Heller Klang der Glocken Mary Lynn Baxter
Julia Weihnachten
1/1 1993
gescannt von suzi_kay korrigiert von Spacey74
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Heller Klang der Glocken Mary Lynn Baxter
Julia Weihnachten
1/1 1993
gescannt von suzi_kay korrigiert von Spacey74
1.KAPITEL Lacy Madison lächelte zufrieden, als sie die Bücherstapel auf dem Ladentisch musterte. Ihre Idee, zusätzlich zum Verkauf der Bücher eine kleine Leihbibliothek einzurichten, erwies sich als Glückstreffer. Seitdem stieg auch der Umsatz ihres Geschäftes täglich. Das war kurz vor Weihnachten besonders erfreulich. Lacy summte ein Weihnachtslied vor sich hin und griff nach dem obersten Buch des ersten Stapels. Es war ein preisgekröntes Sachbuch, das sie selber noch lesen wollte. Sie gönnte sich einen Moment Zeit und blätterte es gedankenverloren durch. Dabei stieß sie auf den Briefumschlag. Lacy runzelte die Stirn und betrachtete ihn genauer. Es handelte sich um einen Eilbrief, der geöffnet war, aber die Anschrift fehlte. Sie prüfte den Inhalt. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier rutschte ihr durch die Finger und fiel zu Boden. "Hoppla." Lacy bückte sich, hob das rosafarbene Papier auf und warf einen flüchtigen Blick darauf. Unwillkürlich errötete sie, denn es handelte sich um einen intimen Brief an einen ihrer Kunden. Lacy hatte den geheimnisvollen Boothe Larson noch nicht kennengelernt, im Gegensatz zu Sue, die ihr stundenweise im Geschäft aushalf. Sue bezeichnete Boothe Larson als sehr gutaussehend, aber wortkarg und verschlossen.
Lacy konnte es verstehen, wenn jemand Wert auf Verschwiegenheit legte. Seit zwei Jahren versuchte sie, Abstand zu ihrer schme rzlichen Vergangenheit zu gewinnen. Damals, als sie den jungen dynamischen Angestellten mit den blendenden Aufstiegschancen heiratete, obwohl sie ihn erst kurz kannte, hatte sie geglaubt, daß sie ihre Träume so verwirklichen könnte. Sie hatte sich nach einer Abwechslung, einer neuen Herausforderung gesehnt. Nach vierjährigem Collegebesuch arbeitete sie als Sekretärin in einer großen Firma, obwohl ihr der Job keinen Spaß machte. Lacy war künstlerisch begabt und hätte ihr Talent gern beruflich genutzt, aber ihre Eltern waren dagegen. Bevor sie viel zu zeitig bei einem Autounfall ums Leben kamen, drängten sie ihre Tochter, eine solide, gutbezahlte Arbeit anzunehmen. Nur so ließ sich ihrer Ansicht nach das Leben meistern. Lacy sah in Heiraten die erhoffte Herausforderung. Zuerst war sie glücklich, doch als ihr Ehemann die erwartete Beförderung nicht erhielt, begann er zu trinken. Das veränderte ihn, und sein Verhalten Lacy und der gemeinsamen Tochter gegenüber wurde bald unerträglich. Für Lacy gab es nur den Ausweg, die Stadt zu verlassen und woanders ein neues Leben zu beginnen. Das Angebot einer alten Freundin ihrer Mutter, mit der sie noch Kontakt hatte, kam gerade zum richtigen Zeitpunkt. Die Frau suchte eine Geschäftsführerin für ihren Buchladen und wollte ihn eventuell sogar verkaufen. Lacy griff, ohne zu zögern, zu. Sie hatte die Entscheidung nie bereut. Camden in Arkansas lag mitten in einem beliebten ländlichen Urlaubsgebiet am Fuße des Ozark Gebirges. Die Landschaft war von malerischer Schönheit, gewaltige Tannen und Laubbäume säumten glasklare Flüsse, in denen sich Barsche und Forellen tummelten. Es war ein Paradies für Angler, die hier mit ihren Familien die Ferien verbrachten, und die Einheimischen verdienten daran.
Nachdem Lacy sich eingelebt hatte, begann sie, ihr künstlerisches Talent zu entfalten. Sie lernte, mit Glas zu arbeiten, und fertigte entzückende kleine Tiffany- Lampen an. Dabei entwickelte sie einen eigenen Stil, ihre Lampen waren bald unverwechselbar. Nun war Lacy fest entschlossen, sie zu verkaufen. Wenn ihr das gelang und sie genügend Geld verdiente, wollte sie Eigentümerin des Buchladens werden. Aber jetzt kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und blickte sich mit wachsendem Stolz um. Die Einrichtung des Ladens wirkte nostalgisch und gleichzeitig originell. Die Möbel und Holzregale waren ausschließlich Antiquitäten. Ihre Lampen paßten hervorragend dazu und kamen so erst recht zur Geltung. Ob sie ihr Ziel erreichen würde? "Mami!" Die Stimme ihrer Tochter riß Lacy aus ihren Träumen. Sie bemerkte, daß sie den Briefumschlag immer noch in der Hand hielt, und steckte ihn schnell in die Rocktasche. "Hier bin ich, Liebling." Obwohl Lacy bereits vor ein paar Stunden aufgestanden war, hatte sie Joni schlafen lassen, denn ihre Wohnung lag direkt über dem Laden. Jetzt schaute sie auf die Armbanduhr, es war kurz vor neun. Die Öffnungszeit für den Laden war zehn Uhr. Sie mußte sich beeilen, wenn sie vorher noch alle Bücher wegräumen wollte. Joni hüpfte um die Ecke. Sie trug den roten Jogginganzug, den Lacy ihr zurechtgelegt hatte. Auf das Oberteil war ein Weihnachtsmann appliziert. Lacy breitete lächelnd die Arme aus. "Hallo, mein Schätzchen." Joni rannte zu ihr, warf ihr die Arme um den Hals und drückte sie fest. Lacy erwiderte die Liebkosung zärtlich. "Hast du gut geschlafen?" "Hmm", antwortete Joni und fing an zu zappeln.
"Wie wär's mit Cornflakes?" Lacy strich ihr über die zerzausten Locken. Joni fand Kämmen überflüssig. "Kann ich einen Keks haben?" "Auf keinen Fall, junge Dame. Hast du dir die Zähne geputzt?" "Hmm." "Gut." "Kann ich später einen Keks haben?" Lacy gab Joni einen Nasenstüber. "Abwarten." Ihre vierjährige Tochter war ein lebhaftes, frühreifes Kind, das die Geduld der Mutter ständig auf die Probe stellte. Aber Lacy stellte sich der Herausfo rderung gern. Sie wollte Joni zu einem verantwortungsbewußten und kreativen Mitmenschen erziehen. Diese Aufgabe war nicht leicht und kostete viel Energie. Manchmal lag Lacy nachts wach und zweifelte an ihrem Erziehungskonzept. Wenn ich doch bloß jemanden hätte, mit dem ich die Verantwortung für Joni teilen könnte, dachte sie dann, einen Mann, der uns liebt und sich nach unserer Liebe sehnt. Doch den gab es nicht - soviel stand fest. Joni zerrte an Lacys Hand und beanspruchte ihre Aufmerksamkeit. "Wann kommt der Weihnachtsmann?" "In drei Wochen, Darling", antwortete Lacy fast automatisch. Joni hatte diese Frage schon tausendmal gestellt, seit die ersten Schaufenster weihnachtlich dekoriert waren. "Ich hab' vom Weihnachtsmann geträumt, Mami." "Das mußt du mir gleich erzählen", meinte Lacy, nahm ihre Tochter an der Hand und eilte mit ihr zur Treppe, die vom Laden in die Wohnräume führte. Die Verbindung von Laden und Wohnung war für Lacy ideal. Dadurch konnte sie Joni größtenteils selbst beaufsichtigen. Sie hatte die Zimmer teils mit Korbmöbeln, teils mit Antiquitäten eingerichtet. Eine Fülle von Blumen, zwei reichverzierte
Deckenlampen, Kunstdrucke und farbenfrohe Kissen trugen zur gemütlichen Atmosphäre bei. "Jetzt erzähl mir von deinem Traum", forderte Lacy ihre Tochter auf, als sie sich am Küchentisch gegenübersaßen. Joni hatte die Cornflakes im Handumdrehen aufgegessen, legte den Löffel hin und flüsterte bedeutungsvoll: "Ich hab' geträumt, daß der Weihnachtsmann durch den Schornstein gekommen ist." "Wie schön", sagte Lacy mit ernster Stimme, "aber ist das alles?" Joni kicherte. "Nein. Er hat sich den Hintern verbrannt." "Joni!" Lacy schickte ein Stoßgebet zum Himmel. "Wie kommst du denn darauf?" Das Kind setzte eine unschuldige Miene auf. Gleichzeitig erklangen Schritte auf der Treppe. Lacy runzelte die Stirn. "Bist du das, Sue?" "Niemand sonst", verkündete Sue Petty gutgelaunt. Lacy atmete tief durch und lehnte sich erleichtert zurück. "Und ich dachte schon, ich hätte die Ladentür in Gedanken geöffnet. Zuzutrauen wär's mir." "Hallo, Sue", mischte Joni sich ein. "Selber hallo, kleiner Schelm." "Weißt du was? Ich hab' geträumt, daß der Weihnachtsmann durch den Schornstein gekommen ist und sich den Hintern verbrannt hat." Sue blinzelte einen Moment entgeistert. Offensichtlich mußte sie erst verdauen, was sie da gehört hatte. Dann lachte sie lauthals los. Lacy machte eine hilflose Geste. "Was soll ich sagen?" "Nichts", meinte Sue trocken. "Ich weiß, wie dir zumute ist. Ich hab' auch so einen Naseweis daheim." Lacy dankte ihrem Schicksal täglich aufs neue - für Sue. Die mollige dunkelhaarige und dunkeläugige junge Frau war nicht nur die geborene Verkäuferin, sondern außerdem eine gute
Freundin geworden. An Lacys erstem Geschäftstag war Sue gekommen und hatte gefragt, ob sie eventuell eine Aushilfe brauche. Lacy hatte sie spontan eingestellt und diese Entscheidung nie bereut. Sues Tochter war nur ein Jahr älter als Joni, und wenn Lacy einen Babysitter brauchte, nahm Sue Joni mit zu sich nach Hause. "Möchtest du Kaffee?" fragte Lacy. "Nein, ich gehe am besten gleich den Laden öffnen." "Setz dich doch", beharrte Lacy. "Wir haben noch Zeit." Sue fügte sich lächelnd, und Lacy reichte ihr eine Tasse Kaffee. "Kann ich dich heute vormittag eine Weile alleine lassen?" "Kein Problem." "Ich muß Joni unbedingt ein Paar Schuhe kaufen." Joni klatschte begeistert in die Hände. "Oh, super. Vielleicht treffen wir den Weihnachtsmann." "Vielleicht", sagte Lacy und stellte Jonis benutztes Geschirr in die Spüle. "Hol die Bürste, damit wir dein Haar in Ordnung bringen können." Joni war schon unterwegs. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. "Mami, Papi wird Weihnachten nicht bei uns sein, oder?" fragte sie ernst. Lacy hörte, wie Sue den Atem anhielt, während ihr Herz einen Schlag aussetzte. "Das stimmt, Schätzchen", erklärte sie rauh, "und das weißt du genau." Joni ließ den Kopf hängen. Doch dann fiel ihr etwas Neues ein, und sie wandte sich hoffnungsvoll an Sue. "Darf Melody Weihnachten zu mir kommen und ihr Geschenk abholen?" "Natürlich darf sie das", versicherte Sue, "und dann kommst du zu uns und holst dir dein Geschenk ab." Jonis Miene hellte sich auf. Lacy schluckte. "Das klingt nach Spaß." Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. "Aber jetzt beeil dich."
"Sie ist ziemlich durcheinander", meinte Sue, als Joni verschwunden war. Lacy seufzte. "Mehr, als du dir vorstellen kannst." "Sie vermißt ihren Vater." "Ja." "Gibt es eine Chance, daß ihr wieder zusammenkommt...?" "Nein." Lacys Augen füllten sich mit Tränen. Sie schwiegen. Dann räusperte sich Sue umständlich. "Du hast nie etwas erzählt, und ich habe dich nie gefragt. Aber als Freundin, die um euch beide ehrlich besorgt ist, wüßte ich gern, was mit deinem Exmann passiert ist." Lacy umklammerte den Rand der Spüle und kämpfte gegen ihr Zittern an. "Vergiß die Frage." "Nein, es ist okay. Ich... möchte, daß du Bescheid weißt. Nach einer langen schmutzigen Scheidung wollte ich uns gerade ein neues Leben aufbauen, als mein Exmann Joni kidnappte und sie aus dem Staat herausbrachte. Joni war zwei Jahre alt." "Wie schrecklich!" Sue war tief betroffen. "Wie du dir vorstellen kannst, bin ich vor Angst fast verrückt geworden." "Was hast du getan?" "Mit meinen Ersparnissen engagierte ich einen Privatdetektiv. Er fand die beiden schließlich. Jonis Vater wurde sofort verhaftet und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt." Lacys Stimme war kaum noch hörbar. "So schnell es ging, verließ ich die Stadt und kam hierher." Sie wich Sues prüfendem Blick aus. "Den Rest kennst du." Sue wollte noch etwas dazu sagen, zögerte dann aber. Statt dessen nippte sie an ihrem Kaffee und meinte nach einer Weile: "Nicht alle Männer sind wie dein Exmann." Lacy holte tief Luft, entschlossen, die Stimmung zu verbessern. "Wahrscheinlich nicht, ich bin nur zu feige, um einen neuen Versuch zu wagen."
Sue schmunzelte. "Du weißt: Arbeit ohne Vergnügen schadet Körper, Geist und Seele." "Das muß ich in Kauf nehmen." "Pah. Du bist jung und attraktiv. Billy möchte, daß du mit einem seiner Arbeitskollegen ausgehst." "Sag deinem Göttergatten vielen Dank, aber ich habe keinen Bedarf." "Ich gebe zu, daß der Betreffende nicht wie Boothe Larson aussieht", Sue überging Lacys Einspruch, "aber übel ist er nicht." Lacy griff unwillkürlich in die Brieftasche. Sie durfte nicht vergessen, den Brief zurückzuschicken. "Da wir gerade von unserem neuen Kunden sprechen, wie oft war er schon im Laden?" "Soviel ich weiß, zweimal." "Ich kann mir nicht vorstellen, warum er überhaupt gekommen ist." Sue schürzte die Lippen. "Aus Einsamkeit, schätze ich. Man munkelt, daß er Feuerwehrmann und in der Waldbrandbekämpfung tätig war. Jetzt lebt er aus irgendeinem Grund wie ein Einsiedler und haßt die Menschen." Sue schnitt eine Grimasse. "Das kann ich bestätigen. Als.ich sein Buch in die Liste eintrug, sah er mir mit einem grimmigen Gesichtsausdruck zu, der an einen alten Bären mit verletzter Pranke erinnerte." Lacy lachte vergnügt. "Schade, daß ich das verpaßt habe." "Ist das dein Ernst?" Sue verdrehte die Augen. "Mami, was ist denn so lustig?" Joni stand im Türrahmen. "Nichts Besonderes, Schätzchen." Lacy riß sich zusammen. "Das war ein Erwachsenengespräch." Eine halbe Stunde später wollte Lacy gerade ihr Auto anlassen, als ihr einfiel, daß der Brief immer noch in ihrer Rocktasche steckte. "Verdammt", murmelte sie ärgerlich.
Joni hielt entrüstet die Luft an. "Aber Mami, das ist ein böses Wort. Das sagt man doch nicht." "Du hast recht. Es tut mir leid." "Ich will jetzt den Weihnachtsmann suchen." Lacy ignorierte ihre ungeduldige Tochter und überlegte nervös. Für die Post war es jetzt reichlich spät. Warum sollte sie den Brief nicht persönlich vorbeibringen? Es war schließlich nichts dabei, und außerdem bot sich der herrliche Morgen für eine kleine Spazierfahrt an. Joni rüttelte an der Rücklehne. "Fahr los, Mami." Lacy drehte den Zündschlüssel um. Und außerdem war sie einfach neugierig.
2. KAPITEL Spike blickte seinen Herrn auffordernd an und wedelte aufgeregt. "Ich weiß Bescheid, Junge", sagte Boothe Larson, "du hast Hunger. Aber du mußt dich gedulden, bis ic h fertig bin." Spike winselte und rutschte ein Stückchen näher. Boothe ließ sich von dem Neufundländer nicht beeindrucken und hackte weiter Holz. Trotz des Morgenfrostes hatte er den Oberkörper entblößt, schwitzte und war dreckig. Und er war allein. Aber das machte ihm nichts aus, im Gegenteil. Er unterbrach die Arbeit für einen Moment, stützte sich auf die Axt und sah sich um. Er war am liebsten draußen in der freien Natur, das Stadtleben paßte nicht zu ihm. Außerdem hatte er beschlossen, sich von der Menschheit zurückzuziehen. Er haßte die Hektik und das Gedränge in den großen Städten. Dieses abgelegene Holzhaus war sein Zufluchtsort. Hier störte ihn niemand. Boothe wußte, daß die Einheimischen ihn für einen komischen Kauz hielten. Doch das war ihm egal, solange sie ihn in seiner Wut und Verzweiflung allein ließen. War erst ein Jahr vergangen, seit sein bester Freund bei einem Waldbrand ums Leben gekommen war und er selbst folgenschwer verletzt wurde? Bis heute humpelte er, ganz zu schweigen von den Narben auf seiner Seele. Boothe wußte, daß er gealtert war. Er fürchtete sich davor, morgens in den Spiegel
zu blicken. Obwohl erst fünfunddreißig, fühlte er sich um zehn Jahre älter. Aber genaugenommen war er nie jung und unbeschwert gewesen. Er hatte eine lieblose, von Gewalt geprägte Kindheit hinter sich und war so zwangsläufig zum Einzelgänger geworden. Das war seine Überlebensstrategie. Boothe wußte nicht, wo seine Mutter heute lebte, und was noch schlimmer war, er kannte nicht einmal seinen Vater. Als er den Beruf des Feuerwehrmannes wählte, hatte er geglaubt, daß das seine Bestimmung im Leben wäre. Dann passierte die Tragödie: Ein brennender Baum geriet außer Kontrolle. Obwohl Boothe versuchte, seinen Freund und Partner zu retten, war er nicht schnell genug gewesen. Der Baum fiel auf sie beide. Boothe erlitt einen komplizierten Splitterbruch am Bein, sein Freund war auf der Stelle tot. Boothe mußte mehrere Monate im Krankenhaus verbringen. In dieser Zeit entschied seine Verlobte, daß sie keinen Krüppel heiraten wollte, der vielleicht arbeitsunfähig blieb und nicht in der Lage sein würde, ihr ein komfortables Leben zu bieten. Zornig und enttäuscht hatte Boothe die Koffer gepackt und war in sein Holzhaus in den Bergen geflüchtet. Spike klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Boothe riß sich von der schmerzlichen Vergangenheit los und hob die Axt. "Ich bin gleich soweit, dann kriegst du dein Futter." Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, als er sich bückte und nach dem nächsten Stück Holz griff. Bevor er sich aufgerichtet hatte, hörte er eine Autotür zuschlagen. Was zum Teufel sollte das bedeuten? Boothe fluchte und drehte sich unwillig um. Er wollte keinen Besuch. Der Störenfried war ein kleines Mädchen mit wunderschönen braunen Locken, das die Hand einer ebenso attraktiven rothaarigen Frau mit makellosem Teint und riesigen blauen Augen hielt.
