd., 58 f., 64, 67. Dabei nimmt sie keine konfessionellen Differenzen an. 27 Leites, Edmond: Puritanisches Gewissen und moderne Sexualitat, Frankfurt/M. 1988, 147-164, 174-184. 28 Wunder, Heide: Oberlegungen zum Wandel der Geschlechterbezie hungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Dies./Vania (1991), 12-26, hier 23 f. 29 Ebd., 24. 30 Ebd. Die Aufwertung der Frau durch ihren als Gottesdienst begrif fenen Dienst an der Familie betont auch Scharffenorth, Gerta: »1m Geiste Freunde werden« . Mann und Frau im Glauben Martin Luthers, in: Wun der/Vania (1991), 97-108, hier 101-103. Richard van Diilmen zufolge wertet insbesondere der Pietismus und noch wesentlich starker die Aufklarung die Frau und ihre Tatigkeit auf: »dalS aber die Frau Mitarbeiterin wurde, dies bewirkte eine betrachtliche Aufwertung der Frau als Ehepartnerin und
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der Ehe insgesamt als einer Gesinnungsgemeinschaft. Entscheidend weiter ging dann erst die Aufklarung [ . . . J Damit war noch keine Gleichstellung der Frau mit dem Mann erreicht, aber ihre Bedeutung vor allem fur die Familie hervorgehoben. AuBerdem verlangten die Aufklarer >eine Oberein stirnrnung der Gemutsart, eine gewisse Gleichheit in unseren Meinungen und Neigungen, einen innerlichen Trieb, dem anderen zu gefallen, sein gan zes Herz, seine ganze Hochachtung zu besitzen<. Erst dann kbnne man von >ehelicher Liebe< sprechen (Gellert)«; - Diilmen, Richard van: Kultur und Alltag in der FrUhen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen 16.18. Jahrhundert, Munchen 1990, 163. 31 Lorenz, Dagmar: Vom Kloster zur Kuche: Die Frau vor und nach der Reformation Dr. Martin Luthers, in: Becker-Cantarino, Barbara (Hg.): Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, 7-35. 32 Scharffenorth (1991), 101-103. 33 Ebd., 105. 34 Schorn-Schutte, Luise: » Gefahrtin« und » Mitregentin<<. Zur Sozialge schichte der evangeli-schen Pfarrfrau in der Friihen Neuzeit, in: Wun der/Vanja (1991), 109-153, hier 116. 35 Ebd., 116-121. 36 Ebd., 12l. 37 Ebd., 120: » Sie ist Mitregentin des Hauses. Auf das Haus ist ihre Mit regentschaft allerdings ausdrucklich konzentriert.« 38 Scharffenorth (1991), 105 f. 39 Ebd., 105. Vg!. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff., Neudruck Graz 1964 ff. ( WA), hier: WA 30/1 [GroBer KatechismusJ, 147: » Dem Vater- und Mutterstand hat Gott sonderlich den Preis vor allen Standen gegeben [ . . . J Denn aus der Eltern Obrigkeit flieBet und breitet sich aus aile andere«. Zitiert nach ebd., 106. Die gleiche Argu mentation findet sich bei Steven Ozment: Seiner Meinung nach besaB die Frau als Hausmutter eine Stellung von gleicher Autoritat und Dignitat wie der Mann; Ozment (1983), 50 f., 54. 40 Sabean, David Warren: Property, Production, and Family in Nek karhausen, 1700-1870, New York 1990, 125. 41 Mit Ausnahme der Sendgerichte. Vg!. dazu Holzem, Andreas: Ka tholische Konfession und Kirchenzucht. Handlungsformen und Deliktfel der archidiakonaler Gerichtsbarkeit im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfa lische Forschungen 45 (1995), 295-332. 42 Beck (1992), 212. 43 Kirchengemeindearchiv ( KGA) Vechigen, Chorgerichtsmanual ( CGM; Manual eines reforrnierten Altestengremiums in Bern): 7.6.1704. 44 Ebd.: 14.11.1773. 45 KGA Vechigen, CGM: 26.5.1622; ebd.: 3.4.1625. Vg!. zu dem Begriff im Zusammenhang mit der Kindererziehung ebd.: 2.9.1620 und 30.11.1651. 46 Ebd.: 23.6.1616. 47 Ebd.: 18.2.1655. 48 Ebd.: 25.6.1609. 49 Ebd.: 23.10.1636 - Sie streiten vie!. Sie werden, » sunderlich das wib, zur rechten liebe gegen ihrem man verrnahnt«. =
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50 Ebd.: 7.11 .1734. 51 Ebd.: 5.11.1776. 52 Ebd.: 14.8.1746. 53 Ebd.: 11.1.170l. 54 Schilling, Heinz: Friihneuzeitliche Formierung und Disziplinierung von Ehe, Familie und Erziehung im Spiegel calvinistischer Kirchenratspro tokolle, in: Prodi, Paolo (Hg.): Glaubensbekenntnisse, Treueformeln und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Miinchen 1993, 199-235. 55 Ebd., 219-22l. 56 Kirchenkonventsprotokoll ( KKP; Manual eines lutherischen Altestengremiums in Wiirttemberg) Unterjesingen: 2.12.1655. 57 Ebd.: 17.8.1665. 58 Ebd.: 19.1.1690. 59 KKP Beutelsbach: 20.12.1720. 60 Sabean (1990), 52 f., 147-162-207. 61 Ebd., 97. 62 Ebd., 106-116. 63 Ebd., 113. 64 Ebd., 130. 65 Ebd., 129 f. 66 Ebd., 133-138. 67 Zu den Klagepunkten ebd., 129-133. 68 Ebd., 134. Ein weiterer Hauptklagepunkt der Frauen war das mann liche Trinken. Ebd., 174-179. Zum Trinken vgl. den Aufsatz von Michael Frank in diesem Band und Tlusty, B. Ann: Das ehrbare Verbrechen. Die Kontrolle iiber das Trinken in Augsburg in der friihen Neuzeit, in: Zeit schrift des historischen Vereins fiir Schwaben 85 (1992), 133-155. Eine Strukturanalyse der Verfahrenspraxis ohne zeitliche Perspektive und ohne Gewichtung etwa der Klagepunkte bei Ehekonflikten bietet Hofer, Roland E.: >;Oppiges, unziichtiges Lebwesen« . Schaffhauser Ehegerichtsbarkeit von der Reformation bis zum Ende des Ancien Regime (1529-1798), Bern u. a. 1993, 161-176. Er zahlt im wesentlichen die gleichen Konfliktursachen auf wie Roper oder Sabean. 69 Sabean spricht von » contracted«, Sabean (1990), 114. So auch zu Frankfurt Habermas, Rebekka: Frauen und Manner im Kampf urn Leib, Okonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Friihen Neuzeit, in: van Diilmen (1992), 109-136. 70 Sabean (1990), 114 f. 71 Ebd., 115 f. Die Frauen benutzten die mit Ehesachen befal5ten Gerich te, besonders die Niedergerichte und den Kirchenkonvent, aktiv. Vor aHem Frauen klagten bei Ehestreitigkeiten oder Konflikten im Haus. Ebd., 125 f. 72 Roper (1989), 186. 73 Ebd., 82-84, 185-194, bes. 188 f. 74 Habermas (1992), 120 f. Frauen sind als Klager in einer deutlichen Mehrheit. V gl. auch zur Analyse eines Ehetraktates im Sinne einer Aufwer tung der Frau Hendrix, Scott: Christianizing Domestic Relations. Women and Marriage in Johann Freder 's » Dialogus dem Ehestand zu Ehren« , in: The Sixteenth Century Journal 23 (1992), 251-266. =
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75 Zitiert nach Beck (1992), 142. 76 Ebd., 144. 77 Ebd., 146. 78 Ebd., 148. Zum " Hausen« als Schlusselbegriff fur die materielle Ver sorgung des Hauses und die Rollenerfullung von Mann und Frau vgl. ebd., 150-156. 79 Ebd., 16l. 80 Ebd., 181 f. Vgl. zur verbalen Gewalt der Frauen als »Aufruhr« auch 183. 81 Ebd., 188 f. 82 Ebd., 189. 83 Georg Stengel, Moraltheologe an der Universitiit Ingolstadt und zu gleich Prediger in Munchen. Seine »De judiciis divinis« von 1651 gehOrt zu den verbreitetsten jesuitischen Traktatsammlungen uberhaupt. Vgl. Beck (1992), 180 zu ihm. 84 Ebd., 189. 85 Ebd., 19l. 86 Safley, Thomas Max: Let no Man put asunder. The Control of Mar riage in the German Southwest: A comparative Study, 1550-1600, Kirksville 1984, 139 f.; vgl. Ders.: Marital Litigation in the Diocese of Constance, 1551-1620, in: The Sixteenth Century Journal 12 (1981), 61-77; siehe auch Daumas, M.: Les conflits familiaux dans les milieux dominants au XVIIIe siecle, in: Annales 42 (1987), 901-92l. 87 Safley (1984), 140. 88 Ebd., 176, vgl. 178. 89 Ebd., 180. 90 Daneben spielten Klagen wegen ehelicher Untreue eine Rolle. Mehr dazu in Schmidt, Heinrich Richard: Dorf und Religion. Reformierte Sitten zucht in Berner Landgemeinden der Frilhen Neuzeit, Stuttgart 1995, Kapi tel »Ehe«. Andere Studien zum Problemfeld »eheliche Treue« liegen noch nicht vor, so daB dieser Aspekt hier mangels Vergleichsmaterials nicht the matisiert werden kann. Vgl. auch Schmidt, Heinrich Richard: Ehezucht in Berner Sittengerichten 1580-1800, in: Scribner, Robert W. /Hsia, Ronnie P. (Hg.): Problems in the Historical Anthropology of Early Modem Europe, Wiesbaden 1997, 287-32l. 91 KGA Vechigen, CGM: 25.2.1718. 92 Ebd.: 10.2.1622. 93 Ebd.: 24.8.1710. 94 Schmidt (1995), 266. Siehe das Register unter »Hausen«. Frauen tru gen wesentlich zur Nahrung des Hauses bei. Klagen gegen Ubelhausen von Frauen waren aber relativ selten. 95 KKP Unterjesingen: 4.2.1655. 96 KKP Beutelsbach: 8.4.1710. 97 KKP Unterjesingen: 12.5.1805. Zahlreiche Beispiele fur Klagen wegen schlechten Hausens auch bei Sabean (1990), 103-116. 98 Sabean (1990), 11l. 99 Ebd., 115. 100 Ebd., 116, vgl. 132: Relativ gesehen standen aber Probleme der Ge walt, des Trinkens und des Schworens deutlich im Vordergrund vor dem
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Problem des Hausens, soweit Klagen der Ehefrauen gegen ihre Manner betroffen waren. 101 Roper (1989), 4 f. 102 Ebd., 59, vgl. 87: Mandat gegen Verschwender und sexuelle Verge hen 1546. 103 Ebd., 182 f., vgl. Tlusty (1992). 104 Allgemein zum Thema der Hausnotdurft Blickle, Renate: Hausnot durft. Ein Fundament in der altstandischen Ordnung Bayerns, in: Birtsch, Gunther (Hg.): Grund- und Freiheitsrechte von der standischen zur spat burgerlichen Gesellschaft, Gottingen 1987, 42-64. 105 Beck (1992), 147. 106 Ebd. 107 Ebd., 150-154, vgl. 161: Hausen als »Beziehungsidiom«. 108 Ebd., 191. 109 Auch der Quellenbefund Ropers stimmt, wie gesagt, im Gegensatz zu ihrer Gesamtdeutung mit der Allianzthese uberein. Vgl. Roper (1989), 171, 194, 203.
Gerd Schwerhoff
Star ke W orte Blasphemie als theatralische Inszenierung von Mannlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Frooen Neuzeit
Die Vorstellung, daiS Manner eher handeln, wahrend Frauen lieber reden, ist ebenso altmodisch wie durchschlagskraftig. Wissenschaftlich differenziert und elegant reformuliert findet sie sich selbst in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. 50 wurde z. B. im Kontext der Hexenforschung die von Frauen ausgesprochene magische Verfluchung als ein Weg zur Kom pensation weiblicher Ohnmacht verstanden. 1 Umgekehrt ho ben viele Forscherinnen die zentrale Bedeutung der Frauen bei der Erschaffung des >Geruchts< und damit bei der Zuschrei bung des Hexereiverdachts hervor/ jenseits abwertender Wahrnehmungen von der weiblichen Klatschsucht3 wurde so der weibliche Anteil am Zustandekommen einer >offentlichen Meinung< thematisiert. Wie verfehlt es jedoch ware, die formel Ie oder informelle Rede als eine vormoderne Domane der Frau en zu betrachten, zeigt ein anderes Forschungsfeld. Wegen Be leidigungen standen Frauen zwar haufiger vor den 5chranken vormoderner Gerichte als wegen anderer Delikte, dennoch uberwiegen hier quantitativ meist die Manner. Uber die Frage nach der schieren Zahl der beteiligten Frauen hinaus aber bie ten die Injurien weitere geschlechtergeschichtliche Anknup fungspunkte. Je nachdem, ob sie gegen Frauen oder Manner gerichtet waren, waren offenbar vollig unterschiedliche Leit konzepte fur die Auswahl der Beleidigungen bestimmend: Wahrend sich die Beleidigungen im einen Fall gegen die sexu elle Integritat (»Hure« ) richteten, stand bei den Mannern eher ihr okonomisches Verhalten und Potential (»Dieb« ) im Vorder grund.4 50 scheint es durchaus lohnend, sich mit den Reden von und gegen Manner(n) zu beschaftigen. Eine 5tudie uber Gotteslaste-
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rung als spezifisch mannliche Form des Redens, wie sie hier versucht wird, kann in mehrfacher Hinsicht an die genannten Forschungen anknupfen. Auch bei der Blasphemie handelte es sich urn eine Injurie,5 wobei zunachst allerdings Gott und seine Helfer als die Beleidigten verstanden wurden.6 Uneinge schrankt gilt diese Feststellung jedoch nur fur die Perspektive der zeitgenossischen Theologen. Betrachtet man die Uisterwor te in ihrem jeweiligen sozialen Kontext, dann wird schnell deut lich, daiS sie auch oder sogar uberwiegend noch ganz andere Adressaten erreichen und Botschaften transportieren sollten; Lasterworte konnten z. B. als Drohungen fungieren oder Uber legenheit uber etwaige Kontrahenten signalisieren. Ihr Charak ter weist deshalb, ebenso wie der anderer Beleidigungen auch, uber das >bloiSe< Reden weit hinaus. Blasphemische Schwure und Fluche mussen als performative Sprechakte verstanden werden, als sprachliche AuiSerungen, mit denen nicht nur die Vermittlung von Informationen, sondern zugleich ein Hand lungsaspekt verbunden ist? Uberdies stehen diese Sprechakte oft im weiteren Kontext spezifischer Handlungssequenzen, die ihrerseits in hohem MaiS ritualisiert waren. An einigen empiri schen Beispielen, vorwiegend aus der oberrheinischen Stadt Ba sel, wird die Praxis des Gotteslasterns, ihre geschlechtsspezifi sche Bedeutung und deren Aneignung durch Angehorige ver schiedener Schichten diskutiert.8 Dabei ist auch fur dieses Forschungsproblem die Maxime der >gender history< zu beach ten, Manner und Frauen vergleichend zu thematisieren.9 Am SchluiS steht die Frage, ob sich das >blasphemische< Reden in ein groiSeres Leitbild von >Mannlichkeit< einordnet und welche Ruckschlusse auf eine mogliche mannliche Identitat es zulaiSt.
Der Fall Hans Heintzen und seine Hintergrunde Am 22. Juli 1520 wurden in Basel auf Ersuchen der offentlichen Anklager flinf Belastungszeugen gegen einen gewissen Hans Heintzen, genannt der Pfeifer von Appenzell, vernommen.lO Ebenso wie der Beschuldigte hatten die funf ihren Abend im Wirtshaus » Zum Hasen« verbracht. Der Pfeifer sei zunachst in Gesellschaft zweier Madchen aus der Mal(en)zgasse gewesen,
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im Klartext: von Dimen aus dem stadtischen Frauenhaus.u Als diese sich erhoben und gingen, sei Hans zu einem Topf in der Ecke gegangen, um dort sein Wasser abzuschlagen. Mit freund lichen Worten, so die Aussagen ubereinstimmend, habe der Hausherr Jakob Weinmesser den Pfeifer gebeten, nicht dorthin »zu pruntzen« , weil es so ubel stinke, sondern ihn an einen an deren Kubel verwiesen, der wohl vor der Ture stand. Hans Heintzen habe sich daran jedoch nicht gestort, in den Topf uri niert und sei dann an den Tisch zuruckgekommen. Hier begann er zu randalieren: Mit der Hand habe er auf die Tischplatte ge hauen und Jacob vorgeworfen, ihn zu verachten. Seiner Empo rung machte er mit lautstarken Schwuren und Fliichen Luft. Die funf Zuhorer gaben daruber detaillierte, aber durchaus un terschiedliche Auskunft. Nach der Erinnerung Jacobs hat Hans Heintzen zuerst geschworen »Gotz funf wunden, lidenn und macht, unnd er woIte, das er ein kli angangen hette« . Er, Jacob, habe sich gezwungen, ruhig zu bleiben. Er habe den Pfeifer mit guten Worten gemahnt und erwidert, er verachte ihn keines wegs; aber Heintzen sei voll Wein und schwore ubel. Das aber brachte den Pfeifer noch mehr auf die Palme: »du lugst das dich Gotz funf Crutz im hymel obenn schennd, ich hann doch nit geschworen, und aber geschworen Gotz Sacrament, Gotz liden unnd Gotz Ellend, kum tufel das dich gotz funf crutz im hymel schenndt« . Da man zunachst keinen Stadtknecht finden konnte, habe er selbst Hans an die Hand genommen, unter gutem Zu reden auf die StralSe gefiihrt und sich in die Tur gestellt, um eine Ruckkehr zu verhindem. Verargert uber seine Unfahigkeit, sich wieder Zugang zu verschaffen, verlegte sich der Betrunke ne weiter auf starke Worte: » sichstu Jacob, du verachtest mich, das dich Gotz funf Onmacht schennd« , habe er ausgerufen, weitere unerhorte Schwure getan und zum SchlulS geredet »kom tuffel und hoI mich, ich bin doch dir« - ein Ausspruch, der sich nach der Interpretation eines anderen Zuhorers viel leicht auf die nahenden Stadtknechte bezogen haben konnte. Die anderen Zeugen bestatigen die Aussage des Wirts und liefem weitere Beispiele ubler Schwure: »Gotz liden, Gotz craft, Gotz fleisch, Gotz macht« : Diese Schwure will Hans Vischer trotz seiner Schwerhorigkeit mitbekommen haben. »Gotz him, Gotz wunnden, Gotz Erdtrich« sind Michel Schomecher in Er innerung. Nach Henmann Kiefers Zeugnis hat der Pfeifer Jacob geflucht, es »soIt inn gotz Ertrich, Gotz crutz, erdrich und wider
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erdrich schenden« und er habe » Gots onmacht liedenn wun denn, ann henndenn unnd an fiessen uber in geschworn«. Spa ter habe er sogar an seine Wehr gegriffen und geredet »summer box blilt«, er wollte sich mit Jacob schlagen. Vor dem Haus habe sich derartiges wiederholt, er habe gewalttatig geschworen » summer pox hirn das gott selbs inn sinem haupt hatt«. Der ftinfte Zeuge schlieBlich, Adam Grellinger, berichtet von einem besonders orginellen Fluch, namlich » das in pox milch die er gesogenn hatt mueB schenden«. Einige Tage spiiter, am 28. Juli 1520, klagen die Basler Lade herren gegen Hans Heintzen im Namen der Obrigkeit auf Leben und TodP Er habe aus » verdachtigem, freventlichem, mutwilli gem und verwegenem Gemiit« viele seltsame Schwfue getan und damit Gott den Schopfer schwer gelastert. Ein Urteil ist ebensowenig iiberliefert wie eine Aussage des Beklagten, aber es ist nicht auszuschlieBen, daB der Pfeifer seine starken Worte mit dem Tod bezahlen muBte. Zwar ist fiir das Basel des 16. Jahr hunderts nur ein Gotteslasterungsfall sicher iiberliefert, der mit der Hinrichtung des Taters endete.13 Vollig ungewohnlich waren derartige Todesurteile gegen die Sprecher lasterlicher Schwiire jedoch nicht: Ebenfalls 1520 wurde Hans Wingartner in Ziirich wegen eines ahnlichen Vergehens enthauptetY Schauen wir uns das von Heintzen begangene Delikt ein we nig naher an. Seit dem 14. Jahrhundert prangern die stadtischen Statuten im Siiden des Reiches iible, ungehorige Schwiire, vor allem solche bei den Gliedern Gottes, als Hauptform der Blas phemie an. Die ersten diesbeziiglichen Quellen aus Basel stam men zwar erst vom Ende dieses Jahrhunderts.15 Aber schon das Ziircher Stadtrecht von 1344 bietet eine ausfiihrliche Auflistung verbotener Schwiire bei Gottes ftinf Wunden, Gottes SchweiB, Gottes Schadel, Haupt oder Kopf, Gottes Lunge oder Leber, Gottes Nase oder Bart, aber auch bei Gottes Hure und Gottes >Zers<, also Gottes Penis.16 Das Skandalon bestand prinzipiell darin, den Schopfer durch die Nennung seiner GliedmaBen zu entehren und abzuwerten. Besonders strafbar erschien es, wenn Korperteile genannt wurden, die als solche tabuisiert bzw. be sonders sexuell oder skatologisch besetzt waren. Oft wurde bei derartigen Schwiiren der Name Gottes zu einem >bock(i)s<, >box< oder >kotz< verballhornt, ein Euphemismus, der den de spektieriichen Umgang mit dem Schopfer iiberdecken und den Tabubruch entkraften sollte. Andererseits wurden die Profanie-
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rungen durch ein vorgesetztes Adjektiv, etwa ein >verch<, ein >bitterlich< oder ein >summer< bekraftigt. Heintzens Ausrufe »summer box blut« oder »summer pox him« sind gute Beispiele fUr derartige Schwure. Sie waren am Beginn des 16. Jahrhun derts gleichwohl schon etwas altmodisch. Nicht nur in Basel stand in dieser Zeit die Passion Christi im Mittelpunkt der Schwurformeln; so schwor Hans Heintzen bei Gottes Wunden, Leiden, Elend und vor aHem bei Gottes Ohnmacht. Wie sehr der Beklagte 1520 an einem Schnittpunkt von alten und neueren Schwurmoden steht, sieht man an der Tatsache, daIS er auch Gottes Sakramente nicht unerwahnt laf5t - einige Jahrzehnte spater sind Schwure wie »tausend Sakramente« oder »hundert tausend Sakramente« gangige Munze.17 Sehr schon laISt sich am Eingangsbeispiel auch die Nahe zwi schen Schworen und Fluchen erkennen. Von vielen Zeitgenos sen ebenso wie von den meisten modemen Forschem synonym gebraucht, lassen sich dennoch - zumindest idealtypische - Un terschiede machen. Wahrend man unter >schworen< die - wenn auch oft unerlaubte oder sogar blasphemische - Anrufung Got tes oder seiner Helfer verstehen kann, bedeutet >fluchen< das Aussprechen des Wunsches, jemandem mage ein Ubel wider fahren (etwa: »daIS Dich St. Veitstanz uberkomme!« ) . Wie das Beispiel Heintzens belegt, sind die ublen Schwure oftmals in Fliiche gegen konkrete Mitmenschen >verpackt< : »daIS Dich Gottes Ohnmacht schande« etwa, oder, besonders origineH, »daIS Dich Gottes Milch, die er gesogen hat, schande« . Mit der artigen Fluchen konnte die explizite Anrufung des Teufels ver bunden sein (etwa: »daIS Dich der Teufel hole!« ) . Heintzen da gegen verknupfte mit seinen Fliichen gegen andere Menschen paradoxerweise die Aufforderung an den Teufel, ihn selbst ho len zu kommen. Es ist moglich, daIS er damit eine Beleidigung der Stadtknechte im Sinn hatte. Ebensogut konnen diese Worte jedoch als Indizien fur Verzweiflung, Autoaggression und Selbststigmatisierung gedeutet werden. IS Zu konstatieren ist uberdies ein wichtiger Unterschied zu der eingangs erwahnten magischen Verfluchung, die eher von Frauen vorgebracht wur de. Blasphemische Fliiche wie die von Hans Heintzen brachten ihre Sprecher in der Regel nicht in den Verdacht, mit magischen Mitteln oder gar der Hilfe des Teufels ein Ubel herbeizuzwin gen. Sie wurden eher als im Affekt geauf5erte schlechte Wun sche oder gewaltgeschwangerte Drohungen verstanden, die
