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Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31036 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Titel der Originalausgabe: HIGH DESTINY Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Weidemann Umschlagillustration: Blair Wilkins Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1973 by Dan Morgan Printed in Germany 1982 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31036 2 Januar 1982
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Morgan, Dan: Herrscher der 13 [dreizehn] Welten / Dan Morgan. [Aus d. Engl. übers, von Klaus Weidemann]. - Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1982. (Ullstein-Buch; Nr. 31036: Ullstein 2000: Science Fiction) Einheitssacht.: High destiny
ISBN 3-548-31036-2 NE:GT
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Dan Morgan
Herrscher der dreizehn Welten Roman Dieses E-Book ist Freeware und nicht für den Verkauf bestimmt
Herausgegeben von Walter Spiegl Science Fiction scanned by: crazy2001 corrected by: stumpff -2-
Für Gordon O. und John P., die dabei waren, als diese Geschichte begann.
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»Die Setzlinge sind nun ausgewachsen -. Von geradem Wuchs, schön anzuschauen, Jeder des andern Zwilling, Stehen sie tapfer im Sonnenlicht, Doch des Schnitters Messer ist nahe.« Isere Das Lied Annriths, der Schönen
Erster Teil HALDOR
l Haldor, der Herrliche – auch als »der Unsterbliche« bekannt –, Kaiser der Dreizehn Welten. Der Überlieferung zufolge regierte Haldor von Belphar aus, dem dritten Planeten des Marischinisystems, über eine Zeitspanne von etwa drei Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch des Ersten Imperiums (vgl. Majestät Annrith, die Schöne). Die Unterlagen aus diesem Zeitabschnitt sind bekanntlich unzuverlässig, und obgleich an der Existenz einer Person wie Haldor kein Zweifel bestehen kann, hält man es doch für wahrscheinlicher, daß seine angebliche Unsterblichkeit sich am besten durch die Theorie erklären läßt, daß eine Anzahl Herrscher auf ihn folgten, welche bei der Thronbesteigung jeweils den Namen Haldor übernahmen. Es ist gemeinhin bekannt, daß das unwissende gemeine Volk dieses dekadenten Zeitalters nur zu gern an solche »Zaubereien« und »Wunder« glaubte. Eliphas Lilie FINSTERE TAGE DES IMPERIUMS GALACTIC PRESS DE. 8675
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»Bei den Göttern! Ich dachte schon, sie gingen überhaupt nicht mehr«, sagte Lingard, als sich die Tür hinter dem letzten säumigen Höfling schloß. »Ich hatte vergessen, wie sehr einem diese Katzbuckelei auf die Nerven gehen kann. Auf den äußeren Welten ist man nicht so förmlich.« Er ließ sich auf einem goldgrün gewirkten Polsterstuhl nieder, der zierlich wirkte im Vergleich zu seinem massigen Körper, und schenkte sich aus einer Kristallkaraffe Wein in einen Kelch. Haldor blieb am offenen Balkonfenster stehen. Am westlichen Horizont wich das Rot des Sonnenuntergangs einer purpurnen Abenddämmerung. Tantar, der kleinere von Belphars zwei Monden, war schon sichtbar und zog seine Bahn, die ihn von Nord nach Süd am Himmel entlanghuschen ließ. Der Palast, hoch oben auf dem Berg erbaut, welcher Largol, die Hauptstadt, überblickte, ruhte auf einem Sims, der aus dem gewachsenen Fels herausgehauen war, und grenzte hinten an eine Steilklippe aus rotem Sandstein, die tausend Meter hoch ragte. In den Tagen des alten Imperiums war er das Heim des Vizekönigs des Reichs gewesen und hatte als uneinnehmbar gegolten. Bis zu jener Nacht, als er, Haldor, fünfhundert ausgesuchte Kämpfer die unbezwingbare Klippe hinabgeführt und die Festung von innen angegriffen hatte. Der Überfall auf den Palast, unterstützt von Lingards Ablenkungsmanöver vor den Haupttoren, hatte zum Erfolg geführt, doch es war nur ein Schritt in dem langen Kampf gewesen, das System vom Joch des Imperiums zu befreien. In der Dämmerung flackerten nun die Lichter von Largol auf. Leuchtstreifen folgten den gewundenen, terrassierten Straßen, die zwischen alten würdevollen Gebäuden hinunter zum Hafen führten. Aus den vielfältigen Gerüchen der Stadt spürte Haldor den angenehm frischen Duft des Meeres heraus. Weit draußen in der Bucht konnte er das grelle Leuchtfeuer sehen, das die Insel Sardnat war, der wichtigste Raumhafen auf dem Planeten. Sowohl Stadt als auch Raumhafen waren schon uralt gewesen, als er und Lingard in der Blüte ihrer ersten Jugend dem sterbenden, aber noch machtvollen
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Imperium den Kampf angesagt hatten. Über mehr als dreißig blutige Kriegsjahre hinweg hatten sie ihre Kräfte in diesen Kampf gesteckt, hatten Schulter an Schulter gefochten, jeder dem anderen ein dutzendmal das Leben gerettet. Und jetzt – Haldor unterdrückte den Anflug von Traurigkeit, der seine Entschlossenheit zu erschüttern drohte, und wandte sich seinem alten Kameraden zu. »Es ist schön, dich wieder hier zu haben«, sagte er. »Du warst viel zu lange fort.« »Bin den Geschäften meines Kaisers nachgegangen. Und hin und wieder meinen eigenen – die Frauen von Eristar sind übrigens immer noch so talentiert. Du hättest dabeisein sollen.« Haldor musterte Lingard, der einen tiefen Schluck aus dem Weinkelch nahm. Lingard war ein kraftstrotzender Riese von einem Mann, mit dem Appetit eines solchen. Er liebte die sinnlichen Dinge des Lebens und war zugleich von einer solchen Arglosigkeit beseelt, daß er seinen Gelüsten frönen konnte, ohne sichtliche Gewissensbisse dabei zu verspüren. Von Lingard durfte man nicht erwarten, Schuld wegen seiner ausschweifenden Lebensweise zu empfinden; das war ebenso sinnlos wie einen Löwen zu schelten, weil er ein Reh gerissen hatte. Es lag halt im Wesen des Tiers. Ich dagegen, dachte Haldor, mache mir vielleicht mehr Gewissensbisse als nötig, mehr, als ein Kaiser bequem mit leben kann. Und eben weil er soviel Sensibilität besaß, fiel ihm nicht leicht auszusprechen, was faktisch ein Todesurteil für seinen ältesten Kameraden und teuersten Freund war. Lingard leckte sich die Lippen. Eine riesenhafte Gestalt, das gewohnte Grinsen aufgesetzt, mit dem immer noch kohlrabenschwarzen Bart, der von seiner rosigen Gesichtshaut abstach, war er ein Mann der Tat in der Blüte seiner Jahre. Haldor fiel es schwer, sich diesen großen, bärenstarken Körper welk und vom Alter gebeugt vorzustellen. Schwieriger noch, sich auszumalen, wie der Alterungsprozeß sich auf den Verstand eines Mannes auswirken mochte, der immer so stolz
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auf die Leistungsfähigkeit und Kraft dieses Körpers gewesen war. »Und du? Wie ich höre, warst du auch nicht gänzlich untätig im Schlafgemach während meiner Abwesenheit«, sagte Lingard. »Was ist das für ein Gerede von einer Heirat? Ich hätte nicht gedacht, daß ein verschlagener alter Fuchs wie du die Freuden des Abwechslungsreichtums irgendeiner politischen Liaison opfern könnte. Du überraschst mich nach all den Jahren.« »Meine Heirat hat nichts mit Politik zu tun«, entgegnete Haldor ruhig. »Dann muß diese Frau ja etwas ganz Besonderes sein. Ich brenne darauf, sie kennenzulernen. Ist sie hier im Palast?« Haldor nickte. »Alles zu seiner Zeit. Im Moment müssen du und ich eine Sache besprechen, die sich zwangsläufig auf unser beider Zukunft auswirken wird.« Lingard furchte die Stirn. »Du hast recht, ich war zu lange fort. Du fängst an, dich so rätselhaft wie Folcho und seine Bande auszudrücken. Vorgeplänkel dieser Art gibt es normalerweise zwischen uns nicht.« Der Vorwurf zwang Haldor, endlich zur Sache zu kommen. »Ich wollte mit dir über den Transfer reden«, sagte er. Lingards Augen weiteten sich, dann lachte er schallend. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Das steckt also dahinter, du alter Bock! Deshalb druckst du so herum. Du willst dich für diese Heirat in Schale werfen, in einen neuen, zwanzig Jahre alten Körper schlüpfen.« Er zuckte die Achseln. »Nun, ich kann dich deswegen nicht tadeln. Wenn deine Zukünftige etwas so Besonderes ist, wird sie das Kompliment zu schätzen wissen. Außerdem gibt es da noch etwas. Mein Eindruck von Paradon heute abend war, daß er die Operationen nicht mehr lange wird durchführen können. Je eher wir sie also hinter uns bringen, desto besser. Ich nehme an, du möchtest, daß ich mich auch diesmal als erster zur Verfügung stelle, um sein Können zu testen?« Es war ausgesprochen typisch für Lingard, die Situation auf
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diese Weise aufzufassen und seine arglosen Witze darüber zu reißen. »Nein, Lingard, du verstehst mich falsch. Was ich dir sagen wollte, ist, daß es für keinen von uns beiden einen zweiten Transfer geben wird.« Das breite Grinsen auf Lingards Gesicht erstarb. »Ich verstehe nicht. Hat sich Paradon geweigert, die Operationen auszuführen?« »Nein. Wenn ich sie ihm befehle, würde er sich nicht weigern«, erwiderte Haldor. »Ich bin jedoch zu der Auffassung gekommen, daß eine zweite Transferoperation aus mehreren Gründen von Übel wäre.« Finster dreinblickend, erhob sich Lingard. »Wenn das ein Scherz sein soll, Haldor, dann ist er nicht nach meinem Geschmack.« »Ich versichere dir, es ist mir noch nie ernster gewesen.« »Aber warum? Erst sagst du mir, daß du heiraten willst, und im nächsten Atemzug, daß du des Lebens müde bist. Das paßt nicht zusammen.« Lingard schüttelte den Kopf. »Wie immer man es sieht, das Leben ist dem Tod und Altwerden in jedem Fall vorzuziehen. Es gibt immer etwas, für das es sich zu leben lohnt, auf das man sich freuen kann – der nächste Kampf, die nächste Mahlzeit, die nächste Frau –« »Glaubst du wirklich, solche Ziele rechtfertigen es, sich eine faktische Unsterblichkeit anzumaßen?« »Rechtfertigen? Ich sehe keine Notwendigkeit für eine Rechtfertigung. Und wenn es sie gäbe, würde das, was du und ich beim Aufbau und der Einigung des Imperiums geleistet haben, nicht vollauf genügen?« Haldor seufzte. Das Gespräch erwies sich als noch schwieriger, als er erwartet hatte. »Das ist erledigt und vorbei«, sagte er. »Jetzt gilt es, andere Dinge anzupacken. Es mag sein, daß wir die Gründerväter dieses neuen Imperiums sind, aber wir müssen an jene denken, die nach uns kommen.« »Indem wir das Geschenk der ewigen Jugend wegwerfen?« »Eine Begriffsverwirrung - etwas Unmögliches«, sagte Haldor. »Selbst wenn wir uns weiterhin auf unbegrenzte Zeit
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einen zwanzigjährigen Körper nach dem anderen zulegten, würden wir dennoch altern. Ein Mensch ist mehr als sein Körper. Was ihn in erster Linie ausmacht, ist die Gesamtheit seiner Erfahrungen, also sein Verstand. Jemand hat einmal gesagt, daß man Alter an der Größe des Schuldbewußtseins mißt. Ein Transfer des Verstandes in einen anderen Körper kann diese Bürde nicht einfach zum Verschwinden bringen. Du verstehst doch, wovon ich rede? Du mußt im Laufe der letzten zwanzig Jahre ebenfalls einen allmählichen Desillusionierungsprozeß durchgemacht haben. Ich weiß, daß du nach wie vor deinen Vergnügungen nachgehst, aber wenn du einmal in aller Ruhe darüber nachdenken würdest, darauf wette ich, würdest du erkennen, daß du diesen Anwandlungen eher gewohnheitsmäßig nachgibst und nicht so sehr, weil du echten Genuß daraus ziehst. Bei solchen Dingen spielen Illusionen eine große Rolle – und sei es nur die Illusion, das Vergnügen an sich habe einen Sinn.« »Du weißt sehr gut, daß ich für solche philosophischen Wortklaubereien nichts übrig habe. Was das angeht, haben du und Paradon mit eurem puritanischen Gewissen weit mehr gemein.« Lingard schwieg und sah seinen Freund prüfend an. »Aber hinter dieser Entscheidung steckt mehr als eine bloße Gewissensregung, nicht? Deine Braut, die kandarianische Schönheit – welche Rolle spielt sie dabei?« »Wir haben niemals über das Thema Transfer gesprochen«, entgegnete Haldor. »Wie könnte ich ihr auch sagen, daß sie statt des Mannes, den sie sieht, in Wahrheit einen gräulichen Klumpen Gehirnmasse in einem gestohlenen Körper heiraten wird?« »Gestohlener Körper – was für ein Unsinn!« rief Lingard. »Der Körper, den du jetzt bewohnst, ist von Paradon aus einer Kultur deiner eigenen Zellen geschaffen worden, eigens für den Zweck, dem er nun dient.« »Gut, für diesen Körper will ich dir das vielleicht noch zugestehen«, sagte Haldor. »Aber hast du bedacht, was beim nächsten Transfer geschehen würde? Dieser Körper ist in
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einem Zustand der Denkuntätigkeit künstlich zur Reife gebracht worden. Er war eine Zombie-Kreatur, ohne eigenes Ich, unfähig, ein selbständiges Leben zu führen. Zugegeben, der nächste wäre auch ein Klon-Körper. Aber wie du weißt, hat man diese Körper natürlich aufwachsen lassen. Jeder ist zu einem eigenständigen Individuum herangereift und besitzt ein denkendes, zwanzig Jahre altes Gehirn mit dem Willen zum Leben.« »Individuen, die ihre Existenz einzig und allein deinen Zellen verdanken«, entgegnete Lingard. »Jedes hat sich zwanzig Jahre lang des Lebens erfreut, zwanzig Lebensjahre, die es ohne dieses dein Geschenk unmöglich hätte haben können. Sie sind dein rechtmäßiger Besitz, auf den du jederzeit Anspruch erheben kannst.« »Wenn man deiner Argumentation folgte, könnte man ebensogut das Leben des eigenen Sohnes verlangen«, sagte Haldor. »Das wäre dann auch rechtens.« »Keineswegs. Zwischen dir und deinem Sohn würde ein echtes Gefühlsband bestehen. Hier aber handelt es sich um ein Klon-Geschöpf, das auf einem anderen Planeten, Millionen Meilen entfernt, aufgewachsen ist. Es und seine Artgenossen sind eigens zu dem Zweck geschaffen worden, einen anderen Körper für dich bereitzustellen.« Haldor erkannte, daß jedes Argument, das er vorbringen mochte, unzulänglich sein würde. Mit Lingard über solche Dinge zu sprechen, war so zwecklos, wie einem Blinden die Schönheit der Sterne anschaulich machen zu wollen. »Aber bestimmt siehst du ein, daß man solche Argumente unmöglich vor einer empfindsamen Frau rechtfertigen könnte?« »Du mußt ja sehr verliebt in dieses kandarianische Mädchen sein, wenn du ihretwegen soviel aufzugeben bereit bist.« »Ich werde weit mehr gewinnen als verlieren«, sagte Haldor. »Gut, unterstellen wir einmal, dieses Mädchen ist wirklich etwas ganz Außergewöhnliches«, meinte Lingard
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nachdenklich. »Trotzdem ist und bleibt sie eine Frau.« »Ich verstehe nicht – « »Vielleicht habe ich bei meiner Jagd nach Vergnügungen zumindest eines gelernt«, entgegnete Lingard. »Überleg dir folgendes. Glaubst du im Ernst, es würde diesem Mädchen etwas ausmachen, wenn du dreihundert Jahre alt wärest und ein Dutzend Transfers hinter dir hättest – vorausgesetzt, du machtest ihr die ewige Jugend und Schönheit zum Hochzeitsgeschenk? Es hat noch keine Frau gelebt, die nicht eben diese Dinge ersehnt hat und nicht ihre unsterbliche Seele dafür verkaufen würde.« »Nein. Das wage ich nicht, selbst wenn Paradon einverstanden wäre.« »Ah, langsam kommen wir der Sache auf den Grund. Der verdammte Heilerpriester! Er hat eine Religion erfunden und glaubt jetzt seine eigenen Märchen. Ich hätte mir denken können, daß er hinter allem steckt.« »Du irrst«, sagte Haldor. »Vor zwanzig Jahren gab es gute Gründe, warum wir beide einen Transfer annehmen sollten, denn das Imperium mußte noch gefestigt werden, und das erforderte viel Arbeit. Dieses Werk ist jetzt im wesentlichen vollbracht, und Stabilität und Beständigkeit sind das Gebot der Stunde. Eine solche Stabilität kann nicht unbegrenzt von einem Mann gewährleistet werden, und wenn jemals der Verdacht aufkäme, daß derselbe Mann, der sich die Krone angeeignet hat, auch noch das Geheimnis der Unsterblichkeit für sich zurückbehält – « »Es besteht kein Anlaß für derartige Befürchtungen«, widersprach Lingard. »Die Sache lief damals glatt über die Bühne. Nirgends hat sich Skepsis geregt, als du nach dem Transfer zurückgekehrt bist und ich bekanntgab, du wärest dein eigener Sohn, der bewußt im verborgenen, auf einem anderen Planeten, großgezogen worden war, weil er nicht durch Mordanschläge gefährdet und durch die Verlockungen und Schmeicheleien des Lebens am Hof verwöhnt werden sollte.«
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»Ein Sohn, der keine Mutter vorzeigen konnte?« fragte Haldor. »Ich gebe zu, daß es das einemal gut funktioniert hat, aber die Zeiten haben sich geändert. Ich glaube, was das Reich heute wirklich braucht, ist eine Königsfamilie – eine Kaiserin, deren Kinder unter aller Augen allmählich in ihre Rolle als Thronfolger hineinwachsen. Eine solche Familie könnte vom Volk weitaus mehr Zuneigung und Treue erheischen als ein einzelner Mann.« »Demnach soll das kandarianische Mädchen deine Kaiserin werden und ihre Kinder deine Erben?« »Ja.« »Und dafür bist du gewillt, in vielleicht dreißig Jahren an Altersschwäche zu sterben?« »Wenn ich meiner potentiellen Unsterblichkeit nicht entsage, wird sie stets als Trennwand zwischen Annrith und mir stehen. Im übrigen, darauf hast du selbst hingewiesen, wird Paradon wahrscheinlich nicht mehr lange leben und weitere Transferoperationen durchführen können.« »Dann muß man ihn dazu bringen, jemand anderen in der Methode zu unterweisen«, sagte Lingard. »Sein Stellvertreter Kronak ist ein fähiger Chirurg.« »Er ist aber auch bestechlich. Was immer man Paradon vorwerfen mag, das kann man ihm nicht nachsagen. Ich bezweifle, daß Kronak, wenn er in das Geheimnis der Transfermethode eingeweiht würde, der Versuchung widerstehen könnte, dieses Wissen zur Erlangung von Macht und Privilegien einzusetzen. Nein, ich glaube, das beste ist, wenn Paradons Geheimnisse mit ihm sterben.« »Wie kannst du als erklärter Verfechter der Aufklärung den Verlust dieses Wissens mit deinen Grundsätzen in Einklang bringen?« »Weil ich sehe, daß das Geschenk der Unsterblichkeit sich auf lange Sicht als Aufhebung des natürlichen Verlaufs der Geschichte erweisen muß«, erwiderte Haldor. »Ich wage nicht, dieses Geschenk nach und nach auf einen größeren Personenkreis auszudehnen, denn dadurch würde eine neue
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privilegierte Elite entstehen, in deren Händen sich unweigerlich alle Macht und aller Reichtum konzentrieren würden. Um solche Übel zu beseitigen, haben wir gegen das alte Imperium gekämpft – hast du das vergessen?« »Ich weiß nichts vom Verlauf der Geschichte«, sagte Lingard. »Aber ich habe keine Lust, diesen Kadaver zu bewohnen, bis er um mich herum verfault und zerfällt und ich, weil er Tag für Tag immer schwächer wird, schließlich dankbar ins Grab wanke.« »Dazu sind die Menschen seit undenklichen Zeitaltern geboren worden«, sagte Haldor mit Nachdruck. »Vielleicht. Aber ich habe einen kleinen Vorgeschmack von der Unsterblichkeit gehabt.« »Verstehst du nicht, daß der Tod ein notwendiger Teil des Lebens ist?« fragte Haldor. »Bestimmt hast du folgendes Axiom von Paradon gehört: ›Der Tod zerstört den Menschen, aber der Gedanke an den Tod richtet ihn auf‹? « »Habe ich gehört. Aber ich werde, verdammt noch mal, nie begreifen, was es bedeuten soll«, sagte Lingard aufgebracht. »Dann sieh es einmal so«, sagte Haldor. »Die schönsten Dinge sind jene, welche keinen Bestand haben. Eine Rose ist vor allem deshalb schön, weil wir wissen, daß sie eines Tages welken muß.« »Poetisches Geschwätz!« schnaubte Lingard verächtlich. »Alter bedeutet Häßlichkeit und Leid. Wenn du das nicht glaubst, geh einmal auf den Marktplatz der Stadt und sieh dir die verhutzelten alten Weiber an, die einst, in unserer ersten Jugend, hübsche junge Mädchen waren. Frag sie, was sie für das Geheimnis geben würden, das du in der hohlen Hand hältst und so leichtfertig wegwirfst. Ich habe dir in der Vergangenheit stets treu gedient und dein Urteil respektiert. Die Tatsache, daß ich dir eigenhändig die Krone aufgesetzt habe, sollte Beweis genug dafür sein. Aber diesmal irrst du dich, davon bin ich fest überzeugt! Dieses kandarianische Mädchen muß etwas mit deinem Gehirn angestellt, dich verhext haben.« Er drehte sich abrupt um und ging zur Tür. »Wo willst du hin?« fragte Haldor.
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Lingard blieb stehen. »Mit Paradon reden. Wir hatten zwar oft Streitigkeiten in der Vergangenheit, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er dein selbstmörderisches Vorhaben wirklich unterstützt.« Haldor zuckte müde mit den Schultern. »Wie du willst. Aber ich kann dir versichern, daß du nur deine Zeit verschwendest. Paradon hatte schon seit geraumer Zeit schwerwiegende moralische Bedenken wegen eines zweiten Transfers. Er und ich haben das Thema ausführlich erörtert, bevor ich meine Entscheidung traf.« »In meiner Abwesenheit«, sagte Lingard. »Jetzt will ich die Argumente von ihm selbst hören und ihn zwingen, sich die meinen anzuhören.« Haldor schaute stumm zu, wie sein alter Kamerad aus dem Zimmer stürmte. Er wußte, wie sehr Lingard Leben und Vitalität schätzte, und konnte seine Empörung darüber, daß eine solche Entscheidung in seiner Abwesenheit gefällt worden war, vollauf verstehen. Aber er war zuversichtlich, daß die Bande der Freundschaft und Treue, die im Laufe von fünfzig Jahren geknüpft und gefestigt worden waren, dieser Prüfung ebenso standhalten würden wie in der Vergangenheit anderen Belastungen. Zumindest auf Lingard konnte man sich verlassen.
