Das neue Abenteuer 124
Gunter und Johanna Braun
Herren der Pampa
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 124
Gunter und Johanna Braun
Herren der Pampa
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
Copyright by Verlag Neues Leben Berlin 1957 Lizenz-Nr.: 303 (305/81/57) Umschlagzeichnung und Illustration: Herbert Wohlert, Leipzig Druck (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 · 2701
Eine gelbgraue Staubwolke wallte die Straße entlang, die nach San Martino führte. Den borkigen Boden zerbrökkelten Rinderhufe. Lederpeitschen klatschten auf schweißige Tierrücken, eine Kuh brüllte langgezogen: Der Gaucho Lope Ramirez trieb seine Rinder zum Markt. Ramirez, auf einem schmalköpfigen Rappen, ritt ein Stück voraus. Er schirmte die Augen mit der Hand. Schon konnte er die ersten Häuser von San Martino sehen. Aber vor diesen Häusern, dort, wo die Straße in den Ort mündete, erblickte er das gebogene Dach eines Planwagens. Zu beiden Seiten des hochrädrigen Gefährts stampften Rinder. Eine schmale, dunkle Gestalt auf einem Pferd folgte. Ramirez beachtete sie nicht. Er sah die Rinder, deren Fell glänzte. Er zählte: zwei, vier, sieben. Dann drehte er sich im Sattel zurück, zu den Peones, und schrie: "Che! Beeilt euch! Die Bozales sind vorn!" Er riß dem nächsten den Lederriemen aus der Hand und schlug mitten in die Herde. "Wir müssen sie überholen!" Die Rinder, knochige Tiere mit scharfgezogener Wirbelsäule und sehnigen Beinen, sprangen auseinander. "Treibt sie vor!" befahl Ramirez. Er selbst jagte an die Spitze des Zuges. Dort führte ein zerlumpter Peon den alten Stier, der heute losgeschlagen werden sollte. Ich werde mir ein neues Messer kaufen, dachte Ramirez. Und ein Faß Rum. Und eine Lederhose. Aber erst muß ich das Geld haben. Ich muß eher da sein als die Bozales. "Carajo! Überholt sie!" Vorn schwenkte der Wagen zur Seite. Eine Männerstimme rief ein Wort, das Ramirez nicht verstand. Der Reiter aber hinter den sieben Rindern, das erkannte der Gaucho jetzt, war ein Mädchen. Es saß seitlich auf dem Pferd. Ihre Füße, die unter einem langen Wollrock hervorpendelten,
steckten in groben, selbstgemachten Rindslederschuhen. Sie ließ die Tiere auf die andere Straßenseite laufen. Dann wandte sie sich um. Ramirez sah sie lächeln. Die Rinder des Gauchos trampelten vorüber. Die Peones hetzten sie mit Riemen und Gerten. Ramirez aber dachte: ,Warum lacht sie? Das soll ihr noch vergehen. Sie wird nichts verkaufen.' Er band die Schnur fester um seinen verblichenen Poncho und ritt wieder seiner Herde voran, nun schon an den ersten Häusern von San Martino vorbei. Am Eingang zur großen Budenstraße des Marktes stand der Verschlag des Viehhändlers Pedro Almancero. Neben der Tür, einer hölzernen Fallklappe, saß an einem wackligen Tischchen Almancero. Seine faltigen Hände ruhten auf der Tischplatte. Von Zeit zu Zeit hob sich der Zeigefinger und pochte gegen das Holz. Noch waren die ersten Verkäufer nicht gekommen. Aber Pedro Almancero war auch nicht begierig, sie zu sehen. Der Rinderaufkauf hier machte ihm keine Freude mehr. Zähfleischiges Vieh, das die Gauchos ihm hertrieben! Es brachte wenig Gewinn. Niemand von Bahia Bianca bis hinauf nach Buenos Aires mochte mehr die trockenen Fleischfasern kauen, die wie gedörrtes Leder schmeckten und zwischen den Zähnen hängenblieben. Almancero würde seine Geschäfte hier aufgeben müssen. Er sah gleichmütig die Straße hinab. Da kamen sie schon, die Könige der Pampa! Caravanas im Ohr, doch den Poncho in Fetzen. - Sieh da! Lope Ramirez ist der erste. Na ja . Lope Ramirez sprang vom Pferd. Hinter ihm stießen sich die Rinder. "Sechzehn Stück, Sefor Almancero. Ich bekomme vierhundert Goldpeso." "Von wem, Sefor Lope?" "Von Ihnen, öffnen Sie den Verschlag!" Der Viehhändler blieb an seinem Tisch sitzen. Sein
trockner Mund zog sich herab. Er sagte ruhig: "Wenn sie so sind wie beim letztenmal, nehme ich sie nicht." "Sefor! Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?" Ramirez packte das schwache Tischchen an beiden Kanten und kippte es gegen den Händler. "Stell den Tisch hin, Junge. Deine Tiere sind zu mager. Die Rippen wie Faßreifen. Vom Fleisch wollen wir nicht reden." "Die Rinder sind so, wie sie sind. Es gibt keine andern. Gauchos haben sie gezüchtet. Verstehst du das, Sefor? Ich bin ein Gaucho." Er ließ den Tisch los und wendete sich zu den Peones. "Los, führt sie vor!" Pedro Almancero prüfte sie alle. Er kniff sie ins Fleisch und klappte ihre harten Mäuler auf. Er schüttelte den Kopf. "Das nächste . weiter. Halt: die Färse hier! Die andern fünfzehn treiben Sie wieder zurück, Sefor Lope." "Carajo!" "Ich rate Ihnen: Versuchen Sie es mit einer neuen Rasse. Aus Europa. Mit den alten Pampaherden lohnt es nicht mehr." "Die fremden Viecher vertragen unser Gras nicht. Das wissen Sie, Sefor!" "Wenn ihr in den Trockenzeiten richtig bewässert, wird bei euch auch weiches, zartes Gras wachsen, wie bei den Einwanderern. Später baut ihr Alfalfa-Klee an. Wenn ihr die Tiere mit Alfalfa füttert, könnt ihr sie ein Jahr früher auf den Markt bringen. Überlegt es euch!" Pedro Almancero zog die Tischplatte auf und griff hinein. "Für die Jungkuh fünf Peso." "Fünf Peso? Und Alfalfa bauen? Das bieten Sie mir an? Ein Gaucho wühlt nicht in der Erde wie der feige Maulwurf. Ein Gaucho nimmt auch kein Trinkgeld. Fünf Peso!"
Lope Ramirez lachte, aber seine Hand fuhr dabei unter den Poncho. Er hieb den Lauf seines Revolvers gegen die Tischkante. "Ich knall dich nieder, Krämerseele!" Der Händler blickte gelassen auf den Gaucho. "Schießen Sie nur. Aber ohne Lärm, bitte. Unser Militär hört gut. Wie immer am Markttag ist eine Kompanie auf Wache gezogen." Ramirez knurrte und schlenkerte den schweren Revolver in der Hand. "Her die fünf Peso, oder ich schieße wirklich." Großmaul, dachte der Händler. So sind sie alle. Fühlen sich immer noch als Herren des Landes. Heruntergekommenes Gesindel! Man sollte keine Geschäfte mehr mit ihnen machen. Er rackelte am Riegel der Fallklappe, schob sie hoch und ließ die Kuh in den Verschlag. Dann warf er das Geld auf den Tisch. Die Goldstücke rollten gegeneinander. Ramirez legte rasch die Hände darauf. Der Händler aber sagte: "Machen Sie nun Platz, Sefor. Andere Herrschaften wollen verkaufen." Ramirez kehrte die Pesos in einen Lederbeutel. Er sah auf. ,Die Bozales', dachte er. ,Nun, sie werden auch nichts verkaufen.' Er führte sein Pferd auf die Seite und ließ die Peones mit der Herde die Straße zurückziehen. Vor den kleinen Tisch des Pedro Almancero trat jetzt das Mädchen, das Ramirez auf der Landstraße überholt hatte. Neben ihm ging ein Mann in handgewebter Jacke, die ein blanker Ledergurt zusammenhielt. Der Mann überragte den Gaucho um einen ganzen Kopf. Ramirez hörte: "Alle sieben?" "Ja." "Ich zahle fünfhundert für alle." "Und dann verkaufen Sie sie für siebenhundert", sagte
das Mädchen. Es hatte eine rauhe Jungenstimme. Der Händler antwortete: "Rindfleisch ist nicht gefragt." Jetzt lachte das Mädchen. "Wenn Rindfleisch nicht gefragt ist, gehen wir mit unserem Vieh wieder nach Haus. Adieu, mein Herr." Pedro Almancero räusperte sich. Er holte ein feurig gemustertes Sacktuch aus der Tasche und schneuzte sich laut. Dann aber sagte er: "Nicht so eilig, Seforita. Wie war's mit fünfhundertzehn?" Das Mädchen ging darauf nicht ein. Es sagte zu dem Mann in der Webjacke: "Kommen Sie, Jakob, man will uns übers Ohr hauen." Pedro Almancero seufzte. Er lief um sein Tischchen herum und drängte sich an die beiden: "Fünfhundertfünfundzwanzig", flüsterte er. Der Mann stand unschlüssig da, er neigte seine breiten Schultern zum Mädchen herab und murmelte: "Ich denke, Mademoiselle Suzanne, mehr bekommen wir nicht. Machen wir den Handel." "Sechshundert", schlug das Mädchen vor. "Fünfhundertfünfzig", parierte der Händler. "Sechshundert." "Fünfhundertfünfundfünfzig. Das ist mein letztes Angebot." "Auf Ehre?" "Fünfhundertsechzig, auf Ehre." "Dann - adieu." Pedro Almancero ächzte. Er rüttelte an der Tischlade. Sie klemmte. ,Sieben wunderschöne Tiere', dachte er. ,Man könnte Flöhe auf ihren Schenkeln knacken, so straff sitzt die Haut überm Fleisch. Ich kann sie für achthundert sofort losschlagen.' Aber Prinzip ist Prinzip. "Fünfhundertfünfundsechzig", sagte er. "Das ist mein letztes Wort."