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gleichsam als Vorstufe (oder als Ersatz) eines tatsachlichen Ak tes physischer Gewalt dienten.19 Ebenso signifikant wie die gesprochenen Worte erscheint der situative Kontext. Haufig bildeten, wie bei Hans Heintzen das Wirtshaus »Zum Hasen« , Tavernen und Gaststatten die Buhne fur uble Schwure und Blasphemien. Seit dem Mai 1490 gehOrten aIle Wirte, Weinschenke und Koche zum Kreis derjenigen Per sonen, die bei ihren Eiden »ir getruw uffhoren uff solich gotle sterung und schwuer« haben sollten. Ihren Angaben sollte un bedingt vertraut und die BulSe »on ander erfarungen« , d. h. ohne weitere Zeugenangaben fallig werden.20 Neben den stadtischen Amtstragern trugen sie fortan ebenfalls die Verantwortung fUr die Uberfuhrung von Blasphemikern; die Obrigkeit traute vor nehmlich ihren Gasten derartige Vergehen zu. Die Bestimmun gen von 1490 fanden, in der Folgezeit mehrmals bestatigt, Ein gang in die sog. »Alte Reformationsordnung« von 1498, die es sich zur Aufgabe machte, » Gotts ere und lob« zu fordern. Die Denunziationspflicht wurde hier durch die Anordnung unter strichen, daIS saumige Ruger selbst der Gotteslasterungs-BulSe verfallen sollten. Es ist moglich, daIS aufgrund dieser Bestim mung das Verfahren gegen Hans Heintzen uberhaupt erst in Gang gekommen war, weil Jacob sich genotigt sah, ihn zu de nunzieren.21 Das Gotteslasterungsverbot figuriert in der Refor mationsordnung programmatisch als erster Artikel, auf den Ver ordnungen zum Eidbruch, zur Feiertagsheiligung, zum Ehe bruch, zum Spielen und eben auch zum Zutrinken folgen. Der enge Konnex zwischen Zutrinken und Gotteslasterung wird auch dadurch deutlich, daIS die Verordnungen - ob in Basel oder anderswo - der Reformationszeit beide Tatbestande uberaus haufig in einem Atemzug nennen. 22 Die eine Sunde zag nach der Interpretation der Obrigkeit wahl die andere zwangslaufig nach sich, weswegen sie nachdrucklich vor beiden warnte. Anderer seits stellte sich hier das Problem der Verantwortlichkeit fUr das eigene Tun. In der Anklage gegen Heintzen ist ausdrucklich da von die Rede, daIS dieser frevelhaft und mutwillig Gott gelastert habe. Angesichts seines offenbar volltrunkenen Zustandes ware es durchaus moglich gewesen, ubermalSigen AlkoholgenulS als Ursache fur zeitweilige Unzurechnungsfiihigkeit anzufuhren, den Vorsatz des Beklagten zu bestreiten und seine Affektgelei tetheit zu unterstreichen - fur die Harte der Sanktion waren diese Punkte manchmal von entscheidender Bedeutung.23
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Ein zweites Element, das oft eine wichtige Rolle einnahm, war das Ghicksspiel. In unserer Exempelgeschichte spielt es keine Rolle, deswegen soIl es vorerst beiseite bleiben.24 Ein drit ter Aspekt aber zeichnet sich dort wiederum sehr deutlich ab: Gotteslasterliche Schwure und Fluche waren Teil eines groBe ren Gewaltszenariums. Der Griff an die Waffe, das Zucken des Messers, das Herausfordern aus dem Haus oder die anschlie Bende Rauferei gehen vielfach mit derartigen Lasterreden ein her. Viele Menschen stehen nicht lediglich isoliert wegen Got teslasterung vor Gericht, sondern zugleich wegen anderer Ver gehen gegen Nachbarn, Trinkkumpane und Berufskollegen, Ehefrau oder Obrigkeit. Was in den Quellen unverbunden ne beneinander steht, war in der sozialen Realitat Element eines typischen Verhaltensmusters.25 Bei aller Reprasentativitat be sitzt der Fall Hans Heintzen jedoch auch in dieser Hinsicht durchaus originelle Zuge. Seine offensichtliche Volltrunkenheit fuhrte dazu, daB er zur Ausubung physischer Gewalt unfahig war. Immerhin schlug er auf die Tischplatte, legte spater seine Hand an die Waffe und drohte mit Schlagen. Die insgesamt be gutigende Haltung des Wirtes Jacob und der anderen Gaste, die sich nicht provozieren lieBen, trug das ihre dazu bei, eine Eska lation zu vermeiden. Allerdings scheinen aIle Beruhigungsver suche Heintzen nur noch mehr erregt zu haben, sah er doch darin - wohl berechtigt - ein untrugliches Zeichen, von seinem Gegenuber nicht ernst genommen zu werden. Die UnmafSigkeit der Schwure erklart sich vielleicht auch daraus; sie kann als verbaler Kompensationsversuch seiner physischen und sozia len Ohnmacht verstanden werden. AIle beteiligten, im Wirtshaus »Zum Hasen« anwesenden Personen waren mannlichen Geschlechts, was angesichts der gewalthaften Begleitumstande des Ubelschworens nicht uber rascht. Auch diese Beobachtung darf durchaus verallgemeinert werden. Ais Belege konnen zunachst Basler Daten dienen. Un ter den 2043 Delinquenten, die ausweislich der sog. »Leistungs bucher« zwischen 1376 und 1455 in Basel straffallig wurden, befanden sich 99 Gotteslasterer. Nur 18 davon (18,2 %) waren weiblichen Geschlechts.26 Ein Jahrhundert spater hatte sich das Bild nicht grundlegend gewandelt. Unter den 28 zwischen 1546 und 1556 ausgewiesenen Personen, zu deren Vergehen auch Blasphemie gehorte, waren flinf Frauen, namlich zwei Ehefrau en und drei Mitglieder einer Bettlergruppe. Die Personen, die
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nur wegen GottesHi.sterung belangt wurden, waren allesamt mannlichen Geschlechts.27 In anderen Stadten bietet sich ein vergleichbares Bild. Unter den 41 identifizierbaren Gotteslaste rern in den Fragmenten der Nurnberger Achtbucher des Spat mittelalters befanden sich sechs Frauen (= 14,6 %).28 Und von den 62 Blasphemikern, die Susanna Burghartz zwischen 1376 und 1385 in den Richtbuchern des Zurcher Rates dingfest mach te, waren mit einer einzigen Ausnahme alle mannlich.29 Da Frauen var Gericht generell unterreprasentiert waren, scheinen diese Zahlen zunachst keineswegs aus dem Rahmen zu fallen. Fur eine nahere Analyse ist nach Strafinstanzen und Delikten zu differenzieren.30 Normalerweise ist die Zahl von weiblichen Delinquenten vor mit >petty crimes< und Alltagskonflikten be schaftigten Niedergerichten hoher, wahrend vor den Schranken der peinlich strafenden Hochgerichte wenig Frauen zu finden sind. Ihre Abwesenheit unter den Zurcher Gotteslasterern des 14. Jahrhunderts, die in der Regel >nur< mit GeldbuBen sanktio niert wurden, ist deshalb doppelt auffallig. Heinrich Schmidts Untersuchung uber die Tatigkeit einiger Berner Chorgerichte fur die Fruhneuzeit zeigt aber - bei prinzipiell bleibender Do minanz der Manner - deutlich hohere weibliche Anteile. Dart war etwa jede Dritte unter den >Fluchenden< eine Frau. Dazu kam, daB die Frauen im Durchschnitt wesentlich strenger be straft wurden als die Manner.31 Eine inhaltliche Qualifizierung nach verschiedenen Kontexten der Tat oder dem Wortlaut der >Fluche< scheint hier von den Quellen her nicht moglich zu sein. Insgesamt darf aber die mannliche Dominanz unter den Got teslasterern - auch internationaP2 - als gesichertes Ergebnis be trachtet werden, zumal eine hohe mannliche Prasenz bei einem solchen Verbalvergehen weniger zu erwarten ware als auf an deren Feldern >klassischer< Delin'luenz wie etwa den Gewalt delikten.
Liisternde Frauen Nahern wir uns der Bedeutung des >Mannerdeliktes< Blasphe mie auf dem Umweg uber das Prafil der Minderheit von la sternden Frauen. In den Strafrechtsquellen spatmittelalterlicher
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Stadte im Reich zeichnen sie sich vor allem durch zwei Charak teristika aus. Zum einen werden ihre basen Schwure, anders als bei den meisten Mannern, in den Akten haufig im Wortlaut wie dergegeben. Zum anderen mulSten die Frauen mit einer schwe reren Ahndung ihrer blasphemischen Reden rechnen. In Zurich wurde die einzige Gotteslasterin Ness mit der Schrimpfen un gewahnlich hart - namlich mit GeldbulSe, Halseisen und Stadt verweis - bestraft; sie hatte grob »bei Gottes blutendem Schwanz« geschworen.33 A.hnliche Hille kennen wir aus Basel. Schon 1382 war eine gewisse Mentzerin zem Scharben, die bei »botz zschers« und »botz hoden« geschworen hatte, mit Stadt verweis und GeldbulSe belegt worden.34 Wegen ungenannter Lasterschwure wurde dann 1405 eine Frau an das Halseisen gestellt; danach wurde ihr die Zunge >ausgehauen< und sie auf ewig aus der Stadt gewiesen.35 Als schwerwiegend empfand man schlielSlich auch 1409 das Vergehen einer Frau namens Cil sin Verderlin. Sie habe ungewahnlich und ubel geredet und Gott sehr ubel behandelt, indem sie z. B. sprach, » si welle gott ze leit sweren vnd swur ouch vnder ander swuren summer box verch treck; Item summer box ferch kot, Item summer box ferch hoden«. Bei der vergleichsweise harten Sanktion (Halseisen, danach funf Jahre Stadtverbot) spielte sicher der Gebrauch be kriiftigender Attribute wie >summer< und >verch< eine entschei dende Rolle.36 Eine Reihe iihnlich >sprechender< Falle lielSe sich aus anderen Stadten anfiihren.37 Offenbar fuhlten die Schreiber sich genatigt, bei den Frauen genauer den Wortlaut der Schwu re zu protokollieren als bei den Mannern, bei denen sie sich oft mit vagen Angaben uber >unerharte<, >unrnenschliche< oder >unchristliche< Schwure begnugten. Dabei mag das Gefuhl eine Rolle gespielt haben, etwas eher Ungewahnliches aufzuzeich nen, das durch die Niederschrift beglaubigt werden musse, als auch das Bedurfnis, das harte StrafmalS zu rechtfertigen. Offenbar nahmen schon die Zeitgenossen die genderspezifi schen Konnotationen des Blasphemiedeliktes wahr. Die Quel len des 16. Jahrhunderts thematisieren die Tatsache, daIS Gottes lasterinnen aus dem weiblichen Verhaltenskodex ausbrachen, deutlicher. 1599 wurde in Basel Ursula Ermannin, Ehefrau eines Burgers, von den Ladeherren der besonders verwerflichen Got teslasterung und Verletzung der gattlichen Majestat ange klagt.38 Sie hatte eine andere Frau aus geringfugiger Ursache mit >erschracklichen< grolSen Schwuren und Gotteslasterungen
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angegriffen (»hunderttausend thonen voll Sacrament«) und so gar den Ehemann der Kontrahentin seIber aus dem Haus ge fordert. Dieses Verhalten, so heiiSt es in der Anklageformulie rung, sei »entgegen aUer christenlichen zuchtlichen weiblicher schamb und erbarkeit«. Es war ganz deutlich ein >mannliches< Verhalten, das Ursula an den Tag gelegt hatte. Noch deutlicher kommt diese Tatsache in einem Kolner Fall aus dem Jahr 1576 zum Ausdruck, bei dem die Nachbarn gegen die Witwe Anges in der Koegasse klagten. Sechs Zeugen beeideten, daiS besagte Agnes »oft und alsolche grausame Gottes laster worter, als das hailigh liden Christi, seine hailigen wonden, Bloit, Sacramenter nit allein mit foUem, sonder auch mit noechternem moende ge prauche, also das es groes wonder sey, das Gott der alrnechtiger her derwegen diese gantze Statt, ja [die] gantze werltt [nicht] straeffe und versincken laisse«. Ohne UnterlaiS fuhre Agnes un flatige Reden und gefahrde damit die Moral der Jugend ebenso wie den Seelenfrieden der Alten. Aber das ist noch nicht alles: »das auch dieselbe Agnies Manswercke anrichte, mit kneuffell steven und helbardten sich vursetze, andere Manner ausser ire heuseren fordere, auch damitten uf thueren und finsteren lauffe und gewaldt dribe, darzu ihre Nachpauren und Nachpaur schen dieff, Schelm, Ehebrechern und mit dergleichen wortten schelde«.39 Die Blasphemie steht bei Agnes nach der Aussage ihrer Nachbarn im Kontext von verbalen Attacken auch auf ihre Mitmenschen und sogar von gewaltsamen Angriffen auf den Hausfrieden. Beleidigung und Entehrung Gottes erscheinen al so in enger Verbindung mit Angriffen und Gewalt gegen die Mitmenschen, was angesichts der engen Verwandtschaft von Schworen, Fluchen und Schelten nicht weiter verwundert. Der gesamte Verhaltenskomplex erschien den Zeitgenossen aber ausdrucklich mannlich besetzt, Agnes fallt aus der Rolle, indem sie »Mannswerk« tut. DaiS Blasphemie eine vornehmlich mannlich konnotierte Verhaltensweise war, geht auch aus anderen Quellen als den unmittelbaren Ermittlungs- und Strafakten gegen Blasphemi kerinnen hervor. Berichte uber >Frauen in Mannerkleidern< zei gen z. B., daiS sich Transvestitinnen, sei es aus Angst vor Ent deckung, sei es aus starker Rollenidentifikation, oft durch ein »uberzogen« viriles Verhalten auszeichneten. 1537 wurde etwa in der Nahe von Basel eine Diebin hingerichtet, die jahrelang als Bauernknecht ihr Leben gefristet und sogar geheiratet hatte
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und erst unter der Folter als Frau enttarnt worden war; nach dem Bericht der Chronik des Fridolin Ryff hatte sie unter ande rem ihre Frau geschlagen, gespielt und insgesamt ein liederli ches Leben gefuhrt.40 In dieses uberangepalSte Verhalten fugte sich gelegentlich auch die Blasphemie ein. So berichtet noch im 18. Jahrhundert Maria von Antwerpen, die lange als Soldat ihr Leben gefristet hatte, in ihrer Autobiographie, sie habe sich trotz ihrer >>naturlichen weiblichen Sittlichkeit« - im Rahmen dieses Soldatenlebens notgedrungen jenen » Gotteslasterern und schamlosen Schwatzern« anpassen mussen, mit denen sie dauernd konfrontiert warY Narurlich handelt es sich bei der Entgegensetzung von >weiblicher Sittlichkeit< und rohem, la sterlichem Soldatenleben um eine Stilisierung, doch andert das nichts an der Tatsache, daIS diese Polaritat zum Wahrneh mungshorizont der Zeitgenossen gehorte. Lasternde und fluchende Frauen begegnen auch in der Lite ratur, und zwar gerade dort, wo das typisch weibliche Verhal ten vorsatzlich auf den Kopf gestellt und grotesk verzerrt wird. Als Beispiel kann das spatmittelalterliche Fastnachtspiel die nen. Hans Folz, einer seiner bekanntesten Nurnberger Vertreter, bedient sich gern und oft des blasphemischen Schwurs, um die Protagonisten zu charakterisieren. Das gilt auch fur seine » Bau ernhochzeit« , wo den anwesenden Mannern verschiedene Schwure in den Mund gelegt werden.42 Unter anderem geraten die Bauern sich uber die Reputation der schwangeren Braut kraftig in die Haare. Gegen Ende schaltet sich nun diese Frau seIber in die Diskussion ein und erhebt den Anspruch, in ihrer Ehe >ungeschlagen< bleiben zu wollen: »Oder, samer pox haut, ich nim in bei eim pein, Und wirt in aIle die stiegen ein, Die indert in dem ganzen haus sein« (V 135-7). Der Gottesschwur als viriler Sprachhabitus dient zur Bekraftigung der Gewaltan drohung. Diese wird prompt in die Tat umgesetzt, als ein an derer Mann aulSert, er wulSte sie schon durchzuprugeln, wenn sie seine Frau ware: » Die Praut: Ei, so wer dich, das dich pox leichnam schend! Derselb Paur: 0 helft, lieben gesellen, aulS di ser not, Ee mich die teuflin schlah zuo tot! « (V 144-6). Der Schwur bei Gottes Haut steigert sich zu einem Fluch bei Gottes Leichnam, das Signal, daIS die wehrhafte Frau nun tatsachlich zur physischen Attacke ubergeht. Eine Regieanweisung er scheint hier uberflussig. Gerade wenn Frauen sich lasterlicher Schwure und Fluche
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bedienen, tritt umso deutlicher hervor, daB es sich hier urn eine untypische Verhaltensweise handelt. Folz bedient sich der Schwiire als Stilmittel, urn das »unweibliche« Verhalten seiner Bauersbraut zu charakterisieren;43 die Frau in Mannerkleidern lastert, urn sich - dem solda tischen Verhaltensstil anzupassen und nicht aufzufallen. Neben der Statistik legt so auch die zeit genassische Wahrnehmung den SchluB nahe, daB es sich bei der Blasphemie urn eine deutlich >mannlich< konnotierte Verhal tensweise handelte. Indem Ursula Ermannin in Basel und Agnes in der Koegasse in Kaln gotteslasterliche Reden schwan gen und anderes >Mannswerk< taten, iiberschritten sie, so der Vorwurf ihrer Gegner, das legitime weibliche Verhaltensmuster. Sie reden sich gleichsam ins gesellschaftliche Abseits. Auffallig ist, daB gerade die Blasphemikerinnen des 15. Jahrhunderts mit ihren >unerhorten< Schwiiren bereits einen marginalen Status besaBen, bevor sie derart straffallig wurden. Eindeutig dem Randgruppenmilieu geharte z. B. Anna Phullendorffin an, die 1436 zusammen mit ihrem >Ruffian< (wohl ihrem Zuhalter) in Basel wegen baser Schwiire ans Halseisen gestellt, danach ge schwemmt und auf ewig aus der Stadt gewiesen wurde.44 Es mag sein, daB in diesem Milieu die gesellschaftlichen Werte und damit auch die Sprach- und Sprechkonventionen weniger anerkannt waren, daB deswegen auch die Geschlechterrollen weniger scharf konturiert und weibliche Transgressionen eher toleriert waren.
Ein Mannlichkeitscode und seine schichtspezifischen Aneignungen Welche Bedeutung(en) transportierte nun der mannliche Sprach habitus der Blasphemie, und welche Manner bedienten sich sei ner? Mein Vorschlag ware, die Gotteslasterung zunachst als ei nen Akt theatralischer Selbstinszenierung vorwiegend in Kon fliktsituationen zu verstehen. Durch seine Worte versucht der Blasphemiker Macht, Starke und Souveranitat zu demonstrie reno Dabei ist seine Anrufung hoherer Machte durchaus ambi valent. Einmal ruft er sie - der >konventionellen< Bedeutung des Schwures gemaB - zum Beistand an, kannen seine Fliiche als
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Hilferufe an Gott und seine Helfer verstanden werden, die Ra chewtinsche des Sprechers zu exekutieren. Auf der anderen Seite aber demonstriert der Blasphemiker durch die despektierliche Behandlung und Profanierung der hoheren Machte Starke und Souveranitat. Provozierend und in trotzigem Herausforde rungsgestus erhebt er sich zugleich tiber sein menschliches Ge gentiber und tiber Gott, signalisiert den Kontrahenten, daB er auch starkere Gegner als sie nicht ftirchtet. Die Lasterreden, hoch typisiert und dabei doch ein ganzes Universum an Variations moglichkeiten umfassend, waren eingebunden in ein Set ritua lisierter Verhaltenselemente, die dem Akteur im Konfliktfall po tentiell zur VerfUgung standen. Fliiche, Schwtire und Lasterre den scheinen als feste Elemente bedrohender Reden, Gesten und Verhaltensweisen wie etwa Messerzticken. Die eigene Person wurde dabei als tibermachtig und omnipotent stilisiert, der Geg ner dagegen als ohnmachtig und schwach. Blasphemie diente somit zugleich der Schaffung eines >starken< Selbstbildes und als Drohbotschaft an Andere. Sie ware demzufolge ein Bestandteil dessen, was der Ethnologe Michael Herzfeld in seiner Arbeit tiber ein kretisches Dorf treffend als »The Poetics of Manhood« bezeichnet hat.45 Nicht nur methodisch, sondern auch empirisch gibt es einige Parallelen zwischen den ethnologischen Beobachtungen aus dem Mittelmeerraum einerseits, der spatmittelalterlichen und friihneuzeitlichen Gesellschaft andererseits. Ais ein wichtiges Element zur Herstellung und Wahrung von Identitat nennt Herzfeld den standigen Streit und Wettbewerb der Manner un tereinander. DaB auch die Vormoderne zutiefst vom agonalen Prinzip gepragt war, hat vor allem Rainer Walz hervorgeho ben.46 Was er am Beispiel der Hexenverfolgung zeigt, und was sich ebenfalls auf dem eingangs erwahnten Feld der Injurien demonstrieren lieBe, ist aber auch fUr weniger dramatische Fel der nachweisbar. Streit und Wettbewerb mtissen nicht eskalie ren, sondern konnen sich auf freundliche Wortgefechte be schranken. 1m kretischen Bergdorf, so Herzfeld, bildet das Kar tenspiel im Kaffeehaus »a forum for skill in that other area of demonstrative masculinity, clever talk. The rules of the games themselves are fixed, and therefore of relatively little interest [ J But the conversational gambits, well-timed gestures, and of course the flamboyant triumph of the winners are all iegiti mate themes in male interaction.« 47 Ahnlich mtissen wir uns . . .