"Verdammt", murmelte er und atmete tief durch. Frauen interessierten ihn nicht mehr, egal was für magische Augen sie hatten. Schweigend lehnte er sich auf die Axt und wartete ab. Lacy spürte instinktiv die Abwehrhaltung des Mannes. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Sie hatte wieder einmal zu impulsiv gehandelt, und das war jetzt der Preis. Trotzdem umklammerte sie Jonis Hand und ging auf den Mann zu. "Mami, das tut weh", jammerte Joni und versuchte, ihre Hand zu befreien. Lacy lockerte ihren Griff, ließ aber nicht los. Sie hatte den riesigen schwarzen Hund entdeckt, der sprungbereit neben seinem Herrn stand. "Siehst du das Hundchen, Mami?" "Ja, ich seh' es", sagte Lacy und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Boothe Larson. In sicherer Entfernung blieben sie stehen. Lacy merkte, wie sein Gesichtsausdruck sich verhärtete und seine Augen sich verengten. Die offen zur Schau getragene Feindseligkeit hielt sie jedoch nicht davon ab, ihn eingehend zu mustern. Es stimmt, Boothe Larson sieht umwerfend gut aus, registrierte sie überrascht, wie ein Hollywood-Filmstar. Sue hatte das zwar erwähnt, aber Schönheit war ein relativer Begriff. Lacys Erwartungen wurden jedenfalls bei weitem übertroffen. Dennoch wirkten seine hohen Wangenknochen streng, die zusammengepreßten Lippen und das kantige Kinn unnachgiebig. Dieser Mann war nicht kompromißbereit, dafür hatte das Leben ihn zu sehr enttäuscht. Obwohl Lacy ihn kleiner als 1,80 m schätzte, wirkte er durch seine breiten muskulösen Schultern und den athletischen Körperbau größer. Er zog sein Hemd, das an einem Pfosten hing, nicht an, und die Schweißtropfen auf seiner behaarten Brust erinnerten sie an Morgentau.
Lacy schluckte, bevor sie ihm wieder ins Gesicht blickte. Plötzlich änderte sie ihre Meinung. Er ist nicht schön, dachte sie, dazu wirkt er viel zu verbittert. Das reizvolle Graublau seiner Augen täuscht nicht über die Leere und den Schmerz hinweg, die darin liegen. Er gab sich auch keine Mühe, diesen Eindruck zu widerlegen. Lacy überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch anfangen sollte, und wurde immer nervöser. Was für eine peinliche Situation! Ihre Tochter hatte keine Hemmungen. "Meine Mami heißt Lacy, und ich heiße Joni. Wie heißt du denn?" Boothe sah das Kind, ohne zu lächeln, an. Immerhin war sein Tonfall etwas freundlicher als sein Gesichtsausdruck. "Boothe Larson." Joni blickte erst Lacy, dann wieder Boothe an und zog die Nase kraus. "Das ist ein komischer Name." "Joni!" Lacy errötete. Auch das noch! Sie wollte Joni zurechtweisen, zögerte aber im letzten Moment. Ein Schmunzeln umspielte Boothes Lippen und nahm ihr den Atem. Die Veränderung in seinen Gesichtszügen war faszinierend. Auf einmal wirkte er direkt menschlich. Boothe ging in die Hocke, bis sein Gesicht fast auf gleicher Höhe mit Jonis' war. " Du findest den Namen also komisch?" wollte er wissen. Joni genoß die Aufmerksamkeit, die ihr plötzlich zuteil wurde, trat einen Schritt vor und nickte. "Hm." "Das heißt ,Ja, Sir'", tadelte Lacy sanft. "Ja, Sir", wiederholte Joni artig und grinste. Ihre weißen Milchzähnchen blitzten im Sonnenlicht. "Ich finde den Namen auch komisch", meinte Boothe. Joni kicherte. "Echt?" "Man hat mir gesagt, daß Boothe eigentlich ein Familienname ist."
Das klang so zynisch, daß Lacy unwillkürlich zurückzuckte. Aber Joni ließ sich nicht verunsichern. Sie zeigte auf den Neufundländer. "Wie heißt dein Hundchen?" "Spike." Als Spike seinen Namen hörte, wedelte er und gähnte. Joni kicherte immer noch. "Darf ich ihn streicheln?" "Nein, Schatz", mischte Lacy sich ein und packte Joni am Arm. Joni musterte Boothe nachdenklich. "Hast du eine kleine Tochter?" "Joni, das geht dich gar nichts an..." Boothe unterbrach Lacy. "Nein, Joni, hab' ich nicht." "Aber vielleicht einen kleinen Sohn?" "Nein, auch nicht." Joni schwieg einen Moment lang. "Und ich hab' keinen Papi," Betretene Stille herrschte. Lacy wußte nicht, ob sie ihr Kind lieber in die Arme schließen oder knebeln sollte. Statt dessen blieb sie steif stehen und wurde schon wieder rot. Doch Boothe schenkte ihr keine Beachtung. Er schaute Joni an. "Das ist traurig. Kleine Mädchen brauchen einen Vater." "Ich hatte mal einen Papi." Lacy holte scharf Luft, "Aha", sagte Boothe. "Aber meine Mami und mein Papi hatten eine Scheidung. Weißt du, was das ist?" "Sei still, Joni", befahl Lacy, "das reicht." Boothe räusperte sich, stand auf und musterte Lacy durchdringend. Sein Blick war wieder eiskalt, die Lippen preßte er verächtlich zusammen. "Sie fragen sich wahrscheinlich, warum wir hier sind." Lacy fiel nichts Besseres ein. Sie war schockiert. Noch nie hatte jemand sie so abweisend behandelt. Trotzdem hatte sie keine Angst. Woran liegt das, wunderte sie sich.
"Der Gedanke ist mir tatsächlich schon gekommen", antwortete Boothe. Lacy ignorierte seine spöttische Bemerkung. "Ich bin übrigens Lacy Madison. Ich führe den Buchladen in der Stadt." Boothe Larson hatte volles dunkles Haar, das an den Schläfen silbern schimmerte. Wenn er ein Hemd anzieht, fällt ihm das Haar bestimmt auf den Kragen, überlegte Lacy. Er fuhr sich mit einer Hand durch die ungebändigten Locken und wartete ungeduldig. "Ich wollte Ihnen das hier zurückbringen." Lacy zog den Briefumschlag aus ihrer Manteltasche. Boothe runzelte die Stirn. "Was ist das?" "Ein Eilbrief." Er war offensichtlich verblüfft. "Er gehört Ihnen", sagte Lacy nachdrücklich. "Mir?" Sie hielt ihm den Briefumschlag hin. Er griff danach, und ihr Blick fiel auf seine Hände, denen man ansah, daß sie harte Arbeit gewohnt waren. Wie sie sich wohl anfühlen, wenn sie einen streicheln...? Der Gedanke traf sie wie ein Blitzschlag. Lacy hielt die Luft an. Wie konnte sie bei einem völlig Fremden an so etwas denken? Entweder war sie verrückt geworden, oder sie lebte wirklich schon zu lange ohne Mann. "Woher haben Sie den Umschlag?" Lacy streckte die Schultern. "Aus dem Buch, das Sie ausgeliehen hatten." "Ich verstehe." Lacy befeuchtete die trockenen Lippen. "Es ist ein persönlicher Brief drin." Kaum ausgesprochen, bereute sie ihre Worte. Der Inhalt des Briefes ging sie nichts an, trotzdem war sie neugierig. Die Absenderin des Briefes hatte Boothe Larson offensichtlich etwas bedeutet, denn sie bat ihn um eine neue Chance.
Boothe öffnete den Umschlag. Als er das rosa Briefpapier entdeckte, versteinerten sich seine Gesichtszüge. "Danke", sagte er schroff. Das ist ihm aber schwergefallen, dachte Lacy, vor allem, weil er meine Neugier bemerkt hat. Boothe stopfte den Briefumschlag in die Hosentasche und hob die Axt. Das war seine Art, das Gespräch zu beenden. Lacy fröstelte. Im selben Moment hörte sie einen Schrei. "Mami!" Das Herz blieb ihr vor Schreck fast stehen. Sie fuhr herum, und obwohl Boothe genauso schnell war, konnte sie nicht mehr verhindern, daß der große schwarze Hund auf das Kind zusprang. "Oh, mein Gott!" schrie Lacy, als der Hund Joni ansprang und sie mit seinen kräftigen Pfoten umstieß. Das Kind stürzte rückwärts mit dem Kopf auf ein Holzstück. Dann herrschte Stille.
3. KAPITEL Lacy blieb wie gelähmt stehen. Vor Angst konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. "Mami." Jonis Wimmern löste ihre Starre. Sie stürzte auf das Kind zu, aber Boothe war noch vor ihr da. Beide knieten neben Joni. "Joni, mein Schätzchen, Mami ist bei dir." Lacy tastete jeden Zentimeter des Kinderkörpers ab. Erst als sie etwas Nasses spürte, sah sie das Blut. Panik überfiel sie. "Oh, nein... oh, nein", murmelte sie, und ihr Blick irrte hilfesuchend zu Boothe. "Ich bringe sie ins Haus", sagte er rauh. Lacy kämpfte mit den Tränen, als Boothe das benommene Kind auf die Arme hob und eilig ins Haus trug. Sein verletztes Bein behinderte ihn, doch er achtete nicht darauf. Dann bettete er Joni sanft auf die Couch. "Ist sie bewußtlos?" Lacy kontrollierte die Wunde am Hinterkopf, die etwas oberhalb des Genicks lag. Sie blutete immer noch. "Joni, kannst du mich hören?" fragte Boothe. Er half Lacy, die Wunde freizulegen, und untersuchte sie genauer. "Mami", wimmerte Joni. Tränen schossen Lacy in die Augen, während ihr die Knie vor Erleichterung weich wurden. Offensichtlich hatte sie unbewußt aufgestöhnt, denn Boothe warf ihr einen besorgten Blick zu.
"Sie werden doch nicht so dumm sein und in Ohnmacht fallen, oder?" Seine schroffe Bemerkung hatte den gewünschten Erfolg, Lacy hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Trotzdem war sie wütend auf Boothe. "Nein", versicherte sie kurz angebunden und wandte sich Joni zu. "Das ist gut, denn Joni wird es bald bessergehen. Ich will warmes Wasser und Verbandszeug holen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle!" Was fällt ihm ein, mich wie seinen Hund zu behandeln, dachte Lacy zornig, während sie die Hand ihrer Tochter hielt. Am liebsten hätte sie Boothe geohrfeigt, aber das konnte warten. Im Moment war nur Joni wichtig. "Mami, mein Kopf tut weh." "Ich weiß, Darling, aber das wird bald besser. Boothe holt schon eine Medizin für deinen Kopf. Okay?" "Okay", schluchzte Joni. Boothe hockte sich neben Lacy und wusch Jonis Wunde mit zärtlichen Fingern. Lacy war erstaunt, diese Einfühlsamkeit hatte sie ihm nicht zugetraut. Die Wunde war glücklicherweise nicht so tief, wie befürchtet, und Boothe legte fachmännisch einen Verband an. Plötzlich wurde Lacy bewußt, wie nah Boothe ihr war. Sie bemerkte die feinen Linien um seine Augenwinkel, roch sein Rasierwasser, vermischt mit Schweißgeruch, und spürte die harten Muskeln an seinen nackten Armen und Schultern, wenn er sie streifte. Sie erbebte und rückte ein Stück von ihm ab. Seine Augen verdunkelten sich, und er preßte die Lippen zusammen. Er interpretierte ihre Reaktion wohl so, daß sie die Nähe zu ihm als unangene hm empfand. Dabei war das Gegenteil der Fall, und das brachte sie aus dem Gleichgewicht. Boothe stand auf. Lacy lächelte zuvorkommend, um seinen Ärger zu zerstreuen. "Vielen Dank für Ihre Mühe." "Spike war schuld", entgegnete er knapp.
Lacy verkniff sich die passende Antwort. Statt dessen setzte sie sich auf die Couch und nahm Joni liebevoll in die Arme. "Mami." "Mami ist bei dir", flüsterte Lacy. Das Kind seufzte beruhigt, schloß die Augen und schmiegte sich dicht an Lacy. Kurz darauf schlief Joni erschöpft ein. Lacy versuchte, ihre widersprüchlichen Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Vergeblich, ihr schneller Herzschlag ließ sich nicht beruhigen. Sie massierte die Schläfen mit den Fingerspitzen und spürte bleierne Müdigkeit. Boothes brütendes Schweigen trug ebenfalls nicht zu einer entspannteren Atmosphäre bei. Er stand am Fenster gegenüber und starrte hinaus. Lacy studierte sein Profil, das aus Stein gemeißelt zu sein schien. Sie unterdrückte einen Seufzer und ließ den Blick durch den Raum wandern. Die rustikale Einrichtung war geschmackvoll und wirkte sehr behaglich. Das verblüffte sie. Die Zimmerdecke war getäfelt, vor dem großen Kamin stand eine bequeme Couchgarnitur aus Leder, und auf dem Fußboden lag ein bunter Webteppich, wie er für diese Gegend typisch war. Was aber ihre Neugier weckte, war eine Gruppe geschnitzter Holzfiguren, die auf der Fensterbank in einem kleinen Erker standen. Schließlich konnte Lacy das Schweigen nicht länger ertragen. "Ich habe gehört, daß Sie in der Waldbrandbekämpfung tätig sind", begann sie. Boothe drehte sich mit abweisender Miene um. "Die Leute klatschen gern. Warum also nicht auch über mich?" Sie musterten sich abschätzend. "Haben Sie einen Arbeitsunfall gehabt?" Warum frage ich eigentlich weiter? dachte Lacy verwirrt. Vielleicht, weil Boothe Gefühle in ihr weckte, die sie nicht verstand. "Ja."
Lacy merkte, daß Boothe immer unwilliger wurde. Am klügsten wäre es gewesen, das Gespräch zu beenden, aber das konnte sie einfach nicht. "Haben Sie die Holzfiguren geschnitzt?" "Ja", antwortete er wieder einsilbig. Lacy senkte den Blick, und die langen dunklen Wimpern verbargen ihre Enttäuschung. Joni bewegte sich im Schlaf, und Lacy wiegte ihr Kind im Arm. Boothe verfolgte jede Bewegung. "Ich... wir müssen gehen." "Richtig", erwiderte Boothe, "nur nicht nach Hause." Lacy runzelte die Stirn. "Warum nicht?" "Meiner Meinung nach sollte Joni von einem Arzt untersucht werden. Sie schläft mir etwas zu fest." "Sie glauben doch nicht..." Ihre Stimme klang angstvoll. "Nein, ich glaube nicht, daß es etwas Ernstes ist. Trotzdem ist eine Kontrolle angebracht. Ich ziehe mich schnell um und fahre Sie ins Krankenhaus." Lacy öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloß ihn aber gleich wieder. Lacy streckte sich und gähnte. Sie blinzelte im Halbschlaf und versuchte, sich zu orientieren. Dann fiel ihr ein, wo sie war. Sie saß auf dem harten Stuhl in einem Krankenhauszimmer. Schnell schaute sie zum Bett hinüber, in dem Joni ruhig schlief. Einen Teil der Nacht hatte Lacy auf dem Klappbett daneben verbracht, aber das war so unbequem, daß sie sich für den Stuhl entschieden hatte. Lacy lehnte sich erschöpft zurück. Hauptsache, Joni war nicht ernsthaft verletzt. Das hatte Dr. Moore jedenfalls nach einer gründlichen Untersuchung festgestellt. "Die kleine Dame hat Glück gehabt", hatte er Lacy mit einem freundlichen Lächeln versichert. "Gott sei Dank." Lacy warf Boothe einen erleichterten Blick zu.
Doch der hatte noch eine Frage. "Muß die Wunde genäht werden?" "Das ist nicht nötig. Ich habe einen Spezialverband angelegt, der ausreicht. Als Vorsichtsmaßnahme möchte ich das Kind jedoch über Nacht hierbehalten." Lacys Augen weiteten sich. "Aber... Sie sagten doch..." "Beruhigen Sie sich, Lacy. Alles scheint in Ordnung zu sein. Ich möchte das Kind nur noch eine Zeitlang unter Beobachtung stellen." "Das ist eine gute Idee", meinte Boothe. Lacy atmete tief durch. "Also, einverstanden. Natürlich will ich das Beste für Joni." "Dann sollten wir um ein Zimmer bitten", entschied Boothe kurzerhand. Kurze Zeit später hatten sie das Zimmer. Lacy und eine Krankenschwester brachten Joni ins Bett, Boothe stand daneben und schaute zu. Dann ließ die Krankenschwester sie allein, und keiner von beiden wußte, was er sagen sollte. "Was ist mit meinem Auto?" hatte Lacy schließlich gefragt. "Keine Sorge, ich kümmere mich darum." Stille. "Äh... vielen Dank für alles." Lacy suchte seinen Blick. Der war auf ihren Mund gerichtet. Sie errötete unwillkürlich, und Boothe drehte sich abrupt um. "Es wird Zeit, daß ich gehe." Erst nachdem Lacy mit Sue telefoniert hatte, hatte sie ihre Fassung wiedererlangt. Sue versprach ihr, den Laden allein zu führen, und sie wollte sogar eine Zahnbürste vorbeibringen. Da hatte Lacy gelacht und gemeint, bis morgen früh würde sie auch ohne überleben. Jetzt fielen die ersten Sonnenstrahlen durchs Rollo. Lacy schüttelte die Erinnerungen an den gestrigen Abend ab und schlich auf Zehenspitzen ans Bett. Sie küßte Joni auf die rosigen Wangen und beschloß, sich eine Tasse Kaffee aus dem
Automaten im Wartezimmer zu holen. So lange konnte sie Joni allein lassen. An der Türschwelle zum Wartezimmer stockte sie. Boothe lehnte ausgestreckt in einem Sessel und schlief. Lacy trat näher. In Reichweite blieb sie stehen, und ihr Herz schlug schneller. Er sah wirklich unverschämt gut aus. Sie kämpfte sofort gegen ihre törichten impulsiven Gefühle an. Das fiel ihr schwer, weil sie von Natur aus spontan und vertrauensvoll war. Aber sie hatte sich geschworen, ihr Temperament zu zügeln. Eine bittere Enttäuschung auf dem Gebiet der Liebe reichte. Lacy wollte sich nie wieder auf den ersten Blick verlieben. Wenn überhaupt, dann sollte sich die Liebe langsam entwickeln und verläßlich sein. Ein verbitterter Mann wie Boothe kam nicht in Frage. Immerhin ist er vielseitiger, als ich zuerst dachte, überlegte sie. Er war zwar unfreundlich zu mir, andererseits behandelte er Joni sehr feinfühlig. Lacy schaute seine großen Hände an und stellte sich wieder vor, wie sie sich wohl anfühlen würden. Sie wollte sich abwenden, aber sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen, und ihre Sehnsucht wuchs. Boothe öffnete die Augen. "Lacy." Schockiert, daß er sie ertappt hatte, öffnete sie den Mund und brachte doch kein Wort heraus. Boothe stand auf und sah ihr tief in die Augen. Die Atmosphäre zwischen ihnen knisterte. Er räusperte sich umständlich. "Geht es Joni gut?" Lacy biß sich auf die Unterlippe, damit die nicht mehr zitterte. "Ja... Der Doktor kommt gleich zur Abschlußuntersuchung." "Ich warte und bringe sie anschließend nach Hause." Im Auto wurde die Spannung zwischen ihnen fast unerträglich. Boothe war ein ausgezeichneter Fahrer. Lacy registrierte jede seiner Bewegungen überdeutlich und wagte
kaum zu atmen. Joni, die fröhlich zwischen ihnen saß, genoß es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie bemerkte die angespannte Stimmung nicht. Seit sie das Krankenhaus verlassen hatten, plapperte sie ununterbrochen. "Mami, muß ich daheim gleich ins Bett gehen?" wollte sie wissen. "Nur, wenn du willst." "Ich will aber nicht. Ich möchte mit zu BOO nach Hause." Boo! Lacy hielt die Luft an und wartete gespannt, wie Boothe auf die Abkürzung seines Namens reagieren würde. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Und wie schon einmal, änderte sich sofort sein Gesichtsausdruck und damit seine ganze Ausstrahlung. Lacy war hingerissen. Sie blickte Joni an. "He, seit wann sprichst du wieder wie ein Baby?" versuchte sie, ihre Verlegenheit zu überspielen. Joni grinste schelmisch und wandte sich eifrig an Boothe. "Wo ist dein Hund?" "Bei mir zu Hause." "Was macht er da?" "Laß mich überlegen..." Boothe rieb sich das Kinn mit dem Dreitagebart. "Ich wette, Spike liegt auf der Veranda und wartet auf mich." "Ist er böse auf mich?" "Nein. Bist du böse auf ihn?" Darüber mußte Joni einen Moment nachdenken. "Nein", meinte sie dann ernsthaft und wirkte wie eine kleine Erwachsene. Lacy hörte den beiden zu und lernte noch eine neue Seite an Boothe kennen. Ich hab' recht gehabt, dachte sie, er ist längst nicht so gefühlskalt und gleichgültig, wie er gern vorgibt. Seine Geduld mit Joni war erstaunlich. "Aber weißt du was?" fügte Joni hinzu.