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2 Annrith rutschte unbehaglich in ihrem Sessel herum, als der Botschafter die Stimme erneut erhob. Sie hatte Bolmas schon immer für einen faden, geschwätzigen Wichtigtuer gehalten, und heute abend fügte er sich genau in dieses Bild. » – der Ehre für Sie und Ihren Heimatplaneten und der Verantwortung, die damit in Ihre Hände gelegt wird, nur zu bewußt. Wie Sie wissen, haben zwischen Kandar und Belphar schon immer besondere Beziehungen bestanden, ja, die Bande der Treue reichen zurück bis zum Kampf gegen die Tyrannei des alten Imperiums. Es ist unser ernster Wunsch, daß diese Verbindung – « Bolmas hatte sich in seine Lieblingsbeschäftigung, das Reden, so hineingesteigert, daß sein fleischiges Gesicht puterrot angelaufen war. Offensichtlich hatte er alles bis auf den Klang der eigenen Stimme vergessen. Die zwei anderen Personen mit ihm im Raum waren nicht weiter wichtig. Annrith tippte darauf, daß er im Geist die wesentlich größere Zuhörerschaft der Nachwelt vor sich sah. Sie setzte eine leicht gelangweilte Miene auf und blickte nach rechts, zu der Stelle, wo ihr Vater stand. Olan Therys, ein zierlich gebauter Mann, knapp mittelgroß, machte eine warnende Handbewegung, aber sie glaubte dennoch, einen Anflug von Belustigung in seinen dunklen Augen zu entdecken. Sie fragte sich, inwieweit dieser ruhige sanfte Mann die vertauschten Rollen genießen mochte. Vor wenigen Wochen noch war er ein unbedeutender Beamter in Bolmas Stab gewesen, und nun behandelte ihn der Botschafter mit Ehrerbietung und umschmeichelte seine Tochter, jene Frau, deren Schönheit den Kaiser in den Bann gezogen hatte. Olan war kein nachtragender Mensch, aber unter diesen Umständen konnte man es ihm kaum verdenken, daß er eine gewisse Genugtuung empfand. Für Bolmas hingegen mußte die Situation doppelt peinlich sein, denn er und seine fette blonde Frau hatten in den vergangenen zwei Jahren vergeblich versucht,
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ihre drei schwergewichtigen Töchter auf den Heiratsmarkt des belphargianischen Hofs an den Mann zu bringen. » – Ehre und Pflicht«, fuhr der Botschafter fort. »Und ich glaube, wir können als gesichert annehmen, daß der Kaiser nun, da der Regent von seiner Rundreise zu den äußeren Welten zurückgekehrt ist, seine Verlobung in Kürze formell bekannt geben wird. Dann kann im Höchstfall noch eine Verzögerung von zwei Monaten eintreten, bis die Vorbereitungen für den großen Tag getroffen sind.« Nach zehn Minuten eines ununterbrochenen Redeflusses war Bolmas endlich zum Thema seiner Ausführungen gekommen, und er hielt nun inne, ein wenig atemlos, aber selbstzufrieden wirkend, und schenkte Annrith ein strahlendes Lächeln. »Zwei Monate«, wiederholte Annrith. »Das ist nur eine Schätzung, mein Kind«, erklärte Bolmas salbungsvoll. »Aber Ihr Vater wird Ihnen bestätigen, daß ich mich in solchen Dingen selten irre. Meine jahrelange Erfahrung – « »Wir haben Ihnen für diese Nachricht zu danken, Exzellenz«, warf Olan Therys ein, ehe Bolmas sich abermals in rhetorischen Ausschweifungen ergehen konnte. »Der Kaiser hat Lingard von seiner Absicht zu heiraten unterrichtet?« »So verlautet es aus meinen Quellen.« »Und wie hat Lingard die Nachricht aufgenommen?« »Aufgenommen? Ich verstehe nicht – «, sagte Annrith stirnrunzelnd. Bolmas lächelte gönnerhaft in ihre Richtung. »Ihr Vater spielt auf die Tatsache an, daß Lingard in den ganzen Jahren der einzige rechtmäßige Thronfolger gewesen ist. Eine Heirat muß auf eine Veränderung seines Status in dieser Beziehung hinauslaufen.« »Nun?« beharrte Olan Therys. Des Botschafters Lächeln schwand. »Leider liegen mir zu diesem Punkt keine Informationen vor«, sagte er. »Aber es sollte Ihnen ein Trost sein, daß Lingard bekanntlich niemals nach der Krone getrachtet hat und seine Loyalität zum Kaiser
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über jeden Zweifel erhaben ist. Überdies weiß jedermann, der den Regenten kennt, daß er ein offener Mensch, ein Mann der Tat ist, dem Arglist und Intrigen fremd sind. Jedoch – « Bolmas hielt inne. »Fahren Sie fort«, drängte Olan Therys, dessen schmales Gesicht angespannt war. »Nun, ich hielte es für ratsam, wenn Ihre Tochter die frühestmögliche Gelegenheit wahrnähme, um Lingard kennenzulernen und seine Sympathie zu gewinnen«, sagte Bolmas. »Zwar würde sich der Regent vielleicht widerspruchslos mit der Situation abfinden, ließe man ihn sich eine eigene Meinung bilden, aber es gibt Gruppierungen innerhalb des Hofes, die ein Interesse daran haben könnten, ihn zu einer anderen Überzeugung zu bringen. Zum Beispiel müssen Sie die Haltung des herrennitischen Botschafters und seines Gefolges berücksichtigen. Die Wahl einer kandarianischen Braut seitens des Kaisers wird sie zwangsläufig zu einer Reaktion veranlassen.« Herren war Kandars äußerer Nachbarplanet, eine öde Welt und Heimat einer stolzen, erbarmungslosen Rasse von Kriegern, die im Befreiungskrieg auf Seiten des alten Imperiums gekämpft hatte und erst ganz zuletzt, in der Schlacht von Bak Duru, in der ihre Raumwaffe von der vereinten Streitmacht von sieben Planeten zerschmettert worden war, in die Knie gezwungen werden konnte. Kandars Beteiligung an diesem Konflikt mochte ein ausschlaggebender Faktor gewesen sein oder auch nicht, jedenfalls hatten die Herrscher von Herren diesen, wie sie es sagen, Dolchstoß in den Rücken niemals verziehen. Trotzdem erschien es Annrith völlig absurd, daß ein so weit zurückliegendes Ereignis sich in irgendeiner Form auf ihre Heirat mit Haldor auswirken könnte. »Alten Feindschaften ist schwer beizukommen«, pflichtete Olan Therys bei. »Aber aus dem gleichen Grund kann ich mir kaum vorstellen, daß die Herrenniter sich mit Lingard verbünden. Immerhin führte er das Kommando über Haldors Streitmacht bei Bak Duru.«
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»Als aufrechter Soldat, der mit dem angeblichen Verrat von Kandar nicht das geringste zu tun hatte und der hinterher die Tapferkeit der Herrenniter lobte«, entgegnete Bolmas. »Die Herrenniter respektieren Lingard, und seine mangelnde Erfahrung in Fragen der Politik kann ihnen nicht entgangen sein. Nichts deutet daraufhin, daß er eine höhere als seine gegenwärtige Position anstrebt, aber es gibt Gruppierungen, welche lieber ihn auf dem Thron sähen als Haldor, der ihrer Meinung nach zu stark von seinem strengen Berater Paradon beeinflußt wird. Diese Kreise könnten in der Heirat, aus der ja sicherlich künftige Thronfolger hervorgehen werden, eine mögliche Vereitelung ihrer Pläne sehen.« »Wollen Sie damit andeuten, daß sie vielleicht etwas unternehmen werden, um die Heirat zu verhindern?« fragte Olan Therys mit sorgenvoller Miene. Der Botschafter zuckte mit den massigen Schultern unter seinem scharlachroten Amtsumhang. »Wer weiß? Ich kann Ihnen nur raten, wachsam und auf der Hut zu sein und äußerste Vorsicht bei Ihren Äußerungen und Handlungen walten zu lassen. Selbstverständlich werde ich die Augen und Ohren offenhalten und mein möglichstes tun, um Sie vor etwaigen Gefahren zu warnen.« »Vielen Dank, Exzellenz«, sagte Olan Therys. »Wir werden Ihren Rat beherzigen und uns auch in Zukunft ganz auf Sie verlassen.« Bolmas neigte den Kopf. »Nichts liegt mir mehr am Herzen, als dem Kaiser und unserem schönen Planeten Kandar zu dienen. Einen guten Abend, Therys – Mylady.« Annrith wartete, bis sich die Tür hinter dem Botschafter geschlossen hatte, ehe sie sich einen Kommentar erlaubte. »Nichts liegt mir mehr am Herzen als – « äffte sie Bolmas schwülstige Worte nach. »Was für ein blasierter alter Narr!« Das Gesicht ihres Vaters war unverändert ernst. »Blasiert, ja«, sagte er. »Aber unterschätze ihn nicht. Er ist ein gewiefter Politiker mit einem feinen Gespür. Offensichtlich hat er Grund zu glauben, daß sich etwas zusammenbraut.«
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»Nimmst du diese dunklen Andeutungen auf mögliche Verschwörungen etwa ernst?« fragte Annrith. »Das muß ich, mein liebes Kind«, sagte Olan Therys. »Zumindest bis zu der Hochzeit trage ich eine schwere Verantwortung. Danach wird dein Ehemann dich beschützen.« »Mein Ehemann – «, wiederholte Annrith gedankenvoll. »Ich frage mich, wer das sein wird.« »Ich verstehe nicht.« Ihr Vater runzelte die Stirn. »Haldor wird dein Ehemann sein.« »Haldor, der Kaiser, oder Haldor, der Mann?« Er sah gut aus, war freundlich und sanft, und sie konnte nicht leugnen, daß sie von ihm beeindruckt war, aber – selbst in Gedanken fiel es ihr schwer, ihre Zweifel zu artikulieren. Es war, als trennte sie etwas, eine unsichtbare Wand, deren Natur sie nicht zu ergründen vermochte und die zwischen einem Mann und einer Frau, die im Begriff waren zu heiraten, eigentlich nicht bestehen durfte. Konnte sie sicher sein, daß sich diese Wand unter dem Eindruck des intimen Zusammenseins einer Ehe auflösen würde? Und wenn nicht, was dann? Dann wäre es schon zu spät, und sie würde zeit ihres Lebens eine Gefangene sein. »Du liebst den Kaiser doch?« fragte ihr Vater besorgt. »Alle seine Untertanen lieben den Kaiser. Das ist ihre Pflicht.« »Du machst dich über mich lustig, Kind.« »Erraten«, sagte sie mit gespielter Fröhlichkeit, während sie spürte, daß ihr die Tränen kamen. »Verzeih mir, aber zwei Stunden mit diesem alten Esel Bolmas – « Sie stand auf. »Es wird Zeit, daß ich ins Bett komme.« »Selbstverständlich, meine Liebe«, murmelte ihr Vater, als sie ihm die Wange zum Kuß bot. »Schlaf gut und zerbrich dir nicht den Kopf über Bolmas Warnungen. Es wird sich alles zum Guten wenden, das verspreche ich.« Sie verließ rasch das Zimmer, denn sie befürchtete, die aufwallenden Tränen nicht mehr lange zurückhalten zu können. Im Schlafzimmer wartete Marinda, ihre Zofe, ein
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hübsches, etwas stämmiges Mädchen mit blondem Haar und heller Haut – beides seltene äußere Merkmale auf Kandar, wo eine schlanke, dunkelhaarige Schönheit wie Annrith als Idealtyp galt. Sie riß erschrocken die Arme hoch, als ihre Herrin sich aufs Bett warf und anfing zu schluchzen. »Mylady, was ist geschehen?« »Nichts, Marinda. Bitte mach kein Theater. Laß mich allein.« »Aber Ihre Toilette, Ihr Haar – «, protestierte Marinda. »Kann mich dieses eine Mal selbst darum kümmern«, sagte Annrith. »Geh jetzt bitte. Ich brauche dich heute nicht mehr.« Zögernd entfernte sich Marinda. Der Weinkrampf hörte schließlich auf. Annrith war jetzt entspannter, sich ihrer Situation aber nicht weniger bewußt. Nur drei Tage nach ihrer Ankunft auf Belphar, auf ihrem ersten Ball im Palast, war sie in einen Strudel von Ereignissen geraten, der sie nun mit wachsendem Schwung mitriß, jenem Tag entgegen, da sie die Frau des Kaisers werden würde. Die erste Begegnung, als sie mit Haldor getanzt, die Nähe seines kraftvollen Soldatenkörpers gespürt, in die hageren, feingeschnittenen Züge aufgeschaut hatte. Er hatte ein unvergleichliches Gesicht, wie sie noch nie eines gesehen hatte: gezeichnet und gehärtet von den Winden der Zeit und Mühsal. Es wirkte wie ein Monolith aus Sandstein. Und doch waren die Augen – golden, fest in ihrem Blick – die eines Dichters. Sie stand vom Bett auf, ging zur Frisierkommode und begann sachte, ihr dunkles, rostbraun getöntes Haar zu bürsten. Ihr Spiegelbild starrte sie aus den noch tränennassen Augen leicht spöttisch an. War sie nicht ein undankbares, störrisches Kind, daß sie vor einer Gelegenheit zauderte, um die jede Frau auf den Dreizehn Welten sie beneidet hätte? Aber sie konnte nicht an gegen ihre heimlichen Gedanken und Befürchtungen. Wenn sie wenigstens jemanden hätte, dem sie sich anvertrauen könnte! Aber ihr Vater kam dafür nicht in Frage. Kein Mann würde solche Dinge verstehen. Ihre Mutter
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vielleicht – aber die war nur eine schattenhafte Erinnerung, versunken im Nebel ihrer Kindheit, eine sanfte Stimme, eine dunkelhaarige Schönheit und der Wohlgeruch kandarianischer Fuchsien. Vielleicht würde sie sich am Ende doch an ihren Vater wenden müssen. Aber sie spürte, daß es ein Fehler war. Er war fürsorglich und verständnisvoll, aber auch er würde ihr Dilemma nicht in seiner genauen Beschaffenheit begreifen. Wenn er zu der Überzeugung kam, daß sie Haldor nicht liebte, würde er bestimmt darauf drängen, daß sie sich die Heirat aus dem Kopf schlug. Es war aber auch möglich, daß sie in dieser Beziehung eine Überraschung erleben mochte. Immerhin war auch ein fürsorglicher Vater nicht mehr als ein fehlbarer Mensch. Bolmas hatte von den allgemeinen Vorteilen gesprochen, die Kandar aus der Bindung erwachsen würden, aber die Aussicht, Schwiegervater des Kaisers zu werden, und der damit verbundene gesellschaftliche und berufliche Aufstieg, mußte für einen Mann, der bislang nur ein untergeordneter Diplomat gewesen war, geradezu überwältigend sein. Sie versuchte den widerwärtigen unerwünschten Gedanken beiseite zu schieben, doch er blieb beharrlich in ihrem Verstand und brachte ihr erneut mit aller Schärfe zu Bewußtsein, wie allein und ausgesetzt sie auf dieser fremden Welt war.
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3 Die Unterredung mit Paradon war negativ verlaufen. Wie ein zorniger Bär schritt Lingard über den Marmorplattenboden seiner Gemächer, denn die in seinem massigen Körper angestaute Wut verlangte, daß er sich durch Bewegung Luft machte. Die höfliche Weigerung des Heilers, irgendeines seiner Argumente zu akzeptieren, hatte ihn schließlich veranlaßt, das Gespräch abrupt zu beenden, indem er wortlos hinausging. Er hatte sich zu diesem Schritt gezwungen gefühlt, aus Angst, wenn er bliebe, dem wachsenden Drang nicht widerstehen zu können, Paradons dürren Hals in die Hände zu nehmen und ihn wie einen trockenen Zweig zu zerbrechen. Wenn Lingard etwas besaß, das einem religiösen Glauben nahekam, dann war dies ein Vertrauen in die Stärke seines rechten Arms und die Überzeugung, das Leben müsse um seiner selbst willen, Augenblick für Augenblick, gelebt werden. Unter dem vorherigen Regime waren Priester Werkzeuge der Unterdrücker gewesen, und so hatte er wenig Verständnis für Haldors Behauptung gezeigt, die Zerstörung der alten Religion hätte eine ernstzunehmende Lücke im Dasein des Volkes hinterlassen. Weniger noch hatte ihn Haldors Entscheidung begeistert, daß eine neue Religion geschaffen werden mußte, um dieses Vakuum auszufüllen. Andererseits empfand er es nur als gerecht, daß Paradon mit einer verantwortlichen Position im Rahmen der neuen Ordnung belohnt werden sollte. Am Ende des dreißigjährigen Krieges waren sie beide, Lingard und Haldor, ausgebrannt gewesen und hätten die neuen Aufgaben, die der Friede mit sich brachte, unmöglich bewältigen können, wären sie nicht durch die Künste dieses Mannes jeder in den Besitz eines neuen starken Körpers gelangt. Die Heilerreligion, welche die metaphysischen und medizinischen Erkenntnisse vieler Jahrhunderte miteinander verknüpfte, war ein durchschlagender Erfolg überall auf den Dreizehn Welten gewesen, und eine Zeitlang hatten sich sogar
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Lingards Befürchtungen gelegt. In den unvermeidlichen Nachkriegswirren, den Hungersnöten, Krankheiten und Leiden der Verletzten, hatten die Menschen die Dienste Paradons und seiner Kollegen dringend nötig gehabt, und zugleich hatten sie den ihnen gespendeten geistlichen Trost dankbar angenommen. Letztendlich beruhten alle Religionen auf von Menschen gemachten Lügen, aber im Fall der Heilerreligion, das mußte selbst Lingard zugeben, waren diese Lügen so sorgfältig ausgesucht worden, daß sie den größtmöglichen Segen brachten und den geringstmöglichen Schaden anrichteten. Die meisten biblischen Schriften, Gebote und religiösen Riten hatte Paradon selbst niedergeschrieben, und weil Originalität in diesem Fall keine Tugend war, hatte er nicht gezögert, sich das Positive aus den alten Religionen herauszusuchen und ein zusammenhängendes Ganzes daraus zu formen. Das Flickwerk aus Hinduismus, Brandol, Zionismus, Helganismus und einem Dutzend anderer Weltanschauungen aus der menschlichen Vergangenheit war im Laufe der letzten dreißig Jahre gut zusammengewachsen, hatte die Nahtstellen abgestreift und war zu einem organischen Ganzen von solcher Überzeugungskraft geworden, daß die Menschen es fraglos mit Leib und Seele als die einzige Religion akzeptiert hatten. Lingards Zweifel hatten sich vor kurzem erst wieder zu regen begonnen, als er, wie ihm schien, deutliche Anzeichen dafür erkannte, daß Paradon eine Art Glaubenskrise durchmachte. Wenn man den alten Dramen-Kristallen glauben durfte, war es durchaus keine Seltenheit gewesen, daß Priester vergangener Religionen von einer Zerrüttung ihres Glaubens bedroht wurden. Aber bei Paradon schien es sich genau umgekehrt zu verhalten. Vielleicht bestand das Problem nur darin, daß er alt wurde, aber Lingard war schon vor seiner ausgedehnten Rundreise zu den äußeren Planeten klar gewesen, daß Paradon anfing, an das Lügengebäude zu glauben, das er selbst geschaffen hatte. Dieser Prozeß schien jetzt abgeschlossen zu sein, und so
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war Lingard in der aussichtslosen Lage gewesen, mit einem Mann logisch argumentieren zu wollen, der sich für göttlich inspiriert hält und somit von der Unfehlbarkeit seiner Entscheidungen in allen Fragen überzeugt ist. Paradon hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er nicht beabsichtigte, die Transferoperation zu wiederholen. Zwar räumte er ein, daß die ursprünglichen Operationen sich moralisch vielleicht rechtfertigen ließen, weil Haldor und Lingard dadurch ihr Befreiungswerk hatten vollenden können, aber die Konzeption fortgesetzter Transfers, die den Betreffenden eine faktische Unsterblichkeit verleihen würde, könne nur als blasphemischer Verstoß gegen die Lehren der einzig wahren Religion gewertet werden. Das Leben war heilig, und die einzige Form von Unsterblichkeit, die dem Menschen offenstand, lag, Paradon zufolge, in der Weitergabe seines Blutes und seiner Ideale an seine Nachkommen. Alles andere war ein Verstoß gegen die natürliche Ordnung und mußte göttlichen Zorn auf alle Beteiligten lenken. Gegen solche starren Excathedra-Verkündungen waren logische Argumente machtlos. Um so schmerzlicher war für einen Mann von Lingards Temperament die Erkenntnis, daß mit direkter physischer Gewalt noch weniger auszurichten war. Der schon alte und gebrechliche Paradon würde, körperlichem Zwang ausgesetzt, bestimmt zusammenbrechen und das kostbare Wissen und Geschick, das allein er besaß, nie wieder anwenden können. Nach zwanzig Jahren eines sorgenfreien Lebens in, wie er es verstand, ewiger, zu erneuernder Jugend sah sich Lingard unverhofft mit der Aussicht auf den Tod konfrontiert. Plötzliche Vernichtung im Kampf war eine Sache, Teil jenes Spiels des Zufalls, das dem Leben Würze gab, aber der Gedanke an ein allmähliches, unausweichliches Absinken in die Schwäche des Alters und ins Grab entsetzte ihn. Er hatte sogar schon beschlossen, so etwas nicht zu erdulden. Wenn er sicher war, daß ihn die Kräfte verließen, würde er schnell und sauber Schluß machen, statt sich erbärmlich ans Leben zu klammern, wie er es bei so
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vielen alten Menschen gesehen hatte. Aber es mußte – »Ja? Was ist denn?« Ärgerlich wirbelte er herum, als die Zimmertür aufging und einer seiner Bediensteten erschien. »Mylord, der Haushofmeister ersucht um eine Audienz.« Lingard kniff die buschigen Augenbrauen zusammen. »Gut, laß ihn vor.« Lingard ging durch den Raum zu einem Lehnsessel, der mit dem Rücken zu dem offenen Fenster stand, und setzte sich gerade rechtzeitig, um den Eintritt des Haushofmeisters zu erleben und jenen Schauer der Abscheu zu empfinden, den der Anblick der Häßlichkeit dieses Mannes regelmäßig hervorzurufen pflegte. Folcho bewegte sich mit der für ihn charakteristischen schleichenden, krebsartigen Gangart über den Marmorfußboden. Die prächtige grüngoldene, juwelengezierte Uniform, die seinen unansehnlichen, fetten Körper umgab, unterstrich nur das Groteske an seiner Erscheinung, lenkte den Blick auf den kugelrunden haarlosen Kopf, der, einem Wurm gleich, stets einen feuchten Schimmer aufwies, auf die glitzernden kleinen Augen, die wie widerliche Insekten in ihren Nestern aus Fettgewebe krochen, auf die verkümmerte Knopfnase und den feuchten, rotlippigen Mund, der jetzt aufstand und ein einschmeichelndes Lächeln und Zähne zeigte, so kräftig, ebenmäßig und weiß wie die eines Raubtiers. »Mylord, ich hoffe, Ihr werdet die Störung zu so später Stunde entschuldigen, aber ich hielt es für erforderlich, gewisse Dinge mit Euch zu besprechen.« Die schrille, unterwürfig klingende Stimme war so würdelos wie der Körper, zu dem sie gehörte. Zwischen dem lächerlichen Äußeren und dem Verstand mußte jedoch ein scharfer Trennungsstrich gezogen werden, wie Lingard sehr wohl wußte. Obgleich er der Haushofmeister genannt wurde, war Folchos wirkliche Funktion viel komplexer und weitreichender, als der Titel vielleicht ahnen ließ. Von Natur
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aus ein Voyeur, der von einer unersättlichen Neugier über das Tun und Lassen seiner Mitmenschen besessen war, hatte Folcho diese Eigenschaften, die bei einigem Wohlwollen als schlechte Angewohnheiten hätten gelten können, in ein Instrument für sein eigenes Vorwärtskommen verwandelt. In den vergangenen acht Jahren hatte er einen umfassenden und höchst leistungsfähigen Nachrichtendienst aufgebaut, der sich über jede der Dreizehn Welten erstreckte. Folcho rühmte sich, im Höchstfall binnen eines halben Tages von jeder wichtigen Neuigkeit im ganzen Imperium unterrichtet zu sein. Lingard hatte wenig übrig für diese Schattenseite des Regierens, wenngleich er Haldors Versicherung glaubte, daß solche Aufgaben auch in Zeiten des augenscheinlichen Friedens und der Stabilität erledigt werden mußten. Was ihn anging, so war Folcho ein Mistkäfer, der von Schmutz und Schande der Menschheit lebte. Zuweilen überkam ihn jedoch ein gewisses Unbehagen, und er ertappte sich bei der Überlegung, wie wirksam Folchos Augen und Ohren das erfaßten und aufzeichneten, was sich im Palast selbst, in seinen und Haldors Privatgemächern abspielte. Trotz mehrerer gründlicher Durchsuchungen hatten seine Bediensteten das Vorhandensein solcher Geräte nie nachweisen können, aber manchmal hatte Lingard in einem entlegenen Winkel seines Verstandes eine bestehende Vision, in der er Folcho mit dem besessenen Eifer eines Schmetterlingsjägers in seiner riesigen Bibliothek von Speicherkristallen menschliche Seelen aufzeichnen, aufspießen und seine Sammlung einverleiben sah. »Was hätten wir wohl miteinander zu besprechen, Folcho?« entgegnete Lingard und sah in das schwitzende Vollmondgesicht, als der Haushofmeister vor ihm stehen blieb. »Ihr müßt Euch irren. Wie Ihr wißt, habe ich wenig übrig für Eure Arbeit.« »Das ist nur zu begreiflich, denn Ihr seid ein Mann der Tat.« Aufseufzend ließ Folcho seinen kugelrunden Körper in