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das Geschehen in spatmittelalterlichen und friihneuzeitlichen Tavernen vorstellen, wo das Wurfel- und Kartenspiel getrieben wurde. Derartige Glucksspiele stellten - sowohl nach Auskunft der Gerichtsquellen als auch in den Augen der theologischen Kritiker - den Ort dar, wo typischerweise geflucht und gelastert wurde.48 Allgemein konnen die Schwure und Fluche der Spieler als Ausdruck der Entladung von affektiven Spannungen ver standen werden; sie werfen ein bezeichnendes Licht auf den agonalen Charakter von Wurfel- und Kartenspielen. Konkret richteten sich diese Blasphemien einerseits sehr oft - z. B. in der Form von Gottesfluchen - gegen den Schopfer selbst, den man direkt fUr den Spielverlust und den mangelnden Beistand ver antwortlich machte. Zum anderen erfullten sie aber auch eine doppelte kommunikative Funktion fUr die soziale Gemein schaft der Spieler. Sie waren Medium fur die Herstellung einer Gemeinsamkeit unter den Wurflern und Kartenlegern und konnen damit als gruppenintegrierender Code verstanden wer den. Zugleich handelte es sich urn eine - meist augenzwinkern de - Drohgebarde gegen die Mitspieler, die das konkurrenzhaf te Geschehen auf dem Spieltisch gleichsam sozial orchestrierte und begleitete. Ebenso wie das Spiel selbst boten die flankie renden Sprechakte den beteiligten Mannern eine Arena fur vi rile Selbstdarstellung und >unernste< Angriffe auf die Mitspieler mittels starker, lasterlicher Worte. Die Analogien zwischen einem griechischen Bergdorf und der vormodernen Gesellschaft haben enge Grenzen. In den stratifi zierten Gesellschaften an der Schwelle zur Neuzeit eigneten sich Manner unterschiedlicher Schichten den virilen Sprachcode der Blasphemie in unterschiedlichem MaiSe an. Ebenso wie bei den Frauen entstammt ein bestimmtes Segment der als Gotteslasterer abgestraften Manner vorwiegend den Unterschichten oder so gar den Randgruppen. Der Fall des Basler Weberknechtes Begelli von 1396 ist hier in zweifacher Hinsicht aussagekraftig. Er wurde (» umb viI boeser frevelich swueren und ungehoerter und unge wonlicher, die er von got und unser frowen getan hatt«) mit Hals eisen, Schwemmen, Aushauen der Zunge und ewigem Stadt verweis auiSergewohnlich hart bestraft.49 Es standen besonders ungewohnliche, >unerhorte< Schwure zur Diskussion, die des wegen unerbittlich sanktioniert wurden. Derartige Blasphemi en, bei denen etwa >schamhafte< Korperteile Gottes genannt wurden, bildeten eine eigene Kategorie von Schwuren, die ob-
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rigkeitlich und wohl auch gesellschaftlich wenig toleriert waren. Tendenziell vollzogen die Sprecher hier eine Selbststigmatisie rung und -marginalisierung. Auf der anderen Seite kam es vor, daB man marginale Exi stenzen mit dem Etikett des »Gottesschwbrers« stigmatisiere, ohne daB eine erkennbare und genau abgrenzbare Einzelhand lung vorlag. Der vielleicht eindeutigste Beleg stammt aus dem Augsburger Achtbuch: Dieses enthalt Listen der >schadlichen Leute<, die alljahrlich am St. Gallus-Tag aus der Stadt getrieben wurden. In derartigen Verzeichnissen tauchen etliche der Ver triebenen mit einschlagigen Attributen auf. So ist 1 377 die Rede von »Henslin putler, dez Mosmans gesell, ein gotswerer, und so man im brot geit, daz wurfft er in daz hor (dreck)« ; 1 385 heiBt es von einem gewissen >DreifuB<, er sei »ein gotzentrager, ein effer, ein bozwicht, und tret uf dem land ein gansbain, und spricht, ez sei eins heilgen bain« .50 In einem Verzeichnis der schadlichen Leute von 1349 werden insgesamt 1 2 Personen mit Epiteta wie »ein gotswerer« oder »ein gbtzentrager« oder gar »ein rehter gotswerer mit niuwen swuren« versehen, fast im mer in Kombination mit anderen abwertenden Bezeichnungen wie >Bbsewicht< oder >Dieb<.51 Die Benennungen charakterisie ren die Genannten gewissermaBen als deviante Gesamtpersbn lichkeiten. Blasphemische Reden und gotteslasterliches Verhal ten wurde zu einem Etikett fur Abweichung schlechthin. Are ligibses war gleichbedeutend mit asozialem Verhalten. Auch im sog. »Aechterbuch« , in das der Basler Rat Mitte des 16. Jahrhun dert seine Stadtverweise eintragen lieB, wird das Fluchen, Schwbren und Lastern bestimmter Personen haufiger als gene relles Charakteristikum der Betreffenden angefiihrt.52 Zweifellos besitzen derartige Stigmatisierungen ihr Funda ment in der Sache. In einem Milieu, wo physischer Gewalt eine wichtige Bedeutung zukam, muBte die Kunst der starken Worte sorgsam gepflegt werden, urn die eigene Starke zu demonstrie ren und mbgliche Gegner zu beeindrucken. Professionelle Ge walttater, etwa Rauber, aber auch Landsknechte, muBten den blasphemischen Habitus schon von Berufs wegen pflegen. Zu gleich lieBen sich gotteslasterliche Schwure und Fluche hier als Teil eines gemeinsamen Codes verstehen, mit dem man sich von der etablierten Kultur absetzte. Der Tabubruch wurde so zu einem Medium subkultureller Vergemeinschaftung. In die sem Sinn ist die Geschichte von jener 1572 entstandenen
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» Schwarzen Rotte« zu verstehen, deren Mitglieder einen Eid auf eine Art Ordensregel abgelegt haben sollen: Diese beinhal tete neben anderen Verwerflichkeiten auch das Verbot zu beten und Gott zu danken; statt dessen sollte taglich geflucht wer den.53 Auf die Spitze getrieben findet sich dieses Motiv im Ge standnis des fiinfzehnjahrigen Bettlers Georg Riser im Kontext der beriihmten Salzburger Zauberjackl-Prozesse; iiber den in ternen Wettstreit auf dem Hexensabbat berichtete er: » unnd wers noch mehr (hat) lestern khbnnen, der ist der Best(e) gewe sen und von dem Jaggl [d. h. dem imaginaren Hexenmeister, N.S.] gelobt worden«.54 Trotzdem ware es verfehlt, die Gotteslasterung als einen Sprachhabitus zu charakterisieren, der aHein im Randgruppen milieu lebendig war. Das mag allenfalls, mit Einschrankungen, fUr die besonders » unerhbrten« Schwiire zutreffen. Schon an dere typische Berufsgruppen weisen iiber dieses Milieu hinaus. Notorische Lasterer waren z. B. die Soldaten, die Rebleute, die Fuhrmanner und die Schiffer, meist Manner, die ebenfalls in einer gewissen professionellen Nahe zur Ausiibung physischer Gewalt standen.55 Blasphemie gehbrte jedoch auch zum Verhal tensrepertoire hochgestellter Groger. In den einschlagigen Bei spielgeschichten des Spatmittelalters sind es haufig fluchende Ritter, die zur Strafe an der Fallsucht sterben oder denen, weil sie zuvor » per oculos dei« geschworen haben, die Augen aus dem Kopf fallen; ahnliches haben friihneuzeitliche Edelleute auf dem Kerbholz, die vom Teufel zu Tode erschreckt werden. 56 Bis in die Friihe Neuzeit hinein pflegten die franzbsischen Kb nige ihren persbnlichen Schwur, gleichsam als individuelle Er kennungsmarke.57 Was die Theologen als gottlose Gewohnheit anprangerten, erschien den Adligen dabei keineswegs als un fromme Verhaltensweise. Erstaunlich ist vielmehr ein hohes Mag an kognitiver Dissonanz bei den hochgestellten Sprechern. Treffend beschreibt eine Geschichte des schwabischen Huma nisten Heinrich Bebel (t1518) diesen Tatbestand. In Abwesen heit ihres Fiirsten, so berichtet er, hatte der Rat eines kleinen Stadtchens ein Mandat erlassen: In Zukunft sollte jeder bestraft werden, der zur Schmach Gottes lasterlich schwor. Als dem Fiirsten nach seiner Ankunft solches vortragen wurde, stieg er hervor: » >Botz Fleisch< (wie die Unsern schwbren) >das gefallt mir wohl.< Als sich aber die Ratsherrn und Zuchtmeister einan der ansahen und lachten, so beteuerte er beim Herz und Leib
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Gottes, er woUt den ohn aUe Gnad strafen, der ergriffen wilrd, daB er schwilr, bedacht nicht, daB er alsbald und ofter tat, was er den Seinen verbote« .58 DaB dem Filrsten gar nicht bewuBt wird, wie sehr diese Gewohnheit der Gesetzesnorm wider spricht, ist dabei ebenso bezeichnend wie das Lachen der Rats herren. Sie realisieren den Widerspruch im Verhalten des Herr schers sehr wohl, doch ist er keine QueUe von Verlegenheit, son dern von Heiterkeit. Es kommt eben, so die untergrilndige Botschaft der Geschichte, sehr wohl darauf an, wer sich in wel cher sozialen Situation boser Schwilre bedient. Was bei den Un tertanen harsche Strafen heraufbeschworen soU, geht beim Filr sten als schlechte Angewohnheit durch, die aber keineswegs auf gottferne Gesinnung schlieBen laBt. Trotz dieser wichtigen kontextuellen Unterschiede kann auch die Blasphemie durch Adlige als theatralische Inszenierung von Mannlichkeit verstanden werden. Norbert Schindler hat am Bei spiel des Grafen Gottfried Werner von Zimmern das Bild eines Adligen im Obergang vom Mittelalter zur Moderne gezeichnet, bei dem »demonstrativ zur Schau getragene Furchtlosigkeit«, wehrhafte Korperreprasentation, unbeherrschte Emotionalitat und gelegentliche Drohgebarden als Komponenten eines herr schaftlichen Gewalthabitus erscheinen. Solange >Herrschaft< noch nicht vollig bilrokratisiert und verrechtlicht gewesen sei, habe sie zu einem gewissen MafS noch >verkorpert<, d. h. in der >face-to-face<-Situation immer wieder neu hergesteUt werden milssen.59 Schwilre und Fli.iche werden hier nicht ausdrilcklich erwahnt, filgen sich aber gut in das beobachtete Szenarium.
Miinnlichkeit in historisch-anthropologischer Perspektive So konnten sich Manner ganz unterschiedlicher sozialer Schich ten den Code der Gotteslasterung aneignen. Immer ging es da bei urn die Inszenierung mannlicher Starke ilber Sprache, wo bei sich die konkrete Funktion und Bedeutung der blasphemi schen Rede fundamental unterschieden, je nachdem, ob sie zur Unterstreichung herrscherlicher Dominanz dienen soUte oder ob sie als Zeichen filr die Unerschrockenheit des AufSenseiters und seine Bereitschaft zum Tabubruch gedacht war. Manchmal
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mbgen Situationen wichtiger gewesen sein als Schichtzugehb rigkeit. Beim Gliicksspiel kamen Manner unterschiedlicher so zialer Herkunft zusammen und vergesellschafteten sich im Me dium des Kampfes auf dem Wiirfel- oder Kartentisch, der von starken Worten begleitet wurde.60 Dabei stellte der Sprachhabi tus der Blasphemie keine isolierte soziale Erscheinung dar. We sentlich starker, als hier ausgefiihrt werden konnte, bildete die Gotteslasterung ein Element unter vielen anderen in einem komplexen mannlichen Verhaltensmuster. Gleichfalls in diesen Kontext gehbren die ebenso kunstvollen wie ritualisierten Inju rien, mit denen man sich gegenseitig zu iiberbieten trachtete, die Attacke auf das Haus von Gegnern oder das Herausfordern aus demselben, eine reiche Gebarden- und Korpersprache oder die unmittelbare physische Gewaltsamkeit - mithin alle jene Faktoren, die in den letzten Jahren zum Gegenstand einer reich haltigen Forschung iiber >Gewalt und Ehre< geworden sind.61 Erst in der Zusammenschau all dieser Phanomene ergabe sich ein mbgliches Profil vormoderner Mannlichkeit. Nun gerat, wer von >Mannlichkeit< redet, leicht in Verdacht, ein iiberholtes, weil essentialistisches und biologistisches Bild von der Geschlechterpolaritat zementieren zu wollen.62 Nicht zuletzt deswegen wird in der modernen Forschung immer hau figer der Plural >Mannlichkeiten< verwandt.63 Erst vor einigen Jahren allerdings ist David Gilmore das Wagnis eingegangen, in einer vergleichenden ethnographischen Studie die Domi nanz einer bestimmten Mannlichkeitsideologie in vielen, wenn nicht den meisten Gesellschaften der Welt zu behaupten.64 Aus gehend vom andalusischen Machismo,65 aber schnell vom Mit telmeerraum nach Afrika, Asien und in den Pazifikraum aus greifend, zeigte er, wie weitgehend in den unterschiedlichsten Kulturen Mannlichkeit mit Starke und Aggressivitat verbun den gesehen wird. Zu diesen Mannlichkeitsleitbildern gehbren viele Facetten (etwa die sexuelle Potenz), die im Rahmen unse res Themas nicht zur Sprache kamen.66 Zweifellos aber fiigt sich die demonstrative Virilitat der Blasphemiker im Spatmittelalter und in der Friihen Neuzeit zwanglos in das beschriebene Mannlichkeitsleitbild ein; ebenso wie jene spanischen Jung manner, die nachtens auf dem Friedhof die Kobolde und Gei ster mit Spottliedern herausfordern, urn Furchtlosigkeit zu de monstrieren, wollten die vormoderen Gotteslasterer gut darin sein, ein Mann zu sein.67
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Gilmores Versuch hat Kritik herausgefordert. Thm ist vorge worfen worden, die Pluralitat der Mannlichkeitsleitbilder in den untersuchten Gesellschaften verleugnet und falschlicher weise eine universelle Ideologie propagiert zu haben.68 Bei aller moglichen Berechtigung solcher Kritik ware es jedoch eine un statthafte Vereinfachung, den Anthropologen des Reduktionis mus zu bezichtigen. Zwar stellt er (indem er Protagonisten die ser Auffassung zitiert) die Frage, ob unter dem dunnen Firnis der Kultur ein gleichsam naturlicher Geschlechterdimorphis mus anzutreffen sei, ob es folglich eine »Tiefenstruktur«, einen Archetypus von Maskulinitat gebe. Tendenziell beantwortet er diese Frage jedoch negativ, indem er in Gestalt der Tahitianer und der Semai von Malaysia Abweichler vorstellt, das weite Spektrum von Moglichkeiten unter dem weitlaufigen Dach der beschriebenen Mannlichkeitsbilder betont und die Tatsache hervorhebt, daB Mannlichkeit kulturell erworben und an die nachsten Generationen weitergegeben werden mu15.69 Seine Uberlegungen zielen auf die (ideologischen, okonomischen und psychologischen) Ursachen dafur, daB viele Kulturen sich parallel zueinander rur ahnliche Mannlichkeitsleitbilder »ent scheiden«. Gleich, wie man zu seinen Antworten steht, er scheint die Fragerichtung weiterfuhrend. Nach Mannlichkeit in der alteuropaischen Geschichte zu fragen, bote die Chance, der Diskussion im Rahmen der >men studies, ein weiteres exempla risches Forschungsfeld zu eroffnen bzw. diese zum Teil unter AusschluB der Fachhistorie gefUhrte Diskussion zu qualifizie ren.70 Dabei ist die Historie keineswegs dazu verdammt, gleichsam als Magd der Anthropologie lediglich Beispielmaterial heran zuschaffen. Eigene Akzente konnen z. B. durch die Analyse des historischen Wandels gesetzt werden, ein Thema, das hier aus Raumgrunden nicht weiter behandelt werden kann. Aber auch der » Nutzen« unserer Mannlichkeitsideologie nimmt sich in geschichtswissenschaftlicher Perspektive etwas anders aus als in ethnologischer. Gilmore neigt dazu, die Funktionalitat der » Mannlichkeit« fur die Aufrechterhaltung der gesellschaftli chen Ordnung, konkret: fUr die Selbstkontrolle der Manner, zu betonen.71 Historiker dagegen sind mit der permanenten obrig keitlichen und theologischen Achtung und Verurteilung von Verhaltensweisen konfrontiert, die auf der Ebene der informel len Normen teilweise oder vollstandig akzeptiert wurden. Das
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Beispiel der gotteslasterlichen Schwure und Fhiche kann hier neben andere Formen von Gewaltsamkeit oder das Trinken ge stellt werden. Gerade die dysfunktionale Seite des exzessiven Verhaltens, das Mannlichkeit konstituiert (Wettbewerb in den Mannerbtinden [Ztinften], Saufen und Kampfbereitschaft), hat Lyndal Roper72 hervorgehoben; es wurde von zeitgenossischen Beobachtern als Quelle des sozialen Unfriedens und der gesell schaftlichen Unordnung wahrgenommen. Mannlichkeitsexzes se und deren Repression konnten dicht beiananderliegen, ja so gar in einer Person zusammentreffen, die zugleich disziplinie render Ratsherr und trunkener Wirtshausbesucher sein konnte. Zumindest im hier behandelten Zeitraum herrschte »Mannlich keit« keineswegs ungebrochen, sondern wurde durch obrig keitliche Verbote und theologische Normen permanent in Frage gestellt. Deswegen, so Roper/3 sei »Mannlichkeit« keineswegs identisch mit »mannlicher Dominanz« , liefere ihre Analyse kei nen Passepartout zur »Schatztruhe des Patriarchats« . Dieser insgesamt prekare gesellschaftliche Status von » Mannlichkeit« spiegelt sich zugleich im typisch mannlichen Verhalten des einzelnen Akteurs. Oft lalSt sich gerade hinter dem Sprachgestus der Starke und Uberlegenheit die Fragilitat der mannlichen Identitat erahnen.74 Fur jeden einzelnen Akteur gilt es, die in allgemeinen gesellschaftlichen Leitbildern propa gierte Dominanz des Mannes erst einmal fur sich zu realisieren. Gerade, wo allenthalben die mannliche Uberlegenheit fraglos vertreten wird, konnten sich die grolSten Probleme fur den Ein zelnen ergeben, seine Mannlichkeit aufrechtzuerhalten?S Auch auf dem Gebiet der Gotteslasterung zeigt sich uberdeutlich, daIS Demonstration von Starke keineswegs immer auf reale Starke hindeutet. In den deutschen Fastnachtsspielen etwa entlarven sich gerade die starksten Flucher und Schworer als die schwachsten Gestalten. So geht es z. B. einem aufgeplusterten Bauern, der seinem Nachbarn mit starken Worten gegen dessen herrschsuchtiges Weib zur Hilfe eilen will: » Pox haut, ich mein, ir seit nit klug, Das ir soleh unvernunft facht an, Und ist doch ie ein man ein man« . Ware sie seine Frau, so prahlt er, wurde er sie Gehorsam lehren. Das bekommt ihm schlecht, denn er wird von dem starken Weib so kraftig maltratiert, daIS der vor mals herausfordernde Schwur nun zum schwachlichen Hilfe ruf verkummert: » 0 helft, lieben freunt, pox leichnams wil len! « 76 Naturlich wird hier der Gestus mannlicher Starke kari-
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kiert. Aber es ist doch bedenkenswert, daB sich derartige Kari katuren in der sozialen Wirklichkeit ebenfalls finden lassen. Das Eingangsbeispiel des Baslers Hans Heintzen demonstrier te, wie starke Schwiire eher als Kompensation realer Ohnmacht dienen konnten. Von Dimen abgewiesen, von den anderen Be suchem des Wirtshauses verlacht, unfahig, sich in seiner Voll trunkenheit physisch Geltung zu verschaffen, blieb ihm bloB der Riickgriff auf starke Worte - ein Riickgriff, der gerade durch die tiefe Kluft zwischen Wort und Tat besonders hilflos und gro tesk anmutet. Mancher modeme Mann mag sich angesichts der Obsolenz hergebrachter Mannlichkeitsleitbilder und der Plura lisierung von Verhaltensangeboten in einem schwachen Mo ment nach den vermeintlich einfachen Modellen der Vergan genheit zuriicksehnen, wo >ein Mann einfach ein Mann zu sein< hatte. Geschichten wie die von Hans Heintzen erinnem jedoch daran, wie driickend die Biirde des »being good at being a man«77 schon fiir seine damaligen Geschlechtergenossen sein konnte.
Anmerkungen Klassisch schon bei Thomas, Keith: Religion and the Decline of Ma gic, Harmondsworth 1973, 699 ff.; zur Moglichkeit des Schadenszaubers als »Selbsthilfe« von Frauen, denen andere Wege der Konfiiktaustragung ver sperrt waren, z. B. Ahrendt-Schulte, Ingrid: Hexenprozesse als Spiegel von Alltagskonflikten, in: Lorenz, Sonke/Bauer, Dieter (Hg.): Hexenverfolgung. Beitrage zur Forschung unter besonderer Berucksichtigung des siidwest deutschen Raumes, Wiirzburg 1995, 347-358; vgl. iiberdies Labouvie, Eva: Verwiinschen und Verfluchen. Formen der verbalen Konfiiktregelung in der landlichen Gesellschaft der Friihen Neuzeit, in: Biickle, Peter (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begriindung gesellschaftlichen Zu sammenlebens und politischer Ordnung in der standischen Gesellschaft, Berlin 1993, 121-145. 2 Schwerhoff, Gerd: Hexerei, Geschlecht und Regionalgeschichte. UberJegungen zur Erklarung des scheinbar Selbstverstandlichen, in: Wil bertz, Gisela u. a. (Hg.): Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, 325-353, hier 346 f. (mit wei teren Nachweisen); skeptisch jetzt Walz, Rainer: Schimpfende Weiber. Frau en in lippischen Beleidigungsprozessen des 17. Jahrhunderts, in: Wunder, Heide/Vanja, Christina (Hg.): Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der landlichen Gesellschaft 1500-1800, Gottingen 1996, 175-198.