Ohne den Blick von der Straße zu wenden, meinte Boothe: "Nein, ich nehme an, du erzählst es mir." Joni rutschte auf die Kante des Sitzes und stützte die Hände in die Hüften. "Wenn Spike mir noch mal weh tut, dann kriegt er Haue von mir." "Joni!" rief Lacy entgeistert. "Ich glaube, wir zwei müssen ein ernstes Wort miteinander reden." Joni schmollte. Diesmal schmunzelte Boothe nicht nur, sondern lächelte vergnügt. Zu Lacys Erleichterung drehte er den Kopf weg, damit Joni es nicht bemerkte. Aber vor ihr konnte er es nicht verbergen... Boothe parkte vor dem Buchladen. Sie stiegen aus, und Lacy schloß die Tür auf. Joni rannte sofort hinein und ließ Lacy mit Boothe allein. "Nochmals vielen Dank... für alles." "Keine Ursache." "Würden Sie zum Frühstück bleiben?" Sein Gesicht verschloß sich. "Nein", erwiderte er abweisend. Lacy ärgerte sich über sein unhöfliches Verhalten und vergaß alle guten Vorsätze. Spontan rutschte ihr heraus: "Oh, entschuldigen Sie, daß ich Sie schließlich doch noch für menschlich gehalten habe." Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Dann drehte er sich wütend auf dem Absatz um, eilte, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, zum Jeep und startete mit quietschenden Reifen.
4. KAPITEL Am folgenden Morgen grübelte Lacy immer noch über Boothe und ihre Auseinandersetzung nach. Vergiß ihn, ermahnte sie sich, soll er sein Selbstmitleid pflegen, soviel er will. Offensichtlich will er weder mit mir noch mit sonst irgend jemandem Kontakt aufnehmen. Er ist egozentrisch, arrogant, langweilig und außerdem... Lacy seufzte ungeduldig, ging zum Fenster und schaute hinaus. Über Nacht hatte es heftig geschneit, und die Wettervorhersage prophezeite weitere Schneefälle. Das hob Lacys Stimmung. Da sie in Texas aufgewachsen war, hatte sie kaum Schnee erlebt und freute sich jetzt darauf. Der Himmel war mit Wolken bedeckt. Graublauen Wolken... die Farbe seiner Augen. Sie war wie besessen von diesem Mann, dem sie doch völlig gleichgültig war. Hör auf, an ihn zu denken! befahl Lacy sich. Umsonst, so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht vergessen. Die Einsamkeit, die ihn wie eine Mauer umgab, berührte sie zutiefst. Vielleicht auch deswegen, weil sie selbst im Grunde ihres Herzens einsam war. Lacy liebte ihre Tochter über alles, aber ein vierjähriges Kind konnte den Platz eines Mannes nicht einnehmen. Warum ist Boothe ein Eigenbrödler? Ich werde es wahrscheinlich nie erfahren, dachte Lacy, und drehte sich mit
einem Ruck vom Fenster weg. Es war an der Zeit, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Zuerst würde sie ein unkompliziertes Mittagessen zubereiten und danach arbeiten. Es war Sonntag, und Lacy wollte den Nachmittag nutzen, um Lampen anzufertigen. Zwanzig Minuten später brutzelte der Nudelauflauf im Backofen. Joni saß am Küchentisch und malte einen Dinosaurier in ihrem Malbuch an. "Mami", bettelte sie, "das ist so schwer. Hilfst du mir?" "Warte einen Moment, Schätzchen, bis ich den Salat fertig habe." Es klingelte. Joni rutschte eifrig vom Stuhl. "Ich mache auf." Später wußte Lacy nicht, warum sie ihrer Tochter eigentlich gefolgt war." Joni öffnete die Tür, und Lacy blieb wie angewurzelt stehen. Boothe lehnte an einem Pfosten der Veranda und hielt einen Teddybären in der Hand "Hallo, Boo", begrüßte Joni ihn begeistert und fixierte das Stofftier. "Hallo, kleines Fräulein", sagte Boothe, hatte aber nur Augen für Lacy. Und wieder war die Stimmung zwischen ihnen wie elektrisiert. "Darf ich hereinkommen?" fragte er unbeholfen. Lacy war immer noch sprachlos. War das tatsächlich Boothe Larson, der vor ihr stand? "Natürlich", stotterte sie schließlich .und haßte sich dafür. "Ist der Teddy für mich?" wollte Joni wissen. Boothe streckte die Hand aus. "Darauf kannst du wetten." Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Boothe sich auf der Couch niederließ. Die Jeans, das blaue Hemd und die Lederstiefel standen ihm ausgezeichnet. Sein Haar war wie gewöhnlich zerzaust, und das verlieh ihm einen verwegenden Ausdruck.
"Guck mal, Mami", rief Joni aufgeregt, "guck mal, was Boo mir mitgebracht hat. "Das ist aber nett." War das Geschenk seine Art, sich für die Unhöflichkeit von gestern zu entschuldigen? "Was sagst du, Liebling?" Ohne Vorwarnung kletterte Joni Boothe auf seinen Schoß, umarmte ihn und küßte ihn auf die Wange. "Danke schön, Boo." Lacy hörte, wie er scharf Luft holte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte laß ihn Joni nicht zurückweisen! Boothe erblaßte, doch obwohl er von dem unerwarteten Gefühlsausbruch offensichtlich irritiert war, zwickte er Joni am Kinn und sagte: "Bitte schön. Als ich den Teddy im Schaufenster sah, sagte ich zu mir, den muß Joni einfach haben." "Tonis Augen funkelten. Lacy wußte, daß sie drauf und dran war, ihn noch einmal zu umarmen, als er sie vom Schoß hob und aufstand. "Nun... ich sollte wohl besser gehen." "Hätten Sie Lust, zum Mittagessen zu bleiben?" schlug Lacy vor und hätte sich am liebsten gleich auf die Zunge gebissen. Reichte eine Abfuhr nicht? Joni ergriff seine Hand. "Komm, Boo. Du und Teddy, ihr könnt bei mir sitzen." "Aber ich..." "Bitte, bitte." Joni ließ nicht locker. Lacy wartete angespannt, während Boothe noch unentschlossen war. Sein Gesicht spiegelte die widersprüchlichsten Gefühle wider. Dann gab er nach. "Macht es Ihnen auch wirklich niqhts aus?" Lacy atmete auf. "Das Angebot kam von mir, oder?" Boothe lächelte widerstrebend. "Da duftet etwas ausgesprochen lecker." "Sie bleiben also?" Einen Moment herrschte atemlose Stille. "Ja, ich bleibe."
Jetzt war Lacy plötzlich nervös. Worüber sollen wir uns unterhalten? Ob ihm schmeckt, was ich gekocht habe? Reiß dich zusammen, schalt sie sich. Es ist egal, was er denkt. Aber das stimmte nicht. Es war ihr überhaupt nicht egal. Joni zog Boothe hinter sich her zum Tisch. Sie setzten sich, und Lacy trug das Essen auf. Dann fragte Joni: "Boo, hast du deinen Wunschzettel für den Weihnachtsmann schon geschrieben?" "Nein, nicht daß ich wüßte." "Soll ich dir nach dem Mittagessen dabei helfen?" Boothe sah Lacy durchdringend an, sein Blick glitt über ihren Körper. Sie spürte, wie die sorgsam unterdrückte Sehnsucht von neuem in ihr erwachte. Er verzog die Lippen, und obwohl er mit dem Kind sprach, blickte er Lacy weiterhin an. "Ja, ich mache das Spiel mit. Vielleicht sollte der Weihnachtsmann auch von mir hören." Lacy wurde ganz heiß vor Erregung. Plötzlich vertraute sie darauf, daß alles gut werden würde. "Oh, Lacy, die ist wunderschön geworden." Sues überschwengliches Lob verfehlte die Wirkung nicht. Lacys Laune besserte sich, als sie die kleine Tiffany-Lampe gegen das Licht hielt, um das Farbenspiel genauer betrachten zu können. "Findest du?" Sue runzelte die Stirn. "He, was soll das bedeuten? Wenn's um deine Arbeit geht, hat's dir bisher nie an Selbstvertrauen gemangelt." "Das stimmt", Lacy seufzte, "es ist nur..." Sie brach ab und wich Sues prüfendem Blick aus. "Vergiß es." "Was ist in letzter Zeit los mit dir?" fragte Sue so unverblümt, wie das nur eine enge Freundin durfte. Lacy stellte die Lampe wieder hin und zählte alle Lampen auf dem Tisch, um nicht antworten zu müssen. "Ich warte." Sue ließ sich nicht täuschen.
Lacy lächelte gezwungen. "Mach dir keine Gedanken. Die Weihnachtshektik hat mich jetzt auch erwischt." Sue machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich glaub' dir kein Wort, doch diesmal laß ich's durchge hen." Lacy hätte ihre Freundin gern ins Vertrauen gezogen, aber sie brachte es nicht fertig. Dabei hatte Sue recht, Lacy war total nervös. Kein Wunder, wenn ihre Gedanken dauernd um Boothe kreisten. Drei Tage waren vergangen, seit er zum Mittagessen geblieben war. Und obwohl er kurz nach Anfertigung seines Wunschzettels - Lacy schmunzelte, als sie daran dachte aufgebrochen war, konnte sie einfach nicht aufhören, an ihn zu denken. Dabei hätte sie die Gefühle, die er in ihr erregte, am liebsten unterdrückt, weil sie nicht erwidert wurden. "Mami, wo bist du?" Froh über die Unterbrechung, rief Lacy: "Wir sind in der Werkstatt, Schätzchen." Joni rannte herein und strahlte über das ganze Gesicht. "Was machst du denn?" "Ich arbeite. Möchtest du helfen?" "Oh ja", meinte Sue, "ich kann eine kleine Assistentin gebrauchen." Joni schüttelte den Kopf. "Mami, ich will mit Boos Hundchen spielen." "Das ist keine gute Idee", wehrte Lacy hastig ab. Joni stampfte mit dem Fuß auf. "Ich will aber." "Ich freue mich, daß du keine Angst vor dem Hund hast - ein Beweis dafür, daß du schon ein großes Mädchen bist. Aber Mami hat im Moment sehr viel zu tun. Zahlreiche Kunden haben Weihnachtsgeschenke bei mir bestellt." "Aber..." "Ich bin ganz deiner Meinung, Joni", fiel Sue Lacy in den Rücken. "Ich finde es eine großartige Idee." Lacy blinzelte verdutzt. "Was soll das heißen?"
"Das heißt, daß du heute schon genug gearbeitet hast. Ein paar Stunden an der frischen Luft bei dem herrlichen Wetter werden dir guttun." "Gehen wir, Mami?" bettelte Joni. "Bitte!" Lacy knabberte an der Unterlippe und versuchte, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie hatte Lust, obwohl es natürlich eine Dummheit sein würde. Boothe wäre bestimmt nicht damit einverstanden. Er wollte in seiner Privatsphäre nicht gestört werden, das hatte er deutlich genug gemacht. Wenn er an mir und Joni wirklich Interesse hätte, dachte Lacy, dann würde er uns nicht links liegenlassen. Andererseits hatte Sue recht. Es war ein wunderschöner Tag, und Lacy hatte die geschnitzten Holzfiguren in Boothes Wohnzimmer nicht vergessen. Sie würde viel darum geben, um die Figuren in ihrem Laden verkaufen zu können. Es waren ideale Weihnachtsgeschenke, und sie würden perfekt zu ihrer Schaufensterdekoration passen. "Also, einverstanden", gab Lacy nach und drehte sich zu Joni um, "du hast gewonnen. Hol deinen Mantel." Sue blickte sie neugierig an, was Lacy bewußt ignorierte, aber Sues wissendes Lachen verfolgte sie bis zur Tür. Boothe machte einen Moment Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war fest entschlossen, den Rücksitz des Wagens heute fertig zu reparieren, koste es, was es wolle. Von Anfang an hatte er gewußt, daß es eine schwierige, zeitraubende Aufgabe sein würde. Boothe trat einen Schritt zurück, begutachtete sein Werk und war mit dem bisherigen Ergebnis zufrieden. Kurz nachdem er das Grundstück mit dem Haus gekauft hatte, hatte er den alten hölzernen Wagen im dazugehörigen Schuppen gefunden. Aber erst vor ein paar Tagen - direkt nach dem Besuch bei Lacy hatte er beschlossen, mit der Restauration zu beginnen, in der
Hoffnung, sich durch körperliche Arbeit von den Gedanken an Lacy abzulenken. Das gelang ihm nicht. Boothe hatte geglaubt, daß seine Privatsphäre unantastbar sei. Er hatte seinen Besitz nicht einmal eingezäunt, da die Schutzmauer, die er um sich selbst errichtet hatte, bisher undurchdringlich gewesen war. Er war überzeugt gewesen, daß es keiner wagen würde, die verbotene Linie zu übertreten jedenfalls nicht ohne seine Erlaubnis. Aber dann hatte er Lacy kennengelernt, und die brauchte nur ein paar Tage, um ein Loch in seine Schutzmauer zu reißen und ihn entblößt und verletzlich zurückzulassen. Boothe nahm den Hammer, schlug einen Nagel in das Brett am Rücksitz des Wagens und sehnte sich danach, Lacy zu berühren. Verflixt! Er griff wütend nach dem nächsten Nagel und kam sich wie eine gutgeölte Maschine vor, die plötzlich nicht mehr funktionieren wollte. Da war das liebreizende kleine Mädchen mit dem Lockenkopf und dem engelsgleichen Lächeln. Wie sollte er Joni vergessen? Sie hatte seine verwundbare Stelle instinktiv gefunden und sich einen Platz in seinem Herzen erobert, bevor er sich dagegen wehren konnte. Es gab keine Zukunft für eine Beziehung, sie durften sich nicht wiedersehen. Ich habe Lacy und ihrer Tochter sowieso nichts zu bieten, redete Boothe sich ein. Außerdem war er an einer fertigen Familie nicht interessiert. Er wollte seinen Beruf so schnell wie möglich wieder ausüben, sobald sein verletztes Bein geheilt war. Keine vernünftige Frau würde einen Mann heiraten, der täglich sein Leben riskierte, und erst recht keine Frau mit Kind. Und wer sagt überhaupt, daß Lacy etwas für mich empfindet? überlegte Boothe. Sie hat ihre eigenen Probleme, das habe ich gespürt, auch sie leidet. Ohne die näheren Umstände zu kennen, hätte Boothe schwören können, daß es mit Jonis Vater
zusammenhing. Er konnte den Schmerz in ihren einzigartigen blauen Augen lesen - nicht sichtbar für die Welt, nur für einen Schicksalsgenossen wie ihn. Ich bin nur körperlich erregt, das ist alles, dachte Boothe. Vielleicht sollte ich... Vergiß es! Du willst nur Lacy und keine andere Frau. Und Lacy ist tabu, ein für allemal. Er griff nach dem nächsten Nagel. Im selben Augenblick hörte er eine Autotür zuschlagen und wußte, ohne sich umzudrehen, wer die Besucher waren. "Verdammt", fluchte Boothe und hoffte, daß sie gehen würden, wenn er sie nicht beachtete. Sie gingen aber nicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mutter und Tochter zögernd auf ihn zukamen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Lacy sah bezaubernd und sehr sexy aus in der hautengen Jeans und dem türkisfarbenen Sweatshirt, unter dem sich trotz des festen Stoffes ihre vollen Brüste verführerisch abzeichneten. Boothe stellte sich ihre Brustwarzen wie kleine Rosenknospen vor... Er mußte sie berühr en. Nein! Er wollte nur allein gelassen werden. Dann stolperte er fast, als er Lacy und Joni entgegeneilte.
5. KAPITEL Boothe und Lacy trafen sich auf halbem Weg zwischen der Scheune und dem Haus. Joni blieb ein bißchen zurück auf der Suche nach dem Hund. Lacy konzentrierte ihren Blick auf Boothe und befeuchtete die Lippen. "Ich... äh... hoffe, wir stören nicht." Ihr Gesicht übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, besonders ihr Mund. Der wirkte entschlossen und gleichzeitig weich und einladend. Boothe verwünschte sich insgeheim und versuchte, Haltung zu bewahren. Doch wie sollte er, wenn sein Herz raste und er kaum atmen konnte? "Spikey. Hierher, Spikey." Jonis schrilles Stimmchen durchbrach den Zauberbann. "Joni wollte den Hund besuchen", sagte Lacy verlegen. Offensichtlich rang auch sie um Fassung. Boothe zwang sich zu einem coolen Tonfall. "Das ist wahrscheinlich eine gute Idee." "Ist es nicht", platzte Lacy heraus, "es war eine dumme Idee." Sie sprach Joni an, die am Boden kauerte und auf den Hund wartete. "Komm, Schätzchen, laß uns gehen." Gegen alle Vernunft meinte Boothe: "Bitte... bleiben Sie." "Sind Sie sicher?"
