H FRANK HERBERT HELLSTRØMS BRUT
ROMAN
Seit mehr als 300 Millionen Jahren gibt es auf der Erde staatenbildende Insekte...
148 downloads
671 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
H FRANK HERBERT HELLSTRØMS BRUT
ROMAN
Seit mehr als 300 Millionen Jahren gibt es auf der Erde staatenbildende Insekten. Sie sind in der Lage, in vergifteter und radioaktiv verseuchter Umwelt weiter zu existieren, und haben alle Aussicht, weitere 300 Millionen Jahre zu überleben. Daneben wirkt das Dasein der menschlichen Rasse wie das Auftauchen einer Eintagsfliege. Im Jahre 1971 drehte Walon Green den Film „The Hellstrøm Chronicle“ („Die Hellstrøm-Chronik“) um den fiktiven Entomologen Nils Hellstrøm, der die Insekten als die wahren Herrscher der Erde zeigt. Frank Herbert, betroffen und tief beeindruckt von dem Film, fragte sich, welche Überlebenstechniken der Mensch wohl entwickeln müsse, um seinen Fortbestand über vergleichsweise lange Zeiträume zu sichern, und spielte den Gedanken in diesem Roman durch. Zwei Dinge sind unabdingbare Voraussetzungen für eine derartige Existenz: der absolute Verzicht auf Individualität und die totale Unterordnung unter die Interessen des Gemeinwesens. Und beide sind für den Menschen nicht akzeptabel, ohne daß er sich selbst aufgibt.
Frank Herbert
Hellstrøms Brut
Roman
h WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/7025
Titel der amerikanischen Originalausgabe HELLSTRØM’S HIVE Deutsche Übersetzung von Walter Brumm Das Umschlagbild schuf Karel Thole Sonderausgabe des HEYNE-BUCHS Nr. 06/3536
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1972/73 by Bantam Books, Inc. (ursprünglich veröffentlicht als Projekt 40 in: GALAXY MAGAZINE, Nov. 1972 bis März 1973) Copyright © 1977 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Satz: Schaber, Wels/Österreich Druck: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-12822-2
Worte der Brutmutter Trova Hellstrøm: „Mit freudiger Gewißheit erwarte ich den Tag, da ich in die Bottiche eingehen werde, um mit unserem ganzen Volk eins zu werden.“ 26. Oktober 1896
Der Mann mit dem Feldstecher wand sich auf dem Bauch durch das sonnenwarme braune Gras vorwärts. Im Gras waren Insekten, und er mochte keine Insekten, aber er versuchte sie nicht zu beachten und konzentrierte sich darauf, möglichst ohne die schützenden Gräser und Stauden allzusehr in Bewegung zu setzen, die ihn mit krabbelndem Getier und stachlig haftenden Samenkapseln überschütteten, den Schatten einiger Eichen auf dem Hügel zu erreichen. Sein schmales Gesicht, von dunkler Farbe und tief gefurcht, verriet seine einundfünfzig Jahre, doch das öligschwarze Haar, das unter seinem khakifarbenen Sonnenhut hervorschaute, verleugnete sie, ebenso wie seine raschen und sicheren Bewegungen. Auf der Höhe angelangt, holte er mehrmals tief Atem, während er die Linsen des Feldstechers mit einem sauberen Taschentuch reinigte. Dann teilte er das trockene Gras, stellte den Feldstecher ein und starrte durch die Okulare auf die Farm im Tal zu Füßen des Hügels. Der Dunst des heißen Herbstnachmittags und die extreme Brennweite des Feldstechers, einer 10x60-Spezialanfertigung, erschwerten die Beobachtung. Er hatte sich angewöhnt, ihn wie ein Gewehr zu benützen: den Atem anhalten, das teure Instrument aus Glas und Metall, das Entferntes so nahe und detailliert heranholen konnte, ganz ruhig halten und sein Ziel anvisieren. Was sich da vergrößert seinem Blick darbot, war ein seltsam isoliertes Anwesen. Das Tal mochte ungefähr einen Kilometer lang und vierhundert Meter breit sein und verengte sich am oberen Ende, wo ein dünnes Rinnsal über schwärzliche Felsstufen rieselte. Die Farmgebäude standen jenseits eines Baches, dessen sich dahinschlängelndes, von Weiden gesäumtes Bett kaum etwas von seiner schäumenden Frühlingsfülle ahnen ließ. Flecken von grünem Moos überzogen die Blöcke, und dazwischen gab es einige flache Tümpel, wo das Wasser zum Stillstand gekommen schien. Die Gebäude standen ein Stück vom Bach entfernt – ein Gedränge verwitterter Bretterwände und erblindeter Fenster, das nicht recht zu der abgezirkelten Ordentlichkeit der abgeernteten Felder und Zaunreihen passen wollte, deren parallele |6|
Reihen das Tal durchzogen. Da war das Wohnhaus, eines jener schmalbrüstigen alten Farmhäuser mit Obergeschoß, Satteldach und überdachtem Eingang, aber mit zwei angebauten Flügeln und einem Erkerfenster zum Bach hin. Rechts vom Haus stand ein großer Scheunenbau mit großen Schiebetoren und einem aufgesetzten Dachgeschoß an einem Ende. Fenster gab es keine, aber das Dach trug eine Anzahl Ventilatoren in Gestalt durchbrochener Turmaufsätze. Hinter der Scheune und ein wenig hügelaufwärts erstreckte sich ein verfallener Schuppen; ein kleineres Gebäude auf dieser Seite, das früher einmal Landarbeiter beherbergt haben mochte; ein weiteres kleines Holzbauwerk höher am Hügel hinter dem Farmhaus, möglicherweise ein altes Pumpenhaus; und, weiter unten beim Grenzzaun am Nordausgang des Tals, ein gedrungener Betonklotz von etwa sieben Metern Kantenlänge und mit flachem Dach: vermutlich das neue Pumpenhaus, aber es sah wie ein Verteidigungsbunker aus. Der Beobachter, der Carlos Depeaux hieß, stellte fest, daß das Tal den Beschreibungen entsprach. Es steckte voller Ungereimtheiten: weit und breit keine Menschenseele zu sehen (obwohl aus der Scheune ein deutlich hörbares und aufreizendes Maschinengesumm drang); keine Zufahrtsstraße vom Tor im nördlichen Grenzzaun zu den Farmgebäuden (Fahrspuren führten von Norden ins Tal, endeten aber am Tor jenseits des Betonwürfels). Ein Fußpfad mit schmalen Eindrücken wie von Schubkarrenrädern verband das Tor mit Farmhaus und Scheune. Die seitlichen Hänge waren weiter talaufwärts steil und stellenweise mit braunen Felsschrofen durchsetzt. Nur dreißig Schritte zur Rechten von Depeaux durchbrach ein morscher Schichtenkopf aus dem gleichen braunen Gestein den rundlichen Hügelrücken. Entlang den Talseiten schlängelten sich vereinzelte Wildwechsel durch kleine Bestände von Eichen und Haselgebüsch. Die von Nässe geschwärzten Felsen um den kleinen Wasserfall schlossen das Tal im Süden ab, überzogen von den zimtfarbenen Verästelungen feiner Rinnsale. Nach Norden zu weitete sich das Tal zu welligem Weideland mit vereinzelten Baumgruppen und Gehölzen aus Fichten, Eichen |7|
und Haselsträuchern. In der Ferne weidete Vieh, und obgleich es außerhalb des Grenzzauns der Farm keine weiteren Zäune gab, verriet das hohe Gras, daß sich das Vieh nicht allzu nah an dieses Tal heranwagte. Auch das stimmte mit den früheren Meldungen überein. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Beschreibungen des Tals noch immer zutreffend waren, arbeitete sich Depeaux rückwärts hinter den Kamm, fand eine schattige Stelle unter einer Eiche. Dort wälzte er sich auf den Rücken und brachte seinen kleinen Rucksack in eine Position, in der er das Innere erforschen konnte. Er wußte, daß seine Kleidung dem herbstlichen Gras gut angepaßt war, wollte sich aber noch immer nicht aufrechtsetzen und zog es vor, abzuwarten und zu lauschen. Der Rucksack enthielt das Feldstecherfutteral, ein gut abgegriffenes Exemplar eines Bestimmungsbuchs für Vögel, eine gute Kleinbildkamera mit Teleobjektiv, zwei in Plastikfolie eingehüllte belegte Brote, eine Orange und eine Plastikflasche mit warmem Wasser. Er wickelte ein belegtes Brot aus, lag eine Weile still und starrte durch die ausladenden Eichenäste empor, ohne daß seine blaßgrauen Augen etwas Besonderes beobachteten. Einmal zupfte er an den schwarzen Haaren, die seinen Nasenlöchern entwuchsen. Dies war eine äußerst sonderbare Situation. Es war Mitte Oktober, und noch immer war es der Organisation nicht gelungen, die Farmer in diesem Tal bei der Ernte zu beobachten. Die Ernte war jedoch eingebracht worden; das war mit einem Blick zu sehen. Depeaux war kein Farmer, aber er glaubte die Reihen daumendicker Stoppeln zu erkennen, die auf eine Maispflanzung schließen ließen, obwohl die Pflanzen selbst abtransportiert worden waren. Er fragte sich, warum sie nach der Ernte der Maiskolben die Pflanzen abgeräumt hatten. Andere Farmländereien, die er während der Fahrt zu diesem Tal gesehen hatte, waren noch immer übersät mit den Abfällen der Ernte. Er war nicht ganz sicher, hielt es aber für eine weitere Ungereimtheit in dem Tal, das seine Organisation so sehr interessierte. Die Ungewißheit, die Lücke in seinem Wissen störte ihn jedoch, und er nahm sich vor, den Punkt zu überprüfen. Verbrannten sie die dürren Mai|8|
spflanzen? Nach einer Weile, als er sich unbeobachtet fühlte, setzte er sich mit dem Rücken gegen den Eichenstamm, aß das belegte Brot und trank etwas vom warmen Wasser. Es war die erste Nahrung, die er sich seit Tagesanbruch gegönnt hatte. Die Orange und das zweite belegte Brot sparte er sich für später auf. Von dem Fichtengehölz, wo er sein Fahrrad versteckt hatte, war es ein langer und mühsamer Anmarsch zu diesem Aussichtspunkt gewesen, und zu der Stelle, wo Tymiena mit dem Wohnmobil wartete, war es eine weitere halbe Stunde mit dem Fahrrad. Er hatte beschlossen, den Rückmarsch erst nach Dunkelwerden anzutreten, und wußte, daß ihn noch hungern würde, ehe er zum Wagen zurückkäme. Nicht das erste Mal bei einem solchen Auftrag. Die besondere Natur dieses Falles war zunehmend deutlich geworden, je näher er der Farm gekommen war. Nun – er war darauf vorbereitet gewesen. Unnachgiebige Beharrlichkeit hatte ihn vorwärtsgetrieben, über die imaginäre Hungerlinie hinaus, die er auf dem Rückweg würde passieren müssen. Die Gegend war insgesamt viel offener und deckungsärmer als er nach den Luftaufnahmen erwartet hatte, obwohl Porters Meldungen gerade auf diesen Punkt hingewiesen hatten. Depeaux hatte sich dem Tal aus einer anderen Richtung nähern und seine eigene Deckung suchen wollen, aber schließlich war ihm für seinen verstohlenen Anstieg über weites Weideland und zum Hügelkamm hinauf auch nur das hohe braune Gras geblieben. Als er gegessen und die Hälfte des mitgebrachten Wassers getrunken hatte, verschloß Depeaux die Plastikflasche und verstaute sie mit dem Rest des Proviants wieder im Rucksack. Eine Zeitlang beobachtete er die Richtung, aus der er gekommen war, um zu sehen, ob ihm jemand gefolgt sei. Nichts Verdächtiges war zu sehen, doch konnte er sich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, daß er beobachtet wurde. Das schräg einfallende Licht der sinkenden Sonne markierte seine Fährte mit einer Schattenlinie. Das war nicht zu ändern; das niedergetretene Gras stellte eine Fährte dar, die leicht verfolgt werden konnte. Um drei Uhr früh war er durch die schlafende kleine Stadt Fosterville gefahren, neugierig auf die Ortschaft, deren Bewoh|9|
ner sich angeblich weigerten, Fragen über die Farm zu beantworten. Am Ortsrand gab es ein neues Motel, und Tymiena hatte vorgeschlagen, daß sie eine Nacht dort zubringen sollten, bevor sie die Farm auskundschafteten, aber Depeaux folgte in diesem Fall seinem Riecher. Wie, wenn es in der Stadt Beobachter gäbe, die der Farm Meldung machten, wenn Fremde auftauchten? Die Farm In den Berichten und Memoranden der Organisation spielte sie seit einiger Zeit eine besondere Rolle, schon bevor Porter als vermißt gemeldet worden war. Depeaux war zu einer Abzweigung mehrere Kilometer unterhalb des Tals weitergefahren und hatte Tymiena dort kurz vor Morgengrauen zurückgelassen. Jetzt war er ein Amateur-Ornithologe, der Vögel beobachtete, aber es waren keine Vögel zu sehen. Depeaux kehrte zu seinem Beobachtungsposten zurück und überblickte wieder das Tal. In den späten sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte es hier ein Massaker an Indianern gegeben: Farmer hatten die Überreste eines ›wilden‹ Stammes abgeschlachtet, um eine latente Bedrohung ihres Weideviehs zu beseitigen. Als eine Erinnerung an jene fast vergessenen Tage trug die Gegend den Namen ›Bewachtes Tal‹. Nach einer historischen Fußnote, die Depeaux entdeckt hatte, lautete der ursprüngliche indianische Name des Tals »Fließendes Wasser«. Generationen weißer Bodenbewirtschaftung und wahlloser Holzeinschläge hatten jedoch ein Absinken des Grundwasserspiegels bewirkt, und nun führte der Bach nicht mehr das ganze Jahr über Wasser. Während er das Tal beobachtete, dachte Depeaux über die Geschichte menschlicher Natur nach, wie sie in solchen Namen enthalten war. Ein flüchtiger Beobachter, der dieses Tal besuchte, ohne Näheres über seine Vergangenheit zu wissen, mochte denken, daß es durch seine Lage zu dem Namen ›Bewachtes Tal‹ gekommen sei. Es war ein abgeschlossener und nur von einer Seite leicht zugänglicher Ort. Die Hügelflanken waren steil, Felsen bewachten das obere Ende. | 10 |
Aber der Anschein konnte täuschen, sagte sich Depeaux. Er hatte erfolgreich diesen Aussichtspunkt erreicht; sein Feldstecher hätte gerade so gut eine gefährliche Waffe sein können. Und in gewissem Sinn war er es: eine subtile Waffe, welche auf die Zerstörung des ›Bewachten Tals‹ abzielte. Für Depeaux hatte dieses Denken in Begriffen wie Zerstörung begonnen, als Joseph Merrivale, der Operationschef der Organisation, ihn zu einer Lagebesprechung gerufen hatte. Merrivale, ein gebürtiger Chicagoer, der einen starken englischen Akzent bewußt pflegte, hatte damit angefangen, daß er Carlos angrinste und sagte: »Bei diesem Ding werden Sie vielleicht ein paar von Ihren Mitmenschen zugrunde richten müssen.« Sie alle wußten natürlich, wie sehr Depeaux persönliche Gewalttätigkeit verabscheute. Aus Hellstrøms Leitfaden: Die entscheidende evolutionäre Leistung der Insekten vor mehr als hundert Millionen Jahren war das reproduktive Neutrum. Es fixierte die Kolonie als die natürliche Selektionseinheit und beseitigte alle früheren Grenzen der Spezialisierung (ausgedrückt als Kastenunterschiede), die eine Kolonie tolerieren konnte. Es ist klar, daß unsere individuellen Mitglieder mit ihren um ein vielfaches größeren Gehirnen unvergleichlich überlegene Spezialisten sein werden, wenn es uns Wirbeltieren gelingt, den gleichen Weg einzuschlagen. Keine andere Art wird gegen uns bestehen können – nicht einmal die alte menschliche Spezies, aus der wir unsere neuen Menschen entwickeln werden. Der kleine Mann mit dem trügerisch jugendlichen Gesicht lauschte aufmerksam, als Merrivale die Einzelheiten des Auftrags erläuterte. Es war früh an einem Montagmorgen, noch nicht neun Uhr, und der kleine Mann, Edward Janvert, war überrascht, daß eine Lagebesprechung so früh und so kurzfristig angesetzt werden konnte. Er vermutete, daß es irgendwo in der Organisation Schwierigkeiten gegeben habe. Janvert, der von den meisten seiner Kollegen ›Shorty‹ genannt wurde und es fertigbrachte, seinen Haß auf diesen | 11 |
Namen zu verbergen, war nur einen Meter vierundvierzig groß und bei mehr als einem Auftrag der Organisation als Halbwüchsiger durchgegangen. Das Mobiliar in Merrivales Büro war ihm jedoch immer zu groß, und nach kaum einer halben Stunde wand er sich unbehaglich in einem der großen Ledersessel. Es war ein schwieriger und komplizierter Fall, bemerkte er schon bald, von der Art, der zu mißtrauen er gelernt hatte. Ihr Ziel war ein Entomologe, ein gewisser Dr. Nils Hellstrøm, und Merrivales vorsichtige Wortwahl machte deutlich, daß Hellstrøm sehr hochgestellte Freunde hatte. Es gab in diesem Geschäft immer so viele Zehen, auf die man nicht treten durfte. Nie schien es möglich, aus einer traditionellen Sicherheitsüberprüfung die Politik herauszuhalten, und ebenso unausweichlich berührten solche Ermittlungen empfindliche Wirtschaftsinteressen. Als er Janvert gerufen hatte, hatte Merrivale nur gesagt, daß es notwendig sei, für etwa notwendige Hilfeleistungen in diesem Fall eine zweite Einsatzgruppe in Reserve zu halten. Jemand mußte bereit sein, nötigenfalls sofort einzuspringen. Sie rechnen mit Verlusten, sagte sich Janvert. Er blickte verstohlen zu Clovis Carr, deren beinahe knabenhafte Gestalt, zwergenhaft zusammengeschrumpft erscheinend, in einem anderen Riesensessel kauerte. Janvert hegte den Verdacht, daß Merrivale sein Büro eingerichtet hatte, um ihm die Atmosphäre eines vornehmen englischen Klubs zu verleihen, die den geeigneten Hintergrund für seinen unechten Akzent abgeben sollte. Merrivales weitschweifiger Stil machte es schwierig, seinen Ausführungen mit der nötigen Aufmerksamkeit zu folgen, und Janvert begann zu überlegen, ob die anderen über Clovis und ihn Bescheid wußten. Für die Organisation war Liebe eine Waffe, die eingesetzt werden konnte, wann immer sie benötigt wurde. Janvert versuchte seinen Blick von Clovis abzuwenden, ertappte sich aber immer wieder dabei, daß er zu ihr hinüberschaute. Auch sie war klein, nur einen guten Zentimeter größer als er, eine drahtige Brünette mit einem kecken ovalen Gesicht und einem blassen nördlichen Teint, der sich | 12 |
schon nach einem Sonnenstrahl brennend rot verfärbte. Es gab Zeiten, da Janvert seine Liebe zu ihr als körperlichen Schmerz empfand. Merrivale beschrieb gerade, was er ›Hellstrøms Tarnung‹ nannte und was sich als die Herstellung von Dokumentarfilmen über Insekten erwies. »Verteufelt komisch, finden Sie nicht?« fragte Merrivale. Nicht zum erstenmal während seiner vier Jahre in der Organisation wünschte sich Janvert, er hätte nichts damit zu tun. Er war als Jurastudent im sechsten Semester dazugekommen, als er den Sommer über als Aushilfskraft im Justizministerium gearbeitet hatte. In dieser Eigenschaft hatte er einen Schnellhefter mit Akten gefunden, der zufällig auf einem Tisch in der juristischen Fachbibliothek seiner Abteilung liegengeblieben war. Neugierig wie er war, hatte er einen Blick hineingetan und war auf einen höchst delikaten Bericht über einen Dolmetscher in einer ausländischen Botschaft gestoßen. Seine erste Reaktion auf den Inhalt der Schnellheftermappe war eine Art trauriger Entrüstung gewesen, daß Regierungen noch immer zu solchen Formen der Spionage Zuflucht nahmen. Das Ganze schien eine höchst verzwickte Operation seiner eigenen Regierung zu sein. Janvert war in der Zeit der Studentenunruhen und durch sie zum Studium der Rechte gekommen. Anfangs hatte er das Recht als einen möglichen Ausweg aus den zahlreichen Dilemmas der Welt gesehen, aber das hatte sich bald als ein Irrlicht erwiesen. Das Recht hatte ihn nur in jene Bibliothek mit der liegengebliebenen Schnellheftermappe geführt. Und danach hatte eins unausweichlich zum anderen geführt, wie es immer zu geschehen pflegt, ohne genau bestimmbare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Der unmittelbare Anlaß war jedoch der gewesen, daß der Besitzer der Akten ihn bei der Lektüre überrascht hatte. In der Folgezeit hatte man Druck ausgeübt, manchmal subtil und manchmal nicht so subtil, um ihn für die Organisation zu rekrutieren, die den Inhalt des Aktenordners produziert hatte. Sie sagten ihm, er komme aus einer guten Familie. Sein Vater sei ein bedeutender Geschäftsmann (Inhaber eines | 13 |
kleinstädtischen Eisenwarenladens). Zuerst war es beinahe amüsant gewesen. Dann waren die Gehaltsangebote (plus Spesen) in erstaunliche Höhen gestiegen, und er hatte angefangen, sich Gedanken zu machen. Es hatte überraschendes Lob für seine Fähigkeiten und Eignungen gegeben, die, wie er vermutete, von den Beauftragten der Organisation aus dem Stegreif erfunden worden waren, da es ihm schwerfiel, sich selbst in ihren Beschreibungen wiederzuerkennen. Schließlich hatte man die Glacéhandschuhe ausgezogen. Er war unverblümt darauf aufmerksam gemacht worden, daß er es schwierig finden werde, eine andere Stelle im Staatsdienst zu finden. Das hatte ihm den Rest gegeben, denn er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er eine Anstellung im Justizministerium suchte. Er hatte klein beigegeben und gesagt, er werde es für ein paar Jahre versuchen, wenn er sein Jurastudium fortsetzen könne. Sein Verhandlungspartner war inzwischen die rechte Hand des Chefs, ein Mann namens Dzule Peruge, und Peruge hatte diese Entscheidung mit größter Genugtuung aufgenommen und ihn dazu beglückwünscht. »Die Organisation braucht Männer mit juristischer Ausbildung«, hatte er gesagt. »Manchmal sind wir geradezu verzweifelt bemüht, solche Leute zu finden.« Peruges nächste Worte hatten Janvert um so mehr erschreckt. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie als Halbwüchsiger durchgehen könnten? Das könnte mitunter sehr nützlich sein, besonders bei einem, der rechtskundig ist.« Dieses letztere war wie ein nachträglicher Einfall herausgekommen. Die Wirklichkeit sah so aus, daß Janvert immer viel zu beschäftigt gewesen war, um sein wertvolles Jurastudium zu beenden. »Vielleicht nächstes Jahr, Shorty. Sie können selbst sehen, wie entscheidend Ihr gegenwärtiger Fall ist. Nun, ich möchte, daß Sie und Clovis ...« So war er das erste Mal mit Clovis zusammengekommen, die auch diesen nützlichen Anschein von Jugendlichkeit hatte. Manchmal war sie seine Schwester gewesen; zuweilen hatten | 14 |
sie die jugendlichen Liebenden gespielt, deren Eltern ›sie nicht verstanden‹. Erst im Laufe der Zeit war Janvert allmählich die Erkenntnis aufgedämmert, daß die Akten, die er gefunden und gelesen hatte, empfindlicher waren, als er damals geahnt hatte, und daß eine wahrscheinliche Alternative zu seinem Eintritt in die Organisation ein ungekennzeichnetes Grab in irgendeinem Sumpfgebiet der Südstaaten gewesen war. Er hatte nie an einer ›Versenkung‹ teilgenommen, wie die alten Hasen in der Organisation es zu nennen pflegten, aber er wußte, daß sie vorkamen. So war es eben in der Branche, und er mußte es lernen. Die Organisation Niemand nannte sie je anders. Die ökonomischen Operationen der Organisation, die Nachforschungen und anderen Formen von Spionage bestätigten nur Janverts frühzeitigen Zynismus. Er sah die Welt ohne Maske und sagte sich, daß die große Masse seiner Mitmenschen keine Ahnung habe, daß sie längst in einem Polizeistaat lebte. Diese Entwicklung war mit der Ausbildung des ersten Polizeistaats, der zu einer Weltmacht aufgestiegen war, vorgezeichnet und unvermeidlich gewesen. Die einzige Möglichkeit, einen Polizeistaat zu bekämpfen, bestand offenbar in der Formierung eines anderen Polizeistaats. Es war ein Zustand, der auf allen Seiten seine Nachahmer zeugte (wie Clovis Carr und Edward Janvert übereinstimmend feststellten). Alles, was sie in der Gesellschaft sahen, spiegelte den Charakter und die Methoden des Polizeistaats wider. Obwohl das Wort verpönt war und desto weniger gebraucht wurde, je mehr es zutraf, sprach Janvert es offen aus. »Dies ist die Zeit der Polizeistaaten.« Sie gelobten einander, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gemeinsam die Organisation zu verlassen. Sie zweifelten nicht daran, daß ihre Gefühle füreinander und der daraus erwachsene Pakt gefährlich für sie werden konnten. Das Verlassen der Organisation würde neue Identitäten und ein weiteres Leben in unscheinbarer Zurückgezogenheit erforder| 15 |
lich machen, dessen Natur sie allzu gut verstanden. Agenten verließen den Dienst entweder durch den Tod im Dienst der Sache oder durch eine sorgfältig getarnte und abgeschirmte Pensionierung. Manchmal verschwanden sie auch einfach, und ihren früheren Kollegen wurde zu verstehen gegeben, daß sie gut daran täten, keine Fragen zu stellen. Das in diesem Zusammenhang hartnäckigste Gerücht betraf die Farm. Selbstverständlich nicht Hellstrøms Farm, sondern ein sorgfältig überwachtes Alters- und Erholungsheim, welches niemand genauer lokalisieren konnte. Manche sagten, es liege im nördlichen Minnesota. Die Gerüchte sprachen von hohen Zäunen, Wächtern, Hunden, Golf, Tennis, Schwimmen, Angeln in einem zugehörigen, eingezäunten See, eleganten Privathütten für ›Gäste‹ und sogar von Quartieren für Ehepaare. Nur an Kinder war nicht gedacht. In diesem Geschäft Kinder zu haben, wurde als gleichbedeutend mit dem Todesurteil betrachtet. Carr und Janvert stimmten darin überein, daß sie Kinder wollten. Sie hatten längst beschlossen, sich während eines gemeinsamen Überseeaufenthalts abzusetzen. Falsche Papiere, neue Gesichter, Geld, die benötigten Fremdsprachenkenntnisse – all diese Notwendigkeiten waren innerhalb ihrer Reichweite, ausgenommen eine: die passende Gelegenheit. Und kein einziges Mal kam ihnen der Gedanke, daß in solchen Träumen oder in der Arbeit, der sie ihre Leben widmeten, pubertäre Phantasien eine Rolle spielen könnten. Eines Tages würden sie entkommen. Depeaux erhob Einwände gegen irgend etwas in Merrivales Erläuterungen. Janvert versuchte den Faden aufzunehmen: Es ging um eine junge Frau, die anscheinend versucht hatte, von Hellstrøms Farm zu fliehen. »Porter ist ziemlich sicher, daß man sie nicht tötete«, sagte Merrivale. »Sie wurde einfach in diese Scheune zurückgebracht, in der dieser Hellstrøm sein Filmstudio haben soll.« Aus dem organisationsinternen Bericht über das Projekt 40: Die Papiere wurden von einem Mann, der als ein Vertrauter | 16 |
Hellstrøms identifiziert werden konnte, versehentlich zurückgelassen, als er seine Unterlagen in einen Aktendeckel legte. Der Vorfall ereignete sich Anfang März vergangenen Jahres in der Hauptbibliothek des MIT (Massachusetts Institute of Technology), wie auch aus den einleitenden Notizen hervorging. Die Bezeichnung ›Projekt 40‹ war handschriftlich am Kopf jeder Seite eingetragen. Aus der Untersuchung der Aufzeichnungen und Diagramme (siehe Anlage A) schließen unsere Fachleute auf Entwicklungspläne für einen ›toroidalen Felddesintegraton‹. Dieser wird als eine Elektronen- oder Partikelpumpe erklärt, die imstande sein soll, physikalische Materie über Entfernung hinweg zu beeinflussen. Die Papiere sind unglücklicherweise unvollständig. Sie lassen keine bestimmte Entwicklungslinie erkennen, obgleich unsere eigenen Laboratorien die naheliegenden Implikationen untersuchen. Es läßt sich jedoch mit einiger Gewißheit sagen, daß jemand in Hellstrøms Umgebung an der Entwicklung eines arbeitsfähigen Prototypen arbeitet. Unklar bleibt (1.) ob er funktionsfähig sein wird, und (2.) für welche Zwecke er in diesem Fall eingesetzt werden soll. In Anbetracht des von Dr. Zinstram vorgelegten vorläufigen Berichts (siehe Anlage G) muß jedoch das Schlimmste angenommen werden. Dr. Zinstram ist persönlich davon überzeugt, daß die Theorie hinter einer solchen Entwicklung folgerichtig ist und daß ein toroidaler Felddesintegrator hinlänglicher Größe bei ausreichender Verstärkung und Einstellung auf die richtige Schwingungszahl die Erdkruste zertrümmern könnte, was für alles Leben auf unserem Planeten katastrophale Folgen haben müßte. »Das ist wirklich ein auserlesener Fall, den wir Ihnen da in die Hände geben, Carlos«, sagte Merrivale. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Oberlippe, als streiche er einen imaginären Schnurrbart. Carr, die schräg hinter Depeaux und Merrivale gegenübersaß, bemerkte die jäh aufsteigende Röte in Depeaux’ Nacken. Die überflüssige und beinahe schmeichlerische Feststellung gefiel ihm nicht. Rechts von Merrivale schien die Morgensonne zum Fenster herein und wurde von der Schreibtischplatte mit | 17 |
einem gelbbraunen Widerschein reflektiert, der dem Gesicht des Operationschefs einen weichen, melancholisch wirkenden Zug mitteilte. »Diese Tarnung mit der Filmgesellschaft hat Peruge mächtig hochgebracht, muß ich sagen«, sagte Merrivale. (Der gekünstelte englische Akzent machte Depeaux schaudern.) Carr hüstelte, um ein plötzliches, hysterisches Verlangen zu unterdrücken, laut herauszulachen. »Unter den derzeitigen Umständen können wir nicht einfach hingehen und diese Leute ausheben, wie Sie sicherlich verstehen werden«, fuhr Merrivale fort. »Das Beweismaterial reicht nicht aus. Zu beschaffen, was noch fehlt, ist Ihr Job, Carlos. Aber diese Filmproduzenten-Fassade bietet uns nichtsdestoweniger einen vielversprechenden Zugang.« »Womit beschäftigen sich diese Filme?« fragte Janvert. Alle wandten die Köpfe und sahen ihn an, und Carr fragte sich, warum Eddie unterbrochen hatte. Er tat so etwas selten ohne einen besonderen Grund. Versuchte er an Informationen heranzukommen, die Merrivale bei seiner Einweisung verschwieg? »Ich dachte, ich hätte es gesagt«, sagte Merrivale. »Mit Insekten! Sie machen Filme über Insekten. Eine kleine Überraschung das, als Peruge es zuerst erwähnte. Ich muß gestehen, meine erste Vermutung ging dahin, daß diese Leute widerwärtige Sexfilme machten und – äh, jemanden in exponierter Stellung zu erpressen suchten.« Depeaux, schwitzend und erfüllt von einer tiefen Abneigung gegen Merrivales gekünstelte Art und seinen pseudoenglischen Akzent, rückte unruhig in seinem Sessel hin und her, verdrießlich über die Unterbrechung. Mach schon weiter! dachte er. »Ich weiß nicht, ob ich die Verhältnisse im Umkreis von Hellstrøms Aktivität richtig einschätze«, sagte Janvert. »Ich hatte gehofft, die Filme würden Aufschluß darüber geben.« Merrivale seufzte. Verdammter Haarspalter! Er sagte: »Hellstrøm ist so eine Art von Spinner auf dem Gebiet der Ökologie. Sicherlich wissen sie, wie politisch heikel gerade dieser Gegenstand ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß | 18 |
er für mehrere – ich wiederhole, mehrere – sehr einflußreiche Persönlichkeiten als Berater und Gutachter tätig ist. Ich könnte einen Senator und wenigstens drei Kongreßabgeordnete nennen. Wenn wir frontal gegen Hellstrøm vorgingen, würde das ohne Zweifel ernste Rückwirkungen zur Folge haben.« »Ökologie, wie?« sagte Depeaux in einem Versuch, Merrivale auf die Fährte zurückzubringen. »Ja, Ökologie!« Merrivale gab dem Wort einen Klang, als wolle er es mit Sodomie reimen. »Übrigens verfügt der Mann über beträchtliche Geldmittel, und darüber hätten wir auch gern Näheres gewußt.« Depeaux nickte. »Kommen wir zu diesem Tal zurück.« »Ja, in der Tat«, sagte Merrivale. »Sie haben alle die Karte gesehen. Dieses kleine Tal befindet sich seit den Tagen seiner Großmutter in Familienbesitz. Trova Hellstrøm, Pionierfrau, Witwe, starke Persönlichkeit, diese Art von Typ.« Janvert fuhr sich über die Augen. Er entnahm Merrivales Beschreibung von Trova Hellstrøm, daß die beabsichtigte Assoziation die einer energischen kleinen Witwe in bodenlangem Kleid war, wie sie angreifende Rothäute von einer brennenden Blockhütte abwehrte, während ihre Bälger hinter ihr eine Eimerkette bildeten. Der Mann war unglaublich. »Hier ist die Karte«, sagte Merrivale und zog sie aus den Papieren auf seinen Schreibtisch. »Da ist es, im südöstlichsten Oregon.« Er zeigte mit dem Finger auf eine Stelle. »Hellstrøms Tal. Der nächste Vorposten der Zivilisation ist diese Ortschaft hier mit dem unwahrscheinlichen Namen Fosterville.« Carr wunderte sich. Wieso war das ein unwahrscheinlicher Name? Sie blickte verstohlen zu Janvert, aber er betrachtete seine rechte Handfläche, als hätte er gerade etwas Faszinierendes darin gefunden. »Und sie drehen alle ihre Filme in diesem Tal?« fragte Depeaux. »O nein!« verwahrte sich Merrivale. »Mein Gott, Carlos. Haben Sie die Anlagen R bis W nicht gelesen?« »In meinen Unterlagen waren keine solchen Anlagen«, sagte Depeaux. »Hol’s der Teufel!« sagte Merrivale. »Manchmal frage ich | 19 |
mich, wie es möglich ist, daß in diesem Laden jemals etwas richtig gemacht wird. Nun gut, ich werde Ihnen meine Unterlagen geben. Kurz und gut, Hellstrøm und seine Kameraleute und was nicht alles haben schon die ganze verdammte Welt bereist: Kenia, Brasilien, Südostasien, Indien – steht alles hier drinnen.« Er pochte auf die Papiere vor sich. »Sie können es später selbst nachlesen.« »Und dieses Projekt 40?« fragte Depeaux. »Dadurch wurden wir aufmerksam«, erläuterte Merrivale. »Die einschlägigen Papiere wurden fotokopiert und dorthin zurückgelegt, wo sie gefunden worden waren. Nicht lange danach kam Hellstrøms Mann wieder, um sie zu suchen, fand sie, wo er sie vermutet hatte, nahm sie und ging. Ihre Bedeutung wurde zu der Zeit nicht verstanden. Man behandelte den Fall als eine reine Routineangelegenheit. Unser Mann im Bibliotheksdienst war neugierig, nichts weiter, aber die Neugierde nahm zu, als die Kopien höheren Stellen zu Gesicht kamen. Unglücklicherweise hatten wir keine Gelegenheit, Hellstrøms Mann in der Folgezeit zu beobachten. Anscheinend bleibt er bei der Farm. Immerhin scheint Hellstrøm nicht zu ahnen, daß wir von seinem kleinen Projekt wissen.« »Die ganze Geschichte kommt mir ein wenig wie Science Fiction vor«, sagte Depeaux. »Reichlich fantastisch, muß ich sagen.« Janvert nickte zustimmend. War dieser Verdacht der wirkliche Grund, warum die Organisation die Nase in Hellstrøms Angelegenheiten steckte? Oder war es möglich, daß Hellstrøm lediglich ein Produkt entwickelte, das von einer der Gruppen, die der Organisation nahestanden und sie finanziell unterstützten, als Bedrohung empfunden wurde? In diesem Geschäft konnte man nie genau wissen. »Habe ich nicht schon mal von diesem Hellstrøm gehört?« fragte Carr. »Ist er nicht der Entomologe, der sich gegen die Verwendung von DDT wandte, als ...« »Das ist der Bursche!« sagte Merrivale. »Ein reiner Fanatiker. Nun, hier ist der Lageplan der Farm, Carlos.« Soviel zu meiner Frage, dachte Carr. Sie machte es sich im Sessel bequem, zog die Beine unter den Hintern und blickte | 20 |
offen zu Janvert hinüber, der mit einem Grinsen antwortete. Er hat bloß mit Merrivale gespielt, dachte sie, und er glaubt, ich sei mit von der Partie. Merrivale hatte eine Blaupause auf dem Schreibtisch ausgebreitet und zeigte mit seinen langen, empfindsamen Fingern auf Einzelheiten. »Hier die Scheune – Nebengebäude – Wohnhaus. Wir haben Grund zu der Annahme, daß diese Scheune Hellstrøms Filmatelier ist, wie auch aus diesen Berichten hervorgeht. Eigenartiger Betonbau hier beim Eingangstor. Schwer zu sagen, welchem Zweck er dient. Sie werden das herausbringen, Depeaux.« »Und Sie wollen nicht, daß wir offen hingehen und rumschnüffeln«, sagte Depeaux. Er starrte stirnrunzelnd auf die Blaupause. Diese Entscheidung gab ihm zu denken. »Die junge Frau, die zu fliehen versuchte ...« »Ja, das war am 20. März«, sagte Merrivale. »Porter sah sie aus der Scheune rennen. Sie kam bis zum nördlichen Tor hier, wo sie von zwei Männern festgenommen wurde, die von jenseits des Zauns kamen und ihr den Weg abschnitten. Der Ausgangspunkt der beiden ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls brachten sie die Frau in das Scheunenatelier zurück.« »Porter schrieb in seinen Bericht, daß diese beiden Männer keinerlei Kleidung trugen«, sagte Depeaux. »Mir scheint, daß eine Meldung an die örtliche Sicherheitsbehörden geeignet gewesen wäre ...« »Dann hätten wir erklären müssen, warum wir dort waren. Hellstrøm wäre gewarnt gewesen, und unser einzelner Mann hätte allein gegen Hellstrøms zahlreiche Komplizen und Helfershelfer gestanden. Und alles das angesichts der neuen Moral, die diese Gesellschaft durchdringt.« Du verdammter Heuchler! dachte Carr. Du weißt sehr gut, wie die Organisation Sex für ihre eigenen Zwecke zu nutzen versteht. Janvert beugte sich vor und sagte: »Merrivale, Sie halten in diesem Fall etwas zurück. Ich möchte wissen, was es ist. Wir haben Porters Meldung, aber er ist nicht hier, um im einzelnen dazu Stellung zu nehmen und Fragen zu beantworten. Ist Porter verfügbar?« Er lehnte sich wieder zurück. »Ein einfa| 21 |
ches Ja oder Nein wird genügen.« Das ist ein gefährlicher Kurs, Eddie, dachte Carr. Sie beobachtete Merrivale aufmerksam, um seine Reaktion richtig einzuschätzen. »Ich kann nicht sagen, daß mir Ihr Ton gefällt, Shorty«, sagte Merrivale. Depeaux lehnte sich zurück und bedeckte die Augen mit der Hand. »Und ich kann nicht sagen, daß mir Ihre Geheimniskrämerei gefällt«, erwiderte Janvert. »Wir möchten gern wissen, was nicht in diesen Meldungen und Berichten steht.« Depeaux ließ die Hand sinken und nickte. Ja, dieser Fall hatte einige Aspekte ... »Ungeduld geziemt sich nicht für gute Agenten«, sagte Merrivale. »Ich kann jedoch Ihre Neugierde verstehen, und die Regel, nach der jeder nur das für seine Arbeit Notwendige wissen soll, findet in diesem Fall keine Anwendung. Peruge hat das ausdrücklich bestätigt. Was uns hier zu denken gibt, ist nicht bloß das Projekt 40, sondern die Anhäufung von Indizien, die zunehmende Zahl von Hinweisen darauf, daß Hellstrøms Filmgeschäfte tatsächlich nur eine Tarnung für ernste und höchst subversive politische Aktivitäten sind.« Blödsinn! dachte Janvert. »Wie ernst sind diese Aktivitäten?« fragte Carr. »Also – Hellstrøm hat auf dem Atomversuchsgelände in Nevada herumgeschnüffelt. Er führt auch entomologische Forschungen durch, wissen Sie. Seine Filme werden als wissenschaftliche Dokumentationen angeboten. Er hat radioaktive Materialien für seine sogenannten Forschungen verwendet und ...« »Warum sogenannten?« fragte Janvert. »Ist es nicht möglich, daß er genau das ist, als was er sich ausgibt?« Merrivale schnaubte. »Ausgeschlossen! Sehen Sie, es steht wirklich alles in diesen Meldungen hier. Beachten Sie besonders die Hinweise darauf, daß Hellstrøm und seine Leute in einer Art Kommune oder Gemeinschaft leben. Es ist auffallend. Er und seine Filmtechniker führen dieses Leben auch auf Reisen, bleiben immer unter sich, eine Clique von | 22 |
Vertrauten. Und dann ihre intensive Beschäftigung mit den neuen afrikanischen Nationen, die wiederholten Besuche im Testgelände von Nevada, das starke Engagement für diese brisanten ökologischen Fragen und Probleme, die ...« »Kommunist?« fragte Carr geradeheraus. »Es ist ... äh ... nicht auszuschließen.« Janvert räusperte sich. »Wo ist Porter?« »Das ... äh ...« Merrivale zupfte sich am Kinn. »Das ist ein bißchen eklig. Ich bin überzeugt, daß Sie die Schwäche unserer Position in ...« »Ich verstehe es nicht«, sagte Janvert. »Was ist mit Porter geschehen?« »Das gehört zu den Punkten, die Carlos hoffentlich aufklären kann«, sagte Merrivale. Depeaux richtete einen nachdenklichen Blick auf Janvert und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu Merrivale, der in scheinbarer Konzentration auf die Blaupause starrte. »Porter ist – vermißt?« fragte Depeaux. »Irgendwo im Bereich dieser Farm«, sagte Merrivale nachdenklich. Er blickte auf, als habe er Depeaux eben erst bemerkt. »Vermutlich.« Aus den aufgezeichneten Betrachtungen der Brutmutter Trova Hellstrøm: Ein gewisses Maß von Bedrohung ist gut für eine Art. Die Fortpflanzung wird angeregt, die Bewußtseinsebene erhöht. Zuviel Bedrohung kann allerdings einen lähmenden, verdummenden Effekt haben. Es gehört zu den Aufgaben der Führerschaft, die Ebene der stimulierenden Bedrohung einzuhalten. Als die Sonne hinter ihm tiefer sank, achtete Depeaux darauf, daß seine Silhouette ihn nicht verriet. Solche Lichtverhältnisse hatten Vor- und Nachteile. Sie hoben verschiedene Einzelheiten des Farmgeländes reliefartig hervor – leichte Unebenheiten des Bodens, die Zäune, die Wildwechsel auf den Hängen gegenüber, die verwitterten Planken auf der Westseite der Scheune. Noch immer hatte es außerhalb der Gebäude nicht ein Zei| 23 |
chen menschlicher Aktivität und keine sicheren Hinweise auf Bewohner in ihnen gegeben. Das aufreizende Summen drang unverändert aus den Ventilatorentürmchen der Scheune, und Depeaux hatte die Spekulationen über seine Natur erschöpft. Versuchsweise hatte er sich für eine Klimaanlage entschieden und wünschte, er könnte sich dieser Erleichterung vom heißen Nachmittag im staubigen Gras erfreuen. Ein eisgekühltes Getränk, sagte er sich, das ist es, was ich brauche. Die Tatsache, daß das Aussehen der Farm den Meldungen und Beschreibungen (einschließlich Porters) entsprach, sagte für sich genommen nicht allzuviel aus. Depeaux suchte das Tal wieder mit dem Feldstecher ab. Die Leere hatte etwas eigentümlich Wartendes an sich, als würden Kräfte zusammengerufen, um die Farm mit Leben zu erfüllen. Depeaux überlegte, was Hellstrøm mit seinen landwirtschaftlichen Produkten anfangen mochte. Warum war die ganze Gegend so menschenleer und bar aller Zeichen menschlichen Lebens? Entlang der ungeteerten Straße, die zum Tal führte, hatte er keine Urlauber oder Ausflügler gesehen, obwohl die Gegend zum Verweilen und Wandern einlud. Warum waren die Einwohner von Fosterville so verschlossen, wenn man auf Hellstrøms Farm zu sprechen kam? Dieser Umstand war schon Porter aufgefallen. Auch war die weitere Umgebung als Jagdgebiet bekannt, doch hatte er weder Wild noch einen Jäger gesehen, nichts als die staubigen alten Wildwechsel auf der anderen Seite des Tales. Der Bach mit seinen kleinen Tümpeln war für Angler offenbar wenig reizvoll, aber immerhin ... Ein Blauhäher landete im Baum hinter Depeaux, stieß einen heiser krächzenden Ruf aus und flog dann weiter über das Tal und in die Bäume am jenseitigen Hang. Depeaux beobachtete den Flug des Vogels mit eigenartigem Interesse und begriff verspätet, daß dies die erste Bekundung einer höheren Lebensform war, die er in Hellstrøms Tal gesehen hatte. Ein einziger verdammter Häher! Das war ein karger Lohn für einen Tag ununterbrochener Beobachtung. Aber schließlich war er ein Amateurornithologe, nicht wahr? Ein bescheidener kleiner Urlauber, Reisender für die Blue Devil | 24 |
Feuerwerkskörper AG in Baltimore, Maryland. Er seufzte, arbeitete sich zurück in den Schatten der Eichen. Er hatte die Karten studiert, die Luftaufnahmen, Porters Beschreibungen, alle verfügbaren Meldungen und Berichte. Er hatte sich jede Einzelheit säuberlich eingeprägt. Wieder beobachtete er seine Wegspur durch den Feldstecher. Nichts bewegte sich im hohen Gras der offenen Weideflächen oder in den Bäumen dahinter. Nichts. Die Ungewöhnlichkeit dieses Tatbestands beanspruchte seine Aufmerksamkeit mehr und mehr. Ein einziger verdammter Häher? Die Sache hatte sich schon lange in sein Bewußtsein geschoben, aber jetzt verdrängte sie alle anderen Überlegungen. Ein Vogel. Es hatte den Anschein, als sei alles Tierleben aus der Gegend um das Bewachte Tal verschwunden. Warum hatte Porter nichts davon erwähnt? Und warum war ihm nichts am Verhalten des Viehs aufgefallen, das dort draußen im Norden weidete, auf halbem Weg nach Fosterville? Kein Weidezaun hinderte es daran, sich der Farm zu nähern, aber es blieb auf Distanz. Warum? In diesem Augenblick erkannte Depeaux, was ihm die bestellten Felder so seltsam hatte erscheinen lassen. Sie waren völlig abgeräumt. Diese Felder waren nicht bloß abgeerntet; sie waren von jedem Pflanzenrest, jedem Blatt, jedem Zweig befreit. Im oberen Teil des Tals gab es einen verwilderten Obstgarten mit mehreren Dutzend Apfel- und Birnbäumen. Depeaux kroch zu seinem Aussichtspunkt zurück, um die Bäume und den Boden darunter durch den Feldstecher zu untersuchen. Kein Fallobst war auszumachen, keine Reste von angefaulten Früchten, keine Blätter oder Zweige – nichts. Abgesehen von den noch im Boden verwurzelten Stoppeln der Maispflanzen war alles wie leergefegt. Nur das hohe Gras ringsum stand unberührt. Hellstrøms Nachtrag zu den Diätregeln: Die Arbeitskräfte in Schlüsselpositionen müssen selbstverständlich die Zusatznahrung für Führungspersonal erhalten, aber es ist ebenso wichtig, daß sie ihre Grundnahrung weiterhin aus den Bottichen | 25 |
beziehen. Dies ist der Ort, wo das Bewußtsein unserer gemeinschaftlichen Identität immer wieder erneuert wird. Ohne die chemische Gleichheit, die uns aus den Bottichen zuteil wird, werden wir wie jene draußen: isoliert, allein, ziellos treibend. Als der Tag sich neigte, war Depeaux’ Wunsch, etwas Tierisches und Lebendiges im Tal zu finden, fast zur Besessenheit geworden. Aber nichts regte sich weit und breit, und die Sonne näherte sich dem Horizont. Vielleicht ein anderer Aussichtspunkt, dachte er. Je länger er auf dem Hügel über der Farm blieb, desto weniger gefiel ihm seine Tarnung. Amateurornithologe, in der Tat! Warum hatte Porter nicht die Abwesenheit von tierischem Leben erwähnt? Insekten gab es natürlich: sie krabbelten im Gras und durchsummten die stille Luft. Aber auch sie schienen nicht sehr zahlreich. Depeaux verließ den Kamm und erhob sich auf die Knie. Sein Rücken schmerzte vom ständigen Umherbewegen in unnatürlicher Haltung. Stachlige Samenschalen von Gräsern und Stauden waren ihm an den Kragen, unter den Gürtel, in die Ärmel und Strümpfe geraten. Er lächelte grimassenhaft über seine eigene Unbequemlichkeit; er konnte beinahe Merrivales kommentierende Stimme hören: Das gehört zu dem Preis, den Sie für diesen Beruf zahlen, alter Knabe. Arschloch! Porters im übrigen recht gewissenhafte Meldungen hatten nichts von Wachtposten erwähnt, die außerhalb der Farmgebäude stationiert waren, aber was er geschrieben hatte, spiegelte nur die Beobachtungen eines Mannes während eines begrenzten Zeitraums wider. Depeaux stellte sich die Frage, wie er seine Position im Freien unter der Eiche beurteilte. In diesem Geschäft blieb man am Leben, indem man sich letzten Endes nur auf seine eigenen Sinne verließ – und Porter war vermißt. Das war eine bedeutungsvolle Information. Sie konnte harmlose oder unheilvolle Ursachen haben, sicherer war es in jedem Fall, das Schlimmste zu glauben. Und schlimmstenfalls war Porter tot, und die Bewohner von Hellstrøms Farm waren dafür verantwortlich. Merrivale glaubte es. Er hatte es | 26 |
ziemlich klar durchblicken lassen, und womöglich besaß der geheimnistuerische Saukerl Informationen, die es bestätigten, ohne daß er daran dachte, seinen Agenten etwas davon zu sagen. »Sie werden mit äußerster Vorsicht vorgehen und sich in jeder Phase des Unternehmens der Notwendigkeit bewußt sein, daß wir uns völlige Klarheit über Porters Verbleib verschaffen müssen.« Das Schwein weiß es wahrscheinlich schon, sagte sich Depeaux. Etwas in der Stille und Leere der ganzen Gegend sprach von versteckten Gefahren. Depeaux erinnerte sich daran, daß Agenten, die sich allzusehr auf die Meldungen anderer stützten, nicht selten zu Tode kamen, manchmal in schmerzhafter und häßlicher Art und Weise. Was stimmte hier nicht? Wieder spähte er in die Richtung, aus der er gekommen war, sah weder Anzeichen von Bewegung noch beobachtende Augen. Ein Blick zum Himmel sagte ihm, daß ihm bis zum Dunkelwerden noch ungefähr zwei Stunden blieben. Zeit genug, um zum Südende des Tals hinüberzugehen und es von dort aus zu überblicken. Er nahm den Rucksack auf und lief geduckt durch das hohe Gras nach Süden, den Höhenrücken zwischen sich und der Farm. Seine Atmung paßte sich mühelos der Anstrengung an, und er dachte befriedigt, daß er für einen Mann von einundfünfzig Jahren noch recht gut in Form sei. Schwimmen und Wandern waren kein schlechtes Rezept, und er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er in diesem Augenblick in kühlem, reinem Wasser schwämme. Am Grashang war es trocken und heiß, voller Staub, der in der Nase kitzelte. Aber das Verlangen nach kühlem Wasser machte ihm nicht übermäßig zu schaffen. Solche Wünsche hatte er in den sechzehn Jahren, seit er innerhalb der Organisation vom Büroangestellten zum Agenten aufgestiegen war, nicht selten gehabt. Gewöhnlich tat er das flüchtige Verlangen, anderswo zu sein, als ein unbewußtes Erkennen von Gefahr ab, aber zuweilen ließ es sich keinen anderen Ursachen als körperlichem Unbehagen zuschreiben. Als er noch ein gewöhnlicher Angestellter in der Zentrale | 27 |
in Baltimore gewesen war, hatte Depeaux sich in seinen Tagträumen als ein Agent gesehen und Spaß daran gehabt. Er hatte abschließende Berichte über Agenten gelesen und abgelegt, die sich ›in treuer Pflichterfüllung aufgeopfert‹ hatten, und solche Fälle waren ihm stets ein Anlaß zu dem Gelöbnis gewesen, daß er, wenn er es jemals zum Agenten brächte, äußerst vorsichtig sein würde. Dieses Gelübde einzuhalten, war ihm nicht schwergefallen. Er war von Natur aus sorgfältig und genau – »Der vollkommene Angestellte«, wie manche seiner Kollegen gelegentlich zu kritteln pflegten. Aber nur mit pedantischer Sorgfalt war es ihm gelungen, sich die Farm und ihre Umgebung nach den Luftaufnahmen so genau einzuprägen, daß er sich auch im Dunkeln zurechtfinden konnte und auswendig wußte, wohin jeder der Wildwechsel durch das hohe Gras führte. Wildwechsel, aber kein Wild, sagte er sich. Wann wurden diese Wildwechsel benutzt, und von welcher Art Wild? Es war ein weiterer Punkt, der ihn zur Vorsicht mahnte. Depeaux hatte einmal durch Zufall gehört, wie Merrivale einem anderen Agenten gegenüber bemerkt hatte: »Das Dumme mit Carlos ist, daß er auf Überleben spielt.« Als ob der alte Merrivale nicht das gleiche täte! dachte Depeaux. Der Mann hatte es jedenfalls nicht durch tollkühne Unternehmungen zu seiner derzeitigen Stellung als Operationschef gebracht. Depeaux konnte das leise Rieseln und Plätschern des Wasserfalls hören. Ein kleines Gehölz aus Bäumen und Sträuchern erhob sich hinter den gestuften Felsbänken und markierte die südliche Grenze von Hellstrøms Tal. Depeaux verhielt im Schatten einer Fichte und beobachtete längere Zeit seine Umgebung, vor allem aber seine eigene Fährte. Irgend etwas an diesen offenen, mit hohem Gras bestandenen Flächen war ihm nicht geheuer. Es war nirgendwo eine Bewegung auszumachen, aber er beschloß, die Dunkelheit abzuwarten, ehe er sich auf den Rückweg machte. Bisher war die Sache nicht allzu schlecht verlaufen, sah man von diesen seltsam beunruhigenden Empfindungen ab, die unbekannte Gefahren signalisierten. Die Beobachtung des | 28 |
Tals von diesem oberen Aussichtspunkt aus sollte nicht allzu lang dauern. Vielleicht wäre es besser, wenn er noch bei Tageslicht ginge und frühzeitig zu Tymiena zurückkehrte. Vielleicht. Der zuvor gefaßte Entschluß, die Dunkelheit abzuwarten, hatte sich jedoch in ihm verwurzelt. Geh auf Nummer Sicher, erinnerte er sich. Spiel auf Überleben. Er wandte sich nach links und schlüpfte durch einen Bestand von Eichen und Weidengebüsch zu einem dichten Haselgesträuch nahe am Rand der Felsen. Die Geräusche des Wasserfalls drangen jetzt ziemlich laut durch das Unterholz. Bei den Sträuchern ließ sich Depeaux auf alle viere nieder, steckte den Feldstecher ins Hemd und schob den Rucksack vom Rücken auf die rechte Seite. Dann kroch er vorsichtig und unter Vermeidung jeder heftigen Bewegung weiter, wobei er sich halb auf die linke Seite legte, um den Feldstecher zu schützen und den Rucksack vom Boden abzuhalten. Schon nach wenigen Metern endeten die Büsche an einer bröckelnden Felskante, und Depeaux hatte das Tal in seiner ganzen Länge vor sich. Als er den Feldstecher hervorzog, überlegte er müßig, wo man wohl die ›wilden‹ Indianer abgeschlachtet haben mochte. Der Wasserfall plätscherte ungefähr fünfzehn Schritte zu seiner Rechten. Er lag auf dem Bauch, den Oberkörper auf die Ellbogen gestützt, und hob den Feldstecher an die Augen. Die Gebäudegruppe der Farm war jetzt weiter entfernt, und der große Scheunenbau verdeckte das Wohnhaus bis auf den westlichen Flügel. Von diesem neuen Aussichtspunkt war ein gewundenes Stück Bachlauf zu sehen. An vielen Stellen blinkten Tümpel durch die Erlen und Weiden entlang den Ufern. Die Oberflächen waren spiegelglatt, also gab es fast keine Strömung. Am Nordende des Tals öffnete sich der Ausblick und zeigte welliges, von kleinen Gehölzen durchsetztes Grasland. In der Ferne weidete Vieh. Warum wagte es sich nicht näher zum Ausgang des Tals, wo hohes, fettes Gras wuchs? Es gab keine sichtbaren Hindernisse, die es ferngehalten hätten: keinen Zaun, keinen Graben – nichts. | 29 |
In dem Moment sah er ein Fahrzeug, das sich weit jenseits der weidenden Rinder in einer Staubwolke dahinbewegte. Das war der schmale Fahrweg, den er und Tymiena genommen hatten. Wer kam dort? Mochte jemand das Wohnmobil gesehen haben? Tymiena saß wahrscheinlich vor ihrer Staffelei und malte Bilder von der wenig aufregenden Landschaft, aber trotzdem ... Depeaux beobachtete die Staubwolke durch den Feldstecher und machte bald einen großen Lastwagen mit Planenverdeck aus. Er folgte den willkürlichen Windungen des Fahrwegs und fuhr schnell. Depeaux versuchte Tymiena ausfindig zu machen, aber der linke Höhenzug blockierte die Sicht in der Richtung, und sie hatten das Wohnmobil einen Feldweg entlang in den Schatten einer Baumgruppe gefahren. Der Fahrer des Lastwagens war vielleicht nicht nahe genug herangekommen, um sie zu sehen. Es spielte sowieso keine Rolle, sagte er sich. Eine seltsame Erregung ergriff von ihm Besitz. Er richtete den Feldstecher wieder auf die Gebäude der Farm. Sicherlich würde jemand herauskommen und den Lastwagen empfangen. Bei dieser Gelegenheit würde er zum erstenmal die Bewohner dieses sonderbaren Ortes zu Gesicht bekommen. Mit gespannter Aufmerksamkeit studierte er die Szene. Im Tal regte sich nichts. Sie mußten den Lastwagen hören. Sogar er konnte ihn nun hören, obwohl die Entfernung viel größer war und das Plätschern des Wasserfalls erheblich störte. Wo blieben die Bewohner der Farm? Die Feldstecherlinsen hatten wieder Staub angesetzt. Depeaux dachte über die Lage nach, während er die Linsen putzte. Er wußte, daß es lächerlich erscheinen mochte, aber das völlige Fehlen sichtbarer Aktivität angesichts der zahlreichen Indizien, daß Menschen hier ein tätiges Leben führten, machte ihn unruhig. Es war unnatürlich! Alles in diesem verdammten Tal war so bewegungslos. Dabei hatte er das unheimliche Gefühl, von ungezählten Augen beobachtet zu werden. Als er sich herumwälzte und durch das Gesträuch zurückblickte, konnte er nicht die geringste Bewegung aus| 30 |
machen. Warum empfand er diesen Zustand als Gefahr? Er konnte nicht anders; und seine Unfähigkeit, eine Erklärung zu finden, beunruhigte ihn nur noch mehr. Was versteckten sie hier? Trotz Merrivales wiederholter Versuche, diesen Fall als einen Leckerbissen für den erwählten Agenten darzustellen, hatte Depeaux von Anfang an gemerkt, daß etwas daran faul war. Janvert schien dieses Gefühl zu teilen. Diese Sache war oberfaul, und die Erkenntnis war wie ein Prickeln in der Nase, wenn sie etwas Überreifes und Saures roch, etwas, das zu lange im eigenen Saft gelegen hatte und in Gärung übergegangen war. Der Lastwagen hatte inzwischen den Ausgang des Tals erreicht und kam die sanfte Steigung zum nördlichen Grenzzaun herauf. Depeaux beobachtete ihn durch den Feldstecher und sah zwei weißgekleidete Gestalten im Fahrerhaus. Sie waren durch die Sonnenreflexe auf der Windschutzscheibe nur undeutlich erkennbar. Und noch immer kam niemand aus den Farmgebäuden. Der Lastwagen wendete nahe beim Zaun und zeigte eine große Inschrift auf der weißen Flanke: N. HELLSTRØM, INC. Das Fahrzeug beschrieb einen Halbkreis, bis es sich wieder von der Farm zu entfernen schien, dann hielt es an und rollte rückwärts zum Tor. Zwei blonde junge Männer stiegen aus dem Fahrerhaus, gingen nach hinten und ließen die Ladebordwand herab. Dann kletterten sie unter die Plane auf die Ladefläche und schoben eine große gelbe und graue Kiste aus dem Schatten auf die Ladeplattform. Nach ihren Anstrengungen zu urteilen, schien die Kiste ziemlich schwer zu sein. Die beiden kippten sie, bis sie aufrecht auf der Ladeplattform stand, dann ließen sie die Plattform herab, legten die Kiste auf eine Schmalseite und schoben sie ohne weitere Umstände von der Ladeplattform in den Staub. Was zum Teufel mochte in dieser Kiste sein? Sie war groß genug für einen Sarg. Die Männer schlossen die Ladebordwand, kletterten wieder ins Fahrerhaus und fuhren fort. Die Kiste blieb drei Meter vor dem Nordtor auf dem staubi| 31 |
gen Fahrweg liegen. Depeaux untersuchte die Oberfläche der Kiste durch den Feldstecher. Sie war mindestens zwei Meter lang, aus Holz und entsprechend schwer. Verschlossen war sie mit kreuzweise angebrachten Stahlbändern. Eine Lieferung, überlegte Depeaux. Was zum Teufel konnte in einer Kiste dieser Größe und Form geliefert worden sein? Hellstrøm hatte einen eigenen Lastwagen, der eingehende Sendungen in Fosterville abholen und zur Farm transportieren konnte, aber es schien dem Mann nichts auszumachen, die angelieferten Waren vor dem Tor herumliegen zu lassen. Vielleicht war das nicht weiter ungewöhnlich. Hellstrøm mußte ein vielbeschäftigter Mann sein, der sich nicht um alles kümmern konnte. Das Dossier der Organisation enthielt eine Menge Informationen über Hellstrøm und seine Filmproduktion, deren Besitzer und Leiter er war. Er machte Dokumentarfilme über Insekten. Manchmal wurden seine Filme oder Teile von ihnen in größere Produktionen eingegliedert und durch Verleihfirmen in Hollywood und New York auf den Markt gebracht. Die meisten seiner Produktionen waren jedoch Lehrprogramm für Schulen und Fernsehanstalten. Es war alles ganz einfach zu erklären, bis man auf diesem Hügel saß und die Vorgänge bei Hellstrøms Hauptquartier beobachtete, wie Depeaux es jetzt tat und wie Porter es vor ihm getan hatte. Was war aus Porter geworden? Und warum wollte Merrivale nichts von einer regulären Vermißtenanzeige mit entsprechenden amtlichen Nachforschungen wissen? Mit Hellstrøms Tätigkeit mußte es mehr auf sich haben. Oder vielmehr mit seiner Untätigkeit. Aus dem Leitfaden: Die Beziehung zwischen Ökologie und Evolution ist außerordentlich eng und drückt sich in organischen Veränderungen innerhalb einer gegebenen Population aus. Eine besondere Rolle spielt dabei die Populationsdichte in einer gegebenen Heimatumwelt. Unsere Anpassungsversuche zielen auf eine Erhöhung der Toleranzdichte ab, so daß künftig eine Bevölkerungsdichte möglich sein wird, die das zehn- bis zwölffache derer beträgt, die gegenwärtig für möglich | 32 |
gehalten wird. Daraus werden wir unsere Variationen der Überlebensfaktoren beziehen. Eine Atmosphäre gelassener Erwartung lag über dem Konferenzraum, als Dzule Peruge hereingeschritten kam und den Sessel am Kopfende des langen Tisches einnahm. Als er seine Aktentasche auf den Tisch legte, blickte er flüchtig auf die Armbanduhr: 17:14. Obwohl Sonntag war, hatten sich alle wichtigen Leute eingefunden, unter ihnen die einzige Frau, die innerhalb der Organisation Verantwortung trug. Ohne die üblichen Vorbereitungen eröffnete Peruge die Sitzung und sagte: »Ich habe einen äußerst anstrengenden Tag hinter mir. Um ihm die Krone aufzusetzen, rief mich der Chef vor zwei Stunden an und beauftragte mich, Ihnen seine Überlegungen zur Sache Hellstrøm vorzutragen. Er hatte damit zu tun, verschiedene Fragen von oben zu beantworten; das hatte natürlich Vorrang.« Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Es war ein ruhiger und schallgedämpfter Ort, dieser Konferenzraum im Dachgeschoß. Graue Vorhänge verbargen die Doppelfenster auf der Nordseite und verwandelten den strahlenden Herbstnachmittag in kühles Unterwasserlicht. Um den Konferenztisch erhob sich ungeduldiges Hüsteln, als die Pause sich hinzog, Peruge gab sich sichtlich einen Ruck und öffnete die Aktentasche und entnahm ihr den Inhalt – drei dünne Schnellheftermappen. Er blickte in die Runde und sagte: »Sie alle haben die Hellstrøm-Akte gesehen. Der Chef sagte mir, sie sei vor drei Wochen im Umlauf gewesen. Es wird Sie interessieren, zu erfahren, daß wir den Kode auf Seite siebzehn der Originalakten inzwischen entschlüsselt haben. Es war ein ziemlich origineller Kode, der auf einer vierstelligen Grundeinheit beruht. Nach Auskunft unserer Fachleute ist diese Grundeinheit eine Abwandlung des DNS-Kodes. Sehr einfallsreich.« Er räusperte sich, zog ein dünnes Blatt aus dem obersten Aktendeckel und überflog den Inhalt. »Der Text bezieht sich wieder auf dieses Projekt 40, aber diesmal eindeutig in Begriffen, die eine Waffe meinen. Die genauen Worte lauten: Ein Sta| 33 |
chel, der unsere Arbeiter über die ganze Welt erheben wird.« Sehr vielsagend.« Ein Mann auf der linken Seite sagte ungerührt: »Quatsch! Dieser Hellstrøm produziert Filme. Dieser Satz könnte sich auf irgendeine dramatische Geschäftstransaktion mit einem Film beziehen.« »Das ist nicht alles«, fuhr Peruge fort. »Der Text enthält Instruktionen über Wechselkreise, die, wie unser Mann bei Westinghouse versichert, auf fortschrittlicher Nuklearphysik beruhen. Er fand die Implikationen sehr aufregend und nannte es ›einen weiteren Schlüssel zur Lösung des Problems‹. Er räumt allerdings ein, daß dieser Schlüssel allein nicht ausreicht; es scheint nicht ganz klar zu sein, welchen Platz dieses System von Wechselkreisen innerhalb des Gesamtprojekts einnimmt. Wie auch immer, der verschlüsselte Text enthält noch einen weiteren interessanten Punkt.« Peruge legte abermals eine Pause ein und blickte in die Runde. »Es handelt sich um eine sehr direkte Botschaft. Sie instruiert den Besitzer der Papiere, seine künftigen Meldungen durch einen Mann in Washington zu machen. Der Name dieses Mannes ist angegeben. Er ist der Senator, auf dessen Aktivitäten wir aufmerksam geworden sind.« Er unterdrückte ein Lächeln. Die allgemeine Reaktion war genau so, wie der Chef sie vorausgesagt hatte. Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, was bei diesen Konferenzen eigenwilliger Köpfe selten genug vorkam. Sein Nebenmann zur Linken sagte: »Gibt es keinen Zweifel daran?« »Nicht den geringsten.« Aus Dzule Peruges dienstlicher Beurteilung des Operationschefs Joseph Merrivale: M. hat keine erkennbaren hemmenden Gefühle menschlicher Wärme für seine Mitarbeiter, heuchelt diese Reaktionen jedoch recht gut. Seine verwaltungstechnischen Fähigkeiten sind für die notwendigen Aufgaben ausreichend, aber es fehlt ihm an Initiative und Risikobereitschaft. Er entspricht genau den Erwartungen, die wir an den Inhaber dieser Position gerichtet haben: ein Mann, der die | 34 |
Abteilung reibungslos leiten und, wenn angewiesen, seine Leute ohne Bedenken auch in lebensgefährliche Situationen schicken kann. Beförderung empfohlen. Als er die Konferenz verließ, gestattete sich Peruge ein kleines Triumphgefühl. Es hatte ein paar heikle Augenblicke mit dieser Schnalle gegeben, aber im großen und ganzen war er gut mit ihnen fertig geworden. Er konnte noch immer nicht verstehen, warum sie eine Frau in diesen Ausschuß gewählt hatten. Als er auf die Straße hinauskam, regnete es. Es machte die Abendluft erfrischend, teilte ihr aber auch einen bestimmten Geruch von nassem Staub mit, den Peruge nicht ausstehen konnte. Er winkte ein Taxi heran. Der Fahrer war, wie das Unglück es wollte, eine Fahrerin. Peruge ließ sich mit einem resignierten Seufzer ins Polster sinken und sagte: »Fahren Sie mich zum Sattler.« Nicht auszudenken, in welche Bereiche die Frauen noch eindringen würden, dachte er. Sie waren im allgemeinen zerbrechliche Geschöpfe ohne nervliche Widerstandskraft und sollten nicht in diesen Berufen zugelassen werden. Er war vor allem durch seine Mutter zu dieser Einstellung gelangt. Sie war ihr Leben lang Opfer und Spielball widerstreitender Verhaltensweisen und Gefühle gegenüber ihrer Herkunft und den Ansprüchen ihrer Sexualität gewesen. Zu den Vorfahren, von denen sie wußte, hatten Schwarze, Cherokee-Indianer und Portugiesen gehört. Manchmal war sie auf ihre Ahnen stolz gewesen. »Vergiß niemals, Junge, daß deine Vorfahren schon hier lebten, ehe der erste weiße Dieb seinen Fuß an diese Küsten setzte.« Bei anderen Gelegenheiten pflegte sie ihn zu erinnern: »Wir befuhren die Meere unter Heinrich dem Seefahrer, als noch die meisten Seeleute ihr Grab in den Wellen fanden.« Aber sie konnte diese Ausbrüche bitteren Stolzes mit vorsichtigen Warnungen temperieren: »Dzule, du siehst weiß genug aus, daß niemand jemals von den Niggern in unserem Blut zu wissen braucht. Du mußt auf die weiße Karte setzen, Junge; das ist die einzige Chance, in dieser Welt zu gewinnen.« Und er hatte heute gewonnen und das Feld behauptet, da | 35 |
gab es keinen Zweifel. Die Schnalle im Konferenzraum hatte versucht, ihn in ein Kreuzverhör über Hellstrøms Aktivitäten zu nehmen und auf Widersprüchen festzunageln. Der Chef hatte ihn vor solchen Versuchen gewarnt. »Sie werden versuchen, die Situation auszunützen und ihre Nasen in die Organisation zu stecken. Ich vertraue darauf, daß Sie ihnen mit gleicher Münze herausgeben werden.« So war der Chef: wie ein Vater zu denen, auf die er sich verlassen konnte. Peruge hatte seinen eigenen Vater nie gekannt, der nur der erste in einer langen Reihe von Männern gewesen war, die sich Juanita Peruges Gunst erfreut hatten. Juanitas Familienname war Brown gewesen, ein banaler und abgedroschener Name, den sie ohne Bedauern für den geheimnisvolleren Peruge weggeworfen hatte. Der Vater war lange genug bei ihr geblieben, um den Säugling nach einem dunkel erinnerten Onkel Dzule zu nennen, dann hatte er auf einem Fischkutter angeheuert und war zu einer Fahrt ausgelaufen, wie sie zu Zeiten Heinrichs des Seefahrers nicht dramatischer hätte verlaufen können. Der Kutter ging in einem Wirbelsturm vor Campeche verloren. Die Tragödie war für Juanitas Charakter der festigende Zement gewesen. Sie bot ihr die prächtige Gelegenheit zu einer lebenslangen Suche nach Ersatz für eine Liebe, die von der Zeit immer romantischer und unerreichbarer gemacht wurde. Und für Dzule schuf sie den Mythos vom gewaltigen John (ursprünglich Juan) Peruge: athletisch, bronzebraun, aller großartigen Taten fähig, die man sich nur ausdenken konnte. Ein eifersüchtiger Gott hatte ihn zu Fall gebracht, was Einschlägiges über die Götter aussagte. Diese Tragödie, gesehen durch die Phantasien seiner Mutter, war für Dzule Anlaß, der Frau alle ihre Verstöße gegen die Moral zu verzeihen. Seine frühesten und stärksten Eindrücke von Frauen sagten ihm, daß sie die schwereren Prüfungen des Lebens nicht ertragen konnten und sich vor ihnen in die Freuden des Bettes flüchteten. So waren sie eben, und man mußte das akzeptieren. Andere mochten es leugnen, aber dann waren sie offensichtlich bestrebt, identische Verhaltensweisen ihrer eigenen Frauen zu verbergen. Die Organisation war für Dzule Peruge der natürliche Ort | 36 |
gewesen, um zu sich selbst zu finden. Hier fanden die Starken ihren Platz im Leben. Hier war die natürliche Domäne jener, die die Scheuklappen von den Augen genommen hatten. Und vor allem war es ein letzter Stützpunkt des Abenteurertums. In der Organisation war kein Traum zu entlegen, vorausgesetzt, man erkannte die meisten Menschen als schwach – namentlich die Frauen. Die Schnalle vom Ausschuß war keine Ausnahme. Es gab eine Schwäche in ihr, mußte eine geben. Aber sie war schlau, und sie hatte ihre eigene Art von bohrender Unbarmherzigkeit. Peruge blickte aus dem Taxifenster auf die regennassen Straßen und spielte den Zusammenstoß im Konferenzraum in Gedanken noch einmal durch. Sie hatte den Angriff eröffnet, indem sie ihre eigene Kopie der Hellstrøm-Akte herausgeholt hatte. Sie hatte die Eintragungen gefunden, die sie wollte, darauf Bezug genommen und gesagt: »Sie sagen uns, Hellstrøms Unternehmen sei ein Privatbesitz, gegründet 1958; er selbst als Mehrheitsgesellschafter, und zwei zeichnungsberechtigte Mitgesellschafterinnen – eine Miß Fancy Kalotermi, und eine Miß Mimeca Tichenum.« Sie hatte die Akte niedergelegt und ihn über den langen Tisch hinweg angestarrt. »Was manchen von uns beunruhigt, ist der Umstand, daß diese beiden Frauen nirgendwo in der Akte vorkommen, obwohl sie Mitgesellschafterinnen des Unternehmens sind, die Gründungsdokumente in Gegenwart des Notars unterschrieben und zweifellos Führungsrollen im Unternehmen innehaben.« Peruge fand, daß seine Antwort dem Angriff angemessen gewesen war. »Das ist richtig«, hatte er achselzuckend gesagt. »Wir wissen nicht, woher sie kommen, wo sie eine Ausbildung genossen haben, nichts. Die Namen klingen beide ausländisch, aber der Notar in Fosterville gab sich mit ihren Angaben zur Identität zufrieden, und die Aufsichtsbehörde erhob keine Einwände gegen ihre Tätigkeit in einem Geschäftsunternehmen dieses Staates. Mimeca könnte ein orientalischer Name sein, wie einige von Ihnen andeuteten, und der andere Name klingt griechisch; Genaueres wissen wir nicht. Natürlich ist dies ein | 37 |
Blatt, das wir nicht in seinem gegenwärtigen unbeschriebenen Zustand belassen wollen. Wir stellen Ermittlungen in dieser Richtung an.« »Leben die beiden auf Hellstrøms Farm?« hatte sie gefragt. »Allem Anschein nach ja.« »Haben Sie Beschreibungen von ihnen?« »Keine genaue: dunkles Haar, allgemein weibliches Erscheinungsbild.« »Allgemein weibliches Erscheinungsbild«, hatte sie kopfschüttelnd gesagt. »Ich frage mich, wie Sie mich beschreiben würden. Nun, das ist nicht so wichtig. In welcher Beziehung stehen sie zu Hellstrøm?« Peruge hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. Er wußte, wie er auf Frauen wirkte. Er war groß, einen Meter sechsundneunzig, und wog imponierende zwei Zentner. Sein sandfarbenes Haar hatte einen deutlichen Stich ins Rote, während die Augenbrauen dunkler getönt waren. Seine Augen waren von jenem Dunkelbraun, das oft für Schwarz gehalten wird, tiefliegend über einer eher kurzen Nase, breitem Mund und eckigem Kinn. Der Gesamteindruck war außerordentlich männlich. Mit einem unerwartet aufblitzenden Grinsen schickte er diese Botschaft seines Machismo den Tisch hinunter. »Madame, ich würde Sie niemandem beschreiben, nicht einmal mir selbst. Meine Verantwortung gegenüber der Organisation ist so, daß Sie namenlos und gesichtslos bleiben. Was diese anderen Frauen betrifft, so vertraute Hellstrøm ihnen hinreichend, um sie zu Mitgesellschafterinnen seines Unternehmens zu machen, was uns verständlicherweise neugierig gemacht hat. Wir beabsichtigen diese Neugierde zufriedenzustellen. Sie werden bemerkt haben, daß die andere als Schatzmeisterin aufgeführt ist, doch hat jede der beiden einen Gesellschafteranteil von nur einem Prozent am Unternehmen.« »Wie alt sind sie?« fragte sie mit einem düsteren Blick. »Volljährig.« »Reisen sie mit Hellstrøm?« »Darüber haben wir keine Unterlagen.« »Und Sie wissen nicht einmal, ob diese Frauen verheiratet sind oder andere Bindungen haben?« drängte sie. | 38 |
Peruges buschige Brauen neigten dazu, sich im Zorn oder Nachdenken abwärts zum Nasenrücken zu bewegen, und er brachte sie in diese Position, als er mit ruhiger Stimme, in der nur eine Spur von Ungeduld mitschwang, antwortete: »Das wissen wir nicht; nein.« Aber sie ahnte seine Verlegenheit, denn sie behielt die Angriffsrichtung bei und verlagerte sie nur auf Hellstrøm. »Und Hellstrøm, ist er verheiratet oder anderweitig gebunden?« »Nicht, daß wir wüßten. Die Berichte enthalten alles, was wir derzeit über ihn wissen.« »Alles?« höhnte sie. »Wie alt ist Hellstrøm?« »Wir schätzen ihn auf vierunddreißig. Die Gegend ist dünn besiedeltes Ackerbau- und Viehzuchtgebiet, und er wurde die ersten sieben Jahre zu Haus erzogen. Seine Großmutter, Trova Hellstrøm, hatte das Lehrerexamen abgelegt.« »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht«, sagte sie und klopfte auf die Akte. »Nur vierunddreißig. Ich erwähne es, weil ich den Eindruck habe, daß er ziemlich jung ist, um so viel Aufsehen zu erregen.« »Alt genug.« »Sie sagen, er halte Vorlesungen und Seminare an verschiedenen Universitäten. Hier in der Akte steht sogar, daß er bei einigen dieser Universitäten Mitglied der Fakultät ist. Wie kommt er zu diesen gefährlichen Berufungen?« »Durch seinen Ruf.« »Hmmm! Was wissen wir von seinen übrigen Mitarbeitern?« »Sie haben die Akte gesehen. Darin ist eine Aufstellung seiner Beschäftigten sowie der Geschäftsverbindungen, soweit uns diese bekannt geworden sind. Wir sind zur Zeit dabei, einige dieser Leute zu überprüfen.« »Und er hat ein Konto in der Schweiz. Interessant. Gibt es Hinweise auf die Höhe seines Vermögens?« »Nur was in der Akte steht.« »Haben Sie daran gedacht, diskrete Erkundigungen über seine Anwälte einzuholen?« »Halten Sie uns für Schwachköpfe?« fragte Peruge zurück. | 39 |
Sie starrte ihn eine Weile schweigend an. »Ich sagte, diskrete.« »Sein Rechtsberater ist, wie Sie gesehen haben werden, ein langjähriger Bürger der Gemeinde Fosterville, die sehr klein ist«, erläuterte Peruge. »In einer solchen Umgebung kann nicht einmal eine Liebschaft zwischen zwei Hunden diskret vonstatten gehen.« »Hmmpf.« Peruge blickte auf die Akten, die er vor sich ausgebreitet hatte. Sie wußte natürlich genausogut wie die anderen Ausschußmitglieder, daß er nicht die ganze Geschichte erzählte. Damit rechnete man, aber sie hatte keine Möglichkeit, zu erraten, was er verschwieg. Sie hatte nichts als ihr Mißtrauen. »Sind welche von Ihren Leuten jemals mit diesem Hellstrøm zusammengekommen?« fragte sie. Peruge blickte verwundert auf. Warum ließen die anderen zu, daß sie sich zu ihrer Sprecherin machte? Höchst ungewöhnlich. »Wie Sie vielleicht wissen, hat der Chef Beziehungen zum Vizepräsidenten der Bank jener Verleihfirma, die Hellstrøms Produktionen zu vermarkten pflegt. Dieser Vizepräsident ist bei gesellschaftlichen Anlässen wiederholt mit Hellstrøm zusammengetroffen, und wir haben einen Bericht von ihm, der Ihnen in Kürze zugestellt werden wird.« »Diese Bank arbeitet nicht für Hellstrøms eigene Firma?« »Nein.« »Haben Sie durch unsere Schweizer Verbindungsleute Nachforschungen angestellt?« »Es liegt kein Fall von nachweisbarem Betrug vor, darum erhalten wir keinen offenen Zugang zu den Schweizer Unterlagen. Trotzdem verfolgen wir diese Sache.« »Welchen Eindruck hat der Vizepräsident von Hellstrøm?« »Den eines auf seinem Gebiet fähigen, ziemlich stillen Mannes, der jedoch zu gelegentlichen Ausbrüchen konzentrierter Energie neigt, wo seine eigenen Interessen betroffen sind. Genauer gesagt, wenn das Thema Ökologie zur Sprache kommt.« »Welche Gehälter zahlt Hellstrøm seinen Beschäftigten?« »Tariflöhne, aber wir haben nicht in allen Fällen die Steuer| 40 |
unterlagen.« »Stehen die beiden Mitgesellschafterinnen auf seiner Gehaltsliste?« »Offenbar arbeiten sie für etwas anderes als Geld. Wir glauben, daß sie auf der Farm leben, aber sie haben erklärt, daß sie kein Einkommen beziehen. Es ist daraus gefolgert worden, daß Hellstrøm geizig sei, oder daß Steuerbetrug dahinterstecke. Wir können zur Zeit noch nicht sagen, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhält. Wir haben Unterlagen eingesehen, die darauf hindeuten, daß seine Filmproduktion keinen Gewinn abwirft. Wenn insgesamt Gewinne entstehen, scheinen sie auf dem Lehrmittelsektor gemacht zu werden.« »Könnte diese Farm etwas wie eine subversive Schule sein?« »Einige von den jüngeren Leuten sind angeblich dort, um sich im Filmemachen und auf dem Gebiet der Ökologie auszubilden. Detaillierte Angaben darüber befinden sich in der Akte.« »Können wir davon ausgehen, daß seine Gebäude und Einrichtungen inspiziert worden sind, von Vertretern der Baubehörde und so weiter? Sicherlich gibt es in Oregon entsprechende Gesetze.« »Die vorgeschriebenen Inspektionen wurden von lokalen Beamten durchgeführt, und der Wert der Informationen, die auf diesen Inspektionen beruhen, ist zumindest zweifelhaft. Wir werden Ihre Unterlagen ergänzen, sobald uns das möglich ist.« »Sind Hellstrøms Techniker, Kameraleute und dergleichen in der Branche anerkannt?« »Ihre Arbeit hat weithin Anerkennung gefunden.« »Aber die Leute selbst, werden sie bewundert?« »Ich denke, man könnte es so sagen.« »Was würden Sie sagen?« »Die Frage hat wenig Bedeutung, außer als Indikator für weitere Nachforschungen. Wir sind der Meinung, daß erfolgreiche Leute in der Filmbranche dazu neigen, nach außen hin Bewunderung für ihre Kollegen zur Schau zu stellen, daß sich unter dieser Oberfläche aber recht oft eine tiefgehende Feind| 41 |
seligkeit verbirgt. Bewunderung im üblichen Sinn hat mit der Situation wenig zu tun, außer daß sie Hinweise auf Tüchtigkeit oder Einkommen geben kann.« »Wie viele Reisen hat Hellstrøm unternommen, seit wir den Bericht erhalten haben?« »Eine Reise nach Kenia und zwei Tage an der StanfordUniversität.« »Ist er zur Zeit auf Reisen?« »Möglicherweise. Um darauf eine genaue Antwort zu geben, müßte ich unsere letzten Meldungen durchsehen. Wie ich eingangs sagte, haben wir gerade eine neue Mannschaft nach Oregon geschickt. Sie werden selbstverständlich über die weiteren Entwicklungen unterrichtet.« »Ihre früheren Meldungen zeigen, daß er gelegentlich bis zu einem Monat abwesend ist. Wer leitet in solchen Zeiten die Geschäfte?« »Das wissen wir noch nicht.« »Wie gründlich waren Ihre Ermittlungen während seiner Reisen?« »Wir ließen bei verschiedenen Gelegenheiten sein Gepäck durchsuchen, aber es wurden nur Kameras, Filme, technisches Material, Papiere, Drehbuchaufzeichnungen und dergleichen gefunden. Was er an Schriften mit sich führte, handelte überwiegend von Insekten. Er scheint außerordentlich penibel zu sein, wenn es sich um sein Spezialgebiet handelt. Wir haben nichts Belastendes gefunden.« »Haben Sie Abhörgeräte gepflanzt?« »Das ist wegen seines Bekanntheitsgrades auf dem Bildungssektor nicht angezeigt. Zu viele Leute würden seinen Protesten Glauben schenken.« Darauf lehnte sie sich zurück und blieb eine Weile still. Dann sagte sie in ungnädigem Ton: »Im Ganzen ergibt sich ein eher verworrenes Bild. Ich hoffe in Ihrem Interesse, daß an dieser Sache irgendwo etwas ist, was Ihnen bisher entgangen ist. Sagen Sie das Ihrem Chef. Wir sind nicht zufrieden.« Nicht zufrieden! dachte Peruge und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den schwarzen Plastikbezug der Sitzbank. Aber sie waren beunruhigt, und das genügte einstweilen. Wenn | 42 |
sich die Vermutungen über dieses Projekt 40 bewahrheiteten und es sich in den vorgezeichneten Bahnen weiterentwickeln ließ, von denen der Chef und er wohlweislich nichts gemeldet hatten, würde es genug Gewinn für alle abwerfen, auch für Dzule Peruge. Natürlich würde es niemals eine Waffe sein. Das Ding erzeugte in seinen eigenen Stromkreisen zuviel Hitze. Aber bei relativ niedrigen Temperaturen könnte diese Hitze in Induktionswärme für Metalle und Plastikerzeugnisse umgewandelt werden. Zumindest würde es die Metallurgie revolutionieren und die gegenwärtigen Kosten um einen atemberaubenden Faktor reduzieren. Darin steckte Profit! Brutinstruktionen für ausgewählte Arbeiter: Wir gebrauchen die Sprache der Außenwelt, aber mit unserer eigenen Bedeutung. Es ist wichtig, daß die Hauptunterscheidungsmerkmale niemals durcheinandergebracht werden. Die Praxis der Tarnung verlangt das. Da wir gegen die Machtmittel der Außenwelt so gut wie wehrlos sind, besteht unsere wichtigste Verteidigung nach wie vor darin, daß die Außenwelt niemals erfährt, daß wir in ihrer Mitte leben und uns am Beispiel staatenbildender Lebewesen orientieren. Während sich die Spätnachmittagsstunden dahinschleppten, begann Depeaux über die Instruktionssitzungen mit Merrivale nachzudenken. Vielleicht war es eine Sache des Blickwinkels, aber er fragte sich unwillkürlich – wenn auch nicht zum erstenmal –, wie viele Agenten schon für dieses Projekt verheizt worden sein mochten. Merrivale war ein sehr wunderlicher Kerl – dieser affektierte britische Akzent und alles. Es hatte Zeiten gegeben, als er den entschiedenen Eindruck vermittelte, daß er Hellstrøm bewundere. Es war Merrivales Art, nur den Erfolg zu bewundern, aber es war eine immer mit Angst durchsetzte Bewunderung. Je näher bei ihm der Erfolg vorkam, desto größer seine Angst. Das abgeschiedene Tal lag still in der noch warmen Abendsonne. Depeaux wurde schläfrig, und es gab Augenblicke, in denen er Mühe hatte, die Augen offenzuhalten. Er zwang sich zur Konzentration auf die Farmgebäude. | 43 |
Wenn die letzten Meldungen glaubwürdig waren, dann mußte Hellstrøm selbst irgendwo dort unten in einem dieser Gebäude sein. Aber es zeigte sich nichts, was diese Annahme hätte bestätigen können. Warum bewunderte Merrivale einen Mann wie Hellstrøm? Ein abruptes, zuschlagendes Geräusch ließ Depeaux in erneute Wachsamkeit aufschrecken. Bei der linken Ecke des Scheunenateliers war Bewegung zu sehen. Eine Art Leiterwagen kam in Sicht. Es war ein komisches Fahrzeug, das an eine altmodische Gepäckkarre von der handgezogenen Art erinnerte, wie man sie früher auf Bahnhöfen verwendete. Die ziemlich hohen Seitenwände bestanden aus dünnen Holzsprossen, und auch die großen Speichenräder waren aus Holz. Irgendwo hinter dem Gebäude rief eine hohe Stimme einen Befehl, aber Depeaux konnte die Worte nicht verstehen. Im nächsten Augenblick kam eine junge Frau zum Vorschein und ging am Wagen vorbei zum Deichselende. Zuerst dachte Depeaux, sie sei nackt. Der Feldstecher zeigte, daß sie hautfarbene kurze Hosen anhatte, aber sie trug weder Büstenhalter noch Bluse. Ihre Füße steckten in Sandalen. Das starke Glas brachte Depeaux unmittelbar an die junge Frau heran, als sie die Deichsel herunterließ, die aufrecht an der Frontseite des Wagens gelehnt hatte. Die Frau hatte feste Brüste mit dunklen Warzen. Er war so damit beschäftigt, sie zu beobachten, daß ihm die Annäherung einer zweiten, genauso gekleideten jungen Frau beinahe entging. Er bemerkte sie erst, als eine fremde dritte Hand in sein begrenztes Gesichtsfeld eindrang. Die beiden waren einander ähnlich genug, um Schwestern zu sein, aber sie paßten nicht zu den Beschreibungen der beiden Frauen, die als Mitgesellschafterinnen in Hellstrøms Unternehmen waren. Diese zwei hatten hellblondes Haar. Sie ergriffen das Querholz der Deichsel und zogen den Leiterwagen zum nördlichen Tor. Sie bewegten sich mit einer Eile, die ganz und gar nicht zu der langen Zeit paßte, während der die Kiste vor dem Tor gelegen hatte. Er sah keinen anderen Grund für den Leiterwagen. Sie fuhren hinaus, um die Kiste zu holen. Was konnte in dem verdammten Ding sein? Und warum waren sie beinahe nackt? Er erinnerte sich, mit welcher Mühe | 44 |
die beiden Männer die Kiste bewegt hatten, und fragte sich, wie die beiden Frauen das schwere und ungefüge Ding auf ihren Leiterwagen bringen wollten. Sicherlich würden andere nachkommen und helfen. Mit wachsender Verblüffung sah er zu, wie die Frauen das Tor öffneten, den Leiterwagen in Position manövrierten, die Rückwand herunterklappten und die Kiste mit einem Ende auf das Wagenbett kippten. Darauf blockierten sie die Hinterräder mit Steinen, hoben die schwere Kiste mit einer kraftvollen Leichtigkeit, die ihn verblüffte, und schoben sie auf dem Wagenbett nach vorn. Sie klappten die Rückwand hoch, gingen nach vorn, als ob das Ganze ein Kinderspiel gewesen wäre, und legten sich in die Deichsel, um den Leiterwagen mit der gleichen Eile, die sie bei der Anfahrt gezeigt hatten, zur Scheune zurückzuziehen. In viel kürzerer Zeit als er erwartet hatte, waren sie bei der Scheune und kamen hinter ihr außer Sicht. Wieder ertönte dieses krachende, zuschlagende Geräusch. Ein Scheunentor? Depeaux hatte vorher nicht auf die Uhr gesehen, aber er schätzte, daß der ganze Vorfall nicht länger als fünf Minuten beansprucht hatte. Verblüffend! Das waren Amazonen! Und doch hatten sie anfangs wie ganz normale, gut entwickelte, heiratsfähige junge Frauen ausgesehen. War Hellstrøms Farm ein Schlupfwinkel für Gesundheitsapostel und Anhänger der Freikörperkultur? Die Nacktheit sprach für eine solche Erklärung, aber Depeaux war damit nicht zufrieden. Das Benehmen der Frauen war zu nüchtern und geschäftsmäßig gewesen. Sie hatten nichts von Muskelfanatikern oder Sonnenanbetern. Sie waren einfach zwei Arbeiterinnen, die einen Auftrag erledigten, den sie gut genug kannten, daß sie bei seiner Ausführung auf überflüssige Worte und Bewegungen verzichten konnten. Aber warum Frauen für solche Arbeiten? Es war eine weitere gottverdammte Ungereimtheit! Depeaux blickte auf die Uhr: weniger als eine Stunde bis zum Dunkelwerden. Das Tal und die Farm in seiner Mitte hatten wieder ihre beunruhigende vordergründige Stille angenommen. Der kurze Ausbruch menschlicher Energie ließ jetzt alles nur noch leerer erscheinen. | 45 |
Was zum Teufel war in dieser Kiste? Die rote Sonne hing tief über dem Hügelrücken zu seiner Linken und überließ das Tal der Dämmerung, aber reflektiertes Licht vom gelben Gras und dem Herbstlaub auf der gegenüberliegenden Talseite machte die Schatten durchsichtig. Depeaux war unter den Büschen in guter Deckung, doch Tal und Landschaft hatten wieder dieses Gefühl unheilverkündender Stille angenommen. Er holte tief Atem und bekräftigte seinen Entschluß, die Dunkelheit abzuwarten, bevor er ginge. Dieser Ort hatte die Atmosphäre einer Falle. Er kroch rückwärts, tiefer in die Deckung, und spähte nach links über das offene Land hinaus, das er durchqueren mußte. Die langen, nun fast waagerecht einfallenden Strahlen tönten die Flächen mit leuchtendem Goldbraun, aus dem wie Flammen die großen weißlichen Rispen hoher Gräser stießen. Der Pfad aus niedergetretenem Gras, der seine Fährte markierte, zog sich dunkel durch dieses goldene Feld. Dumm von mir, da heraufzukommen, dachte er. Und dann kam der selbstquälerische Gedanke: Welchen Fehler hatte Porter gemacht? Ein Gefühl lähmender Hilflosigkeit überkam ihn. Die unerwartete Muskelkraft dieser halbnackten jungen Frauen, das beharrliche, irritierende Summen aus der Scheune, die unausgesprochenen Warnungen in Merrivales Instruktionen, dieses innere Vakuum eines abgeschlossenen Tals vor dem entfernten Hintergrund weidenden Viehs – alles das riet ihm, die Dunkelheit abzuwarten. Er blieb, wo er war, beobachtete das Tal und versuchte, sich seiner schlimmen Vorahnungen zu erwehren. Das Licht schwand. Tief im Westen nahm der Himmel brennend orangerote und tief purpurne Töne an. Die Talhänge hüllten sich in ein dunstiges Graublau, das unmerklich in Schwärze überging. Es war schwierig zu bestimmen, ob er tatsächlich Einzelheiten sah, oder ob er sich nur erinnerte. Aus Wohnhaus und Scheune der Farm drang kein Lichtschimmer. Die Sichtverhältnisse verschlechterten sich rasch, aber als er unter den Büschen hervorkroch, hatte er über sich die Sterne und voraus im Norden einen schwachen, diffusen Lichtschein am Horizont. Das mußte Fosterville sein. Die Farm lag noch immer in tiefer Dunkelheit. | 46 |
Wieder eine Ungereimtheit. Depeaux vergewisserte sich, daß er von den Sträuchern freigekommen war, und stand auf. Sein Rücken schmerzte. Er wühlte im Rucksack, zog das belegte Brot hervor, wickelte es mit lautem Geraschel aus und aß, während er sich für den Rückmarsch orientierte. Fostervilles Lichtschimmer war eine gute Landmarke. Das belegte Brot ermunterte ihn, und er trank ausgiebig aus der Plastikflasche, ehe er den Rucksack auf die Schultern nahm. Das Gefühl drohender Gefahr blieb bestehen. Die Unlogik dieses Gefühls beherrschte sein Bewußtsein, aber er hatte gelernt, solchen scheinbar grundlosen Empfindungen zu vertrauen. In allem, was er hier beobachtet hatte, war eine Botschaft enthalten, eine Botschaft von Dingen, die nicht zu sehen und zu hören waren. Sein Unterbewußtsein reagierte auf diese Botschaft mit dem Gefahrensignal. Bloß weg von hier, sagte er sich. Er drehte die Armbanduhr um, daß die phosphoreszierende Kompaßscheibe nach oben zu liegen kam, peilte eine schwarze Baumgruppe in seiner Richtung an und machte sich auf. Als er das kleine Gehölz über dem Talhang verließ, wurden die Sichtverhältnisse ein wenig besser, und er konnte undeutlich den langen, sanften Hang ausmachen, durch dessen hohes braunes Gras er zuvor gekrochen war. Der Boden unter dem Gras war uneben, und er strauchelte häufig. Es war unvermeidlich, daß seine Füße Staub aufrührten, und mehrere Male mußte er stehenbleiben und ein Niesen unterdrücken. Seine Bewegungen durch das trockene Gras kamen ihm in der Nachtstille unnatürlich laut vor, aber es wehte eine schwache Brise, und wenn er stehenblieb, konnte er sie leise über den Wiesenhang streichen hören. Die beiden Geräusche waren einander ähnlich, und wenn er langsamer ging, verschmolzen sie beinahe zu einem. Aber bald begann ihn die langsame Fortbewegung zu irritieren, und er ging wieder schneller, etwas in ihm drängte zur Eile. Das Leuchtzifferblatt des Kompasses und der gestirnte Himmel boten ihm gute Orientierung. Er konnte die verstreuten Baumgruppen und vereinzelten Sträucher schon aus eini| 47 |