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3 Holenstein, Pia/Schindler, Norbert: Geschwatzgeschichte(n). Ein kulturhistorisches Pladoyer fUr die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede, in: Dillmen, Richard van (Hg.): Dynamik der Tradition, Frankfurt/M. 1992, 41-108. 4 Derartig typisierende Bemerkungen werden der Reichhaltigkeit ei nes Forschungsfeldes kaum gerecht, zu dem die historische Volkskunde (Hartinger, Lorenzen-Schmidt, Kramer, Mohrmann), die Kriminalitatsge schichte und die Geschlechterforschung zahlreiche Beitrage geliefert haben. Vgl. zuletzt nur Burghartz, Susanna: Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zurich Ende des 14. Jahrhunderts, Zurich 1990, 125 ff.; Schwerhoff, Gerd: Kbln im Kreuzverhbr. Kriminalitat, Herrschaft und Gesellschaft in einer friihneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 312 ff.; Dinges, Martin: » Weiblichkeit« in » Mannlichkeitsritualen«? Zu weiblichen Taktiken im Ehrenhandel in Pa ris im 18. Jahrhundert, in: Francia 18/2 (1991), 71-98; Lesnick, Daniel R.: Insults and threats in medieval Todi, in: Journal of Medieval History 17 (1991), 71-89; Cohen, Elizabeth 5.: Honor and Gender in the Streets of Early Modem Rome, in: Journal of Interdisciplinary History 22 (1992), 597-625; Toch, Michael: Schimpfwbrter im Dorf des Spatmittelalters, in: Mitteilun gen des Instituts fur Osterreichische Geschichtsforschung 103 (1993), 311-327; Gowing, Laura: Gender and the Language of Insult in Early Mo dem London, in: History Workshop Journal 35 (1993), 1-21; Alfing, Sabine: Weibliche Lebenswelten und die Normen der Ehre, in: Dies./Schedensack, Christine: Frauenalltag im fruhneuzeitlichen Munster, Bielefeld 1994, 17-185; Frank, Michael: Gewalt und Ehre im Dorf der FrUhen Neuzeit. Das Beispiel Heiden (Grafschaft Lippe) im 17. und 18. Jahrhundert, in: Schrei ner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesell schaften des Mittelalters und der FrUhen Neuzeit, Kbln 1995, 320-339, bes. 325 ff.; Walz (1996). 5 Burke, Peter: Beleidigungen und Gotteslasterung im friihneuzeitli chen Italien, in: Ders.: Stadtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissan ce und Barock, Berlin 1987, 96-110, 205 f. 6 Schwerhoff, Gerd: Blasphemare, dehonestare et maledicere Deum. Uber die Verletzung der gbttlichen Ehre im Spatmittelalter, in: Schreiner/ Schwerhoff (1995), 252-278. 7 Vgl. zu der von John Austin entwickelten Sprechakttheorie Savigny, Eike von: Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische EinfUhrung in die » ordinary language philosophy« . Veranderte Neuauflage Frank furt/M. 1993, 125 ff. 8 Die Studie argumentiert vor dem Hintergrund einer grbl5eren Arbeit des Verfassers: Schwerhoff, Gerd: Gott und die Welt herausfordern. Theo logische Konstruktion, rechtliche Bekampfung und soziale Praxis der Blas phemie vom 13. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, masch. Habil., Biele feld 1996. 9 Zuletzt Kuhne, Thomas: Mannergeschichte als Geschlechterge schichte, in: Ders. (Hg.): Mannergeschichte - Geschlechtergeschichte. Mannlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt/M. 1996, 7-30. 10 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Gerichtsarchiv D 23, fol. 129r-130v. 11 Zur Lage des Basler Frauenhauses: Schuster, Beate: Die freien Frau-
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en. Dirnen und Frauenhauser im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995, 426. 12 Durr, Emil/Roth, Paul (Hg.): Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, 6 Bde., Basel 1921-1950, hier Bd. 1, Nr. 54, 15 f. 13 Die Fluche des 1571 hingerichtetenJacob Bernhart sollten sich jedoch sehr eindeutig direkt an die Adresse Gottes richten und besaBen so eine andere Qualitat als die Heintzens (vgl. StABS Criminalia 2 B Nr. 1). 14 Er hatte geschworen, >dass dich Gotts Joseph als Kindlimueslimachers
schiind<, >Gotts fon! wunden<, >Gotts kure<, >Gotts velti<, >Gotts liden<; >Gotts wunden<, >Gotts macht<; >Gotts sacrament<, >Gotts fon! liden<. Beim Spiel hatte er gesagt, >dass dich Gotts kruz im him mel schiind als Joseppen, warumb hast unserm Herrgott nit ein oppriment un sun muesli getan, damit du im vergeben hettest? und dass dich Gotts kruz als registers schiind<. An die Wand hatte er geschrieben: >Frid und gnad, wenn hast ein end, dass dich Gotts ertrich schiind<, und: >Allein min oder sammer Gottshimmel und ertrich, ich schyss darin< (Egli, Emil [Hg.]: Aktensammlung zur Geschichte der Zurcher Reformation in den Jahren 1519-1533, Zurich 1879, Nr. 127, 24). 15 Vgl. die Stubenordnung der Rebleute von 1386 (Koelner, Paul: Die Rebleutezunft zu Basel, Basel 1942, 59) und der RatsbeschluiS uber die Ver folgung von Dbelschworern in Kleinbasel durch obrigkeitliche eingesetzte »Lusener« von 1397 (Schnell, Johannes [Hg.]: Rechtsquellen von Basel Stadt und Land, 1. Teil, Basel 1856, Nr. 56, 54). 16 Zeller-Werdmuller, H. (Hg.): Die Zurcher Stadtbucher des XlV. und XV. Jahrhunderts, Bd. 1, Leipzig 1899, Nr. 340, 164 f. 17 Schwerhoff (1996), 285 f., 304 f. 18 Schar, Markus: Seelennote der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion irn Alten Zurich, 1500 bis 1800, Zurich 1985, 85 ff., 238 if., hat derartige Haltungen im reformierten Zurich als Zweifel an der gottlichen Erwahlung gedeutet. 19 Vgl. Schwerhoff (1996), 333 ff., in Auseinandersetzung mit Schmidt, Heinrich: Die Achtung des Fluchens durch reformierte Sittengerichte, in: Bliclde (1993), 65-120. 20 Schnell (1856), Nr. 185, 215 f., nach StABS Ratsbucher J 2, fol. 23v; vgl. Ratsbucher B 1, fol. 97r. 21 StABS Bibl. Bf 1; Staehelin, Adrian: Sittenzucht und Sittengerichts barkeit in Basel, in: Zeitschrift fur Rechtsgeschichte Germ. Abtl. 85 (1968), 78-103, hier 84 f.; auch StABS Ratsbucher J 2, fol. 30r zum Jahr 1518. 22 Durr /Roth Bd. 1, Nr. 386, 222 f.; Bd. 2, Nr. 291, 230 f.; Nr. 664, 496; Bd. 3, Nr. 473, 409. 23 Vgl. z. B. Tlusty, B. Ann : Das ehrbare Verbrechen. Die Kontrolle uber das Trinken in Augsburg in der friihen Neuzeit, in: Zeitschrift des histori schen Vereins fUr Schwaben 85 (1992), 133-155, hier 150. 24 Eine eingehende Interpretation wurde versucht bei Schwerhoff, Gerd: Der blasphemische Spieler - zur Deutung eines Verhaltenstypus im spaten Mittelalter und in der friihen Neuzeit, in: ludica, annali di storia e civilta del gioco 1 (1995b), 98-113. 25 Vgl. Schwerhoff (1996), 286 (Basel) und allgemein 399 ff. 26 Simon-Muscheid, Katharina: Gewalt und Ehre im spatmittelalterli-
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chen Handwerk am Beispiel Basels, in: Zeitschrift fUr historische Forschung 18 (1991), 1-31, hier 30 f.; vgl. ihre Erlauterungen im Text 9 ff. Vor allem wegen der Dominanz physischer Gewalt im Sample liegt der Frauenanteil unter den Delinquenten insgesamt mit 9,9 % noch niedriger als der in der Kategorie >Gotteslasterung<. 27 Quellengrundlage bildet das >Aechterbuch< des Basler Rates (StABS Ratsbucher N 4), in das wahrend der genannten Zeitspanne Stadtverweise eingetragen wurden. 28 Schwerhoff (1996), 247 ff. 29 Burghartz (1990), 135 f. 30 Fur die methodischen und ideologischen Probleme der Beschafti gung mit » weiblicher Kriminalitat« sei hier auf die Beitrage von Otto Ul bricht, Heide Wunder und Claudia Ulbrich in dem Samrnelband Ulbricht, Otto (Hg.): Von Huren und Rabenrnuttern. Weibliche Kriminalitat in der Fruhen Neuzeit, Kbln 1995, hingewiesen. 31 Schmidt, Heinrich R.: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Fruhen Neuzeit, Stuttgart 1995, 85 und 88 f. Genau gesagt, kamen zwischen 1575 und 1795 in der Landgemeinde Vechingen359 Manner und 141 Frauen ( 28 %), in Stettlen 312 Manner und 165 Frauen ( 35 %) und im Stadtchen Biel zwischen 1540 und 1595 27 Man ner und 22 Frauen ( 45 %) wegen Fluchens vor Gericht. 32 Vgl. Belmas, Elisabeth: La montee des blasphemes a l'age moderne du Moyen Age au XVIle siecle, in: Injures et Blasphemes, presente par Jean Delurneau, Paris 1989, 13-33, hier 21; Flynn, Maureen: Blasphemy and the Play of Anger in Sixteenth-Century Spain, in: Past and Present 149 (1995), 29-56, hier 53. 33 Burghartz (1990), 268, Anm. 64. 34 StABS Ratsbucher A 2, fol. l 03r. 35 Ebd. A 3, fol. 49; vgl. fol. 84. 36 Ebd. A 3, fol. 58. 37 Schwerhoff (1996), 302 ff., 386. 38 Vgl. StABS Gerichtsarchiv 0 8, fol. 38r-39r; vgl. Criminalia 2, E l . 3 9 Historisches Archiv der Stadt Kbln (HAStK), Verf. u. Verw. G 215, fol. 190vf. 40 Rippmann, Dorothee: Frauenarbeit im Wandel. Arbeitsteilung, Ar beitsorganisation und Entlbhnung im Weinbau am Oberrhein (15./16. Jahr hundert), in: Wunder /Vanja (1996), 26--59, hier 26 f. 41 Dekker, RudolfIvan der Pol, Lotte: Frauen in Mannerkleidern. Weib liche Transvestiten und ihre Geschichte, Berlin 1990, 30. 42 >Ein spil, ein hochzeit zu machen<, in: Hans Folz. Auswahl, bearb. v. Ingeborg Spriewald, Berlin 1960, 31-37, hier z. B. V 31 (Sammer pox lung), V 34 (Ei pox leichnam) oder V 55 (Sammer pox leichnam). Die Edition beruht, wie schon die altere von Adalbert von Keller, auf der ersten Fassung (Gb) der Wolfenbuttler Handschrift Cod. Guelf. 18.12 Aug. 4°, 44r-47r, wahrend Die ter Wuttke (Fastnachtsspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, 4. Aufl., Stuttgart 1989, 42-51) eine zweite Fassung (Ga) herausgegeben hat, die in der nam lichen Handschrift (fol. 212r-216v) zu finden ist (zur Beschreibung der Handschrift vgl. Simon, Gerd: Die erste deutsche Fastnachtsspieltradtion, Lubeck 1970, 107 ff.; Wuttke, 335 f.). Ga bringt teilweise abweichende =
=
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Schwurformeln (z. B. V 31: Sam mer pox haut) und legt der Braut keine Schwure in den Mund. 43 VgL Keller, Elisabeth: Die Darstellung der Frau in Fastnachtspiel und Spruchdichtung von Hans Rosenplut und Hans Folz, Frankfurt/M. 1991, 138 ff. 44 StABS Ratsbucher A 3, foL 114v. 45 Herzfeld, Michael: The Poetics of Manhood. Contest and Identity in a Cretan Mountain Village, Princeton 1985, 10 f. VgL als neuesten, wenn gleich bisweilen uberambitionierten, empirischen Beitrag mit eingehender Diskussion der anthropologischen Forschungstradition Vale de Almeida, Miguel: The Hegemonic Male. Masculinity in a Portuguese Town, Oxford 1996. 46 Walz, Rainer: Agonale Kommunikation im Dorf der Friihen Neuzeit, in: Westfalische Forschungen 42 (1992), 215-25l. 47 Herzfeld (1985), 152. 48 VgL Schwerhoff (1995b), 100 ff. 49 StABS Ratsbucher A 3, foL 18v. 50 Buff, Adolf: Verbrechen und Verbrecher zu Augsburg in der zweiten Halfte des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins fur Schwaben und Neuburg 4 (1878), 160-231, 204. 51 Ebd., 223 ff.; vgL Schneider-Ferber, Karin: Das Achtbuch als Spiegel fur stadtische Konfliktsituationen? Kriminalitat in Augsburg ca. 1348-1378, in: Zeitschrift des Historischen Vereins fur Schwaben 86 (1993), 45-114, hier 81 ff. 52 Schwerhoff (1996), 287. 53 Beck, Wolfgang: Protestantische Beispielerzahlungen und Illustrati onsmaterien. Ein Katalog aufgrund der Erbauungsbucher von Johann Jacob Otho. Mit Registern von Claudia Selheirn, Wurzburg 1992, Nr. 583, 112. 54 Schindler, Norbert: Die Ramingsteiner Bettlerhochzeit von 1688/89. Armut, Sexualitat und Hexenpolitik in einem Salzburger Bergwerksort des 17. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 165--192, 176. 55 VgL detaillierter Schwerhoff (1996), 377 ff. 56 VgL nur Tubach, Frederic c.: Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales, Helsinki 1969, Nr. 680, Nr. 1949, Nr. 2240; Alzhei mer, Rainer: Katalog protestantischer Teufelserzahlungen des 16. Jahrhun derts, in: Bruckner, Wolfgang: Volkserzahlung und Reformation, Berlin 1974, 417-519, hier Nr. 526 u. 536. 57 Belmas (1989), 19. 58 Wesselski, Albert (Hg.): Heinrich Bebel, Schwanke, Miinchen 1907, Bd. 1, 5l. 59 Schindler, Norbert: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der fruhen Neuzeit, Frankfurt/M. 1992, 59. 60 Gotteslasterungen waren so als soziales Bindemittel bestimmter vor moderner >Mannerbiinde< zu verstehen (vgL die Beitrage in: Viilger, Giese la/von Weick, Karin [Hg.]: Mannerbande - Mannerblinde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, 2 Bde., Kiiln 1990). 61 Reichhaltig, wenn auch problematisch Muchembled, Robert: La vio lence au village. Sociabilite et comportements populaires en Artois du XVe au XVIIIe siecle, Tournhout 1989; weiterhin Hanlon, Gregory: Les rituels de
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Gerd Schwerhoff
l'agression en Aquitaine au XVIIe siecle, in: Annales E.5.C. 40 (1985), 244-268; Burghartz (1990), 140 ff.; Schwerhoff (1991), 312 ff.; Simon-Mu scheid (1991); Cohen (1992); Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhun derts, Gattingen 1994, vor allem 270 ff. (hier wird die partielle Teilnahme von Frauen an den Ehrkiimpfen der Miinner betont); Waardt, Hans de: Eh renhiindel, Gewalt und Liminalitiit: ein Konzeptualisierungsvorschlag, in: Schreiner /Schwerhoff (1995), 303-319; Schuster, Peter: Der gelobte Frieden. Tiiter, Opfer und Herrschaft im spiitmittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995, 96 ff.; vgl. auch den Beitrag von Francisca Loetz in diesem Band. 62 Tatsiichlich wurde die Wissenschaft bis zum Ende der Siebziger Jahre vom Leitbild einer (wiinschenswerten) miinnlichen Normalsozialisation dominiert. Danach fiihrte vor allem die Vorbildfunktion des gleichge schlechtlichen Eiternteils zur Ausbildung einer typischen miinnlichen Iden titiit. Die hier thematisierten Phiinomene wurden im Rahmen dieses Modells als >iibertriebene< Miinnlichkeit pathologisiert; derartige »Hyper masculinity« wurde - ebenso wie die Homosexualitiit - als Ausdruck einer fehlgeschlagenen Miinnersozialisation verstanden (vgl. die grundlegende Kritik von Pleck, Joseph H.: The Myth of Masculinity, 2. Aufi., Cam bridge/Mass. 1982, hier bes. 23 f. und 95 ff.). 63 Vgl. Connell, R.w.: Masculinities, Cambridge 1995, der iibrigens die ehemals revisionistische Rollentheorie Plecks seinerseits kritisiert (25 ff.). 64 Gilmore, David D.: Mythos Mann. Wie Miinner gemacht werden. Rollen, Rituale, Leitbilder, Miinchen 1993 (urspriinglich 1990). 65 Vgl. dazu auch Riinzler, Dieter: Machismo. Die Grenzen der Miinn lichkeit, Kaln 1988, der die Wurzeln des >Machismo< bis zu den Konquista doren zuriickverfolgt, die u. a. Kriegerehre und Lust an Grausamkeiten kultiviert hiitten. Riinzler entfaltet ein Panorama >machistischer< Charakte ristika, zu denen an vornehmster Stelle Aggressivitiit, Gewalttiitigkeit und Demonstration von Mut geharen (130 ff.). 66 Stiirke und Aggressivitiit lassen sich im Rahmen der drei prototypi schen Miinnerfunktionen Erzeuger - Erniihrer - Beschiitzer (Gilmore [1993], 53) vorwiegend der letzteren zuordnen. Auch das von Riinzler (1988), 113 ff., beschriebene Profil des >Machismo< enthiilt viele andere Ele mente wie etwa mannliche Promiskuitiit und Potenz, Selbstkontrolle und Zuriickhaltung, Unabhiingigkeit von Frau und Haus etc. 67 Gilmore (1993), 39 und 49 f. 68 Conway-Long, Don: Ethnographies and Masculinities, in: Brod, Harry /Kaufman, Michael (Hg.): Theorizing Masculinities, Thousand Oaks 1994, 61-8l. 69 Gilmore (1993), 10, 22, 221 ff., 242 ff. 70 Aus naheliegenden Griinden hat die sozialwissenschaftlich dorni nierte Miinnerforschung eine Affinitiit zur neueren Geschichte (vgl. nur die Nachweise in Kiihne [1996]). Unbefriedigend bleiben historische Exkurse in friihere Epochen, wie sie etwa Connell (1995), 185 ff., bietet. 71 Gilmore (1993), 245 f. 72 Roper, Lyndal: Blut und Latze. Miinnlichkeit in der Stadt der Friihen Neuzeit, in: Dies.: Odipus und der Teufel. Karper und Psyche in der Friihen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, 109-126, 273-277.
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73 Ebd., 109. 74 Zur verstarkten Thematisierung dieser Fragilitat KUhne (1996), 19. 75 So fur das Mittelalter Bullough, Vern L.: On being a Male in the Middle Ages, in: Lees, Clare A. (Hg.): Medieval Masculinities, Minneapolis 1994, 31-45, was er am Beispiel des >Cross-Dressing<, des Liebeskummers und der Impotenz diskutiert. 76 Von Keller, A. (Hg.): Fastnachtspiele aus dem fiinfzehnten Jahrhun dert, 1 . Bd., Stuttgart 1853 (ND Darmstadt 1965), 49 V. 20 ff.; 50, V. 6 u. 10; auch 51 V. 5 u. 31. 77 Herzfeld (1985), 1 6.
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Zeichen der Mannlichkeit? Korperliche Kommunikationsformen streitender Manner im friilineuzeitlichen Stadtstaat Zurich
Am 5. Februar 1 674 gab der auf der Zurcher Landschaft in Pfrein lebende Weber Michel Muller vor den Vertretern des Ge richts zu Protokoll, er habe am Sonntagabend vor 14 Tagen dem katholischen Dorfgeistlichen Tuch geliefert. Der Priester habe ihn anschliefSend auf einen Trunk in seine Wohnstube eingela den. 1m Gesprach habe sich der Priester bei Muller beschwert, der Obervogt komme seiner Amtspflicht zur Armenversorgung nicht ordnungsgemafS nacho Statt den Armen die vorgesehene Unterstiitzung zuteil werden zu lassen, weise er die Bedurfti gen an ihn weiter und verursache somit der katholischen Ge meinde erhebliche Mehrkosten. Darauf habe sich Muller gegen neun Uhr abends von dem Priester verabschieden wollen. Die ser habe ihn jedoch dazu aufgefordert, doch noch mit ihm urn ein Viertel Wein zu spielen. Er, Muller, habe verloren, den Wein gezahlt und endlich nach Hause gehen wollen. Da sei der Geist liche plOtzlich in die Worte ausgebrochen, er schere »sich nut umb den Obervogt und [ . . . ] nut umb den [evangelischen] Pre dicanten. Der tonder und der hagel habind ihnen in das schon Kiitzers dorff ynen gschlagen.« Muller reagierte, laut eigener Aussage, ordnungsgemafS: Er habe den Priester » erinnert, solle nit mit denen worten kommen. Der H[err] Landvogt mochts inne werden und ihme ein Brieflin zueschicken. Andtworte er [der Priester] daruber, das einte bein ob sich und die handt an den hindern habend, er wolte rev[erenter] das Fudli [den Hin tern] dran wuschen« .l Mit Hilfe solcher fur Justizakten typischen Beispiele lieiSen sich leicht 1001 Geschichten aus der Vergangenheit im Stile ei ner uberholten Sittengeschichte erzahlen. Historikerinnen und Historiker, die sich heute den Justizakten zuwenden/ verfolgen jedoch ein anderes Ziel. 1m Mittelpunkt ihrer Quellenauswer-
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tung steht die ErschlielSung der sozialen Normen, die das Zu sammenleben einer Gesellschaft vor jedem Eingriff institutio nalisierter weltlicher und kirchlicher Aufsichtsorgane regelten. Zu diesen Normen geharen die geschlechtsspezifischen Merk male karperlicher Kommunikationsformen, von denen das Ein gangsbeispiel berichtet. Aus der Art und Weise, wie Manner sich anderen mit Hilfe karperlicher Handlungen mitteilten, las sen sich fUr sie geltende Verhaltensnormen und Rollenzuschrei bungen erschlielSen. Das Thema des Beitrags ist daher kein » exotisches« Randproblem, sondem allgemein bedeutsam fUr die historisch variable Konstruktion von Geschlecht.3 Dies soU die folgende Untersuchung zeigen, in der ich zum einen danach frage, was Manner in ihrem » Sprechen-mit-dem-Karper« zu Menschen mannlichen Geschlechts machte, und zum anderen tiberlege, welehen Beitrag die Beantwortung dieser Frage zur Geschlechtergeschichte leisten kann.