Ihre Blicke verschmolzen für einen kurzen Moment, dann wandte er sich ab. "Nein", murmelte er, "ich weiß gar nichts mehr." "Hierher, Hundchen", lockte Joni wieder. "Spikey, wo bist du denn, du böses Hundchen?" Boothe hatte Joni umarmen können. Ihr süßes Stimmchen lockerte die Spannung, die in der Luft lag. Unwillkürlich lächelte er. "Spike spielt schon den ganzen Morgen im Wald." Joni rannte zu Lacy, schaute aber Boothe an. "Will dein Hundchen mich nicht sehen?" "Doch." Boothe pfiff auf zwei Fingern. Sofort sprang der Hund aus dem Gebüsch, kam angerast und stoppte erst vor den Füßen seines Herrn. Dort nahm er hechelnd Platz. Joni kicherte, streckte die Hand aus und zog sie vorsichtshalber wieder zurück. "Vielleicht solltest du nur mit ihm reden", schlug Lacy besorgt vor. "Er tut ihr nichts", versprach Boothe, nahm Jonis Hand und legte sie sanft auf den Kopf des Neufundländers. Der Hund hob den Kopf und leckte die kleine weiche Handfläche. Joni quietschte vor Vergnügen. "Guck mal, Mami, Spikey mag mich." "Das ist ja toll. Und jetzt sagst du Spike auf Wiedersehen. Wir müssen nämlich nach Hause." "Ich wette, Spike würde gern mit dir spielen, Joni", mischte Boothe sich ein. "Oh, Mami, können wir noch bleiben?" "Sie müssen das nicht tun", sagte Lacy freimütig. "Ich weiß," hörte Boothe sich antworten, während ihn die widersprüchlichsten Gefühle bewegten. "Komm, Joni", forderte er die Kleine auf, "wir suchen einen Stock."
Joni ließ den Hund eine Weile begeistert apportieren, dann sagte sie: "Jetzt bist du dran, Mami." Spike setzte sich wieder hechelnd neben seinen Herrn und wartete gespannt. Lacy schüttelte lachend den Kopf. "Ich doch nicht, mein Schatz." "Feigling", neckte Boothe sie und grinste frech. Ihre Augen funkelten angriffslustig. "Her mit dem Stock." Boothe hielt ihn hin, und sie griff schnell danach. Das mußte er zugeben, Lacy hatte ein beachtliches Temperament. Sein Blick wanderte von ihren aufgeworfenen Lippen zu den blitzenden tiefblauen Augen. Sie erinnerte ihn an eine wilde Stute, die noch nicht gezähmt war. Wie gern wurde er diese Herausforderung annehmen... "Los, Junge, hol ihn dir!" Lacy hob den Arm, machte einen großen Schritt und verlor plötzlich das Gleichgewicht. "Oh!" Boothe sprang nach vorn und fing sie auf. Weil sie aber beide in Bewegung waren, kippten sie um und fielen in den Schnee. Irgendwie schaffte Boothe es, daß er unten lag und ihren Sturz abdämpfen konnte. Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Sie waren so verdutzt, daß ihnen kein Wort einfiel. Durch schneebestäubte Wimpern blinzelte Boothe Lacy an. Ihre Gesichter waren nur eine Handbreit voneinander entfernt, und sie spürten, wie ihre Herzen fast im gleichen Takt schlugen. In der Nähe zwitscherte ein Vogel, und eine Windbö rüttelte an den schneebedeckten Tannenzweigen. Boothe konnte seine Erregung kaum verbergen. Er bewegte sich keinen Millimeter, und trotzdem brannte sein Körper vor Verlangen. Er verzehrte sich danach, das süße Grübchen an ihrem Hals mit der Zunge zu berühren... Lacy verzog das Gesicht, aber nicht vor Kälte oder Ärger, wie Boothe zuerst befürchtete, sondern vor Lachen.
Er stimmte erleichtert ein, während Joni sich übermütig neben ihnen in den Schnee plumpsen ließ. "Mami, du bist ein Tolpatsch." Lacy stand auf und klopfte sich den Schnee vom Mantel, Boothe folgte ihrem Beispiel. Die Atmosphäre zwischen ihnen knisterte plötzlich wieder, und jeder wich dem Blick des anderen aus. "Wir müssen zurück in den Laden", sagte Lacy hastig. "Sag Spike auf Wiedersehen, Joni." Das Kind dachte nicht daran, sich zu verabschieden. Statt dessen nahm Joni Boothe bei der Hand, sah ihn eindringlich an und fragte: "Kommst du zu unserer Weihnachtsfeier im Kindergarten? Wir führen ein kleines Theaterstück auf." "Oh, Joni, ich glaube nicht, daß Boothe sich dafür interessiert." Lacy schnappte nach Luft und wäre vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versunken. Jonis unbekümmerte Einladung war ihr total peinlich, und das amüsierte Boothe. Er zwinkerte Joni zu. "Das geht bestimmt, wenn ich es mir recht überlege. Wann soll die Feier denn stattfinden?" "Heute in zwei Tagen", erklärte Joni eifrig. Zum zweitenmal, seit Lacy Boothe kennengelernt hatte, war sie sprachlos, und das gefiel ihm. Ehrlich gesagt, wußte Boothe auch nicht weiter und verwünschte seine Gefühle, die er nicht mehr richtig unter Kontrolle hatte. Warum gab er nach? Er wußte doch inzwischen, daß Lacy eine Gefahr für seinen schwer erkämpften Seelenfrieden bedeutete. Vergiß das nie, schärfte er sich ein. Erst als sie und Joni schon im Auto saßen und der Motor lief, konnte Lacy wieder klar denken. "Darf ich Sie etwas fragen?" "Es hängt davon ab, was." "Ich habe diese geschnitzten Holzfiguren bei Ihnen gesehen..."
Lacy nahm allen Mut zusammen. "Ich würde sie gern in meinen Laden zum Verkauf anbieten." Boothe Stimmung änderte sich schlagartig. "Vergessen Sie's", fuhr er Lacy an. "Ich verkaufe die Holzfiguren nicht. Niemals!" "Dann entschuldigen Sie mich." Lacys Blick war eisig. Doch bevor Boothe eine passende Antwort geben konnte, drückte Lacy aufs Gaspedal und fuhr davon. Er wußte nicht, wie lange er hinterherschaute, wütend auf sie und sich selbst. Das Weihnachtsgeschäft florierte. In den nächsten zwei Tagen war Lacy damit beschäftigt, Bücher und Lampen als Geschenke zu verkaufen und außerdem ihre Wohnung weihnachtlich zu schmücken. So schaffte sie es, die Gedanken an Boothe zu vertreiben. Aber jetzt, als sie fertig angezogen für Jonis Weihnachtsfeier vor dem Spiegel stand, grübelte sie wieder über ihn nach. Sie war einfach zu müde, um weiter dagegen anzukämpfen. Verflixt! Gerade, als sie glaubte, ihn allmählich einschätzen zu können, machte er durch seine Schroffheit alles zunichte. Wie konnte er seinen Ärger so rücksichtslos an ihr auslassen! Nun, sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als seine heißgeliebten Holzfiguren noch einmal zu erwähnen. Sollte er sich doch in seiner einsamen Wildnis vergraben! Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben, dachte Lacy erbittert, egal, wie gut sich sein Körper angefühlt hat und wie sehr mich das daran erinnert, daß ich schon lange keinen Mann mehr hatte. Sie verließ den Raum, entschlossen, die Vergangenheit ruhenzulassen und an die nächstliegende Zukunft zu denken. Da war erst mal die Weihnachtsfeier. "Beeil dich, Joni", rief sie und schaltete die Kaffeemaschine in der Küche aus. Joni stürzte herbei. "Ich beeil' mich doch schon, Mami."
Lacy schenkte ihrer Tochter ein nachsichtiges Lächeln. Wie lieblich und hinreißend Joni in dem Engelskostüm aussah! Dann mußte Lacy unwillkürlich schmunzeln. Hinreißend ja, aber lieblich? Nein. "Was ist so lustig, Mami?" "Nichts, mein Schätzchen. Laß uns gehen, sonst kommen wir zu spät." "Aber ich bin noch nicht fertig", jammerte Joni. "Joni!" "Ich finde meine Tasche nicht." Lacy betete um Geduld, während sie nach ihrer eigenen Handtasche Ausschau hielt. Sie hatte sie gerade entdeckt, als es an der Wohnungstür klingelte. "Auch das noch", murmelte Lacy. "Ich mach auf, Mami!" "Von wegen", konterte Lacy, "du bleibst hier und suchst deine Tasche." Sie ignorierte Jonis Protest, eilte zur Tür und öffnete sie mit Schwung. Vor ihr stand Boothe im legeren Anzug mit Krawatte und sah einfach blendend aus. Lacy starrte ihn entgeistert an und rang um Fassung. "Wie ich sehe, bin ich nicht erwartet worden." Um Boothes Mundwinkel zuckte es vor Vergnügen, aber der Ausdruck in seinen Augen war undefinierbar, als er sie eingehend von oben bis unten musterte. "Das... stimmt. Ich habe Sie nicht erwartet." Ihre Stimme klang heiser. "Darf ich hereinkommen?" Lacy hatte ganz weiche Knie, doch irgendwie schaffte sie es, einen Schritt beiseite zu treten. Boothe ging an ihr vorbei und blieb erst im Bogengang zwischen Wohnzimmer und Küche stehen. Lacy folgte ihm automatisch und zitterte vor Erregung. Er roch genauso verführerisch, wie er aussah...
"Hallo, Boo." Joni sauste um die Ecke und warf sich in seine Arme. Boothe lächelte bewundernd. "Du siehst aber hübsch aus!" "Mami hat gesagt, daß du nicht zu meiner Weihnachtsfeier kommst." Boothe suchte Lacys Blick und kostete den Augenblick aus. "Hat sie das tatsächlich gesagt? Nun", er zog die Augenbrauen spöttisch hoch und betonte jedes Wort einzeln, "das ist wirklich schade, denn eigentlich wollte ich kommen." "Oh, toll." Joni legte ihre kleine Hand wie selbstverständlich in seine große. Lacy wagte kaum zu atmen, erwiderte seinen Blick aber, ohne mit der Wimper zu zucken. Plötzlich riß Joni sich los und zeigte aufgeregt nach oben. "Mami, du stehst unter dem Mistelzweig. Das heißt, du mußt Boo küssen." Erwartungsvolle Stille herrschte im Raum. Lacy wußte, daß in Jonis Kindergarten über verschiedene Weihnachtsbräuche gesprochen worden war, doch das minderte ihren Schock nicht. Was für eine unglaubliche Situation! "Beeil dich, Mami", drängelte Joni und war schon unterwegs zur Wohnungstür. "Wir müssen gehen." Das passiert nicht wirklich, dachte Lacy, gleich wache ich auf, und alles ist vorbei. Sie hob den Kopf und bemerkte, daß Boothe direkt neben ihr stand. Bevor sie protestieren konnte, legte er die Lippen sanft auf ihren Mund. Sie war so überrumpelt, daß sie es wie in Trance geschehen ließ. Dann öffnete sie die Lippen und spürte seine Zunge. Erbebend sank sie an seine Brust und grub die Fingernägel in seine Schultern. Dabei erwiderte sie spontan seinen Kuß, so schnell, wie er begonnen hatte, war er wieder vorbei. Boothe räusperte sich. Lacy schluckte und hatte auf einmal einen trockenen Mund. Obwohl sie völlig durcheinander war, konnte sie den Blick nicht
von Boothe losreißen. Aus halbgeschlossenen Augenlidern testete sie seine Reaktion. Er wirkte äußerlich unberührt, aber sie wußte, daß das nicht stimmte. Die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten ihn. "So, das ist erledigt", war Jonis altkluger Kommentar. "Es wird Zeit, daß wir endlich gehen." Ohne sich weiter anzusehen, folgten Lacy und Boothe dem Kind aus der Wohnung.
6. KAPITEL "Aua!" "Entschuldige, Schätzchen", sagte Lacy zu ihrer zappelnden Tochter, "aber du mußt stillhalten." Joni hatte gerade ihren Mittagsschlaf beendet, und Lacy mußte sich mit den Haarkämmen beeilen, denn Sue wollte Joni in Kürze abholen. Sue hatte ihrer Tochter Melody versprochen, Pizza essen zu gehen, und hatte dazu noch ein paar kleine Freundinnen eingeladen. "So, das wäre geschafft." Lacy trat einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. Jonis Haare waren jetzt lang genug, um ein paar Locken nach hinten zu binden und mit einer hübschen Haarspange zu befestigen. Diese Frisur unterstrich Jonis zierliche Gestalt und ihre großen braunen Augen. "Seh ich schön aus, Mami?" Lacy umarmte sie zärtlich. "Du siehst wunderschön aus." Joni hüpfte zur Tür, blieb dann unvermittelt stehen und drehte sich um. "Mami, wann kriegen wir unseren Weihnachtsbaum?" Lacy seufzte. "Bald. Das versprech' ich dir. Bisher war einfach zu viel im Laden zu tun... Wie wär's, wenn wir morgen abend einen aussuchen?" "Okay." Joni dachte einen Moment nach. "Kann Boo uns dabei helfen?"
"Ich bezweifle, daß er Lust dazu hat." Lacy versuchte, ihren schnelleren Pulsschlag bei der Erwähnung von Boothe Namen zu ignorieren. Joni runzelte vorwurfsvoll die Stirn. "Er hat garantiert Lust dazu", meinte sie überzeugt. "Wir werden sehen", wich Lacy aus und war froh, daß die Ladenglocke sie unterbrach. Joni rannte los, um festzustellen, ob es Sue war. Lacy war nicht glücklich über Jonis wachsende Zuneigung zu Boothe. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Boothe sie beide zurückweisen würde, davon war sie überzeugt. Lacy hätte ihrem Kind diesen Schmerz gern erspart. Und sich selbst? Mich hat es noch viel schlimmer erwischt, gestand sie sich ein. Eigentlich ärgere ich mich über Boothe, doch gleichzeitig bin ich fasziniert von ihm und muß dauernd an ihn denken... und an seinen Kuß. "Mami, Sue und Melody sind da." Lacy schüttelte die verwirrenden Gedanken ab, verließ das Büro und betrat den Laden. "Kannst du mich heute nachmittag wirklich entbehren?" fragte Sue vorsichtshalber nach. "Natürlich. Du hast in den letzten Wochen so viel geschuftet, daß du einen freien Nachmittag verdienst", neckte Lacy sie und verscheuchte sie mit einer Handbewegung. "Raus mit euch. Pam und ich erledigen das schon." Lacy hatte Pam Riley, eine Studentin, als zusätzliche Hilfe für das Weihnachtsgeschäft eingestellt und damit einen Glücksgriff getan. Pam erwies sich als Verkaufstalent. "Außerdem ist sowieso Samstag", fügte Lacy hinzu, "und wir schließen früher als sonst." Sue lächelte. "Ich füge mich unterwürfig, denn du bist der Boß." Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Pam war im Laden beschäftigt und Lacy im Büro, das ihr gleichzeitig als Werkstatt und Lagerraum diente. Pams Charme überzeugte
jeden Kunden, der den Laden betrat, mindestens ein Buch zu kaufen, und auch die Lampen waren sehr gefragt. Jedesmal, wenn Pam nach hinten kam, um eine neue Lampe aus dem Lager zu holen, steigerte sich Lacys Hochgefühl. Das Weihnachtsgeschäft übertraf ihre Erwartungen bei weitem, und folglich konnte sie eine beachtliche Summe Geld für den Kauf des Ladens sparen. Lacy packte mehrere Kartons neu gelieferter Bücher aus, sortierte sie in die Regale und dekorierte das Schaufenster um. Zu ihrer Freude waren ein paar brandaktuelle Bestseller schon wieder vergriffen, bevor sie sie richtig ausgestellt hatte. Gegen fünf Uhr war Lacy reif für eine Ruhepause. Dabei hatte sie kaum Zeit gefunden, an ihren Lampen zu arbeiten. Eigentlich wollte sie drei Bestellungen erledigen, doch jetzt konnte Joni jeden Augenblick heimkommen und ihre Aufmerksamkeit beanspruchen. "Lacy?" Sie sah auf. "Ist es Zeit für dich zu gehen, Pam?" "Ja, aber da ist noch ein Mann an der Tür, der dich sprechen möchte." Lacy runzelte die Stirn. "Wer denn?" "Er sagt, er heißt Boothe Larson." Lacy erbebte. Was will Boothe? überlegte sie nervös. Egal was, ich werde ihn freundlich, aber distanziert behandeln. Das ist für uns alle das beste. "Lacy?" "Äh... schick ihn her und schließ den Laden zu." Sie zwang sich zu einem Lächeln. "Vielen Dank für deine großartige Hilfe." Pam verschwand, und Lacy versuchte krampfhaft, Ruhe zu bewahren, aber die Zeit war gegen sie. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Boothe in der Tür stand, und schon hatte sie ihre guten Vorsätze vergessen. Sein Anblick erfüllte sie mit freudiger Erregung.
Boothe bemerkte ihre positive Reaktion. Eben noch zurückhaltend und verschlossen, lächelte er sie überrascht an. Der Wechsel in seinem Mienenspiel erinnerte Lacy an einen Sonnenstrahl, der sich durch eine dunkle Wolke stahl. Er sah ihr tief in die Augen, und atemlos spürten sie die ungestillte Sehnsucht nach einander. Dann riß Boothe seinen Blick los, und der magische. Augenblick war vorbei. "Es duftet weihnachtlich hier", sagte Boothe, um überhaupt etwas zu sagen. Er lächelte immer noch, aber seine Stimme klang gepreßt. "Das liegt wohl daran, daß Weihnachten ist", erwiderte Lacy heiser und ärgerte sich über ihre Kopflosigkeit. Boothe brauchte sie nur anzusehen, und schon spielten ihre Gefühle verrückt. Er drehte sich um und begutachtete den Laden. "Ist das Ihr Werk? Die Dekoration und so..." Was willst du? beschwor Lacy ihn stumm. Als sie sprach, hatte sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle. "Ja. Sue hat mir natürlich geholfen." "Sue?" "Meine Teilzeitangestellte." "War das gerade Sue?" Lacy schüttelte den Kopf, das bedeutungslose Gespräch machte sie verrückt. "Nein, das war Pam, die mir in der Vorweihnachtszeit stundenweise aushilft. Joni ist mit Sue und deren Tochter Pizza essen gegangen." "Ah, ich wollte gerade nach meiner kleinen Freundin fragen." "Nun, jetzt wissen Sie Bescheid." Lacy spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. Das sind nur die Nerven, redete sie sich ein und hätte Boothe am liebsten geschüttelt, damit er endlich den Grund seines Besuches nannte. Er brachte ihren Seelenfrieden völlig durcheinander. Und er sah schon wieder viel zu gut aus in den stone-washed Jeans und dem blauen Sweatshirt, das farblich genau zu seinen Augen
paßte und das silbern schimmernde Haar an den Schläfen vorteilhaft zur Geltung brachte. Der Kragen war offen und enthüllte seine Brusthaare. Lacy spürte die Schweißperlen an ihren Handflächen. "Ihr Laden gefällt mir", sagte Boothe. Lacy entspannte sich ein wenig. "Ich liebe die Weihnachtszeit und die Vorbereitungen für das Fest." "Das sieht man." Er hatte recht. Mitten im Laden stand ein wunderschöner Tannenbaum, der mit glänzenden roten Kugeln, Kerzen und Samtschleifen geschmückt war. Außerdem waren blühende Christsterne geschmackvoll zwischen den Bücherregalen und den Lampen verteilt, und von der Decke hingen buntlackierte Holzfiguren mit Weihnachtsmotiven. Boothe schnupperte. "Was ist das?" "Eine spezielle Gewürzmischung für Weihnachten. Ich habe ein paar Dufttöpfe aufgestellt." "Es riecht so appetitlich, daß man es trinken möchte." Lacy lachte unsicher. "Ich fürchte, das würde böse enden." "Ich fürchte, Sie haben recht." Lacy wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. "Ein Mistelzweig fehlt." Lacy wurde ganz heiß. "Ja, der fehlt hier." Sie fühlte seinen Blick auf ihren Lippen und erschauerte. Unwillkürlich dachten sie beide an den Kuß, und die Erinnerung weckte ein brennendes Verlangen. Schnell schaute jeder in eine andere Richtung. "Zeigen Sie mir, wie Sie die Lampen anfertigen." Lacy merkte am Tonfall seiner Stimme, daß er genauso erregt war wie sie. Sie drehte sich hastig um und flüchtete fast in ihr Büro. Boothe folgte ihr.