Das Mädchen hielt die Hände in den weiten Taschenbeuteln des Rockes. Sie stand still da und überlegte. Endlich begann sie mit weicherer Stimme: "Seien Sie klug, Sefor. Wenn Sie uns heute sechshundert zahlen, können Sie immer mit uns rechnen. Der Viehhandel hält Sie auf die Dauer nicht über Wasser. Wenn Sie einmal mit Weizen beginnen sollten, wir wären Ihre ersten Lieferanten." "Weizen?" Almancero fragte noch einmal: "Weizen?" Dann: "So, so. Also Weizen." Hier lag vielleicht das Geschäft der Zukunft. Er schlug die Hände zusammen wie zum Gebet und richtete den Blick starr geradeaus. Er rechnete, und über seiner Nase kniffte sich eine dunkle Falte. Nach einer Weile zerrte er noch einmal an der Schublade. Sie ließ sich jetzt leicht öffnen. "Sechshundert, ausnahmsweise." Lope Ramirez, der Gaucho, hatte den Handel mit großen Augen verfolgt. Er stand neben seinem Pferd, und er hätte fortreiten können, doch immer noch blieb er stehen. Er wunderte sich, daß er dem Mädchen nicht einmal böse war, obwohl sie doch sechshundert Peseta eingenommen hatte und er nur fünf. Nein, er war ihr nicht böse, und fast schämte er sich jetzt seines Wettlaufes. Dies Mädchen mit den langen Zöpfen und den kühlen graublauen Augen war ein tüchtiges Mädchen, ein Teufelsmädchen, und er wollte sie sich erobern. Ja, das wollte er. Er band sein Pferd an einem Pflock fest und rief einen halbnackten Indianerjungen zur Wache heran. Er sah die beiden Bozales die Straße hinaufgehen. An der ersten Marktbude trennten sie sich. Der Markt schrie in tausend Farben. Kleine, holzgezimmerte Panaderias boten frische Mandiokabrote und zuk-
kerbestreute Maiskuchen feil. In runden Drahtkörben sträubten kollernde Hähne die glänzenden Federn gegen das Geflecht. Buntbemaltes Tongeschirr und eiserne Töpfe standen auf ausgebreitetem Stroh, an Seilen - von Bude zu Bude gespannt - schaukelten wollene Ponchos mit breiter bunter Streifenborte, feingegerbte Lederhosen in Rot und Grün und breitkrempige Hüte. Über allem aber schwebte der Dunst frischen Churrascos, der auf kleinen Herden in der Glut gebacken wurde. Suzanne Gilbert ging langsam die Budengasse hinab. Sie mußte - im Gedränge kleine Schritte machen. Struppige Gauchos, über dem Rücken Bündel mit Rindshäuten, schoben sich an ihr vorbei. Ein fetter, kleiner Mann, der in einer offenen Schachtel alte Zigarrenstummel feilbot, trat ihr auf den Fuß. An einer grüngestrichenen Bude mit der flammenden Aufschrift "Pulperia de San Jesuso" blieb sie stehen. "Was kostet ein Kamm?" fragte sie. Die Besitzerin der Pulperia zog ein Bündel Kämme aus einem Becher und breitete es in ihrer Hand zu einem Fächer. "Gutes Schildpatt, Seforita. Einer kostet einen Peso." "Zu teuer. Danke." "Ich gebe eine Kerze dazu. Und ein kleines Heiligenbild", sagte die Frau. Ein Heiligenbild abzulehnen, gehört sich nicht, dachte Suzanne. Aber ich muß ablehnen. Wir brauchen unser Geld. Alles ist teuer. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Am Ende der Marktgasse, vor der Bodega "Zum tapferen Hahn", setzte sie sich auf einen der Stühle, die der Wirt vor die Tür gestellt hatte. Sie griff in ihre weite Tasche und holte einen Brotkanten heraus. Den kaute sie, aber sie bestellte nichts zum Trinken. Sie wartete hier auf
Jakob Bauer, ihren Begleiter, um dann mit ihm den Rückweg anzutreten. Da hörte sie hinter sich einen Stuhl umfallen. Eine heisere Stimme schrie: "Ich bezahl dir einen Cafazo, Mädchen! Ißt das Brot trocken! Mein Name ist Lope Ramirez." Suzanne blieb steif auf ihrem Stuhl sitzen, das Brot aber steckte sie in die Tasche zurück. Ohne sich umzudrehen, antwortete sie: "Jeder ißt, wie es ihm gefällt." Über ihre Schulter wehte ein schwerer Cafazohauch.
Der Gaucho nahm einen Stuhl, stellte ihn dicht vor Suzanne und setzte sich rittlings darauf. Er verschränkte die Arme über der Stuhllehne und sah dem Mädchen ins Gesicht. Dann sagte er grob: "Warum wollen Sie mit Weizen handeln?" "Weil es sich lohnt, Sefor." "Nichts lohnt mehr als die Viehzucht."
"Wirklich?" Sie lächelte wieder, wie auf der Landstraße, als Ramirez sie überholte. "Bei meiner Seele", meinte Ramirez, "mit Weizen wird sich kein anständiger Kerl abgeben." "Und ich sage Ihnen, Weizen wird das Geschäft der Zukunft," sagte sie mit Bestimmtheit. Er aber ging nicht darauf ein: "Ich bestelle jetzt eine Flasche. Wo steckt das haarige Gürteltier von Wirt? Che! Cafazo für die Seforita!" "Ich will nicht." "Frauen haben keinen Willen." Er lachte und fuhr mit dem behaarten Handrücken über seinen rissigen Mund. "Wenn ich dich jetzt packe, dich wie eine leere Kuhhaut über den Rücken werfe und auf mein Pferd binde - was willst du tun?" Suzanne lächelte. "Sie sind mir ein feiner Caballero! Aber da kommt mein Nachbar!" - Sie erhob sich und winkte Jakob Bauer, der aus dem Marktgedränge auftauchte. Er trug zwei doppelläufige Flinten über dem Rücken und in der Rechten einen geflochtenen Korb. Darin glänzten neue Meißel, Zangen, Hämmer. Der hat eingekauft, dachte Ramirez betrübt. Er wird mit dem Mädchen nach Hause fahren.
Ramirez blickte den beiden nach, als sie fortgingen. Er ballte die Fäuste in seinen zerbeulten Hosentaschen. Dann folgte er ihnen langsam. Er wollte hinter ihnen herreiten. Sein Pferd fand er an der Stelle, wo er es angebunden hatte. Daneben hockte auf untergeschlagenen Schenkeln der kleine Indio. Er streckte seine schmutzige Hand aus, als er Ramirez kommen sah. "Ach, nichts da. Pack dich!" rief Ramirez.
Er schwang sich aufs Pferd. Vorn, auf der Straße, die aus San Martino führte, knarrte der Planwagen. Jetzt ritt Jakob Bauer neben dem Fuhrwerk. Suzanne konnte der Gaucho nicht sehen. Er überlegte: Ich reite am Wagen vorbei und wende. Sie sitzt auf dem Wagenbrett vorn. Ich kann ihr dann ins Gesicht schauen. Ich werde ganz dicht vorbeireiten und leise sagen: Laß den Weizen sein. Und den langen Kerl da. Du sollst bei mir leben und mir die Geschäfte ordnen. Dich wird Almancero nicht betrügen. Er ritt durch den Staub. Sein Rappe watete bis zu den Knöcheln im lockeren Sand. Da kam er an dem Hause vorüber, in welchem der Caudillo Eduardo Juan Portales wohnte, wenn er nicht auf seiner Estancia weilte. Die klapprigen Holzrollos der schmalen Fenster waren herabgelassen, und das Geländer der kleinen Freitreppe lag abgebrochen vor der Tür. Auf dem flachen Dach wuchs Gras. Ich müßte mich beim Caudillo beschweren, dachte Ramirez im Vorbeireiten. Er blickte noch einmal zu den Bozales. Am roten Abendhimmel, eingerahmt von den Schatten der letzten Häuser, bewegten sich Planwagen und Reiter. Vom Rückbrett baumelte die Windschutzlaterne. Ramirez wandte sein Pferd, sprang ab und führte es auf den Hof. Dort kauerten unter übergehängten Decken die Peones. Neben ihnen ruhten Rinder, die sie mit Riemen aneinandergebunden hatten. "Wem gehört ihr?" fragte Ramirez. "Sefor Pablo." "Und ich Sefor Manuelo." "Und beide haben nichts verkauft?" "Nichts, Sefor", sagte der Peon. "Da geht's wieder ans Fasten", meinte der andere, zog
seine Decke um die spitzen Schultern und höhlte die Wangen. "Wenn der Herr kein Geld hat, merkt es zuerst der Knecht." Ramirez betrat den großen Gastraum des Hauses. Hier und da erhob sich ein Mann vom Boden und schwang ihm seinen Becher entgegen. Dicht neben der Tür hockte ein Gitarrenspieler. Er zupfte an den Saiten. Aber niemand sang. Von einem buntgeschnitzten Lehnstuhl nickte der Caudillo dem Ankömmling mit halbgeschlossenen Augen zu. Der Gaucho setzte sich auf die schwarzen Dielen. Er zog seinen Tabaksbeutel auf und stopfte sich die Pfeife. Nach ein paar Zügen sagte er: "Die Sefores haben auch nicht verkauft, wie ich sehe." Die anderen schwiegen. "Caudillo", sagte Ramirez und stand auf. "Ich bin gekommen, mich zu beklagen." "Sie wollen sich alle beklagen." Der Caudillo gähnte. "Almancero will jetzt mit Weizen anfangen." "Woher weißt du das?" fragte der Caudillo. Ramirez starrte in den Raum, wo an der hinteren Wand rotgelbe Herdflammen einen bauchigen Kessel umzüngelten. Er sog den Geruch des Fleisches ein, das am Bratspieß über dem offenen Feuer hing, er hörte das Fett in den Flammen knistern, und er sah die alte, zahnlose Wirtschafterin Usebia zinnerne Teller reiben. Zwischen ihren eingesunkenen Mundwinkeln glühte eine zerfaserte Zigarre. Den Bratspieß drehte Moto, der Indio. "Was ist mit dem Weizen, rede!" Ramirez schreckte hoch. Er drehte sich um und blinzelte zum Caudillo hin. Dessen schwarze Stiefel spiegelten die Herdglut wider. Sie waren neu. Aus Ramirez' Stiefeln aber
stießen die Zehen. Er sagte: "Almancero würde lieber mit Weizen handeln. So hörte ich." "Wem will er denn Weizen abkaufen?" "Weiß nicht." Er setzte sich, mit dem Rücken zur Wand. Ich werde doch nichts von dem Mädchen erzählen, dachte er. Der Caudillo fragte nicht mehr. Er rief: "Che, Moto! Siehst du nicht, daß die Becher der Sefores leer sind?" "Ich muß das Fleisch wenden", sagte Moto mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. "Wenn es verbrennt, wird es niemand schmecken." "Tu, was man dir sagt! Geh zum Faß und schenke aus!" Moto stand unentschlossen da. Sein bronzefarbener Oberkörper, nackt, mit hervortretenden Rippen, leuchtete dunkel im Schein des Feuers. Usebia schob ihn sanft zur Seite. "Geh, Moto. Ich besorge den Braten." Im Dämmern lag auf einem Bock ein braunes, feuchtes Faß. Moto stellte sich daneben und sagte: "Sefores, ich bitte näher zu treten." Ramirez schnallte seinen kleinen Zinnbecher vom Gurt und hielt ihn Moto hin. Der Indio kniete nieder. Er zog den Stöpsel aus dem Spundloch und ließ den Cafazo in den Becher stürzen. Andere kamen und hielten ihre Becher unter den Strahl, ein Gaucho sogar die gekrümmten Hände. Sie tranken, und dann rief Pablo, ein alter Pampamann, dem die nackten Schultern durch den löchrigen Poncho sahen: "Wir müssen was tun, Sefores! Ich weiß, wer Almancero Weizen verkaufen will, die Bozales sind es!" Stockend sagte Ramirez: "Almancero meint, wir sollten selbst Weizen und Alfalfa-Klee bauen." Die Männer lachten und brüllten. Pablo aber schrie: "Wie kannst du solche Worte in den Mund nehmen, Rami-
rez? Gauchos sollen Klee bauen? Das ist nicht unsere Art: Frei schweift der Gaucho über die weite Grasebene. Der kalte Pampero fegt ihm den Sombrero vom Kopf, und die Sonnenglut faltet ihm die Haut. Er ist der König der Pampa! Was redest du da von Alfalfa-Klee?" "Ich wiederholte nur, was Almancero gesagt hat." "Almancero ist ein Stinktier!" "Almancero hat recht", sagte plötzlich der Caudillo. Verblüfft starrten ihn die Gauchos an. "Er hat recht", fuhr Portales fort. "Aber er hat auch unrecht. Moto, du roter Teufel - komm her! Sage jetzt, was du tun würdest, wenn du an meiner Stelle säßest! Er ist nämlich schlau, der Moto. Na?" Moto näherte sich dem Stuhl des Caudillo, er ging aufrecht, und sein Schritt federte. Doch er war schon sehr alt. Er verneigte sich und sagte: "Wenn ich an Ihrer Stelle säße, dann gäbe ich den Peones im Hof eine Kanne Cafazo. Es wird eine kalte Nacht." "Danach fragte ich nicht! Du weißt, um was es hier geht. Also?" "Ich an Ihrer Stelle, großer Caudillo, würde Alfalfa bauen und Weizen säen. Ich würde das Land in Ranchos aufteilen", antwortete Moto. "Und wer soll auf diesen Ranchos arbeiten? Wer soll die Felder nutzbar machen? Vielleicht die Peones? Die sind zu dumm. Können nicht lesen und schreiben und verstehn nichts vom Ackerbau." "Die Peones könnten das alles lernen, großer Caudillo. Aber dann werden sie sich eigenes Land nehmen, wie die Bozales es tun. Sie werden nicht mehr für den großen Caudillo arbeiten wollen", erklärte Moto. "Also können wir nicht Alfalfa bauen und Weizen säen."