Sprechen mit dem Karper: Konzepte und Fragestellungen Mit der umstandlichen Formulierung vom » Sprechen-mit dem-Karper« vermeide ich bewulSt den Terminus Karperspra che. Psychologen und Anthropologen benutzen in der Regel den Begriff, urn das teilweise angeborene Repertoire unwillktir lich tiber die Karperhaltung gesendeter Signale zu bezeichnen. Hierzu geharen z. B. Formen des Augenkontakts wie etwa das Senken der Augen in Schamsituationen, das selbst bei blind Ge borenen beobachtet werden kann. Der Begriff der non-verbalen Kommunikation, mit dem vor aUem Linguisten und Ethnolo gen arbeiten, umfalSt die nicht lautlichen AulSerungsformen. Soleh eine Definition ist jedoch unzureichend:4 Vermittlungs formen etwa tiber Musik, rhythmische Codes, Feuerzeichen oder Zeichensprachen wie die Taubstummensprache werden zwar nicht lautlich ausgedrtickt, fallen also unter die Begriffs definition, sind von ihr indes nicht gemeint. Ich ziehe daher eine rein pragmatische und weit gefalSte Umschreibung vor: Das » Sprechen-mit-dem-Karper« bezieht sich auf aIle Formen, in denen willktirlich und unwillktirlich mit Hilfe einer karper lichen Handlung komplementar zur lautlichen Sprache, meist
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zum Zweck der emphatischen Verstarkung, einem Gegenuber etwas mitgeteilt werden soIl. Die Grundannahme lautet hierbei, daIS diese Arten der Mitteilung einen Code ergeben. Die Ele mente dieses Codes, die einzelnen Auspragungen der korper lichen Handlungsweisen also, besitzen Zeichencharakter. Sie verweisen nach bestimmten Regeln auf Inhalte und stellen in sofern Bestandteile einer Form von »Sprache« dar. Die Ver schlusselung dieser korperlich ausgedruckten sprachlichen Zeichen oder Signale wiederum, so die weitere Annahme, ba siert nicht auf universellen anthropologischen Konstanten, son dern auf historisch wandelbaren, sozial-, geschlechts- und si tuations- und damit kulturspezifischen Regeln.5 Diese Annahmen mochte ich anhand von Ehr- und Schlag handeln begriinden, da sich diese Konfliktfalle fUr das Thema als Untersuchungsmaterial besonders eignen. 6 Zum einen sind Streitigkeiten affektiv geladene Situationen, in denen emphati sche Ausdrucksweisen haufig zu erwarten sind. Zum anderen pflegen Kontrahenten, ihre eigenen Anspruche als rechhnalSig, also als normkonform darzustellen, wohingegen die gegneri sche Partei ins Unrecht gesetzt und ihr Verhalten als Normver letzung hingestellt werden soIl. Korperliche Signale einander beleidigender und schlagender Zurcher des 16. bis 18. Jahrhun derts zu untersuchen, heilSt daher, die Normen, die beim Ent stehen und Austragen von Konflikten in einer Gesellschaft gal ten, zu analysieren. Die teils bewulSte, teils unbewulSte Stilisie rung von Verhalten erlaubt es, danach zu fragen, was die Zurcher in ihren verbalen und korperlichen Auseinanderset zungen von den Zurcherinnen unterschied, worin also die von der Justiz, registrierten Zurcher Konfliktpartner als Manner (und nicht als geschlechtsneutrale Wesen) handelten. Was aber ist ein Mann? Mit dieser scheinbar einfachen Frage sind schwierige methodologische Probleme verknupft. Denn wer das Verhalten von Menschen, die von ihren Zeitgenossen als Manner bzw. Frauen angesehen wurden und sich selbst als solche verstanden/ mit geschlechtsspezifischen Rollenmustern identifiziert, begeht einen ZirkelschlulS.8 Nicht jeder » biolo gisch« mannliche Mensch mulS seinem kulturellen mannlichem Geschlecht (»gender« ) entsprechen. Alles das, was Manner ma chen, als Mannlichkeit zu definieren, ist daher nichts weiter als eine Tautologie, die feststellt, daIS jegliches Verhalten von Man nern fur Manner typisch ist. 9
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Genau urn dieses Problem, biologistische Pramissen bei der Untersuchung der Kategorie des Geschlechts als kulturelles Produkt zu umgehen, kreisen die vielen theoretischen Debatten der Geschlechterforschung. Ohne den psychologischen Model len Rechnung tragen zu konnen, daiS jeder Mensch kulturell mannliche wie auch weibliche Anteile in sich tragt, sei hier der Weg eingeschlagen, den - neben anderen - RW. Connell vor schlagt: » zu glauben, daiS wir die soziale Welt mit Hilfe biolo gischer Trennlinien verstehen konnen, heiiSt, das Verhaltnis zwischen Korpern und sozialen Prozessen miiSzuverstehen [ . . . ] Mannsein (>masculinity<) und Frausein (>feminity<) sind Kon zepte, die inharenterweise relational sind, die allein in Bezug aufeinander, als soziale Trennlinie und als kulturelles Gegen satzpaar, Sinn haben«.lO Dieser Zugang, Mann und Frau als relationale und kulturell gepragte, statt als binare und biologisch definierte Entitaten zu verstehen, fiihrt zu folgenden Konsequenzen: Ich stelle in mei ner Studie zwar Zurcher und Zurcherinnen einander gegen uber und gehe somit von einer biologischen Unterscheidung aus. Das Entscheidende bei dieser Gegenuberstellung aber ist die Frage, welche unterschiedlichen bzw. gemeinsamen Verhal tensdispositionen die beiden Gruppen aufweisen und mit wel chen Normen des Mann- und Frau-Seins diese Dispositionen verknupft sind. Ich frage also nicht danach, welche Verhaltens weisen Manner und Frauen in Zurich zeigten, sondern vie1mehr danach, was in ihrer Gesellschaft zum Mann- und Frau Sein dazugehorteY Die Geschichte dessen, was Manner zu Mannern macht, die Geschichte der Mannlichkeit, wird somit als Geschlechtergeschichte unter dem Aspekt des kulturell mannlichen Geschlechts verstanden. Welche Perspektiven die ser Ansatz eroffnet, bleibt an den Beispielen zu diskutieren.
Sprechen mit dem Karper: Die Quellen Die Einschatzung, daiS in sprachlichen Quellen so gut wie keine Hinweise zu korperlichen Kommunikationsformen des Alltags zu finden seien,12 hat in der noch sehr jungen Geschichte kor perlicher Zeichen dazu gefiihrt, daiS bildliche Darstellungen
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oder normative Abhandlungen uber Rhetorik, Physiognomie und Moral in besonderem MaBe zur Erforschung korperlicher Kommunikationsformen herangezogen worden sindY Durch diese Quellenauswahl bedingt, hat sich die bisherige For schung uberwiegend auf rituelle Handlungen, Zeichenspra chen und die normativen Vorstellungen von Gestik und Mimik als unterstutzende Formen der Rede konzentriert. Auch wurde der korperliche Ausdruck als Spiegel moralischer Eigen schaften (z. B. Gebetsgebarden, LehnskuB, Lehren zur Korper haltungen von Schauspielern) untersucht. Die Regeln, nach de nen Menschen ihren Korper einsetzten, urn sich im Alltag mit einander zu verstandigen, sind daher bislang kaum erforscht. An diesem Umstand jedoch konnte die Auswertung von Justi zakten etwas andern, worauf die rechtliche Volkskunde zurecht hingewiesen hat.14 Textliche Beschreibungen von korperlichen Mitteilungsformen sind in ihnen zwar nicht breit gestreut, aber durchaus vorhanden: Urn zu einem gerechten Strafurteil zu ge langen, hielten es die Richter fur wichtig, den AnlaB, die Moti vation und die Intention der Beklagten genau zu erfassen. Au Berdem gingeri Zeugen wie auch Beklagte offensichtlich davon aus, daB sie die RechtmaBigkeit ihrer Handlung mit einem Hin weis auf die von ihnen gesendeten korperlichen Signale unter mauern konnten. Sonst waren in den Akten wohl kaum Hin weise festgehalten worden, welche von den korperlichen Handlungen der Beklagten und Zeugen berichten. Fur das Territorium des fruhneuzeitlichen Zurich sind solche Angaben in den » Kundschaften und Nachgangen« zu finden. Hierbei handelt es sich urn durchgangig erhaltene Justizproto kolle, die immer dann angefertigt wurden, wenn die Beklagten oder Zeugen aus unterschiedlichen Grunden nicht direkt vor dem stadtischen Rat aussagten. Dies war meistens auf der Landschaft (dem landlichen Territorium des Stadtsstaates) der Fall, wenn ein Vogt sich nicht in der Lage sah, eine Sache vor Ort zu klaren, und daher die Angelegenheit an den stadtischen Rat als oberste Instanz weiterleitete, ohne daB die Betroffenen selbst vor dem Rat erschienen. Statt, wie dies im Gebiet der Stadt ublich war, den Konflikt mundlich vor dem Rat zu regeln, wurden die sogenannten »Nachganger« ausgeschickt, die die Zeugen und Beklagten zu befragen und deren Antworten mog lichst getreu zu protokollieren hatten.IS Da das stadtische Ge richt somit fUr seine Urteilsfindung auf die angefertigten Mit-
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schriften angewiesen war, schrieb die Amtspflicht den Nach gangern vor, selbst anscheinend belanglose Einzelheiten festzu halten. Dieser mit dem Instanzenzug zusammenhangenden Detailfreude ist es zu verdanken, daiS korperliche Audrucksfor men, insbesondere auf der Landschaft lebender Beklagter und Zeugen, notiert worden sind. Doch die entsprechenden Indizien sind selten. Die Durch sicht von drei fUr jedes Jahrzehnt nach dem Zufallsprinzip ge wahlten Jahrgangen - dies entspricht einem Korpus von etwa 20.000 Aktenseiten - erbrachte ftir den Zeitraum von ca. 1530 bis 1798 insgesamt 76 Konflikte, in denen Hinweise auf korper sprachliche Handlungen enthalten sind. In den erfaiSten Fallen werden Frauen nur 14 mal erwahnt. Die Angaben sind fast aus schlieiSlich in Form von kurzen Nebenbemerkungen gehalten, weswegen die geschlechtsspezifische Differenzierung wie auch die Kontextualisierung der Falle nur bedingt moglich ist. Trotz dem sollte der Wert dieser sporadischen Hinweise nicht unter schatzt werden. Zum einen beschreiben die Textstellen im Un terschied zu Bildquellen nicht einen Handlungsmoment, son dern einen Handlungsablauf, also nicht einen Ausschnitt, sondern die Gesamtheit einer Handlung.16 Die Notizen vermit teln zum anderen einen Zugang zu Formen korperlicher Mit teilung, die nicht auf formal ritualisierte und institutionalisierte Systeme (z. B. Inthronisation, Liturgie, Tanz, Turniere) verwei sen. Insofern vervollstandigen die protokollierten Angaben the matisch das Spektrum der bislang untersuchten korperlichen Ausdrucksformen. Dartiber hinaus erlauben es die Indizien in den Kriminalquellen, tiber die historischen Theorien und Ideal vorstellungen von Gestik und Mimik hinauszugelangen und dem Alltag in der Frtihen Neuzeit auf die Spur zu kommen.
Manner im Streit Die in den letzten Jahren entstandenen Studien zu den Ehr- und Schlaghandeln der Ftihen Neuzeit haben gezeigt, daiS die Aus tragung von Konflikten keineswegs willktirlich, sondern inner halb einer agonalen Kultur nach komplex en Regeln, erfolgte. 17 Das Grundmuster entspricht einem Dreierschritt: Auf eine Kon-
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flikteraffnung wurde entweder mit Beschwichtigung zur Kon fliktvermeidung oder mit Retorsion geantwortet. Kam es auch in dieser Phase nicht zu einer Lasung des Konflikts, folgte die Phase der Retorsion, in der der Konflikt eskalierte, bis er schlieBlich handgreiflich ausgetragen wurde. Den Zurcher Beispielen nach zu urteilen, wurde ein Konflikt selten mit einem karperlichen Signal eroffnet. Zumeist begeg neten die Kontrahenten einander mit Verbalinjurien, wobei wie andernorts in Europa den Beleidigungen ein geschlechtsspezi fischer Ehrbegriff zugrunde lag. IS Wahrend bei Mannern die berufliche Redlichkeit (»Dieb, Schelm, Leckersbub«) und die Mannlichkeit (ein Biedermann, also ein rechter Mann sein) in Zweifel gezogen wurden, stand bei Frauen die sexuelle Integri tat und der Hexereivorwurf im Vordergrund (»Hure, Kind schanderin, Hexe« ) .19 Wenn allerdings in der Eroffnungsphase eines Streits korperliche Zeichen gesetzt wurden, dann fielen diese besonders provokativ aus. Beliebt scheint hier - insbeson dere unter jungen Mannern - das Werfen mit Apfeln, Steinen und »Kaat« (Mist oder Dreck) gewesen zu sein, 20 auf das jeder, der als » Bidermann« gelten wollte,21 antworten muBte. So klag te im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts der in Ossingen wohn hafte Hanns Notastein vor dem Andelfinger Vogt, daB er zu sammen mit Hans MUler und Jacob Ulmer zur Hauser Miihle gegangen sei. Ais sich bei der Ruckkehr die Wege trennten, » habe sich hans mUler uff siner stras umbkert unnd unver sechentlich des er im gerintslich nit vertruwet habe [was er nicht im geringsten erwartet habe], mit steinen dermaBen nach Ime gworffen, das er sich och umkert habe unnd thun wie ei nem biderman zu stat, der sich nit gern latt schlachen oder werffen« .22 Auch unter Nachbarn war es moglich, einander unmiBver stiindlich zu drohen, wie dies das Beispiel Summerauers zeigt. Dieser zog Caspar Thomann im September 1679 nach einer Rei he nachbarschaftlicher Streitigkeiten vor das Gericht, nachdem Thomann seiner Ehefrau » die fauBt vor die naBen gestoBen« habe und sie dabei mit dem Worten, » sicht da, du lausch, du flatternaB, Ich will dich schlachen, daB dich / :cum venia: / der Teufel hollen macht« bedroht habe.23 Thomann schreckte dem nach seiner Nachbarin gegenuber nicht vor Gewaltandrohung zuruck. Auf sexuelle Anspielungen hatte der Beklagte aller dings verzichtet.
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Ebensowenig scheint das auch andernorts bekannte24 Strek ken des Hinterteils in Richtung der Konfliktpartner bei Frauen und Mannern als sexueller Angriff gemeint gewesen zu sein. Die Thryn Kaller z. B. beschwerte sich vermutlich urn 1530 bei ihrer Nachbarin Berschinger, daB sie deren Tochter freundlich (einer nicht genannten Sache wegen) ermahnt habe, worauf die Tochter jedoch » grad angentz syn gwand hinden ufgehept und sy (mitt Zuchen zreden) heissen 1m arsch lacken« .25 Auch Gat tiker, so die Aussage Heinrich ZyBers, reagierte vergleichbar. 1m Jahre 1593 brach zwischen ihm und ZyBer auf offener StraBe ein Streit aus, nachdem Gattiker » ein wilde schannd ghept« und er ZyfSer darauf » syn hindertheil zeiget« habe.26 Nach Aussage des Jacob Weiss bediente sich Hans Jacob Nestler von Senn des selben Zeichens der Verachtung, als er am 23. April 1687 in ei nem Wirtshaus gegen aIle meglichen Leute wust zu schimpfen angefangen, schlieBlich die Wirtin als » Ketzers-Hex« beleidigt, urn dann, » wan Sy zur thur ufShin gangen, [ . J die Hand uf den hinderen geschlagen« habe.27 Demutigung und Beschmutzung, nicht eine sexuelle Herausforderung, auch kaum Abwehrzau ber standen in den aufgefuhrten Beispielen im Mittelpunkt.28 War erst einmal ein Konflikt ereffnet, stand es den Kontra henten frei, den Konflikt zu vermeiden oder ihn auszutragen. Das einfachste Mittel, einem Streit buchstablich aus dem Weg zu gehen, bestand fUr Manner wie fur Frauen darin, den Tisch, an dem man zuvor gemeinsam gesessen hatte, zu wechseln bzw. die Stube zu verlassen oder dem Herausforderer auf der StraBe durch Ruckzug ins eigene Haus oder das Einschlagen der umgekehrten Wegrichtung zu entweichen.29 In ihrer Selbst darstellung vor Gericht begrunden dabei die Angegriffenen auffalligerweise ihr Verhalten damit, daB sie dem Konflikt nicht lediglich zu entgehen, sondern auch die Konfliktsache miBbil ligend zu verurteilen getrachtet hatten. So sagte urn 1530 Rot tenschwyler aus, er habe als Weibel des Sittengerichts in Beglei tung Heinrich Webers die verwitwete Breitenstein (Weber war der Bruder ihres verstorbenen Ehemannes) aufgesucht, urn sie ihres gottloses Leben wegen - anscheinend eine wilde Ehe mit einem zweiten verschuldeten Mann - vor das Chorgericht zu laden. Diese habe ihn jedoch abgewiesen und behauptet, die Auseinandersetzung mit dem Sittengericht ginge niemanden etwas an » und zu lrem son [gesagtj, er selte den weber schel men, ketzeren und dieben [ihn beleidigend als Schelm, Ketzer . .
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und Dieben titulierenJ [. . . J underzwuschent er zug zur thur uBgangen unnd solliche schantlichen wortenn nit mer losen [horenJ wellen«.30 Der Vertreter des Sittengerichts vermied es also, selbst mit der Beklagten einen Streit anzufangen, druckte aber seine MiBbilligung durch seinen Weggang aus, indem er auf Distanz ging. Dieses Beispiel verdeutlicht somit, wie ambi valent korperliche Handlungen sein konnen. Rottenschwyler bewies nicht nur die Friedfertigkeit, die seinem Amt entsprach, sondern nutzte die Gelegenheit, sich selbst ins rechte Licht zu setzen, indem er ein informelles Urteil uber die langjahrige so ziale AuBenseiterin sprach. Eine weitere Form, eine klare Absage zu erteilen, bestand fur Manner wie auch fur Frauen darin, die Tischgemeinschaft zu verweigern. Dies wird aus dem vom Februar, also aus der Fa stenzeit 1596 stammenden Fall der Dorothea Sutter ersichtlich. Die in Baden wohnhafte Frau (die Bevolkerung der Freigraf schaft war katholisch und zwinglianisch zusammengesetzt, also konfessionell gemischt) habe sich nach eigener Aussage in Begleitung eines fremden Manns auf den Weg nach Meilen be geben und am Bein verletzt, so daB sie am Zielort in ein Wirts haus eingekehrt sei. Dort hatten bereits » etliche Manspersoh nen von Meylen ob einen tisch« im volltrunkenen Zustand ge sessen. Sie jedoch habe lediglich darum gebeten, ihr den bestellten Fisch an einen anderen Tisch zu servieren. » Uff welli ches die von Meylen zuo lro und Irem gspannen gsagt, sollind zuo Inen sitzen, deBen sy sich geweigeret unnd ob dem annde ren tisch bliben. Daruf einer unnder denen von Meylen (den sy aber nit khanne) zuo lro gseit [gesagtJ, Iro Pfaffen Lehrind sy nut rechts, solIe zuo Inen uber Iren tisch khommen unnd auch mit Inen fleisch fraBen.«31 Der verbale Konfessionstreit, der zwischen ihnen ausbrach, interessiert hier nicht weiter. Festzu halten ist lediglich, daB selbst das recht eindeutige Verhalten der Sutter einen gewissen Interpretationsspielraum offen laBt. Ihre Weigerung, sich an den Tisch der Meilener zu gesellen, bedeutete wohl, daB sie einem absehbaren Konflikt von vor neherein ausweichen wollte. Dies schlieBt aber keineswegs aus, daB sie zugleich ihre Verachtung der reformierten Religion auszudrucken gedachte. Eine wiederum andere Bedeutung konnte das raumliche Ausweichen im Fall MulIers haben, der nach der Aussage Hein rich Bibers vom 21. Juni 1677 mit Schmid an einem nicht genau-
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er erwahnten offentlich zuganglichen Ort ein religioses Streit gesprach uber den Ursprung des reformierten Glaubens ge fuhrt habe. Auf die Ermahnung des Zeugen und anderer An wesenden, von dem brisanten, da den Landfrieden gefahrden den Thema zu lassen, hatten jedoch Muller und Schmid erwidert, »sy seiging gute Freund und kennend einanderen, wolten daruber in Ihrem gesprach fortfahren« . SchlieiSlich habe Muller die Frage gestellt, » wo der rechte glaub herkomme [ . . . J der schmid ufgestanden und 1m weg gehn gesagt, daiS der UniSere von einem Jesuiten in einem Is[alvoJ h[onoreJ I SchyiS huiS entsprungen« .32 DaiS Schmid die Provokation sehr weit ge trieben hatte, war ihm offensichtlich bewuiSt. Er zog es vor, gleich das Feld zu raumen, bevor der Konflikt zu einer hand greiflichen Auseinandersetzung auswachsen konnte. Schmid signalisierte also seinem » guten Freund« , daiS er an einer Eska lation des Konflikts nicht interessiert war. An einer ganz anderen Sache zeigte Verena Stadler kein Inter esse. Sie wollte nichts von der unehelichen und von der Hart mann heftigst geleugneten Schwangerschaft wissen: Die Hart mann sei mitten am Tag, urn 10 Uhr morgens, » gantz rasend und taub« in der Mannenstube erschienen und habe die Worte aus gestoiSen, wenn sie schwanger sei, musse wohl der Heilige Geist das Kind gezeugt haben, das durch das » Fudli« (After,Vagina)33 heraustreten werde. Statt der Gotteslastererin unmiiSverstand lich Einhalt zu gebieten, wie das Gesetz es eigentlich vorsah,34 habe » sie gesagt, Behut uns God, wie redst, sey darauff zur Stu ben hinausgegangen und habe weither nichts gehort« .35 Die Stadler hatte es demnach vorgezogen, den Ort des Geschehens zu verlassen und sich quasi taub zu stellen. Sie gab damit zu verstehen, daiS sie sich nicht in einen zu erwartenden Konflikt mit den Aufsichtsbehorden werde hineinziehen lassen. Dieses Verhalten, Konflikten rechtzeitig aus dem Weg zu ge hen, ist keineswegs typisch weiblich. Anstatt in heiklen Situa tionen einzugreifen, hatten sich einige Zurcher Manner vie1mehr damit begnugt, ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Borius Banthart etwa gab am 16. November 1681 zu Protokoll, daiS er vor lauter Schrecken » mit der Hand auf sein Hertz gschlagen, Sagende, LaiSend Uns gahn, Ich mag nicht mehr da sein und mit den ubrigen weggegangen« .36 Der Grund seines Entsetzens lag in den Beleidigungen der weltlichen Obrigkeit und der Majestat Gottes, die Rudolf Rieder zwolf Tage zuvor
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»abends urn 7 uhren« ausgestogen hatte, als er vor der Scheune seine Pferde abspannte. Mag sein, daB Banthart sich vorsichtshalber den Richtern ge genuber dafur rechtfertigte, daB er Rieders Vergehen nicht ord nungsgerecht gemeldet hatte, indem er seine zumindest emo tionale Reaktion, sein richtiges Rechtsgefiihl, korperlich in Sze ne setzte. Doch auch der Fall des Konstanzer Jorg Seteli verweist auf eine ahnliche Situation, diesmal aus der Perspek tive des Beklagten. Seteli, so die einhelligen Aussagen der be fragten Zeugen, war bereits betrunken in das Gasthaus einge kehrt, urn dort zu ubernachten. Auf dem Weg zu seinem Zim mer habe er sich aber trotz spater Stunde von den anwesenden, ihm unbekannten Gasten Hans Jacob Holler und Caspar Koller zu einem Schluck Wein einladen lassen. Als hierzu flaches Brot gereicht wurde, habe er dieses Zurcher Oblaten genannt. Seine Trinkkumpanen reagierten auf diese Diffamierung der zwing lianischen Konfession zunachst nicht. Lediglich am folgenden Morgen forderten sie den mittlerweile wieder nuchternen Seteli heraus, zu seinen lasterlichen Reden Stellung zu nehmen, »wor auf er, Seteli, die Hend In ein anderen geschlagen und sy umb Verzychung gepeten«.37 Seteli legte also mit einer Geste des Erschreckens oder der Demut sein Schuldbekenntis ab und lieg es nicht auf einen Konflikt ankommen. Freilich war nicht jede korperliche Handlung zur Konflikt vermeidung gleich defensiv angelegt. So gab 1704 der aus dem reformierten Zurcher Gebiet stammende Johannes Gottfrid zu Protokoll, daB er wahrend eines Geschaftsgangs im katholi schen Einsiedeln in ein Wirtshaus eingekehrt sei, » wo 3. Tisch voll volek geweBen, die geschmaht ein [offensichtlich prote stantischesJ buchli [ . . . J und gseit [gesagt], daB seyen [vom ka tholischen Standpunkt ausJ KetzersSachen [ . . . J Drauf er das buchli jn beysyn aller gekauft, solehes zesemmen gewicklet, in den Sack gestoBen und in ein andere Stuben gangen«.38 Gottfrid hatte demnach zu verdeutlichen versucht, daB er zwar keine Beleidigung seiner Konfession dulden, aber auch keinen Land friedensbruch in der direkten Auseinandersetzung mit den An wesenden riskieren wurde.39 Er war also defensiv und provo zierend zugleich vorgegangen. An diesem Beispiel zeigt sich erneut, wie vielfaltig die Bedeutungen und wie offen fUr Inter pretationen ein und dieselbe korperliche Kommunikationsform sein kann.