"Wenn ich Ihnen zeige, wie ich meine Lampen herstelle, zeigen Sie mir dann auch, wie Sie Ihre Holzfiguren schnitzen?" Sie wagte es, ihn kurz anzublicken. "Vielleicht", wich er schroff aus. "Die Antwort reicht mir nicht." "Oh, einverstanden." Lacy verkniff sich ein Lächeln, als sie eine farbige Glasplatte aus dem Regal über ihrem Arbeitstisch nahm. "Ich kaufe das Glas in allen Farben. Dann schneide ich es mit Hilfe von Schablonen in verschiedenen Größen und Formen aus." "Aha, und danach kommen die Glasteilchen an die vorgefertigten Lampenschirme." "Richtig. Ich umwickle die Ränder der Glasteilchen mit Kupferfolie, löte sie aneinander und befestige sie zunächst an der Oberseite des vorstrukturierten Schirms und dann gelegentlich an der Unterseite." Lacy legte die Glasplatte wieder ins Regal. "Das ist die ganze Kunst." Boothe kreuzte die Arme vor der Brust und lehnte sich an das Regal. "Dazu ist aber viel Talent nötig." "Mehr Geduld und Fleiß als Talent", wehrte Lacy bescheiden ab. "Was kosten die Lampen?" "Das hängt von der Größe und dem Muster ab. Keine kostet weniger als fünfzig Dollar, manche kosten zweihundert Dollar." Sie hob eine kleine bunte Lampe mit "winzigen Details hoch, die wie ein Pilz aussah. "Diese spezielle Form kostet sogar zweihundertfünfzig Dollar." "Sie ist etwas ganz Besonderes .. . genau wie Sie", sagte Boothe bewundernd und bereute seine offenherzigen Worte sofort. Jemand rüttelte an der Ladentür. "Das ist Joni", erklärte Lacy erleichtert und verschwand. Ein paar Minuten später kam sie zurück, Joni folgte ihr begeistert.
"Hallo, Boo. Bist du extra gekommen, um mich zu besuchen?" "Du hast es erraten. Ich wollte dir und deiner Mutter vorschlagen, mit zu mir nach Hause zu kommen und dort einen Tannenbaum auszusuchen und zu fällen." Lacy seufzte. Das war also der Grund für seinen Besuch. Warum hatte er sie so auf die Folter gespannt? Ich werde diesen Mann wohl nie verstehen, dachte sie gereizt. "Super. Bist du einverstanden, Mami? Sag ja!" "Liebling, ich weiß nicht..." Lacy brach ab, als sie Boothes Gesichtsausdruck sah. Er sagte kein Wort, aber ein Muskel an seinem Kinn zuckte, und in seinen Augen entdeckte sie einen tief verborgenen Schmerz. Oder bildete sie sich das nur ein? Es war sowieso zu spät. Sie hatte längst kapituliert. "Ich hole meinen Mantel." "Na, was meinst du?" fragte Boothe. "Entspricht er deinen Vorstellungen?" Joni legte den Kopf schief und war offensichtlich verwirrt. "Was heißt ,Vorstellungen', Boo?" Boothe blieb ernst, während Lacy schmunzelte. "Ich wollte wissen, ob du ihn schön findest", erklärte er geduldig. Joni begutachtete die perfekt gewachsene, geschmückte Tanne fachmännisch. "Es ist der allerschönste Weihnachtsbaum, den ich je gehabt habe." "Das geht mir genauso." Lacys Stimme bebte leicht. Der Baum war prächtig geschmückt, mit glitzernden Kugeln, vergoldeten Nüssen, Lame tta und unzähligen Kerzen. Aber nicht nur der Weihnachtsbaum war wunderschön, der ganze Nachmittag war wunderschön gewesen. Zuerst waren sie zu Boothes Grundstück gefahren, und er hatte sie unverzüglich in das dazugehörige Waldstück geführt, wo er mehrere geeignete Tannenbäume zur Wahl stellte. Joni durfte wählen und fand das ungeheuer spannend. Dann hatte er
ihr eine kleine Axt gegeben und ließ sie den ersten Schlag tun. Joni war ganz aufgeregt vor Freude und Stolz. Boothe kniete sich neben sie, und sie fä llten den Baum gemeinsam. Lacy hatte ihnen zugeschaut, sie war so gerührt gewesen, daß sie kein Wort herausbrachte. Anschließend waren sie zurückgefahren, hatten Popcorn gegessen, heiße Schokolade getrunken und den Tannenbaum gemeinsam dekoriert. Die ganze Zeit über war Lacy wie verzaubert von Boothes Ausstrahlung. Sie war sich seiner Wirkung so bewußt, daß sie vorsichtshalber darauf achtete, daß ihre Hände sich nicht berührten, wenn sie eine Kugel an den Baum hängten oder eine Kerze befestigten. Trotzdem genoß sie es, seine Aufmerksamkeit zu spüren. Nun betrachteten sie ihr Werk und hätten nicht zufriedener sein können. Nur eines fehlte noch. "Bist du bereit, Joni?" fragte Boothe. Lacy sah zu, wie der große, kräftige Mann das zarte Kind behutsam hochhob, und unwillkürlich kamen ihr die Tränen. Wenn doch nur... Vergiß es! schalt sie sich. Er ist nicht daran interessiert, die Verantwortung für eine Mutter mit Kind zu übernehmen. Dann dachte sie an das Verlangen in seinem Blick, wenn er sie, Lacy, ansah. Bestimmt ist alles nur Einbildung, fand sie, weil ich mir wünsche, daß wir eine Familie werden könnten. Joni steckte den Engel an die Spitze des Baumes, legte Boothe die Arme um den Hals und drückte ihn fest. "Sieht der Engel nicht hübsch aus?" Boothe gab ihr einen Nasenstüber. "Ja, aber nicht so hübsch wie du." Er stellte Joni wieder auf den Fußboden, und Lacy streckte ihrer Tochter die Hand entgegen. "Es ist Zeit für dich, ins Bett zu gehen, junge Dame." "Aber Mami..." "Ich will kein Jammern hören. Es ist schon später als sonst."
Joni rieb sich die Augen und schaute Boothe an. "Bringst du mich ins Bett?" Lacy schnappte hörbar nach Luft. Boothe ignorierte ihre Reaktion und meinte zu Joni, die sich jetzt an seine Beine schmiegte: "Aber klar, wenn deine Mutter nichts dagegen hat." "Ach, das macht ihr nichts aus. Ich weiß noch, wie mein Papi mir einmal eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hat." Es wurde still im Raum. Lacys und Boothes Blicke trafen sich über Jonis Kopf. Lacys Kehle war trocken, ihre Knie wurden weich. "Soll ich dir auch eine Geschichte vorlesen?" fragte Boothe schließlich abwartend. "Au ja." Joni grinste vergnügt. ",Rudolf mit der roten Nase' ist meine Lieblingsgeschichte." Lacy ergriff Jonis Hand und hoffte, daß Boothe nicht bemerkte, wie aufgewühlt sie war. "Komm, Schätzchen. Wenn du im Bett bist, rufen wir Boothe." Zwanzig Minuten später kam Boothe ins Wohnzimmer zurück. Lacy sah ihm erwartungsvoll entgegen. Er setzte sich zwanglos neben sie auf das Sofa. "Schläft Joni?" "Ja, nach der ersten Seite ist sie eingeschlafen." Lacy lächelte. "Sie hatte einen aufregenden Tag." "Den hatten wir alle." "Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin müde." Boothe tat überrascht. "Sie, der Workaholic? Das kann ich kaum glauben." Lacy schaute ihn mit blitzenden Augen an. "Das sollten Sie aber glauben. Ein Kind zu erziehen erfordert enorme Ausdauer und Vitalität." l "Tja, Joni ist ein kleines Energiebündel."
"Ich... ich möchte Ihnen für diesen Nachmittag danken. Sie haben dafür gesorgt, daß dieses Weihnachtsfest etwas ganz Besonderes für Joni wird, und das weiß ich zu schätzen." "Und was ist mit Ihnen?"
"Wie meinen Sie das?"
"Wird es für Sie auch ein besonderes Fest?" fragte er rauh.
Lacys Herz schlug schneller. "Ja", flüsterte sie.
"Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Weihnachtsbaum
gehabt zu haben, geschweige denn, Geschenke darunter." Seine Stimme klang nüchtern, aber die Verlassenheit, die aus seinen Worten sprach, erschütterte Lacy. Sie stellte sich Boothes in Jonis Alter vor, zur Weihnachtszeit, ohne Eltern, ohne Liebe, und hielt blinzelnd ein paar Tränen zurück. Dann lächelte sie vielversprechend. "Vielleicht wird Weihnachten dieses Jahr anders." "Glauben Sie?" Er heftete den Blick auf ihre Lippen und sah ihr dann in die Augen. Die Spannung zwischen ihnen wuchs. Lacy stand hastig auf und eilte in Richtung Küche. "Ich koche uns noch eine Tasse heiße Schokolade." "Wo ist Jonis Vater?" Lacy blieb abrupt stehen und drehte sich widerstrebend um. "Er... war im Gefängnis." "War? Wo ist er jetzt?" "Er ist tot."
7. KAPITEL Lacys Worten folgte eine unbehagliche Stille. "Setzen Sie sich... bitte", sagte Boothe schließlich. "Die heiße Schokolade kann warten." Lacy gehorchte automatisch und sank zurück auf das Sofa. Boothe wollte eine Erklärung von ihr, aber sie haßte es, alte Wunden aufzureißen und an die schmerzliche Vergangenheit erinnert zu werden. Dennoch würde sie ihm erzählen, was er wissen wollte, als ob er ein Recht auf ihre verborgensten Geheimnisse hätte. In Gegenwart von Boothe schwand ihre Willenskraft dahin. "Wie ist er gestorben?" fragte er angespannt. "Im Gefängnis... bei einem Aufstand." Boothe stieß eine Verwünschung aus. Tränen stiegen Lacy in die Augen. Sie drehte sich hastig um, Boothe sollte sie nicht weinen sehen. "Wenn Sie nicht darüber sprechen wollen..." Sie lächelte tapfer, doch ihr Kinn zitterte. Diesmal verwünschte Boothe sich selber. "Manchmal bin ich ein unsensibler Dummkopf." Lacys Lächeln verschwand. "Wir haben alle unsere schwachen Momente." Sie schwiegen eine Weile. "Ich sollte besser gehen", meinte Boothe dann und wollte aufstehen. Lacy hielt ihn zurück.
"Eines Tages brach ein Aufstand im Gefängnis aus", begann sie mit monotoner Stimme. "Dann geriet er zwischen die streitenden Parteien und wurde niedergestochen." Boothe war schockiert, aber bevor er antworten konnte, sprang Lacy auf. "Ich bin gleich wieder da. Ich will nur schnell nach Joni sehen und die heiße Schokolade für uns kochen." Sie floh in die Küche. Ihre Hände waren eiskalt, und sie zitterte am ganzen Körper. Trotzdem schaffte sie es irgendwie, die Schokolade zuzubereiten. Dabei blickte sie immer wieder nervös über ihre Schulter, überzeugt davon, daß Boothe ihr folgen würde. Er tat es nicht. Lacy stellte zwei Tassen aufs Tablett und ging leise in Jonis Zimmer. Das Kind schlief friedlich. Wie süß und unschuldig es aussah! Lacy hastete weiter, bevor die Rührung sie übermannte. Im Wohnzimmer war es gemütlich warm. Boothe hatte das Feuer im Kamin geschürt und sah dem Spiel der Flammen zu. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. "Mmm, das ist gut", sagte Lacy und fühlte sich plötzlich beschmutzt und betrogen. Das passierte jedesmal, wenn sie über den gewaltsamen Tod ihres Exmannes sprach. Sie hatte vergeblich versucht, dieses Gefühl zu unterdrücken. Es verfolgte sie wie ein wiederkehrender Alptraum. Boothe nahm die Tasse aus ihrer Hand und bedankte sich mit einem Kopfnicken. Dann nippten sie schweigend an dem heißen Getränk. "Weiß Joni Bescheid?" fragte Boothe nach einer Weile. Lacy lehnte sich vor und stellte die Tasse auf das Tischchen. "Sie weiß, daß ihr Vater... im Himmel ist." "Aber nicht, wie er gestorben ist." "Sie ist noch zu klein, um das zu begreifen." "Haben Sie ihn geliebt?" Lacy sah ihn fassungslos an. "Wie können Sie so etwas fragen! Das hat noch keiner gewagt." Boothe zuckte mit den Schultern und wartete.
"Ich war fest davon überzeugt. Aber dann bekam er Probleme an seinem Arbeitsplatz, und danach veränderte er sich." "Hat er Joni jemals mißhandelt?" Boothes Stimme klang gepreßt, als ob er Angst vor der Antwort hätte. Lacy erkannte plötzlich, wieviel Joni ihm bedeutete, und das gab ihr die Kraft zur Offenheit. "Nein, auch nicht nach der Scheidung, als er Joni über die Staatsgrenze brachte." "Sie meinen, er entführte sie?" "Ja", sagte sie ohne Umschweife und erzählte Boothe dann, wie sie einen Detektiv engagiert hatte, um die beiden ausfindig zu machen. Am Schluß ihres Berichtes war Boothe zornig. "Ich weiß, daß man nicht schlecht über die Toten sprechen soll, aber vielleicht hat Ihr Exmann genau das bekommen, was er verdient hat." "Nun, die Gefängnisstrafe hatte er sicherlich verdient, aber das andere..." Lacy erschauerte. "Als ich die Nachricht von seinem Tod bekam, brach mir fast das Herz." Sie sah, wie Boothe die Zähne aufeinanderbiß, sprach aber unbeirrt weiter. "Nicht, weil ich ihn noch liebte, sondern wegen seinem tragischen Ende. Er hatte so gute Anlagen, war hochintelligent... und war doch vom Weg abgekommen. Als ich die Chance zu einem Neuanfang erhielt, ergriff ich sie sofort." Lacy lächelte unter Tränen. "Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte." "Haben Sie jetzt erreicht, was Sie wollten?" "Beinahe." Lacy blickte nachdenklich in die Flammen. "Sobald ich Besitzerin des Buchladens bin, kann ich das sagen." "Das ist sehr wichtig für Sie, oder?" "Ja, weil es Sicherheit und Unabhängigkeit für Joni und mich bedeutet, die uns niemand nehmen kann. Das ist nach unseren schlimmen Erfahrungen entscheidend. Ich hoffe, daß Joni keine lebenslangen Narben davonträgt."
Boothe sagte nichts weiter dazu. Statt dessen trank er seine heiße Schokolade in zwei Zügen aus. "Und was ist mit Ihnen?" fragte Lacy, nachdem er die Tasse abgestellt hatte. "Was ist für Sie wichtig?" "Daß ich meine Arbeit wiederaufnehmen kann", antwortete er kurz angebunden. "Fürchten Sie, daß das nicht der Fall sein könnte?" "Allerdings. Man kann ein Feuer nicht mit einem lahmen Bein bekämpfen." "Was sagen die Ärzte?" Boothe schnaubte verächtlich. "Sie wissen nichts." Lacy ließ nicht locker. "Irgend etwas müssen sie doch dazu sagen können." "Ja, daß ich Geduld haben soll. Die Zeit wird es zeigen." Er stand unvermittelt auf und schürte das Feuer im Kamin. Als er Lacy wieder anblickte, war sein Gesichtsausdruck abweisend. Offensichtlich wollte er nicht mehr über sich sprechen. Das laß' ich nicht zu, dachte Lacy. Ich will endlich wissen, warum er so zurückgezogen lebt. Der Unfall ist garantiert nicht der einzige Grund. "Nun..." sagte sie bedeutungsvoll, streifte die Pumps ab und streckte die Beine auf dem Sofa aus. Boothe runzelte die Stirn. "Was soll das heißen?" "Das wissen Sie ganz genau, und ich kann warten." Er unterdrückte den Anflug eines Lächelns angesichts ihrer Hartnäckigkeit. "Jetzt sind Sie dran, die Geheimnisse Ihrer Familie zu offenbaren." Er schnaubte wieder verächtlich und setzte sich dann neben sie. "Da gibt es nichts zu offenbaren." "Jeder hat doch eine Familie."
"Ich nicht. Meine Mutter ließ mich im Stich, als ich noch ein Kind war. Niemand weiß, wer mein Vater ist, meine Mutter am allerwenigsten." Lacy starrte ihn entsetzt an. "Das ist keine schöne Geschichte, nicht wahr?" "Nein... wirklich nicht", flüsterte Lacy zutiefst erschüttert. "Ich habe auf die harte Weise gelernt zu ändern, was man ändern kann, und die Finger von dem zu lassen, was man nicht ändern kann." "Wie kam es zu dem Unfall?" Boothe schilderte ihr die Details. "Es tut mir leid um Ihren Freund." "Mir ebenso." "Um eine Frau ging es auch, nicht wahr?" "Woher wissen Sie das?" fragte er unwillig. Lacy zuckte mit den Schultern. "Das ist purer Instinkt, würde ich sagen." ' "Als sie von meiner Verletzung hörte, verließ sie mich." . Boothe lachte bitter. "Der Gedanke, an einen möglicherweise arbeitsunfähigen Krüppel gebunden zu sein, gefiel ihr nicht. Ich konnte ihr den Lebensstandard nicht mehr bieten, den sie erwartet hatte." "Nicht alle Frauen sind so." "Bisher hat mir keine das Gegenteil beweisen können." Seine Worte verletzten Lacy. "Schade, daß Sie so denken", murmelte sie enttäuscht. "So habe ich das nicht gemeint. Ich..." Boothe stoppte, als ob er nicht weiterwüßte. Plötzlich erschien keine Erklärung mehr nötig. Ihre Blicke trafen sich. Lacy errötete. Er verbarg sein Verlangen nicht länger, und sie fühlte sich wie magisch zu ihm hingezogen. Ihre Erregung wuchs, und sie fuhr sich mit der Zunge über die halbgeöffneten Lippen. "Lacy." Seine Stimme klang rauh.