ger Entfernung sehen und ihnen ausweichen. Bald mußte er auf einen der Wildwechsel stoßen, die er gesehen und sich eingeprägt hatte. Aber es dauerte unerwartet lange, bis sein Fuß endlich die harte, graslose Oberfläche fühlte. Er kauerte nieder und befühlte den Boden mit den Fingerspitzen, fuhr die beinahe verschwundenen Hufabdrücke in der hartgetrockneten Erde nach. Es mußte sehr lange her sein, daß hier ein Hirsch gegangen war. Diese Abdrücke waren uralt; er hatte es schon früher am Tag bemerkt, aber nun ergänzte es das Gesamtbild dieser Gegend. Depeaux richtete sich auf und wollte weitergehen, den Wildwechsel entlang, als er im Feld hinter sich ein entferntes, irgendwie rhythmisch anmutendes Zischen oder Rascheln vernahm. Er legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Das Geräusch wurde nicht vom Wind verursacht, dafür war es nicht gleichmäßig genug. Es hörte sich aber auch nicht wie jemand an, der sich durch das hohe Gras bewegte, denn es war nicht einwandfrei zu orten. Er konnte nur heraushören, daß es von irgendwo hinter ihm kam. Das Sternenlicht zeigte nichts als undeutliche Schatten in der Ferne, hinter denen sich Bäume oder Unebenheiten des Terrains verbergen konnten. Das Geräusch wurde lauter, und er fühlte Bedrohung darin. Das raschelnde Zischen wie von Körpern, die durch das lange Gras streiften, hörte sich nun mehr wie ein flüsterndes Summen an. Er kehrte dem Geräusch den Rücken und begann den Pfad entlangzutrotten, der sich als dunkler Streifen vor ihm hinzog. Bald war er in einem lichten Gehölz aus Haselgesträuch, schwarzen Fichten und eingestreuten Eichen. Die Bäume schluckten das schwache Sternenlicht, und er mußte im Schritttempo weitergehen. Mehrere Male verlor er den Pfad und hatte Mühe, ihn in der Finsternis wiederzufinden. Es drängte ihn, die kleine Taschenlampe aus dem Rucksack zu nehmen, aber dieses komische Geräusch hinter ihm war inzwischen noch lauter geworden. Es war ein deutliches Zischen und Summen. Wer oder was machte dieses Geräusch? Er dachte an ungezählte lange Röcke, die durch das Gras streiften, und die Vorstellung erheiterte ihn für einen Augenblick, bis er an die halbnackten jungen Amazonen auf der Farm dachte. Irgendwie | 48 |
waren sie nicht erheiternd, selbst wenn sie seine imaginären langen Röcke trugen. Er hatte das Fahrrad in einem Gebüsch versteckt, wo der Wildwechsel einen Feldweg kreuzte. Dieser Feldweg führte um einen niedrigen Hügel und einen langen Abhang hinunter zur Landstraße, wo Tymiena mit dem Wohnmobil wartete. Das Fahrrad hatte Beleuchtung, und er sagte sich, daß er sie einschalten und wie der Teufel fahren würde. War dieses Geräusch hinter ihm nun noch lauter? Was in aller Welt konnte ein solches Geräusch machen? War es etwas Natürliches? Vögel, vielleicht? Das zudringliche Surren und Zischen erstreckte sich jetzt auf beiden Seiten und drohte ihn zu überflügeln. Depeaux hatte den Eindruck, daß viele Lebewesen sich in einem weit ausfächernden Manöver durch das Grasland bewegten, um ihn einzukreisen. Er versuchte seinen Schritt zu beschleunigen, aber es war zu dunkel; immer wieder rannte er gegen Bäume. Was hatte dieses Geräusch zu bedeuten? Er schwitzte, daß ihm das Hemd am Oberkörper klebte; Angst schnürte ihm den Atem ab. Wieder versuchte er zu laufen, stolperte nach wenigen Metern und schlug lang hin. Die surrende, raschelnde Verfolgung hörte auf. Er lag still und wartete, lauschte angestrengt in die Finsternis. Nichts. Aber die plötzliche Abwesenheit des Geräuschs war nicht weniger beängstigend als es seine Gegenwart gewesen war. Langsam erhob er sich, und sofort begann das Geräusch von neuem. Es war eindeutig zu beiden Seiten und hinter ihm. Entsetzt stolperte Depeaux vorwärts, strauchelnd, durch Gesträuch und hohe Stauden brechend, manchmal auf dem Pfad und manchmal daneben. Wo blieb dieser verwünschte Feldweg, wo er das Rad versteckt hatte? Das Geräusch hatte ihn auf beiden Seiten überflügelt und war auch vor ihm, auf allen Seiten. Depeaux, keuchend und stolpernd, grabbelte im Rucksack nach der Taschenlampe und fand sie. Warum hatte er keine Waffe mitgebracht? Etwas Kleines, wie diejenige, die Tymiena bei sich trug. Verdammt! Was war das für ein Geräusch? Er fragte sich, ob er die Taschen| 49 |
lampe einschalten und die Umgebung ableuchten sollte. Lieber nicht! Und das mit der Waffe war auch nichts; eine Pistole vertrug sich nicht mit seiner Tarnung als Vogelbeobachter. Keuchend und schnaufend eilte er weiter. Seine Beine begannen zu schmerzen. Der Feldweg war unter seinen Füßen, ehe er es erkannte. Er kam zum Stillstand und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Er konnte nicht weit von den Büschen sein, wo er das Fahrrad versteckt hatte. Es mußte irgendwo in der Nähe sein. Sollte er von der Taschenlampe Gebrauch machen? Das Summen und Zischen umgab ihn jetzt auf allen Seiten. Hier, ein kleines Stück zur Rechten, mußte das Rad sein. Da waren die Fichten. Er tastete sich in das tiefere Schwarz, fühlte Zweige im Gesicht, stolperte über einen verrotteten Stumpf und landete im Fahrradrahmen. Leise fluchend kam er auf die Füße, zog das Fahrrad aus dem Busch und stützte sich darauf. Er konnte den Feldweg jetzt besser sehen: eine durchlaufende Helligkeit in der Schwärze. Nun brauchte er nur noch auf das Rad zu steigen und zu Tymiena und dem Wagen hinauszufahren. Aber das Zischen und Summen näherte sich von allen Seiten! Zum Teufel mit ihnen! Er hob die Taschenlampe und drückte den Schalter. Der fahlweiße Lichtkegel stach in die Finsternis und zeigte ihm drei junge Frauen wie die Amazonen auf der Farm, in anliegenden Hosen und Sandalen, doch waren die Augen und Nasen hinter glänzenden dunklen Schilden in der Form von Tauchermasken verborgen. Jede von ihnen trug einen langen Stab, der in zwei peitschenartigen dünnen Antennen endete. Depeaux dachte an irgendein seltsames Funksprechsystem, aber die Doppelenden waren in unverkennbarer Bedrohung direkt auf ihn gerichtet. Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Manchmal verstehe ich, daß mein Name bedeutungslos ist. Er könnte aus jeder anderen Gruppierung von Geräuschen bestehen, und ich bliebe dennoch, der ich bin. Namen sind nicht wichtig. Das ist ein guter Gedanke. Es verhält sich genauso wie meine Brutmutter und meine ersten Lehrer sagten. Der Name, dessen ich mich bediene, stellt eine Zufälligkeit dar. Es ist nicht der Name, den | 50 |
man mir gegeben hätte, wäre ich in eine Außenseiterfamilie mit all ihrem egozentrischen Individualismus hineingeboren worden. Ihr Bewußtsein ist nicht das meine, ihre Welt nicht meine Welt. Wir vom Stock werden eines Tages die Namen abschaffen. Die Worte meiner Brutmutter teilen hierin ein tiefes Gefühl von Ermutigung mit. Unsere vollkommene Gesellschaft kann auf die Dauer keine individuellen Namen erlauben. Namen sind bestenfalls Etiketten, nur von vorübergehendem Nutzen. Vielleicht werden wir in verschiedenen Stadien unseres Lebens verschiedene Etiketten tragen. Oder Nummern. Mir scheint, daß Nummern besser mit der Absicht übereinstimmen, die meine Brutmutter so gut ausgedrückt hat. Es war 2:40 Uhr früh, und in den vergangenen zehn Minuten hatte Clovis stumm zugesehen, wie Eddie im kleinen Wohnzimmer ihrer Wohnung hin und her gelaufen war. Das Telefon hatte sie aus tiefem Schlaf geweckt, und Eddie hatte abgenommen. Er war auch offen in ihre Wohnung gekommen. Der Organisation machte das nichts aus. Sie rechnete mit gewissen sexuellen Mätzchen ihrer Leute und wußte es zu würdigen, wenn diese Dinge innerbetrieblich blieben. Nichts Tiefes und Beanspruchendes in diesem Sex; bloß guter, energischer körperlicher Genuß. Nachdem Eddie aufgelegt hatte, hatte er nur gesagt: »Das war DT. Merrivale sagte ihm, er solle uns anrufen. Die Verbindung zu Carlos und Tymiena ist abgerissen.« »O du meine Güte!« Sie war aus dem Bett gekrochen, in den Morgenmantel gefahren und Eddie ins Wohnzimmer gefolgt. »Ich hätte den Anruf entgegennehmen sollen«, sagte sie jetzt mit der Hoffnung, es werde ihn aus seinem gedankenverlorenen Schweigen reißen. »Warum? DT wollte mich sprechen.« »Hier?« »Ja.« »Woher wußte er, daß du hier bist?« »Er versuchte es bei mir, und niemand meldete sich.« »Eddie, das gefällt mir nicht.« | 51 |
»Scheiß drauf!« »Eddie, was gibt es noch? Was hat DT gesagt?« Er blieb vor ihr stehen und starrte auf ihre bloßen Füße. »Er sagt, wir müssen wieder Bruder und Schwester spielen. Nick Myerlie wird unser Papa sein, und wir werden gemeinsam eine hübsche Ferienreise nach Oregon unternehmen.« Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Fancy gibt deutlich zu erkennen, daß sie über ihr Leben im Stock unglücklich ist. Ich frage mich, ob sie irgendwie konditioniert worden ist, das Leben draußen zu bevorzugen. Wir haben uns darüber schon immer Sorgen gemacht, und es scheint in der Tat gelegentlich vorzukommen. Ich fürchte, sie wird versuchen, fortzulaufen. Sollte es dazu kommen, werde ich dafür stimmen, daß sie gestutzt wird und nicht in die Bottiche kommt. Ihr Erstgeborener, Saldo, verkörpert alles, was wir uns von ihm erhofften. Ich möchte nicht, daß der Stock dieses Zuchtpotential verliert. Es ist zu dumm, daß sie sich so gut auf den Umgang mit den Insekten versteht. Wir werden sie scharf bewachen müssen, bis der gegenwärtige Film abgedreht sein wird. Was immer geschieht, wir können sie nicht mit weiteren Aufträgen in die Außenwelt schicken, solange unsere Zweifel an ihr fortbestehen. Vielleicht sollten wir ihr innerhalb der Filmarbeit mehr Verantwortung übertragen. Ein größeres Maß an innerem Engagement könnte sie von dieser Unbeständigkeit heilen. Gerade bei diesem Film kommt es darauf an, daß jeder von uns mit dem Herzen dabei ist. Dieser Film ist so notwendig für uns, ein neuer Anfang. Mit ihm und denen, die nach ihm kommen, werden wir die Welt auf unsere Antwort, auf das Problem des Überlebens der Menschheit vorbereiten. Ich weiß, daß Fancy den schismatischen Glauben teilt. Sie glaubt, die Insekten werden uns überdauern. Selbst meine Brutmutter fürchtete das, aber ihre Antwort und meine Präzisierung dieser Antwort müssen weiterentwikkelt werden. Wir müssen intensiver bemüht sein, wie jene zu werden, nach deren Vorbild wir unser Leben einrichten. »Schockiert Sie das?« fragte Hellstrøm. Er war ein blonder Mann von mittlerer Größe, dessen Erscheinung nicht mehr | 52 |
als die vierunddreißig Jahre nahelegte, die ihm nach den verfügbaren Unterlagen von der Organisation zugeschrieben wurden. Eine starke Ausstrahlung innerer Würde ging von Hellstrøm aus, verbunden mit energischer Zielstrebigkeit, die sich in der Art und Weise zeigte, wie seine blauen Augen fest und unverwandt alles anblickten, was ihn interessierte. Man hatte den Eindruck, daß er mehr Energie enthielt als er gewöhnlich freisetzen konnte. Hellstrøm stand in einem Laboratorium seinem Gefangenen gegenüber, der an einen Plastikstuhl gefesselt war. Das Laboratorium war ein Ort von poliertem Metall und schimmernden weißen Oberflächen, von Glas und Instrumentenskalen und einem kalten, milchigen Licht, das hinter einem umlaufenden Sims unter der Decke hervorschien. Depeaux war hier aufgewacht. Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber sein Verstand war noch immer umnebelt. Hellstrøm stand vor ihm, und zwei völlig nackte Frauen bewachten ihn. Er wußte, daß er diesen Frauen, einem weiteren Amazonenpaar, zuviel Aufmerksamkeit schenkte, aber er konnte nicht anders. »Ich sehe, daß es Sie schockiert«, sagte Hellstrøm. »Kann schon sein«, gab Depeaux zu. »Ich bin es nicht gewohnt, so viel nacktes Weiberfleisch um mich zu sehen.« »Weiberfleisch«, sagte Hellstrøm und schnalzte mißbilligend. »Macht es ihnen nichts aus, wenn wir so über sie sprechen?« fragte Depeaux. »Sie verstehen uns nicht«, sagte Hellstrøm. »Selbst wenn sie uns verstünden, würden sie mit Ihrer Haltung nichts anzufangen wissen. Es ist eine typische Außenseiterhaltung, aber ich finde sie immer wieder seltsam.« Depeaux zerrte vorsichtig und unauffällig an den Fesseln, die ihn am Stuhl festhielten. Er war mit starken Kopfschmerzen erwacht, die noch immer nicht ganz vergangen waren. Unmittelbar hinter seinen Augen pochte ein dumpfer Schmerz, und er hatte keine Vorstellung von Tag und Uhrzeit. Er erinnerte sich, daß er die drei jungen Frauen angesprochen hatte, | 53 |
die im Lichtschein seiner Taschenlampe erschienen waren, aber dann war er mit der jähen Erkenntnis erschrocken verstummt, daß noch viele ähnliche Gestalten die Dunkelheit um ihn her füllten. Ein wirres Durcheinander losgerissener Erinnerungsfetzen umwölkte diese nächtliche Szene. Er entsann sich, daß er, von Angst und Schrecken benommen, in harmloser Einfalt gesagt hatte: »Ich hatte mein Fahrrad hier abgestellt.« Heiliger Herr Jesus! Er hatte mit dem verwünschten Fahrrad dagestanden, aber diese undurchsichtigen Tauchermasken waren stumm geblieben und hatten ihn erschreckt, weil sie keinen Durchblick auf die Augen oder Absichten hinter ihnen erlaubten. Die auf ihn zielenden Stäbe mit den Doppelantennen konnten nur Drohung bedeuten. Er hatte keine Ahnung, was diese Stäbe waren, doch die Umstände nötigten ihn, sie als Waffen zu begreifen. Sie hatten kurze Handgriffe, die von den jungen Frauen mit der Selbstverständlichkeit vertrauter Werkzeuge gehalten wurden. Die Antennenspitzen gaben ein leises Summen von sich, das er hören konnte, wenn er den Atem anhielt. Während er überlegte, ob er es wagen solle, den Kreis zu durchbrechen, stieß ein Nachtvogel auf die flatternden Falter und Insekten herab, die der Lichtkegel seiner Taschenlampe angelockt hatte. Als der Vogel vorbeisegelte, hob eine Gestalt im Halbdunkel jenseits des Lichtscheins ihren Stab. Depeaux hörte ein plötzliches trockenes Zischen, dasselbe Geräusch, das er beim Durchqueren des Graslands überall ringsum gehört hatte. Der Vogel fiel wie ein Stein aus der Luft. Eine Frau bückte sich, stopfte das Tier in einen Sack, der ihr von der Schulter hing. Nun sah er, daß viele der Frauen solche Säcke trugen, und daß die meisten zur Hälfte und mehr gefüllt waren. »Ich – ich hoffe, ich bin hier nicht in Privatbesitz eingedrungen«, sagte Depeaux. »Ich hörte, dies sei eine gute Gegend für mein Steckenpferd. Ich bin Ornithologe – einer, der Vögel beobachtet. Noch während er sprach, dachte er, wie albern das klang. Was zum Teufel waren diese Stäbe? Der Vogel hatte nicht einmal mit den Flügeln geschlagen. Zisch – päng! Merrivale | 54 |
hatte nichts davon gesagt. Konnte dies Projekt 40 sein, um alles in der Welt? Warum sagten die verrückten Weiber um ihn nichts? Es war, als hätten sie ihn überhaupt nicht gehört – oder nicht verstanden. Sprachen sie eine andere Sprache? »Hören Sie«, sagte er, »mein Name ist ...« Und das war alles, was sein Gedächtnis festgehalten hatte, bis auf einen weiteren kurzen Ausbruch dieses seltsamen Zischens etwas zu seiner Linken, und – ja, einen jähen, grauenhaften Schmerz, als sei ihm der Kopf explodiert. Er erinnerte sich jetzt ganz deutlich daran: ein explosiver Schmerz im Schädel. Sein Kopf schmerzte noch immer, als er zu Hellstrøm aufblickte. Diese Stäbe hatten es getan, kein Zweifel. Die beiden Frauen, die zu beiden Seiten und ein wenig hinter ihm Wache standen, trugen die gleichen Waffen, aber die Gesichtsmasken fehlten. Ich sitze in der Scheiße, dachte er. Da hilft nur kaltblütige Selbstsicherheit. »Warum haben Sie mich gefesselt?« fragte er. »Vergeuden Sie unsere Zeit nicht mit der Unbefangenheitsmasche«, sagte Hellstrøm. »Wir müssen Sie in Verwahrung halten, bis wir entscheiden, wir wir über Sie verfügen werden.« Depeaux, dessen Herz plötzlich wild pochte, sagte mit schmerzhaft trockener Kehle: »Das ist ein häßliches Wort, dieses ›verfügen‹. Es gefällt mir ganz und gar nicht.« Hellstrøm seufzte. Ja, er hatte sich in der Wortwahl vergriffen. Er war müde, und es war spät und noch nicht zu Ende. Diese verdammten Eindringlinge von draußen! Was wollten sie wirklich? Er sagte: »Verzeihen Sie, ich habe nicht die Absicht, Ihnen unnötige Sorgen oder Unbequemlichkeiten zu bereiten. Aber Sie sind nicht die erste Person, die wir hier unter ähnlichen Umständen gefangen haben.« Depeaux hatte auf einmal das Gefühl, etwas halb Erinnertes wieder zu erleben, verfremdet durch den Umstand, daß es nicht die eigene Erfahrung gewesen war, sondern etwas, was einer anderen, ihm nahestehenden Person geschehen war. Porter? Er war mit Porter nicht so eng befreundet gewesen, aber ... »Und über diese anderen ›verfügten‹ Sie auch?« fragte er. | 55 |
Hellstrøm ignorierte die Frage. Dies war alles so widerwärtig. Er sagte: »Ihre Papiere weisen Sie als einen Handelsvertreter für Feuerwerksartikel aus. Einer der anderen, die hier eindrangen, arbeitete für dieselbe Firma. Ist das nicht eigenartig?« »Wenn er Porter hieß, dann ist überhaupt nichts Eigenartiges daran«, sagte Depeaux, die Worte aus trockener Kehle hervorstoßend. »Er empfahl mir diese Gegend.« »Zweifellos ein weiterer Vogelfreund«, sagte Hellstrøm. Er kehrte dem Gefangenen den Rücken zu. Gab es keine andere Möglichkeit, dieser Bedrohung zu begegnen? Depeaux erinnerte sich an den Vogel, den die Frau aus dem Nachthimmel geholt hatte. Was für eine Waffe war das? War es die Antwort auf das geheimnisvolle Projekt 40? Er versuchte es mit einem anderen Kurs. »Gestern abend sah ich einige von Ihren Frauen einen Vogel töten. Das sollten sie nicht tun. Vögel sind ein wichtiger Teil der ...« »Ach, seien Sie still!« sagte Hellstrøm, ohne sich umzuwenden. »Natürlich töteten sie einen Vogel – und Insekten, Kaninchen, Mäuse und verschiedene andere Lebewesen. Wir konnten nicht auf die Nachtkehrung verzichten, nur weil wir Sie aufsammeln mußten.« Depeaux schüttelte den Kopf. Nachtkehrung? »Warum tun Sie das?« fragte er. »Zur Nahrungsbeschaffung, natürlich.« Hellstrøm blickte über die Schulter zu seinem Gefangenen zurück. »Ich muß mir Zeit nehmen, das Problem zu überdenken, das durch Ihre Anwesenheit entstanden ist. Sie wollen nicht auf Ihre Ausflüchte verzichten und mir die ganze Geschichte erzählen?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, protestierte Depeaux, aber er schwitzte stark und wußte, daß Hellstrøm dieses Zeichen zu lesen verstand. »Ich verstehe«, sagte Hellstrøm. Es klang traurig. »Versuchen Sie nicht zu fliehen. Die beiden Arbeiterinnen dort wissen, daß sie Sie töten müssen, wenn Sie einen Fluchtversuch unternehmen. Es hat keinen Sinn, mit ihnen zu sprechen. Sie sprechen nicht. Auch sind sie ziemlich nervös; sie können Ihr Anderssein riechen. Sie sind ein Außenseiter in unserer Mitte, und sie sind ausgebildet, solche Eindringlinge | 56 |
unschädlich zu machen. Nun, wenn Sie mich entschuldigen wollen ...« Hellstrøm stieß eine Schiebetür zur Seite und verließ den Raum. Bevor die Tür zurückrollte, sah Depeaux in einen breiten Korridor, der in milchigem Licht lag und von Menschen wimmelte – Männer und Frauen, die alle völlig nackt waren. Zwei von ihnen passierten gerade die Tür, als Hellstrøm hinausging, so daß er einen Moment verhalten mußte. Die zwei, beides Frauen, trugen einen nackten männlichen Körper, dessen Kopf und Arme wie leblos baumelten. Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Ist es Eigendünkel, der mich zur Niederschrift dieser Zeilen veranlaßt, zu dem Versuch, mir die Spezialisten vorzustellen, die sie einst lesen werden? Gibt es euch wirklich in irgendeiner zukünftigen Welt, oder seid ihr nur Geschöpfe meiner Fantasie? Ich weiß, der Stock wird noch lange die Fähigkeiten von Lesern brauchen, vielleicht für immer. Aber vor diesen langen Zeitspannen verblassen meine kleinen Äußerungen zur Bedeutungslosigkeit. Ihr, die ihr einst diese Worte lesen mögt, müßt – wenn ihr meiner Fragestellung folgt – begreifen, daß eure Talente als Leser möglicherweise einmal aufgegeben werden müssen. Es ist keine müßige Frage, ob diese Spezialität einem gleichbleibend wichtigen Zweck dient oder nicht. Es mag eine Zeit kommen, da diese Worte übrigbleiben, aber niemand mehr imstande sein wird, sie zu lesen. Doch im praktischen Sinn ist das unwahrscheinlich, weil das Material, auf dem meine Worte festgehalten sind, dann als nützlicher Rohstoff erkannt und anderen Zwecken zugeführt würde. Es muß also Selbsttäuschung sein, daß ich mich an jemand wende. Daß ich es überhaupt tue, muß einem Instinkt für kurzfristige Zielsetzungen zugeschrieben werden. Ich unterstütze die Lösung, die meine Brutmutter für das Außenseiterproblem gefunden hat. Wir dürfen uns niemals auf ihre bloße Bekämpfung beschränken, sondern sollten mit Kompromissen und ständigem Druck arbeiten, um sie in unsere Einheit zu absorbieren. Dies ist, was gegenwärtig unter meiner Leitung geschieht, und wenn ihr Zukünftigen das geändert habt, will ich mich mit der Hoffnung trösten, daß man mein | 57 |
Bemühen als einen nützlichen Schritt auf dem Weg in die Zukunft einschätzen möge. Hellstrøm war von einer jungen Wacharbeiterin aus seinem Tagschlaf geweckt worden. Ihr Beobachtungsschirm hatte den Fremden gezeigt, wie er ins Territorium des Stocks eingedrungen war. Wie alle wichtigen Arbeitskräfte hatte auch Hellstrøm einen eigenen Raum, der ihm Zurückgezogenheit erlaubte. Die junge Wacharbeiterin war persönlich zu ihm gekommen und hatte ihn sanft wachgerüttelt. Dann hatte sie ihm die Information in der schnellen und lautlosen Zeichensprache des Stocks mitgeteilt. Der Eindringling war auf dem Hügel über den Oberflächengebäuden auszumachen. Er beobachtete die Gegend durch einen Feldstecher. Seine Annäherung war schon weit draußen von Sensoren in einem Perimetertunnel aufgefangen worden. Er hatte ein Fahrzeug mit einer zweiten Person nahe der Straße nach Fosterville zurückgelassen. Die Übermittlung der Botschaft dauerte drei Sekunden. Hellstrøm erhob sich seufzend aus der Schaumgummi- und Daunenwärme seines Bettes, gab der Arbeiterin mit einem Handsignal zu verstehen, daß er verstanden hatte. Sie verließ den Raum. Hellstrøm wanderte barfuß über die Fliesen, deren Kühle zu seiner Ermunterung beitrug, und aktivierte die Reihe der Übertrager, die ihn mit den Sensoren des Sicherheitssystems verbanden. Er wählte den Abschnitt, den die Wacharbeiterin angegeben hatte. Anfangs hatte Hellstrøm Mühe, den Eindringling im hohen Gras zu finden. Um diese Nachmittagsstunde war das Licht in der Richtung immer schlecht. Er überlegte, ob die Arbeiterin eine falsche Position übermittelt haben könne. Die Wacharbeiter wurden manchmal nervös und unruhig, aber bisher hatte noch niemand einen falschen Alarm gegeben oder einen ernsten Fehler verschuldet. Hellstrøm studierte angestrengt das hohe braune Gras. Die heiße Nachmittagssonne brannte auf den Hügelrücken, aber sonst gab es nichts zu sehen. Dann entstand plötzlich Bewegung im Gras, und als ob sich eine neue Szene geschaffen | 58 |
hätte, sah er den Fremden: es war ein Mann, dessen Kleider dem Graubraun und Gelb der herbstlichen Gräser so genau angepaßt waren, daß es kein Zufall sein konnte. Mehr als siebzig Jahre des Lebens im Stock hatten die Notwendigkeit der Tarnung für Hellstrøm zu einem Reflex gemacht. Stete Wachsamkeit und Vorsicht waren ihm zur zweiten Natur geworden, lange bevor er ein falsches Alter angenommen und den Stock verlassen hatte, um eine Identität als Außenseiter aufzubauen. Als er nun den neugierigen Eindringling sah, ermunterte er sich vollends, schlüpfte in einen weißen Labormantel und steckte die Füße in Sandalen. Während er sich fertigmachte, blickte er zur Quarzuhr an der Wand: 14:59. Die ganggenaue Uhr, deren Abweichungstoleranz nur vier Sekunden im Jahr betrug, war von einer Brutpartnerin gebaut worden, die durch Zuchtwahl und Ausbildung für ein Leben in den Laboratorien bestimmt worden war. Hellstrøm dachte über den Eindringling nach. Wenn dieser wartete, wie die anderen es getan hatten, könnte er in der Dunkelheit gefaßt werden. Hellstrøm nahm sich vor, die Nachtkehrung frühzeitig anzusetzen und für diese Möglichkeit besondere Vorkehrungen zu treffen. Der Stock mußte erfahren, warum diese Außenseiter so neugierig waren. Bevor er seinen zellenartigen Raum verließ, studierte Hellstrøm den äußeren Perimeter des Stocks auf seinen Übertragerbildschirmen und sah weit draußen eine Art Campingwagen, neben dem eine Frau saß und auf einen Zeichenblock skizzierte, den sie auf dem Schoß hielt. Er vergrößerte den Ausschnitt und sah nervöse Spannung in den Schultermuskeln der Frau, eine unwillkürliche Kopfbewegung, die sie zu den langen Hängen der Talumrandung hinaufblicken ließ. Sie mußte auch festgenommen werden. Warum schnüffelten sie hier herum und beobachteten die ›Farm‹? Wer steckte dahinter? Dieses Eindringen hatte etwas Professionelles, das Hellstrøms Herzschlag beschleunigte. Er nagte gedankenvoll auf der Unterlippe, während er in sich selbst nach einem Instinkt suchte, mit dem er dieser Bedrohung begegnen könnte. Der Stock war in einer Weise versteckt, die keine Aufmerksamkeit erregte, aber er wußte, | 59 |
wie verwundbar das Ganze war, wie gering die Kräfte, die mit Aussicht auf Erfolg gegen eine schockierte und feindselige Außenwelt eingesetzt werden konnten. Sein geistesabwesender Blick wanderte durch den Raum. Es war eine der größeren Schlafkammern in dem komplizierten und weitverzweigten Bau unter der Farm und den umliegenden Hügeln. Sie gehörte zum ältesten Teil und war eine der ersten gewesen, die von den ursprünglichen Kolonisten nach ihren jahrhundertelangen Wanderungen hier unter der Anleitung seiner Brutmutter angelegt worden waren. ›Es ist an der Zeit, daß wir aufhören, davonzulaufen, meine geliebten Arbeiter. Wir, die seit mehr als dreihundert Jahren heimliche Doppelleben unter denen dort draußen geführt haben, immer zur Verstellung gezwungen, immer bereit, beim geringsten Verdacht unserer Umgebung weiterzuziehen, sind zu dem Ort gekommen, der uns Schutz bieten und stark machen wird.‹ Sie hatte behauptet, eine Vision habe sie geleitet, eine Traumerscheinung des gesegneten Mendel, ›dessen Worte uns sagten, daß der Weg, den wir immer gewußt hatten, der richtige Weg ist‹. Hellstrøms früheste Erziehung, die er erhalten hatte, bevor er als ein unechter Halbwüchsiger in die Außenwelt hinausgeschickt worden war, um sich ein ›Bücherwissen‹ anzueignen, war von den Gedanken seiner Brutmutter geprägt worden. ›Die Besten müssen sich mit den Besten paaren. So produzieren wir die verschiedenen Arbeiter, die wir für die vielfältigen Aufgaben innerhalb unserer Gemeinschaft benötigen.‹ An jenem kalten Apriltag im Jahre 1876, als sie begonnen hatten, die natürlichen Höhlen unter der Farm zu erweitern und ihren ersten Stock einzurichten, hatte sie ihnen gesagt: »Wir werden unsere Art vervollkommnen und so die ›Sanftmütige‹ werden, deren Erde sie eines Tages willkommen heißen wird.« Der Raum, den er jetzt bewohnte, stammte aus der Zeit jener ersten Erweiterungen, doch die damaligen Arbeiter und seine Brutmutter waren längst in die Bottiche eingegangen. Der Raum war etwa drei mal vier Meter groß | 60 |
und vom Boden bis zur Decke zweieinhalb Meter hoch. Die Rückwand war unregelmäßig und aus gewachsenem Felsen, ein Überbleibsel der alten natürlichen Höhle. Von den ursprünglichen Kalksteinhöhlen ausgehend, war der Stock beinahe zwei Kilometer tief ins Erdinnere vorgetrieben worden, während die horizontalen Erweiterungen unter der Kalksteindecke in ungefähr tausend Metern Tiefe begannen und eine kreisförmige Fläche von drei Kilometern Durchmesser einnahmen. Es war ein von fast fünfzigtausend Arbeitern wimmelnder Bau (eine Bevölkerungszahl, welche die Hoffnungen seiner Brutmutter weit überstieg), ausgestattet mit eigenen Fabriken und Werkstätten, Hydrokulturen, Laboratorien, Paarungszentren und sogar einem unterirdischen Fluß, der die benötigte elektrische Energie lieferte. Die unterirdischen Stollen und Räume ließen nur an wenigen Stellen das natürliche Gestein erkennen, aus dem sie herausgeschlagen worden waren. Fast alle Wände und Decken zeigten das einheitlich glatte Grau des vorgespannten Betons, der im Stock erzeugt wurde. Im Laufe der Jahre hatten sich die Wände von Hellstrøms Zelle mit den verschiedensten Plänen und Skizzen bedeckt, die allesamt das Wachstum des Stocks dokumentierten. Er hatte sie nie heruntergerissen, wenn sie nicht mehr benötigt wurden, eine grundlose Verschwendung, die bei nur wenigen Arbeitern geduldet wurde. Inzwischen waren die Wände mit mehreren Schichten bedeckt, ein wahres Archiv, das die Lebenskraft des Stocks bezeugte. Obwohl er über mehr Raum verfügte als andere, entsprach die Einrichtung dem üblichen Schema: ein Bett mit einem Rahmen aus Glasbetonplatten und kreuzweise Rohlederstreifen unter einer Schaumgummimatratze, Stühle aus ähnlicher Konstruktion, ein Tisch mit einer flaschengrünen Keramikplatte, zwölf metallene Ablageschränke, hergestellt in der Außenwelt (Metallschränke aus eigener Fertigung waren stabiler, aber er schätzte diese wegen ihres Erinnerungswerts), die Übertragerkonsole mit ihren Bildschirmen und der Direkteingabe für den zentralen Computer. Ein Schrank mit Außenseiterkleidung in einer Ecke kennzeichnete ihn als einen der wichtigen Arbeiter, die in jener bedrohlichen Welt | 61 |
außerhalb des Perimeters die Interessen des Stocks vertraten. Bis auf zwei verstellbare Lampen, eine über dem Tisch und die andere über der Übertragerkonsole, wurde der Raum indirekt von Leuchtstoffröhren erhellt, die hinter vorspringenden Leisten zwischen Decke und Wänden angebracht waren, eine in allen Galerien, Tunnels und Räumen des Stocks anzutreffende Lösung. Er hätte eine der neueren und besser eingerichteten Zellen in den unteren Ebenen haben können, aber er zog diesen Raum vor, den er seit dem Tag bewohnte, als seine Brutmutter in die Bottiche eingegangen war, um ›mit uns allen eins zu werden‹. Hellstrøm schritt mit gerunzelter Stirn auf und ab und machte sich Sorgen wegen des Eindringlings. Wen repräsentierte dieser Mann? Er war ganz gewiß nicht aus zufälliger Neugierde dort draußen. Hellstrøm ahnte dahinter eine machtvolle äußere Kraft, die ihre tödliche Aufmerksamkeit langsam dem Stock zuwandte. Er wußte, daß er seine Entscheidung nicht länger aufschieben konnte. Die Wacharbeiter würden mit Gereiztheit und Unruhe reagieren. Sie brauchten Befehle und ein Gefühl, daß geeignete Schritte unternommen wurden. Hellstrøm beugte sich über die Konsole, verschlüsselte seine Anweisungen und gab sie dem Computer ein, der sie in alle Bereiche des unterirdischen Labyrinths weiterleiten würde. Das Schlüsselpersonal würde die vorbestimmten Aktionen einleiten. Jeder vom Computer ausgewählte Arbeiter würde Signale in Zeichensprache auf einem Bildschirm sehen. Das lautlose Verständigungsmittel des Stocks würde sie in eine gemeinsame Verteidigung einbinden. Viele der wichtigen Arbeiter in Schlüsselpositionen wußten so gut wie Hellstrøm, wie schwach die Verteidigungsmittel des Stocks in Wahrheit waren. Das Wissen erfüllte ihn mit Sorge, und er sehnte sich nach der Ahnungslosigkeit der gemeinen Arbeiter, welche wenige Sorgen hatten, die über ihre unmittelbaren Aufgaben hinausgingen. Angetrieben von dieser untergründigen Furcht, öffnete Hellstrøm einen der Ablageschränke, suchte in einer Hängere| 62 |
gistratur und nahm einen Aktendeckel mit der Aufschrift Julius Porten heraus. Die Vorderseite des Aktendeckels trug den Bottichstempel, um anzuzeigen, was mit Porters Fleisch geschehen war, als ob er ausrangiertes Zuchtmaterial gewesen wäre, dessen Unterlagen als Nachweis für die Nachkommenschaft aufbewahrt wurden, aber Porter hatte keine Nachkommen im Stock. Er hatte nur das Gefühl einer geheimnisvollen Bedrohung gebracht, deren Natur im großen und ganzen unklar geblieben war. Etwas an dem neuen Eindringling ließ Hellstrøm an Porter denken. Er vertraute solchen instinkthaften Gefühlen. Er überflog das im Kode des Stocks eng beschriebene Textblatt. Porter hatte Papiere bei sich getragen, die ihn als einen Beschäftigten der Blue Devil Feuerwerkskörper AG in Baltimore auswiesen. Zuletzt hatte er etwas über eine ›Organisation‹ gebrabbelt. Diese Organisation hatte in seinem entsetzten und verängstigten Geist etwas repräsentiert, was ihn rächen würde. Organisation. Hellstrøm bedauerte jetzt, daß sie Porter so bald in die Bottiche geschickt hatten. Das war grausam und unbedacht gewesen. Der Gedanke, die Qualen eines Mitgeschöpfs als Mittel zum Zweck zu gebrauchen, ging gegen die Empfindlichkeit des Stocks. Schmerz war ein erkennbares Phänomen. Wenn er einen Arbeiter befiel und nicht gelindert werden konnte, kam der betroffene Arbeiter in die Bottiche. Aber dies waren Eigentümlichkeiten des Stocks; Außenseiter dachten und verhielten sich anders. Hier im Stock tötete man, um zu essen, zu überleben. Die Tötung mochte Schmerzen verursachen, aber sie dauerte nicht lang, und man verlängerte sie nicht unnötig. Gewiß, das Überleben mochte eine andere Verfahrensweise diktieren, aber bisher hatte der Stock solche Methoden vermieden. Hellstrøm legte die Akte beiseite und drückte die Taste der Sprechanlage. Er fragte nach einem der Sicherheitsaufseher in der Dachgeschoßwachstube der Scheune. Die Sprechanlage war eine Eigenkonstruktion des Stocks, und er bewunderte ihren einfachen Funktionalismus, als er auf eine Antwort war| 63 |
tete. Nicht lange, und der alte Harvey erschien auf dem kleinen Bildschirm über dem Lautsprecher. Seine Stimme zitterte ein wenig. Der alte Harvey hätte längst in die Bottiche gehört, dachte Hellstrøm, aber der Mann hatte Talente, die der Stock brauchte – und noch nie so dringend wie jetzt. Harvey war einer der ersten Besamer gewesen, und sein Erbgut war über den ganzen Stock verteilt. Aber er kannte auch die Denkweisen und Gewohnheiten der Außenwelt und war ein einfallsreicher Wächter über die Sicherheit des Stocks. Über die interne Anlage konnten sie offen und ungeniert sprechen: es war absolut ausgeschlossen, daß die Außenseiter Instrumente besaßen, mit denen sie die elektronischen Barrieren des Stocks durchdringen könnten. Auf diesem Gebiet waren die Spezialisten des Stocks ihren Kollegen draußen bereits weit voraus. »Du weißt von dem Eindringling, nehme ich an«, sagte Hellstrøm. »Ja.« »Hast du ihn persönlich beobachtet?« »Ja. Ich schickte die Wacharbeiterin, daß sie dich verständige.« »Was hat er gemacht?« »Nur beobachtet. Die meiste Zeit mit einem Feldstecher.« »Haben wir jemanden draußen?« »Nein.« »Sind irgendwelche Arbeiten im Freien vorgesehen?« »Nur eine Lieferung – Diamant-Bohrköpfe für unsere Bohrungen auf Ebene einundfünfzig.« »Laß sie erst abholen, nachdem du mit mir gesprochen hast.« »In Ordnung.« »Besteht die Möglichkeit, daß er Instrumente bei sich trägt, mit denen seine Leute überwachen können, was ihm hier geschieht?« »Porter hatte keine solchen Instrumente.« Hellstrøm unterdrückte eine Aufwallung von Ungeduld, vermerkte aber auch, daß der alte Harvey instinktiv die gleiche Verbindung hergestellt hatte, über die er sich Gedanken machte. »Ich meine, haben wir das überprüft?« fragte er. | 64 |
»Wir sind noch dabei.« »Ah, du bist gründlich«, sagte Hellstrøm. »Selbstverständlich.« »Dann gib mir Bescheid, sobald du Genaueres weißt.« »Ja.« »Was ist mit Flugzeugen?« fragte Hellstrøm. »Hast du auffällige Bewegungen festgestellt?« »Zwei Düsenmaschinen vor mehr als einer Stunde, beide in großer Höhe.« »Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß die Maschinen unser Gebiet elektronisch sondiert haben?« »Nichts. Es waren Transportmaschinen. Völlig sauber.« »Sieht der Eindringling aus, als habe er sich für einen längeren Aufenthalt eingerichtet?« »Er hat einen Rucksack und Proviant bei sich. Wir denken, daß er die Dunkelheit abwarten wird, um sich dann zurückzuziehen. Wir bestrahlen ihn von Zeit zu Zeit mit Niederfrequenz, um ihn nervös zu machen.« »Ausgezeichnet.« Hellstrøm nickte bekräftigend. »Wenn er nervös ist, wird er Fehler machen. Bleibt dabei, aber bestrahlt ihn nicht zuviel mit diesem Infraschall. Ihr könntet ihn sonst noch vor Dunkelwerden vertreiben.« »Ich verstehe«, sagte Harvey. »Was nun diese Frau betrifft, die knapp außerhalb unseres Perimeters bei dem Fahrzeug wartet: Welche Meinung hast du von ihr?« »Wir halten sie unter Beobachtung. Der Eindringling kam aus ihrer Richtung. Wir glauben, daß die beiden zusammengehören.« Er räusperte sich mit lautem, rauh krächzendem Geräusch, das einiges über sein Alter aussagte. Hellstrøm wurde sich bewußt, daß der alte Harvey über zweihundert Jahre alt sein mußte, und das war für frühe Kolonisten, die nicht von Geburt an die Vorzüge der Lebensweise im Stock hatten genießen können, ein sehr hohes Alter. »Zweifellos gehören sie zusammen«, sagte Hellstrøm. »Könnten sie harmlose Eindringlinge sein?« fragte Harvey. »Hältst du das für möglich?« fragte Hellstrøm zurück. Nach einer Pause sagte Harvey: »Nun, nicht für wahrschein| 65 |
lich, aber für möglich, ja.« »Ich denke, sie kommen aus dem gleichen Stall wie dieser Porter«, sagte Hellstrøm. »Sollten wir unsere Leute im Osten anweisen, daß sie die Blue Devil Feuerwerkskörper AG ausforschen?« fragte Harvey. »Nein. Das könnte das Ausmaß unseres Einflusses verraten. Ich glaube, daß äußerste Vorsicht angezeigt ist – besonders, wenn dieses Paar gekommen ist, um in Erfahrung zu bringen, was mit Porter geschehen ist.« »Vielleicht sind wir mit dem zu vorschnell gewesen.« »Daran dachte ich auch schon«, gab Hellstrøm zu. »Was für eine Organisation ist das, für die Porter arbeitete?« Hellstrøm dachte über die Frage nach. Er hatte sie sich selbst schon oft vorgelegt. Zuletzt hatte Porter unmäßig viel geredet. Es war widerwärtig gewesen und hatte seine Überführung in den Fleischwolf und die Bottiche beschleunigt. Aber die besonderen Umstände des Falles hatten das Verhör beeinträchtigt, und manches von dem, was Porter geplappert hatte, war nicht hinreichend beachtet worden. Kein Bewohner des Stocks hätte sich jemals so benommen, nicht einmal einfache Arbeiter, obwohl diese keine Sprache sprechen konnten, die in der Außenwelt verstanden wurde. Porter hatte gesagt, die Organisation würde sie schon kriegen. Die Organisation sei allmächtig. »Wir wissen jetzt über euch Bescheid! Wir werden euch erledigen!« Porter war der erste erwachsene Außenseiter, der jemals das Innere des Stocks gesehen hatte, und sein hysterischer Abscheu vor den gewöhnlichen Dingen, die für das Leben im Stock notwendig waren, hatte Hellstrøm erschüttert. Ich beantwortete seine Hysterie mit meiner eigenen, dachte Hellstrøm. Das darf ich nie wieder tun. »Dieses Paar werden wir sorgfältiger verhören«, sagte er. »Vielleicht können sie uns etwas über diese Organisation sagen.« »Findest du es klug, sie einzufangen?« fragte der alte Harvey. »Ich finde, daß es notwendig ist.« | 66 |
»Vielleicht sollten wir zuvor andere Möglichkeiten erwägen.« »Was schlägst du vor?« fragte Hellstrøm. »Diskrete Nachforschungen durch unsere Leute im Osten, während wir auffälliges Gerät in den Oberflächengebäuden abbauen. Warum sollten wir diese neuen Eindringlinge nicht einladen, hereinzukommen und unsere Oberflächenaktivitäten zu besichtigen? Sie können bestimmt nicht beweisen, daß wir für das Verschwinden ihres Kollegen verantwortlich sind.« »Dafür haben wir keine Gewißheit«, sagte Hellstrøm. »Sicherlich würde ihre Reaktion eine andere gewesen sein, wenn sie wüßten, daß wir verantwortlich sind.« Hellstrøm schüttelte den Kopf. »Sie wissen es«, sagte er. »Sie wissen bloß nicht, wie und warum. Kein Potemkinsches Dorf wird sie jetzt noch von der Fährte abbringen. Sie werden nicht mehr locker lassen und uns bestürmen wie Ameisen einen Kadaver. Wir müssen allzu auffällige Anlagen abbauen, jawohl, aber gleichzeitig müssen wir sie aus dem Gleichgewicht bringen. Ich werde unsere Leute draußen auf dem laufenden halten, aber meine Anweisungen bleiben, daß wir dort mit äußerster Zurückhaltung und Vorsicht agieren. Es ist besser, den Stock zu opfern, als alles zu verlieren.« »Ziehe bei deinen Überlegungen bitte in Betracht, daß ich anderer Meinung bin«, sagte Harvey. »Deine Vorbehalte werden zur Kenntnis genommen und nicht ignoriert werden.« »Sie werden bestimmt andere schicken«, sagte Harvey. »Das glaube ich auch.« »Jede neue Gruppe, die sie schicken, wird wahrscheinlich tüchtiger und besser ausgerüstet sein, Nils.« »Zweifellos. Aber Spezialistentum führt, wie wir von unseren eigenen Fachleuten wissen, zur Verengung des Gesichtsfelds. Ich glaube kaum, daß diese ersten Sondierungen vom Schlüsselpersonal der Organisation durchgeführt werden, die uns auskundschaften will. Aber bald werden sie jemanden schicken, der über alles unterrichtet ist, was wir von denen wissen wollen, die ihre Nasen in unsere Angelegenheiten stekken.« | 67 |
Harveys Zögern verriet, daß er an diese Möglichkeit nicht gedacht hatte. Nach einer Weile sagte er: »Du willst versuchen, einen solchen Mann zu fangen und zum Sprechen zu bringen?« »Wir müssen es tun.« »Das ist ein gefährliches Spiel, Nils.« »Die Umstände lassen uns keine andere Wahl.« »Da bin ich erst recht anderer Meinung«, sagte der alte Harvey. »Ich habe draußen gelebt, Nils. Ich kenne sie. Was du da absteckst, ist ein extrem gefährlicher Kurs.« »Hast du eine Alternative mit geringerem potentiellen Risiko?« fragte Hellstrøm. »Denk nach, bevor du antwortest. Du mußt die Folge der Ereignisse, die durch deine gegenwärtige Reaktion ausgelöst wird, bis in die letzte Konsequenz durchdenken. Mit Porter machten wir einen Fehler. Wir hielten ihn für die Art von Außenseiter, die wir in der Vergangenheit des öfteren aufgriffen und den Bottichen überantworteten. Es war dem Leiter der Kehrung zu verdanken, daß ich gleich auf Porters Gefangennahme aufmerksam gemacht wurde. Der Fehler, der an diesem Punkt gemacht wurde, war meiner, aber die Folgen gehen uns alle an. Mein Bedauern ändert nichts an der Situation. Und unser Problem wird durch die Tatsache erschwert, daß wir nicht alle Spuren auslöschen können, die Porter auf dem Weg zu uns hinterlassen hat. Früher war uns das ausnahmslos gelungen. Unsere früheren Erfolge auf diesem Gebiet verführten mich zu falscher Selbstzufriedenheit. Eine lange Reihe von Erfolgen ist noch keine Garantie für richtige Entscheidungen. Ich wußte das und versagte trotzdem. Ich werde mich einem Beschluß, der auf meine Absetzung zielt, nicht widersetzen, aber ich bin nicht bereit, meine gegenwärtige Entscheidung zu ändern, die in Kenntnis meines vergangenen Fehlers getroffen wurde.« »Nils, ich schlage nicht vor, daß wir dich absetzen sollten...« »Dann befolge meine Anweisungen«, sagte Hellstrøm. »Wenn ich auch ein Mann bin, so bin ich doch auf Anordnung meiner Brutmutter Oberhaupt. Sie berücksichtigte die Bedeutung dieser Entscheidung, und bisher haben die Ereignisse ihre Vorausschau bestätigt. Während du Abhörsonden an diese Frau und ihr Fahrzeug heranbringst, solltest du die Möglichkeit | 68 |
untersuchen, daß sie ein Kind im Wagen hat.« Der alte Mann schien verletzt. »Ich bin mir unseres ständigen Bedarfs an neuem Blut bewußt, Nils. Deine Anordnungen werden ausgeführt.« Hellstrøm schaltete die Sprechanlage aus, und Harveys Gesicht verschwand vom Bildschirm. Er mochte sehr alt sein, und seine Identifikation mit dem Stock mochte durch die in der Außenwelt verbrachten Lebensjahrzehnte zu wünschen übrig lassen, aber er wußte gegen das Diktat seiner eigenen Überzeugung zu gehorchen. In dieser Hinsicht war er völlig vertrauenswürdig – was sich von den meisten Menschen, die draußen aufgewachsen und von den dort vorherrschenden wilden Gesellschaftsformen geprägt waren, nicht sagen ließ. Der alte Harvey war ein guter Arbeiter. Hellstrøm seufzte, bedrückt über die Bürde, die er zu tragen hatte: beinahe fünfzigtausend abhängige Arbeiter gingen im verzweigten unterirdischen Bau des Stocks ihren Tätigkeiten nach. Er lauschte mit seinem ganzen Wesen und wartete auf das Gefühl, welches ihm sagte, daß im Stock alles normal sei. Es war wie das leise Summen erntender Bienen an einem heißen Nachmittag, ein Frieden bringendes Gefühl, das er manchmal brauchte, um sich selbst Mut zu machen. Doch diesmal gab ihm der Stock keine solche Ermutigung. Er glaubte die Unruhe zu fühlen, die sich mit seinen eigenen Anordnungen durch den Stock ausbreitete und zu ihm zurückgeworfen wurde. Es war nicht alles in Ordnung. Die Notwendigkeit vorsichtigen Verhaltens war immer ein konstanter Druck gewesen, mit dem der Stock und seine Bewohner leben mußten. Hellstrøm war dieses Bewußtsein schon frühzeitig von seiner Brutmutter und jenen, die sie mit seiner Aufzucht beauftragt hatten, anerzogen worden. Er war anfangs dagegen gewesen, die Dokumentarfilme zu machen. Das kam der Realität unbehaglich vor. Aber das Argument »Wer könnte mehr von Insekten verstehen als die im Stock Geborenen?« hatte seine Bedenken überwunden, und schließlich hatte auch er sich ohne Vorbehalte mit der Filmproduktion identifiziert. Der Stock brauchte immer jenes allgegenwärtige Energiesymbol: Geld. Die Filme brachten eine Menge Geld ein, das auf verschiedene Schweizer Bankkonten floß. Ein Teil | 69 |
davon wurde benötigt, um die wenigen Waren zu kaufen, die von der Außenwelt bezogen werden mußten – zum Beispiel die diamantenbesetzten Bohrköpfe für ihre Bohrgestänge. Anders als die wilden Gesellschaftsformen suchte der Stock jedoch im Einklang mit der Umwelt zu leben, ihr zu dienen und sich so ihre Dienste zu erhalten. Diese tiefe innere Beziehung, die den Stock in der Vergangenheit erhalten hatte, würde auch jetzt nicht versagen. Der Aufbau der Filmproduktion war kein Fehler gewesen, sagte er sich. Es war sogar etwas Erheiterndes in der Vorstellung, die Außenseiter in der Verkleidung dieser Filme zu erschrecken, ihnen die Wirklichkeit in der Form von Filmen über die zahlreichen Insektenpopulationen der Welt zu zeigen, während eine nach diesem Insektenmodell geformte, viel tiefere Realität sich von den Ängsten nährte, die sie vermehren half. Er erinnerte sich an die Zeilen, die er in das Drehbuch einer ihrer letzten Dokumentarfilme hatte schreiben lassen: ›In der vollkommenen Gesellschaft gibt es weder Gemütsbewegung noch Erbarmen; kostbarer Raum kann nicht für jene verschwendet werden, die ihre Nützlichkeit überlebt haben.‹ Dieser neue Außenseitervorstoß ließ Hellstrøm jedoch an den Bienenfresser denken, dessen räuberischen Überfällen mit allen Mitteln begegnet werden mußte, die ein Stock aufbringen konnte. In der kooperativen Gesellschaft konnte das Verderben des einzelnen nur zu leicht zum Schicksal aller werden. Ich muß sofort nach oben, sagte er sich. Ich muß persönlich das Kommando übernehmen. Er ging zum nächsten gemeinsamen Waschraum, duschte mit mehreren chemisch geschlechtslos gemachten Arbeiterinnen, bestrich Wangen und Kinn mit einem im Stock erzeugten Haarentferner und kehrte in seine Zelle zurück. Dort legte er warme Außenseiterkleidung an: beige Hose, ein weißes Baumwollhemd und einen dunkelgrauen Pullover, darüber eine hellbraune Jacke. Er zog Socken und ein Paar im Stock hergestellter Lederschuhe an. Nach kurzer Überlegung nahm er eine kleine Pistole aus einer Schublade und steckte sie in die Tasche. Die Außenseiterwaffe hatte eine größere Reichweite als ein Betäubungsstab und würde den Eindringlingen ver| 70 |
traut und als Waffe kenntlich sein, sollte es notwendig werden, sie zu bedrohen. Er verließ seine Kammer und ging durch die vertrauten Stollen und Korridore mit ihrem geschäftigen Hin und Her. Die Hydrokulturen dieser Ebene lagen an seinem Weg, und die Türen waren wie üblich offen, um den Erntearbeitern den Zugang zu erleichtern. Als er die Eingänge passierte, blickte er hinein und sah, daß die Arbeiten in vollem Gang waren. Lederkörbe wurden mit Sojabohnen gefüllt, jeweils zwei Arbeiter an einem Korb. Ein Außenseiter hätte das Bild verwirrend gefunden, aber es gab kein Gezänk, kein Lachen, keine Gespräche, keine Zusammenstöße, keine verschütteten Bohnen. Die gefüllten Körbe wurden in die Öffnungen von Speiseaufzügen geschoben und zur Weiterverarbeitung in eine andere Ebene transportiert. Alle notwendigen Signale und Anweisungen wurden durch Handzeichen übermittelt. Im Licht des gemeinschaftlichen Bewußtseins waren die weitläufigen Räume und die in ihnen ablaufenden Arbeitsprozesse beispielhaft für die äußerst effiziente Organisation des ganzen Stocks. Die Arbeiter waren chemisch konditioniert und wirksam geschlechtslos gemacht, keiner von ihnen war hungrig (Förderbänder für Nahrung waren, für alle leicht erreichbar, im Mittelgang), und sie arbeiteten in der beruhigenden Gewißheit, daß ihr Tun für den gesamten Stock lebenswichtig war. Das nächste Stück wurde für Hellstrøm zu einer Art Tanz, um Zusammenstöße mit den ein- und ausgehenden Arbeitern zu vermeiden. Genau festgesetzte Arbeitszeiten waren hier nicht nötig. Die Arbeiter gingen, wenn sie hungrig oder müde waren. Andere kamen, die Lücken auszufüllen. Alle wußten, was von ihnen erwartet wurde, und keiner versuchte sich zu drücken. Am Aufzug – einem der Paternosteraufzüge, die jeweils acht bis zehn Ebenen miteinander verbanden und dessen Kabinen in ununterbrochener Folge an den Eingangsöffnungen vorbeiglitten – wurde er aufgehalten, während Pflanzenarbeiter mit ausgesuchtem Saatgut für die Hydrokulturen im Gänsemarsch vorüberzogen. Der Nahrungskreislauf, der die Grundvoraussetzung für ihr Überleben war, durfte nicht unterbrochen | 71 |
werden. Als der Zugang frei war und Hellstrøm in einer aufwärtsfahrenden Kabine Platz sah, stieg er ein und ließ sich emportragen. Der starke animalische Geruch des Stocks, der von Reinigungsfiltern weitgehend aus der Abluft entfernt wurde, bevor sie in die freie Atmosphäre entlassen wurde, war im Aufzugschacht unangenehm intensiv, ein Zeichen, daß weiter unten Undichtigkeiten entstanden sein mußten, die der Reparatur bedurften. Instandhaltung war ein ständiges Problem, das viele Arbeitskräfte band und nicht einmal jetzt vernachlässigt werden durfte. Er beschloß, sich selbst darum zu kümmern. Nach zwei Minuten Fahrt war er im zweiten Keller des Scheunenateliers, und seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder auf das unmittelbare Problem. Wir dürfen diese neuen Eindringlinge nicht zu schnell den Bottichen übergeben, sagte er sich. Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: In der mündlichen Überlieferung, die mehr als einhundert Jahre umfaßte, bevor unsere Vorfahren die ersten schriftlichen Aufzeichnungen machten, hieß es, daß die Verwertung aller in der Kolonie anfallenden Proteine von Anfang an zu unseren Grundsätzen gehörte. Ich muß sagen, daß ich daran zweifle. Die Reaktionen von Außenseitern deuten darauf hin, daß dies nicht mehr als ein schöner Mythos ist. Für meine Brutmutter waren die Bottiche ein Symbol für uneingeschränkte innere Kommunikation, und sie pflegte oft zu sagen: »Auf diese Weise stirbt kein Geheimnis mit einem, wenn man stirbt; was immer ein Mitglied der Gemeinschaft gelernt hat, wird ein Beitrag zum Wohl und Erfolg des Ganzen.« In den mehr als zweihundert Jahren unserer schriftlichen Aufzeichnungen wird der ursprüngliche Mythos nirgendwo in Frage gestellt, und auch ich werde es in unseren offenen Ratsversammlungen nicht tun. Damit verberge ich etwas im Namen meiner Legende, die uns stärkt. Vielleicht ist dies ein Beispiel, wie Religion beginnt. Im zweiten Keller, nahe dem oberen Ende des Stocks, wurde Vorsicht eine sichtbare Sache. In einer Ecke des freien Raums unter den Stützpfeilern und schalldämmenden Plat| 72 |
ten der Decke war eine Eisenleiter in der Wand verankert. Sie führte durch die meterdicke Decke zu einer verborgenen Falltür empor, die sich in ein Abteil des Toilettenraums im Kellergeschoß der Scheune öffnete. Ein eingebauter kleiner Bildschirm am oberen Ende der Leiter zeigte, ob das Toilettenabteil frei oder besetzt war, und ein ferngesteuerter elektrischer Verschluß sicherte die Tür des Toilettenabteils, wenn jemand von unten heraufkam. Am unteren Ende der Leiter, wo ein Wacharbeiter Dienst tat, waren weitere Fernsehmonitore angebracht. Der Arbeiter winkte Hellstrøm weiter und signalisierte, daß keine Außenseiter im Atelier seien. Die Leiter war in die gemauerte Wand eines der mächtigen Entlüftungsschächte eingelassen, die auf dem Scheunendach endeten, und er spürte im Hinaufklettern die leisen Vibrationen. Augenblicke später verließ er das Toilettenabteil, ging durch einen leeren Waschraum und betrat den Keller des Filmstudios, der Lagerräume für Filmmaterial und Requisiten, Entwicklungs- und Kopierräume, Umkleidekabinen und alle anderen Einrichtungen enthielt, die für ein Filmatelier notwendig waren. Ein Außenseiter hätte alles sehr normal gefunden. Arbeiter gingen ihren Beschäftigungen nach, ohne ihn zu beachten. Über eine gewöhnliche Treppe am Ende eines langen Korridors gelangte er durch ein schalldämpfendes System von Doppeltüren in das Filmatelier, welches fast den ganzen Innenraum der riesigen Scheune einnahm. Aus dem ständigen Protokoll der Ratsversammlung: Die letzten Berechnungen lassen darauf schließen, daß der Stock unter Schwärmdruck geraten wird, sobald eine Bevölkerungszahl von sechzigtausend überschritten wird. Ohne wirksamen Schutz, wie Projekt 40 ihn bieten würde, können wir ein solches Ausschwärmen nicht erlauben. Bei allem Erfindungsreichtum unserer Spezialisten sind wir hilflos gegenüber der geballten Macht der Außenwelt, deren Vernichtungsmittel uns zerschmettern würden. Die völlige Hingabe unserer Arbeiter an das Ziel, unserer Art die Zukunft zu sichern, würde sie zu Tausenden in den Tod treiben. Wir sind wenige, und die | 73 |
Außenseiter sind viele. Der unüberlegte Drang des Naturinstinkts muß während dieser Vorbereitungszeit unterdrückt werden. Eines Tages, wenn wir im Besitz einer Waffe wie dem Projekt 40 sein werden, wird es uns möglich sein, hervorzukommen, und wenn unsere Arbeiter dann im Kampf sterben, wird ihre Selbstlosigkeit nicht zwecklos sein. »Sie sind wie gewöhnlich entschieden und höflich, aber ausweichend«, sagte Janvert, als er sich vom Telefon abwandte. Vor den Fenstern von Clovis’ Wohnung war helles Tageslicht, und sie hatten sich in Vorbereitung auf die für die nächsten Stunden erwartete Vorladung angezogen und gefrühstückt. »Du mußt Geduld haben«, sagte Clovis. Sie hatte ihre Lieblingsposition eingenommen und saß mit angezogenen Beinen auf dem langen Sofa. »Und noch was«, sagte Janvert, als habe er sie nicht gehört. »Peruge wird diesmal selbst die Einsatzleitung an Ort und Stelle übernehmen. Das ist amtlich. Es wird dem alten Merrivale ganz und gar nicht gefallen.« »Meinst du, er wollte diesen Einsatz selbst leiten?« »Um Himmels willen, nein! Aber er ist Operationschef. Wenn Peruge im Feld ist, kann Merrivale keine Befehle geben. Er ist praktisch nicht mehr Operationschef. Das ist der Punkt, der ihm daran mißfällt.« »Ist das mit Peruge wirklich definitiv?« »Hundertprozentig.« »Das erklärt, warum sie so ausweichend sind.« »Schon möglich.« Janvert kam herüber, setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und streichelte sie geistesabwesend. »Ich habe Angst«, sagte er. »Zum erstenmal in diesem beschissenen Geschäft habe ich wirklich Angst. Ich habe immer gewußt, daß sie keinen Pfifferling für uns geben, aber Peruge ...« Janvert schluckte mühsam und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist geradezu stolz darauf, wieviele Leute er verheizen kann. Dabei ist es ihm völlig gleich, wessen Leute es sind, unsere oder ihre.« »Laß ihn bloß nicht wissen, wie du über ihn denkst, um Gottes willen«, sagte Clovis. | 74 |
»Keine Angst. Ich werde wie gewöhnlich der unbekümmerte Shorty sein, der immer einen Witz und ein Lächeln auf Lager hat.« »Meinst du, daß es heute noch losgehen wird?« »Spätestens heute abend.« »Ich habe oft über Peruge nachgedacht«, sagte sie. »Ich habe mich gefragt, wer er wirklich ist. Dieser komische Name und alles.« »Wenigstens hat er einen«, sagte Janvert. »Der Chef dagegen ...« »Du solltest nicht einmal daran denken.« »Hast du dich nie gefragt, ob wir wirklich für die Regierung arbeiten?« sagte er. »Oder ob unsere Organisation in Wirklichkeit überhaupt nicht der Regierung verantwortlich ist, sondern einer Überregierung hinter der sichtbaren.« »Davon will ich lieber nichts wissen«, sagte sie. »Das ist eine gute, vernünftige Einstellung«, sagte er. Er ließ ihre Hand los, stand auf und begann wieder mit seinem ruhelosen Auf und Ab. Clovis hatte natürlich recht. Diese Wohnung war verwanzt. Sie hatten genau gewußt, wo sie ihn erreichen konnten. Daran war nichts zu ändern: wenn man daran mitarbeitete, die Welt in ein Freigehege zu verwandeln, dann lebte man in einem Freigehege. Es kam nur darauf an, einer von den Wärtern zu werden. Aus dem Leitfaden: Bei der Auswahl von Arbeitern, Besamern und den verschiedenen Spezialisten wie auch bei der Entwicklung eines gemeinschaftlichen Bewußtseins durch alle verfügbaren chemischen und manipulativen Mittel muß das Potential für die stabile Kontinuität unserer kooperativen Gesellschaft mit größter Sorgfalt überwacht werden. Hier kommt jede Generation als eine Fortsetzung der vorausgegangenen in dieser Welt; jedes Individuum ist eine bloße Erweiterung der anderen. Nach diesem Prinzip müssen wir unseren etwaigen Platz im Universum aufbauen. Als Hellstrøm in das weite, offene Filmstudio hinaustrat, das die nördlichen zwei Drittel der Scheune einnahm, sah ihn | 75 |
eine junge Produktionsassistentin, die in der Nähe mit einem hinter Glas sichtbaren Bienenstock arbeitete, und winkte, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Hellstrøm zögerte, im Konflikt zwischen dem Wunsch, sofort zur Wachstube hinaufzugehen, und der Notwendigkeit, eine Atmosphäre ungestörter Kontinuität aufrecht zu erhalten. Natürlich erkannte er die junge Frau: sie gehörte zum Hilfspersonal, das als Fassade für gelegentliche und begrenzte Kontakte mit Außenseitern geeignet war, die aus legitimen Gründen kamen, um sich über die Filmarbeit zu informieren. Sie gehörte zur genetischen Linie Nils 8. Sehschwäche war in dieser Abstammungslinie häufig und mußte in langwieriger Zuchtwahl korrigiert werden. Abkömmlinge dieser Linie waren auch empfänglich für Errungenschaften und Lebensweise der Außenseiter, eine Schwäche, die sie mit der Linie Fancy teilten. Er bemerkte, daß Mitglieder der zweiten Aufnahmegruppe mit verschränkten Armen um den verglasten Bienenstock standen. Alles sah nach einer unerwarteten Verzögerung aus. Das konnte kostspielig werden. Hellstrøm änderte die Richtung und ging auf die Produktionsassistentin und ihre müßig herumstehenden Kollegen zu. Sie hatte ein einfaches Gesicht, das durch die großen Brillengläser und das zurückgekämmte und aufgesteckte blonde Haar nicht viel interessanter wurde. Aber sie hatte eine volle Figur und war offensichtlich fruchtbar. Hellstrøm fragte sich, momentan abgelenkt, ob sie schon auf ihr persönliches Zuchtpotential untersucht worden sei. Als er neben sie trat, gebrauchte er ihren für die Außenwelt bestimmten Namen und fragte: »Was gibt es, Stella?« »Wir haben unerwartete Schwierigkeiten mit diesem Bienenvolk, und ich wollte Fancy um Mithilfe bitten, hörte aber, daß du ihr einen anderen Auftrag gegeben hast, von dem sie nicht abkömmlich ist.« »Das stimmt«, sagte Hellstrøm. Anscheinend hatte jemand seine Anweisung, Fancy unter Beobachtung zu halten, allzu wörtlich genommen. »Was ist mit deinen Bienen?« »Jedesmal, wenn wir versuchen, die Königin für die Kamera zu isolieren, ballen sie sich um sie zusammen. Als es das letzte Mal geschah, sagte Fancy, wir sollten sie rufen, weil sie | 76 |
möglicherweise helfen könne.« »Hat sie dir sonst kein Rezept gegeben?« »Sie sagte, ich solle es mit einem Beruhigungsmittel in der Belüftung und im Zuckerwasser versuchen.« »Habt ihr das getan?« »Für die Aufnahmen möchten wir die Bienen möglichst lebhaft haben.« »Ich sehe. Hat Fancy dir gesagt, was dieses Verhalten auslösen könnte?« »Sie meint, es sei etwas in der Luft. Vielleicht statische Elektrizität, oder eine Körperausdünstung von uns.« »Können wir nicht einstweilen ohne diese Bienen weitermachen?« »Ed meint, daß es möglich wäre. Er wollte dich vorhin anrufen und hören, ob du Zeit für eine Laborszene hast, in der du erscheinen mußt.« »Wann will er sie drehen?« »Heute abend, wahrscheinlich so um acht.« Hellstrøm verstummte und überdachte stirnrunzelnd seine anstehenden Probleme und Verpflichtungen. »Ich denke, daß ich mich um acht für diese Szene freimachen kann. Sag Ed, er solle alles vorbereiten. Ich habe meinen Tagschlaf hinter mir und kann die Nacht durcharbeiten, wenn es sein muß.« Er nickte ihr zu und wandte sich ab; das sollte genügen, um die Dinge hier in Fluß zu halten, aber er sah die Bienen sofort als ein Symbol seines eigenen Stocks. Geriet der Stock in allzu große Aufregung, konnte die Entwicklung unkontrollierbar werden. Dann bestand die Gefahr, daß die Arbeiter von sich aus handelten. Er signalisierte einem Arbeiter, der den schwenkbaren Arm des Auslegers in der Mitte des Ateliers bediente, zeigte auf sich selbst und zum Speicherboden, über den man die Wachstube im Dachaufsatz erreichen konnte. Das Ende des langen Auslegerarms trug einen Käfig, der groß genug war, einen Kameramann mit Gerät aufzunehmen. Nun bestieg Hellstrøm den leeren Käfig und ließ sich in weitem Bogen zum Rand des Dachbodens hinaufheben. Beim Verlassen des Käfigs dachte er, wie bewunderungswürdig diese Vorrichtung zugleich der Tarnung und der Sicherheit | 77 |
diente. Niemand konnte den Dachboden ohne die Hilfe eines vertrauenswürdigen Arbeiters am Ausleger erreichen, dabei war es ganz natürlich, daß ein schwenkbarer Arm für Kamerafahrten bei Filmaufnahmen benötigt wurde und nicht jedem zur Benutzung überlassen werden konnte. Der Dachboden war zum Scheuneninneren hin offen und lag im Dunkeln; der hintere Teil mit der Wachstube war vom Boden des Filmateliers nicht einzusehen. Am Rand des Dachbodens lagen in regelmäßigen Abständen säuberlich zusammengerollte Seile, die im Notfall hinuntergelassen werden konnten und den Arbeitern eine Abstiegsmöglichkeit zum Atelier boten. Durch eine doppelte Tür, die zur Geräuschdämpfung diente, betrat Hellstrøm die geräumige Wachstube, Harveys Station. Das Innere lag im Halbdunkel und war voll von den Gerüchen der Außenwelt, die durch geschlossene Jalousieläden eindrangen. Eine doppelte Reihe grünlich leuchtender Übertragerbildschirme war entlang der inneren Wand installiert, unmittelbar über einem System von Thermitladungen, die im Fall drohender Entdeckung gezündet werden und den gesamten Scheunenbau in ein Flammenmeer verwandeln konnten. Die gegenwärtige Gefahrensituation schärfte Hellstrøms Aufmerksamkeit für all diese Sicherheitsvorkehrungen, die seit vielen Jahren ein Teil des allgemeinen Sicherheitsbewußtseins waren. Der alte Mann blickte bei Hellstrøms Eintreten auf. Er war weißhaarig, hatte ein langes, zerklüftetes Gesicht und braune, unter den faltigen Lidern fast verborgene Augen, die trügerisch mild blicken konnten. Hellstrøm hatte einmal gesehen, wie der alte Harvey einen hysterischen Arbeiter mit einem Hackmesser auf einen Streich geköpft hatte – aber das war vor langer Zeit gewesen, in seiner eigenen Kindheit, und jene zur Hysterie neigende Abstammungslinie war aus dem Zuchtpotential des Stocks ausgemerzt worden. »Wo ist unser Außenseiter?« fragte Hellstrøm. »Vor einer Weile aß er von seinem Proviant. Dann kroch er hinter den Hügelrücken«, sagte Harvey. »Jetzt ist er unterwegs zum oberen Ende des Tals. Wenn er sich in der Nähe des Was| 78 |
serfalls postiert, was ich vermute, werden wir ihn direkt mit dem Feldstecher beobachten können. Wir machen kein Licht, um die Gefahr zu verringern, daß er aufmerksam wird.« Gutes, vorsichtiges Denken. »Hast du das Material über Porter durchgesehen?« Ich bemerkte vorhin, daß du ...« »Ich habe es durchgesehen.« »Wie ist deine Meinung?« fragte Hellstrøm. »Die gleiche Art der Annäherung, Farbe der Kleidung so abgestimmt, daß sie ihn im Gras tarnt. Wollen wir wetten, daß er sich als Vogelliebhaber ausgibt?« »Ich glaube, du würdest gewinnen.« Harvey grunzte. »Der Mann hat zuviel von einem Profi an sich.« Er beobachtete einen der Bildschirme, zeigte einem seiner Leute über die Schulter und sagte: »Da ist er, genau wie ich erwartete.« Der Bildschirm zeigte den Fremden, wie er unter ein Gebüsch kroch, um das Tal der Länge nach zu überblicken. »Ist er bewaffnet?« fragte Hellstrøm. »Ich glaube nicht. Da, sieh dir das an: dort oben auf den Felsen gibt es Ameisen, die ihn belästigen. Kannst du sehen, wie er sie abstreift?« »Ameisen? Wann haben wir diese Gegend zuletzt gekehrt?« »Vor ungefähr einem Monat.« Der alte Mann verzog den Mund und sagte sinnend, während er den Bildschirm beobachtete. »Dieser Porter war ein seltsamer Vogel. Ich habe mir das Band angehört, das wir von seinem Verhör aufgenommen haben. Eine Menge Geschwätz, aber nichts Genaues.« »Er war in der falschen Branche«, sagte Hellstrøm trocken. »Was meinst du, worauf sie es abgesehen haben?« fragte Harvey. Hellstrøm zuckte die Achseln. »Irgendwie haben wir die Aufmerksamkeit einer staatlichen Dienststelle auf uns gezogen«, sagte er. »Es ist nicht gesagt, daß sie es auf etwas Bestimmtes abgesehen haben. Vielleicht wollen sie nur ihre Art von Paranoia befriedigen.« Der alte Mann machte ein Gesicht, dann schüttelte er sich. »Diese Sache macht mir ein schlechtes Gefühl, Nils.« »Mir auch.« | 79 |
»Bist du sicher, daß du die richtige Entscheidung getroffen hast?« »Nach bestem Wissen, ja. Zuerst müssen wir uns dieses Paar schnappen. Einer von den beiden muß mehr wissen als der verstorbene Mr. Porter.« »Hoffen wir, daß du recht hast, Nils.« Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Drei von den jüngeren Genetikern waren heute wieder unter den fruchtbaren Frauen, worauf sich einige der älteren Kolonisten aus der Abteilung beschwerten. Ich mußte ihnen abermals erklären, daß es unwichtig sei. Der Fortpflanzungstrieb in aktivem Schlüsselpersonal, das die volle geistige Funktionsfähigkeit benötigt, kann nicht unterdrückt werden. Ich selbst erlaube mir das von Zeit zu Zeit, und die älteren Spezialisten der Genetik wissen das sehr gut. In Wirklichkeit beschwerten sie sich natürlich über mich. Wann werden sie begreifen, daß der genetischen Manipulation im gegenwärtigen Stadium unserer Entwicklung enge Grenzen gesetzt sind? Glücklicherweise sterben die Alten nach und nach aus. Hier bestätigt sich unsere eigene Binsenwahrheit: ›Alt in die Bottiche, neu aus den Bottichen.‹ Selbstverständlich werden die etwaigen Abkömmlinge dieses letzten räuberischen Einfalls sehr genau beobachtet werden. Wir alle wissen, wie sehr der Stock neue Talente benötigt. Merrivale ärgerte sich über den Ton, den Peruge am Telefon anschlug, aber er brachte es fertig, seine Verärgerung unter einem gleichmäßigen Strom vernünftiger Antworten zu verbergen. Peruge war wütend und gab sich keine Mühe, es zu verhehlen. In Merrivales Augen war Peruge das Haupthindernis zwischen ihm selbst und einer weiteren Beförderung. Merrivale dachte, er verstehe Peruge sehr gut, fühlte sich jedoch stets von neuem zurückgesetzt und beleidigt, wenn Peruge seine höhere Stellung in der Hierarchie der Organisation hervorkehrte. Merrivale war aus der Nachmittagssitzung abberufen worden, die zur Unterweisung der für Oregon vorgesehenen neuen Gruppen angesetzt worden war. Er hatte die Sitzung | 80 |
widerwillig, aber unverzüglich verlassen. Man ließ Peruge nicht warten. Er war einer der wenigen Auserwählten, die täglich mit dem Chef zusammenkamen. Möglicherweise kannte er sogar die echte Identität des Chefs. Auf einem grau eingebundenen Tagesberichtsbuch auf Merrivales Schreibtisch lag ein Brieföffner in Form eines Kavalleriesäbels. Diesen nahm Merrivale auf und stach mit der scharfen Spitze in das Deckblatt des Buches, während er in den Hörer lauschte. Wenn das Gespräch eine unangenehme Wendung nahm, bohrte er sie tiefer hinein. »Das war früher im Monat«, verteidigte er sich in dem Bewußtsein, daß die Erklärung unzureichend war, »und zu der Zeit wußten wir nicht so viel, wie wir heute wissen.« »Was wissen wir heute?« Die Frage war beißend und anklagend. »Wir wissen, daß es dort draußen jemanden gibt, der nicht zögert, unsere Leute einfach – verschwinden zu lassen.« »Das wissen wir längst!« »Aber wir kannten nicht den Grad der Entschlossenheit unseres Gegners, uns zu trotzen.« »Haben wir so viele Leute, daß wir sie damit vergeuden können, solche unwesentlichen Tatsachen zu ermitteln?« wollte Peruge wissen. Der scheinheilige Heuchler! dachte Merrivale. Niemand hat mehr Agenten vergeudet als Peruge! Er erteilte die ausdrücklichen Befehle, die uns diese Gruppen kosteten! Er bohrte ein tiefes Loch ins Tagesberichtsbuch, starrte dann stirnrunzelnd auf die entstellte Oberfläche. Er mußte sich ein neues Buch besorgen, sobald dieser Anruf vorüber wäre. »Peruge, keiner unserer Agenten gibt sich der Illusion hin, sein Beruf sei ungefährlich. Sie alle wissen, welche Risiken sie eingehen.« »Aber wissen Sie auch, welche Risiken Sie ihnen aufhalsen?« »Das ist unfair«, platzte Merrivale heraus, und er fragte sich verwirrt, was Peruge damit bezwecke. Wozu dieser plötzliche Angriff? Hatte es weiter oben Ärger gegeben? »Sie sind ein Dummkopf, Merrivale«, sagte Peruge. »Sie | 81 |
haben drei gute Leute verplempert.« »Ich hatte ausdrückliche Anweisungen, das wissen Sie selbst am besten«, entgegnete Merrivale. »Und als Sie diese Anweisungen hatten, taten Sie, was Sie für richtig hielten.« »Natürlich.« Merrivale fühlte, wie sich Schweiß unter seinem Kragen sammelte, und er fuhr mit dem Zeigefinger hinein und um den Hals. »Wir konnten nicht wissen, was mit Porter geschehen war. Sie sagten mir, ich solle ihn allein hinschicken. Das waren Ihre eigenen Worte.« »Und als Porter einfach verschwand?« »Sagten Sie, er könnte persönliche Gründe dafür gehabt haben!« »Was für persönliche Gründe? Porters Personalakte war eine von den saubersten.« »Aber Sie sagten, er habe häufig Streit mit seiner Frau.« »Sagte ich das wirklich? Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.« So also ist es, dachte Merrivale. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. »Aber Sie müssen sich erinnern, daß Sie das als einen möglichen Grund für sein Verschwinden nannten.« »Ich weiß nichts dergleichen, Merrivale. Sie haben Depeaux und Grinelli draußen in Oregon in dieses Rattenloch geschickt und sitzen jetzt hier und machen Ausflüchte. Als Porter vermißt wurde, hätten Sie offizielle Nachforschungen nach einem in der betreffenden Gegend vermißten Feriengast einleiten sollen.« Die neue Masche, dachte Merrivale. Wenn sie Erfolg bringt, wird sie Peruge als Verdienst angerechnet, wenn sie versagt, kriege ich die Schuld. Wie hübsch! »Ich nehme an, daß Sie danach verfahren werden, wenn Sie nach Oregon kommen«, sagte er. »Darauf können Sie sich verlassen!« Wahrscheinlich hört der Chef selbst dieses Gespräch mit, dachte Merrivale. O Gott! Warum bin ich je in diesen Beruf gegangen? »Haben Sie die neuen Einsatzgruppen verständigt, daß ich sie persönlich führen werde?« fragte Peruge. »Ich gab ihnen gerade die nötigen Instruktionen, als Sie | 82 |
anriefen.« »Sehr gut. Ich werde in einer Stunde abreisen und in Portland mit den neuen Einsatzgruppen zusammentreffen.« »Ich werde es ihnen sagen«, sagte Merrivale in einem Ton müder Resignation. »Und sagen Sie ihnen noch etwas, Merrivale! Sagen Sie ihnen, ich legte allergrößten Wert darauf, daß diese neue Operation mit äußerster Behutsamkeit eingeleitet wird. Es wird keine Schaueffekte und großen Töne geben, verstanden? Hellstrøm hat mächtige Freunde, und es macht mir nichts aus, Ihnen noch einmal zu sagen, daß diese ganze Ökologiefrage sehr explosiv ist. Hellstrøm hat den richtigen Leuten zur rechten Zeit die richtigen Dinge gesagt, und nun halten sie ihn für so etwas wie einen ökologischen Messias. Glücklicherweise gibt es andere, die erkannt haben, daß er ein verrückter Fanatiker ist, und ich bin überzeugt, daß wir die Oberhand behalten werden. Haben Sie mich verstanden?« »Vollkommen.« Merrivale gab sich keine Mühe mehr, seine Bitterkeit zu verbergen. Der Chef hörte auf Peruge. Die ganze Sache war höchstwahrscheinlich eine inszenierte Aufführung: Vorbereitung des Opferlamms. Der Name des Opferlamms war natürlich Merrivale. »Ich bezweifle sehr, daß Sie mich vollkommen verstanden haben«, sagte Peruge, »aber es ist anzunehmen, daß Sie mich gut genug verstanden haben, um ohne irgendwelche weiteren unangenehmen Irrtümer die Befehle auszuführen, die ich Ihnen gerade gegeben habe. Kümmern Sie sich sofort darum.« Es knackte, und die Verbindung war unterbrochen. Merrivale seufzte und legte den Hörer auf die Gabel des komplizierten, mit einem Zerhacker ausgerüsteten Telefons. Die Zeichen waren klar. Er mußte durch diese Sache hindurch. Und wenn etwas schiefging, würden die Finger nur in eine Richtung zeigen. Nun, er war nicht zum erstenmal in einer solchen Lage, und auch er hatte andere in ähnliche Situationen gebracht. Es gab nur eine halbwegs sichere Methode: er mußte Autorität delegieren, es aber so geschickt anfangen, daß der Anschein, er habe die Dinge nach wie vor in der Hand, gewahrt | 83 |
blieb. Der logische Kandidat war Shorty Janvert. Als erstes würde er Shorty als Nummer Zwei für dieses Projekt benennen, unmittelbar unter Dzule Peruge. Peruge hatte keine Angaben darüber gemacht, wen er als seine Nummer Zwei wollte. Das war ein Fehler gewesen. Wenn Peruge diese Personalentscheidung rückgängig machte und einen anderen beauftragte, wozu er sehr wohl imstande sein mochte, dann würde er für die Handlungen seiner neuen Nummer Zwei verantwortlich sein. Shorty war eine logische Wahl. Peruge hatte bei mehreren Gelegenheiten zu erkennen gegeben, daß er Janvert nicht voll vertraute. Aber der kleine Mann war erfinderisch, geschickt und mutig. Die Wahl ließ sich jederzeit vertreten. Aus dem Leitfaden: Der geschlechtslose Arbeiter ist in jeder Gesellschaft die wahre Quelle der Freiheit. Selbst die wildwachsenden Gesellschaftsformen der Außenwelt haben ihre geschlechtslosen Arbeitskräfte, wenngleich sie die Maske tatsächlicher Fruchtbarkeit mit sich herumtragen und wirkliche Nachkommen haben. Aber solche Abkömmlinge haben keinen Anteil am freien schöpferischen Leben der jeweiligen Gesellschaft und werden im Verlauf ihrer Erziehung und Eingliederung in das Arbeitsleben wirksam zu Neutren gemacht. Solche Arbeiter (und Arbeiterinnen) sind unschwer zu erkennen. Sie sind weder mit Intellekt noch mit schöpferischer Phantasie oder individueller Identität belastet. Sie sind verloren in einer gesichtslosen Masse von Geschöpfen, die wie sie selbst sind. In diesem Punkt kann unser Stock dem Universum nichts Neues bieten, ebensowenig wie die Insekten. Was die Insekten haben und was wir von ihnen kopieren, ist eine formierte Gesellschaft, deren Arbeiter sich gemeinsam abmühen, das illusionäre Utopia zu erschaffen – die vollkommene Gesellschaft. Hellstrøms zweites Aufnahmeteam benötigte beinahe sechs Stunden, um die neue Szenenfolge mit Mäusen und Wespen zu filmen. Auch dann noch war Hellstrøm nicht überzeugt, daß der Film den gewünschten Effekt erzielt habe. Mit dem wachsenden Erfolg seiner Produktionen waren auch seine | 84 |
Ansprüche an die künstlerische und technische Qualität seiner Filme höher geworden. Sie begnügten sich längst nicht mehr mit der Erkenntnis, daß Qualität dem Stock mehr Einnahmen brachte. Er wünschte Qualität um ihrer selbst willen, genauso wie er sie in allen anderen Manifestationen des Stocks sehen wollte. Die Qualität der Spezialisten, die Qualität des Lebens, die Qualität von Produkten – alle waren miteinander verknüpft. Nach den Aufnahmen ließ er sich vom Schwenkarm des Auslegers zum Dachboden hinaufheben, besorgt über die letzten Meldungen, die von der Nachtkehrung eingetroffen waren. Weil er in dieser Filmsequenz auftreten mußte, war er während des wichtigsten Teils der Kehrung unabkömmlich gewesen. Der Morgen war noch fern, und das Problem war nicht gelöst worden: die Frau, die den gefangenen Eindringling begleitet hatte, war noch immer auf freiem Fuß. Ein Hauptanliegen des Stocks war immer das Hervorbringen von Arbeitern gewesen, die seine Interessen in der Außenwelt vertreten konnten. Dafür waren nur unbestechliche, absolut loyale Arbeiter geeignet, die unter keinen Umständen verraten würden, was unter dem Tal und seiner Hügelumrahmung lag. Um so bestürzter und besorgter war Hellstrøm jetzt, als er über die Meldung vom teilweisen Mißerfolg der Kehrung nachdachte. Der männliche Eindringling war im westlichen Grasland am Rand eines Gehölzes eingefangen worden. Fast zur gleichen Zeit hatte eine Abteilung das Wohnmobil eingekreist, aber irgendwie war ihnen die Frau entgangen. Es schien ausgeschlossen, daß sie geflohen war, aber keine der an der Kehrung beteiligten Arbeiterinnen hatte ihre Fährte gewittert. Viele wichtige Arbeitskräfte waren in der Wachstube versammelt, als Hellstrøm eintrat, die meisten aus dem Sicherheitsbereich. Saldo war da, dunkelhaarig wie seine Brutmutter, Fancy, aber mit den harten, hakennasigen Zügen ihres Außenseiter-Vaters. Das war etwas, worin Fancy wirklich gut war, dachte Hellstrøm. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit paarte sie sich draußen, und die resultierenden neuen Genkombinationen wurden vom Stock geschätzt. Auf Harveys Platz vor den Übertragerbildschirmen saß jetzt ein jüngerer | 85 |
Mann aus Fancys Abstammungslinie. In seiner Verkleidung als Außenseiter trug er den Namen Timothy Hansen. Er verdankte seine Funktion als Kontaktperson zur Außenwelt vor allem seinem guten Aussehen, das geeignet war, die Bewußtseinsbalance von Außenseiterfrauen durcheinanderzubringen, aber er hatte auch einen scharfen, analytischen Verstand, der ihn in Krisensituationen besonders wertvoll machte. Das gleiche galt für viele aus Fancys Linie, aber in besonderem Maße für Saldo. Auf ihn, der dem alten Harvey zur besonderen Ausbildung anvertraut war, setzte Hellstrøm große Hoffnungen. Als er die innere Tür der Wachstube hinter sich geschlossen hatte, blieb Hellstrøm stehen und versuchte sich ein Bild von der Situation zu machen. Sollte er die ganze Sache an sich ziehen? Bei der leisesten Andeutung, daß er den Befehl übernehmen wollte, würden sie sich ihm unterordnen; Brutmutter Trovas Entscheidung war noch nie von jemand in Frage gestellt worden. Alle fühlten, wie stark seine innere Verbundenheit mit dem Stock war, wie weitblickend und durchdacht seine Entscheidungen. Sie mochten gelegentlich anderer Meinung sein und ihn dann und wann sogar überstimmen, aber selbst in solchen Fällen ließen sie es nicht an ihrer besonderen, kaum konkret zu fassenden Ehrerbietung fehlen. Und wenn sich, was oft geschah, später herausstellte, daß seine Meinung die richtige gewesen war, wurde seine Autorität für sie noch unbestreitbarer, obwohl niemand davon sprach. Hellstrøm selbst war über diesen Sachverhalt, der ihm mehr und mehr die Verantwortungsfülle eines Alleinherrschers aufzuladen drohte, nicht sehr glücklich. Niemand ist vollkommen, sagte er sich. Der Stock selbst muß in allen Fragen oberste Instanz sein. Harvey stand zu Hellstrøms Linker an der Wand, die Arme verschränkt, das Gesicht vom Widerschein der Bildschirme erhellt, und sah aus, als wäre er aus blaßgrünem Stein geschnitten. Nur in seinen Augen war Bewegung. Hellstrøm ging zu ihm hinüber, warf einen Blick in das vertraute alte Gesicht und nickte dann zu den Bildschirmen hinüber, »Irgendein Zeichen von ihr?« | 86 |
»Nein.« »Hatten wir sie nicht ständig unter elektronischer Überwachung?« »Infrarot, Radar und Geräusch«, knurrte Harvey. »Hatte sie Instrumente, mit denen sie die Überwachung feststellen konnte?« »Sie versuchte ihr Funksprechgerät zu gebrauchen, aber wir störten es.« »Das könnte sie gewarnt haben.« »Wahrscheinlich.« Der alte Mann hörte sich müde und verdrießlich an. »Aber keine anderen Instrumente?« »Das Fahrzeug hatte eine kleine, nach dem Radarprinzip arbeitende Warnvorrichtung. Ich denke, sie könnte damit unsere Überwachung entdeckt haben.« »Aber wie konnte sie nur unserer Kehrung entschlüpfen?« »Wir sehen uns gerade noch einmal die Aufnahmen an. Es könnte sein, daß sie sich auf die Suche nach ihrem Gefährten machte und in der allgemeinen Konfusion, die unsere Kehrung auf den Überwachungsinstrumenten verursachte, verlorenging.« »Sie hätte im Zuge der Kehrung trotzdem aufgegriffen werden müssen.« Harvey wandte den Kopf und sah ihn gerade an. »Das habe ich ihnen auch gesagt.« »Und sie überstimmten dich?« Harvey nickte. »Und wie stellen sie sich das Geschehen vor?« fragte Hellstrøm. »Daß die Frau ein kalkuliertes Risiko einging und sich mitten unter unsere Arbeiterinnen begab.« »Ihr Geruch hätte sie verraten!« »Das sagte ich auch, und sie pflichteten mir bei. Dann meinten sie, die Frau könnte sich vom Wagen aus nach Norden entfernt und ihn als eine Art Abschirmung verwendet haben. Sie argumentieren, daß zwischen dem Anbruch der Dunkelheit und dem Eintreffen unserer Arbeiterinnen in der Nachbarschaft des Wagens eine gewisse Zeitspanne lag, die es der | 87 |
Frau erlaubte, sich davonzumachen. Ich gebe zu, daß sie es geschafft haben könnte. Sie hatte zwei Möglichkeiten: Flucht oder Annäherungsversuch aus einer anderen Richtung. Sie denken, die Frau sei jetzt dort draußen und schleiche sich an.« »Und du bist damit einverstanden?« fragte Hellstrøm. »Nicht damit«, sagte der alte Mann. »Warum nicht?« »Sie würde sich nicht anschleichen.« »Aber warum nicht?« »Wir setzten ihr mit der Niederfrequenz zu. Sie war den ganzen Nachmittag unruhig und nervös, viel zu nervös, um uns auf den Leib zu rücken.« »Woher willst du wissen, welche Reserven an Mut und Draufgängertum sie hat?« »Die nicht, Nils. Ich habe sie lange genug beobachtet.« »Sie sah wohl nicht wie dein Typ aus, Harvey.« »Mach nur deinen Spaß, Nils. Ich beobachtete sie fast den ganzen Nachmittag.« »Dies ist also nur deine Meinung, die du dir nach persönlicher Beobachtung gebildet hast?« »Ja.« »Warum bringst du diese Meinung nicht mit Nachdruck vor?« »Habe ich getan.« »Wenn du die Wahl hättest, was würdest du unternehmen?« »Willst du es wirklich wissen?« »Würde ich sonst fragen?« »Wie auch immer sie der Kehrung entgangen sein mag, ich glaube, daß sie nach Nordosten ausgewichen ist und sich unter dem weidenden Vieh aufhält. Ich vermute, daß sie sich mit Vieh auskennt. Es war etwas an ihr ...«Er befeuchtete sich die Lippen. »Wenn sie mit Vieh vertraut ist, kann sie sich ohne Schwierigkeiten unter den Tieren bewegen. Sie maskieren ihre Witterung, schützen sie vor Radar- und Infrarotüberwachung und liefern ihr damit alle Deckung, die sie braucht.« »Und niemand hier stimmt mit dir überein?« »Sie sagen, diese Rinder wären keine zahmen Milchkühe, sondern halbwildes Weidevieh, das das ganze Jahr über | 88 |
draußen ist und bei ihrer ersten Annäherung weggerannt wäre. Das aber hätten wir mit unseren Geräten ausgemacht.« »Und deine Antwort?« »Ob Rinder scheuen oder nicht, hängt zu einem guten Teil davon ab, ob sie deine Angst riechen können. Das wissen wir. Wenn die Frau keine Angst vor ihnen hatte und sich leise und langsam unter ihnen bewegte – ich finde, wir können uns dieser Möglichkeit nicht einfach verschließen.« »Aber sie wollen nicht unter dem Vieh suchen, nicht wahr?« Harvey nickte. »Sie fürchten die Komplikationen einer Kehrung dort unten. Wenn wir Arbeiterinnen schicken, müssen wir damit rechnen, daß sie außer Kontrolle geraten und ein paar Kühe töten. Dann gäbe es zusätzlich lokale Probleme, wie wir sie schon öfters hatten.« »Du hast mir noch nicht gesagt, was du tun würdest.« »Ich würde einige von uns schicken. Wir sind ausgebildet, um uns in der Außenwelt zurechtzufinden. Manche von uns haben dort gelebt. Wir können unsere Jagdinstinkte während einer Kehrung besser beherrschen.« Hellstrøm nickte nachdenklich. »Wenn sie hier oben in unserer Nähe ist, hat sie keine Chance, zu entkommen. Aber wenn sie dort unten zwischen den Kühen steckt ...« »Du siehst, was ich meine«, sagte Harvey. »Ich wundere mich, daß die anderen es nicht auch sehen.« Hellstrøm blickte in die Runde und wieder zurück ins Gesicht des alten Mannes. »Kannst du den Suchtrupp leiten, Harvey?« »Klar. Ich sehe, daß du es nicht eine Kehrung nennst.« »Mir wäre es lieber, wenn ihr nur ein Ding zurückbrächtet.« »Lebendig?« »Wenn irgend möglich. Aus diesem anderen ist nicht viel herauszuholen.« »Das hörte ich. Ich war unten, als sie mit dem Verhör anfingen, aber wenn’s ans blutige – nun, solche Sachen stören mich. Ich glaube, ich habe zu lange draußen gelebt.« »Ich habe die gleiche Reaktion«, sagte Hellstrøm. »So etwas | 89 |
überläßt man besser den jüngeren Arbeitern, die nicht einmal wissen, was Barmherzigkeit ist.« »Ich wollte, es gäbe eine andere Möglichkeit«, sagte der alte Mann. Er holte tief Atem. »Dann machen wir uns am besten gleich auf den Weg.« »Nimm die Leute mit, die du für geeignet hältst.« Hellstrøm blieb, wo er war, und sah den alten Mann herumgehen und seine Auswahl unter den Versammelten treffen. Die Alten hatten besonderen Wert für den Stock, eine Ruhe und Ausgeglichenheit, die ausstrahlte und auf die Jüngeren mäßigend wirkte. Dieser Vorfall war ein weiterer Beweis dafür. Der alte Harvey hatte gewußt, was zu tun war, während die Jungen sich nicht in die Nacht hatten hinauswagen wollen und darum übereingekommen waren, daß es unnötig sei. Mehrere jüngere männliche und weibliche Lehrlinge und Sicherheitsarbeiter hatten Hellstrøms Gespräch mit Harvey gehört und meldeten sich jetzt mit beschämten Gesichtern freiwillig. Harvey wählte einige von ihnen aus und gab kurze Anweisungen. Besonderen Wert legte er auf die Bekanntmachung, daß Saldo sein Stellvertreter sei. Das war gut. Saldo verehrte und achtete Harvey, und Hellstrøm fand es überraschend, daß der Junge sich nicht auf die Seite seines Lehrers gestellt hatte. Dies kam im Laufe der Instruktionen ans Licht, als Saldo sagte: »Ich wußte, daß er recht hatte, aber ihr hättet mir auch nicht geglaubt.« Anscheinend hatte Saldo seinen Lehrmeister unterstützt, aber die anderen hatten sie beide in einen Topf geworfen. Harvey, der sich seiner Rolle als Erzieher stets bewußt war, schalt Saldo wegen dieser Bemerkung. »Wenn du so dachtest, hättest du ihnen deine eigenen Argumente vortragen sollen, nicht die meinen.« Der Trupp verließ die Wachstube in geläuterter Zerknirschung. Hellstrøm lächelte ihnen nach. Sie waren gute Kräfte und lernten schnell. Man mußte ihnen nur das richtige Beispiel geben. Aus Hellstrøms Leitfaden: Unter den Milliarden Lebewesen auf Erden grübelt nur der Mensch über seine Existenz nach. Seine | 90 |
Fragen quälen ihn, denn er ist unfähig, zu akzeptieren, daß des Lebens einziger Zweck das Leben selbst ist. Tymiena Grinelli hatte diesen Auftrag von Anfang an nicht gemocht. Ihre Einwendungen hatten nicht so sehr der Arbeit mit Carlos gegolten (sie hatten in der Vergangenheit schon viele Male zusammengearbeitet), als vielmehr der Zeit, die sie mit ihm würde verbringen müssen, wenn sie nicht arbeiteten. Carlos war in seiner Jugend eine blendende Erscheinung und ein großer Herzensbrecher gewesen und hatte sich nie an das allmähliche Nachlassen seiner Anziehungskraft auf das andere Geschlecht gewöhnen können. Sie hatte gewußt, daß die gemeinsam verbrachte Freizeit ein ständiges Geplänkel von Anträgen und schlagfertigen Zurückweisungen sein würde. Tymiena Grinelli sah sich nicht als eine femme fatale, aber sie wußte aus Erfahrung, daß sie auf viele Männer magnetisch wirkte. Sie hatte ein langes Gesicht, das man für häßlich hätte halten können, wäre nicht die starke Persönlichkeit darin sichtbar gewesen. Diese Persönlichkeit leuchtete auch aus übergroßen und überraschend grünen Augen. Ihre Gestalt war schlank, die Haut blaß, und von ihrer ganzen Erscheinung ging eine Feinfühligkeit aus, die viele faszinierte, darunter auch Carlos. Ihr Haar war von einem rötlichen Kastanienbraun, und sie neigte dazu, es unter engsitzenden Hüten oder Baskenmützen gefangen zu halten. Tymiena war ein Name, der sich in ihrer Familie über mehrere Generationen hinweg vererbt hatte, und seine ursprüngliche slawische Bedeutung war ›Geheimnis‹ gewesen. Der Name kennzeichnete ihren Charakter. Sie war ein Mensch, der in sich selbst ruhte und der Außenwelt mit einer inneren Reserve gegenüberstand, die nichts und niemand je überwinden konnte. Merrivale hatte in ihr ein Vorgefühl drohender Gefahr geweckt, als er nur sie und Carlos auf den Fall angesetzt hatte. Was sie in Porters Meldungen und den unter dem Etikett Die Hellstrøm-Akte zusammengetragenen Berichten gelesen hatte, war wenig geeignet gewesen, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Zuviel von diesem Material stammte aus zweiter oder | 91 |