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den Sessel gegenüber Lingard sinken. »Doch ich sehe voraus, daß Ihr in naher Zukunft noch Grund zum Dank für die Früchte meines Fleißes haben werdet.« »Dank?« »Niedere Geschöpfe wie ich, leben vom Dank mächtiger Männer, wie Ihr es seid.« Folcho beugte sich vor, und Lingard nahm einen scharfen Schweißgeruch wahr. »Kommt gefälligst zur Sache, Mann!« fauchte er, angeekelt von der kriecherischen Selbstdemütigung des anderen. »Mylord, Ihr werdet gleich sehen, daß ich nur in dieser Angelegenheit an Euch herantrete, weil ich weiß, daß Ihr der treueste Freund und beste Kamerad unseres geliebten Kaisers seid. Wäre es nicht so, würde ich nicht wagen, das Thema auch nur anzuschneiden – « »Was Ihr bisher versäumt habt«, warf Lingard unwirsch ein. Folcho war sichtlich betroffen über den Mangel an Taktgefühl des Regenten, denn ein Zucken durchlief eine seiner juwelengeschmückten Epauletten. »Mylord, ich muß vorausschicken, daß es hier um eine äußerst heikle Angelegenheit geht. Darum bitte ich Euch, mir zu glauben, daß alles, was ich sage, aus tiefster Sorge um des Kaisers Zukunft als auch der Euren gesagt wird. Nachdem ich dies klargestellt zu haben glaube, hoffe ich, daß Ihr mich nicht der Respektlosigkeit oder gar des Verrats bezichtigen werdet, wenn ich die Absicht äußere, daß der Kaiser während Eurer langen Abwesenheit – keinesfalls durch eigenes Verschulden – unter den Einfluß gewisser Personen geraten ist und dadurch vielleicht zu Fehlentscheidungen in Fragen von erheblicher Bedeutung veranlaßt wurde.« Lingard versteifte sich in seinem Sessel, als ihm plötzlich dämmerte, worauf Folcho mit seinen weitschweifigen Ausführungen hinauswollte. Es konnte nur eine kürzlich getroffene Entscheidung Haldors geben, die wichtig genug war, um Folcho zu seinem merkwürdigen Erscheinen hier zu veranlassen, obgleich der Zweck seines Besuches auch dann
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noch alles andere als klar war. Wenn seine Vermutung zutraf, war es kein Wunder, daß der Haushofmeister zögerte und zauderte. »Wie Ihr vielleicht schon vermutet habt«, fuhr Folcho fort, »rede ich von der Entscheidung des Kaisers, sich keiner zweiten Transferoperation zu unterziehen.« »Bei den Göttern!« rief Lingard zornig. »Mylord, ich flehe Euch an, laßt mich ausreden.« Folchos Stimme klang unterwürfig und jämmerlich, und sein blasenähnlicher Kopf war mit Schweißperlen übersät. »Ich glaube, daß diese Entscheidung nicht Eure volle Zustimmung findet.« »Soso, Ihr glaubt«, sagte Lingard gefährlich ruhig. »Ihr wißt es! Ihr müßt ein vertrauliches Gespräch zwischen mir und dem Kaiser belauscht haben. Allein für dieses Verbrechen könnte ich Eure öffentliche Hinrichtung durch Ausweiden anordnen.« »Mylord, Ihr tut mir unrecht«, winselte der zitternde Folcho. »Ich würde meine Befugnisse überschreiten, wenn ich in der angedeuteten Form in Eure und die Privatsphäre des Kaisers eindränge. Ich versichere Euch, meine Kenntnis der Lage stammt aus einer ganz anderen Quelle.« »Selbst wenn das wahr wäre, könntet Ihr schwerlich erwarten, daß man Euch am Leben läßt, nachdem sich herausgestellt hat, daß Ihr von einem so sorgfältig gehüteten Geheimnis wißt«, erwiderte Lingard. Folcho zuckte die Achseln. »Mylord, wer einen Beruf wie den meinen ausübt, erkennt früher oder später, daß Geheimhaltung ein Ding der Unmöglichkeit ist, das allenfalls in der Einbildung von selbstgefälligen Narren existiert. Bedenkt zum Beispiel, daß in diesem Augenblick ein Dutzend gesunde junge Männer auf drei Planeten verteilt lebt, von denen sechs unverkennbare Ebenbilder unseres Kaisers sind, und die übrigen Euch so sehr ähneln, daß ein jeder Euer Zwillingsbruder sein könnte. Bedenkt ferner, daß Herkunft und Abstammung dieser jungen Männer in Rätsel gehüllt sind,
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daß jeder erstmals als vermeintliches Findelkind in den Armen eines Heilerpriesters gesehen wurde, welcher es Pflegeeltern in seiner Gemeinde in die Obhut gab. Bedenkt auch, daß jeder dieser Priester von Paradon persönlich beauftragt wurde, das Kind ständig im Auge zu behalten und regelmäßig Berichte über seine Entwicklung anzufertigen. Verknüpft man nun solche Fakten mit einer genauen Prüfung der mikrobiologischen Verfahren der Vergangenheit und Gegenwart, und geht man dann noch mit einer kritischen Fragestellung an die Ereignisse der jüngsten Geschichte heran, könnte man dann nicht eine fundierte Hypothese über den Zweck eines so sorgfältig geplanten und durchgeführten Unternehmens aufstellen?« Obwohl er Folcho verabscheute, konnte Lingard nicht umhin, die Raffinesse zu bewundern, mit der er die Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammengefügt hatte. Wie und wo konnte er diese Suche begonnen haben? Wenn nicht – »Es scheint fast, als wäre die Treue von Paradons Priesterschaft nicht so unverbrüchlich, wie wir uns das vorgestellt hatten.« »Auch Priester sind nur Menschen mit Wünschen und Begierden, ungeachtet ihres Schwurs«, entgegnete Folcho. »Selbst der Lauterste ist nicht gegen Versuchungen gefeit, und vielleicht wird in diesem Fall das Imperium noch einmal dankbar sein, daß dem so ist. Anscheinend ist sogar der Patriarch nicht ganz frei von der Sünde des Stolzes. Ich wüßte nicht, aus welchem anderen Grund er seine Aufzeichnungen über die Transferoperation hätte aufbewahren sollen. Schließlich handelte es sich um ein Verfahren, das er schwerlich vergessen konnte, und es war nicht seine Absicht, es an andere weiterzugeben.« Lingard beugte sich, von einer wachsenden Erregung erfüllt, in seinem Sessel vor. »Diese Aufzeichnungen existieren noch?« »Gewiß«, sagte Folcho. »Kronak hat sie gesehen und kopiert.«
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Kronak! Natürlich! Es lag auf der Hand, daß sich Paradons Stellvertreter, insbesondere als der Patriarch immer älter und vergeßlicher geworden war, Zugang zu diesen Unterlagen verschafft haben konnte. »Aber warum hätte Kronak Euch ins Vertrauen ziehen sollen, nachdem er dieses Wissen erlangt hatte?« forschte Lingard. Folcho setzte ein selbstzufriedenes Lächeln auf und enthüllte dabei sein perfektes Gebiß. »Habe ich nicht deutlich gemacht, daß auch Priester ihre Gelüste haben? Kronak ist ein besonders interessantes Beispiel. Vielleicht entsinnt Ihr Euch noch, daß vor etwa achtzehn Monaten das Verschwinden der Tochter eines Politikers Schlagzeilen machte. Ein wunderschönes Mädchen mit rotem Haar und einem zarten blassen Teint – eine Jungfrau, sagt man. Sie verschwand und wurde nie wieder gesehen. Es kursierte lediglich eine Geschichte über ein paar Fischersleute, welche draußen vor Sardnat auf Fang gingen und in ihren Netzen noch etwas anderes als Fische bargen. Es soll eine aufgedunsene, phosphoreszierende Leiche gewesen sein, welcher die Augen fehlten, aber deren Haar wie feines rotes Seegras im Wasser trieb. Dann war da ein Küchenmädchen, schlank, kaum sechzehn, mit jadegrünen Augen und einem Antlitz von düsterer Schönheit. Die Palastwachen waren ganz verrückt auf sie, aber sie wollte mit keinem etwas zu tun haben. Sie war ein ernstes und frommes Mädchen, das eine unheilbar kranke, verwitwete Mutter versorgen mußte. Sobald sie von dieser Verantwortung entbunden war, wollte sie ins Kloster gehen und ihr Leben dem Heilerglauben weihen. Ihr Verschwinden fand in den Zeitungen weniger Beachtung, als das der Politikertochter. Wer, außer den Palastwachen, interessiert sich schon für das Schicksal eines Küchenmädchens? Vor drei Monaten erst hat man sie in einem Bordell im Zigeunerviertel der Stadt entdeckt: an Syphilis erkrankt, zugrunde gerichtet und wahnsinnig; von ihrer Schönheit keine Spur mehr. Soll ich fortfahren?«
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»Um der Götter willen, nein!« rief Lingard, der der Aufzählung mit wachsendem Entsetzen zugehört hatte. »Habt Ihr Beweise dafür?« »Genug, um jemanden hängen zu lassen, Mylord. Ich könnte Euch einen der Kristalle vorführen, wenn Ihr das wünscht.« Und Haldor und ich haben die alte Priesterschaft zerschlagen, weil wir sie für korrupt hielten, dachte Lingard. »Wenn Ihr von alledem wußtet, warum habt Ihr dieses Ungeheuer nicht angezeigt?« »Mylord, ich verstehe Eure Empörung«, sagte Folcho. »Aber bei meiner Arbeit tauchen solche kleinen Überraschungen ständig auf. Wenn ich jeden Fall den Behörden melden würde, bliebe mir keine Zeit mehr für meine eigentlichen Aufgaben; ich würde zu wenig mehr als einem unbezahlten Informanten. Hinzu kommt, daß solche Erkenntnisse häufig nutzbringender eingesetzt werden können, wie in diesem Fall. Einer unserer Vorfahren hat einmal gesagt: ›Wissen ist Macht‹, und dieses Axiom gilt, auf die Handlungen und Beweggründe von Menschen angewandt, in verstärktem Maß. Wenn man weiß, warum ein Mensch tut, was er tut, hat man den Schlüssel zu seinen geheimen Träumen und Sehnsüchten – und vor allem, man kennt seine Schwächen. Mit Hilfe dieses Wissens kann man nahezu jeden gefügig machen, und Kronak könnte in der Situation, der wir gegenüberstehen, von größter Wichtigkeit sein, wie Ihr meinen Ausführungen sicherlich entnommen habt.« »Seid Ihr sicher, daß Kronak die Transferoperation durchführen kann?« »Ah, Mylord, das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Folcho glattzüngig. »Er hat Paradons Unterlagen genau studiert, aber es gibt gewisse technische Feinheiten – kleine Handgriffe, aber in der Konsequenz möglicherweise verhängnisvoll, wie Ihr verstehen werdet – , die er nur dann vollkommen in den Griff bekommen könnte, wenn er Gelegenheit hätte, die Operation einmal zu beobachten. Als Stellvertreter des
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Patriarchs, würde selbstverständlich er als Assistent ausgewählt – « »Verdammter Narr!« fauchte Lingard, seinem Ärger Luft machend, daß die langatmigen Ausführungen ein enttäuschendes Ende nahmen. »Paradon hat unmißverständlich klargemacht, daß er die Transferoperation nicht wiederholen will. Ich habe die Entscheidung vor weniger als einer halben Stunde aus seinem Mund vernommen.« Folcho neigte den Kopf. »Gewiß. Aber auch Paradon könnte unter bestimmten Umständen zu einem Sinneswandel bewegt werden.« Das ruhige Selbstvertrauen des anderen nötigte Lingard widerwillige Bewunderung ab. »Ihr würdet sogar den Patriarchen erpressen?« »Das wäre natürlich die ideale Lösung für dieses Problem«, entgegnete Folcho. »Aber meine Akten über Paradons Vergangenheit bescheinigen ihm eine tadellose Lebensführung nach dem Moralkodex seiner Religion. Sein standhafter Glaube und seine Treue zum Kaiser sind die Grundzüge seines Charakters.« »Was nicht einmal Ihr als Schwächen auslegen könntet.« »Ich fürchte, da muß ich Euch widersprechen«, sagte Folcho. »Starre Grundsätze, und seien sie noch so moralisch, machen den Betreffenden erfahrungsgemäß verwundbar, eben wegen ihrer Starrheit. Der Überlebenstyp ist ein Mensch, der spürt, woher der Wind weht, der seine Einstellungen sich wandelnden Bedingungen anpassen kann.« »Verschont mich mit Euren Weisheiten«, sagte Lingard barsch. »Sagt mir lieber, worauf Ihr hinauswollt.« »Wie Ihr wünscht. Ich nehme an, wir stimmen überein, daß an Paradons Ergebenheit zum Kaiser kein Zweifel bestehen kann?« »Natürlich nicht.« »Dann könnte man doch als wahrscheinlich voraussetzen, daß er seinen Beschluß revidieren würde, wenn der Kaiser ihn selbst darum ersuchte?«
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»Bei den Göttern, Mann!« rief Lingard, der Verzweiflung nahe. »Da hat die Sache doch angefangen. Ihr habt Euch trotz Eurer raffinierten Ideen im Kreis gedreht. Haldor hat beschlossen, sich keinem Transfer mehr zu unterziehen. Das, und nichts anderes, hat zu der gegenwärtigen Situation geführt.« »Zugegeben, aber selbst unser geliebter Kaiser könnte seine Meinung ändern, wenn er begreift, daß er durch schädlichen Einfluß einem Irrtum erlegen ist. Ich würde sogar die Behauptung wagen, daß die kandarianische Hexe und ihre Verbündeten niemals solche Macht über sein Denken erlangt hätten, wäret Ihr nicht so lange fortgewesen. Aber da Ihr nun zurück seid und ihm mit weiserem Rat zur Seite stehen könnt, sollte es möglich sein, diese Macht zu brechen, bevor es zu spät ist. Ich muß Euch nur bitten, darauf zu vertrauen, daß alle Maßnahmen, die ich ergreife, einzig und allein Eurem und des Kaisers zukünftigem Wohl dienen.« »Was für Maßnahmen?« »Dazu kann ich mich im Moment nicht äußern«, sagte Folcho. »Ich hielte es ohnehin für ratsam, wenn Ihr nicht mit derartigem Wissen belastet würdet.« »Als erstes muß doch sicherlich diese Heirat verhindert werden«, sagte Lingard. »Ganz meine Meinung, Mylord. Ich denke, Ihr könnt es getrost mir überlassen, die kandarianische Hexe zu beseitigen.« Lingard spürte einen Anflug von Mitleid für die Frau, die er noch gar nicht kennengelernt hatte, als er die hämische Vorfreude auf dem feisten Vollmondgesicht sah. Gleichzeitig erkannte er, daß in Folchos Zurückhaltung über seine Zukunftspläne eine gewisse Weisheit lag. Es war merkwürdig, aber nichtsdestoweniger wahr, daß er, der im direkten Kampf viele Dutzend Menschen getötet haben mußte, zu einer so skrupellosen Tat, wie Folcho sie in die Wege leiten würde, schlicht unfähig war. Vermutlich war es tatsächlich besser, wenn er gar nicht erst wußte, was geschah. Blieb noch eine
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Frage. »Ihr habt vorhin von Dank gesprochen«, begann er vorsichtig. »Vielleicht bin ich ein wenig naiv in diesen Dingen, aber ich gehe doch wohl richtig in der Annahme, daß Euch etwas Handfesteres vorschwebt als ein eventuelles Dankeschön von mir und Haldor?« »Mylord, es ist noch zu früh, um solche Fragen zu erörtern.« Folcho schien die Maske des abgebrühten, selbstsicheren Meisterintriganten abgelegt zu haben und wieder in die übliche Rolle des kriecherischen Speichelleckers zurückzufallen. »Folcho, so geht das nicht«, sagte Lingard entschlossen. »Wenn es eine Vereinbarung zwischen uns geben soll, einen Vertrag, auch wenn es kein schriftlich fixierter ist, muß ich von Anfang an wissen, welche Verpflichtungen ich eingehe.« »Eine kleine unwichtige Sache – « Folcho grinste einfältig, sein unförmiger Körper wabbelte gallertartig im Sessel. »Heraus mit der Sprache!« herrschte Lingard ihn an. Folcho schwieg einen Moment, und nur die dunklen, hin und her huschenden Augen zwischen ihren Fettpolstern verrieten seine Unruhe. Dann schien er einen Entschluß zu fassen, erhob sich und trat vor. Er brachte die Arme in Hüfthöhe und stand vor Lingard wie ein groteskes Mannequin: der kugelrunde Körper lächerlich in seinem Aufputz, darüber der unverhältnismäßig große Kopf mit den Zügen einer Fastnachtsmaske. »Seht mich an, Mylord«, sagte er mit zornerstickter Stimme. »Seht Euch dieses Ding an, diese Masse stinkenden, mißgestalteten Fleisches, in der ich gefangen bin, und versucht Euch vorzustellen, wie so ein Leben sein muß. Bedenkt, daß auch ich ein Mann bin und die Wünsche und Sehnsüchte eines Mannes habe, und daß selbst die abgebrühtesten Huren vor körperlichem Kontakt mit einem so abgrundtief häßlichen Geschöpf zurückschrecken.« Lingard blieb das Schauspiel rätselhaft. »Was soll ich dazu
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sagen? Ich müßte lügen, wollte ich, was Ihr gesagt habt, bestreiten, aber ich verstehe nicht – « »Erlösung! Freiheit!« keuchte Folcho. »Das Verfahren, das Euch und Haldor mit jungen starken Körpern versehen wird, kann mir dasselbe ermöglichen.« »Aber es gibt keine Klon-Ableger von Euren Zellen.« »Kronak hat mir versichert, daß solche Ableger nur nötig sind, wenn das Aussehen beibehalten werden soll. Nun verbieten es die Götter, daß ich einen Transfer in eine jüngere Version dieses Zerrbildes einer Menschengestalt begehren sollte. Es gibt Gewebemodellierungs- und Zellanpassungsverfahren, welche mir die Wahl anderer Körper ermöglichen würden.« Lingard wußte wenig über diese Dinge, aber wenn das Wunder eines Transfers in einen Klon-Körper möglich war, so schien ihm, sollte auch das leicht abgewandelte Wunder eines Transfers in einen anderen Körpertyp vollbracht werden können. Er hielt sich nicht zu lange bei der Frage auf, wo ein solcher Körper wohl aufzutreiben war, aber er konnte sich gut vorstellen, daß Folcho dieses Problem schon berücksichtigt hatte. »Ich verstehe«, sagte er. »Und ich nehme an, daß Ihr mit Kronak schon übereingekommen seid, einen solchen Transfer durchzuführen, sobald er die nötigen Kenntnisse hat. Und in diesem Fall verstehe ich nicht ganz, wozu Ihr meinen Dank braucht.« »Aber Mylord, Euer Wohlwollen ist für das Gelingen des Projekts in mehrfacher Hinsicht entscheidend«, sagte Folcho. »Zunächst einmal werde ich Kronak während der Operation und der Genesungszeit – ein ganzer Monat unter Narkose – auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Er brauchte nur eine von tausend Gelegenheiten zu nutzen, um sich meiner zu entledigen. Wenn er jedoch wüßte, daß ich unter Eurem Schutz stehe, würde er sich das zweimal überlegen. Hinzu kommt, daß ich bei meiner Rückkehr ins aktive Leben eine andere Identität annehmen muß, wenn das Geheimnis gewahrt
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werden soll. Wenn ich Euch und unserem geliebten Kaiser weiterhin dienen soll – was mein innigster Wunsch ist –, muß dieser Fremde zu Folchos Nachfolger ernannt werden. Man müßte dann bekanntgeben, der alte Haushofmeister sei verschieden.« Lingard schwieg und dachte nach über den Mann, der vor ihm stand, und über die Konsequenzen des Gesagten. Positiv zu Buch schlug die Garantie seines und Haldors Transfers, wenn der Kaiser erst einmal zu einem Sinneswandel bewegt werden konnte. Aber die Situation war erheblich komplizierter. Bekam Folcho seinen neuen Körper, würde er sich mit der Vorstellung, zu altern und zu sterben, kaum bereitwilliger abfinden als er selbst. Nach einiger Zeit würde er noch einen Transfer verlangen, und noch einen. In Zukunft würde man sich also einem weniger grotesken, dafür aber potentiell unsterblichen Folcho gegenübersehen, und dieser Gedanke mußte nachdenklich stimmen, wenn man bedachte, wie dieser Mann in nur einer Lebensspanne seine Macht- und Einflußsphäre ausgedehnt hatte. Dann war da Kronak, der sich sicher nicht damit begnügen würde, anderen das Geschenk der erneuerten Jugend zukommen zu lassen, ohne selbst nach diesem Privileg zu trachten. Folglich würde es unumgänglich sein, noch einen Heiler in der Transfermethode zu unterweisen und den Kreis der Geheimnisträger nochmals zu erweitern. Ihm fielen Haldors Worte ein, die er vor kurzem noch so energisch zurückgewiesen hatte, und nun erst sah er die Logik darin. Von seiner Antwort in diesem Raum an Folcho mußte es abhängen, ob die neue bevorrechtigte Elite entstand, es zu jener Aufhebung des unnatürlichen Geschichtsverlaufs kam, welche Haldor fürchtete. Aber die Alternative, die seinen Tod in zwanzig, bestenfalls dreißig Jahren zur Folge hätte, war dennoch dringlicher und unerträglicher. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie nach einem zweiten Transfer ein neues Leben vor sich haben und dann die Zeit finden würden, die Entstehung dieser neuen Elite zu verhindern und dafür zu
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sorgen, daß das Geheimnis des Transferverfahrens ausschließlich verantwortungsbewußten, moralischen Personen anvertraut wurde. Er zögerte nicht, sich einzugestehen, daß Haldor in solchen Dingen normalerweise viel weitsichtiger war als er. Aber das Problem, mit Kronak und Folcho fertig zu werden, mußte warten, bis der Kaiser überzeugt worden war und sie gemeinsam, gewappnet durch ihre erneuerte Jugend, allen fremden Einfluß abgeschüttelt hatten. Bis dahin blieb ihm nichts anderes übrig, als die schlechte Gesellschaft zu akzeptieren, die ihm die Umstände aufgezwungen hatten. »Nun gut, Folcho«, sagte er ernst. »Tut, was getan werden muß, und ich gewähre Euch den Schutz, der mir möglich ist.« Der groteske Körper auf den spindeldürren Beinen verbeugte sich. »Mylord, ich verlange nichts mehr. Ihr werdet Euren Entschluß nicht bereuen, das versichere ich Euch.«
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4 Annrith schaute auf in das Gesicht des Mannes, vor dem sie eben einen Knicks gemacht hatte, und spürte ein flaues Gefühl im Magen, eine ungewisse Angst, als sie dem unbewegten Blick der dunklen Augen begegnete. Ihr schien, daß er in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil von Haldor verkörperte. Beide Männer waren groß, aber Haldor war schlank, Lingard hingegen ein Koloß – nicht etwa fett wie Bolmas, der sie auf den Balkon geführt und sich eben entfernt hatte, sondern ein schwergewichtiger Riese, der aus massiven Muskeln und Knochen bestand. Während Haldor blond und glattrasiert war, waren Haar und Bart dieses Mannes dicht und schwarz wie die Nacht. Seine Kleidung, hervorstechend durch ihre Schlichtheit in solch prunkvoller Gesellschaft, war das Olivbraun einer Soldatenuniform. Ihr einziger Schmuck war ein breiter, goldziselierter Gürtel um seine Taille, an dem in einer juwelengeschmückten Scheide ein langer gebogener Dolch baumelte. Sie vermutete, daß selbst dieser Hauch von Glanz eher dem Zufall als einer Absicht entsprang. Solch ein Mann trug einen Dolch aus Gewohnheit, für praktische statt Repräsentationszwecke. »Mylord Regent, ich bin hocherfreut, Euch endlich kennenzulernen«, sagte sie. »Der Kaiser hat mir viel von Euch erzählt, was meine Neugier aber nur erhöht hat.« Der dunkle Riese sah schweigend auf sie herab, und mit einemmal wurde sie sich des Klanges ihrer hellen dünnen Stimme unangenehm bewußt. Bolmas und die anderen hatten sie mit Ratschlägen überhäuft, wie sie sich bei dieser ersten Begegnung verhalten sollte. Sie war gewarnt worden, daß Lingard ein ungeschliffener Kerl war, der die Feinheiten der höfischen Umgangsformen verachtete; daß er die Gesellschaft attraktiver Frauen schätzte, aber für intellektuelle nichts übrig hatte; auch, daß er kein Nachsehen mit Dummköpfen hatte und angeblich so in Wut geraten konnte, daß selbst der Kaiser vor ihm zitterte. Außerdem hieß es, er sei ein Wüstling, der sich oft in
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den verrufensten Kneipen und Bordellen der Stadt amüsierte, ganz, wie seine Launen es ihm diktierten. Wie Würfel in einem Knobelbecher klapperten diese Informationsbruchstücke in ihrem Kopf, als sie in das erschreckende finstere Gesicht aufschaute und das Schweigen sich in die Länge zog. Es war Haldor, der sie schließlich aus der peinlichen Lage rettete. »Nun, Lingard, hat dir die Schönheit meiner kandarianischen Perle die Sprache verschlagen?« Der Riese zuckte die Achseln. »Gute Knochen und Zähne. Beides wichtige Merkmale. Aber der erste Eindruck kann täuschen. Man braucht Zeit, um die Qualität eines Pferdes oder einer Frau zu beurteilen.« »Ich glaube, du solltest diesen Vergleich lieber nicht weiterverfolgen«, sagte Haldor lachend. »Annrith hat eine beschützte, vornehme Erziehung genossen, und vermutlich braucht sie eine Weile, um sich an deinen derben Soldatenhumor zu gewöhnen.« Als die harten düsteren Augen sie endlich freigaben und Lingard den Kopf Haldor zuwandte, hatte Annrith das seltsame Gefühl, daß sie plötzlich aufgehört hatte zu existieren. Zwischen diesen beiden Männern herrschte eine so tiefe und innige Vertrautheit, ein ganzes Leben gemeinsamer Erfahrungen und gemeinsam durchstandener Gefahren, daß sie glaubte, niemals in diese ihre Welt eindringen zu können. Nur einen Moment lang schwebte sie über diesem Abgrund der Verzweiflung. »Laßt Euren natürlichen Neigungen ruhig freien Lauf, Mylord Regent«, sagte sie bissig. »Ich habe wohl gehört, daß Ihr Euer Quartier lieber in den Kneipen des Barrio Libre aufschlagt, statt Euch mit den Feinheiten eines Lebens am Hof zu plagen, und ich möchte keinesfalls, daß Ihr Euch meinetwegen Zwang antut.« Sie verstummte abrupt, errötete und wandte sich verwirrt ab. Ihr Zorn verflog so rasch, wie er gekommen war. Bolmas hatte es für unerläßlich gehalten, daß sie die Sympathie dieses Mannes gewann, statt dessen schlug sie schon in den ersten paar Sekunden ihrer Bekanntschaft scharfe Töne ihm gegenüber an.