"Was?" "Hören Sie auf", flehte er. Sie schluckte. "Womit?" "Das wissen Sie." "Nein, das weiß ich nicht", flüsterte sie kaum hörbar. "Ihre Zunge. Die Art, wie Sie Ihre Lippen berühren." "Oh." Sie sahen sich tief in die Augen und verharrten ein paar Sekunden regungslos. Die antike Wanduhr tickte. Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden. Sie wagten kaum zu atmen. "Lacy?" Ihr Herz schlug so schnell, und sie begehrte ihn so schmerzlich, daß sie nicht antworten konnte. Doch sie fürchtete sich davor, ihren Gefühlen nachzugeben, weil sie die Konsequenzen vorausahnte. Sie wollte die Katastrophe verhindern und sich und Boothe vor einem Schritt bewahren, den sie später bestimmt bereuen würden. Umsonst. Sie schaute ihn wie hypnotisie rt an, ihre Lippen bebten. Boothe stöhnte auf und nahm Lacy in die Arme. Dann küßte er sie wild und besitzergreifend und entfachte ein Feuer in ihr, das jeden Zweifel auslöschte. Lacy verwuschelte sein Haar und drängte sich ihm entgegen. Ihr Verlangen steigerte sich ins Unerträgliche. Boothe zögerte und sah sie bittend an. "Ich will mehr." "Ich auch." "Ich will dich ganz und gar." Sie zogen sich im Schein des Kaminfeuers aus und ließen die Kleider achtlos liegen. Boothe betrachtete Lacys wohlgeformten Körper. Da war keine Zurückhaltung, keine Verschlossenheit mehr in seinem Blick. Er konnte sich nicht satt sehen an ihr und zeigte seine Bewunderung auch. Lacy rührte sich nicht, obgleich ihre Haut unter seinem feurigen Blick zu brennen schien. Sie vergaß die
Vergangenheit und dachte nicht länger an die Zukunft. Nur die Gegenwart zählte. "Du bist wunderschön", flüsterte Boothe. "Deine Brüste sind perfekt." Lacy folgte seinem Blick. Ihre Brüste glänzten wie weißes Porzellan im Schein des Kaminfeuers, bis auf die Brustspitzen, die zwei rosigen Knospen glichen. Sie errötete. Boothe lächelte und berührte eine Brustwarze mit der Fingerspitze. Lacy zuckte zurück, aber nicht vor Schmerz, sondern aus purer Lust. "Wo?" fragte Boothe. Lacy gab nicht vor, ihn mißzuverstehen. "Dort drinnen." Ohne den Blick von ihr zu wenden, nahm Boothe sie an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Sie ließen die Tür offen, das Kaminfeuer war hell genug. Er setzte sich an das Fußende des Bettes und zog sie zu sich heran. Dabei bewunderte er weiter ihre Brüste, die schlanke Taille, den flachen Bauch und die wohlgerundeten Hüften. Dann spreizte er die Beine, so daß sie genau dazwischen paßte. Seine Lippen waren jetzt auf gleicher Höhe mit ihren Brüsten. Er nahm eine Brustspitze in den Mund und liebkoste sie aufreizend mit der Zunge. "Oh, Boothe", wisperte Lacy und klammerte sich an ihn. Erst nachdem ihre Brüste feucht schimmerten, bat er: "Streichle mich." Sie berührte seine intimste Stelle und massierte ihn zärtlich. Boothe stöhnte lustvoll auf. Nach ein paar Sekunden ergriff er ihre Hand. "Ich... kann nicht mehr ertragen." Trotzdem hielt er sich noch zurück und begann jetzt, sie zu streicheln. Lacy gab sich ihm hin und vergaß alles um sich herum. Er steigerte ihre Lust dem Höhepunkt entgegen, und als sie aufschrie, küßte er ihre heißen Lippen. Dann ließ er sich rückwärts aufs Bett fallen und zog sie mit sich. Sie lag auf ihm, ihre Herzen schlugen im Takt.
"Du duftest betörend wie eine Orchidee... deine Haut, deine Haare..." Boothe knabberte an ihrem Ohrläppchen. Lacy rutschte ein Stückchen und strich aufreizend über seinen muskulösen Körper. Er versteifte sich, stöhnte auf, umfaßte ihre Hüften und preßte sie an sich, während er sie auf den Rücken drehte. Mit einem Aufschrei grub sie die Fingernägel in seinen Nacken, als er in sie eindrang. Sie bog sich ihm entgegen, mit einer ungezügelten Leidenschaft, die seiner gleichkam. Zusammen erreichten sie den Gipfel der Lust und erfüllten einander die geheimsten Wünsche. Lacy erwachte bei Tagesanbruch. Sie bewegte sich langsam und fühlte sich herrlich entspannt. Dann fiel ihr ein, was passiert war. Sie drehte den Kopf zur Seite. Boothe lag neben ihr und schlief tief und fest. Nie hätte sie sich träumen lassen, daß es so wunderbar sein würde, mit ihm zu schlafen. Aber was bedeutete es? War es nur Sex? Natürlich war es nur das. Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder. Wir sind Opfer unserer körperlichen Bedürfnisse geworden, dachte sie, zwei vom Schicksal geprüfte Menschen, die viel zu lange allein gelebt haben. Dem Geschehen eine tiefere Bedeutung beizumessen, wäre töricht und würde beiden nur neue Qualen bereiten. Doch es war zu spät. Lacy hatte ihren Schwur, sich nie wieder zu verlieben, längst gebrochen. Sie liebte Boothe mit einer Intensität, die alles übertraf, was sie bisher erlebt hatte. Und diesmal, das wußte sie instinktiv, war es die wahre Liebe, die nie enden würde. Dieser Mann, der hinter der Maske der Einsamkeit ein liebevolles und großzügiges Herz verbarg, hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie bei ihrem Exmann nie empfunden hatte.
Die Erkenntnis half ihr aber wenig und löste ihre Probleme nicht. Im Gegenteil, sie war noch verwirrter als zuvor. Boothe erwachte plötzlich und setzte sich an den Bettrand. Lacy betrachtete seinen muskulösen Rücken und hätte sich am liebsten hinübergebeugt und ihn mit tausend kleinen Küssen überhäuft. Sie brauchte Boothe wie die Luft zum Atmen, das wurde ihr schmerzlich bewußt. Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, drehte er sich um. Seine Augen waren dunkel vor Leidenschaft. "Wenn ich dich jetzt anfasse, kann ich für nichts mehr garantieren", flüsterte er rauh. "Aber ich möchte Joni nicht aufwecken..." "Ich weiß." "Es tut mir nicht leid, daß dies... passiert ist." Sie senkte den Blick. "Lacy, schau mich an." Sie hob den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Boothe stöhnte verlangend, verharrte jedoch reglos und wartete. "Es tut mir auch nicht leid", gestand Lacy schließlich, die Stimme schien ihr kaum noch zu gehorchen. Boothe stand auf und wickelte die Bettdecke um sich. "Ich sehe dich später; okay?" Lacy blieb wie erstarrt sitzen, bis er die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte. Dann sank sie aufs Bett zurück, vergrub das Gesicht im Kissen und ließ den Tränen freien Lauf.
8. KAPITEL Boothe hielt die Rohfassung der Holzfigur hoch und begutachtete sein Werk kritisch. Nicht schlecht, dachte er, nahm das Messer und besserte eine Stelle am Schnabel des Vogels nach. Dann stellte er die Holzfigur auf den Werktisch zurück und streckte den Rücken. Seine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Seit dem frühen Morgen arbeitete er wie ein Besessener, und der Vogel war bereits die dritte Figur, die er in zwei Tagen geschnitzt hatte. Er beschäftigte sich, um nicht zu grübeln, aber eigentlich war es sinnlos. Boothe mußte trotzdem dauernd an Lacy denken. Wie konnte er nur so verrückt sein und mit ihr schlafen? An seiner grundsätzlichen Situation hatte sich nichts geändert, er hatte ihr nach wie vor nichts zu bieten. Die langwierige Beinverletzung war ein Handikap, das er keiner Frau zumuten wollte. Die Tatsache , daß sein Herz seinen Verstand besiegt hatte, steigerte seine Minderwertigkeitsgefühle noch und seine Wut dem Schicksal gegenüber. Jetzt, nachdem er mit Lacy geschlafen hatte, glich seine hart erkämpfte Disziplin einem Trümmerhaufen. Er verzehrte sich mit einer Leidenschaft nach ihr, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Immer wieder stellte er sich ihren makellosen Körper vor, hörte ihr Lachen, ihre lustvollen Schreie... "Verdammt." Boothe wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Er wollte Lacy sehen, und Joni natürlich auch. Es war zwei Tage her, seit er mit Lacy geschlafen hatte und hinterher wie ein Dieb aus der Wohnung geschlichen war. Seitdem hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Zuerst hatte er versucht, so zu tun, als ob nichts passiert wäre, dann hatte er sich geschworen, daß es nie wieder passieren würde. Dabei war das erst recht töricht. Insgeheim wußte Boothe, daß sein Leben durch Lacy einen neuen Sinn erhalten ha tte. Trotzdem quälten ihn unbeantwortete Fragen. Sollte er es wagen, eine neue Beziehung einzugehen? Wie fühlte Lacy wirklich? Liebte sie ihn? Als sein Bein zu schmerzen begann, nahm Boothe in einem alten Holzstuhl Platz und lehnte den Kopf an die Wand. Mit geschlossenen Augen bemühte er sich, dem seelischen Teufelskreis zu entrinnen. Das anhaltende Klingeln des Telefons unterbrach ihn in seinen Gedanken. Unfähig, es zu ignorieren, stand er auf und nahm den Hörer ab. "Oh, Lacy, die ist einmalig schön!" Die Kundin hielt eine zierliche Tiffany- Lampe hoch, und Lacy nickte zufrieden. "Sie haben recht, Maxie, die ist wirklich hübsch", stimmte sie zu und lachte dann. "Na, bin ich nicht furchtbar eingebildet?" "Sie haben Grund, stolz zu sein, meine Liebe." Maxie sah zu, wie Lacy die Lampe behutsam in einen Karton packte. "Meine Cousine in Seattle wird begeistert sein. Ich wette, daß sie noch eine Lampe für ihr Gästezimmer bestellt." "Das wäre großartig", erwiderte Lacy freundlich. "Nochmals vielen Dank und frohe Weihnachten." "Ich wünsche Ihnen ebenfalls ein frohes Weihnachtsfest, und fahren Sie vorsichtig." Als die Frau gegangen war, atmete Lacy tief durch und streifte die Pumps von den schmerzenden Füßen. Sie hätte auf hochhackige Schuhe verzichten sollen, aber he ute hatte sie das Bedürfnis verspürt, sich besonders schick anzuziehen. Die
Pumps paßten ausgezeichnet zu dem türkisfarbenen Leinenkostüm, das ihre Stimmung heben sollte. Warum rief Boothe nicht an? Wußte er nicht, daß sie sich nach ihm sehnte? Er hat doch behauptet, daß er nichts bedauert, dachte Lacy frustiert. Warum meldet er sich nicht, wenn's stimmt? Er kann unmöglich noch verwirrter und unsicherer sein, als ich es schon bin. Zuerst hätte Lacy geglaubt, daß sie die Dinge bei Tageslicht anders sehen würde, daß es vielleicht doch nicht Liebe war, was sie für Boothe empfand. Inzwischen war sie eines Besseren belehrt. Diese verzehrende Sehnsucht, diese ungezügelte Leidenschaft empfand eine Frau nur, wenn sie liebte. "Hier ist es aber still." Sue kam aus dem Büro. Lacy lächelte, dankbar für die Unterbrechung. "Ich weiß, und ist das nicht angenehm?" Sue zog eine Augenbraue hoch. "Lacy Madison, ich kann es kaum glauben, daß du das gesagt hast, wo du doch jeden Pfennig Geld brauchst, den du kriegen kannst." "Du hast ja recht, aber meine Füße tun so weh", jammerte Lacy. Sue lachte, wurde dann aber ernst. "Du siehst ziemlich fertig aus. Verschweigst du mir etwas?" "Nein." "Hmm." Lacy warf Sue einen mißtrauischen Blick zu. "Was soll das ,Hmm' heißen?" "Nun, Joni hat mir erzählt, daß sie einen neuen Freund hat." Ein Warnsignal ertönte in Lacys Kopf. "Oh", wich sie verlegen aus. "Jawohl, und sie hat mir sogar seinen Namen genannt." "Also heraus damit, Sue. Worauf willst du hinaus?" Sue schmunzelte. "Ich habe mir gedacht, daß Jonis Freund vielleicht auch dein Freund ist..."
"Erinnere mich daran, daß ich meiner Tochter einen Knebel in den Mund stecke, wenn sie von der Party heimkommt." "Du willst also keine Geheimnisse lüften?" "Du hast es erfaßt", meinte Lacy mit zuckersüßer Stimme. Das Telefon klingelte. Sue rollte mit den Augen. "Das ist deine Rettung." Lacy streckte ihr die Zunge heraus und nahm den Hörer ab. Sie hörte zu und wurde von einer Sekunde auf die andere leichenblaß. Dann legte sie den Hörer wie geistesabwesend wieder auf. "Lacy, was ist los?" Lacy glaubte, gleich zu ersticken. Sie rang mühsam nach Luft, während sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Stimme gehorchte erst beim zweitem Versuch. "Es ist... Joni." "Was ist mit Joni?" fragte Sue alarmiert. "Sie ist weg." Sue blinzelte. "Weg? Ich verstehe gar nichts." Lacy war nah daran, hysterisch zu werden. "Oh, Gott!" rief sie. "Warum stehe ich hier noch herum? Ich muß sofort losfahren." Sue sparte sich weitere Fragen. "Ich schließe den Laden ab und komme mit dir." Boothe! Ich brauche Boothe, dachte Lacy verzweifelt. Er wird mir helfen. Er weiß, was zu tun ist. "Nein... du bleibst hier", ordnete sie an. "Ich telefoniere mit Boothe." Lacy spürte Boothes besorgten Blick, als sie neben ihm im Jeep saß, aber sie blickte weiter starr geradeaus. Vor lauter Angst war sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. "Versuch, dich zu entspannen, okay?" "Ich kann nicht." Lacy preßte die bebenden Lippen zusammen. Und das stimmte. Sie hatte wirklich versucht, ruhig zu bleiben, aber ihre Nerven spielten nicht mit. Als Marion, die Gastgeberin der Kinderparty, ihr mitteilte, daß Joni
verschwunden war, hatte Lacy zuerst an einen bösen Scherz geglaubt. Dann hatte sie Marions Schluchzen gehört und begriffen, daß es bitterer Ernst war. Nach der Entführung hatte Lacy Joni monatelang nicht außer Sichtweite gelassen. Erst seit sie in diese Kleinstadt gezogen waren, fühlte sie sich sicher genug, um nicht mehr jeden Schritt des Kindes zu überwachen. Jetzt begann der Alptraum von neuem, und das war zuviel für Lacy. Horrorvisionen quälten sie und brachten sie fast um den Verstand. Trotzdem versuchte sie krampfhaft, eine vernünftige Erklärung zu finden. Jonis Verschwinden konnte nichts mit ihrem Exmann zu tun haben. Dan war tot, er konnte ihnen kein Leid mehr antun. Am liebsten hätte sie ihre Angst herausgeschrien, statt dessen holte sie tief Luft und schaute Boothe flehentlich an. Ohne ihn hätte sie schon längst durchgedreht. Er hatte sofort reagiert, als sie anrief. "Ich bin schon unterwegs" hatte er, ohne zu zögern, gesagt. Lacy hatte vor dem Buchladen auf ihn gewartet, und er verlor keine Minute. Sie fuhren schnell und waren erst zehn Minuten unterwegs, doch Lacy kam es wie eine Ewigkeit vor. Mein Baby! Panik überkam sie. Lieber Gott, flehte sie, bitte gib, daß nichts Schlimmes passiert ist. "Lacy." "Was?" fragte sie unterdrückt. "Erzähl mir genau, was die Frau gesagt hat." "Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich weiß nur, daß sie Joni nirgends gefunden haben." "Was für eine Party ist das?" Lacy zitterte so, daß sie kein Wort herausbrachte. "Hol tief Luft", befahl Boothe. Sie gehorchte. "So ist es besser", sagte er beruhigend und wiederholte seine Frage.
"Es ist gleichzeitig eine Geburtstags- und Weihnachtsparty. Wenn ich daran denke, daß ich Joni zuerst verbieten wollte, hinzugehen..." "Warum?" "Weil ich nicht mitgehen konnte. Aber als sie weinte, gab ich nach, da ich Marion kenne." Boothe preßte wütend die Lippen zusammen. "Wie konnte das überhaupt passieren? Wo, verdammt noch mal, waren die Erwachsenen?" "Ich weiß es nicht." Lacy zitterte immer noch. "He, nimm's nicht zu schwer. Wir werden Joni finden", meinte Boothe zuversichtlich. "Wie kannst du so sicher sein? Stell dir vor..." "Hör auf", unterbrach er sie energisch. "Wir werden sehen, was uns erwartet. Mach dir keine unnützen Sorgen. Es wird alles in Ordnung kommen." Er klang so optimistisch und Lacy wollte ihm glauben. Sie mußte ihm einfach glauben. Kurze Zeit später bremste Boothe scharf vor dem Haus der Familie Holt. Lacy und er sprangen gleichzeitig aus den Jeep. Marion Holt kam ihnen entgegen, sie war ganz außer sich. "Oh, Lacy, es tut mir so schrecklich leid..." "Erzähl mir nur, was passiert ist!" befahl Lacy und hätte die hysterische Frau am liebsten gepackt und geschüttelt. Lacys Worte wirkten. Marion riß sich zusammen. "Wir... die Kinder... haben Verstecken gespielt." Sie brach ab und schniefte. "Weiter", drängte Lacy. "Jeder wurde gefunden... außer Joni. Wir haben überall gesucht und... wissen nicht weiter." Boothe fluchte unterdrückt. Lacy wich alle Farbe aus dem Gesicht, aber irgendwie schaffte sie es, zu fragen: "Wie viele Erwachsene sind außer dir da?" "Zwei... sie suchen noch weiter."
"Kommen Sie", sagte Boothe, "und zeigen Sie uns, wo Joni zuletzt gesehen wurde. Wir haben keine Zeit zu verlieren." Er spähte zum Himmel. "Die Wettervorhersage hat weiteren Schnee für heute nacht angekündigt, und der wird nicht lange auf sich warten lassen." Lacys Blick folgte seinem, und sie schwankte. Boothe nach ihrer Hand und drückte sie beruhigend. Sie hatten den zugeschneiten Garten halb durchquert, als eine Person die hintere Hausecke bog und winkte. Sie stoppten. "Ich hab' sie gefunden", rief die Frau. "Sie ist in einen tiefen Graben gefallen." Die drei Erwachsenen rannten los. Schweratmend blieben sie vor der Frau stehen. "Wo?" fragte Lacy mit schriller Stimme. "Da drüben." "Oh, Gott." Lacy stieß die Frau beiseite und hastete in die angegebene Richtung. Dabei schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, daß sich ihre schrecklichen Ängste nicht bewahrheiten würden. Sie sah Joni mit gebrochenen Armen und Beinen vor sich, mit Gesichtsverletzungen, im Rollstuhl... "Soweit ich das beurteilen kann, ist Joni unverletzt", rief ihr die Frau hinterher. "Dann wollen wir uns beeilen und sie befreien." Boothe übernahm das Kommando. Sie hörten Joni, bevor sie sie sahen. Die Kleine jammerte angstvoll nach ihrer Mutter, und im ersten Moment fürchtete Lacy, vor Qual ohnmächtig zu werden. Aber das passierte nicht. Im Gegenteil, sie schöpfte Kraft aus dem Bewußtsein, daß ihr Kind sie brauchte. Lacy und Boothe knieten am Hand des Grabens und schauten hinab. Trotz des Dämmerlichts entdeckten sie Joni sofort. Die Kleine kauerte tränenüberströmt in der Grabensohle. "Mami!"