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Allerdings war unter Mannern eher Retorsion als Konflikt vermeidung die dominierende Antwort auf eine Herausforde rung. Fur Gegendrohungen machten sich die Zurcher vielerlei Ausdrucksformen zunutze. Von Jorg Bli.iwler ist z. B. in der Aussage Peter Kaufmanns aus dem ersten Drittel des 16. Jahr hunderts uberliefert, daB Bluwler seinen Schwager Jorg Muller urn zehn Uhr nachts unter dem Verdacht aus dem Bett geholt habe, Muller habe mit seiner Frau, die er nachmittags samt der Kinder zu einem Essen eingeladen hatte, Ehebruch begangen. Den Unschuldsbeteuerungen seines Schwagers habe Bli.iwler keinen Glauben geschenkt, sondern »die zen [ZahneJ Inn ein ander gebissen, gar zornig geweBen und gsagt, er welle noch einem ein lezi geben [schlagenJ, daB er syn lebtag an inn dencken musse« .40 Bluwli hatte somit der vermeintlichen Pro vokation seines Schwagers mit Worten und Zahnen geantwor tet. Eine ahnliche Erfahrung machten Heinrich Weber, Jacob Schweitzer und andere irgendwann urn 1530, als sie bei einem Spaziergang den Sohnen der bereits oben genannten Witwe Breitenstein begegneten. Hans Breitenstein lehnte die Auffor derung Webers, sich ihm zu nahern ab: » da zenete der Buob sy beidt an unnd stalten die beid buben sich nun gar latz gegen Inen.« 41 Sollten diese beiden Beispiele reprasentativ sein, so war es offenbar nicht unublich, dem Gegner mit den Zahnen zu im ponieren zu suchen. Damit ist eine Verhaltensweise dokumen tiert, die zwar an die im Tierreich bekannte Drohbewegung des Zahnezeigens erinnert,42 aber doch zeigt, daB das » Zahneflet schen« unter Menschen nicht biologisch definiert sein kann, sondern kulturell gepragt ist. Zumindest ist mir keine Zivilisa tion bekannt, in der dieses Drohverhalten heute ublich ware. Eine drastischere, den » Welschen« zugesprochene und damit kulturell markierte Form, seine Kampfbereitschaft anzuzeigen, bestand offenbar darin, sich selbst den Finger blutig oder sich zumindest auf die Fingernagel zu beiBen. Dies - von einem ver gleichbaren Fall berichtete John Evelyn fur das Genua des 17. Jahrhunderts43 - belegen zwei Akten.44 Manner drohten ub licherweise mit Faustschlagen gegen den Tisch, mit FuBstamp fen oder dem Traktieren von Tischflachen mit Messern.45 Sehr genau beobachteten Kontrahenten einander, wenn » Gewehre« , d. h. meistens Stich-, seltener SchulSwaffen,46 in die Hand ge nommen wurden. Die Zeugen wissen genau anzugeben, wie die Waffe zum Einsatz gekommen war. Peter Kaufmann z. B.
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sagte uber den schon erwahnten eifersuchtigen Bluwler aus, er habe zwar zornentbrannt seinen Schwager herausgefordert, mit dem »Gewehr« aber nicht » gezuckt« .47 Aus dem Jahre 1611 ist ein Fall uberliefert, in dem zwischen dem Weber Hans Hein rich Freytag, Jacob Pantli, dem Tischmacher Ruodolf Schilt knecht, ihren Ehefrauen, Hans Murer und seinen Sbhnen wie auch den Gebrudern Lienhart und Hans Vogler offenbar im An schluB an eine Hochzeitsfeier ein derart wilder Streit ausbrach, daB es auf der Gasse zu einem Auflauf der Nachbarn kam. Zwar erlauben es die 16 konfusen und in sich widerspruchlichen Zeu genaussagen nicht, den komplizierten Konflikt schliissig zu re konstruieren, doch spielt dies fUr die Frage nach den kbrperli chen Handlungsformen der Beteiligten keine entscheidende Rolle. Hier braucht nur die Beschreibung Heinrich Hafners zu interessieren, Lienhart Vogel habe » ein bloB wehr Inn hannden gehept [ . . . J, mit welchem wehr dann er Vogel zuo deB Jacob Pantlis huBthuren hyn wellen hauwen, die Ime aber zuo gschwind zuogeschlagen worden« .48 Aus der Aussage von Ludwig Nabholz ist ferner zu erfahren, daB Hans Vogel keine Ruhe gegeben habe, darauf Jacob Pantli » mit bloBem wehr mit beiden hannden gfaBt gegen dem ganntzen hufen har glauffen sei« , obwohl beide zuvor abgemahnt worden seien.49 Die Kon trahenten hatten demnach ihre Messer, Degen oder Schwerter ergriffen, urn einander entschlossene Kampfbereitschaft kund zutun. Die Hausture und damit das Haus waren als erweiterter Kbrper des Gegners angegriffen,50 die Waffen zum Einsatz (» bloB« ) und fest in beide Hinde genommen worden. Doch kreuzten sich schlieBlich die Klingen nicht, so daB - vergleich bar zu anderen Stadten - ein Totschlag vermieden wurde.51 Gleiches laBt sich auch uber eine Schlagerei feststellen, die 1616 in der Zunftstube zur MeiBen zwischen Gesellen und Bauern in der Stadt Zurich ausgebrochen war. Peter Stbrri hatte zwar versucht, zwischen den Parteien formal Frieden zu stiften, doch blieb er ohne Erfolg. Ein Meisterssohn namens Brunn lehnte die Friedensstiftung ab und schlug » mit bloBem wehr uff die tisch« , ohne daIS eine Messerstecherei folgte.52 Es handelte sich also in allen aufgefiihrten Beispielen urn ritualisierte Drohgebarden, nicht urn die Absicht, von der Waffe tatsachlich Gebrauch zu machen. DaB das Drohen mit der potentiell immer gefahrlichen Waffe haufig einen symbolischen Charakter aufwies, verdeutlicht
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weiterhin der aus der Zeit urn 1552 registrierte Fall des wegen »iippigen, schanntlichen schweren und gotz lesteren, auch ann dern uneerlichen sachen« schliefSlich als Krimineller zu Tode verurteilten Hans Morgensterns. Dieser war an einem Sonntag volltrunken aus seiner Meisterstube nach Hause zuriickge kehrt, wo er » on aIle ursach sin schwert gezuckt unnd geschwo ren [ . . . ] damitt vermelt sin gwer Inn den herd [in den Boden] gesteckt, welliches Im sin tochterman zu verhiitung grosseren ungliicks ufS sinen henden genommen« .53 Es ging Morgenstern offenbar nicht darum, gegen eine der anwesenden Personen ei nen Schwertstreich auszufiihren, sondern darum, gewaltig Ein druck zu machen.54 Diese Drohgebarden scheinen zu dem typisch mannlichen Zeichenrepertoire der Ziircher gehort zu haben. Auffalligerwei se iiberliefern die Quellen fiir Frauen keine vergleichbaren For men des Drohens. Obwohl » Gewehre« in greifbarer Nahe der Ziircherinnen gewesen sein miissen, weist nichts darauf hin, dafS sie solche Waffen in die Hand genommen hatten.55 DafS Frauen in Ziirich ihre Kiichen- oder Arbeitsgerate zu gefahrli chen Waffen umfunktioniert hatten, ist ebensowenig bekannt. So detailliert die protokollierten Aussagen auch sind, Szenen, in denen z. B. (Kiichen-)Messer oder Spinnrocken als » Waffen der Frau« zum Einsatz gekommen waren, beschreiben sie nicht.56 Offenbar kannten die Ziircherinnen keine geschlecht stypischen Gegenstande, die bei einer angedrohten oder tat sachlich gewal tsamen Auseinandersetzung hatten genutzt wer den konnen. Wahrend also zum Mann-Sein unseren Erwartun gen gemafS der Umgang mit der Waffe gehOrte, fehlte ein analoges gegenstandliches Attribut, das beim Austragen von Konflikten das Frau-Sein charakterisiert hatte. Mannlichkeit be ruhte, soweit die geringe Fallzahl Riickschliisse erlaubt, auf der standigen Bereitschaft, gegenbenenfalls auch mit Gewalt seine Ehre zu verteidigen. Den Frauen hingegen ordnete die Ziircher Gesellschaft der Friihen Neuzeit eine solche Gewaltbereitschaft nicht zu. Ein weiterer Unterschied zwischen den korperlichen Mittei lungsformen von Ziirchern und Zurcherinnen besteht in der » Theatralisierung« von korperlichen Sprachhandlungen, zu der eher Manner neigten. Diese zeigten eine besondere Vorliebe fur deiktische Bewegungen, mit denen sie den Streitgegenstand buchstablich in den Szenenmittelpunkt riickten. Anschaulich
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verdeutlicht dies das Eingangsbeispiel vom Streit Mullers mit dem katholischen Geistlichen. Als Muller den Priester auf das Risiko einer Vorladung des Vogts aufmerksam machte, hob er Muller zufolge nicht nur in einem Balanceakt das Bein und legte dabei die Hand auf sein Hinterteil, sondern deutete auch gleich zeitig mit der anderen Hand »auf das Rechenbuch« [fur die Ar menausgabenJ.57 Eine ahnlich typische Konfliktsituation zwischen einem Vogt und einem Geistlichen fUhrte 1664 in Gailingen zu einer Ausein andersetzung. Der nicht namentlich genannte katholische Prie ster hatte sich, so die Zusammenfassung der eingeholten Kund schaften, bei dem Vogt Sutter beschwert, daIS die Eintreibung des Kirchenzehnten nicht rechtmalSig erfolge. Sutter habe sich zwar fUr nicht zustandig erklart, aber seine Unterstiitzung bei den weiteren Behordengangen in Aussicht gestellt. Schliel5lich sei er daruber mit dem Geistlichen in eine »Disputation« uber die Zehn Gebote geraten. In deren Verlauf sei der »Pfaffe« so weit gegangen, die Position zu vertreten, Gott habe genausowenig mit Mose wie mit einem anderen Menschen gesprochen, d. h. ihm die Gesetzestafeln nicht ubermittelt. Der Vogt habe unmilS verstandlich erwidert, »er scheldte uns da, und stande das in der h. gotlichen geschrift« . Der Priester jedoch habe respektlos ge antwortet, »ich wollte euch [ . . . J drufschissen [auf die evangeli sche Bibel], und stolSt unslS die Bybel nebend sich« .58 Mit den gegenseitigen Verbalinjurien wollte es also der katholische Geist liche nicht bewenden lassen. Demonstrativ stielS der den Gegen stand, der den Kern der konfessionell aufgeladenen Streitsitua tion bildete, die Bibel in evangelischer Ubersetzung, von sich. Eine ebenfalls betont gestische Handlung wahlte der schon genannte Ruodolf Bramer, als er die gegen ihn eingezogenen Kundschaften inhaltlich bestatigte, weitere Beschuldigungen aber von sich wies, indem » er gefallenem gewulSsem Bericht nach, seine hand uff die Kundschaften, welliche uff dem Tisch gelegen, gelegt mit vermelden, Man solI nur nichts weithers Schreiben, Er bleibe bei deme, was Er bereits bekant« .59 Bramer erganzte also seine sprachliche Stellungnahme mit einer aus drucksvollen Handbewegung.6o Von solchen deiktischen Zei chensetzungen durch Frauen fehlt indes in den ausgewerteten Quellen jede Spur. Gestische Ritualisierung oder »Effekthasche rei« gehorte offensichtlich eher zum mannlichen Verhaltensre pertoire.
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So wie Verbalinjurien bestimmten GesetzmaBigkeiten folg ten, so galten auch fur handgreifliche Konflikte bestimmte in formelle Verhaltensregeln. Von diesen Normen zeugen die Vor wurfe, Angriffe auf unehrenwerte Weise ausgefuhrt zu haben.61 1m ersten Drittel des 16. Jahrhunderts beschuldigte z. B. Ursula Igrun in ihrer Klage gegen Margaretha Wegmann gleichfalls de ren Ehemann: »Ir man [seiJ ein huond, dann er hette Iren vatter angefallen wie ein huond«.62 Ebenso faBte 1611 der bereits er wahnte Jacob Pantli die Behauptung Hans Vogels, er habe » uff Inne geschlagen wie ein annderer Leckersbuob« als Beleidi gung auf, wie die Retorsion Pantlis beweist, in der er Vogel als Dieb bezichtigte.63 Von der Schlagerei, die sich Clemens Walti und Danni Gbtz auf offener Gasse geliefert hatten, berichtete Junghans Hoffmann: » als man gefridet, hat Clementz Walti ge redt, er habe Inn nit redlich angriffen, sonnders wie ein Morder [ . . . J sin gewer Inn hannden gehept«.64 Auch eine Schlagerei hatte also die ungeschriebenen Gesetze der mannlichen Ehre, die Hinterlist ausschloB, zu befolgen. Wie sahen weitere Grund regeln der mannlichen Konfliktaustragung aus? Das Verteilen von Ohrfeigen gehorte - wie im lippischen Raum des 17. oder im Paris des 18. Jahrhunderts65 - zu den le gitimen Formen der handgreiflichen Auseinandersetzung; und zwar fUr beide Geschlechter unter- wie auch gegeneinander. Doch offensichtlich konnte der Schlag auf unterschiedlich kor rekte Weise erfolgen. » Maultaschen« wurden - und hier kbnnte die juristische Klassifizierung der Schlage durch die Protokol lanten hineinspielen - » mit der flachen hand«, d. h. mit der of fenen Handflache, verabreicht.66 Als der katholische Tischma chergeselle Bernhard Stumpf aus dem pfalzischen Haslach in Zurich sich auf die Bank vor seines Meisters Haus gesetzt hatte, habe sich - der Aussage Mathys Bidermanns zufolge - Barbara WyB zu ihm gesellt und mit einem StoBseufzer den Anfang ei nes (evangelischen) Kirchenlieds gesprochen. Stumpf habe sie nach der katholischen Version des Liedes korrigiert, woraus die WyB unter verschiedensten Vorwanden einen Konfessionsstreit provoziert habe. SchlieBlich aber habe ohne Vorwarnung » der Tischmacher Iren [der WyBJ die flach hannd inn das mul ge ben«.67 Fur Stumpf und Bidermann rechtfertigte es die Provo kation der WyB offenbar, ohne Vorwarnung handgreiflich zu antworten. Doch selbst fUr die Retorsion in Form einer Ohrfeige schei-
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nen bestimmte Normen gegolten zu haben. Vermutlich in seiner Eigenschaft als Untervogt oder Statthalter meldete Hans Rudolf Schwytz aus Kappel seinem Landvogt, daB gegen Mitternacht in der Scheuer des Hans Lyrer ein furchterliches Geschrei zu horen gewesen sei. Als er der Sache nachgegangen sei, habe er dort » ein Mannsperson unnd etliche Wyber« vorgefunden, die wahrscheinlich von dem Unbekannten miBhandelt worden wa ren. Nach seiner Identitat gefragt, behauptete dieser indes, er sei ein frommer Pilger, » Item wer In anrure, der rure Gott an.« Uber diese AnmalSung sei er, Hans Rudolf Schwytz, derart er bost gewesen, daIS er » In Zorn erbrunnen und Ime die Letzhand [mit dem Handrucken]68 ufs Mul geschlagen«.69 Diesem Quel lenbeleg nach zu urteilen, wurde also sehr genau unterschie den, wie Ohrfeigen ausgeteilt wurden. Die Regel, nicht willkurlich, sondern erst im AnschlulS an ein gewisses Vorspiel der Herausforderung nach festgelegten Mu stern Gewalt einzusetzen, galt fur Manner wie fur Frauen. Als etwa Lienhart Huber sich erdreistete, ihr in der Offentlichkeit beim Scheuertor die Kopfbedeckung abzunehmen und sich selbst aufzusetzen, habe, so sagte Anna Wetzel 1612 aus, Jaggli Gilg die Gelegenheit genutzt, » sy unverschambt [zu betasten], daB sy nit sagen dorffe, dann demselben sy ein multeschen ge ben«.70 Ein umgekehrtes Beispiel liefert die Aussage Ludwig Nabholz gegen den bereits erwahnten Lienhart Vogel. Vogel, so Nabholz sei der Freitag » Inn Ir angsicht gfallen und gekratzt, uff welliches sy die gedachte Freytag in glychfals Ime Vogel Inns angsicht gfallen und Ime einem schlempen rein langliches StUck stoffF1 uB synem KrolS [= Kragen der mannlichen Beklei dung der LandbevolkerungF2 zehrt« habe.73 Statt in ihrer Ge genwehr die Krallen zu zeigen, hatte sich die Freitag vielmehr mit Vogels Halskragen an ein spezifisch mannliches Kleidung steil gemacht, das moglicherweise in Analogie zur weiblichen Haube als Attribut der Mannlichkeit gesehen werden kann.74 Jacob Ochsner hingegen kam korperlich nicht so gut davon, als er urn 1556 auf der Zurcher Gesellenstube nach einer Reihe gegenseitiger sexueller Provokationen mit dem Stubenknecht Hans Hardwiger in Konflikt geriet. In seiner Klage lieB er zu Protokoll geben, Hardwiger habe ihn » by sinem haar und bart [genommen und] [ . . . ] 1m etlichs ulS[gerupft]«?5 Das gegensei tige An-den-Haaren-Ziehen war - ebenso wie im vorrevolutio naren Paris76 - also keineswegs typisch weiblich. Ob Kopf- oder
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Barthaare, beide boten sich fUr Manner wie fur Frauen als An griffsflache fur eine tatliche Auseinandersetzung an, was nicht ausschlieBt, daB das Zerren am Bart als gezielter Angriff auf die Miinnlichkeit des Gegners gedeutet werden mag?7 Haufiger sind allerdings die Beispiele, in denen Manner insbesondere in Ehekonflikten - Frauen ohrfeigten. Bei den Eheleuten Thomann z. B. war es schon seit langerem zu hefti gen handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen?8 Ei nes Tages schlieBlich, habe sich jedoch die Thomann der Aus sage ihres Ehemanns David zufolge geweigert, ihrem Kind das Essen zuzubereiten, worauf » sie abermahlen boBe wort gege ben [ . . . ] [und] Er sich erzurnt und Thro ein par Ohrfeigen ge steckt. Sie habe aber Thm eben an selbigen mahl gekretzt«.79 Die Ehefrau zu schlagen, galt dernnach auch in Zurich innerhalb bestimmter Grenzen als legitimes Zuchtigungsmittel, insbeson dere dann, wenn alle Worte nicht mehr weiterhalfen.80 Obgleich Frauen sich zur Wehr zu setzen wuBten, so richte ten Manner mit ihren Schlagen physisch in der Regel mehr aus. Ais etwa der bereits mehrfach zitierte Lienhart Vogel unter an deren an Verena Most geriet; beleidigte er sie nicht nur ord nungsgesmaB als » losig hex« , sondern schlug sie auch derart an den Kopf, » daB sy an die muren zuohin gefallen« und dabei angesichts ihrer gerichtlich anerkannten Forderung eines Schmerzensgeldes eine schwere Verletzung davon getragen ha ben muR8l Frauen und Manner behalfen sich also beide mit Schlagen, wenn auch unterschiedlicher Harte, wenn sie mit Worten nicht weiterkamen. Schlagen war ebensowenig ein ty pisch mannlicher Akt wie das Kratzen und Ziehen an den Haa ren ein typisch weiblicher.82 Trotz unterschiedlicher physischer Krafte waren diesbezuglich die korperlichen Sprachhandlun gen von Mannern und Frauen vergleichbar und die inhaltiche Mitteilung identisch. Freilich gingen in den nach unseren heutigen MaBstaben au Berordentlich gewaltsamen Auseinandersetzungen die Kontra henten nicht blindlings vor. Dagegen sprechen eindeutig die als Treffflachen erwahnten Korperstellen. In allen aufgefUhrten Beispielen ging es - auch hier sind Querverweise moglich83 urn Schlage auf die Arme, die Achseln oder auf den Kopf. Be sonders sensible Stellen, von denen alle mit einer gewissen Ge walterfahrung gewuBt haben mussen, Augen, Kehlkopf, Hals schlagader, Meniskus oder Achillesferse etwa blieben ausge-
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spart. Von Schlagen in die Geschlechtsteile wird fUr Zurich im Unterschied zu anderen Orten84 im Que11enkorpus nicht berich tet. Dies steht indes ganz im Gegensatz zum verbalen Verhalten, bei dem Manner immer wieder auf ihre Genitalien angespro chen85 bzw. Frauen als zur VerfUgung stehende » Huren« be schimpft wurden. Die ungeschriebenen Gesetze der mannli chen Ehre sahen also vor, daIS ein Angriff offen zu erfolgen hatte und jederzeit selbst mit Gewalt gegen mannliche wie auch weibliche Kontrahenten zu beantworten war. Die Schlage sol1ten derart gezielt ausgefiihrt werden, daB sie das Gegenuber vorerst aulSer Gefecht setzten, nicht aber empfindlich oder gar auf Dauer verletzten. Obwohl in Zurich Manner ebenso wie Frauen Ohrfeigen aus teilten, gezielte Schlage versetzten und an den Haaren zerrten, so unterscheidet sich die Kampftechnik der Zurcher doch an einem Punkt von denjenigen der Zurcherinnen. In der Regel begann unter Mannem eine Schlagerei damit, daB der Angrei fer den Gegner an der » Brust« packte.86 Von Frauen ist dieses korperliche Signal nicht uberliefert, obgleich die weibliche Klei dung sich genauso gut zum Anfassen des Gegenubers geeignet haben durfte wie die mannliche. DaB bei Frauen der Griff an die Brust zumindest unublich war, konnte damit erklart wer den, daB dieser Zugriff tabuisiert gewesen sein wird.87 Dies lie lSe sich jedoch an den aufgefuhrten Beispielen nur durch spe kulatives Ausdeuten des Stillschweigens der Que11en belegen. Umgekehrt wird aus einem einzigen Quellenbeispiel ersicht lich, daB die mannliche Brust, die in anderen Schlaghandeln wohl nicht zufa11ig als » Herz« 88 bezeichnet wurde, als Sitz der mannlichen Ehre und damit der gesellschaftlichen Anerken nung kulturell besetzt war:89 Als anlaBlich einer Hochzeit im Jahre 1560 Clemenz Walti Danni Gotz durch den Verweis of fentlich bloBgestellt hatte, daB es ihm wegen einer Ehrenstrafe nicht erlaubt sei, an gesellschaftlichen Ereignissen teilzuneh men, kam es zum Streit. Trotz Friedensstiftung, 0 der Zeuge Blin Bur, habe Walti keine Ruhe gegeben, sondem » sin [des Gotz] hanbd vomen uffthan, an sin herzt geschlagen [und gesagt] : da ist das hertz wie ein felss unnd bist du der eren nit wert, das da solt sitzenn« .90 Als unehrenhafter Mann, so Waltis Verstandnis, hatte Gotz sein Recht verwirkt, in das gesellschaftliche Zusam menleben integriert zu sein. Vie11eicht packten beim Auftakt zu Schlagereien Manner deswegen einander am Oberkorper, weil
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sie dort den Sitz der mannlichen Ehre lokalisierten, wahrend in den aufgefiihrten Beispielen bei Frauen die weibliche Ehre kbr perlich nicht eindeutig zuzuordnen war.91 In Ehr- und Streithandeln des friihneuzeitlichen Zurich, so das Ergebnis, wies das Verhalten der Manner und Frauen aus unserem Sample viele Gemeinsamkeiten und einige Unter schiede in ihrem Verhalten auf. Beide wui5ten einen Konflikt bzw. dessen Eskalation konsequent zu vermeiden. Beide folg ten festgelegten Regeln, wenn sie die Gegner schlugen und kratzten. Dabei ging es den Kampfenden sicherlich darum, sich der Kontrahenten zu entledigen. Doch zielten sie weder auf die sexuelle Verletzung noch auf die physische Vernichtung des Ge genubers, sondern auf dessen symbolische Unterwerfung. Was Mannern in Streitigkeiten zu Mannern machte, war dernnach nicht ihre Gewalttatigkeit oder physische Kraft. Vielmehr ge hbrten in Zurich zum Mann-Sein der offene Angriff des Geg ners, die Benutzung geschlechtsspezifisch ritualisierter Droh gebarden und der stete Kampf urn die Verteidigung der in der » Brust« angesiedelten mannliche Ehre. Manner mui5ten ihre Mannlichkeit standig unter Beweis stellen, sich immer wieder selbst zu Mannern machen, wenn sie ihren Status als » Bieder mann« nicht verlieren wollten. Frauen hingegen scheinen keine geschlechtsspezifischen Drohgebarden oder Kampfstrategien praktiziert zu haben, obwohl auch sie stets ihre spezifisch weib liche Ehre zu verteidigen und z. B. den Vorwurf der sexuellen Verfehlung zuruckzuweisen hatten. Doch gab die Gesellschaft den Zurcherinnen keine Wege vor, wie sie ihr Frau-Sein mar kieren konnten. Frauen standen offenbar vor der Wahl, entwe der ehrenhafte oder gefallene Frauen zu sein. Die Normen des Frau-Seins sahen nicht vor, dai5 eine Frau ihres Frau-Seins ver lustigt gehen konnte.92 Den Quellenindizien zufolge blieben Zurcherinnen grundsatzlich Frauen. Ganz gleich ob sie als ehr wurdig galten oder nicht, sie blieben Frauen, wobei das Frau Sein an sich kaum positiv besetzt gewesen zu sein scheint. Zur cher hingegen riskierten bei jeder Auseinandersetzung ihr Mann-Sein. Wer als Mann seine Ehre verlor, war kein Mann mehr.