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Sie schaute vom Balkon herab auf die Szenerie unten auf dem Palasthof, wo die Gäste des Kaisers, eine glitzernde Ansammlung von hochgestellten Persönlichkeiten von allen Planeten der Dreizehn Welten, plaudernd im Schein der frühen Nachmittagssonne umherschlenderten. Irgendwo in der Menge war ihr Vater, doch konnte sie ihn im Moment nicht sehen. Das war nur gut, denn vermutlich wäre sie zu ihm gerannt, hätte sich in seine Arme geflüchtet und ihn gebeten, sie von hier fortzubringen. »Ich bewundere Eure Offenheit, Mylady. Allerdings bezweifle ich, daß Eure Auftraggeber solche Spitzen gutheißen würden, wo sie doch honigsüße Worte verordnet haben müssen.« Annrith drehte sich um und sah, daß sie mit dem schwarzbärtigen Riesen allein auf dem Balkon war. Haldor war wieder in den Salon gegangen; er stand etwa fünf Meter entfernt, offensichtlich in ein Gespräch mit dem Patriarchen Paradon vertieft. »Meine Auftraggeber?« »Mylady, wir brauchen einander doch nichts vorzumachen. Ihr seid eindeutig gut unterrichtet über meine persönlichen Gewohnheiten. Zweifellos hat man Euch auch gesagt, daß ich Offenheit in allen Dingen schätze. Ich halte es für besser, wenn wir von Anfang an eingestehen, daß wir Feinde sind, anstatt vorzugeben, Freunde zu sein.« Annrith zögerte. Selbst die schlimmsten Warnungen vor Lingard hatten sie nicht auf diese kalte Dusche vorbereitet. Wenn sie auf seine Worte einging, akzeptierte sie damit ihr eigenes Versagen; aber sie durfte nicht versagen, sondern mußte es weiter versuchen, wenn schon nicht um ihrer selbst, dann um Haldors willen, den ganz unverkennbar starke Gefühle mit diesem Mann verbanden. »Vergebt mir meine Dummheit, aber ich sehe nicht, weshalb wir Feinde sein sollten«, sagte sie. »Wirklich nicht?« Er sah spöttisch zu ihr hinab, den zottigen Kopf ein wenig schräg gestellt, fast wie ein seltsamer
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Bär. »Und ich verstehe auch nicht, was dieses Gerede von ›Auftraggebern‹ soll«, fügte sie hinzu und spürte, wie der Zorn in ihr wieder wuchs. »Kuppler wäre vielleicht ein besserer Ausdruck gewesen«, sagte er mit festem, hartem Blick. »Die heimlichen Drahtzieher, die die Falle ausgelegt und mit einem so verlockenden Köder versehen haben, müssen in diesem Moment sehr mit sich zufrieden sein. Sagt mir, seid Ihr für diese Rolle besonders geschult worden, oder hat man Euch wegen eines schon bekannten und bewährten Talents ausgewählt? Wie dem auch sei, Ihr müßt schon etwas Besonderes an Euch haben, daß es Euch gelungen ist, Haldor einzufangen, der sein größtes Vergnügen stets darin gefunden hat, eine Vielzahl von Frauen zu besitzen. Ich entsinne mich noch an den Tag, als wir uns mit Nan Kadath vergnügten. Solche Frauen, Frauen, die ihren wahren Platz und ihre Aufgabe kennen, jede dienstbeflissen und keine eifersüchtig auf ihre Schwestern – « »Verschont mich mit Euren ehemaligen Orgien«, sagte Annrith, ohne ihre Abscheu zu verbergen. »Ehemalig?« Ein spöttisches Lächeln umspielte Lingards bärtige Lippen. »Glaubt Ihr wirklich, vorausgesetzt, diese Heirat findet überhaupt statt, daß Ihr Haldor für Euch in Beschlag nehmen, Euch gegen die Tausenden von Frauen behaupten könnt, die begierig sind, ihr Gedächtnis mit der Erinnerung zu bereichern, daß sie einmal vom Kaiser persönlich beglückt worden sind? Doch nein, Eure Auftraggeber müssen Euch das schon klargemacht haben. Eure wichtigste Aufgabe wird zweifellos sein, einen Thronfolger hervorzubringen, dann zur Sicherheit vielleicht noch ein zweites Kind. Sobald Ihr diese Verpflichtung erfüllt habt, wird man Euch zweifellos nahelegen, Euch mit Haldors sexuellen Ausschweifungen abzufinden.« Annrith spürte, daß sie sehr blaß war. Die Spannung ihrer unterdrückten Wut vibrierte in ihr, einer riesigen Stimmgabel
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gleich, und drohte ihre Vernunft zerspringen zu lassen. Sie machte sich keine Illusionen darüber, daß Haldor in jeder Beziehung ein Mann war. Als Kaiser hätte er ihr am Abend ihrer ersten Begegnung befehlen können, sich ihm zu fügen. Statt dessen hatte er sie umworben, sich völlig korrekt benommen und sich die althergebrachte Zurückhaltung und Förmlichkeit im Umgang zwischen Mann und Frau auferlegt, die heutzutage selbst in den kleinen Dörfern auf Kandar kaum noch beachtet wurde. Er schien fest entschlossen, sie in keiner Weise zu kompromittieren, und ihr war natürlich klargewesen, daß Millionen Mädchen es als Auszeichnung betrachtet hätten, vom Kaiser so hofiert zu werden. Desgleichen hatte er ihren Vater mit Respekt behandelt, obwohl er auch hier hätte befehlen können. Zugegeben, Bolmas und die anderen waren sofort aufmerksam geworden, hatten mit Schmeicheleien und Ratschlägen nicht gespart, und ganz offensichtlich wollten sie für sich selbst, und vielleicht auch für Kandar im allgemeinen, Nutzen aus der Verbindung ziehen. Doch als finsteres Komplott, wie es Lingard mit seinem Gerede von »Auftraggebern« nahelegte, konnte man das nicht bezeichnen. Sie sah ihm kühn ins Gesicht, ihren Zorn fest unter Kontrolle haltend. »Mir scheint, wenn Ihr wirklich der Freund des Kaisers wäret, hättet Ihr mit Eurem Urteil ruhig etwas länger warten können. Und wäre es dann immer noch dasselbe gewesen, so hättet Ihr besser daran getan, es für Euch zu behalten.« »Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, hören selten gern die Wahrheit«, entgegnete Lingard. »Ihr habt vorhin auf meine Vorliebe für Vergnügungen angespielt, und dazu will ich Euch eins sagen: die Huren des Barrio Libre sind ehrlicher in ihrer Einstellung zum Leben als Ihr, Mylady. Sie wissen, was sie sind, und machen kein Hehl daraus. Und wenigstens verkaufen sie sich für Geld!« Unter normalen Umständen hätte eine solche Beleidigung sie fassungslos verstummen oder in Tränen ausbrechen lassen, aber in der gegenwärtigen Situation gab sie ihrem sich
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herauskristallisierenden Entschluß den letzten Anstoß. »Nun gut, Lingard«, sagte sie mit fester, bewußt gleichgültiger Stimme. »Ihr habt mich überzeugt. Was immer es mich kosten mag, seid versichert, daß ich keinen weiteren Versuch machen werde, Eure Freundschaft zu gewinnen.« Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging rasch durch die Balkontür in den Empfangssalon. Die Spannung fiel unvermittelt von ihr ab, und sie zitterte jetzt. Ihr einziger Wunsch war, einen Ort zu finden, wo sie allein sein und sich von der eben durchstandenen Zerreißprobe erholen konnte. Sie eilte durch den Raum, darauf bedacht, den Gruppen der Plaudernden auszuweichen, von denen einige sich unterbrachen und zu ihr herübersahen. Sie war im Begriff, einen schmalen Bogengang zu passieren, hinter dem ein Korridor zu den Privatgemächern des Palasts führte, als sie sich unverhofft einer großen gebeugten Gestalt in einem schlichten schwarzen Talar gegenübersah, dessen einzige Zierde eine auf die linke Brust über dem Herzen gestickte silberne Schlange und ein Stabemblem waren. »Annrith, mein Kind. Ihr seht bedrückt aus. Kann ich Euch irgendwie helfen?« fragte Paradon, dessen zerfurchte, asketische Züge Sorge ausdrückten, als er zu ihr hinabblickte. »Es ist nichts weiter, Heiligkeit – nur leichte Kopfschmerzen«, log sie. Paradon war immer freundlich zu ihr gewesen, aber sie wollte jetzt unbedingt allein sein. Sie lächelte höflich und tat einen Schritt vor. Er trat zur Seite, aber als sie den Korridor betrat, bemerkte sie, daß er immer noch da war und neben ihr herging. »Erlaubt, daß ich Euch etwas dagegen verschreibe«, sagte er. »Kleine Unpäßlichkeiten können der Anfang einer ernsten Krankheit sein, und wir müssen sichergehen, daß Ihr morgen bei bester Gesundheit seid.« »Morgen?« Sie blieb wie angewurzelt stehen und schaute fragend zu ihm auf. »Der Kaiser hat beschlossen, seine Verlobung bei der Eröffnung des diesjährigen Konzils der Dreizehn Welten
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bekanntzugeben«, erklärte der Heiler. »Er hat mich erst vor wenigen Minuten davon unterrichtet, wenngleich ich gestehen muß, daß ich etwas Ähnliches schon seit einiger Zeit erwartet habe.« »Und nach der Bekanntgabe? Wie lange noch?« »Bis zur Trauung?« Paradon lächelte. »Wenn meine Diagnose richtig ist, wird Haldor nicht allzu lange leiden. Ihr habt ihn sehr glücklich gemacht, mein Kind, und ich glaube, er liebt Euch sehr. Ihr werdet ein gutes Paar abgeben.« »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Heiligkeit. Aber es gibt Personen, die da anderer Meinung sind. Wenn nun auch das Konzil sich dagegen ausspricht?« »Unsere Verfassung schreibt vor, daß der Kaiser vor seiner Heirat seine Minister um Erlaubnis bittet – schließlich ist die Frage der Thronfolge für sie von Belang – , aber in der Praxis ist die Bekanntgabe nur eine Formalität«, versicherte Paradon ihr. »Der Kaiser tut, was ihm gefällt, und sobald die Hochzeitsfeier vorüber ist, ist Eure Stellung gefestigt.« »Meine Ungeduld kommt Euch sicher sonderbar vor«, sagte sie. »Aber nun, da – « Er legte seine blasse Chirurgenhand sanft auf ihren Arm. »Ich sah Euch eben auf dem Balkon mit dem schwarzen Bär reden. Er brummt viel, aber nehmt ihn nicht zu ernst.« »Er hat gemeine Dinge zu mir gesagt.« »Das mag sein. Aber bedenkt, daß er sie Euch ins Gesicht gesagt hat«, erwiderte Paradon. »Er ist ein offener Mensch ohne jede Arglist, und Ihr werdet immer wissen, woran Ihr bei ihm seid. Die Feinde, vor denen Ihr Euch in acht nehmen solltet, sind jene, die lächeln.« – »Habe ich denn solche Feinde?« »Könnt Ihr daran zweifeln, angesichts der menschlichen Natur? Aber vergeßt nicht, daß Ihr auch Freunde habt.« Sie schaute lächelnd auf in das freundliche alte Gesicht. »Wißt Ihr, ich glaube, meine Kopfschmerzen sind plötzlich wie weggeblasen. Gehen wir wieder in den Salon?«
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5 Irgendwo unten in der Stadt schlug eine ferne Turmuhr dreimal. Die Glockentöne tasteten sich zögernd durch die dunstige Nacht in den düsteren Hof, wo Vernal Gein Wache stand. Verärgert über das Jucken des Schweißbächleins, das langsam über seine Brust unter dem Brustharnisch seiner Zeremonien-Uniform rann, verlagerte er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und dachte sehnsüchtig an ein großes kühles Glas Bier. Er schnitt eine Grimasse, wütend über seine eigene Dummheit, und versuchte das Bild und die Vorfreude auf das prickelnde, überschäumende goldgelbe Getränk und auf die angenehme Kühle in seinem Bauch zu verdrängen. Welchen Sinn hatte es, sich mit solchen Vorstellungen zu peinigen, wenn mindestens noch zwei schleppende Dienststunden verstreichen mußten, ehe er sich den Wunsch erfüllen konnte? Zu dumm! Alles in dieser Armee war dumm, die starre Disziplin, die viehischen Strafen. Er selbst war dumm, weil er auf das Gerede von glorreichen Schlachten gegen die Feinde des Kaisers auf fernen Planeten hereingefallen war und den Unsinn geglaubt hatte, Mädchen könnten beim Anblick einer Uniform nicht widerstehen. Die Wirklichkeit hatte sich als grau und eintönig erwiesen. Fünf Jahre diente er jetzt in der Palastwache, und das waren fünf Jahre stumpfsinniger Routine und unsinniger Befehlsausführung. Blut hatte er bisher einmal zu Gesicht bekommen, als er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Das Gewehr in seinen schwitzenden Händen war noch nie im Kampf abgeschossen worden, und die einzigen Mädchen, die sich zu seiner Uniform hingezogen fühlten, waren die billigen Huren, die in der Zahlnacht vor den Kasernentoren herumlungerten. Er spie aus. Seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück rauhes Leder in seinem trockenen, ausgedörrten Rachen. Zu dumm! Wozu Wache stehen auf diesem dämmrigen Hof auf der Rückseite des Palasts? Ein Eindringling müßte, um
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hierher zu gelangen, erst einmal die Haupttore überwinden und sich dann durch einen Irrgarten aus Hallen und Korridoren kämpfen, und das, ohne von mehreren hundert Wachen bemerkt zu werden. Der einzige andere Weg in den Palast war der die tausend Meter hohe Sandsteinklippe hinab. Einmal, vor langer Zeit, in den alten heroischen Tagen war ein Angriff auf diese Weise geführt worden, vom ersten Kaiser persönlich. Vielleicht war deshalb die Klippe nun in Flutlicht getaucht, eine gewaltige, helle Mauer, auf der sich die Silhouetten der Brustwehren des Palasts abzeichneten und die von den Straßen unten in der Stadt einen eindrucksvollen Anblick bot. Aber ein Eindringling, der unter den heutigen Bedingungen einen Abstieg versuchte, mußte schon verrückt sein; verrückt oder dumm. Vernal löste die Finger der rechten Hand von dem klammen Gewehrkolben und wischte sie an seiner Uniformhose ab. Nach den Vorschriften mußte er die Waffe alle zehn Minuten schultern und im Kreis über den Hof marschieren, forsch und zackig, wie es von den Leibwachen des Kaisers erwartet wurde, immer im Kreis herum, wie ein Tier in einer Tretmühle. Blödsinn, bei dieser Hitze und ganz allein herumzumarschieren. Wonach sollte er eigentlich Ausschau halten? Wenn man so begierig wissen wollte, was auf diesem Hof geschah, warum war dann niemand so schlau gewesen, hier ein paar Scheinwerfer und versteckte Kameras zu installieren? Zum Henker damit! Für heute war er genug marschiert. Es war einfach zu heiß. Solange er die Ohren offenhielt und darauf achtete, ob der Sergeant kam, brauchte er sich nicht sinnlos zu verausgaben. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Steinsäule und entspannte sich, aber nur ein wenig. Vor einem Monat hatte Kolbe dasselbe getan, und die blutigen Striemen auf seinem Rücken von den strafenden Peitschenhieben waren immer noch nicht verheilt. Von hier konnte er den größten Teil des Hofs sehen, die dunklen Umrisse von Türen und Fenstern, die Schatten, die sich in den
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Mauerecken zu rußender Schwärze verdichteten. Alles war still und unbeweglich, kein Lufthauch fuhr durch die warme Nacht. Aus einem Türeingang rechts von ihm löste sich eine Schattenpartie und bewegte sich auf die gegenüberliegende Mauer zu. Jedenfalls kam es ihm so vor. Vielleicht fingen seine Augen, müde vom Starren in das ewige Dunkel, auch nur an, ihm Streiche zu spielen. Er rieb sie sich mit dem Handrücken, blinzelte und versuchte Einzelheiten an dem formlosen Ding auszumachen. Das war wieder so ein Unfug. Wenn es einen besonderen Grund gab, warum der Hof nicht beleuchtet werden sollte, hätte man ihm dann nicht wenigstens eins der Nachtsichtgläser geben können, die zur Standardausrüstung von Einsatzpatrouillen gehörten? Vielleicht hatte man ihm solche Hilfsmittel deshalb versagt, weil seine Vorgesetzten sicher waren, daß er sie nie brauchen würde. Was normalerweise auch stimmte, aber – er spähte angestrengt in das Dunkel. Es war schon vorgekommen, daß Männer auf Nachtwache auf Schatten geschossen hatten, auf Gespenster, die ihnen ihr vor Langeweile abgestumpftes Gehirn vorgegaukelt hatte. Aber Vernal hatte immer noch den Eindruck, daß da etwas war, daß sich etwas verstohlen an der Mauer, etwa dreißig Meter entfernt, entlangschlich. Eine Katze vielleicht? Nein, dieses Ding, sofern es überhaupt existierte, war zu groß für eine Katze. Er packte das Gewehr fester, als die Schattengestalt mit der Dunkelheit nahe der Ecke jenes Gebäudes verschmolz, in dem die Bediensteten ihre Unterkünfte hatten. Was jetzt? Sollte er hingehen und nachsehen? Oder die Gestalt von hier aus anrufen? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Zum erstenmal, seit er der Bewegung der Schattengestalt gefolgt war, vernahm er ein Geräusch, ein metallisches Klicken und dann einen leisen Summton. Die Ursache des Summens wurde erkennbar, als die Gestalt wieder zum Vorschein kam. Sie schwebte langsam aus dem Dunkel über die Mauerkrone
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hinweg in den verhältnismäßig hellen Himmel, und zum erstenmal sah er sie ganz deutlich; an ihrer Existenz konnte kein Zweifel mehr bestehen. Vernal lief mitten auf den Hof. »Halt! Kommen Sie herunter, oder ich schieße!« Er erhielt keine Antwort. Nur das Summen des Flugaggregats wurde lauter, als der Unbekannte seine Geschwindigkeit erhöhte, er war schon über dem Dach der Bedienstetenunterkunft, deutlich erkennbar als schwarze Silhouette gegen die angestrahlte Klippe, und ganz eindeutig hatte er nicht die Absicht, dem Anruf Folge zu leisten. Vernals fünfjährige Ausbildung in der Armee ließ ihn automatisch reagieren. Er legte das Gewehr an, zielte und schoß. Einen Moment lang glaubte er, verfehlt zu haben. Er drückte den Finger bereits gegen den Abzug, um einen zweiten Schuß auszulösen, als das Fluggerät plötzlich außer Kontrolle geriet. Es heulte auf unter einem gewaltigen Beschleunigungsstoß und wurde, sich überschlagend, ungefähr fünfzig Meter hoch in die Luft geschleudert. Dann stürzte es ab, kam, immer schneller werdend, herunter, bis der hilflos zappelnde Körper seines Trägers mit dem Kopf voran auf die Steinplatten des Hofs krachte, nur wenige Schritte von Vernal entfernt. Das ekelerregende Knirschen berstender Knochen hallte noch in seinen Ohren, als er zu der Stelle lief. Als er sie erreichte, flammte an einem nahen Turm ein Scheinwerfer auf und enthüllte ein grausiges, blutiges Ding aus zerschmettertem Fleisch und Knochen. Vernal ließ das Gewehr fallen und sank schluchzend neben seinem Opfer auf die Knie. Die Schritte hinter sich nahm er nur am Rand wahr. Zum erstenmal in seinen fünf Dienstjahren begann er wirklich zu verstehen, was es hieß, ein Soldat zu sein. Und es gefiel ihm nicht. »Es tut mir leid, Mylord«, sagte der schnurrbärtige Sergeant. »Dieses Verhalten ist für Palastwachen unentschuldbar. Er wird selbstverständlich ausgepeitscht.« »Das will ich hoffen.« Folcho sah verächtlich zu, wie der
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weinende Vernal Gein von zwei seiner Kameraden abgeführt wurde. Dann wandte er sich der Leiche zu, die mit dem Gesicht nach unten, vor ihm auf dem Boden lag. Er setzte vorsichtig den rechten Fuß darunter und rollte sie herum. Die Schädeldecke des Toten war von der Wucht des Aufpralls eingedrückt worden, aber die Gesichtszüge waren, von den zwei Blutrinnsalen abgesehen, die aus den Nasenlöchern liefen, vollständig erhalten geblieben. Es war ein typisch largolianisches Gesicht, ohne besondere Kennzeichen, wie man es in den Straßen der Hauptstadt zu Tausenden sehen konnte. Der Körper wirkte durchtrainiert und war mit einem enganliegenden, einteiligen schwarzen Anzug bekleidet. Das um die muskulösen Schultern geschnallte Fluggerät war ein Standardmodell für Kommandoeinheiten, ebenso die Provianttasche auf der Brust. Keuchend vor Anstrengung bückte sich Folcho und löste den Riemen der Tasche. Dann steckte er die Hand hinein und brachte ein paar Holzsplitter zum Vorschein. Es waren flache Bruchstücke, etwa einen Zentimeter stark, von dunkler Farbe, auf der einen Seite poliert, auf der anderen mit einer Einlegearbeit aus Perlen und Halbedelsteinen versehen. Die Einlegearbeit hatte ein eigentümliches Muster, das Folcho sofort als charakteristisch für ein bekanntes belphargianisches Handwerkserzeugnis, das Gualcanarkästchen, erkannte. Er langte noch einmal in die Provianttasche, fand aber nur noch mehr dieser Holzscherben. Ein Einbrecher? Jeder gewöhnliche Einbrecher würde sich hüten, in den Kaiserlichen Palast einzudringen. Und wagte es doch einer, dann würde er sich bestimmt nicht damit begnügen, ein einzelnes ornamentiertes Kästchen von der Sorte zu stehlen, wie sie die Geschäfte und Basars der Stadt zu Hunderten feilboten. Wenn es kein Einbrecher war, dann vielleicht ein Attentäter? Aber das ergab keinen Sinn, denn der Mann hatte keine Waffe bei sich, nur diese zertrümmerten Überreste von Touristenramsch. Folcho schürzte die dicken Lippen und sah sich noch einmal den zerschmetterten Schädel
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des Toten an. Es war äußerst zweifelhaft, ob einem so stark beschädigten Gehirn unter postmortaler Sondierung noch nützliche Informationen entlockt werden konnten, aber man mußte es probieren. Sein Gedankengang wurde von dem Schrei einer Frau unterbrochen, einem so verzweifelten Entsetzensschrei, daß er sich ruckartig aufrichtete. »Ihre Pistole, Sergeant!« befahl er. Ungeduldig wartete er, bis ihm die Waffe überreicht wurde, dann watschelte er davon, so schnell sein plumper Körper es erlaubte. Der Sergeant und zwei Wachen folgten ihm. Annrith erwachte aus unruhigem Schlaf. Beide Monde waren untergegangen, und im Zimmer war es so dunkel, daß das Fenster zu ihrer Rechten gerade noch als finsteres Rechteck, nicht ganz so schwarz wie die Wand, zu erkennen war. Es war eine erdrückend schwüle Nacht. Träge sogen ihre Lungen die feucht-warme Luft ein – und trotzdem zitterte sie vor Eiseskälte. Die bösen Träume hätten nun, da sie wach war, vergehen sollen, aber der Alpdruck ließ sie nicht los. Alle ihre Sinne waren unnatürlich angespannt, und in ihrem Verstand flackerte eine helle Flamme des Grauens. Als sie das Geräusch hörte, wußte sie plötzlich, daß sie davon aufgewacht war. Ein kaum vernehmbares Scharren in der Dunkelheit, und doch ein alptraumhaftes Geräusch. Im Zimmer war etwas, bewegte sich auf sie zu – etwas Unsichtbares und Tödliches. Die Angst lähmte sie, und sie vermochte nicht die Hand auszustrecken und die Lampe neben ihrem Bett anzuknipsen. Das Geräusch, lauter diesmal, rief eine fast schon vergessene Kindheitserinnerung wach. Die leisen Klapperund Scharrlaute kamen näher, und sie lag immer noch bewegungsunfähig da, zitterte in stummem Entsetzen. Damals auf Kandar, sie war noch ein kleines Kind gewesen, hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört, und – Der Schrei löste sie schließlich aus ihrer Erstarrung. Ganz in der Nähe erklang ein unartikuliertes schrilles Heulen, aus
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dem das nackte Entsetzen sprach, durchfuhr sie wie ein Schock und brach den Bann, der sie gelähmt hatte. Noch bevor der Schrei abbrach, hatte sie die rechte Hand ausgestreckt und suchte verzweifelt den Schalter. Dann wurde das Zimmer unvermittelt in grelles Licht getaucht. Sie sah sie, kaum daß ihre Sicht sich klärte. Eine Anzahl kleiner krebsähnlicher Tiere, etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, von blasser Färbung, scharf umrissen gegen das Tiefrot des Teppichs, näherte sich ihr in geschlossener Formation, einer gut gedrillten Kompanieabteilung gleich. Das leise Klappern, das sie gehört hatte, wurde von den gepanzerten Beinen der Tiere verursacht. Sie kauerte sich am Kopfende des Bettes zusammen und beobachtete den langsamen, unerbittlichen Vormarsch der Tath, deren zuckende Fühler sich nun zielstrebig auf sie ausrichteten. Die Langsamkeit des Vormarschs war trügerisch. Wenn ein Tath in Sprungweite war, konnte es blitzschnell zuschlagen, und sobald seine Kiefer sich in ungeschütztes Fleisch gruben, sonderte es ein Gift ab, welches das Opfer augenblicklich lähmte. Der Biß war nicht tödlich. So schnell oder unkompliziert tötete das Tath nicht. Das Gift sollte das Opfer nur bewegungsunfähig machen, während die Vorbereitungen für den eigentlichen Zweck des Überfalls getroffen wurden. Und weil keine Ohnmacht eintrat, konnte das Opfer das entsetzliche Geschehen bei vollem Bewußtsein miterleben. Das Tath suchte sich eine Körperöffnung, drang ein und grub sich von dort mit seinen winzigen, messerscharfen Scheren, die für diesen Zweck ideal waren, einen Weg zur Milz. Darin legte es seine Eier ab, aus denen nach kaum drei Stunden die Larven schlüpften. Danach wurde das Opfer von ungefähr einer Million hungriger Mäuler bei lebendigem Leib aufgefressen. Das Gehirn wurde bis zuletzt verschont, so daß das Opfer praktisch bis zum letzten Stadium bei Bewußtsein blieb. Wer Glück hatte, verlor lange vorher den Verstand. Die Tiere waren jetzt nur noch wenige Zentimeter vom
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Fußende des Betts entfernt. Sie bewegten sich mit der hirnlosen Automatik von winzigen Spielzeugmechanismen. Ihr Rückenschild war dünn und gebrechlich und konnte mit einem kräftigen Schlag leicht zertrümmert werden. Aber Annrith trug nur ein hauchdünnes Nachthemd, und die Tiere würden sofort angreifen, sobald sie Menschenfleisch witterten. Wenn sie jetzt aus dem Bett sprang, konnte sie sie vielleicht zertreten, aber wenn es nur einem gelang, sein Gift in ihren Blutstrom zu spritzen, war es aus mit ihr. Noch vor dem Morgengrauen würden die Tathlarven sie innerlich zerfressen haben. Die Fühler der Tiere bewegten sich jetzt aufgeregter, als sie die Nähe eines Menschen spürten. Annrith drückte den Rücken fest gegen das Kopfende des Betts, zog sich die Decke bis an den Hals und starrte die Tiere gebannt, mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Das Kratzen und Scharren der gepanzerten Gliedmaßen beherrschte ihr Denken, lähmte ihren Verstand. Ihr aufgerissener Mund bewegte sich stumm, brachte keinen Laut hervor, denn die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Eines der Tath verließ die Formation und trippelte allein vor. Es sprang unglaublich hoch, scharrte mit den Klauen haltsuchend über das glatte, goldgelbe Seidenbettuch, das über die Bettkante hing, und fiel dann zurück auf den Teppich. Es lag auf dem Rücken, klackte mit den Beinen, zeigte seinen obszönen Bauch voller Eier. Bevor das Tier sich wieder aufgerichtet hatte, sprang ein anderes. Es landete genau auf der Bettkante am Fußende, schwankte einen Moment, mit den Beinen krampfhaft über den Stoff scharrend, um das Gleichgewicht zu bewahren, und fand Halt – Entsetzt beobachtete Annrith, wie die sich windenden Fühler zur Ruhe kamen. Langsam begann das Ding auf sie zuzukriechen, scharrte mit den winzigen Klauen über die seidene Bettdecke, näherte sich ihr wie eine kleine tödliche Präzisionsmaschine von der Farbe eines ausgebleichten
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Schädels. Tod. Ihr Tod. Die Vorstellung von der Qual, langsam innerlich zerfressen zu werden, hatte sich schon in ihr festgesetzt, sie des Willens beraubt, gegen ihr Schicksal anzukämpfen. Sie war so fixiert auf das kleine weiße Ding vor sich, daß sie nichts anderes sah und hörte. Der Palast hätte einstürzen können, ohne daß sie etwas bemerkt hätte. Der winzige Mörder auf ihrem Bett schlug sie so in den Bann, daß sie sein Verschwinden zunächst gar nicht fassen konnte, bis sie endlich bemerkte, daß eine Hand sie sachte an der Schulter rüttelte. Sie schaute auf und sah in Folchos schwitzendes Vollmondgesicht. Im Zimmer waren plötzlich lauter uniformierte Männer. »Beruhigt Euch, Mylady. Die Gefahr ist gebannt. Natürlich müssen wir noch alles gründlich durchsuchen.« Folcho hob sie mit unvermuteter Kraft vom Bett hoch und trug sie aus dem Zimmer. Sie ließ es widerstandslos geschehen. Sie sah noch, wie die Wachen die Tath mit ihren Stiefeln zertraten, die blassen Körper mit ekelerregendem Knirschen in den purpurroten Teppich stampften. »Was geht hier vor?« Ihr Vater erschien in der Tür; sein graues Haar war zerzaust, sein Gesicht leichenblaß. »Meine Tochter – « »Ihr ist nichts geschehen«, beruhigte ihn Folcho. »Bitte bleibt vorläufig noch draußen. Es könnten noch welche unterm Bett sein.« Er ging an Olan Therys vorbei und legte Annrith behutsam auf die Couch im Wohnzimmer. Als sie dort kauerte und der Schock allmählich nachließ, kam ihr zu Bewußtsein, daß sie praktisch nackt war. »Vater – « Sie streckte zitternd die Hand aus. Olan Therys erriet sofort, was seine Tochter wollte, trat zu ihr und bedeckte sie mit seinem Umhang. »Den Göttern sei Dank, sind wir gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Folcho. »Wenn sie nicht geschrieen hätte – «
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»Aber ich habe nicht geschrien – «, murmelte Annrith verwundert. Dann glitt ihr Blick zu der verschlossenen Tür, die in das Schlafzimmer neben dem ihren führte, und sie erriet die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. »Marinda!« rief sie und sprang auf. »Euer Exzellenz, bitte haltet sie zurück!« sagte Folcho eindringlich. Olan Therys trat seiner Tochter sofort in den Weg und hielt sie mit sanfter Gewalt fest. Folcho riß die Tür des anderen Schlafzimmers auf und verschwand darin, gefolgt von drei Wachen. Und wieder hörte Annrith das Stampfen von Füßen und das Knirschen berstender Tathkörper. »Laß mich zu ihr!« schrie sie und versuchte sich loszureißen. »Sei vernünftig, mein Kind, und warte noch«, sagte ihr Vater beschwichtigend. Nach kurzer Zeit erschien Folcho wieder in der Tür. »Hol einen Heiler!« befahl er einer Wache. »Beeilung, Mann!« »Was – was ist mit Marinda?« fragte Annrith ängstlich. Folcho sah zu Boden. »Mylady, anscheinend hat man die Tath in ihrem Zimmer zuerst losgelassen.« »Losgelassen ?« hauchte Olan Therys verblüfft. Folcho spreizte die dicken Finger. »Euer Exzellenz, das Erscheinen der Tath kann kein Zufall sein. Die Tiere sind in so großer Zahl aufgetreten und in zwei, allem Anschein nach verschlossene Räume eingedrungen, daß – « Annrith nutzte die Verwirrung ihres Vaters, um sich von ihm loszureißen, und lief zu der offenen Tür. Marinda lag nackt auf dem Bett, das blonde Haar wirr über dem Kopfkissen ausgebreitet, den Mund zu einem unhörbaren Schrei geöffnet. Ihr starrer Körper zeigte bereits die blaß-blaue Färbung einer Tathvergiftung. Nur ihre Augen wirkten noch lebendig – dunkle Fenster, die ihre Angst und Qual erkennen ließen, während das unsichtbare Tath sich durch ihren schutzlosen Körper bohrte. »Annrith, bitte. Du kannst ihr doch nicht helfen«, sagte ihr
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Vater. »Aber der Heiler – « »Er wird gleich hier sein, aber ich fürchte, daß auch er wenig mehr tun kann, als ihr die Qualen zu lindern.« »Da sollte ich jetzt liegen«, stieß Annrith hervor. »Der Anschlag galt mir.« »Die Götter bewahren, Mylady«, sagte Folcho. »Aber ich glaube, Ihr habt recht.« »Für meine arme Marinda ist das ein schwacher Trost. Ich bleibe bei ihr, bis der Heiler endlich kommt.« »Nein!« widersprach ihr Vater energisch. »Du hast heute schon genug mitgemacht. Außerdem würdest du bei dem, was hier getan werden muß, nur im Weg sein. Komm, wir gehen in meine Gemächer.« Sie spürte, daß sie nicht mehr die Kraft und den Willen zum Widerspruch hatte. Plötzlich von Schwäche übermannt, ließ sie sich von ihrem Vater aus dem Zimmer führen. Wie im Traum hörte sie noch Folchos Stimme: »Euer Exzellenz, der Heiler ist an sein Gelübde gebunden, Leben zu bewahren. Wenn er sagt, daß er nichts für das Mädchen tun kann, soll ich ihr dann ein schnelles Ende bereiten?« Und die Antwort ihres Vaters: »Ich danke Euch, Folcho. Tut, was Ihr für richtig haltet.« Der Wortwechsel hätte ebensogut in einer ihr fremden Sprache stattfinden können. Ihr tauber Verstand begriff nichts. Erst spät am folgenden Morgen, als sie aus künstlich verlängertem Schlaf erwachte, verstand sie. Zu diesem Zeitpunkt war Marinda seit über acht Stunden tot, und von ihrem verseuchten Körper war nur eine Handvoll graue Asche geblieben.