dritter Hand. Manches davon wirkte amateurhaft. Amateure aber waren in diesem Gewerbe gleichbedeutend mit tödlicher Fahrlässigkeit. »Nur zwei von uns?« hatte sie eingewendet. »Was ist mit der örtlichen Polizei? Wir könnten eine Vermißtenmeldung machen und ...« »Der Chef will das nicht«, hatte Merrivale gesagt. »Hat er das ausdrücklich gesagt?« Merrivales Miene verdüsterte sich ein wenig bei dieser Anspielung auf seinen wohlbekannten Hang zur persönlichen Interpretation von Befehlen. »Er drückte sich hinreichend klar aus! Dieser Fall muß mit der größten Diskretion behandelt werden.« »Diskrete örtliche Nachforschungen könnten diese Bedingung durchaus erfüllen. Porter hielt sich in der Gegend auf. Er wird vermißt. Die in der Akte zusammengetragenen Meldungen zeigen, daß Porter nicht der erste gewesen zu sein scheint. Ähnliche Fälle gab es dort schon in der Vergangenheit. Da ist zum Beispiel das Verschwinden dieser Ausflüglerfamilie mit zwei Säuglingen, ich glaube, es waren Zwillinge ...« »Für jeden derartigen Vorfall haben die lokalen Behörden eine logische Erklärung gefunden, Tymiena«, sagte Merrivale ungeduldig. »Unglücklicherweise sind Logik und Wirklichkeit nicht immer miteinander identisch. Unsere Sorge gilt der Wirklichkeit, und in unserem Bemühen, ihr nachzuspüren, werden wir uns auf unsere eigenen erprobten Kräfte verlassen.« »Ihre logischen Erklärungen gefallen mir nicht«, sagte Tymiena. »Ich gebe keinen Pfifferling dafür, welche Erklärung sich irgendwelche Dorfpolizisten ausgedacht haben.« »Wir verlassen uns auf unsere eigenen Kräfte und Hilfsmittel«, wiederholte Merrivale. »Was bedeutet, daß wir wieder einmal unsere Haut zu Markte tragen sollen«, erwiderte sie. »Was sagt Carlos zu diesem Fall?« »Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Ich habe für elf Uhr eine Konferenz anberaumt. Janvert und Carr werden auch dabei sein.« »Sollen sie mit uns zusammenarbeiten?« | 92 |
»Sie bleiben in Reserve.« »Das gefällt mir auch nicht. Wo ist Carlos?« »Ich glaube, er ist im Archiv. Sie haben noch eine Stunde Zeit, diese Sache mit ihm zu erörtern.« »Merde!« sagte sie und rauschte hinaus. Carlos war kaum hilfreicher als Merrivale. Der Auftrag war ihm wie eine ›Routineangelegenheit‹ vorgekommen. Aber Carlos hatte die Gewohnheit, alles in vertraute Schablonen zu pressen. Seine Antwort auf jede neue Herausforderung war eine umfassende, pedantisch gründliche Vorbereitung. Er las alles zur Verfügung stehende Material, studierte sämtliche Pläne und Karten. Es hatte sie nicht überrascht, daß er im Archiv war. Er hatte die Denkart eines Archivars. Die Reise nach Oregon und die gemütliche Fahrt mit dem Wohnmobil hatten genau ihren Erwartungen entsprochen. Ständig herumtapsende Hände und schlüpfrige Reden. Schließlich hatte sie Carlos gesagt, sie hätte sich bei ihrem letzten Auftrag eine ernste Geschlechtskrankheit zugezogen. Er weigerte sich, ihr zu glauben. Darauf hatte sie ihm in aller Ruhe erklärt, daß sie ihm eine Kugel zwischen die Rippen schießen würde, wenn er sie nicht mit seiner Fummelei und seinen Anspielungen in Ruhe ließe. Sie hatte ihm die kleine belgische Pistole gezeigt, die sie immer bei sich trug. Etwas in der Eindeutigkeit und ruhigen Sicherheit ihres Verhaltens hatte ihn überzeugt. Aber er hatte die Zurückweisung mit murrender Unfreundlichkeit aufgenommen. Die Arbeit war natürlich eine andere Sache, und als er in seiner lächerlichen Kleidung als Vogelbeobachter losgezogen war, hatte sie ihm viel Glück gewünscht. Während des langen Tages, den sie ihrer Rolle gemäß mit Malen verbracht hatte, war sie dann zunehmend nervös geworden. Es hatte keine spezifische Ursache gegeben, auf die sie ihr Unbehagen hätte zurückführen können, nichts Konkretes, aber die ganze Anordnung störte sie. Etwas daran war faul. Carlos hatte nicht genau sagen können, wann er zurückkehren würde. Es hing alles davon ab, was er während seiner Beobachtung der Farm zu sehen bekäme. »Spätestens kurz nach Anbruch der Dunkelheit«, hatte er | 93 |
gesagt. »Sei eine gute Ehefrau und male deine hübschen Bilder, während ich nach Vögeln Ausschau halten werde. Wenn ich zurückkomme, werde ich dich alles über Vögel und Bienen lehren.« »Carlos!« »Ahh, mein Liebes, eines Tages wirst du diesen besonderen Namen mit wahrer Leidenschaft aussprechen.« Und der geile Drecksack hatte sie unters Kinn gefaßt, als er gegangen war. Tymiena hatte ihn über die braungelben Grasflanken einer niedrigen Anhöhe zu den Bäumen aufsteigen sehen, die für sie den Horizont bildeten. Der Morgen war schon warm und von jener Stille aus Insektengesumm und dem fast unmerklichen Streichen eines gelegentlichen Lufthauchs durch trockenes Laub und Gras, die einen spätsommerlich heißen Herbsttag ankündigte. Seufzend hatte sie ihre Aquarellfarben und das übrige Material herausgeholt. Sie malte recht gute Aquarelle, und während des langen Tages hatte sie sich zuweilen wirklich für ihr Thema erwärmt und versucht, das Wesen der herbstlichen Wiesen und Wälder festzuhalten. Besonders die goldbraunen Töne verliehen den Aquarellen einladende Wärme. Zur Mittagszeit legte sie ihr Malzeug weg und bereitete sich eine leichte Mahlzeit aus hartgekochten, geschnittenen Eiern und kaltem Joghurt aus dem Kühlschrank des Wohnmobils. Obwohl das Wageninnere heiß wie das Innere eines Backofens war, blieb sie während der Essenspause drinnen, um die Instrumente zu überprüfen. Zu ihrer Überraschung zeigte das Warngerät, das um seine Achse gedreht werden konnte und einen Nullindikator hatte, Radaraktivität in der Richtung der Farm. Ein deutliches Signal war auf das Wohnmobil gerichtet. Radarüberwachung von einer Farm? Sie interpretierte es als ein Gefahrenzeichen und dachte daran, Carlos nachzugehen und ihn zurückzurufen. Eine Alternative wäre, das Radio anzuwärmen und diese überraschende Entdeckung dem Hauptquartier mitzuteilen. Aber sie wußte mit sicherem Instinkt, daß man eine solche Meldung dort auf die leichte Schulter nehmen würde. Und Carlos hatte sie angewiesen, beim Wagen zu bleiben. Schließlich entschied sie sich für keine der beiden Möglichkeiten. Ihre eigene | 94 |
Unschlüssigkeit verlieh der Nervosität, die sie den ganzen Nachmittag über nicht losließ, einen frustrierenden Akzent. Das Vorgefühl drohender Gefahr verstärkte sich; es drängte sie, diesen Ort zu verlassen. Laß den Wagen stehen und verschwinde! Das Wohnmobil war ein dickes, fettes Ziel. Als die Sonne untergegangen war und graublaue Dämmerung über das Land kroch, packte sie ihr Malmaterial zusammen, verstaute es im Wagen und schlüpfte auf den Fahrersitz. Es dauerte einen Moment, bis das Sendegerät warm war, und sie nutzte die Zeit zu einem Test mit dem Monitor. Eine Suchfrequenz überlagerte ihre eigene und die benachbarten Frequenzen. Sobald sie den Sender einschaltete, fixierte sich die Suchresonanz auf ihr Signal und störte es. Der Monitor quietschte und heulte. Es war sinnlos, den Sender in Betrieb zu nehmen. Sie schaltete aus und starrte mit schmalen Augen zu den dämmrigen Hügeln hinüber, hinter denen die Farm lag. Das Anwesen war von hier aus nicht sichtbar, aber sie spürte seine bösartige, drohende Gegenwart. Von Carlos fehlte noch immer jedes Zeichen. In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Sie zog sich nervös eine Jacke an und steckte die kleine Pistole in die Tasche. Wo zum Teufel blieb Carlos? Was hielt ihn auf? Sie schaltete alle Lichter aus, saß in der sich rasch vertiefenden Dämmerung, lauschte und überlegte. Radarüberwachung aus der Richtung der Farm. Sie störten ihren Radiosender. Dieser Fall war ungemütlich geworden. Sie stand auf, öffnete leise die Hecktür und schlüpfte auf die der Farm abgewandte Seite. Das Wohnmobil selbst mußte sie gegen die Radarüberwachung abschirmen. Sie ließ sich auf alle viere nieder und kroch zwischen Bäumen und Sträuchern durch das hohe Gras. Sie hatte in der Ferne weidende Kühe gesehen und hielt jetzt mit sicherem Instinkt auf sie zu. Sie war in Wyoming auf einer Viehranch aufgewachsen, und obgleich sie es vorgezogen hätte, sich weidenden Rindern zu Pferde zu nähern, fühlte sie sich von den Tieren nicht bedroht. Die Drohung war hinter ihr, irgendwo auf Hellstrøms Farm. Zwischen dem Vieh würde sie in sicherer Deckung von diesem Suchradar | 95 |
sein. Wenn Carlos zurückkäme, würde er zweifellos die Innenbeleuchtung des Wagens einschalten, und sie würde das aus sicherer Entfernung sehen. Aber irgendwie rechnete sie nicht mehr mit Carlos’ Rückkehr. Diese ganze Situation war äußerst undurchsichtig und gefährlich, aber Tymiena Grinelli vertraute ihrem Überlebensinstinkt. Aus Helltrams Leitfaden: Dieser Planet Erde ist eine Stätte unablässigen Wettkampfes, wo nur die vielseitigsten und findigsten Geschöpfe überdauern. Auf diesem großen Versuchsgelände, wo die mächtigen Saurier strauchelten und stürzten, harrt ein stummer Zeuge aus. Dieser Zeuge bleibt unser Führer zum Überleben der Menschheit. Dieser Zeuge, das Insekt, hat einen Vorsprung von dreihundert Millionen Jahren, aber wir werden ihn einholen. Heute beherrscht er unsere Erde und versteht seine Domäne gut zu nutzen. Jede neue Generation bringt neue Experimente in Form und Funktion und verleiht ihnen fast unbegrenzte Möglichkeiten. Doch was dieser Zeuge vermag, das vermögen auch wir Abkömmlinge des Stocks, weil wir seine Zeugen sind. Der alte Harvey führte seinen Suchtrupp aus einem getarnten Perimeterausgang am Nordrand des Farmgebiets. Ein altersgrauer Baumstumpf mit einer Deckschicht aus verdichteter Erde auf stählernem Lukendeckel hob sich fast lautlos aus dem Boden, und der Trupp stieg aus der Öffnung und verschwand in der Nacht. Die Mitglieder des Trupps trugen leichte, dunkelgraue Kleidung. Die Nacht war kalt, aber sie ignorierten die Kälte. Jeder trug einen Betäubungsstab und eine Nachtsichtmaske mit einem starken Infrarotsender stockeigener Konstruktion um den Rand. Sie sahen wie eine Gruppe von Tauchsportlern aus, und die Stäbe waren wie kurze, zweispitzige Fischspeere. Der Baumstumpf-Verschluß schloß sich wieder, und alles war wie zuvor. Der kleine Trupp bildete eine Art Schützenkette und bewegte sich nordwärts. Harvey hatte dreiundzwanzig Vorarbeiter aufgeboten, überwiegend Männer, und er hatte dafür gesorgt, daß die weib| 96 |
lichen Teilnehmer mit Hormonen angetörnt worden waren, bevor er seine genauen Instruktionen ausgegeben hatte. Sie wollten diese Außenseiterfrau lebendig. Nils brauchte die Informationen, die sie haben mußte. Sie hielt sich wahrscheinlich auf dem Weideland zwischen den Rindern auf. Die Tiere konnten mit schwachen Schocks verjagt, durften aber nicht getötet werden. Dies war keine Kehrung; es war eine Suchaktion. Nur die Außenseiterfrau würde nach diesem Unternehmen in die Bottiche kommen, aber erst nachdem sie die notwendigen Informationen preisgegeben hätte. Es war lange her, daß Harvey selbst an einer Jagd teilgenommen hatte, und er fühlte sich von halbvergessener Erregung durchpulst. Noch war Leben in diesem alten Arbeiter! Er bedeutete Saldo, die linke Flanke zu übernehmen, und ging selbst auf die rechte Seite hinüber. Die Nachtluft trug ihm eine Vielzahl von Gerüchen zu. Das Vieh, der Staub, die trockene Erde, das dürre Gras, ein Hauch von Baumharz und Nadeln. Seine empfindliche Nase nahm alles das auf, aber sie bekam keine Witterung, die ihm gesagt hätte, daß die Außenseiterfrau vor ihm sei. Wenn sie in der Nähe wäre, müßte das Nachtsichtgerät sie zeigen. Saldo hatte sofort die ihm zugewiesene Position eingenommen, und Harvey war zufrieden mit ihm. Der junge Mann war unerfahren, aber sein Potential ließ sich kaum abschätzen. Seine Fortschritte erfreuten nicht nur seinen alten Lehrmeister, sondern auch Hellstrøm. Saldo war unter den zwanzig oder dreißig Nachwuchskräften, von denen einer eines Tages in Hellstrøms Fußstapfen treten würde. Er gehörte zu der kleineren, energiesparenden neuen Rasse, war dunkelhaarig und schlank, voll nervöser Energie und Bereitwilligkeit, Befehle zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten auszuführen, aber mit einem eigenen Verstand, der sich mit jedem Tag kräftiger bemerkbar machte. Eines Tages würde er im Stock einen Machtfaktor darstellen; er mochte sogar imstande sein, eines Tages mit einem eigenen Schwarm hinauszuziehen und einen neuen Stock zu gründen. Die langgezogene Kette des Suchtrupps ging offen durch das nächtliche Weideland. Harvey vermerkte mit Befriedigung, | 97 |
daß das Wetter seine Suche begünstigte. Wolken zogen auf und verdeckten den erst vor kurzem aufgestiegenen blassen Mond. Das Vieh war mit den Nachtsichtgeräten klar zu erkennen, wenn auch in dunkelroter und orangefarbener Tönung. Harvey kümmerte sich nicht weiter um die Tiere und beobachtete statt ihrer die verstreuten Baumgruppen, in denen sich gute Versteckmöglichkeiten boten. Sie passierten eine kleine Herde, ohne die Rinder sonderlich zu beunruhigen, obgleich der warme Kuhgeruch in ihnen allen Jagdleidenschaft entfachte. Saldo und zwei andere bewegten sich langsam und unter gutem Zureden direkt durch die Herde und vergewisserten sich, daß kein Außenseiter darin versteckt war. Das Jagdfieber ließ sich jedoch nicht völlig unterdrücken. Es äußerte sich durch zunehmende Nervosität und durch äußere Sekretionen, die das Vieh unruhig zu machen begannen. Immer häufiger kam es vor, daß einzelne Tiere oder auch ganze Gruppen ängstlich schnaubten und mit dumpfem Gepolter davongaloppierten. Harvey bedauerte, daß er bei den Vorbereitungen nicht daran gedacht hatte, geruchshemmende Mittel zu verteilen. Die subtilen chemischen Signale, die ein Tier dem anderen schicken konnte, hatten zuweilen ihr Gutes, aber jetzt komplizierten sie die Lage. Er richtete seine Aufmerksamkeit weiterhin auf die Baumgruppen und Büsche und überließ es Saldo und den anderen, das Vieh zu überprüfen. Sie wird uns kommen hören und versuchen, sich auf einem Baum zu verstecken, sagte er sich. Es ist ihre Art. Er vermochte nicht zu sagen, warum oder wie er nach nur wenigen Stunden Beobachtung an einem einzigen Nachmittag zu diesem Schluß gelangte, aber er fühlte es wie eine Gewißheit: sie würde sich auf einem Baum verstecken. Er hörte weit zur Rechten einen Nachtvogel rufen, und sein Herz pochte schneller. Er war noch nicht zu alt für die Kehrungen. Vielleicht wäre es gut für ihn, wenn er von Zeit zu Zeit mit den Arbeitern hinausginge. Aus dem Leitfaden: Im Gegensatz zu anderen Lebewesen, die in ständigem Ringen mit ihrer Umwelt lagen, lernte das Insekt | 98 |
frühzeitig, ihre schützende Umarmung zu suchen. Es schuf sich eine unerschöpfliche Garderobe von Tarnungen und wurde mit seiner Umgebung eins. Wenn räuberische Eindringlinge kamen, konnten sie es nicht finden. So kunstvoll waren seine Täuschungsmethoden, daß Räuber auf der Jagd nach Beute über seinen Körper klettern konnten, ohne es zu bemerken. Er verließ sich nicht bloß auf eine Fluchtmethode, sondern hielt sich die Wahl unter vielen offen. Für das Insekt hieß es nicht Geschwindigkeit oder die Baumwipfel, sondern beides und mehr. Als Tymiena eine Flanke des Suchtrupps ausmachte, wurde auch sie selbst schon von den ersten Jägern entdeckt, womit die Vorahnung des alten Mannes ihre Bestätigung fand. Einige Zeit zuvor war sie auf der Flucht mit dem Fuß in einen Kaninchenbau geraten und hatte sich den linken Knöchel verstaucht. Der Schmerz hatte sie gezwungen, in eine freistehende Eiche mit niedrigen Ästen zu klettern, wo sie sich ein gutes Stück über dem Boden in eine Astgabel geklemmt und den Schuh vom anschwellenden Fuß gezogen hatte. Sie saß einigermaßen bequem mit dem Rücken am Stamm, lauschte und spähte in die Nacht hinaus und versuchte die verschiedenartigen Geräusche zu deuten. In der Rechten hielt sie die entsicherte Pistole, in der Linken eine bleistiftdünne, starke Taschenlampe, den Daumen auf dem Schalter. Durch den Knöchel stach ein brennender Schmerz, der das Denken und die Aufmerksamkeit erschwerte. Sie begann zu fürchten, daß sie etwas gebrochen habe. Galoppierende Rinder waren der erste Anhaltspunkt, daß etwas nicht stimmte. Das ängstliche Schnauben der Tiere vermischte sich mit dem dumpfen Getrommel der Hufe. Es verklang, und nach einer Weile fast absoluter Stille hörte sie die leisen Geräusche vieler durch trockenes Gras streifender Füße. Das Geräusch näherte sich unaufhaltsam und schien ihren Baum einzuschließen, ehe es aufhörte. Durch das gelichtete Herbstlaub spähend, konnte sie die tiefschwarzen Gestalten der Jäger als schattenhafte Umrisse vor dem weniger schwarzen Hintergrund ausmachen. Sie hatten einen Kreis um sie | 99 |
gebildet. In panischem Schrecken schaltete sie die Taschenlampe ein und ließ den scharf gebündelten Lichtkegel über den Teil des Einschließungsrings gehen, der ihr gegenüber war. Beim Anblick der Nachtmasken und Betäubungsstäbe stockte ihr der Atem. Sie erkannte die tödliche Bedrohung. Ohne weiter zu überlegen, eröffnete sie das Feuer. Aus dem Leitfaden: Vielleicht werden wir mit der Zeit so funktionell wie jene, die wir nachahmen. Wir werden Gesichter ohne Mienenspiel entwickeln: nur Augen und Mund, gerade genug, um den Rest des Körpers am Leben zu erhalten. Keine Muskeln, mit denen man lächeln oder finster blicken oder in irgendeiner anderen Weise verraten könnte, was unter der Oberfläche lauerte. Die krachenden Eruptionen der automatischen Pistole kamen für die Jäger des Stocks völlig überraschend. Fünf von ihnen waren tot, ehe es gelang, Tymiena mit einer Konzentration von Betäubungsschocks aus dem Baum zu holen; wie eine schwere, reife Frucht fiel sie durch die unteren Zweige ins Gras, wo sie reglos liegenblieb. Unter den Gefallenen war der alte Harvey, die Nachtmaske zersplittert und eine Kugel im Gehirn. Ein Streifschuß hatte Saldo die Wange aufgerissen, aber seine gebrüllten Befehle brachten die ängstlichen und aufgeregten Arbeiter zur Ruhe. Sie waren im Jagdfieber gewesen, und die unerwartete Gegenwehr der Außenseiterfrau hatte sie in wütende, unberechenbare Erregung versetzt. Sie wollten sich auf die Frau stürzen und sie mit bloßen Händen zerreißen, aber Saldo sprang dazwischen, und seine energischen Befehle hielten sie zurück. Die Disziplin des Stocks hatte über den Instinkt gesiegt. Saldo erteilte rasch die nötigen Anweisungen. Jemand mußte laufen und Nils verständigen. Die Toten mußten sofort zu den Bottichen gebracht werden. Das war, was gute Arbeiter verdient hatten; so wurden sie am Ende ihres Lebens mit allen anderen eins. Als er sah, daß seine Befehle ausgeführt wurden, kniete er nieder, um die Bewußtlose zu untersuchen. Ihre Taschen| 100 |
lampe leuchtete ins Gras. Er stieß die Nachtmaske über die Stirn zurück und untersuchte die Frau im Schein der Lampe. Ja, sie lebte noch. Es war schwierig, die Untersuchung ruhig durchzuführen. Er fühlte Haß in sich aufsteigen. Diese Außenseiterfrau hatte dem Stock Schaden zugefügt. Doch Nils brauchte sie. Der Stock brauchte sie. Diese Gedanken halfen Saldo, seine Empfindungen zurückzudrängen, als er in der Untersuchung fortfuhr. Sie schien keine Knochenbrüche davongetragen zu haben. Ein Knöchel war geschwollen, offenbar verstaucht. Er wußte von Arbeitern, die Schlimmeres erlitten und trotzdem weitergemacht hatten. Er wies seine Leute an, ihre Waffe zu suchen und in den Stock zu bringen. Der Tod seines alten Lehrmeisters erfüllte ihn weder mit Trauer noch machte er ihn froh. Solche Dinge kamen vor. Es wäre besser gewesen, wenn es nicht geschehen wäre, aber der Realität konnte man nicht ausweichen. Die Realität hatte ihn an die Spitze des Suchtrupps gesetzt, und die Leute erwarteten, daß er die richtigen Befehle erteilte. Harvey selbst hatte ihn dieses Verhalten gelehrt. Er urteilte, daß die Gefangene schon bald wiederbelebt und verhört werden könnte. Das würde Nils erfreuen, und es erfüllte Saldo schon jetzt mit Befriedigung. Er begann sich mehr für diese Frau zu interessieren. Faszinierende Gerüche gingen von ihr aus. Da waren fremdartige Seifen und Parfüms über dem vertrauten, aber schwachen Moschusduft. Er beugte sich tiefer über sie und beschnüffelte die liegende Gestalt, die erste Außenseiterfrau, der er je in der Wildnis begegnet war. Er steckte die Hand unter ihre Bluse und fühlte eine volle und feste Brust unter einem beengenden Kleidungsstück. Er kannte solche Kleidungsstücke aus seiner theoretischen Ausbildung für Schlüsselpersonal. Es wurde Büstenhalter genannt und war am Rücken mit Metallhaken befestigt. Sie war eine echte Frau, anscheinend nicht anders als die Frauen des Stocks, und die verfügbaren Indizien besagten, daß sie fruchtbar war. Wie komisch diese wilden Außenseiter waren. Er steckte die Hand unter ihren Gürtel, erforschte Schamhaare und Genitalien, zog die Hand heraus und schnüffelte daran. Ja, fruchtbar. Es stimmte also, daß Außenseiterfrauen herumwanderten, | 101 |
wenn sie fruchtbar waren. Gingen sie auf eine Art Paarungsjagd, wie man es von einer Brutmutter erwartete? Die Bücher, Filme und Vorträge seiner Erziehung hatten ihn nicht auf die Wirklichkeit vorbereitet, obschon er die Fakten herunterrasseln konnte. Irgendwie erregte ihn die Frau, und er fragte sich, wie Nils auf den Vorschlag reagieren würde, daß man sie zu Zuchtzwecken im Stock behalten sollte. Es würde interessant sein, sich mit ihr zu paaren. Eine Frau in seinem Suchtrupp knurrte ihn an, ein wortlos drohendes Geräusch. Eine andere sagte: »Diese Außenseiterfrau ist keine Züchterin! Was machst du mit ihr?« »Ich untersuche sie«, sagte Saldo. »Sie ist fruchtbar.« Diejenige, die ihn angeknurrt hatte, fand ihre Stimme und sagte: »Viele von diesen Wilden sind fruchtbar.« Die andere sagte: »Sie hat fünf der unsrigen getötet. Sie ist nur für die Bottiche geeignet.« »Dorthin wird sie wahrscheinlich kommen, nachdem wir sie verhört haben«, sagte Saldo, ohne sich zu bemühen, ein plötzliches Gefühl von Traurigkeit zu verbergen. Diese Außenseiterfrau würde durch die Befragung zerstört werden, daran gab es keinen Zweifel. So erging es dem gefangenen Mann, und für die Frau konnte es nicht anders sein. Eine solche Verschwendung! Ihr Fleisch würde danach nur noch für die Bottiche taugen. Er stand auf, schob die Nachtmaske ins Gesicht und sagte: »Bindet sie und tragt sie in den Stock. Sorgt dafür, daß sie nicht entkommt. Zwei von euch gehen zu ihrem Fahrzeug. Bringt es auf dem Fahrweg zum Stock, wo wir uns um die Verwertung kümmern werden. Löscht die Reifenspuren aus. Kein Zeichen darf darauf hindeuten, daß diese Frau und ihr Gefährte in unserer Nachbarschaft waren. Sorgt dafür.« Die Befehle gingen ihm glatt von den Lippen und ließen keine Spur von Unsicherheit erkennen, genau wie Harvey es ihn gelehrt hatte, aber er verspürte eine Art Verzweiflung, daß solche Befehle überhaupt notwendig waren. Die Verantwortung der Führerschaft war ihm allzu unvermittelt zugefallen. Erst jetzt wurde ihm klar, daß Harvey ihn für diese Unternehmung zu seinem Stellvertreter gemacht hatte, um ein übriges | 102 |
für seine Ausbildung zu tun. Eine vielversprechende junge Nachwuchskraft brauchte diese Erfahrung. Ein anderer Teil seines Bewußtseins versicherte ihm, daß er der Aufgabe gewachsen sei. Schließlich war er Spezialist für Sicherheitsaufgaben, und wenn er seine Anordnungen gab, war es, als reagiere der gesamte Stock durch ihn. Harvey hatte seine Zeit überlebt, hatte einen Fehler mit dem Leben bezahlt. Es war ein schwerer Verlust für den Stock. Nils würde die Nachricht inzwischen erhalten haben und sich sorgen, aber einstweilen mußte Saldo allein weitermachen. Er hatte das Kommando. »Wer von euch keine anderen Aufgaben hat«, sagte er, »sorgt dafür, daß die Zeichen unserer Aktivitäten hier verwischt werden. Ich kenne euch und eure speziellen Talente nicht so gut wie Harvey sie kannte, aber ihr selbst kennt sie am besten. Teilt euch die Arbeit nach euren Fähigkeiten ein. Keiner darf zum Stock zurückkehren, bevor die Arbeit gründlich getan ist. Ich werde bis zuletzt bleiben und Nachschau halten.« Er bückte sich, hob die Taschenlampe auf, die er neben der Außenseiterfrau liegengelassen hatte, schaltete sie aus und steckte sie in die Tasche. Die Frau war bereits gebunden, und Arbeiter standen bereit, sie zum Stock zu tragen. Es stimmte Saldo traurig, daß er sie nie wiedersehen würde. Die Vorstellung, dem Verhör beiwohnen zu müssen, verursachte ihm einen Anflug von Übelkeit. Jäher Ärger über die Dummheit der Außenseiter wallte auf. Sie waren solche Einfaltspinsel! Was immer ihr geschehen mochte, sie hatte es verdient. Er sah sich nach seinem Trupp um. Alle waren beschäftigt, seine Anordnungen auszuführen und schienen zufrieden mit der Art seines Vorgehens, wenigstens an der Oberfläche, aber er spürte eine Ungewißheit darunter. Sie wußten, wie jung und unerprobt er war. Sie gehorchten aus Gewohnheit. In Wahrheit gehorchten sie immer noch Harvey. Aber Harvey hatte einen folgenschweren Fehler begangen. Saldo gelobte sich, daß er einen solchen Fehler nicht machen werde. »Laßt euch auf alle viere nieder und seid gründlich«, sagte er. »Zwei von den Nachtmasken wurden zerschossen. Es werden Splitter herumliegen. Sammelt sie alle auf, zumindest | 103 |
die größeren.« Saldo wanderte durch das hohe Gras in die Richtung, wo zwei seiner Leute das Fahrzeug bereitmachten. Sie war von dort gekommen, diese Außenseiterfrau. Wie sonderbar es war, daß sie frei herumwanderten, wenn sie fruchtbar waren, als machten sie sich überhaupt keine Gedanken über die Wahl des besten Mannes für die Paarung. Tatsächlich waren sie ganz und gar nicht wie eine Brutmutter. Sie waren bloß wilde, fruchtbare Frauen. Eines Tages vielleicht, wenn es viele Stöcke gäbe, würde man solche wilden Tiere fangen und für die Zucht verwenden, wie es sich gehörte, oder man würde sie geschlechtslos machen und für nützliche Arbeiten verwenden. Ein paar von den geflohenen Rindern waren zurückgekehrt, wahrscheinlich von Neugierde getrieben. Sie versammelten sich auf der offenen Weidefläche unterhalb der Stelle, wo seine Leute arbeiteten, und standen den Arbeitern zugewandt. Der Blutgeruch und die Stimmen ließen sie nicht ganz zur Ruhe kommen, aber sie stellten keine Bedrohung dar. Im übrigen konnten sie seine Arbeiter nicht sehen, aber seine Arbeiter konnten die Rinder sehen. Saldo hielt den Betäubungsstab bereit und nahm eine Position zwischen dem Vieh und seinen Leuten ein. Eine gute Einbildungskraft konnte vor dem Unerwarteten schützen. Während er dastand und die wartenden Tiere beobachtete, wanderte sein Blick über das Weideland hinaus zum fernen Lichtschein der kleinen Stadt, einem matten Widerschein auf ziehenden Wolken. Es war nicht wahrscheinlich, daß jemand in so weiter Entfernung die Schüsse gehört hatte, aber selbst wenn sie dort aufmerksam geworden waren, würden sie vernünftig sein und die Sache auf sich beruhen lassen. Die Bewohner der Ortschaft hatten gelernt, in Angelegenheiten, die das Bewachte Tal betrafen, verschwiegen und vorsichtig zu sein. Der Stock besaß dort in der Gestalt des DistriktsHilfssheriffs Lincoln Kraft einen Prellbock. Er war im Stock geboren und aufgewachsen und eines der erfolgreichsten Aushängeschilder, die sie je hervorgebracht hatten. Andere Beobachter des Stocks lebten als gewöhnliche Außenseiter in Fosterville. Natürlich gab es in der Außenwelt noch wichtigere | 104 |
Vertrauensleute. Saldo hatte zwei von ihnen gesehen, als sie den Stock besucht hatten: ein Senator und ein Richter. Sie füllten gefährliche Posten aus, die eines Tages vielleicht nicht mehr gebraucht würden. Die Geräusche seiner geschäftig arbeitenden Leute erfüllten Saldo mit Befriedigung. Er schnüffelte die Nachtluft, witterte eine Spur von Pulverrauch. Nur einer, der im Stock aufgewachsen und ausgebildet war, war imstande, so schwache Duftspuren wahrzunehmen. Das Vieh beruhigte sich weiter, und einzelne Tiere sonderten sich ab und begannen zu grasen. Saldo beobachtete den Prozeß mit Sorge. Zusammengedrängt, stellten die Rinder keine Verlockung dar, aber er wußte, wie labil die Gemütsverfassung seiner Arbeiter war. Es war ohne weiteres denkbar, daß einer von ihnen eine einzelne Kuh erlegen würde. Das mußte verhindert werden. Eines Tages würde dieses Land zum Stock gehören, und dann würden sie vielleicht sogar ihr eigenes Vieh besitzen. Aber einstweilen kostete solches Protein zuviel Pflanzenenergie. Solche Verschwendung mußte den liederlichen Außenseitern überlassen bleiben, und Vieh durfte in dieser Nacht nicht behelligt werden. Nichts durfte hier geschehen, was unerwünschte Aufmerksamkeit erregen würde. Saldo kehrte zu seinen Arbeitern zurück, ging zwischen ihnen auf und ab und sprach mit leiser Stimme auf sie ein. Erde und Gras mußten Zeit haben, Spuren zu verwischen, die von Menschenhand nicht verwischt werden konnten. Mißtrauische Außenseiter mußten so lange wie möglich von hier ferngehalten werden. Eines Tages, sagte sich Saldo, würde es andere Stöcke geben, Abkömmlinge dieses Stocks, dem er diente. Aber darüber mochten noch viele Jahre und Generationen hingehen. Einstweilen mußten sie vorsichtig sein und ihre Zukunft schützen. Das schuldeten sie den noch ungeborenen Generationen ungezählter Arbeiter. Aus dem Leitfaden: Unsere genetischen Hauptlinien müssen ganz im Sinne der Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Stocks entwickelt werden. In dieser Hinsicht bewegen wir uns | 105 |
auf einer weitaus schmaleren Bahn als die Insekten, die uns unser Überlebensmodell liefern. Ihr Leben beginnt wie das unsrige mit der Befruchtung einer einzigen Zelle, aber von da an nimmt die Entwicklung einen andersartigen Verlauf. In der Zeitspanne, die ein menschlicher Embryo zur Entwicklung benötigt, kann ein Insekt mehr als vierhundert Milliarden Nachkommen erzeugen. Wir können die Geburtenrate im Stock vervielfachen, aber niemals können wir eine vergleichbare Fruchtbarkeit entwickeln. Es wäre auch nicht wünschenswert. Ein Arbeiter kam aus der Richtung des Stocks und winkte, um Saldos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Morgengrauen ließ noch auf sich warten, aber es war kälter geworden, wie es kurz vor Tagesanbruch oft geschah. Der Arbeiter blieb vor Saldo stehen und sagte mit gedämpfter Stimme: »Jemand kommt vom Stock.« »Wer?« »Ich glaube, es ist Nils selbst.« Saldo spähte in die bezeichnete Richtung und erkannte die Gestalt an ihrem Gang. Ja, es war Nils. Er trug eine Nachtmaske, aber keinen Stab. Saldos momentane Erleichterung ging in aufbrandendem Unwillen unter. Er hatte die richtigen Entscheidungen getroffen, doch Hellstrøm hielt es für nötig, persönlich herauszukommen. Sofort rief Saldo sich selbst zur Ordnung. Er konnte fast Harveys tadelnde Stimme hören: ›Würdest du es nicht genauso machen?‹ Der Führer des Stocks mußte sich in einer kritischen Situation wie dieser selbst vom Stand der Dinge überzeugen, durfte sich nicht auf Angaben aus zweiter Hand verlassen. Der Gedanke stellte Saldos Verfassung ruhiger Selbstgewißheit wieder her. Er grüßte Hellstrøm mit der Haltung eines Mannes, der weiß, daß er sich auf seine Arbeit versteht. Hellstrøm blieb einige Schritte von Saldo entfernt stehen und überblickte die Szene, bevor er sprach. Er hatte Saldo schon von weitem erkannt und während seiner Annäherung aufmerksam beobachtet. Der Verlust des alten Harvey traf Hellstrøm tief, aber er stellte mit Zufriedenheit fest, daß Saldo an alles Notwendige gedacht hatte. Der junge Mann hatte die | 106 |
Instinkte eines guten Beschützers. »Sag mir, was geschehen ist und was du getan hast«, sagte Hellstrøm. »Hast du von denen, die ich zurückschickte, keine Meldung bekommen?« »Sie machten ihre Meldung, aber ich würde es vorziehen, daß der Leiter dieses Suchtrupps mir seine eigene Einschätzung der Lage gibt. Arbeiter übersehen manchmal wichtige Dinge.« Saldo nickte. Ja, das war weise. Er berichtete Hellstrøm in allen Einzelheiten von der Entdeckung der Außenseiterfrau und ihrer unerwartet wirksamen Gegenwehr, erwähnte sogar die gut sichtbare Streifschußverletzung auf seiner Wange. »Sollte deine Wunde nicht behandelt werden?« fragte Hellstrøm und beugte sich vor, um die Verletzung in Augenschein zu nehmen. Welches Unglück, wenn sie auch Saldo verlören! »Es ist eine oberflächliche Wunde«, sagte Saldo. »Nicht viel schlimmer als ein Kratzer.« »Kümmere dich darum, sobald du zurückkehrst.« Saldo hörte die Sorge heraus. Es war ein herzerwärmendes Gefühl für ihn. »Ich hörte, Harvey machte dich zu seinem Stellvertreter«, sagte Hellstrøm. »Ja«, sagte Saldo einfach. »Haben die anderen zu erkennen gegeben, daß sie mit der Entscheidung unzufrieden sind?« »Nichts Ernstes.« Die Antwort gefiel Hellstrøm. Sie zeigte, daß Saldo sich beginnender Herausforderungen bewußt war, aber mit ihnen fertig zu werden glaubte. Hellstrøm traute es ihm zu. Saldo benahm sich gut; er hatte ein sicheres Gespür für das, was richtig war. Seine dominierende Persönlichkeit trat immer deutlicher zutage. Sie bedurfte jedoch der Mäßigung. »Freutest du dich, als Harvey dich zu seinem Stellvertreter machte?« fragte Hellstrøm angelegentlich. Saldo stutzte. Hatte er etwas falsch gemacht? In Hellstrøms Frage war eine forschende Kühle. Hatte er den Stock in Gefahr gebracht? Aber Hellstrøms Gesicht zeigte ein schwa| 107 |
ches Lächeln, eine kaum wahrnehmbare Bewegung der Lippen unter der Nachtmaske. »Ich freute mich darüber«, gab Saldo zu, doch in seinem Tonfall war Unsicherheit. Hellstrøm hörte die Selbstzweifel heraus und nickte. Unsicherheit erzeugte Vorsicht. Freude an der Autorität konnte allzu leicht in Selbstüberschätzung umschlagen. Hellstrøm erläuterte ihm das mit ruhiger, halblauter Stimme, die niemand sonst hören konnte. Er schloß mit den Worten: »Sag mir, was du hier angeordnet hast.« Saldo überlegte einen Moment, dann fuhr er in seinem Bericht fort. Er sprach mit merklichem Zögern und suchte in seiner Erinnerung nach möglichen Irrtümern und nötigen Berichtigungen. »Wer sah als erster die Außenseiterfrau?« unterbrach ihn Hellstrøm. »Harvey«, antwortete Saldo, und er entsann sich der Armbewegung des Alten, des ausgestreckten Fingers, der auf seine Entdeckung wies. »Welche Befehle gab er daraufhin?« fragte Hellstrøm. »Er hatte uns vorher schon gesagt, daß wir sie einkreisen sollten, wenn wir sie fänden. Das taten wir, ohne weitere Anweisungen abzuwarten.« »Was tat Harvey dann?« »Er hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu tun. Die Frau schaltete ihre Lampe ein und fing sofort an zu schießen.« Hellstrøm blickte auf seine Füße, dann nach rechts und nach links. Mehrere Arbeiter waren neugierig näher gekommen, um zuzuhören. »Warum tut ihr nicht, was euer Leiter angeordnet hat?« fragte Hellstrøm. »Euer Leiter gab euch genaue Anweisungen. Führt sie aus.« Er wandte sich wieder Saldo zu. »Sie sind müde«, sagte Saldo in Verteidigung seiner Leute. »Bevor ich gehe, werde ich alles noch einmal überprüfen.« Dieser Bursche ist ein Juwel, dachte Hellstrøm. Er verteidigt seine Leute, aber nicht zu sehr. Und er übernimmt ohne zu zögern persönliche Verantwortung. »Wo genau warst du, als sie zu schießen anfing?« fragte Hellstrøm. | 108 |
»Am anderen Ende der Kette. Als wir den Kreis schlossen, befand ich mich neben Harvey.« »Wer holte sie aus dem Baum?« »Die Arbeiter uns gegenüber, die von ihrem Licht nicht geblendet wurden. Wir anderen versuchten dem Feuer auszuweichen.« »Und Harvey gab keine weiteren Befehle mehr?« »Ich glaube, er war unter den ersten, die getroffen wurden. Es ging alles sehr schnell. Ich hörte den ersten Schuß und stand einen Augenblick wie gelähmt. Dann sah ich Harvey und andere fallen und wurde selbst getroffen. Wir rannten alle durcheinander. Dann war es plötzlich vorbei. Sie fiel aus dem Baum.« »Deine Verwirrung ist verständlich, weil du verwundet wurdest«, sagte Hellstrøm. »Immerhin behieltest du bei alledem einen hinreichend klaren Kopf, um die Tötung der Gefangenen zu verhindern. Du hast meine Erwartungen erfüllt. Aber denke immer daran, was hier geschehen ist. Du hast eine gute Lektion gehabt. Die Jagd auf einen Außenseiter ist niemals mit der Jagd auf irgendein anderes Tier gleichzusetzen. Verstehst du das jetzt?« Saldo wußte, daß er zugleich gelobt und ermahnt worden war. Er blickte hinüber zu dem Baum, in dem die Frau sich versteckt hatte, dann, nach einigem Zögern, zurück zu Hellstrøm. Er sah wieder die Andeutung eines Lächelns, und gleich darauf sagte Hellstrøm: »Du konntest die Frau lebend fangen, und das ist die Hauptsache. Ein erfahrener Mann wie Harvey hätte damit rechnen sollen, daß sie eine Waffe bei sich trug. Er hätte sie sofort herunterholen sollen, als er sie sah. Er war in Reichweite. Verstehst du mit solchen Außenseiterwaffen umzugehen, Saldo?« »Ja. Ja, ich weiß es. Harvey hat es mir gezeigt.« »Übe dich im Gebrauch. Der Stock wird solche Fähigkeiten vielleicht noch nötig haben. Du bist jetzt zweiunddreißig Jahre alt, ist das richtig?« »Ja.« »Unter den Außenseitern könntest du noch immer als ein Jugendlicher durchgehen. Es könnte sein, daß wir dich | 109 |
demnächst auf eine ihrer Schulen schicken werden. Wir haben Möglichkeiten, das zu tun. Du weißt Bescheid.« »Ich habe in der Außenwelt nicht viel Zeit zugebracht«, sagte Saldo. »Ich weiß. Welche Erfahrungen hattest du?« »Nur mit anderen, niemals allein. Insgesamt war es vielleicht ein Monat. Einmal verbrachte ich eine Woche in Fosterville.« »Arbeit oder Ausbildung?« »Ausbildung für mich und andere.« »Würdest du gern allein nach draußen gehen?« »Ich glaube nicht, daß ich ausreichend darauf vorbereitet bin.« Hellstrøm nickte, erfreut über die Freimütigkeit der Antwort. Saldo würde eines Tages einen hervorragenden Sicherheitsexperten abgeben. Was Intuition und Urteilsvermögen betraf, so war er schon jetzt der bei weitem Beste seiner Generation. Ein bißchen mehr Erfahrung, und er würde nicht seinesgleichen haben. Er besaß den schönen Freimut der Stockgeborenen. Er belog niemanden, nicht einmal sich selbst. Er war eine Führernatur, die gepflegt und gefördert werden mußte. Das verlangte der Brauch, und die gegenwärtigen Umstände legten nahe, daß Hellstrøm damit begann. »Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte Hellstrøm so laut, daß die anderen es hören konnten. »Wenn die gegenwärtige Krise vorüber ist, werden wir Vorkehrungen treffen, daß du zur weiteren Ausbildung einige Monate in der Außenwelt verbringen kannst. Melde dich bei mir, wenn du hier draußen fertig bist.« Er drehte sich um und schlenderte zurück zur Farm, wobei er gelegentlich innehielt und umherblickte. Jede seiner Bewegungen gab zu erkennen, daß er die Angelegenheit in Saldos Händen gut aufgehoben wußte. Saldo sah ihm ein paar Sekunden lang nach. Der oberste Ratsherr des Stocks, Führer in jeder Krise, der Mann, an den sich alle wandten, wenn Zweifel oder Schwierigkeiten auftauchten – sogar jene, die über das Zuchtprogramm, die Nahrungsmittelproduktion und Werkzeugherstellung geboten –, der erste Arbeiter unter ihnen allen war herausgekommen, um sich ein Bild zu machen, und billigte, was er gefunden hatte. In gehobener Stimmung wandte Saldo sich wieder der Beaufsichtigung der Säuberungsarbeiten zu; gedämpft wurde dieses | 110 |
Gefühl von einer neuen Einsicht in seine eigenen Begrenzungen. Das, so wurde ihm allmählich klar, war ein wesentlicher Zweck von Hellstrøms Besuch gewesen. Protokoll der Ratsversammlung des Stocks. Gespräch mit dem Philosophiespezialisten Harl: Wieder einmal, Philosoph Harl, müssen wir dich enttäuschen, indem wir dir sagen, daß wir nicht gekommen sind, um dich zu den Bottichen zu bringen. Dein hohes Alter, die künstlichen Mittel, die zur Erhaltung deines Lebens notwendig sind, und die anderen Argumente, mit denen du uns umzustimmen suchst – alles das ist schwer zu leugnen. Dennoch bitten wir dich, von diesen Argumenten abzusehen und dich zu erinnern, wie sehr der Stock deiner Weisheit bedarf. Wieder kommen wir, deinen Rat zu erbitten, wie der Stock die Ergebnisse eines erfolgreichen Abschlusses der Arbeiten am Projekt 40 anwenden soll. Wir können deine erste Frage voraussehen und müssen sie beantworten, indem wir sagen, daß Projekt 40 noch keine Früchte getragen hat. Die mit dem Projekt beauftragten Spezialisten versichern uns jedoch, daß der Erfolg gewiß sei. Sie sagen, es sei nur eine Frage der Zeit. Die Worte des Philosophiespezialisten Harl: Der Besitz einer letzten Waffe, einer nicht mehr zu überbietenden Bedrohung allen Lebens auf dem Planeten, ist keine Garantie für Überlegenheit und Herrschaft. Die Drohung mit der Anwendung einer solchen Waffe, verbunden mit gewissen Bedingungen, legt die Kontrolle über diese Waffe in die Hände jener, welche über die Bedingungen bestimmen. Es entsteht das Problem, was zu tun ist, wenn die Bedrohten sagen: ›Dann gebraucht eure Waffe!‹ Hinzu kommt, daß jeder, der den Besitzer dieser Waffe zu bedrohen imstande ist, damit gleichfalls Einfluß auf sie gewinnt. Folglich ist eine letzte Waffe nutzlos, es sei denn, ihre Besitzer können die zerstörerische Wirkung abstufen. Die Waffe muß Anwendungsgrade haben, die weniger als die totale Zerstörung bewirken. Lernt von den Verteidigungsmitteln der Insekten, die uns das Überlebensmodell liefern. Die Stacheln und Panzer, die Gifte und ätzenden Säuren sind in erster Linie Verteidigungmittel. Sie sagen: ›Laß mich in Ruhe.‹ | 111 |
Tymiena begriff ganz langsam, daß ihr die Hände auf den Rücken gebunden und daß sie an einen Stuhl gefesselt war. Die Oberfläche des Stuhls war hart, und sie fühlte die kalte Glätte der Lehne an den Armen. Der zentrale Teil ihres Bewußtseins konzentrierte sich auf den verstauchten Knöchel, in dem es schmerzhaft pochte. Widerwillig öffnete sie die Augen, fand aber nur undurchdringliche Dunkelheit, schwarz und unheilverkündend. Zuerst befürchtete sie, blind zu sein, aber ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Lichtschein in unbestimmbarer Entfernung gerade vor ihr überzeugte sie, daß es nicht so war. Die Lichterscheinung bewegte sich ein wenig. »Ahh, ich sehe, daß Sie wach sind.« Es war eine tiefe, männliche Stimme irgendwo über dem Lichtschimmer. Der hallende Klang der Stimme sagte ihr, daß sie sich in einem Raum befand, einem ziemlich großen Raum. Mit Mühe unterdrückte sie ihren Schrecken, zwang eine falsche Nonchalance in ihre Stimme und sagte: »Wie können Sie sehen? Es ist stockdunkel.« Hellstrøm, der in einer Ecke des Laboratoriums saß, wo er die beleuchteten Instrumente beobachten konnte, welche ihm die Reaktionen der Frau verrieten, konnte ihren Mut nur bewundern. Sie waren oft sehr mutig, diese Wilden. »Ich kann sehen«, entgegnete er schlicht. »Mein Knöchel tut höllisch weh«, sagte sie. »Ich bedaure das aufrichtig. Wir werden Ihnen gleich etwas gegen den Schmerz geben. Versuchen Sie sich solange zu gedulden.« Die Stimme hatte etwas ermutigend Aufrichtiges. Es war eine Männerstimme, die sich zwischen Bariton und Tenor bewegte. Die feine Modulation gemahnte sie an ein erlesenes Instrument. »Ich hoffe, es wird nicht sehr lang dauern«, sagte sie. Sie muß sich beruhigen, dachte Hellstrøm. Die Nachtmaske beengte ihn und drückte störend gegen Nase und Stirn. Überdies verfremdete das Infrarot ihre Züge so, daß man Übung haben mußte, um dennoch in ihnen zu lesen. Er verspürte eine untergründige Gereiztheit, die nur von Müdigkeit herrühren | 112 |
konnte. Zuweilen verlangte der Stock zuviel von ihm. Aber diese Außenseiterfrau mußte verhört werden, und er hatte Bedenken, sie den erbarmungslosen Jungen zu überantworten, die so begierig auf die Gelegenheit warteten, sich zu beweisen. Er sagte sich, daß er mit dieser Frau geduldig vorgehe, weil er den Angaben nicht traute, die die anderen Depeaux entrissen hatten. Wie konnten die Außenseiter vom Projekt 40 wissen? Einer der Vernehmer mußte es erwähnt haben! Das war es natürlich. Nun, bei dieser Frau konnte er die Probe aufs Exempel machen. »Zunächst muß ich Ihnen einige Fragen stellen«, sagte er. »Warum diese Verdunklung?« fragte sie. »Damit Sie mich nicht sehen können.« Ein plötzliches Hochgefühl von Erleichterung durchflutete sie. Wenn sie nicht wollten, daß sie jemanden sehe, bedeutete das, daß sie später Gelegenheit haben würde, die Stunden oder Tage ihrer Gefangenschaft zu beschreiben. Es konnte nur bedeuten, daß man sie freilassen wollte! Hellstrøm las ihre Reaktion von den Instrumenten ab und sagte: »Sie waren dort draußen sehr hysterisch. Dachten Sie, wir würden Ihnen etwas zuleide tun?« Sie überlegte, was er mit dieser Frage meinte. Man hatte sie gefesselt, daß sie kein Glied bewegen konnte, was nicht gerade auf die besten Absichten schließen ließ. »Ich war in Todesangst«, sagte sie ehrlich. »Habe ich jemanden verletzt?« »Sie haben fünf von unseren Leuten getötet und zwei weitere verletzt«, sagte Hellstrøm. Eine so kühle, freimütige Antwort hatte sie nicht erwartet. Sie war schockiert. Fünf Tote? Konnten diese Leute sie danach noch freilassen? »Ich – ich fühlte mich in einer Falle gefangen«, sagte sie. »Mein – mein Mann war nicht zurückgekommen, und ich war allein. Ich hatte schreckliche Angst. Was haben Sie mit Carlos gemacht?« »Er leidet keine Schmerzen«, sagte Hellstrøm. Und es ist die Wahrheit, sagte er sich. Es war schwierig, geradeheraus zu lügen, selbst einem wilden Außenseiter gegenüber. Seine Feststellung entsprach den Tatsachen. Depeaux hatte in barm| 113 |
herziger Bewußtlosigkeit gelegen, als sein vom Verhör schwer verstümmelter Körper in den Fleischwolf geschoben worden war, um von dort in die auflösenden Säfte der Bottiche weiterzuwandern. Er hatte dort keine Schmerzen erlitten, und sicherlich war der Tod über ihn gekommen, ehe ein Schimmer von Bewußtsein zurückgekehrt war. Die Hackmesser des Fleischwolfs arbeiteten schnell. »Warum haben Sie mich so gefesselt?« fragte sie. »Um Sie an Ort und Stelle festzuhalten, während ich meine Fragen stelle. Sagen Sie mir Ihren Namen.« Sie mußten die Papiere ihrer Tarnidentität haben, dachte sie. »Mein Name ist Tymiena – Tymiena Depeaux.« »Erzählen Sie mir von dieser staatlichen Organisation, für die Sie arbeiten.« Ihr Herzschlag setzte aus, aber sie brachte es fertig, Erstaunen zu heucheln. »Staatlich? Ich arbeite für keine staatliche Organisation. Wir waren auf Urlaub. Mein Mann verkauft Feuerwerkskörper.« Hellstrøm lächelte bekümmert, als er sah, welche Reaktionen seine Instrumente zeigten. Es stimmte also. Beide arbeiteten für eine Regierungsbehörde, und diese Behörde war neugierig geworden. Soviel hatten sie schon von Porter erfahren, obwohl sein widersprüchliches Gerede die Bewertung seiner Auskünfte sehr erschwert hatte. Aber Porter hatte nichts über Projekt 40 gesagt. Würde diese Frau eine solche Information preisgeben? Sein Puls beschleunigte sich fühlbar. Dies war die Art von Gefahr, die der Stock immer gefürchtet hatte, zugleich aber war etwas darin enthalten, was seinen Jagdinstinkt weckte. »Ist Ihre Organisation die CIA?« fragte Hellstrøm. »Ich bin nur eine gewöhnliche Hausfrau!« protestierte sie. »Wo ist Carlos? Was haben Sie mit meinem Mann gemacht?« Hellstrøm seufzte. Vielleicht war es nicht die CIA, sofern ihren Reaktionen vertraut werden konnte, und vorausgesetzt, sie kannte sich im Gefüge der Organisation aus, für die sie arbeitete. Es war denkbar, daß sie es nicht wußte. Solche Organisationen waren bekannt dafür, daß sie ihren eigenen Agenten nur die allernötigsten Interna mitteilten. Viele wußten nicht | 114 |
viel mehr als den Namen ihres Agentenführers. »Sorgen Sie sich nicht um Ihren Mann«, sagte er. »Sie werden bald bei ihm sein. Wir wissen jedoch, daß Sie keine einfache Hausfrau sind. Gewöhnliche Hausfrauen tragen nicht solche Waffen bei sich, wie Sie sie in Ihrem Besitz hatten. Und sie besitzen erst recht nicht die Übung und Treffsicherheit im Umgang damit, die wir bei Ihnen festgestellt haben.« »Ich glaube nicht, daß ich jemand tötete«, sagte sie. »Aber Sie taten es, glauben Sie mir.« »Carlos bestand darauf, daß ich diese Pistole tragen sollte. Er lehrte mich damit schießen.« Wieder eine Lüge, dachte Hellstrøm. Er fühlte sich betrogen. Warum hielt sie so hartnäckig an ihrer Tarnung fest? Sicherlich mußte sie inzwischen wissen, daß sie von ihrem Komplizen bloßgestellt worden war. Seine Fragen konnten das nicht verbergen. Hellstrøm hatte sich gezwungen, den Vernehmungsbericht über Depeaux zu lesen und nichts darin zu übergehen. Was die unbarmherzigen Vernehmer getan hatten, das hatten sie im Namen des ganzen Stocks getan. Er überlegte, ob er es riskieren könne, ihre Persönlichkeit auf chemischem Wege zu reduzieren. Die Vernehmungspraktiker argumentierten dagegen. Die Methode war schmerzlos, aber ungewiß. Sie hatte Porter in einen sabbernden Schwachsinnigen verwandelt. Im Endergebnis löschten solche Behandlungen mit starken Psychopharmaka allzu leicht die Erinnerung aus, die sie zugänglich machen sollten. Er wünschte keine Wiederholung der Erfahrungen, die sie mit Porter gemacht hatten, und beschloß, nicht auf seine eigenen inneren Hemmungen zu hören. Was sein muß, muß sein. Solange sie nicht argwöhnte, daß ihre Emotionen elektronisch überwacht wurden, und solange Informationen dabei herauskamen, wollte er jedoch die gegenwärtige Methode beibehalten. Das Tonband zeichnete alles auf, was hier geschah; ihre Aussagen konnten später gründlich analysiert werden. Um Zeit zu sparen, könnte dabei sogar der Zentralcomputer des Stocks helfen, obgleich Hellstrøm Computern im allgemeinen mißtraute. Sie hatten keine Emotionen und mußten darum versagen, wenn sie mit menschlichen Problemen konfrontiert wurden. | 115 |
»Warum lügen Sie?« fragte er. »Ich lüge nicht!« »Ist die Organisation, für die Sie arbeiten, ein Arm des Außenministeriums?« »Wenn Sie mir nicht glauben wollen, hat es keinen Sinn zu antworten. Ich verstehe einfach nicht, was hier vorgeht. Sie jagen mich, machen mich bewußtlos, fesseln mich, und das alles, weil ...« »Und Sie töteten fünf meiner Freunde«, erinnerte er sie. »Warum?« »Ich glaube Ihnen nicht. Sie würden gut daran tun, mich gehen zu lassen. Carlos ist in seiner Firma ein sehr wichtiger Mann. Es gibt Leute, die kommen und uns suchen werden, wenn ich nichts von mir hören lasse.« »Sie meinen, wenn Sie keine Meldung machen?« Hellstrøm studierte die Instrumente. In diesem Punkt hatte sie ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. »So ist es nicht!« Also erwartete man, daß sie Meldung machte, wahrscheinlich in regelmäßigen Abständen. Das hatten die übereifrigen Vernehmer Depeaux nicht entlockt. Aber wahrscheinlich hatten sie auch nicht danach gefragt. »Warum wurden Sie hierher geschickt?« fragte er. »Ich wurde nicht geschickt!« »Was haben Sie dann hier gemacht?« Sie ergriff diese Gelegenheit, um ihre Deckgeschichte weiter auszubauen: die Überstunden, die Carlos so häufig machen mußte, die seltenen Urlaubsreisen, sein Interesse an der Vogelwelt, ihr eigenes Interesse für Landschaftsmalerei. Ihre Geschichte hatte etwas Einleuchtendes und beinahe Rührendes, einen Hauch von idyllischer Häuslichkeit, die sie beinahe erstrebenswert machte. So ein schlechter Kerl war Carlos nicht gewesen, obwohl ... Als ihr dieser Gedanke kam, brach sie in ihrer Erzählung ab. Er verwirrte sie. Ein solcher Gedanke hatte innere Bedeutung. Warum dachte sie an Carlos wie an etwas Vergangenes? Carlos war tot! Es war eine Gewißheit, die plötzlich aus dem Nichts zu ihr kam. Was hatte dieser Mann dort im Dunklen gesagt, was dieses Gefühl von | 116 |
Gewißheit auslösen konnte? Sie vertraute ihrem Instinkt und fühlte die Angst in der Kehle, aufsteigend wie eine Flut von Galle. Hellstrøm las die starke Gemütsbewegung von seinen Instrumenten ab und versuchte sie abzulenken. »Haben Sie Hunger?« fragte er. Zuerst fand sie es schwierig, zu sprechen, dann erwiderte sie trotz eines plötzlich wie ausgetrockneten Mundes: »Nein, aber mein Knöchel schmerzt schrecklich.« »Wir werden uns bald darum kümmern«, versicherte er ihr. »Sagen Sie mir, Mrs. Depeaux, warum fuhren Sie nicht mit Ihrem Wohnmobil nach Fosterville, wenn Sie solche Angst hatten?« Das hätte ich tun sollen! sagte sie sich. Aber sie argwöhnte, daß dieser undurchsichtige Typ und seine Freunde auf einen derartigen Versuch vorbereitet gewesen waren und ihn vereitelt hätten. Sie sagte: »Ich muß irgendwas falsch gemacht haben. Der Motor wollte nicht anspringen.« »Das ist eigenartig«, sagte er. »Bei uns sprang er sofort an.« Also hatten sie auch das Wohnmobil! Jede Spur von Depeaux und Grinelli würde inzwischen ausgelöscht sein. Carlos und Tymiena, beide tot. Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und rann ihr über die linke Wange. »Sind Sie ein kommunistischer Agent?« fragte sie heiser. Hellstrøm mußte schmunzeln. »Welch eine seltsame Frage von einer einfachen Hausfrau!« Seine Heiterkeit füllte sie mit erfrischendem Zorn. »Sie sind derjenige, der die ganze Zeit von Agenten und dem Außenministerium redet!« fuhr sie auf. »Was geht hier eigentlich vor?« »Sie sind nicht, was Sie scheinen, Mrs. Depeaux«, sagte Hellstrøm. »Ich zweifle sogar daran, daß Sie tatsächlich Mrs. Depeaux sind.« Ah, das hatte einen Nerv getroffen! bemerkte er. Also arbeiteten sie bloß zusammen und waren nicht verheiratet. »Ich vermute, es lag – liegt Ihnen nicht einmal sehr viel an Carlos.« Lag! registrierte sie. Er hat es selbst gemerkt! Die Lüge ist ans Licht gekommen! | 117 |
Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was dieser ungesehene Mann über Carlos gesagt hatte. Natürlich, die Toten fühlten keine Schmerzen. In jeder Erwähnung von Carlos war ein Unterton von aus und vorbei spürbar gewesen. Sie revidierte die Einschätzung ihrer eigenen Lage. Dunkelheit konnte mehr bedeuten als das Bestreben, die Identität ihres Verhörers zu verbergen. Sie konnte ein vorsätzlich angewandtes Mittel zu ihrer Verwirrung sein, um ihr Angst zu machen und ihre Abwehr zu schwächen. Sie begann die Festigkeit der Fesseln zu untersuchen, spannte die Muskeln der Arme und Beine. Man hatte die Riemen unbarmherzig fest angezogen. »Sie antworten mir nicht«, sagte Hellstrøm. »Warum sollte ich? Sie sind furchtbar!« »Ist Ihre Organisation ein Arm der Exekutive?« »Nein!« Den Ablesungen der Instrumente entnahm er das Gegenteil, aber bei dem emotionalen Aufruhr, in dem sie sich befand, war es schwierig, ein zutreffendes Bild zu gewinnen. Die Antwort war vermutlich, daß sie glaubte, daß es sich so verhielt, aber gewisse Zweifel hegte. Er bemerkte, daß sie sich verzweifelt auf ihrem Stuhl wand und ihren Fesseln zu entkommen suchte. Glaubte sie nicht, daß er sie sehen konnte? »Warum ermittelt die Regierung gegen uns?« fragte er. Sie verweigerte die Antwort. Die Riemen täuschten. Sie fühlten sich wie Leder an und schienen nachzugeben, wenn sie an ihnen zerrte, aber wenn sie in ihren Anstrengungen auch nur einen Augenblick lang nachließ, zogen sie sich wieder eng zusammen. »Sie arbeiten für eine Organisation, die mit der Regierungsexekutive verbunden ist«, sagte er. »Daß eine solche Organisation die Nase in unsere Angelegenheiten steckt, macht mich neugierig. Welches Interesse könnte die Regierung an uns haben?« »Sie werden mich töten, nicht wahr?« fragte sie. Sie gab den Kampf gegen die Fesseln auf, fühlte sich auf einmal völlig erschöpft. Ihr Verstand drohte in Hysterie unterzugehen. Diese Leute waren entschlossen, sie zu töten. Sie hatten Carlos umgebracht und würden auch sie umbringen. Irgend etwas war | 118 |
gründlich schiefgegangen. Was sie von Anfang an in diesem Auftrag gewittert hatte, war jetzt grausame Wirklichkeit geworden. Dieser verdammte Trottel, Merrivale! Nie konnte er etwas richtig machen! Und Carlos, der Obertrottel! Wahrscheinlich war er ihnen direkt in eine Falle gelaufen. Sie hatten ihn gefangen, und er hatte alles ausgespuckt. Das war offensichtlich. Dieser Vernehmer wußte schon zuviel. Carlos hatte gesungen, und sie hatten ihn trotzdem umgebracht. Hellstrøms Instrumente zeigten ihre Annäherung an die Hysterie. Die Angst dieser Frau störte ihn. Er wußte, daß es zum Teil an seiner Empfindlichkeit für ihre Körperausdünstungen und Sekretionen lag. Jeder Bewohner des Stocks, der in ihre Nähe kam, mußte diese Signale der Angst und des Entsetzens empfangen. Kein Arbeiter konnte solchem Bewußtsein entgehen. Er selbst benötigte nicht einmal seine Instrumente. Der Raum würde später gründlich durchlüftet werden müssen. Nach Depeaux’ Verhör hatten sie es auch tun müssen. Jeder Arbeiter, der mit solchen Emissionen in Berührung käme, würde zutiefst beunruhigt sein. Aber dieser Zustand der Gefangenen hatte auch sein Gutes. Vielleicht würde sie in ihrer Angst preisgeben, was er am dringendsten wissen wollte. »Sie arbeiten für die Regierung«, sagte er. »Das wissen wir. Sie wurden hierhergeschickt, um uns auszuforschen. Was erwarteten Sie zu finden?« »Das ist nicht wahr!« kreischte sie. »Das ist nicht wahr! Carlos sagte mir nur, wir würden Urlaub machen. Was haben Sie mit Carlos gemacht?« »Sie lügen«, sagte er. »Ich weiß, daß Sie lügen, und Sie müssen inzwischen sicherlich begriffen haben, daß Ihre Lügen bei mir nicht verfangen. Es wird besser für Sie ausgehen, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.« »Sie werden mich so oder so umbringen«, wisperte sie. Verdammt! dachte Hellstrøm. Seine Brutmutter hatte ihn gewarnt, daß es irgendwann in seinem Leben zu einer solchen Krisensituation kommen mochte. Seine Arbeiter hatten einen wilden Menschen gefoltert. Es war weit über alles hinausgegangen, was sich mit dem Begriff Barmherzigkeit hätte vereinbaren lassen. Ein solcher | 119 |
Begriff war den Arbeitern nicht einmal in den Sinn gekommen, als sie ihren Auftrag ausgeführt und dem unglücklichen Opfer die für das Überleben des Stocks wichtigen Informationen entrissen hatten. Aber solche Handlungen hinterließen ihr Zeichen auf der ganzen Gesellschaft. Nirgendwo im Stock gab es noch Unschuldige. Wir haben uns den Insekten, denen wir nacheifern, einen weiteren Schritt genähert, dachte er. Und er wunderte sich, warum der Gedanke ihn traurig stimmte. Konnte es sein, daß jede denkende Lebensform, die anderen Wesen unnötige Schmerzen zufügte, dafür mit der Erosion ihres Selbstwertgefühls bezahlen mußte, ohne daß ihr das Leben selbst sinnlos würde? In plötzlichem Zorn knurrte er: »Erzählen Sie mir, was Sie über das Projekt 40 wissen!« Ihr stockte der Atem. Sie wußten alles! Was hatten sie Carlos angetan, daß er ihnen alles gesagt hatte? Sie zitterte vor Schrecken. »Sagen Sie es mir!« bellte er. »Ich – ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Die Instrumente sagten ihm, was er wissen wollte. »Es wird Ihnen sehr schlecht ergehen, wenn Sie es mir nicht sagen«, fuhr er fort. »Ich möchte Ihnen das ersparen. Sagen Sie mir, was Sie über das Projekt 40 wissen.« »Aber ich weiß nichts darüber«, stöhnte sie. Die Instrumente verrieten ihm, daß dies der Wahrheit nahekam. »Sie wissen einiges darüber«, sagte er. »Sagen Sie mir das.« »Warum machen Sie nicht einfach weiter und ermorden mich?« fragte sie. Hellstrøm fühlte sich von tiefer Traurigkeit ergriffen, die fast Verzweiflung war. Mächtige wilde Menschen draußen wußten vom Projekt 40! Wie konnte das sein? Was wußten sie? Diese Frau war nicht mehr als eine unbedeutende kleine Figur in einem großangelegten Spiel, aber sie mochte dennoch einen wertvollen Hinweis liefern können. »Sie müssen mir sagen, was Sie wissen«, sagte er. »Wenn Sie es tun, verspreche ich, Sie gut zu behandeln.« »Ich traue Ihnen nicht«, sagte sie. | 120 |
»Sie haben niemand sonst, dem Sie trauen könnten.« »Man wird mich suchen!« »Aber man wird Sie nicht finden. Also, sagen Sie mir, was Sie über Projekt 40 wissen.« »Es ist bloß ein Name«, sagte sie resignierend. Welchen Sinn hatte es denn, Widerstand zu leisten? Sie wußten alles andere. »Woher wissen Sie diesen Namen?« »Es wurden Papiere gefunden. Sie wurden auf einem Tisch im MIT vergessen, und einer unserer Leute kopierte sie.« Hellstrøm schloß die Augen. Die Nachricht traf ihn wie ein Keulenschlag. »Was stand in diesen Papieren?« fragte er. »Zahlen und Formeln und Texte, die nicht viel Sinn ergaben. Aber einige unserer Leute meinten, es könnte sich um Berechnungen für eine Waffe handeln.« »Sagten sie, was für eine Waffe?« »Ich glaube, sie sprachen von einer Partikelpumpe oder etwas Ähnlichem. Sie sagten, eine solche Waffe könne Materie über weite Entfernungen hinweg in Schwingungen versetzen und zerstören.« Sie seufzte verdrießlich, daß sie es gesagt hatte. Man würde sie sowieso töten. »Versuchen Ihre Leute, nach den Angaben in diesen Papieren eine solche Waffe herzustellen?« »Es wird daran gearbeitet, aber ich hörte, die Papiere seien unvollständig gewesen. Vieles ist noch unklar, und es gibt Diskussionen darüber, ob es wirklich eine Waffe ist.« »Sie sind sich nicht einig, daß es eine Waffe ist?« »Nicht alle, glaube ich«, sagte sie. »Ist es eine Waffe?« »Es ist eine Waffe«, sagte er. »Werden Sie mich jetzt umbringen?« fragte sie. Ihr klagender, vorwurfsvoller Ton erfüllte ihn mit unvernünftiger Wut. Die Dummköpfe! Die elenden Dummköpfe! Er tastete nach seinem Betäubungsstab, den er neben die Instrumentenkonsole auf den Boden gelegt hatte, fand ihn und brachte ihn in Anschlag. Sein Daumen schob den Regler auf die Position der maximalen Energieentladung. Diesen wilden Idioten draußen mußte Einhalt geboten werden. Er stieß den Stab in ihre Richtung, als wolle er sie damit durchbohren, und gab ihr die volle Ladung. Die folgenden Reso| 121 |
nanzschwingungen im begrenzten Raum des Laboratoriums betäubten ihn momentan, und als er sich erholt hatte, sah er, daß alle Anzeigenadeln auf seinen Instrumenten auf die Nullmarkierung gesunken waren. Er schaltete die indirekte Beleuchtung ein, erhob sich mit matten Bewegungen und ging zu der Frau hinüber, die zusammengesunken auf dem Stuhl saß. Ihr Kopf hing nach rechts, und sie wurde nur von den Fesseln aufrecht gehalten. Bevor er sich über sie beugte und die Bestätigung fand, wußte er, daß sie tot war. Die Ladung hätte ausgereicht, einen Ochsen zu fällen. Es würde keine weiteren Vernehmungen dieser Tymiena geben, wie immer ihr richtiger Name sein mochte. Warum habe ich das getan? fragte er sich. War es die Erinnerung an Depeaux’ verstümmelten, zerhackten Körper gewesen, wie er zu den Bottichen gebracht worden war? War es eine Forderung des gemeinschaftlichen Bewußtseins des Stocks gewesen? Oder eine persönliche Regung? Er hatte beinah im Reflex gehandelt, ohne nachzudenken. Nun war es getan, war nicht mehr rückgängig zu machen. Aber sein Verhalten beunruhigte ihn. Bedrängt von widerstreitenden Empfindungen, verließ er das Laboratorium. Als die eifrigen jungen Männer im Vorraum aufsprangen und näherdrängten, winkte er sie zurück und sagte ihnen, daß die Gefangene tot sei. Ihre Proteste beantwortete er mit knappen Gesten und sagte nur, daß er erfahren habe, was er habe wissen müssen. Als einer von ihnen fragte, ob sie den Kadaver zu den Bottichen schaffen oder zu einem Sexualstumpf stutzen sollten, dachte er nur einen kurzen Moment nach, bevor er zustimmte, daß sie versuchen sollten, einen Stumpf aus ihr zu machen. Vielleicht konnte etwas von ihrem Fleisch wiederbelebt und erhalten werden. Gelang die Erhaltung ihres Leibes, konnte sie dem Stock doch noch dienen. Es würde interessant sein, ein Kind dieses Fleisches zu sehen. Doch nun traten anderen Probleme in den Vordergrund seines Denkens. Er verließ die Laboratorien, noch immer unruhig und ärgerlich mit sich selbst. Außenseiter wußten vom Projekt 40! Ein Arbeiter des Stocks hatte sich zerstörerischer | 122 |
Fahrlässigkeit schuldig gemacht. Wie war es möglich gewesen, daß solche Papiere aus dem Stock in die Außenwelt hatten gelangen können? Wer war verantwortlich? Wer hatte im MIT Nachforschungen angestellt? Der Stock mußte so rasch wie möglich über den genauen Umfang dieser Katastrophe ins Bild gesetzt werden und Gegenmaßnahmen einleiten. Vor allem mußte dafür gesorgt werden, daß so etwas nie wieder vorkommen konnte. Er hoffte, daß es den Laboratorien gelingen würde, aus Tymiena einen Sexualstumpf zu machen. Sie hatte dem Stock geholfen und verdiente es, daß ihre Gene erhalten blieben. Aktennotiz von Joseph Merrivale: Ob Porter, Depeaux und Grinelli wirklich ums Leben gekommen sind, ist für die gegenwärtigen Überlegungen unwichtig. Obwohl wir davon ausgehen, daß sie tot sind, erfährt das Gesamtbild keine Veränderung, wenn sie nur gefangengehalten werden und später wieder auftauchen. Wir haben aus den Ereignissen gelernt, daß Hellstrøm bedenkenlos gegen uns vorgeht, wenn es ihm notwendig erscheint. In Anbetracht seiner häufigen Reisen nach Übersee, die angeblich mit seinen Dokumentarfilmen über Insekten in Verbindung stehen, erscheint eine erneuerte Anstrengung zur Bewertung seiner ausländischen Kontakte angezeigt. Die brutale Rücksichtslosigkeit seiner Aktionen trägt Züge, die uns nicht unvertraut sind. An der Heimatfront haben wir es mit einem wesentlich komplizierteren Problem zu tun. Da wir die Ziele, die zu unseren Nachforschungen Anlaß gaben, nicht nennen können, ist es noch nicht möglich, offen aufzutreten und die Hilfe der staatlichen Exekutive in Anspruch zu nehmen. Vorschläge für alternative Verfahrensweisen würden begrüßt. Diese Aktennotiz ist zu vernichten, nachdem sie die im Verteiler angegebenen Stellen durchlaufen hat. Angehefteter Kommentar von Dzule Peruge in gesondertem Kuvert: Nur für den Chef! Das ist Quatsch! Ich leite mehrere amtliche Untersuchungen ein. Ich möchte, daß diese Filmproduktion von allen Seiten unter die Lupe genommen wird. In | 123 |
Oregon werde ich als erstes bei allen in Frage kommenden Stellen Vermißtenanzeigen machen und Untersuchungen beantragen. Wir werden das FBI dringend um Unterstützung bitten. Ihre Vermittlung dabei wäre hilfreich. D. P. Janvert brachte das Thema der am Projekt beteiligten Kollegen erst zur Sprache, als sie im Flugzeug nach Portland saßen. Er hatte für Clovis und sich selbst Sitze im vorderen Teil der Passagierkabine gewählt, ein gutes Stück vor den anderen und auf der linken Seite. Das Fenster neben ihm bot guten Ausblick auf einen sensationellen Sonnenuntergang über der linken Tragfläche, aber er beachtete ihn nicht. Wie erwartet, waren er und Clovis angewiesen worden, sich als Halbwüchsige zu verkleiden, und Nick Myerlie, den beide für einen unfähigen Esel hielten, hatte als ihr Vater zu fungieren. Keiner von ihnen hatte jedoch damit gerechnet, daß Janvert bei diesem Unternehmen zur Nummer Zwei ernannt würde. Er und Clovis steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich im Flüsterton. »Das gefällt mir nicht«, sagte Janvert. »Peruge wird an die Decke springen und sich einen anderen aussuchen.« »Was würde ihm das nützen?« »Ich weiß es nicht, aber warte es nur ab. Spätestens morgen wirst du selbst sehen.« »Es könnte Anerkennung deiner echten Qualitäten sein.« »Blödsinn!« »Willst du nicht der zweite Mann nach Peruge sein?« »Nicht auf diesem Karussell.« Er preßte grimmig die Lippen zusammen. »Das ist ein ganz ungemütliches Ding.« »Du meinst, sie suchen einen Prügelknaben?« »Du nicht?« »Möglich wäre es schon. Wie kommst du mit Peruge zurecht?« »Nicht schlecht, wenn man bedenkt.« »Wenn man was bedenkt?« »Daß er mir nicht vertraut.« »Eddie!« | 124 |
Einer ihrer Kollegen ging vorbei, unterwegs zu den vorderen Toiletten. Er war ein Veteran aus dem Vietnamkrieg (er nannte es ›Nam‹), wo er als MG-Schütze in Hubschraubertüren gekauert hatte, und hieß Daniel Thomas Alden. Alle nannten ihn nur DT. Janvert blieb still, während DT an ihnen vorüber durch den Mittelgang schlenderte, beobachtete das harte, jugendliche Gesicht, die kantige, gebräunte Kinnlade. DT hatte eine weiße Narbe von der Form eines umgekehrten V auf dem Nasenrücken und stellte eine Fliegermütze mit durchsichtigem, grünem Schirm zur Schau, der seinem Gesicht eine dunkelgrüne Schattierung verlieh. Janvert hatte ihn in Verdacht, ein Spion für das Militär zu sein. Gerüchte wollten wissen, daß er mit Tymiena zusammenlebe, und Janvert fragte sich plötzlich, wie ihm jetzt zumute sein mochte. DT warf ihnen im Vorbeigehen einen Blick zu, ließ sich aber durch nichts anmerken, daß er sie erkannte. Als er fort war, sagte Janvert: »Glaubst du, daß DT Freude an dieser Arbeit hat?« »Warum?« »Eigentlich müßte er sie frustrierend finden. Dieser Zwang zur Zurückhaltung. Nicht so viele Gelegenheiten, Leute umzubringen, wie er sie im Krieg hatte.« »Manchmal bist du zu verbittert.« »Und du solltest überhaupt nicht in diesem Geschäft sein, Kindchen«, sagte Janvert. »Warum hast du dich nicht krank gemeldet oder was?« »Ich dachte, du würdest jemand brauchen, der dich verteidigt.« »So wie du es gestern abend getan hast?« Sie beachtete es nicht und sagte: »Hast du gehört, was über DT und Tymiena gesagt wird?« »Ja. Er tut mir beinahe leid.« »Du meinst, sie sei ...« »Ich will nicht daran denken, aber ja, das meine ich.« »Aber warum? Könnten sie nicht alle einfach ...« »In einem Fall wie diesem kann man es riechen. Sie waren die Sturmtrupps. Bei Sturmtrupps rechnet man mit Verlusten.« | 125 |
»Was sind dann wir?« »Nachdem Peruge dabei ist, weiß ich es nicht. Ich werde es dir sagen, wenn ich erfahre, wie er uns verwendet.« »Front oder Etappe, meinst du?« »Richtig.« »Gibt es bei diesem Flug denn kein Abendessen?« fragte sie. »Diese Stewardessen sind zu sehr damit beschäftigt, unsere ›Eltern‹ betrunken zu machen.« »Das gehört zu den Dingen, die mir an dieser Kinderrolle verhaßt sind«, wisperte sie. »Ich kann nicht mal einen Whisky verlangen.« »Mir ist der ganze Aufzug verhaßt«, sagte er. »Ich wette, wir kriegen vor Nebraska nichts zu essen.« »Dies ist anscheinend ein Billigflug«, sagte sie. »Sie werden uns Fischstäbchen und Bohnen vorsetzen. Fühlst du dich immer noch so niedergeschlagen?« »Vergiß, was ich gestern abend sagte. Ich fühlte mich wirklich so, als ob das Ende nahe wäre.« »Um die Wahrheit zu sagen, wir waren beide in dieser Stimmung. Wahrscheinlich liegt es an der Mondphase.« »Ich weiß noch immer keinen vernünftigen Grund, warum man mich bei diesem Fall zur Nummer Zwei ernannt hat. Fällt dir einer ein?« »Keiner, der einige Gewißheit für sich hätte.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Die anderen sind ziemlich alt.« »Das macht die Frage nur schwieriger – ich meine, warum sollten sie das Kommando einem jüngeren Agenten übergeben?« »Die Jugend muß auch ihre Chance haben«, flüsterte sie und beugte sich näher, um sein Ohrläppchen zu beknabbern. »Hör jetzt auf, Liebling. Der alte Ziegenbock hinter mir versucht zu lauschen.« Janvert war klug genug, um sich nicht gleich umzublicken, aber nach einer Weile richtete er sich auf und hielt in der vollbesetzten Passagierkabine Umschau. Die Beleuchtung war inzwischen eingeschaltet worden, und draußen war es dunkel, jedes Fenster ein schwarzer Fleck mit gelegentlichen Sternen. | 126 |
Der weißhaarige Alte hinter Clovis hatte die Leselampe eingeschaltet und las das TIME-Nachrichtenmagazin, wobei er an einem Whisky auf Eis nippte. Er blickte auf, als Janvert sich umwandte, kehrte aber sofort zu Magazin und Whisky zurück. Janvert konnte sich nicht erinnern, den alten Mann schon einmal gesehen zu haben, aber in diesem Geschäft konnte man nie wissen. Vielleicht hatte man ihn auf ihre Fährte gesetzt. Janvert ließ sich ärgerlich auf den Sitz zurückfallen, beugte sich zu Clovis hinüber. »Hör zu, wir müssen aus dieser Scheiße herauskommen. Es muß gehen. Irgendwo muß es ein Land geben, wo wir sicher sein können. Irgendeinen Ort, wo diese Scheißorganisation uns nicht erreichen kann.« »Auf der anderen Seite?« »Du weißt, wie das sein würde – die gleiche Scheiße, nur in einer fremden Sprache. Nein – wir brauchen ein hübsches kleines Land im Windschatten der Weltpolitik, wo wir uns niederlassen und mit der Bevölkerung verschmelzen können, ohne aufzufallen. Irgendwo auf diesem schmutzigen Planeten muß es doch so was geben.« »Du denkst an DT und Tymiena.« »Ich denke an dich und mich.« »Er horcht wieder«, wisperte sie. Janvert verschränkte die Arme und versank in mißmutiges Schweigen. Ein unangenehmer Flug, aber es blieb einem nichts übrig, als sich darein zu schicken. Später, als Nick Myerlie vorbeikam und sich mit der Frage »Alles in Ordnung, Kinder?« über sie beugte, knurrte Janvert wie ein Hund zurück. Stockinterne Aktennotiz: Projekt 40. Die Hitzeentwicklung bleibt ein ernstes Problem. Unser letztes Modell schmolz, bevor es voll einsatzfähig wurde. Sekundäre Resonanz war jedoch meßbar und stieg zu den erwarteten Werten an. Wenn die vorgeschlagenen neuen Kühltechniken erfolgreich sind, sollten die ersten unter normalen Bedingungen ablaufenden Versuche noch in diesem Monat möglich sein. Bei planmäßigem Verlauf werden die Versuche mit Sicherheit Erscheinungen verursachen, die in der Außenwelt bemerkt werden. Zumindest kann | 127 |
mit der Entstehung einer neuen Insel im Pazifischen Ozean einige hundert Seemeilen vor der japanischen Küste gerechnet werden. Peruge erreichte mit Mühe und Not den letzten Flug des Tages und mußte mit Touristenklasse vorliebnehmen, was seinem Verdruß über die vorausgegangene Besprechung mit Merrivale noch vermehrte. Der Chef hatte jedoch auf dieser Zusammenkunft bestanden, und Peruge war kein glaubwürdiger Vorwand eingefallen, um ihr zu entgehen. Nachdem er sich mit einem Anruf angekündigt hatte, war er zur Operationsabteilung hinübergefahren, und sie waren in Merrivales Büro zusammengetroffen. Auf die Glacéhandschuhe war von Anfang an verzichtet worden. Merrivale hatte mit unbewegter Miene aufgeblickt, als Peruge ins Büro marschiert kam, aber die Augen blickten ängstlich und trotzig zugleich, und Peruge dachte: Er weiß, daß er zum Sündenbock ernannt worden ist. Peruge setzte sich Merrivale gegenüber in einen der kitschigen Ledersessel und zeigte mit nachlässiger Handbewegung auf einen Aktenordner auf dem Schreibtisch. »Ich sehe, Sie haben sich die Berichte noch mal vorgenommen. Irgendwelche Löcher darin?« Merrivale dachte offenbar, dies bringe ihn ins Hintertreffen, denn sofort versuchte er die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. »Meine Berichte sind genau den Umständen angepaßt, für die sie gemacht wurden.« Dieses wichtigtuerische Arschloch! Peruge war sich bewußt, daß seine Gegenwart Merrivale verdrießlich stimmte. Das tat sie immer. Peruge war ein unangenehm großer Mann. Alle sagten, daß er unanständig massig sein würde, wenn er sich jemals erlaubte, fett zu werden. Aber er besaß eine etwas düstere Anmut, die ihre Wirkung auf Merrivale nie verfehlte. »Der Chef wollte, daß ich Sie frage, warum Sie diesen Zwerg Janvert zur Nummer Zwei gemacht haben«, sagte Peruge. »Weil er es längst verdient hat, eine verantwortliche Aufgabe zu übernehmen.« »Er ist nicht vertrauenswürdig.« | 128 |
»Unsinn!« »Warum warteten Sie nicht und ließen mich meinen zweiten Mann selbst bestimmen?« »Es hatte keinen Sinn, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Die Leute mußten instruiert und vorbereitet werden.« »Und so stürmten Sie voran in einen weiteren Fehler«, sagte Peruge. Seine Stimme vermittelte dem anderen ein Bewußtsein ruhigen, überlegenen Wissens. Schon die Erwähnung des Chefs war verräterisch gewesen. Merrivale fühlte seine Chancen, jemals einen höheren Status in der Organisation zu erreichen, auf Null sinken. Sein Gesicht begann dunkel anzulaufen. »Warum reisen Sie selbst nach Oregon?« »Die Umstände lassen es angezeigt erscheinen«, sagte Peruge. »Welche Umstände?« »Daß wir drei unserer besten Leute verloren haben.« Merrivale nickte. »Sie sagten, Sie hätten etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Was ist es?« »Verschiedenes. Zunächst ließ diese Aktennotiz, die Sie in Umlauf brachten, durchblicken, daß wir uns unserer nächsten Schritte in dieser Angelegenheit nicht sicher seien. Der Chef regte sich ziemlich darüber auf.« Merrivale erschrak sichtlich. »Wir – die Umstände ...« Peruge unterbrach ihn, als hätte er ihn nicht gehört. »Zweitens machen wir uns Sorgen wegen der Instruktionen, die Sie diesen drei Agenten gaben. Es erscheint uns merkwürdig, daß...« »Ich habe meine verdammten Befehle auf den Buchstaben genau ausgeführt!« sagte Merrivale und schlug zornig auf den Aktenordner. Die Geschichte seines Lebens, dachte Peruge. Er sagte: »Es gibt Gerüchte, daß Tymiena diesen Auftrag ... äh ... sehr ungern übernahm.« Merrivale rümpfte die Nase und brachte es fertig, unbeeindruckt auszusehen. »Sie haben immer Einwände, und dann reden sie hinter meinem Rücken darüber. Gerüchte haben | 129 |
nichts zu bedeuten.« »Ich habe genug Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, daß Tymiena möglicherweise mit Recht die Behandlung der Angelegenheit kritisierte. Machte sie Ihnen gegenüber bestimmte Einwendungen?« »Wir sprachen darüber, ja. Sie dachte, wir sollten offen nach Porter suchen und amtliche Stellen einschalten.« »Warum?« »Es war bloß ein Gefühl, das sie hatte, nichts weiter.« Aus seinem Mund hörte sich ›Gefühl‹ wie eine typisch weibliche Schwäche an. »Bloß ein Gefühl, nichts Spezifisches?« »Mehr war nicht daran.« »Dieses Gefühl scheint zutreffend gewesen zu sein. Sie hätten auf Tymiena hören sollen.« »Sie hatte immer diese verrückten Gefühle«, wendete Merrivale mürrisch ein. »Sie mochte zum Beispiel nicht mit Carlos zusammenarbeiten.« »Also hatte sie doch spezifische Einwände. Warum lehnte sie Carlos ab?« »Ich kann es nur vermuten, aber ich glaube, er verfolgte sie in der Vergangenheit immer wieder mit Anträgen. Jedenfalls war es eine Art von Ausflucht, die ich nicht gelten lassen konnte. Die Leute kennen die Arbeit, die sie zu tun haben, und was sie zur Folge haben mag.« Peruge starrte ihn schweigend an. Merrivales Gesicht war ein offenes Buch, und jeder, der Augen hatte, konnte die Gedanken lesen, die darin geschrieben standen: Sie machen mich für diese Verluste verantwortlich. Warum geben Sie mir die Schuld? Ich tat nur, was Sie mir sagten. Ehe Merrivale diese Gedanken aussprechen konnte, sagte Peruge: »Es gibt Druck von oben, und wir werden uns einige Erklärungen einfallen lassen müssen. Ihre Rolle in dieser Sache wird man besonders unter die Lupe nehmen.« Merrivale sah jetzt klar. Es verhielt sich genauso, wie er vermutet hatte: Druck von oben, und jemand wurde als Opferziege hergerichtet. Die Opferziege hieß Joseph Merrivale. | 130 |
Die Tatsache, daß er sich selbst bei vielen Anlässen mit der gleichen Methode geschützt hatte, vermochte den Schmerz darüber nicht zu lindern, daß er sich heute selbst als Ziel sah. »Das ist nicht fair«, sagte er mit heiserer Stimme. »Es ist einfach nicht fair.« »Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen, an was Sie sich von Ihrem letzten Gespräch mit Tymiena erinnern«, sagte Peruge. »Alles.« Es kostete Merrivale einen Augenblick, die Fassung wiederzugewinnen. »Alles?« »Alles.« »Wie Sie wollen.« Merrivale hatte einen gut organisierten Verstand, der die meisten Gespräche aus dem Gedächtnis reproduzieren konnte. Diesmal behinderte ihn jedoch die Notwendigkeit, jedes Detail aus Gründen des Selbstschutzes zu zensieren. Ohne es zu merken, vergaß er dabei seinen unechten britischen Akzent. Peruge fand dies erheiternd. Als Merrivale geendet hatte, sagte Peruge: »Also ging sie Carlos suchen.« »Ja. Ich glaube, Carlos war im Archiv.« Merrivale wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Zu dumm, daß wir sie nicht hier haben und selbst fragen können«, sagte Peruge. »Ich habe Ihnen alles gesagt!« protestierte Merrivale. »Oh, ich glaube Ihnen«, sagte Peruge. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber – da muß noch was gewesen sein. Sie hatte die Meldungen gelesen und ...« Er zuckte die Achseln. »Es kommt vor, daß Agenten in Ausübung ihrer Pflicht ums Leben kommen«, meinte Merrivale. »Gewiß, selbstverständlich«, sagte Peruge. »Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches.« Merrivale runzelte die Stirn. Offenbar dachte er, daß Peruge ihm einen Strick daraus drehen wolle. »Und Carlos hatte keine ähnlichen Einwände?« fragte Peruge. »Mir ist nichts zu Ohren gekommen.« Peruge schürzte die Lippen, tief in Gedanken versunken. Ein verdammenswertes Geschäft! Also hatte er den vorsich| 131 |
tigen und pedantischen Depeaux schließlich doch erwischt. Seine legendäre Umsicht hatte ihn im Stich gelassen. Es sei denn, er wäre irgendwie durchgekommen und lebte noch. Peruge konnte dieser Möglichkeit nicht viel Gewicht beimessen. Der erste Bauer war vom Schachbrett genommen worden, dann der zweite und der dritte. Jetzt war es Zeit, daß mächtigere Figuren ins Spiel kamen. »Stritten Carlos und Tymiena wegen dieses Auftrags?« »Vielleicht.« »Was soll das heißen?« »Sie hackten ständig aufeinander herum. Mit der Zeit fiel es keinem mehr auf.« »Und wir haben sie nicht hier, um sie zu fragen«, sagte Peruge sinnend. »Es ist überflüssig, sich daran zu erinnern.« »Wissen Sie noch, was Carlos sagte, als Sie ihn zuletzt sahen?« »Gewiß; er sagte mir, er werde innerhalb von achtundvierzig Stunden nach seinem Eintreffen auf dem Schauplatz des Geschehens Meldung machen.« »Erst nach so langer Zeit? Hatten Sie einen Sender?« »Es war einer in dem Wohnmobil, das sie in Portland bekamen.« »Und seitdem fehlt jede Nachricht von ihnen?« »Sie riefen über Funk, um die Ausrüstung zu prüfen. Zu dem Zeitpunkt waren sie in Klamath Falls. Der Ruf wurde von Portland aufgefangen und übertragen.« »Achtundvierzig Stunden!« stieß Peruge hervor. »Warum?« »Er wollte Zeit, um sich an Ort und Stelle einzurichten, die Gegend auszukundschaften, einen geeigneten Beobachtungsplatz zu finden ...« »Ja, aber ...« »Das war keine unverhältnismäßig lange Verzögerung.« »Aber Carlos war immer so vorsichtig.« »Das spricht für Vorsicht, finde ich«, sagte Merrivale. »Warum gaben Sie ihm nicht Anweisung, in kürzeren Abständen anzurufen?« »Es schien nicht angezeigt.« | 132 |
Peruge schüttelte bedächtig den Kopf. Es war ein Trauerspiel. Ein Haufen von Amateuren hätte nicht so viele Liederlichkeiten und Versäumnisse zurückgelassen. Aber Merrivale war nicht bereit, Fehler zuzugeben. Und er hatte diese ausdrücklichen Befehle, auf die er sich zurückziehen konnte. Eine peinliche Sache, aber er mußte auf ein Nebengleis abgeschoben werden, bis die Axt fallen konnte. Merrivale war eine jämmerlich unfähige Figur. Es gab keine Entschuldigung für ihn. Er war genau der Mann, den sie jetzt brauchten; jemand, auf den sie zeigen konnten, wenn die wirklich peinlichen Fragen gestellt wurden. Mit zorniger Schroffheit stieß Peruge sich aus dem Sessel hoch, stand vor dem Schreibtisch und blickte finster auf Merrivale hinab, der gründlich eingeschüchtert schien. »Sie sind ein Dummkopf, Merrivale«, sagte Peruge mit kalter, harter Stimme. »Sie sind immer einer gewesen und werden immer einer sein. DT hat uns einen ausführlichen Bericht über Tymienas Einwände gegeben. Sie wollte eine Gruppe zur Unterstützung. Sie wollte häufige Radiokontakte. Sie sagten ihr ausdrücklich, sie solle die Relaisstation Portland nicht behelligen, es sei denn, in besonders wichtigen Fällen. Sie sagten ihr, sie solle Carlos’ Befehle entgegennehmen und nicht in Frage stellen. Sie befahlen ihr, keine offiziellen Nachforschungen über Porters Verbleib einzuleiten. Unter keinen Umständen sollte sie ihre Tarnung aufgeben. Das waren Ihre Instruktionen ...« – Peruge zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Aktenordner vor Merrivale – »und Sie hatten das gelesen!« Merrivale saß erstarrt, völlig überrumpelt von Peruges zornigem Ausbruch. Einen schrecklichen Augenblick lang schien er im Begriff zu weinen. Unvergossene Tränen glänzten in seinen Augen. Doch das Erschrecken vor dieser Möglichkeit brachte ihn rasch wieder zur Besinnung, und es gelang ihm, mit beinahe intaktem Akzent zu erwidern: »Ich muß schon sagen! Sie lassen keinen Zweifel an Ihrer Meinung!« Später, in einer Telefonzelle am Flughafen, sagte Peruge: »Ich denke, wir sollten ihm dankbar sein. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr über die Situation, mit der wir zu tun haben.« | 133 |
»Wie meinen Sie das?« fragte der Chef mit heiserverdrießlicher Stimme. »Ich meine, wir schickten unsere Leute hin, ohne Hellstrøms Position zu kennen. Jetzt kennen wir sie. Er ist bereit, um hohe Einsätze zu spielen.« »Als ob wir es nicht wären.« »Nun, jedenfalls habe ich die Sache mit Merrivale geregelt. Ich habe ihn angewiesen, sich für eine Versetzung bereitzuhalten.« »Wird er keine Dummheiten machen?« »Hat er nicht schon genug Dummheiten gemacht?« »Sie wissen, was ich meine, verdammt noch mal!« »Ich denke, er wird seine Befehle auf den Buchstaben genau ausführen«, sagte Peruge. »Aber Sie brachten ihn aus der Fassung.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Zweifellos.« Das war eine unerwartete Wendung, und Peruge zögerte, während er gedankenvoll den Zerhacker anstarrte, welchen er auf den Telefonhörer gesteckt hatte. »Er hat mich angerufen«, sagte der Chef. »Er beklagte sich bitterlich über Sie. Dann sagte er, er werde unsere schriftlichen Anweisungen für ihn an einem sicheren Ort aufbewahren. Er machte mich ferner darauf aufmerksam, daß er Janvert die Sondernummer und die Kodebuchstaben des Nachrichtenkorps gegeben habe, wie unsere Anweisungen für Agenten mit Führungsaufgaben es vorsehen. Er zitierte mir sogar den entsprechenden Abschnitt aus irgendeiner Anordnung, die wir ihm vor Jahren gaben.« Nach langem Stillschweigen sagte Peruge: »Wir könnten gezwungen sein, härtere Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen.« »Ja, da ist immer noch eine Möglichkeit«, sagte der Chef. Aus Hellstrøms Leitfaden: Anders als der Mensch, dessen physische Begrenzungen ihm mit der Geburt zudiktiert werden, hat das Insekt die Fähigkeit, seinen Körper im weiteren Verlauf des Lebens tatsächlich zu verbessern. Sobald es die Grenzen seiner Fähigkeit erreicht, verwandelt es sich auf wunder| 134 |
bare Weise in ein völlig neues Wesen. In dieser Metamorphose sehe ich das grundlegende Modell für mein Verständnis des Stocks. Für mich ist der Stock ein Kokon, aus dem der neue Mensch hervorgehen wird. Hellstrøm saß in seiner Zelle und dachte nach. Er war sich der an die Wände gehefteten Karten und Diagramme, der beruhigenden grünen Bereitschaftsleuchten auf der Übertragerkonsole bewußt, aber er nahm diese Dinge kaum wahr. Jetzt werden sie mit größerem Kaliber kommen, dachte er. Bisher hatten sie nur sondiert. Jetzt werden die echten Experten kommen, und von ihnen werden wir vielleicht genug lernen, um uns zu retten. Er hatte eine lange Nacht und einen noch längeren Tag hinter sich. Zwischendurch war es ihm gelungen, sich zwei Stunden Schlaf zu stehlen, aber der Stock war gespannt und unruhig im Bewußtsein der Krise. Die biochemischen Reaktionen und Körper sagten den Arbeitern, was geschah, selbst wenn niemand sonst sie unterrichtete. Als er vor etwas mehr als zwei Stunden in seinen Raum zurückgekehrt war, war Hellstrøm so müde gewesen, daß er seine Außenseiterjacke auf einen Stuhl gelegt und sich in den Kleidern aufs Bett geworfen hatte. Etwas Schweres in einer Tasche der Jacke hatte sie auf den Boden hinabgezogen, wo sie einen unordentlichen Haufen bildete. Er überlegte schläfrig, was dieses Schwere gewesen sein könne, das die Jackentasche sichtbar ausbeulte, und plötzlich fiel ihm die Außenseiterpistole ein, die er eingesteckt hatte, bevor er seine Zelle verlassen hatte. Wann war das gewesen? Es schien eine Ewigkeit her zu sein, und er hatte inzwischen das Gefühl, sich in einem anderen Universum zu befinden. Alles hatte sich verändert. Mächtige Kräfte der Außenwelt hatten ein Interesse an etwas entwickelt, was sie mit Sicherheit zum Stock führen mußte. Projekt 40. Die Hintergründe und Ursachen, die zu dem Leck geführt hatten, schienen bei oberflächlicher Betrachtung so harmlos und unschuldig, daß Hellstrøm beim bloßen Gedanken erschauerte. Einer der Kameraleute, Jerry mit Namen, hatte im | 135 |