"O doch, großer Caudillo. Sie können, und die Sefores hier können. Jeder Mensch kann das." "Geh an den Herd, du verfluchter Hund!" Der Caudillo knurrte vor sich hin und überlegte. Er hielt das runde Kinn in der Hand und rieb sich die Bartstoppeln. Schließlich erhob er sich. "Sefores", sagte er. "Noch nie hat ein Gaucho den Boden umgewühlt. Noch nie war er ein Lasttier. Wir haben noch nie gearbeitet und werden es auch in Zukunft nicht tun. Es geht hier um unser Lebensrecht!" Er ließ sich seinen Becher füllen und goß ihn hinter. Die anderen tranken ihm zu. Dann setzte er sich wieder und versank in grübelndes Schweigen. Moto trug auf einem großen Teller einen Berg junger Erbsen, vermischt mit grünen Bohnen, Kürbisstücken und Sellerie, herbei, darüber Schinkenwürfel und Wurstbrocken und dampfende Scheiben aufgeschnittenen Kochfleisches. "Etwas Puchero gefällig, Sefores?" "Her mit dem Fraß!" Die Gauchos aßen und tranken. Der Caudillo schwieg noch immer. "Etwas vom Spieß gefällig, Sefor Portales?" fragte Moto. "Zeig's." Der Indio schnitt ein Probestückchen herunter und reichte es dem Caudillo auf einer Schüssel. Portales hackte die Zähne hinein. "Carajo! Verbrannt!" Er warf die Schüssel hin und spuckte das Fleisch dazu. "Es ist nicht verbrannt", sagte Moto ruhig. "Du widersprichst?" "Ein Hungriger würde es mit Freuden essen." "Du bist wohl hungrig? Wag' es zu sagen, daß du in meinem Hause hungerst!" "Was soll mit dem Braten geschehen, Sefor Portales?"
fragte Moto. "Du willst ihn wohl fressen? Hast ihn verdorben, damit du ihn kriegst, che? Aber er bleibt am Spieß. Bis er ganz verbrannt ist. Dreh ihn, los, immer drehen!" Der Caudillo trat nach den nackten Füßen des Indios. Moto hob Schüssel und Fleisch auf und ging zum Herd zurück. Der Caudillo aber wandte sich an die Gauchos. "Ich habe soeben beschlossen, den Fremden, die uns den Verdienst verderben, einen Zins abzufordern. Prozente für jedes verkaufte Stück Vieh, für jeden geernteten Scheffel Weizen, Zins für die Nutzung des Bodens. So kommen wir auf ehrliche Art und Weise zu unserem Recht. Selbst wenn wir lange Zeit kein Vieh loswerden, haben wir den Zins als sichere Einnahme. Nun, Sefores?"
"Es lebe der Caudillo", schrie Pablo, der alte Pampamann, und die Gauchos stampften mit den Füßen. Ramirez aber war bei ihrem Lärmen nicht wohl zumute. ,Es ist eine vertrackte Sache', dachte er. ,Keine saubere, so scheint's. Der Caudillo hat sich da ein Spielchen ausgedacht, bei dem er selbst den großen Gewinn einramschen will.' Als sich die Gauchos wieder beruhigt hatten, fragte Ramirez mißtrauisch: "Und wie sollen diese Zinsgelder verteilt werden?" "Darüber reden wir später", meinte der Caudillo. ,Sieh da, also später', dachte Ramirez. ,Ich ahnte es.' Der Caudillo aber fuhr fort: "Ich selbst werde zu ihrem
Alkalden reiten und die Zinsen aushandeln. Ramirez begleitet mich. Moto! Was meinst du dazu?" Moto schwieg. "Na? Wozu habe ich dich?" "Zum Arbeiten, Sefor." "Und zum Denken! Dein Kopf gehört mir, verstehst du?" "Sefor, ich denke: Die Fremden werden nicht zahlen." "Dann werden wir sie ausräuchern." Der Caudillo stand auf und schwankte zum Faß. Moto mußte es auf den Kopf stellen, damit der Rest Cafazo heraustropfen konnte. Eduardo Juan Portales nahm den Zuckerrohrbranntwein in den Mund, badete darin seine Zunge und spuckte ihn dann auf den Boden. Darauf gab er Weisung, daß alle Gauchos am anderen Morgen Gilbertville, die Siedlung der Einwanderer, in vier Gruppen umstellen sollten. Er werde dann mit Ramirez zum Alkalden reiten und ihre Forderung vorbringen. Gingen die Bozales nicht darauf ein, so sollten die Gauchos auf ein verabredetes Zeichen die Weizenfelder anzünden, den Bozales das Vieh wegtreiben und das Dorf angreifen. Im Osten wurde der Nachthimmel fahl. Grau stand das Pampagras am Rande des furchigen Weges. Die Tamarugobäume, hier und da in die Ebene gestreut, bekamen blasse, verästelte Schatten. Die Nacht verblich. Mit nickendem Kopfe ritt Jakob Bauer. Er hielt die Augen geschlossen. Dann wieder riß er sie weit auf und setzte sich gerade. Aber der gleichmäßige Tritt des Pferdes wiegte ihn erneut in Halbschlaf. Er hörte den Wagen knarren und stöhnen.
Plötzlich aber ruckte Jakob Bauer zusammen. Ein kalter Streich hatte ihn getroffen. Der Pampero erwachte: Vorm gelblichen Frühhimmel beugten sich die Äste der Tamarugobäume, der Wind raschelte zwischen ihren Schotenfrüchten; er blies die trockenharten Grashalme nieder. Sie beugten sich und standen auf und sanken wieder hin und rieben sich aneinander. Es klang wie das Rauschen von Wasser. Jakob Bauer dachte zuerst an den Wagen. Der war zurückgeblieben. In seiner Plane hatte sich der Wind gefangen. Die steife Persenning knatterte und blähte sich. Das Pferd schritt mit gesenktem Kopf gegen den Wind an, der seine Mähne kämmte. Manchmal blieb es stehen. Bauer ritt zurück, und der Pampero schob ihn. Suzanne Gilbert war aufgestanden. Sie hielt die Leine fest in den Fäusten. Der Wind riß ihre Zöpfe nach vorn und schlug sie ins Gesicht, das blaß und sehr klein über dem weiten Wollumhang saß. Jakob Bauer sprang vom Pferd. Er packte die Zügel des Zugtiers und schlang sie ums Handgelenk. Das Pferd stand still und ließ den Kopf zwischen die Vorderbeine hängen. "Was ist los, Jakob?" fragte Suzanne. Sie schrie gegen den Wind. Er brüllte zurück: "Bei dem Sturm nehme ich den Wagen!" Sie zuckte mit den Schultern. Sie hatte nichts verstanden. Da band er sein Pferd am Wagen fest, so daß es mitlaufen konnte, und setzte sich selbst aufs Brett neben das Mädchen. Er schrie ihr ins Ohr: "Legen Sie das Tuch über den Kopf!" und half ihr, die Tuchzipfel unter dem Kinn zusammenzuknoten. So fuhren sie in den Sturm hinein. Sie sprachen nicht mehr - der Pampero hätte ihnen die
Worte vom Munde gefegt. Aber Jakob dachte: Seltsam, daß Papa Gilbert uns beide allein hat fahren lassen. Zu Haus, in Deutschland, wäre das nicht möglich gewesen. Ich bin weder Suzannes Bräutigam, noch bin ich ihr Mann. Hier sind die Menschen anders zueinander, wohl weil einer auf den anderen angewiesen ist. Er nahm die Zügel in die linke Hand. Mit der Rechten klappte er sein Augenlid hoch. Ein Steinchen war ihm ins Auge geflogen. Es tränte langsam heraus. Es dauerte ihm zu lange. Er rieb mit der Faust nach. Da faßte Suzanne die Zügel und nahm sie ihm fort. Doch er hielt ihre Hand fest und schüttelte heftig den Kopf. Ihr Gesicht sah weiß und spitz aus dem dunklen Tuch. Nur die Haut über den Backenknochen hatte der Sturm rotgepeitscht. Wieder hielt Jakob Bauer den Wagen an. Er öffnete die Plane und zeigte ins Innere, wo die beiden neuen Flinten und die Werkzeuge lagen. Es war noch Platz im Stroh. "Schlafen Sie jetzt!" befahl er und hob sie in den Wagen. Sie fiel ins Stroh. Er zog seine Jacke aus und breitete sie über das Mädchen. Draußen begannen die Gräser zu leuchten, nachdem der Pampero sich gelegt. Ein Feuerstreifen säumte den Horizont. Jakob Bauer, ohne seine Jacke, fror auf dem Wagenbrett. Aber er dachte nicht an die Kälte. Er überlegte, ob er Suzanne nicht etwas hätte fragen sollen, ehe sie einschlief. Ich hätte sie fragen können, ob sie mich für einen schlechten Kerl hält. Nein. Das wäre dumm und plump gewesen. Dann hätte ich sie lieber fragen sollen, ob sie das nächste Mal wieder mit mir nach San Martino fahren will. Ach, es wäre auch nicht schlauer. Gott im Himmel, ich konnte sie doch nicht fragen, ob sie
meine Frau werden will! Die Augen fielen ihr zu. Sie hätte im Schlaf irgend etwas gestammelt, wovon ihr Kopf am anderen Tag nichts wüßte. Ich mag sie nicht übertölpeln. Vielleicht will sie mich gar nicht. Er schlug die Leine auf den Rücken des Pferdes, daß es schneller lief. Im roten Sonnenlicht lag die Siedlung Gilbertville vor ihm.