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6 Haldor stand in voller Größe vor dem zitternden Folcho. Er glühte vor Zorn. Durch das Fenster hinter ihm sah man, ebenfalls glühend, die Morgensonne und darunter die Bucht, in der das Meer wie flüssiges Gold wogte. Die Nachricht von dem heimtückischen Attentat auf Annrith, ausgerechnet am Vorabend der geplanten Bekanntgabe seiner Verlobung vor dem Ministerrat, hatte ihn zutiefst erschüttert und zugleich sehr nachdenklich gestimmt. War seine Einschätzung der politischen Situation im Imperium vielleicht zu stark von Selbstgefälligkeit geprägt gewesen? Er hatte wohl gewußt, daß die bevorstehende Heirat in einigen Lagern Rivalitäten ausgelöst hatte, aber er hätte nie für möglich gehalten, daß eine dieser Gruppen zu einer solchen Schandtat fähig war. »Warum bin ich nicht eher über das Geschehen unterrichtet worden?« fragte er scharf. »Euer Majestät, wir glaubten, es habe keinen Sinn, Eure Nachtruhe zu stören, solange keine genaueren Informationen vorlagen.« »Meine Nachtruhe! Während die Frau, die ich heiraten will, in Lebensgefahr schwebte!« »Ich versichere Euch, die Gefahr ist gebannt.« »Ich habe schon zu viele Eurer Versicherungen gehört. Ihr sagtet mir, der Palast wäre absolut sicher. Ich habe Euch, wissen die Götter, alle Mittel für diesen Zweck an die Hand gegeben.« »Euer Majestät, der Attentäter ist von einem Wachtposten beim Fluchtversuch erschossen worden – « »Aber erst, nachdem er sein Teufelswerk vollbracht hatte«, bohrte Haldor unnachgiebig. »Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung dafür«, bekannte Folcho, dessen schwitzender Blasenkopf im Sonnenlicht glänzte. »Mich trifft die volle Verantwortung. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß der Anschlag durch mein persönliches Eingreifen vereitelt worden ist. Nur eine
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unbedeutende Dienerin verlor das Leben.« »Was eher dem Zufall als weiser Voraussicht zu verdanken ist, wenn Ihr mich richtig unterrichtet habt«, sagte Haldor. »Hätte man die Tath in Annriths Zimmer zuerst ausgesetzt, so wäre sie jetzt tot. Aber das ist schon vier Stunden her. Was habt Ihr inzwischen unternommen?« »Ich war die meiste Zeit bei meinem Psychensondenstab. Wir haben versucht, dem Gehirn des Attentäters so viele Informationen wie möglich zu entreißen, leider mit geringem Erfolg. Nachdem die Wache sein Fluggerät durch eine Gewehrkugel beschädigt hatte, stürzte er mit dem Kopf voran aus etwa sechzig Metern Höhe auf den Hof. Ich ließ die Leiche unverzüglich ins Labor bringen, aber das elektrochemische Restpotential der Gehirnzellen war nur noch ein heilloses Durcheinander. Unter diesen Umständen war selbst die Feststellung seiner Personalien sehr schwierig.« »Ihr wißt, wer der Attentäter war?« Folcho nickte. »Ja, Euer Majestät, aber ich glaube kaum, daß uns das viel nützen wird. Er war ein ehemaliges Mitglied der Palastwache namens Bunin. Den Akten nach wurde er vor etwa sechs Monaten wegen wiederholter Trunkenheit im Dienst entlassen.« »Das würde erklären, warum er sich im Palast auskannte. Ohne dieses Wissen hätte man den Anschlag schwerlich durchführen können«, bemerkte Haldor. »Was wißt Ihr noch über ihn?« »Seit seiner Entlassung hat er im Hafenviertel der Stadt gelebt«, erwiderte Folcho. »Er soll häufig die Stellung gewechselt haben. Meistens behielt er eine Arbeit nur bis zum Zahltag, um sich dann sinnlos zu betrinken, bis ihm das Geld ausging. Ansonsten ist wenig über ihn bekannt, nur, daß er von der Polizei mehrmals wegen Verdachts auf Raubüberfall festgenommen wurde. Soviel wir bis jetzt wissen, hat er sich nie politisch betätigt oder politische Ansichten irgendeiner Art geäußert.« »Wer ein derartiges Leben führt, braucht politische
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Ansichten genausowenig wie ein Gewissen«, bemerkte Haldor. »Dieser Mann war eindeutig nur ein Werkzeug, der sein Können und Wissen für Geld verkauft hat. Ihr solltet diejenigen suchen, die ihn für diese Tat bezahlt haben.« »Meine Überlegungen gehen in genau dieselbe Richtung, Euer Majestät. Aber Ihr müßt verstehen, daß solche Nachforschungen nicht einfach sind. Sie kosten viel Zeit und Mühe. Ich habe fünfzig Leute auf das Hafenviertel angesetzt, die Bunins Leben während der letzten zwei Wochen genauestens zu rekonstruieren versuchen: was er tat, wohin er ging, mit wem er sprach. Früher oder später – « »Früher, Folcho, nicht später, sofern Ihr Wert auf Eure Stellung legt«, schnitt Haldor ihm schroff das Wort ab. »Und jetzt geht mir aus den Augen! Ich will nichts mehr von Euch sehen, ehe Ihr nicht ein Ergebnis vorweisen könnt.« Folcho zog sich linkisch zurück, sichtlich erleichtert, daß die Audienz zu Ende war. Haldor bedeutete einem Diener, der eben eingetreten war und sich höflich nach seinen Wünschen zum Frühstück erkundigte, sich zu entfernen. Er mußte jetzt unbedingt wissen, wie sich Annrith von dem Schock erholte. Sie war sicherlich ein mutiges und beherztes Mädchen, aber der Alptraum, den sie durchgemacht hatte, konnte einen schon um den Verstand bringen. Er verließ seine Suite und stürmte durch den Palast, ohne die zahllosen Wachtposten zu beachten, die in den Korridoren standen und bei seinem Anblick Haltung annahmen. Zwei-, dreihundert dieser Männer taten ständig Dienst im ganzen Palast, und trotzdem konnte ein solches Attentat geschehen. Das also war Folchos vielgerühmte Sicherheit. Und trotzdem erkannte er, daß im Grund nicht der Haushofmeister, sondern er selbst verantwortlich war. Über Sicherheit bestimmte letztlich nicht ein Aufgebot an Waffen und Posten, sondern vielmehr die Stimmung, die im Reich herrschte. Das Volk mußte dem Kaiser, seinem obersten Herrscher, soviel Treue und Zuneigung entgegenbringen, daß all das kleinliche
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Gezänk und die Eifersüchteleien unwichtig wurden. In Notzeiten wie damals, als er und Lingard gegen das korrupte alte Imperium gekämpft hatten, war diese Treue leichter zu gewinnen und zu bewahren. Vermutlich, überlegte er, barg die Stabilität, auf die er so angestrengt hingearbeitet hatte, den Keim ihrer eigenen Vernichtung schon in sich. Weder im physikalischen Universum noch in der Gedankenwelt konnte es eine Statik geben. Alles war einer dynamischen Veränderung unterworfen, die entweder in die eine oder die andere Richtung ging, hin zum Wachstum oder hin zum Verfall. Olan Therys war schon angekleidet, als Haldor sein Gemach betrat. Sein hageres Gesicht war angespannt und seine Augen rotumrändert von zu wenig Schlaf. »Euer Majestät, ich war im Begriff, Euch aufzusuchen«, sagte er. »Folcho, dieser Narr, hat mich eben erst unterrichtet«, entgegnete Haldor. Er blickte unruhig um sich. »Wo ist Annrith?« »Sie schläft noch«, antwortete Therys. »Der Heiler hat ihr auf meine Bitte ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht.« »Ich muß zu ihr.« »Es wäre mir lieber, wenn Ihr sie nicht stören würdet«, sagte Therys mit Nachdruck. »Der Heiler sagte, daß sie sich eher von dem Schock erholen wird, wenn man sie durchschlafen und von allein aufwachen läßt.« Haldor zügelte seinen Ärger auf den kleinen drahtigen Mann vor sich, der sich anmaßte, dem Kaiser Befehle zu erteilen. Offensichtlich entsprang sein Verhalten nur dem Wunsch, für das Wohl seiner Tochter zu sorgen. »Wie lange kann das dauern?« »Der Heiler wußte es nicht genau«, antwortete Olan Therys. »Anscheinend spielt die Stärke des erlittenen Schocks dabei eine Rolle. Der Schlaf kann vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden dauern.« »Ich beabsichtige, heute mittag den Ministern meine
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Verlobung bekanntzugeben«, erklärte Haldor. »Danach, so verlangt es das Protokoll, soll die zukünftige Kaiserin vorgestellt werden.« »Als ehemaliger Diplomat weiß ich nur zu gut, was das Protokoll verlangt, Euer Majestät«, erwiderte Olan Therys. »Aber Ihr müßt schon entschuldigen, wenn ich Euch sage, daß mir das Wohlergehen meiner einzigen Tochter sehr viel wichtiger ist. In dieser Angelegenheit wollte ich Euch übrigens auch aufsuchen.« »Therys, ich habe heute morgen viel zu tun – « »Ich weiß, aber ich muß darauf bestehen, daß Ihr Euch zuerst anhört, was ich zu sagen habe. Kommt mit auf die Terrasse, dort steht Kaffee bereit.« Das Erlebnis, daß jemand darauf bestand, er solle etwas tun, war für Haldor so neu, daß er trotz der ernsten Situation beinahe lauthals gelacht hätte. Beinahe. Dieser tadellos gekleidete kleine Mann strahlte eine so ruhige, ernste Würde aus, daß er ihm den Wunsch einfach nicht abschlagen konnte. Sie traten auf die sonnenbeschienene Terrasse hinaus und setzten sich einander gegenüber an einen runden Marmortisch, auf dem Kaffee und Obst bereitstanden. Therys schenkte Haldor und sich eine Tasse voll ein, dann lehnte er sich zurück und sah den Kaiser mit seinen dunklen Augen aufmerksam an. »Ich danke Euch, daß Ihr mich anhören wollt«, sagte er ruhig. »Es ist wichtig, daß Ihr und ich allein miteinander sprechen, und vielleicht ergibt sich keine zweite Gelegenheit. Bolmas kann von dem Vorfall heute nacht noch nichts gehört haben, aber sobald er die Neuigkeit erfährt, wird er im Nu hier auftauchen und uns mit seinem aufgeregten Geplapper belästigen.« Haldor, der den Zucker in seinem dunklen kandarianischen Kaffee umrührte, nickte zustimmend. »Obwohl böse Zungen am Hof das Gegenteil behaupten, bin ich kein ehrgeiziger Mensch«, fuhr Olan Therys fort. »Es sei denn, man nennt es Ehrgeiz, wenn ich mir für meine Tochter Glück und für mich selbst einen ruhigen Lebensabend
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auf meiner Heimatwelt wünsche. Verschiedentlich wird auch behauptet, ich hätte eine Heirat zwischen Euch und Annrith zu arrangieren versucht. Was immer man sagt, Ihr und ich wissen, daß eine solche Absicht nicht vorhanden war. Meine Tochter hat Euch kennengelernt und sich in Euch verliebt; sie hätte sich ebensogut in einen anderen verlieben können. Über diese Dinge entscheidet das Schicksal. Daß Ihr der Kaiser wart, war für sie unwichtig. Was mich angeht, so könntet Ihr ein einfacher Leutnant der Palastwache sein, wenn Ihr sie nur lieben würdet und fest entschlossen wärt, sie glücklich zu machen.« »Zweifelt Ihr daran?« fragte Haldor. Die rotumränderten Augen im angespannten Gesicht des anderen sahen ihn fest an. »Ich zweifle nicht an Eurem Vorsatz, aber ich habe schwere Bedenken, ob es Euch gelingen wird. Das Leben meiner Tochter ist mir wichtiger als alles andere, und heute nacht wäre sie wegen ihrer Beziehung zu Euch beinahe gestorben.« »Ein vereinzelter Anschlag – «, protestierte Haldor schwach. »Dem vielleicht noch weitere folgen werden?« fragte Olan Therys. »Ich hatte geglaubt, daß Bolmas mit seinem Gerede über die Rivalitäten und Widerstände, die diese Heirat hervorrufen würde, übertrieb, aber jetzt befürchte ich langsam, daß er vielleicht vorausschauender war, als ich ihm zugetraut hätte. Ich weiß, Annrith liebt Euch, aber das Leben ist noch wichtiger als die Liebe.« Haldor wurde von wachsender Unruhe erfaßt, als er Therys Gedankengang zu folgen versuchte. »Was wollt Ihr damit sagen?« »Ich habe mir die Sache gründlich überlegt«, sagte Therys. »Und ich würde Euch raten, die geplante Bekanntgabe vor dem Ministerrat zu unterlassen. Ich habe nämlich beschlossen, innerhalb der nächsten Tage mit Annrith nach Kandar zurückzukehren.« »Damit wäre sie nie und nimmer einverstanden!«
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»Sie ist ein gehorsames Kind, und sie wird sich meinen Wünschen fügen«, sagte Therys fest. »Vielleicht. Aber sie wird Euch dafür hassen.« »Das muß ich in Kauf nehmen«, erwiderte Therys. »Es ist mir lieber, sie lebt und haßt mich, als daß sie hier auf Belphar stirbt. Wie ich schon sagte, ihr Leben ist mir wichtiger als alles andere.« »Nein! Das erlaube ich nicht.« »Euer Majestät. Ihr seid der Kaiser«, sagte Olan Therys mit ruhiger Autorität, »aber ich bin ihr Vater.« Haldor konnte sich nicht mehr beherrschen. Er stand auf und schritt auf der Terrasse auf und ab. »Therys, ich verstehe und respektiere Eure Gefühle, aber die Bekanntgabe kann nicht mehr verschoben werden. Der ganze Hof weiß, daß sie heute stattfinden soll. Ein Verzicht darauf würde mir als Schwäche ausgelegt, als ein Signal, daß ich dem Druck politischer Verschwörer nachzugeben bereit bin.« »Wie Ihr Euer Gesicht wahrt, ist Eure Sache«, sagte Therys. »Mich interessiert nur, daß meine Tochter am Leben bleibt.« »Tatsächlich? Dann schlage ich vor, daß Ihr die Sache ein wenig gründlicher durchdenkt«, sagte Haldor grimmig. »Glaubt Ihr im Ernst, man wird Euch und Annrith auf Kandar in Frieden lassen, selbst wenn ich auf die Bekanntgabe verzichte? Das wird die Verschwörer, die Annrith umbringen wollen, kaum davon überzeugen, daß unsere Beziehung endgültig beendet ist. Die Macht dieser Leute ist groß, und auf Kandar seid Ihr nicht mehr unter meinem unmittelbaren Schutz, so unzulänglich er Euch im Moment auch erscheinen mag.« »Was Ihr sagt, mag richtig sein«, gab Therys zu. »Aber was könnte ich sonst tun?« »Laßt mich die Bekanntgabe wie geplant machen«, sagte Haldor. »Normalerweise würden mindestens zwei Monate bis zur Trauung verstreichen, aber anstatt so lange zu warten, heiraten wir sofort. Wenn Annrith erst einmal Kaiserin ist,
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werden die Verschwörer sich hüten, ihr auch nur ein Haar zu krümmen.« Olan Therys verschränkte die Arme und dachte stirnrunzelnd über Haldors Worte nach. »Ich muß gestehen, daß ich gespannt darauf war, wie Ihr auf meine Entscheidung reagieren würdet«, sagte er schließlich. »Immerhin seid Ihr der Kaiser und hättet mich zum Gehorsam zwingen können. Weil Ihr das aber nicht versucht habt, glaube ich nun, daß Ihr es völlig ehrlich meint. Außerdem muß der gestrige Vorfall Eure Sicherheitskräfte ziemlich aufgescheucht haben, so daß sie jetzt sicher doppelt so wachsam sind.« Er lächelte plötzlich, und seine dunklen Augen glitzerten. Er schien ein jüngerer, unbekümmerterer Olan Therys zu sein, der nun zu Haldor trat und ihm beim Arm nahm. »Also gut, mein Sohn. Geh und mach deine Bekanntgabe.«
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7 Einen Moment lang blieb Lingard vor dem Eingang stehen und gönnte sich einen Blick auf die glitzernde Pracht der Szenerie. Wie jedesmal, wenn er das tat, empfand er einen gewissen Stolz auf das Reich, auf dieses Wunderwerk, für das er und Haldor so lange gekämpft hatten. Die Mitglieder des Ministerrats, die höchsten Repräsentanten der Dreizehn Welten, ihre Botschafter und deren Gefolge, saßen bereits auf ihren angestammten Plätzen zu beiden Seiten des mit einem purpurnen Teppich ausgelegten Mittelgangs. Jede Gruppe schien die andere in der Pracht ihrer zeremoniellen Gewänder übertreffen zu wollen. An das Hellorange der thiskianischen Delegation schloß sich das Himmelblau der Repräsentanten von Gonyl an, daran das fluoreszierende Lindengrün von Aldar, dann das Scharlachrot von Boryl, das Gold-Silber von Kadath und so fort. Ein schillerndes Kaleidoskop aus lebenden Farben. Die Luft war von einem Stimmengewirr in hundert verschiedenen Sprachen und Dialekten erfüllt. Lingard straffte die muskulösen Schultern unter der Jacke seiner schlichten gelbbraunen Uniform und betrat den Saal. Das Summen der Stimmen schwoll vorübergehend an, mäßigte sich, dann trat Stille ein, als auf beiden Seiten des Gangs die Gesichter sich ihm zuwendeten, um seinen Eintritt zu verfolgen. Er überlegte, wo er vielleicht stehengeblieben wäre, wem er ein Lächeln geschenkt hätte, ein Nicken oder gar ein kurzes Grußwort. Er war der Regent, neben dem Kaiser der mächtigste Mann im Reich, und das kleinste Zeichen seiner Gunst war eine begehrte Auszeichnung für diese Diplomaten und Politiker, von denen jeder die Aufgabe hatte, dem Planeten und Volk, deren Repräsentant er war, jeden möglichen Vorteil zu sichern. Der Gedanke mißfiel ihm. In der Anfangszeit des Imperiums, als er noch ein einfacher Soldat war, ohne ein Gespür für solche Feinheiten, hatte sich Lingard bei solchen Anlässen zu offenen Gunstbezeugungen hinreißen lassen. Er war jetzt älter und klüger, und die Erfahrung und die
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Ratschläge Haldors und Paradons, die von Natur aus mehr diplomatisches Geschick besaßen als er, hatten ihn Zurückhaltung gelehrt. In der lockeren, rhythmischen Gangart eines Soldaten schritt er den Gang entlang, sah trotz des freundlichen Lächelns alter Freunde weder nach rechts noch nach links und erreichte schließlich das Podium, auf dem der große purpur-goldene Thron stand. Er stellte sich auf die rechte Seite des Throns, seinen traditionellen Platz, drehte sich zu der Versammlung herum und nahm den stürmischen Applaus und die Hochrufe entgegen, die in dem gewölbten Saal donnernd widerhallten. Nur zu gern hätte er diese Ehrenbezeugungen gegen einen festen Händedruck oder einen ehrlichen Blick eingetauscht. Das war die Einsamkeit der Mächtigen, überlegte er. Es war kaum zu bezweifeln, daß auch Haldor Bedauern darüber empfand, daß solche Barrieren zwischen Menschen errichtet werden mußten. Vielleicht war diese Heirat nur ein Zeichen für sein Bedürfnis nach engerem menschlichen Kontakt, wenngleich er hier in eine Falle tappte. Und seine Blindheit dagegen offenbarte, daß er trotz seiner Weisheit nicht unfehlbar war. Das Mädchen war wohl schön, aber ihre dunklen Augen und ihre Schlagfertigkeit ließen eine berechnende Schläue erkennen. Und dann waren da noch ihre Auftraggeber. Ein Fanfarenstoß unterbrach seinen Gedankengang. In der Halle wurde es wieder still, und alle Augen richteten sich auf den Eingang. Haldor, in seine prachtvollen purpur-goldenen kaiserlichen Gewänder gehüllt, kam gemessenen Schrittes den Mittelgang entlang. Wie immer bei solchen Anlässen wurde Lingard von Stolz und Zuneigung für diesen hochgewachsenen Mann ergriffen. Seine edlen Gesichtszüge, seine Statur und seine gelbbraune Löwenmähne machten Haldor zu einer eindrucksvollen Erscheinung, die eines Kaisers würdig war. Er strahlte eine solche Macht und Würde aus, daß absolut niemand seine Autorität in Frage stellen konnte.
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Zwei Schritte hinter ihm, in auffälligem Kontrast zur Jugendhaftigkeit und Vitalität des Kaisers, sah man eine gebeugte Gestalt in einem schwarzen Talar: Paradon, die dritte Säule des Imperiums. Er würde während der feierlichen Ansprache an die Versammlung seinen Platz an der linken Seite des Throns einnehmen. Ihm folgten Haldors Berater und die Kabinettsmitglieder der hiesigen planetarischen Regierung. In Habachtstellung sah Lingard die Prozession an der erwartungsvollen, reglosen Menge zu beiden Seiten des Gangs vorüberschreiten und über den langen purpurnen Teppich auf sich zukommen. Haldor war noch etwa zwanzig Meter entfernt, als er auf eine plötzliche Bewegung in der goldsilbern gekleideten Delegation von Kadath aufmerksam wurde. Irgendein Narr, der nicht einmal zwei Minuten stillstehen konnte, dachte er ärgerlich – Der Gedanke wich schlagartigem Entsetzen, denn eine Gestalt löste sich aus der Zuschauermenge, sprang mitten in den Gang und richtete eine Waffe auf den Kaiser. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Alles war wie erstarrt: Haldors bestürztes Gesicht, als er den goldsilbern gekleideten Fremden anstarrte, die erschrockenen Gesichter der Zuschauer. Es herrschte eine so vollständige Stille, daß man versucht war, zu glauben, das ganze Universum habe seine Explosion für einen Moment eingestellt. Dann zerrissen zwei kurz aufeinanderfolgende Schüsse diese Stille. Der Kaiser zuckte zweimal zusammen und trat einen Schritt zurück. Dann verzerrte sich sein Gesicht qualvoll, und sein hochgewachsener Körper sank langsam auf den Teppich nieder. Lingard stürzte sich mit schon gezücktem Dolch auf den Attentäter, nun nichts anderes als ein todbringender Koloß, der nur die Vernichtung eines Feindes im Sinn hatte. Doch der Attentäter, der ihm noch den Rücken zukehrte, brach, nur Sekundenbruchteile nach seinem Opfer, ebenfalls zusammen,
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obgleich niemand außer Lingard die Hand gegen ihn erhoben hatte.« Während Lingard unschlüssig auf den reglosen Körper starrte, geriet die Versammlung in Bewegung. Paradon kniete bereits neben Haldor und rief nach einer Tragbahre; ein junger Hauptmann wies die Wachen an, einen Schutzring um den Ort des Geschehens zu bilden. Lingard bückte sich, den Dolch immer noch in der Rechten, und ergriff das Handgelenk des Attentäters. Er fühlte keinen Puls, und die Muskeln waren kalt und starr wie tiefgefrorenes Fleisch. Sonderbar – er betrachtete das Gesicht. Blasse Haut, keine auffälligen Kennzeichen. Schließlich lieferten ihm die Augen, deren Weiß mit grünen Punkten durchsetzt war, den gesuchten Hinweis. Er griff der Leiche unters Kinn und riß ihr mit einem Ruck die hauchdünne Kunststoffmaske vom Gesicht. Die grüngesprenkelten, eingefallenen Züge eines Ffrinjesüchtigen starrten ihm entgegen. Ffrinje war ein beliebtes Genußmittel der Swoorn, einer Rasse von Reptilien, die zwei Planeten in der Nähe des von den Kadathanern beherrschten Sektors der Dreizehn Welten bewohnten. Auf die Swoorn hatte Ffrinje eine leicht anregende Wirkung, ähnlich wie Koffein, aber für den menschlichen Metabolismus war es ein starkes Rauschgift, das schon nach der ersten geringfügigen Gabe süchtig machte. Ffrinje erzeugte eine physische Abhängigkeit, die zur ständigen Einnahme zwang, denn ein Entzug führte zu einer unerträglich schmerzhaften Entzündung der Hautnervenenden. Die Wirkung auf die Psyche war nicht minder intensiv, und nach den ersten Höhen des Rausches bemerkte das Opfer sehr rasch, daß es auf die Droge nicht verzichten konnte, wenn es ein halbwegs normales Leben führen wollte. Bei regelmäßiger Einnahme konnte der Süchtige noch einige Jahre weiterleben, bis sein Nervensystem durch die ständige Reizung schließlich ausbrannte, aber wenn ihm die Droge versagt blieb, konnte es vorkommen, daß er Selbstmord wider Willen beging, weil die
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Schmerzen der entzündeten Hautnerven ihn zur Raserei brachten und er sich eigenhändig buchstäblich entzweiriß. Wer das Pech hatte oder töricht genug war, ffrinjeüchtig zu werden, war seinem Drogenlieferanten hilflos ausgeliefert und folglich ein williges Werkzeug für Aufgaben wie etwa einen Mordanschlag. Lingard steckte den Dolch in die Scheide und drehte sich um. Paradon und zwei andere Heiler knieten neben Haldor und entfernten die blutdurchtränkte Kleidung von seinem Unterleib. Lingard hatte in dem jahrzehntelangen Krieg viele Verwundete gesehen, aber der Anblick dieses zerfetzten Fleisches schnürte ihm die Kehle zu. »Wird er – leben?« stieß er hervor. Paradon schaute kurz auf und sah ihn grimmig an. »Das kann ich erst sagen, wenn ich ihn auf dem Operationstisch hatte. Und je eher wir ihn dorthin bringen, desto größer sind die Chancen. Seht bitte nach, wo die Träger bleiben, ja?« Froh, etwas Nützliches tun zu können, zwängte sich Lingard an den Wachen vorbei in das Gedränge, wo er sofort mit ängstlichen Fragen bestürmt wurde. »Den Göttern sei Dank, der Kaiser lebt noch«, rief er. »Sagt das weiter und macht hier bitte Platz.« Er arbeitete sich durch den Menschenauflauf zum Haupteingang und fand dort die Bahrenträger, die sich vergeblich bemühten, in den Saal zu gelangen. Seinen massigen Körper als Rammbock benutzend, bahnte er einen Weg für sie und geleitete sie zu Paradon. Besorgt verfolgte er jede Bewegung der Heiler, die seinen schwerverletzten, bewußtlosen Freund auf die Bahre legten. Dann wurde Haldor hochgehoben und, von Wachen umringt, zum Ausgang getragen. »Mylord, wenn der Kaiser stirbt, werde ich ihn nicht lange überleben, das schwöre ich.« Folcho watschelte unablässig auf und ab, das schwitzende Vollmondgesicht zu einer Maske äußersten Entsetzens verzerrt. »Wie konnte ich nur so versagen! Zweimal innerhalb von vierundzwanzig Stunden!