Zusammenhang mit einem Filmprojekt eine Szenenfolge im MIT gedreht und Anweisung gehabt, bei dieser Gelegenheit ein besonderes Forschungsvorhaben in der Bibliothek auszuführen. Er erinnerte sich, daß die Papiere ›nicht länger als eine halbe Stunde‹ auf einem Tisch liegengeblieben waren. Als er das Versäumnis bemerkt hatte und zurückgekehrt war, hatten sie am gleichen Platz gelegen, und er hatte sie erleichtert an sich genommen, ohne weiter über den Vorfall nachzudenken. Wie harmlos! Aber diese halbe Stunde hatte den Außenseitern genügt! Es war beinahe so, als ob sie von einem übelwollenden Schutzgeist besessen wären, der ständig auf der Lauer lag, um solche kleine Versehen zu seinem Vorteil zu nutzen. Jerry war zerknirscht. Er war überzeugt, daß er seinen geliebten Stock verraten habe. Und das hatte er getan. Aber irgendwann hatte es wohl geschehen müssen. Das eigentliche Wunder bestand darin, daß sie so lange unentdeckt geblieben waren. Wie konnten sie erwarten, daß es immer so bleiben werde? Der Friede der Anonymität hatte seinen eigenen Lebenszyklus, wie es schien. Friede um jeden Preis führte niemals zu dem erhofften Ergebnis; immer gab es einen höheren Preis zu zahlen. Aufgestört von nervösen und gereizten Gefühlen – die sein Körper als identifizierbare Duftspur zurücklassen würde, wohin er auch ginge –, sprang er plötzlich auf und machte sich auf den Weg, um den Entwicklungsstand des Projekts 40 zu prüfen. Die Arbeit dort unten mußte beschleunigt werden. Es ging um Leben und Tod! Verschlüsselte Aktennotiz von D. Peruge: Einstweilen werde ich an Janverts Auftrag nichts ändern. Wir müssen das heikle Problem eines Ersatzes für Merrivale in Betracht ziehen. Gewisse Aspekte von Janverts Anwerbung für die Organisation erscheinen mir in diesem Zusammenhang brauchbar. Unser Einfluß auf ihn könnte ausgebaut und sehr gefestigt werden. Im übrigen scheint sich unsere Beobachtung zu bestätigen, daß zwischen Janvert und Clovis Carr eine starke Zuneigung entstanden ist. Auch dies könnte sich zu unserem Vorteil nutzen | 136 |
lassen. Um ganz sicher zu gehen, habe ich D. T. Alden beauftragt, die beiden besonders im Auge zu behalten. Eine Kopie seines Berichts wird Ihnen zugeleitet werden. Peruge warf seinen Koffer auf das Bett des Motelzimmers am Ortsrand von Fosterville. An weiteren Gepäckstücken hatte er sich nur einen kleinen Beutel und eine Kameratasche mit seiner Kommunikationsausrüstung genehmigt. Auch der Koffer war klein und ging überall als Handgepäck durch. Das war die Art, wie zu reisen er bevorzugte: Koffer in der Ablage für Handgepäck, Kameratasche unter dem Flugzeugsitz, kein Anstehen vor Gepäckschaltern, kein unnötiger Aufenthalt an öffentlichen Orten, unauffällig hinein und unauffällig heraus. Trotz seiner bemerkenswerten Körperlänge pflegte er keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Vor langer Zeit hatte er sich ein irgendwo zwischen Schüchternheit und Gleichgültigkeit angesiedeltes Auftreten angewöhnt, das ihn in der Öffentlichkeit zuverlässig vor ungewollter Anteilnahme schützte. Auf Reisen legte er dieses Verhalten wie ein Kleidungsstück an. Es hatte den ganzen Morgen gekostet, die Eingreifreserven einzuweisen und in die richtigen Positionen in den Bergen nördlich der Ortschaft zu bringen, wo sie Sichtverbindung sowohl mit seinem Motelzimmer als auch mit der Farm hatten. Er war hungrig auf sein kräftiges Mittagessen, aber vorher gab es noch zu tun. Er sah sich im Zimmer um. Es war im nachgemachten Rustikalstil des Westens möbliert: viel dunkles, massives Holz mit Brandzeichenimitationen und derben Bezugstoffen für alle Polster. Auch der offene Kamin war Imitation, ohne Abzug und mit elektrisch illuminierten Buchenscheiten aus Plastik. Es roch nach bescheidenen Tagesspesen. Er seufzte, ließ sich in einen rustikalen Sessel fallen, der unter seinen zwei Zentnern ächzte. Eine große Hand zog das Telefon heran und wählte das Motelbüro. Ja, sie wußten die Nummer des örtlichen Hilfssheriffs. Ob es Schwierigkeiten gebe? Peruge erklärte, er sei von seiner Firma gebeten worden, eine Vermißtenanzeige aufzugeben. Bloß eine Routineangele| 137 |
genheit. Darauf mußte er sich eine ausführliche Erläuterung anhören, daß das hiesige Büro nur einen Hilfssheriff habe, der ein Einheimischer sei, aber ein tüchtiger Mann in seinem Fach, wohlgemerkt. Der Sheriff habe seinen Amtssitz in der Distriktshauptstadt. Nachdem er alle forschenden, neugierigen Fragen mit einsilbigen Grunzlauten beantwortet hatte, bekam Peruge bald die gewünschte Nummer, und das Motelbüro stellte die Verbindung für ihn her. Zwei Minuten später diskutierte er ein Problem mit Hilfssheriff Lincoln Kraft, einem Mann mit einer unmodulierten Stimme, die so gut wie keine Persönlichkeit zu erkennen gab. »Wir sind ziemlich sicher, daß sie verschollen sind«, beharrte Peruge. »Carlos sollte am Montag wieder mit der Arbeit anfangen, und heute ist Freitag. Das sieht ihm nicht ähnlich. Er ist ein sehr pünktlicher Mann.« »Und die Frau auch, wie?« Kraft sagte es so, daß es wie eine Anklage herauskam. »Es kommt zuweilen vor, daß Männer ihre Frauen mitnehmen, wenn sie eine Ferienreise machen«, sagte Peruge. Er fragte sich, ob der örtliche Gesetzeshüter die Bemerkung als zu schnippisch empfinden werde. Aber Kraft schien der Sarkasmus zu entgehen. Er sagte: »Ja, mag sein, daß sie das tun. Aber es kommt mir irgendwie komisch vor, daß Ihre Firma Sie hier herausschicken sollte, um nach diesen Leuten zu suchen.« »Carlos hat die Westküstentour, die eine unserer wichtigsten ist«, erklärte Peruge. »Wir können es uns nicht leisten, die Kunden in diesem Gebiet zu vernachlässigen. Wenn wir da eine Lücke ließen, würde die Konkurrenz sofort hineinstoßen, wissen Sie.« »Da haben Sie wohl recht. In welcher Branche sind Sie noch gleich?« »Ich bin Vizepräsident der Blue Devil Feuerwerkskörper AG in Baltimore. Wir gehören zu den größten der Branche. Carlos Depeaux war einer unserer besten Vertreter.« »War?« fragte Kraft. »Gibt es Gründe, von denen Sie mir nichts gesagt haben und die Sie glauben machen, er sei in größeren Schwierigkeiten?« | 138 |
»Nichts Besonderes«, log Peruge. »Es ist einfach nicht seine Art, ohne Nachricht auszubleiben, wenn er in der Firma erwartet wird.« »Ich verstehe. Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung dafür, aber ich werde sehen, was ich tun kann. Was bringt Sie auf den Gedanken, er sei in dieser Gegend verschwunden?« »Ich erhielt einen Brief von ihm. Darin wird ein Tal in der Nähe von Fosterville erwähnt, wo er Sandwachteln beobachten wollte.« »Was?« »Sandwachteln. Das ist ein Vogel, der in Trockengebieten lebt.« »Ist der Mann Jäger? Er könnte einen Jagdunfall gehabt haben und nicht imstande gewesen sein ...« »Er ging nicht auf die Jagd. Er beobachtete und studierte die Vögel. Ein Amateurornithologe, könnte man sagen.« »Ach, einer von denen.« Krafts Tonfall schien anzudeuten, daß es etwas Verrufenes sei, das vielleicht auf abartiges Sexualverhalten des Mannes schließen ließ. »Wie heißt dieses Tal?« »Bewachtes Tal. Wissen Sie, wo es ist?« Darauf blieb es am anderen Ende der Leitung so lange still, daß Peruge ungeduldig wurde. »Sind Sie noch da, Mr. Kraft?« fragte er. »Ja, ich bin noch da.« »Kennen Sie dieses Tal?« »Ja. Das ist Hellstrøms Besitz.« »Wessen Besitz?« Peruge gefiel das feine Aroma von Mißverstehen, das er dieser Frage mitzuteilen verstand. »Das ist Doc Hellstrøms Besitz. Ihm gehört dieses Tal. Seit vielen Jahren im Besitz seiner Familie.« »Ich sehe. Nun, vielleicht macht es diesem medizinischen Herrn nichts aus, wenn wir in seiner Nachbarschaft Erkundigungen einziehen.« »Er ist kein Krankenhausarzt oder dergleichen«, sagte Kraft. »Er ist ein Wanzendoktor. Ich meine, er studiert Insekten. Macht Filme über sie, solche Sachen.« »Nun, das sollte keinen Unterschied machen«, sagte Peruge. | 139 |
»Werden Sie sich um die Nachforschungen kümmern, Mr. Kraft?« »Da müssen Sie schon in mein Büro kommen und einen Antrag stellen«, sagte Kraft. »Eine Vermißtenanzeige. Vielleicht finde ich irgendwo ein Formular. Wir haben hier keine Fälle von vermißten Personen gehabt, seit der Angelus-Junge sich in den Steensbergen verlief. Das war natürlich nicht das gleiche wie Ihr Problem. Dafür brauchten wir keine Vermißtenanzeige.« Peruge erwog diese Antwort und begann sich über den Hilfssheriff Gedanken zu machen. Die Unterlagen der Organisation zeigten, daß im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre eine beträchtliche Anzahl Menschen in der Gegend von Fosterville als vermißt gemeldet worden war. In jedem einzelnen Fall gab es mehr oder weniger einleuchtende Gründe für das Verschwinden des oder der Betreffenden, aber trotzdem ... Er glaubte in Krafts emotionsloser Stimme einen nervösen Unterton wahrzunehmen. Vielleicht wäre es angezeigt, ein wenig zu angeln. Er sagte: »Ich hoffe, bei diesem Doktor ist es nicht gefährlich. Er hat da keine giftigen Insekten, oder?« »Er könnte ein paar Skorpione haben«, sagte Kraft, dessen Stimme plötzlich an Lebhaftigkeit gewann. »Manchmal können sie mächtig unangenehm werden. Haben Sie Bilder von diesen vermißten Personen?« »Ich habe die Fotografie von Carlos Depeaux und seiner Frau, die er auf seinem Schreibtisch stehen hatte«, sagte Peruge. »Sehr schön. Bringen Sie die mit. Sagten Sie, die beiden wären in einem Wohnmobil unterwegs gewesen?« »Ja, sie hatten eins von diesen großen Dingern auf einem Lastwagenchassis, einem Dodge, glaube ich. Carlos war sehr stolz darauf.« »Sieht nicht danach aus, daß ein solches Ding einfach verschwinden könnte«, sagte Kraft. Peruge pflichtete ihm bei und fragte, wie er das Büro des Hilfssheriffs finden könne. »Haben Sie einen Wagen?« fragte Kraft. »Ich mietete einen in Klamath Falls.« »Dieser Carlos Soundso muß Ihrer Firma ziemlich wichtig | 140 |
sein.« »Das sagte ich Ihnen schon«, sagte Peruge mit einem genau dosierten Anflug von Gereiztheit. Kraft schien nichts davon zu bemerken. »Und man läßt Sie die ganze Strecke von Baltimore bis hierher fliegen, nur um Nachforschungen anzustellen?« Peruge nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn an. Was war mit diesem Landpolizisten los?! Er legte den Hörer wieder ans Ohr und sagte: »Wie ich sagte, bereiste Carlos Depeaux die gesamte Westküste für uns. Es ist wichtig, daß wir so bald wie möglich Näheres über seinen Verbleib erfahren. Wenn ihm etwas zugestoßen ist, müssen wir ihn unverzüglich ersetzen. Die Weihnachtssaison steht vor der Tür. Ich habe bereits mit der Straßenpatrouille in Salem gesprochen. Man sagte mir, ich solle mich an die hiesige Behörde wenden.« »Ich dachte, Sie sagten, Sie hätten einen Wagen in Klamath Falls gemietet«, sagte Kraft. »Bis dahin bin ich mit einer Chartermaschine geflogen«, sagte Peruge und wartete mit wachsendem Interesse auf Krafts Antwort. »Chartermaschine? Junge, Junge. Da hätten Sie bis hierher fliegen und auf unserer kleinen Graspiste landen können, wenn Sie gewollt hätten. Warum haben Sie das nicht getan?« Wir angeln also beide, dachte Peruge. Gut. Er überlegte, wie Kraft reagieren würde, wenn die Erklärung einen Bericht darüber enthalten hätte, wie Peruge das Rendezvous in Portland verpaßt hatte und gezwungen gewesen war, seine Leute in Klamath Falls zu treffen. »Diese kleinen Landepisten ohne Funkfeuer und anderen Einrichtungen sind mir unsympathisch«, sagte Peruge. »Bei schlechtem Wetter kann das sehr gefährlich werden.« »Das kann ich verstehen, aber unser Flugplatz ist wirklich ganz ordentlich. Waren Sie auch schon bei der Staatspolizei in Salem?« Krafts Tonfall war forschend und wachsam. Gute Verhörtechnik, dachte Peruge. Dieser Dorfpolizist war kein Simpel. »Ja, ich war dort. Carlos hatte seinen Wagen für diese | 141 |
Urlaubsreise mit der Bahn nach Portland schaffen lassen und begann die Reise von dort aus. Die Staatspolizei zieht entlang der vermuteten Fahrtroute Erkundigungen ein. Sie hat Kopien der Fotografie.« »Ich sehe. Feuerwerkskörper müssen ein großes Geschäft sein«, sagte Kraft. »Ihr Leute gebt eine Menge Geld aus – Charterflugzeuge und alles.« »Wir kümmern uns um unsere Leute und lassen uns das im Notfall auch was kosten, Mr. Kraft. Ich hoffe, Sie werden so bald wie möglich mit Ihren Nachforschungen beginnen. Nun, wie komme ich zu Ihrem Büro?« »Sie sind draußen im Motel, wie?« »Ja.« Kraft sagte ihm, er solle bei der Ausfahrt vom Motelparkplatz nach rechts abbiegen, »als ob Sie nach Lakeview wollten«, und die Bezirksstraße 14 nehmen. »Dort biegen Sie beim neuen Einkaufszentrum nach links ab. Sie können es von der Straße aus sehen. Ich habe ein kleines Büro im zweiten Stock. Jeder weiß, wo es ist.« »Bin gleich bei Ihnen«, sagte Peruge. »Augenblick noch, Mr. Peruge«, sagte Kraft. »Haben Sie vielleicht irgendwelche Raketen oder Kanonenschläge bei sich, solche Sachen?« »Natürlich nicht!« Es gelang Peruge, einen angemessen schockierten Ton zu finden, während er registrierte, daß Kraft seinen Namen richtig notiert hatte und offensichtlich in der offiziellen Offensive war. Dachten Sie, er wisse nichts über die Gesetze des Staates Oregon über Feuerwerkskörper? Er sagte: »Wir verkaufen nur durch gesetzlich sanktionierte Kanäle, Mr. Kraft. Unsere Vertreter arbeiten mit Fotografien und Bestellisten. Wenn wir Gesetze verletzten, würden wir nicht sehr lange im Geschäft bleiben. Aber ich finde Ihre Frage recht interessant.« »Ich will mich bloß vergewissern, ob Sie unser Gesetz kennen«, erklärte Kraft. »Wir haben es nicht gern, wenn Leute zu uns kommen und sagen, einer von uns Einheimischen hier habe vielleicht einem Feriengast Schaden zugefügt. Da müssen Sie mächtig vorsichtig ...« | 142 |
»Ich habe das nicht einmal durchblicken lassen«, unterbrach Peruge. »Immerhin finde ich es sehr interessant, daß Sie es andeuten, Mr. Kraft. Sie können mich in ein paar Minuten in Ihrem Büro erwarten.« Stille, dann: »Okay. Vergessen Sie dieses Foto nicht.« »Keine Sorge.« Nachdem er aufgelegt hatte, blieb Peruge eine Weile sitzen und starrte das Telefon an. Dann machte er einen Anruf in Salem und sagte der Staatspolizei, er habe telefonisch mit Hilfssheriff Lincoln Kraft gesprochen, und fragte, ob die Straßenpatrouille etwas zu melden habe. Man hatte nichts. Als nächstes rief er die Vermittlung in Baltimore und bat um eine Verbindung mit dem FBI. Dies war das vereinbarte Kodesignal, daß er den örtlichen Behörden mißtraute und daß sein Büro das Hilfsersuchen an das FBI hinausgehen lassen solle. Darauf drückte er den Kronenaufzug seines Armbanduhrsenders ein und spürte das feine Vibrieren auf seiner Haut, welches ihm sagte, daß die Gruppen auf den Lagerplätzen in den Steensbergen auf dem Posten waren und sein Signal überwachten. Alles war in Ordnung. Er konnte anfangen, Hellstrøm in seiner Höhle am Bart zu zupfen. Aus Hellstrøms Leitfaden: Der lebende Prototyp des Computers wurde von der Natur entwickelt, lange bevor die Primatenfamilie das Gehirntier Mensch hervorbrachte. Dieser Prototyp ist nicht mehr und nicht weniger als der Termitenhügel, eines der ersten Experimente in sozialer Ordnung. Er ist eine lebende Mahnung, daß unter den Lebensformen, die diesen Planeten mit dem Menschen teilen, nicht alles so sein muß, wie er es sich wünschen würde. Wir alle wissen natürlich, daß das Insekt, verglichen mit dem Menschen, nichts von dem zeigt, was wir Intelligenz nennen könnten. Aber warum sollten wir deswegen Stolz empfinden? Wo es keine Intelligenz gibt, mag es auch keine Dummheit geben. Und der Termitenhügel steht da als eine lebende Anklage, ein Finger, der auf unseren Stolz weist. Ein Computer ist ein mit Hunderttausenden winziger Informationseinheiten programmierter Mechanismus. Er arbeitet, indem er die Informationseinheiten nach logischen | 143 |
Grundmustern ordnet, sichtet und in immer neuen Kombinationen zusammenstellt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Ist eine reibungslos funktionierende Gesellschaft nicht auch eine Form der Logik? Ich behaupte, daß die Bewohner eines solchen Termitenhügels, wie sie sich durch ihre verborgenen Gänge bewegen, hunderttausend winzige Informationseinheiten, jede ein Teil des Ganzen, sich in seiner Form unbestreitbarer Logik organisiert haben. Ihr Kraftquell ist eine Brutmutter, eine Königin. Sie stellt eine große, pulsierende Masse von Energie dar, die alles ringsum mit ihren unersättlichen Bedürfnissen motiviert. Ganz ähnlich beruht die Kraft unseres Stocks auf seinen Brutkammern. Im pulsierenden Körper der Königin liegt die Zukunft des Termitenhügels. In unseren Brutkammern liegt unsere Zukunft und die Zukunft der Menschheit. Sowie Peruge die Verbindung unterbrochen hatte, rief Kraft die Farm an. Innerhalb einer Minute hatte er Hellstrøm an der Leitung. »Nils, im Motel ist ein Bursche namens Peruge abgestiegen. Sagt, er sei von der Blue Devil Feuerwerksköper AG, und sucht einen Vertreter und seine Frau, die vermißt werden. In deiner Gegend vermißt. Sagt, er hätte einen Brief von dem Vertreter, worin das Bewachte Tal erwähnt wird. Sollten wir was darüber wissen?« »Ich sagte dir, daß dies zu erwarten sei«, sagte Hellstrøm. »Ich weiß, aber dieser Kerl scheint ziemlich scharf zu sein. Er hat schon mit der Staatspolizei gesprochen, und ich wäre kein bißchen überrascht, wenn er auch noch das FBI mit hineinziehen würde.« »Glaubst du nicht, daß du mit ihm fertigwerden kannst?« »Vielleicht habe ich ihn mißtrauisch gemacht.« »Wie?« »Ich versuchte immer wieder ein Eingeständnis aus ihm herauszukitzeln, daß dies kein gewöhnlicher Vermißtenfall ist. Er ist jetzt unterwegs hierher. Sagt, er hätte ein Foto von den Vermißten. Die Staatspolizei soll auch eine Kopie davon haben. Das FBI wird bestimmt eine dritte kriegen. Jemand muß dieses | 144 |
Paar gesehen haben, und sie werden feststellen, daß es zuletzt hier gewesen ist.« »Auf der Farm werden sie nichts finden«, sagte Hellstrøm. Seine Stimme klang bedrückt und müde, und Kraft verspürte den ersten Stich einer tieferen Besorgnis. »Hoffentlich hast du recht. Was soll ich tun?« »Tun? – Zeige dich in jeder Weise kooperationsbereit. Nimm das Foto entgegen. Komm hierher, um Erkundigungen einzuholen.« »Nils, die Sache gefällt mir nicht. Ich hoffe, du bist ...« »Ich versuche die Reibungsfläche unseres Konflikts so klein wie möglich zu halten, Linc. Das ist meine unmittelbarste Sorge.« »Ja, aber wie, wenn er mitkommen will?« »Ich hoffe, er tut es.« »Aber ...« »Bring ihn mit!« »Nils – wenn ich ihn mitnehme, hoffe ich, daß er auch mit mir wieder zurückfahren wird.« »Dafür werden wir Sorge tragen, Linc.« »Nils – ich mache mir wirklich Sorgen. Wenn er ...« »Ich werde mich selbst um ihn kümmern, Linc. Wenn du kommst, wird hier alles normal und alltäglich aussehen.« »Das kann ich nur hoffen.« »Wie ist er nach Fosterville gekommen, Linc?« »Mietwagen.« »Ist er allein?« »Glaube ich nicht. Oben in den Steensbergen haben sich mehrere neue Gruppen mit Zelten niedergelassen.« »Wir bemerkten die Aktivität. Ein Mietwagen, wie?« »Hör mal, Nils, dieser Mann sollte besser keinen Autounfall haben. Ich habe ein komisches Gefühl bei dem. Er ist gefährlich.« »Daran zweifle ich keinen Augenblick«, sagte Hellstrøm. »Sie machen jetzt Ernst.« Aus dem Zuchtbuch des Stocks: Diese neue Gruppe muß mit größter Aufmerksamkeit beobachtet werden. Das betrifft | 145 |
die gesamte Aktinomycin-Nukleotidkomplex-Y-(FANCY)-Serie. Obwohl sie uns in mehreren vom Stock dringend benötigten Spezialisierungen ein großes Potential bietet, ist sie durch eine Erbanlage zu Unbeständigkeit und gefühlsbetonter Irrationalität gefährdet. Diese Eigenschaften können sich in einem verstärkten Fortpflanzungstrieb äußern, in welchem Fall sie sich zum Vorteil des Stocks nutzen ließen. Doch sind auch andere, mehr unerwünschte Symptome möglich, die sofort der Zuchtzentrale gemeldet werden müssen. Nach der Sondersitzung des Rates blieb Hellstrøm nachdenklich schweigend auf seinem Platz zurück. Er fühlte, daß der Stock zu etwas geworden war, was noch am ehesten mit einem gejagten U-Boot verglichen werden konnte: eingerichtet für lautlosen Lauf. Alle Energiesysteme einschließlich der Be- und Entlüftung arbeiteten mit minimaler Leistung. Der unterirdische Fluß, der die Turbinen antrieb und den gesamten Wasserbedarf deckte, wurde zusätzlich überwacht, um jede Einleitung von Fremdstoffen zu verhindern, die den Verdacht von Außenseitern wecken könnte. Wenn dieses Wasser das System des Snake River erreichte. Hellstrøm grübelte darüber nach, wieviel dieser Peruge und seine Organisation über Projekt 40 wissen konnten. Es war eine Frage, die auch von der Ratsversammlung nicht hatte beantwortet werden können. Die Außenseiter konnten nicht alles über Projekt 40 wissen, noch war es wahrscheinlich, daß sie von der Existenz des Stocks ahnten. In diesem Punkt war Hellstrøm zuversichtlich. Beim bloßen Verdacht, daß etwas wie der Stock existierte, wären sie mit einer Armee erschienen. Es mußte irgendeine Regelung mit diesen Außenseitern gefunden werden, bevor sie zuviel erfuhren. Die Todesfälle waren bedauerlich, aber sie hatten sich zwangsläufig aus Porters Tod ergeben. Seine Tötung war ein Irrtum gewesen. Wir haben zu lange in der Sicherheit unserer Tarnung gelebt, dachte er. Wir sind zu dreist geworden. Das machte die Filmproduktion, und auch die notwendigen Kontakte und Arrangements mit Außenseitern, die sich aus dem Filmgeschäft ergaben, waren mitverantwortlich. Wir haben die Außenseiter | 146 |
unterschätzt. Hellstrøm unterdrückte ein müdes Seufzen. Er vermißte den alten Harvey. Die derzeitige Sicherheitsgruppe war gut, aber Harvey hatte eine besondere Fähigkeit besessen, eine ausgleichende Weisheit. Der Stock brauchte ihn jetzt mehr denn je, und alles, was sie von ihm hatten, war sein Schützling, Saldo. Seit jener Nacht, als sie die Frau gejagt hatten, war in Saldo ein Reifungsprozeß in Gang gekommen, der seinen Abschluß noch nicht gefunden hatte, aber Hellstrøm in vielerlei Weise an eine Metamorphose gemahnte. Es war beinahe so, als hätte Saldo in jener fatalen Nacht die Erfahrung und Weisheit des alten Harvey geerbt. Hellstrøm war sich bewußt, daß er dazu neigte, in Saldo die gleiche Unterstützung zu suchen, die er bei Harvey gefunden hatte. Ob Saldo solche Erwartungen rechtfertigen konnte, blieb abzuwarten. Bisher hatte er brillante und fantasievolle Augenblicke gehabt, auch zeigte er sich in vielerlei Hinsicht verständig, aber dennoch ... Hellstrøm schüttelte den Kopf. Es war schwierig und gefährlich, sich in einer Krise wie dieser auf ein junges und unerprobtes Mitglied der neuen Brut zu stützen. Aber wen hatte er sonst? Die Ratsversammlung hatte zur Mittagszeit in einem Vorführraum begonnen, der eine Ecke des Scheunenateliers einnahm. Es war ein Raum von äußerlich konventionellem Aussehen, mit einem ovalen, von hochlehnigen Stühlen umgebenen Konferenztisch, einer Leinwand mit Doppellautsprechern auf einer und einem Verbindungsfenster zum Projektionsraum auf der anderen Seite. Die Wände waren zur Dämpfung unerwünschter Nebengeräusche mit lose drapierten, dicken Stoffen verhängt. Saldo war nach der Sitzung auf Hellstrøms Ersuchen zurückgeblieben. Die Streifschußverletzung an seiner Wange war noch nicht völlig verheilt und hob sich hellrosa und schorfig braun von seiner dunklen Haut ab. Die schmalen, kühn vorspringenden Züge zeigten sich jetzt entspannt, doch in seinen braunen Augen war eine besondere Wachsamkeit, die keinen Moment nachzulassen schien. Als er den jungen Mann nachdenklich betrachtete, erinnerte sich Hellstrøm, daß Saldo mütterlicherseits auch aus der S-2a-1-Serie stammte. Das machte ihn zu einem von Hellstrøms Vettern. Saldo war eine | 147 |
Züchtung aus erstklassigem Erbgut und allen vorgeschriebenen chemischen Verstärkungen unterzogen worden. Jetzt stellte er eine ausgezeichnete Kombination jener funktionellen Züge dar, auf die der Stock so sehr angewiesen war. »Wenn etwas schiefgeht, müssen wir auf allen Ebenen bereit sein, rasch und gründlich zu reagieren«, sagte Hellstrøm unvermittelt und blickte auf. »Ich habe alle wichtigen Kontaktleute draußen angewiesen, daß sie bereit sein müssen, auf eigene Faust weiterzumachen, wenn wir untergehen. Alle Aufzeichnungen, die solche Kontaktpersonen betreffen, werden zur Zeit zusammengetragen und für ihre Vernichtung vorbereitet.« »Haben wir wirklich jede Möglichkeit ins Auge gefaßt?« fragte Saldo. »Das habe ich mich auch gefragt.« »Ich weiß«, sagte Saldo und dachte, daß Hellstrøm übermüdet sei. Er brauchte Ruhe, und die konnte er nicht haben. Saldo fühlte sich auf einmal in einer ungewohnten Beschützerrolle gegenüber Hellstrøm. »Du hattest recht mit dem Hinweis, daß dieser Peruge wahrscheinlich elektronisches Gerät bei sich haben wird«, sagte Hellstrøm nach einer Pause. »Zumindest wird er seine Position und seinen Zustand durch Dauersignale nach draußen senden. Ich bin fest davon überzeugt.« »Und diese Leute in den Bergen werden die Signale empfangen und auswerten.« »So ist es, ja. Wir müssen so bald wie möglich feststellen, von welcher Art seine Ausrüstung ist.« »Dafür habe ich alle Vorbereitungen getroffen«, sagte Saldo. »Nils, solltest du dich nicht ein wenig ausruhen?« »Keine Zeit. Peruge ist unterwegs, und er ist bloß die Spitze des Eisbergs.« »Des was?« Hellstrøm erklärte ihm die Anspielung, dann sagte er: »Wie viele Leute wird er in den Bergen haben?« »Es sind wenigstens zehn, die dort oben Zelte aufgeschlagen haben. Wir sollten davon ausgehen, daß sie alle seine Leute sind.« Hellstrøm schüttelte seufzend den Kopf. »So viele?« | 148 |
Saldo nickte; er teilte Hellstrøms Unruhe. Die Vorstellung, daß mindestens zehn Agenten in der Nähe des Stocks herumschnüffelten, alarmierte seinen angezüchteten Gemeinschaftsinstinkt und stachelte ihn zu äußerster Wachsamkeit und Vorsicht an. »Hat Linc jemanden, den er in die Berge schicken kann, um in der Nähe dieser anderen Campingurlaub zu spielen?« fragte Saldo. »Er kümmert sich darum.« »Linc bringt diesen Peruge persönlich hierher, nicht wahr?« »Ja. Aber wir dürfen nicht glauben, daß Peruge ihm vertraue.« »Linc war diesem Mann nicht gewachsen, das ist offensichtlich«, sagte Saldo. »Ich hörte, was er am Telefon sagte.« »Lerne daraus«, sagte Hellstrøm. »Es ist gut, unsere Strohmänner draußen zu haben, und noch besser, wenn unter ihnen ein Hilfssheriff ist, aber jeder schafft seine eigenen Probleme. Je mehr wir uns exponieren, selbst in scheinbarer Heimlichkeit, desto größer wird die Gefahr, in die wir uns begeben.« Saldo merkte sich diese Lektion. Man löschte nicht ungestraft Agenten aus. Die bloße Existenz eines Agenten enthielt eine Botschaft, wenn dieser Agent enttarnt wurde. Wenn Peruge Lincoln Kraft verdächtigte, dann enthüllte das etwas über den Stock und seine Außenverbindungen. Saldo beschloß daran zu denken, wenn diese gegenwärtige Krise vorüber wäre. Er zweifelte nicht daran, daß sie die augenblicklichen Schwierigkeiten überwinden würden. Sein Vertrauen in Hellstrøm war unerschütterlich. »Peruge könnte Geräte haben, die ihm verraten, daß wir seine elektronische Ausrüstung sondieren«, sagte Hellstrøm. »Ich habe Anweisung gegeben, daß er darauf überprüft wird«, sagte Saldo. Hellstrøm nickte befriedigt. Bisher hatte Saldo jede Möglichkeit bedacht, die Hellstrøm selbst in den Sinn gekommen war – und einige, an die er selbst nicht gedacht hatte. Erstklassiges Zuchtmaterial zeigte seinen Wert immer in Krisensi| 149 |
tuationen. Saldo besaß eine durchdringende Intelligenz. Nach weiterer Ausbildung und Reifung würde er für den Stock von unschätzbarem Wert sein. »Welche Erklärung willst du anbieten, wenn er unsere elektronischen Sonden entdeckt?« fragte Hellstrøm. »Ich wollte das mit dir besprechen. Angenommen, wir machen für den gerade in Arbeit befindlichen Film eine Tonspur, bei der sehr viel mit komplizierten Mischungen gearbeitet werden muß. Das wäre eine einfache Erklärung für elektronische Aktivität. Auch kann dieser Peruge nicht erwarten, daß wir seinetwegen die Arbeit einstellen. Wir haben uns an einen Zeitplan zu halten. Jede elektronische Einwirkung auf Peruges Ausrüstung könnte mit solchen Arbeiten erklärt werden.« Hellstrøm nickte nachdenklich. »Ausgezeichnet. Ja, das ist eine Lösung. Und wenn er kommt, frage ich ihn, ob er vielleicht ein Radio hat, weil ...« »Weil ein Radio die Herstellung der Tonspur an unseren Mischpulten stören würde«, beendete Saldo den Satz. »Dann mußt du für die nötigen Tarnvorbereitungen sorgen«, sagte Hellstrøm. Saldo wandte sich zum Gehen, dann machte er halt und stand, die gespreizten Finger der linken Hand auf die Tischplatte gestützt, als sei ihm eben etwas eingefallen. »Ja?« fragte Hellstrøm. »Nils, können wir sicher sein, daß die anderen keine solche Ausrüstung hatten? Ich habe die Bänder abgehört und die Aufzeichnungen gelesen und ...« Er hob die Schultern. »Wir durchsuchten sie. Sie hatten nichts bei sich.« »Das kommt mir seltsam vor – die Tatsache, daß sie solche Geräte nicht bei sich hatten.« »Vermutlich hielt man sie nicht für wichtig genug«, sagte Hellstrøm. »Ich glaube fast, sie wurden geschickt, weil die Hintermänner sehen wollten, ob wir sie töten würden.« »Ohh!« Saldo starrte ihn an, schockiert vom plötzlichen Verstehen. »Wir hätten uns so etwas denken sollen«, sagte Hellstrøm. »Sie sind keine sehr guten Menschen, die Wilden. Im Umgang | 150 |
mit ihren Arbeitern sind sie sehr gleichgültig, und es macht ihnen nichts aus, sie in dieser Art und Weise zu vergeuden. Diejenigen, die hier eindrangen, waren zum Verbrauch bestimmt. Ich weiß jetzt, daß es bei weitem klüger gewesen wäre, wenn wir sie freundlich empfangen, bewirtet und mit einer glaubwürdigen Geschichte fortgeschickt hätten.« »Es war ein Fehler, sie zu töten?« »Der Fehler bestand darin, daß die Tötungen notwendig wurden.« Saldo verstand den feinen Unterschied und nickte betrübt. »Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte er. »Ich habe einen Fehler gemacht«, verbesserte Hellstrøm. »Zuviel Erfolg macht mich unvorsichtig. Wir müssen immer diese Möglichkeit im Sinn behalten: jeder von uns kann irren.« Aus den Worten der Brutmutter Trova Hellstrøm: Laßt mich ein Wort zu der Qualität sagen, die wir Vorsicht nennen. Wenn wir sagen, wir seien da und da gewesen, und der Stock werde – irgendwann in der geheimnisvollen Zukunft – diesen oder jenen Weg einschlagen, dann stimmt das notwendigerweise nicht ganz damit überein, was wir uns als Fakten vorstellen. Unsere eigene Interpretation steht immer dazwischen. Was wir über unser Tun und Lassen sagen, wird von unserem eigenen Verständnis und den Grenzen unseres Begreifens unausweichlich gefärbt und verändert. Erstens, wir sind Partisanen. Wir sehen alles unter dem Gesichtspunkt, der das Überleben des Stocks sichert. Zweitens, das Universum hat eine Art, anders zu erscheinen als es ist. In diesem Licht wird Vorsicht ein Vertrauen in unsere tiefsten kollektiven Kräfte. Wir müssen dem Stock selbst vertrauen, daß er Weisheit besitzt und diese Weisheit durch uns, seine Zellen, manifestiert. Als sie einen Punkt erreichten, wo Peruge einen ersten Blick auf Hellstrøm Farm werfen konnte, bat er Kraft, anzuhalten. Der Hilfssheriff brachte seinen grün und weiß lackierten Kombiwagen in einer Staubwolke zum Stillstand und spähte seinem Passagier forschend ins Gesicht. | 151 |
»Irgendwas nicht in Ordnung, Mr. Peruge?« Peruge beschränkte sich auf ein Straffen seiner Lippen. Kraft interessierte ihn. Der Hilfssheriff hätte eigens für die Rolle gemacht sein können, die er spielte. Es war beinahe so, als ob ihn jemand angesehen und gesagt hätte: »Also dieser hier ist richtig, den machen wir zum Hilfssheriff.« Kraft hatte ein sonnenverbranntes, derbes Aussehen, wie es sich für einen Mann aus dem Westen schickte; eine dicke Nase und buschige Brauen, verschwitztes braunes Haar unter einem breitkrempigen Cowboyhut. Seine klobigen Züge krönten einen vierschrötigen Körper, der sich mit dem steifbeinigen Gang eines Reiters bewegte. Peruge hatte auf der einzigen Hauptstraße von Fosterville mehrere Leute gesehen, die eine unbestimmte Ähnlichkeit mit Lincoln Kraft hatten. Der Hilfssheriff hatte Peruges taxierende Blicke ohne Bedenken über sich ergehen lassen, sicher in dem Wissen, daß er ein Hybride war, dessen Erscheinung niemand zum Anlaß für Spekulationen über seine Herkunft nehmen konnte. Krafts Vater war ein einheimischer Rancher, der von einer Bewohnerin des Stocks zur Gewinnung neuen Genmaterials verführt worden war. In Fosterville gab es viele, die Kraft wegen der Ähnlichkeit mit seinem Vater aufzuziehen pflegten. Kraft räusperte sich. »Mr. Peruge, ich sagte ...« »Ich weiß, was Sie sagten.« Peruge warf einen Blick auf die Uhr: Viertel vor drei. Jeder nur denkbare Vorwand war gebraucht worden, um diesen Ausflug zu verzögern: Telefonanrufe, sorgfältige Lektüre der Vermißtenanzeige, ein ausgedehntes Studium der Fotografie, Fragen über Fragen und eine mühselige Zusammenstellung von Antworten auf Papier, alles in penibler und langsamer Handschrift. Aber nun waren sie endlich in Sichtweite von Hellstrøms Farm, und Peruge fühlte seinen Puls schneller gehen. Eine trockene, überladene Stille lag in der Luft. Selbst die Insekten waren still. Peruge spürte, daß die Stille etwas Unnatürliches hatte, und als er darüber nachdachte, fiel ihm allmählich das Fehlen von Insektengeräuschen auf, und er fragte Kraft danach. Kraft stieß seinen Hut zurück, rieb sich die Stirn mit dem | 152 |
Ärmel und zuckte mit den dicken Schultern. »Wahrscheinlich hat jemand gesprüht.« »Wirklich? Tut Hellstrøm so was? Ich dachte, Umweltschützer verurteilen den Gebrauch von Insektiziden.« »Woher wissen Sie, daß der Doc in Ökologie macht?« »Ich wußte es nicht. Ich nahm nur an, daß ein Insektenforscher wie er an einer natürlichen Umwelt interessiert sein müsse.« »Ja? Nun, vielleicht sprüht der Doc nicht. Dies hier ist Weideland.« »Sie meinen, jemand anders könnte hier gesprüht haben?« »Vielleicht. Oder der Doc macht was anderes. Ließen Sie mich anhalten, weil Sie nach Insekten lauschen wollten?« »Nein. Ich will aussteigen und mich ein wenig umsehen. Vielleicht kann ich irgendeine Spur von Carlos Depeaux’ Wohnmobil finden.« »Das hat nicht viel Sinn«, sagte Kraft schnell und mit einem Unterton von Schärfe. »Nein? Warum nicht?« »Wenn wir zu dem Schluß kommen, daß er wirklich hier in der Gegend gewesen ist, werden wir eine gründliche Suchaktion durchführen.« »Ich dachte, ich hätte es Ihnen gesagt«, sagte Peruge. »Ich bin bereits zu dem Schluß gekommen, daß er in dieser Gegend war. Ich würde gern aussteigen und mir die Umgebung ein bißchen ansehen.« »Doc hat es nicht gern, wenn Leute auf seinem Besitz herumlaufen!« »Aber Sie sagten, dies sei Weideland. Gehört es zu seinem Besitz?« »Das nicht, aber ...« »Dann wollen wir uns mal umsehen.« Peruge legte die Hand auf den Türgriff. »Jetzt warten Sie mal!« befahl Kraft. Peruge nickte wortlos. Er hatte erfahren, was er wissen wollte: Kraft war dazu da, um alle Nachforschungen von Seiten Fremder zu blockieren. »Wie Sie wollen«, sagte Peruge. »Weiß Hellstrøm, daß wir | 153 |
kommen?« Kraft hatte den Gang eingelegt und war schon im Begriff gewesen, die schaukelnde Fahrt auf dem holprigen Feldweg zur Farm fortzusetzen, doch nun zögerte er. Peruges Verlangen, daß sie anhielten, hatte ihn erschreckt. Sein erster Gedanke war gewesen, daß der Außenseiter irgend etwas Verdächtiges gesehen habe, etwas, was von den Säuberungsarbeitern des Stocks übersehen worden war. Und Peruges unerwartetes Verlangen, auszusteigen und die Umgebung abzusuchen, hatten Krafts Unruhe noch verstärkt. Jetzt kam dem Hilfssheriff der Gedanke, daß Peruge oder seine Leute die Telefonleitung zur Farm angezapft haben könnten. Aber die Sicherheitskräfte des Stocks waren gegen derlei Bemühungen auf der Hut; eine solche Zudringlichkeit wäre ihnen sicherlich nicht entgangen. »Tatsächlich weiß er Bescheid«, sagte Kraft. »Ich rief an, um mich zu vergewissern, daß der Doc zu Hause ist. Manchmal treibt er sich in den entlegensten Gegenden herum. Und ich wollte unseren Besuch ankündigen. Sie wissen, wie diese Wissenschaftler sind.« »Nein. Wie sind sie?« »Manchmal machen sie Experimente. Wenn dann Außenseiter hineinplatzen, bringen sie alles durcheinander.« »Ist das der Grund, warum Sie mich hier nicht aussteigen lassen wollen?« Kraft zeigte sich deutlich erleichtert. »Natürlich. Außerdem macht der Doc die ganze Zeit Filme. Er wird leicht ein bißchen unangenehm, wenn man seine Filme ruiniert. Wir versuchen gute Nachbarn zu sein.« »Dann könnte er doch wohl Wachen aufstellen oder was.« »Nein ... das ist nicht nötig. Die Einheimischen wissen alle Bescheid. Wir halten uns von seinem Besitz fern.« »Wie unangenehm wird er, wenn jemand seine Experimente oder Filme ruiniert?« fragte Peruge. »Kommt es vor, daß er ... äh ... schießt?« »Nichts dergleichen! Doc würde keinem was tun. Aber wenn ihm danach ist, kann er verdammt scharf werden. Und er hat einflußreiche Freunde. Es zahlt sich aus, wenn man sich gut mit ihm stellt.« | 154 |
Und das tust du, mein lieber Freund, dachte Peruge. Dieses Bestreben konnte das sonderbare Verhalten des örtlichen Gesetzeshüters erklären. Wahrscheinlich hatte Kraft in diesem Nest eine gemütliche Sinekure. Da mußte ihm viel daran liegen, sie nicht zu verlieren. »Gut«, sagte Peruge. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir uns mit Doktor Hellstrøm gutstellen können.« »Jawohl, Sir!« Kraft setzte den Wagen in Bewegung. Er war sehr erleichtert und gab sich doppelte Mühe, sorglos und gelassen zu erscheinen. Hellstrøms Befehle waren eindeutig genug: diese Angelegenheit sollte als eine Routineerhebung über vermißte Personen behandelt werden. In diesem Rahmen sollte Peruge alle erforderliche Unterstützung erhalten. Peruge bewunderte die Farmgebäude, als sie sich dem nördlichen Grenzzaun näherten. Die Farm war in einer Zeit errichtet worden, als man die natürlichen Wälder noch in unbekümmertem Raubbau abgeholzt hatte und wertvolles Rohmaterial verschwendet worden war, als ob der Überfluß nie ein Ende nehmen würde. Die Bretterwände von Farmhaus und Scheune, die er von dieser Seite aus sehen konnte, wiesen nicht ein einziges Astloch auf, obgleich das Holz grau und verwittert war und einen Anstrich hätte vertragen können. Peruge überlegte müßig, warum auch die Farmgebäude nicht gestrichen waren. Kraft hielt parallel zum Zaun an, nur wenige Schritte vom Tor entfernt. »Von hier aus gehen wir. Doc mag es nicht, wenn mit Wagen bis zu den Gebäuden gefahren wird.« »Warum nicht?« »Hat wohl mit seiner Arbeit zu tun, nehme ich an.« »Die Gebäude könnten einen Anstrich vertragen«, sagte Peruge, als er ausstieg. Kraft stieg gleichfalls aus, schloß die Tür und sprach über das Wagendach. »Ich hörte sagen, daß Doc die Gebäude mit irgendeinem Holzschutz behandle. Es sieht nur so verwittert aus. Eigentlich hübsch, nicht?« Peruge grunzte und ging zum Gattertor, wo er auf Kraft wartete. »Was ist das für ein Betongebäude da drüben?« Er | 155 |
zeigte auf den niedrigen, würfelförmigen Bau links innerhalb des Zauns. »Könnte ein Pumpenhaus sein. Hat ungefähr die richtige Größe für ein großes. Oder es könnte mit Docs Arbeit zu tun haben. Ich habe ihn nie danach gefragt.« Kraft beobachtete seinen Begleiter mit verstohlener Aufmerksamkeit. Das Betongebäude beherbergte ein Notbelüftungssystem, das von innen aufgesprengt werden konnte und zur Tarnung mit einer Hilfspumpe für Grundwasser verbunden war. In anderen Teilen des Farmgebäudes gab es mehrere ähnliche Anlagen, die jedoch vollständig getarnt waren. »Ist Hellstrøm verheiratet?« fragte Peruge. Kraft öffnete das Gattertor, bevor er antwortete. »Ich weiß es wirklich nicht.« Er trat beiseite, um Peruge vorbeizulassen, schloß das Tor. »Manchmal hat Doc jede Menge hübscher Mädchen hier. Für seine Filme, nehme ich an. Vielleicht denkt er, wozu eine Kuh kaufen, wenn es die Milch kostenlos gibt?« Kraft gluckste behäbig über seine haarige Witzelei und fügte hinzu: »Kommen Sie, gehen wir zur Farm.« Peruge fröstelte unwillkürlich, als er neben dem Hilfssheriff in Schritt fiel. Dieser Humor war ein wenig dick aufgetragen. Lincoln Kraft war weder der echte, biederderbe Cowboytyp, als der er sich ausgeben wollte, noch der echte Hinterwäldler, den man auf den ersten Blick in ihm vermuten konnte, noch etwas anderes Echtes. Er gab sich zuviel Mühe, als der hemdsärmelige Biedermann zu erscheinen, dem noch der Geruch der väterlichen Scholle anhaftete. Das Bemühen war so offensichtlich, daß es zuweilen jede andere Handlung beherrschte. Peruge hatte längst beschlossen, diesen Hilfssheriff im Auge zu behalten, aber er fügte nun dem Vorsatz noch eine gehörige Dosis vorsichtigen Mißtrauens hinzu. »Das Ganze sieht irgendwie schäbig aus«, sagte er, bestrebt, mit Krafts eiligem Gang Schritt zu halten. Trotz seiner steifbeinigen Bewegungen schlug der Hilfssheriff ein Tempo an, welches erkennen ließ, daß er Peruge keine Gelegenheit zu allzu eingehenden Beobachtungen zu geben gewillt war. »Ich fand immer, daß es hier recht ordentlich aussieht«, | 156 |
sagte Kraft. »Sie halten die Ländereien gut in Schuß.« »Wird noch viel Landwirtschaft betrieben?« »Nicht mehr viel. Früher wurde eine Menge Getreide angebaut. Einige der jungen Leute, die der Doc hier hat, säen im Frühjahr Mais und andere Sachen, aber mir kommt das Ganze mehr wie Spielerei vor. Stadtleute, die meisten von ihnen. Sie kommen von Hollywood oder sogar von New York hier herauf, spielen Farmer und gaffen uns Einheimische an.« »Hat Hellstrøm viele Besucher?« Peruge stieß mit dem Fuß nach einem staubigen Grasbüschel. Die trockene Hitze hier im Tal störte ihn. Im Hintergrund war jetzt ein irritierendes summendes Geräusch zu hören, und als sie gingen, wehte ihn wiederholt ein intensiver Tiergeruch an, der ihn an einen Zoo gemahnte. Dieser Geruch war außerhalb des Grenzzauns nicht erkennbar gewesen, aber je tiefer sie in das Tal eindrangen, desto stärker wurde er. Was er vom Bach zu seiner Rechten sehen konnte, war nur ein dünnes Rinnsal und bestand hauptsächlich aus kleinen Tümpeln und Gumpen, in denen grüne Algen in der schwachen Strömung wehten. Am oberen Ende des Tals schien es jedoch einen kleinen Wasserfall zu geben. »Besucher?« fragte Kraft nach einer lange Pause. »Manchmal wimmelt es hier von ihnen. Dann kann man kaum ausspucken, ohne einen zu treffen. Zu anderen Zeiten hat er nicht mehr als zehn oder zwölf Leute hier.« »Was ist das für ein Geruch?« fragte Peruge. »Welcher Geruch?« fragte Kraft. Er schnüffelte unwillkürlich, dann wurde ihm klar, daß Peruge den Geruch des Stocks meinte, der zum größten Teil aus der Abluft gefiltert wurde, aber hier im Tal immer auszumachen war. Kraft mochte diesen Geruch. Er erinnerte ihn an seine Kindheit. »Dieser Tiergeruch!« sagte Peruge. »Ach, der. Hat wahrscheinlich mit Docs Arbeit zu tun. Er hält Ratten und Mäuse und alles mögliche Getier in Käfigen. Ich habe sie mal gesehen, die reinste Menagerie.« »Ach so. Führt der Wasserfall dort oben das ganze Jahr Wasser?« »Ja. Hübsch, nicht?« | 157 |
»Was geschieht mit all dem Wasser? Der Bach hier unten scheint kaum was davon zu kriegen.« Peruge blieb stehen und zwang seinen Begleiter damit, ebenfalls halt zu machen. Kraft warf ihm einen mißtraurischen Blick zu, dann sagte er: »Ich nehme an, es versickert im Boden.« Seine Ungeduld war offenkundig, aber anscheinend fiel ihm kein gutes Argument ein. »Vielleicht leitet der Doc etwas davon für Bewässerungszwecke ab, oder für Kühlung oder was. Ich weiß nicht. Gehen wir weiter, ja?« »Augenblick«, sagte Peruge. »Sagten Sie nicht, Hellstrøm betreibe keine Landwirtschaft mehr?« »Nicht mehr viel, sagte ich. Aber die Flächen, die noch angebaut werden, brauchen Wasser. Warum interessiert Sie dieser Bach so?« »Mich interessiert hier alles«, erwiderte Peruge lächelnd. »Irgendwas ist an der ganzen Sache nicht richtig. Keine Insekten. Ich sehe nicht einmal Vögel.« Kraft schluckte mit trockener Kehle. Offenbar war hier vor kurzem eine sehr gründliche Nachtkehrung veranstaltet worden. Und dieser Peruge mußte das Fehlen von Vögeln und Insekten merken! »Vögel verbringen die heißen Mittagsstunden oft im Schatten von Bäumen und Sträuchern«, behauptete er. »Ist das wahr?« »Hat Ihr Ornithologenfreund Ihnen das nie gesagt?« »Nein.« Peruge blickte mit gespannter Aufmerksamkeit umher, entschlossen, sich nichts entgehen zu lassen. Seine schnellen, wachsamen Blicke alarmierten den Hilfssheriff. »Was er einmal sagte, war, daß es Tiere und Vögel für jede Zeit des Tages und der Nacht gibt«, fuhr Peruge fort. »Ich glaube nicht, daß die Vögel sich verstecken; man kann sie nicht hören. Keinen einzigen. Es gibt hier keine Vögel und keine Insekten.« »Was hat Ihr Freund dann hier getan?« fragte Kraft. »Wenn es keine Vögel gibt, was beobachtete er?« Ahh, mein Freund, nicht so schnell, dachte Peruge. Wir sind noch nicht bereit, den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Er war jetzt überzeugt, daß Kraft mit Hellstrøm im Bunde | 158 |
war. »Als erfahrenem Tierbeobachter würde Carlos Depeaux das Fehlen von Vögeln sofort aufgefallen sein. Möglicherweise machte er sich auf die Suche nach einer Erklärung für dieses merkwürdige Phänomen. Und vielleicht fand er eine, die jemanden in Schwierigkeiten bringen konnte. Das könnte erklären, warum er vermißt wird.« »Sie haben wirklich einen mißtrauischen Verstand«, sagte Kraft. »Sie nicht?« fragte Peruge. Er wanderte zu den Schatten einiger Weidenbäume hinüber, die in einer Schleife des Bachbetts wuchsen. Kraft sah sich gezwungen, ihm zu folgen. »Wie ist dieser Hellstrøm wirklich, Mr. Kraft?« Die Frage verursachte dem Hilfssheriff Unbehagen, aber er behielt seine gelassene Art bei. »Ach, wissen Sie, er ist im Grunde ein einfacher, gewöhnlicher Wissenschaftlertyp, wie sie überall herumlaufen.« Krafts Tonfall war ruhig und gedehnt, aber etwas in seiner Haltung und die Wachsamkeit des Blicks straften seine Gelassenheit Lügen. Peruge nickte verständnisvoll und ermunterte Kraft damit zum Weitersprechen. »Sie sind natürlich alle verrückt«, sagte Kraft, »aber ungefährlich.« »Ich habe mich nie mit diesem Bild vom harmlosverrückten Wissenschaftler anfreunden können«, sagte Peruge. »Ich halte sie nicht alle für unschuldig und harmlos. Für mich ist kein Atomphysiker ein durch und durch verantwortungsbewußter und vertrauenswürdiger Mensch.« »Ach was, Mr. Peruge«, sagte Kraft in einem tapferen Versuch, jovial und herzlich zu wirken. »Der Doc macht Filme über Käfer und solches Zeug. Lehrfilme. Wenn er hin und wieder ein paar hübsche Mädchen für Mondscheinspiele mitbringt, dann ist das wahrscheinlich das Schlimmste, was er je getan hat.« »Nicht mal Rauschgift?« drängte Peruge. »Glauben Sie all dieses Zeug, was Sie über die Hollywoodtypen lesen?« fragte Kraft. »Manches davon schon.« »Ich würde meinen letzten Dollar wetten, daß der Doc | 159 |
sauber ist«, sagte Kraft. »Wirklich?« fragte Peruge. »Wie viele Fälle von vermißten Personen haben Sie in dieser Gegend im Laufe der letzten, na, sagen wir mal fünfundzwanzig Jahre gehabt?« Mit einem Gefühl, als gäbe der Boden unter seinen Füßen nach, dachte Kraft: er hat die alten Akten alle durchgesehen! Nils hatte recht gehabt, diesmal hatten die Außenseiter einen scharfen und durchbohrenden Verstand geschickt. Dieser Peruge kannte all die alten Fehler, die der Stock gemacht hatte, schlimm, schlimm, schlimm! Um seine Reaktion zu verbergen, kehrte Kraft seinem Begleiter den Rücken zu und ging langsam weiter in Richtung der Farmgebäude, jetzt weniger als fünfzig Schritte voraus. »Kommt darauf an, was Sie unter einer vermißten Person verstehen«, sagte er. Und als er bemerkte, daß Peruge noch immer im Schatten der Weidenbäume stand: »Kommen Sie! Wir wollen den Doc nicht warten lassen.« Peruge unterdrückte ein Lächeln und folgte. Der Mann war wirklich leicht durchschaubar. Die Frage nach den vermißten Personen hatte ihn beinah aus der Fassung gebracht. Dies war nicht bloß ein einfacher, gewöhnlicher Hilfssheriff, wie sie überall herumlaufen. Die isolierten Tatsachen begannen sich in Peruges Verstand zu einem Bild zu ergänzen. Drei Agenten waren hier auf der Jagd nach einem Verdacht verlorengegangen. Die Entdeckung eines Hilfssheriffs, der kein Hilfssheriff war, verlieh diesem Verdacht eine neue Dimension. Es war schließlich doch etwas dabei herausgekommen. Und er dachte: Hellstrøm weiß jetzt, was wir für den Zugang zu seinem Projekt 40 zu zahlen bereit sind. Nun werden wir herausbringen, was er zu zahlen bereit ist. »Ich dachte immer, eine vermißte Person sei eine vermißte Person«, sagte Peruge zu Krafts massigem Rücken. »Das kommt darauf an«, sagte Kraft, ohne sich umzuwenden. »Manche Leute wollen vermißt sein. Einer läuft seiner Frau weg, oder seinem Job. Im technischen Sinne könnte man sagen, daß er vermißt wird. Aber das meinen Sie nicht, wenn Sie von Ihrem Mann sprechen, nicht wahr? Wenn ich sage ›vermißte Person‹, dann meine ich im allgemeinen jemand, der in ernster Gefahr ist.« | 160 |
»Und Sie glauben nicht, daß jemand hier in ernste Gefahr kommen könnte?« »Dies ist nicht mehr der alte Westen«, sagte Kraft. »Hier geht es zahmer zu als in den meisten von Ihren Städten drüben im Osten. In den meisten Häusern schließen die Leute nicht mal ihre Türen ab. Zu mühsam, jedesmal nach den Schlüsseln zu suchen.« Er grinste über die Schulter zurück und hoffte, Peruge werde es als eine entwaffnende Geste verstehen. »Außerdem tragen wir unsere Hosen ziemlich eng hier. Da bleibt nicht mehr viel Platz in den Taschen.« Sie kamen jetzt am Farmhaus vorbei. Das Scheunengebäude ragte jenseits eines kahlen Hofs von vielleicht zwanzig Metern Breite vor ihnen auf. Ein alter Zaun, von dem nur noch die Pfosten standen, teilte die offene Fläche. Die Drähte oder Latten waren entfernt worden. Das Erkerfenster auf der dem Bach zugewandten Seite des Farmhauses hatte vergilbte Vorhänge, aber der ganze Bau machte einen seltsam verlassenen Eindruck. Kraft dachte darüber nach. Stand das Farmhaus leer? Warum? Häuser waren dazu da, daß man sie bewohnte. Lebten Hellstrøm und seine Leute darin? Aßen sie dort? Warum hörte man nicht das Klappern von Töpfen und Pfannen und anderen Haushaltsgegenständen? Er erinnerte sich an Porters Hinweis auf »negative Zeichens Eine sehr scharfsinnige Beobachtung. Es handelte sich nicht so sehr darum, was man auf Hellstrøms Farm wahrnehmen konnte, sondern mehr darum, was man nicht wahrnehmen konnte. Doch nun gab es ein weiteres positives Zeichen – einen sauren Geruch. Er dachte zuerst an Fotochemikalien, dann verwarf er diese Deutung. Der Geruch war viel beißender und durchdringender. Konnte er vielleicht mit Hellstrøms Insekten zu tun haben? Doch welche Massen von Insekten waren nötig, um einen derart intensiven Geruch hervorzurufen? In das alte Schiebetor der Scheune war eine Pendeltür eingesetzt, die geöffnet wurde, als Kraft und Peruge näher kamen. Hellstrøm selbst trat heraus. Peruge erkannte den Mann von den Fotografien in den Akten der Organisation. Hellstrøm trug einen weißen Rollkragenpullover und hellgraue Hosen. Die Füße steckten in offenen Sandalen. Sein helles, ziemlich | 161 |
spärliches Haar sah aus, als sei es vom Wind verweht und dann von hastigen Fingern geglättet worden. »Hallo, Linc«, rief Hellstrøm. »Hallo, Doc.« Kraft ging auf Hellstrøm zu, schüttelte ihm die Hand. Peruge, der nahe hinter ihm folgte, gewann dabei den Eindruck, daß es sich um eine eingeübte Begrüßung handle. Das Händeschütteln war so interesselos wie zwischen Unbekannten. Peruge trat ein wenig zur Seite und nahm eine Position ein, die es ihm erlaubte, die beiden Männer und die Tür hinter Hellstrøm gleichzeitig im Auge zu behalten. Hellstrøm bemerkte dies und schien amüsiert. Er lächelte breit, als Kraft ihn mit Peruge bekannt machte. Peruge fand Hellstrøms Hand kühl, aber eher trocken. Etwas wie erzwungene Entspanntheit ging von dem Mann aus, aber die Handfläche war frei von übermäßiger Schweißabsonderung. An Selbstbeherrschung fehlte es ihm nicht. »Interessiert es Sie, unser Studio zu besichtigen?« fragte Hellstrøm und machte eine Kopfbewegung. Peruge dachte: Nun, du scheinst dich deiner Sache recht sicher zu fühlen! Er sagte: »Ich habe noch nie ein Filmstudio gesehen.« »Linc erzählte mir am Telefon, daß Sie einen Ihrer Angestellten suchen, der in unserer Gegend vermißt sein könnte«, sagte Hellstrøm. »Ja, richtig.« Peruge war verwundert, daß sich weit und breit nichts regte. Niemand ging zur Tür hinein oder kam heraus, man hörte keine Stimmen, sah keine Fahrzeuge herumstehen. Er hatte in Hollywood Filmateliers gesehen und erinnerte sich an das lärmende, organisierte Durcheinander: Jupiterlampen, Püppchen, Kameras, geschäftig hierhin und dorthin eilende Leute, dann die gefrorene Stille der Augenblicke, wenn gefilmt wurde. »Haben Sie hier in der Gegend jemanden gesehen, Doc?« fragte Kraft. »Nur unsere eigenen Leute«, antwortete Hellstrøm. »Keine Fremden, jedenfalls nicht in letzter Zeit. Seit wann werden | 162 |
diese Leute vermißt?« »Seit etwa einer Woche«, sagte Peruge und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Hellstrøm. »Seit so kurzer Zeit!« sagte Hellstrøm. »Sind Sie sicher, daß die guten Leute nicht einfach ihren Urlaub verlängert haben, ohne rechtzeitig Bescheid zu geben?« »Ich bin meiner Sache so sicher, wie man nur sein kann«, sagte Peruge. »Es steht Ihnen frei, sich ausgiebig umzusehen«, sagte Hellstrøm. »Wir hatten in letzter Zeit viel im Atelier zu tun, aber es wäre uns bestimmt nicht entgangen, wenn irgendwelche Fremde in die Gegend gekommen wären. Wir überwachen unser Gelände ziemlich gründlich, um zu verhindern, daß ungebetene Gäste daherkommen und uns bei der Arbeit stören. Ich glaube nicht, daß Sie in unserem Bereich irgendein Zeichen von Ihren Leuten finden werden.« Kraft reagierte darauf mit sichtlicher Entspannung. Wenn Nils denkt, daß sie gut genug aufgeräumt haben, dachte er, dann ist es auch sauber. »So?« Peruge schürzte die Lippen. Er merkte plötzlich, daß dieses Gespräch mehrere Ebenen hatte. Er und Hellstrøm wußten es, der Hilfssheriff wahrscheinlich auch. Die verschiedenen Teile der verflochtenen Botschaft waren leicht zu entschlüsseln. Peruge mochte ruhig herumschnüffeln, Belastendes würde er nicht finden. Keine Fremden konnten ungesehen an Hellstrøms Farm herankommen. Hellstrøm blieb zuversichtlich, daß seine einflußreichen Verbindungen dafür sorgen würden, daß der wirkliche Konflikt unausgetragen bliebe. Peruge seinerseits hatte Hellstrøm zu verstehen gegeben, daß Leute in der unmittelbaren Nachbarschaft der Farm vermißt wurden. In gewisser Weise hatte Hellstrøm es nicht geleugnet, sondern bloß darauf hingewiesen, daß es zwecklos sein würde, nach den Vermißten zu suchen. Wie sollten unter diesen Umständen die eigentlichen Einsätze ins Spiel gebracht werden? Hellstrøm sagte: »Mr. Kraft sagte mir, daß Sie für eine Firma arbeiten, die Feuerwerkskörper herstellt.« Ahhh, dachte Peruge erfreut. »In meiner Firma haben wir verschiedenartige Interessen, Mr. Hellstrøm. Wir interessieren | 163 |
uns auch für Metallurgie, insbesondere für die Auswertung neuer Prozesse und Verfahren. Wir sind immer auf der Suche nach potentiell wertvollen Erfindungen.« Hellstrøm starrte ihn einen Moment lang prüfend an. »Möchten Sie hereinkommen und das Studio sehen? Wir sind gerade sehr beschäftigt, hängen etwas hinter dem Zeitplan zurück.« Er wandte sich halb zur Seite und zögerte dann, als sei ihm noch etwas eingefallen. »Oh, ich hoffe, Sie tragen kein Radio oder dergleichen bei sich. Für die Mischung der verschiedenen Tonspuren verwenden wir Radiofrequenzen von geringer Reichweite. Irgendwelche Geräte könnten sich auf unsere Arbeit störend auswirken.« Du abgefeimter Dreckskerl! dachte Peruge. Er legte beiläufig die Hände vor sich zusammen, das linke Handgelenk in der rechten Handfläche, und schaltete den Miniatursender in Armbanduhrgehäuse aus. Und er dachte: Wenn du kleines mieses Arschloch denkst, du könntest mich aus deiner kleinen Sandkiste heraushalten, dann, Baby, mußt du noch mal dein Denkgehäuse anstrengen. Ich werde hineinsteigen, und vielleicht werde ich mehr darin finden als du erwartest. Das versichere ich dir. Mit Saukerlen wie dir bin ich noch immer fertig geworden. Wenn du mir dumm kommst, Junge, drücke ich dir deine Nase in den Arsch. Hellstrøm, der Peruges Handbewegung bemerkt und den Grund erahnt hatte, fragte sich immer noch, was die seltsame Erklärung des Mannes über verschiedenartige Interessen, Metallurgie und Neuerfindungen, zu bedeuten habe. Was konnte das mit Projekt 40 zu schaffen haben? Aus den Worten der Brutmutter Trova Hellstrøm: Was immer wir tun, um die benötigten Spezialisten zu züchten, wir müssen stets das menschliche Wesen in unsere Prozesse einbeziehen und dem Produkt chirurgischer Tüchtigkeit vorziehen. Der Sexualstumpf kann nur so lange geduldet werden, wie wir das unveränderte genetische Erbgut des Körpers in die Praxis mit einschließen. Alles, was nach genetischer Mikrochirurgie und künstlicher Zellkernverschmelzung schmeckt, muß mit den ernstesten Befürchtungen betrachtet werden. Wir sind, zualler| 164 |
erst und vor allem, menschliche Wesen, und wir dürfen uns niemals von unserer tierischen Ahnenreihe loslösen. Was immer wir sein mögen, wir sind keine Götter. Und was immer dieses Universum sein mag, es existiert offensichtlich in Abhängigkeit von Zufälligem. »Er sendet nicht mehr«, sagte Janvert, und suchte stirnrunzelnd die benachbarten Frequenzen nach dem plötzlich abgebrochenen Signal ab. Er saß im schattigen Innern des Wohnwagens, den Empfänger vor sich auf einem Regal, das ursprünglich Teil der Kücheneinrichtung gewesen war. Nick Myerlies plumper und schwitzender Körper stand über ihn gebeugt, mit rotknöcheliger Hand auf die Anrichte gestützt. Sein fleischiges Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefster Besorgnis. »Was könnte ihm passiert sein?« fragte Myerlie. »Ich glaube, er hat seinen Sender absichtlich ausgeschaltet.« »Gott soll mich strafen! Warum?« Janvert zeigte auf das Tonbandgerät über dem Empfänger. »Das letzte, was ich empfing, war eine Bemerkung von Hellstrøm, er solle kein Radio oder dergleichen ins Studio bringen.« »Das ist ein verdammt riskantes Geschäft, seinen Sender auszuschalten«, sagte Myerlie. »Ich hätte es genauso gemacht«, sagte Janvert. »Er muß in dieses Studio hinein.« »Aber trotzdem ...« »Ach, halt die Schnauze! Ist Clovis immer noch draußen bei ihrem Teleskop?« Myerlie bejahte in verletztem Ton. Er wußte, daß Janvert in diesem Fall Peruges Stellvertreter war, aber es war irritierend, sich von einem Zwerg so anfahren lassen zu müssen. »Frag sie, ob sie was gesehen hat.« »Das Ding vergrößert nur zwanzigfach, und es ist immer noch ziemlich dunstig.« »Geh bitte und sieh trotzdem nach. Sag ihr, was passiert ist.« | 165 |
»In Ordnung.« Der Wohnwagen knarrte und schwankte, als Myerlie seinen schweren Körper zur Tür hinauswuchtete. Janvert, der eine Hörmuschel seines Kopfhörers vom rechten Ohr genommen hatte, um mit Myerlie zu sprechen, rückte sie wieder zurecht und starrte den Empfänger an. Was hatte Peruge mit diesen letzten sonderbaren Bemerkungen gemeint? Metallurgie? Neue Erfindungen? Aus den Worten der Brutmutter Trova Hellstrøm: Unsere Zukunft liegt in einer höchsten Form menschlicher Domestikation. Alle äußeren Verhaltensmuster der Menschheit müssen dann als Wildformen betrachtet werden. In unserem Domestikationsprozeß werden wir notwendigerweise eine Vielzahl verschiedener Menschentypen in unser Sozialschema einführen. Gleichgültig, wieviel Verschiedenartigkeit das mit sich bringen mag, die wechselseitige Abhängigkeit und der konsequente Respekt gegenüber unserer wesensmäßigen Einheit dürfen niemals verlorengehen. Brutmutter und Ratsvorsitzender unterscheiden sich nur in oberflächlichen Wesenszügen vom niedrigsten Arbeiter. Wenn es welche unter uns gibt, die ein Bedürfnis zu beten haben, dann sollten sie Dankgebete sprechen, daß es Arbeiter gibt. Es ist heilsam, beim Anblick eines gewöhnlichen Arbeiters (oder einer Arbeiterin) zu denken: da bin ich. Vorzugsnahrung und Ausbildung sind Geschenke, deren ich mich täglich würdig erweisen muß. Beim Betreten des Scheunenateliers durch ein System von Doppeltüren mit Windfang sah sich Peruge von einer Vielzahl neuer Eindrücke bestürmt, die eine sofortige Bewertung unmöglich machten. Der unangenehme und penetrante Tiergeruch war auch hier sehr stark. Er schrieb ihn einem glasverkleideten Abteil zur Linken zu, worin Tiere in Käfigen auszumachen waren. Er sah Mäuse, Meerschweinchen und Affen. In allen Filmstudios, die Peruge früher gesehen hatte, war ihm eine besondere Art von Stille aufgefallen, während Gruppenenergien durch einen geheimnisvollen Kanal in die Kameralinse überströmten. Hier war es anders. Niemand ging | 166 |
auf Zehenspitzen. Wer umherging, bewegte sich mit einer selbstverständlichen Lautlosigkeit, die zu verstehen gab, daß dies üblich sei. Das unaufhörliche Summen, das draußen so störend empfunden wurde, hatte im Scheuneninneren einem leisen Surren Platz gemacht. Nur ein Kamerateam schien zu arbeiten. Sie hatten ihre Geräte in einer Ecke zu seiner Rechten aufgebaut und arbeiteten nahe an einem Glasbehälter von etwa einem Meter Kantenlänge. Das Glas reflektierte heiße Lichtscherben. Hellstrøm hatte Peruge ermahnt, nicht zu sprechen, bis er die Erlaubnis erhielt, aber Peruge zeigte zu dem Kamerateam in die Ecke und hob die Brauen in stummer Frage. Hellstrøm beugte sich zu ihm und wisperte: »Wir filmen die Funktionsweise der Gelenkfügungen eines Insektenkörpers nach einem neuentwickelten Verfahren. Starke Vergrößerung. Die Kameralinse ist tatsächlich in einem Glaskasten, der besondere Klimabedingungen für das betreffende Insekt aufrechterhält.« Peruge nickte und fragte sich, warum sie deswegen stillbleiben mußten. Würden sie bei einer solchen Szenenfolge Geräusche mit aufnehmen? Es schien nicht wahrscheinlich, aber seine Bekanntschaft mit dem Filmemachen war bestenfalls oberflächlich und für diesen Auftrag hastig und unvollkommen ergänzt worden. Er war klug genug, seine Frage nicht laut auszusprechen. Hellstrøm würde sich über einen Vorwand freuen, der es ihm erlaubte, Peruge hinauszuwerfen. Seine Nervosität hatte mit dem Betreten des Ateliers deutlich zugenommen. Mit Hellstrøm an der Spitze und Kraft als Schlußmann und Aufpasser gingen sie diagonal durch den weitläufigen Raum. Wie immer, wenn ein Außenseiter dem oberirdischen Kopf des Stocks derart nahe kam, fand Hellstrøm es unmöglich, Gefühle von Unruhe zu unterdrücken. Die territoriale Konditionierung des Stocks war zu tief verwurzelt. Und Peruge strömte üble Außenseitergerüche aus. Er gehörte nicht hierher. Für Kraft mußte es noch schlimmer sein; er hatte nie zuvor einen Außenseiter in diese Bereiche begleitet. Die Arbeitsgruppen benahmen sich jedoch nach außen hin normal. | 167 |
Auch für sie mußte die Anwesenheit dieses Außenseiters ein ständiger unangenehmer Druck sein, aber sie waren ausgebildete Aushängeschilder und konnten ihre Reaktionen gut beherrschen. Alle verrichteten ihre Arbeit, als sei nichts geschehen. Peruge beobachtete die Arbeiten und Bewegungen der Leute ringsum. Jeder von ihnen schien seiner normalen Beschäftigung nachzugehen, und keiner schenkte ihm mehr als einen flüchtigen Blick. Trotzdem konnte Peruge sich nicht des Gefühls erwehren, daß er unter schärfster Beobachtung stehe. Er blickte nach oben. Die hellen Lampen, die im unteren Teil des Studios verwendet wurden, ließen die oberen Regionen in tiefen Schatten, die sein Blick nicht durchdringen konnte. War das Absicht? Versteckten sie da oben etwas? Als er noch hinaufblickte, fesselte ein Käfig seine Aufmerksamkeit, der sich am Ende eines Schwenkarms aus der dunklen Höhe herabsenkte, und er stolperte über ein zusammengerolltes Kabel. Er wäre gestürzt, wäre Kraft nicht mit einem Satz vorgesprungen, um ihn zu stützen. Der Hilfssheriff half Peruge das Gleichgewicht wiederfinden, legte einen Finger an die Lippen und ließ Peruge widerwillig los. Irgendwie war ihm wohler, wenn er diesen Eindringling festhalten konnte. Lincoln Kraft fühlte sich von quälenden Sorgen zerrissen. Nils spielte mit dem Feuer! Ringsum im Studio gab es nicht wenige stumme Arbeiter. Natürlich waren sie für die einfachen Arbeiten hier konditioniert, aber ihre Anwesenheit stellte eine explosive Gefahr dar. Wie, wenn einer von ihnen auf Peruges Außenseitergeruch reagierte? Der Geruch des Mannes war widerlich! Peruge sah keine Hindernisse vor sich und blickte zurück zu dem herabsinkenden Käfig. Er war aus den dunklen oberen Bereichen gekommen und schwang lautlos zu dem Kamerateam in der Ecke herab. Eine Frau in weißem Arbeitsmantel stand darin. Ihre unnatürlich blasse Hautfarbe kontrastierte stark mit dem ebenholzschwarzen Haar, das im Nacken in einem einfachen Chignon zusammengefaßt war. Als er sie beobachtete, gewann Peruge den Eindruck, daß sie unter ihrem Arbeitsmantel nichts anhatte. | 168 |
Kraft nahm ihn am Arm und schob ihn weiter, und widerwillig beschleunigte Peruge seinen Schritt. Von dieser blaßhäutigen Frau war etwas magnetisch Anziehendes ausgegangen, und er brachte ihr Bild nicht aus dem Sinn. Ihre unerwartete Erscheinung mit dem madonnenhaften Oval des Gesichts unter der Kappe schwarzen Haars hatte ihn tief beeindruckt. Hellstrøm führte ihn in einen trübe erhellten Raum, der auf zwei Seiten von bis zur Decke reichenden Glaswänden oder Schaufenstern eingegrenzt war. Hinter dem einen schossen Insekten durch blaues Licht – Schwebefliegen und blasse Falter mit großen Flügeln. Durch das andere waren Männer und Frauen zu sehen, die an einer langen Reihe elektronischer Steuerpulte mit kleinen Kontrollbildschirmen arbeiteten, auf denen winzige Bewegungen erkennbar waren. Kraft schloß die Tür hinter ihnen und kam drei Schritte in den Raum. Dann blieb er breitbeinig stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, als bewache er den Eingang. Peruge bemerkte eine zweite Tür in der rechten hinteren Ecke; sie führte in den halbdunklen Raum mit den elektronischen Anlagen. Wieder fand Peruge, daß die ganze Einrichtung nicht zu seinem Bild von einem Filmstudio paßte. In dem Raum, in dem sie standen, war ein kleiner rechteckiger Tisch mit vier Stühlen; Hellstrøm nahm einen Stuhl auf der anderen Seite und sagte mit ruhiger Stimme: »Die Leute, die Sie dort sehen, Mr. Peruge, mischen verschiedene Geräuschquellen für eine kombinierte Tonspur. Eine ziemlich heikle Arbeit.« Peruge betrachtete die Männer und Frauen im Nebenraum, ohne genauer bestimmen zu können, was ihm an ihnen auffiel. Erst nach einer kleinen Weile wurde ihm klar, daß von den sechs Männern und drei Frauen alle bis auf einen so gleichartig aussahen, als kämen sie aus derselben Familie. Bei näherem Hinsehen fand er diese Beobachtung bestätigt. Die drei Frauen und fünf von den Männern waren einander sehr ähnlich, nicht nur durch die einheitlichen weißen Arbeitsmäntel, sondern vor allem im kurzgeschnittenen blonden Haar und in den von großen Augen dominierten schmalen bis hageren Gesichtern. | 169 |
Die Frauen unterschieden sich nur durch ihre Körperformen und weicheren Gesichtszüge. Der eine Mann, der nicht dem Einheitstyp entsprach, war ebenfalls blond und erinnerte Peruge an jemand. Ja, das war es: der Mann sah wie Hellstrøm aus! Als dies alles Peruge durch den Sinn ging, wurde die äußere Tür hinter Kraft geöffnet, und die junge Frau, die Peruge im Korb am Ende des Schwenkarms gesehen hatte, kam herein. Jedenfalls schien das dieselbe junge Frau zu sein. »Fancy!« sagte Hellstrøm, unangenehm berührt. Was wollte sie hier? Er hatte sie nicht gerufen, und der katzenartige Ausdruck in ihren Augen verhieß nichts Gutes. Kraft trat unwillig zur Seite und ließ sie vorbei. Peruge starrte sie wie gebannt an. Das ovale Gesicht wirkte aus der Nähe beinahe puppenhaft und stand in einem faszinierenden Gegensatz zur geschmeidigen Sinnlichkeit ihres Körpers. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit ganz Hellstrøm zu, doch gab es keinen Zweifel, daß sie es auf Peruge abgesehen hatte. »Ed hat mich geschickt«, sagte sie zu Hellstrøm. »Er läßt dir sagen, daß wir diese ganze Moskitoszene wiederholen müssen. Du weißt, du kommst auch darin vor. Ich sagte dir gleich, daß wir die Sequenz wiederholen müßten. Die Moskitos waren aufgeregt. Aber du wolltest nicht auf mich hören.« Plötzlich schien sie Peruge zu bemerken, kam auf ihn zu und fragte: »Wer ist das?« »Das ist Mr. Peruge«, sagte Hellstrøm in warnendem Ton. Was hatte sie vor? »Hallo, Mr. Peruge«, sagte sie und kam bis auf einen Schritt an ihn heran. »Ich bin Fancy.« Hellstrøm beobachtete sie stirnrunzelnd. Er sog die Luft tief durch die Nase ein und bemerkte, daß Fancy sich mit triebverstärkenden Injektionen aufgeputscht hatte. Sie versuchte offensichtlich, sich an Peruge heranzumachen, und er zeigte bereits Wirkung. Er war von Fancy fasziniert und unfähig, sich selbst diesen starken und plötzlichen Magnetismus zu erklären. Kein wilder Außenseiter konnte die einfache Chemie der Situation verstehen. Auch Kraft geriet | 170 |
vorübergehend in ihren Bann, aber Hellstrøm brachte ihn mit einem schnellen Handzeichen zur Besinnung. Kraft, dem die täglichen Kontakte und ständigen Verstärkungen fehlten, die das Leben im Stock mit sich brachte, brauchte einige Sekunden, um sich dem Einfluß ihrer machtvollen Sexualität zu entziehen. Peruge hingegen gelang das nicht. Hellstrøm überlegte, ob er dies dulden solle. Sie trieb ein gefährliches Spiel und handelte obendrein ohne Anweisung. Zugegeben, es wäre wünschenswert, Peruges Erbgut in den Stock einzubringen, aber ... Peruge stand halb benommen. Er konnte sich nicht erinnern, daß eine Frau ihn jemals so rasch und so stark erregt hatte. Sie schien es auch zu fühlen. Die zurückgedrängte Vernunft in seinem Bewußtsein fragte, ob diese Leute ihm etwas gegeben haben mochten, wies diese Spekulation aber sofort zurück. Dies mußte jene komische, zufällige Anziehung sein, von der man zuweilen hörte. Mit einer Verspätung begriff er, daß Fancy ihn fragte, ob er auf der Farm übernachten werde. »Ich wohne im Ort«, sagte Peruge. Es kostete ihn Anstrengung. Sie blickte zu Hellstrøm. »Nils, warum lädst du Mr. Peruge nicht ein, bei uns zu bleiben?« »Mr. Peruge hat geschäftlich hier zu tun«, sagte Hellstrøm. »Ich nehme an, er wird es vorziehen, in seinen eigenen vier Wänden zu übernachten.« Peruge wünschte nichts sehnlicher, als die Nacht mit dieser betörenden Frau zu verbringen, aber er begann innere Alarmsignale zu vernehmen. »Du bist richtig langweilig«, sagte Fancy zu Hellstrøm. Wieder blickte sie in Peruges Augen auf. »Sind Sie im Filmgeschäft, Mr. Peruge?« Er versuchte sich aus dieser alles einhüllenden Aura ihrer Sexualität zu befreien, zu überlegen. »Nein, ich bin ... äh ... ich suche nach ein paar Freunden, einem Angestellten und seiner Frau, die hier in der Gegend verschwunden sind.« »Ich hoffe, es ist ihnen nichts passiert«, sagte sie. Hellstrøm erhob sich vom Tisch, kam herüber und trat an Peruges Seite. »Fancy, wir müssen an unser Arbeitsprogramm | 171 |
denken.« Peruge befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze; sein Mund war trocken, er zitterte. Die verführerische kleine Hexe! Hatte sie den Auftrag, seine Sinne durcheinanderzubringen? Hellstrøm blickte Kraft an und überlegte, ob sie Fancy mit sanfter Gewalt hinausbefördern sollten. Sie hatte sich richtig vollgepumpt, das verrückte Frauenzimmer! Er räusperte sich und sagte in vernünftigem, aber unzweideutigem Ton: »Fancy, du solltest jetzt wieder zum Aufnahmeteam zurückgehen. Sag Saldo, ich möchte, daß man sich zuerst um die dringendsten Probleme kümmert, und sag Ed, daß ich bereit bin, die Moskitoszene heute abend zu wiederholen.« Fancy trat zögernd zurück und entspannte sich. Sie hatte diesen Peruge an der Leine. Der Mann folgte ihr beinah, als sie sich von ihm zurückzog. »Du denkst immer nur an die Arbeit«, sagte sie schmollend zu Hellstrøm. »Man könnte meinen, du wärst bloß ein gewöhnlicher Allerweltsspießer.« Hellstrøm merkte, daß sie nur noch einen Schritt von offener Auflehnung entfernt war, aber dann siegte ihre Erziehung, und sie gehorchte, machte langsam kehrt und ging zur Tür, wo sie noch einmal innehielt, um zu Peruge zurückzublicken. Sie lächelte ihm hintergründig und einladend zu, hob die Brauen in einer Geste stummen Spotts zu Hellstrøm und ging, die Tür leise hinter sich schließend. Peruge räusperte sich. Hellstrøm beobachtete seinen Besucher. Der Mann hatte Schwierigkeiten, wieder zu sich zu kommen, was nicht überraschen konnte, bedachte man, wie Fancy sich für diesen Angriff bewaffnet hatte. »Das ist eine – sehr attraktive Frau«, meinte Peruge mit etwas heiserer Stimme. »Möchten Sie drüben im Haus eine Tasse Kaffee trinken?« fragte Hellstrøm, von einem plötzlichen Mitgefühl bewegt. Der arme Mann hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Peruge, »aber ich dachte, wir würden uns Ihr Atelier ansehen.« »Haben Sie es vorhin nicht gesehen?« | 172 |
»Ich dachte, es gäbe da noch mehr zu sehen.« »Oh, wir haben die üblichen Zusatzeinrichtungen«, sagte Hellstrøm. »Manches davon ist zu technisch, als daß es den zufälligen Besuchern interessieren würde, aber wir haben eine gut ausgerüstete Requisitenkammer und eins der besten Labors für Entwicklung, Schnitt, Vertonung und Kopie von Filmen. Unsere Sammlung seltener Insekten hat auf der ganzen Erde nicht ihresgleichen. Wir könnten Ihnen auch den einen oder anderen unserer Filme vorführen, wenn Sie das möchten, nur um Ihnen zu zeigen, was wir hier machen, aber ich fürchte, heute wird es nicht mehr möglich sein. Das Arbeitsprogramm ist ziemlich genau vorgeplant. Ich hoffe, Sie verstehen das.« Kraft nahm sein Stichwort auf. »Halten wir Sie auf, Doc? Ich weiß, wie wichtig Ihre Arbeit ist. Wir kamen bloß vorbei, um zu hören, ob jemand von Ihren Leuten vielleicht Mr. Peruges Freunde gesehen hat.« »Ich will mich gern erkundigen«, sagte Hellstrøm. »Wollen Sie nicht morgen wiederkommen und mit uns zu Mittag essen, Mr. Peruge? Vielleicht kann ich Ihnen bis dahin etwas sagen.« »Ich nehme die Einladung dankend an«, sagte Peruge. »Um welche Zeit?« »Wäre Ihnen elf Uhr recht?« »Sehr gut. Vielleicht würden einige Ihrer Leute bei der Gelegenheit auch ganz gern etwas über meine Firma hören. Wir sind sehr an Metallurgie und neuen Erfindungen interessiert.« Da fängt er schon wieder an! dachte Hellstrøm. »Wenn Sie um elf kommen«, sagte er, »werden Sie bis zum Essen noch eine Stunde Zeit haben. Einer meiner Leute kann Ihnen dann alles zeigen, was Sie jetzt nicht sehen konnten – Filmbearbeitung, Requisiten, die Insekten.« Er lächelte freundlich. »Ich freue mich darauf. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich Hilfe hole und mich ein wenig in der Gegend umsehe?« »Nicht hier auf dem Farmgelände, hoffe ich, Mr. Peruge«, sagte Hellstrøm schnell. »Wir wollen Außenaufnahmen machen, solange dieses schöne Wetter vorhält. Es ist nicht sehr hilf| 173 |
reich, wenn Außenstehende uns dabei ins Bild laufen und Verzögerungen verursachen. Sie können sich gewiß denken, wie teuer solche Verzögerungen kommen.« »Oh, ja, ich verstehe«, sagte Peruge. »Ich dachte eigentlich nur daran, mir das Weideland rings um Ihre Farm anzusehen. Mr. Depeaux’ Brief machte deutlich, daß er sich im Umkreis dieses Tals aufhielt. Ich dachte, wir könnten vielleicht irgendwelche Spuren finden.« Kraft bemerkte Hellstrøms wachsende Unruhe und sagte: »Wir möchten nicht, daß Sie sich in die offiziellen Nachforschungen einmischen, Mr. Peruge. Amateure können unwissentlich Beweismaterial zerstören, ohne ...« »Oh, ich werde mich nur der besten professionellen Hilfe bedienen«, sagte Peruge. »Darauf können Sie sich verlassen. Meine Helfer werden die offiziellen Nachforschungen in keiner Weise beeinträchtigen, und ich werde dafür sorgen, daß sie auch Mr. Hellstrøm bei seinen Außenaufnahmen nicht behelligen werden. Sie werden für die Qualität der professionellen Hilfe, die ich in Anspruch nehmen werde, nur Bewunderung übrighaben, Mr. Kraft.« »Geld scheint für Sie keine Rolle zu spielen, wie?« murmelte Kraft verdrießlich. »Kosten sind kein Hinderungsgrund«, bestätigte Peruge. Die Sache machte ihm auf einmal Spaß. Dieses Paar zappelte am Haken, und nach den Gesichtern zu urteilen, wußten sie es. »Wir werden herausbringen, was aus unseren Leuten geworden ist.« Hellstrøm erkannte die Herausforderung. »Natürlich sympathisieren wir mit Ihrem Anliegen«, sagte er nach einer Pause. »Aber unsere eigenen unmittelbaren Probleme stehen verständlicherweise im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit. Wenn es um unsere Produktionspläne geht, sind wir sehr zielbewußt.« Der verwirrende Erregungszustand, den Fancy ausgelöst hatte, verlor sich jetzt rasch, und in Peruge kamen Besorgnis und Verärgerung auf. Sie hatten versucht, ihn mit einem Flittchen zu fangen! Er sagte: »Ich verstehe Ihren Standpunkt, Mr. Hellstrøm. Ich werde mein Büro anweisen, alle professionellen | 174 |
Kräfte einzusetzen, die wir erübrigen können.« Kraft blickte hilfesuchend zu Hellstrøm. Dieser blieb ruhig. »Ich glaube, wir verstehen einander, Mr. Peruge«, sagte er, dann, zu Kraft gewandt: »Du sorgst einfach dafür, daß wir nicht von Eindringlingen behelligt werden, nicht wahr, Linc?« Lincoln Kraft nickte. Was zum Teufel meinte Nils damit? Wie konnte er allein eine Armee von Ermittlern aufhalten? Dieser Peruge war offensichtlich entschlossen, das FBI einzuschalten. Der Bastard hatte es klar genug zu verstehen gegeben, wenn er auch nicht den Namen genannt hatte! »Bis morgen, dann«, sagte Peruge. »Linc weiß, wo es hinausgeht«, sagte Hellstrøm. »Ich hoffe, Sie werden mir vergeben, wenn ich Sie nicht ins Freie geleite. Ich muß mich wirklich um meine Arbeit kümmern.« »Selbstverständlich«, sagte Peruge. »Ich habe bereits bemerkt, wie gut sich Hilfssheriff Kraft auf Ihrer Farm auskennt.« Hellstrøms Augen blitzten, als er Kraft mit verstohlenem Handzeichen zur Zurückhaltung ermahnte. »Örtliche Amtspersonen ist der Zutritt zu unserem Besitz nie verwehrt worden«, sagte er. »Wir werden Sie morgen wiedersehen, Mr. Peruge.« »Das werden Sie ganz gewiß.« Peruge ging vor dem Hilfssheriff zur Tür, öffnete sie und prallte mit Fancy zusammen, die offenbar wieder zu Hellstrøm wollte und es eilig hatte. Er streckte instinktiv die Hand aus, um sie zu halten, und als sie sich in seinen Arm fallen ließ, bestätigte sich seine Vermutung: sie hatte unter dem Arbeitskittel nichts an. Er riß den Arm erschrocken zurück, aber sie drängte nach und preßte sich an ihn. Kraft zerrte sie fort: »Fehlt dir was, Fancy?« »Mir geht’s gut«, sagte sie und bedachte Peruge mit einem breiten Lächeln. »Das war ungeschickt von mir«, sagte Peruge. »Es tut mir leid.« »Keine Ursache«, sagte sie. »Wir haben jetzt genug Unruhe gehabt, Linc«, sagte Hellstrøm hinter ihnen. »Würdest du Mr. Peruge hinausbegleiten?« | 175 |
Sie verließen das Gebäude in Eile. Peruge war ziemlich verdattert. Er hatte den bestimmten Eindruck gewonnen, daß dieses mannstolle Frauenzimmer bereit gewesen war, sich hier und jetzt aufs Kreuz zu legen und zwischen Tür und Angel mit ihm zu bumsen. Hellstrøm wartete, bis die äußere Tür hinter Kraft und Peruge zugefallen war, dann wandte er sich stirnrunzelnd zu Fancy um und sah sie forschend an. »Er ist im Netz«, sagte sie. »Was denkst du dir eigentlich dabei, Fancy?« »Ich mache meine Hausaufgaben.« Hellstrøm bemerkte plötzlich die fleischige Verdickung ihrer Wangen, die starken, den Stoff der Ärmel spannenden Oberarme. Er sagte: »Fancy, betrachtest du dich als eine Brutmutter?« »Wir haben seit Trova keine mehr gehabt«, sagte sie. »Und du weißt, warum!« »Ach, dieser Unsinn, daß eine Brutmutter den Schwärmtrieb erregen würde!« »Du weißt, daß es kein Unsinn ist!« »Das glaubst du. Viele von uns denken anders darüber. Wir glauben, daß der Stock auch ohne eine Brutmutter schwärmen könnte, und das wäre verhängnisvoll.« »Fancy, meinst du, wir wüßten nicht Bescheid? Der Stock wird mindestens weitere zehntausend Arbeiter produzieren müssen, bevor ein Schwärmdruck entsteht.« »Dieser Druck ist schon jetzt da«, sagte sie. Sie rieb sich die Arme. »Manche von uns können ihn fühlen.« Aus dem Kommentar zu einem Dokumentarfilm: Die folgende Sequenz zeigt eine Insektenzelle, die Entwicklung des Eis und schließlich das Ausschlüpfen der Raupe. Es lohnt sich, einmal über den Symbolgehalt dieses Vorgangs nachzudenken. Für uns Menschen beginnt mit der Geburt gleichsam unsere Raupenexistenz. Wie die Raupe, so sind auch wir in diesem Stadium unreif, und unsere Bedürfnisse werden von Vorbereitungen auf das Erwachsensein beherrscht. Sobald wir unsere erwachsene Gestalt erreicht haben, zieht es uns gleich dem | 176 |
ausgeschlüpften Schmetterling in die Welt hinaus. Und wie er essen wir von nun an, um zu leben, und nicht mehr, um zu wachsen. Peruge hörte das Telefon am anderen Ende läuten, ehe der Chef abnahm. Peruge war eben vom Mittagessen mit Hellstrøm zurückgekehrt und saß auf der Bettkante in seinem Motelzimmer. Es war ein äußerst enttäuschendes Essen gewesen: von Fancy keine Spur, alles sehr formell und oberflächlich im Speisezimmer des alten Farmhauses. Dazu kam, daß seine Andeutungen und Anspielungen auf neue Erfindungen ohne positive Reaktion geblieben waren. Diese Meldung würde dem Chef keine Freude machen. Endlich meldete sich die vertraute Stimme, trotz der langen Verzögerung wach und empfänglich. Der alte Mann hatte also nicht geschlafen, sondern etwas getan, was er nicht einmal zur Bedienung ›dieses Folterwerkzeugs aus der Hölle‹, wie er das Telefon oft zu nennen pflegte, hatte unterbrechen wollen. »Ich sagte Ihnen, daß ich gleich nach meiner Rückkehr anrufen würde«, sagte Peruge. »Von wo rufen Sie?« fragte der Chef. »Vom Motel, warum?« »Sind Sie sicher, daß die Leitung sauber ist?« »Sie ist sauber. Ich habe sie überprüft.« »Nehmen wir trotzdem den Zerhacker.« Peruge seufzte und holte das Gerät. Als er gleich darauf wieder die Stimme des Chefs hörte, hatte sie jenen fernen, unmodulierten Klang, den der Zerhacker ihr auferlegte. »Nun sagen Sie mir, was Sie festgestellt haben«, befahl der Chef. »Die Leute weigern sich, auf Bemerkungen über Metallurgie oder neue Erfindungen einzugehen.« »Haben Sie ein Angebot gemacht?« »Ich sagte, ich kenne jemand, der für eine vielversprechende neue Erfindung auf diesem Gebiet bis zu einer Million bezahlen würde.« »Und das machte sie nicht gesprächig?« »Nichts.« | 177 |
»Man beginnt mich zu drängen«, sagte der Chef. »Wir werden bald handeln müssen, so oder so.« Peruge seufzte. »Hellstrøm muß irgendeinen Preis haben!« »Meinen Sie, er würde anbeißen, wenn Sie den Einsatz erhöhten?« »Schwer zu sagen. Ich möchte Janvert und Myerlie zur Südseite von Hellstrøms Tal schicken und nach Spuren von Carlos und Tymiena suchen lassen. Ich habe eine Vermutung, daß sie von Süden gekommen sind. In der Richtung gibt es viele Bäume und Waldstücke, und Sie wissen selbst, wie vorsichtig Carlos war.« »Sie schicken niemand.« »Aber wenn wir ...« »Nein.« »Aber wenn wir Hellstrøm unter Druck setzen, könnten wir ihn viel billiger haben. Wir könnten die ganze Sache fix und fertig haben, bevor das Aufsichtsgremium zusammentritt.« »Ich sagte nein!« Peruge begann Komplikationen zu ahnen. »Was soll ich dann tun?« »Erzählen sie mir, was Sie auf Hellstrøms Farm gesehen haben.« »Nicht viel mehr als gestern.« »Beschreiben Sie.« »Auf den ersten Eindruck hin ist alles sehr gewöhnlich und alltäglich. Nur die Stimmung paßt nicht dazu. Kein Gelächter, kein Lächeln, keine Entspannung. Alles sehr ernsthaft und, nun, hingebungsvoll. Das ist das Wort, das mir immer wieder in den Sinn kam: hingebungsvoll. Und das ist nicht alltäglich. Sie erinnerten mich an eine chinesische Volkskommune auf dem Land, die sich nach Kräften bemüht, ihr Erntesoll zu erfüllen.« »Ich glaube nicht, daß wir bei denen einen Roten finden werden«, sagte der Chef, »aber wir sollten uns das für den Fall merken, daß wir uns mit Ruhm bekleckern müssen. Jedenfalls ist die Angelegenheit viel ernster als Sie ahnen.« »Ja?« Peruge war mit einem Schlag hellwach, völlig konzentriert auf die Stimme im Telefon. | 178 |
»Ich bekam heute einen Anruf von oben«, sagte der Chef. »Ein Sonderberater des Präsidenten. Er wollte wissen, ob wir diejenigen seien, die ihre Nasen in Hellstrøms Angelegenheiten stecken.« »Nicht zu glauben!« sagte Peruge verblüfft. Das erklärte, warum Hellstrøm sich so selbstbewußt gezeigt hatte, so eindeutig als Herr der Lage, Wie kam dieser kleine Wanzendoktor zu solchen Beziehungen? »Was sagten Sie?« fragte Peruge. »Ich log«, sagte der Chef in heiterem Ton. »Ich sagte, es müßten andere Stellen sein, weil ich nichts davon wisse. Immerhin versprach ich ihm eine Überprüfung, weil meine Leute manchmal ein wenig übereifrig seien.« Peruge starrte schweigend die Wand an. Wessen Hinrichtung wurde hier vorbereitet? Er sagte: »Wenn ein Sündenbock gebraucht wird, können wir Merrivale auf dem Tablett servieren.« »Das war eine der Möglichkeiten, die ich in Erwägung zog.« Eine der Möglichkeiten! dachte Peruge. Der Chef unterbrach die Entwicklung dieser neuen Sorge mit der Frage: »Nun, erzählen Sie mir, was Hellstrøm und seine Leute auf dieser Farm machen.« »Sie machen Filme über Insekten.« »Das sagten Sie gestern schon. Ist das alles?« »Ich kann nicht sagen, was sie sonst noch tun, aber ich habe ein paar Ideen, wo sie es tun könnten. In diesem Scheunenatelier ist ein Keller: Requisiten und anderer Scheiß, alles auf den ersten Blick stinknormal. Aber von diesem Keller gibt es einen Tunnel zum Haus. Sie führten mich durch diesen Tunnel, und wir aßen im Farmhaus zu Mittag. Dort wurden wir von einigen sehr sonderbaren Damen bedient, kann ich Ihnen sagen. Hübsche Puppen, alle vier, aber sie sprechen nicht – nicht mal, wenn man sie direkt anredet.« »Was?« »Sie sprechen nicht. Sie tragen auf, räumen ab, bringen dies und das und bleiben dabei völlig stumm. Hellstrøm sagte, der Grund dafür sei, daß sie bestimmte Dialekte einübten und der Schauspiellehrer ihnen befohlen habe, kein Wort zu sprechen, | 179 |
es sei denn in seiner Gegenwart.« »Das klingt einleuchtend.« »Finden Sie? Mir kam es ziemlich komisch vor.« »Hatten Sie Funkkontakt mit Janvert und den anderen?« »Nein. Es war genau wie gestern. Sie waren sehr nett und freundlich und ungemein vernünftig. Störungen bei der Herstellung ihrer Tonspuren und so weiter.« »Es gefällt mir trotzdem nicht, daß Sie ohne Funkkontakt da hineingehen. Wenn was passiert – vielleicht sollten Sie statt Janvert lieber Myerlie oder DT zu Ihrer Nummer Zwei machen.« »Keine Bange. Sie ließen mir gegenüber durchblicken, daß ich nichts zu befürchten hätte, wenn ich es ruhig angehen ließe.« »Wie haben sie das gemacht?« »Hellstrøm erläuterte mir, wie zornig er werden kann, wenn Fremde seine Arbeit stören und Verzögerungen im Produktionsplan verursachen. Ich wurde angewiesen, bei meinem Führer zu bleiben und nicht zu streunen.« »Wer war Ihr Führer?« »Ein kleiner Kerl namens Saldo, nicht größer als Shorty Janvert. Sehr einsilbig. Von der Frauensperson, die sie mir gestern an den Hals schmissen, war nichts zu sehen.« »Sind Sie ganz sicher, daß Ihre Einbildung Ihnen da nicht ...« »Absolut sicher. Sehen Sie, Chef, wir sitzen fest. Ich brauche Hilfe. Ich möchte, daß die Staatspolizei, das FBI und alle anderen, die wir dazu bewegen können, auf den Hügeln um Hellstrøms Farm herumkriechen.« »Mein lieber Peruge, haben Sie mich nicht gehört, als ich Ihnen erzählte, daß ich von oben angerufen wurde?« Peruge schluckte mit plötzlich trockener Kehle. Der Chef konnte sehr gefährlich werden, wenn seine Stimme diesen ruhigen, freundlich zurechtweisenden Ton annahm. Also mußte es mit diesem Anruf von oben mehr auf sich haben, als der Chef zuvor gesagt hatte. »Sie können nicht um Hilfe für ein Projekt bitten, das nicht existiert«, sagte der Chef. | 180 |