Als die Sonne höher stieg, näherten sich der Siedlung zwei Reiter. Der eine trug einen weiten schwarzen Umhang aus gutem Tuch, der andere einen verschlissenen Poncho. Das Gesicht des einen war hellbraun und fett, das des anderen rotbraun und mager. Auf beiden Gesichtern aber lagen die Schatten einer durchzechten Nacht. Sie ritten an einem Felde vorbei, das weißgelb in der Sonne glänzte. An blanken Halmen bogen sich schwere Weizenähren. Zur Hälfte war das Feld leergemäht. Auf den Stoppeln hatten die Siedler aus den Weizengarben kleine Pyramiden errichtet. Die beiden Reiter blickten auf das leuchtende Getreide. Dann sahen sie einander an. "Da vorn haben sie ihr Vieh", sagte der Caudillo Eduardo Juan Portales. "In Gatter eingesperrt!" "Es ist eine Schande", sagte Ramirez. Er gähnte dabei. In einer weiten Koppel grasten Rinder. "Sogar Gescheckte haben sie", sagte der Caudillo. "Sie werden unsere Pampa noch ganz auf den Kopf stellen." Ramirez vergaß zu antworten. Er hatte zwischen den Kühen ein Mädchen mit langen braunen Zöpfen entdeckt. Sie trug zwei Melkeimer an einem Balken, der ihr über dem Nacken lag. Sie ging sehr langsam und gerade. Das Mädchen, Suzanne, dachte Ramirez. Warum schläft
sie nicht? Von San Martino bis Gilbertville sind es gute zehn Meilen. Sie wird die ganze Nacht gefahren sein. Ramirez steckte zwei Finger zwischen die Lippen und pfiff schrill. Der Tragbalken auf dem Nacken des Mädchens schwankte. Es drehte den Kopf und sah zu den Reitern hinüber. Wieder pfiff Ramirez.
Da wandte das Mädchen sich um und ging weiter. Ramirez blickte ihr nach, der Caudillo aber fuhr ihn an: "Carajo! Was sollen diese Weibergeschichten am frühen Morgen? Wir sind in einer ernsten Sache hier, Lope." Ramirez schwieg. Der Caudillo rückte seinen grünen Krempenhut gerade in die Stirn und gab seinem Pferd die Sporen. Im Trab ritten sie über den Versammlungsplatz von Gilbertville. Sie kamen an sauberen Blockhäusern vorbei, hinter den Häusern wehte weiße und bunte Wäsche an straffgespannten Leinen. Sie sind reinlich, dachte der Caudillo, als wären sie reiche Leute. Dabei haben sie nicht viel und quälen sich ab. Die Ziehbrunnen vor ihren Ranchos haben sie selbst gegraben. Die Erde zwischen den Häusern haben sie mit eigenen Füßen gestampft. Sie schuften wie die Pferde.
Aber sie sind Bozales, und deshalb müssen sie zahlen. Ramirez dachte: In welchem Haus wohnt das Mädchen? Vielleicht in dem kleinen strohgedeckten? Dann sind die Kinder vorm Haus ihre Geschwister? Aber die haben flachsiges Haar. Das Mädchen hat braunes. Neben ihm der Caudillo rief die Kinder an: "Che, ihr da! Wo wohnt der Alkalde?"
Mit Spaten und Spitzhacken über der Schulter waren die Männer hinausgegangen. Im nächsten Jahr wollten sie eine noch größere Fläche mit Weizen bebauen. Doch erst mußte das Land urbar gemacht werden. Jeder der wenigen Bewohner von Gilbertville arbeitete daran, an einer bestimmten Stelle hinter seinem Rancho, so, daß sich die neugewonnenen Ackerstücke schließlich treffen und ineinander übergehen würden. Alles Land um Gilbertville sollte Bauernland werden. Fernand Gilbert, Suzannes Vater, trat den Spaten tief in den Boden. Er hob einen Haufen klumpiger Erde heraus, hielt dann den Spatenstiel waagerecht vor sich und schüttelte ihn wie eine Bratpfanne hin und her. Es schieden sich die Steine von der Erde. Die Steine tanzten und polterten herab, die Erde aber blieb auf dem Spaten und zerfiel in weiche Krumen. Fernand Gilbert warf sie zur Seite und stach den Spaten wieder in den Boden. Diesmal traf er auf harte Wurzelstränge. Wie ein eisernes Netz spannten sie sich vor dem Spaten, der an ihnen abrutschte. Gilbert legte ihn fort und nahm die Spitzhacke. Er hakte mit dem scharfen Eisenzahn ins Wurzelwerk. Er packte den Hackenstiel mit beiden Händen und zog daran. Die Adern an seinen bloßen, mageren Armen quollen schnurgleich hervor. Eine
lange, unordentlich geknüpfte Kette - so riß er das Wurzelgeschlinge aus dem Erdreich. Er lockerte die sonnengebleichte Tuchmütze. Sie war einst dunkelblau gewesen, jetzt aber war sie hellgrau. Er wischte mit einem bunten Tuche den Schweiß vom Kopf. Die nächsten Spatenstiche führten in lockeres Erdreich. Bald aber knirschte das Eisen. Es schurrte an einem Stein entlang. Gilbert zog den Spaten zurück und versuchte es von neuem. Wieder kratzte Eisen gegen Stein. Auch beim nächsten Stich und beim übernächsten. Ein schöner Bursche, dachte Gilbert. Werde ihn freilegen müssen und ihn an die frische Luft setzen! Er hob die Erde vom Stein ab. Es war ein rötlicher Stein mit kleinen schwarzen Löchern, wie Blatternarben. Gilbert bemerkte bald, daß er nur die Spitze des Blockes freigelegt hatte. Nach unten wurde der Stein breiter. Er saß tief in der Erde. Gilbert zog mit der Hacke einen Kreis um die Steinspitze. Alle Erde, die sich im Kreis befand, schaufelte er fort. Er stieß auf Ranken und Wurzeln und kleinere Steine. Er warf alles hinter sich. ,So einen großen Stein habe ich noch nicht gefunden', dachte Gilbert. ,Mir altem Mann muß der Herrgott noch allerhand zutrauen, wenn er mir solchen Felsen in den Weg beschert.' Er führte den Spaten nun schräg unter das sichtbare Ende des Steines. Das Eisen glitt durch das Erdreich und traf kein Hindernis. Endlich! Gilbert band den Strick los, den er mehrmals um den schmalen Leib geschlungen hatte. Er knüpfte eine Schlinge und streifte sie über das Haupt des Steines. Das andere Ende des Strickes wickelte er wieder um seinen Körper.