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Dabei wollte ich nur das – « »Wenn Ihr nicht zu jammern aufhört, werdet Ihr allerdings sterben, und zwar mit Sicherheit vor dem Kaiser«, fuhr Lingard ihn an. »Nehmt Euch zusammen, Mann! Wie immer die Sache ausgeht, es wird viel Arbeit geben, und ein großer Teil davon fällt Euch zu.« »Nichtswürdiger Narr, der ich bin!« jammerte Folcho. Lingard wandte sich angewidert ab und sah aus dem Fenster auf die Dächer des Zentralkrankenhauses von Largol. Er verabscheute Orte wie diesen. Der Gestank von Antiseptika, die stillen Gänge, in denen jeder Schritt hallte, die Kittel der Ärzte – all das ließ an Schwäche und Tod denken. Und trotzdem hätte er nicht anders gekonnt, als in diesen Augenblicken hier zu sein. Es würde viel Arbeit geben, wie er Folcho eben gesagt hatte, aber ehe er nicht wußte, was im Operationssaal geschehen war und was Paradons Geschick vermocht hatte, war alles andere bedeutungslos. Wichtig war nur eins: daß Haldor lebte. Mögen die Götter, sofern es sie wirklich gibt, ihr Wohlwollen dadurch bekunden, daß sie ihn leben lassen, dachte er in einem für ihn typischen halbherzigen Gebet. Er sah auf seine Armbanduhr. Haldor lag schon über drei Stunden auf dem Operationstisch. Müßte eine Entscheidung nicht bald fallen? Aber was sollte werden, wenn Paradons Künste versagten und Haldor wirklich starb? Er wagte nicht, sich diese Katastrophe auszumalen, aber es lag auf der Hand, daß der Tod seines Freundes ihm eine gewaltige Verantwortung auferlegen würde. Vor kurzem noch, als Haldor von seiner bevorstehenden Heirat und der Thronfolge gesprochen hatte, schien das eine Sache zu sein, die der fernen Zukunft angehörte und kaum einen Realitätsbezug besaß. Aber jetzt trennte ihn lediglich ein falsch angesetztes Skalpell, das kleinste Versehen des Chirurgen von der Krone des Reichs. Von jener Krone, die er Haldor vor langer Zeit eigenhändig aufgesetzt hatte, ohne jemals selbst danach zu trachten.
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Laßt ihn leben! Ganz unwillkürlich betete er diesmal ehrlicher und mit echter Demut. Laßt ihn leben und das kandarianische Mädchen heiraten und seine Nachkommen zeugen, wenn er das will. Ich werde ihnen so treu dienen, wie ich ihm gedient habe. Lingard begann wieder zu grübeln. Dann war da der Mordanschlag auf das Mädchen, von dem Folcho ihn erst vor ein paar Stunden unterrichtet hatte, überlegte er. Was war plötzlich los mit diesem Imperium, das gestern noch so stabil gewirkt hatte, als müsse es eine Ewigkeit überdauern? Das gescheiterte Attentat auf Annrith konnte das Werk einer jener Gruppierungen sein, die einen Grund hatten oder zu haben glaubten, den Aufstieg von Kandar zu verhindern. Er war sicher, daß zum Beispiel die Herrenniter praktisch alles tun würden, um ihren Erzfeinden einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dennoch hatte er starke Zweifel, daß sie sich solch heimtückischer Methoden bedienen würden. Die Herrenniter waren tapfere und unbarmherzige Krieger, die einen strengen Moralkodex besaßen. Solche Soldaten töteten keine Frauen. Das heutige Attentat, der Mordversuch an Haldor, war ihnen schon eher zuzutrauen – aber er glaubte nicht, daß wirklich sie dahintersteckten. Die Herrenniter hatten vom Tod des Kaisers nichts zu gewinnen, es sei denn – der Gedanke traf ihn mit der Wucht eines Schlages in die Magengrube. Er wußte, soweit man das als Außenstehender beurteilen konnte, daß er den Respekt und das Wohlwollen der Herrscher von Herren besaß. War es denkbar, daß sie, konfrontiert mit der Aussicht auf die ihnen verhaßte Heirat, Haldor auszuschalten versucht hatten, um ihn, Lingard, zum Kaiser zu machen? Aber wie paßte dann die Tatsache ins Bild, daß der Attentäter die Kleidung eines Mitglieds der kadathanischen Delegation getragen hatte? Wie jedermann wußte, waren die Delegierten von Kadath, durchweg Männer, nichts als austauschbare Marionetten, und ihr Drahtzieher, das selphardische Matriarchat, schreckte bekanntlich vor Mord nicht zurück, um seine Ziele zu erreichen. Allerdings
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entsprach es ganz und gar nicht seinem Stil, offenen Verdacht auf sich zu lenken. Die selphardischen Frauen waren überall auf den Dreizehn Welten für ihre Schönheit berühmt. Sie hatten sich aller weiblichen Listen und Kniffe bedient, um an die Macht zu kommen, und lenkten die Geschicke von Kadath nun seit mehreren Jahrhunderten, schon seit den Zeiten des alten Imperiums, und sie strebten ständig danach, ihre Einflußsphäre zu erweitern. Aber wenn sie tatsächlich in diese Intrigen verwickelt waren, dann war ihnen der Anschlag auf Annrith schon eher zuzutrauen, insbesondere, wenn sie geglaubt hatten, die Kandarianerin vielleicht durch eine selphardische Kaiserin ersetzen zu können. Er seufzte, in einen Sumpf von Spekulationen verstrickt, die sein ungeübter Verstand nicht zu entwirren vermochte. Solche Überlegungen waren eher typisch für Folchos labyrinthische Gehirnwindungen. Er drehte sich um und sah den fetten Haushofmeister in einem der Sessel, die drei Wände des Zimmers säumten. Er saß zusammengesunken da und starrte trübe vor sich hin. »Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als hier herumzuhocken?« fuhr Lingard ihn an. »Mylord, ich brächte es nicht fertig, mich anderen Dingen zuzuwenden, bevor ich nicht weiß, wie die Sache ausgeht«, erwiderte Folcho. »Aber die Untersuchungen – « »Sind schon im Gange«, sagte Folcho. »Ich habe einen tüchtigen und zuverlässigen Stab zusammengestellt, der die ersten Schritte durchaus selbständig einleiten kann. Zunächst einmal habe ich angeordnet, daß alle Konferenzteilnehmer unterhalb des Botschafterranges vorläufig festgehalten werden. Das Verhör wird sich über mehrere Stunden hinziehen. Nachher werde ich mir die Empfehlungen meiner Beamten ansehen und mir die nächsten Maßnahmen überlegen.« »Habt Ihr schon eine Theorie?« »Mehrere Dutzend«, entgegnete Folcho. »Meine Arbeit
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bringt es mit sich, daß man alle Möglichkeiten und Eventualitäten in Betracht zieht. Aber es hat keinen Sinn, sich schon auf etwas festzulegen. Man muß geduldig abwarten. Früher oder später wird sich der eine oder andere Hinweis ergeben, der Licht in das Dunkel bringt.« »Habt Ihr eine Gehirnsondierung des Attentäters angeordnet?« »Das wäre Zeitverschwendung, selbst wenn man unterstellt, daß er die wahre Identität seiner Auftraggeber kannte«, sagte Folcho und verzog angewidert das Gesicht. »Er hat sich mittels des selphardischen Gehirntoxins getötet, das sich in einer Kapsel in einem seiner Backenzähne befand. Bei diesem Gift tritt der Tod augenblicklich ein, und das Gehirn zerfällt innerhalb von zwei Minuten zu einer formlosen Masse, der auch nicht mehr die geringste Information zu entlocken ist.« »Und die Identität des Mannes?« »Werden wir bald in Erfahrung bringen, Mylord. Dann kann die eigentliche Suche beginnen. Ihr könnt – « Folcho brach ab und erhob sich schwerfällig, denn die Zimmertür ging auf. Lingard wirbelte herum und sah Paradon, der noch einen blutbespritzten Chirurgenkittel und eine Gesichtsmaske trug. »Wie geht es ihm?« stieß Lingard hervor und ging dem Heiler eilig entgegen. »Er wird leben«, erwiderte Paradon müde. »Mehr wage ich im Augenblick nicht zu sagen. Beide Schüsse trafen ihn in den Unterleib; einer hat die Nervenzentren des unteren Rückgrats schwer beschädigt. Ich habe sie nach besten Kräften repariert, aber wir werden erst mehr wissen, wenn er wieder zu sich kommt.« »Wird – wird er gelähmt sein?« Der Gedanke, dieser große, aufrechte Körper könne zum Krüppel werden, entsetzte Lingard. »Das kann man zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen«, sagte Paradon. »Es besteht auch die Möglichkeit, daß
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anhaltende Schmerzen zurückbleiben, was bei Verletzungen dieser Art häufig vorkommt.« Schmerzen, Lähmung, was auch immer, Haldors Zukunft sah düster aus. Ein Mann wie er, mit dem Herzen eines Löwen und einem wachen Verstand, eingesperrt in einem kränkelnden Körper, der seinem Willen nicht mehr gehorchte – Oder gab es noch Hoffnung? Lingard kam plötzlich ein Gedanke. Er wandte sich an den Haushofmeister. »Folcho, Ihr habt gehört, was es zur Zeit zu berichten gibt«, sagte er. »Der Patriarch und ich haben eine vertrauliche Angelegenheit zu besprechen. Laßt uns bitte allein.« »Mylord Regent – Mylord Patriarch – «, Folcho zog sich zurück. Lingard wartete, bis die Tür zu war, dann wandte er sich erregt an den Heiler. »Paradon – wenn Haldor in seinem jetzigen Körper aller Voraussicht nach nur unter Schmerzen leben wird, könnte man ihm dann nicht einen neuen zur Verfügung stellen?« Paradon schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Lingard. Das kann in diesem Stadium nicht die Lösung sein.« »Warum nicht?« fragte Lingard mit wachsendem Ärger. »Es wäre doch unsinnig, an Eurer Entscheidung, keine Transferoperationen mehr durchzuführen, festzuhalten. Ich weiß, daß es Haldor völlig ernst damit war, aber die Voraussetzungen sind jetzt andere. Es ist doch klar, daß er, anstatt zu leiden und auf Dauer gelähmt zu sein, einen Transfer vorziehen würde.« »Das mag richtig sein«, gab Paradon zu. »Aber ein Transfer ist vorläufig völlig ausgeschlossen. Es wäre eine kriminelle Dummheit, Haldor einer solchen Operation zu unterziehen, bevor er sich von dem Schock erholt hat. Sie würde aller Voraussicht nach zu einer dauernden geistigen Umnachtung führen.« Anscheinend gab es für Haldor nur zwei Möglichkeiten: entweder mit gesundem Verstand in einem verstümmelten Körper gefangen zu sein, oder in einem neuen gesunden
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Körper ohne den Funken eines Verstandes dahinzuvegetieren. Lingard gefiel keine der beiden Aussichten, aber es stand außer Frage, daß Haldors geistige Gesundheit erhalten werden mußte. Doch es schien noch einen Hoffnungsschimmer zu geben. »Sagtet Ihr nicht – vorläufig?« Paradon nickte. »Wenn Haldor genesen ist, wird die Transferoperation möglich sein – wenn er das will.« »Das wird er«, sagte Lingard zuversichtlich. »Und Ihr – werdet Ihr die Operation ausführen?« »Wie in der Vergangenheit werde ich den Wünschen meines Kaisers selbstverständlich nachkommen«, entgegnete Paradon würdevoll. »Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich bin sehr müde, und meine Arbeit ist noch nicht beendet.« Er ging schleppenden Schrittes aus dem Zimmer. Lingard blieb eine Weile reglos stehen und sinnierte über diese seltsame Ironie des Schicksals. Er bezweifelte nicht, daß Haldor sich schließlich doch einem Transfer in einen jüngeren, gesunden Körper unterziehen würde, selbst wenn er Annrith immer noch heiraten wollte. Bei näherem Hinsehen machte die Heirat seine Entscheidung für den Transfer sogar noch wahrscheinlicher. Das Mädchen oder sonst jemand brauchte nichts von dem Geheimnis zu erfahren. Man würde einfach bekanntgeben, Haldor sei auf wundersame Weise durch die Künste der Heiler von seinen Verletzungen genesen. Die Heiler, Paradon – und Kronak. Kronak, der dann, laut Folcho, in der Lage sein würde, die Transferoperationen selbständig durchzuführen. Kronak, der im Gegensatz zu Paradon keine moralischen oder religiösen Bedenken kannte, sondern ein skrupelloses Monstrum war. Lingard schob den Gedanken von sich. Zunächst einmal mußte Haldor wieder gesund werden. Der zweite Schritt war, die heimtückischen Verschwörer zu vernichten. Wenn diese Angelegenheiten geregelt waren, konnte er sich mit der Frage seines eigenen Transfers befassen.
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8 Lingard verkrampfte sich unwillkürlich, als er sah, wie behutsam sich Haldor in den Sessel sinken ließ. Schon der Anblick dieser Vorsicht, die deutlich machte, daß jede Bewegung eine Qual sein mußte, war Lingard unerträglich. Das war der Mann, der einst stark wie ein Löwe gewesen, in hundert Schlachten Schulter an Schulter mit ihm seinen Mann gestanden hatte. Es war eine Sünde wider die Natur, Haldor so gedemütigt zu sehen. Kein Wunder, daß der Kaiser während der letzten Wochen praktisch ein Einsiedlerdasein geführt hatte. Ein einziges Mal war er unter sorgfältig vorbereiteten Umständen in der Öffentlichkeit aufgetreten, um dem Volk zu zeigen, daß er noch lebte. Seitdem hatte er sich ständig in seinen Privatgemächern aufgehalten und niemanden bis auf die drei Personen, die auch jetzt bei ihm waren, zu sich vorgelassen. Botschafter und Staatsoberhäupter hatten den Palast aufgesucht, um ihm ihre Aufwartung zu machen und ihre Treue zu bekunden, aber sie waren auf seinen Befehl von Paradon abgewiesen worden, der, einem alternden Wachhund gleich, dem Kaiser nie von der Seite wich. Lingard hatte sich im Palast ein wenig umgehört und war auf zahlreiche Gerüchte und Spekulationen gestoßen: der Kaiser, so wurde gemunkelt, sei furchtbar entstellt worden oder nur zeitweise im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Solche Hirngespinste ärgerten ihn zwar, aber die traurige Wirklichkeit war für ihn viel schlimmer. »Setz dich zu mir, Lingard.« Haldors Stimme riß ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken. »Und hör, um der Götter willen, endlich auf mit dieser Grübelei. Vielleicht kann Folcho uns etwas zeigen, das deine düstere Stimmung ein wenig aufhellt.« »Ich glaube kaum, daß Ihr die Vorführung amüsant finden werdet«, sagte der Haushofmeister, der seine Einstellungsarbeiten an dem Stereoprojektor unterbrach und
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zu ihnen aufschaute. »Aber sie könnte uns helfen, Antworten auf einige Fragen zu finden.« »Dann werdet endlich fertig und laßt sie uns sehen«, sagte Paradon, der schon neben Haldor Platz genommen hatte. Folcho neigte den blasenartigen Kopf und lächelte unterwürfig. »Bitte habt Geduld, Mylord Patriarch. Ich bin in technischen Dingen wenig bewandert, aber weil dies eine höchst vertrauliche Angelegenheit ist, hielt ich es für das beste, die Rolle des Operateurs selbst zu übernehmen. Was ich Euch vorzuführen habe, ist ein Zusammenschnitt der Aufzeichnung eines Verhörs, welches gestern in meinen Amtsräumen beendet wurde.« »Ein Zusammenschnitt?« fragte Lingard. »Mylord, ein Verhör kann eine langwierige und ermüdende Sache sein, selbst wenn es von Experten vorgenommen wird«, erläuterte Folcho. »Die meiste Zeit geschieht fast nichts, und wenn der Verhörte seinen Widerstand endlich aufgibt, stellt sich oft heraus, daß er eine erfundene Geschichte erzählt hat, um sich weitere Schmerzen zu ersparen. In diesem Fall zog sich das Verhör über drei Tage und Nächte hin. Wollte ich es Euch in voller Länge zeigen, müßte ich Euch einer unsagbaren Tortur aussetzen. Um Euch das zu ersparen, führe ich Euch nur diesen Zusammenschnitt vor. Aber wenn Ihr darauf besteht, lasse ich selbstverständlich die vollständige Aufzeichnung aus meinem Archiv kommen.« »Das erübrigt sich«, sagte Haldor ungeduldig. »Fahrt bitte fort.« »Vielen Dank, Euer Majestät.« Folcho dämpfte die Beleuchtung. Einen Augenblick später leuchtete die Projektionskugel milchig weiß auf. Das Weiß im Innern geriet in fließende Bewegung und formte ein dreidimensionales Bild von einem hell erleuchteten Raum, der wie ein Operationssaal aussah. Die zwei Männer, die zu beiden Seiten des verstellbaren Tischs standen, trugen jedoch keine Ärztekittel, sondern die schwarzen Uniformen von Folchos Sicherheitskräften, und
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ihre Gesichter waren von grotesken Masken verdeckt, wie man sie zur Faschingszeit in den Straßen auf ganz Belphar sehen konnte. Eine war ein Clownsgesicht mit riesigen Kulleraugen und einer großen roten Knollennase, die andere ein albern grinsender, langohriger Kaninchenkopf wie aus einem Bilderbuch für Kinder. »Anonymität ist für Vernehmungsbeamte sehr empfehlenswert«, erläuterte Folcho. »Manchmal kommt es vor, daß Freunde oder Bekannte des Verhörten sich an ihnen rächen, und könnte man die Betreffenden leichter identifizieren, würden sich diese Zwischenfälle zweifellos häufen.« Lingard rutschte unbehaglich in seinem Sessel herum. Hatten er und Haldor das alte Imperium nicht bekämpft, um die Dreizehn Welten von solchen Repressalien zu befreien? War er der einzige, der sich daran noch erinnerte? Oder war er einfach zu zimperlich? Vielleicht mußte man solche Methoden tolerieren, wenn das Reich, das sie geschaffen hatten, nicht von Mord- und Terroranschlägen erschüttert werden sollte. Er konzentrierte sich wieder auf das Geschehen in der Projektionskugel, die jetzt eine Nahaufnahme vom Operationstisch zeigte. Ein nacktes Ding lag darauf, kaum noch als Mensch zu erkennen, weil man ihm die Haut abgezogen hatte, eine geschundene, verstümmelte Kreatur, die um Gnade winselte und unartikuliertes Zeug aus dem zerschmetterten, zahnlosen Mund von sich gab. Die Gestalt mit dem Kaninchenkopf nahm eine Injektionspistole aus einem nahen Instrumentenkasten und schoß dem Verstümmelten ein Mittel in das zuckende, bloßgelegte Fleisch des Brustkorbs. »Eine schmerzstillende Droge«, erläuterte Folcho. Nach einigen Sekunden hörte das wirre Geplapper des Gefolterten auf. Er starrte seine Peiniger wortlos an; aus seinem einen noch intakten Auge sprach ein stummes Entsetzen, das seine Qual viel deutlicher zum Ausdruck brachte als sein vorheriges Gestammel. »Na Golbleen, das ist angenehmer, wie?« sagte Kaninchen-
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kopf in einem Tonfall, als redete er mit einem Kind. »Du hast ungefähr eine halbe Stunde, bevor die Wirkung nachläßt. Wenn du brav den Mund aufmachst, bekommst du vielleicht noch einen Schuß.« »Golbleen?« fragte Haldor. Folcho drückte die Stopp-Taste, und die Szene in der Projektionskugel erstarrte. »Ein gualcanarischer Kaufmann, der Waren von den äußeren Welten importiert – hauptsächlich aldarianische Parfüms, seethische Pelze und Yondolwurzeln. Er wurde zweimal wegen Ffrinjehandels angeklagt, konnte sich der Verurteilung aber beide Male entziehen, indem er als Kronzeuge gegen seine Komplizen aussagte. Den Ermittlungen meiner Agenten nach, hat er als letzter Kontakt mit Bunin gehabt, der ehemaligen Palastwache, die nach dem Mordanschlag auf Lady Annrith beim Fluchtversuch ums Leben kam.« »Ich dachte, Ihr würdet dem Mordanschlag auf den Kaiser nachgehen«, warf Lingard unwirsch ein. »Ich sehe nicht, welche Bedeutung – « »Geduld, Lingard«, sagte Haldor. »Folcho hat mir versichert, daß zwischen beiden Anschlägen ein Zusammenhang besteht. Fahren wir fort?« Folcho ließ die Stopp-Taste ausrasten, worauf das Bild in der Kugel wieder in Bewegung geriet. Der Vernehmungsbeamte mit der Clownmaske nahm ein aufblitzendes Skalpell aus dem Instrumentenkasten und prüfte im Schein der Lampe seine Schneide. »Weißt du, ich glaube, er braucht das eine Auge nicht mehr«, sagte er nachdenklich, mit sanfter Stimme. »Es sieht ja auch irgendwie komisch aus. Was meinst du, machen wir reinen Tisch?« Ein Entsetzensschrei entrang sich dem blutigen Mund des vom Tod Gezeichneten, das letzte Aufbegehren eines Menschen, den man gequält und gedemütigt und aller Hoffnung und Würde beraubt hatte. »Um der Götter willen, tötet mich!«
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»Dich töten?« Der Vernehmungsbeamte tat verwundert. »O nein Golbleen, noch lange nicht. Wir haben noch viele Leckerbissen für dich parat, ehe wir mit dir Schluß machen. So leicht kommen uns unsere Gäste nicht davon. Aber wenn du endlich den Mund aufmachst und uns nicht länger hinhältst, könnte uns vielleicht ein Schnitzer unterlaufen – aber keine Lügen! Du mußt schon mit der Wahrheit herausrücken. Nun, was hältst du davon, Golbleen?« Der Unglückselige reagierte auf das Versprechen. Sich an die Hoffnung auf einen baldigen Tod klammernd, begann er stockend, zuweilen Blut hervorwürgend, die Geschichte zu erzählen. Er hatte hundert Kilogramm Ffrinje bekommen sollen – genug, um ihn steinreich zu machen, wenn er sie zu den gegenwärtigen Marktpreisen verkaufte – wenn er jemanden fand, dem es gelang, die Tath in Annriths Zimmer auszusetzen. Der Mann, der ihm das Angebot unterbreitet hatte, war ein Außerweltler gewesen, hatte mit fremdartigem Akzent gesprochen und ihn eines späten Abends in seiner Lagerhalle auf Sardnat aufgesucht. Von welcher Welt der Fremde stammte, wußte er nicht, aber ein kadathanisches Schiff hatte zu dieser Zeit im Hafen gelegen, und Kadath war bekanntlich jener Planet der Dreizehn Welten, der dem System der Swoorn am nächsten lag. Trotz des verlockenden Angebots hatte sich Golbleen zunächst geweigert, weil er mit einer Sache, die an Hochverrat grenzte, nichts zu tun haben wollte. Aber der Fremde war über seine geschäftlichen Transaktionen offensichtlich genauestens unterrichtet und hatte gedroht, den Behörden gewisse Informationen zuzuspielen. So steckte der Kaufmann in der Klemme und ihm blieb nichts anderes übrig, als seinerseits Bunin zu erpressen, der große Schulden bei ihm hatte und dringend Geld brauchte. In der Nacht vor dem Anschlag begegnete er dem Fremden dann ein zweitesmal und bekam von ihm das Fluggerät und das Gualcanarkästchen ausgehändigt, in welchem sich die Tath befanden. Das war alles, was er wußte, schwor er. Er sei nichts weiter als ein Un-
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glücksrabe, den man betrogen und gegen seinen Willen zu einem Verbrechen gezwungen hatte. Den Fremden hatte er nie wieder gesehen, noch das versprochene Ffrinje erhalten. Golbleen bat seine Peiniger flehentlich, ihn von seinen Qualen zu erlösen – und wurde erneut betrogen. In den Herzen dieser anonymen, grotesk maskierten Inquisitoren regte sich kein Funke von Mitgefühl. Das einzige, was sie taten, war, ihn seine Geschichte vom Anfang bis zum Ende wiederholen zu lassen – nicht einmal, sondern wieder und immer wieder, und wenn er einmal zögerte oder nicht wollte, folterten sie ihn. Schließlich konnte es Lingard nicht mehr ertragen zu sehen, wie ein Mensch so erniedrigt wurde. »Um der Götter willen!« rief er. »Müssen wir uns das weiter ansehen? Welchen Sinn hat das?« Folcho drückte die Stopp-Taste und unterbrach Golbleens zehntes Geständnis. »Mylord, ich habe Euch gewarnt, daß diese Vorführung nicht unterhaltsam sein würde«, sagte er. »Die ständigen Wiederholungen haben den Sinn, Golbleen mehr Einzelheiten zu entlocken. Sicher ist Euch nicht entgangen, daß seine Beschreibung des Fremden mit jedem Mal genauer wird und die Hinweise auf Kadath sich häufen.« »Ich bezweifle, daß dem irgendeine Bedeutung zukommt«, wandte Lingard ein. »Der Mann war eindeutig von Sinnen. In seinem Zustand konnte er Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.« »Eben darauf zielt diese Verhörmethode ab, Mylord«, erwiderte Folcho in sanftem Ton. »Die verschiedenen Geständnisse werden miteinander verglichen, auf ihre Unstimmigkeiten hin untersucht, richtige von falschen Aussagen getrennt, bis man der Wahrheit allmählich auf den Grund kommt. Psychiater wenden bei ihrer Arbeit ganz ähnliche Methoden an, wie Euch der Patriarch sicherlich bestätigen wird.« »Ihr könnt durchaus recht haben«, sagte Haldor. »Aber ich bin wie Lingard der Meinung, daß wir genug gesehen haben. Es wäre vielleicht zweckmäßiger, wenn ich selbst mit diesem