»Wußten Sie nicht, daß ich beim FBI um Unterstützung nachgesucht habe?« fragte Peruge. »Ich fing die Botschaft ab, bevor sie weitergegeben werden konnte. Dieses Ersuchen existiert nicht mehr.« »Gibt es eine Möglichkeit, die Farm und ihre Umgebung aus der Luft überprüfen zu lassen?« »Warum?« »Da gibt es diesen unterirdischen Gang vom Keller der Scheune zum Farmhaus. Ich möchte gern wissen, ob es in diesem Gebiet noch mehr unterirdische Anlagen gibt. Das Geologische Vermessungsamt hat Techniken und Geräte, um so etwas vom Flugzeug aus festzustellen.« »Ich glaube nicht, daß ich diese Art von Unterstützung anfordern könnte, ohne uns zu verraten. Aber ich werde darüber nachdenken. Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten. Sie meinen, Hellstrøm könnte unter der Scheune Laboratorien und Werkstätten haben?« »Ja.« »Das ist eine Idee. Ich habe ein paar Freunde in der Ölindustrie, die uns Gefälligkeiten schulden. Wenn wir sie als Auftraggeber vorschieben ...« »Würde das nicht zu lange dauern ...« »Zweifeln Sie an meiner Intelligenz?« »Tut mir leid, Chef«, sagte Peruge. »Es ist bloß, daß – nun, diese ganze Sache ist mir nicht geheuer. Den ganzen Nachmittag wünschte ich mir nichts sehnlicher, als von dort zu verschwinden. Ein penetranter Tiergeruch hängt über dem ganzen Gelände, und – es ist ein wirklich unheimlicher Ort. Man hat das Gefühl, daß viel mehr dahinter verborgen ist, als man sehen kann. Aber wenn ich für dieses Unbehagen handfeste Gründe angeben sollte, könnte ich es nicht, einmal abgesehen von den Fakten, die Porter und Genossen betreffen.« Die Stimme des Chefs nahm einen gönnerhaften, väterlichen Tonfall an. »Dzule, mein Junge, erfinden Sie keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Wenn wir nicht an Hellstrøms Erfindung herankommen können, wird aus dieser Sache ein ganz geradliniger Fall. Dann kann ich enthüllen, daß einige meiner übereifrigen Leute | 181 |
ein Hornissennest von Subversion aufgedeckt haben. Dazu brauchen wir allerdings mehr als das, was wir gegenwärtig haben.« »Porter und Grinelli und ...« »Die existieren nicht. Sie vergessen, daß die Einsatzbefehle meine Unterschrift trugen.« »Ahh – ja, natürlich.« »Ich könnte zum Präsidenten gehen und sagen, wir haben hier diese Akten, die einer unserer Jungen in der Bibliothek des MIT fand. Das kann ich machen, aber nur, wenn ich bereit bin, mich darauf festzulegen, daß es sich um die private Entwicklung eines wichtigen Waffensystems handelt.« »Und ehe Sie das tun, möchten Sie weitere Informationen.« »Genau«, sagte der Chef. »Ich verstehe. Und ich soll die Angelegenheit zum Gegenstand offener Verhandlungen mit Hellstrøm machen?« »Daran hatte ich tatsächlich gedacht. Gibt es irgendeinen Grund, der dagegen spricht?« »Ich kann es versuchen. Ich habe mit den Leuten ausgemacht, daß ich morgen wieder hinauskommen werde. Schon bei meinem ersten Besuch kündigte ich an, daß ich in ein paar Tagen eine Armee professioneller Helfer beisammen haben würde, um in der Gegend eine großangelegte Suchaktion durchzuführen, und sie ...« »Wie sehen Ihre Vorbereitungen aus?« »Janvert und seine Gruppen werden Sichtverbindung halten, solange ich außerhalb der Gebäude bin. Wenn ich hineingehe, werde ich höchstwahrscheinlich ohne Kontakt mit der Außenwelt sein. Wir werden natürlich nach einer weichen Stelle suchen – einem Fenster oder etwas Ähnlichem, das als Mikrofon für unsere Lasersignale dienen könnte. Wir sollten jedoch nicht auf eine solche Möglichkeit warten, und gleich mit den Verhandlungen beginnen.« »Wie wollen Sie das anfangen?« »Zunächst werde ich Hellstrøm die Machtmittel schildern, die wir aufbieten können. Ich werde zugeben, daß ich eine einflußreiche Regierungsbehörde vertrete, aber natürlich werde ich uns nicht identifizieren. Darauf ...« | 182 |
»Nein.« »Aber ...« »Drei unserer Agenten sind wahrscheinlich tot, und ...« »Die existieren nicht. Sie sagten es selbst.« »Für uns existieren sie sehr wohl, Peruge. Nein. Sie werden Hellstrøm lediglich sagen, daß Sie eine Gruppe von Leuten vertreten, die am Projekt 40 interessiert ist. Soll er sich selbst den Kopf darüber zerbrechen, was für Reserven Sie aufbieten könnten. Wahrscheinlich hat er drei Menschen umgebracht; entweder das, oder er hält sie gefangen und ...« »Sollte ich dieser Möglichkeit nachgehen?« »Um Himmels willen! Selbstverständlich nicht! Aber was Hellstrøm argwöhnt, wird ihm mehr zu schaffen machen als das, was er weiß. Und wie die Dinge liegen, könnten Sie neben dem FBI noch die Armee, die Luftwaffe und das Marinekorps in Reserve haben. Wenn Sie ein Druckmittel benötigen, erwähnen Sie unsere vermißten Freunde, aber zeigen Sie sich nicht allzu ängstlich besorgt, sie zurückzubekommen. Weigern Sie sich, auf dieser Basis zu verhandeln. Wir wollen Projekt 40, sonst nichts. Wir sind nicht die Polizei und fahnden nicht nach Mördern oder Entführern oder Vermißten. Ist das klar?« »Absolut.« Und mit einem in ihm wachsenden leeren Gefühl dachte Peruge: Wie, wenn ich als vermißt gemeldet werde? Er glaubte die Antwort darauf zu wissen, und sie gefiel ihm nicht. »Ich werde meine Beziehungen zu den Ölleuten spielen lassen, damit sie diese geologische Untersuchung aus der Luft veranstalten!« sagte der Chef, »aber nur, wenn es so gedeichselt werden kann, daß wir uns nicht verraten. Die Frage, wo Hellstrøms Leute arbeiten, erscheint mir zu diesem Zeitpunkt von zweitrangiger Bedeutung.« »Und wenn er sich weigert, mit uns zu verhandeln?« fragte Peruge. »Lassen Sie es deswegen nicht zu einer Kraftprobe kommen. Dann werden wir ihn aus einer anderen Richtung unter Druck setzen. Wir haben immer noch den militärischen Nachrichtendienst und seine Macht in Reserve.« »Aber die ...« »Die würden das ganze Ding an sich ziehen und uns | 183 |
einen Knochen hinwerfen, ja. Aber ein Knochen ist besser als nichts.« »Projekt 40 könnte völlig harmlos sein.« »Das glauben Sie doch selbst nicht«, sagte der Chef. »Und es ist Ihre Aufgabe, zu beweisen, was wir beide in diesem Fall wissen.« Er räusperte sich, ein lautes, krachendes Geräusch über dem Zerhacker. »Solange wir keine Beweise haben, haben wir nichts. Hellstrøm könnte unter seiner verdammten Farm das Geheimnis des Weltuntergangs haben, aber wir können erst losschlagen, wenn wir den Beweis dafür haben. Wie oft muß ich das noch sagen?« Peruge rieb sich das linke Knie, mit dem er in Hellstrøms Studio gegen einen Lampenständer gestoßen war. Es war nicht die Angewohnheit des Chefs, etwas so oft zu wiederholen. Was war dort im Büro los? Versuchte der Chef ihm indirekt zu sagen, daß er nicht offen sprechen konnte? »Möchten Sie, daß ich einen guten Vorwand finde, der uns den Rückzug aus dieser Angelegenheit erlaubt?« fragte Peruge. Aus der Stimme des Chefs war offene Erleichterung herauszuhören. »Nur wenn es angebracht erscheint, mein Junge.« Jemand ist bei ihm, dachte Peruge. Es muß eine wichtige Persönlichkeit sein, die jedoch nicht alles erfahren durfte. Peruge überlegte, aber es fiel ihm niemand ein, auf den das zutreffen konnte. Es mußte dem Chef völlig klar sein, daß sein Feldagent nicht daran dachte, sich aus der Sache zurückzuziehen. Trotzdem hatte er geangelt, bis dieser Vorschlag gekommen war. Es konnte nur bedeuten, daß jemand im Büro des Chefs war, der das Gespräch mithörte. »Können Sie etwas über die Zehen sagen, auf die wir vielleicht treten?« fragte Peruge. »Nein.« »Ist es nicht einmal möglich, festzustellen, ob Hellstrøms Einfluß eine rein politische Grundlage hat – große Geldspenden für die Partei, solche Sachen –, oder ob die Schwierigkeiten aus einer anderen Richtung kommen? Zum Beispiel, weil | 184 |
wir in das Tätigkeitsfeld eines anderen Dienstes eingedrungen sind?« »Sie beginnen das Problem zu verstehen, wie ich es jetzt sehe«, sagte der Chef. Also ist jemand von einem anderen Dienst bei ihm, dachte Peruge. Vielleicht gab es zwei Organisationen, die von Hellstrøms Aktivitäten Wind bekommen hatten, oder das Projekt 40 war überhaupt das Kind einer anderen Organisation. Wenn man diese Sache gründlich genug aufwühlte, würden die Agenten noch übereinander stolpern. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Peruge. »Wenn Sie mit Hellstrøm zusammenkommen«, sagte der Chef, »dann machen Sie ihn nicht selbst auf diese ändere Möglichkeit aufmerksam. Überlassen Sie das ihm.« »Ich verstehe.« »Das hoffe ich wirklich – um Ihretwillen wie auch um meinetwillen.« »Soll ich später noch einmal zurückrufen?« »Nur wenn Sie neue Erkenntnisse zu melden haben. Oder ... ja, rufen Sie mich gleich an, nachdem Sie mit Hellstrøm gesprochen haben. Ich werde warten.« Peruge hörte, wie die Verbindung am anderen Ende unterbrochen wurde. Er entfernte den Zerhacker und legte auf. Zum erstenmal in seinem Leben begann Peruge zu fühlen, wie seinen Feldagenten zumute war. Für ihn ist alles eine Frage der Diplomatie, dachte er grimmig. Er sitzt sicher und gemütlich in seinem Büro, aber ich muss gehen und den Kopf hinhalten. Und er wird keinen Finger rühren, wenn ich geköpft werde! Aus den Worten der Brutmutter Trova Hellstrøm: Um jeden Preis müssen wir vermeiden, in die sogenannte Termitenfalle zu laufen. Wir dürfen den Termiten nicht zu ähnlich werden. Diese Insekten, deren Überlebensmethode uns zum Vorbild geworden ist, haben ihre Lebensweise, und wir haben die unsrige. Wir lernen von ihnen, aber nicht sklavisch. Termiten, unfähig, die schützenden Wände ihres Hügels zu verlassen, leben in einer Welt, die völlig selbstgenügsam ist. Und so muß es auch mit uns sein. Die gesamte Termitengesellschaft wird | 185 |
von Soldaten bewacht. Genauso muß es bei uns sein. Wenn der Termitenhügel angegriffen wird, wissen die Soldaten, daß sie im Notfall außerhalb des inneren Baus aufgeben werden, um mit ihrem Kämpfen und Sterben anderen Zeit zu geben, daß sie den Bau undurchdringlich machen. Nach diesem Vorbild müssen auch wir verfahren. Aber der Termitenstaat geht zugrunde, wenn die Königin stirbt. So verwundbar dürfen wir nicht sein. Die Saat, die unsere Fortdauer garantiert, ist in der Außenwelt gepflanzt worden und aufgegangen. Sie muß bereit sein, allein weiterzuarbeiten, wenn unser Stock zugrunde geht. Als er durch die lange Gefällstrecke des ersten Stollens in den Stock zurückkehrte, lauschte und witterte Hellstrøm nach Geräuschen und anderen Anzeichen, die ihm sagten, daß hier unten alles in Ordnung sei. Keine solche Botschaft erreichte ihn. Der Stock blieb eine funktionierende Einheit, und das Gefühl tiefer Unruhe hatte ihn in allen Bereichen erfaßt. Das war seine Natur: Berührte man einen Teil von ihm, so reagierten alle Zellen. Die Chemie der inneren Kommunikation ließ sich nicht verleugnen. Wichtige Arbeitskräfte gaben unter dem Eindruck der allgemeinen Gefahrensituation Pheromone von sich, flüchtige äußere Hormonstoffe, die sich durch die Luft ausbreiteten. Die Luftzirkulation war, zur Energieeinsparung und um eine Entdeckung zu erschweren, auf das lebensnotwendige Minimum gedrosselt worden. So wurden die Pheromonsignale von allen aufgenommen und bewirkten eine gleichmäßige Ausbreitung der Beunruhigung. Schon waren Zeichen erkennbar, die dem Kundigen sagten, daß diese Situation nicht andauern konnte, ohne tiefe und möglicherweise bleibende Auswirkungen auf die Gesundheit zu hinterlassen. Seine Brutmutter hatte ihn einmal gewarnt: »Nils, der Stock kann genauso lernen wie du. Die Gesamtheit kann lernen. Wenn es dir nicht gelingt, zu verstehen, was die Gesamtheit des Stocks lernt, könnte das für uns alle den Untergang bedeuten.« Hellstrøm fragte sich, was der Stock jetzt lernen mochte. Fancys Verhalten legte etwas nahe, was den tiefsten | 186 |
Bedürfnissen des Stocks entsprach. Sie hatte von Schwärmen geredet. War es das? Seit mehr als vierzig Jahren hatten sie alles getan, um den Zeitpunkt des Schwärmens hinauszuschieben. Konnte das ein Fehler gewesen sein? Fancy machte ihm Sorgen, und daß er gerade ohne Erfolg versucht hatte, sie ausfindig zu machen, war nicht geeignet, die Sorgen zu zerstreuen. Sie sollte beim Aufnahmeteam sein, war dort aber nicht erschienen, und Ed hatte keine Ahnung, wo er sie suchen sollte. Saldo hatte ihm versichert, daß Fancy jetzt unter ständiger Überwachung stehe, doch konnte das Hellstrøms Sorgen kaum vermindern. Konnte der Stock eine natürliche Brutmutter hervorbringen? Fancy mochte für diese Rolle die logische Wahl sein, aber wie sollte der Rat darauf reagieren? Sollten sie Fancy den Bottichen überantworten, um ein verfrühtes Schwärmen zu verhindern? Der Gedanke, Fancy zu verlieren, war ihm zuwider; ihre Abstammungslinie hatte viele nützliche Spezialisten hervorgebracht. Wenn es nur gelänge, die Unbeständigkeit herauszuzüchten! Wenn es Unbeständigkeit war. Hellstrøm kam zu dem betonierten Gewölbebogen, der sich zur Essensstation der zweiten Ebene öffnete, und sah Saldo dort warten, wie er es ihm aufgetragen hatte. Auf Saldo war Verlaß, und dieser Gedanke ermutigte Hellstrøm. Ohne ein Wort zu verlieren, gingen sie gemeinsam in die Station, nahmen Geschirre aus dem Fördermechanismus und tranken bis zur Sättigung von der gewöhnlichen Fleischbrühe aus den Bottichen. Hellstrøm empfand stets eine tiefe Befriedigung, wenn er an der Nahrung der einfachen Arbeiter teilhatte. Es war eine Befriedigung, die er beim Verzehr der Vorzugsnahrung für leitende Angehörige des Stocks niemals verspürte. Die Vorzugsnahrung mochte die durchschnittliche Lebenserwartung eines Stockbewohners verdoppeln, aber es fehlte ihr jener Bestandteil, den Hellstrøm ›einigende Kraft‹ nannte. Manchmal brauchen wir den niedrigsten gemeinsamen Nenner, dachte er. Dies war nie so deutlich wie in Krisenzeiten. Saldo signalisierte, daß er bereit sei, Meldung zu machen, aber Hellstrøm gab ihm das Zeichen für Geduld. Er wollte | 187 |
sich nicht von seinen Gedanken ablenken lassen. Während der Mahlzeit war ihm wieder bedrückend deutlich geworden, wie gefährdet der Stock war, ein dünnschaliges Ei, das jederzeit zerbrechen konnte. Im Leitfaden war alles so einfach und handfest, doch die Praxis sah selten eindeutig und vorhersehbar aus. Sosehr er nach nützlichen Hinweisen und Anhaltspunkten suchte, im Leitfaden sah er keine Hilfe ... ›Der Stock bewegt sich auf eine nichtverbale Form menschlicher Existenz zu. Es ist eins der wesentlichen Ziele des Stocks, diese gemeinsame Basis zu erreichen, um dann eine unseren Bedürfnissen angepaßte neue Sprache zu entwickeln. Zuvor aber gilt es, die Irrtümer der Vergangenheit abzuschütteln.‹ Sie hatten die Irrtümer der Vergangenheit nicht abgeschüttelt. Vielleicht würde ihnen das nie gelingen. Der Weg war so weit und stellte so hohe Anforderungen; niemand hatte sich wirklich vorstellen können, wie weit dieser Weg war und wie viele Hindernisse überwunden werden mußten. In den Anfangszeiten der mündlichen Überlieferung, vor dreihundert oder mehr Jahren, waren sie von ›hundert Jahren oder so‹ ausgegangen. Wie rasch hatte sich dieser Irrtum der Vergangenheit zu erkennen gegeben! Darauf war die neue Wahrheit entstanden: der Stock werde vielleicht tausend Jahre oder mehr überdauern müssen, wenn die Welt der Außenseiter nicht zuvor in dramatischen Todeszuckungen zugrunde ging. Tausend Jahre, bis die ganze Menschheit gezähmt und unter ihrer Herrschaft wäre. Hellstrøm erinnerte sich früherer Vorstellungen, wie die vertrauten Wände des Stocks Hunderte von Malen bröckeln und wieder ausgebessert würden, ehe die Arbeiter hervorkommen und das Erbe der untergegangenen Außenseitergesellschaft antreten könnten. Welch eine Phantasie! Es war möglich, daß diese Wände nicht mehr als ein paar Stunden überdauern und niemals wieder aufgebaut würden. Die Notwendigkeit, seinen Mitarbeitern im Stock Zuversicht und Selbstvertrauen mitzuteilen, war ihm nie so schwergefallen wie heute. Widerwillig gab er Saldo das Zeichen zum Sprechen; es verdroß ihn, mit welcher Selbstverständlichkeit Saldo | 188 |
anzunehmen schien, ein paar Worte mit dem Vorsitzenden und Führer des Stocks könnten alle Probleme lösen. »Fancy hat die Spritzen mit triebverstärkenden Drogen aus dem Lager gestohlen«, sagte Saldo. »Es gibt keine ordnungsgemäße Anforderung.« »Aber warum?« sagte Hellstrøm kopfschüttelnd. Saldo blickte ihn an, als hielte er die Frage für schwachsinnig. »Um dich, den Rat und den Stock herauszufordern«, sagte er. »Wir dürfen nicht vorschnell urteilen«, sagte Hellstrøm. »Aber sie ist gefährlich! Sie sollte ...« »Sie muß überwacht werden, aber wir sollten sie ohne direkte Einmischung weitermachen lassen«, sagte Hellstrøm. »Vielleicht spricht der Stock als Ganzes durch sie.« »Du meinst, wir sollten sie mit diesem Peruge züchten lassen?« »Warum nicht? Wir haben diese Methode zur Gewinnung frischen Erbguts oft angewendet. Man könnte sagen, Peruge sei von der Außenwelt für uns ausgewählt worden. Er ist ein lebendiges Beweisstück für den Erfolg. Wir brauchen diese starken Naturen, du weißt es. Und Fancy weiß vielleicht besser als wir alle, wie mit dieser Bedrohung fertigzuwerden ist.« »Das glaube ich nicht. Ich denke, sie gebraucht dieses Gerede vom Schwärmen als Vorwand, um den Stock zu verlassen. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß sie eine Schwäche für die Speisen und Bequemlichkeiten der Außenseiter hat.« »Diese Möglichkeit besteht«, gab Hellstrøm zu. »Aber warum will sie fort? Deine Erklärung ist mir zu glatt.« Saldo schien bestürzt. Nach kurzem Schweigen sagte er: »Nils, ich verstehe nicht, was du redest.« »Ich verstehe es selbst nicht ganz, aber Fancys Verhalten hat vielleicht weniger simple Beweggründe als du denkst.« Saldo blickte forschend in Hellstrøms Gesicht, wie um eine Erleuchtung darin zu finden. Für ihn war es eine ausgemachte Sache, daß Hellstrøm Geheimnisse wußte, von denen die anderen nichts ahnten. Hellstrøm war ein Abkömmling der ältesten, der ersten Kolonisten dieses Stocks. Hatte er besondere Belehrungen aus jenen geheimnisvollen Quellen der Weisheit | 189 |
empfangen, die ihm sagten, was in einer solchen Krise zu tun sei? Saldos Aufmerksamkeit wurde von einer Bewegung neben ihm abgelenkt: die Schalen mit warmer Fleischbrühe wurden vom Transportmechanismus weiterbewegt, als Arbeiter hereindrängten und sich bedienten. Sie nahmen ihre gefüllten Schalen und tranken, ohne sich um die beiden höhergestellten Spezialisten in ihrer Mitte zu kümmern. Die einfache Chemie des Geruchssinns sagte den Arbeitern, wer hierhergehörte und wer nicht. Käme jedoch ein Außenseiter ohne Stockgeruch herein, und die Arbeiter sähen, daß er nicht unter der Kontrolle anderer Stockbewohner stand, so würden sie ihn sofort zu den Bottichen schleppen, allein von dem Bestreben geleitet, eine gefährliche Masse Protein zu entfernen. Das Verhalten und die Reaktionen der Arbeiter schienen gegenwärtig durchaus normal, doch etwas von Hellstrøms Gefühl, daß der Stock tief verwundet worden sei, teilte sich Saldo in diesen Augenblicken mit. Manche der Bewegungen wirkten ruckartig und steif, die Schritte kriegerisch vorwärtsdrängend. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, wovon ich nichts weiß?« fragte Saldo. Welche Weisheit in diesem jungen Mann! dachte Hellstrøm stolz. »Das mag gut sein«, sagte er. Er wandte sich zum Gehen, bedeutete Saldo, ihm zu folgen, und schritt hinaus in den Stollen. In seinem Wohnraum angelangt, wies Hellstrøm dem jüngeren Mann einen Sessel zu und warf sich aufs Bett. Er war müde und erschöpft, und das entspannte Liegen tat ihm wohl. Saldo setzte sich gehorsam und blickte umher. Er war des öfteren hier gewesen, doch ließen die gegenwärtigen Umstände den Ort in einer Ungewissen Art und Weise verfremdet erscheinen. Vielleicht lag es am verminderten Geräusch der Entlüftungsgebläse, die in diesen oberen Ebenen sonst sehr laut zu hören waren. Auch waren subtile Duftstoffe in der Luft, die Unruhe signalisierten. Alle Krisenbotschaften schienen sich hier zu vereinigen. »Ja, es ist manches nicht in Ordnung, und es gibt keinen, der darüber Bescheid wüßte«, sagte Hellstrøm, nach langer Pause den Faden des Gesprächs wieder aufnehmend. »Das | 190 |
ist unser Problem, Saldo. Wir werden unerwarteten Ereignissen gegenübergestellt und müssen bereit sein, uns auf der jeweils angemessenen Ebene mit ihnen auseinanderzusetzen. Wie die Außenseiter sagen, wir müssen flexibel sein. Verstehst du mich?« Saldo schüttelte den Kopf. »Was für Ereignisse meinst du?« »Wenn ich sie beschreiben könnte, würden sie nicht unerwartet sein«, sagte Hellstrøm. Er hatte die Hände hinter den Kopf verschränkt und bewegte nur die Augen, als er zu Saldo hinüberblickte. Auf einmal kam der junge Mann ihm genauso zerbrechlich und gefährdet vor wie der ganze Stock. Was konnten Saldos Tapferkeit und Umsicht wirklich ausrichten, wenn es um die Abwendung der Katastrophe ging, die sich um sie zusammenzog? Saldo war erst vierunddreißig. Die Erziehung im Stock gab diesen Jahren einen unrechten Schein von Intellektualität und Aufgeklärtheit, eine falsche Erfahrenheit, wie sie draußen völlig unbekannt war. Saldos Naivität war die Naivität des Stocks. Er wußte nichts von den Freiheiten, die er sich in der Außenwelt leisten konnte. Er wußte nicht, was es hieß, wirklich wild zu sein. Außer durch Bücher und Theorie wußte Saldo wenig von der Zufälligkeit, die jenseits der Grenzen des Stocks vorherrschte. Mit der Zeit mochte er die fehlenden Erfahrungen erwerben, wie Hellstrøm es getan hatte. Aber viele davon würden ihm Alpträume eintragen, die er dann verdrängen würde, wie alle Verbindungsleute es zu tun pflegten und wie auch Hellstrøm seine eigenen schlimmen Erfahrungen verdrängt hatte. Eine vollkommene und permanente Verdrängung gab es jedoch nicht, wie er selbst nur zu gut wußte. Immer wieder stahlen sich die Erinnerungen durch unbewachte Lücken ins Bewußtsein zurück. Saldo nahm Hellstrøm langes Stillschweigen als Tadel auf und schlug den Blick nieder. »Wir wissen nicht, was geschehen kann, aber wir müssen immer bereit sein. Ich sehe das jetzt.« »Wie kommt Projekt 40 voran?« fragte Hellstrøm. »Woher wußtest du, daß ich mich gerade danach erkundigt hatte?« fragte Saldo verblüfft. »Ich erwähnte nichts davon.« »Wir alle, die Verantwortung tragen, erkundigen uns | 191 |
regelmäßig nach dem Fortgang der Entwicklungsarbeiten«, sagte Hellstrøm. »Was hast du erfahren?« »Nichts Neues. Die Arbeiten am neuen Versuchsmodell werden vorangetrieben, aber ...« »Haben sie ihre Meinung über die Aussichten geändert?« »Das Hauptproblem ist immer noch die extreme Hitzeentwicklung.« »Gibt es sonst noch etwas?« Saldo blickte auf. »Eine Gruppe von Erntearbeitern aus den Hydrokulturen wurde vor einer Stunde beim Herumwandern in den oberen Ebenen gestellt«, sagte Saldo. »Soweit ich unterrichtet bin, brachten sie das Bedürfnis zum Ausdruck, an die Oberfläche zu gehen.« Hellstrøms Bestürzung war so groß, daß er seine Müdigkeit vergaß und sich aufsetzte. »Warum wurde ich nicht sofort verständigt?« »Wir brachten das in Ordnung«, sagte Saldo. »Wir führten es auf die allgemeine Beunruhigung zurück. Die betreffenden Arbeiter sind alle ruhiggestellt worden und wieder an der Arbeit. Ich habe einen Patrouillendienst eingerichtet, um Wiederholungen zu verhindern. War das falsch?« »Nein.« Hellstrøm ließ sich aufs Bett zurückfallen. Patrouillen! Natürlich, mehr konnten sie jetzt nicht tun. Aber das Vorkommnis zeigte, wie tief die Unruhe war, die den ganzen Stock ergriffen hatte. Fancy hatte recht gehabt: die Voraussagen über den Schwärmtrieb hatten eine Krise wie die gegenwärtige nicht berücksichtigt. »Waren Züchterinnen unter ihnen?« fragte Hellstrøm. »Ein paar potentielle, aber sie ...« »Sie wollten schwärmen«, sagte Hellstrøm. »Nils! Bloß eine Handvoll Arbeiter aus ...« »Sie waren nichtsdestoweniger im Begriff zu schwärmen. Die Möglichkeit wird schon in den Berechnungen unserer frühesten schriftlichen Aufzeichnungen erwähnt. Du weißt es. Wir haben von Anfang an darauf gewartet und versucht, den Zeitpunkt vorauszusagen. Und ohne daß uns das gelungen wäre, haben wir einen kritischen Zustand erreicht.« »Nils, die ...« | 192 |
»Du wolltest über Zahlen sprechen. Hier geht es um mehr als um Zahlen. Die Gesamtbevölkerung in einem gegebenen Raum stellt in unseren Berechnungen einen Faktor dar, aber dies ist etwas anderes. Junge Arbeiter und Arbeiterinnen, potentiell zur Fortpflanzung fähig, fühlen sich gedrängt, den Stock zu verlassen. Sie ziehen auf eigene Faust los. Das ist Schwärmen.« »Wie können wir eine Wiederholung in größerem Umfang verhindern?« »Vielleicht können wir das nicht.« »Aber wir können es jetzt nicht zulassen!« »Nein. Wir müssen unser möglichstes tun, um es beim nächsten Mal gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Ließen wir sie jetzt gehen, würde es unser Ende bedeuten. Laß die Beund Entlüftung für ein paar Stunden auf volle Kraft schalten und dann auf einen geeigneten Mittelwert einstellen.« »Nils, ein mißtrauischer Außenseiter in der Nähe könnte dadurch aufmerksam werden.« »Wir haben keine andere Wahl. Verzweifelte Maßnahmen sind vonnöten. Eine unauffällige Ausdünnung der Bevölkerung könnte angezeigt sein, wenn dies ...« »Die Bottiche?« »Ja, wenn der Druck zu groß wird.« »Die Arbeiter aus den Hydrokulturen, die ...« »Behalte sie im Auge«, sagte Hellstrøm. »Und die Züchterinnen – auch Fancy und ihre Schwestern. Ein Schwarm wird Züchterinnen brauchen.« Peruges private Anweisung für Daniel Thomas (DT) Alden: Janvert ist in den Besitz der Sondernummern und der Kodebuchstaben des Nachrichtenkorps gelangt, die nötig sind, um den Präsidenten anzurufen. Sollten Sie irgendeinen Versuch von Janvert registrieren, einen solchen Anruf zu machen, jeden heimlichen Versuch, ein Telefon zu benutzen, so haben Sie ihn daran zu hindern, nötigenfalls mit Gewalt. In der irrigen Annahme, es werde ihn ablenken, stellte Peruge im Radio seines Hotelzimmers ein Sinfoniekonzert ein. Er ver| 193 |
suchte sich in die Musik zu versenken, doch immer wieder kam ihm diese aufregende Frau auf Hellstrøms Farm in den Sinn. Fancy. Was für ein komischer Name das war. Peruge blickte aus dem rückwärtigen Fenster zu den Steensbergen hinüber, wo seine Einsatzgruppen als Ausflügler getarnt stationiert waren. Er brauchte bloß aus diesem Fenster zu signalisieren, um mit jeder der drei Gruppen direkten Kontakt aufzunehmen. Das Laser-Kommunikationsgerät brachte die Stimmen so klar herein, als ob die Leute bei ihm im Zimmer stünden. Es störte Peruge, daß er Shorty Janvert die Befehlsgewalt über die drei Gruppen gelassen hatte. Das hatte ihm dieser schleimige Merrivale eingebrockt! Die ganze Situation war nicht sehr ermutigend, und während sich draußen die Nacht auf das braune Grasland herabsenkte, überdachte Peruge seine Anweisungen und Vorbereitungen. War es klug gewesen, Janverts Bewegungsfreiheit mit der strikten Anweisung einzuschränken, er habe dem Hauptquartier Meldung zu machen, ehe er während Peruges kommunikationsloser Aufenthalte auf der Farm unplanmäßige Bewegungen einleite? Die planmäßigen Bewegungen waren sehr begrenzt: Fahrten nach Fosterville, um Lebensmittel einzukaufen und Lincoln Krafts Anwesenheit zu überprüfen; Veränderungen des Lagerplatzes, um den Notwendigkeiten der Tarnung zu entsprechen; Besuche zwischen den Gruppen zur Ergänzung des Beobachtungsprotokolls und zur Aufrechterhaltung der ständigen Überwachung. Bisher hatte Janvert noch nicht offen zu erkennen gegeben, wie es um seine Vertrauenswürdigkeit stand. Seine Meldungen entsprachen in allem den Anforderungen an die Verläßlichkeit. »Weiß der Chef, daß Sie ohne Funkverbindung da hineingehen?« »Ja.« »Ich finde das nicht gut.« »Das soll meine Sorge sein, nicht die Ihre«, hatte Peruge | 194 |
gekontert. Für wen hielt sich Janvert? »Ich würde mich auch gern einmal im Innern dieser Farm umsehen«, sagte Janvert. »Solche Versuche haben Sie gefälligst zu unterlassen, es sei denn, das Hauptquartier erteilt seine Zustimmung und die Funkverbindung mit mir bleibt über ein vorher festgesetztes Zeitlimit hinaus unterbrochen.« »Ich zweifle nicht an Ihren Fähigkeiten«, sagte Janvert in bemerkenswert versöhnlichem Ton. »Ich bin nur besorgt über all die Fakten, die wir in diesem Fall nicht kennen. Hellstrøm zeigt einen auffallenden Mangel an Respekt vor dem menschlichen Leben.« Peruge argwöhnte, daß Janvert ihm eine Besorgnis vorspiegelte, die er nicht verspürte; solche Ausschmückungen verdrossen ihn. »Die Farm ist mein Problem«, sagte er. »Ihre Aufgabe ist es, zu beobachten und Ihre Beobachtungen dann zu melden.« »Was sollen wir beobachten, wenn Sie ohne Funkverbindung in der Scheune sind?« »Haben Sie noch immer keine schwache Stelle in ihrer Panzerung gefunden?« »Wenn es so wäre, hätte ich Ihnen sofort davon erzählt!« »Regen Sie sich nicht gleich auf, Janvert. Ich weiß, daß Sie sich bemühen.« »Durch diese Wände dringt kein Geräusch. Sie müssen ein hochentwickeltes Schalldämpfungssystem haben. Dafür gibt es im Umkreis der Gebäude eine Menge sonderbarer Geräusche, die sich leider nicht eindeutig identifizieren und orten lassen. Die meisten scheinen von Maschinen zu stammen, und sie hören sich wie schwere Maschinen an. Ich habe übrigens den Verdacht, daß sie unsere Sonden mit elektronischen Geräten ausgemacht haben. Sampson und Rio verlegen ihren Lagerplatz heute abend zu Netzposition G-6. Die beiden haben die meiste Arbeit mit den Abhörsonden geleistet.« »Sie bleiben an Ort und Stelle?« »Ja.« Janvert verhielt sich umsichtig und korrekt, und Peruge mußte sich fragen, warum er ihm dennoch mißtraute. Er | 195 |
begann sich über sich selbst zu ärgern. Alles war so undurchsichtig und verworren. Das eigentümliche Benehmen des Chefs, diese faszinierende Frau auf Hellstrøms Farm – ob sie bloß mit ihm gespielt hatte? Manche Frauen hielten ihn für hübsch, und sein mächtiger Körper hatte eine Ausstrahlung animalischer Kraft, die erklären mochte, was dort draußen geschehen war. Unsinn! Hellstrøm hatte sie dazu angestiftet! Ob der Chef ihn auch nur für einen der vielen Entbehrlichen hielt? »Sind Sie noch da?« fragte Janvert. »Natürlich!« antwortete er ärgerlich. »Was brachte Sie auf den Gedanken, auf dieser Farm könnten mehr Leute sein, als zu sehen sind? Der unterirdische Gang?« »Der auch, ja, aber es ist noch mehr dran, bloß kann man nicht mit dem Finger darauf zeigen. Machen Sie eine Aufzeichnung von dieser Anweisung, Shorty: Ich möchte, daß alle Sendungen beobachtet werden, die zu Hellstrøms Farm gebracht werden. Welche Mengen und Arten von Lebensmitteln und so weiter. Seien Sie diskret, aber gründlich.« »Ich werde es veranlassen. Wollen Sie, daß ich DT damit beauftrage?« »Nein. Schicken Sie Nick. Ich möchte eine Schätzung, für wie viele Menschen die normalen Lebensmitteleinkäufe ausreichen.« »In Ordnung. Hat der Chef Ihnen von den Diamantbohrköpfen für Gesteinsbohrungen erzählt?« »Ja. Die müssen ungefähr zu der Zeit geliefert worden sein, als Carlos und Tymiena hier waren.« »Unheimlich, nicht wahr?« »Es paßt in ein bestimmtes Grundmuster«, sagte Peruge. »Es ist uns bloß noch nicht gelungen, die Natur dieses Grundmusters in Erfahrung zu bringen.« Er hatte sich lange den Kopf über die Frage zerbrochen, was eine Filmgesellschaft mit Diamantbohrköpfen anfangen mochte. Es gab einfach keine Erklärung dafür, und ohne neue Erkenntnisse war alles Grübeln zwecklos. Man konnte dabei leichter auf eine falsche als auf die richtige Fährte kommen, | 196 |
und Gewißheit gäbe es in keinem Fall. »Das ist richtig«, sagte Janvert. »Gibt es noch etwas?« »Nichts.« Peruge schaltete aus, nahm das Sendegerät auseinander und verstaute es in seiner Fototasche. Janvert war gesprächiger als sonst gewesen, und die oberflächlichen Versuche zur Freundlichkeit konnten bei diesem verschlagenen kleinen Dreckskerl nur geheuchelt sein. Peruge dachte darüber nach, als er in der stillen Dunkelheit seines Motelzimmers lag. Er begriff, daß er auf sich selbst gestellt war. Sogar der Chef hatte die schützende Hand von ihm zurückgezogen, und er fragte sich, warum er noch weitermachte. Weil ich reich werden will, sagte er sich. Reicher als diese Schnalle vom Ausschuß. Und das kann ich schaffen, wenn ich an Hellstrøms Projekt 40 herankomme. Regieanweisung von Nils Hellstrøm: Die Zuschauer werden das Ausschlüpfen eines Schmetterlings aus seinem Kokon sehen. Wir sehen darin natürlich viel mehr, und in einem tieferen Sinne geht es uns darum, daß das Publikum unbewußt sieht, was wir sehen. Der Schmetterling verkörpert unseren eigenen langen Kampf. Es ist die lange Finsternis der Menschheit, als die Wilden sich einbildeten, sie sprächen einer mit dem anderen. Es ist die Metamorphose, die Verwandlung unseres Stocks in die Rettung der menschlichen Art. Es ist eine Prophezeiung des Tages, da wir hervorkommen und dem bewundernden Universum unsere Schönheit zeigen werden ... »Der Sender ist in seiner Armbanduhr«, sagte Saldo. »Wir orteten ihn, kurz bevor er das Ding ausschaltete.« »Gute Arbeit«, sagte Hellstrøm. Sie standen im Dämmerlicht der Wachstube, umgeben von den Bildschirmen und Überwachungsinstrumenten. Die Arbeiter der Abteilung widmeten sich ihren Aufgaben mit ruhiger Entschlossenheit. Nichts würde ihrer Aufmerksamkeit entgehen. »Was diese Sonden betrifft, die wir ausgemacht haben«, fuhr | 197 |
Saldo fort, »so haben wir ihre Positionen angepeilt und in der Karte eingetragen. Es sind, wie wir schon vermuteten, diese Leute in den Steensbergen.« »Ausgezeichnet. Feuert der mangelnde Erfolg sie zu erneuten Anstrengungen an, oder sind sie jetzt ruhig?« »Ruhig. Ich habe die nötigen Vorbereitungen getroffen, daß morgen eine Ausflüglergruppe in die Gegend zieht. Sie werden spielen und sich vergnügen und morgen abend zurückkommen. An dem Unternehmen werden nur besonders erfahrene Aushängeschilder teilnehmen.« »Rechne nicht damit, daß sie viel erfahren werden.« Saldo nickte. Hellstrøm schloß die Augen vor Müdigkeit und Erschöpfung. Er bekam einfach nicht genug Schlaf, und was er sich gönnte, reichte nicht aus. Was sie brauchten und niemals finden würden, war eine Möglichkeit, Peruge fortzuschicken, eine Möglichkeit, alle seine Fragen zu beantworten, ohne sie zu beantworten. Diese geheimnisvollen, bohrenden Fragen nach Metallurgie und neuen Erfindungen irritierten Hellstrøm. Was konnte das mit Projekt 40 zu tun haben? Neue Erfindung – ja, möglicherweise. Aber Metallurgie? Er beschloß, bei nächster Gelegenheit mit dem Forschungslabor darüber zu sprechen. Ausspruch der Spezialisten des Stocks: Wie primitiv und weit hinter uns sind die Verhaltensforscher der wilden Außenwelt! Peruge hörte das Kratzen an der Tür als Teil eines Traums. Es war ein Hund aus seiner Kindheit, der ihn zum Frühstück holen wollte. Guter alter Danny. Peruge sah in seinem Traum das breite, häßliche Gesicht, die triefenden Lefzen. Er fühlte tatsächlich, daß er im Bett war, gekleidet nur in die Hose seines Schlafanzugs, wie er es immer zu tun pflegte, und dieser Umstand verstärkte die Intensität des Traums. Auf einmal schloß sich irgendwo in seinem Gehirn ein Kontakt: der Hund war seit vielen Jahren tot! Einen Augenblick später war er hellwach, lag still und sondierte mit allen Sinnen nach möglicher Gefahr. Das Kratzen dauerte an. Er zog seine Pistole unter dem | 198 |
Kopfkissen hervor, stand auf und ging zur Tür. Der Boden unter seinen bloßen Füßen war kalt. Er stellte sich mit schußbereiter Waffe neben die Tür und riß sie bei vorgehängter Kette auf. Vor der Tür brannte die Nachtbeleuchtung und warf einen gelben Lichtschein auf Fancy, die in etwas Dunkles, Pelziges gehüllt war. Mit der Linken hielt sie den Lenker eines Fahrrads. Peruge schloß die Tür, nahm die Kette aus der Sicherung und öffnete die Tür weit. Er wußte, daß er einen seltsamen Anblick bieten mußte, angetan mit der Schlafanzughose, die große automatische Pistole in der Hand. Aber er spürte die dringende Notwendigkeit, sie außer Sicht und in sein Zimmer zu bringen. Frohe Erregung breitete sich in ihm aus. Sie mußten ihm diese Katze geschickt haben, um ihn zu kompromittieren. Aber er hatte endlich eine von ihnen außerhalb ihrer verdammten Farm! Fancy kam wortlos herein und lehnte das Fahrrad gegen die Wand, während Peruge die Türschloß und absperrte. Als er sich zu ihr umwandte, stand sie ihm gegenüber und zog den Pelzmantel aus. Sie warf ihn über den Fahrradlenker und stand in dem dünnen weißen Arbeitskittel vor ihm, den sie schon bei ihrem letzten Zusammentreffen auf der Farm getragen hatte. Ihre Augen begegneten seinem Blick mit einem undurchsichtigen, spöttischen Ausdruck. Zuerst das Vergnügen? fragte sich Peruge. Oder zuerst das Geschäft? Seine schwitzende Handfläche machte den Griff der schweren Pistole schlüpfrig. Gott, war das eine scharfe Mieze! Er trat zum Fenster neben der Tür, schob den Vorhang beiseite und spähte hinaus. Er konnte keine Beobachter ausmachen. Er ging zum rückwärtigen Fenster und blickte über den Parkplatz zu den Bergen. Auch dort waren keine neugierigen Fremden zu sehen. Niemand. Wie spät war es überhaupt, in Gottes Namen? Und warum redete die Schnalle nicht? Er ging zum Nachttisch und blickte auf die Armbanduhr: 1:28 Uhr. Fancy verfolgte sein Tun mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Außenseiter waren so komisch! Dieser schien noch komischer als die meisten. Ihre Körper sagten ihnen deutlich, | 199 |
was sie tun sollten, aber sie verweigerten ihnen ständig den Gehorsam. Nun, sie war nicht unvorbereitet gekommen. Peruge richtete sich vom Nachttisch auf und blickte sie an. Er sah, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, aber sie schien keine Waffe bei sich zu tragen. Er steckte die Pistole in die Nachttischschublade. Wollte sie nicht reden, weil sie glaubte, er habe ein Abhörgerät installiert? Er bewegte sich vorsichtig, achtete darauf, ihr nicht den Rücken zu kehren. Warum war sie mit einem Fahrrad gekommen? Und in einem Pelzmantel, weiß der Himmel! Er überlegte, ob er die Nachtwache am Berg verständigen solle. Nein, noch nicht. Zuerst das Vergnügen. Fancy hob die Linke, als habe sie seine Gedanken gelesen, knöpfte ihren Arbeitskittel auf, zog ihn über die Schultern und ließ ihn fallen. Sie stand nackt vor ihm, eine sinnliche Venus, die seinen Puls zum Rasen brachte. Sie stieß die offenen Sandalen von den Füßen und blickte ihn herausfordernd an. Peruge befeuchtete sich die Lippen. »Gott soll mich strafen«, murmelte er mit heiserer Stimme. »Was für ein Weib!« Fancy ging auf ihn zu, noch immer ohne zu sprechen, und legte beide Hände auf seine bloßen Oberarme. Im nächsten Augenblick fühlte er einen kurzen stechenden Schmerz am linken Arm und roch etwas wie schweren, säuerlichen Moschusduft. Er riß den linken Arm in instinktiv abwehrender Bewegung hoch und sah zu seinem Erschrecken eine winzige, fleischfarbene Ampulle in seiner Haut hängen, wo ihr Zeigefinger sie hineingedrückt hatte. Ein Tropfen seines Blutes markierte den Einstich. Die Ampulle war leer und fiel von selbst ab, als er sie entsetzt herunterschlagen wollte. Panik überfiel ihn. Er wußte, daß er sie von sich schleudern und die Nachtwache auf dem Berg um Hilfe anrufen sollte, aber seine Muskeln blieben starr und verkrampft, während das Prickeln sich aus dem Arm durch den ganzen Körper ausbreitete. Sein Blick glitt von der Einstichstelle im Oberarm zu Fancys vollen Brüsten, deren dunkle Warzen in sinnlicher Spannung vorstanden. Peruge fühlte sich wie benebelt. Sein Wille löste sich auf, bis er sich nur noch der Frau bewußt war, die sich nun an ihn drängte und ihn mit überraschender Stärke rücklings aufs | 200 |
Bett zwang. Und jetzt tat Fancy endlich ihren Mund auf. »Du willst mit mir züchten? Das ist gut.« Aus dem Leitfaden: Zu den wichtigsten Zielen im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß gehört, daß eine größtmögliche Toleranz geschaffen wird, was die Verschiedenartigkeit der Individuen betrifft, die in unsere Gesellschaft integriert werden. »Fancy ist verschwunden!« meldete Saldo. Er war durch die Korridore und Stollen zu Hellstrøms Quartier gerannt, ohne sich um die Unruhe zu kümmern, die seine Hast unter den Arbeitern auslöste, denen er begegnete. Hellstrøm richtete sich im Bett auf, rieb sich die Augen und schüttelte benommen den Kopf. Zum erstenmal seit Tagen hatte er tief und fest geschlafen und die erhoffte Ruhe gefunden, die sein Körper vor der sicheren morgigen Konfrontation mit Peruge brauchte. Und jetzt dies! Fancy war verschwunden. Er blinzelte gegen das Licht zu Saldos bekümmerten Zügen auf. »Allein?« »Ja.« Hellstrøm stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Wie ist sie aus dem Stock herausgekommen? Wo ist sie?« »Sie benutzte die fehlerhafte Notentlüftung im Felsgestein, nahe am nördlichen Perimeter. Sie hatte ein Fahrrad.« »Waren keine Wachen da?« »Doch, zwei. Die betäubte sie.« »Aber in der Wachstube muß doch ihre Flucht bemerkt worden sein!« »Wir haben nichts gemerkt«, gestand Saldo. »Offensichtlich hat sie diese Route schon öfters benutzt. Sie machte sich durch die Bäume davon und wich geschickt jedem unserer Detektoren aus.« Ein Fahrrad, dachte Hellstrøm. Wozu ein Fahrrad? Wohin war sie damit gefahren? »Wie ist sie zu einem Fahrrad gekommen?« fragte er. »Es ist das Rad, das wir diesem Außenseiter abgenommen haben, Depeaux hieß er.« | 201 |
»Was hatte das noch hier zu suchen? Warum wurde es nicht längst der Wiederverwertung zugeführt?« »Einige der Ingenieure spielten damit. Sie dachten daran, ein eigenes Modell herzustellen, um die Botendienste und Lieferungen in den unteren Ebenen zu beschleunigen.« »Welche Richtung hat sie genommen?« Hellstrøm zog die Beine unter der Decke hervor und schwang sie ächzend über die Bettkante. Wie spät war es? Er blinzelte zu der Quarzuhr an der Wand: 3:51 Uhr. »Sie ist anscheinend über die untere Brücke gefahren. Bis dahin konnten ihre Radspuren verfolgt werden.« Also in den Ort. Aber warum? »Die von ihr betäubten Wachen sagen aus, sie habe Außenseiterkleidung getragen«, sagte Saldo. »Die Kleiderkammer meldet, daß ein Pelzmantel fehlt. Sie war auch wieder in den Lagerräumen, aber wir konnten noch nicht feststellen, was sie dort genommen hat.« »Wie lange ist sie schon fort?« fragte Hellstrøm. Er schob die Füße in seine Sandalen, tastete nach dem Morgenmantel. Ihn fröstelte. »Beinahe vier Stunden«, sagte Saldo. »Die Wachen waren lange ohnmächtig.« Er rieb die frische Narbe an seiner Wange. »Ich bin überzeugt, daß sie nach Fosterville gefahren ist. Zwei Spurensucher folgten ihrer Fährte, so weit sie sich trauten.« »Peruge!« »Was?« »Sie ist nach Fosterville gefahren, um mit Peruge zu züchten.« »Natürlich! Soll ich Linc anrufen und ihm sagen ...« Hellstrøm hob abwehrend die Hand. »Nein, nichts dergleichen.« »Aber dieses Fahrrad gehört einem von Peruges Agenten!« sagte Saldo in heller Aufregung. »Wer identifiziert schon Fahrräder? Ich traue ihnen nicht zu, daß sie diese Verbindung herstellen. Und Fancy wird ihm nicht sagen, woher sie das Rad hat.« »Legst du dafür deine Hand ins Feuer?« Hellstrøm seufzte. »Ich bin sicher. Wenn es ums Züchten | 202 |
geht, denkt Fancy eingleisig. Ich hätte mir so etwas denken sollen, als ich sie auf Peruge losgehen sah.« »Aber der Mann ist gerissen! Der kann sie ausholen, ohne daß sie es überhaupt merkt.« »Das ist eine Möglichkeit, die wir nach ihrer Rückkehr untersuchen müssen. Einstweilen genügt es, wenn du Linc unterrichtest. Sag ihm, wo sie ist, und er soll dafür sorgen, daß Peruges Leute sie nicht zum Verhör abschleppen. Der Mann steht bestimmt mit ihnen in Verbindung. Aber wir wollen bei diesem Motel nicht mehr Aktivität als unbedingt nötig.« Saldo starrte Hellstrøm stirnrunzelnd an. Er hatte erwartet, daß Hellstrøm alle Verteidigungskräfte des Stocks mobilisieren werde. Diese Reaktion war nicht hinreichend! »Weitere Hinweise auf Schwärmdruck?« fragte Hellstrøm, als sei die Angelegenheit mit Fancy für ihn erledigt. »Nein. Die – die verstärkte Belüftung scheint geholfen zu haben.« »Fancy ist fruchtbar«, sagte Hellstrøm mehr zu sich selbst. »Ihre Schwängerung durch einen Außenseiter wird auch helfen. Während sie ein Kind produziert, wird sie immer ganz fügsam.« Saldo stand mit offenem Mund und bewunderte Hellstrøms Weisheit. »Ich kann mir denken, was sie aus dem Lager mitgenommen hat«, fuhr Hellstrøm fort. »Eine Ampulle Triebverstärker für Männer, um Peruge aufzuputschen. Sie will mit ihm züchten, das ist alles. Laß sie. Außenseiter reagieren manchmal sehr ungewöhnlich auf diese natürliche Form menschlichen Verhaltens.« »Das habe ich gelesen«, sagte Saldo. »Bevor ich das erste Mal hinausging, lernte ich die Verhaltensvorschriften auswendig.« »Aber mit diesem Zeug wird sie ihn kriegen, verlaß dich drauf«, sagte Hellstrøm lächelnd. »Die macht ihn fix und fertig. Ich habe das schon viele Male erlebt. Morgen wird Peruge reuig und zerknirscht hier erscheinen. Er wird mit Fancy kommen und sich sehr defensiv verhalten. Er wird sich schuldig fühlen, und das wird ihn für uns verwundbar machen. Ja – ich glaube, | 203 |
ich weiß jetzt, wie ich diese Situation deichseln kann, dank Fancy. Das hat sie gut gemacht.« »Was willst du tun?« »Chemisch unterscheiden sich die wilden Außenseiter nicht allzusehr von uns. Es bedurfte Fancys Eigenmächtigkeit, um mich daran zu erinnern. Die gleichen Techniken, die wir verwenden, um unsere Arbeiter fügsam, häuslich und den Bedürfnissen des Stocks ergeben zu machen, werden auch bei Außenseitern wirken.« »Du meinst, in ihrem Essen?« »Oder in ihrem Getränk. Oder auch in ihrer Atemluft.« »Bist du sicher, daß Fancy zurückkommen wird?« Saldo konnte den nagenden Zweifel nicht unterdrücken. »Ganz sicher.« »Aber das Fahrrad ...« »Glaubst du wirklich, sie werden es identifizieren?« »Wir dürfen das Risiko nicht eingehen!« »Wenn es dich beruhigt, kannst du Linc auf diese Möglichkeit aufmerksam machen. Aber ich bin überzeugt, daß Peruges Sinne nach einer solchen Nacht so betäubt sein werden, daß er ein Fahrrad nicht mal erkennen würde, wenn er es sähe.« Saldo schüttelte verdrießlich den Kopf. In Hellstrøms Rede und Verhalten war eine hektische Note, die ihn tief beunruhigte. »Mir ist dabei nicht wohl, Nils.« »Vertraue mir. Sag Linc, daß du ein Sicherheitskommando in den Ort schickst. Ich möchte, daß die Leute genaue Instruktionen erhalten. Mißverständnisse dürfen nicht vorkommen. Ihre Hauptaufgabe ist, dafür zu sorgen, daß Fancy nicht aus diesem Motel verschleppt wird. Sie kann bei Peruge bleiben, so lange sie will, aber am Morgen sollen die Leute sie bei der ersten Gelegenheit mitnehmen und zu mir bringen. Ich möchte ihr persönlich danken. Der Stock lernt wirklich; wenn Gefahr in Verzug ist, reagiert er als ein einziger Organismus. Es ist genauso, wie ich immer vermutete.« »Ich bin auch der Meinung, daß wir sie hierher zurückbringen sollten«, erwiderte Saldo mit einiger Reserve. »Aber ihr danken?« »Selbstverständlich.« | 204 |
»Wofür?« »Weil sie uns daran erinnerte, daß Außenseiter und wir biochemisch gleich sind.« Aus dem Leitfaden: Der hervorragende Spezialist, gezüchtet für die Befriedigung unserer grundlegendsten Bedürfnisse nach Sicherheit und ungestörter Entwicklung, wird am Ende den Sieg für uns davontragen. Peruge erwachte im trüben Zwielicht des Morgengrauens, stieg von irgendeinem entfernten, energieentleerten Ort zum Bewußtsein empor. Er wandte den Kopf und sah das zerwühlte Durcheinander seines Bettes, kam zu der langsam dämmernden Erkenntnis, daß er allein im Bett lag und daß dies eine wichtigere Nachricht sein sollte. Ein Fahrrad mit einem Pelzmantel über dem Lenker stand neben der Tür an der Wand. Auf dem Boden zwischen Bett und Tür lag ein achtlos weggeworfenes weißes Kleidungsstück. Er starrte das Fahrrad an und überlegte, warum er meinte, daß ein Fahrrad so wichtig sei. Ein Fahrrad? Im Bad plätscherte Wasser. Jemand summte. Fancy. Er stemmte sich mühsam empor, bis er saß. Sein Verstand war so durcheinander wie das Bett. Fancy! Herr des Himmels! Was hatte sie ihm gegeben? In seiner nebelhaften Erinnerung stand die Zahl von nicht weniger als achtzehn Orgasmen. Ein Aphrodisiakum? Wenn es eins gewesen war, dann mußte es bei weitem wirksamer sein als alles, was er je für möglich gehalten hatte. Im Bad rauschte und platschte noch immer das Wasser. Anscheinend duschte sie. Großer Gott! Wie konnte sie sich noch bewegen? Er versuchte, die Nacht in seiner Erinnerung wieder zusammenzusetzen, stieß nur auf die wildeste Konfusion, ein wiederkehrendes Bild von ineinander verkeiltem, zuckendem Fleisch. Das war ich! dachte er. Heiliger Herr Jesus! Das war ich! Was war das für Zeug, das Fancy ihm gegeben hatte? Konnte das Projekt 40 sein, im Namen des Himmels? Er wollte lachen, | 205 |
brachte aber die Kraft nicht auf. Das Wassergeplätscher hörte plötzlich auf, und seine Aufmerksamkeit verlagerte sich zur Badezimmertür. Dahinter waren unbestimmte Geräusche vernehmbar, die summende Stimme. Wo nahm sie bloß die Kraft her? Die Tür wurde geöffnet, und Fancy kam heraus, ein Handtuch um die Hüften gewickelt, ein anderes, womit sie ihr Haar trocknete, in den Händen. »Guten Morgen, Liebhaber«, sagte sie. Und sie dachte: Er sieht völlig verbraucht aus. Er starrte sie wortlos an, durchsuchte wieder sein Gedächtnis. »Hat es dir keinen Spaß gemacht, mit mir zu züchten?« fragte sie. Das war es! Das war das Ding gewesen, an das er sich hatte erinnern wollen. Mit ihr züchten? Konnte sie eine von diesen verrückten, angetörnten Schnepfen der Protestbewegung sein: Sex nur zur Fortpflanzung? »Was hast du mit mir gemacht?« fragte er. Seine Stimme kam in einem rauhen Krächzen, das ihn erschreckte. »Gemacht? Ich habe bloß ...« Er hob matt den linken Arm, um ihr die Stelle zu zeigen, wo sie ihm diese geheimnisvolle Injektion verpaßt hatte. Eine schwache Verfärbung war dort sichtbar, beinahe wie ein Bluterguß. »Ach, das«, sagte sie. »Hat es dir nicht gefallen, als du angeknallt warst?« Er ließ sich aufs Bett zurückfallen und schob sich das Kopfkissen unter den Nacken. Herrgott, war er ausgelaugt! »Angeknallt«, sagte er. »Also hast du mir irgendeine Droge gespritzt.« »Ich gab dir nur einen zusätzlichen Vorrat davon, was jeder Mann hat, wenn er zum Besamen bereit ist«, sagte sie, ein wenig verwundert. Außenseiter waren in diesen Dingen so komisch. Peruges Kopf schmerzte höllisch. Und er fühlte, daß ihre Worte den Schmerz vermehrten. Langsam wälzte er sich auf die Seite und sah sie an. Herr im Himmel! Was für einen | 206 |
Körper das Weib hatte! Er räusperte sich und sagte mühsam, aber klar: »Was soll dieser Scheiß mit Züchten und so?« »Ich weiß, ihr gebraucht andere Worte dafür«, sagte sie in einem Versuch, vernünftig zu argumentieren, »aber wir nennen es eben so – züchten.« »Wir?« »Meine – meine Freunde und ich.« »Und mit denen züchtest du auch?« »Manchmal.« Bekloppte Kommune-Shitköpfe! Konnte es das sein, was Hellstrøm hinter seinen Filmkulissen trieb: Sexorgien mit aphrodisischen Rauschdrogen? Peruge verspürte plötzlich einen tiefen, lüsternen Neid. Angenommen, das war es, was diese Verrückten machten! Angenommen, sie veranstalteten regelrechte Partys von der Art, wie er sie mit Fancy erlebt hatte. Es war natürlich schlecht. Aber welche Wirkung eine solche Erfahrung auf einen Mann haben konnte! Auf eine Frau auch, ohne Zweifel. Es war kriminell, so was zu tun, aber ... Fancy ließ ihre Handtücher fallen, hob den Arbeitskittel vom Boden auf und begann ihn anzuziehen. Ihre Nacktheit schien sie so wenig zu genieren wie am Abend zuvor. Ungeachtet seiner Kopfschmerzen und tiefen Mattigkeit bewunderte er ihre sinnliche Anmut. Sie war ganz Frau! Beim Ankleiden wurde Fancy bewußt, daß sie hungrig war, und sie überlegte, ob Peruge ihr Geld für ein Frühstück geben würde. Der bloße Gedanke an exotische Außenseiternahrung machte ihr den Mund wässern, aber als sie sich in den Lagerräumen des Stocks für ihr Abenteuer ausgerüstet hatte, war sie nicht auf den naheliegenden Gedanken gekommen, Geld mitzunehmen. Ein warmer Mantel, die triebverstärkende Droge und das Fahrrad, aber kein Geld. Ich hatte es eilig, dachte sie und kicherte fröhlich. Die wilden Außenseitermänner machten solchen Spaß, wenn man ihnen einen Schuß gab, als ob sie ihre unterdrückten Energien nur für eine solche Gelegenheit aufgespeichert hätten. Man mußte sie nur richtig anzapfen, dann waren sie unermüdlich. Peruge sah ihr beim Ankleiden zu, und seine ursprünglichen | 207 |
Sorgen kehrten zurück. Was hatte sie in seinem Bett getrieben? – Züchten? Was für ein Unsinn! Aber sie war im Besitz eines unzweifelhaften Aphrodisiakums gewesen, das ließ sich nicht leugnen. Sein eigenes Verhalten während der Nacht war dafür Zeugnis genug. Achtzehnmal hatte er ihr einen geschoben. Achtzehnmal! Irgend etwas an oder in dieser Farm stank zum Himmel. Züchten! »Hast du schon Kinder gehabt?« fragte er sie. »Oh, mehrere«, sagte sie und begriff verspätet, daß es falsch gewesen war, dies zuzugeben. Ihre Ausbildung in den Lebensgewohnheiten und Denkkategorien der Außenseiter machte einen derartigen Ausrutscher unverzeihlich. Es war ein gefährliches Eingeständnis. Peruge konnte nicht ahnen, wie alt sie war. Zweifellos alt genug, um seine Mutter zu sein. Der für Stockbewohner typische Unterschied zwischen äußerer Erscheinung und Alter gehörte zu den Dingen, die man mit Außenseitern nicht teilen durfte. Ihre Antwort verblüffte ihn. »Mehrere? Wo sind sie?« »Ach – bei Bekannten.« Sie versuchte sich gelassen und unbekümmert zu geben, doch sein Nachhaken machte sie vorsichtig und wachsam. Er mußte abgelenkt werden. »Möchtest du noch mal?« fragte sie mit kokettem Lächeln. Aber Peruge war von dieser interessanten Entdeckung nicht abzubringen. »Bist du nicht verheiratet?« »Nein, wieso?« »Wer sind die Väter deiner mehreren Kinder?« fragte er. Seine Beharrlichkeit machte sie zunehmend nervöser. »Ich mag nicht darüber sprechen.« Mit einer gekünstelten Schau von Gelassenheit ging sie zum Fahrrad hinüber, nahm den Pelzmantel von der Lenkstange und hielt ihn über dem Arm. »Wohin gehst du?« fragte er. Er schob die Beine über die Bettkante und ließ sie auf den kalten Fußboden fallen, was ihn momentan ein wenig ermunterte. Aber sein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und er war so müde, daß er keine zwei Minuten nachdenken konnte. Dazu kam jetzt ein Schmerz in seiner Brust. Was zum Henker war in dieser Spritze gewesen? Sie hatte ihn richtig aufgebraucht. | 208 |
»Ich habe Hunger«, erklärte sie. »Kann ich das Fahrrad dalassen, während ich essen gehe? Vielleicht können wir später noch mal züchten.« »Essen?« Der bloße Gedanke daran verursachte ihm Übelkeit. »Ein Stück weiter die Straße entlang gibt es ein Café«, sagte sie. »Nach dieser Nacht«, fügte sie kichernd hinzu, »bin ich wirklich sehr hungrig.« Wenigstens muß sie zurückkommen und ihr verdammtes Fahrrad holen, dachte er. In seinem gegenwärtigen geschwächten Zustand konnte er sie ohnehin nicht am Fortgehen hindern. Aber wenn sie wiederkäme, würde er ein Empfangskomitee für sie bereithalten. Nils Hellstrøms Geheimnis mußte entwirrt werden, und das Anfangsstück des Fadens hieß Fancy. »Bloß rüber ins Café«, sagte er benommen, als müsse er es sich erklären. Richtig, er hatte die Neonschrift gelesen. »Ich will ein – Frühstück«, sagte sie und schluckte erschrocken. Die Nervosität hätte sie fast verleitet, ›Außenseiterfrühstück‹ zu sagen. Das aber war ein Wort, welches man Außenseitern gegenüber nicht erwähnte. »Hast du vielleicht Geld?« fragte sie. »Ich hatte es gestern nacht so eilig, daß ich nichts einsteckte.« Peruge hatte ihren Beinahe-Ausrutscher nicht bemerkt und zeigte zu seiner Hose, die am anderen Ende des Raums auf einem Stuhl lag. »Gesäßtasche. Geldbörse.« Er hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Die Anstrengung des aufrechten Sitzens hatte seine letzten Reserven beansprucht, und die Schmerzen in Brust und Kopf verwirrten und ängstigten ihn. Er sah ein, daß es einer ungeheuren Willensanstrengung bedürfte, um aufzustehen. Vielleicht würde eine kalte Dusche helfen. Er hörte Fancy nach dem Geld fummeln, brachte es nicht über sich, sie anzusehen. Nimm es nur, steck alles ein! Verdammte Schnalle! »Ich nehme fünf Dollar«, sagte sie. »Ist das in Ordnung?« So billig ist es selten, dachte er. Aber sie war offensichtlich keine gewöhnliche Hure, sonst hätte sie mehr genommen. »Klar, nimm dir, was du brauchst.« | 209 |
»Soll ich dir Kaffee oder was mitbringen?« fragte sie. Er sah wirklich krank aus. Sie entdeckte zu ihrer eigenen Überraschung, daß sie sich um ihn sorgte. Peruge schluckte aufbrandende Übelkeit hinunter, winkte schwächlich ab. »Nein – ich, äh ... ich werde mir später was besorgen.« »Meinst du wirklich?« »Ja, geh nur.« »Also gut, dann.« Sein Aussehen erschreckte sie, aschfahl und mit großen Schweißtropfen auf der Stirn, aber sie griff zur Türklinke und drehte den Schlüssel herum. Vielleicht brauchte er nur ein wenig Ruhe. Als sie die Tür öffnete, rief sie ihm munter zu: »Bin gleich wieder da.« »Warte«, sagte er. Mit Mühe hob er den Kopf und drehte ihn behutsam in ihre Richtung. »Hast du es dir überlegt? Soll ich dir doch was mitbringen?« »Nein. Ich – ich überlegte nur. Wir haben also – gezüchtet. Erwartest du, ein Kind von mir zu haben?« »Ich hoffe es ganz bestimmt. Ich bin genau auf der Höhe meiner Fruchtbarkeit.« Sie schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln und fügte hinzu: »Ich gehe jetzt, ja? Es wird nicht lange dauern. Alle sagen, ich sei eine schnelle Esserin.« Sie ging hinaus und schloß die Tür mit unbekümmertem Geräusch hinter sich. Und eine schnelle Züchterin, dachte er. Ihre Antwort trug nur zu seiner Verwirrung bei. In was war er da hineingeraten? Ein Kind? War es das gewesen, was Carlos entdeckt hatte? Er hatte eine plötzliche Vision des stets korrekten Depeaux, wie er von Fancy und ihren Freundinnen in unterirdischer Leibeigenschaft gehalten wurde, eine Art Lustsklave für Dauerorgien mit diesem geheimnisvollen Aphrodisiakum, solange er es aushielt. Eine andauernde Orgie des Züchtens, Säuglinge vom Fließband. Irgendwie konnte er sich Carlos in dieser Rolle nicht vorstellen. Tymiena auch nicht, und schon gar nicht Porter. Tymiena war ihm nie wie der mütterliche Typ vorgekommen. Und der trockene Porter floh vor intimen Begegnungen mit Frauen. | 210 |
Aber Hellstrøm war in etwas verwickelt, was mit Sex zu tun hatte, und wahrscheinlich war es schmutzig wie die Hölle. Peruge rieb sich die Stirn. Im Motelzimmer war eine kleine Maschine, die löslichen Kaffee in Papierbechern lieferte. Er kam taumelnd auf die Füße, fand das Gerät in dem Alkoven neben der Badezimmertür, schaltete es ein und holte nacheinander zwei Papierbecher heraus. Er trank den Kaffee viel zu heiß und verbrühte sich die Zunge, aber schlecht wie das Gebräu war, es ermunterte ihn ein wenig und schien die rasenden Kopfschmerzen zu lindern. Er konnte jetzt ein wenig klarer denken. Er legte die Kette vor die Eingangstür und holte sein Kommunikationsgerät hervor. Schon das zweite Signal zu den Bergen brachte Verbindung mit Janvert. Peruges Hände zitterten, aber er zog einen Stuhl zum Fenster, brachte das Gerät auf dem Sims in Position und schickte sich grimmig an, seinen Bericht zu machen. Sie tauschten die Erkennungssignale aus, und Peruge ließ die ganze Geschichte seiner Nacht mit Fancy vom Stapel, ohne etwas auszusparen. »Achtzehnmal?« fragte Janvert ungläubig. »Soweit ich mich erinnern kann.« »Da muß was los gewesen sein bei Ihnen.« Der Ton kam so klar herein, daß Janverts zynische Erheiterung nicht zu überhören war. »Lassen Sie mich mit Ihrem Scheiß zufrieden«, knurrte Peruge. »Sie schoß mir eine Droge in den Arm, ein Aphrodisiakum oder was, und das Zeug verwandelte mich in einen wildgewordenen Klumpen Fleisch. Vielleicht gelingt es Ihnen, die Information auf der dienstlichen Ebene zu verarbeiten, Janvert. Wir müssen herausbringen, was das für ein Zeug war.« Er blickte auf den kleinen Bluterguß an seinem Arm. »Wie stellen Sie sich das vor?« »Ich werde heute hingehen. Vielleicht stelle ich Hellstrøm deswegen zur Rede.« »Das wäre vielleicht nicht das Klügste. Haben Sie beim Hauptquartier rückgefragt?« »Der Chef will ... Ich habe rückgefragt!« Herr im Himmel! Es war schwierig zu erklären, daß der Chef direkte Verhandlun| 211 |
gen angeordnet hatte. Sein nächtliches Erlebnis konnte diesen Kurs nicht ändern. Es fügte den zu verhandelnden Punkten lediglich einen weiteren hinzu. »Nur ruhig Blut«, sagte Janvert. »Vergessen Sie nicht, wir haben schon drei Leute verloren.« Hielt Janvert ihn für einen Schwachsinnigen? Gerechter Gott! Peruge massierte sich die rechte Schläfe. Herr Jesus, war sein Kopf leer, so leer wie sein Sack. Sie hatte ihn richtig ausgevögelt. »Wie ist dieses Frauenzimmer von der Farm in den Ort gekommen?« fragte Janvert. »Die Nachtwache meldete keine Autoscheinwerfer dort draußen.« »Mit einem Fahrrad, um Christi willen! Habe ich Ihnen das nicht schon gesagt?« »Nein, haben Sie nicht. Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Ich bin bloß ein bißchen abgeschlafft.« »Das kann ich verstehen.« Da fing er schon wieder mit der gottverdammten Witzelei an! »Sie kam also mit einem Fahrrad. Das ist interessant, wissen Sie.« »Was ist interessant?« »Carlos war ein Fahrradnarr. Das Büro in Portland sagte, er habe im Wohnmobil ein Fahrrad mitgenommen. Erinnern Sie sich?« Peruge blickte über die Schulter zu dem an der Wand lehnenden Rad. Er entsann sich jetzt, daß Shorty es erwähnt hatte. Ein Fahrrad. War das möglich? Ließ sich dieses Ding womöglich mit Depeaux in Verbindung bringen? »Haben wir eine Seriennummer oder irgendwas, womit wir Carlos’ Rad identifizieren können?« fragte er. »Vielleicht. Es könnte sogar Fingerabdrücke geben. Wo ist dieses Fahrrad jetzt?« »Hier in meinem Zimmer. Ich passe auf das verdammte Ding auf, während sie im Café frühstückt.« Nun fiel ihm sein ursprünglicher Beschluß ein. Allmächtiger! Wo war sein Verstand? »Shorty«, bellte er in einem momentanen Aufleben seiner alten Kräfte, »schicken Sie so schnell wie möglich zwei von Ihren Leuten hierher. Sie sollen das Fahrrad mitnehmen, | 212 |
ja, aber vor allem müssen wir uns Fancy schnappen und einem langen und gründlichen Verhör unterziehen.« »Das hört sich schon besser an«, sagte Janvert. »DT steht hier neben mir und ist schon auf dem Sprung.« »Nein!« DT mußte dortbleiben und Janvert im Auge behalten. Der Chef hatte das ausdrücklich befohlen. »Schicken Sie Sampsons Gruppe.« »DT kümmert sich darum. Sie fahren in einer Minute los.« »Sagen Sie ihnen, daß sie sich beeilen sollen, ja? Ich weiß nur eine Methode, um diese Schnalle zum Bleiben zu bewegen, und nach der letzten Nacht bin ich dazu wirklich nicht imstande.« Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Meine Kindheit im Stock ist in meiner Erinnerung die glücklichste Zeit, die ein Mensch sich nur wünschen kann. Nichts von dem, was ich wirklich brauchte, wurde mir verweigert. Ich wußte, daß überall um mich her Menschen waren, die mich mit ihrem eigenen Leben beschützen würden. Erst mit den Jahren wurde mir klar, daß ich diesen Leuten das gleiche schuldete, wenn es von mir verlangt wurde. Wie wichtig ist es für uns, von den Insekten zu lernen, und wie sehr unterscheidet sich unsere Einstellung zu ihnen von den primitiven Vorurteilen der Außenseiter. Hollywood zum Beispiel pflegte in seinen Filmen viele Jahre lang den abgeschmackten Unsinn zu verbreiten, die bloße Drohung, ein Insekt über sein Gesicht kriechen zu lassen, könne einen ausgewachsenen Mann dazu bringen, daß er um Gnade bettle und jedes Geheimnis verrate, das er je wußte. Philosoph Harl, der Weiseste unter uns, sagte mir einmal, daß das Insekt für Außenseiter eine verbreitete Schreckensfixierung sei, die von Kindheitsalpträumen bis zu Erwachsenenpsychosen reiche. Wie seltsam, daß Außenseiter nicht über die bloße Erscheinungsform hinwegsehen und die Lehre erkennen können, die für uns alle darin verkörpert ist. Die erste Lektion ist natürlich die, daß das Insekt niemals davor zurückschreckt, für seine Artgenossen zu sterben. »Wie konnten sie diese – diese Außenseiter mit dem Fahrrad | 213 |
entkommen lassen?« sagte Hellstrøm wütend. Er stand in der Sicherheitszentrale des Stocks, einer tief im Innern des Labyrinths gelegenen Kammer, die an alle inneren und äußeren Überwachungssysteme angeschlossen war. Zum wichtigsten Nervenzentrum des Stocks fehlte ihm nur die direkte visuelle Überprüfungsmöglichkeit, welche die Wachstube im Dachgeschoß der Scheune bot. Saldo, der die Meldung gemacht hatte, war über Hellstrøms Zornesausbruch bestürzt. Schließlich ging die ganze unangenehme Entwicklung auf Hellstrøms eigenen Beurteilungsfehler zurück. Er, Saldo, hatte ihn gewarnt, aber Hellstrøm war seinen Argumenten unzugänglich geblieben. Sosehr es Saldo drängte, ihm das vorzuhalten, er mußte einsehen, daß es in diesem Augenblick unklug wäre. »Unsere Beobachter wußten nicht, was geschah, bis es zu spät war«, erklärte er. »Fancy war einige Zeit vorher aus dem Motel gekommen, und die Leute glaubten, daß einstweilen keine Gefahr bestehe. Dann fuhr ein geschlossener Lieferwagen vor. Zwei Männer gingen in Peruges Motelzimmer und brachten das Fahrrad heraus. Sie luden es ein und fuhren fort, ehe unsere Leute die Straße überqueren und sie aufhalten konnten. Wir nahmen die Verfolgung auf, aber es zeigte sich, daß die andere Seite darauf vorbereitet gewesen war. Ein zweiter, größerer Lieferwagen blockierte unsere Verfolgung und ließ die mit dem Fahrrad entkommenen. Bevor wir sie einholen konnten, waren sie schon am Flugplatz und hatten das Fahrrad in eine Privatmaschine verladen.« Hellstrøm schloß die Augen, niedergedrückt von schlimmen Vorahnungen. Diese unvorhergesehene Entwicklung konnte den Anfang vom Ende bedeuten. Nach einer Weile blickte er auf und sagte: »Und während all das geschah, saß Fancy ein Stück weiter im Café und aß Außenseiternahrung.« »Wir haben immer gewußt, wie es in diesem Punkt um sie bestellt ist«, sagte Saldo. »Es ist ein Defekt.« Er machte das Bottichzeichen und hob fragend die Brauen. Hellstrøm schüttelte den Kopf. »Fancy ist noch nicht reif für die Bottiche. Sie kann noch von Wert für uns sein. Wo ist sie jetzt?« | 214 |
»Noch in diesem Café.« »Laß sie abholen und sofort zurückbringen«, befahl Hellstrøm. »Ich hätte das von mir aus anordnen sollen«, sagte Saldo. »Ich war oben in der Wachstube und überwachte unseren Funksprechverkehr mit der Stadt, als diese Sache passierte. Im ersten Augenblick dachte ich nur daran, daß ich dir davon Meldung machen sollte. An Fancy dachte ich erst später.« Hellstrøm nickte verstehend, und Saldo ging rasch zum Sender, ergriff das Mikrofon und übermittelte Hellstrøms Befehl. Handeln tat gut, aber es vermochte seine tiefere Unruhe nicht auszulöschen. Was meinte Hellstrøm mit seiner Anspielung auf Fancys Wert? Wie konnte sie mit solchem unverantwortlichen Verhalten zur Rettung des Stocks beitragen? Aber die Älteren hatten den Jungen gegenüber einen Erfahrungsvorsprung, der sich nicht einholen ließ. Es schien unwahrscheinlich, daß Fancy dem Wohl des Stocks genützt hatte, aber es war nicht auszuschließen. Aus dem Leitfaden: In einer weiteren Hinsicht müssen wir uns davor hüten, allzusehr wie die Insekten zu werden, nach deren Muster wir unseren Plan für das Überleben der Menschheit entwickeln. Das Insekt wurde ein wandernder Verdauungstrakt genannt. Das entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung. Zur Erhaltung des eigenen Lebens konsumiert ein Insekt jeden Tag ein Mehrfaches seines Eigengewichts; auf uns übertragen, würde das etwa dem täglichen Verzehr einer Kuh durch jeden von uns entsprechen. Und mit dem Wachstum einer Insektenpopulation wächst selbstverständlich auch der Nahrungsbedarf. Das Ergebnis liegt auf der Hand. Gäbe es keine hemmenden Faktoren, so würden die Insekten bei ihrer hohen Reproduktionsrate die Erde kahlfressen. Auch hierin sollten wir eine deutliche Warnung sehen. Wenn der Kampf um die Rohstoffreserven und Nahrungsmittel der Erde anhebt, soll niemand sagen, er sei nicht vorgewarnt gewesen. Genauso wie wir unseren Lehrmeister, das Insekt, nicht verzehren lassen dürfen, was wir zum Überleben benötigen, dürfen wir nicht unsererseits durch Raubbau und hemmungslose Ver| 215 |
schwendung den Kahlfraß herbeiführen, der letzten Endes allen Geschöpfen die Lebensgrundlage entzieht. Der natürliche Wachstumsfluß ist der verbindliche Maßstab, der für alles gilt. Den Insekten wie den Menschen ist es möglich, in einer einzigen Woche zu zerstören, was Millionen ein ganzes Jahr lang hätte ernähren können. »Die Leute in Portland haben alle Fingerabdrücke abgenommen, die sie finden konnten«, sagte Janvert über die LaserTrägerwelle. »Der erste vorläufige Bericht besagt, daß einige der Fingerabdrücke mit denjenigen der Frau übereinstimmen, die in Ihrem Zimmer gefunden wurden. Haben unsere Jungs sie einfangen können?« »Sie ist uns entwischt«, grollte Peruge. Angetan mit einem leichten Morgenmantel, saß er am Fenster und blickte hinüber zu den Bergen, auf denen das Morgenlicht lag. Er hatte große Mühe, sich auf den Inhalt des Gesprächs zu konzentrieren. Der Schmerz in seiner Brust wollte nicht nachlassen, und jede Bewegung kostete ihn so viel Energie und Aufwand an Willenskraft, daß er sich jedesmal fragte, ob Reserven übrigbleiben würden. »Was ist passiert?« fragte Janvert. »Hat unsere Gruppe einen Fehler gemacht?« »Nein. Ich hätte sie zum Café schicken sollen. Wir sahen eine Frau herauskommen und in unsere Richtung gehen, aber drei Männer in einem Wagen hielten neben ihr am Straßenrand und fingen sie ab.« »Sie sprangen heraus und packten sie?« »Nein, es gab keinen Kampf. Fancy sprang einfach zu ihnen in den Wagen, und sie fuhren weg. Unsere Leute waren nicht zur Stelle. Der zweite Wagen, der den Abtransport des Fahrrads deckte, war noch nicht zurück. Als wir sahen, was geschah, rannte Sampson hinaus, aber es ging alles zu schnell.« »Zurück zur Farm, wie?« »Ganz bestimmt«, sagte Peruge. »Sie werden den Wagen bald vorfahren sehen.« »Haben Sie die Zulassungsnummer?« »Zu weit entfernt, aber es macht keinen großen Unter| 216 |
schied.« »Sie ging also einfach mit diesen Männern?« »So hatte es von hier aus den Anschein. Sampson meinte, sie habe ein unglückliches Gesicht gemacht, aber sie machte kein Aufhebens.« »Wahrscheinlich war sie enttäuscht, daß sie nicht zurückkommen und mit Ihnen weiterbumsen konnte«, sagte Janvert. »Seien Sie still!« knurrte Peruge, dann rieb er sich die Stirn. Sein Gehirn war wie blockiert, arbeitete nicht wie es sollte. Es gab so viele Einzelheiten zu bedenken, so viele Anweisungen zu geben, aber er fühlte, wie ihm alles entglitt. Vielleicht würde ihn eine kalte Dusche aus dieser Benebelung reißen. Es war Zeit, daß er sich für die Rückkehr zur Farm fertigmachte. »Ich habe in den Akten nachgesehen«, sagte Janvert. »Diese Fancy scheint nach den Beschreibungen mit der Fancy Kalotermi identisch zu sein, die an Hellstrøms Filmgesellschaft beteiligt ist.« »Ich weiß, ich weiß«, seufzte Peruge. »Fehlt Ihnen was?« fragte Janvert. »Sie hören sich an, als ob Sie wacklig auf den Beinen wären. Vielleicht diese Spritze, die sie Ihnen gegeben hat ...« »Mir fehlt nichts!« »Ihre Stimme klingt anders als sonst. Wir wissen nicht, was in diesem Zeug war, womit sie Sie letzte Nacht auflud. Vielleicht sollten Sie sich lieber ärztlich untersuchen lassen. Wir könnten die zweite Mannschaft in den Ort schicken.« »Mit anderen Worten, Sie selbst«, grollte Peruge. »Warum sollten Sie den Spaß allein haben?« sagte Janvert. »Ich sagte Ihnen, daß Sie damit aufhören sollten! Mit mir ist alles in Ordnung. Ich werde eine Dusche nehmen und mich zum Ausgehen fertigmachen. Wir müssen herausbringen, wie sie das gemacht hat.« »Ich möchte der erste sein, der es erfährt«, stichelte Janvert. Dieser alberne Kerl! Peruge unterdrückte einen Fluch, rieb sich den Kopf. Sein Kopf schmerzte, daß es nicht mehr auszuhalten war – und diese Stiche in der Brust konnten auch | 217 |
nichts Gutes bedeuten. Da mußte er einen so kitzligen Auftrag übernehmen und konnte keinen anderen als diesen albernen Zwerg dort oben als Rückendeckung bekommen! Jetzt war es zu spät, um daran etwas zu ändern. Peruge fühlte die Hand an seiner Stirn zittern. »Sind Sie noch da?« fragte Janvert. Peruge verzog bei dem Geräusch schmerzlich das Gesicht. »Natürlich bin ich noch da.« »Wäre es nicht ein dicker Hund, wenn sich herausstellte, daß dieses Projekt 40 ein Aphrodisiakum ist?« Shorty war unmöglich. Er war wie die Antithese dessen, was Peruge jetzt brauchte. Die Bosheit war aus seinen Worten deutlich herauszuhören. Kein Zweifel, daß der Mann unzuverlässig war. Aber was konnte er dagegen unternehmen? Die Gruppen waren gegenwärtig über das ganze Gebiet verstreut. Und er mußte in ein paar Stunden bei dieser verdammten Farm aufkreuzen. Er wußte noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, aber es mußte getan werden. Er versuchte zu überlegen, ob Janverts zynische Hänselei ein Körnchen gesunden Menschenverstand enthalten mochte. Was war in dieser Spritze enthalten gewesen? Herr des Himmels! Wenn er das herausbrächte, ließe sich damit mehr Geld machen als mit zehn metallurgischen Prozessen! Unter dem Ladentisch ein Vermögen machen – keine schlechte Idee. »Sie lassen sich sehr viel Zeit zwischen den Antworten«, sagte Janvert. »Das war alles, und mehr war nicht dran, verdammt noch mal!« Aber Shortys Worte trugen ihm die Saat der Panik zu. Die Nacht mit Fancy hatte seine Auffassung von vielen Dingen verzerrt, auch sein Bild von der Frau schlechthin. »Ihre Stimme gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Janvert. »Ist Sampson noch in der Nähe?« »Ich habe ihn zu Ihnen zurückgeschickt.« »Der andere Wagen ist noch nicht eingetroffen. Wie wäre es, wenn ...« »Sie nehmen mit der Gruppe Verbindung auf, wie ich Ihnen gesagt habe, und sorgen dafür, daß sie zu Ihnen hinauffahren! Haben Sie mich gehört, Shorty?« | 218 |
»Aber dann wären Sie allein in Fosterville. Die andere Seite hätte eine Gruppe dort, und wir ...« »Sie werden nicht wagen, mich anzugreifen!« »Ich glaube, da irren Sie sich. Vielleicht hat man Sie bereits angegriffen. Dieser Ort könnte ganz in Hellstrøms Hand sein. Der Hilfssheriff ist jedenfalls sein Mann, das ist sicher wie die Hölle!« »Ich befehle Ihnen, mit allen Ihren Gruppen auf Beobachtungsposten in den Bergen zu bleiben«, sagte Peruge unwirsch. »Innerhalb von zwei Stunden könnten wir Sie nach Portland in die Klinik schaffen«, sagte Janvert. »Ich werde ...« »Ich verbiete Ihnen, mit dem Hauptquartier in Verbindung zu treten«, sagte Peruge. »Ich denke, Sie sind nicht bei Sinnen. Eine gute Klinik könnte eine gründliche Untersuchung vornehmen und uns sagen, was in der Injektion war.« »Glaube ich kaum. Mein Gott, ja! Sie sagte, es sei ein ...ein Hormon oder was.« »Und Sie glauben das?« »Es ist wahrscheinlich wahr. Schalten Sie jetzt aus und tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe.« Er ließ die Hand auf den Schalter des eigenen Geräts fallen, hörte den Signalton, als der Sender ausschaltete. Verdammt! Alles kostete so unheimlich viel Energie. Er packte das Gerät weg und ging ins Bad. Jede Bewegung mußte dem Körper mit ständig erneuter Willenskraft abgerungen werden. Eine kalte Dusche; das war, was ihm fehlte. Er mußte diesen Zustand endlich überwinden. Die Bodenfliesen zeigten immer noch Nässespuren von Fancys Waschungen. Er stieg in die Wanne und hielt sich mit einer Hand an der Dusche fest, während er mit der anderen nach dem Drehgriff tastete. Kaltes Wasser. Er drehte es ganz auf. Beim ersten Schock des frostigen Gusses zog sich ein scharfes Band aus Schmerz um seine Brust zusammen und schnürte ihm die Luft ab. Er wankte aus der Wanne, nach Atem ringend, ließ das Wasser laufen. Triefend stolperte er aus dem Bad, stieß im Vorbeiwanken die Reste der Kaffeezubereitung vom Tisch, ohne es zu | 219 |
hören. Das Bett! Er brauchte das Bett. Ihm wurde schwarz vor den Augen. Er warf sich naß auf das zerwühlte Laken, wälzte sich auf dem Rücken. Seine Brust war in Brand, seine Glieder zitterten fröstelnd. Es war so kalt! Er drückte das Kreuz durch und versuchte das Bettzeug um sich zu ziehen, aber die Finger verloren ihren Griff, und seine plötzlich ausgestreckte Hand fiel über die Bettkante. Er war tot, ehe die erschlaffenden Finger den Boden berührten. Aus Hellstrøms Tagebuch: In dem Sinne, wie es in der Außenwelt allgemein angenommen wird, ist es nicht möglich, die Natur zu unterwerfen, es sei denn, man zerstörte sie. Was not tut, ist ein Verstehen, daß wir uns in vorhandene Muster einfügen müssen, während umgekehrt unser Einfluß auf die natürlichen Prozesse begrenzt, das Gleichgewicht nicht zerstörende Änderungen bewirkt. Ganz anders die allgemein geübte Praxis, wie sie beispielsweise in der Insektenbekämpfung durch die wilden Außenseiter sichtbar wird. Indem sie sich mit unbekümmerter Rücksichtslosigkeit an die Zerstörung komplizierter natürlicher Zusammenhänge machen und dabei die Ausrottung gefährdeter und schwach resistenter Arten in Kauf nehmen, stärken sie unwissentlich die Verteidigung jener Arten, die sie bekämpfen. Den meisten Insekten – und vielen anderen Tieren – bringen die Gifte der Außenseiter sofortigen Tod. Aber die wenigen überlebenden Insekten entwickeln eine Immunität, eine Unempfindlichkeit gegen das Gift. Und mit ihrer Rückkehr in den Mutterleib Erde geben diese Überlebenden ihre Immunität an neue Generationen von Milliarden Nachkommen weiter. Wenn man von draußen kam, dachte Fancy, war der Stock immer so sauber, geordnet und beruhigend. Sie bewunderte die Art und Weise, wie die Arbeiter und Arbeiterinnen ohne Aufhebens ihren Tätigkeiten nachgingen. Mit jener ruhigen, zielbewußten Bestimmtheit, die keine Zweifel offenließ. Selbst die Eskorte, die sie durch die vertrauten Stollen und Galerien und Aufzüge hinabgeleitete, machte diesen Eindruck. Es kam ihr nicht in den Sinn, die Arbeiter der Eskorte als Bewacher zu empfinden; sie waren Arbeiter wie sie selbst, Mitglied einer | 220 |
einzigen Gemeinschaft. Es war gut, gelegentlich aus dem Stock herauszukommen, aber die Rückkehr war noch viel besser. Dies um so mehr, als sie mit dem beinahe sicheren Wissen nach Hause kam, daß sie durch ihr nächtliches Unternehmen das Genreservoir des Stocks bereichert hatte. Die bloße Gegenwart des Stocks um sie her tröstete und erfrischte ihren Geist und Körper. Andererseits mochte sie die Außenwelt und ihre Abenteuer auch nicht missen. Außenseiter konnten sehr unterhaltend sein, besonders die wilden und ungebärdigen Männer. In ihren achtundfünfzig Jahren hatte Fancy neun Kinder zur Welt gebracht, deren Erzeuger Außenseiter gewesen waren. Das war ein verdienstvoller Beitrag zum Genreservoir. Sie verstand sich auf Genetik, genauso wie sie sich auf Insekten verstand. Sie war eine Spezialistin. Männliche Außenseiter, Ameisen und Bienen waren ihre Lieblinge. Manchmal, wenn sie im Labor einen Bienenstock oder eine Ameisenkolonie beobachtete, stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie sich unter ihre Schutzbefohlenen begeben und vielleicht sogar ihre Brutmutter werden könnte. Vielleicht wäre nur eine biochemische Akklimatisierung nötig, um von den Bienen oder Ameisen als eine der ihren akzeptiert zu werden. In ihrer Phantasie konnte sie sich die Eskorte, die sie jetzt tief ins Innere des Stocks geleitete, als ihre Königinnen-Leibwache vorstellen. Sie war die Bienen- oder Ameisenkönigin. Und das Seltsame an der Sache war, daß die Tiere tatsächlich dazu neigten, sie zu akzeptieren. Ameisen, Bienen, viele Insektenarten zeigten sich wenig oder nicht beunruhigt, wenn Fancy in ihren Bereich eindrang. Von dieser Erkenntnis und den Königinnenphantasien war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Vorstellung des Stocks als ihrer eigenen Kolonie. So gründlich hatten diese Vorstellungen von Fancys Bewußtsein Besitz ergriffen, daß sie Hellstrøm, als die Eskorte sie zu ihm brachte, zuerst mit königlicher Herablassung betrachtete und nicht bemerkte, in welchem Zustand er war. Hellstrøm sah, daß sie noch immer den Pelzmantel trug, den sie in der Kleiderkammer gestohlen hatte. Außerdem schien sie mächtig stolz auf sich zu sein. Er nickte den Bewachern | 221 |
zu, und sie zogen sich in den Hintergrund zurück, blieben aber wachsam und bereit zum Eingreifen. Saldo hatte ihnen sehr eindeutige Befehle erteilt. Viele Wacharbeiter begannen in diesen Tagen zu erkennen, daß Saldo Qualitäten besaß, die Gehorsam verlangten. »So, Fancy«, sagte Hellstrøm seufzend und bedachte sie mit einem müden, aber sorgfältig neutralen Blick. Neben ihm stand ein Schreibtisch, und sie ließ sich ohne Umschweife auf eine Ecke nieder und lächelte breit zu ihm auf. Hellstrøm schob den Sessel hinter den Schreibtisch zurück und ließ sich mit einem Gefühl von Dankbarkeit hineinsinken. Er legte die Fingerspitzen aneinander, visierte sie darüber an und sagte: »Fancy, würdest du versuchen, mir zu erklären, was du dir bei dieser nächtlichen Eskapade gedacht hast?« »Ich verbrachte die Nacht bloß mit deinem gefährlichen Mr. Peruge«, sagte sie. »Er war nicht gefährlicher als jeder andere Außenseiter, mit dem ich gezüchtet habe.« »Du hast Gegenstände aus den Vorratslagern des Stocks gestohlen«, sagte Hellstrøm. »Erzähl mir Näheres darüber.« »Nur diesen Mantel und eine Injektionsampulle von unseren triebverstärkenden männlichen Hormonen«, sagte sie. »Die brauchte ich, um ihn scharf zu machen.« »Reagierte er darauf?« »Es war nicht anders als sonst auch.« »Du hast das früher schon getan?« »Schon oft«, sagte sie unbefangen. Hellstrøm benahm sich so sonderbar. Er nickte gedankenvoll und versuchte eine weitere Botschaft in Fancys Reaktionen hineinzuinterpretieren: daß sie aus dem Bewußtsein der fundamentalsten Bedürfnisse des Stocks heraus gehandelt habe. Eine Anreicherung des Genreservoirs war grundsätzlich zu begrüßen, und Peruges Erbmasse würde darüber hinaus hochwillkommen sein. Aber sie hatte ein streng gehütetes Geheimnis des Stocks in die Außenwelt gebracht und billigend in Kauf genommen, daß Außenseiter entdeckten, wie umfassend die Kenntnisse des Stocks von der Funktionsmasse menschlicher Hormone waren. | 222 |
Und nach ihrer eigenen Aussage hatte sie dies mehr als einmal getan. Wenn Außenseiter auf diesem Umweg vom Stock selbst und von seinen Techniken zur Manipulation der biochemischen Prozesse im menschlichen Körper erfuhren ... »Hast du jemals mit anderen darüber gesprochen?« fragte Hellstrøm. »Ich habe mit vielen anderen Züchterinnen darüber gesprochen«, sagte sie. Was war nur mit dem alten Nils los? sie erkannte jetzt, daß er gegen tiefsitzende innere Spannungen ankämpfte. »Mit Züchterinnen«, murmelte er kopfschüttelnd. »Gewiß doch. Viele von uns nehmen die Hormone mit, wenn wir nach draußen gehen.« Hellstrøm hatte Mühe, die Selbstbeherrschung zu wahren. Er war erschüttert. Und keiner der leitenden Spezialisten des Stocks hatte jemals Verdacht geschöpft! Welche ungeahnten Dinge mochten hier im Stock noch vor sich gehen? »Peruges Freunde haben das Fahrrad«, sagte Hellstrøm. Sie sah ihn verständnislos an. »Das Fahrrad, das du mitnahmst, als du dich unerlaubt aus dem Stock davonmachtest«, sagte Hellstrøm ungeduldig. »Ohh! Die Arbeiter, die mich abholten, hatten es so eilig, daß ich es ganz vergaß.« »Mit dem Diebstahl dieses Fahrrads hast du eine Krise geschaffen«, sagte Hellstrøm. Wieder traf ihn der verständnislose Blick. »Wieso?« »Kannst du dich nicht erinnern, wie wir zu diesem Fahrrad gekommen sind?« In plötzlichem Verstehen schlug sie die Hand vor den Mund. Sie hatte das Rad genommen, weil es eine bequeme Möglichkeit gewesen war, rasch in den Ort zu kommen. Es war auch ein gewisser Stolz beteiligt gewesen. Sie war eine der wenigen Stockbewohner, die gelernt hatten, mit einem Fahrrad umzugehen. In der vergangenen Woche hatte sie ihre Fähigkeiten vor den Ingenieuren demonstriert und einen von ihnen sogar das Fahren gelehrt. Nils’ Worte weckten nun ihren angezüchteten Schutzinstinkt für die Gemeinschaft des Stocks. Wenn dieses Fahrrad mit dem Paar in Verbindung gebracht werden konnte, | 223 |
das sie in die Bottiche geworfen hatten ... »Was kann ich tun, um es zurückzubekommen?« fragte sie. Das ist die Fancy, mit der ich arbeiten und die ich sogar bewundern kann, dachte Hellstrøm. Aber ihre Wachsamkeit kam zu spät. Als er nicht antwortete, sagte sie: »Peruge kommt heute, um mit dir zu sprechen. Kann ich verlangen, daß er mir das Rad zurückgibt?« »Es ist zu spät. Sie haben es mit einem Flugzeug fortgebracht. Das kann nur bedeuten, daß sie Verdacht geschöpft haben.« Sie nickte. Fingerabdrücke und Seriennummern waren auch ihr ein Begriff. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir leugneten, daß wir dieses Fahrrad je hatten«, sagte sie. »Auch deine Fingerabdrücke müssen daran sein«, sagte Hellstrøm. »Und bestimmt gibt es welche, die dich darauf gesehen haben.« Und er dachte bekümmert: Das Beste wäre vielleicht, wenn wir leugneten, das Fancy existiert. Wir haben andere, die ihr hinreichend ähnlich sind. Konnten ihre Fingerabdrücke auf einigen von den Papieren sein, die sie als Fancy Kalotermi unterschrieben hatte? Das lag so weit zurück, daß es seinem Gedächtnis entfallen war. »Ich habe unrecht getan, nicht wahr?« fragte Fancy, die den Umfang des von ihr geschaffenen Problems zu begreifen begann. »Es war unrecht von dir und anderen Frauen, Lagervorräte des Stocks nach draußen zu tragen. Es war unrecht, dieses Fahrrad zu nehmen.« »Das Fahrrad – ja, das sehe ich jetzt ein«, gab sie zu. »Aber die Ampullen sollten nur die Befruchtung sichern.« Noch während sie sprach, mußte sie sich eingestehen, daß dies nicht völlig erklärte, warum sie und die anderen Lagervorräte des Stocks so verwendet hatten. Zuerst war es ein Experiment gewesen, dann die köstliche Entdeckung, wie empfänglich männliche Außenseiter darauf reagierten. Sie hatte die Entdeckung mit mehreren Schwestern geteilt. | 224 |
Außenseitern, die neugierig geworden waren, hatten sie erzählt, es sei eine sehr kostspielige neue Droge, die sie gestohlen hätten. Es sei so gut wie ausgeschlossen, mehr davon zu beschaffen. »Du mußt alle Frauen, die an deinem Trick teilgenommen haben, namentlich angeben«, sagte Hellstrøm. »Oh, Nils!« »Du weißt genau, daß du es tun mußt. Ihr alle werdet ausführliche Berichte über die Reaktionen der betroffenen Außenseiter zu Papier bringen, ob welche von ihnen mißtrauisch wurden, wer sie waren, wie oft ihr die Vorratslager beraubt habt – alles.« Sie nickte niedergeschlagen. Die kalte Härte in seiner Stimme sagte ihr, daß daran nicht vorbeizukommen war. Es mußte sein. Der Spaß war zu Ende. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir später einmal kontrollierte Experimente in der Außenwelt durchführen werden«, sagte Hellstrøm. »Aus diesem Grund müssen die Berichte so ausführlich wie möglich gehalten werden. Alle erinnerten Einzelheiten, mögen sie noch so unbedeutend erscheinen, können von Wert sein.« »Ja, Nils.« Sie war jetzt zerknirscht, aber insgeheim regte sich schon wieder neue Hoffnung. Vielleicht war der Spaß doch noch nicht zu Ende. Kontrollierte Experimente bedeuteten weitere Anwendung von Methoden des Stocks bei Außenseitern. Wer wäre für ein solches Projekt besser qualifiziert als jene, die in solchen Taktiken Erfahrung hatten? »Fancy, Fancy«, sagte Hellstrøm kopfschüttelnd. »Der Stock ist nie in größerer Gefahr gewesen, und du fährst fort, deine Spielchen zu treiben. Warum?« Sie schwieg. »Es ist möglich, daß wir uns infolge deines Verhaltens gezwungen sehen werden, dich zu stutzen oder in die Bottiche zu schicken«, sagte Hellstrøm. Ihre Augen weiteten sich in Entsetzen. Sie glitt von der Schreibtischkante und stand Hellstrøm gegenüber, die Hände ineinander verkrampft. Die Bottiche! Aber sie war noch zu jung! Sie hatte noch viele | 225 |