Dann nahm er einen Anlauf. Der Strick schnitt in seinen Leib. Doch der Stein bewegte sich nicht. Der Schweiß lief ihm in die Mundwinkel. Er ging zum Stein zurück, schlug mit der flachen Hand gegen die narbige Fläche. Gilbert wagte einen neuen Anlauf, doch er stolperte und fiel auf das ausgerissene Wurzelgestränge. "Papa Gilbert! Was machen Sie da?" Gilbert spuckte Erde. Jakob Bauer war von seinem Arbeitsfleck herübergekommen. Er half Gilbert beim Aufstehen. "Wir müssen beide ziehen", sagte er. Während sie zogen und zerrten, dachte Jakob Bauer: Ich könnte ihn jetzt wegen Suzanne fragen. Er hustete und verschluckte sich. Nein! Ich sage nichts. Gilbert könnte meinen, ich hätte ihm nur deshalb geholfen. Ich hätte mich bei ihm lieb Kind machen wollen. Auf diese Weise möchte ich nicht nach Suzanne gefragt haben. Der Stein indessen rührte sich nicht. "Er ist dickköpfig", sagte Gilbert. "Wir auch", antwortete Bauer. "Wir müssen ihn mit einem Ochsen rausziehen. Dank einstweilen, Jakob." Gilbert blies sich auf die Handflächen, in die der Strick ein rotes Seilmuster gedrückt hatte. Da rief ein Junge übers Feld: "Monsieur Gilbert! Sie haben Besuch!" "Soll warten, mein Sohn. Ich arbeite jetzt!" rief Gilbert durch den Händetrichter. "Es sind Gauchos, Monsieur!" Sie saßen schon in Gilberts Küche: Lope Ramirez und
der Caudillo Eduardo Juan Portales. Ramirez hatte auf dem Wandbord die Krüge betrachtet, braun glasierte Krüge mit weißen Blumen darauf. Er war an den ziegelgeschichteten Herd getreten und hatte in den blanken Kupferkessel geschaut, der über der Öffnung hing. Alles sah sauber aus, selbst die abgesägten Baumstümpfe, die als Stühle dienten. An der Wand, über einer plumpen Holzbettstelle, hing ein ovales Emaillebild: ein Dörfchen, dessen weiße, rotgedeckte Häuser ein dünner Kirchturm überragte, eine kleine Brücke über einem Bach und am Bach kuglige Weiden. Da waren sie wohl zu Haus, dachte Ramirez. Er zeigte auf das Bild und sah den Caudillo an. Der schwieg und blickte finster auf den Boden. "Wir wollen nicht lange reden", sagte er, als Fernand Gilbert eintrat. "Ich bin der Caudillo Eduardo Juan Portales. Ich bin gekommen, Zins von Ihnen zu fordern. Haben Sie verstanden?" Fernand Gilbert setzte sich auf einen Baumstumpf und zwinkerte mit den Augen. "Mein Ohr hörte, Sefor, doch mein Kopf hat gar nichts verstanden." "So mußt du einen sehr dummen Kopf haben, Alkalde." "Kann sein, Sefor. Immerhin scheint er gut genug, dies Land hier urbar zu machen." "Das ist doch Händearbeit. Halten Sie mich nicht für unerfahren! Ich habe schon Arbeit gesehen", sagte der Caudillo. "Alle Händearbeit muß zuerst durch den Kopf." "Schluß!" rief der Caudillo. "Sie verderben uns unsern Verdienst. Deshalb müssen Sie uns entschädigen. Durch einen Zins." "Wir haben unser Land von der Regierung gekauft. Wir haben es urbar gemacht und beackern es. Es tut mir leid,
aber ein Zins steht Ihnen nicht zu, Sefor." "Das wollen wir sehen!" Gilbert ging an eine kleine, eisenbeschlagene Truhe. "Hier ist die Urkunde der Regierung." "Der Wisch interessiert mich nicht", sagte der Caudillo. "Wir fordern unser Recht!" "Es ist Unrecht, bester Herr", sagte Gilbert in freundlichem Ton. "Wir werden uns das Recht nehmen!" "Wie Sie sicher wissen, stehen wir unter dem Schutz der Regierung. Sie hat uns hier angesiedelt", antwortete Gilbert gelassen. Der Caudillo lachte. "Die Regierung", sagte er und ließ seinen Arm durch den Raum schweifen, "die Regierung ist weit fort. Hier bin ich die Regierung. Und man gehorcht mir." Er stand auf und wandte sich zur Tür. "Behalten Sie doch Platz, Verehrtester", wehrte Gilbert. Er zog eine blanke Nickeldose aus der Hosentasche und ein dünnes Pfeifchen. Er klappte die Dose auf. "Rauchen die Herren?" "Wir sind nicht als Freunde gekommen", sagte der Caudillo. Doch setzte er sich wieder. "Wir sind des Zinses wegen hier." "Jeijei", meinte Gilbert und kratzte sich den Nacken. "Also zahlt ihr?" "Nein." "Dann werdet ihr an uns denken. Ihr dankt noch der Heiligen Jungfrau, wenn ihr diese Gegend lebend verlassen könnt. Das sagt euch Portales." "Unsinn, guter Mann. Denken Sie doch vernünftig. Das Land ist groß und weit. Sie besitzen soviel davon. Wer hindert Sie denn, auch Alfalfa-Klee anzubauen und Ge-
treide? Sie könnten die Pampa bewässern. Wir könnten gute Nachbarn werden." So sprach Gilbert. Doch der Caudillo schlug sich mit der Faust aufs Knie. "Carajo, wir leben so, wie es uns gefällt, verstanden? Wenn ihr pünktlich euern Zins bringt, sollt ihr auch leben, wie es euch paßt. Zahlt ihr nicht, könnt ihr die Hölle auf Erden haben. Zahlt ihr?" "Pardon - nein." "Carajo!" Der Caudillo sprang hoch und stieß die Tür mit dem Stiefel auf. "Komm, Lope. Der Herr will den roten Hahn krähen hören. Er will ihn mit Weizen füttern. Das Vergnügen kann er haben." Da lächelte Gilbert. "Ich hatte also die Ehre, mich mit Räubern und Brandstiftern zu unterhalten . adieu, Sefores, es hat mich gefreut." Er schob die beiden mit vorgestreckten Händen hinaus und verriegelte die Tür. ,Mon dieu', dachte er, ,die könnten Ernst machen, Ich muß die Versammlung einberufen.'
Mitten im Dorf, auf dem Versammlungsplatz, erhob sich der Glockenturm von Gilbertville. Die Ansiedler hatten ihn aus dicken Baumstämmen errichtet, die sie mit ihren Fuhrwerken von Bahia Bianca heranfahren mußten. Auch die ungefüge Bronzeglocke hatten sie dort gießen lassen: ,Heute abend werde ich zur Versammlung läuten', dachte Fernand Gilbert. ,Ich werde vorschlagen, die Feldwachen zu verstärken. Auf den Turm setzen wir einen Posten, der Ausschau hält.' Er klopfte sein Pfeifchen aus und verließ das Haus. Er wollte wieder auf sein Feldstück. Als er durchs Dorf ging, sah er die beiden Besucher nicht mehr, nur von fern hörte er den Hufschlag ihrer Pferde. Sie mußten die Häusergren-
ze schon passiert haben. ,Sie beeilen sich sehr', dachte Gilbert. ,Haben sie etwa doch Respekt vor der Regierung? Ihr Stolz erlaubt ihnen nicht, das zuzugeben. Sie prahlen und krakeelen. - Ob sie wirklich nur prahlen? Vielleicht sollte ich doch schon jetzt die Glocke läuten?' Als Fernand Gilbert aber am Turm stand, überlegte er: Hat es einen Zweck, das ganze Dorf zusammenzurufen? Fast alle sind auf den Feldern. Ein ganzer Arbeitstag ginge verloren. Wegen ein paar maulheldischer Gauchos. Die Leute würden denken: Nun wird Gilbert klapprig und hat die Gedanken nicht mehr beisammen. Ein ganzer Arbeitstag. Mon dieu. Er setzte sich auf die unterste Treppenstiege und stützte den Kopf in die Hände. Wenn die Gauchos wirklich etwas vorhaben - dann gehen viele Arbeitstage verloren. Vielleicht wird uns sogar der ganze Gewinn unserer wochenlangen Arbeit genommen. Er stand auf und kletterte die Stiegen hinauf, mit seinen krummen steifen Beinen. Schließlich bin ich für alles verantwortlich. Er betrat die Plattform am Ende des Turmes. Sie war aus rohen Stämmen gezimmert und trug ein Gestell, an dem unter einem spitzwinkligen Dache die Glocke hing. Er packte das Lederseil der Glocke und schwang es hin und her. Die Schläge dröhnten in seinen Ohren, daß er nichts anderes hörte. Dann sah er hinab. Er sah rings um den Platz die Siedlergehöfte, dahinter Weiden und Felder, die große Viehkoppel und die wüsten Flächen, die Ackerland werden sollten. Jetzt liefen sie, und einige ritten: die Männer mit Spitzhacken und Spaten. Von den Weizenfeldern kamen die
Frauen. Sie ließen die Hocken halbfertig und die Garben ungebunden. Voran liefen die Schnitter mit den bogigen Sensen. In der großen Koppel zerrten die Leute ein paar Rinder hinter sich her, die sich an ihren Führstricken verknotet hatten, andere schleppten volle Melkeimer. Weit hinten, neben einer scheckigen Kuh, saß auf ihrem Melkschemel noch eine Frau. ,Sie könnte ruhig laufen, wenn ich einmal läute', dachte Gilbert. ,Sie hat eine Bärenruhe. Wer ist das bloß?' Er läutete, seine Hand tat schon weh. ,Ich läute mich lahm, und das Frauenzimmer stellt sich taub! Jetzt steht sie auf. - Aber das ist ja Suzanne! Warte, Tochter, mit dir red' ich noch. Dein Vater ist Alkalde hier.' Die Weizenfelder sind jetzt leer. Aber da kommen ja neue Leute? Was sind das für welche? Gilbert bunkerte mit den Augenlidern. Seine Augen tränten. Die Sonne blendete sie. Hinter den Weizenfeldern bewegten sich dunkle Gestalten. Ein grauer Rauch stieg gegen den Himmel, und dann schossen rote Flammen aus den Kornhokken. Sie haben Feuer gelegt! Die verdammten Hunde haben Feuer gelegt. Auch über die dunklen, umgegrabenen Flächen ritten nun fremde Reiter. Schüsse fielen wie Peitschenschläge. Fünf Siedler auf ihren Pferden - schon auf der Flucht ins Dorf - wendeten und griffen die Gauchos an, voran Jakob Bauer. Die Gauchos flohen in wildem Galopp. Aber andere brachen in die Koppel ein. Sie wollen das Vieh nehmen, dachte Gilbert. Er sah, wie ein paar Siedler sich zwischen die Rinder und die heranreitenden Gauchos keilten, er sah die Tiere mit polternden Hufen ins Dorf traben. Doch am Horizont tauchten neue Reiter auf. Ihre
Lassoschlangen schossen ihnen voran. Ein Reiter setzte über das Gatter, zwei andere folgten. ,Suzanne', dachte Gilbert. ,Wo ist nur Suzanne?' Da, ein Schrei, schrill, gellend. Im grünen Alfalfa-Klee lag Suzanne, neben ihr der umgeworfene Melkeimer in einer großen weißen Pfütze. Die Gauchos hoben sie auf, und Ramirez legte sie vor sich über sein Pferd.