"Ich bin hier, Liebling. Hast du dir weh getan?" "Plötzlich bin ich gefallen." Lacy kämpfte gegen die Tränen an. "Ich weiß. Erzähl Mami, ob dir etwas weh tut." "Mami!" wimmerte Joni wieder. Lacy sah Boothe hilfesuchend an. "Hallo, kleine Freundin", sagte Boothe aufmunternd und hatte prompt Erfolg. Joni hörte auf zu schluchzen und hob ihm die Ärmchen entgegen. "Hol mich raus, Boo." "Ich bin schon unterwegs, Schätzchen. Es dauert nicht mehr lange, okay?" Lacy bemerkte, daß Boothe genauso angespannt war wie sie. "Bist du sicher, daß du... ich meine..." Sie brach ab, als sie seinen entsehlossenen Gesichtsausdruck sah. Für Boothe war es eine selbstverständliche Pflicht, Joni zu bergen, und sie mußte ihn gewähren lassen. Dabei sorgte sie sich nicht nur um ihr Kind, sondern auch um ihn. "Sei vorsichtig, Boothe", bat Lacy und schätzte insgeheim die Tiefe des Grabens ab. Die Böschung war ziemlich steil und der Schnee, der sie bedeckte, vereist. Boothe nickte, bevor er sich am nächsten Busch festhielt und langsam und äußerst vorsichtig mit dem Abstieg begann. Lacy verfolgte jede seiner Bewegungen ängstlich. Hoffentlich geht alles gut, dachte sie, und er verletzt sich nicht selbst. Sie hielt sich den Mund mit der Hand zu, um ihre Befürchtungen nicht zu äußern. Boothe kletterte mit zusammengezogenen Augenbrauen und verkniffenen Lippen Stück für Stück hinunter. Er hatte. die Hälfte des Weges geschafft, als sein schwaches Bein plötzlich unter ihm nachgab und wegknickte. Lacy unterdrückte einen Schrei. Boothe versuchte fluchend, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. "Ist alles in Ordnung?"
"Ja", sagte er mit rauher Stimme. Lacy spürte seinen Zorn und seine Enttäuschung darüber, daß sein Bein nicht funktionierte. Sie fühlte mit ihm und liebte ihn um so mehr, aber sie wagte nicht, es ihm zu zeigen. "Es liegt an meinem Bein", stieß er hervor. Sein Gesicht war aschfahl, die Augen lagen tief in den Höhlen. Er konnte sich nicht bewegen und saß so in der Falle. Lacy unterdrückte die aufkommende Panik. "Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme." Boothe fluchte wieder. Lacy holte tief Luft und folgte dann Boothes Spur die Böschung hinab. Als sie ihn erreichte, war er in den Schnee gesunken, sein Gesicht war schmerzverzerrt. "Ich hole erst Joni, dann helfe ich dir." Er schüttelte wütend den Kopf. "Vergiß mich. Kümmere dich um Joni, wenn du es schaffst." An die nächsten Minuten konnte Lacy sich später nur unklar erinnern. Jeder Schritt schien eine Stunde zu dauern. Endlich erreichte sie ihre Tochter. "O Baby, mein Baby", wisperte sie und schloß das zitternde Kind in die Arme. "Mami", seufzte Joni erlöst. Tränen der Erleichterung liefen Lacy über die Wangen, als sie ihre Tochter fest an sich drückte. Nachdem sie ihre Gefühle wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, stand sie auf und schaute hinauf. Marion hatte sich ein Seil um die Taille gebunden und war, mit Unterstützung der beiden anderen Frauen, auf dem Weg nach unten. Zusammen brachten sie Joni in Sicherheit, dann konzentrierte Lacy ihre Aufmerksamkeit auf Boothe. Irgendwie hatte er es geschafft, aufzustehen. Mit zusammengebissenen Zähnen verlagerte er sein Gewicht auf das Seil, das jetzt an einem Baum befestigt war, und zog sich mühsam daran hoch, bis er am Grabenrand angekommen war.
"Kümmere dich um Joni", wiederholte er und lehnte sich schweratmend an einen Baum. Joni war nicht ernsthaft verletzt. Sie hatte ein paar Kratzer im Gesicht und an den Beinen und natürlich einen Schock von dem Sturz. Offensichtlich hatte sie Glück im Unglück gehabt, Lacy konnte es kaum fassen. Mutter und Tochter schmiegten sich aneinander, und ihre Tränen vermischten sic h. Nach einer Weile blickte Lacy auf. Die Frauen hatten sich inzwischen taktvoll zurückgezogen. Boothe! Wo war Boothe? Lacy drehte den Kopf. Er hatte den Baum losgelassen, stand trotzig auf beiden Beinen und starrte ins Leere. Lacys Herz krampfte sich zusammen, als sie die Verzweiflung in Boothes Gesicht sah. Sie wollte ihn trösten, wollte ihm versichern, daß es egal war, daß er Joni nicht befreien konnte, daß sie ihn sowieso liebte. Aber aus Furcht, alles nur noch schlimmer zu machen, schwieg sie. "Mami", bat Joni, "laß mich runter." "Einverstanden." Lacy wischte sich die Tränen ab. "Bitte wein doch nicht." "Ich kann nichts dagegen tun, Liebling." "Wo ist Boo?" "Er steht dort drüben." Das Kind drehte sich um und musterte Boothe nachdenklich. Als ob sie spürte, daß etwas nicht in Ordnung war, lief sie zu ihm und berührte ihn sanft. "Tut dein Bein weh?" Er blickte sie mit schmerzerfüllten Augen an. "Ein bißchen." "Soll ich pusten, Boo?" fragte Joni ernst. Boothe lächelte. "Das wäre lieb von dir." "Es hilft ganz bestimmt. Ich schwör's." Lacy sah den beiden lächelnd zu, und ihr Herz quoll über vor Liebe für das kleine Kind und den großen Mann. Sie blieb reglos stehen, weil sie fürchtete, sonst vielleicht doch noch die Fassung zu verlieren.
9. KAPITEL Boothe stand am Fenster des Behandlungszimmers und schaute hinaus. Die Arztpraxis lag in einem mehrstöckigen Bürohaus, an das ein Park angrenzte, der mit Touristen bevölkert war. Einige liefen Schlittschuh auf der Eisbahn in unmittelbarer Nähe, andere lauschten einem Chor, der Weihnachtslieder sang, und wieder andere schlenderten einfach herum und genossen die vorweihnachtliche Stimmung. Wenn doch nur etwas auf mich abfärben könnte, dachte Boothe und preßte die Lippen zusammen. Dann ballte er die Hände zu Fäusten und drehte sich gerade um, als die Tür aufging. "Entschuldigen Sie, daß Sie warten mußten", sagte Dr. Hank Stewart, trat hinter seinen Schreibtisch und legte einen Aktenordner hin. "Keine Ursache." Boothe täuschte eine unbeschwerte Haltung vor Es lag nicht an Hank Stewart persönlich, daß Boothe so angespannt war. Verglichen mit anderen Ärzten, die er kennengelernt hatte, war Dr. Stewart sehr sympathisch. Er sah nett aus, war mittleren Alters und äußerst kompetent. Aber Boothe traute Ärzten im allgemeinen nicht, egal, wie qualifiziert sie waren. Seit seinem Unfall hatte er die besten konsultiert, und trotzdem war sein Bein noch nicht geheilt.
"Nehmen Sie Platz, Mr. Larson", forderte Dr. Stewart ihn auf, folgte der eigenen Aufforderung und setzte sich in seinen großen Ohrensessel. "Ich bleibe lieber stehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht." "Wie Sie wünschen." "Wie lautet Ihre Diagnose?" fragte Boothe ohne Umschweife. Er wollte die Wahrheit wissen und nicht länger vertröstet werden. "Zuerst möchte ich wissen, warum Sie nicht mehr zu dem Spezialisten gegangen sind, der Sie in Houston behandelt hat? Er ist einer der berühmtesten in seinem Fach." Boothe zuckte mit den Schultern. "Ich hatte das Gefühl, daß er alles getan hat, was er tun konnte." "Und Sie erwarten, daß ich mehr tun kann?" Dr. Stewart lächelte freundlich und entschärfte dadurch seine Kritik. "Ich weiß es nicht. Können Sie es?" "Nein." Boothe war auf diese Antwort vorbereitet, trotzdem traf sie ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Es kostete seine ganze Willenskraft, nicht auszuholen und den Arzt niederzustrecken. Dr. Stewart deutete Boothes Blick richtig. "Das hatten Sie nicht erwartet, oder?" "Ja und nein." "Leider gibt es kein Wunderheilmittel für Ihre Art der Verletzung. Wenn sowohl der Muskel als auch der Knochen betroffen sind, kann nur eine langwierige Spezialtherapie helfen." "Das hab ich auch schon versucht, aber der gewünschte Erfolg hat sich nicht eingestellt." "Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als zu lernen, damit zu leben." "Ich kann damit leben, Doktor", sagte Boothe kurz angebunden, "das ist nicht mein Problem. Aber ich möchte wieder als Feuerwehrmann arbeiten. Das ist das Problem."
Dr. Stewart sah ihn direkt an. "Zu meinem Bedauern wird das nicht möglich sein." "Das war's dann wo hl." Mit leerem Blick ging Boothe zum Schreibtisch und reichte dem Arzt die Hand. "Vielen Dank, Doktor, daß Sie Zeit für mich hatten." "Es tut mir leid." "Tja, mir auch." In den Tagen nach Jonis Sturz hatte Lacy so viel zu tun wie noch nie. Auch nach Meinung der Einheimischen verbrachten diesen Winter mehr Touristen als je zuvor ihren Urlaub inCamden. Lacy beklagte sich natürlich nicht. Zahlreiche Kunden bedeuteten einen guten Verdienst, und da die Ferienzeit ihre Hauptsaison war, nutzte sie die günstige konjunkturelle Lage. Der einzige Nachteil war, daß sie kaum Zeit für Boothe erübrigen konnte. Er war ein paarmal vorbeigekommen und hatte Joni einen Nachmittag lang abgeholt, damit sie mit Spike spielen konnte. Sein Bein schmerzte angeblich nicht mehr, obwohl Lacy den Eindruck hatte, daß er schlimmer humpelte. Sie hatte ihn am Tag nach dem Zwischenfall auf der Party gefragt, wie es seinem Bein ginge, und er hatte behauptet, es sei in Ordnung. Da er offenbar nicht darüber sprechen wollte, hatte sie ihn nicht weiter bedrängt. Wenn ich ihn heute abend sehe, frage ich ihn noch mal, beschloß Lacy. Sie hatte sich den Nachmittag freigenommen. Genaugenommen war ihr auch nichts anderes übriggeblieben. Sue und Pam bestanden darauf, daß sie sich eine Ruhepause gönnte, und hatten sie regelrecht aus dem Laden verscheucht. "Okay, okay, ich geb's auf", hatte sie schließlich lachend kapituliert und daraufhin den Nachmittag mit Joni verbracht. Zuerst waren sie in den Park Enten füttern gegangen, und dann hatten sie einen Einkaufsbummel gemacht. Joni wollte
Geschenke für ihre Lehrerin, für Sues Tochter Melody und für Boothe besorgen. Lacy kaufte auch etwas für Boothe und hoffte, daß er sich über ihre Geschenke freuen würde. Bei Boothe wußte man nie. "Mami, glaubst du, daß Boothe mein Geschenk wirklich, gefällt?" Lacy lächelte und strich ihrer Tochter eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. "Woher wußtest du, daß ich genau darüber eben nachgedacht habe?" "Wußte ich nicht." Lacy konnte es kaum erwarten, Boothe an diesem Abend zu sehen. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen, und wenn Joni dann erst einmal im Bett lag, hatte sie weiter Pläne für Boothe und sich. Sie sehnte sich danach, wieder mit ihm zu schlafen, seinen muskulösen Körper zu spüren, seine heißen Lippen... "Mami, willst du sie ansehen?" "Was denn, Schätzchen?" fragte Lacy verträumt. "Boos Geschenke." "Aber wir haben sie doch gerade erst gekauft." "Ich will sie noch mal angucken." Lacy schmunzelte. "Einverstanden, aber dann muß ich mich ums Essen kümmern." Joni führte sie ins Schlafzimmer. Die Geschenke lagen auf dem Bett und mußten nur noch eingepackt werden. Joni hatte ein kleines Bild von einem Adler ausgewählt. Weil es billig war und in einem Plastikrahmen steckte, war Lacy zuerst gegen den Kauf gewesen. Aber das Kind hatte sein eigenes Spargeld und war so überzeugt, daß Boothe begeistert sein würde, daß Lacy schließlich nachgab. Sie brachte es nicht übers Herz, ihrer Tochter die Freude zu verderben. Lacys Wahl war etwas praktischer ausgefallen. Sie hatte den handgestrickten Pullover im Schaufenster entdeckt und sich spontan dafür entschieden, weil er farblich genau zu Boothes Augen paßte.
"Wann packen wir die Geschenke ein?" fragte Joni und strich zärtlich über den Pullover. "Was hältst du von sofort?" "Echt?" Lacy lachte. "Weißt du was, Mami? Ich kann es kaum erwarten, daß Boo kommt." Lacy drückte die Hand ihrer Tochter. "Mir geht es genauso", sagte sie mit rauher Stimme. Boothe nahm das Buch aus Jonis Hand und begann vorzulesen: "Es war in der Nacht vor Weihnachten..." Vorher hatten sie das herzhafte vorweihnachtliche Essen genossen, daß Lacy liebevoll für sie zubereitet hatte. Es gab geräucherten Truthahn, kandierte Süßkartoffeln, eine schmackhafte Soße, zwei Sorten Salat und als Nachspeise köstliche Nußtörtchen. Nach dem Abwasch hatte Joni stürmisch darum gebeten, die Weihnachtsbeleuchtung anzuschauen. Sie fuhren im Jeep durch das geschmückte Stadtzentrum und anschließend durch die verschiedenen Vororte. Die Tour dauerte etwas länger als eine Stunde. Nachdem sie zur ückgekehrt waren, ging Lacy sofort in die Küche und bereitete eine große Schüssel Popcorn und einen Krug Glühwein zu, für Joni gab es warmen Kakao. Kaum satt, kletterte sie mit dem Buch in der Hand auf Boothes Schoß. Lacy räumte die Küche auf und lauschte Boothes tiefer Stimme beim Vorlesen. "Magst du die Geschichte auch?" fragte Joni, als er fertig war. "Aber klar", meinte Boothe gefühlvoll. "Gut, dann kannst du sie ja noch mal vorlesen." Boothe tippte ihr auf die Nasenspitze. "Das könnte dir so passen, me in Fräulein."
Er lächelte unwiderstehlich, wie Lacy fand, und allmählich entspannte sie sich. Den ganzen Abend über war sie seltsam nervös gewesen, weil ihr irgend etwas an Boothe anders als sonst vorkam. Sie wußte nicht, was es war, und doch hatten ihre Gefühle sie bisher selten getäuscht. Wie sie ihn und Joni jetzt einträchtig beieinander sitzen sah, kehrte ihr Vertrauen zurück. Es ist alles nur Einbildung, beruhigte sie sich. Was soll nicht stimmen? Der Abend verläuft sehr harmonisch, und Boothe liebt mich und Joni, das ist offensichtlich. Manchen Leuten fällt es schwer, ihre Empfindungen in Worte zu fassen. Ich muß nur Geduld haben. Boothe wird mir bald seine Liebe gestehen, und dann werden wir eine richtige Familie. "Es ist aber noch nicht die Nacht vor Weihnachten", sagte Joni gerade mit ihrer imitierten Erwachsenenstimme, mit der sie Boothe so gerne beeindruckte. Lacy wartete schmunzelnd auf seine Antwort. "Woher weißt du das?" fragte er genauso ernsthaft. "Ich weiß es einfach." Boothe hat recht, dachte Lacy kopfschüttelnd, Joni weiß, wie sie einen beschäftigt. "Das war jetzt eine dumme Antwort", zog er sie auf. Joni kicherte. "Ich wette, du weißt gar nicht, wann der Weihnachtsmann kommt." "Du auch nicht", erwiderte sie übermütig. Lacy ging ins Wohnzimmer und blickte ihre Tochter warnend an. "So spricht man aber nicht mit Boothe", tadelte sie sanft. Joni senkte den Kopf. "Es wird langsam Zeit, daß du ins Bett gehst. Gib Boo einen Gutenachtkuß." "Ach, Mami..." "Gehorch deiner Mutter", stimmte Boothe zu, nahm das Kind in die Arme und zeigte auf seine Wange. "Dahin."
Joni grinste, spitzte die Lippen und gab ihm einen schmatzenden Kuß. Dann kletterte sie vom Sofa und folgte Lacy artig ins Kinderzimmer. "Schläft sie?" "Wie ein Murmeltier, zum Glück." Lacy setzte sich dicht neben Boothe auf das Sofa. Er schwieg, aber das machte Lacy nichts aus. Die Ruhe tat gut. Sie lauschten dem Feuer, das im Kamin prasselte. Die funkelnden Lichter am Tannenbaum tauchten den Raum in ein warmes Licht. Eigentlich hätte Lacy die Augen schließen und einschlafen können, doch sie wollte keinen Moment ihrer kostbaren Zeit mit Boothe verschwenden. Sie wollte von ihm in die Arme genommen werden, seinen Mund auf ihre Lippen spüren... "Boothe?" "Ja?" Lacy streckte sich genüßlich, und die Bluse spannte sich über ihren vollen, aufgerichteten Brüsten. "Ich hab' dich vermißt", sagte sie sanft und verlockend. Sein Blick verweilte auf ihrem Mund und wanderte dann zu ihren Brüsten. An seinem Kinn zuckte ein Muskel, aber er berührte sie nicht. Statt dessen stand er abrupt auf und ging zum Kamin. "Was ist los?" fragte Lacy alarmiert. Boothe drehte sich um und sah sie an, als ob er sich jede Einzelheit von ihr für immer einprägen wollte. Lacy überkam plötzlich Panik. "Warum..." Sie stockte und unterdrückte die aufkommenden Tränen. "Warum siehst du mich so merkwürdig an?" "Nach heute abend werde ich dich und Joni nie wiedersehen." "Was?!" Lacy erblaßte. "Das kann doch nicht dein Ernst sein." Sie starrte ihn fassungslos an. "Doch!" Er preßte die Lippen bitter zusammen.