Jahre nützlicher Arbeit vor sich! Sie brauchten ihre Talente im Umgang mit den Insekten. Niemand war darin besser als sie! Sie begann diese Argumente zaghaft vorzubringen, aber Hellstrøm schnitt ihr das Wort ab. »Fancy! Der Stock kommt zuerst!« Die Unbarmherzigkeit, die hinter diesen Worten stand, erschreckte sie, aber dann, im Augenblick höchster Bedrängnis, erinnerte sie sich plötzlich an etwas, was sie zu ihm hatte sagen wollen. Gewiß, der Stock kam zuerst! Glaubte er am Ende, sie sei der Außenwelt verfallen? »Ich habe noch was zu melden«, sagte sie atemlos. »Vielleicht ist es wichtig.« »Was ist es?« »Der Triebverstärker hatte auf Peruge eine durchschlagende Wirkung. Manchmal war er wie von Sinnen und redete irgendwelches Zeug. Als ich es merkte, stellte ich ihm Fragen. Er war nicht richtig da, reagierte nur, aber ich glaube, daß er die Wahrheit sagte.« »Was sagte er?« »Er sagte, er wolle ein Geschäft mit dir machen. Den gefundenen Papieren über das Projekt 40 hätten sie entnommen, daß wir eine neue Methode zur Metallbearbeitung entwickelt hätten. Er sagte, ein Durchbruch auf diesem Gebiet der Metallurgie könnte Milliarden wert sein. Ich verstand nicht alles von dem, was er sagte, aber das war das Wesentliche.« Hellstrøms Erleichterung war so groß, daß er sie am liebsten umarmt hätte. Der Stock hatte tatsächlich durch sie gewirkt! In diesem Augenblick kam Saldo herein, und Hellstrøm war in seiner Begeisterung nahe daran, ihn herüberzurufen und ihm alles zu erzählen. Fancys Entdeckung schien einen Ausweg anzuzeigen. Die Invasion der fremden Eindringlinge hatte wirtschaftliche Gründe! Er mußte das Forschungslaboratorium sofort davon verständigen. Dieser Gedanke der metallurgischen Anwendung mochte sich für die eigenen Forschungen als nützlich erweisen. Zuweilen kamen die wilden Außenseiter auf überraschende Ideen. »Habe ich geholfen?« fragte Fancy hoffnungsvoll. »Das hast du!« Saldo, der ein paar Worte mit einem Arbeiter an den | 226 |
Überwachungsinstrumenten gewechselt hatte, blickte zu Hellstrøm herüber und schüttelte den Kopf. Peruge war also noch nicht unterwegs. Hellstrøm konnte jetzt kaum erwarten, daß Peruge käme. Metallurgie! Erfindungen! All diese geheimnisvollen Anspielungen ergaben jetzt einen Sinn. »Hat Peruge sonst noch irgend etwas gesagt?« fragte Hellstrøm. Fancy schüttelte den Kopf. »Nichts über die Organisation, für die er arbeitet, den staatlichen Geheimdienst oder was?« »Also, wenn ich mich recht besinne, sagte er was über jemanden, den er Chef nannte. Er haßte diesen Chef. Er fluchte fürchterlich.« »Du hast sehr geholfen«, sagte Hellstrøm, »aber jetzt mußt du untertauchen.« »Untertauchen?« »Ja. Du hast in vielerlei Hinsicht geholfen. Darum will ich dir diesmal noch vergeben, daß du eigenmächtig gehandelt und Lagervorräte gestohlen hast. Deine Tat hat mir ins Bewußtsein zurückgerufen, daß die biochemischen Funktionen des Körpers bei uns und den Außenseitern die gleichen sind. Wir haben uns in dreihundert Jahren natürlich in einigen Punkten verändert, weil wir dafür gezüchtet wurden, aber die meisten organischen Funktionen sind identisch.« Er blickte auf und lächelte. »Fancy, wir wollen von einer Bestrafung noch einmal absehen. Aber du bist gewarnt. Du weißt, was dich erwartet, wenn du wieder etwas unternimmst, ohne uns zu fragen.« »Das werde ich nicht tun. Wirklich nicht.« »Hoffen wir es, in deinem Interesse. Besteht die Möglichkeit, daß der nächtliche Ausflug erfolgreich war?« Fancys niedergeschlagene Miene hellte sich ein wenig auf. »Meine Fruchtbarkeit ist jetzt am größten, und ich glaube wirklich, daß es geklappt hat. Ich kann es ziemlich gut beurteilen.« »Laß einen Test machen«, sagte er. »Wenn er positiv ausfällt, sollte die Zeit, die du im Versteck zubringen mußt, angenehm genug werden. Aber ehe du in den Ruhezustand gehst, will ich einen genauen Bericht und eine Liste mit den Namen der | 227 |
anderen Frauen von dir. Ist das klar?« »Ja, Nils, völlig klar. Ich werde sofort zum Labor gehen und den Test machen lassen. Und dann schreibe ich alles auf.« Sie wandte sich um und eilte hinaus. Eigentlich war sie eine ziemlich lächerliche Person, dachte er. Was hatten sie alles in diese Abstammungslinie hineingezüchtet? Als Fancy gegangen war, kam Saldo zu ihm herüber. Hellstrøm rieb sich das Kinn. Er behandelte sein Gesicht täglich mit Haarentferner, aber der Bart wuchs trotzdem nach. Bevor er Peruge empfinge, würde er sich rasieren müssen. Bei Begegnungen mit Außenseitern war die äußere Erscheinung wichtig. Saldo blieb vor ihm stehen, und Hellstrøm fragte abwesend: »Was willst du?« »Ich hörte dein Gespräch mit Fancy«, sagte Saldo. »Auch was sie über Peruge sagte?« Saldo nickte. »Glaubst du immer noch, daß es besser gewesen wäre, wenn ihr sie erwischt und im Stock behalten hättet?« fragte Hellstrøm. Saldo zuckte die Achseln. »Wenn ihr eigenmächtiger Ausflug in diesem Fall nützlich gewesen ist, dann war das ein glücklicher Zufall, Nils.« »Es war der Stock, der es entgegen unseren Bestrebungen so wollte«, sagte Hellstrøm. »Der ganze Stock kann als ein einziger Organismus reagieren, er kann aber auch durch jeden von uns handeln. Vergiß das nicht.« »Wenn du es sagst«, meinte Saldo. Aber es klang nicht überzeugt. »Ich sage es. Und noch etwas. Wenn du sie zu dem Bericht verhörst, den sie schreiben wird, sei freundlich mit ihr. Und auch mit den anderen Frauen, die sie nennt.« »Freundlich? Sie hat den Stock in Gefahr gebracht! Und die anderen mit ihr. Wenn sich jetzt herausstellt, daß ihre Eigenmächtigkeiten eine für uns positive Nebenwirkung hatten, dann ist das nicht ihr Verdienst.« »Ich sage dir, der Stock wirkt durch sie! Sie zeigen uns den Ausweg. Tue, wie ich dir gesagt habe.« | 228 |
»Ja, Nils.« Saldo war überzeugt, daß diese Befehle der Vernunft widersprachen, aber er brachte es nicht über sich, dem Führer und Vorsitzenden des Rats in offenem Ungehorsam entgegenzutreten. Hellstrøm stand auf und steuerte den Ausgang an. »Wirst du in deiner Zelle sein, wenn ich dich brauche?« fragte Saldo. »Ja. Laß mich rufen, sobald Peruge gesichtet wird.« Aus den Aphorismen des Philosophen Harl: Betrachte die Natur als einen Gegner, der unterworfen werden muß, und du bist auf dem besten Weg, dich selbst zu zerstören. Statt gleich zu seiner Zelle zu gehen, wandte Hellstrøm sich im Hauptkorridor nach links, bog in einen Seitenstollen und bestieg die offene Kabine eines Paternosteraufzugs, die er in Ebene einundfünfzig wieder verließ. Der Hauptkorridor dieser Ebene glich denen weiter oben, war aber weniger belebt und vermittelte einen Eindruck gedämpfter Stille. Die Arbeiter, die hier ihren Beschäftigungen nachgingen, taten es besonnen und im Bewußtsein der Notwendigkeit, unnötigen Lärm zu vermeiden. Als der breite, bogenförmige Eingang zu den Laboratorien und Werkstätten in Sicht kam, wo am Projekt 40 gearbeitet wurde, begann Hellstrøm zu überlegen, was er den Spezialisten sagen würde. ›Außenseiter glauben, es handle sich um eine Erfindung zur Metallherstellung und -bearbeitung. Sie gewannen diesen Eindruck aus dem Studium der Seiten 17-41 des Untersuchungsberichts TRZ-88. Obwohl sie nur über diesen winzigen Ausschnitt unserer Arbeit informiert sind, ist ihnen das Problem der Hitzeentwicklung offensichtlich bewußt.‹ Das sollte reichen. Kurz und bündig, so daß die charakteristische Ungeduld und Gereiztheit der Forschungsarbeiter angesichts jeder Störung nicht unnötig herausgefordert wurde. Nachdem er die außenliegenden Werkstätten durchwandert hatte, machte er im Eingang des höhlenartig überwölbten Zentrallabors halt, um eine Unterbrechung der Arbeiten abzu| 229 |
warten, die ihm erlauben würde, sein Anliegen vorzutragen. Außenstehende drangen hier nur in den dringendsten Fälle ein. Die Spezialisten waren für ihre Heftigkeit bekannt. Obgleich er durch die Zusammenarbeit mit den Forschungsspezialisten des Stocks hinreichend mit ihnen vertraut war, um auf ihre äußerliche Fremdartigkeit nicht emotional zu reagieren, dachte Hellstrøm oft, welches Aufsehen diese Zucht erregen würde, wenn sie unter den wilden Außenseitern auftauchte. Im Mittelteil des weitläufigen Raums arbeiteten ungefähr zwanzig von ihnen unter taghellen Flutlichtlampen an einem mächtigen, röhrenförmigen Objekt, das mit einem komplizierten Gewirr von Metalleitungen und Hilfsaggregaten unbekannter Funktion überkrustet war. Jeder Forscher war in Begleitung eines muskulösen Symbionten. Diese Spezialisten waren äußerst schwierig zu züchten und am Leben zu erhalten. Ihre riesigen Köpfe (annähernd vierzig Zentimeter vom schneeigen Haaransatz bis zum bartlosen Kinn, achtundzwanzig Zentimeter von Schläfe zu Schläfe über den hervorquellenden Augen, deren Glanz sich erschreckend von der schwarzen Gesichtshaut abhob) machten für jeden von ihnen die Geburt durch Kaiserschnitt zur Lebensvoraussetzung. Keine Frau hatte jemals mehr als drei zur Welt gebracht, und eine hohe Quote von Fehlgeburten in den ersten Monaten der Schwangerschaft komplizierte die Zucht. Auch war die Müttersterblichkeit bei dieser Züchtung sehr hoch, doch zahlte der Stock willig den hohen Preis für diese geschätzten Spezialisten. Sie hatten ihren Wert ungezählte Male bewiesen und waren einer der Gründe gewesen, welche die ersten Kolonisten nach ihren jahrhundertelangen verschwiegenen Wanderungen zur Seßhaftwerdung bewogen hatten. Diese Spezialisten mußten um jeden Preis vor den Augen der Außenwelt verborgen werden. Auch ihre Arbeit mußte verborgen bleiben; sie stempelte die Stockgeborenen als andersartig ab. Der Betäubungsstab, als dessen Weiterentwicklung Projekt 40 angesehen werden konnte, war nur eine ihrer Schöpfungen. Sie hatten den elektronischen Geräten des Stocks einen merklichen Vorsprung an Zuverlässigkeit, Leistungskraft und Vollkommenheit gegeben. Sie hatten auf | 230 |
dem Gebiet der Biochemie Bahnbrechendes geleistet und Nahrungsmittelzusätze entwickelt, mit deren Hilfe Arbeiter, die für Zuchtzwecke ungeeignet waren, ohne gesundheitliche Schäden wirksam geschlechtslos gemacht werden konnten. Die Forscher waren auf den ersten Blick zu erkennen. Neben der Hypertrophie des Gehirns wies die genetische Linie ihrer Züchtung charakteristische Besonderheiten auf, die sie noch weiter von der menschlichen Normalform entfernten und die ohne Gefährdung der überragenden Intelligenz bisher nicht hatten herausgezüchtet werden können. Ihre Beine waren verkümmerte Stümpfe, und jeder Spezialist bedurfte der ständigen Bedienung durch einen muskulösen, speziell für Körperkraft und Fügsamkeit gezüchteten, chemisch geschlechtslos gemachten Arbeiter. Die beinahe völlige Nutzlosigkeit der Beine hatte zur Folge, daß die Wissenschaftler auf Rollstühlen gefahren oder von ihren Symbionten in den Armen getragen wurden. Ihre Arme, obschon nicht verkümmert, waren dünn und schwächlich, mit schmalen, langen und feingliedrigen Händen. Die Spezialisten waren genetisch steril, jeder eine Einzelschöpfung, die mit ihm endete. Da ihre Intelligenzleistung unter Beruhigungsmitteln oder chemischen Emotionsdämpfern gelitten haben würde, waren sie dem Auf und Ab ihrer Gemütsbewegungen ausgeliefert und neigten in ihrem Umgang mit allen anderen Arbeitern zur Empfindlichkeit und cholerischer Gereiztheit. Selbst ihre symbiotischen Diener, ohne die sie so gut wie hilflos waren, wurden häufig Opfer solcher Unmutsausbrüche. Nur im Umgang miteinander verrieten sie, daß sie menschlicher Wärme und kameradschaftlichen Mitgefühls fähig waren. Schließlich hielt einer der Spezialisten in seiner Beschäftigung inne und blickte zu Hellstrøm herüber. In der Zeichensprache des Stocks signalisierte er Eile und machte Hellstrøm unmißverständlich klar, daß er die Arbeit nicht verzögern solle und daß seine störende Anwesenheit das Denken beeinträchtige. Hellstrøm eilte näher. Er erkannte eine der ältesten lebenden Vertreterinnen dieser Abstammungslinie, eine Spezialistin, deren Haut von den Brandnarben eines mißglückten | 231 |
Experiments entstellt war. Sie war in der Obhut eines blassen, geschlechtslosen Dieners mit gebeugten Schultern, dessen Arme und Oberkörper mit schwellenden Muskeln bepackt waren. Er neigte den Kopf und lächelte in schüchterner Verlegenheit, als Hellstrøm in Zeichensprache seine Meldung machte. »Was kümmert es uns, welche Vorstellungen die Außenseiter haben?« antwortete die Spezialistin. »Es gelang ihnen, aus diesen wenigen Textseiten auf das Überhitzungsproblem zu schließen«, signalisierte Hellstrøm. Sie ging unvermittelt zur gesprochenen Sprache über, die ihrer Gereiztheit bessere Ausdrucksmöglichkeit bot. »Denkst du vielleicht, Außenseiter könnten uns etwas lehren?« »Wir lernen häufig aus ihren Fehlern«, sagte Hellstrøm, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sei einen Augenblick still«, befahl sie und schloß die Augen. Hellstrøm wußte, daß sie in ihrem Gedächtnis die betreffenden Seiten überflog und die Wechselbeziehungen des Inhalts zur gegenwärtigen Arbeit und zu Peruges irrigen Ansichten überprüfte. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und sagte: »Verschwinde.« »Hilft euch das?« fragte Hellstrøm. »Es hilft«, sagte sie. Nachdem sie sich das Eingeständnis mit widerwilligem Knurren abgerungen hatte, fügte sie in wiederkehrender Gereiztheit hinzu: »Anscheinend kann ein Typ wie du gelegentlich sogar etwas Nützliches lernen – wenn ein glücklicher Zufall nachhilft!« Hellstrøm unterdrückte ein Lächeln, bis er sich umgewandt hatte und auf dem Weg hinaus war. Beim Ausgang blickte er noch einmal zurück und sah mehrere Spezialisten im Gespräch vereint. Die langfingrigen Hände waren unaufhörlich in Bewegung und begleiteten und ergänzten die verbale Kommunikation durch Zeichensprache. Hellstrøm glaubte wiederholt das Symbol für Hitze auszumachen, aber die meisten anderen Zeichen entgingen ihm. Die Forscher hatten für den internen Gebrauch ihre eigene Zeichensprache entwickelt, und selbst | 232 |
wenn er sie hätte lesen können, wäre ihm der Sinn der hochspezialisierten Darlegung mit Sicherheit verborgen geblieben. Aber er wußte, daß sie die neue Information sehr bald ausgewertet und für das Projekt nutzbar gemacht haben würden. Mimeca Tichenums Bericht über die Anwendung triebverstärkender Mittel bei Außenseitern: Innerhalb weniger Sekunden nach der Injektion unserer Standardformel für Besamer beginnt sich die Haut des männlichen Außenseiters zu erwärmen und zu röten. Diese Reaktion entspricht derjenigen bei Stockbewohnern, ist aber stärker ausgeprägt und verläuft schneller. Sie dauert nicht länger als fünf bis zehn Sekunden. Von da an wird die Unähnlichkeit immer ausgeprägter. Bei vielen Außenseitermännern tritt eine anfängliche Muskelstarre auf, die sie praktisch unbeweglich macht, bis die zur Besamung erforderlichen Veränderungen eingetreten sind. Diese Reaktion ist jedoch nicht bei allen zu beobachten. Kurz darauf oder auch gleichzeitig entsteht eine extrem dauerhafte Erektion, die durch einen einzigen Orgasmus niemals beendet wird. Eine Reaktion mit sechs Orgasmen ist nicht ungewöhnlich. In einem Fall zählte ich einunddreißig. Gleichzeitig gibt der Mann bitter riechende Schweißabsonderungen von sich, die charakteristisch zu sein scheinen und die ich außerordentlich erregend finde. Sie scheinen die weiblichen Reaktionen zu beschleunigen und verstärken und könnte ein Hormon von der Art unserer XB5-Formel sein, die bekanntlich ähnliche Reaktionen hervorruft, wenn auch nicht in so starkem Maße. Im weiteren Verlauf beobachtete ich häufig ein starkes Zittern der Bein-, Nacken- und Schultermuskeln. Dieses Zittern scheint autonom und wird häufig von Grimassen, ziellos wirkenden Kopfbewegungen, Stöhnen und Ächzen begleitet. Im allgemeinen würde ich sagen, daß diese Bestandteile der gewöhnlichen Reaktionen, die bei unseren Männern vielfach bewußt sind und gegebenenfalls auch unterdrückt werden können, bei männlichen Außenseitern unter dem Einfluß der triebverstärkenden Injektion den Charakter autonomer Funktionen annehmen. Meine persönliche Meinung (in der meine Schwestern mit mir übereinstimmen) ist die, daß ich diese | 233 |
Außenseiterreaktionen unvergleichlich anregender finde als die im Stock üblichen Reaktionen. Es war zwanzig Minuten vor zwölf, und während der vergangenen halben Stunde war Hellstrøm im Speisezimmer des Farmhauses auf und ab gewandert und hatte sich gefragt, ob seine Vorbereitungen ausreichend seien. Das Farmhaus war schon vor vielen Jahren als Tarnung und Schaustück für gelegentliche Besuche von Geschäftsfreunden aus der Außenwelt hergerichtet worden. Speise- und Wohnzimmer waren durch einen Türbogen aus dunklem Holz miteinander verbunden. Ein langer Tisch im viktorianischen Schnörkelstil mit zehn dazu passenden hochlehnigen Stühlen beherrschte die Mitte des Speiseraums. Über ihm glitzerte ein frisch geputzter Kristalleuchter. Der größte Teil der dem Durchgang gegenüberliegenden Wand wurde von einer großen Porzellanvitrine eingenommen, in der mit anfechtbarem Geschmack schwere blaue Steingutkeramik zur Schau gestellt war. Am Ende des Raums öffnete sich ein dreiteiliges, von vielen Sprossen gegliedertes Erkerfenster mit vergilbten Gardinen aus Baumwollspitze, die jetzt zurückgezogen waren, zu einem Ausblick auf die Weiden und Erlen am Bach und die gelbbraunen, im Sonnenglast des Mittags heiß und staubig aussehenden Grashänge der jenseitigen Taleinfassung. In der Ecke gegenüber war eine Pendeltür mit einem Glaseinsatz in Augenhöhe, durch die man in die Küche gelangte, wo besonders ausgebildete Arbeiter und Arbeiterinnen geschäftige Vorbereitungen für den Besuch eines Außenseiters trafen. Auf dem küchennahen Ende des Tisches war für vier Personen gedeckt – mit dem dicken blauen Steingutgeschirr und Tafelbesteck mit Horngriffen. Hellstrøm war mit den Vorbereitungen zufrieden. Es mochte an Eleganz und am sicheren Blick für die Feinheit der Eßkultur fehlen, aber es war durchaus hinreichend. Als die Stunde von Peruges erwarteter Ankunft nähergerückt war, hatte sich Hellstrøms anfänglich gehobene Stimmung mehr und mehr verflüchtigt, und nun hatte Peruge sich verspätet. Mimeca half in der Küche. Von Zeit zu Zeit konnte Hellstrøm | 234 |
sie durch das kleine Fenster in der Verbindungstür sehen. Sie ähnelte Fancy hinreichend, um ihre genetische Schwester zu sein, tatsächlich entstammte sie aber einer parallelen Abstammungslinie. Etwas an ihrer Erscheinung mit dem dunklen Haar, dem blassen, rosig überhauchten Teint und den kräftigen, doch empfindungsstarken Zügen verriet dem Kenner die vom Stock begehrten genetischen Eigenschaften: große Fruchtbarkeit, Unabhängigkeit des Denkens, Ehrgeiz, Loyalität zum Stock ... Hellstrøm blickte nervös zu der altmodischen Standuhr neben der Küchenuhr. Viertel vor zwölf, und noch immer kein Zeichen von Peruge. Warum diese Verspätung? Bisher war er stets pünktlich gewesen. Wie, wenn er beschlossen hätte, nicht zu kommen und statt dessen andere Aktionen einzuleiten? War es möglich, daß sie bereits etwas Belastendes an diesem verdammten Fahrrad gefunden hatten? Peruge war durchaus imstande, plötzlich mit dem FBI aufzutauchen. Aber mit Mimeca in Fancys Rolle mochte es dennoch gelingen, die Jäger zu verwirren. Die Fingerabdrücke würden nicht zusammenpassen. Sie hatte in den letzten Tagen nicht gezüchtet, was sich durch medizinische Untersuchung beweisen ließ. Wenn es hart auf hart ginge, würde er auf einer medizinischen Untersuchung durch einen Außenseiterarzt bestehen. Damit ließe sich zugleich der Abzug der Fremden von der Farm erreichen. Er hörte, wie die äußere Tür zur Diele geöffnet wurde. War Peruge endlich gekommen? Hellstrøm zupfte seine Außenseiterkleidung zurecht und schritt durch den Türbogen in das Wohnzimmer mit seinen dunkel getäfelten Wänden und Möbeln aus der Zeit der Jahrhundertwende. Es roch ungelüftet und muffig. Obwohl er sich rasch bewegte, hatte er das Wohnzimmer erst zur Hälfte durchquert, als ein Fremder zwei Schritte vor Saldo eintrat. Der Fremde war ein ungewöhnlich kleiner Mann, noch ungefähr zwei Zentimeter kleiner als Saldo, mit windzerzaustem, braunem Haar und einem reservierten, mißtrauischen Blick in den Augen. Er schien Anfang zwanzig zu sein, aber seine Stirn hatte tief eingegrabene Linien, und ein Netzwerk feiner Fältchen umgab seine Augenwinkel, also mußte er älter sein. Hellstrøm | 235 |
fand es schwierig, das Alter dieses kleinen Außenseiters genauer zu bestimmen. Der Fremde trug eine derbe, khakifarbene Hose, schwere Schnürstiefel, einen dünnen weißen Rollkragenpullover, durch dessen lockeres Gewebe da und dort rötliche Brusthaare ragten, und darüber eine braune Wildlederjacke mit schrägen Schlitztaschen. Die rechte Tasche war ausgebeult und wurde vom Gewicht darin herabgezogen. Wahrscheinlich steckte eine Pistole darin, und der Fremde gab sich keine Mühe, sie zu verbergen. An Stiefeln und Hosenbeinen hafteten blaßgelbe Grassamen. Als er Hellstrøm auf sich zukommen sah, blieb er stehen und blaffte: »Sie sind Hellstrøm?« Saldo, einen Schritt hinter dem Fremden, gab Hellstrøm ein Warnsignal in Zeichensprache. Der knappe, amtlich-fordernde Ton des Fremden setzte Hellstrøms Herzschlag in Trab, aber ehe er antworten konnte, ergriff Saldo das Wort. »Doktor Hellstrøm, dies ist Mr. Janvert, ein Vertrauter von Mr. Peruge. Mr. Janvert hat seinen Wagen unten bei der Abzweigung zur alten Sägemühle geparkt und ist zu Fuß herübergekommen.« Janvert wahrte die grimmige Entschlossenheit seines Auftretens, während er umherblickte und Hellstrøm musterte. Nach der Entdeckung von Peruges Leichnam war alles sehr schnell gegangen. Er hatte das Hauptquartier gerufen, und der Chef war persönlich an den Apparat gekommen, als er die Nachricht gehört hatte. Der Chef persönlich! Janvert verspürte noch immer ein stolzgeschwelltes Gefühl, wenn er an dieses Gespräch dachte. »Mr. Janvert, jetzt hängt alles von Ihnen ab. Sie sind unser letzter Strohhalm!« Mr. Janvert, nicht Shorty. Die Instruktionen des Chefs waren kurz und unmißverständlich gewesen. Zu Fuß? dachte Hellstrøm. Der Hinweis auf diese Route querfeldein und über den Höhenzug störte ihn. Das war der Weg, den auch Depeaux genommen hatte. Saldo bewegte sich zwei Schritte nach rechts, gab wieder ein Warnsignal und sagte: »Mr. Janvert überbringt eine erschütternde Nachricht. Er sagte mir, daß Mr. Peruge tot sei.« | 236 |
Die Neuigkeit traf Hellstrøm mit momentan betäubender Wucht. Er versuchte sie zu verarbeiten, während ihm die Gedanken wild durch den Kopf schossen. Fancy? Nein, sie hatte nichts davon gesagt ... Er begriff, daß eine Reaktion erwartet wurde, und ließ seiner natürlichen Bestürzung und Überraschung freien Lauf. »Tot? Aber ... ich war ...«Erzeigte mit hilfloser Gebärde zum Speisezimmer. »Ich meine, ich hatte ihn erwartet ... Wir waren zum Mittagessen verabredet. Was ist geschehen? Wie ist er gestorben?« »Wir sind noch dabei, das festzustellen«, sagte Janvert. »Ihr Hilfssheriff versuchte zu verhindern, daß wir den Leichnam mitnahmen, aber wir besorgten uns eine richterliche Anordnung von einem Bundesrichter in Salem. Peruges Leiche ist unterwegs zur Universitätsklinik in Portland.« Janvert versuchte Hellstrøms Reaktion einzuschätzen. Die Überraschung mußte echt sein – es sei denn, er war ein vollendeter Schauspieler. Schließlich machte er Filme. »Wir werden sehr bald einen Autopsiebericht haben«, ergänzte Janvert, als müsse er Hellstrøm den logischen Zusammenhang klarmachen. Hellstrøm schürzte die Lippen. Die Art und Weise, wie dieser Janvert ›Ihr Hilfssheriff‹ gesagt hatte, gab zu Befürchtungen Anlaß. Was hatte Linc getan? Waren ihm weitere Fehler unterlaufen, mit denen er sich jetzt herumschlagen mußte? »Wenn Hilfssheriff Kraft Ihnen Schwierigkeiten gemacht haben sollte, so ist das bedauerlich«, sagte Hellstrøm, »aber es hat ganz gewiß nichts mit mir zu tun. Er ist nicht unser Hilfssheriff.« »Kommen wir zur Sache«, sagte Janvert. »Eine von Ihren Damen verbrachte die letzte Nacht mit Peruge und schoß ihn mit irgendeiner Droge voll. An seinem Oberarm war ein Bluterguß so groß wie ein Dollarstück. Wir werden herausbringen, was das war. Wir werden das FBI und das Rauschgiftdezernat hereinbringen und Ihre Farm aufmachen wie eine Dose voll verfaulter Würmer!« »Augenblick mal!« sagte Hellstrøm, bemüht, seine aufsteigende Panik zu überbrücken. Die Farm aufmachen! »Wie war das mit jemand, der die Nacht mit Mr. Peruge verbrachte? | 237 |
Rauschgift? Was sagten Sie?« »Eine scharfe kleine Puppe aus Ihrem Stall. Sie hört auf den Namen Fancy«, sagte Janvert. »Der vollständige Name ist Fancy Kalotermi, glaube ich. Sie verbrachte die letzte Nacht mit Peruge und schoß ihn mit irgendwelchem Zeug voll ...« »Das ist Unsinn!« unterbrach ihn Hellstrøm. »Sagten Sie, eine von meinen ... Fancy? Sie hätte eine Art Liebesabenteuer mit Mr. Peruge gehabt?« »Und ob sie hatte! Peruge erzählte mir die ganze Geschichte. Sie schoß ihn voll Drogen, um ihn scharf zu machen, und wir setzen darauf, daß es ihn umbrachte. Wir werden Ihre Miß Kalotermi und den Rest Ihrer Leute verhören. Wir werden dieser Sache auf den Grund gehen. Verlassen Sie sich darauf.« Saldo räusperte sich, um Janvert abzulenken und Hellstrøm Zeit zum Überlegen zu geben. Diese Worte wiesen in zutiefst beunruhigende Richtungen. Saldo konnte fühlen, wie seine Abwehrreaktionen zur Verteidigung des Stocks die volle Alarmstufe erreichten. Er mußte sich mit einer bewußten Willensanstrengung daran hindern, den fremden Mann tätlich anzugreifen. Janvert hatte nur einen Seitenblick für Saldo übrig. »Haben Sie was hinzuzufügen?« Ehe Saldo sprechen konnte, sagte Hellstrøm: »Wen bezeichnet dieses ›wir‹, auf das Sie ständig Bezug nahmen, Mr. Janvert? Ich muß bekennen, daß ich nichts von alledem verstehe. Ich hatte Gefallen an Mr. Peruge gefunden, und er ...« »Ich hoffe, Sie werden mir diese Art von Zuneigung ersparen«, sagte Janvert. »Ich stehe nicht auf die Art und Weise, wie Sie Ihren Gefallen ausdrücken. Was Ihre Frage betrifft, darauf gibt es eine einfache Antwort. Das FBI und die Leute vom Rauschgiftdezernat werden bald hier sein. Sollten wir es zweckmäßig finden, noch andere Stellen in die Ermittlungen einzuschalten, werden wir sie dazu auffordern.« »Aber Sie haben keine amtlichen Befugnisse, Mr. Janvert, ist das richtig?« fragte Hellstrøm. Janvert ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit. In der Frage schwang ein Unterton mit, der ihm nicht gefiel, und instinktiv trat er einen Schritt zur Seite und aus Saldos unmit| 238 |
telbarer Reichweite. »Ist das richtig?« drängte Hellstrøm. Janvert schob kriegerisch das Kinn vor, und seine Augen blitzten. »Was meine amtlichen Befugnisse betrifft, Hellstrøm, so sollten Sie lieber verdammt vorsichtig sein. Ihre Miß Kalotermi fuhr mit einem Rad zu Mr. Peruges Motel. Dieses war das Eigentum eines gewissen Carlos Depeaux, eines weiteren Mitarbeiters, an dem Sie offenbar Gefallen gefunden haben.« Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, sagte Hellstrøm mit abwehrend erhobenen Händen: »Entschuldigen Sie, aber das geht mir alles viel zu schnell. Wer ist dieser – ach ja, dieser Angestellte, den Mr. Peruge suchte, nicht wahr? Ich weiß nichts von einem Fahrrad und verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen, aber ... Wollten Sie damit zum Ausdruck bringen, daß Sie auch für diese Feuerwerksfirma arbeiten, Mr. Janvert?« »Bald werden Sie hier mehr als ein Feuerwerk zu sehen kriegen«, sagte Janvert. »Wo ist Miß Kalotermi?« Innerhalb von Sekunden erwog und verwarf Hellstrøm mehrere mögliche Antworten. Seine erste Reaktion war Erleichterung, daß er so vorausschauend gewesen war, Fancy aus der Schußlinie zu bringen und durch Mimeca zu ersetzen. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet: sie hatten dieses verdammte Fahrrad identifiziert! Noch immer auf Zeitgewinn spielend, sagte er: »Ich fürchte, ich weiß nicht genau, wo Miß ...« Ausgerechnet in diesem Augenblick kam Mimeca durch den Türbogen vom Speisezimmer. Man hörte die Pendeltür zur Küche hinter ihr schlagen. Sie hatte Peruge noch nie gesehen und vermutete, daß Janvert der Mittagsgast sei. »Ah, Mr. Peruge, da sind Sie ja«, sagte sie freundlich lächelnd. »Das Essen steht schon bereit.« »Na, da ist sie ja!« sagte Hellstrøm und bedeutete Mimeca mit einem Handzeichen, still zu sein. »Fancy, dies ist Mr. Janvert. Er hat uns eine traurige Nachricht gebracht. Mr. Peruge ist unter ziemlich geheimnisvollen Umständen ums Leben gekommen.« »Wie schrecklich!« sagte sie, als sie Hellstrøms auffordern| 239 |
des Signal sah. »Verzeihen Sie, Mr .... äh ... Janvert, aber ich hatte Sie für Mr. Peruge gehalten.« Hellstrøm beobachtete den Fremden und wartete gespannt, ob der Satz akzeptiert würde. Mimeca entsprach ziemlich genau Fancys allgemeiner Beschreibung. Sogar die Stimmen hatten eine gewisse Ähnlichkeit. Janvert funkelte sie an und sagte: »Wo zum Teufel hatten Sie das Fahrrad her? Was war das für ein Zeug, mit dem Sie Peruge umbrachten?« Mimeca schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Sie konnte die mit Angst durchsetzte Wut des Fremden förmlich riechen, und die scharfe Stimme und die unerwarteten Fragen verwirrten sie. »Augenblick mal!« sagte Hellstrøm schnell. Er gab ihr ein Zeichen, still zu sein und auf seine Rede einzugehen. Dann wandte er sich mit strenger Miene zu ihr und sprach wie ein Aufklärung fordernder Vater, dem ein Fehltritt seiner Tochter zu Ohren gekommen ist. »Fancy, ich erwarte, daß du mir die Wahrheit sagst. Hast du die letzte Nacht mit Mr. Peruge im Motel verbracht?« »Mit Mr. Peruge?« Sie machte große Augen und schüttelte einfältig den Kopf. Hellstrøms Unruhe war so stark, daß es sie ängstigte, und Saldo zitterte sogar. Aber Nils hatte gesagt, sie solle die Wahrheit sagen, und bekräftigte dies nun mit einem Befehl in der Zeichensprache des Stocks. Die Stille im Raum lud sich von Sekunde zu Sekunde auf, während Mimeca nach Worten suchte. »Ich – natürlich nicht!« sagte sie. »Ihr wißt es selbst. Ich war hier im ...« Sie brach erschrocken ab; beinahe hätte sie ›Stock‹ gesagt. Die extremen Spannungen in diesem Raum machten ruhiges Denken beinahe unmöglich. Trotzdem mußte sie versuchen, ihre Selbstbeherrschung zu festigen. »Sie war gestern abend hier im Haus«, sagte Saldo. »Ich habe sie selbst gesehen.« »Ich dachte mir, daß Sie es mit diesem Dreh versuchen würden«, höhnte Janvert. Er starrte die Frau mit einem durchbohrenden Blick an, ahnte tiefere Unruhe unter ihrer oberflächlichen Verwirrung, sah darin die Bestätigung seines | 240 |
Verdachts. Sie war im Motel gewesen und hatte Peruge getötet, wahrscheinlich auf Hellstrøms Anweisung. Es konnte allerdings schwierig werden, den Beweis dafür zu liefern. Sie hatten nur Peruges Aussage und seine Beschreibung der Frau. Es war eine kitzlige Sache. »In ein paar Stunden werden hier mehr Beamte herumlaufen als Sie in Ihrem Leben gesehen haben«, sagte Janvert. »Sie werden diese Frau zum Verhör bringen und erkennungsdienstlich behandeln. Versuchen Sie lieber nicht, sich zu verstecken. Ihre Fingerabdrücke waren überall an diesem Fahrrad und in Peruges Zimmer. Sie wird ein paar sehr eingehende Fragen zu beantworten haben, und sollte sich herausstellen, daß Sie uns eine andere untergeschoben haben, werden wir weitersuchen, bis wir die Richtigen finden, und wenn wir dazu das Unterste zuoberst kehren.« »Das mag sein«, sagte Hellstrøm. »Aber wenn ich es richtig sehe, Mr. Janvert, vertreten Sie nicht das Gesetz. Solange keine ordnungsgemäße ...« »Sparen Sie sich Ihre Sprüche für den Staatsanwalt auf«, sagte Janvert. »Ich kann verstehen, daß Sie erregt sind«, sagte Hellstrøm, »aber ich kann weder Ihr Auftreten noch den Ton billigen, den Sie dieser jungen Frau gegenüber anschlagen. Ich werde Sie ersuchen müssen ...« »Was versuchen Sie hier abzuziehen, Mann?« wollte Janvert wissen. »Der Ton, den ich dieser jungen Frau gegenüber anschlage! Letzte Nacht wälzte sie sich mit Peruge im Bett, und sie kannte mehr Stellungen und Tricks, als er sich je hätte träumen lassen. Und da soll ich mir in der Wahl meiner Worte Zurückhaltung auferlegen?« »Das ist genug!« sagte Hellstrøm protestierend. Er gab Mimeca mit heftigen Zeichen zu verstehen, sie solle beleidigt hinausgehen, aber ihre Aufmerksamkeit war so auf Janvert konzentriert daß sie es nicht bemerkte. Außerdem hatte Hellstrøm ihr gesagt, sie solle den Anschuldigungen mit ihrer eigenen persönlichen Wahrheit begegnen. »Im Bett gewälzt?« fragte sie. »Ich kenne Ihren Mr. Peruge nicht einmal!« | 241 |
»Mit der Tour werden Sie kein Glück haben«, sagte Janvert. »Das kann ich Ihnen versprechen.« »Du brauchst keine weiteren Fragen von ihm zu beantworten, Fancy«, sagte Hellstrøm. Sie blickte von einem zum anderen und versuchte sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Peruge tot! Was hatte Fancy getan? »So ist’s recht«, sagte Janvert. »Verschließen Sie ihr den Mund, bis Sie Ihre Aussagen abgestimmt haben. Aber ich verspreche Ihnen, es wird Ihnen nicht helfen. Das Beweismaterial...« »In der Tat, das Beweismaterial«, unterbrach Hellstrøm ihn. Die Sache lief ausgezeichnet. Mit einem tiefen und bekümmerten Seufzen wandte er sich Mimeca zu. »Fancy, mein Liebes, du brauchst nicht ein Wort mehr zu sagen, bis die Untersuchungsbeamten kommen, wenn sie sich wirklich entschließen sollten, wegen einer so absurden Anschuldigung hierher zu kommen.« »Keine Bange, sie werden kommen«, sagte Janvert. »Und wenn es soweit ist, erwarte ich einige sehr interessante Antworten auf der Basis des Beweismaterials.« Saldo, der noch immer gegen seine Konditionierung zum Schutz des Stocks ankämpfen mußte, lenkte gestikulierend Hellstrøms Aufmerksamkeit auf sich und sagte: »Nils! Sollte ich ihn nicht einfach hinauswerfen?« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Hellstrøm und bedeutete Saldo, sich zu beherrschen. Der junge Mann war offensichtlich nicht in der Verfassung, um körperlichen Kontakt mit Janvert riskieren zu können. Das Ergebnis würde nur ein weiterer Toter sein. »Da haben Sie verdammt recht«, sagte Janvert. Er steckte die Hand in die ausgebeulte Jackentasche und entfernte sich weitere zwei Schritte von Saldo. »Versuch’s lieber nicht, Freundchen, oder ich besorge es dir ein für allemal.« »Nein, nein!« rief Hellstrøm. »Das ist genug, jetzt! Ich glaube, es wäre besser, Saldo, wenn du Hilfssheriff Kraft anrufen würdest. Wenn zutrifft, was Mr. Janvert sagt, dann verstehe ich nicht, warum Kraft noch nicht hier ist. Sieh zu, ob du ihn | 242 |
erreichen kannst, und frag ihn ...» »Kraft ist mit einem Anruf aus seinem Büro in Lakeview beschäftigt«, sagte Janvert. »Ihr zahmer Hilfssheriff hat zu tun, verstehen Sie? Niemand wird vor der Ankunft des FBI hierherkommen und Sie retten oder sich in irgendeiner Weise einmischen.« Hellstrøm sah das schmale harte Lächeln in Janverts Gesicht und begriff plötzlich, daß der Außenseiter ein genau kalkuliertes Spiel trieb. War es möglich, daß Janvert tatsächlich Polizeiautorität besaß? Versuchte er vielleicht nur einen Zwischenfall zu provozieren, der ihn in die Lage versetzen würde, die Dinge hier in die Hand zu nehmen, bis die anderen einträfen? Es gab vieles, was vor Ankunft der Außenpolizei zum Schutz des Stocks getan werden mußte. Würde Janvert versuchen, jemand am Verlassen des Raums zu hindern? »Saldo«, sagte Hellstrøm, »so beklagenswert diese Situation ist, wir müssen trotzdem unsere Termine einhalten. Verzögerungen sind kostspielig.« Er nickte Saldo zu und gab ihm das Zeichen, er solle gehen und die nötigen Vorbereitungen zum Abschließen des Stocks gegen eine Polizeirazzia einleiten. »Ich schlage vor, du gehst wieder an die Arbeit«, sagte er. »Fancy und ich werden hier mit Mr. Janvert warten, bis ...« »Niemand verläßt den Raum!« schnauzte Janvert. Er bewegte sich seitwärts, die Hand in der Jackentasche, bis er die drei vor sich hatte. Was bildeten sich diese Hinterwäldler ein? »Dies ist eine Mordermittlung! Wenn Sie meinen, Sie könnten hier Spuren verwischen ...« »Sollte sich überhaupt was herausstellen, dann wird es meiner Meinung nach erheblich weniger als Mord sein«, sagte Hellstrøm. Er bedeutete Saldo mit dringlichen Handzeichen, den Raum zu verlassen. »Ich weiß ganz bestimmt, daß Fancy die Farm in der vergangenen Nacht nicht verlassen hat. Einstweilen aber benötigen wir Mr. Saldo dringend bei den Dreharbeiten des Films, den wir gerade machen. Dieser Film stellt eine Investition von mehreren hunderttausend Dollar dar, und wir sind vertraglich zur Fertigstellung in etwas mehr als einem Monat verpflichtet. Er hat seine Arbeit bereits unterbrochen, um Sie zu begrüßen, aber nun ...« | 243 |
Saldo nahm sein Stichwort auf. Er blickte auf seine Armbanduhr und machte ein erschrockenes Gesicht. »Mein Gott, schon so spät! Ed wird die Wände hochgehen!« Er wandte sich um und schritt eilig hinaus. »Augenblick!« rief Janvert. Saldo beachtete ihn nicht. Hellstrøms in Zeichensprache gegebener Befehl duldete keinen Ungehorsam. Janvert hatte offensichtlich eine Waffe bei sich, aber die Lage war verzweifelt. Das Risiko mußte eingegangen werden. Saldo fühlte sich von einem Prickeln überlaufen, aber er hielt unbeirrbar auf die Tür zu. Das Wohl des Stocks verlangte es von ihm. »Halt oder ich schieße!« schrie Janvert. Er schob sich durch die Türöffnung in den Eingangskorridor und versuchte seine Aufmerksamkeit auf Saldo und das Paar im Wohnraum zu verteilen. Saldo hatte die Haustür erreicht und öffnete sie! Janverts Hand, die in der Jackentasche den Pistolengriff umklammert hielt, war schlüpfrig vom Schweiß. Sollte er schießen? Saldo ging hinaus! Die Tür fiel zu. »Mr. Janvert«, sagte Hellstrøm. Janvert fuhr herum, starrte Hellstrøm mit finsterem Blick an. Die Dreckskerle! »Mr. Janvert«, wiederholte Hellstrøm mit versöhnlichem Ton, »so beklagenswert diese Situation ist, wir sollten sie nicht noch schwieriger machen. Wir erwarteten Mr. Peruge zum Essen, und es wäre jammerschade, die angerichtete Mahlzeit verderben zu lassen. Sicherlich würde unser aller Stimmung sich bessern, wenn wir ...« »Denken Sie, ich würde hier was essen?« fragte Janvert. War Hellstrøm wirklich so naiv? Hellstrøm zuckte die Achseln. »Anscheinend müssen wir auf die Ankunft der Polizei warten, und Sie wollen nicht, daß Fancy oder ich Ihre Gegenwart verlassen. Sicherlich gibt es eine einfache Antwort auf diese beunruhigenden Fragen, und ich versuche nur ...« »Natürlich!« höhnte Janvert. »Und Sie haben Gefallen an mir gefunden!« »Nein, Mr. Janvert, ich kann nicht sagen, daß Sie mir besonders sympathisch wären, und Fancy wird meine Aversion | 244 |
teilen. Meine Sorge geht lediglich dahin, daß ...« »Können Sie nicht endlich aufhören, den Unschuldigen zu spielen?« Janvert kochte vor Wut und Frustration. Er hätte diesen anderen Typ nicht hinauslassen sollen. In die Beine hätte er ihn schießen sollen, weiß Gott. »Wenn Sie wegen unserer Speisen Bedenken haben sollten, Mr. Janvert«, sagte Mimeca, »so würde ich gern bereit sein, von allem vorzukosten, ehe Sie es essen.« Sie warf Hellstrøm einen besorgten Blick zu. Nils hatte gesagt, er baue darauf, daß der Fremde bei ihnen essen werde. Dieser Mann war nicht der erwartete Besucher; bezog sich der Wunsch auch auf ihn? »Vorkosten?« Janvert schüttelte den Kopf. Diese Leute waren unglaublich! Wie konnten sie fortfahren, die Unschuldigen zu spielen, wenn sie doch wußten, daß er sie hatte? »Sie versucht lediglich, es Ihnen angenehm zu machen«, sagte Hellstrøm, dann gab er Mimeca durch Zeichensprache zu verstehen, sie solle Janvert dazu bringen, daß er an der gemeinsamen Mahlzeit teilnehme. Er ließ Janvert kaum einen Moment aus den Augen. Der Mann war nahe daran gewesen, Saldo niederzuschießen. Waren die Leute so zum Äußersten entschlossen? »Wir haben bereits eine Kostprobe davon erlebt, wie Miß Fancy es Männern angenehm macht«, sagte Janvert. »Ich danke bestens!« »Nun, ich werde mein Essen jedenfalls nicht stehenlassen«, sagte Hellstrøm. »Sie können daran teilnehmen oder nicht, ganz wie Sie wollen.« Er trat zu Mimeca und nahm sie am Arm. »Komm, mein Liebes. Wir haben unser möglichstes getan.« Janvert blieb keine andere Wahl, als ihnen ins Speisezimmer zu folgen. Er sah, daß der Tisch für vier Personen gedeckt war, und überlegte, für wen das vierte Gedeck bestimmt sein mochte. Kraft? Saldo? Mimeca setzte sich mit dem Rücken zur Geschirrvitrine, und Hellstrøm nahm den Stuhl am Kopfende, mit dem Rücken zur Küchentür. Mit einem Blick zu Janvert deutete er auf den Stuhl zu seiner Linken, gegenüber von Mimeca. »Wenigstens könnten Sie sich zu uns setzen.« | 245 |
Janvert ignorierte die Einladung, schritt um den Tisch und nahm den Stuhl neben Mimeca. »Wie Sie wollen«, sagte Hellstrøm. Janvert sah die Frau an. Sie saß in aufrechter Haltung neben ihm, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte so versunken auf ihren Teller, als bete sie. Tue nur recht unschuldig! dachte Janvert. Dich kriegen wir schon! »Es gibt überbackene Schweinekoteletts«, sagte Hellstrøm. »Wollen Sie wirklich nichts?« »Um keinen Preis«, sagte Janvert. Er blickte in gespannter Wachsamkeit auf, als die Küchentür knarrend aufschwang. Eine ältere, grauhaarige Frau mit olivfarbener Haut und überraschend hellblauen Augen kam herein. Sie hatte ein runzliges Gesicht, das sich zu einem Lächeln knitterte, als sie fragend zu Hellstrøm blickte. Janvert folgte ihrer Blickrichtung und ertappte Hellstrøm bei einer seltsamen schnellen Handbewegung mit komplizierter Fingerstellung. Gleichzeitig tauschte Hellstrøm mit der jungen Frau zu seiner Rechten einen bedeutungsvollen Blick aus. »Was machen Sie da?« fragte Janvert mißtrauisch. Hellstrøm erkannte, daß der Fremde seine Zeichensprache bemerkt hatte, und verdrehte mit resignierter Miene die Augen zur Decke. Wenn sie ihn nicht zum Essen bewegen konnten, würde Janvert auch weiterhin die größten Schwierigkeiten machen, und es gab so vieles, was er zu tun hatte. Saldo war zu jung, als daß man ihm alles überlassen könnte. Zwar gab es erfahrene ältere Ratgeber, die ihm beistehen würden, aber Saldo entwickelte einen halsstarrigen Zug, der des Ausgleichs bedurfte. Saldos Neigung, von sich aus andere um Rat zu fragen, war jedenfalls nicht ausgeprägt. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt«, drängte Janvert. »Sie können wirklich unbesorgt sein«, sagte Hellstrøm in erschöpftem Ton. »Ich versuchte meinen Mitarbeiterinnen zu verstehen zu geben, daß sie mich in meinem Bemühen unterstützen sollten, Sie zu beruhigen und zur Teilnahme an unserer Mahlzeit zu bewegen.« »Sie rühren mich zu Tränen!« knurrte Janvert. Er blickte zurück zu der älteren Frau. Sie stand immer noch abwartend | 246 |
da und hielt mit einer Hand die Küchentür auf. Warum sagte sie nichts? Blieb sie einfach stehen und wartete dort, bis jemand ihr sagte, was zu tun sei? Anscheinend tat sie genau das. Alle schwiegen, und eine gespannte Stille trat ein, zog sich peinlich hin. Habe ich ihn richtig beurteilt? dachte Hellstrøm. Sollte ich das Zeichen zum Servieren geben? Und Janvert dachte: Worauf zum Teufel warten sie? Er erinnerte sich an Peruges Hinweis auf ›stumme Frauen‹. Ihm hatte man erklärt, sie studierten einen schwierigen Dialekt oder was. Die alte Vettel sah nicht wie eine Schauspielerin aus. Ihre Augen blickten wach und klar, doch in ihrer Haltung und der Art und Weise, wie sie die Pendeltür aufhielt, war etwas unendlich Geduldiges. Wie müssen es riskieren, dachte Hellstrøm schließlich. »Mrs. Niles«, sagte er, »würden Sie uns bitte zwei Portionen bringen, bloß für Fancy und mich. Mr. Janvert ißt nichts.« Gleichzeitig gab er ihr durch ein Kratzen am Kopf getarnte Zeichen zum Weitermachen. Für Mrs. Niles, die eine spezielle Ausbildung für diese Arbeit ausgebildete, unfruchtbare Arbeiterin war, waren die Worte ohne Bedeutung, Geräusche, mit denen sie nichts anzufangen wußte. Aber sie las seine versteckten Handzeichen, nickte und zog sich in die Küche zurück. Janvert begann verlockende Küchendüfte wahrzunehmen und fragte sich, ob er albern gehandelt habe. Würden diese Leute es wagen, ihn hier zu vergiften? Sie hatten etwas Unheimliches an sich, kein Zweifel, aber ... Ja, sie waren imstande, ihn zu vergiften. Dennoch verwunderten ihn die sorgfältigen Vorbereitungen für das Essen. Sicherlich mußte Hellstrøm von Peruges Tod erfahren haben. Aber wen hatten sie dann zu dieser Mahlzeit erwartet? Kenntnis von Peruges Tod konnte bedeuten, daß sie dieses Mittagsmahl als ein Täuschungsmanöver angerichtet hatten. Das wiederum ließ darauf schließen, daß sie nichts als rechtschaffene, gesunde Nahrung zubereitet hatten. Was da an Düften aus der Küche drang, roch wirklich gut. Janvert war ein Liebhaber von Schweinekoteletts. Hellstrøm blickte träumerisch aus dem Fenster, ruhig und scheinbar unbesorgt. »Weißt du, Fancy, ich habe es immer gern, | 247 |
wenn wir hier essen. Wir sollten es wirklich öfter tun, statt im Stehen hastig irgend etwas hinunterzuschlingen.« »Oder das Mittagessen überhaupt zu verpassen«, sagte sie. »Ich habe oft gesehen, wie du die Mittagspause einfach durchgearbeitet hast.« Er klopfte sich auf den Bauch. »Es kann nicht schaden, gelegentlich auf eine Mahlzeit zu verzichten. Ich neige sowieso zum Dickwerden.« »Ich werde dich noch mal daran erinnern«, sagte sie. »Wenn du so weitermachst wie bisher, wirst du dir den Magen ruinieren.« »Es ist die Arbeit«, sagte Hellstrøm. »Sie wächst einem manchmal über den Kopf.« Sie sind verrückt! dachte Janvert. Plaudern über Alltäglichkeiten, als ob nichts wäre! Mrs. Niles schob sich rückwärtsgehend durch die Pendeltür, wandte sich dann um, einen Teller in jeder Hand. Sie zögerte einen Augenblick neben Hellstrøm, dann bediente sie die junge Frau zuerst. Als beide Teller auf dem Tisch standen, gab Hellstrøm ihr das Zeichen, die Getränke zu bringen. Er hatte Faßbier bestellt. Im Stock wurden begrenzte Mengen davon hergestellt, hauptsächlich als Belohnung für besonders gute Arbeit, zuweilen aber auch als Tarnung für anpassende Chemikalien, mit denen Versagern unter den Spezialisten die Rückstufung zu einfachen Arbeitern erträglich gemacht wurde. Janvert betrachtete den dampfenden Teller vor der Frau an seiner Seite. Das Schweinekotelett war mit einer Art Bratensoße übergossen, in der Pilzstücke zu sehen waren. Dazu gab es Spinat und Bratkartoffeln mit saurer Sahne. Aber die junge Frau blieb mit im Schoß gefalteten Händen sitzen und machte keine Anstalten, das Essen anzurühren. Betete sie vielleicht? Dann erschreckte ihn Hellstrøm, indem er die gefalteten Hände über den Teller hob und intonierte: »Lieber Gott, nimm unseren tiefen und aufrichtigen Dank für diese Nahrung, die du uns gegeben hast. Möge deine göttliche Gnade mit uns sein. Amen.« | 248 |
Die junge Frau murmelte das Amen mit. Die Stärke des Gefühls in Hellstrøms Stimme verwirrte Janvert. Und dieses Frauenzimmer, wie es am Schluß mit eingestimmt hatte. Sie mußten das regelmäßig tun. Das Ritual erschütterte Janvert mehr, als er sich selbst eingestehen mochte, und seine Reaktion war Verärgerung. Verdammte Schauspielerei, nichts weiter! Die vom Teller neben ihm aufsteigenden Düfte vermehrten seine ärgerliche Frustration. Jetzt griff sie zu Messer und Gabel. Beide waren im Begriff, sich über die verdammte Mahlzeit herzumachen! »Können wir Ihnen wirklich nichts anbieten?« fragte Hellstrøm. Plötzlich stand Janvert auf, langte an der jungen Frau vorbei und nahm Hellstrøm mit einem Ausdruck grimmiger Befriedigung den Teller weg. »Doch, gewiß. Freut mich, daß Sie danach fragen.« Er stellte den Teller triumphierend vor sich hin und dachte: Mit der Portion, die Hellstrøm selbst essen wollte, kann nichts faul sein! Hellstrøm warf den Kopf zurück und lachte, unfähig, an sich zu halten. Ihm war, als sei plötzlich frisches Leben in den Stock eingeströmt und in seine Person übergegangen, um ihm in diesem Kampf zu helfen. Janvert hatte sich genauso verhalten, wie er es gehofft hatte. Mimeca warf Hellstrøm unter langen Wimpern hervor einen bewundernden Blick zu und lächelte. Janverts Reaktion war also wirklich vorhersehbar gewesen, was bei Außenseitern allerdings häufig vorkam. Er hatte sich genauso verhalten, wie Hellstrøm vorausgesagt hatte. Sie mußte bekennen, daß sie ihre Zweifel gehabt hatte, als Hellstrøm ihr in Zeichensprache den Plan mitgeteilt hatte. Nun hatte Janvert die präparierte Portion vor sich und griff hungrig zu Messer und Gabel. Bald würde er zahm und folgsam sein. Hellstrøm wischte sich mit einem Serviettenzipfel Tränen der Heiterkeit aus den Augen und rief zur Küchentür: »Mrs. Niles! Bringen Sie noch eine Portion!« Die Tür klappte auf, und die alte Frau blickte heraus. Hellstrøm zeigte auf sein leeres Gedeck und signalisierte | 249 |
nach einem weiteren Gericht. Sie nickte, verschwand in der Küche und kam gleich darauf mit einem neuen gehäuften Teller zum Vorschein. Wahrscheinlich ihr eigenes Essen, dachte Hellstrøm, und er hoffte, daß noch mehr da sei. Die geschlechtslosen Arbeiter empfanden eine gelegentliche Abwechslung von der üblichen Verpflegung mit Bottichbrühe als festtäglichen Genuß. Müßig überlegte er, woher diese Koteletts stammen mochten: wahrscheinlich von dem jungen Arbeiter, der am Abend zuvor in der Generatorenhalle verunglückt war. Die Koteletts sahen zart und frisch aus. Und als er Messer und Gabel ergriff, dachte er: Gesegnet sei dieser, der in den ewigen Strom des Lebens eingeht und ein Teil von uns allen wird. Das Fleisch war nicht nur zart, es war saftig, und Janvert konnte nicht leugnen, daß es ihm ausgezeichnet schmeckte. »Langen Sie nur zu«, sagte Hellstrøm aufmunternd. »Bei uns kommt nur beste Qualität auf den Tisch, und Mrs. Niles ist eine großartige Köchin.« Das war nicht übertrieben, sagte sich Hellstrøm, als er den nächsten schmackhaften Bissen zum Munde führte. Wieder hoffte er, daß sie wenigstens eine Portion für sich selbst aufgespart habe. Sie verdiente eine Belohnung. Aus den Worten der Brutmutter Trova Hellstrøm: Das Modell der Einfügung des Stocks in die Formen und Gestalten anderen Lebens um uns ist etwa einem in vier Dimensionen projizierten Würfel vergleichbar. Unser Würfel ist aus Mosaiksteinchen zusammengesetzt, die nicht voneinander getrennt werden können, deren Grenzen unauflöslich ineinander verschmelzen. So gibt uns das Modell einen Lebensraum und eine in sich abgeschlossene zeitliche Entwicklung, die in der Projektion jedoch im größeren System des Planeten aufgehen muß. Wir dürfen niemals vergessen, daß unser Mosaikwürfel an andere Systeme grenzt und teilweise mit ihnen verbunden ist, und daß dies in vielfältiger und komplexer Weise geschieht. Aus diesem Grund können wir nicht für alle Zeit im Verborgenen bleiben. Wir betrachten die physikalischen Dimensionen unseres Stocks nur für ein bestimmtes Stadium unserer Entwicklung als Lebensraum. Wir werden aus diesem Stadium | 250 |
herauswachsen. Es muß die vordringliche Sorge der führenden Spezialisten des Stocks sein, daß wir die Anpassungsfähigkeit unserer genetischen Linien nicht beschränken. Wir müssen immer auf andere Zeiten und auf andere Lebensräume zielen. »Das hörte sich nach einem interessanten Gespräch an, soweit ich es mitkriegen konnte«, sagte Clovis Carr. Lincoln Kraft betrachtete sie verdrießlich über seinen großen Schreibtisch hinweg. Hinter ihrem Kopf konnte er durch das Fenster einen Abschnitt der Steensberge sehen. Im Einkaufszentrum unter ihm lief das Nachmittagsgeschäft an und machte sich durch ein allmähliches Anschwellen der dumpfen, unentwirrbaren Geräuschkulisse bemerkbar. An der Wand zu seiner Linken hing ein Plakat mit detaillierten Empfehlungen zur Verhinderung von Viehdiebstählen. Kontrolle der Weidezäune in unregelmäßigen Abständen war der dritte Punkt von oben, und sein Blick wanderte immer wieder zu diesem Satz zurück, als suche er irgendeine Magie darin. Es war kurz vor drei Uhr. Bisher hatte er drei Anrufe vom Büro des Sheriffs in Lakeview erhalten, und jedesmal war ihm gesagt worden, er solle stillsitzen und abwarten. Clovis Carr versuchte auf dem harten Sperrholzsitz ihres Stuhls eine bequemere Position zu finden. Ihr trügerisch jung aussehendes Gesicht zeigte eine Tendenz, sich in scharfe Altersfalten zu legen, wenn sie sich entspannte. Kraft hatte ihre Bekanntschaft schon vormittags gegen elf im Motel gemacht, kurz nachdem ein zäh aussehender Zwerg von einem Mann, der sich nur als ›Janvert‹ vorgestellt hatte, Peruges Tod gemeldet hatte. Seitdem war sie nicht von seiner Seite gewichen. Kraft hatte von Anfang an begriffen, daß Janvert und diese Clovis Carr miteinander liiert waren, und von da ausgehend war es nicht schwierig gewesen, auch den Rest zu erraten. Das Paar gehörte zu Peruges Mannschaft. Nach dieser Erkenntnis hatte Kraft seine Karten sehr vorsichtig ausgespielt, denn Hellstrøms Verdacht gegenüber den zuletzt aufgetauchten Eindringlingen war jedem bekannt, der für die Sicherheit des Stocks arbeitete. Außerdem war Kraft bald klargeworden, daß diese zwei ihm mißtrauten. Seit der Mann fortgegangen war, | 251 |
saß ihm diese Frau wie eine Zecke im Pelz. Der dritte Anruf von Sheriff Lapham im Gerichtsgebäude von Lakeview hatte Krafts Nervosität zu einer Intensität gesteigert, wie er sie seit jenem Sommer nicht mehr erlebt hatte, als der Stock ein kleines Kind vereinnahmt und eine ganze Familie auf der Suche nach ihrem Jüngsten das Gebiet um die Farm durchkämmt hatte. Damals waren weitere Unannehmlichkeiten durch eine hastig ausgebrütete Geschichte abgewendet worden, nach der ein Paar beobachtet worden war, wie es bei der alten Sägemühle ein Kind vom Alter und Aussehen des Vermißten in einen alten Wagen gesetzt hatte und weggefahren war. Sheriff Lapham hatte es bei diesem letzten Anruf nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. »Du wartest in deinem Büro, bis das FBI auftaucht, hast du gehört, Linc? Das ist ein Job, der nach sehr feinfühliger professioneller Behandlung verlangt. Verlaß dich drauf.« Kraft hatte beim besten Willen nicht gewußt, wie er sich daraufhin verhalten sollte. Er konnte den Beleidigten spielen (und einen Mißklang in das Verhältnis zu seinem Vorgesetzten bringen, den der Sheriff nie vergessen würde); er konnte gehorchen, wie es sich für einen Beamten im öffentlichen Dienst gehörte; er konnte vor dieser Frau den einfältigen Hinterwäldler spielen; oder er konnte kenntnisreich und gebildet erscheinen. Welche dieser Reaktionen am besten geeignet wäre, dem Stock zu helfen, ließ sich im derzeitigen Stadium unmöglich beurteilen. Stellte er sich dumm, würden sie ihn vielleicht unterschätzen, obwohl er vermutete, daß Peruge sie bereits über ihn unterrichtet hatte. Gab er sich erfahren und überlegen, könnte er vielleicht wertvolle Einsichten aus dem gewinnen, was sie nicht taten. Wie etwa ihn in Ruhe lassen. Krafts lange Konditionierung zum Schutz des Stocks um jeden Preis machte ihn hilflos und gereizt. Das Bewußtsein der Gefahr schärfte und verstärkte alle Befürchtungen; aber die Notwendigkeit, an seiner Tarnung festzuhalten, machte jede direkte Aktion unmöglich. Schließlich beschränkte er sich darauf, Sheriff Lapham zu gehorchen und wie ein Klumpen | 252 |
dazusitzen und auf das FBI zu warten. Diese lästige kleine Frauensperson verdroß ihn. Solange sie dablieb, ihn beobachtete und mithörte, was er sagte, konnte Hellstrøm nicht anrufen. Natürlich hatte sie längst gemerkt, daß er nervös war, und schien ihren Spaß daran zu haben. Als ob er nicht sehen könnte, wie unecht sie war! Die und Urlauberin! Ihr Gesicht und ihre Arme waren von der Sonne verbrannt, und ihre kalten grauen Augen hatten eine unangenehme Art, einen unverwandt anzustarren. Dazu kam ein energisches Kinn und ein dünner Mund, der nie lächelte. Er argwöhnte, daß sie eine Pistole in der großen schwarzen Tasche aus Segeltuch hatte, die sie die ganze Zeit auf ihrem Schoß trug. Irgendwie erinnerte sie ihn ein wenig an die Modelle in der Fernsehwerbung: eine beherrschte und zielbewußte Art, sich zu bewegen, eine kühle Geschäftsmäßigkeit, die von keiner noch so dick aufgetragenen lächelnden Zungenfertigkeit übertüncht werden konnte. Außerdem war sie eine von diesen winzigen Frauen, die bis zu ihrem späten Todestag mager und energisch blieben. Sie war ganz für einen Urlaub im Westen herausgeputzt: Blue Jeans, passende Bluse und Jacke mit Messingknöpfen. Die Kleider sahen aus, als ob sie von einer Kostümberaterin nach der Liste eines Regieassistenten zusammengestellt worden wären. Sie paßten nicht zum Stil dieser Frau. Das blaue Kopftuch über dem langen dunklen Haar wirkte ebenso fehl am Platz. Die linke Hand hielt die schwarze Segeltuchtasche in der beiläufigen, aber einsatzbereiten Manier einer Polizistin. Jedesmal, wenn er die Tasche ansah, verstärkte sich die Gewißheit, daß sie eine Schußwaffe darin hatte. Und obgleich sie nicht bereit gewesen war, ihre Beglaubigungen vorzulegen, hatte Sheriff Lapham ihren Namen schon beim ersten Anruf gewußt und sie mit jener Ehrerbietung behandelt, die bei ihm bedeutenden und einflußreichen Amtspersonen vorbehalten blieb. »Das war der Sheriff wieder, nicht wahr?« sagte sie und nickte zu dem Telefon auf Krafts Schreibtisch. In ihrer Stimme war ein spöttischer Unterton, den sie nicht heraushalten konnte. Sie verspürte eine instinktive Abneigung | 253 |
gegen diesen knollennasigen Hilfssheriff mit den buschigen Brauen, die tiefer reichte als ihr Verdacht über seine direkte oder indirekte Beteiligung an der Ermordung ihrer Mitagenten. Er war ein Mann des Westens und zeigte eine aufdringliche Vorliebe für das Leben im Freien. Das allein hätte schon gereicht. Sie zog ebenso wie Eddie Janvert das Nachtklubmilieu vor, und dieser verdammte Auftrag führte sie in eine Umgebung, mit der sie nichts anzufangen wußte. Ihre Gesichtshaut schmerzte und fühlte sich vom Sonnenbrand unangenehm gespannt an, was zu ihrer Reizbarkeit beitrug. »Es war der Sheriff«, sagte Kraft. Warum es leugnen? Seine Antworten hatten die Fragen widergespiegelt, und diese Fragen hatten nur vom Sheriff kommen können: »Nein, Sir; das FBI war noch nicht hier ... Ja, Sir: Ich habe dieses Büro nicht einen Augenblick verlassen.« Clovis Carr rümpfte die Nase. »Was haben sie über den Mord an Peruge herausgebracht? Ist der Autopsiebericht schon da?« Kraft musterte sie verdrießlich. Abschließend hatte der Sheriff etwas gesagt, was sorgfältig abgewogen sein wollte. Wenn die Leute vom FBI kämen, sollte Kraft dem Leiter der Gruppe eine Botschaft ausrichten. Er sollte ihm sagen, daß der Staatsanwalt sich bis zur Stunde noch keine feste Meinung gebildet habe, ›ob die legale Basis für eine Intervention gegeben‹ sei. Kraft sollte dem Mann vom FBI jedoch sagen, daß die Beamten von der Annahme ausgehen könnten, daß Hellstrøms Aktivitäten im zwischenstaatlichen Wirtschaftsleben eine solche Rechtsbasis abgeben würden. Nach den Worten des Sheriffs mußte die Einsatzgruppe des FBI jede Minute in Fosterville eintreffen, und der Sheriff wollte in diesem Fall sofort verständigt werden. Mietwagen waren zum Flugplatz geschickt worden, und Janverts Leute waren dort, um die Ankömmlinge mit der Lage vertraut zu machen. »Der Autopsiebericht ist noch nicht da«, sagte er. »Sie haben ›vorläufige Annahme‹ auf Ihren Notizblock geschrieben«, sagte er. »Gibt das die Meinung des Staatsanwalts wieder?« »Ich überlasse es lieber dem FBI, darüber mit Ihnen zu dis| 254 |
kutieren. Übrigens haben Sie mir bis jetzt noch nicht gesagt, in welcher Funktion Sie mit dieser Sache zu tun haben.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte sie. »Sie sind ein sehr vorsichtiger Mann, Mr. Kraft, nicht wahr?« Er nickte. »Ja.« Wie meinte sie das? Ein boshaftes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. »Und es gefällt Ihnen nicht, hier zu sitzen und warten zu müssen.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, bestätigte er. Er wunderte sich über ihre beinahe offene Feindseligkeit ihm gegenüber. War es kalkulierte Provokation, oder spiegelte es etwas noch Verhängnisvolleres wider – eine Entscheidung von höchster Stelle, dem örtlichen Hilfssheriff zu mißtrauen? Er vermutete, daß es Mißtrauen sei, und überlegte, wie er dem begegnen könne. Hellstrøm und der Rat hatten Pläne für solche Probleme mit ihm diskutiert, aber kein Plan hatte eine derart komplizierte Situation vorausgesehen. Clovis blickte über die Schulter zum Fenster hinaus. Im Büro war es heiß, und der harte hölzerne Stuhl störte sie. Sie sehnte sich nach einem geeisten Cocktail und einer kühlen, schattigen Bar mit weichen Sesseln, dazu Janvert warm und bewundernd an ihrer Seite. Seit einer Woche spielte sie nun schon die Rolle von Janverts Schwester auf Ferienreise im Westen. Diese Maske war mit der Entdeckung von Peruges Leichnam gefallen, und in gewisser Weise war es gut so. Die Tarnbeziehungen waren manchmal sehr gespannt gewesen. Janvert hatte sich keine Mühe gegeben, ihr Verhältnis zu Nick Myerlie, der als ihr gemeinsamer Vater auftrat, harmonisch zu gestalten. Und DT hatte sich keine Gelegenheit entgehen lassen, in alles die Nase zu stecken. Er spionierte für das Militär, kein Zweifel; er machte es so auffällig, daß es schon lächerlich wirkte. Die Enge in dem verdammten Campingwagen und ein Überwachungsauftrag, den jeder von ihnen als unbefriedigend empfand, hatte ein Übriges getan. Es hatte Zeiten gegeben, da sie nicht miteinander gesprochen hatten, um keine Tätlichkeiten zu riskieren. Alles, was sich an Verärgerung und Gereiztheit angestaut hatte, drängte jetzt aus ihr heraus, mit Kraft als Katalysator. Sie erkannte es, wollte oder konnte es aber nicht unterdrücken. | 255 |
Der Parkplatz unter dem Fenster begann sich mit den Wagen von Hausfrauen zu füllen, die ihre Nachmittagseinkäufe machten. Clovis spähte hinaus und hoffte einem der ankommenden Wagen die FBI-Leute entsteigen zu sehen. Nichts. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Kraft zu. Ich könnte diesem dämlichen Hilfssheriff sagen, daß wir vorbereitet sind, ihn in der direktesten und hygienischsten Art und Weise unter die Erde zu bringen, dachte sie. Es war ein Phantasiespiel, das sie gern mit Leuten trieb, die sie nicht mochte. Kraft würde natürlich erschrecken; schon jetzt begann es in seinem Gesicht nervös zu zucken. Nun, in Wirklichkeit dachte niemand daran, ihm das Lebenslicht auszublasen, aber er war in Schwierigkeiten. Der Chef hatte in Washington an Fäden gezogen, die über die Staatsregierung in Salem den Sheriff in Lakeview erreicht hatten. Es war wie ein Marionettentheater. Der starke Atem der Bundesbehörden blies Kraft heiß in den Nacken, daß ihm unter dem Kragen warm wurde. Er wollte immer noch ihre Papiere sehen, aber seit mehr als einer Stunde hatte er nicht gewagt, direkt danach zu fragen. Und das war ein Glück, denn sie hatte nur ihre Tarnpapiere, aus denen hervorging, daß sie Clovis Myerlie sei, während sie bereits als Clovis Carr eingeführt worden war. »Eine ziemlich ungewöhnliche Art und Weise, einen Vermißtenfall zu behandeln«, sagte sie mit einem Blick zu dem Plakat an der Seitenwand. Viehdiebstahl und wie man ihn verhinderte! »Und noch eine ungewöhnlichere Art und Weise, einen Todesfall in einem Motel zu behandeln«, versetzte Kraft. »Mordfall«, berichtigte sie. »Ich habe das noch nicht bestätigt gefunden«, sagte er. »Sie werden, verlassen Sie sich darauf.« Er ließ seinen Blick auf Carrs sonnenverbranntem Gesicht ruhen. Sie wußten beide, daß nichts an diesem Fall normal war. Noch immer nagten die Worte des Sheriffs in seinem Gedächtnis: »Linc, in diesem Fall sind wir von nun an nur noch die Vettern vom Land. Der Gouverneur selbst ist mit von der Partie. Das ist kein Routinefall, hast du kapiert? Keine Alltagsangelegenheit. Wir werden diese Sache später zwischen uns in Ordnung bringen, aber einstweilen möchte ich, daß | 256 |
du dich nicht rührst und die Schau dem FBI überläßt. Diese Leute können es mit denen vom Rauschgiftdezernat ausmachen, unsere Jurisdiktion endet jedenfalls am Schreibtisch des Gouverneurs, verstehst du? Erzähl mir nicht, wir hätten Rechte und Verantwortlichkeiten. Die kenne ich so gut wie du, aber wir werden sie nicht erwähnen. Ist das klar?« Es war alles sehr klar gewesen. »Wo haben Sie diesen Sonnenbrand her?« fragte Kraft. Vom Herumsitzen mit einem Feldstecher, während einem die Sonne auf den Schädel knallt, du Mistkerl! dachte sie. Du weißt genau, wo ich mir den geholt habe. Aber sie zuckte nonchalant die Achseln und sagte: »Ach, bloß vom Wandern in eurer hübschen Landschaft.« Immer um den Stock herum, wie? dachte Kraft beunruhigt. Er sagte: »Vielleicht wäre nichts von alledem geschehen, wenn Ihr Mr. Peruge den Dienstweg eingehalten hätte. Er hätte zuerst den Sheriff in Lakeview aufsuchen sollen, statt zu mir zu kommen oder die Staatspolizei einzuschalten. Sheriff Lapham ist ein guter ...« »Ein guter Politiker«, unterbrach sie ihn. »Wir dachten, wir sollten uns lieber direkt an jemanden wenden, der sich engerer Beziehungen zu Doktor Hellstrøm erfreut.« Kraft befeuchtete sich die Lippen. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Er wartete gespannt auf weitere Enthüllungen, die ihren Verdacht betrafen, doch sie legte nur den Kopf auf die Seite und erwiderte seinen Blick. »Ich verstehe nicht«, sagte er schließlich. »Was geht mich...« »Sie verstehen«, sagte sie. »Ich will verdammt sein, wenn ich verstehe, was Sie meinen!« »Und verdammt, wenn Sie es nicht wissen«, sagte sie. Kraft glaubte die drohende Macht hinter ihrer Feindseligkeit förmlich zu spüren. Es war ihr völlig gleich, wie sie ihn behandelte; sie versuchte ihn zu provozieren. »Ich weiß, was Sie sind«, sagte er. »Sie sind von einer dieser Geheimorganisationen. CIA, würde ich sagen. Sie glauben, Ihnen gehörte die...« | 257 |
»Danke für die Beförderung«, sagte sie, aber sie war jetzt wachsamer. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die ihr nicht paßte. Eddie hatte gesagt, der Chef wolle, daß sie den Hilfssheriff unter Druck setzten, aber nicht verschreckten. Kraft rückte auf seinem Stuhl hin und her. Eine fast schmerzhafte Stille senkte sich über den Raum, tief und geladen. Er suchte nach einer Entschuldigung, um zu einem Telefon hinauszukommen. Er könnte sagen, er müsse auf die Toilette, aber diese Frau würde sich vergewissern, daß er wirklich dorthin ginge, und in der Toilette gab es kein Telefon. Außerdem verlor der Wunsch, Hellstrøm anzurufen, allmählich an Reiz. Ein solcher Anruf konnte sehr gefährlich werden. Möglicherweise hatten sie inzwischen jede Leitung zur Farm angezapft. Was hatte sie überhaupt veranlaßt, ihn mit Hellstrøm in Verbindung zu bringen? Gewiß, er war einige Male krank gewesen und im Stock gesundgepflegt worden. Als Tarnung hatte ihm die Erklärung gedient, daß ein guter Freund der alten Trova sei (was der Wahrheit entsprach), aber sie war längst tot und in den Bottichen. Warum sollte das diese Regierungsleute mißtrauisch machen? Seine Gedanken gingen eine Zeitlang weiter in diese Richtung und folgten den Spuren seiner Befürchtungen zu diesen und jenen Ereignissen der Vergangenheit. War das verdächtig gewesen, und was war mit dieser Geschichte, oder war jemand stutzig geworden, als er damals ... Es war eine nutzlose Beschäftigung, die ihn nur nervös und seine Handflächen feucht machte. Das Schrillen des Telefons schreckte ihn aus seinen besorgten Träumereien. Er grapschte nach dem Hörer, stieß ihn aus der Gabel und mußte ihn an der Seite des Schreibtischs hochziehen, wo er am Kabel hing. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war laut und aufgeregt, und er konnte sie schon deutlich hören, ehe er den Hörer ans Ohr brachte. »Hallo? Hallo? Wer ist da?« »Hier spricht Hilfssheriff Kraft«, sagte er. »Ist Clovis Carr da? Es hieß, sie sei dort zu erreichen.« »Sie ist hier. Mit wem spreche ich?« »Holen Sie sie an den Apparat.« | 258 |
»Dies ist ein amtlicher Anschluß, und ich ...« »Zum Teufel, dies ist ein amtlicher Anruf! Holen Sie sie an den Apparat!« »Gern, aber ...« »Augenblicklich!« Die lange Geschichte erwarteten Gehorsams war hinter diesem gebellten Befehl nicht zu verkennen. Die Macht des Mannes war seiner Stimme anzuhören. Kraft reichte den Hörer über den Tisch. »Es ist für Sie.« Clovis Carr nahm den Hörer mit verwundertem Stirnrunzeln, räusperte sich und sagte: »Ja, bitte?« »Clovis Carr?« Sie erkannte die Stimme sofort: der Chef persönlich. Du lieber Gott! Der Chef rief sie an! »Clovis Carr hier«, sagte sie mit trockenem Mund. »Wissen Sie, wer hier spricht?« »Ja.« »Sehr schön. Hören Sie gut zu und tun Sie genau, was ich Ihnen sage.« »Jawohl, Sir. Was ist es?« Irgend etwas in seiner Stimme sagte ihr, daß es großen Ärger gegeben hatte. »Kann dieser Hilfssheriff hören, was ich sage?« fragte der Chef. »Glaube ich nicht.« »Nun, wir müssen es riskieren. Also passen Sie auf: das Flugzeug mit den FBI-Männern und den Leuten vom Rauschgiftdezernat ist irgendwo im Gebiet der Sisters abgestürzt. Das ist ein unzugängliches Gebirgsgebiet nördlich von Ihnen. Alle tot. Es kann ein Unfall gewesen sein, aber wir gehen von der Annahme aus, daß es keiner war. Ich habe gerade mit dem Direktor gesprochen, und er nimmt die gleiche Haltung ein, besonders in Anbetracht dessen, was ich ihm über die Situation sagen konnte. Von Seattle ist eine neue FBI-Mannschaft unterwegs, aber es wird noch eine Weile dauern, bis sie dort eintreffen wird.« Clovis schluckte und warf Kraft einen besorgten Blick zu. Der Hilfssheriff hatte sich in seinem Drehsessel zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. | 259 |
»Was soll ich tun?« »Ich hatte Funkverbindung mit den anderen Mitgliedern Ihrer Gruppe, nur nicht mit Janvert. Ist er immer noch auf der Farm?« »Soviel ich weiß, ja, Sir.« »Gut; das läßt sich nicht ändern. Es könnte sogar vorteilhaft für uns sein. Die anderen kommen von den Bergen und werden Sie abholen. Sie müssen den Hilfssheriff mitnehmen. Wenden Sie notfalls Gewalt an, aber nehmen Sie ihn mit. Verstanden?« »Verstanden.« Sie steckte die Hand in ihre Segeltuchtasche, fand die Pistole und umfaßte sie. Ihr Blick ging unwillkürlich zu dem schweren Revolver, der in einem Halfter an Krafts Gürtel hing. Der Kerl nannte das Ding wahrscheinlich einen Schweinsfuß. »DT ist instruiert und weiß, was ich will«, sagte der Chef. »Sie werden zu dieser Farm hinausfahren und die Dinge dort in die Hand nehmen. Jeder Widerstand wird nötigenfalls mit Gewalt gebrochen. Der Direktor ist derselben Meinung. Die Verantwortlichkeit für die Aktion wird jedoch bei uns liegen. Das FBI hat uns weitgehende Unterstützung und Zusammenarbeit zugesagt. Verstehen Sie mich?« »Ich verstehe.« »Ich hoffe es. Jedes unnötige Risiko ist zu vermeiden. Sie haben diesen Hilfssheriff zu töten, sollte er die Aktion zu verhindern suchen. Das gleiche gilt für jeden anderen, der sich Ihnen entgegenstellt. Wir werden hinterher eine hinreichende Rechtfertigung finden. Ich möchte, daß diese Farm innerhalb einer Stunde in unseren Händen ist.« »Jawohl, Sir. Übernimmt DT den Befehl?« »Nein. Bis Sie zur Farm kommen, werden Sie die Leitung übernehmen.« »Ich?« »Sie. Sobald Sie mit Janvert zusammentreffen, übernimmt er die Leitung.« Ihre Mundhöhle war trocken wie Staub. Gnädiger Gott! Sie brauchte etwas zu trinken und Zeit, die Angelegenheit in Ruhe zu überdenken, aber sie begriff, warum der Chef die Befehls| 260 |
gewalt ihr übertragen hatte, bis sie Eddie erreichten. Der Chef wußte über sie und Eddie Bescheid. Der Chef war ein gerissener Bursche. Er sagte sich, daß sie diejenige mit der stärksten Motivation sei, weil sie ihren Freund retten wolle. Darum gab er ihr die Zügel in die Hand. Sie fühlte, daß der Chef bei seiner Entscheidung noch etwas anderes im Auge hatte, wußte aber nicht, wie sie danach fragen sollte. Hatte es mit Kraft zu tun? Sie drückte den Hörer gegen das Ohr und stieß den Stuhl rückwärts zum Fenster. »Ist das alles?« fragte sie. »Nein, das dicke Ende kommt noch. Im Gespräch mit dem Sheriff stolperten wir über etwas. Er gab es uns selbst, ganz beiläufig und unbekümmert. Es scheint, daß ihr Hilfssheriff die Gewohnheit hat, bei jeder Erkrankung Hellstrøms Farm aufzusuchen und sich dort gesundpflegen zu lassen. Bei unserer Suche nach Hellstrøms Verbindungsleuten in Washington fanden wir einen Kongreßabgeordneten, der es genauso macht, und wenigstens einen Senator, den wir im Verdacht haben, ohne es bisher beweisen zu können. Verstehen Sie?« Sie nickte. »Ich sehe.« »Diese Sache breitet sich mit jeder Schicht, die man abhebt, weiter aus. Gehen Sie keinerlei Risiko ein, was diesen Hilfssheriff betrifft.« »Werde ich nicht tun«, sagte sie. »Wie schlimm war es – ich meine, der Flugzeugabsturz?« »Die Maschine brannte aus. Es war eine zweimotorige Beechcraft, gechartert, aber erst vor kurzem technisch überprüft und von der Überwachungsbehörde freigegeben. Es gibt für den Absturz keinen einleuchtenden Grund. Wir konnten das Wrack noch nicht untersuchen und hätten es wahrscheinlich nicht einmal gefunden, wenn es beim Aufschlag nicht in Brand geraten wäre. Wie es heißt, hat die Treibstoffexplosion an den Osthängen einen Waldbrand ausgelöst. Die Leute vom Forstdienst sind jetzt dort, dazu örtliche Polizei und Untersuchungsbeamte von der Luftfahrtbehörde. Wir werden so bald wie möglich einen Bericht erhalten.« »Was für eine Schweinerei!« sagte sie und bemerkte, daß Kraft sie jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit anstarrte und | 261 |
zu lauschen versuchte. »Könnte es nicht doch ein Unfall gewesen sein?« »Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Der Pilot flog früher für die CIA in Vietnam, sechstausend Flugstunden. Ziehen Sie daraus Ihre eigenen Schlüsse. Und noch etwas: sagen Sie Shorty, er habe Bevollmächtigung Klasse G. Wissen Sie, was das ist?« »Ja – jawohl, Sir.« Mein Gott! Töten und Brennen, wenn nötig! »Ich werde Sie über Funk rufen, nachdem Sie diese Farm erobert haben«, sagte der Chef. »Sagen wir, in einer Stunde. Machen Sie’s gut und seien Sie gründlich.« Sie hörte das Knacken in der Leitung, zog den Stuhl näher zum Schreibtisch und legte den Hörer auf die Gabel. Darauf zog sie, die Schreibtischkante als Deckung nutzend, ihre Pistole aus der schwarzen Segeltuchtasche. Kraft beobachtete sie, noch immer mit dem Versuch beschäftigt, sich einen Vers auf das Telefongespräch zu machen, von dem er nur die Antworten der Frau gehört hatte. Die erste Erkenntnis, daß die Dinge sich zum Schlechteren gewandelt hatten, kam ihm, als er den Schalldämpfer von Clovis Carrs Pistole wie eine stählerne Schlange über die Schreibtischkante kriechen sah. »Lassen Sie Ihre Hände, wo ich sie sehen kann«, sagte Clovis. »Ich werde Sie beim geringsten Zeichen von Widerstand niederschießen. Machen Sie deshalb keine plötzlichen Bewegungen, egal, aus welchem Grund. Stehen Sie langsam auf und lassen Sie die Hände auf dem Tisch. Seien Sie äußerst vorsichtig in allem, was Sie tun, Mr. Kraft. Ich möchte Sie nicht in diesem Büro erschießen. Es wäre schmutzig und unordentlich und schwierig zu erklären, aber wenn Sie mich dazu zwingen, werde ich es tun.« Aus dem vorläufigen mündlichen Autopsiebefund über Dzule Peruge: Der etwa daumennagelgroße Bluterguß am linken Oberarm mit einer Einstichöffnung in der Mitte läßt mit Sicherheit auf eine unfachmännisch ausgeführte Injektion schließen. Wir können zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, welches Mittel | 262 |
injiziert wurde, da die biochemischen Laboruntersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Die unmittelbare Todesursache war ein massiver Herzinfarkt. Die technischen Einzelheiten dazu können Sie dem schriftlichen Befund entnehmen. Ob dieser Herzinfarkt von dem injizierten Mittel bewirkt wurde, kann erst nach Vorliegen der biochemischen Laborbefunde beurteilt werden. Andere Anhaltspunkte lassen erkennen, daß der Mann sehr kurz vor seinem Tode Geschlechtsverkehr hatte, wahrscheinlich nicht mehr als vier Stunden vorher. Ja, das ist unsere Ansicht. Die ganze Konstellation scheint ziemlich typisch zu sein: älterer Mann, wesentlich jüngere Frau (nach Ihren Angaben vermutet), und zuviel Sex. Alles bis jetzt vorliegende Beweismaterial deckt sich mit dieser Diagnose. Kurz gesagt, er hat sich zu Tode gebumst.« Hellstrøm wischte sich den Mund mit der Serviette, legte sie neben seinen leeren Teller und sagte, indem er sich ein wenig über den Tisch neigte: »Mr. Janvert, wir haben Verschiedenes miteinander zu besprechen.« Janvert hatte seine Mahlzeit beendet und saß gedankenverloren da, den rechten Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in die Hand gestützt. Er fühlte sich von der ganzen Situation wie benebelt: die Tischgesellschaft, die Organisation, der Anruf vom Chef, dieser Auftrag, seine früheren Befürchtungen ... Es war ihm undeutlich bewußt, daß er noch immer wachsam und vielleicht vor Hellstrøm und dieser Frau auf der Hut sein sollte, aber es schien ihm irgendwie nicht der Mühe wert. »Es ist Zeit, daß wir unsere beiderseitigen Probleme besprechen«, sagte Hellstrøm. Janvert nickte, ohne das Kinn von der stützenden Hand zu nehmen, schmunzelte, als es trotzdem abrutschte. Probleme besprechen. Selbstverständlich. Vielleicht lag es an der ländlichen Umgebung, am ausgezeichneten Essen oder an diesen Leuten, die mit ihm am Tisch saßen – irgendwo in alledem steckten gute und hinreichende Gründe für den Stimmungsumschwung, den er jetzt fühlte. Er hatte lange genug gegen die Sympathie angekämpft, die er für Hellstrøm empfand. Vielleicht war es nicht klug, dem Mann | 263 |
schon jetzt völliges Vertrauen zu schenken, aber es war in Ordnung, ihn zu mögen. Es gab einen Unterschied zwischen Vertrauen und Sympathie. Hellstrøm konnte für das verpfuschte Leben eines Niemand namens Eddie Janvert nicht verantwortlich gemacht werden. Hellstrøm beobachtete die Veränderung und war zufrieden. Janvert vertrug die verhältnismäßig hohe Dosierung recht gut. Sein Körper verarbeitete jetzt verschiedene Chemikalien, darunter sogenannte Identifikatoren. Bald würde er von jedem Arbeiter des Stocks als dem Stock zugehörig akzeptiert werden. Dieser Vorgang wirkte natürlich in beide Richtungen: Janvert würde seinerseits die Arbeiter des Stocks akzeptieren. Andere Chemikalien unterdrückten seinen Fortpflanzungstrieb und seine Fähigkeit zu selbständigem, kritischem Denken. Wenn der Prozeß der chemischen Metamorphose planmäßig verlief, würde der kleine Mann bald ganz fügsam sein. Hellstrøm forderte Mimeca durch Handzeichen auf, die Veränderungen zu beachten, und sie nickte und lächelte zurück: Janverts Körpergeruch hatte bereits viel von seiner penetranten, unangenehmen Fremdartigkeit verloren und wurde allmählich annehmbar. Es muß an dieser Farm liegen, sagte sich Janvert. Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er zum Erkerfenster hinaus. Der sonnige Nachmittag schien warm und einladend. Er und Clovis hatten oft von einem solchen Ort geträumt. »Unser eigenes Haus, am besten eine alte Farm. Wir werden einen Gemüsegarten anlegen und ein paar Tiere haben. Unsere Kinder können mithelfen, wenn sie alt genug sind.« Es war eine Phantasie, deren Unerreichbarkeit die Gegenwart versüßen konnte. »Sind Sie schon bereit, ein kleines Gespräch zu führen?« fragte Hellstrøm vorsichtig. Gespräch, ja. »Gewiß«, sagte Janvert. Er hörte sich relativ munter an, aber Hellstrøm konnte den Unterschied im Tonfall ausmachen. Die subtile Chemie der Gemeinschaft verrichtete unerbittlich ihre Arbeit. Es war in gewisser Weise nicht ungefährlich, weil Janvert jetzt offen durch alle Teile des Stocks gehen konnte, ohne als fremder Eindringling erkannt | 264 |
und zu den Bottichen geschleppt zu werden. Dem stand jedoch der Vorteil entgegen, daß Janvert ihm selbst oder jedem anderen Vernehmer der Sicherheitsabteilung des Stocks offen Rede und Antwort stehen würde. Vorausgesetzt, diese chemische Konditionierung wirkte auch bei einem Außenseiter auf Anhieb so durchgreifend wie nötig. Das blieb abzuwarten. »Ihre Behördenvertreter scheinen sich ein wenig verspätet zu haben«, sagte Hellstrøm. »Sollten Sie nicht anrufen und sich nach dem Grund erkundigen?« Verspätet? Janvert spähte zu der alten Standuhr hinüber. Kurz vor zwei. Wo war die Zeit geblieben? Er glaubte sich zu erinnern, daß er mit Hellstrøm und der Frau geplaudert hatte – Fancy hieß sie. Ein süßes kleines Ding. Aber irgend jemand hatte sich verspätet. »War es wirklich kein Irrtum, als Sie sagten, das FBI und andere würden kommen?« fragte Hellstrøm. »Ich glaube nicht, daß ich mich geirrt habe«, sagte Janvert. Die Unterstellung löste eine kleine Aufwallung von Ärger und Adrenalin aus. In diesem Geschäft machte man keine Fehler! Gott im Himmel, was für ein beschissenes Geschäft. Und alles nur, weil er über diese blödsinnige Akte der Organisation gestolpert war. Nein – das war nur ein einziger Schritt gewesen. Die Falle war bei weitem komplizierter. Eddie Janvert war konditioniert worden, alles zu akzeptieren, was die Organisation repräsentierte. Diese Konditionierung war viel früher geschehen. Ohne alles das hätte er wahrscheinlich auch Clovis nie kennengelernt. Seine Clovis. Viel hübscher als diese üppige Person neben ihm, diese Fancy. Er fühlte, daß auch auf anderen Ebenen Vergleiche zwischen Clovis und Fancy angebracht wären, aber es kam nicht darauf an. Die Organisation! Es war ein schlimmes Geschäft. Man ahnte die Gegenwart verborgener Oligarchien im Hintergrund, deren Einfluß in allen Bereichen spürbar war. Das war es! Die Organisation war ein schlimmes Geschäft. »Ich überlegte gerade«, sagte Hellstrøm sinnend, »daß wir unter anderen Umständen vielleicht sehr gute Freunde geworden wären.« | 265 |
Freunde. Janvert nickte, und wieder rutschte ihm der Kopf von der stützenden Hand. Sie waren Freunde. Dieser Hellstrøm war wirklich ein sehr netter Kerl. Ein Mann von Kultur, der ein gutes Essen zu servieren verstand. Und das war sehr hübsch, wie er vor dem Essen das Tischgebet gesagt hatte. Die Idee der Freundschaft mit Hellstrøm entfachte jedoch eine winzige Unruhe in Janvert. Er begann sich über seine Reaktionen zu wundern. Es war ... Peruge! Das war es: Peruge. Der alte Peruge hatte irgendwann was Wichtiges gesagt. Er hatte gesagt, Hellstrøm und seine Freunde hätten eine Art – eine Art Injektion! Richtig, das war es: eine Injektion. Sie verwandelte einen vernünftigen Mann in einen sexbesessenen Zuchthengst. Peruge hatte es gesagt. Achtzehnmal in einer Nacht! Janvert lächelte fröhlich in sich hinein. Wenn man darüber nachdachte, war das eigentlich sehr nett. Es war viel netter als die verdammte Organisation, wo sie einen mit Luchsaugen beobachteten, um herauszubringen, für wen man etwas übrig hatte – so wie er und Clovis etwas füreinander übrig hatten –, um es dann gegen einen zu verwenden. So machte es die Organisation. Wenn man ein bißchen darüber nachdachte, ließ sich die Freundschaft mit Hellstrøm leicht erklären. Die ganze verfluchte Organisation war einfach zuviel für einen Eddie Janvert. Das mußte er Clovis erzählen. Achtzehnmal in einer Nacht: das war sehr freundlich. Mimeca, von Hellstrøm ermutigt, legte ihre Hand auf Janverts Arm. Sie hatte eine rundliche, freundliche kleine Hand. »Ich dachte gerade das gleiche«, sagte sie. »Wir sollten wirklich Freunde sein.« Janvert richtete sich ruckartig auf, tätschelte die Hand auf seinem Arm. Er tat es, weil die Freundlichkeit es verlangte, aber wieder wunderte er sich über sein Verhalten. Er fühlte, daß er diesem Paar beinahe vertrauen konnte. War das natürlich? Nun, warum nicht? Sie konnten nichts in sein Essen getan haben. Das war ein komischer Gedanke, sagte er sich. In sein Essen! Er erinnerte sich, daß er Hellstrøms Teller genommen hatte. Ja. Hellstrøm hatte seinen eigenen Teller mit dem guten Essen hergegeben. Also, wenn das nicht Freundschaft war! In solchen einfachen Handlungen konnte man keine Schlechtig| 266 |
keit verstecken, oder? Er starrte die Frau an seiner Seite an und überlegte müßig, warum sein Verstand so langsam arbeitete. Peruge. Daß sie was in sein Essen getan hatten, schied aus. Eine Injektion konnten sie ihm auch nicht gegeben haben. Er fuhr fort, der Frau ins Gesicht zu starren, und fragte sich, warum er es tue. Sex. Nein, er war nicht scharf auf diese pneumatische kleine Frau mit den freundlichen Händen und den feuchten Augen. Vielleicht hatte sich Peruge getäuscht. Hatte Peruge gelogen? Der geile Saukerl wäre dazu imstande. Es konnte für diese ganze Sache völlig natürliche Erklä-rungen geben, sagte sich Janvert. Was konnte er gegen Hellstrøm haben? Doch nur das, was die Organisation ihm diktierte. Er wußte nicht mal, was das war! Was hatte die Organisation gegen den armen Mann? Projekt 40. Ja – da hatte es was gegeben. Papiere und so. Projekt 40. Aber das war Hellstrøms Projekt. Es mußte was Freundliches, Harmloses sein, nicht wie die verdammte Organisation. Dort sagten sie einem bloß, daß man Befehlen zu gehorchen habe. Janvert verspürte einen plötzlichen Bewegungsdrang. Er stieß seinen Stuhl zurück, fiel beinahe hintenüber, aber die hübsche Frau half ihm das Gleichgewicht wiederfinden. Er tätschelte ihr die Hand. Fenster. Er wollte aus dem Fenster schauen. Ein wenig taumelnd bewegte sich Janvert den Tisch entlang zum Erkerfenster. Im Bachbett blinkten angestaute Tümpel ohne erkennbare Strömung. Eine leichte Nachmittagsbrise bewegte die Schatten der Bäume auf dem Wasserspiegel und schuf eine Illusion von Bewegung. Die Stille im Speisezimmer enthielt eine ähnliche Illusion. Er wunderte sich beiläufig, wie seine Sinne die Wirklichkeit aufnahmen. Es war eine sehr freundliche, stille Szene, ein überaus angenehmer Ort. Warum regte sich dann tief in ihm diese nagende kleine Sorge? Das war die einzige störende Sache in dieser ganzen Situation. Situation. Welcher Situation? Janvert schüttelte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, wie ein verwundetes Tier. Alles war so ungemein verwirrend. Hellstrøm lehnte sich stirnrunzelnd auf dem Stuhl zurück. | 267 |
Die Chemie des Stocks schien auf Janvert nicht ganz so zu wirken, wie sie auf einen der ihren gewirkt haben würde. Die Menschen des Stocks waren den Außenseitern genetisch noch nahe genug verwandt, um sich mit ihnen zu kreuzen. Die Divergenz war erst etwa dreihundert Jahre alt. Unter diesen Umständen war eine biochemische Affinität beider Gruppen nur zu erwarten. Aber Janvert reagierte nicht mit offener und vorbehaltloser Freundlichkeit. Es war, als fechte er einen inneren Kampf aus. Die chemische Beeinflussung allein reichte also nicht aus. Vielleicht hätte er auch das erwarten sollen. Der menschliche Organismus war viel mehr als bloßes Fleisch. In irgendeinem unbewußten Winkel seines Intellekts bewahrte Janvert also noch eine Vorstellung von Hellstrøm als einer Bedrohung. Mimeca war Janvert zum Fenster gefolgt und stand jetzt hinter ihm. »Wir meinen es wirklich gut mit Ihnen«, murmelte sie. Er nickte. Natürlich meinten sie es gut mit ihm. Welch ein Gedanke! Janvert steckte die Hand in seine Jackentasche und fühlte die Pistole. Er wunderte sich, daß er so ein Ding bei sich trug. Eine Waffe war ein schlimmes, häßliches Ding. »Warum können wir nicht Freunde sein?« fragte Mimeca. Tränen stiegen in Janverts Augen, rannen ihm langsam über die Wangen. Es war so traurig. Die Pistole, dieser Ort, Clovis, die Organisation, Peruge, alles. So traurig. Er zog die Waffe aus der Jackentasche, wandte sich weg, um sein tränennasses Gesicht zu verbergen, und reichte in hilfloser Geste die Pistole Mimeca. Sie nahm sie mit zwei Fingern, hielt sie ungeschickt in der Hand: eine von diesen schrecklichen, fleischzerreißenden Außenseiterwaffen. »Wirf es weg«, flüsterte Janvert. »Bitte wirf dieses verdammte Ding weg.« Aus dem Nachrichtenkommentar einer Washingtoner Zeitung: ... und es wurde mit Recht darauf hingewiesen, daß Altmans Tod nicht der erste Selbstmord eines hochgestellten Regierungsbeamten ist. Politische Beobachter in Washington erinnerten sich sofort an den Tod des Verteidigungsministers James Forrestal, | 268 |