Sie sperrten das Mädchen in eine entfernte Feldhütte. Drei Männer mußten sie halten. Sie schlug und biß um sich. Jetzt saßen zwei Peones neben ihr auf dem Boden. Man hatte ihre Hände mit Stricken zusammengebunden und die Fußgelenke mit Lederriemen gefesselt. Die Peones richteten die langen Läufe rostiger Flinten auf das Mädchen. Ramirez, der vor der Tür stand, hörte Suzanne lärmen und schimpfen: "Laßt mich raus!" - ,Wie lange will sie so schreien?' dachte er. ,Sie brüllt, seit wir sie in die Hütte gesetzt haben. Das ist eine Stunde her. Sie wird sich die Stimme ausschreien. Die ist keine von den Zarten, Demütigen!' Ramirez klopfte mit der Faust gegen die Tür. "Ruhe da drin!" "Räuberpack!" Er steckte sich die Finger in die Ohren. ,Räuberpack nennt sie uns. Lope Ramirez ein Räuber! Ach, verdammt, ich habe etwas falsch gemacht. Wer mit Räubern geht, wird selbst einer. Räuberpack. Und die Peones, diese Hunde, hören seelenruhig zu, wie Sie uns beschimpft. Die freuen sich, daß einer herausbrüllt, was auch sie denken! Ihr seid nicht so dumm, wie ihr euch stellt. Mit euren alten Flinten trefft ihr kein Scheunentor, schätz' ich. Aber immer, wenn ich Flinten in eurer Hand sehe, denke ich:
Wenn ihr nun einmal lernt, zu treffen?' Ramirez horchte. In der Hütte war es plötzlich still geworden. ,Ihr tut der Hals weh', dachte er. ,Jetzt sollte ich mit ihr sprechen.' Ramirez trat die Tür auf und stellte sich vor Suzanne. Ihre Hände lagen gefesselt im Schoß, ihre glatten Zöpfe hatten sich gelöst, die langen braunen Haarsträhnen hingen über die Schultern und ins Gesicht. Ihr linker Fuß war nackt. Sie hatte einen der derben Rindlederschuhe verloren, als die Gauchos sie fortschleppten. "Guten Tag, Seforita", sagte Ramirez. Sie antwortete nicht. "Che, kannst du nicht danken, wenn man dich grüßt?" "Danken? Wohl für die Fesseln? Oder für den Ritt? Oder für die ausgegossene Milch?" Ramirez seufzte und zog die Schultern hoch. Schließlich sagte er: "Ich werde natürlich nicht dulden, daß dir Unrecht geschieht. Deine Fesseln werden dir abgenommen. Ich setze das beim Caudillo durch. Auf Ehre! Hast du Durst? Cafazo?" Er zog eine platte Blechflasche aus der Hosentasche. "Gestern wolltest du nicht trinken. Aber heute ." "Ich will Wasser." "Du sollst Wasser haben." Er schnallte seinen Becher vom Gurt und gab ihn dem einen Peon. "Hole Wasser!" "Hier gibt es weit und breit kein Wasser, Sefor." "Dann suche etwas! Die Seforita verlangt Wasser!" Ramirez wandte sich wieder an Suzanne. Seine Stimme klang weich: "Du siehst, Mädchen, ich tue alles, damit du dich wohl fühlst. Du kannst mich um alles bitten. Verstehst du?" Suzanne nickte und sagte leise: "Dann möchte ich nach
Haus." "Carajo! Das geht nicht." Er hustete. "Ich werde den Caudillo überreden. Das kann ich leicht", erklärte er dann großartig. Er ging ein paarmal in der Hütte auf und ab. Sie hat mich einen Räuber geschimpft. Ich aber werde ihr helfen. Ich bin Caballero. "Ich muß Ihnen etwas erklären, Seforita." Er stockte. Wie soll ich ihr das beibringen! Jedem Mädchen in San Martino und Bahia Bianca könnt' ich es sagen, mitten ins Gesicht. Carajo! Denen brauch' ich's gar nicht zu sagen! Die nehm' ich mir und basta! Das BozalWeib hab' ich mir erobert, und hab es doch nicht erobert. Soll ich wie ein verliebter Täuber um sie herumtanzen? Sie ist hartnäckig und läßt sich nichts sagen. Wenn man so eine Frau hat und wenn sie einem nachher gehorcht, dann ist das die größte Ehre für einen Gaucho. Weil es schwer ist, so eine unterzukriegen. "Warum wollen Sie weg, Seforita?" fragte er plötzlich. "Bleib doch bei uns." Sie schwiegen eine Weile. Suzanne betrachtete den rotbraunen Mann, der vor ihr stand, kleiner als sie selbst, mit schmalen Armen und Beinen, einem Körper, der zierlich gewesen wäre ohne die harten Sehnen und die sonnengedörrte Haut. Sie bemerkte den großen Caravana, der das Ohrläppchen des Gauchos herabzog, und sie lächelte im stillen. Wie ein Zigeuner sieht er aus. Als sie aber Ramirez' schwarze Augen sah, mit roten Äderchen im Weiß und großer, durchsichtiger Pupille, blickte sie rasch zur Erde. Der Gaucho sagte: "Ich muß zu den andern. Wir sprechen uns noch." Er wollte jetzt mit dem Caudillo reden.
Als Ramirez zum Caudillo kam, hatte der die Gauchos um sich versammelt, um ihnen weitere Befehle zu geben. Portales drehte sich um, als Ramirez in den Kreis trat. "Lope - du hast das Bozal-Weib gefangen. Du kannst auch die Botschaft hinüberbringen." "Welche Botschaft?" "Wir werden den Bozales schreiben: Zahlt ihr Zins, geben wir euch das Mädchen. Zahlt ihr nicht ." "Die zahlen nicht!" rief Ramirez. "Es ist die Tochter des Alkalden." "Das ist denen egal. Aber man sollte ihr die Fesseln abnehmen." "Wie kommst du darauf? Sie flieht uns." "Sie wird nicht fliehen, wenn wir sie gut behandeln." Der Caudillo wehrte ab. "Wir schicken die Botschaft. Geld gegen Mädchen - Mädchen gegen Geld." "Wir müssen ihr die Fesseln abnehmen", beharrte Ramirez. "Sie soll frei sein." "Sie ist frei, wenn ihr Vater den Zins zahlt. Du wirst selbst reiten", antwortete der Caudillo. "Unsinn! Der Alte zahlt nicht. Da brauche ich erst gar nicht zu reiten!" schrie Ramirez. Dabei dachte er: ,Das Mädchen darf nicht fort. Ich hab' es mir erobert. Es gehört mir. Sie sollen es nicht für ihre schmutzigen Geschäfte benutzen. Und die Hände muß sie bewegen können. Ich habe ihr mein Wort gegeben.' Er setzte noch einmal zum Sprechen an, doch der Caudillo ließ ihn nicht zu Worte kommen. "Ramirez hat gestern zuviel Cafazo gesoffen. Er redet wie ein Idiot. Er will sie frei sehen, aber er will nicht reiten, damit sie zu ihrem Vater zurück kann. Was will er denn eigentlich?"
Ramirez gab keine Antwort. Er verließ den Kreis der
Gauchos und setzte sich neben die Feldhütte. Der Caudillo
Portales aber gab einem anderen Gaucho den Befehl, die Botschaft in die Siedlung zu bringen. Er ließ auch Fackeln verteilen. "Wenn die Bozales nicht gehorchen", sagte er, "stecken wir ihre Häuser an und nehmen das Dorf heute abend." Als es Abend wurde, flog ein flacher, an den Rändern gezackter Stein über den Zaun vor Gilberts Haus. Der Alkalde hob ihn auf und trug ihn in sein Haus. Da saßen auf den Baumstümpfen Jakob Bauer, Manuelo, der Schmied, und der dünne, kleine Schuster Luigi Risso. Auf dem Herd blakte die Petroleumfunzel. Gilbert hielt den Stein ans Licht. Er war mit Rötel beschrieben. "Eine Botschaft", sagte Gilbert "Von den Gauchos." Jakob Bauer streckte die Hand nach dem Stein aus. Er las. Sein Gesicht wurde bleich. "Sie wollen uns mit Suzanne erpressen, wenn wir nicht zahlen ." Gilbert griff nach dem Stein. Aber Jakob Bauer deckte die Hand darauf. "Wir können ihnen eins mit dem Hammer zahlen!" polterte der Schmied Manuelo, und Luigi Risso lachte darüber. "Was wollen sie machen, wenn wir hart bleiben?" fragte Gilbert. Seine Kinnlade hing herab und zitterte. "Sie werden doch Suzanne nichts tun? Ich läutete wie wild, aber sie mußte fertig melken! Sie gehorchte ihrem Vater nicht. Gut. Aber, daß sie dem Alkalden nicht gehorchte, das ist strafbar. Wenn ich nur wüßte, daß die Gauchos ihr nichts tun. Ich bin doch Alkalde, ich muß zuerst an das Dorf denken."
Jetzt sagte Jakob Bauer: "Es wäre vielleicht besser, wir zahlten." "Nichts da", wehrte der Alkalde. "Wir unterstützen nicht Unrecht. Das Land hat uns die Regierung gegeben. Wir sind niemandem zum Zins verpflichtet." "Es handelt sich um Suzanne", murmelte Jakob Bauer. "Meine Tochter laß aus dem Spiel." Gilbert seufzte. "Sie war ungehorsam. Ihretwegen darf ich nicht das Geld der Allgemeinheit ausgeben." "Wir können ja so tun, als ob wir zahlen wollen. Wir können es ihnen schriftlich geben", schlug Luigi Risso vor. "Wenn wir dann das Mädchen wiederhaben, wissen wir von nichts." Er lachte und zwinkerte mit den Augen. "Darauf fallen die Gauchos nicht herein", sagte Jakob Bauer. "Wenn wir bis heute abend, neun Uhr, den Zins nicht gebracht haben, müssen wir auf einen Angriff gefaßt sein." "Wir haben nicht viel Munition", antwortete Gilbert. "Ich habe alle Flinten nachgesehen", sagte der Schmied. "Es sind zusammen zwanzig." "Sind die Posten aufgestellt?" fragte Gilbert. "Ja", sagte Jakob Bauer. Doch er fügte hinzu: "Das nützt alles nichts. Auf die Dauer werden wir uns nicht halten." "Wir stellen alle Wagen im Kreis um die Siedlung!" rief Gilbert. "In jeden Wagen Bewaffnete, und hinter den Wagen Leute, mit Forken, Dreschflegeln und Steinen." "Die Leute sind müde", entgegnete Jakob. "Schick die Hälfte schlafen. Sie können später die Müden ablösen." Fernand Gilbert gähnte und zog seinen Tabak aus der Tasche. Nun gähnte auch Risso, der Schuster. Jakob Bauer ging hinaus zu den Siedlern. Manuelo
folgte ihm. "Ich weiß nicht", sagte Risso. "Sollten wir nicht lieber einen anderen Platz zum Siedeln aussuchen? Einen friedlicheren?" Der alte Gilbert blinzelte schläfrig gegen das Licht. "Was sagst du da?" "Weg von hier, mein' ich. Die Gauchos werden keinen Frieden geben, ehe wir nicht die Gegend verlassen haben." "Verlassen?" Gilbert öffnete weit die Augen. "Hier ist unser Schweiß geflossen. Hier haben wir krumme Rücken und hornige Hände bekommen. Das Land ist unser Eigentum geworden, weil wir's durchgeackert haben, auf und ab . das lass' ich nicht aus der Hand."