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Golbleen reden würde. Es könnte irgendein Detail – « »Euer Majestät, das ist leider unmöglich.« Die Projektionskugel trübte sich wieder zu einem stumpfen Weiß, und Folcho stellte die Zimmerbeleuchtung an. »Golbleen starb unmittelbar im Anschluß an die Szene, die wir eben gesehen haben.« »Das überrascht mich nicht«, bemerkte Lingard. »Sein Tod war sicherlich kein Verlust für die Menschheit und für ihn sogar ein Segen«, erwiderte Folcho. »Er hatte viel gelitten.« »Euer Mitgefühl kommt ein bißchen spät«, sagte Paradon ätzend. »Es fällt mir sehr schwer, an die Notwendigkeit solcher grausamen Methoden zu glauben.« »Mylord, wenn es um die Sicherheit des Kaisers geht, schrecke ich vor nichts zurück. Meine Pflicht ist mir wichtiger als mein Seelenheil – « »Schon gut, Folcho, das genügt«, sagte Haldor leicht gereizt. »Der Patriarch hat es gewiß nicht nötig, sich von Euch über Moralphilosophie belehren zu lassen. Aber Ihr habt vorhin von einem Zusammenhang zwischen dem Mordanschlag auf Lady Annrith und dem Attentat auf mich gesprochen.« »Euer Majestät, dieser Zusammenhang ist unverkennbar«, sagte Folcho. »Wie Ihr Euch entsinnt, war der Attentäter ffrinjesüchtig. Ist das nicht ein weiterer deutlicher Hinweis darauf, daß die Kadathaner, die bekanntlich gute Handelsbeziehungen mit den Swoorn pflegen, die Schuldigen sein könnten?« »Ein recht mageres Indiz statt eines deutlichen Hinweises, würde ich meinen«, bemerkte Haldor. »Es wäre nützlicher gewesen, wenn Ihr die Identität des Attentäters oder Golbleens mysteriösen Fremden hättet aufdecken können.« »Ich bedaure, daß mir bis jetzt in keinem der beiden Fälle Erfolg beschieden war«, sagte Folcho. »Aber meine Agenten stellen sowohl hier als auch im ganzen Imperium minutiöse Nachforschungen an.«
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»Dann dürfen wir Euch nicht länger von Eurer Arbeit abhalten, denn sicherlich müßt Ihr ihre Anstrengungen koordinieren«, sagte Haldor. »Euer Majestät?« »Ihr könnt gehen, Folcho«, sagte Haldor scharf. Er wartete, bis der Haushofmeister die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, dann wandte er sich an seine beiden Gefährten. »Nun, wie hat euch die kleine Komödie gefallen?« fragte er. Lingard runzelte die Stirn. »Vielleicht haben wir nicht ganz denselben Humor, aber ich fand die Sache gar nicht komisch«, sagte er. »Oh, Lingard!« Haldor schüttelte den Kopf; ein grimmiges Lächeln umspielte seinen schmerzverzerrten Mund. »Aus dir wird nie und nimmer ein Verschwörer – den Göttern sei Dank!« »Wie meinst du das?« »Den Worten des heiligen Escablaugh zufolge, kann Naivität unter bestimmten Umständen als Todsünde gelten«, bemerkte Paradon freundlich. Lingard sprang wutentbrannt auf. »Da ich anscheinend ein solcher Dummkopf bin, legt ihr sicherlich keinen Wert mehr auf meine Gesellschaft!« »Da irrst du dich«, sagte Haldor. »Deine Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit machen dich zu einem der Grundpfeiler, die das Imperium tragen. Der unerschütterliche Fels bedarf nicht der politischen Raffinesse.« Lingards Zorn legte sich ein wenig. »Ich verstehe immer noch nicht.« »Dann will ich es dir, so gut ich kann, erklären«, erwiderte Haldor. Er wies auf den Stereoprojektor. »Die Vorführung, die wir eben gesehen haben – überleg einmal, was bei genauerem Hinsehen an greifbaren Fakten übrigbleibt. Praktisch nichts, meine ich. Es drängt sich nur der Eindruck auf, daß der gute Folcho der ihm anvertrauten Aufgabe mit gewohnter
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Tüchtigkeit und Zielstrebigkeit nachgeht. Und das war natürlich der Zweck der Übung.« »Willst du damit sagen, daß die ganze Sache ein Schwindel war?« fragte Lingard. »Laß es mich einmal so ausdrücken«, sagte Haldor. »Folcho hat einen messerscharfen Verstand und ist für seinen Posten wie geschaffen. Aber dieser Posten bringt es mit sich, daß ein Großteil der Arbeit im verborgenen geschehen muß. Folcho darf nicht einmal mir, seinem Herrn, anvertrauen, was er wirklich unternimmt. Das stellt ihn vor ein Problem, denn er fühlt sich verpflichtet, mir gelegentlich Erfolge vorzuweisen. Ich bezweifle keineswegs, daß der unglückselige Golbleen existiert und dieses Geständnis gemacht hat, das wir eben gesehen haben. Aber würde ein dermaßen gepeinigter Mensch nicht alles Mögliche gestehen? Insbesondere, wenn er glaubt, dadurch sein Leben retten zu können?« »Du hältst die Aufzeichnung also für eine Fälschung?« fragte Lingard. »Nein. Sagen wir lieber, Folcho hielt es für angebracht, unseren Verdacht in eine bestimmte Richtung zu lenken, und hat sich dazu dieser Aufzeichnung bedient. Es ist durchaus denkbar, daß Kadath in die beiden Attentate verwickelt ist, aber vorläufig gibt es noch keinen Beweis dafür. Folcho möchte es uns lediglich glauben machen, um, sagen wir, zu verbergen, daß er selbst vor einem Rätsel steht.« »Ich würde dem zustimmen«, sagte Paradon. »Allerdings mit der Einschränkung, daß ich Euer Vertrauen in Folchos sogenannte Tüchtigkeit nicht teile. Ich glaube, man macht es sich zu leicht, wenn man stillschweigend unterstellt, die Kadathaner seien die Schuldigen. Die gegenwärtige Situation hat noch viele andere Rivalitäten und mögliche Gefahrenquellen entstehen lassen. Gonyl, zum Beispiel, drängt auf eine Erhöhung der Entwicklungshilfe für den Kontinent auf seiner Südhalbkugel, und die Regierung auf Aldar ist stark gefährdet. Sollte die dortige Separatistenbewegung an die Macht kommen, könnten wir uns zum Eingreifen gezwungen sehen,
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zumindest in Form einer Demonstration der Stärke.« Lingard schüttelte fassungslos den Kopf. »Und ich Narr habe geglaubt, dieses unser Imperium würde ewig währen.« »Alles Leben ist einer ständigen Veränderung unterworfen«, sagte Haldor. »Es gibt immer Spannungen, für die Kompromißlösungen gefunden werden müssen. Unsere Aufgabe ist es, das politische Gleichgewicht zu bewahren.« Zeig mir den Feind, und ich bekämpfe ihn, dachte Lingard. Aber ein politisches Gleichgewicht bewahren? Was sollte man sich konkret darunter vorstellen? Überrascht stellte er fest, daß er die Antwort darauf wußte. »Mir scheint, daß dein Rückzug aus dem öffentlichen Leben zu einem großen Teil für die gegenwärtige Situation verantwortlich ist«, sagte er zu Haldor. »Die meisten Menschen sehen in dir die Verkörperung des Imperiums, und ohne dein Auftreten – « »Lingard hat recht«, sagte Paradon. »Wenn Ihr Euch zunächst hier auf Belphar mehrmals der Öffentlichkeit zeigen und dann allen Planeten des Reichs einen Staatsbesuch abstatten würdet, kämen die wuchernden Gerüchte zum Erliegen, und die Aufwiegler und Intriganten würden ihren Rückhalt verlieren.« Haldor stützte sich mit den Händen auf die Sessellehnen und richtete sich vorsichtig auf. Er machte ein paar Schritte, nur mühsam das Gleichgewicht haltend, fast wie jemand, der auf Eiern geht, und drehte sich zu ihnen herum. Der Schweiß auf seiner Stirn und sein schnellerer Atem kündeten von der schmerzhaften Anstrengung, die ihn die Bewegung gekostet hatte. »Wenn das die Verkörperung des Imperiums ist, dann helfen uns die Götter«, sagte er, auf seinen Körper deutend. »Glaubt ihr im Ernst, unsere Probleme ließen sich dadurch lösen, daß man dem Volk dieses Wrack vorführt?« »Dann laßt mich mit den Vorbereitungen für einen Transfer beginnen«, drängte Paradon. »Die Operation nach dem Attentat konnte nur eine zeitweilige Lösung sein, wie ich Euch
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schon hundertmal erklärt habe. Früher oder später werdet Ihr Euch mit der Tatsache abfinden müssen, daß Ihr diesen Körper nicht behalten könnt. Er würde Euch für den Rest Eures Lebens Schmerzen bereiten. Warum wollt Ihr unnötig leiden?« »Wie kommt es zu diesem plötzlichen Sinneswandel?« fragte Haldor leicht sarkastisch. »Ich kann mich entsinnen, daß Ihr vor wenigen Wochen noch ganz andere Töne angeschlagen habt.« »Im Prinzip bin ich immer noch gegen fortgesetzte Transfers«, erklärte Paradon. »Aber die Lage hat sich geändert. Damals schien das Imperium gefestigt und sich einem dauerhaften Gleichgewichtszustand zu nähern, so daß wir mit Recht annehmen konnten, Eure integrierende Funktion als Herrscher würde nach einigen Jahren nicht mehr benötigt. Es schien nichts dagegen zu sprechen, Euch von Eurer schweren Verantwortung zu entbinden und sie Euren Erben zu übertragen, ohne befürchten zu müssen, daß Euer Lebenswerk vernichtet werden würde.« »Aber es gibt keine Erben, und auch keine Aussicht darauf«, sagte Haldor. »Und die vermeintliche Stabilität, auf die wir hingearbeitet haben, hat sich als Mythos erwiesen.« »Du könntest immer noch heiraten«, bemerkte Lingard. »Eine kaiserliche Hochzeitsfeier hätte vermutlich eine ähnlich stabilisierende Wirkung wie die Staatsbesuche, die Paradon vorgeschlagen hat.« »Noch ein plötzlicher Umschwung?« Haldor lächelte ironisch. »Wenn ich mich recht entsinne, warst du von meiner Heirat mit Annrith nicht sehr begeistert.« »Mach dich bitte nicht über mich lustig, Haldor«, sagte Lingard. »Du weißt genau, daß ich nur dein Bestes will.« »Du willst also mein Bestes. Wollt Ihr es ihm sagen, Paradon, oder muß ich es selbst?« fragte er in gequältem Ton. Dann drehte er sich plötzlich um und ging mit stockenden, vorsichtigen Schritten zum Balkon. Lingard sah den Patriarchen fragend an. »Die Schüsse des Attentäters haben, wie Ihr wißt, den
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Unterleib getroffen«, sagte Paradon zögernd. »Neben der Rückgratverletzung haben sie auch – « »Seid, um der Götter willen, nicht so umständlich, Paradon!« Ärgerlich drehte sich Haldor um. »Was er dir sagen will, ist, daß ich ein impotenter Krüppel bin, unfähig, den Akt der Ehe zu vollziehen.« Lingard war einen Augenblick sprachlos angesichts der brutalen Wahrheit. Dann regte sich wieder Zorn in ihm, auf die Verschwörer, die für diese grauenhafte Tat verantwortlich waren. »Dann mußt du auf Paradons Vorschlag eingehen und dich sofort einem Transfer unterziehen«, sagte er. »Das ist die einzige vernünftige Lösung.« »Ich würde einwilligen, wenn mich nicht eines daran hindern würde«, entgegnete Haldor. »Im Moment bin ich hier unabkömmlich. Und wie du weißt, würde eine Transferoperation bedeuten, daß ich mich für mindestens einen Monat um nichts mehr kümmern könnte.« »Es wäre möglich, die Rekonvaleszenzperiode zu verkürzen«, warf Paradon ein. »Vielleicht war ich in der Vergangenheit übervorsichtig. Drei Wochen – « »Drei Wochen, in denen mein Lebenswerk zerstört werden könnte!« schnitt Haldor ihm unwirsch das Wort ab. »Welchen Sinn hätte es, wenn ich mich einem Transfer unterzöge und nach dem Erwachen aus der Narkose feststellen müßte, daß alles in die Brüche gegangen ist?« »Habt Ihr so wenig Vertrauen in Eure Stellvertreter?« fragte Paradon. »Ich habe volles Vertrauen in euch beide«, erwiderte Haldor. »Aber ich bin fest entschlossen abzuwarten, bis die Anschläge aufgeklärt und die heimtückischen Verschwörer vernichtet sind.« »Ist Euch Eure Rache wichtiger als Euer Leben?« fragte Paradon. Haldors Gesicht verfinsterte sich. »Werde ich denn bald sterben?«
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»Das ist nicht gesagt«, antwortete Paradon. »Im Moment scheint Eure körperliche Verfassung relativ stabil zu sein. Wie lange das so bleiben wird, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber wenn sich Euer Gesundheitszustand verschlechtert, könnten Begleiterscheinungen auftreten, die sehr ernst zu nehmen sind.« »Ernster als der Tod?« »Es könnte zu Zerfallserscheinungen des Gehirns kommen«, sagte Paradon. Lingard wurde von kalter Angst gepackt. Ein Transfer des Verstandes in einen anderen Körper hatte nur dann Sinn, wenn das Gehirn des alten Körpers gesund und intakt war. Das Gelingen der Operation hing letztlich von dieser Unversehrtheit des Gehirns ab. Das war die eine Anforderung, über die sich auch das Transferverfahren nicht hinwegsetzen konnte. Von allen Körperzellen unterlagen allein die Nervenzellen nicht der allmählichen Verkümmerung der Gene, welche den Alterungsprozeß hervorrief, aber wenn sie erst einmal abzusterben anfingen, mußte trotz ihrer großen Zahl, die in die Milliarden ging, und trotz Paradons ZerfallsHemmern früher oder später der Punkt ohne Wiederkehr erreicht werden. Wenn nach Überschreiten dieses Punktes operiert wurde, erhielt man einen stumpfsinnigen Greis, der einen jungen, gesunden Körper bewohnte. Lingard war von dieser Vorstellung entsetzt. Der Tod wäre so einem Leben bei. weitem vorzuziehen. »Gibt es denn schon Anzeichen für diese Zerfallserscheinungen?« fragte Haldor. »Im Moment nur geringfügige«, erwiderte Paradon. »Aber bei solchen Fällen ist äußerste Vorsicht geboten. Eine tägliche enzephalografische Untersuchung – « »Würde eine gefährliche Verschlimmerung sofort anzeigen?« »Theoretisch ja. Aber wenn uns der kleinste Irrtum unterliefe – « »Ich verlasse mich auf Eure Wachsamkeit«, sagte Haldor.
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»Wenn es nichts mehr zu besprechen gibt, möchte ich Euch bitten, mich jetzt allein zu lassen. Ich muß mit den Kräften dieses Körpers sparsam umgehen.« »Laßt mich Euch ein Schmerzmittel geben«, drängte Paradon. »Nein! Meine Sinne bereiten mir derzeit wenig Freude, aber ich bin nicht gewillt, sie zu betäuben«, sagte Haldor fest. Paradon stand auf. »Noch etwas«, sagte er. »Olan Therys möchte Euch sprechen. Er macht sich große Sorgen um die Zukunft seiner Tochter.« Haldor nickte. »Dazu hat er allen Grund.« »Wollt Ihr ihn empfangen?« »Nein. Das würde zu viele Erklärungen erfordern«, entgegnete Haldor. »Wie geht es Annrith?« »Ich fürchte, sie kommt sich ziemlich überflüssig vor. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß Ihr Euch hartnäckig weigert, sie zu sehen.« Haldor schnitt eine Grimasse. »Das wäre in der Tat eine höchst ungewöhnliche Tortur.« »Therys will nach Kandar zurückkehren, obgleich ich ihn darauf hingewiesen habe, daß man das als einen treuelosen Schritt ansehen würde.« »Therys Treue gilt in erster Linie seiner Tochter, wofür ich ihn respektiere«, sagte Haldor. »Er bekam ihren Schutz von einem Kaiser versprochen, der, wie sich gezeigt hat, nicht einmal sich selbst schützen konnte. Vielleicht ist es wirklich das beste, wenn sie auf ihren Heimatplaneten zurückkehren und zumindest vorläufig dort bleiben.«
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Zweiter Teil DIE ENTBEHRLICHEN
9 Ich habe das Problem der optimalen Zahl von Klonen sowohl unter religiösen als auch praktischen Gesichtspunkten ausführlich durchdacht, bin mir aber auch heute noch unschlüssig. Wenngleich wir davon ausgehen müssen, daß die Hände von uns Sterblichen beim Schaffen von Leben von den Göttern gelenkt werden, können wir der persönlichen Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg nicht entsagen. Das Leben, ob nun künstlich geschaffen oder auf natürliche Weise entstanden, muß uns heilig sein, wenn wir unserem Schwur als Heiler gerecht werden wollen. Daraus ergibt sich, daß wir sowohl bei seiner Erschaffung als auch seiner Beendigung gewissenhaft zu Werke gehen müssen. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen schuf ich damals sechs Klone, die mir ausreichend Gewähr für eine gesicherte Thronfolge des Kaisers Haldor zu bieten schienen. Jedes davon wuchs in einer Umgebung auf, die geeignet schien, das dem Embryo innewohnende Entwicklungspotential zur vollen Entfaltung zu bringen. Selbstverständlich war voraussehbar, daß im natürlichen Verlauf des Geschehens eines, vielleicht auch zwei dieser Klone infolge eines Unglücksfalls oder einer Krankheit als Träger für die Thronfolge ausfallen könnten. Die Möglichkeit einer Intervention von anderer, völlig unerwarteter Seite ist bei meinen damaligen Überlegungen nicht berücksichtigt worden – PARADON - DAS GEHEIME BUCH Die Sonne war schon untergegangen, als der Vortrupp
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unter Führung von Sidi und Teryl die Oase erreichte. Auf ihren Reittieren sitzend, beaufsichtigten die beiden Männer die Frauen und Diener, welche eilig die Zelte aufschlugen. Bald würde die Finsternis hereinbrechen, sich wie ein ausgeworfenes Tuch urplötzlich über die Wüste legen, und Orak, das alternde Stammesoberhaupt, würde schrecklich wüten, wenn kein Schutz vor den Nachtwinden für ihn bereitstand. Er würde ohnehin schlechter Laune sein, wenn er sah, daß schon eine andere Reisegruppe ihr Lager drüben zwischen den Palmen aufgeschlagen hatte, die das Wasserloch umstanden. Orak, dessen Geisteskräfte immer mehr nachließen, lebte noch in den alten ruhmreichen Zeiten, als man Fremde um der Nahrung und des Wassers willen erbarmungslos getötet und jede solche Begegnung als Geschenk der Götter angesehen hatte. Die Bundesregierung hatte neue Gesetze gemacht und setzte sie mittels leistungsfähiger, mobiler Truppen durch, welche Sandwagen und Flugzeuge neben den Kamelen benutzten, die das traditionelle Transportmittel waren. Man erzählte sich, daß die Häupter von über hundert alten Stammesführern die Eisenspitzen auf den Mauerbrüstungen der Festung bei Japthor geziert hatten: blutige Mahnmale. Aber ein Volk, dessen Sprache nicht zwischen ›Fremder‹ und ›Feind‹ unterschied, sondern nur das Wort fekkarim für das eine wie für das andere kannte, gab seine alten Gewohnheiten nicht so leicht auf. Der Wüstentreibsand begrub seine Toten wie eh und je, und ein fekkarim war nach wie vor eine mögliche Gefahr – oder Beute. Müde und ungeduldig lauschte Teryl den Argumenten des jüngeren Mannes. Sie waren den ganzen Tag in der glühendheißen Sonne geritten, und sein schmerzender Körper verlangte nach kühlem Wasser und Ruhe. »Nun gut«, seufzte er schließlich. »Geh und sprich mit den fekkarim, wenn du unbedingt mußt. Aber halte dein Gewehr bereit und sei zurück, ehe Orak kommt.« Sidi nickte, trieb seinem Reittier die Sporen in die Flanken
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und ritt auf das andere Lager zu. Er war ein hochgewachsener, gutgebauter junger Mann mit einer helleren Haut, als sie das Wüstenvolk besaß, und gelbbraunem, welligem Haar, das mit den glatten schwarzen Strähnen seiner Stammesbrüder nichts gemein hatte. Trotz dieser Andersartigkeit hatte Teryl stets alle die Pflichten eines Vaters ihm gegenüber erfüllt, und Sidi seinerseits respektierte den wortkargen, hakennasigen Krieger und gehorchte ihm willig. Parya, eine von Teryls Frauen, hatte ihn großgezogen, und als er das Jünglingsalter erreicht und die notwendigen Prüfungen bestanden hatte, hatte er seinen Platz als Sohn an der Seite des älteren Mannes eingenommen. Dennoch überkam ihn zuweilen ein Gefühl, gegen das er nicht an konnte und das ihm sagte, daß er in mancher Hinsicht selbst ein fekkarim war. Er hatte früh gelernt, solche Gedanken für sich zu behalten, aber wenn eine Begegnung mit Fremden bevorstand, so wie jetzt, war er immer ganz aufgeregt, von einer halb eingestandenen Mischung aus Hoffnung und Furcht erfüllt, daß der Schleier, der seine wahre Herkunft so lange vor ihm verborgen hatte, endlich gelüftet werden könnte. Im Geist sah er Teryl vor sich, der ihn schalt, solche Gedanken seien kindisch und dumm. Ein Mann ist, was er sein muß, und sein Lebensweg ist vorgezeichnet und so unwandelbar wie die Bewegungen der Sterne. Er konnte jetzt erkennen, daß das Zelt der fekkarim nicht wie die der meisten Wüstenstämme aus Tierhäuten bestand, sondern aus einem dunklen, seidig glänzenden Material. Er sah nirgends Reittiere, aber hinter dem Zelt befand sich eine Flugmaschine von ganz ähnlicher Form wie die der Regierungspatrouillen, jedoch ohne irgendwelche Hoheitsabzeichen. Er hielt vor dem Zelt an und rief seine Bewohner im Namen Oraks, des Wüstenadlers, auf herauszukommen. Er erhielt keine Antwort. Nach kurzem Warten stieg er ab und näherte sich vorsichtig dem Zelteingang. Die Nacht brach jetzt schnell herein, und hinter sich konnte er ferne Rufe hören, die Oraks Ankunft in dem neuen Lager ankündigten.
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Aus dem Zelt vor ihm drang kein Laut – Er spürte, wie sein Nackenhaar sich sträubte, und sein Gefühl sagte ihm, daß es ein Fehler gewesen war, abzusteigen. Trotz des Gewehrs, das seine Hände fest umklammerten, begann er unruhig zu werden. Wenn die fekkarim weitergezogen wären, dann bestimmt nicht ohne ihr Zelt und ihr Transportmittel. Selbst fekkarim konnten nicht so dumm sein, die Wüste zu Fuß durchqueren zu wollen. Das nächste Wasserloch war über achtzehn Meilen entfernt. Sie mußten im Zelt sein, sich wie verschreckte Jerots darin verstecken oder – auf der Lauer liegen? Das war zwar unwahrscheinlich, aber er durfte nichts riskieren. Seine Ausbildung zum Wüstenkrieger hatte ihn Vorsicht gelehrt. Das Gewehr in der Rechten haltend, zog er mit der anderen Hand den langen Dolch aus der Scheide und schlich geräuschlos um das Zelt herum. Als er die Rückwand erreichte, hob er den Dolch und trennte die Zeltbahn mit einem raschen Hieb auf. Das Material gab der messerscharfen Klinge sofort nach. Helles Licht drang aus der Öffnung. Sidi setzte mit einem Sprung hindurch, kam federnd auf und stand kampfbereit in der Mitte des Zelts. Er sah sich zwei fremdartig gekleideten, hellhäutigen Männern gegenüber, deren Haar eine ähnliche Farbe wie sein eigenes besaß. Sein plötzliches Auftauchen schien sie nicht sonderlich zu überraschen; sie standen nur da und beobachteten ihn interessiert. Der Mann rechts von ihm hatte etwas in der Hand, das wie eine Pistole aussah, aber viel zu klein war, um mehr als ein Spielzeug sein zu können. Trotzdem, vor fekkarim mußte man sich in acht nehmen. Sidi bereitete sich auf den Angriff vor. »Das ist er«, sagte der Mann zu seiner Linken. »Bei diesen Augen und dieser Haut- und Haarfarbe ist ein Irrtum ausgeschlossen. Los, mach schon!« Die Spielzeugpistole summte kurz und spie einen weißen, unerträglich hellen Blitz aus, der ein kleines kugelrundes Loch in Sidis breite Stirn bohrte.