der Familie und Freunde schockierte, indem er am 22. Mai 1949 aus einem Krankenhausfenster sprang. Altmans Tod führte auch zum Wiederaufleben des in Washington seit langem kursierenden Gerüchts, daß er den Kopf einer geheimen Ermittlungsbehörde gewesen sei, die unmittelbar der Regierungsexekutive unterstehe. Einer von Altmans alten Weggefährten, Joseph Merrivale, gab inzwischen ein zorniges Dementi heraus, worin er die Gerüchte als ›blödsinniges Geschwätz‹ bezeichnete. Alles in allem war es trotz der vorausgesagten Alarmmeldungen ein höchst erfolgreicher Nachmittag gewesen, sagte sich Hellstrøm. Er stand in der Wachstube im Dachgeschoß der Scheune und spähte durch die Schlitze der Fensterläden nach Norden. Dort waren in der Ferne die weißlichen Staubfahnen von Fahrzeugen zu sehen, aber im Moment sah er keine Bedrohung von außen. Die letzten Meldungen aus Washington und Fosterville deuteten eher auf ein Nachlassen des Drucks hin. Janvert hatte alle Fragen beantwortet, und dazu hatte es nur der sanftesten Überredung bedurft. Der Gedanke bekümmerte Hellstrøm, führte er doch unausweichlich zu einem Vergleich mit ihren früheren Methoden. So viele Schmerzen hätten den anderen Gefangenen erspart bleiben können. Und wenn man es recht überlegte, war diese Technik so offensichtlich. Fancy hatte dem Stock wirklich einen großen Dienst erwiesen. Saldo kam mit leichtfüßiger Anmut auf Hellstrøm zu und sagte: »Station sechs meldet, daß der Staub dort draußen von drei schweren Fahrzeugen herrührt, die sich der unteren Zufahrt nähern.« »Das werden Janverts Freunde mit ihren Helfern vom FBI sein«, sagte Hellstrøm. »Ist alles bereit?« »Soweit wie möglich, ja. Mimeca ist im Farmhaus und weiß, welche Rolle sie als Fancy zu spielen hat. Beleidigte Unschuld und so weiter. Sie hat nie auch nur den Namen Depeaux gehört, weiß nichts von einem Fahrrad, ist völlig ahnungslos.« »Gut. Wo habt ihr Janvert untergebracht?« »In einer leeren Zelle auf Ebene zweiundvierzig. Alles ist in Alarmbereitschaft.« | 269 |
Mit erneuten Befürchtungen dachte Hellstrøm daran, was Alarmbereitschaft bedeutete: Zeitverlust zu Lasten wichtiger laufender Arbeiten; Konzentration chemisch vorbehandelter Arbeiter mit Betäubungsstäben an getarnten Ausgängen. »Sie fahren sehr schnell«, sagte Saldo und nickte zu der Staubwolke der näherkommenden Fahrzeuge. »Sie haben sich verspätet«, sagte Hellstrøm. »Irgendwas hat sie aufgehalten, und nun versuchen sie den Zeitverlust hereinzuholen. Sind alle bereit, diese Wachstube zu verlassen?« »Ich werde es den Leuten sagen«, meinte Saldo. »Warte noch«, sagte Hellstrøm. »Wir können sie am Tor aufhalten. Konntest du Linc erreichen?« »In seinem Büro meldet sich niemand. Weißt du, wenn wir das hier hinter uns haben, sollten wir daran denken, ihm eine bessere Tarnung zu geben – eine Ehefrau, ein zweites Telefon zu Hause, das an die Büroleitung angeschlossen ist.« »Gute Idee«, sagte Hellstrøm. Er zeigte hinaus. »Das sind große Campingwagen auf Lastwagenfahrgestellen. Können es dieselben sein, die sie oben in den Bergen hatten?« »Sieht so aus ... Nils, sie fahren viel zu schnell! Sie sind schon am Grenzzaun. Vielleicht sollten wir ...« Er brach entsetzt ab, als der vorderste der großen Wagen das Tor durchbrach und scharf nach links schwenkte, um den flachen Betonbau der getarnten Notenlüftung zu blockieren. Zwei Gestalten sprangen aus dem Fahrerhaus, als der Wagen schleudernd zum Stillstand kam. Einer von ihnen trug eine schwarze Tasche oder ein Paket. Die anderen Fahrzeuge rasten mit brüllenden Motoren weiter, hielten direkt auf Haus und Scheune zu. »Sie greifen an!« schrie Saldo. Eine dumpfe Explosion bekräftigte seine Warnung, und schwarzer Rauch quoll aus den Seitenöffnungen des niedrigen Betonwürfels. Einen Augenblick später folgte ihr eine zweite, stärkere Explosion, die eine Wand heraussprengte und den daneben haltenden Wagen umwarf. Er geriet sofort in Brand. Unsere eigene Ladung zum Absprengen der Tarnung über dem Entlüftungsschacht, dachte Hellstrøm. Sie war offensichtlich zu stark bemessen gewesen. | 270 |
Bei den Gebäuden wurden jetzt weitere Explosionen laut, vermischt mit Schüssen, Schreien, den Geräuschen fliehender Menschen. Zwei Angreifer sprangen von einem fahrenden Lastwagen und rannten türenschlagend ins Farmhaus. »Nils! Nils!« sagte Saldo, der ihn am Arm vom Fenster wegzuziehen versuchte. »Du mußt hier raus!« Aus den Aphorismen des Philosophen Harl: Eine Gesellschaft, die dem akzeptierten Verhalten der Umwelt konsequent zuwiderhandelt, kann nur in einem dauernden Belagerungszustand existieren. Mimeca saß im Wohnzimmer des Farmhauses und erwartete das Eintreffen von Janverts Gesetzeshütern, als die Explosionen das Gebäude erschütterten. Herumfliegende Steine schlugen dumpf gegen die Bretterwände, und ein faustgroßer Betonbrocken krachte splitternd durch das Fenster auf der Nordseite und kollerte über den Boden. Schüsse, Schreie und Explosionen füllten den Hof. Mimeca rannte geduckt in die Küche, wo sie Mrs. Niles erschreckte, die neben dem offenen Fenster stand und mit einem Betäubungsstab den Hof zwischen Farmhaus und Scheune bestrich. Mimeca schenkte dem Geschehenen nur einen flüchtigen Blick. Sie mußte zur Verfügung stehen, um Fancys Rolle zu spielen; das war wichtig für das Überleben des Stocks. Sie mußte sich retten. Sie lief zum rückwärtigen Teil der Küche, hob die aus den Planken gezimmerte alte Falltür und eilte die steile gemauerte Treppe in den ursprünglichen Kartoffelkeller hinunter. Durch das Holz der Falltür hörte sie ein Krachen, Schüsse, das Splittern von Glas. Sie stürzte zu den altersgrauen Holzregalen, die den Verbindungsstollen zur Scheune maskierten, zog die verborgene Tür auf und zwängte sich durch. Mit Betäubungsstäben bewaffnete Arbeiter kamen ihr entgegen, unterwegs zum Farmhaus. Mimeca drängte sich keuchend an ihnen vorbei und erreichte den Keller der Scheune. Vor ihr lag ein kurzer Korridor, in dem ein scheinbar heilloses Durcheinander herrschte, das nur der Stockgeborene als | 271 |
planvoll und organisiert erkennen konnte. Arbeiter eilten hierhin und dorthin, schleppten Geräte und Pakete zum Eingang des Stocks, installierten eine provisorische Übertrageranlage in einem Nebenraum zur Linken. Als Mimeca in den Vorraum kam, wurde der verborgene Ausstieg zum Toilettenraum aufgerissen, und Saldo kletterte hastig die Eisenleiter herab, gefolgt von Hellstrøm und bewaffneten Arbeitern. Aus der Lukenöffnung über ihnen drang undeutlicher Gefechtslärm, der jedoch plötzlich verstummte, bevor die Luke sich schloß. Sie hörte eine letzte Explosion, einen weiteren Schuß, dann war nur noch das vibrierende Summen zahlreicher Betäubungsstäbe vernehmbar. Hellstrøm sah Mimeca und winkte sie zu sich, während er zur provisorischen Übertragerstation weiterging. Als er den kleinen Raum betrat, wandte sich ein älterer Wacharbeiter um, erkannte ihn und sagte: »Wir haben alle außer Gefecht gesetzt, die bis zu den Gebäuden vorgedrungen sind, aber zwei halten noch unten beim Zaun aus. Sie sind dort außerhalb unserer Reichweite. Sollen wir sie von hinten nehmen?« »Nicht so schnell«, sagte Hellstrøm. »Können wir schon in die Wachstube zurückkehren?« »Die beiden Fremden beim Zaun haben mindestens eine Maschinenpistole.« »Ich werde in die Wachstube hinaufgehen«, sagte Saldo. »Warte hier, Nils. Bring dich nicht unnötig in Gefahr.« »Wir werden beide hinaufgehen«, meinte Hellstrøm nach kurzer Überlegung. Er bedeutete Saldo, vorauszugehen, dann wandte er sich zu Mimeca. »Ich bin froh, daß du davongekommen bist, Fancy.« Sie nickte, noch immer atemlos, schenkte ihm ein blitzendes Lächeln. »Warte hier«, sagte Hellstrøm zu ihr. »Es ist möglich, daß wir dich noch brauchen.« Er machte kehrt und folgte Saldo, der mit bewaffneten Arbeitern an der Eisenleiter wartete. Die Plötzlichkeit und Wildheit des Angriffs hatten in Hellstrøm eine Benommenheit ausgelöst, die sich noch nicht ganz verflüchtigt hatte. Jetzt war es also passiert. Sie waren wirklich im Feuer. Das Filmstudio in der Scheune hatte bemerkenswert wenig | 272 |
Schaden erlitten, sah man von einem großen Loch ab, das auf der Nordseite in die Bretterwand gesprengt worden war. Dort lagen Einrichtungsgegenstände, Geräte und anderes zerfetzt und zerbrochen in weitem Umkreis verstreut. Zu den zerstörten Gegenständen gehörte auch ein kleiner Stock der neuen Bewacherbienen. Die Überlebenden summten zornig herum, griffen jedoch nicht die Arbeiter des Stocks an – ein bemerkenswerter Erfolg des Konditionierungsprogramms. Hellstrøm nahm sich vor, die Leiter des Projekts zu ihrem Ergebnis zu beglückwünschen und ihnen zusätzliche Mittel und Hilfskräfte zur Verfügung zu stellen. Der Schwenkarm war unbeschädigt. Saldo steuerte bereits quer durch den Raum auf den gondelartigen Käfig zu, als Hellstrøm aus dem Treppenaufgang kam. Ehe er dem Jüngeren folgte, ließ er seinen Blick durch das Studio schweifen. Aufräumtrupps beseitigten bereits die Leichen der gefallenen Arbeiter. Tote, wo man hinsah! Die verdammten Mörder! Hellstrøm fühlte sich von einer reinen Kollektivreaktion gewalttätiger Empörung übermannt. Am liebsten hätte er Gefolgsleute um sich gesammelt und wäre hinausgestürmt, um die zwei überlebenden Angreifer mit bloßen Händen in Stücke zu reißen, ungeachtet der Verluste. Er spürte die gleichartige Stimmung unter den Arbeitern ringsum. Sie würden ihm auf das leiseste Zeichen hin folgen. Sie waren nicht mehr Kameraleute, Schauspieler, Techniker und andere Spezialisten; sie waren nur noch erbitterte, aufgeregte Arbeiter, die ihren Stock verteidigen wollten. Hellstrøm zwang sich zur Ruhe, als er hinüberging und zu Saldo in den Käfig stieg. Der Stock war noch nie in so großer Gefahr gewesen, und nie zuvor war es so sehr auf das kühle, überlegte Denken seiner leitenden Spezialisten angekommen. »Nimm ein Megaphon«, sagte er zu Saldo, als der Schwenkarm sie zur Wachstube hinaufhob. »Ruf die zwei Leute beim Zaun und sage ihnen, daß sie getötet werden, wenn sie sich nicht ergeben wollen. Wir wollen versuchen, sie lebendig zu fangen.« »Und wenn sie Widerstand leisten?« Saldos Stimme klang gepreßt, aufgeladen mit Emotion. | 273 |
»Du solltest nicht wünschen, daß sie Widerstand leisten«, sagte Hellstrøm tadelnd. »Wenn irgend möglich, sie zu betäuben und lebendig zu fangen. Sieh zu, ob du im Innern des Stocks unter sie kommen kannst. Wenn du nicht zu tief unter der Oberfläche bist, könntest du sie mit einem Stab durch die Erdschicht treffen. Das wäre eine Lösung.« Der Käfig senkte sich sanft zur Kante des Dachbodens, und sie stiegen aus. Die schalldämmenden Doppeltüren zur Wachstube standen offen, und aus dem Innern drang aufgeregtes Stimmengewirr. »Sag diesen Arbeitern dort drinnen, sie sollen sich während solcher Streßperioden mehr auf die Zeichensprache verlassen«, befahl Hellstrøm verdrießlich. »So kommt es gar nicht erst zu Durcheinander und Aufregung.« »Ja – ja, natürlich, Nils.« Saldo sah ihn ehrfürchtig von der Seite an, beeindruckt von Hellstrøms kühler Überlegenheit. Hier zeigte sich, was ein wahrer Führer war: vernünftige Einschätzung der Lage, Beherrschung des darunter siedenden Zorns. Der Angriff hatte Hellstrøm ohne Zweifel überrascht und erbittert, vielleicht sogar vorübergehend in Panik gebracht, aber er hatte sich völlig unter Kontrolle. Hellstrøm trat in die Wachstube und sagte mit schneidender Stimme: »Was ist hier für ein Durcheinander? Jeder geht sofort an seinen Platz! Macht die Türen zu. Ist unsere Telefonleitung zur Außenwelt noch offen?« Das Stimmengewirr brach augenblicklich ab. Die Arbeiter beeilten sich, seinen Befehlen zu gehorchen. Ein Spezialist bei der abgeräumten Bank, auf der die Übertrageranlage gestanden hatte, reichte Hellstrøm ein Telefon. »Bringt die Einrichtung wieder herauf«, befahl Hellstrøm, als er zum Telefon griff, »und schickt einen Beobachter zum Projekt 40 hinunter. Der Beobachter soll die Spezialisten in keiner Weise stören oder unterbrechen, sondern nur beobachten. Sowie er hört oder sieht, daß der neue Prototyp einsatzbereit ist, hat der Beobachter direkt an mich Meldung zu machen. Ist das klar?« Saldo nickte und machte sich daran, die Arbeit einzuteilen. | 274 |
Hellstrøm legte den Hörer ans Ohr und entdeckte, daß die Leitung tot war. Er gab das Gerät zurück. »Die Verbindung ist unterbrochen. Seht zu, daß die Leitung repariert wird.« Der Arbeiter nahm das Telefon, betrachtete es stirnrunzelnd und sagte: »Vor einer Minute war es noch in Ordnung.« »Wen wolltest du anrufen, Nils?« »Ich wollte Washington anrufen und sehen, ob die Zeit gekommen sei, um zu bluffen.« Aus dem Tagebuch der Trova Hellstrøm: Ein erfülltes Leben, gute Dinge zu ihrer Zeit, das Wissen, seinen Mitmenschen gedient zu haben, und in die Bottiche, wenn man stirbt; das ist der Sinn echter Gemeinschaft. Geeint im Leben, geeint im Tod. Clovis war in den ersten Wagen gestiegen, ohne sich um Myerlies Einwände zu kümmern, daß es ›kein Platz für eine Frau‹ sei. Sie hatte ihm darauf die passende Antwort gegeben, und er hatte mit trägem Lächeln und wissendem Blick gesagt: »Ich weiß es besser, Kindchen. Bei diesem Farmhaus könnte es heiß hergehen, und es ist nicht auszuschließen, daß es deinen kleinen Shorty erwischt. Es ist besser, wenn du das nicht mitansehen mußt. Ich kann dir hinterher sagen, wie es ausgegangen ist.« Darauf hatte sie ihm ins Gesicht gespuckt und mit der Linken ausgeholt, als er Anstalten machte, sie zu schlagen. Andere waren dazwischengesprungen, und DT hatte geschrien: »Mein Gott, Kinder! Dies ist nicht die Zeit, untereinander zu streiten! Was soll der Unfug? Kommt jetzt; laßt uns fahren!« Sobald sie den Ort hinter sich hatten, stoppten sie den Lastwagen an der Spitze, fesselten und knebelten den Hilfssheriff und luden ihn hinten auf die Ladefläche. Zuvor hatte er ihnen noch gedroht, daß sie ›dafür zahlen‹ würden, aber eine Bewegung mit der Pistole in Clovis’ Hand hatte ihn zum Schweigen gebracht. Er hatte sich ohne Widerstand binden und knebeln lassen und lag dann auf der Ladefläche, die Augen weit geöffnet, und beobachtete, was er sehen konnte. | 275 |
Clovis saß neben DT, der den Wagen fuhr. Sie beobachtete die vorbeigleitende Landschaft, ohne sie wirklich zu sehen. So also mußte es enden. Die Leute auf dieser Farm würden Eddie töten, sowie sie merkten, daß sie angegriffen wurden. Sie hatte Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und fühlte es als eine Gewißheit. Im Falle eines Angriffs hielt man sich den Rücken frei; das mußte auch Hellstrøm wissen. Rote Wut siedete in ihr; es schien sogar, als sei sie außerhalb von ihr und lockte sie vorwärts. Allmählich begann sie auch mögliche andere Motive hinter der Entscheidung des Chefs zu sehen, sie diesen Angriff leiten zu lassen. Offenbar wollte er, daß die Aktion den Charakter eines mörderischen Rachefeldzugs annehme. Sie hatten erst nach vier Uhr losfahren können. Eine leichte Brise beugte die langen gelben Halme zu beiden Seiten der ungeteerten Straße und strich mit wogenden, gleichmäßig dahinwandernden Fronten über die weiten Flächen des Graslands. Sie erreichten die letzte Biegung vor dem Grenzzaun, und DT trat das Gaspedal durch und jagte den schweren Lastwagen mit aufbrüllendem Motor über den letzten Kilometer. »Nervös?« fragte er. Sie blickte in das harte, jugendlich wirkende Gesicht, noch immer dunkel von der Sonnenbräune, die er sich in vietnamesischen Jahren geholt hatte. Der grüne Schirm seiner Mütze warf dunkle Schatten über seine Augen und ließ die kleine weiße Narbe auf dem Nasenrücken mehr als sonst hervortreten. »Das ist eine schwierige Frage«, rief sie durch das Brüllen des Motors. »Nichts Schlechtes daran, vor einem Kampf nervös zu sein«, sagte er. »Ich erinnere mich, wie ich mal in Nam ...« »Ich will nichts von eurem verdammten Scheißkrieg hören!« unterbrach sie ihn. Er zuckte die Achseln, und als er ihr einen schnellen Seitenblick zuwarf, sah er, daß ihr Gesicht aschfahl war. Dieser Auftrag nahm sie mit; kein Geschäft für eine Frau. Myerlie hatte im Grunde recht gehabt. Aber es hatte keinen Sinn, sich in diesen Scheiß einzumischen. Wenn sie die fanatische Helden| 276 |
frau sein wollte, war das ihre Sache. Hauptsache, sie wußte mit dieser Sprengladung umzugehen. »Was machst du, wenn du nicht arbeitest?« fragte er. »Was geht das dich an, Junior?« »Herrgott, bist du reizbar! Ich wollte bloß Konversation treiben.« »Dann treibe sie mit dir selbst, verdammt noch mal!« Lieber würde ich es mit dir treiben, Baby, dachte er. Hast eine hübsche Figur. Und er überlegte, wie Shorty sich daran erfreuen mochte. Natürlich wußten alle über diese beiden Bescheid. Ein richtiges Verhältnis. Wie Eheleute. Aber in der Organisation war das schlecht, er und Tymiena waren da anders – guter, sauberer Sex. Dieses Verhältnis war natürlich auch der Grund dafür, daß Clovis es so schwer nahm. Wenn der Tanz losging, würde Shorty als erster sein Fett kriegen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Und dann würde sie diese ganze Schau leiten müssen! Wieder sah er sie von der Seite an. Traute der Chef ihr wirklich so viel zu? »Sie erwarten uns nicht«, sagte er. »Vielleicht geht alles ganz schnell und glatt über die Bühne. Wie viele Leute werden sie auf der Farm haben? Zwanzig? Vielleicht dreißig?« »Das wird eine verdammte Sauerei geben, ich fühle es in den Knochen«, knurrte sie zurück. »Und jetzt sei still!« Hilfssheriff Kraft, der hinten auf der Ladefläche unsanft herumgeworfen wurde, machte sich seine eigenen Gedanken, und trotz seiner wenig beneidenswerten Lage verspürte er beinahe Mitleid mit diesen Leuten. Bei ihrer Razzia würden sie gegen eine Wand von Betäubungsstäben anrennen, alle auf maximale Energieentladung eingestellt. Es würde ein Gemetzel geben. Was würden sie tun, wenn sie wüßten, mit wie vielen Gegnern sie es wirklich zu tun hatten? Was würden sie sagen, wenn sie ihn fragten und er ihnen antworten würde: Na, fünfzigtausend oder so, vielleicht ein paar hundert mehr oder weniger. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ, fühlte Clovis eine Art bitterer Heiterkeit über DTs Geschwätz. Wenn einer von ihnen nervös war, dann er. Sie war längst darüber hinaus und in jenem Zustand mörderischer Wut, den der Chef offensichtlich | 277 |
von ihr wollte. Sie waren dem Zaun inzwischen so nahe, daß sie jede äußere Einzelheit des gedrungenen Betonbaus jenseits des Tors sehen konnten. Im Tal hinter den Farmgebäuden warf die westliche Hügelkette lange Nachmittagsschatten. Beim Farmhaus und dem Teil der Scheune, der von hier aus sichtbar war, bewegte sich nichts. Kein Zeichen von menschlicher Aktivität war zu entdecken. Sie zog das Mikrofon des eingebauten Senders unter dem Armaturenbrett hervor, um ihre Beobachtungen den nachfolgenden Wagen mitzuteilen, aber sowie sie den Sendeknopf drückte, begann die Monitoranzeige zu quietschen. Gestört! Jemand störte ihre Frequenz! Sie blickte zu DT, dessen mißtrauische Seitenblicke zum Sender verrieten, daß auch er verstanden hatte. Sie machte das Mikrofon wieder an seinem Haken fest und sagte: »Wir halten zwischen dem Farmhaus und diesem Betonbunker. Du nimmst die Sprengladung. Wir steigen beide auf deiner Seite aus, und du wirfst die Tasche mit der Ladung zur Ostseite des Bunkers. Dann rennst du auf die andere Seite und gibst mir Feuerschutz, während ich den Zünder einstelle. Wenn ich die Ladung in eine von diesen Öffnungen geworfen habe, laufen wir zu den Büschen dort, so daß die Wagen und der Betonbunker uns gegen die Farm decken.« »Die Sprengung wird den Wagen beschädigen«, sagte er. »Besser ihn als uns. Gib Gas. Wir können noch mehr Tempo herausholen.« »Was ist mit unserem Passagier?« »Der muß selbst sehen, wie er zurechtkommt. Ich hoffe, es erwischt ihn richtig!« Sie hob die kleine Maschinenpistole vom Boden auf und machte sich bereit, den Sicherheitsgurt zu lösen. DT hielt mit einem Arm die Tasche mit der Sprengladung, die zwischen seinem und ihrem Sitz lag. »Nimm es genau in der Mitte!« rief sie ihm zu. »Dann wird es ...« Was immer sie hatte sagen wollen, ging im Bersten und Splittern des durchbrochenen Tors unter. Danach war keine Zeit, um noch etwas zu sagen. Aus dem Tagebuch der Trova Hellstrøm: Die Natur unserer Abhängigkeit von den natürlichen Hilfsquellen des Planeten | 278 |
muß immer wieder in alle Überlegungen einbezogen werden. Dies gilt insbesondere für die Nahrungskette, deren Zusammenhänge von vielen unserer Arbeiter nicht klar verstanden werden. Sie denken, wir könnten uns in einer Art ewigem Kreislauf aus uns selbst ernähren. Wie einfältig; Jede Nahrungskette beruht letzten Endes auf Pflanzen. Unsere Unabhängigkeit beruht auf der Qualität und der Quantität der von uns angebauten Pflanzen. Wir müssen sie ständig überwachen, durch Züchtungen verbessern und den Anbau vorausplanend regeln, so daß die Produktion jene Ausgeglichenheit der Diät gewährleistet, die uns im Vergleich mit den wilden Außenseitern bessere Gesundheit und eine wesentlich höhere Lebenserwartung beschert hat. »Sie haben auf unsere Anrufe nicht reagiert«, sagte Saldo mit einem Unterton grimmiger Selbstgefälligkeit. Er stand mit Hellstrøm am Nordfenster der Wachstube und spähte durch die Querlatten der Fensterläden, während Arbeiter hinter ihnen mit dem Wiederaufbau der Überwachungssysteme beschäftigt waren. Der vom Explosionsdruck umgeworfene Lastwagen draußen beim Tor brannte noch immer und hatte an mehreren Stellen das trockene Gras der Umgebung entzündet. Wenn die Arbeiter nicht bald mit den Löscharbeiten beginnen konnten, würde es einen Steppenbrand von ungeahnten Ausmaßen geben. »Ich habe es gemerkt«, sagte Hellstrøm. »Wie sollen wir uns jetzt verhalten?« fragte Saldo in sonderbar förmlichem Ton. Er gab sich zuviel Mühe, kaltblütig zu erscheinen, dachte Hellstrøm. »Wir gebrauchen unsere eigenen Feuerwaffen. Setzen ein paar Schüsse um sie herum. Vielleicht können wir sie damit weiter nach Norden treiben. Das würde uns Gelegenheit geben, den Grasbrand zu löschen. Hast du schon die Patrouillen zur Bewachung der Straße ausgeschickt?« »Ja. Soll ich sie zurückschwenken und diese beiden von hinten angreifen lassen?« »Nein. Können wir nicht von unten an sie herankommen und sie durch die Erde treffen?« | 279 |
»Dazu sind sie in einer ungünstigen Position. Wir könnten leicht unsere eigenen Leute treffen. Du weißt, wie eine harte Entladung von Felsgestein und Erde zurückgeworfen wird.« »Wer befehligt die äußere Patrouille?« »Ed.« Hellstrøm nickte. Ed hatte eine starke Persönlichkeit; wenn jemand die Arbeiter in Schach halten konnte, dann er. Sie durften dieses Paar unter keinen Umständen töten, das fühlte er mit wachsender Gewißheit. Der Stock brauchte Überlebende, um sie zu verhören. Er mußte in Erfahrung bringen, was diesen plötzlichen Angiff ausgelöst hatte. Hellstrøm fragte, ob diese Zusammenhänge Ed klargemacht worden seien. »Ja, ich habe es selbst getan«, sagte Saldo. Hellstrøm nickte. »Gut. Dann sag deinen Leuten, daß sie die beiden mit Schüssen nach Norden treiben sollen, wie wir besprochen haben.« Saldo ging hinaus, um schon nach einer Minute zurückzukehren. »Vergiß niemals«, sagte Hellstrøm in nachdenklichem Ton, »daß der Stock nichts weiter als ein Fliegendreck ist, verglichen mit den Streitkräften, die die Außenseiter aufbieten können. Wir brauchen dieses Paar dort draußen – als Informationsquelle und mögliches Faustpfand für Verhandlungen. Ist die Telefonleitung wieder intakt?« »Nein. Die Leitung muß irgendwo in der Nähe der Ortschaft unterbrochen sein. Sie müssen sie zerschnitten haben.« »Wahrscheinlich.« »Warum sollten die Außenseiter sich auf Verhandlungen mit uns einlassen?« fragte Saldo. »Wenn sie uns auslöschen können ...« Er brach ab, schaudernd vor der Ungeheuerlichkeit des Gedankens. Er verspürte einen panikartigen Drang, den Stock aufzulösen, die Arbeiter über das Land zu verstreuen und zu hoffen, daß einige Überlebende einen neuen Anfang machen würden. Wenn sie hierblieben und abwarteten, würden sie sicherlich alle miteinander zugrunde gehen. Ein paar Atombomben, und alles wäre aus. Wenn aber jetzt, da noch Zeit war, genug Arbeiter davonkämen ... Mit stockender Stimme versuchte er Hellstrøm diese Gedanken vorzutragen. | 280 |
»Dafür sind wir noch nicht bereit«, sagte Hellstrøm. »Ich habe die notwendigen Schritte vorbereitet, sollte es zum Schlimmsten kommen. Unser Archivmaterial kann jederzeit vernichtet werden, wenn wir ...« »Unser Archivmaterial?« »Du weißt, daß es in einem solchen Fall getan werden muß. Ich habe jenen, die unsere Augen und Ohren in der Außenwelt gewesen sind, das Notsignal gesendet. Sie sind jetzt von uns abgeschnitten. Möglicherweise werden sie ihr Leben zum Lohn für die Dienste, die sie uns geleistet haben, unter den Außenseitern beenden müssen, ihre Nahrung essen, ihren Gesetzen gehorchen, ihre leeren Vergnügungen und kurzen Lebensspannen in Kauf nehmen. Sie haben immer gewußt, daß es so kommen kann. Aber einige von ihnen werden sicherlich überleben, und jeder von ihnen könnte einen neuen Stock gründen. Gleichgültig, was hier geschieht, Saldo, wir sind nicht völlig verloren.« Saldo schloß die Augen, erschüttert von der Vorstellung einer solchen Katastrophe. «Laß Janvert was geben, daß er zu einem vollständigeren Bewußtsein zurückfindet«, sagte Hellstrøm. »Es könnte sein, daß wir einen Unterhändler brauchen.« Saldo sperrte die Augen auf. »Unterhändler? Janvert?« »Ja, und sieh nach, warum es so lange dauert, dieses letzte Paar einzufangen. Die Schüsse haben sie anscheinend zurückgetrieben. Ich sehe, daß unsere Leute mit den Löscharbeiten beginnen.« Er starrte angestrengt durch die Schlitze des Fensterladens. »Es sind zu wenige! Laß Verstärkungen hinausschicken, und sie sollen sich beeilen. Wenn es zuviel Rauch gibt, schicken die Außenseiter uns ihre Feuerwehren.« Er sah sich um. »Haben wir immer noch keine Telefonverbindung?« »Nein«, rief einer der Wacharbeiter. »Dann nimm das Radio«, sagte Hellstrøm. »Ruf das Distriktsbüro des Forstdienstes in Lakeview. Sag ihnen, wir hätten hier ein kleines Grasfeuer gehabt, aber unsere Leute seien schon damit fertig geworden. Wir brauchten keine Hilfe von außen.« | 281 |
Während Saldo die Instruktionen ausführte, bewunderte er, wie die höchst unterschiedlichen Aspekte der Sicherheit des Stocks alle wie in einem Brennspiegel von Hellstrøms Bewußtsein zusammengefaßt wurden. Nur Hellstrøm hatte an die Gefahr der Außenseiterfeuerwehr gedacht. Minuten später wurde Hellstrøm durch einen stockinternen Anruf von seinem Beobachtungsposten gerufen. Ein Blick auf den kleinen Bildschirm der Sprechanlage zeigte ihm das zornige Gesicht eines Forschungsspezialisten. Kaum war Hellstrøm in den Bereich der Aufnahmelinse gekommen, begann der andere zu sprechen. »Sorge dafür, daß dein störender Beobachter von hier verschwindet, Nils!« »Hat er euch im Laboratorium bei der Arbeit gestört?« fragte Hellstrøm. »Wir sind nicht mehr im Labor.« »Nicht im ... Wo seid ihr?« »Wir haben den Hauptkorridor in Ebene fünfzig übernommen, in der ganzen Länge. Wir brauchen ihn für unsere Anlage. Dein Beobachter besteht darauf, du hättest ihm befohlen, hierzubleiben.« Hellstrøm stellte sich den Hauptkorridor in Ebene fünfzig vor – fast zwei Kilometer lang. »Wozu braucht ihr den ganzen Korridor?« fragte er. »Der gesamte Verkehr ...« »Eure Arbeiter können die Nebenkorridore nehmen!« schnarrte der Spezialist. »Hol diesen Kretin hier raus! Er hält uns auf.« »Der ganze Korridor«, sagte Hellstrøm. »Das ist eine ...« »Deine eigene Information hat es notwendig gemacht«, erklärte der Spezialist in einem Ton geduldigen Überdrusses. »Die Außenseiterbeobachtungen, die du uns so freundlich zu Gehör brachtest. Das Problem ist eine Frage der Dimension. Wir werden den gesamten Korridor brauchen. Wenn dein Beobachter uns dabei stört, wirst du ihn in den Bottichen wiederfinden.« Die Verbindung wurde mit einem zornigen Knacken unterbrochen. | 282 |
Aus dem Leitfaden: Die mächtigste sozialisierende Kraft ist gegenseitige Abhängigkeit. Die Tatsache, daß unsere wichtigen Arbeitskräfte eine zusätzliche Vorzugsnahrung erhalten, sollte sie nie ihre Abhängigkeit von jenen vergessen lassen, die auf dieses Privileg verzichten müssen. Clovis lag im Schatten unter einem Haseldickicht, ungefähr fünfhundert Schritte südöstlich vom Tor zu Hellstrøms Farm. Sie konnte eine Menge Leute sehen, die zu beiden Seiten des Graszauns das Grasfeuer bekämpften, und einige dieser Leute hatten offensichtlich Schußwaffen, nicht diese geheimnisvollen summenden Stäbe, die – wie sie selbst gesehen hatte – ein paar von ihren Leuten niedergestreckt hatten. Allmächtiger! Das mußten Hunderte von Leuten sein, die dort drüben gegen die Ausbreitung des Grasfeuers ankämpften! Blaugrauer Rauch wirbelte und wurde vom Wind davongetragen, und sie konnte in ihrem Versteck die alkalische Bitterkeit riechen. Sie hielt die Pistole in der Rechten, zum ruhigeren Zielen auf den linken Unterarm gelegt. Sie mußten aus der Richtung kommen. DT mußte rechts hinter ihr sein. Sie blickte über die Schulter, versuchte ihn auszumachen. Er hatte gesagt, sie solle nach zehn Minuten nachkommen; er werde ihr mit der Maschinenpistole Feuerschutz geben. Sie dachte über den kurzen Kampf auf dem Hof der Farm nach. Heilige Gottesmutter! Nie hätte sie Derartiges erwartet. Nackte Männer und Frauen mit seltsamen zweispitzigen Waffen. Noch immer hatte sie das eigentümliche knisternde Summen der verdammten Dinger im Ohr. Nach dem Augenschein zu urteilen, wie ihre Leute unter diesem Sperrfeuer gefallen waren, mußten die Dinger tödlich sein. Eine neue Waffe: das mußte die Antwort auf die Frage nach Projekt 40 sein. Eine Art Waffe hatte sie erwartet, aber nicht so etwas. Warum, zum Teufel, aber waren die Leute nackt? Sie hatte sich noch nicht erlaubt, zu fragen, was aus Eddie Janvert geworden sein mochte. Sie blieb bei ihrer ursprünglichen Vermutung. Tot, und wahrscheinlich durch eine dieser eigentümlichen Waffen. Sie hatten jedoch eine | 283 |
begrenzte Reichweite; ungefähr sechzig Meter, schätzte sie. Ihre Pistole konnte weiter schießen. Es kam darauf an, die Angreifer auf Distanz zu halten und auf die wenigen zu achten, die Schußwaffen hatten. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: noch drei Minuten. Es war sehr heiß. Der feine, trockene Staub, der überall auf dem dürren Gras lag, kitzelte sie in der Nase. Sie unterdrückte ein Niesen. Am nahen Hang zu ihrer Linken bewegte sich etwas, kaum achtzig Schritte entfernt. Sie zielte und feuerte zweimal, tauschte das leergeschossene Magazin aus, hörte einen weiteren Schuß und einen Ruf von DT. Er war schon an Ort und Stelle. Gut. Sie erhob sich auf die Knie, wandte sich um und rannte geduckt aus dem Schatten der Büsche, ohne zurückzublicken. Ihr den Rücken freizuhalten, war DTs Job. Das sonderbar summende Geräusch kam vom Abhang hinter ihr, aber sie spürte nur ein schwaches Prickeln am Rücken. Sie überlegte, ob es Einbildung sein könne, aber die Angst verlieh ihren Muskeln neue Kraft, und sie beschleunigte ihren Lauf. Ein Stück voraus und zu ihrer Linken krachte ein Schuß; kurz darauf zwei weitere. DT hatte die Maschinenpistole auf Einzelfeuer eingestellt, um Munition zu sparen und Verfolger mit gezielten Schüssen aufzuhalten. Sie veränderte ihren Kurs und schlug einen Bogen, um hinter die Stelle zu gelangen, wo DT liegen mußte. Sie konnte ihn noch nicht sehen, aber die Schüsse schienen vom Fuß einer dicken Eiche zu kommen, und ein Stück weiter vorn rannten Kühe in unbeholfenen Bocksprüngen davon. Sie wählte eine andere Eiche zwanzig Meter links von DTs vermuteter Position als Ziel, rannte und brachte sich hinter dem Stamm in Sicherheit. Sie schwitzte, und ihre Brust schmerzte vom ungewohnten Laufen bei jedem keuchenden Atemzug. Weitere Schüsse kamen aus DTs Richtung, aber sie konnte ihn noch immer nicht sehen. Sechs nackte Gestalten liefen durch das offene Grasland von rechts auf sie zu, jede mit einer dieser unheimlichen Waffen ausgerüstet. Clovis atmete dreimal tief durch, um zur Ruhe zu kommen, legte die Rechte mit der Pistole an den Baum und gab vier gezielte Schüsse ab. Zwei Angreifer brachen zusammen und kollerten mit schlagenden Armen und Beinen durchs Gras, | 284 |
weitergerissen vom Schwung ihres Laufs, die anderen gingen im hohen Gras in Deckung. Plötzlich kam DT in Sicht, ließ sich vom Baum fallen, und sie begriff verspätet, daß er aus den Ästen geschossen hatte. Guter Mann. Er landete wie eine Katze auf den Füßen und rannte nach links, ohne sich umzusehen und ohne sich um Clovis zu kümmern. Ein guter Kamerad würde ihm Feuerschutz geben, und er hatte Clovis jetzt als eine gute Kameradin akzeptiert. Clovis sah Bewegung im Gras, wo die vier überlebenden Angreifer Deckung gesucht hatten. Offenbar versuchten sie kriechend bis auf Schußweite heranzukommen. Die hohen gelben Halme und Rispen schwankten verräterisch und zeigten, wie die vier näher und näher kamen. Clovis konzentrierte sich ganz auf die Einschätzung der richtigen Distanz. Als sie etwa einhundert Schritte betragen mochte, hob Clovis die großkalibrige Pistole und eröffnete das Feuer. Sie ließ sich Zeit und zielte sorgfältig auf die vermuteten Positionen der Angreifer. Beim dritten Schuß taumelte eine Gestalt aus dem Gras hoch, kippte hintenüber. Drei andere sprangen auf, griffen an und richteten ihre zweispitzigen Waffen auf sie. Clovis ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und zielte sorgfältig auf die vorderste Gestalt, die einer kahlköpfigen Frau mit einem zu einer wilden Grimasse verzerrten Gesicht gehörte. Clovis’ erster Schuß brachte sie zum Stehen, als ob sie gegen eine Mauer gelaufen wäre. Ihre Waffe flog im Bogen durch die Luft, als sie seitwärts fiel. Die beiden anderen warfen sich ins Gras. Clovis feuerte die beiden letzten Patronen des Magazins in das Gras, wo die Angreifer liegen mußten. Ohne die Wirkung abzuwarten, machte sie kehrt und rannte weiter, wechselte im Laufen das Magazin. »Hierher! Hierher!« Es war DT, der von einer weiteren Eiche zu ihrer Linken rief. Sie veränderte die Richtung und hielt gerade auf ihn zu. Vermutlich hatte er gerufen, weil es auf dem Weideland jenseits seiner Position keine Bäume mehr gab. Der nächste Kilometer war freies, übersichtliches Weideland, das Gras vom Vieh kurzgefressen. DT faßte sie am Arm und half ihr zum Stehen zu | 285 |
kommen. »Weißt du, das ist unheimlich«, sagte er. »Siehst du, wie die Kühe das Gras überall hier im Norden von uns abgeweidet haben und kurz halten? Und hinter uns, in der Richtung zur Farm, steht das gleiche Gras hüfthoch und unberührt. Dabei gibt es keinen Weidezaun, der die Rinder zurückhalten würde; es hat den Anschein, als mieden sie dieses Gebiet. Die Kühe, die ich vorhin mit meinen Schüssen verscheuchte, waren richtig schreckhaft, als ob sie von jemand weiter unten hier heraufgetrieben worden wären. Aber ich sehe da unten keine lebende Seele.« »Hast du irgendeine kluge Idee, wie wir da herauskommen können?« fragte sie schnaufend, noch ausgepumpt vom Rennen. Am besten behalten wir die Richtung bei«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken nach Norden. »Wir müssen hier raus und melden, was wir gesehen haben«, sagte sie. Sie blickte zu ihm auf, aber er spähte durch zusammengekniffene Lider in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich glaube, du hast noch einen von diesen Gänsehauttypen erwischt, die sich ins Gras warfen«, sagte er. »Jetzt scheint sich nur noch einer zu bewegen. Kannst du weiterlaufen?« »Klar. Siehst du was von dem, der übriggeblieben ist?« »Er krabbelt immer noch, aber er muß bald aus dem hohen Gras herauskommen. Am besten trennen wir uns jetzt. Du hältst dich ein bißchen nach links, bis du auf die Straße stößt, dann versuchst du ihr zu folgen. Ich werde mich mehr nach rechts halten. Der Bachlauf müßte dort drüben sein; du kannst die Baumreihe sehen, knapp zwei Kilometer von hier. Wir werden ihnen zwei Ziele zu jagen geben. Wenn ich den Bachlauf erreichen kann ...« DT hatte das Gebiet zur Farm überblickt und wandte sich dann, immer noch sprechend, in die entgegengesetzte Richtung, um seine Angaben mit ausgestrecktem Arm zu erläutern. Clovis merkte erst auf, als DT mitten in der Rede plötzlich abbrach. Sie blickte in die Richtung seiner ausgestreckten Hand, und der Atem stockte ihr. Eine geschlossene Reihe haarloser, nackter menschlicher Gestalten versperrte ihnen | 286 |
den Fluchtweg. Die Kette stand ungefähr fünfhundert Schritte talabwärts von ihnen und erstreckte sich von den bewaldeten Anhöhen ganz links weit hinüber nach rechts und bis über den von Bäumen markierten Bachlauf hinaus, wo DT hatte Dekkung finden wollen. »Jeee-sus!« hauchte DT. Das müssen zehntausend von ihnen sein! dachte Clovis. »Soviel Ungeziefer habe ich seit Nam nicht gesehen«, sagte DT mit heiserer Stimme. »Barmherziger Himmel! Es ist, als hätten wir einen Ameisenhaufen aufgestochert.« Clovis nickte. Genau das haben wir getan, dachte sie. Auf einmal war alles klar: Hellstrøm war Aushängeschild und Strohmann für irgendeinen perversen Kult. Die fahlweiße Hautfarbe dieser haarlosen Leute war auffallend. Sie mußten unter der Erde leben. Die Farm war nur eine Tarnung. Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern. Nein, die Farm war nur ein Deckel! Sie stieß ein frisches Magazin in die Pistole, entschlossen, aus dieser bedrohlich vorrückenden Kette so viele Glieder wie möglich herauszuschießen, aber ein knisterndes Summen nahe hinter ihnen lähmte und betäubte sie. Im Fallen hörte sie noch einen vereinzelten Schuß, vermochte aber nicht zu bestimmen, ob er aus ihrer oder aus DTs Waffe gekommen war. Aus Nils Hellstrøms Tagebuch: Die Konzeption einer mitten in die existierende menschliche Gesellschaft gepflanzte Kolonie ist nicht einzigartig. Im Verlauf der menschlichen Geschichte hat es viele geheime Sekten und Bewegungen gegeben. Die Zigeuner stellen bis zum heutigen Tag eine primitive Analogie dar. Nein, wir sind darin nicht einzigartig. Aber unser Stock ist von jenen anderen Lebensformen so weit entfernt wie diese von primitiven Höhlenbewohnern der Steinzeit. Wir sind wie die kolonienbildenden Protozoen der Gattung Carchesium, alle mit einem einzigen, vielfach verzweigten Stamm verwachsen, der tief in der Erde unter jenen anderen vergraben ist, die sich für die Sanftmütigen halten, denen die Erde zufallen wird. Sanftmütig! Im Urtext der Bibel war an der Stelle von den »Stummen und Stillem die Rede. | 287 |
Es war ein hastiger und improvisierter Flug gewesen, angefangen mit dem Start vom Kennedy-Flughafen: unterwegs eine Stunde Wartezeit auf dem O’Hare-Flughafen, dann in Portland der eilige Transfer zu einer Chartermaschine und die geräuschvolle Unbequemlichkeit in einem kleinen einmotorigen Flugzeug, lange Zeit den Columbia aufwärts und dann, als der Abend kam, die lange Strecke diagonal über ganz Oregon hinweg bis in die südöstliche Ecke. Merrivale war in verdrießlicher Stimmung, als die Maschine in Lakeview absetzte, aber sie wurde von einem geheimen Hochgefühl gemildert. Als er es am wenigsten erwartet hatte, ja, als er sich resignierend in das Schicksal einer entehrenden persönlichen Niederlage gefügt hatte, waren sie zu ihm gekommen. Sie – ein Aufsichtsgremium, von dessen Existenz er gewußt, mit dem er aber nie zu tun gehabt hatte – sie hatten Joseph Merrivale als ›unsere einzige Hoffnung, um aus dieser verfahrenen Angelegenheit etwas zu retten‹ auserwählt. Aber wen hatten sie sonst, nachdem sowohl Peruge als auch der Chef tot waren? Das verlieh ihm ein Gefühl persönlicher Macht, welches wiederum seine Verdrießlichkeit nährte. Wie war es möglich, daß man einem Mann wie ihm solche Unbequemlichkeiten zumutete? Die Meldung, die ihm auf dem Flughafen von Portland rasch zugesteckt worden war, vermochte ihn nicht zu besänftigen. Peruge war als kriminell fahrlässig bloßgestellt: eine Nacht mit einer solchen Frau zu verbringen! Und im Dienst! Die kleine Maschine landete in tiefer Dunkelheit auf einem holperigen Flugplatz. Ein grauer Kombiwagen mit nur einem Fahrer erwartete ihn. Der Umstand, daß der Fahrer sich als Waverly Gammel, leitender Sonderagent des FBI, vorstellte, erneuerte Befürchtungen, die Merrivale unterwegs weitgehend hatte verdrängen können, und auch dies nährte seine Verdrießlichkeit. Es könnte sein, daß sie mich den Wölfen vorwerfen, dachte er, als er neben dem Fahrer in den Wagen stieg und es dem Piloten der Chartermaschine überließ, sein Gepäck einzuladen. Während des langen Flugs von Portland hierher hatte | 288 |
ihn dieser Gedanke nicht in Ruhe gelassen. Er hatte zu den da und dort aus der Schwärze des nächtlichen Landes blinzelnden Lichtern hinabgeblickt und sich der bitteren Überlegung hingegeben, daß dort unten friedliche Menschen ihren Alltagsgeschäften nachgingen – aßen, das Kino besuchten, vor dem Fernseher saßen, Freunde besuchten. Oft dachte Merrivale, daß ein solch behagliches, gewöhnliches Leben sein Los hätte sein sollen. Die andere Seite seiner Phantasie sagte ihm jedoch, daß die sichere Geborgenheit der Leute dort unten weitgehend von seinen Anstrengungen abhing, sie zu erhalten. Diese Menschen da unten hatten keine Ahnung, was er für sie tat, welche Opfer er brachte ... Selbst wenn man die Befehle von oben buchstabengetreu ausführte, schützte einen das nicht ein bißchen. Die plötzliche Beförderung hatte daran nichts geändert. Es war ein universales Naturgesetz: der Große fraß den Kleinen, und es gab immer einen Größeren, der einen selbst zum Kleineren machte. Gammel war ein Mann mit einem jugendlichen Gesicht und borstigem, eisengrauem Haar. Die kantigen, wie gemeißelten Flächen seines Gesichts ließen auf indianische Vorfahren schließen. Er hatte tiefliegende Augen, die vom schwachen Licht des Armaturenbretts kaum erreicht wurden, und eine tiefe, etwas nasale Stimme. Texas? »Wie ist die letzte Entwicklung?« fragte Merrivale, als Gammel den Wagen vom Parkplatz lenkte. Der FBI-Mann fuhr mit lässiger Sicherheit und ohne Rücksicht auf eine mögliche Verlängerung der Lebensdauer des Wagens. Sie holperten und schaukelten eine ungeteerte Zufahrt entlang, erreichten die Asphaltstraße und bogen nach links. »Sie wissen natürlich, daß von der Mannschaft, die Sie zur Farm hinausschickten, noch keine Nachricht vorliegt«, sagte Gammel. »Die Leute in Portland sagten es mir«, sagte Merrivale und vergaß momentan, seinen überlegenen britischen Akzent ins Spiel zu bringen. Er fügte rasch hinzu: »Verteufelte Sache, das.« Gammel bremste vor einem Halteschild, ließ einen geräuschvollen Bus vorbei und bog hinter ihm nach links in die breite Staatsstraße ein. »Einstweilen stimmen wir mit Ihrer | 289 |
Beurteilung überein, daß der Hilfssheriff von Fosterville nicht vertrauenswürdig ist und daß es noch andere Fragwürdigkeiten sowohl im Büro des Sheriffs als auch im Ort selbst geben mag. Darum vertrauen wir keinem Einheimischen.« »Wie wollen Sie sich dem Hilfssheriff gegenüber verhalten?« »Ihre Leute haben ihn mitgenommen, wissen Sie. Von ihm fehlt gleichfalls jede Nachricht.« »Was erzählen Sie den örtlichen Behörden?« »Spionageaffäre: pst, Feind hört mit.« »Und man ist bereit, Sie gewähren zu lassen?« »Bereit vielleicht nicht, aber sie lassen der Besonnenheit den Vorrang vor ihrer Tapferkeit; unsere auf hoher politischer Ebene vorgetragenen Anregungen nehmen auf dieser örtlichen Ebene den Charakter unmißverständlicher Befehle an.« »Richtig. Vermutlich haben Sie das Farmgelände bereits eingeschlossen?« »Wir haben nur elf Leute hier«, sagte Gammel. »Dabei muß es im Moment bleiben. Die Staatspolizei hat drei Wagen der Straßenpatrouille mit sechs Mann geschickt, aber wir haben sie noch nicht voll eingeweiht. Wir beabsichtigen eine begrenzte Operation aufgrund der vorläufigen Annahme, daß die Einschätzung der Lage durch Ihr Büro richtig ist. Sollte sich herausstellen, daß Sie die Situation in wesentlichen Punkten falsch eingeschätzt haben, würden wir jedoch gezwungen sein, zu unseren Vorschriften zurückzukehren. Das werden Sie sicherlich verstehen.« Vorläufige Annahme, dachte Merrivale. Hinter der Redewendung verbargen sich Implikationen, die ihm nicht geheuer vorkamen, und er sagte es dem anderen. »Sicherlich ist Ihnen klar«, sagte Gammel, »daß wir außerhalb des gesetzlich abgesicherten Bereichs operieren. Die Mannschaft, die Sie zur Farm hineinschickten, hatten für ihr Vorgehen keinerlei juristische Handhabe. Das war schlicht und einfach ein Stoßtrupp. Sie haben es gut; Sie können sich von Fall zu Fall Ihre eigenen Gesetze machen. Wir haben es da schwerer. Meine Instruktionen sind klar. Ich habe alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Ihnen mit einer Tarn| 290 |
geschichte zu helfen und Ihren Leuten jeden möglichen und vertretbaren Schutz angedeihen zu lassen, aber – und das ist ein sehr großes Aber – diese Instruktionen gelten nur so lange, wie Ihre Einschätzung der Gesamtlage sich als zutreffend erweist.« Merrivale lauschte in frostigem Stillschweigen. Es sah mehr und mehr danach aus, daß man ihn nicht befördert hatte, sondern den Wölfen vorwerfen wollte. Er war leitender Mitarbeiter von zwei inzwischen verstorbenen Männern gewesen, deren Politik nicht länger vertreten werden konnte. Die Leute vom Ausschuß hatten ihn mutterseelenallein hier herausgeschickt und gesagt: »Das FBI wird Ihnen vor Ort jede Hilfe gewähren. Wenn es mit der Politik unserer Organisation zu vereinbaren ist, werden Sie auf Anforderung weitere personelle Unterstützung erhalten.« Leeres Geschwafel! Für den Fall, daß noch mehr schiefging, war er ein klares Ziel. Als ob überhaupt noch mehr schiefgehen könnte! Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie in Baltimore und Washington unter dem Stichwort ›Reorganisation‹ der Rückwärtsgang eingelegt wurde. Nun, du wußtest, was für ein Geschäft dies war, als du dich hineindrängtest, Merrivale. Bald würden sie die Gesichter in berufsmäßige Trauerfalten legen und mit der Standardphrase kommen, die sie für solche Gelegenheiten bereitzuhalten pflegten: In diesem Geschäft muß man Beulen hinnehmen können, wenn es von einem verlangt wird. Das war die Situation, kein Zweifel. Wenn sie noch zu retten war, würde er das tun, aber zuerst mußte er sich selbst retten. »Was gibt es sonst noch? Was haben Sie über meine Leute in Erfahrung bringen können?« »Nichts.« »Nichts?« Merrivale war empört. Er wandte sich zur Seite und beobachtete Gammels Gesicht im grellen Schein eines entgegenkommenden Wagens. Die Züge des FBI-Mannes waren unbewegt wie ein dunkler Steinbrocken. »Für dieses ›Nichts‹ hätte ich gern eine Erklärung, vorausgesetzt, Sie sind imstande, eine zu geben«, sagte Merrivale mit einer gewissen ätzenden Schärfe. »Was unsere Instruktionen angeht«, sagte Gammel, »so | 291 |
haben wir auf Sie gewartet.« Diese Leute befolgen nur ihre Befehle, dachte Merrivale. Er konnte die Implikationen darin sehen. Es sollte in dieser Angelegenheit nur ein verantwortliches Ziel geben. Auch das war Bestandteil von Gammels Instruktionen, kein Zweifel. Klarer Fall. »Ich finde das fast unbegreiflich«, sagte Merrivale. Erstarrte aus dem Fenster und sah die Dunkelheit mit undeutlichen Bewegungen schemenhafter Umrisse zu seiner Rechten vorbeischießen, als der Wagen auf Fosterville zujagte. Er konnte sehen, daß sie auf leicht ansteigender Straße durch offenes Land fuhren, voraus dunkle, langgezogene Bergrücken im Sternenlicht. Wenige andere Wagen waren unterwegs. Die dunkle Landschaft vermittelte ein Gefühl von Einsamkeit, das Merrivales Erkenntnis der eigenen Verlassenheit in einer unwillkommenen Art und Weise vertiefte. »Daß wir uns nicht mißverstehen«, sagte Gammel. »Ich bin allein herausgekommen, um Sie abzuholen, damit wir offen miteinander reden können.« Er warf Merrivale einen schnellen Seitenblick zu. Der arme Kerl steckte im Schraubstock, das war unverkennbar. Merkte er es erst jetzt? »Warum reden Sie dann nicht offen?« fragte Merrivale. Er ist mehr im Angriff, als die Situation erfordert, dachte Gammel. Bedeutet das, daß er Informationen hat, die die Stellung seiner Organisation ins Zwielicht bringen könnten? »Ich tue im Rahmen meiner Anweisungen mein Bestes«, sagte Gammel. »Ich war kaum eine Stunde in Fosterville, als die Nachricht kam, daß Sie nach Lakeview unterwegs seien. Ich mußte mich höllisch beeilen, um rechtzeitig hinzukommen. Es hieß, Sie würden in Lakeview landen, weil es der nächste Flugplatz mit Startbahnbeleuchtung ist. War es das, oder gab es einen anderen Grund?« »Wie meinen Sie das?« »Ich mache mir immer noch Gedanken über unsere eigenen Verluste – oben in den Sisters.« »Ach so – ja, natürlich. Das stand in dem Bericht, den ich in Portland bekam. Es scheint noch immer keine Klarheit über die Absturzursache zu geben, sonst hätte ich es schon | 292 |
erwähnt. Das Wrack ist völlig ausgebrannt, was die Untersuchung natürlich erschwert. Es könnte eine Treibstoffexplosion durch Blitzschlag gewesen sein. Kenner der Verhältnisse in Portland sagten, der Pilot hätte den Columbia aufwärts fliegen und dann auf Südkurs gehen sollen, aber er versuchte mit einem Direktflug über Gebirge und durch eine Gewitterfront Zeit zu sparen.« »Sabotage ist demnach nicht ausgeschlossen?« »Nicht ausgeschlossen«, sagte Merrivale. »Hohe Wahrscheinlichkeit, wenn Sie mich fragen. Ein verdammtes Zusammentreffen unglücklicher Umstände, finden Sie nicht?« »Wir gehen von dieser Annahme aus«, sagte Gammel. »Was haben Sie mit Ihren elf Männern und den sechs Polizisten gemacht?« fragte Merrivale. »Ich habe zunächst drei Wagen losgeschickt, jeden mit zwei Mann besetzt. Ein Wagen der Straßenpatrouille mit drei Beamten ist nach Süden unterwegs, um von dort einzuschwenken. Das wird natürlich eine Weile dauern, und unterwegs werden sie zeitweilig nicht über Radio erreichbar sein.« »Aber was haben diese drei Wagen zu tun?« »Wir haben in diesem Motel in Fosterville ein Nachrichtenzentrum eingerichtet. Die Besatzungen der Wagen bleiben mit dieser Zentrale in regelmäßigem Funkkontakt. Meine Wagen sind zwischen Fosterville und der Farm, und ...« »Zwei Wagen zwischen dem Ort und der Farm?« »Nein, drei Wagen. Der Wagen der Straßenpatrouille ist ein vierter. Meine drei Wagen haben ein weites Überwachungsgebiet abzufahren – einer auf einer Forststraße nach Osten, und die beiden anderen entlang der Zufahrtsstraße zur Farm. Sie haben Anweisung, sich dem Anwesen höchstens bis auf drei Kilometer zu nähern.« »Drei Kilometer?« »Richtig, und sie sollen in ihren Wagen bleiben.« »Aber drei Kilometer ...« »Sobald wir hinreichend Gewißheit haben, was hier gespielt wird, sind wir bereit, Risiken einzugehen«, sagte Gammel. »Aber bisher scheint es in diesem Fall nichts als Ungewißheiten zu geben.« Er sprach mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme, | 293 |
bemüht, sich nicht zu Unbeherrschtheiten hinreißen zu lassen, obwohl Merrivales Nörgelei unerträglich wurde. Merkte er nicht, daß er in Gefahr war, von Gammel selbst ein paar Handschellen angelegt zu bekommen, bevor die nächsten vierundzwanzig Stunden um wären? Es war denkbar, daß sie Merrivale verhaften mußten, um das Ansehen der FBI nicht zu gefährden. Was erwartete dieser Lackaffe? »Aber drei Kilometer ...« »Sie haben dort drinnen wie viele Leute verloren?« sagte Gammel, der seine Verärgerung nun nicht länger zurückhalten konnte. »Zwölf? Vierzehn? Wie mir gesagt wurde, bestand der Stoßtrupp, den Sie heute hineinschickten, aus neun Personen, und vorher hatten Sie wenigstens eine Mannschaft verloren. Halten Sie uns für schwachsinnig?« »Vierzehn, Dzule Peruge mitgerechnet«, sagte Merrivale. »Ihre Fähigkeit zu zählen ist unbeeinträchtigt.« Im matten grünen Licht der Instrumentenbeleuchtung sah er Gammels Kiefermuskeln arbeiten. »Also haben wir einen mit Sicherheit Toten, dreizehn Vermißte und unsere eigene Flugzeugladung abgestürzt in den Sisters; das macht insgesamt zwanzig. Und da wagen Sie mich zu fragen, warum ich meine Leute nicht einfach den Ihren nachgeschickt habe? Wenn es nach mir ginge, würden wir ein Regiment Marineinfanterie hineinschicken und diese Farm auseinandernehmen lassen, aber es geht nicht nach mir. Und warum geht es nicht nach mir? Weil dieses ganze Ding nach Pfuscharbeit von Ihren Leuten riecht! Und wenn die Geschichte hochgeht, wollen wir uns dabei nicht die Finger verbrennen. Ist das klar genug für Sie? Ist das offen genug?« »Verdammte Bande von Feiglingen«, stieß Merrivale hervor. Gammel zog den Wagen plötzlich von der Fahrbahn auf die Haltespur, brachte ihn im Kies rutschend zum Stillstand, zog mit zornigem Kratzen der Sperrklinke die Handbremse an und schaltete Scheinwerfer und Zündung aus. Dann fuhr er auf dem Sitz herum und konfrontierte Merrivale. »Hören Sie, Mann! Ich weiß, daß Sie Feuer unter dem Arsch haben; zumindest habe ich eine recht gute Vorstellung von der beschissenen Klemme, in der Sie sitzen. Aber meine Behörde, die Bundes| 294 |
polizei, ist nicht von Anfang an beigezogen worden, obwohl das schon aus Zuständigkeitsgründen hätte geschehen müssen! Nun, wenn die Farm da oben sich als ein Schlupfwinkel von Kommunisten und Spionen erweisen sollte, dann werden wir dort aufräumen und alle Hilfe bekommen, die wir brauchen. Wenn sich aber zum Beispiel herausstellt, daß ein großes Industrieunternehmen dahintersteht, das die Entwicklung einer neuen Erfindung von neugierigen Schnüfflern und Konkurrenten zu schützen sucht, dann ist das eine völlig andere Sache. Dann gehen Sie mit dem Arsch in Grundeis. Ist das noch immer nicht klar genug?« »Wie meinen Sie das – Industrie, neue Erfindung?« »Sie wissen verdammt gut, wie ich es meine! Wir haben auch nicht untätig auf unseren Ärschen herumgesessen und uns mit euch Leuten als einziger Informationsquelle zufriedengegeben.« Wenn sie alles wissen, warum helfen sie uns dann trotzdem? fragte sich Merrivale. Als habe er des anderen Gedanken gelesen, sagte Gammel: »Wir müssen verhindern, daß die Scheiße in den Ventilator fliegt; das ist unsere Aufgabe. Wenn man den eigenen Laden beschmutzt, dann bekleckert man die ganze Regierung damit. Nun, wenn Sie als Sündenbock hier herausgeschickt wurden, kann ich mit Ihnen sympathisieren. Aber es hat keinen Sinn, daß wir einander bekämpfen. Wenn dieses Ding hochgeht und Sie hier sind, um den Prügelknaben zu machen, sollten Sie lieber gleich offen mit mir sprechen. Richtig?« Bestürzt über Gammels plötzliches Anhalten und die Heftigkeit des Angriffs, begann Merrivale zu stottern. »Also, ich ... ich muß schon sagen! Wenn ... wenn Sie ...« »Sind Sie hier, um die Schuld auf sich zu nehmen?« »Selbstverständlich nicht!« Gammel schüttelte den Kopf. »Unsinn! Glauben Sie, wir hätten nicht unseren eigenen Verdacht, warum Ihr Chef den Abkürzungsweg zur Hölle genommen hat?« »Den Abkürzungsweg?« »Springt aus diesem verdammten Fenster! Sind Sie ihr Sündenbock?« | 295 |
»Ich wurde vor meiner Abreise verständigt, daß Sie in jeder Weise mit uns zusammenarbeiten würden, bis wir neue Einsatzgruppen heranschaffen können«, sagte Merivale steif. »In Ihrer gegenwärtigen Haltung vermisse ich leider jede Kooperationsbereitschaft.« Gammel wurde etwas ruhiger, war aber noch immer nicht besänftigt. »Sagen Sie mir – ja oder nein – haben Sie neue Informationen, die Ihre ursprüngliche Einschätzung der Situation verändern?« »Natürlich nicht!« »Dann haben Sie mir nichts Neues mitzuteilen?« »Ich lasse mich von Ihnen nicht ins Kreuzverhör nehmen«, protestierte Merrivale. »Sie wissen über diese Situation so viel wie ich. Mehr! Sie waren schließlich schon am Schauplatz des Geschehens.« »Ich hoffe, Sie sagen die Wahrheit«, erwiderte Gammel. »Wenn nicht, werde ich persönlich dafür sorgen, daß Ihnen eingeheizt wird.« Er wandte sich wieder nach vorn, startete den Motor und fuhr weiter. Erst als der Wagen schon rollte, schaltete er die Scheinwerfer ein und erschreckte eine große schwarzweiße Kuh, die bis an den Straßenrand gewandert war. Sie galoppierte beinahe hundert Meter vor ihnen her, bevor sie ins offene Grasland neben der Straße abschwenkte. Mit erheblich gedämpftem Selbstbewußtsein und besorgt über die Position, in der er sich finden würde, wenn das FBI ihm die Zusammenarbeit verweigerte, sagte Merrivale: »Ich würde es aufrichtig bedauern, wenn ich Sie beleidigt hätte. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich in letzter Zeit kaum Ruhe gefunden. Zuerst der Tod des Chefs, und dann die Anweisung, die Dinger hier persönlich in die Hand zu nehmen. Kein Auge zugetan, seit all das anfing.« »Haben Sie gegessen?« »In der Maschine von Chicago.« »Wir können Ihnen in unserem Hauptquartier im Motel was machen. Belegte Brote und Kaffee. Was würden Sie ...« »Nicht nötig«, sagte Merrivale, der sich ein wenig besser zu fühlen begann. Gammel war offensichtlich bemüht, ein freundschaftliches Verhältnis wiederherzustellen. Das war vernünftig. | 296 |
Merrivale räusperte sich. »Was für eine Art von Aktion haben Sie vorbereitet?« »Bei Dunkelheit unternehmen wir nicht viel. Wir warten auf den Morgen und rekognoszieren bei Tageslicht und unter ständiger Funkverbindung mit dem Hauptquartier. Das ist notwendig, solange wir nicht wissen, was, zum Teufel, da oben passiert ist. Wir können den einheimischen Ordnungskräften nicht vertrauen. Man hat mir sogar gesagt, ich solle im Umgang mit den Leuten von der Straßenpatrouille auf Nummer Sicher gehen. In erster Linie kommt es jetzt darauf an, Klarheit in diese bisher so verworrene Angelegenheit zu bringen.« Verworren von unseren Leuten, natürlich, dachte Merrivale. Das FBI war immer noch ein Verein von verdammten Snobs. Er sagte: »Heute abend läuft also nichts mehr?« »Es erscheint mir nicht ratsam, unnötige Risiken einzugehen. Morgen früh werden wir sowieso mehr Muskeln haben.« Merrivales Stimmung begann sich aufzuhellen. »Mehr Leute?« »Zwei Marinehubschrauber kommen von San Francisco herauf.« »Haben Sie die bestellt?« Gammel wandte den Kopf und grinste. »Sie sind nur zur Überwachung und für Transportzwecke bestimmt. Wir haben unser Konto an gutem Willen ziemlich beanspruchen müssen, um sie allein mit der Erklärung zu kriegen, die wir zu der Zeit geben konnten.« »Sehr gut«, sagte Merrivale. »Man sagte mir, Sie hätten keine Telefonverbindung mit der Farm. Ist das immer noch der Fall?« »Die Leitung ist tot«, sagte Gammel. »Wahrscheinlich von Ihrem Stoßtrupp durchschnitten, als er zum Sturm antrat. Wir werden morgen früh einen Reparaturtrupp losschicken. Unsere Leute, natürlich.« »Ich verstehe. Dann stimme ich Ihren Entscheidungen zu, natürlich unter dem Vorbehalt einer Revision, sobald wir Ihr Hauptquartier erreichen. Vielleicht liegen dort neuere Informationen vor.« »Meine Leute hätten mich verständigt«, sagte Gammel und | 297 |
klopfte an das Gehäuse des Senders unter dem Armaturenbrett. Sie haben uns einen eingebildeten Langweiler geschickt, dachte er. Er ist bestimmt ein Prügelknabe, bloß weiß der arme Sack es noch nicht. Aus dem Leitfaden: Im Sinne eines biologischen Mechanismus ist die menschliche Reproduktion nicht als effizient anzusehen. Im Vergleich zu Insekten und anderen Tieren erscheint sie sogar außerordentlich unwirksam. Die Insekten und alle anderen niedrigen Lebensformen sind ganz auf das Überleben der Art ausgerichtet. Das Überleben wird durch die Reproduktion gesichert, durch eine möglichst hohe Reproduktionsrate. Männliche und weibliche Exemplare aller Lebensformen mit Ausnahme des Menschen kommen zusammen und vereinigen sich im direkten und alleinigen Interesse der Fortpflanzung. Bei den wilden Formen der menschlichen Gesellschaft kann es jedoch geschehen, daß es überhaupt nicht zum Fortpflanzungsakt kommt – es sei denn, die Umrahmung ist richtig und wenigstens ein Partner fühlt sich geliebt (eine einzigartig unstabile Konzeption). Wir haben uns daher entschlossen, unsere Arbeiter von der Konzeption romantischer Liebe zu befreien. Der Fortpflanzungsakt muß so einfach, natürlich und selbstverständlich sein wie das Essen. Weder Schönheit, Romantik noch Liebe dürfen bei der Reproduktion innerhalb des Stocks eine Rolle spielen. Wichtig ist allein die Forderung des Überlebens. Das nachtverhüllte Land um die Farm schien in tiefem Schlaf, als Hellstrøm es von der Wachstube aus überblickte. Dunkelheit hatte die vertraute Landschaft ausgelöscht, und nur am Horizont war der ferne Schimmer von Fostervilles Lichtern zu sehen. Der Stock unter ihm war nie stiller gewesen, aufgeladener mit den Spannungen des Wartens. Obgleich die mündliche Überlieferung von frühen Konfrontationen berichtete, in denen die ganze Koloniebewegung (wie es damals genannt wurde) von Ausrottung bedroht gewesen war, hatte sich der Stock niemals einer schwereren Krise gegenübergesehen. Die Eskalation erfolgte so allmählich und in | 298 |
gleichsam natürlichen Schritten, daß Hellstrøm rückblickend den Eindruck gewann, es handle sich um einen unvermeidlichen, schicksalhaften Prozeß. Die beinahe fünfzigtausend Bewohner des Stocks und ihre weitere Existenz hingen von den Entscheidungen ab, die Hellstrøm und seine Helfer während der nächsten Stunden zu treffen hatten. Hellstrøm blickte über die Schulter zum gedämpften Flimmern der Übertragerbildschirme, die über die Außenseiter wachten, welche kurz nach Dunkelwerden von Fosterville heraufgekommen waren. Drei unbezeichnete Wagen parkten jetzt dort und draußen im Weideland, wenig mehr als drei Kilometer entfernt. Ein vierter Wagen, der als zur Straßenpatrouille gehörig identifiziert worden war, arbeitete sich seit seiner Trennung von den anderen in weitem Bogen durch das schwierige Terrain, offenbar um eine Position im Süden des Tals zu erreichen. Der einzige befahrbare Weg dorthin war die alte Straße zum aufgelassenen Thimble-Bergwerk, und diese näherte sich dem Südende des Tals nicht weiter als bis auf fünfzehn Kilometer, es sei denn, die Leute fuhren querfeldein. Hellstrøm vermutete, daß der Wagen Vierradantrieb hatte, aber das Land im Süden war so, daß selbst ein Geländewagen höchstens auf fünf Kilometer an den äußeren Perimeter des Stocks herankäme. Die Wacharbeiter im Raum fühlten das auf Hellstrøm lastende Gewicht der Entscheidung, verständigten sich durch Zeichensprache und bewegten sich auf leisen Sohlen. Er fragte sich zum wiederholten Male, ob er Janvert als Vermittler einsetzen solle. Das Problem bestand darin, daß Verhandlungen von einer Position der Stärke geführt werden mußten, während der Stock nur bluffen konnte. Das Geheimnis des Betäubungsstabs stellte möglicherweise ein wertvolles Verhandlungsobjekt dar. Janvert hatte die Waffe in Aktion gesehen. Er würde auch wissen, in welchem Maße der Stock die Biochemie des Menschen beherrschte. Als Beweis konnten ihm die eigenen Reaktionen dienen. Aber wenn man ihn als Abgesandten hinausschickte, konnte Janvert nur der Feind des Stocks werden. Er hatte zuviel gesehen, um an Neutralität auch nur zu denken. Hellstrøm blickte zur Uhr: 23:29 Uhr. Der morgige Tag war | 299 |
nicht mehr fern, und er würde mit Sicherheit eine Kraftprobe bringen. Verschiedene Anzeichen deuteten klar darauf hin, darunter auch die nächtliche Stationierung der drei Wagen zwischen der Farm und Fosterville. Es war wichtig, festzustellen, was die Insassen der Fahrzeuge zu dieser Nachtstunde dort draußen taten. Hellstrøm fragte einen Koordinierungsspezialisten, dessen Gesicht im grünen Dämmerlicht leichenhaft fahl aussah. »Sie bleiben in den Fahrzeugen«, sagte der Spezialist. »Sie stehen in ständiger Funkverbindung mit ihrer Einsatzleitung; jeder Wagen macht ungefähr alle zehn Minuten Meldung. Es ist so gut wie sicher, daß in jedem Wagen nicht mehr als zwei Außenseiter sind.« »Wahrscheinlich warten sie auf das Tageslicht«, sagte Hellstrøm. »Das meinen wir auch«, erwiderte der andere. »Der mittlere Wagen ist nur etwa fünfundzwanzig Meter von einem der verborgenen Ausgänge entfernt, dem am Ende von Ebene zwei.« »Willst du damit sagen, wir sollten die Außenseiter fangen?« »Das würde uns verschiedene Fragen beantworten.« »Es könnte auch einen Generalangriff auslösen. Ich glaube, wir sollten es nicht zu weit treiben; bisher hatten wir Glück, aber das kann sich jetzt schnell ändern. Was ist mit dem Wagen, der den Bogen nach Süden geschlagen hat?« »Er sitzt fest, wo die alte Bergwerksstraße durch den Erdrutsch unterbrochen ist, ungefähr sechzehn Kilometer von hier.« Hellstrøm dankte ihm und kehrte zum Fenster zurück, wo ihm die kühle Nachtluft den Duft von taufeuchtem Gras zutrug. Ich sollte mich niederlegen und ausruhen, dachte er, vielleicht zum zehntenmal, seit er vor drei Stunden in die Wachstube gekommen war. Morgen früh werde ich alle Sinne beisammenhaben müssen; ich muß mehr als jeder andere vorbereitet sein, wenn der Angriff erfolgt. Viele von uns werden wahrscheinlich morgen sterben. Wenn ich wach und ausgeruht bin, kann ich vielleicht einige retten. Er dachte traurig an Lincoln Kraft, dessen verkohlter Leich| 300 |
nam (es hatte sich kaum gelohnt, die Überreste zu den Bottichen zu bringen) aus dem Wrack des ausgebrannten Lastwagens geborgen worden war. Krafts Tod ließ die Verluste des Tages auf einunddreißig ansteigen. Und das war erst der Anfang. Mit diesen Verlusten an Menschenleben hatte der Stock die drei Gefangenen bezahlt, die er jetzt in Gewahrsam hielt. Es war eine seltsame Vorstellung, Gefangene festzuhalten und zu ernähren. Erwachsene Außenseiter, die auf dem Gelände der Farm gefangen wurden, hatten bisher stets den Weg in die Bottiche genommen. Nur bei sehr kleinen Kindern, die für den Stock brauchbare Merkmale zeigten, wurden Ausnahmen gemacht. Nun gab es neue Möglichkeiten. Janvert, der Interessanteste unter den drei Gefangenen, hatte eine juristische Ausbildung, wie Hellstrøm im Verlauf behutsamer Befragungen erfahren hatte. Möglicherweise wäre es lächerlich einfach, Janvert dem Außenseiterleben zu entwöhnen, vorausgesetzt, er ließ sich den biochemischen Besonderheiten des Stocks hinreichend angleichen. Die Frau, Clovis Carr, war eine Trägerin aggressiver Persönlichkeitsmerkmale, die dem Stock zum Vorteil gereichen könnten. Der Dritte, dessen Papiere ihn als Daniel Thomas Alden auswiesen, benahm sich wie ein Berufssoldat. Jeder von ihnen mochte wertvolle Charaktereigenschaften haben, aber Janvert blieb der Interessanteste. Er war auch klein, was im Stock wünschenswert war. Hellstrøm wandte sich vom Fenster weg und durchquerte den Raum zum zweiten Wacharbeiter in der Reihe. »Wie steht es mit unserem Spähtrupp im Bachbett?« fragte er. »Konnten in dem beobachteten Wagen Gespräche abgehört werden?« »Nicht viel, Nils. Die Außenseiter rätseln immer noch herum. Sie nennen es einen ›sehr seltsamen Fall‹ und erwähnen gelegentlich einen Mann namens Gammel, der gesagt haben soll, hier sei alles hoffnungslos verpfuscht worden.« »Gut. Sag mir Bescheid, wenn unsere Leute etwas Neues hören.« Hellstrøm richtete sich auf, rieb sich den Nacken und überlegte, ob er Saldo rufen solle. Er hatte ihn zum Hauptkor| 301 |
ridor in Ebene fünfzig geschickt, wo er unauffällig die weiteren Vorbereitungen zur Erprobung des Projekts 40 beobachten sollte. Um ungesehen zu bleiben, mußte Saldo sich an einem Ende des Hauptkorridors stationieren, was sich als ein schlechter Beobachtungsposten erwies, weil die meisten Arbeiten im mittleren Teil stattfanden, mindestens sechshundert Meter von seinem Standort entfernt. Näher durfte er sich nicht heranwagen, da die Forscher nach dem vorausgegangenen Zwischenfall mit einem störenden Beobachter« zunehmende Reizbarkeit gezeigt hatten. Hellstrøm verließ sich auf Saldos Intelligenz und Findigkeit. Der Junge wußte so gut wie er selbst, wie verzweifelt wichtig es für die Planung der weiteren Strategie war, daß die Wachstube sofort informiert wurde, wenn die Situation im Laboratorium neue Aussichten bot. Mit einem Bluff kämen wir gegen die Außenseiter niemals durch, sagte sich Hellstrøm. Der Stock mochte damit ein wenig Zeit gewinnen, mochte mit Hilfe der Betäubungsstäbe vorübergehend glauben machen, er besitze eine nach dem gleichen Prinzip konstruierte wirksamere Waffe, aber über kurz oder lang würden die Außenseiter eine Demonstration verlangen. Und es war völlig ausgeschlossen, daß sie die Existenz des Stocks in Kenntnis seiner Ziele und Besonderheiten als ein autonomes Gebilde dulden würden. Auf einen Bluff würden sie mit einer Herausforderung antworten, und was dann? In einer Welt, deren Gesellschaften auf gegenseitiger Bedrohung, Gewalt und Illusionen absoluter Macht beruhten, war das alles vielleicht unvermeidlich. Wie konnte man von Leuten wie Janvert ein vorurteilsfreies, anpassungsfähiges Denken erwarten? Wie konnte man von Leuten dieser Art erwarten, daß sie in Begriffen wie Lebensabhängigkeiten und den ineinandergreifenden Beziehungen von Lebenssystemen dachten, daß sie die Notwendigkeit erkannten, die menschliche Art in den großen Kreislauf des Lebens, aus dem sie sich zu ihrem eigenen Nachteil gelöst hatte, wieder einzugliedern? Solche Vorstellungen mußten für Außenseiter sinnloses Geschwätz sein, selbst für diejenigen, die sich für die neue Mode Ökologie begeisterten. | 302 |
Aus Joseph Merrivales privaten Aufzeichnungen: Entsprechend meinen Instruktionen traf ich am späten Sonntagabend in Lakeview ein, wo ich mit Waverly Gammel, dem Leiter des FBI-Einsatzkommandos, zusammentraf. Er fuhr mich nach Fosterville, wo wir um 23:18 Uhr eintrafen. Gammel meldete, daß er außer minimaler Überwachung des Zielgebiets aus etwa drei Kilometern Entfernung mit nur vier Fahrzeugen und neun Mann nichts unternommen habe. Nach Gammels Auskunft deckt sich diese Handlungsweise mit seinen Instruktionen, eine Erklärung, die nicht mit dem in Einklang zu bringen ist, was man mich in der mündlichen Unterweisung für die Durchführung des Auftrags glauben machte. Gammel meldet, daß von keinem unserer Leute, die bisher in das Zielgebiet eingedrungen sind, irgendein Lebenszeichen gekommen sei. Er äußerte überdies Zweifel daran, daß dieser Fall mit Verstößen gegen das Rauschgiftgesetz zu tun habe. Er hat den vorläufigen Bericht über die Peruge-Autopsie gesehen. Ich muß dagegen protestieren, daß ich bei der Bearbeitung dieses Falles vom Personal und von den Hilfsmitteln einer anderen Organisation abhängig bin. Diese Abhängigkeit und die lediglich unverbindliche Bereitschaft des FBI zu loser Zusammenarbeit, unter denen ich meine Pflicht erfüllen muß, können die gegenwärtigen Schwierigkeiten nur verschärfen. Nachdem in diesem Fall bereits viele Aktionen ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung durchgeführt wurden, muß ich bei nächster Gelegenheit in aller Form gegen diese planlose Art des Vorgehens protestieren. Meine amtliche Stellung in den anlaufenden Operationen läßt für unsere Verantwortlichkeit das Schlimmste befürchten. Ich muß eindeutig klarmachen, daß die Behandlung dieses Falles in keiner Phase mit meinem eigenen Verständnis der zur Lösung der Situation erforderlichen Entscheidungen übereingestimmt hat. Saldo kam in Rekordzeit von der 1600-m-Ebene des Stocks, wo die Forscher ihre Testvorbereitungen trafen, zur Erdoberfläche hinauf. Schnellaufzüge gab es nur in den sogenannten neuen Ebenen unterhalb eintausend Meter, aber selbst diese wurden zunehmend langsamer, je höher sie stiegen. Die Stollengra| 303 |
bungen in den neuen Galerien der 1300-m-Ebene zwangen ihn zum Umsteigen, und er nahm sich vor, Hellstrøm zu fragen, ob diese Arbeiten nicht während der gegenwärtigen Krise unterbrochen werden sollten. Am Ende des Hauptkorridors, worin der Versuch stattfinden sollte, hatte Saldo einen jungen Assistenten mit seiner Geheimwaffe stationiert: dem Feldstecher, der früher dem Außenseiter Depeaux gehört hatte. Es ging gegen Mitternacht, als der Schwenkarm ihn zum Dachboden der Scheune emporhob. Die Wachstube lag im grünlichen Halbdunkel der beleuchteten Instrumente und Bildschirme, und Saldo sah sofort, daß die meisten Führungskader des Stocks gemeinsam mit Hellstrøm die Nachtwache hielten. Hellstrøm selbst stand vor dem Fenster auf der Nordseite, eine untersetzte Gestalt vordem dunklen hohen Rechteck. Saldo hatte keine allzu hohe Meinung von den Führungsqualitäten der meisten Anwesenden, Hellstrøm ausgenommen. Wenigstens die Hälfte dieser Arbeiter sollte jetzt ruhen und für den kommenden Tag Kräfte sammeln, Hellstrøm vor allen anderen. Aber Saldo hatte gewußt, daß er Hellstrøm hier antreffen würde, und er fand nichts Unlogisches in der Erkenntnis, daß auch er hier stehen würde, wäre er an Hellstrøms Stelle. Hellstrøm hörte ihn kommen und wandte sich um. Ein erwartungsvoller, interessierter Ausdruck kam in seine müden Augen. »Saldo!« sagte er. »Gibt es was zu melden?« Saldo trat nahe an ihn heran und erklärte ihm mit halblauter Stimme, warum er seinen Beobachtungsposten verlassen hatte. »Bist du ganz sicher, daß sie im Begriff sind, den Versuch zu machen?« »Mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen, aber es sieht ganz danach aus. Während der letzten drei oder vier Stunden haben sie die Starkstromkabel verlegt. Bei den früheren Modellen verlegten sie die Starkstromkabel immer erst dann, wenn der Versuch unmittelbar bevorstand.« »Wann werden sie soweit sein?« »Schwer zu sagen.« | 304 |
Hellstrøm begann ruhelos auf und ab zu gehen, gezeichnet von Nervosität, Erschöpfung und innerer Anspannung. Schließlich blieb er vor Saldo stehen und starrte ihn an. »Ich kann mir nicht denken, daß der Versuch so früh stattfinden sollte.« Er rieb sich das Kinn. »Sie sagten, sie würden für den Versuch die ganze Länge des Hauptkorridors brauchen.« »So ist es auch. Sie haben Ventilatoren aufgestellt und ein System von Rohrleitungen gebaut, das die gesamte Länge des Hauptkorridors einnimmt. Zur Abstützung der Rohrleitungen greifen sie zu allem, was sie finden können – Stühle, Bänke, Tische, alles ist ihnen recht. Es sieht sehr sonderbar aus. Aus den Hydrokulturen in Ebene zweiundvierzig haben sie sogar eine Hochleistungspumpe herbeigeschafft. Sie gingen einfach hinein, schraubten Anschlüsse und Verankerungen los und nahmen sie mit. Die Leiter der Hydrokulturen waren außer sich, wie du dir vorstellen kannst, aber sie sagten bloß, du hättest es genehmigt. Ist das wahr?« »Im wesentlichen, ja«, sagte Hellstrøm. »Nils, meinst du, sie würden sich so verhalten, wenn sie nicht im Begriff wären, den Versuch durchzuführen? Und würden sie den Versuch durchführen, wenn sie nicht an einen Erfolg glaubten?« Hellstrøm stimmte mit Saldo überein, aber es gab andere Überlegungen, und er hatte sich noch nicht erlaubt, zu hoffen. Das Verhalten der Spezialisten könnte auch eine Widerspiegelung der Unruhe sein, die sich durch den ganzen Stock ausgebreitet hatte. Er hielt das nicht für wahrscheinlich, aber möglich war es. »Solltest du nicht hinuntergehen und dich selbst erkundigen?« fragte Saldo. Hellstrøm hatte Verständnis für die hoffnungsvolle Ungeduld, die Saldo zu ihm geführt hatte. Viele im Stock teilten sie mit ihm. Konnte es irgendeiner Sache nützen, wenn er jetzt selbst hinunterginge? Es war durchaus möglich, daß die Spezialisten ihm jede Auskunft verweigern würden. Sie hatten eine verständliche Abneigung gegen Prophezeiungen im Zusammenhang mit neuen Forschungsprojekten. Wenn sie sprachen, dann sprachen sie von Wahrscheinlichkeiten, oder | 305 |
von möglichen Konsequenzen in bestimmten ›Entwicklungslinien‹. Es war begreiflich. In der Vergangenheit hatte es Fehlschläge gegeben. Ein früheres Versuchsmodell in der Entwicklungsreihe des Projekts 40 hatte eine explosive Plasmablase erzeugt, die dreiundfünfzig Arbeiter getötet hatte, darunter vier Forscher. Auf Ebene neununddreißig war damals ein achtzig Meter langer Seitenstollen eingestürzt. »Hat das Kraftwerk Zahlen über die verlangte Energieabgabe erhalten?« fragte Hellstrøm. »Die Spezialisten der Stromerzeugung fragten von sich aus, erhielten jedoch die Auskunft, daß die Berechnung noch nicht vollständig sei. Ich habe jedenfalls einen weiteren Beobachter im Kraftwerk stationiert. Die Forscher müssen auf jeden Fall vorher den Energiebedarf melden.« »Können die Spezialisten der Stromerzeugung nach dem Format der verwendeten Starkstromkabel eine ungefähre Schätzung abgeben?« »Derjenige, mit dem ich sprach, sagte etwas von fünfhunderttausend Kilowatt. Es könnte allerdings auch weniger sein.« »So viel?« sagte Hellstrøm stirnrunzelnd. Er schwieg eine Weile, in düstere Grübelei versunken. Dann blickte er auf und sagte: »Forscher sind in vielerlei Hinsicht anders als wir, Saldo. Sie wurden für ein verengtes Gesichtsfeld gezüchtet, für eine Konzentration des Intellekts. Wir sollten auf die Möglichkeit eines katastrophalen Mißerfolgs vorbereitet sein.« »Eines katastrophalen ...« Saldo starrte ihn entsetzt an. »Bereite die Evakuierung der Gegend um den Hauptkorridor vor, und zwar auch in den beiden angrenzenden Ebenen«, sagte Hellstrøm. »Du selbst wirst im Kraftwerk Stellung beziehen. Sag dem leitenden Spezialisten, er dürfe den Strom für das Versuchsprojekt erst abgeben, nachdem ich ihm die Erlaubnis dazu erteilt habe. Wenn die Forscher kommen, um die Vereinbarungen zur Energieabgabe zu treffen, verständige mich. Frage sie dann, wenn du kannst, welche Faktoren für Reichweite und Abweichung sie berechnet haben. Laß dir die Zahlen für die Energieabgabe nennen und ordne gleichzeitig die Evakuierung des Versuchsbereichs an. Wir werden nicht mehr Arbeiter als nötig in Gefahr bringen.« | 306 |
Saldo stand ernüchtert und ehrfürchtig vor ihm. Nach den Empfindungen stolzen Selbstbewußtseins, die ihn noch beim Betreten der Wachstube beflügelt hatten, fühlte er sich plötzlich deprimiert. Keine einzige von diesen Vorsichtsmaßnahmen war ihm in den Sinn gekommen. Er hatte nur daran gedacht, Hellstrøm zu einer bestimmten Handlungsweise zu überreden. »Vielleicht solltest du jemand mit mehr Phantasie und Fähigkeiten zum Kraftwerk schicken«, sagte er. »Zum Beispiel Ed ...« »Du bist derjenige, den ich im Kraftwerk sehen will«, sagte Hellstrøm. »Ed ist ein gereifter Spezialist mit langer Erfahrung in der Außenwelt. Er kann wie ein Außenseiter denken, was du nicht kannst. Auch hat er soviel kritische Selbstkenntnis, daß er seine eigenen Fähigkeiten selten über- oder unterschätzt. Mit einem Wort, er ist ausgeglichen. Wenn wir diese nächsten Stunden überleben wollen, benötigen wir diese Qualität vor allen anderen. Ich vertraue darauf, daß du meine Befehle sorgfältig und vollständig ausführen wirst. Ich weiß, daß du es kannst. Geh jetzt zu deiner Station zurück.« »Nils, ich dachte nicht ...« »Zu einem Teil ist es meiner Müdigkeit zuzuschreiben, daß ich so kurz angebunden und streng mit dir bin«, unterbrach ihn Hellstrøm. »Aber hier gibt es Verschiedenes, was du hättest in Betracht ziehen sollen. Du hättest mich über die Gegensprechanlage erreichen können, ohne deinen Posten zu verlassen. Ein echter Führer überdenkt viele Möglichkeiten, ehe er handelt. Wenn du zur Führerschaft bereit wärst, hättest du daran gedacht, meine Energien ebenso wie deine eigenen zu schonen. Du wirst in diese Fähigkeit hineinwachsen, und die Verzögerungszeit zwischen dem Erwägen der verschiedenen Möglichkeiten und deiner Entscheidung zum richtigen Handeln wird kürzer und kürzer werden.« »Ich werde sofort zu meinem Posten zurückkehren«, sagte Saldo. Er machte kehrt und ging. Ehe er die Tür erreichte, erhob sich bei den Übertragerstationen ein Stimmengewirr. Aus einem der Lautsprecher drangen wirre Geräusche und undeutliche Wortfetzen. Eine Wacharbeiterin fragte laut dazwi| 307 |
schen: »Gibt es noch jemand, der die Leitung übernehmen könnte?« Ein weiterer Wortschwall eruptierte aus dem Lautsprecher. »Einer zur Zeit!« rief die Arbeiterin. »Sag ihnen, sie sollen an ihren Plätzen bleiben. Wenn zu viele von uns ohne Koordination herumrennen, sind wir einander bloß im Weg. Wir werden die Suche von hier aus leiten.« Die Arbeiterin, eine junge Frau, die noch in der Ausbildung war, erhob sich von ihrem Platz und winkte aufgeregt zu Hellstrøm herüber. »Einer von den Gefangenen ist in den Stock entkommen!« Hellstrøm stürzte an ihre Seite. Saldo zögerte bei der Tür. »Welcher?« fragte Hellstrøm, über die Arbeiterin gebeugt. »Janvert. Sollen wir Arbeiter losschicken, um ihn ...« »Nein.« »Nils, sollte ich ...«, fragte Saldo von der Tür. »Geh zu deiner Station!« rief Hellstrøm, ohne den Blick von dem Bildschirm vor der jungen Arbeiterin abzuwenden. Ein verschreckter Wacharbeiter war darauf zu sehen, ein junger Mann mit der Schultermarkierung des Besamers. »Welche Ebene?« fragte Hellstrøm. »Zweiundvierzig«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. »Und er hat einen Betäubungsstab. Ich verstehe nicht, wie es möglich war – er tötete zwei Arbeiter, diejenigen, die gesagt hatten, sie wären von dir geschickt worden, um ...« »Ich weiß Bescheid«, unterbrach Hellstrøm. Es waren die Spezialisten, die er hinuntergeschickt hatte, damit sie Janvert mit neutralisierenden Drogen behandelten und in einen hinreichend wachen, aber emotional gedämpften Zustand überführten, der ihn für die Verwendung als Unterhändler geeignet machen würde. Etwas war schiefgegangen, und Janvert war entkommen. Hellstrøm richtete sich auf und blickte in die Runde. »Weckt eure Ersatzleute. Janvert hat die Geruchsmarkierung des Stocks bekommen. Kein gewöhnlicher Arbeiter würde ihn als einen Außenseiter erkennen. Er kann im Stock überall hingehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Infolgedessen haben wir eine zweifache Aufgabe. Wir müssen ihn wieder einfangen, und wir müssen das tun, ohne noch mehr Unruhe und Aufregung in den Stock zu tragen. Macht | 308 |
das jedem Sucher klar. Gebt euren Ersatzleuten eine genaue Beschreibung Janverts und schickt sie auf die Suche nach ihm. Verteilt Außenseiterschußwaffen an mindestens einen Arbeiter in jedem Suchtrupp, solange der Vorrat reicht. Ich möchte nicht, daß unter diesen Umständen im Stock Betäubungsstäbe verwendet werden.« »Dann soll er getötet und zu den Bottichen geschafft werden?« fragte einer hinter Hellstrøm. »Nein, auf keinen Fall!« »Aber du sagtest doch ...« »Eine Schußwaffe in jedem Suchtrupp«, sagte Hellstrøm. »Mit dieser Waffe darf nur auf seine Beine gezielt werden, und auch das nur dann, wenn er anders nicht zum Stehen gebracht werden kann. Ich will ihn lebendig, habt ihr das alle verstanden? Wir brauchen diesen Außenseiter lebendig und möglichst unverletzt.« Aus dem Leitfaden: Leben muß um seiner selbst willen Leben nehmen, aber kein Arbeiter sollte mit einem anderen Motiv als der Erhaltung unserer Art in diesen großen Kreislauf der Wiedergeburt eintreten. Nur als Art sind wir mit der Unendlichkeit verbunden, und diese hat für die Art auch eine andere Bedeutung als für die sterbliche Zeile. Es hatte lange gedauert, bis Janvert die Seltsamkeit seiner Lage begriff. Eine Zeitlang hatte er das Gefühl, er sei zu zwei völlig verschiedenen Personen geworden, und noch danach erinnerte er sich deutlich an beide. Die eine hatte Jura studiert, sich der Organisation angeschlossen, Clovis Carr geliebt und fühlte sich nun in Praktiken gefangen, die sie ihrer Menschenwürde beraubten. Die andere schien als voll ausgebildetes Individuum erwacht zu sein, als er mit Nils Hellstrøm und einer ziemlich aufgetakelten Puppe namens Fancy zu Mittag gegessen hatte. Diese andere Person hatte sich völlig autonom und von der anderen unbeeinflußt benommen, war sanftmütig wie Hellstrøm in einen Raum gegangen, wo Leute herumgestanden und Fragen gestellt hatten. Und dieser unheimliche andere in ihm hatte diese Fragen vollständig | 309 |
freimütig beantwortet, willig und ständig bereit, zur weiteren Verdeutlichung Einzelheiten hinzuzufügen. Er hatte sich tatsächlich sehr bemüht, seine Antworten einleuchtend und verständlich zu machen. Es gab noch andere, überaus seltsame Erinnerungen – an große offene Behälter in einem riesigen Raum, in denen es blubberte und siedete; einen weiteren, ähnlich großen Raum, in dem es von Kleinkindern wimmelte, die in eigenartiger Stille auf einem siebartigen Boden herumsprangen und spielten, der an verschiedenen Stellen wie ein Trampolin unter ihnen federte. Er erinnerte sich an einen bitteren, säuerlichen Geruch in diesem Raum, der dem allgemeinen Eindruck von Sauberkeit jedoch keinen Abbruch tat. Im Vorbeigehen hatte er gesehen, wie sich aus einer Sprinkleranlage plötzlich das Wasser auf die Kleinen ergossen hatte. Und dann war da noch dieser andere Geruch, den er von den anderen Erfahrungen her kannte und der auch jetzt noch um ihn war. Er war stinkend, widerlich ranzig und warm. Das Selbst, welches er für seine eigentliche Identität hielt, schien während jener anderen Erlebnisse bewußtlos gewesen zu sein, doch jetzt war es wach. Es war in einem Raum mit rauhen grauen Wänden, einer Vertiefung mit einem Loch in der Mitte, wo er sich erleichtern konnte, einem etwa dreißig mal neunzig Zentimeter messenden hüfthohen Sims in der Nähe der einzigen Tür, offenbar aus dem gleichen Material wie die Wände. Auf dem Sims standen ein schwarzer Plastikkrug und ein Becher, beide mit warmem Wasser gefüllt. Vorher hatte auf dem Sims eine Schüssel mit Essen gestanden. Er erinnerte sich an den ausdruckslos blickenden nackten Mann, der ihm die Schüssel gebracht hatte – kein Wort war aus ihm herauszubringen gewesen. Es gab keine Fenster, nur die eine Tür und den Toilettenabfluß. Gelegentlich hörte er unter dem Loch Wasser vorbeirauschen. Wasserdüsen waren auch rings um die Vertiefung angeordnet und einmal zur Säuberung eingeschaltet worden. Es gab keinen Stuhl, und man hatte ihn splitternackt ausgezogen. Wenn er sich niedersetzen wollte, mußte er mit dem Fußboden vorliebnehmen. Er konnte nichts sehen, was als Waffe geeignet gewesen wäre. Wasserkrug und Becher | 310 |
waren unzerbrechlich; er hatte mehrfach versucht, sie in Scherben zu zerschlagen. Er erinnerte sich auch, daß Besucher dagewesen waren – zwei ältere Frauen, die ihn gründlich untersucht und dabei mit bemerkenswerter Leichtigkeit festgehalten hatten, um ihm schließlich eine Injektion in die linke Arschbacke zu verabreichen. Die Gegend um den Einstich juckte und prickelte noch immer. Die Rückkehr seines ursprünglichen Bewußtseins hatte bald nach dieser Injektion begonnen. Er schätzte, daß seit der Injektion mindestens drei Stunden vergangen waren. Sie hatten ihm die Uhr abgenommen, und er hatte nichts, woran sein Zeitgefühl sich orientieren konnte, aber die Mutmaßungen darüber gaben ihm das Gefühl, etwas Positives zu tun. Ich muß hier raus, sagte er sich. Sein unheimliches anderes Selbst, das nun seinerseits an Kraft zu verlieren schien, brachte ihm Erinnerungen an durcheinanderwimmelnde Horden nackter Leute in den Gängen, durch die er in dieses Verlies gebracht worden war. Das war ein menschlicher Ameisenhaufen. Wie konnte er da entkommen? Die Tür ging auf, und eine relativ junge Frau kam herein. Bevor sie die Tür hinter sich schloß, sah er eine ältere, energisch aussehende Frau mit einer von diesen mysteriösen Waffen draußen stehen, die wie eine Art elastischer Schlagstock mit doppelter Spitze aussah. Die junge Frau, die seine Zelle betreten hatte, hatte schwarze Haarstoppeln um die Genitalien und eine ähnliche Stoppelkappe auf dem Kopf, aber ihren Zügen fehlte jene mondgesichtige Gedankenleere, die ihm bei vielen hier unten aufgefallen war. In der Linken hielt sie ein Ding, das wie ein gewöhnliches Stethoskop aussah. Als sie eintrat, sprang Janvert auf und wich zum Sims zurück, wo er mit dem Rücken zur Wand stehenblieb. Sie schien erheitert. »Kein Grund zur Aufregung. Ich will bloß sehen, wie du das alles verträgst.« Sie streifte sich das zangenförmige Ende des Stethoskops über, nahm das Hörrohr in die Linke. Janvert tastete hinter sich nach dem Wasserkrug, ohne den Blick von der Frau abzuwenden. Seine Hand stieß den Krug vom Sims. | 311 |