Er ging zur Tür. Als er sie öffnete, zuckte er zurück. Ein greller Lichtschein flatterte über Gilbertville. Pferdehufe schlugen den Boden. Sehr nahe knallten Gewehrschüsse. Gilbert hakte seine Flinte vom Nagel und lief hinaus, hinter ihm Risso. Gilbert rannte über den Versammlungsplatz. Er stellte sich unter den Glockenturm und schrie zum Posten hinauf:
"Was siehst du?" "Gauchos von allen Seiten, Alkalde, mit brennenden Fackeln." Und die ersten sind schon da, dachte Gilbert. Er sah, daß die Wagen, wie er empfohlen hatte, im Kreis um das Dorf gefahren waren. Doch es gab Lücken, die die Siedler gerade mit Kisten, ausgehängten Türen und Hebebalken zu stopfen versuchten. Er hörte Jakob Bauers Stimme, vorn an einem der Wagen; "Keiner feuert ohne Befehl! Wir müssen mit Munition sparen. Zielt richtig! Alles hört auf mein Kommando!" "Mon dieu, an dem ist ein Kommandeur verlorengegangen." Gilbert lächelte Risso zu, der dicht neben ihm stand. Nun sah Gilbert die Gauchos anreiten: Ihre farbigen Ponchos leuchteten dunkel im Schein der Fackeln. Die breitrandigen Hüte beschatteten ihre Schultern, die sich nach vorn beugten. Sie schrien beim Reiten. Eine Fackel sauste durch die Luft, ein feuriger Kometenschweif, noch eine Fackel, zwei, vier . Ein Planwagen brannte, und aas dem Strohhaufen vor Rissos Tür stieg eine hohe, helle Flamme. ,Das Feuer muß gelöscht werden. Es darf nicht übergreifen.' Gilbert rief: "Alle, die kein Gewehr tragen, zum Löschen!" Dann platzten die Kugeln der Gauchos gegen Bohlen und Bretter und Wagenplanken. "Herankommen lassen. Dicht herankommen lassen!" kommandierte Jakob Bauer. "Jetzt: Feuer!" Auf einen Schlag feuerten die Gewehre der Siedler. Auf der anderen Seite des Dorfes führte der Schmied Manuelo den Befehl. Hier hatten Frauen und größere Kinder Steine aufgehäuft, die sie auf die Angreifer schleuderten. Sie
packten die Fackeln, die die Gauchos hereinwarfen, hoben sie auf und ließen sie auf die Brandstifter zurücksausen. Gilbertville umschloß ein feuriger Ring.Nach einer halben Stunde befahl Jakob Bauer: "Legt die Gewehre hin." Er blickte über das Vorfeld. Dunkle Klumpen, das waren die erschossenen Pferde, dazwischen schwelten weggeworfene Fackeln. Am Horizont geisterten entschwindende Schatten. "Sie sind besiegt!" schrie ein rothaariger Junge, der mitgeschossen hatte. Er riß seine schäbige Tuchmütze vom Kopf und schwenkte sie. Jakob Bauer nahm sie ihm aus der Hand und drückte sie ihm wieder auf den Schädel. "Gegner geschlagen - Munition fast alle! Was machen wir, wenn sie wiederkommen?" Der Junge guckte erstaunt. Jakob Bauer eilte ins Dorf zurück, zum Alkalden. "Ich reite, Papa Gilbert, und hole Suzanne raus." Fernand Gilbert knabberte an seiner Unterlippe. Er ging auf und ab und sah zu, wie Jakob Bauer neue Patronen in seinen Gurt steckte und die Flinte schulterte. Dann sagte er leise: "Jakob, ich kann es nicht erlauben." Jakob blickte ihn wütend an. "Ich werde Suzanne retten. Es kann kosten, was es will!" "Aber wie willst du das denn machen? Meinst du, die Gauchos lassen Suzanne frei herumlaufen, daß du sie vom Fleck weg retten kannst?" "Ich nehme noch Leute mit." "Ja. Schön. Aber dann verschießt ihr die letzten Patronen. Ihr setzt euer Leben aufs Spiel, und wir brauchen doch jetzt jeden Mann!" Papa Gilbert stand schwerfällig auf, setzte sich aber gleich wieder. Er stützte das Kinn in die hohle Hand und sagte: "Ich bin ein alter Mann. Und
ich bin Suzannes Vater. Kann ich denn Alkalde sein, jetzt, da Suzannes Leben gegen das Leben des Dorfes steht? Ich habe doch auch nur ein menschliches Herz." "Ich reite, Papa Gilbert. Genug geredet." Doch Fernand Gilbert begann wieder: "Es kommt nicht nur aufs Herz an. Der Verstand ist jetzt an der Reihe." Er löschte die Petroleumfunzel. "Wir berufen die Versammlung ein. Sofort. Ich werde zum Beschluß vorschlagen, daß du reitest nach Fort Asuncion, um Regierungstruppen heranzuholen. So ist beiden geholfen. Dem Dorf und - Gott gebe es - meiner armen Suzanne."
Der Caudillo Eduardo Juan Portales ließ sich vom Pferd fallen. Er warf die Zügel einem kleinen Peon zu und stampfte durch das Gras. Gegen seine blanken Stiefelschäfte schlugen die Halme. Dem Caudillo entgegen kamen zwei schwarze Gestalten, zwischen sich trugen sie ein langes schwarzes Brett. "Was tragt ihr da?" fragte Portales. "Jose", antworteten sie. "Sind es noch mehr?" "Serapio, Pedro, Jeronimo . Alle konnten wir nicht mitnehmen." Wie viele liegen noch vor Gilbertville? Wut würgte den Caudillo. Und wie viele Pferde! Kostbare Pferde. Das sollen die Bozales büßen. Er blickte sich um unter den Schattengestalten, die ihn umlagerten. "Lebt Lope Ramirez?" "Ich lebe", sagte Ramirez. Er sah die Hängebacken im schwammigen Gesicht des Caudillos zittern. Portales stand auf seinen kurzen, fetten Beinen im hüfthohen Gras wie ein häßlicher alter Hamster. Der Caudillo biß sich auf die volle, hängende Unterlip-
pe. Er schlug das hohe Gras zur Seite und trat darauf herum. "Wo ist das Mädchen, das du gefangen hast?" Ramirez antwortete: "In der Hütte." Er bereute es, als er Portales' verzerrten Mund sah. "Das Bozal-Weib muß sterben. Du, Ramirez, wirst es an den nächsten Baum hängen." "Nein!" schrie Ramirez. "Wir rächen den Tod unserer Brüder", sagte Portales kalt. Er fügte hinzu und lächelte schief: "Es muß dir doch eine Freude machen: Erst hat sie dir den Kopf verdreht, nun drehst du ihr den Hals um." Da sprang Ramirez auf. Heilige Jungfrau, steh mir bei er ist der Caudillo, und das Mädchen ist eine Fremde! Dem Caudillo muß man gehorchen. Aber es handelt sich um Suzanne! Er trat dicht an Portales heran. "Ist das Gauchoart, ein wehrloses Weib zu töten?" Der Caudillo wich einen Schritt zurück. "Ist es Gauchoart, dem Caudillo zu widersprechen?" Lope Ramirez blieb starr vor dem Caudillo stehen. "Ich gehorche nicht den Befehlen von Spitzbuben. Wer ist denn schuld an unserer Niederlage? Wer hat uns gegen die Bozales gehetzt, che? Es war eine unrechte Sache, Caudillo!" "Schweig!" brüllte der Caudillo. "Ich schweige nicht! Nicht das Mädchen, nicht die Bozales, sondern du bist schuld am Tod unserer Männer. Du würdest uns alle opfern, wenn du nur zu deinem Geld kommst!" Des alten Pablo heisere Stimme krähte: "Weißt du, was du da sagst, Lope Ramirez?" "Ich weiß es. Und ich sage noch mehr: Portales ist kein Caudillo nach dem Herzen eines Gauchos. Ich erkenne ihn nicht an." Er riß sieh das Lasso vorn Gürtelhaken und warf
warf es vor Portales ins Gras. Der Caudillo stieß mit der Stiefelspitze gegen das geschlungene Seil. Sein Gesicht war ein gelber Fleck unter dem breiten Hut. Mit steifen Fingern löste er sein Lasso vom Gurt und ließ es auf den Boden fallen. Ramirez sah es und lächelte grimmig. Er würde für das Mädchen kämpfen. Für die alte Gauchoehre würde er kämpfen.
Der Mond trat aus einer Wolke, und sein gelbes Licht flackerte. Der Nebel hatte die Pampa mit einer grauen Decke überzogen. Auf sie stellten sich die berittenen Gauchos, schwarze Silhouetten, wie Fabelwesen: vierbeinig, zweiköpfig und überdacht mit einem Reif. Sie säumten die Kampfbahn wie zwei Baumreihen eine breite Allee. Die Pferde schnaubten. Hin und wieder krächzte ein Gaucho sein Pferd mit rauher Stimme an. Nur Ramirez am linken und Portales am rechten Ende trabten mit ihren Hengsten, setzten mit ihnen zum Galopp an, unterbrachen ihn wieder und trieben die Tiere zurück. Ihre Pferde waren unruhig vor Spannung und Erregung. Sie bockten, schlugen den Kopf zum Reiter und blähten die Nüstern. Sie schnupperten, und plötzlich streckten sie die Hälse und stießen ein Wiehern aus, das in der Stille der Nacht grausig klang. Im fahlen Gegenlicht der Mondscheibe hielt auf einer sanften Bodenwelle der zerlumpte Pablo auf seinem Pferd. Jetzt hob er den rechten Arm, streckte ihn hoch und schaute nach beiden Seilen, an deren Enden die Kämpfer auf den nervösen Pferden lauerten. Ein Schuß bellte in die
Nacht, und vom erhobenen Arm des alten Pablo löste sich ein weißes Wölkchen. Die Silhouetten an den Enden der Kampfbahn strebten aufeinander zu. Die Reiter duckten sich hinter den flatternden Mähnen der Pferde, so daß sie mit den Körpern der Tiere verschmolzen. Die Pferde trabten heran. Ein Zittern lief über die Erde und machte sie schwanken. Jetzt hob sich der rechte Reiter aus dem Sattel, stand in den Bügeln, schnellte seinen breiten Körper vor, und das Lasso segelte durch die Luft, eine lange, dünne Schnur, silbrigglänzend im Mondlicht. Sie eilte auf den linken Reiter zu. Eine Schlinge öffnete sich über Ramirez.