"Aber... aber ich dachte..." Boothe wich ihrem Blick aus. "Dann hast du eben falsch gedacht." Lacy sprang auf und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. "Ich will wissen, was passiert ist." "Hör auf." Er schluckte. "Und frag nicht. Laß mich einfach gehen." Lacy rang nach Worten und merkte, daß sie wütend wurde. "Nein!" rief sie mit schriller Stimme. "Ich liebe dich. Das mußt du doch wissen. Also was soll das? Warum tust du uns das an?" "Weil du, verdammt noch mal, einen Mann verdienst, der kein Krüppel ist und für deinen Lebensunterhalt sorgen kann." "Bist du verrückt? Ich liebe doch nicht dein Bein, sondern deine Persönlichkeit. Es ist mir völlig egal, ob du behindert bist." Sein Blick war eiskalt. "Mir ist es aber nicht egal." "Weißt du, was ich denke?" Boothe gab keine Antwort. "Ich sag es dir, ob du es willst oder nicht." Sie kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung um ihr Glück und ihre Zukunft. "Ich denke, daß du die Rolle des Leidtragenden übertreibst und vor Selbstmitleid vergehst." "Du hast keine Ahnung." Seine Stimme war so kalt wie sein Blick. "Ist das alles.swas du zu sagen hast?" "Es ist vorbei, Lacy. Mehr gibt es nicht zu sagen." Lacy wollte schreien, sich in seine Arme werfen, ihn anflehen und wußte doch, daß sie auf taube Ohren stoßen würde. Die harten Linien in seinem Gesicht wirkten wie aus Stein gemeißelt. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr das Herz aus dem Leibe gerissen würde. Es war reine Zeitvergeudung. Boothe war zu verbittert, zu tief verletzt. Lacy streckte die Schultern. "Also gut", sagte sie stolz, "wenn du es wirklich willst, dann geh. Aber eins sollst du
wissen; Boothe Larson: Du bist der größte Feigling, den ich kenne, und du hast recht, ich bin besser dran ohne dich." Er sah sie ausdruckslos an, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zur Tür. Lacy blieb reglös stehen, bis er fort war. Für sie brach eine Welt zusammen, und sie konnte nichts dagegen tun. Aber sie durfte nicht verzweifeln, den Luxus konnte sie sich nicht leisten. Sie mußte an Joni denken. Unwillkürlich fiel ihr das Geschenk ein, das Joni so liebevoll für Boothe eingepackt hatte. Ihre Tochter würde untröstlich sein. Lacy sank aufs Sofa, stützte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.
10. KAPITEL Boothe hatte seinen Chef bei der Forstwirtschaft angerufen. Max Helm war hocherfreut, endlich von ihm zu hören, genau, wie Boothe es erwartet hatte. Aber Max wollte sich nicht am Telefon unterhalten, sondern bestand auf einem Gespräch unter vier Augen. Boothe hatte ihn zu sich eingeladen. Jetzt waren die beiden Männer auf dem Weg zu Max Helms Lastwagen und hatten immer noch nicht über den wahren Grund des Treffens gesprochen. Max räusperte sich und machte eine umfassende Handbewegung. "Eins ist klar, du hast dich hier freiwillig aufs Abstellgleis manövriert." "Alles ist relativ." Boothe schaute stur geradeaus. "Ich muß zugeben, daß es ein friedliches Fleckchen Erde ist. Darauf kam es dir wohl an." "Ich möchte nirgendwo lieber sein." Max kickte ein Stückchen Eis mit dem Fuß weg, dann musterte er Boothe durchdringend. "Was ist los mit dir? Wir haben lange genug um den heißen Brei herumgeredet. Für jemanden, der behauptet, die Einsamkeit zu lieben, bist du verdammt unglücklich." Boothe stöhnte. "Du kennst mich zu gut, Max." Sie hatten die Veranda des Holzhauses erreicht, und anstatt weiter zum Lastwagen zu gehen, stiegen sie die paar Stufen
hoch und setzten sich in die Hollywoodschaukel. Das Wetter war herrlich. Es war kalt, aber die Luft war glasklar und die Sonne strahlte. "Ich finde, du hast lange genug den Sündenbock gespielt" sagte Max nach einer Weile. "Darum geht es nicht, obwohl ich mir nach wie vor die Schuld an Calvins Tod gebe." "Nun, wenn dir die Rolle des Märtyrers so gut gefällt..." Boothe warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Du warst schon immer sehr direkt." "Warum auch nicht? Ich frage dich also noch einmal: "Was ist los?" "Ich kann nicht mehr als Feuerwehrmann arbeiten", sagte Boothe tonlos. "Haben die Ärzte das gesagt?" "Ja." "Dann komm zurück als Re ssortleiter. Der alte Charly wird in drei Monaten pensioniert, und ich kann dir die Stelle reservieren." Max seufzte. "Ich weiß, daß Büroarbeit nicht dein Traumjob ist, aber..." "Das stimmt", gab Boothe offen zu. "Läßt du mich trotzdem darüber nachdenken?" "Okay. Ich warte auf deine Entscheidung." Max stand auf. "So gern ich noch bleiben würde, der Terminkalender ruft. Übrigens hast du mir noch nicht gesagt, warum du so traurig bist." "Das werde ich auch nicht tun." Max schmunzelte. "Du warst schon immer ein Dickschädel, aber ein ehrlicher Bursche. Das ist wohl der Grund, warum ich dir alles verzeihe." "Raus hier", drohte Boothe scherzhaft und lächelte jetzt doch, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. Er blieb in der Einfahrt stehen, bis Max Helms Lastwagen verschwunden war. Dann ging er mit hängenden Schultern zur
Veranda zurück und setzte sich wieder in die Hollywoodschaukel, fand aber keine Ruhe mehr. Seit Boothe Lacys Liebe zurückgewiesen hatte, war er wie besessen. Er konnte nicht mehr schlafen, und die Gedanken an sie plagten ihn rund um die Uhr. Trotzdem redete er sich immer noch hartnäckig ein, daß er ihr einen Gefallen getan hatte. Es hatte furchtbar weh getan. Als sie ihm vorwarf, ein Feigling zu sein, war er wie gelähmt vor Schmerz und Wut gewesen. Er konnte sich nicht verteidigen, weil es keine Worte gab, um die Verzweiflung zu beschreiben, die er gespürt hatte, als Joni ihn brauchte und er nicht helfen konnte. Boothe hatte wie ein Prügelknabe vor Lacy gestanden. Ihr verstörter Gesichtsausdruck und ihr anklagender Blick verfolgten ihn seitdem gnadenlos. Es war, als ob er in ein schwarzes Loch fiele, aus dem es kein Entrinnen gab. Ich hätte es besser wissen sollen, dachte Boothe. Es war ein Fehler, mit Lacy zu schlafen. Es ist immer wieder das gleiche, unnötige Gefühle verursachen unnötige Schmerzen. Wer sich nicht daran hält, verdient es auch, verletzt zu werden. Es gab nur eine Möglichkeit für ihn. Er mußte sich zwingen, Lacy und Joni zu vergessen und so weiterzuleben, als ob sich nichts geändert hätte. Als ob das wirklich möglich wäre! In seinem tiefsten Innern wußte Boothe, daß keine rationalen Gründe etwas an der Situation ändern konnten. Er dachte daran, wie vollkommen Lacy und er sich im Bett ergänzt hatten und an die harmonischen Stunden, die sie zu dritt mit Joni verbracht hatten. Das war das Paradies, und er wollte nicht mehr daraus vertrieben werden. Boothe sprang aus der Hollywoodschaukel und stöhnte auf. Der Schmerz in seinem Bein erinnerte ihn sofort an seine Behinderung. Trotzdem konnte er arbeiten. Max hatte ihm eine gutbezahlte Stellung angeboten. Er mußte zwar auf den
Außendienst verzichten, aber er konnte den Lebensunterhalt für eine Familie verdienen, für Lacy und... Er schüttelte den Gedanken erregt ab. Selbst wenn er Lacy treffen wollte, um ihr zu sagen, was für ein unverbesserlicher Idiot er war, hätte er bestimmt keine Chance. Sie würde sich weigern, ihn wiederzusehen. Oder vielleicht doch nicht? Er hatte alles, was er wollte - aber das Wichtigste fehlte in seinem Leben: die Liebe. Boothe wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Die widersprüchlichsten Gefühle quälten ihn. Sollte er es wagen, Lacy um Verzeihung zu bitten? Vielleicht würde sie ihn doch anhören. Er mußte es versuchen. Er konnte die Einsamkeit nicht länger ertragen. Nachdem Boothe diesen Entschluß gefaßt hatte, wurde er plötzlich ruhig. Diesmal würde er nicht so schnell aufgeben, das schwor er sich. "Mami, warum können wir Boo nicht besuchen?" Joni schmollte, und ihr Quengeln zerrte an Lacys Nerven. Doch statt dem ersten Impuls nachzugeben und Joni auszuschimpfen, zählte Lacy im Stillen bis zehn. Es war zum Teil ihre Schuld, daß Joni so gereizt war. Sie selbst war schlecht gelaunt und ungeduldig, und das Kind spürte, daß etwas nicht stimmte. "Weil ich so vie l im Laden zu tun habe", sagte sie schließlich. Das war zwar nicht gelogen, aber auch nicht der wahre Grund. "Und warum kommt Boo nicht zu uns?" Diese Frage war eigentlich zu erwarten gewesen und überraschte Lacy dennoch. Sie suchte krampfhaft nach einer Antwort. "Ich vermute, daß er auch beschäftigt ist." "Womit denn?" Lacy knabberte an der Unterlippe. "Vielleicht schnitzt er Holzfiguren." Das war das erste, was ihr einfiel. Allerdings konnte sie Joni die Wahrheit nicht mehr lange vorenthalten. Sie
mußte ihr erzählen, daß sie ,ihren' Boo nie wiedersehen würde, und zwar noch vor Weihnachten, denn er würde nicht kommen. Lacy vermißte Boothe unbeschreiblich. Der Schmerz darüber, daß sie ihn verloren hatte, ließ nicht nach. War es erst drei Tage her, seit er sie zurückgewiesen hatte? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Joni war natürlich auch keine Hilfe. Fortwährend sprach sie über ,Boo' und den Weihnachtsmann. Heute war keine Ausnahme. "Warum kann Boo nicht mein Papi sein?" Lacy brach es fast das Herz. "Laß uns später darüber sprechen", bat sie. "Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät zu deiner Party." Am folgenden Tag, dem 24. Dezember, schneite es schon morgens. Es war das perfekte Weihnachtswetter, aber Lacy fühlte sich miserabel. Trotzdem mußte sie Joni zuliebe gute Laune vortäuschen. Da der Laden geschlossen war, hatte sie ihrer Tochter versprochen, Kekse zu backen. Danach wollte sie das Weihnachtsessen für sie beide vorbereiten. Lacy hatte Sues freundliche Einladung abgelehnt. Sie war nicht in der Stimmung für eine fröhliche Gesellschaft. Außerdem wollte sie etwas tun, um nicht ununterbrochen an Boothe zu denken. Als es draußen dunkel wurde, hatten Joni und sie drei große Dosen voll Kekse gebacken. Der Truthahn und alle Beilagen standen fertig im Kühlschrank, der Truthahn mußte am nächsten Morgen nur noch überbacken werden. Lacy war rechtschaffen müde, aber nicht müde genug, um zu schlafen. Sie hörte Joni in der Badewanne planschen. Hinterher wollte sie ihr erzählen, daß Boothe nicht kommen würde, um Weihnachten mit ihnen zu feiern. Unwillkürlich kamen Lacy die Tränen. Sie schaltete das Küchenlicht aus und flüchtete ins Wohnzimmer. Doch statt sich
hinzusetzen, ging sie zum Fenster und lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe. Sie sah nichts vor lauter Tränen. Hör auf, Boothe nachzuweinen! hämmerte sie sich ein. Das Leben geht weiter, und es gibt genügend Dinge, für die du dankbar sein kannst. Das Geschäft geht gut, und du hast ein kleines Vermögen mit dem Verkauf der Lampen verdient. Erst gestern hatte sie eine beachtliche Summe für den Laden abbezahlt. Aber das Geschäft und sogar ihre Tochter reichten Lacy nicht länger, das erkannte sie plötzlich klar. Als Boothe ihre Liebe zurückwies, war etwas in ihr zerbrochen, und sie konnte nicht mehr normal weiterleben. Warum hast du nicht härter um ihn gekämpft? Du weißt doch, daß er dich liebt. Warum hast du so schnell aufgegeben? Diese Fagen kamen unerwartet und schockierten Lacy. Vielleicht war nicht Boothe, sondern sie selbst der Feigling. Sie hätte versuc hen müssen, ihn zur Vernunft zu bringen. Man verdient etwas nur, wenn man bereit ist, darum zu kämpfen. Hatte sie das nicht schon vor langer Zeit gelernt? Soll ich es noch einmal wagen, ihn von meiner Liebe zu überzeugen? Lacys Herz schlug schneller. Ja, das bin ich mir und Joni schuldig! "Mami, ich bin fertig." Lacy drehte sich um. Ihre Tochter stand nackt in der Tür, die feuchten Locken kringelten sich um ihr Gesicht. "Das ist schön, Schätzchen." "Warum weinst du, Mami? Hast du Angst, daß der Weihnachtsma nn nicht zu dir kommt?" "Ich hoffe, daß er zu uns beiden kommt." "Kommt er jetzt?" "Nein, es ist noch zu früh für den Weihnachtsmann. Bevor er kommt, müssen wir noch jemanden besuchen." "Wen denn?"
"Das sag ich dir unterwegs." Lacys Stimme klang erregt. Sie schwankte immer noch, ob ihre Entscheidung richtig war. "Ich ziehe dich erst mal warm an." Zehn Minuten später eilten sie zur Tür und blieben dort wie angewurzelt stehen. Was war das für ein ungewöhnliches Geräusch? Sie lauschten. Es klang wie Glöckchen. "Mami, Mami, es ist der Weihnachtsmann!" rief Joni aufgeregt und rannte zum Fenster. Lacy glaubte zu träumen. "Komm schnell, Mami!" Wie in Trance folgte Lacy ihrer Tochter und traute ihren Augen kaum. Vor dem Laden stand ein festlich geschmückter, hölzerner Wagen, der von einem Pferd gezogen wurde. Das Zaumzeug des Pferdes war mit Glöckchen verziert, und auf dem Kutschbock des Wagens saß eine Person, die als Weihnachtsmann verkleidet war. Während Lacy und Joni weiter zusahen, stieg der Mann ab und griff nach einem Sack, der bis obenhin mit Spielzeug gefüllt war. "Ich hab' dir doch gesagt, daß es der Weihnachtsmann ist!" rief Joni wieder. "Es ist... Boo... als Weihnachtsmann verkleidet", stotterte Lacy ungläubig, bevor ihre Tochter zur Tür flitzte und sie aufriß. Als Lacy am Bürgersteig ankam, umklammerte Joni schon seine Beine. Doch er sah Lacy an, und in seinen Augen schimmerten Tränen. "Verzeihst du mir?" fragte Boothe einfach. "Liebst du mich?" "Mehr als mein Leben." "Dann ist alles andere egal." "Nein, es ist nicht egal, daß ich ein unverbesserlicher Idiot bin." "Mami, was ist ein unverbesserlicher... ?"
"Laß es gut sein, Joni", sagte Lacy und konnte den Blick nicht von Boothe wenden. "Willst du mich heiraten?" Joni zerrte an Boothes Hand und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich zu ihr hinab. "Was ist los, Schätzchen?" "Wirst du mein Papi?" "Möchtest du das denn?" "Hmm." Joni nickte ausdrücklich und legte ihre kleine Hand zärtlich an seine Wange. "Du verläßt mich doch nicht und kommst in den Himmel wie mein anderer Papi, oder?" "Oh, Joni", wisperte Lacy. Boothe schluckte schwer. "Nicht so bald, will ich hoffen." Er nahm das Kind in die Arme und erhob sich. Lacy war ganz schwindelig vor Glück, als sich ihre Blicke wieder fanden. "Willst du mich heiraten?" wiederholte Boothe mit rauher Stimme. "Ja! Ja! Ja!" Lacy warf sich in seine Arme. "Aua, Mami. Du und Papi, ihr zerquetscht mich ja." Aber Lacy und Boothe drückten noch fester. Im Haus war alles still. Nachdem Joni und Boothe ihre Geschenke ausgetauscht hatten, war Joni in seinem Schoß eingeschlafen. Lacy und Boothe hatten das Kind gemeinsam ins Bett gebracht und waren dann Hand in Hand in Lacys Schlafzimmer gegangen. Sie hatten sich leidenschaftlich geliebt und lagen jetzt erschöpft und zufrieden nebeneinander. "Ist das schön", flüsterte Lacy verträumt und verdrehte dabei die Augen. "Versprich mir, daß ich dich und dieses warmes Bett nie wieder verlassen muß." Boothe knabberte genüßlich an ihrer Schulter. "Ich werde dich nie wieder verlassen." "Warum hast du deine Meinung geändert?" "Und bin zu dir gekommen, meinst du?"
Lacy nickte bewegt. "Ganz einfach, ich konnte mir keinen Tag mehr ohne dich vorstellen... und ohne Joni." "Und ich wollte gerade zu dir fahren", bekannte Lacy, "als du in dem Schlitten und dem zusammengestückelten Weihnachtsmannkostüm ankamst." "Was für eine ruchlose Unterstellung. Es war Schwerstarbeit, das Kostüm zusammenzustellen." "Soso." Er knabberte an ihrem Nacken. "Ich geb' zu, es hat genau zwei Minuten gedauert." Lacy umarmte ihn, und sie schwiegen einen Moment lang. Dann rückte Boothe ein wenig von ihr ab, sein Gesichtsausdruck war jetzt ernst. "Ich habe eine Arbeitsstelle." "Tatsächlich?" Lacy hielt die Luft an. "Ja." Er seufzte. "Es ist zwar nicht mein Traumjob..." "Kannst du nie mehr als Feuerwehrmann arbeiten?" "Nein. Mein Ausrutscher auf dem Eis, als ich Joni befreien wollte, hat das endgültig bewiesen." "Ich mache mir immer noch Vorwürfe..." "Psst", Boothe legte den Finger auf den Mund, "sag es nicht. Es war nicht dein Fehler. Niemand hatte Schuld." "Was für eine Stelle ist es denn?" "Ressortleiter im Büro für Waldbrandbekämpfung, etwa 35 Kilometer von hier entfernt." Er lächelte. "Es ist immerhin dieselbe Branche." "Wird es dir gefallen?" "Wenn ich abends zu dir nach Hause kommen kann, werde ich es gern tun." "Und ich liebe dich", wisperte Lacy. "Das mußt du beweisen", forderte Boothe sie übermütig heraus.
Es dauerte nicht lange, bis Lacy den Beweis erbracht hatte. Danach lagen sie atemlos und glücklich nebeneinander wie zuvor. "Ich muß meine Pflichten als Weihnachtsmann noch erledigen", meinte Boothe. "Unsere Tochter wacht bestimmt bald auf." Lacy wurde ganz warm ums Herz. ,Unsere' Tochter hatte er gesagt. Jetzt waren sie eine richtige Familie. Ihr Traum hatte sich doch erfüllt. Boothe schlüpfte in die Jeans, während Lacy ihren Morgenmantel anzog. Arm in Arm gingen sie ins Wohnzimmer, wo die Lichter des Weihnachtsbaumes und das prasselnde Kaminfeuer eine gemütliche Atmosphäre verbreiteten. Sie ließen die festliche Stimmung auf sich wirken, dann ging Boothe zu dem fast leeren Sack. "Ich hab' ein Geschenk für dich", verriet er. "Du bist das einzige Geschenk, das ich mir wünsche." "Mir geht es genauso", sagte er mit rauher Stimme. "Aber denk an das Tüpfelchen auf dem I. Schließ die Augen." "Ist das dein Ernst?" . "Jawohl. Also - schließ die Augen." "Einverstanden." Lacy wartete, spürte aber nicht, daß er etwas in ihre Hände legte. "Jetzt darfst du hinschauen", sagte er endlich. Sie öffnete die Augen, schnappte nach Luft und lachte. Vor ihr stand eine Kiste mit den schönsten handgeschnitzten Holzfiguren, die sie je gesehen hatte. Boothe umarmte und küßte sie zärtlich. "Fröhliche Weihnachten, Liebling!"
-ENDE