»Nun sieh mal, was du getan hast!« sagte sie und bückte sich, um den in einer Wasserpfütze liegenden Krug aufzuheben. Als sie sich bückte, sprang Janvert in verzweifelter Entschlossenheit vorwärts und schlug ihr mit hackender Bewegung die Handkante ins Genick. Sie fiel flach auf den Bauch und blieb reglos liegen. Jetzt gab es noch die andere draußen. Janvert versuchte zu überlegen. Hinter einem umlaufenden Vorsprung dicht unter der Decke drang indirektes, kühles grünes Licht und ließ die Haut der am Boden liegenden Frau totenbleich erscheinen. Er beugte sich über sie, fühlte nach dem Puls und konnte keinen finden. Hastig nahm er das Stethoskop an sich und horchte sie ab. Kein Herzschlag, nichts. Die Erkenntnis, daß er sie mit seinem wilden Hieb getötet hatte, brachte ihm mit fröstelnder Eindringlichkeit seine eigene gefährliche Lage zu Bewußtsein. Hastig zerrte er den Leichnam der Frau zur rechten Seite der Tür und blickte zurück, um zu sehen, ob irgendwelche verdächtigen Zeichen zu sehen wären. Der Wasserkrug lag noch am Boden, aber Janvert zögerte. Sein Zögern rettete ihn. Wieder wurde die Tür geöffnet, und die ältere Frau steckte den Kopf herein, einen Ausdruck unverkennbarer Neugier im Gesicht. Janvert sprang hinter der Tür hervor, packte ihren Kopf, riß sie in die Zelle und stieß ihr das Knie aufwärts ins Gesicht. Sie antwortete mit einem halberstickten Schrei und ließ die Waffe fallen. Ehe sie selbst fallen oder sich aufrichten konnte, hackte er mit der Handkante in ihr Genick, wie er es bei der ersten getan hatte, sprang zurück und warf die Tür zu. Nun hatte er sie beide, und dazu eine von diesen unbekannten Waffen. Er hob sie auf und untersuchte sie. Das Ding war aus schwarzem Kunststoff, der in Farbe und Beschaffenheit dem Wasserkrug und dem Becher ähnelte. Es war ungefähr einen Meter lang und hatte einen kurzen dicken Handgriff mit Fingerkerben. Am unteren Ende des Handgriffs war ein Einstellring, und wo der Daumen lag, ein gelber Knopf. Janvert richtete das antennenartige doppelte Ende auf die Bewacherin, die er gerade niedergeschlagen hatte, und drückte | 312 |
den Knopf ein. Der Stab machte bap-hummmm, und er ließ den Knopf los. Das Summen hörte auf. Die ältere Frau war beim Einschalten der Waffe heftig zusammengezuckt. Jetzt begann sich die Haut auf ihrer ihm zugewandten Seite dunkelpurpurn zu verfärben. Er bückte sich, suchte den Puls. Nichts. Beide tot. Er ließ sie liegen und wandte sich der Tür zu. Er wußte, daß sie nach innen aufging, und in Hüfthöhe war eine muldenförmige Vertiefung, die er schon mehrfach abgetastet hatte, ohne daß die Tür aufgegangen wäre. Nun überlegte er, ob er sich in seiner Panik eingeschlossen haben mochte. Hastig fühlte er nach der schmalen Griffkante am oberen Rand der Vertiefung, zog daran und fühlte mit großer Erleichterung, wie die Tür mit leisem Klicken nachgab. Durch den Spalt sah er ein Hin und Her von nackten Leuten, bevor er die Tür wieder schloß. »Ich muß nachdenken«, murmelte er zu sich selbst. Sie würden natürlich erwarten, daß er versuchen würde, an die Oberfläche zu kommen. Aber gab es vielleicht andere Wege und Möglichkeiten, diesen verzweigten unterirdischen Bau zu verlassen? Was lag unter ihm? Er wußte, daß es mindestens eine tiefergelegene Ebene geben mußte. Seine Bewacher hatten ihn an offenen, türlosen Aufzugsschächten vorbeigeführt, hinter denen die Kabinen eines Paternosteraufzugs aufwärts und abwärts geglitten waren. Er besaß eine von ihren Waffen und wußte jetzt, daß er damit töten konnte. Sobald sie die toten Frauen entdeckten, würden Hellstrøms Leute nach ihm suchen. Sie würden ihren Bau durchkämmen, und sie hatten Leute genug, um es gründlich zu tun. Ich werde nach unten gehen. Er hatte keine Ahnung, wie weit unter der Erde er sein mochte. Sie hatten ihn mit Aufzügen gebracht, und er hatte viele Geschosse vorbeiziehen sehen, aber sein anderes Selbst hatte nicht daran gedacht, sie zu zählen. Sie hatten ihn mit etwas gefüttert, um ihn fügsam zu machen! Dieses andere Selbst war Hellstrøms Schöpfung. Es mochte sogar die Antwort auf die Frage nach Projekt 40 sein. Vielleicht waren die MIT-Papiere Teil einer Beschreibung von Anlagen und Herstellungsverfahren für Psychodrogen zur | 313 |
Manipulation von Menschen. Jedenfalls würden die Sucher nicht damit rechnen, daß er hinunterginge. Wenn es einen Fluchtweg aus diesem menschlichen Ameisenhaufen gab, dann würde er ihn nur finden, indem er das Unerwartete tat. Immer das Unerwartete tun, ermahnte er sich. Er fühlte sich noch immer nicht ganz Herr seiner selbst, aber er durfte nicht länger warten. Er hielt die Beutewaffe einsatzbereit in der Rechten, öffnete die Tür, spähte hinaus. Draußen im Gang herrschte jetzt weniger Betriebsamkeit, aber eine schweigende Reihe von Männern und Frauen wanderte ohne einen einzigen neugierigen Blick von links nach rechts an ihm vorüber. Janvert zählte neun Personen in der Gruppe. Hinter ihr marschierte eine zweite, längere Reihe in die Gegenrichtung. Auch diese Leute beachteten ihn nicht. Als der Trupp die Zelle passiert hatte, schlüpfte Janvert hinaus und schloß sich der Reihe an, die nach links ging. Beim ersten Aufzug blieb er zurück, wartete auf die nächste abwärtsgleitende Kabine und stieg ein. Ein hagerer Mann mit ausdruckslosem Gesicht folgte ihm, und sie ließen sich wortlos abwärtstragen, die Blicke unverwandt auf den Einstieg gerichtet. Der überall herrschende Geruch begann Janvert mehr und mehr abzustoßen, als sein wachsames altes Selbst zunehmend die Oberhand gewann. Der Mann neben ihm schien den Geruch nicht zu bemerken. Er atmete leicht und gleichmäßig, während Janvert jedesmal einen Anflug von Übelkeit verspürte, wenn er sich auf den Geruch konzentrierte. Es war am besten, nicht daran zu denken. Sein Partner im Aufzug blieb eine Gestalt geheimnisvoller Bedrohung, doch irgend etwas hinderte den Mann, von Janvert Notiz zu nehmen. Der Kopf des Mannes glänzte kahl, und seine Schamhaare waren abrasiert oder auf eine andere Weise entfernt worden. Als die Kabine ein weiteres Stockwerk passierte, sprang der Mann hinaus, und Janvert fuhr allein weiter. Er zählte graue Wände und Fußböden, und als er bis zehn gekommen war, fragte er sich, wie lange er in diesem Aufzug bleiben solle. Er blickte zur Decke der Kabine auf. Sie war glatt und ohne Merkmale, genau wie der Boden. Nahe der Wand klebte etwas | 314 |
Graues und Glänzendes an der Decke, und Janvert erhob sich auf die Zehenspitzen, streckte den Arm aus und berührte die Substanz. Etwas davon blieb an seinem Finger haften, und er schnüffelte daran. Der Geruch entsprach jenem der Fleischbrühe in seiner Essensschüssel. Er wischte sich den Finger an der langsam vorbeigleitenden Betonwand des Aufzugsschachts. Die Bedeutung von Essensresten an der Decke begann seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen. Vielleicht wurde diese Decke in der Umkehrphase der Aufzugkabine zum Boden. Diese Paternosteraufzüge schienen niemals stillzustehen. Ständig sprangen Leute durch die türlosen Einstiegöffnungen hinein und heraus. Auf einmal schwankte die Kabine, neigte sich mit rumpelnden Geräuschen nach links. Janvert kniete nieder und kauerte auf der Seitenwand, als die Kabine in die Waagerechte kippte. Vor der Einstiegsöffnung zeigte sich nur grauer Beton, während die Kabine ein gutes Stück eben dahinglitt, um sich dann allmählich wieder aufzurichten, bis die frühere Decke zum Boden wurde und seine Vermutung bestätigte. Die Kabine bewegte sich wieder aufwärts. Bei der ersten Öffnung sprang er hinaus, blickte umher und sah weit und breit keinen Menschen. Er war in einem von trübrotem Licht erhellten Korridor, doch in der Ferne auf der rechten Seite leuchtete gelber Lichtschein. Jenseits davon setzte sich das rote Dämmerlicht des Korridors fort. Janvert blickte nach links und sah, daß der Korridor dort eine sanfte Rechtskurve beschrieb. Er entschied sich für den gelben Lichtschein und wandte sich nach rechts. Er ging nicht schnell; es war wichtig, daß er sich wie irgendein Bewohner dieses Baus benahm, der seinen täglichen Geschäften nachging. Die Waffe lag schwer in seiner rechten Hand, schlüpfrig unter dem Schweiß der Handfläche. Ehe er zu dem Bereich des Lichtscheins kam, hörte er das Geräusch fließenden Wassers und sah, daß das Licht aus langen Schlitzen in den Wänden drang, die parallel zum Boden und der gewölbten Decke verliefen. Die Schlitze waren in Augenhöhe, und er brauchte nur den Kopf zu wenden, um in eine weiträumige, niedrige Halle mit langen Reihen großer Wasserbehälter zu blicken, zwischen denen Leute ihrer Arbeit | 315 |
nachgingen. Er spähte in den nächsten Behälter und sah, daß es darin von Fischen wimmelte, kleinen, fingerlangen Fischen. Und dann beobachtete er, wie einige Arbeiter weit draußen im Raum mit Netzen und Stangen größere Fische aus einem Wassertank holten und in einen bereitstehenden Wagen warfen. Eine Fischzuchtanstalt, bei Gott! Janvert ging weiter und sah ein Stück voraus neuen Lichtschein, der rosa getönt schien. Im Näherkommen bemerkte er, daß dieses Licht aus hohen und breiten Türen drang, hinter denen sich eine noch weitläufigere Halle erstreckte. Diese Halle war voll üppiger Pflanzen mit frischen grünen Blättern, die von tiefhängenden starken Lampen bestrahlt wurden. Wieder hörte er das Geräusch fließenden Wassers, aber schwächer als in der Fischzüchterei. Zwischen den Pflanzen bewegten sich Arbeiter mit Sonnenbrillen und ernteten rote Früchte, die Janvert für Tomaten hielt und die sie in umgehängte Beutel steckten. Die gefüllten Beutel wurden zu Öffnungen in der Wand gegenüber getragen und dort ausgeleert. Er begegnete jetzt mehr Menschen und wurde bald auf ein summendes Geräusch aufmerksam, das bei seiner Annäherung lauter wurde. Keiner von denen, die ihn sahen, schenkte ihm Beachtung. Als er sich dem irritierenden Summen näherte, fühlte er, daß die Luft noch wärmer wurde. Schließlich war das Geräusch in seiner Intensität beinahe schmerzhaft. Bald kam er zu größeren Schlitzen in der linken Tunnelwand und spähte durch sie in eine riesige Höhle. Sie hatte eine Höhe von mindestens vier Stockwerken und enthielt große, röhrenförmige Anlagen, neben denen die Arbeiter winzig wie Ameisen wirkten. Er schätzte die Höhe der Anlagen auf fünfzehn Meter, den Durchmesser auf ungefähr das Doppelte. Das Summen ging von ihnen aus, und durch die Schlitze drang merklich Ozongeruch in den Korridor. Elektrische Generatoren, vermutete Janvert. Aber es war die größte Kraftwerkanlage, die er je gesehen hatte. Die Generatorenhalle war mindestes fünfhundert Meter lang und annähernd ebenso breit. Wenn diese Kolosse Generatoren waren, erhob sich die Frage, womit sie betrieben wurden. | 316 |
Janvert fand die Antwort, als er zum Ende seines Tunnels kam. Eine Rampe führte hinab in die Generatorenhalle, eine zweite, parallel verlaufend und von der ersten durch eine Wand getrennt, neigte sich abwärts zu einer düsteren Region, wo er unter trüben Lampen ölig glänzendes Wasser dahinströmen sah. Wasser? War das sein Fluchtweg? Janvert ging die Rampe zum Wasser hinunter und fand sich wenig später auf einer schwarzen Leiste neben dem schnell strömenden Wasser. Es war ein Fluß! Janvert bewegte sich auf der Leiste weiter, unter der das Wasser aus der Turbinenhalle hervorschoß. Durch die Wand zu seiner Linken konnte er das gedämpfte Summen der Generatoren hören. Die Dimensionen dieses unterirdischen Unternehmens beschäftigten Janverts Phantasie. Es war so groß, daß er zu vermuten begann, die Regierung müsse irgendwie daran beteiligt sein. Welche andere Antwort konnte es geben? Die ganze Anlage war einfach zu groß, um unbemerkt zu bleiben. Oder doch nicht? Wenn die Regierung daran beteiligt war, hätte seine Organisation davon gewußt. Der Chef hatte Zugang zu einigen der bestgehütetsten Staatsgeheimnisse gehabt; dafür gab es viele Beweise. Selbst Merrivale würde von einer so großen Sache wahrscheinlich gewußt haben. Mit diesen Überlegungen beschäftigt, kollidierte Janvert beinahe mit einem grauhaarigen Mann, der ihm im Weg stand. Hinter dem Mann schien die Leiste zu enden, und eine offene Eisentreppe führte steil empor. Der Grauhaarige hob die Rechte und machte seltsame Fingerbewegungen vor Janverts Gesicht. Janvert zuckte die Achseln. Der Mann wiederholte seine komplizierten Gesten und schüttelte dazu den Kopf. Er schien verwundert. Janvert hob die Waffe und richtete sie auf den Mann. Der andere wich erschrocken zurück. Sein Unterkiefer klappte herunter, die Augen starrten angstgeweitet. Wieder hob er die Hand und bewegte die Finger. »Was willst du?« fragte Janvert. Es war, als hätte er den Mann geschlagen. Der Grauhaarige | 317 |
wich noch einen Schritt zurück und blieb vor der untersten Stufe der Eisentreppe stehen. Er antwortete nicht. Janvert sah sich um. Sie schienen allein zu sein, und er konnte das Anwachsen der Spannung fühlen. Das Handsignal sollte ihm offensichtlich etwas bedeuten. Die Tatsache, daß er das nicht tat, wurde zunehmend deutlich und machte den Mann mißtrauisch. Janvert drückte kurz entschlossen auf den Knopf seiner Waffe, hörte ein kurzes Knistern und Summen, und der grauhaarige Mann brach zusammen. Janvert schleifte den Leichnam zum Rand der Leiste, überlegte, ob er ihn in den Fluß werfen solle, und entschied sich dagegen. Stromabwärts mochten Leute sein, die ihn sehen und zu Nachforschungen heraufkommen würden. Er ließ ihn liegen und stieg die Treppe hinauf. Die Treppe endete an einer Plattform, die den Verankerungspunkt für einen Laufsteg über den dahinschießenden Fluß bildete. Janvert verspürte keine sonderlichen Gewissensbisse, daß er einen weiteren Bewohner von Hellstrøms Bau getötet hatte. Er überquerte den Fluß und gelangte auf der anderen Seite in einen kurzen, engen Tunnel, der bald an einer Tür endete. Ein Handrad in der Mitte der Tür betätigte den Verschluß, und darüber war ein grün phosphoreszierendes A mit einem stilisierten Symbol daneben, das wie ein Insektenkörper ohne Kopf aussah. Janvert hielt die Waffe schußbereit in der Rechten und drehte das Handrad nach links. Zuerst wollte es nicht nachgeben, dann drehte es sich leicht bis zu einem plötzlichen Halt. Janvert zog am Rad, und als die Tür mit einem seufzenden Geräusch aufging, fühlte er Luftzug von hinten. Jenseits der Tür lag ein weiterer Gang in der trüben Beleuchtung kleiner runder Scheiben, die in weiten Abständen in die Decke eingelassen waren. Der Gang war schmal und führte nicht zu steil aufwärts. Janvert ging hinein, verschloß die Tür hinter sich, indem er das innere Handrad zudrehte. Dann begann er den Aufstieg. Sicherheitsabteilung, Meldung Nr. 7-A, Janvert: Ein Arbeiter, dessen Beschreibung auf Janvert zutreffen könnte, wurde | 318 |
in Ebene achtundvierzig nahe der Turbinenstation gesehen. Obwohl dies bedeuten würde, daß der Flüchtling sich im Stock abwärts bewegt, wird der Hinweis weiterverfolgt. Die Arbeiter, von denen der Hinweis kam, hielten ihn für einen leitenden Spezialisten, weil er langes Haar trug und im Besitz eines Betäubungsstabs war. Dies würde den Verdacht bestätigen, aber es bleibt ungewöhnlich, daß J. nicht versuchen sollte, sofort zur Oberfläche durchzubrechen. Nach ungefähr hundert Höhenmetern machte er in einem engen Gang halt, um zu verschnaufen. Der Stollen beschrieb etwa alle tausend Schritte eine scharfe Kehre, und Janvert vermutete, daß es eine Art Entlüftungsschacht sein müsse, aber bisher hatte er keine Öffnungen gesehen, und die Stille, der Staub und die Abwesenheit von Menschen sprachen von langem Nichtgebrauch. Konnte es sich um einen Notausgang handeln? Er wagte es nicht zu hoffen; er begnügte sich damit, daß der Gang ihn ungesehen der Erdoberfläche näherbrachte. Nach fünf weiteren Kehren kam er an die zweite Tür mit Handradverschluß. Er blieb stehen und sah sie an. Was mochte auf der anderen Seite sein? Es schien zweckmäßig, sich wenigstens durch einen Blick zu vergewissern. Er kurbelte das Handrad auf, stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür und drückte sie auf. Ein warmer, übelriechender Brodem schlug ihm entgegen. Er trat durch die Türöffnung auf einen schmalen eisernen Laufgang hinaus, der in halber Höhe einen runden, überkuppelten Raum von etwa hundert Schritten Durchmesser umgab. Der Boden dieses Raums senkte sich zum Mittelpunkt hin allmählich ab und wimmelte von Männern und Frauen, die sich in dichtem Gedränge paarten. Janvert starrte in völliger Verblüffung auf das Gewühl koitierender menschlicher Leiber hinab. Ein dumpfes, unruhiges Geräusch aus Grunzlauten, Stöhnen und klatschendem Fleisch erfüllte den weiten Raum. Paare trennten sich, stolperten zu neuen Partnern und fuhren in ihrer erstaunlichen Aktivität fort. Züchten! Er entsann sich Peruges Erzählung von der Nacht | 319 |
mit Fancy. Sie hatte es ›Züchten‹ genannt. Das Wort schien gut zu dieser Szene zu passen. Sie erregte kein sonderliches Interesse in ihm, stieß ihn sogar ab. Die feuchtwarme Luft stank nach Schweiß, Ungewaschenheit und Sekretionen. Dazu kam der unverwechselbare Hausgestank dieses ganzen Baus. Er bemerkte jetzt, daß der Boden feucht war und elastisch zu sein schien. Er hatte eine bläulichgraue Farbe und glänzte an den wenigen Stellen, die nicht von zuckenden, windenden, ineinander verkrampften Paaren besetzt waren. Zwischen den menschlichen Leibern in der Mitte des Raums machte er einen großen Kreis aus dunklerem Material aus, der ein Abfluß zu sein schien – ja, er war vergittert wie ein Bratrost, bei Gott! Das Gittermuster war als Abdruck auf der Haut einiger sich dort wälzender Leiber klar zu erkennen. Was könnte zweckmäßiger sein? Noch immer halb benommen, zog sich Janvert in den Gang zurück, verschloß die Tür und setzte den Aufstieg fort. Sein Gedächtnis trug das chaotische Bild dieses Raums mit sich. Er war sicher, daß er diese Szene niemals vergessen würde. Aber kein Mensch würde ihm glauben, wenn er draußen davon erzählte. Das mußte man sehen, sonst hielt man es nicht für möglich. Er passierte zwei weitere Türen mit Handrädern, bevor er sein inneres Gleichgewicht wiederfand. Er betrachtete jene Tür mit instinktivem Abscheu, versuchte sich vorzustellen, was er auf der anderen Seite finden mochte. Dies war ein gottverdammter menschlicher Ameisenhaufen! Sie lebten hier wie Insekten. Aber wie lebten Insekten? Sie taten, was kein Mensch freiwillig tun würde. Sie hatten Drohnen und Arbeiter und eine Königin und fraßen, was ihnen unterkam, tote Artgenossen eingeschlossen. Für Insekten war Fortpflanzung einfach – Fortpflanzung. Je mehr er darüber nachdachte, desto passender erschien ihm der Vergleich. Dies war kein geheimes Regierungsprojekt! Dies war ein Greuel, eine Ungeheuerlichkeit, eine Höllenvision, die ausgebrannt werden mußte! Sicherheitsabteilung, Meldung Nr. 16-A, Janvert: Beim Turbinenauslauf wurde der Leichnam eines getöteten Kraftwerk| 320 |
spezialisten aufgefunden. Er wurde mit einem Betäubungsstab getötet, was eindeutig auf Janvert verweist. Wahrscheinlich ist er in den alten Hilfsstellen, die während der Ausschachtung der unteren Ebenen angelegt wurden und später in das Notbelüftungssystem einbezogen wurden. Die Suche konzentriert sich dort. Janvert blieb vor der nächsten Tür stehen und lauschte. Von der anderen Seite waren schwache, rhythmische Pumpgeräusche zu hören, begleitet von leisem Zischen. Er drehte das Handrad, öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte hinein. Dieser Raum war niedrig und viel kleiner als der andere, aber immer noch weitläufig und unübersichtlich. Rote Leuchtstoffröhren tauchten ihn in diffuses, trübes Licht. Sobald Janverts Augen sich daran gewöhnt hatten, machte er lange Reihen niedriger Bänke aus, jede mit einem komplizierten Labyrinth transparenter Schlauchleitungen in Säulen an beiden Enden. Durch die Schlauchleitungen pulsierten Flüssigkeiten in brillant leuchtenden Farben, und dies lenkte ihn zuerst von dem ab, was zwischen den Säulen auf den Bänken lag. Als er es bemerkte, starrte er die Objekte in ungläubiger Benommenheit an, unfähig, dem Augenschein zu trauen. Auf jeder Bank lag der Stumpf eines menschlichen Körpers von der Taille bis zu den Knien. Manche waren unzweifelhaft männlich, wie das grotesk erigierte Glied bewies, die meisten weiblich. Unter den weiblichen Stümpfen gab es eine Anzahl, deren Leiber wie in einer Schwangerschaft aufgetrieben waren. Jenseits von Taille und Knien gab es nichts, was man sich als menschlich vorstellen konnte – nur diese Bündel von Schlauchleitungen mit ihren pulsierenden Farben und Flüssigkeiten. Waren diese grotesken Stümpfe echt? Janvert betrat zögernd den Raum, berührte den nächstbesten, einen männlichen Stumpf. Das Fleisch war warm! Er riß die Hand zurück, von Übelkeit gewürgt. Er zog sich zur Tür zurück, unfähig, seinen Blick vom grausigen Inhalt dieses Raums loszureißen. Dies waren lebende Stümpfe aus menschlichem Fleisch. Eine andere Erklärung war nicht möglich. Eine Bewegung in der entgegengesetzten Ecke des Raums ließ ihn | 321 |
aufmerken. Er sah Leute zwischen den Bänken umhergehen, sich bücken, die Stümpfe und Schlauchleitungen untersuchen. Es war wie die makabre Karikatur einer ärztlichen Morgenvisite im Krankenhaus. Janvert schlüpfte hinaus, bevor er gesehen wurde, schloß die Tür und preßte die Stirn gegen das glatte, kühle Metall ihrer Oberfläche. Diese Abteilungen dienten der menschlichen Reproduktion. Er konnte sich vorstellen, daß diese Monstrositäten allein für Zuchtzwecke am Leben erhalten wurden. Der Gedanke, daß sein eigenes Fleisch einer solchen entwürdigenden Bestimmung zugeführt werden könnte, machte ihn schaudern. Seine Knie zitterten, wollten ihn kaum noch tragen. Fortpflanzungsstümpfe! Irgendwo unter ihm wurde ein dumpfes Schlagen hörbar, und er spürte eine Luftdruckveränderung in den Ohren. Im nächsten Augenblick hörte er das leise Klatschen bloßer, rennender Füße. Sie sind hinter mir her! Entsetzt riß er die Tür auf, schlüpfte durch und verschloß sie hinter sich. Diesmal wurde die medizinische Prozession aufmerksam, aber ihre Teilnehmer konnten sich nur noch überrascht aufrichten und den Eindringling anstarren, bevor der Betäubungsstab sie zu Boden warf. Janvert stürzte durch den Alptraum dieser Schreckenskammer, versuchte die Stümpfe menschlicher Körper nicht anzusehen. Ein Bogengang führte hinaus in einen breiten Korridor, in dem es von Menschen wimmelte. Vom Schrecken verfolgt, wandte er sich nach links und drängte rücksichtslos durch die Menge, stieß Leute zur Seite und scherte sich nicht um das Aufsehen und die Neugierde, die sein Verhalten erregen mußte. Durcheinander und Verwirrung bezeichneten seinen Weg. Hände fuchtelten hinter ihm in der Luft, unartikulierte Ausrufe der Angst und des Erschreckens wurden laut. Janvert erreichte einen Aufzug, stieß einen Mann von der Öffnung fort und sprang in eine aufwärtsgleitende Kabine. Einen Augenblick lang starrte er in die Gesichter hinab, die verwirrt und alarmiert heraufstarrten, dann verschloß der Kabinenboden die Öffnung. | 322 |
Zwei Frauen und ein Mann teilten die Kabine mit ihm. Eine der Frauen sah wie eine ältere Version von Fancy aus, aber die jüngere hatte volles blondes Haar und gehörte zu den wenigen halbwegs natürlich aussehenden Bewohnern, die er in den Tiefen von Hellstrøms Ameisenhaufen gesehen hatte. Der Mann, völlig haarlos, mit einem schmalverkniffenen Fuchsgesicht und wachen, lebhaften Augen, erinnerte Janvert an Joseph Merrivale. Alle drei zeigten unverkennbare Neugierde, und der Mann beugte sich zu ihm und schnüffelte. Was er roch, schien ihn zu verwundern, denn gleich darauf schnüffelte er wieder. In Panik richtete Janvert die Beutewaffe gegen ihn und schwenkte sie weiter zu den Frauen. Sie fielen übereinander, als die Kabine eine weitere Öffnung passierte. Eine Frau mit schweren Brüsten und einem runden, leeren Gesicht versuchte einzusteigen, aber Janvert trat sie in den Bauch, daß sie rücklings zwischen die Leute hinter ihr fiel. Die Kabine glitt ohne Zwischenfall an einer weiteren Öffnung vorüber, dann an einer dritten. Als die vierte Öffnung kam, sprang er hinaus und kämpfte sich durch das Gewühl des Menschenstroms über den Korridor in einen schmaleren Seitengang, der ihn anzog, weil er beinahe leer war. Zwei Männer, die er zu Boden gestoßen hatte, rappelten sich auf und nahmen die Verfolgung auf, aber er brachte sie mit einer kurzen Energieentladung der Waffe zur Strecke, machte kehrt und floh um die nächste Ecke, rannte einen leeren Gang hinunter, nahm eine weitere Ecke und sah sich wieder im Hauptkorridor, mindestens hundert Meter von den Aufzügen entfernt. Ein wüstes Gedränge herrschte dort, ein wogendes Hin und Her von Gestalten, die alle in den Seitengang wollten. Janvert wandte sich in die andere Richtung, die Waffe aufrecht vor sich haltend, um sie vor den Leuten hinter ihm zu verbergen. Er zwang sich, seine Gangart dem allgemeinen Bewegungsrhythmus anzupassen und lauschte angestrengt nach Geräuschen, die auf Verfolgung schließen ließen. Der Lärm und die Unruhe blieben zurück, und er sah und hörte nichts von Verfolgern. Wenige hundert Meter weiter bog er nach links ab und gelangte, sich wieder nach rechts wendend, in einen schmalen, steil aufwärts führenden Gang. Dieser öffnete | 323 |
sich nach kurzer Zeit in einen weiteren großen Korridor mit einem Aufzug unmittelbar vor ihm. Ohne aufzufallen, schlüpfte er zwischen den Passanten durch und bestieg die erstbeste Kabine nach oben. Sie beschleunigte beängstigend, kaum daß er an Bord war, und er blickte alarmiert umher, ob irgendein Aufzugführer, den er nicht gesehen hatte, für diese Geschwindigkeit verantwortlich sei, aber er war allein in der Kabine. Öffnungen schossen vorüber. Er zählte neun und begann zu überlegen, ob Hellstrøm ihn in dieser ferngesteuerten Kabine wie in einer Mausefalle gefangen habe. Er wagte bei dieser Geschwindigkeit nicht hinauszuspringen. In wachsender Unruhe trat er zur Einstiegsöffnung und suchte die Seitenwände nach Bedienungselementen ab, aber es gab keine. Wie er so in der Öffnung stand, kam die Kabine zu einer weiteren Ebene und verlangsamte. Er sprang hinaus, prallte fast mit zwei Männern zusammen, die einen langen Wagen mit lose hineingeworfenem gelbem Gewebe schoben. Sie wichen ihm aus, grinsten und winkten, wobei ihre Finger die gleichen komplizierten Zeichen machten, die er bei dem grauhaarigen Mann am Wasser gesehen hatte. Janvert lächelte zurück, zuckte die Achseln, und die beiden gaben sich damit zufrieden. Janvert wandte sich nach rechts, fort von den beiden, und sah, daß der Korridor schon nach wenigen Metern an einem weiten Torbogen endete, hinter dem eine hell beleuchtete Maschinenhalle mit vielen, geschäftig hin und her eilenden Arbeitern zu sehen war. Er meinte nicht mehr umkehren zu können, ohne aufzufallen, und ging in die Halle hinein. Anscheinend handelte es sich um eine große Werkstätte zur Metallbearbeitung, denn er sah Drehbänke, Fräsmaschinen, eine große Presse und viele andere Maschinen, an denen Männer und Frauen arbeiteten, ohne auf ihn zu achten. Es roch nach Schmiermitteln und heißem Metall, und es hätte eine beliebige Fabrikhalle sein können, wäre nicht die Nacktheit der Arbeiter gewesen. Karren mit Behältern voll undeutbarer Metallgegenstände wurden zwischen den Maschinen durch die Gänge geschoben. Janvert versuchte sich geschäftig und ortskundig zu geben | 324 |
und schritt rasch und energisch durch den Saal, vorwärtsgetrieben von der Hoffnung, am anderen Ende einen Ausgang zu finden. Er bemerkte, daß die Leute ihm jetzt mehr Aufmerksamkeit zuwandten, und wunderte sich, warum das der Fall war. Eine Frau ging so weit, daß sie die Drehbank verließ, an der sie arbeitete, um ihn zu beschnüffeln. Janvert versuchte es mit seinem universalen Achselzucken, blickte an sich herab und sah, daß seine Haut von Schweiß glänzte. War sie, beim Leiden Christi, von seinem Schweiß angelockt worden? Am anderen Ende des Raums gab es keine offene Tür, und er begann sich in einer Falle zu fühlen, als er an der Wand ein Handrad sah, das ihn an die Türen weiter unten gemahnte. Die Tür selbst war nur als dünner Spalt in der Wand zu erkennen, doch als er das Handrad aufgedreht hatte, ließ sie sich nach außen öffnen. Er ging durch, als habe er jedes Recht dazu, und verschloß sie hinter sich. Wieder war er in einem engen, ansteigenden Gang. Er lauschte nach Geräuschen, hörte nichts und machte sich an den Aufstieg. Sein Rücken und seine Beine fingen an zu schmerzen, und er überlegte, wie lange er dies noch würde aushalten können. Sein Magen war leer, seine Kehle trocken. Doch die Verzweiflung trieb ihn vorwärts, und er wußte, daß er nicht nachlassen würde, bis seine Kräfte versagten. Er mußte von diesem gräßlichen Ort entkommen. Aus dem Leitfaden: Chemische Auslöser, die eine vorbestimmte Reaktion hervorrufen können, müssen in hinreichender Zahl entwickelt werden, um den ganzen Variationsbereich abzudecken. Das sogenannte rationale Bewußtsein des menschlichen Tiers stellt für einen solchen Auslöserprozeß kein unüberwindliches Hindernis dar, sondern lediglich eine Schwelle. Und sobald das Bewußtsein hinlänglich gedämpft ist, kann der Auslöser seine Wirkung tun. Hier, auf diesem Gebiet, das man einst als alleinige Domäne des Instinkts betrachtete, werden wir vom Stock unsere größten einigenden Kräfte entfalten. Hellstrøm stand in der Wachstube unter einem in der Zeichensprache des Stocks gestalteten Plakat, dessen Text sinngemäß | 325 |
lautete: ›Verwende alles – verschwende nichts‹. Es war drei Uhr früh, und er hoffte nicht mehr auf Schlaf; die Aussicht auf ein wenig Ruhe hätte ihm schon genügt. »Seht ihr die Veränderung des Luftdrucks?« sagte ein Beobachter hinter ihm. »Er ist wieder im Notbelüftungssystem. Wie macht er das bloß? Schnell, wo ist die nächste Suchmannschaft?« Dieser verdammte Janvert! dachte Hellstrøm. Der Mann war von einer geradezu teuflischen Findigkeit. Tote und verletzte Arbeiter, Verhaltensstörungen bei anderen, die von den herumrennenden Suchmannschaften ausgelöste wachsende Unruhe und Verwirrung – alles wirkte zusammen, um den ganzen Stock in Aufruhr zu versetzen. Es mochte Jahre dauern, bis alle Spuren dieser Nacht gefunden und beseitigt wären. Janvert war natürlich entsetzt und verzweifelt, und die Witterung davon breitete sich durch den Stock aus. Mehr und mehr Arbeiter nahmen dieses subtile Signal von einem Menschen auf, der nach seinen übrigen chemischen Markierungen einer der ihren zu sein scheint, und Angst und Unruhe verbreiteten sich gleich einer ansteckenden Krankheit. Es konnte leicht eine Krise daraus entstehen, wenn er nicht bald gefaßt wurde. Es war ein Fehler gewesen, seine Bewachung nicht zu verstärken, als er in den Normalzustand zurückgebracht worden war. Mein Fehler, dachte Hellstrøm bitter. Die Chemie der Gemeinschaft war in der Tat ein zweischneidiges Schwert. Seine Bewacher hatten sich unbewußt davon einlullen lassen. Wann hatte ein Arbeiter jemals seine Kameraden angegriffen? Hellstrøm seufzte und sagte: »Bringt die gefangene Frau hier herauf.« Jemand antwortete: »Sie ist noch bewußtlos.« »Nun, dann sorgt dafür, daß sie wiederbelebt wird, und bringt sie herauf!« Inschrift über den zentralen Bottichräumen: Es ist gerecht und heilig, daß wir unsere Körper hingeben, wenn wir sterben, damit die Bestandteile unseres vergänglichen Lebens nicht jener höheren Kraft verlorengehen, die sich in unserem Stock manifestiert. | 326 |
Bei der achten Kehre des ansteigenden Stollens ließ sich Janvert keuchend gegen die Tür fallen. Er konnte das kühle Metall durch sein Haar fühlen, als er den Kopf dagegen preßte und auf seine bloßen Füße hinabblickte. Gott, war es in dem Stollen heiß! Und der Gestank war noch schlimmer geworden. Er konnte keinen weiteren Schritt tun, ohne zu rasten. Das Herz hämmerte in seinem Brustkorb, die Knie zitterten ihm, Schweiß rann ihm übers Gesicht und tropfte vom Kinn. Er überlegte, ob er es riskieren sollte, in die Hauptkorridore zurückzugehen und einen Aufzug zu suchen. Er drückte das Ohr gegen die Tür und lauschte. Schwaches Maschinengestampfe und unbestimmte Geräusche drangen durch das dicke Stahlblech, als bewegten sich mehrere Menschen auf der anderen Seite. Das machte ihm Sorgen. Warteten sie dort auf ihn? Wieder preßte er das Ohr gegen die Tür und lauschte mit angehaltenem Atem, hörte nichts, was als direkte Bedrohung gedeutet werden konnte. Aber jemand war dort, kein Zweifel. Die unheimlichen Bewohner dieses menschlichen Bienenstocks. Wie viele mochten es insgesamt sein? Zehntausend? Und nicht einer von ihnen in den Einwohnerlisten. Die ganze unterirdische Stadt vermittelte den Eindruck einer heimlichen Zielstrebigkeit, die in schärfstem Gegensatz zur Außenwelt stand. Diese Leute lebten nach Regeln und Gesetzen, die alles leugneten, was der Rest der menschlichen Gesellschaft glaubte. Er erinnerte sich, wie Hellstrøm das Tischgebet gesprochen hatte. Heuchelei! Reine Heuchelei! Es war ein scheußliches, kribbelndes, wimmelndes Nest menschlicher Insekten. Die letzten Worte von Trova Hellstrøm: Die Arroganz des Außenseiters wird mit Sicherheit zu ihrem Untergang führen. Sie trotzen Mächten, die größer sind als sie selbst. Wir Bewohner des Stocks sind die wahren Geschöpfe der Vernunft. Wir werden nach Art der Insekten geduldig warten, mit einer Logik, die vielleicht kein wilder Außenseiter jemals verstehen wird, weil die Insekten uns gelehrt haben, daß der wahre Gewinner im Rennen um das Überleben derjenige ist, der es als letzter beendet. | 327 |
Janvert hatte ungefähr fünf Minuten gewartet, als die Furcht seine Müdigkeit überwand. Er war nicht wirklich ausgeruht, aber er mußte weiter. Er mußte einen Aufzug suchen, denn seine untrainierten Beine wollten nicht mehr, und seine Fußsohlen schmerzten, als ob sie von Messern aufgeschnitten wären, eine Folge des Barfußlaufens. Er richtete sich auf und wollte die Tür öffnen, als er am Rand seines Gesichtsfeldes eine Bewegung wahrnahm. Bewaffnete Verfolger kamen den Gang herauf, aber sie hielten beim Steigen die Waffen gesenkt und reagierten ein wenig zu langsam. Janvert hatte den Stab mit abwärts gerichtetem Ende in der linken Hand gehalten, während die rechte das Handrad umfaßt hatte, und so brauchte er nur auf den Knopf zu drücken, was sein Daumen beinahe reflexhaft tat. Die Gestalten unter ihm brachen zusammen, als das Knistern und Summen den engen Tunnel erfüllte. Janvert hatte keine Ahnung, ob die Waffe durch Wände wirkte, aber die Panik diktierte sein Handeln. Er hob die Waffe, drückte auf den Knopf und schwenkte sie im Halbkreis vor der Tür hin und her, ehe er sie öffnete. Sechs Gestalten lagen in wirrem Durcheinander hinter der Tür, als er öffnete, und eine hielt einen großkalibrigen, vernickelten Revolver mit geschnitztem Elfenbeingriff. Janvert hob die Waffe aus erschlafften Fingern, als er in den Raum trat. Er blickte umher, sah einen langen, schmalen Schlafraum mit dreistöckigen Betten entlang den Wänden. Die einzigen Bewohner waren die sechs Gestalten am Boden – alle männlich, alle nackt, alle bis auf einen kahl und alle bewußtlos, aber lebendig. Also betäubte die Waffe nur, wenn eine feste Barriere ihre Gewalt dämpfte. Janvert nickte befriedigt. Er hatte jetzt in jeder Hand eine Waffe, und eine von ihnen fühlte sich ermutigend vertraut an. Aus ›Die Weisheit der Wildnis‹: Der Weg zum Untergang einer Art beginnt mit dem stolzen Glauben, daß in jedem Individuum ein geistiges Wesen sei – eine Seele oder Persönlichkeit, ein Ego, Verstand, Geist oder Charakter –, und daß diese getrennte Inkarnation irgendwie frei sei. | 328 |
»Jetzt hat er einen Revolver«, sagte Hellstrøm. »Großartig! Einfach großartig. Ist er ein Übermensch? Vor weniger als einer halben Stunde war er in der zentralen Zuchtabteilung. Man versicherte mir, wir hätten ihn dort so gut wie in der Falle. Und jetzt? Jetzt höre ich, daß er acht Ebenen höher bereits zwei komplette Suchmannschaften ausgeschaltet hat!« Hellstrøm saß in der Mitte der Wachstube hinter den Beobachtern, so daß er alle Übertragerbildschirme im Auge behalten konnte. Der Stuhl, auf dem er saß, war die einzige Konzession an seine wachsende Müdigkeit. Während der vergangenen sechsundzwanzig Stunden hatte er kaum eine Ruhepause gehabt, und die Uhr in der Wachstube zeigte die vierte Morgenstunde. »Welches sind deine Befehle?« fragte der Beobachter vor ihm. »Was bringt dich auf die Idee, meine Befehle hätten sich geändert?« fragte Hellstrøm zurück. »Ihr habt ihn zu fangen!« »Willst du ihn immer noch lebendig?« »Mehr denn je! Wenn er wirklich so findig ist, müssen wir seine Erbmasse in unser Genreservoir einbringen.« »Er ist anscheinend wieder draußen in den Korridoren«, sagte der Beobachter. »Vermutlich. Sag den Suchtrupps, daß sie sich auf die Aufzüge konzentrieren sollen. Er hat einen langen Aufstieg hinter sich und wird müde sein. Die Suchmannschaften sollen jede Kabine kontrollieren und alle betäuben, die ihnen zweifelhaft erscheinen. Ich weiß!« Hellstrøm hob beruhigend die Hand, als der Beobachter sich schockiert umwandte. »Es läßt sich nicht ändern.« »Aber unsere eigenen ...« »Besser, wir tun es, als es ihm zu überlassen. Du weißt, was er angerichtet hat. Er hat seinen Betäubungsstab offensichtlich auf maximale Energieentladung eingestellt, ohne etwas davon zu verstehen. Er tötet die Arbeiter damit. Ich empfinde darüber die gleiche Entrüstung wie ihr alle, aber wir müssen uns klarmachen, daß er in Panik ist und nicht weiß, was er tut.« »Er weiß genug, um uns zu entwischen!« murmelte jemand | 329 |
hinter Hellstrøm. Hellstrøm ließ das Zeichen von Unzufriedenheit unbeachtet und fragte: »Wo bleibt die Gefangene? Es ist fast eine Stunde her, daß ich Anweisung gab, sie heraufzubringen.« »Sie mußte erst wiederbelebt werden, Nils. Sie bringen sie schon.« »Dann sag ihnen, sie sollen sich beeilen!« Aus dem Leitfaden: Eine unserer Stärken liegt im Vorteil der Mannigfaltigkeit, die wir durch die Anwendung des Sozialverhaltens von Insekten gegenüber dem Sozialverhalten des wilden menschlichen Tiers gewinnen. Wenn wir uns diese Lektion immer vor Augen halten, werden wir die ersten sein, die in der langen Geschichte des Lebens auf dem Planeten ihre eigene Zukunft entwerfen. Janvert stand hinter zwei Frauen und zwei Männern in einer aufwärts fahrenden Aufzugkabine. Die vier waren bei seinem Zusteigen unruhig geworden, was er mit einer blutigen Schramme an seiner Wange in Verbindung brachte, die er sich irgendwo zugezogen hatte. Eine herrische Geste mit der Waffe hatte sie zur Ruhe gebracht, doch hatte er das komische Gefühl, daß nicht die Waffe, sondern die Geste selbst ihre Reaktion ausgelöst hatte. Um die Probe aufs Exempel zu machen, klemmte er den Revolver unter den rechten Arm, als einer der Männer sich umwandte, und bewegte die erhobene Handfläche hin und her. Es war, als habe er gesagt: Dreh dich um und laß mich in Ruhe! Der Mann wandte sich tatsächlich um, wackelte mit den Fingern zu seinen Gefährten, und von da an beachteten sie Janvert nicht mehr. Er wußte jetzt, wie diese Schnellaufzüge in den oberen Enden funktionierten. Während der Fahrt blieb man im hinteren Teil der Kabine stehen. Trat man vorwärts, verlangsamte sich die Geschwindigkeit, und man konnte aussteigen. In der Nähe des Einstiegs mußte es eine Kontaktfläche geben, die ein unsichtbares Steuergerät ein- und ausschaltete. Nach einer Weile wandte eine der Frauen den Kopf und nickte zu der Einstiegsöffnung, an der die graue Betonwand des Aufzugschachts vorbeiglitt. Kamen sie zum obersten Geschoß? | 330 |
Die anderen traten alle zusammen vorwärts, und prompt verlangsamte die Aufzugkabine ihre Fahrt. Janvert hielt sich bereit, mit ihnen auszusteigen. Die Öffnung kam in Sicht, und Janvert sah eine Menge nackter Beine und die Doppelspitzen zweier Waffen, die auf seine Kabine gerichtet waren. Sofort drückte er auf den Feuerknopf und schwenkte seine Waffe von rechts nach links und zurück, und mähte die draußen wartenden Verfolger samt seinen Mitpassagieren nieder. Er sprang über die aufeinanderstürzenden Leichen in den Korridor hinaus und schickte summende Energie in alle Richtungen, bevor er nach rechts rannte, teils auf dem kalten Boden, teils auf dem warmen Fleisch der Gefallenen. Als er rannte, hörte er hinter sich ein Knirschen und Platschen, blickte zurück, ohne anzuhalten. Einer seiner Mitpassagiere war mit dem Kopf über die Türöffnung gefallen, und die aufwärts beschleunigende Aufzugkabine hatte ihn beim Erreichen der Geschoßdecke geköpft. Der Kopf rollte in einer großen Blutlache am Boden, der Rumpf wurde nach unten getragen. Janvert lief weiter und wunderte sich, daß er nichts empfand. Überhaupt nichts. Der Mann war bereits tot gewesen. Es spielte keine Rolle, was danach mit dem Leichnam geschah. Indem er sich mit wiederholten summenden Energieentladungen freie Bahn schuf, trottete Janvert den Korridor entlang und um eine Ecke, wo er sich einer weiteren Gruppe von Aufzugbewachern gegenübersah. Sie fielen übereinander, als er sie mit der Waffe überraschte, aber weiter voraus kam eine neue Gruppe durch den Korridor auf ihn zugerannt, und er hörte ihre Waffen knistern und summen. Offenbar waren sie außer Reichweite. Er brachte den Revolver in Anschlag, feuerte das Magazin leer, sprang in die erste Aufzugkabine nach oben und ließ sich zwei Stockwerke höher tragen, bevor er in einen Korridor hinaussprang, dessen Öffnung unbewacht geblieben war. Er durchquerte den Korridor und gewann eine weitere, steil aufwärtsführende Rampe, die er bei der ersten Türöffnung zu seiner Rechten wieder verließ. Diese führte in eine weitere Plantagenhalle mit Hydrokulturen, die gerade abgeerntet | 331 |
wurden. Er sah Tomaten, Beeren und Karotten und schleuderte den leeren Revolver auf einen Arbeiter, der ihm protestierend den Weg vertreten wollte. Er rannte ohne Aufenthalt weiter und feuerte die Beutewaffe nach vorn, schwenkte sie rücksichtslos nach rechts und links. Tomaten aus umkippenden Erntesäcken kollerten wie Billardkugeln herum, und ihr rotes, saftiges Fruchtfleisch bespritzte ihm Füße und Beine, als er rutschend und stolpernd seinen Weg durch das Chaos suchte. Als er sich der Rückwand der langen Halle näherte, zeigte sich eine Reihe kleiner Öffnungen. Sie befanden sich in Brusthöhe, und bald konnte er Bewegungen ausmachen. Gefüllte Säcke glitten hinter den Öffnungen von unten nach oben – dann Körbe, Kästen. Er sah verschiedene Beeren, dunkelgrüne Gurken, Bohnen ... Ein Speisenaufzug! Keuchend machte er halt und überblickte die Wand. Es gab keine Tür, nur diese Öffnungen, durch die Ernteprodukte in das Fördersystem verladen wurden. Dieses bestand aus rechteckigen Trägerplatten an einem einfachen Mechanismus aus Ketten und Gleitschienen. Die Öffnungen waren ungefähr einen Meter breit und einen halben Meter hoch, und die Transportplatten des Fördersystems schienen keine sehr viel größere Fläche zu haben. Konnte er da hineinkriechen? Die Trägerplatten bewegten sich mit beängstigender Geschwindigkeit aufwärts. Aber bei den Ausgängen auf der anderen Seite wurden tumulthafte Geräusche laut. Welche andere Möglichkeit blieb ihm? Er konnte nicht zurück. Janvert zwängte sich mühsam in die nächstbeste Öffnung und harrte in prekärer Lage auf dem schmalen Sims aus, bis eine leere Trägerplattform heraufkam, dann zwängte er sich hinein. Er fiel hart, und die Platte unter ihm schwankte, aber er konnte sich auf ihr halten, drückte seine Waffe an sich und umklammerte, auf der Seite liegend, die Schienbeine mit beiden Händen. Sein Rücken stieß an die Schachtwand, als die Plattform ihn emportrug, und er verlor ein Stück Haut, bevor er freikommen konnte. Das Fördersystem bestand aus zahlreichen parallel laufen| 332 |
den Aufzugketten in einem schmalen langen Schacht, der sein einziges Licht aus den Beladeöffnungen empfing. Janvert konnte viele Ladeplattformen sehen, die zu beiden Seiten von ihm aufwärts glitten, und der frische feuchte Geruch von Gemüse und Früchten löschte hier den sonst allgegenwärtigen Gestank aus. Er passierte weitere Ladeöffnungen, blickte in das erschrockene Gesicht einer Frau, die einen Korb mit kleinen gelben Früchten verladen wollte. Er spähte angestrengt nach oben, bemüht, herauszufinden, wie das System endete. Entleerte es seine Lasten womöglich in Sortier- und Zerkleinerungsmaschinen? Gab es dort oben ein Arrangement von Fülltrichtern und Saftpressen, oder wartete ein Förderband auf ihn? Seine unbehagliche Spannung wuchs, als weit über ihm ein breiter Lichtstreifen sichtbar wurde und er den anschwellenden Lärm von Maschinenanlagen hören konnte. Bald übertönte es das Rasseln, Klappern und Schlagen der Aufzugkette, die ihn beförderte. Licht und Lärm rückten unaufhaltsam näher, er spannte sich in banger Erwartung und wurde trotzdem völlig überrascht, als ein Auslösemechanismus seine Transportplatte kippte und ihn in einen großen Behälter mit gelben Karotten warf. Janvert rappelte sich auf, bekam den Behälterrand mit der linken Hand zu fassen und kletterte mit einiger Mühe hinaus in einen Raum voll langer, hüfthoher Tröge, in denen der blasigdünne Brei eingestampfter Früchte schwappte. Überall gingen Arbeiter durch die Gassen und entleerten Behälter mit Ernteprodukten in die Tröge. Janvert mußte vom Rand des Karottenbehälters zwei Meter hinunterspringen und glitt auf dem schlüpfrigen Boden so unglücklich aus, daß er an eine Frau taumelte, die mit einem leeren Behälter auf Rädern des Weges kam. Janverts Anprall warf sie zu Boden. Mit einem Energiestoß aus seiner Waffe sorgte er dafür, daß sie nicht wieder aufstand, eilte rutschend und ausgleitend weiter. Saft und Fruchtfleisch zerquetschter Tomaten hafteten ihm an den Füßen, und der Boden selbst trug eine Schicht aus zertretenen Frucht- und Gemüseabfällen von den Verarbeitungsanlagen ringsum. | 333 |
Bevor er einen Ausgang erreichte, mußte er an einem Arbeitertrupp vorbei, aber die Leute waren von oben bis unten mit Verarbeitungsrückständen bespritzt und beachteten ihn nicht. Er gelangte ohne Schwierigkeiten zum Ausgang, wo er unerwartet von einem kalten Wasserguß aus mehreren Reihen Sprühdüsen in der Decke getroffen wurde. Er keuchte, schnappte nach Luft, platschte mit rudernden Armen durch den Wasservorhang und war beinahe sauber, als er auf der anderen Seite in einen breiten, schlecht beleuchteten Korridor hinauskam. Wasser troff von ihm und der Beutewaffe in seiner Hand und sammelte sich in einer Pfütze um seine Füße, aber es gab überall im Umkreis ähnliche Pfützen. Janvert blickte nach links. Der Korridor erstreckte sich dort in Ungewisse Fernen, aber wenige Leute waren unterwegs, und niemand schien sich für ihn zu interessieren. Er blickte nach rechts und sah eine Wandnische, in der eine steile Eisentreppe aufwärts führte. Das war seine Richtung. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Luft rein war, ging er hinüber und begann die Treppe zu ersteigen. Seine Beinmuskeln schmerzten bei jeder Stufe, aber der Wasserguß hatte ihn erfrischt und aufgemuntert. Die Treppe war nicht hoch, und nach vielleicht zwanzig Stufen sah er Beine auf dem oberen Absatz erscheinen. Er schaltete seine Waffe ein und ließ sie summen, während er die restlichen Stufen erstieg. Fünf leblose Gestalten lagen in einem runden, höhlenähnlichen Raum, wo die Treppe endete. Er stieg über sie hinweg und trat zu einer Tür, die nur durch einen Stangenriegel und eine Klinke mit Schnappschloß gesichert war. Er zog den Riegel und drückte die Klinke nieder. Die Tür öffnete sich quietschend und gab den Blick auf feuchte Erdwände und die hochragenden Wurzeln eines Baumstumpfs frei, den ein verborgenes System von Hebeln und Gegengewichten gleichzeitig mit der Türbewegung nach außen gekippt haben mußte. Janvert zog sich an dem Baumstumpf vorbei in sternklare Dunkelheit, hörte die Tür hinter sich zuquietschen. Der Baumstumpf fiel mit dumpfem Schlag in seine tarnende Position zurück. Janvert stand fröstelnd in der kalten Nachtluft. | 334 |
Es dauerte einen Moment, ehe ihm aufging, daß er wirklich aus Hellstrøms Irrenhaus menschlicher Insekten entkommen war. Er blickte empor: Sterne. Kein Zweifel, er war draußen. Aber wo? Das Sternenlicht gab ihm wenig Hinweise auf seine Umgebung. Unmittelbar voraus konnte er die tiefschwarzen, klumpigen Formen von Büschen und Bäumen sehen. Er bückte sich nach dem Baumstumpf, der den Ausgang tarnte. Seine Fingerspitzen befühlten eine harte, unebene Oberfläche, die nur natürliches Holz sein konnte. Seine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, und die geglückte Flucht aus dem unterirdischen Labyrinth hatte Kräfte in ihm freigesetzt, von deren Existenz er nichts gewußt hatte. Links voraus zeichnete sich am Horizont schwacher Lichtschein ab, und er vermutete, daß dort Fosterville liegen mußte. Er versuchte sich an die Entfernung zu erinnern. Fünfzehn Kilometer? Sein erschöpfter und übermüdeter Körper würde das barfuß und ohne Kleider niemals schaffen. Die Gegend vor ihm schien ein sanft geneigter Grashang mit einzelnen Büschen und Baumgruppen zu sein. Er wußte, daß er nicht länger warten durfte. Bald würde man die Leichen finden, die er zurückgelassen hatte, und dann würden Hellstrøms Leute ihn hier draußen verfolgen. Er mußte Distanz zwischen sich und diesem geheimen Ausgang legen. Gleichgültig, wie er es anfing, er mußte in die Zivilisation zurückkehren und berichten, was er gesehen hatte. Er nahm den Lichtschein von Fosterville als Kompaßpunkt und machte sich auf den Weg, die Beutewaffe fest in der rechten Hand. Dieses Ding war der Beweis für seine Glaubwürdigkeit, wenn er seine Geschichte erzählte. Eine Demonstration an einem Tier würde alle Zweifel zum Verstummen bringen. Der unebene Boden folterte seine bloßen Füße mit Steinen, Wurzeln und Disteln. Er stolperte, hinkte, rannte unvermittelt in einen durchhängenden Drahtzaun und fiel über ihn in den Staub eines schmalen Fahrwegs. Er rappelte sich auf und versuchte im Sternenlicht den Verlauf des Fahrwegs auszumachen. Die Doppelspur schien nach links in die allgemeine Richtung von Fosterville zu führen, und Janvert beschloß ihr zu folgen. Die nackte, staubige Erde tat seinen geschundenen Füßen wohl, und trotz zunehmender | 335 |
Erschöpfung kam er wieder schneller voran. Der Fahrweg führte durch eine Mulde, und für die Dauer einiger Minuten verlor er den Lichtschein aus den Augen, doch auf der nächsten Anhöhe konnte er ihn wieder erkennen. Der Staub, den er mit den Füßen aufwirbelte, kitzelte ihn in der Nase. Eine matte Brise berührte seine unbedeckte rechte Körperseite wie mit Federn. Der Fahrweg neigte sich wieder und beschrieb eine sanfte Rechtskurve in die tiefere Dunkelheit einer Baumgruppe. In der Kurve war der Weg ausgefahren, und Janvert stieß sich den kleinen Zeh des linken Fußes schmerzhaft am steinhart getrockneten Rand der eingeschnittenen Radspur. Er zischte einen Fluch, kniete nieder und nahm den verletzten Zeh in die Hand, bis der Schmerz nachließ. Als er wieder aufstehen wollte, sah er in der Dunkelheit direkt voraus ein plötzliches Aufflackern von Licht. Ohne zu überlegen, riß er die Beutewaffe hoch, zielte und gab einen summenden Energiestoß ab. Das Licht erlosch. Er richtete sich auf, tastete mit vorgestreckter Hand weiter, die Waffe an der rechten Hüfte. Der Weg war zu beiden Seiten von lockeren Baumgruppen und Büschen umgeben, und in der fast undurchdringlichen Dunkelheit unter den ausladenden Kronen der Eichen sah er das Hindernis erst, als er im Begriff war, hineinzurennen. Ein Wagen! Er bewegte sich vorsichtig näher, ritzte sich den Unterarm an einer Kühlerverzierung und tastete sich mit einer Hand zur linken Wagenseite. Das Fenster an der Fahrerseite war bis auf einen handbreiten Spalt geschlossen, und als er hineinspähen wollte, zog ihm Tabakrauch in die Nase. Sehen konnte er nichts, aber aus dem Wageninneren drang ein rhythmisches Schnaufen. Er tastete nach dem Türgriff, riß die Tür auf und erschrak, als der automatische Schalter die Innenbeleuchtung aufstrahlen ließ. In ihrem Licht sah Janvert zwei Männer in Straßenanzügen, sauberen weißen Hemden und Krawatten zusammengesunken in den Vordersitzen liegen. Der Fahrer hielt eine schwelende Zigarette, die ein kreisrundes Loch in sein linkes Hosenbein gebrannt hatte. Janvert nahm die Ziga| 336 |
rette und warf sie in den Staub, klopfte das glimmende Gewebe mit einer Hand aus. Der Mann hatte eine Zigarette angezündet – das flackernde kleine Licht, auf das er gefeuert hatte. Die Waffe war also nur auf kurze Distanz tödlich. Wände und weitere Entfernungen schränkten ihre Wirksamkeit ein. Ihre Reichweite war offenbar begrenzt. Janvert packte den Fahrer bei der Schulter und schüttelte ihn, aber ein kraftlos von einer Seite zur anderen fallender Kopf war die einzige Reaktion. Die beiden waren bewußtlos. Doch bei der Bewegung hatte sich die Jacke des Mannes geöffnet und enthüllte ein Schulterhalfter mit einer Pistole. Janvert nahm die Waffe an sich, dann fiel sein Blick auf den Sender unter dem Armaturenbrett. Das waren nicht Hellstrøms Leute! Diese beiden waren Polizisten! Ein Axiom des Stocks: Ihr Außenseiter! Wir wollen nicht euch, wir wollen eure Kinder! Und wir werden sie kriegen, auch über eure Leichen hinweg! »Wie kann er draußen sein?« rief Hellstrøm mit heiserer Stimme. Entrüstung verstärkte die jäh in ihm aufbrandende Furcht. Er eilte von der dunklen Nordseite der Wachstube zu der Frau an der Übertragerkonsole, die ihn gerufen hatte. »Er ist draußen«, sagte sie. »Da, sieh selbst!« Sie zeigte auf den grün leuchtenden Bildschirm, auf dem Janverts Gestalt zu sehen war. Die Übertragung der durch ein Nachtsichtgerät aufgenommenen Szene ließ seine Konturen flimmern. Er bewegte sich langsam den staubigen Fahrweg entlang, eine winzige Figur im leeren Grasland. »Das ist der nördliche Perimeter«, murmelte Hellstrøm. »Wie ist er da hinausgekommen?« Widerwillige Bewunderung für diesen unglaublichen Mann kämpfte in ihm mit anschwellender Wut. Janvert war draußen! »Wir bekommen Meldungen über Störungen auf Ebene drei«, rief ein Beobachter links von Hellstrøm. »Er muß einen der versteckten Ausgänge auf Ebene drei | 337 |
gefunden haben«, sagte Hellstrøm. »Aber wie konnte er so weit kommen? Er wird jeden Augenblick diesen Wagen mit den Beobachtern erreichen! Der Wagen steht zwischen den Bäumen.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Haben sie ihn schon gehört?« »Eine Suchmannschaft ist draußen und nimmt die Verfolgung auf«, rief ein Wacharbeiter zur Linken. »Sie waren auf fünf und mußten einen zentralen Ausgang nehmen.« Die Frau vor Hellstrøm sagte: »Kurz bevor ich ihn sah, bekam ich einen Interferenzblitz, als ob er die Waffe gebraucht hätte. Könnte er die Beobachter in diesem Wagen betäubt haben?« »Oder vielleicht getötet«, sagte Hellstrøm. »Wäre nicht mehr als recht und billig. Wer beobachtet den Wagen?« »Die Gruppe wurde vor einer Stunde zurückgezogen, um bei der Suche nach dem entkommenen Gefangenen zu helfen«, sagte jemand hinter ihm. Hellstrøm nickte. Natürlich! Er hatte den Befehl selbst gegeben. »Die Außenseiter im Wagen haben seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen«, sagte der Mann zu seiner Linken. »Wir haben das Abhörgerät an dem Baum, hinter dem der Wagen steht. Ich kann jetzt im Kopfhörer Janverts Schritte hören – die Außenseiter im Wagen scheinen bewußtlos zu sein. Sie röcheln, wie Außenseiter es immer tun, wenn man sie stark betäubt.« »Vielleicht ist es endlich eine Chance für uns«, meinte Hellstrøm. »Wo ist die Suchmannschaft?« »Noch etwa fünf Minuten entfernt«, sagte jemand hinter ihm. »Schickt sofort zwei weitere Gruppen in das Grasland zwischen ihm und dem Ort«, befahl Hellstrøm. »Für alle Fälle.« »Was ist mit den anderen Wagen dort draußen?« fragte die Frau vor ihm. »Unsere Arbeiter werden ihnen aus dem Weg gehen und keine Aufmerksamkeit auf sich lenken! Der Teufel soll diesen Janvert holen!« Wie hatte der Mann entkommen können? Der Stock brauchte | 338 |
findige Köpfe wie ihn. »Er hat den Wagen erreicht«, sagte der Wacharbeiter zu seiner Linken. Eine andere Stimme sagte: »Jetzt scheint klar zu sein, wie er hinausgekommen ist.« Sie wandte sich um und berichtete mit knappen Worten, was die Suchtrupps auf Ebene drei gefunden hatten. Er muß mit dem Lebensmittelaufzug gefahren sein! sagte sich Hellstrøm. Der Außenseiter war Risiken eingegangen, an die ein gewöhnlicher Arbeiter nicht einmal denken würde. Die Implikationen, die sich daraus ergaben, verdienten gründliche Überlegung. Aber das hatte Zeit. »Ist der gefangenen Frau gezeigt worden, was mit ihr geschehen wird, wenn sie versagt?« fragte Hellstrøm. »Es ist ihr gezeigt worden, Nils«, sagte jemand hinter ihm. In der Stimme war ein Unterton von Widerwillen. Hellstrøm nickte. Er verabscheute es selbst, aber es war eine Notwendigkeit, und sie alle mußten es einsehen. »Bringt sie herein«, sagte Hellstrøm. Sie mußten die kleine Frau hereinschleifen und auf beiden Seiten stützen, als sie vor Hellstrøm stehenblieben. Er sprach langsam und deutlich wie zu einem Kind, und hatte dabei das Gefühl, sich für den Stock aufzuopfern. »Clovis Carr«, sagte er. »Das ist der Name, den Sie uns nannten. Identifizieren Sie sich noch damit?« Sie starrte in das vom grünen Widerschein leichenfahl gefärbte Gesicht des Mannes und war zu keiner Antwort fähig. Es ist ein Alptraum, sagte sie sich. Es muß ein Alptraum sein. Ich werde aufwachen und entdecken, daß das alles nicht wahr war. Sie stand noch unter Schockwirkung, aber Hellstrøm sah das Wiedererkennen in ihren Augen, das von der Nennung ihres Namens ausgelöst wurde. »Ihr Freund Janvert wird gleich in Hörweite eines Lautsprechers sein, den wir dort draußen haben, Miß Carr«, sagte er und zeigte zum Bildschirm. »Ich werde ihn dann rufen, aber es wird an Ihnen sein, Janvert zur Rückkehr zu bewegen. Ich bedaure zutiefst, daß wir Ihnen diese Seelenqual bereiten müssen, aber Sie sehen die Notwen| 339 |
digkeit. Wollen Sie es versuchen?« Ihr Gesicht war eine starre Maske des Schreckens, aber sie nickte. »Sehr gut«, sagte Hellstrøm. »Sie müssen positiv denken, Miß Carr. Sie müssen an den Erfolg glauben. Ich denke, Sie können das tun.« Wieder nickte sie, aber es war, als habe sie keine bewußte Kontrolle über ihre Muskeln. Aus dem Leitfaden: Die Gesellschaft selbst muß als lebender Organismus verstanden werden. Die gleiche Ethik und Moral, die uns im Umgang mit dem geheiligten Fleisch des Einzelwesens leitet, muß Richtschnur unseres Handelns sein, wenn wir in die Abläufe der Gesellschaft eingreifen. Janvert griff nach dem Mikrofon des Senders, kaum imstande, zu glauben, daß dieses Bindeglied zur Zivilisation in seiner Reichweite war, als irgendwo über und hinter ihm eine Stimme losdröhnte: »Janvert!« Er fuhr zurück, warf die Tür zu, um die Innenbeleuchtung des Wagens auszuschalten, sprang vor den Kühler und kauerte dort, die Waffe nach oben in die Dunkelheit gerichtet. »Janvert, ich weiß, daß Sie mich hören können.« Die Stimme war sehr deutlich und kam irgendwo aus den Bäumen, aber die Dunkelheit machte es Janvert unmöglich, Einzelheiten zu erkennen. Er verharrte ohne Bewegung mit unwillkürlich angehaltenem Atem, umschlüssig. Wie dumm war er gewesen, die Innenbeleuchtung des Wagens eingeschaltet zu lassen! »Ich wende mich über ein Lautsprechersystem an Sie, Janvert«, fuhr die Stimme fort. »An einem Baum in Ihrer Nähe ist ein elektronisches Gerät befestigt. Es wird Ihre Antwort aufnehmen und an mich übermitteln. Sie müssen mir jetzt antworten.« Ein Lautsprecher! Janvert verfluchte seine Panik, die ihn einen Augenblick lang glauben gemacht hatte, der andere sitze in der Nähe auf einem Baum. Trotzdem blieb er still und | 340 |
rührte sich nicht von der Stelle. Es war ein Trick. Sie wollten ihn zum Sprechen bringen, um seinen genauen Standort auszumachen. »Wir haben jemanden hier, der zu Ihnen sprechen möchte«, sagte die Stimme. »Passen Sie gut auf, Janvert!« Zuerst erkannte er die neue Stimme nicht, die nun aus dem Lautsprecher drang. Sie klang so angestrengt und gequält, als koste sie jedes Wort übermenschliche Anstrengung. Aber es war eine Frauenstimme, und sie sagte: »Eddie! Hier spricht Clovis. Bitte antworte mir!« Clovis war die einzige, die ihn Eddie nannte. Alle anderen gebrauchten dieses verhaßte ›Shorty‹. Er starrte in die Dunkelheit hinauf, aus der die Stimme kam. Clovis? »Eddie«, sagte sie, »wenn du nicht zurückkommst, werden sie mich hinunterbringen, in einen – einen Raum, wo sie – wo sie einem die Beine und den Rest abschneiden ...« Sie begann zu schluchzen. »Die Beine und den Rest des Körpers in der Mitte, und – o Gott! Eddie, ich habe solche Angst. Eddie! Bitte antworte mir! Bitte komm zurück!« Janvert erinnerte sich nur zu gut an diesen Saal mit den künstlich am Leben erhaltenen Stümpfen menschlicher Leiber, den farbigen Flüssigkeiten in Schlauchleitungen, der scheußlich betonten Sexualität. Plötzlich kam eine andere Erinnerung dazwischen: der abgequetschte Kopf vor dem Paternosteraufzug, die Blutlache, seine eigenen, durch rotes Fruchtfleisch trampelnden Füße, sein bespritzter Körper ... Er erbrach sich. Clovis’ Stimme fuhr in angstvoll bittendem Ton fort: »Eddie, bitte, kannst du mich hören? Bitte! Laß nicht zu, daß sie das mit mir machen. O Gott! Warum antwortet er nicht?« Ich kann ihr nicht antworten, dachte Janvert. Aber er mußte reagieren. Er mußte etwas tun. Seine Brust schmerzte, und der widerliche Geruch des eigenen Erbrochenen stieg ihm in die Nase, aber er hatte einen klaren Kopf. Er stand auf, stützte sich auf die Kühlerhaube des Wagens. Hellstrøm!« rief er. »Hier bin ich.« Es war wieder die erste Stimme. »Wir kann ich Ihnen vertrauen?« fragte Janvert. Er tastete | 341 |
sich am Wagen entlang zur Tür zurück. Er hatte sich schreckhaft wie ein Anfänger benommen. Inzwischen hätte er längst mit der Einsatzleitung der Polizei Verbindung aufnehmen können. Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. »Wenn Sie zurückkommen, werden wir weder Ihnen noch Miß Carr etwas zuleide tun«, sagte Hellstrøm. »Wir lügen in solchen Dingen nicht, Mr. Janvert. Wir werden Ihnen die notwendigen Beschränkungen auferlegen, aber keinem von Ihnen wird etwas geschehen. Sie und Miß Carr werden Zusammensein und jede Beziehung zueinander unterhalten dürfen, die Sie wünschen, aber wenn Sie nicht sofort zu uns zurückkehren, werden wir unsere Drohung wahr machen. Es wird mit tiefstem Bedauern geschehen, aber wir werden es tun. Unsere Einstellung zu einem zeugungsfähigen Sexualstumpf unterscheidet sich sehr von der Ihrigen, Mr. Janvert. Glauben Sie mir.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Janvert. Er hatte die Hand am Türgriff und zögerte wieder. Was würden sie tun, wenn er die Tür öffnete und zum Mikrofon griff? Sie hatten Lautsprecher und ein Abhörmikrofon in der Nähe, und das war offenbar noch nicht alles; sie wußten, was er machte. Vielleicht hatten sie inzwischen eine Suchmannschaft in der Nähe. Er mußte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Er hob die Beutewaffe mit der Absicht, die Umgebung zu bestreichen, hielt jedoch in der Bewegung inne, als Clovis’ Stimme wieder aus dem Lautsprecher schluchzte und seinen Namen rief: »Eddie – Eddie – bitte hilf mir! Ich kann nicht mehr! Mach, daß es aufhört ...« Er schloß die Augen. Was konnte er tun? Während ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, spürte er ein Prickeln an Rücken und rechter Seite und hörte ein entferntes Summen, das ihn auf die staubige Erde neben dem Wagen fegte. Aber er hörte es nicht mehr, als er ausgestreckt im Staub lag. Aus dem Leitfaden: Schützende Ähnlichkeit ist für uns immer ein wesentlicher Überlebensfaktor gewesen. Dies zeigt sowohl die mündliche Überlieferung als auch das früheste schriftliche | 342 |
Zeugnismaterial, das uns erhalten geblieben ist. Die Mimikry, welche unsere Vorfahren den Insekten abschauten, trägt wesentlich zu unserem Schutz vor Angriffen der wilden Außenseiter bei. Die Beobachtung der Insekten lehrt uns jedoch, daß der Überlebenswert dieses Mittels gering bleibt, solange wir es nicht vervollkommnen und mit anderen Techniken verbinden, insbesondere neuen Techniken, die wir ständig suchen und entwickeln müssen. Zum Ansporn in diesem Bemühen müssen wir uns die Außenseiter stets als räuberische Lebensform denken. Sie werden angreifen, wenn sie uns finden. Eines Tages werden sie uns mit Sicherheit finden, und wir müssen auf diesen Tag vorbereitet sein. Unsere Vorbereitungen müssen sowohl defensive als auch offensive Züge tragen. Was Offensivwaffen betrifft, so wollen wir uns immer das Insekt zum Vorbild nehmen – die Waffe muß jeden Angreifer gegen eine Wiederholung von Gewalttaten gegen uns konditionieren. Die Erschütterung des Stocks nahm tief unter der Wachstube ihren Ausgang und breitete sich mit Schockwellen aus, die von seismischen Stationen in allen Teilen der Welt registriert wurden. Als sie aufhörte, dachte Hellstrøm: Erdbeben! Aber es war ein Stoßgebet, kein Erkennen. Zehnmal lieber ein Erdbeben als ein weiterer Fehlschlag beim Projekt 40! Nach Janverts neuerlicher Gefangennahme vor kaum zwanzig Minuten hatte er gerade angefangen, sich zu entspannen, als die Erschütterungen begonnen hatten. Das bedrohliche Knarren und Schwanken des alten Balkenwerks hörte auf, und in den nachfolgenden Sekunden atemloser Stille, während alle auf eine Wiederholung der Erschütterungswellen zu warten schienen, bewegte sich Hellstrøm durch das grüne Dämmerlicht der Wachstube, sah, daß die Kontrolleuchten und Bildschirme noch funktionierten. Er räusperte sich und sagte: »Bitte Schadensmeldungen. Und eine Verbindung mit Saldo.« Die ruhige Selbstverständlichkeit seiner eigenen Stimme überraschte ihn. Augenblicke später hatten sie eine Verbindung mit Saldo hergestellt, und auf der kleinen Mattscheibe konnte Hellstrøm | 343 |
neben dem Kopf des jungen Mannes einen breiten Korridor sehen, der von Staubwolken eingehüllt war. »Sie hielten mich fest!« sagte Saldo, ohne Hellstrøms Fragen abzuwarten. Er schien empört und zugleich ein wenig eingeschüchtert. Einer der muskulösen Symbionten, die den Forschungsspezialisten zur Seite standen, erschien hinter Saldo und stieß ihn kurzerhand zur Seite. Dann füllte das narbige, ebenholzschwarze Gesicht eines Forschers die. Mattscheibe aus. Eine rosafarbene Handfläche erschien vor der unteren Hälfte des Gesichts und zeigte eine Serie schneller, komplizierter Fingerbewegungen. Hellstrøm dolmetschte laut für diejenigen im Raum, die das kleine Bild nicht sehen konnten. »Wir mißbilligen den Mangel an Vertrauen, wie er durch die Entsendung eines Beobachters mit dem Befehl, den Energieanschluß für unser Experiment zu verzögern, deutlich geworden ist. Nimm dein Erschrecken über die Erschütterung als ein kleines Zeichen unseres Mißfallens. Wir hätten dich vorwarnen können, aber dein Verhalten verdiente eine solche Warnung nicht. Sei versichert, daß die Wirkung am Zielort unserer Projektion vieltausendfach stärker war als die Resonanzschwingungen, die wir hier im Stock verspürten. Bis auf einige kleine Verbesserungen, zu denen auch die Dämpfung der lokalen Resonanzschwingungen gehört, kann Projekt 40 als Erfolg beurteilt werden.« »Wo war der Zielort eurer Projektion?« fragte Hellstrøm. »Im Pazifischen Ozean, unweit der Inseln, die von den Außenseitern Japan genannt werden. Sie werden dort binnen kurzem eine neue Insel beobachten.« Das große Gesicht verschwand von der Mattscheibe, und Saldo kam zurück. »Sie fesselten mich«, protestierte Saldo. »Sie warfen mich in eine Ecke und ignorierten meine Befehle. Sie schlossen die Starkstromkabel an und ließen nicht zu, daß ich dich anrief. Sie waren dir ungehorsam, Nils!« Hellstrøm gab ihm ein Zeichen, daß er sich beruhigen solle, und als Saldo verstummte, sagte er: »Vervollständige deine Beobachtungen, Saldo. Fasse sie in einen Bericht zusam| 344 |
men, der auch die voraussichtliche Entwicklungszeit für die erwähnten Verbesserungen enthalten sollte, und mache mir dann persönlich Meldung.« Er unterbrach die Verbindung und wandte sich ab. Der Stock hatte jetzt seine Waffe, aber sie brachte viele andere Probleme mit sich. Die krisenhafte Unruhe, die sich durch den ganzen Stock ausgebreitet hatte, war auch an den Forschern nicht spurlos vorübergegangen. Ihre gewöhnliche Reizbarkeit hatte diesmal die Grenze der offenen Revolte erreicht. Das System der gegenseitigen Abhängigkeit hatte Schaden gelitten. Von allem, was der Stock jetzt nötig hatte, waren lange Perioden der Ungestörtheit das Wichtigste. Die großen Veränderungen und Entwicklungen erforderten viel Zeit. Hellstrøm sah das, wenn er sich mit der neuen Brut verglich. Er machte sich keine Illusionen über sich selbst. Es war eine Tatsache, daß er gesprochene Sprache der Zeichensprache vorzog, die ihn immer anstrengte, während die neue Brut genau umgekehrt empfand. Hellstrøm wußte, daß ihm der Besitz eines individuellen Namens und einer außenseiterähnlichen Identität ungesunde Freude bereitete, während die neue Brut von diesen Fesseln bereits weitgehend frei war. Ich bin eine Übergangsform, sagte er sich, und eines Tages werde ich zurückgeblieben sein. Aus dem Leitfaden: Der Freiheitsbegriff ist unentwirrbar mit den diskreditierten Abstraktionen Individualismus/Ego verknüpft. Wenn wir dafür unseren tüchtigeren und verläßlicheren Menschenstamm gewinnen, ist es um die Preisgabe jener Freiheit nicht schade. Merrivale stand auf dem Balkon seines Motelzimmers und wartete auf den Tagesanbruch. Es war kalt, aber er hatte einen wollenen grauen Rollkragenpullover aus dem schottischen Hochland angezogen, der dick genug war, um ihn selbst dann gegen die Kälte zu schützen, wenn er sich an das eiserne Balkongeländer lehnte. Er paffte gedankenverloren eine Zigarette und lauschte den Nachtgeräuschen. Draußen auf dem Parkplatz waren entfernte Schritte zu hören, und in einem anderen Zimmer im Obergeschoß, wo vor wenigen Minuten | 345 |
Licht gemacht worden war, murmelten Stimmen. Unter ihm wurde eine Tür geöffnet, und gelbes Licht floß in einem riesigen Fächer über den Hof bis zum blauen Rand des Schwimmbeckens. Ein Mann trat ins Freie, blieb stehen und spähte mit zusammengekniffenen Augen herauf. Merrivale erkannte Gammel und vermutete, daß der FBIMann Näheres über den Erdstoß erfahren haben mochte. Das Beben, ein tiefes, rumpelndes Grollen, dessen Erschütterungen das Motel in bedrohliche Schwankungen versetzt und kreatürliche Ängste erzeugt hatten, hatte Merrivale eine Dreiviertelstunde zuvor aus dem Schlaf gerissen. Gammel war bereits wach und in dem Erdgeschoßraum gewesen, den sie als Hauptquartier benutzten. Merrivale hatte ihn schon nach ein paar Sekunden am Haustelefon gehabt und gefragt: »Was war das eben?« »Fühlte sich wie ein Erdbeben an. Wir prüfen nach, ob es irgendwelche Schäden angerichtet hat. Bei Ihnen alles in Ordnung?« Merrivale hatte seine Nachttischlampe eingeschaltet. Der Strom war jedenfalls nicht unterbrochen. Nach einem Rundblick im Zimmer hatte er geantwortet: »Ja, hier ist alles klar. Es scheint nichts passiert zu sein.« Einige der anderen Motelgäste waren auf dem Balkon und im Hof gewesen, als Merrivale hinausgegangen war, aber die meisten waren inzwischen in ihre Zimmer zurückgekehrt. Gammel sah Merrivale auf dem Balkon stehen und bedeutete ihm mit hastigen Armbewegungen, herunterzukommen. »Beeilen Sie sich!« Merrivale drückte die Zigarette aus, zermalmte sie unter der Schuhsohle und ging den durchlaufenden Balkon entlang zur Außentreppe. Irgendwas stimmte nicht; in Gammels Haltung waren Anspannung und Unruhe fühlbar gewesen. Merrivale war in zehn Sekunden unten, indem er Stufen überspringend und unbekümmert geräuschvoll die Treppe hinunterlief. Er eilte durch die Tür, die Gammel von innen offenhielt, hörte sie hinter sich zufallen. Erst als er mitten im Zimmer stand und die drei Männer um einen Tisch mit Radiosender, Tonbandgerät und abgenomme| 346 |
nem Telefon stehen sah, begann Merrivale zu ahnen, wie sehr etwas nicht stimmte. An der Wand hinter dem Tisch stand ein Bett mit halb herausgerissenem Bettzeug. Ein Aschenbecher war vom Tisch gefallen und lag unbeachtet in seinem verstreuten Inhalt. Einer der Männer am Tisch trug noch seinen Schlafanzug, während Gammel und die beiden anderen vollständig bekleidet waren. Das Licht kam von zwei Stehlampen, die nahe an den Tisch herangezogen worden waren. Die allgemeine Aufmerksamkeit war auf das abgenommene Telefon konzentriert; zwei von Gammels Leuten schienen den Blick nicht davon abwenden zu können. Der Mann im Schlafanzug blickte vom Telefon zu Merrivale und wieder zurück. Gammel zeigte mit steifem Zeigefinger auf den Apparat, während er Merrivale finster musterte. »Sie wußten unsere Nummer!« sagte Gammel. »Was?« Gammels anklagendes Verhalten verblüffte Merrivale. »Wir hatten dieses Telefon erst gestern abend legen lassen«, erklärte Gammel. »Es ist eine Direktleitung.« »Ich verstehe nicht«, erwiderte Merrivale. Er blickte suchend in Gammels kantiges Gesicht, ohne darin einen Hinweis auf den Sinn dieses seltsamen Gesprächs zu finden. »Hellstrøm rief uns an«, sagte Gammel nach einer bedrückenden Pause. »Er sagte, er habe einen Ihrer Leute bei sich. Haben Sie einen gewissen Eddie Janvert?« »Shorty? Shorty führte die Einsatzgruppe, die ...« »Hellstrøm sagt, wir sollten auf Ihren Mann hören, oder sie würden diesen Ort und den halben Staat Oregon in die Luft jagen.« »Was?« Gammel nickte. »Er sagt, was wir alle fühlen, sei kein Erdbeben gewesen. Es sei eine Waffe, die, wie er behauptet, den Planeten in Stücke reißen kann. Wie vertrauenswürdig ist dieser Janvert?« »Vollständig!« antwortete Merrivale ohne zu überlegen. Sofort bedauerte er, daß er es gesagt hatte. Es war eine gedankenlose Antwort auf eine Frage gewesen, welche von ihm die Verteidigung der Organisation und ihrer Fähigkeiten | 347 |
verlangt hatte. Es mochte sein, daß Janvert nicht völlig vertrauenswürdig war, oder es könnte notwendig werden, Zweifel an seiner tatsächlichen Vertrauenswürdigkeit zu zeigen. Doch nun war es zu spät. Seine Antwort hatte ihn gefangen und den Bereich möglicher Reaktionen einschrumpfen lassen. »Janvert ist am Telefon und will mit Ihnen reden«, sagte Gammel. »Er sagt, er könne Hellstrøms Drohung verifizieren und außerdem erklären, warum einer unserer Wagen nicht mehr auf unsere Radioanrufe antwortet.« Merrivale versuchte Zeit zur Einschätzung der Lage zu gewinnen. »Ich dachte, Sie hätten mir gesagt, die Telefonleitung zur Farm sei unterbrochen. Rufen sie von der Farm?« »Soviel ich weiß, ja. Einer meiner Leute ist schon draußen und versucht der Sache auf die Spur zu kommen. Hellstrøm ließ die Leitung anscheinend selbst reparieren, oder sie ...« Merrivale nickte. »Und was ist mit Ihren Leuten und diesem Wagen?« »Janvert sagt, die beiden seien bloß ohnmächtig, will aber nicht verraten, warum und wie. Er bestand darauf, daß wir zuerst Sie holen sollten. Ich sagte ihm, Sie schliefen, aber davon ließ er sich nicht beeindrucken.« Merrivale schluckte. Den halben Staat Oregon in die Luft jagen? Dummes Zeug! Er ging mit allem Selbstbewußtsein, das er aufbringen konnte, zum Telefon, nahm den Hörer auf und sagte mit seinem besten britischen Akzent: »Merrivale hier.« Gammel schaltete das Tonbandgerät ein, schloß einen Kopfhörer an und lauschte. Das ist der alte Merrivale, kein Zweifel, dachte Janvert, als er die Stimme hörte. Ich frage mich, warum sie ihn geschickt haben? Clovis stand ihm gegenüber, noch immer verängstigt und unter dem Einfluß des Schocks, aber wenigstens weinte sie nicht mehr. Er fand es irritierend, daß ihre Nacktheit ihn nicht im geringsten erregte. Janvert ging zu Hellstrøm, der unweit von ihnen in dem dämmerigen Raum über dem Scheunenatelier stand. Der grünliche Lichtschein der Bildschirme verfremdete alle Gesichter und verlieh dem ganzen Raum eine unheimliche, unterseeische Atmosphäre. | 348 |
»Sagen Sie es ihm«, sagte Hellstrøm. »Hallo, hier ist Eddie Janvert. Sicherlich werden Sie mich an der Stimme erkennen, aber wenn Sie wollen, kann ich mich mit einer Information identifizieren, die nur wir beide wissen. Ich bin derjenige, dem Sie den Kode und die Geheimnummer des Präsidenten gaben. Erinnern Sie sich?« Verdammter Kerl! dachte Merrivale verdrießlich. Aber es war Janvert, kein Zweifel. »Sagen Sie mir, was da vorgeht«, sagte Merrivale. »Wenn Sie nicht wollen, daß dieser ganze Planet ein großes Leichenhaus wird, sollten Sie mir gut zuhören und glauben, was ich Ihnen sage«, sagte Janvert. »Hellstrøm hat eine Waffe, neben der die Atombombe wie ein Kinderspielzeug anmutet. Diese FBI-Agenten in dem Wagen wurden von einer kleinen Handversion dieser Waffe betäubt. Das Handmodell kann innerhalb seiner Reichweite Menschen töten oder einfach betäuben. Ich habe es selbst gesehen. Nun, Sie ...« »Shorty«, unterbrach ihn Merrivale nervös, »vielleicht wäre es besser, wenn ich selbst einmal käme und ...« »Das wird früher oder später ohnehin nötig sein«, sagte Janvert. »Aber wenn Sie irgendwelche Zweifel an meinen Worten hegen sollten, geben Sie sie auf. Und lassen Sie diese Farm nicht noch mal angreifen, Merrivale. Ich sage das nicht, weil ich Angst um unser Leben hätte, sondern weil die Folgen in der gegenwärtigen Situation wirklich unabsehbar wären. Wenn ich den Verdacht hätte, daß Sie und diese FBI-Agenten einen Angriff vorbereiteten, würde ich mich verpflichtet fühlen, den Präsidenten anzurufen und ihm selbst vorzutragen ...« »Nun mal langsam, Shorty! Die Regierung würde nicht ...« »Zum Teufel mit der Regierung!« rief Janvert erregt. »Hellstrøms Waffe ist genau auf Washington ausgerichtet. Er hat ihre Wirksamkeit bereits demonstriert. Ziehen Sie Erkundigungen ein.« »Erkundigungen über was? Dieses kleine Erdbeben, das wir hatten?« »Über die neue Insel vor der japanischen Küste«, sagte Janvert. »Hellstrøms Leute haben das Relaissystem der Satellitenüberwachung angezapft. Sie wissen, was los ist, Merrivale. | 349 |
Die Anrainerstaaten des Pazifischen Beckens sind bereits vor einer seismischen Flutwelle gewarnt worden.« »Was – was sagen Sie da, Shorty?« sagte Merrivale alarmiert. Er beugte sich über den Tisch, zog einen Notizblock und Bleistift herüber und kritzelte: ›Gammel – überprüfen Sie das!‹ Gammel las den Zettel, nickte und flüsterte einem seiner Agenten Instruktionen zu. »Hellstrøms Farm ist bloß ein winziger Deckel auf einem riesigen Labyrinth von unterirdischen Stollen und Tunnels«, sagte Janvert. »Diese Tunnels breiten sich kilometerweit in alle Richtungen aus und reichen fast zwei Kilometer in die Tiefe. In diesen Tunnels leben mindestens fünfzigtausend Menschen. Das ist die Wahrheit, Merrivale. Glauben Sie mir – bitte, glauben Sie mir!« Merrivale blickte mit hochgezogenen Brauen zu Gammel auf, der schockiert zurückstarrte. Hol’s der Teufel, dachte Merrivale, wenn Shorty recht hat, ist das kein Job für uns, sondern einer für die Armee. Irgendwie mußte man Shorty glauben. Es war einfach nicht möglich, daß eine so phantastische und schockierende Feststellung falsch sein konnte. Merrivale griff zum Bleistift und schrieb: ›Armeekommando verständigen‹. Gammel zögerte, als er die Worte las, dann winkte er einen anderen seiner Leute zu sich und gab ihm den Zettel. Der Mann las die Worte und blickte fragend zu Gammel auf, der energisch nickte und den anderen näherwinkte. Dann redete er im Flüsterton auf ihn ein, und der Mann erblaßte und eilte hinaus. »So unglaublich Ihre Geschichte auch klingen mag«, sagte Merrivale, »ich werde einstweilen Ihr Wort dafür nehmen. Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, was ich in diesem Fall zu tun habe. Wenn zutrifft, was Sie mir gesagt haben, ist diese Sache viel zu groß für uns oder das FBI.« Hellstrøm beugte sich zu Janvert und flüsterte: »Sagen Sie ihm, daß der Stock verhandeln möchte. Fordern Sie ihn auf, daß er sich beim Pentagon nach der neu aufgetauchten Insel erkundigen soll. Sagen Sie ihm, daß wir im Falle eines Angriffs | 350 |
durchaus bereit und imstande sind, ein Gebiet von einigen hundert Quadratmeilen rings um Washington zu pulverisieren.« Janvert übermittelte die Botschaft. »Haben Sie diese Waffe gesehen?« fragte Merrivale. Janvert bejahte. »Können Sie sie beschreiben?« »Das wird Hellstrøm mir nicht erlauben. Aber ich habe sie gesehen, und ich habe das kleine Handmodell gesehen.« Der erste Mann, den Gammel fortgeschickt hatte, kehrte zurück und wisperte heiser in Gammels Ohr. Gammel kritzelte auf den Notizblock: ›Pentagon bestätigt. Entsendet Kampftruppen‹. Merrivale sagte: »Hören Sie, Shorty, glauben Sie wirklich, daß die Waffe das kann?« »Ich sagte es Ihnen doch! Haben Sie sich wegen dieser Insel noch nicht beim Pentagon erkundigt?« »Shorty, dieser unterirdische Staat oder wie man es nennen soll, scheint genau die Art von Subversion zu sein, die wir mit Stumpf und Stiel ausrotten müssen. Ich ...« »Sind Sie verrückt?« sagte Janvert in heller Aufregung. »Ich werde den Präsidenten anrufen. Sie wissen, daß ich ihn erreichen kann. Sie und die Organisation können mich nicht daran...« »Shorty!« Merrivale war entrüstet und in höchstem Maße besorgt. Der Präsident würde auf einen solchen direkten Anruf des halb hysterischen Janvert sehr ungnädig reagieren. Köpfe würden rollen. »Beruhigen Sie sich, Shorty«, sagte er. »Und nun hören Sie zu. Sie beschreiben da eine ziemlich verzweifelte Situation, die für unsereinen äußerst schwierig zu glauben ist. Wenn es sich auch nur annähernd so verhält, wie Sie sagen, wird eine militärische Lösung das einzige Mittel sein. Oder glauben Sie vielleicht, der Präsident würde sich Hellstrøms Erpressung beugen und die Existenz eines solchen Fremdkörpers im Fleisch der Nation dulden?« »Haben Sie überhaupt nichts von dem verstanden, was ich sagte?« sagte Janvert aufgeregt. »Es würde keine Welt mehr geben, auf der militärische Lösungen stattfinden würden! Es | 351 |
würde nichts mehr geben! Diese Leute können den Planeten in Stücke blasen oder jeden Teil seiner Oberfläche pulverisieren, wenn es ihnen gefällt. Kein Angriff wäre schnell genug, um das zu verhindern. Alles steht auf dem Spiel – die ganze Erde, verstehen Sie denn nicht, verdammt noch mal?!« Gammel schüttelte Merrivale am Arm und hielt ihm ein Blatt hin, auf das er geschrieben hatte: ›Gehen Sie auf ihn ein. Erbitten Sie persönlichen Besuch zwecks Inspektion. Solange wir keine Gewißheit haben, dürfen wir nicht zuviel riskieren.‹ Merrivale schürzte die Lippen. Auf diesen Wahnsinn eingehen? Den Planeten in Stücke blasen, in der Tat! Er sagte: »Shorty, ich weiß, daß Sie sich in einer Zwangslage befinden und gezwungen sind, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Aber mit Panikmache kommen wir hier nicht weiter, und ich habe meine Zweifel, ob es überhaupt ...« Gammel zog sich den Kopfhörer herunter, griff zu und entwand Merrivale ohne Umschweife den Telefonhörer. »Janvert«, sagte er, »hier ist Waverly Gammel. Wir sprachen vor ein paar Minuten miteinander, als Sie zuerst anriefen. Ich bin leitender Agent des FBI. Ich habe Ihr Gespräch mitgehört und möchte sagen, daß ich bereit bin, mir die Vorschläge anzuhören, die ...« »Sie wollen uns nur hinhalten!« rief Merrivale ärgerlich. »Sie bluffen, merken Sie das nicht?« Gammel deckte das Mundstück des Hörers mit der Hand zu und nickte seinen Männern zu. »Bringt ihn hinaus und schließt die Tür.« Er nahm die Hand vom Hörer und sagte: »Ich werde selbst zu dieser Farm hinausfahren und mich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, was an dieser unheimlichen Geschichte Wahres ist. Ich werde bei den beteiligten Stellen darauf drängen, daß jede Aktion von dieser Seite unterbleibt, bis ich meine Meldung gemacht haben werde. Haben Sie mich verstanden, Janvert?« »Sie hören sich wie ein Mann mit Vernunft an, Gammel«, sagte Janvert. »Dafür danke ich Gott. Warten Sie einen Moment.« Hellstrøm neigte den Kopf zu Janvert und sprach mit leiser Stimme. | 352 |
Janvert sagte: »Hellstrøm sagt, Sie können unter diesen Bedingungen hierherkommen und unbehelligt wieder zurückkehren. Ich glaube, daß Sie ihm darin vertrauen können. Auch für ihn steht zuviel auf dem Spiel.« »Das ist mir Garantie genug«, sagte Gammel. »Sagen Sie mir, wo genau ich mich melden soll, wenn ich zur Farm komme.« »Kommen Sie einfach zur Schleuse«, sagte Janvert. »Von hier nimmt alles seinen Ausgang.« Als Janvert den Hörer auflegte, wandte sich Hellstrøm ab und wunderte sich, daß er auf einmal nicht mehr müde war. Der Stock hatte zunächst Zeit gewonnen, soviel schien gewiß. Es gab unter den wilden Außenseitern einige wenige, mit denen man vernünftig reden konnte – Leute wie dieser Janvert und der Agent am Telefon. Solche Leute würden die Bedeutung des neuen Stachels nicht unterschätzen, über den der Stock verfügte. Sie würden die Notwendigkeit von Veränderungen erkennen. Hellstrøm wußte, welchen Kurs er selbst zu steuern hatte. Er mußte mit der Außenseiterregierung über Bedingungen verhandeln, unter denen der Stock seine heimliche Existenz fortführen konnte, unbeobachtet von den Massen der wilden Außenseiter. Die Geheimhaltung konnte natürlich nicht für unbegrenzte Zeit gesichert werden; der Stock selbst mußte diese Geheimhaltung früher oder später durchbrechen. Eines nicht allzu fernen Tages würden sie schwärmen, und die Außenseiter würden es nicht verhindern können. In der Folgezeit würde ein Schwarm dem anderen folgen, und die wilden Außenseiter würden assimilieren und in immer weiter schrumpfende Räume des Planeten zurückgedrängt, den sie jetzt mit den Menschen von morgen teilten. Aus Joseph Merrivales geheimem Bericht an den Verwaltungsausschuß der Organisation: Wie bekannt, sind wir in dieser Angelegenheit von der weiteren aktiven Teilnahme ausgeschlossen worden, eine Entscheidung, deren Kurzsichtigkeit wir alle beklagen. Wir behalten jedoch eine beratende Funktion und werden in Abständen konsultiert, so daß ich in der Lage bin, einen Überblick über die letzten Entwicklungen in | 353 |
Washington zu geben. Obwohl eine definitive Entscheidung noch aussteht, läßt der gegenwärtige Stand der Diskussion vermuten, daß Hellstrøm die Möglichkeit erhalten wird, seinen widerwärtigen Kult zunächst weiter zu betreiben. Auch die Herstellung weiterer subversiver Filme wird vermutlich toleriert werden. Der Prozeß der Meinungsbildung innerhalb des politischmili-tärischen Lagers scheint sich unterdessen um zwei einander entgegengesetzte Lösungsvorschläge zu kristallisieren: 1. Sofortiger Atomschlag von ausreichender Kapazität, um den unterirdischen Stock restlos zu zerstören. Dies ist ein vom Militär vertretener Standpunkt, den ich teile; aber er verliert immer mehr seiner Anhänger, da das Risiko untragbar erscheint. 2. Zeitgewinn durch den Abschluß eines geheimen Stillhalteabkommens mit Hellstrøm, das unter anderem die Information der Öffentlichkeit über die Existenz des Stocks verhindert. Zugleich Beginn eines massiven Sofortprogramms mit dem Ziel einer risikolosen Vernichtung dessen, was in amtlichen Kreisen neuerdings ›der Hellstrøm-Greuel‹ genannt wird.
| 354 |