Er aber riß das Pferd zur Seite. Das Lasso klatschte auf das Pampagras. Ramirez auf seinem Pferd jagte zum anderen Ende der Kampfbahn und wendete. Wieder brausten die beiden aufeinander los. Als sie sich einander näherten, fuhren ihre tödlichen Schnüre steil in die Luft, schwebten und überkreuzten sich. Ramirez und Portales schlugen einen Haken, und jeder ließ schnell das Lasso aus den Händen gleiten, so daß das Kreuzgeflecht verschlungen zu Boden sank. Sie ließen ihre Pferde aus-
laufen, wendeten sofort und jagten im scharfen Galopp aufeinander zu. Sie keuchten. Da riß Ramirez sein Pferd zurück. Es bäumte sich und stand auf den Hinterbeinen. Ramirez kniff die Augen zusammen und lenkte mit harter Hand das Seil. Er stemmte die Beine in die Bügel und legte seinen Körper zurück. Dann zog er die Schlinge zu. Der Gegenzug schleuderte ihn beinahe vom Pferd. Er fiel vornüber und biß mit den Zähnen in die Mähne. Den linken Arm schlug er krampfhaft um den Hals des Pferdes. Das Tier schwankte. Ramirez aber riß am Lasso, die Adern und Sehnen seines mageren Armes quollen hervor. Als er einen dumpfen Aufprall hörte, als fiele ein Sack auf die Tenne, stöhnte er: "Jesus, Maria, bei allen Heiligen ." Ramirez richtete sich auf. Die silbergraue Schnur führte zu Portales. Der getötete Caudillo lag wie ein unförmiger Klumpen auf der nebligen Pampadecke. Sein Pferd umkreiste ihn, kläglich schnaufend. Dann setzte es über ihn hinweg und sprang, jetzt in hellen Trompetenstößen wiehernd, in die Pampa hinein. Es hatte keinen Herrn mehr. Ramirez ließ das Lasso zur Erde gleiten. Er zog einen Baumwollfetzen aus der zerbeulten Hosentasche und wischte sich den Schweiß ab. Die Gauchos strömten von allen Seiten auf ihn zu und umstellten ihn. In der Nebelstille knarrte Pablos Stimme: "Es lebe unser Caudillo Lope Ramirez!" Einer nach dem anderen drängte sich zu Ramirez, um ihm die Hand zu drücken. Ramirez aber wendete das Pferd und durchbrach ihren Kreis. Er jagte zur Hütte, und sie sprengten hinter ihm her. Die Pampa dröhnte vom Schlag der vielen Pferdehufe. Vor den Mond zog sich ein Wolkenschleier.
Vor der Feldhütte stieg Ramirez vom Pferd. Als er sah,
daß die anderen ihm nachkamen, stellte er sich zu ihnen
und sagte: "Macht, daß ihr wegkommt!" Er wartete, bis sie sich in der mondbeschienenen Pampa zerstreut hatten. Jedoch ging Ramirez noch nicht in die Hütte. Er zog seinen lappigen Poncho glatt und fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs ruppige schwarze Haar. Dann spuckte er dreimal auf die Erde und scharrte mit dem Fuß darüber. Er trat ein. Der kahle Raum war in braunes Licht getaucht, in einer sanft gewölbten Schale schwamm ein brennender Docht. Die Peones erhoben sich, und ihre langen Schatten knickten sich am Hüttendach. Ramirez sagte zu ihnen: "Geht nach Hause!" Suzanne lag auf dem Boden und hielt die Augen geschlossen. Schlief sie? Ramirez beugte sich über sie. Jetzt kann ich es ihr sagen, dachte er. Ich werde ihr sagen: Mädchen, du bist frei. Ich habe mein Leben für dich gewagt. Jetzt kannst du nicht mehr anders, jetzt mußt du meine Frau werden. Er zog das lange, krumme Messer aus der ledernen Scheide, die an seinem Gürtel hing, nahm ihre Hände und durchtrennte die Fessel. Auch die Riemen an den Fußgelenken löste er. Sie soll frei erwachen! Suzanne hatte nicht geschlafen. Sie schlug sehr rasch die Augen auf, setzte sich hin und begann die geschwollenen Fußknöchel zu reiben. Sie sprach kein Wort zu Ramirez. Der Gaucho beobachtete sie. ,Was soll ich nun sagen? Am besten packe ich sie auf mein Pferd und reite mit ihr davon. Dann habe ich sie.' Er schüttelte den Kopf. ,Ich hätte ihr dann nicht die Fesseln abzunehmen brauchen.' "Sie sind frei, Seforita", sprach er mühsam. Suzanne sah ihn unfreundlich an. ,Was ist diesem Auf-
schneider jetzt eingefallen? Ich soll frei sein? Dahinter steckt eine List.' Ramirez überlegte, was er weiter tun sollte. ,Ich kann sie jetzt nicht mitnehmen', entschied er. ,Das wird sie sicher nicht wollen. Aber - bei allen Heiligen - ich kann sie doch nicht wieder laufen lassen! Ich brauche sie. Sie soll für mich mit dem schäbigen Almancero feilschen. Vielleicht zeigt sie mir, wie man Alfalfa-Klee anbaut. Sollte ich sie nicht zuerst zu ihrem Vater schicken? Morgen reite ich dann zu ihm und sage: Höre, Alkalde, wir wollen den verfluchten Zins nicht mehr, aber gib mir deine Tochter. Sie soll es bei mir gut haben. Ich werde sie nicht prügeln. Und wenn in San Martino Markttag ist, kaufe ich ihr Kleider und Caravanas und was sie will. Gib sie mir, dann sind wir verwandt, und unter Verwandten herrscht nach Gauchoart Friede.' Das Nachdenken grub tiefe Rillen in seine Stirn. Suzanne stand auf. Was hat der? Sagt kein Wort. Dabei kann er krakeelen wie kein zweiter. "Ich will endlich nach Hause", sagte sie schnell. Ramirez schreckte aus seinen Gedanken und lächelte breit. "Seforita", verkündete er prahlerisch, "ich habe mein Gauchowort gehalten." Er öffnete ihr die Tür und grinste über das ganze Gesicht. Sah sie nun, was für ein Kerl er war? Suzanne ging hinaus. Langsam folgte ihr Ramirez. Als sie seinen Schritt auf dem Gras hörte, ging sie schneller. Er blieb stehen. Jetzt lief sie, und sie humpelte dabei, weil sie nur einen Schah anhatte. Ramirez starrte ihr gebannt nach. Wenn sie sich doch einmal umdrehen möchte! Er legte die Hände als Trichter um den Mund: "Che, Suzanne!" brüllte er. Sie schaute
nicht zurück und lief weiter, mit hüpfenden Schritten. Sie sieht sich nicht um, dachte der Gaucho. Carajo! Ich glaube, dieses verfluchte Bozal-Weib liebt mich ebensoviel, wie ich die alte Usebia liebe! Suzanne will von mir gar nichts wissen. Seine rauhe Hand fuhr über den zerlöcherten Poncho. Wer bin ich denn auch? Fünf Peso zahlt mir Almancero. Der muß es wissen, was ich wert bin . Er ging zu seinen Kumpanen, die ihn grölend empfingen. Sie ritten nach San Martino, in das Haus des alten Caudillo. Sie jagten Usebia vom Lager und ließen Moto ein Rind schlachten.
Ramirez aber setzte sich in den geschnitzten Lehnstuhl des Eduardo Juan Portalos. Vorher hatte er auf das leere, umgekehrte Cafazofaß seine fünf Peso gelegt, die er für die Färse bekommen. Auch die anderen zogen ihre mageren Beutel und warfen die letzten Pesos und Centavos dazu. Die alte Usebia huschte herbei und wischte die Geldstücke in ihre Schürze. Dann rollte Moto ein neues Faß herein. "Moto!" krächzte Ramirez. "Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst?" "Großer Caudillo .", begann der alte Indio, doch Ramirez schnitt ihm das Wort ab. "Schweig! Was verstehst du schon davon. Kann denn eine alte Rothaut wissen, wie's einem Gaucho zumute ist?" Und er betrank sich in dieser Nacht, wie er sich noch nie betrunken hatte. Am anderen Morgen waren die Peones verschwunden. Moto, der Indio, hatte ihnen gesagt, mit den Gauchos gehe es nun zu Ende.
Anmerkungen: Alfalfa-Klee Alkalde Bodega Bozal, Bozales Cafazo Carajo! Caravanas Caudillo che! Churrasco Gaucho
Pampa Pampero Panaderia Pulperia Puchero Tamarugo
Luzerne Dorfschulze Kneipe schlecht Spanisch Sprechender, Neuling in Argentinien Zuckerrohrbranntwein Verflucht! Ohrringe Häuptling der Gauchos he, hör mal! in der Glut gebratenes Fleisch Die Gauchos waren die Besitzer der Viehherden der Pampa. Im vorigen Jahrhundert beherrschten sie lange Zeit Argentinien. Unter ihrem blutrünstigen Caudillo Rosas (1829 bis 1841) rotteten sie die Indianer der Pampa aus, tyrannisierten die Bevölkerung und errichteten ein unvorstellbares Schreckensregime. Sie brachten das Land in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise, und Rosas wurde 1841 von fortschrittlich gesinnten Männern verjagt. Die neue Regierung rief, um Argentinien wirtschaftlich wieder in die Höhe zu bringen, Ansiedler ins Land. Ihr theoretischer Führer, Alberdi, stellte die Losung auf: "Regieren heißt besiedeln." Durch die ökonomische Entwicklung wurde die Macht der Gauchos gebrochen. die argentinische Steppe der kalte Pampawind Bäckerei Kramladen argentinisches Nationalgericht Hülsenfruchtbaum der Pampa
Heft 125
Mit Philipp, dem Sohn des Nachtwächters, der in der Neujahrsnacht den Dienst versieht, wechselt eine vornehme Maske die Kleider. Sie spielt den hohen Häuptern der Stadt einen Streich, indem sie in Spottversen deren Schlampereien aufdeckt. Im Ballsaal des Schlosses taucht Philipp in den Kleidern der Maske auf und wird von allen für den Prinzen Julian gehalten, der hier in zahlreiche Händel verwickelt ist. Es entsteht ein heilloses Durcheinander, doch es gelingt Philipp zu entfliehen. Als Philipp und die Maske zusammentreffen, um die Kleider wieder zu tauschen, werden sie von Polizeidienern, die durch die verspotteten Minister alarmiert worden sind, umringt und festgenommen. Wie die ganze Komödie aufgeklärt wird und Philipp sogar eine neue Stellung erhält, erfahrt ihr im nächsten Heft DAS ABENTEUER IN DER NEUJAHRSNACHT von Heinrich Zschokke