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Zeichen der Miinnlichkeit, ein Beitragzur Geschlechtergeschichte? Angesichts der geringen Anzahl der Quellenbeispiele grundle gende Thesen zur Geschichte der Mannlichkeit zu formulieren, ware eiri gewagtes Unterfangen. Immerhin stutzen einige Querverweise die Ergebnisse dieser Fallstudie. Als Zusammen fassung meiner AusfUhrungen mochte ich daher lediglich In terpretationsansatze formulieren: Was die Zurcher der Fruhen Neuzeit in Konfliktsituationen zu Mannern machte, ist der haufige und vorrangig symbolische Einsatz von Waffen. Ein ana loges Attribut der weiblichen Ehre, das einen Anspruch auf gesellschaftlich legitimierte Gewalt und damit Herrschaftsausubung von Frauen zum Ausdruck gebracht hatte, war offensichtlich unbekannt. Was die Zurcher jeden Standes in ihren korperlichen Mittei lungsformen zu Mannern machte, ist daruber hinaus die im Vergleich zu Frauen betontere, auf die Anwesenden und damit auf ein Publikum gezielte Selbstdarstellung, fUr die Manner insbesondere demonstrative Gesten nutzten. Ob in der Stadt oder auf dem Land, ob tags oder nachts, ob an einem Feier- oder einem Werktag, ob einander gut Freund oder unbekannt, Zur cher Geistliche, Vogte, Gesellen, Bauern und Kriminelle bean spruchten insofern einen groBeren »offentlichen« Raum auf der StraBe, im Wirtshaus oder zu Hause, als sie sich in ihren kor perlichen Kommunikationsformen im Vergleich zu Frauen star ker ritualisierter und » theatralischer« Effekte bedienten bzw. angesichts der bestehenden Normen bedienen muBten. Was die Zurcher in ihrem Streitverhalten zu Mannern mach te, war also weder ihre Muskelkraft noch ihre vermeintlich ge schlechtsspezifische Aggressivitat oder sexuelle Triebhaftig keit, demnach nicht ein angeblich unzweifelhaft von » Natur« aus programmiertes » typisch mi:i.nnliches« Verhaltensmuster.93 Vielmehr verwiesen die Zurcher mit ihrer Anwendung be stimmter, in korperlichen Handlungen ausgedruckter Zeichen auf das ihnen von der Gesellschaft zugestandene Recht auf ge sellschaftliche Dominanz. Diese drei Interpretationsansatze bestatigen und erganzen bisherige Ansatze der Geschlechtergeschichte. Sie zeigen, wie sehr - bis in unwillkurliche korperliche Handlungsformen hin-
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ein - geschlechtsspezifische Rollenverteilungen eine Gesell schaft pragten. Sie lassen erkennen, welch subtile Formen Rol lenmuster in der Praxis annahmen, und machen damit auf zweierlei aufmerksam. Sie unterstreichen nochmals, wie sche matisch die Gegenuberstellung von » offentlich, machtig, ag gressiv, mannlich« versus » privat, unterdruckt, defensiv, weib lich« selbst innerhalb eines » patriarchalischen« Rahmens wie der fruhneuzeitlichen Zurcher Gesellschaft sogar in reinen Mannerkonstellationen ist. Auch die oben formulierten Deu tungsangebote sprechen dafur, Geschlecht als relationalen Be griff aufzufassen, statt Mann und Frau als voneinander losge lOste, biologisch definierte und dualisitisch angeordnete Enti taten zu betrachten. Die Ergebnisse veranschaulichen daruber hinaus, daB die Geschichte geschlechtsspezifischer Rollenver teilungen nicht auf die Geschichte von moralischen oder asthe tischen » Diskursen« , von Sexualitat, Familie, Sozialisation, von Vermogens- und Rechtsverhaltnissen beschrankt werden kann. Insofern entsprechen die Ergebnisse dieser Studie dem Anlie gen der Geschlechtergeschichte, in einem ersten Schritt unter moglichst vielseitigen Aspekten nach der gesellschaftlichen Konstruktion des Mann- und Frau-Seins zu fragen, urn der Ka tegorie des Geschlechts als Faktor historischen Wandels empi rische Tiefendimension zu verleihen. Die herangezogenen Quellen erlauben keine sozial-, alters oder situationsspezifische Differenzierung und enthalten keine Angaben zur Mimik oder zum Einsatz der Stimme. Auch reich ten die Quellenhinweise nicht, urn Gruppen von Miinnern von einander zu unterscheiden. Die Frage des historischen Wandels geschlech tssp ezifischer korperlicher Zeichensysteme schlieB lich ist vollig ausgeblendet geblieben, obwohl sich das Quellen korpus uber einen Zeitraum von ungefahr 250 Jahren erstreckt. In diesen offenen Fragen liegen meines Erachtens wichtige Per spektiven einer Geschichte mannlicher korperlicher Sprachzei chen als Beitrag zur Geschlechtergeschichte. Denn es geht urn etwas anderes, als urn die amusanten, kurzweiligen und bur lesken 1001 Geschichten der Vergangenheit, die den Alltag ver gangener Zeiten wieder zum Leben zu erwecken suchten. Viel mehr gilt es zu rekonstruieren, wie Manner im Vergleich zu Frauen in bestimmten (Alltags-)situationen auf geschlechtsspe zifische Weise uber ihren Korper miteinander und mit dem an deren Geschlecht kommunizierten, urn die mehrdeutigen Zei-
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chen und damit vielfaltigen Formen des Mann- bzw. des Frau Seins in ihren Gegensatzlichkeiten wie in ihren Gemeinsamkei ten erfolgreicher zu entschlUsseln und somit der historischen Kategorie des Geschlechts gerechter zu werden.
Anmerkungen 1 E.I.10.5, 5.2.1674. Aile Quellenbeispiele sind den Bestanden des Staatsarchivs des Kanton Zilrichs entnommen und werden daher unter der dortigen Archivregistratur angegeben, ohne jeweils eigens auf das Staats archiv zu verweisen. 2 Einen Einblick in die Vielfalt der moglichen Fragestellungen geben: Eibach, Joachim: Kriminalitatsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681-715; Romer, Hermann: Historische Kriminologie. Zum Forschungs stand in der deutschsprachigen Literatur der letzten zwanzig Jahre, in: Zeit schrift fur Neuere Rechtsgeschichte 14 (1992), 227-242; Schwerhoff, Gerd: Devianz in der alteuropaischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Krirninalitatsforschung, in: Zeitschrift fUr historische Forschung ( ZHF) 19 (1992), 385-414; Simon-Muscheid, Katharina: Gerichtsquellen und Alltags geschichte, in: Medium Aevum Quotidianum 30 (1994), 28-43. 3 Auf die Bedeutung der Gestik als historischen Untersuchungsgegen stand hat bereits vor einigen Jahren Robert Muchembled hingewiesen. Vgl. Muchembled, Robert: The Order of Gestures. A Social History of Sensibili ties under the Ancien Regime in France, in: Bremmer Jan/Roodenburg, Herman (Hg.): A Cultural History of Gesture, Ithaca 1991, 129-151 (vorher bereits ahnlich: Muchembled, Robert: Pour une histoire des gestes (XVe XVIIIe siecles), in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 39 (1987), 87-101. 4 1m Rahmen einer Sammelrezension gibt ausfUhrliche Hinweise samt einer weiterftihrenden Bibliographie: Kalverkamper, Hartwig: Die Rhetorik des Korpers. Nonverbale Kommunikation in Schlaglichtern, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 13 (1994), 131-169. 5 Dieser Ansatz ist somit nicht mit August Nitschkes » Historischer Verhaltensforschung« gleichzusetzen, die » eine langst untergegangene Ge sellschaft von ihren Verhaltensweisen her wieder zum Leben zu erwecken« sucht (Nitschke, August: Historische Verhaltensforschung. Analysen geseJl schaftlicher Verhaltensweisen. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1981, 8), indem sie bei der Untersuchung der Verhaltensweisen danach fragt, » von welcher Mentalitat und welchen Aktionen die Angehorigen einer Gruppe oder eine Gesellschaft abhangig sind« (ebd., 10). Der vorliegende Beitrag beschrankt sich vielmehr darauf, die Regeln der vorgestellten Verhaltensweisen zu re konstruieren, ohne von ihnen ausgehend Ruckschlusse auf diffuse » Men talitaten« ziehen zu wollen. Zum Problem der Korpersprache aus der Sicht =
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der Verhaltensforschung vgl. einfiihrend: Eibl-Eibesfeldt, Irenaus: Das nichtverbale Ausdrucksverhalten. Die Korperspache, in: Kindlers Enzyklo padie. Der Mensch, hg. v. Wemdt, Herbert/Loacker, Norbert, Ziirich 1983, 186-222. 6 Mord und Totschlag stellen eine besondere Kategorie der handgreif lichen Auseinandersetzung dar und sind daher aus dieser Untersuchung ausgeklammert. Zu diesem Thema arbeitet fiir die mittelalterliche und friihneuzeitliche Stadt Ziirich Susanne Pohl (University of Michigan) an einer Dissertation. 7 Bi- und Transsexualitat sowie befristeter oder lebenslanglicher Wechsel von Geschlechtsrollen werden hier also bereits als theoretische Moglichkeiten aus der Betrachtung ausgeschlossen. 8 Kritisch nimmt Stellung zu diesem Problem der essentialistischen Faile und der Art, es innerhalb der feministischen Wissenschaft zu disku tieren: Martin, Jane Roland: Methodological Essentialism. False Difference and Other Dangerous Traps, in: Signs 19 (1994), 630--{)57. 9 Diesen Sachverhalt bringen die Medizinethnologinnen Suzanne Kessler und Wendy McKenna auf den Punkt: » Positivistische Vorgehens weisen beruhen somit auf genau denjenigen Typologisierungen, die ver meintlicherweise Gegenstand der Geschlechterforschung sind.« Kessler, Suzanne/McKenna, Wendy: Gender. An Ethnomethodological Approach, New York 1978, 69. 10 Connell, RW.: Masculinities, Cambridge 1995, 43 f. (Ubers. Fr. L.). 11 Den in Analogie zur Frauengeschichte naheliegenden Ausdruck Mannergeschichte vermeide ich, urn dem Mi15verstandnis zuvorzukom men, es handle sich hier urn einen Versuch, die durchaus legitime emanzi patorische, identitatsstiftende Frauengeschichte der sechziger und siebzi ger Jahre nunrnehr auf Manner spiegelbildlich anzuwenden. Diese Zielsetzung verfolgen eher diejenigen Untersuchungen, die gesellschaftli che Idealvorstellungen der Mannlichkeit (z. B. Filmhelden, Werbung, Sozia lisierung), Manner als Opfer patriarchalischer Leistungsnormen (z. B. » hy sterische« Soldaten, impotente Manner) bzw. als Vertreter einer eigenstandigen Subkultur (z. B. homosexuelle Manner) entdecken. 12 Schmitt, Jean-Claude: Die Logik der Gesten im europaischen Mittel alter, Stuttgart 1992 [Paris 1990], 23-25. 13 Vgl. zur diesbeziiglichen geschlechtergeschichtlichen Auswertung von Bildquellen z. B. den Beitrag von Cordula Bischoff in diesem Band. Zum Themenkomplex der Idealvorstellungen von Mirnik und Gestik vgl. aus der neuen Literatur beispielsweise: Bremmer/Roodenburg (1991); Courtine, Jean-Jacques: Histoire du visage. Exprimer et taire ses emotions, XVle - debut XIXe siecle, Marseille 1988; Kapp, Volker (Hg.): Die Sprachen der Zeichen und Bilder. Rhetorik und non-verbale Kommunikation in der friihen Neuzeit, Marburg 1990; Saftien, Volker: Rhetorische Mimik und Ge stik. Konturen epochenspezifischen Verhaltens, in: Archiv fUr Kulturge schichte ( AfK) 77 (1995), 197-216; Trexler, Richard C: Den Riicken beugen. Gebetsgebarden und Geschlechtsgebarden im friihmodernen Europa und Amerika, in: Schreiner, Klaus/Schwerhoff, Gerd (Hg.): VerJetzte Ehre. Ehr konflikte in Gesellschaften des Mittelalter und der friihen Neuzeit, Koln 1995, 235-251. Eine ikonographische Analyse von Spottgebarden spiitmit=
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telalterlicher Passionsbilder nimrnt vor: Schnitzler, Norbert: >>Vnformliche zeichen« und » freche Vngeberden« . Zur Ikonographie der Schande in spat mittelalterlichen Passionsdarstellungen, in: Dulmen, Richard van (Hg.): Korper-Geschichten, Frankfurt/M. 1996, 13-228. Zur Bedeutung von Bild quellen fur die Geschichtswissenschaft (zusammen mit einem kurzen Ab schnitt uber die Erforschung stilisierter Gestiken) vgl. Talkenberger, Heike: Von der lilustration zur Interpretation. Das Bild als historische Quelle. Me thodische Uberlegungen zur Historischen Bildkunde, in: ZHF 21 (1994), 289-313. 14 Hier sind fur den deutssprachigen Bereich insbesondere die Arbei ten Karl-S. Kramers zu nennen, der die Bedeutung des Themas wiederholt unterstrichen hat (vgl. beispielsweise: Kramer, Karl-S.: Volksleben in Hol stein [1550--1800]. Eine Volkskunde aufgrund archivalischer Quellen, Kiel 1990). Meiner Einschatzung nach bleiben jedoch die impressionistischen Fallsarnrnlungen Kramers und anderer Volkskundlerinnen und Volkskund ler deswegen unbefriedigend, weil sie die angefuhrten Faile entweder lediglich deskriptiv erfassen oder ausschlielSlich symbolisch deuten. Kenn zeichnend hierfiir etwa: Raum, Johannes W.: Rechtsethnologie, in: Schwei zer, Thomas/Schweizer, Margarete/Kokot, Waltraud (Hg.): Handbuch der Ethnologie, Berlin 1993, 285--304. 15 Dafur, daIS diese Protokolle auch tatsachlich in einem hohen Grad mit den Aussagen der Befragten ubereinstimmen durften, sprechen nicht so sehr die hohen Strafen, die den Nachgiingern bei fehlerhafter Amtsaus ubung angedroht wurden als vielmehr deren minimalen Korrekturen, die davon zeugen, daIS die Protokollanten Millie auf die moglichst wortgetreue Wiedergabe (in indirekter Rede) verwandten. Dennoch sollten deswegen die Protokolle, die im Unterschied etwa zu den meisten Inquisitionsakten selten einem standardisierten Fragemuster folgten, nicht mit den tatsachli chen Aussagen der Befragten verwechselt werden. 16 Die Auswertung erfolgte im Rahmen eines laufenden Habilitations projekts, das sich mit dem Thema der Gotteslasterung in der Fruhen Neu zeit vor dem Hintergrund von Ehr- und Schlaghandeln beschaftigt. Deswe gen ist nicht auszuschlielSen, daIS die Beispiele uberproportional hiiufig mit religiosen Auseinandersetzungen in Zusamrnenhang stehen. 17 Diese Verhaltensmuster sind angesichts ihres komplexen und nor mierten Charakters durchaus mit einem Ritual, allerdings nicht formaler, sondern informeller Art, zu vergleichen. Zum Konzept der agonalen Kultur vgl. Walz, Rainer: Agonale Kommunikation im Dorf der Fruhen Neuzeit, in: Westfalische Forschungen 42 (1992), 215-251 . Zur Erforschung der (Ehren-)Konflikte zusatzlich: Bartlome, Niklaus: Zur BulSenpraxis in der Landvogtei Willisau im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Historischen Ge sellschaft Luzern 11 (1993), 2-22; Dinges, Martin: Ehrenhiindel als » Kom munikative Gattungen«. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: AfK 75 (1992), 359-393; Ders.: Die Ehre als Thema der historischen Anthro pologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptuali sierung, in: Schreiner/Schwerhoff (1995), 29-62; Ditte, Catherine: La mise en scene dans la plainte. Sa strategie sociale. L'exemple de l'honneur popu laire, in: Droit et culture 19 (1990), 23-48; Faggion, Lucien: Points d'hon neur, poings d'honneur. Violence quotidienne a Geneve au XVIIe siecle, in:
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Revue du Vieux Geneve (1989), 15-25; Garrioch, David: Verbal Insults in Eighteenth-Century Paris, in: Burke, Peter/Porter, Roy (Hg.): Social History of Language, Cambridge 1987, 104-119; Muller-Wirthmann, Bernhard: Raufhandel. Gewalt und Ehre im Dorf, in: Diilmen, Richard van (Hg.): Kul tur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zurn 19. Jahr hundert, Munchen 1983, 79-111, 225-232; Roper, Lyndal: Will and Honor. Sex, Words and Power in Augsburg Criminal Trials, in: Radical History Re view 43 (1989), 45-71. Eine rein »materiellrechtliche Behandlung der Ehr verletzung« nimmt vor: Muller-Burgherr, Thomas: Die Ehrverletzung. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts in der deutschen und ratoromani schen Schweiz von 1252 bis1798, Zurich 1987. 18 Vgl. zusammerJassend zurn Stellenwert der Ehre in der fruhneuzeit lichen GeseIischaft: Diilmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Friihen Neuzeit. Dorf und Stadt 16.-18. Jahrhundert, Bd. 2, Munchen 1992, 194-202. Speziell aus geschlechtsspezifischer Perspektive: Dinges, Martin: Ehre und Geschlecht in der Fruhen Neuzeit, in: Backmann, Sibylle u. a. (Hg.): Ehr konzepte in der Friihen Neuzeit. Identitaten und Abgrenzungen, Berlin 1998, 123-147. l 19 Gleiches stelen fest: Burghartz, Susanna: Leib, Ehre und Gut. Delin quenz in Zurich Ende des 14. Jahrhunderts, Zurich 1990, 127 f.; Dies.: Rech te Jungfrauen oder unverschamte Tiichter. Zur weiblichen Ehre im 16. Jahr hundert, in: Journal Geschichte 1 (1991), 39-45; Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Giittingen 1994, 365-368; Farr, James E: Hands of Honor. Artisans and their World in Dijon, 1550-1650, Ithaca 1988, 163 f., 191; Frank, Michael: DiirfIiche Gesellschaft und Krirninalitat. Das Fallbei spiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995, 335 f.; Roodenburg, Herman: Refor mierte Kirchenzucht und Ehrenhandel. Das Amsterdamer Nachbarschafts leben im 17. Jahrhundert, in: Schilling, Heinz (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im fruhneuzeitlichen Europa (mit einer Auswahlbi bliografie), Berlin 1994, 129-151, hier 143 f.; Rummel, Walter: Verletzung von Kiirper, Ehre und Eigentum. Varianten in Umgang mit Gewalt in Diir fern des 17. Jahrhunderts, in: Blauert, Andreas/Schwerhoff, Gerd (Hg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Krirninalitatsgeschichte des Spatrnittelalters und der Friihen Neuzeit, Frankfurt/M. 1993, 86-114, hier 110; Schmidt, Heimich Richard: Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landge meinden der Fruhen Neuzeit, Stuttgart 1995, 324 f., 326; Schwerhoff, Gerd: Kiiln im Kreuzverhiir. Kriminalitat, Herrschaft und Gesellschaft in einer fruhneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, 325 f.; Walz (1992), 229 f. 20 Vgl. etwa A.27.10, undatiert (Winkelmann contra Michel Hengli); A.27.12, undatiert (Streit zwischen welschen und deutschweizerischen Ge sellen). 21 Eine niihere Erlauterung des Begriffs im Idiotikon fehlt; es verweist lediglich auf ein Zitat der Zurcher Bibel und erwahnt eine Neckformel im Umgang mit Kindem. Vgl. Schweizerisches Idiotikon. Wiirterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 4, Frauenfeld 1896, 270. 22 A.27.19, undatiert. 23 A.92.3, [? ]9.1679. 24 Ahnliche historische Beispiele erwahnen fur Holstein und Lippe:
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Kramer, Karl-S.: Hohnsprake, Wrakworte, Nachsnack und Ungebuhr. Eh renhiindel in holsteinischen Quellen, in: Kieler Bliitter zur Volkskunde 16 (1984), 49-85, hier 56; Frank (1995), 244; Walz (1992), 233. Das Phiinomen der GesiiBweisung ist den Ethnologen ebenfalls bekannt. Vgl. Hirschberg, Walter (Hg.): Neues Wbrterbuch der Vblkerkunde, Berlin 1988, 180. 25 A.27.13, undatiert. 26 A.27.43, 1593 (ohne genauere Datierung). 27 A.27.114, 23.4.1687. 28 Die Interpretation der GesiiBweisung als Abwehrzauber leuchtet zwar in sakralen Zusammenhiingen ein (vgl. hierzu beispielsweise: Kislin ger, Ewald: Anasyrma. Notizen zur Geste des Schamweisens, in: Blaschitz, Gertud u. a. [Hg.]: Symbole des Alltags. Alltag der Symbole, Graz 1992, 377-394), doch scheint mir in einer direkten Konfliktkonstellation die etho logische Deutung der Geste als Spotthandlung und Imponiergehabe, die dem Blockieren einer Aggression dient (vgl. Eibl-Eibesfeldt, lreniius/Sut terlin, Christa: 1m Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte menschlicher Abwehrsymbolik, Miinchen 1992, 239-244; Gatter, Rolf [Hg.]: Verhaltensbiologie, Jena 1993, 117), uberzeugender zu sein. Zur Anwen dung des GesiiBweisens als kalkuliertem Tabubruch zwecks Demutigung des Gegenubers vgl. ferner: Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisati onsprozeB. Obszbnitiit und Gewalt, Bd. 3, Frankfurt/M. 1993, 148-152. 29 Entsprechende Beispiele sind auch fur das Paris des 18. Jahrhunderts bekannt. Vgl. Dinges (1994), 323. 30 A.27.12, undatiert. 31 A.27.45, [? ]2.1596. 32 A.27.108, 21.6.1677. 33 " Fudli« kann sowohl die Vagina als auch den After bezeichnen (vgl. Idiotikon, Bd. 1, Frauenfeld 1881, 682 f.). SaUte die Hartmann mit »Fudli« After gemeint haben, was der verbreiteteren Wortbedeutung entspriiche, hiitte sie mit der Anspielung auf eine widernatUrliche Geburt ihre liisterli chen Worte bewuBt gesteigert. 34 Vgl. etwa das GroBe Mandat in der Formulierung von 1572: III.AAb.1.1., Nr. XXXI, 182 f. 35 A.27.121, 19.2.1699. 36 A.27.111, 16.11 . 1681. Zur Bedeutung des »Herzens« als Sitz der miinnlichen Ehre s. weiter unten. 37 A.27.71, 8.11.1633. 38 E.10.I.5, 3.11.1704. 39 Seine Strategie ging aUerdings nicht auf. Ein Luzerner Ratsherr, der zu den Wirtshausgiisten gehbrte, folgte ihm in die andere Stube und sorgte schlieBlich dafiir, daB der katholische Luzerner Stadtrat ihm eine Geldstrafe auferlegte, woruber Gottfrid sich schlieBlich nach seiner Ruckkehr aus dem Luzerner Gebiet beim Zurcher Rat beschwerte. 40 A.27.11, undatiert. 41 A.27.12, undatiert. 42 Vgl. Immelmann, Klaus: Einfuhrung in die Verhaltensforschung, 3. Aufl., Berlin 1983, 190. 43 Vgl. den Hinweis Peter Burkes, der die Geste als Kastrationssymbol deutet, in: Burke, Peter: Beleidigung und Gottesliisterung im frUhneuzeitli-
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chen Italien, in: Ders.: Stadtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissan ce und Barock. Eine historische Anthropologie, Berlin 1986, 96--1 10,205 f., hier 99. 44 Die eine stammt aus der Zeit urn 1530 und berichtet von einer hand greiflichen Auseinandersetzung zwischen welschen und deutschschweize rischen Gesellen in der Stadt Zurich (A.27.12, undatiert). Die andere betrifft eine Schlagerei, die 1656 zwischen Pfarrer Conrad Wirtz und Doctor Caro lus Francescus Petronius ausbrach: Ais Pfarrer Wirtz, so seine Darstellung, den Petronius aufgefordert habe, seine Schulden bei ihm zu begleichen, habe dieser die Forderung abgelehnt und » Italienische b6Blin« - offensicht lich war ein als provozierend empfundenes Herumfuchteln mit den Han den gemeint - wie auch » welsche Ceremonien [ . . j. in Dummennagel beyBen« gebraucht, so daB sich Wirtz gezwungen gesehen habe, mit der Faust zuzuschlagen (E.I.10.4, 19.7.1656). 45 Vgl. hierfiir als Beispiele: A.27.12, undatiert (Jacob Fugli contra Uli Kuoster); A.27.108, 14.5.1677; A.27.111, 8.11.1681; A.27.113, 2.6.1684; A.27.134, 9.11.1721. 46 Zur Bedeutung von » Gewehr« als Gesamtbezeichnung fur Waffen vgl. Idiotikon, Bd. 3, Frauenfeld, 1895, 1435. Wie verbreitet die Verwendung von Stichwaffen war, zeigt Muchembleds Berechnung, derzufolge im Ar tois von 1338 bis 1660 bei 3198 Totschlagsfallen 61 % der Opfer durch Mes ser, Degen, Schwerter etc. verwundet worden waren, wohingegen in der Zeit von 1600 bis 1660 die Rate der durch eine SchuBwunde Umgekomme nen bei 10 % lag. Vgl. Muchembled, Robert: La violence au village. Sociabi lite et comportements populaires en Artois du XVe au XVIIe siecie, Toum hout 1989, 19, 33, 35. 47 A.27.11, undatiert. 48 A.27.57, 8.7.1611. 49 Ebd. 50 Zur Bedeutung des Hausfriedens in der Fruhen Neuzeit vgl. Heidrich, Hermann: Das Haus und die Volkskultur in der friihen Neuzeit, in: Dulmen (1983), 17-41. 51 Auch Burghartz und Schwerhoff stellen fest, daB die Zahl der Tot schlage im Verhaltnis zu den Gewaltkonflikten relativ niedrig lag. Vgl. Burghartz (1990), 152; Schwerhoff (1991), 293. Dinges unterstreicht die fur Manner kennzeichnende Differenz zwischen angekundigten Gewalttaten und ausgefiihrten Handgreiflichkeiten, die der Drohung einen besonders rituellen Charakter verlieh, und bezeichnet dieses mannliche Verhalten als » Drohbarock«. Vgl. Dinges (1994), 339, 368-372. 52 A.27.61, 16.4.1616. 53 A.27.19, undatiert. 54 Auch Muchembled weist fur das Artois des 14. bis 17. Jahrhunderts darauf hin, daB Totschlager mit dem Einsatz ihrer scharfen Waffen eher eine Erniedrigung denn eine Vernichtung des Gegners intendierten. Vgl. Muchembled (1989), 37. Auf das Messerzucken als Drohgebarde macht ebenso aufmerksam: Schuster, Peter: Der gelobte Frieden. Tater, Opfer und Herrschaft im spatrnittelalterlichen Konstanz, Konstanz 1995, 104-106. 55 Dies gilt ebenfalls fur die Stadt Zurich im ausgehenden 14. Jahrhun dert. Vgl. Burghartz (1990), 126, 142, 146 f. Nur in absoluten Ausnahmefal.
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len sind Hinweise auf » mannliche« Frauen uberliefert, die Manner quasi zum Duell aus dem Haus forderten oder sie in der Offentlichkeit uberfielen und ihnen dabei an die Genitalien griffen. Vgl. hierzu ebd., 146; Schmidt (1995), 322. 56 Nur bei Schlagereien unter Familienrnitgliedern wird davon berich tet, daiS Elternteile und Kinder beiderlei Geschlechts einander mit herum liegenden Stocken schlagen. Ein typisches Beispiel hierfur ist zu finden un ter A.27.134, 28.12.1722. 57 E.1.10.5; 5.2.1674. 58 E.1.10.5, [? ? ]1664. 59 A.27.111, undatierte Zusammenfassung der vom 4. bis 16. November 1681 gefiihrten Verhore. 60 Wenngleich diese Geste in Zusammenhang mit der rituellen For menstrenge vor den Instanzen des friihneuzeitlichen Gerichts gesehen wer den muiS, so ist nicht auszuschlieiSen, daB Bramer sich der aufgrund ihrer Ritualisierung wohl kalkulierbaren Effekte seiner Handbewegung gezielt bedient hat. 61 So auch bereits im 14. Jahrhundert. Vgl. Burghartz (1990), 147. 62 Vgl. A. 27.19, undatiert. 63 A.27.57, 8.7.161l. 64 A.27.23, 20.3.1560. 65 Vgl. Dinges (1994), 339; Walz (1992), 224. 66 Vgl. z. B. A.27.67, 8.7.1611. Dort ist von einem soJchen Schlag Hans Vogels gegen Jacob Waber die Rede. 67 A.27.51, 20.6.1605. 68 Vgl. Idiotikon, Bd. 3, 1549. 69 A.27.71, 13.5.1632. 70 A.27.57, 22.6.1612. 71 Vgl. Idiotikon, Bd. 9, Frauenfeld 1929, 56l. 72 Vgl. Idiotikon, Bd. 3, 859. 73 A.27.57, 8.7.161l. 74 Ahnliche faile fUhren an: Dinges (1994), 323 f.; Muchembled (1989), 168, 175-183; Schwerhoff (1991), 318. 75 A.27.21, undatiert (ca. 1556). 76 Vgl. Dinges (1994), 339. 77 Dies entsprache dem Verstandnis vom Bart als Zeichen der Mann lichkeit. Vgl. Handworterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. l, Berlin 1927, 929-93l. 78 Das Problem der Gewalt auch als Form korpersprachlicher Aus drucksweisen zwischen den Geschlechtern bzw. in der friihneuzeitlichen Ehe ware ein Thema fUr sich, das aufgrund der weit uber Zurich hinaus erhaltenen Ehegerichtsakten zu erforschen bliebe. Zur Auswertung der Sit ten- bzw. Chorgerichtsakten von Berner Landgemeinden vgl. Schmidt (1995). 79 A.27.113, 16.12.169. 80 Vgl. zu diesem Thema den Beitrag Heinrich Richard Schmidts in die sem Band. 81 A.27.57, 8.7.1611. 82 Die Gewaltbereitschaft von Frauen heben fur Paris auch Arlette Far-
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ge und Dinges hervor: vgl. Dinges, Martin: » Weiblichkeit« in » Miinnlich keitsritualen« ? Zu weiblichen Taktiken im Ehrenhandel in Paris im 18. Jahr hundert, in: Francia 19 (1992), 71-98, hier 85, 90--92; Ders. (1994), 335, 337, 344-346; Farge, Arlette: Frauen in der Stadt. Paris im 18. Jahrhundert. Be ziehungen zwischen der mannlichen und der weiblichen Welt, in: L'Hom me 7 (1996), 18--27. Peter Schuster hingegen unterstreicht die Bedeutung des Wortes als Waffe der Konstanzer Frauen. Vgl. Schuster (1995), 88 f. 83 Vgl. Burghartz (1990), 147; Dinges (1994), 341-343; Walz (1992), 224, 232, 239, 241. 84 Vgl. Dinges (1994), 343; Farr (1988), 193. 85 So drohte Heig damit, dem Pfarrer die » Hoden aushauen« zu wollen (vgl. A.27.11, undatiert). Der Stubenknecht des Zurcher Gesellenhaus Hans Hardwiger griff urn 1556 eine sexuelle Anspielung Jacob Ochsners gegen uber seiner Frau auf, um sich provokativ zu dessen sexueller Potenz zu auBern (vgl. A.27.21, undatiert). 86 Vgl. beispielsweise E.I.10.3 die Auseinandersetzung zwischen Leuf fer und Hans Schab nach der Aussage Schabs yom 19.4.1642. 87 Vgl. zum Griff des Mannes an die Bruste der Frau vor dem Hinter grund kiirperlicher Tabuzonen: Duerr (1993), 343-353. 88 Vgl. beispielsweise A.27.10, undatiert (Wolfgang Rader contra Wen deli); 27.57, 8.7.1611; A. 26.9, 2.3.1646. 89 Sornit lieBe sich die Deutung des Herzens als Sitz der Lebenskraft und der Seele (vgl. Handwiirterbuch Aberglaube [1930/31], Bd. 3, 1797-1800) fUr Zurich geschlechtsspezifisch differenzieren. 90 A.27.23, 20.3.1560. 91 Dies steht allerdings im Gegensatz zu Sexuadelikten, in denen zu meist die Defloration und damit die Vagina als Sitz weiblicher Ehre im Mit telpunkt der Ermittlungen stand. Vgl. Dinges (1998). 92 Einen solchen Unterschied in der Konstruktion des Mann- bzw. Frau-Seins arbeitet anhand der rabbinischen Literatur heraus: Satlow, Mi chael L.: » Try to be a Man« . The Rabbinic Construction of Masculinity, in: Harvard Theological Review 89 (1996), 19-40. 93 Zu einer jungeren medizinsoziologischen Untersuchung zum Zu sammenhang von Testosteronwerten, sozialem Integrationsgrad und De vianz bei Mannern, die zu einer starken Relativierung der Vorstellung von der >>TIatiirlichen« mannlichen Aggressivitat gelangt, vgl. Booth, Alan/Os good, Wyne D.: The Influence of Testosterone on Deviance in Adulthood. Assessing and Explaining the Relationship, in: Criminology 31 (1993), 93--1 17.
Autorinnen und Autoren
PATRICK BARBIER, Dr. phiL, Professor fur Musik- und Theaterwissenschaft an der Universite Catholique de l'Ouest in Angers, Frankreich, Mitglied der Academie de Bretagne et des Pays de la Loire. Veroffentlichungen u. n.: Hi stoire des Castrats, Paris 1989; Farinelli Ie castrat des Lurnieres, Paris 1994 (deutsch: Farinelli: Der Kastrat der Kbnige: Die Biographie, Dusseldorf 1995). CORDULA BISCHOFF, Dr. phil., Kunsthistorikerin,
Wissenschaftliche Assisten tin am Fachbereich III Kunstgeschichte der Universitat Trier. Veroffentlichun gen u. n . : Strategien barocker Bildpropaganda. Aneignung und Yerfremdung der heiligen Elisabeth von Thuringen, Marburg 1989; Mitherausgeberin von: Ferninistische Bibliographie zur Frauenforschung in der Kunstgeschichte, Pfaffenweiler 1993; Herausgeberin von: Frauenbilder - Stadtbilder. Kunst historische Spurensuche in Trier, Trier 1995. DINGES, Dr. phiL, Archivar und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fur Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Veroffentlichungen u. n.: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Gbttingen 1994; Soldatenkbrper in der Friihen Neuzeit. Erfahrungen mit einern unzurei chend geschutzten, forrnierten und verletzten Kbrper in Selbstzeugnissen, in: R. van Diilmen (Hg.): Kbrpergeschichten, Frankfurt/M. 1996, S. 71-98; » Historische Anthropologie« und »Gesellschaftsgeschichte«: Mit dem Le bensstilkonzept zu einer »Alltagskulturgeschichte« der Friihen Neuzeit?, in: Zeitschrift fiir Historische Forschung 24 (1997), S. 179-214; Schmerzer fahrung und Mannlichkeit. Der russische Gutsbesitzer und Offizier Andrej Bolotow (1738-1795), in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 15 (1997), S. 55--78; Mitherausgeber von: Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stutt gart 1995; Herausgeber von: Weltgeschichte der Hombopathie. Lander Schulen - Heilkundige, Miinchen 1996; Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870 ca. 1933), Stuttgart 1996; MARTIN
-
RENATE DORR, Dr. phiL, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungspro jekt »Yergleichende Sozialbiographien katholischer und protestantischer Seelsorgegeistlicher in der Friihen Neuzeit« an der Universitat Potsdam; Lehrbeauftragte fiir Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universitat Stuttgart. Veroffentlichungen u. a . : Magde in der Stadt. Das Beispiel Schwa bisch Hall in der Friihen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995; Yon der Ausbildung zur Bildung: Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter in der Friihen Neu-
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Autorinnen und Autoren
zeit, in: Geschichte der Madchen- und Frauenbildung in Deutschland (12.20. Jahrhundert), hg. v. Elke Kleinau/Claudia Opitz, Bd. I., FrankfurtiM. 1996, S. 189-206; » Der Dienstbothe ist kein Tagelohner. . . - zum Gesinde recht (16.-19. Jahrhundert), in: Frauenrechtsgeschichte, hg. v. Ute Gerhard, Miinchen 1997, S. 115-139; Die Note der Hagar und die Ordnung des Hau ses, in: Neue Blicke. Studienbuch Historische Anthropologie, hg. v. Richard van DUlmen, Koln 1997, S. 131-154. «
Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl fUr Geschichte der Fruhen Neuzeit an der Ruhr-Universitat Bochum. Verolfent lichungen u. a.: Dorfliche Gesellschaft und Krirninalitat. Das Fallbeispiel Lip pe 1650-1800, Paderborn u. a. 1995; Die fehlende Geduld Hiobs. Suizid und Gesellschaft in der Grafschaft Lippe (1600-1800), in: Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und fruhneuzeitlichen Gesellschaften, hg. v. Gabriela Signori, Tubingen 1994, S. 152-188. MICHAEL FRANK,
Dr. phil., Professor am Historischen Seminar der Universitat Hamburg. Verolfentlichungen u. a.: zahlreiche Aufsatze und Quellenstudien zur » Sodomiterverfolgung« im Mittelalter; Herausgeber von: Randgruppen der spatrnittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf 1990; KrotenfulS und schwarzer Kater. Ketzerei, Gotzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts, Warendorf 1996. BERND-ULRICH HERGEMOLLER,
FRANCISCA LOETZ, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Institut fur So zial- und Wirtschaftsgeschichte der Universitat Heidelberg. Verolfentlichun gen u. a.: Histoire des mentalites und Medizingeschichte. Wege zu einer So zialgeschichte der Medizin, in: Medizinhistorisches Journal 27 (1992), S. 272-291; Vom Kranken zum Patienten. » Medikalisierung« und medizini sche Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750-1850, Stuttgart 1993.
Dr. phil., Privatdozent und Oberassistent fur Neuere Geschichte an der Universitat Bern. Veroffentlichungen u. a.: Reichs stadte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521-1529/30, Stuttgart 1986; Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, Munchen 1992; Dorf und Religion. Reforrnierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Fruhen Neuzeit, Stuttgart 1995; Gemeinde und Sittenzucht im protestanti schen Europa der Fruhen Neuzeit, in: P. Blickle/E. Muller-Luckner (Hg.): Theorien kommunaler Ordnung in Europa, Munchen 1996, S. 181-214; Mo rals courts in rural Berne during the early modern period, in: K. Maag (Hg.): The Reformation in Eastern and Central Europe, Aldershot 1997, S. 155-181; Sozialdisziplinierung? Ein Pladoyer fUr das Ende des Etatismus in der deut schen Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265/1 (1998); Absolutismus und Aufklarung, in: Chronik des Christentums, Gu tersloh 1997, S. 272-320. HEINRICH RICHARD SCHMIDT,
GERD SCHWERHOFF, Dr. phil., Privatdozent an der Fakultat fUr Geschichts wissenschaft und Philosophie der Universitat Bielefeld. Verolfentlichungen u. a . : Koln im Kreuzverhor. Kriminalitat, Herrschaft und Gesellschaft in ei-