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Der Mann mit der Waffe trat vor und drehte den leblosen Körper mit dem rechten Fuß auf den Rücken. »Guter Schuß«, sagte der andere. »Verschwinden wir lieber, bevor die ganze Bande über uns herfällt.« Arnol fluchte, als die Ochsen mit ihren Beinen im Schlamm am Feldrand herumstocherten, um Halt zu finden. Es war ein nasser Winter gewesen, und der bedeckte Himmel sah ganz danach aus, als würde es noch mehr Regen geben. Aber der Boden mußte jetzt gepflügt werden, wenn das Getreide rechtzeitig ausgesät werden sollte. Und er war der einzige, der diese Arbeit verrichten konnte, denn Baryn war nun viel zu schwach dafür. Während die Ochsen verharrten und geduldig warteten, daß die Arbeit weiterging, stieß er kräftig mit dem Fuß aus, um seinen Stiefel von dem Matsch zu befreien. Weiter vorn hatte sich ein Schwarm krächzender, schwarzweiß gefleckter Möwen in den frischen Ackerfurchen im Lehmboden verteilt, wo die Tiere hungrig nach Würmern und Insekten wühlten. Ein Bauernjunge mit einer Pflugschar – das mochte ja eine recht ehrenvolle Arbeit sein, aber es mußte doch noch andere, lohnendere und interessantere Aufgaben für einen jungen Mann mit seiner Intelligenz und seinen Fähigkeiten geben. Die anderen Dorfbewohner sahen nichts Entwürdigendes in dieser Arbeit, aber welchen Sinn hatte es, ewig in diesem Dreck zu wühlen, dem man gerade das Lebensnotwendige entreißen konnte? In den Städten im Süden war das Leben bestimmt besser. Aber die Städte waren für ihn ein unerreichbarer Traum. Er war hier gebunden. Hani und ihre beiden heranwachsenden Töchter konnten den Hof ohne ihn nicht bewirtschaften. Und es war undenkbar, daß er diese Familie, die für ihn von klein auf gesorgt hatte, obwohl er nicht ihr eigen Fleisch und Blut war, einfach im Stich ließ. Er riß an den Zügeln, rief den Ochsen zu und begann die neue Furche zu ziehen. Das Leben war ja nicht immer so beschwerlich wie jetzt. Es gab die langen warmen
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Sommertage, den lieblichen Duft von Blumen. Aber wogen diese kurzen Wochen den Gestank von Tierkot auf, die ewige Plackerei, die er während des restlichen Jahres erdulden mußte? War es ihm wirklich bestimmt, dieses Dasein sein Leben lang zu ertragen? Er hörte plötzlich Hufgetrappel hinter sich, und als er sich umschaute, sah er zwei Männer auf Pferden, die über das Feld auf ihn zuritten. Er hielt die Ochsen an und schaute zu ihnen herüber. Beide trugen die prächtig aussehenden Gewänder von Städtern. Er hielt sie für Edelmänner oder reisende Kaufleute, die vermutlich die Dorfschenke suchten. Sie zügelten ihre Pferde und kamen zum Stehen, der eine links, der andere rechts von ihm. Als er in ihre strengen, irgendwie abweisenden Gesichter aufschaute, empfand er plötzlich eine unerklärliche Angst. Diese Männer hatten irgend etwas Vertrautes an sich, das er nicht genau bestimmen konnte, aber er hatte beinahe das Gefühl, sie irgendwo schon einmal gesehen zu haben. »Guten Tag, Junge«, sagte einer der Fremden. Seine Aussprache war rauh und metallisch, ganz anders als der sanfte, melodische Dialekt der Bewohner der ländlichen Gegend. Trotzdem kam ihm auch das seltsam bekannt vor. »Guten Tag, Mylord«, erwiderte Arnol vorsichtig. Der andere Mann sagte nichts. Er hatte etwas aus seiner Jackentasche gezogen, das wie eine quadratische Spielkarte aussah, und betrachtete sie forschend, wobei er Arnol von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarf. »Kein Zweifel«, sagte er schließlich zu seinem Begleiter. »Wir haben ihn auf Anhieb gefunden.« »Gut. Wenn du dir sicher bist, wollen wir die Sache hinter uns bringen«, entgegnete der andere. Etwas in der Art, wie er das sagte, warnte Arnol. Alles das war irgendwo schon einmal passiert. Vielleicht hatte er es nur im Traum erlebt, aber er wußte, daß er in Gefahr schwebte – in tödlicher Gefahr. Er ließ die Zügel los und fing an zu laufen. Er wußte, daß
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Weglaufen keinen Sinn hatte, aber was hätte er, unbewaffnet wie er war, anderes tun können? Als er keuchend die Furche entlangrannte und mit jedem Schritt tief in die nasse Erde unter dem grauen Himmel einsank, kam ihm der Gedanke, daß er das schon sein Leben lang tat – daß dieser Matsch ihn zeit seines Lebens festgehalten, gehemmt und zu sich hinabgezogen hatte. Hinter ihm ertönte ein schwaches Geräusch, leiser noch als das Platzen einer Eierschale. Die Welt explodierte in einem grellen weißen Blitz. Ein paar aufgescheuchte Möwen flogen empört krächzend auf, als er in den Schlamm fiel. Orf folgte den Spuren eines Weißbären, einem Männchen, den großen Abdrücken nach zu urteilen. Es gab nicht viele Jäger, die es allein und mit den spärlichen Waffen, die er bei sich hatte, mit diesem Tier aufnehmen würden, aber Orf hatte keine Zeit, sich den Kopf über seine unzureichende Ausrüstung zu zerbrechen. Sein einer Speer mit der Knochenspitze und die Handvoll Pfeile mußten eben genügen. Wenn er ins Dorf zurückging, um Hilfe zu holen, bestand die Gefahr, daß ein neuer Schneefall die Spuren zudeckte und die kostbare Beute verlorenging. Pitan und die Kinder brauchten dringend etwas zu essen, und der Bär würde reichlich Nahrung liefern. Wenn sie sein Fleisch sorgfältig lagerten und vor den räuberischen Wildhunden schützten, würde es ihnen bis zum Beginn der Schneeschmelze reichen, und dann gab es wieder Fisch- und Schildkrötenfleisch. Aber Bären waren listige und schlaue Tiere und selbst auf Beute aus. Ein einsamer Jäger konnte leicht zum Gejagten werden, besonders in dieser zerklüfteten Berglandschaft. Orf blieb am Fuß eines Eisgletschers stehen, durch den sich eine schmale Schlucht wand. Die Spuren führten in die Schlucht hinein und verloren sich hinter der ersten Krümmung, aber konnte er wissen, ob der Bär nicht in irgendeiner Spalte lauerte, um ihn mit einem Hieb seiner mächtigen Pranken niederzustrecken? Ein Weißbärmännchen konnte einem
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Menschen mit einem einzigen Hieb den Schädel zertrümmern oder ihm mit seinen scharfen Klauen wie einem Fisch den Bauch aufschlitzen. Orf überlegte. Feigheit und Besonnenheit waren zwei verschiedene Dinge. Er würde ungefähr eine Dreiviertelstunde brauchen, um ins Dorf zu gelangen und Hilfe zu holen. War es nicht klüger, das Risiko in Kauf zu nehmen, daß der Bär in dieser Zeit entkam, statt sich in die Schlucht zu wagen und vielleicht getötet zu werden? Was sollte aus Pitan und den Kindern werden, wenn er starb? Eine Dreiviertelstunde. Würde der Bär so lange warten? Ein ungewohntes Geräusch bereitete seinen Überlegungen ein Ende. Es war ein Brummen, das direkt vom Himmel zu kommen schien. Als er nach oben schaute, bemerkte er einen dunklen Fleck, der sich aus der Richtung des Dorfs näherte. Verwundert kniff er die Augen zusammen und erkannte ihn als Flugmaschine. Solche Maschinen kamen in regelmäßigen Abständen und brachten Regierungsbeamte und Heiler ins Dorf. Die Besucher waren den Dorfältesten nicht immer willkommen. Schließlich hatten die alten Sitten dem Stamm seit vielen Jahrhunderten das Überleben ermöglicht. Welches Recht hatten diese verweichlichten, blaßgesichtigen Menschen aus dem Norden, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen? So argumentierte Honwe, aber Orf mochte ihm da nicht ganz folgen. Die alten Sitten waren ja schön und gut, aber konnte man zuweilen nicht auch ein paar neue Ideen gebrauchen? Allerdings behielt er solche ketzerischen Gedanken für sich, denn die Ältesten wachten eifersüchtig über ihre Macht, und er war schließlich – zumindest dem Aussehen nach – eine Mißgeburt mit seinem gelbbraunen Haar und seinen goldenen Augen. Man argwöhnte, er sei ein Rückschlag zu einer lange zurückliegenden Paarung zwischen einer Frau des Volkes und einem blaßgesichtigen Mann aus dem Norden, obwohl keine Frau des Stammes zugegeben hatte, dieses Kind mit der merkwürdigen Haut- und Haarfarbe zur Welt gebracht zu
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haben, als man ihn, in ein Fellbündel eingewickelt, neben dem Eingang zur Versammlungshütte gefunden hatte. Nur der Umstand, daß er ein Knabe gewesen war, hatte ihm das Leben gerettet. Honwes Frau Sarnel, die nun schon seit vielen Jahren tot war, hatte sich seiner angenommen und ihn großgezogen. Die Flugmaschine setzte jetzt zur Landung an. Er sah sie etwa fünfzig Meter entfernt auf der verkrusteten Schneedecke niedergehen. Vorige Woche erst hatte ein solcher Besuch stattgefunden, und der nächste war frühestens in einem Monat fällig. Orf konnte sich die Landung der Maschine nur so erklären, daß man irgendeine Nachricht oder ein Geschenk für ihn hatte, obwohl das höchst unwahrscheinlich war. Auf jeden Fall war ihm ihre Ankunft willkommen. Wenn er die Männer aus dem Norden überreden konnte, ihm bei der Jagd auf den Bären zu helfen, war sein Problem gelöst. Als die Tür der Maschine aufging und zwei Männer in den Schnee traten, lief er ihnen eilig entgegen. Beide hatten die unglaublich dünne Kleidung an, wie sie die Regierungsbeamten meistens trugen. Einmal hatte er einen von ihnen gefragt, wie so leichte Gewänder sie vor den strengen Frostgraden schützen konnten, die auf dem antarktischen Kontinent herrschten, worauf der Mann ihm die Funktionsweise der Anzüge zu erläutern versucht hatte. Orf hatte jedoch feststellen müssen, daß das Konzept einer unsichtbaren Wärmequelle, von dem in der Erklärung die Rede gewesen war, sein Begriffsvermögen überstieg. Wärme war für ihn etwas, das man entweder durch Feuer oder durch Sonnenschein erhielt. Aus der Ferne hatten die Gesichter der Männer hinter den dunklen Schneebrillen anonym gewirkt, und auch jetzt, als er näher kam, konnte er nichts Vertrautes in ihren Zügen erkennen. Sie standen reglos da und hatten beide eine jener blassen Energiewaffen in der Hand, die einen Weißbären mit einem Schuß fällen konnten. Er war nur noch wenige Schritte entfernt, als ihm plötzlich auffiel, daß die Flugmaschine das gewohnte Regierungsabzeichen – die symbolische Darstellung eines
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gefalteten Händepaars – vermissen ließ. Diese Beobachtung und etwas in der Haltung der beiden Männer veranlaßten ihn, abrupt stehenzubleiben. Die Menschen, die in Flugmaschinen aus dem Norden kamen, hatten sich stets als freundlich erwiesen, aber diesmal sagte ihm sein scharfer Jägerinstinkt, daß von diesen Burschen etwas Unheilvolles ausging. Er packte seinen Speer fester. Einer der Männer richtete ein paar hastige Worte an seinen Begleiter, um dann die Waffe auf Orf zu richten. Aus der Mündung blitzte eine helle Flamme auf. Orf hatte sich sofort zur Seite geworfen und noch im Sprung den Speer geschleudert. Der Schütze ließ seine Waffe fallen und zog, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, kraftlos an dem Speerschaft, der aus seiner Brust ragte. Ein Blutstrom quoll aus seinem Mund, dann brach er zusammen. Orf ließ sich auf ein Knie nieder, brachte hastig einen Pfeil in Anschlag und spannte die Bogensehne, um auf den anderen Fremden zu schießen. Die zweite Pistole summte wiederholt und spie todbringende Flammen aus. Orfs durchlöcherter Körper wurde zurückgeschleudert und sank tief in eine Schneewehe. Das letzte, was er von der Welt sah, waren ein weißer Wirbel und der blaue Himmel.
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Dritter Teil ROMAN
10 Annrith, die Schöne – Gemahlin von Haldor, dem Herrlichen, Kaiser der Dreizehn Welten (s. o.). Eine sagenumwobene Gestalt, der zahlreiche romantische Dichtungen gewidmet sind, von denen sich einige auf ihrem Heimatplaneten Kandar bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Hervorzuheben sind hierbei die epischen Gedichte von Isere, dessen LIED VON ANNRITH, DER SCHÖNEN angeblich ihre Lebensgeschichte erzählt. Wie schon an anderer Stelle vermerkt, sollte man die Praxis, diese Mythen als historische Wahrheiten anzuerkennen, nicht zu streng verurteilen. Eliphas Lilie FINSTERE TAGE DES IMPERIUMS GALAKTIC PRESS DE. 8675 Sie näherten sich der Bucht von Osten her und umschifften die Mandafs-Perlen, eine Inselkette aus schwarzen Felskegeln vulkanischen Ursprungs. Das kleine Boot hob und senkte sich wie eine Nußschale in der wogenden See, aber Nok, der wie gewöhnlich am Ruder war, hielt es auf einem steten Kurs. Roman war mit Tontin am Bug, wo sie die Netze säuberten und zusammenlegten. Der Fang war heute mager gewesen. Das war immer so zu dieser Jahreszeit, wenn die Schwärme von der Küste der Mietroveloren nach Süden zogen. Jedermann wußte, daß die Abwanderung der Fische eine von vielen Naturgegebenheiten war, aber Nok in seinem mürrischen Wesen sah darin nur einen weiteren Beweis für die Tücke des Schicksals, von dem er sich besonders benachteiligt glaubte.
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»So ein reicher Angeber aus der Stadt will sich anscheinend den Bauch aufschlitzen«, sagte Nok mit einem wölfischen Grinsen. Sein dunkles, unrasiertes Gesicht spiegelte hämische Vorfreude wider. Roman drehte sich um und schaute in die Richtung, die Nok anzeigte. Er mußte das fremde blau-weiße Schiff schon vor einer ganzen Weile gesehen haben, ohne ein Wort zu sagen. Es steuerte die Bucht im rechtem Winkel zu ihrem Kurs an. Seinen Konturen und dem blitzenden Äußeren nach konnte es kein Fischerboot sein. Es machte ziemlich schnelle Fahrt, obwohl die Segel gerefft waren, und Roman vermutete, daß es einen starken Hilfsmotor besaß. Wenn es seinen jetzigen Kurs beibehielt, würde es dicht am Westrand der Mandafs-Perlen vorbeikommen. Offenbar wußte der Steuermann nicht, daß er dort genau in die Felsenriffe geraten würde, die sich unterseeisch bis auf hundert Meter Nähe an die westliche Landzunge erstreckten. »Idiot! Geschieht dem Angeber recht«, pflichtete Tontin seinem Vater bei, während er mit der linken Hand den Oberschenkel seines verkrüppelten Beines massierte. »Was wagt er sich auch in die Gewässer von Hispar, wenn er sich hier nicht auskennt.« »Wir können ihn doch nicht ins Verderben rennen lassen«, protestierte Roman und kam zum Heck. »Was du nicht sagst.« Nok hielt die Ruderpinne fest in seiner knorrigen Hand. »Wenn wir die Abkürzung entlang der Perlen nehmen, können wir in Rufweite sein, ehe er in Gefahr gerät«, meinte Roman. Noks Antwort war typisch. Er spuckte gezielt leewärts. »Wir riskieren nichts dabei«, drängte Roman. »Du hast die Bucht dein Leben lang befahren und kennst sie wie deine Hosentasche.« »Möglich. Aber was schert mich dieser Angeber?« Roman sah zu dem fremden Schiff. Es steuerte immer noch seinem Verderben entgegen. Wenn sie nicht sofort eingriffen
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und innerhalb der nächsten Sekunden den Kurs änderten, war die Katastrophe nicht mehr zu verhindern. »Dreh ab auf die Inseln«, sagte er und sah Nok in die Augen, die hart und finster waren wie die Felsen. Nok war ein engstirniger, voreingenommener Mensch, der in seinen Mitmenschen, und besonders in Fremden nichts als Feinde sah. Selbst seine Angehörigen behandelte er brutal und feindselig, verlangte strikten Gehorsam von ihnen und verprügelte sie, wenn sie sich seinem Willen nicht beugen wollten. Als Adoptivkind hatte Roman viel von ihm erdulden müssen, obgleich Daleen sich immer wieder schützend vor ihn gestellt hatte. Die Prügel hatten erst aufgehört, als er Nok, sich seiner wachsenden Stärke bewußt, bei einem heftigen Streit niedergeschlagen hatte. Das war kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag gewesen, und seither war Nok einer direkten Auseinandersetzung zwischen ihnen aus dem Weg gegangen. Aber Roman spürte, daß sich der Groll seines Adoptivvaters gegen ihn von diesem Tag an zu blindem, tiefverwurzeltem Haß verhärtet hatte. »Kommt nicht in Frage. Du hast mir überhaupt nichts zu sagen«, knurrte er. »Ich will nicht mit dir streiten, Nok, dazu ist keine Zeit.« Roman ging auf ihn zu. »Wenn du das Boot nicht hindurchsteuerst, übernehme ich das Ruder.« »Du würdest uns nur ertränken«, sagte Nok unwirsch. »Du kennst die Fahrrinnen nicht.« »Das Risiko muß ich eingehen.« »Nicht mit meinem Boot«, protestierte Nok. »Tontin, hilf mir diesen Wahnsinnigen aufzuhalten, bevor er uns alle umbringt.« »Er ist stärker als ich, Vater«, sagte der verkrüppelte Junge. »Außerdem hat er vielleicht gar nicht so unrecht. Jemand, der so ein schönes Boot besitzt, zahlt bestimmt eine tüchtige Belohnung, wenn man ihn vor dem Schiffbruch bewahrt.« Das schien selbst Nok einzuleuchten. Er riß das Ruder herum und steuerte das Fischerboot nach Backbord auf einen
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neuen Kurs. Nok mochte engstirnig und bösartig sein, aber er war unbestreitbar ein guter Steuermann. Er brachte sie sicher durch das unterseeische Riff, und nach einigen Minuten hatten sie die Gefahrenzone passiert und näherten sich rasch dem fremden Schiff. Als sie noch etwa dreißig Meter entfernt waren, konnte Roman den Steuermann sehen, einen kräftigen Mann in makelloser Segelsportkleidung und mit einer weißen Schirmmütze auf dem Kopf. Er stand im Ruderhaus seiner Jacht und schaute gleichgültig nach vorn. Roman fuchtelte mit den Armen und rief. Der Fremde reagierte nicht. In seinem Ruderhaus abgekapselt, hatte er sein Rufen gar nicht gehört, ja nicht einmal die Anwesenheit des Fischerbootes bemerkt. Er steuerte sein Schiff weiterhin auf das unterseeische Riff zu, seinem sicheren Ende entgegen. Roman mußte erkennen, daß seine Bemühungen zwecklos waren. Er drehte sich zu Nok um. »Geh näher heran – so dicht wie du kannst.« »Weshalb? Was hast du vor?« »Die Jacht hat zuviel Fahrt und ist schon zu nahe, um jetzt noch beidrehen zu können«, erklärte Roman. »Es gibt nur noch eine Chance: ich muß an Bord gelangen und versuchen, sie heil durchs Riff zu bringen. Komm schon, Nok. Du kannst näher heran, wenn du nur willst!« »Wenn sich der Wind dreht, stoßen wir mit ihr zusammen«, knurrte Nok, zog die Ruderpinne aber um mehrere Striche herüber. Roman setzte sich auf das Dollbord und spannte alle Muskeln an. Er hatte nur einmal Gelegenheit zum Sprung. Wenn er sich verschätzte und den richtigen Zeitpunkt nicht genau abpaßte, stürzte er in die wogende See. Obgleich er ein guter Schwimmer war, bezweifelte er, daß er sich gegen die tückischen Strömungen zwischen den Mandafs-Perlen behaupten und das Ufer erreichen konnte. Die beiden Schiffe waren einander jetzt schon ziemlich nahe, und der Abstand zwischen ihnen schmolz rapide. Eben noch schien die Jacht ein gutes Stück entfernt, im nächsten
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Moment ragte der weiße Schiffsrumpf Steuerbord neben ihrem Bug auf. Er war höher, als Roman erwartet hatte. Er knirschte mit den Zähnen und sprang. Die Arme hatte er lang ausgestreckt, um irgendwo Halt zu finden. Für einen Sekundenbruchteil sah er undeutlich das Gesicht des Fremden mit dem überrascht aufgerissenen Mund, dann landete er krachend auf dem Vorderdeck. Er hatte keine Zeit, seine Verletzungen zu untersuchen. Er rappelte sich auf, lief zum Ruderhaus, packte den Türknauf und drückte. Wertvolle Sekunden vergingen, bis er plötzlich auf die Idee kam, die Druckrichtung zu ändern. Die Tür glitt zügig zur Seite, und Roman stolperte ins Ruderhaus. Im Innern befanden sich Instrumententafeln mit beleuchteten Skalen, Bildschirmen und Schaltern, über deren Funktion er nicht einmal mutmaßen konnte. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine so komplizierten Apparaturen gesehen. »Was wollen Sie denn hier?« Der Fremde ließ das Steuerrad los und starrte Roman verblüfft an. »Ich versuche schon die ganze Zeit, Sie zu warnen«, sagte Roman. »Vor uns liegt ein unterseeisches Riff, das wir in wenigen Sekunden erreichen werden. Lassen Sie mich ans Ruder. Vielleicht kann ich uns noch hindurch bringen.« »Ein Riff?« Der Fremde blickte auf einen der Bildschirme. »Ach ja, ich sehe, was Sie meinen«, sagte er gelassen. »Um der Götter willen, Mann!« rief Roman. Er trat ans Steuer. Der Fremde zuckte die Achseln und lächelte unergründlich. »Wenn es Sie beruhigt, bitte sehr. Schaden können Sie ohnehin nicht anrichten.« Der Mann mußte entweder verrückt oder betrunken sein, dachte Roman. Er nahm das Steuerrad in die Hände, blickte von Backbord nach Steuerbord und versuchte die Position des Schiffs in bezug auf die Inseln abzuschätzen. Das Felsenriff konnte nur noch wenige Meter entfernt sein, und zum Abdrehen war keine Zeit mehr. Er konnte die Jacht nur noch auf Kurs halten und hoffen, daß er sich nicht verschätzt hatte.
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Wenn seine Berechnungen stimmten, würden sie gerade noch so zwischen der dritten und vierten Felszacke abseits der letzten Insel hindurchscharren. Ein schönes Schiff, überlegte er traurig, als er das Vibrieren von starken Maschinen im Deck unter seinen Füßen spürte. Viel zu schade, um als zerschmettertes Wrack auf dem Grund der Bucht zu enden. Wie von einer gewaltigen Flutwelle nach oben getragen, ruckte die Jacht plötzlich hoch. Roman blickte seitlich auf die See, konnte aber keine solche Welle entdecken. Sein Magen zog sich zusammen. Die Jacht schwamm nicht mehr im Wasser, vielmehr schien sie an die zwei Meter über dem Meeresspiegel zu schweben. Das war natürlich unmöglich, aber – Erleichtert bemerkte er, daß sich das Schiff langsam senkte und die Wellen wieder gegen den Rumpf klatschten. Er blickte durch die naßgespritzte vordere Scheibe und sah, daß sie an dem Riff vorbei waren und sicher auf das sanft abfallende sandige Ufer der Bucht zusteuerten. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß nichts passieren kann«, meinte der Fremde liebenswürdig. »Die Sicherheitsautomatik hat das Hindernis erkannt und das AG-Aggregat eingeschaltet. Aber trotzdem danke. Sie haben ja Kopf und Kragen riskiert, um mir zu helfen.« »AG-Aggregat?« fragte Roman. »Tja, von den Dingern habt ihr in dieser Gegend wohl nicht allzu viele. Ich bin kein Techniker, aber selbst wenn ich einer wäre, würden Sie meine Erklärung kaum verstehen. Man macht diese Schiffe eben narrensicher, so daß sich sogar eine Landratte wie ich, als echter Seemann aufspielen kann. Vermutlich sind Sie jetzt ein bißchen enttäuscht, aber man erspart sich eine Menge Unglücksfälle dadurch. Ich heiße übrigens Kalamry, Dorin Kalamry – und Sie?« »Roman«, sagte er und drückte die weiche plumpe Hand mit seinen harten, von der Arbeit gestählten Fingern. Für einen Sekundenbruchteil schien in Kalamrys Augen so
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etwas wie Überraschung aufzuflackern, aber der Eindruck verschwand sofort wieder. »Und das da ist Ihr Schiff?« fragte er, den Kopf in Richtung des Fischerboots neigend, das auf gleicher Höhe mit ihnen zum Ufer segelte. »Nein. Es gehört Nok«, erwiderte Roman. »Und er wird nicht sehr erbaut sein, wenn er erfährt, daß ich es ihn unnütz aufs Spiel habe setzen lassen.« Kalamrys wache Augen betrachteten Roman forschend. »Klar, ich hätte mir denken können, daß das Ihre Idee war. Aber keine Sorge. Ich überlasse Ihrem Freund Nok ein paar Sachen, die ihn über sein schlimmes Erlebnis hinwegtrösten werden. Sie können das Steuer übrigens ruhig loslassen, wenn Sie wollen. Das Schiff ist darauf programmiert, den Hafen anzulaufen.« Roman nahm die Hände vom Ruder. Auf diesem Schiff war man anscheinend so sicher wie zu Hause im eigenen Bett. »Von wo kommen Sie?« fragte er. »Aus Alminar«, antwortete Kalamry. »Das soll eine schöne Stadt sein, sagt man. Ich war noch nie dort.« »Was! Das sind doch nur achtzehn Meilen die Küste entlang.« »Die Menschen von Hispar reisen nicht viel«, erläuterte Roman. »Alles, was sie brauchen, finden sie hier in der Bucht: Fische, Berghänge zum Getreideanbau, Weiden für das Vieh, das ihnen Milch und Fleisch liefert.« »Das einfache Leben.« Kalamry nickte. »Ja, ich glaube, das hat etwas für sich – vielleicht sogar sehr viel, wenn man sich ansieht, wie manche Rassen auf den anderen Welten leben.« »Andere Welten?« »Nun aber.« Kalamry nahm seine weiße Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch sein schon leicht schütteres, rötliches Haar. »Ich weiß ja, daß diese Küstengegend noch ziemlich rückständig ist, aber Sie haben doch bestimmt schon mal gehört, daß Kandar nicht der einzige Erd- und Wasserball ist, der sich um unsere Sonne dreht?«
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»Natürlich weiß ich, daß es andere Planeten gibt«, sagte Roman so würdevoll wie möglich. »Aber ich bin noch niemandem begegnet, der sie besucht hat.« »Habt ihr eine Schule in Hispar?« fragte Kalamry. »Sendol, der Heiler, lehrt die Kinder das Lesen und Schreiben, wenn Sie das meinen. Aber wenn ein Junge kräftig genug ist, lernt er praktischere Dinge: wie man Boote und Netze herstellt und repariert.« »Ja, ich glaube, mehr braucht man nicht zu wissen, wenn man sein Leben lang Fischer oder Bauer ist«, sagte Kalamry. »Aber das ist ein ziemlich begrenztes Dasein, finden Sie nicht? Ein intelligenter junger Mann wie Sie hat doch bestimmt Größeres im Sinn. Möchten Sie nicht mal raus aus dem Dorf?« »Eines Tages gehe ich nach Alminar, hoffe ich«, erwiderte Roman. »Alminar – bis dahin sind's nur ein paar Schritte«, sagte Kalamry. »Ich meine etwas anderes. Hätten Sie nicht Lust, um die ganze Welt zu reisen – vielleicht sogar zu ein paar anderen Planeten? Ich hätte durchaus Verwendung für einen so jungen Mann mit Ihrem Schneid, und ich komme viel herum. Sie bekämen etwas von der Welt zu sehen.« Roman betrachtete den Fremden und überlegte, seit wie vielen Jahren er auf so eine Gelegenheit gewartet und dafür gebetet hatte, dem starren, traditionsgebundenen Leben im Dorf zu entkommen. Er seufzte. »Wenn ich frei wäre, würde ich Ihr Angebot mit Freuden annehmen«, sagte er. »Frei?« Kalamry sah ihn stirnrunzelnd an. »Noks Frau Daleen – sie war mir immer eine gute Mutter«, setzte er zu einer Erklärung an. »Ich schulde ihr viel. Als sie letzten Winter starb, rief sie mich an ihr Bett und bat mich, ihre Tochter Eera zu beschützen, bis sie verheiratet ist.« »Beschützen? Aber wenn ihr Vater noch lebt, weshalb sollen dann Sie sie beschützen?« »Danach habe ich nicht gefragt«, erwiderte Roman. »Aber ich muß Daleens letzten Wunsch erfüllen, um wenigstens
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einen kleinen Teil meiner Schuld zu begleichen.« Er hielt es für wenig sinnvoll, Kalamry zu erklären, daß eine der Gefahren, vor denen er Eera beschützen sollte, ihr eigener Vater war. Dieser Fremde, der aus einer ganz anderen Welt kam, schätzte die Menschen von Hispar schon gering genug ein. Kalamry nickte. »Ja, das verstehe ich. Wie alt ist das Mädchen denn?« »Sie wird jetzt sechzehn.« »Und wann wird sie heiraten?« »In ein, zwei Jahren, schätze ich«, erwiderte Roman. »Sie ist zwar keine Schönheit, aber sie hat ein frohes Wesen und drückt sich nicht vor der Arbeit. Sie hat viel von ihrer Mutter.« »Haben Sie eine Frau?« fragte Kalamry. »Was könnte ich einer Frau schon bieten? Ich habe kein Haus, kein Boot – « Natürlich spielten noch andere Überlegungen eine Rolle, aber er verspürte wenig Neigung, seine romantischen Träume dem Spott dieses kultivierten Fremden preiszugeben. Er wollte die Frau, die er liebte, nicht wie Daleen enden sehen: ausgezehrt und vorzeitig gealtert durch Geburten und schwere Arbeit. Vielleicht hatte er, weil er ein Findelkind war, immer das Gefühl gehabt, anders zu sein als die übrigen Kinder im Dorf. Nicht nur insofern, als er statt ihres schwarzen Haars gelbbraunes und statt ihres dunklen Teint eine helle Hautfarbe besaß, sondern vor allem, weil er allein das traditionsverhaftete, bäuerliche Leben in Hispar, das seit Jahrhunderten seinen unveränderten Gang nahm, in Frage zu stellen schien. Viele dieser Traditionen kamen ihm unsinnig und dumm vor, zum Beispiel die Vorschrift, daß Netzmaschen eine bestimmte Größe haben mußten, obwohl dadurch viele der kleineren Fische entkommen konnten, die man gerade in der fangarmen Jahreszeit gut hätte gebrauchen können. Es gab so viele Dinge, die das Leben im Dorf hätten erleichtern können, wenn die Menschen nur zu Veränderungen bereit wären. Aber sie hielten blind an den alten Sitten fest. Er hatte noch einen Traum, der mit seiner geheimnisvollen
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Herkunft zusammenhing. Niemand hatte ihm erklären können, wie und woher er an diesen Strand gekommen war, wo Sendol ihn gefunden hatte. Dieses Rätsel hatte seine kindliche Phantasie zu zahlreichen Hirngespinsten inspiriert, und eines davon haftete sogar heute noch in einem entlegenen Winkel seines Verstandes – das Märchen, er sei der verlorene Prinz irgendeines fernen Königreichs, und daß er eines Tages – »Das ist also Hispar.« Kalamrys Stimme ließ Roman aus seinen Gedanken hochfahren. Die Jacht lief gerade in den Hafen ein. Am Kai hatten sich schon mehrere Dorfbewohner versammelt, die das fremde Schiff neugierig anstarrten. »Sie können vorläufig den Liegeplatz neben Noks Boot benutzen«, sagte er. »Ich mache die Taue fest. Aber dann muß ich Tontin helfen, den Fang zu entladen.« »Kann Nok das nicht machen?« »Nok ist das Familienoberhaupt und der Steuermann«, erklärte Roman. »Diese Arbeit wäre unter seiner Würde.« Kalamry lachte. »Ich sehe schon, ich muß noch viel lernen, wenn ich euch Dorfbewohner begreifen will.« »Sendol wird Ihnen zweifellos dabei behilflich sein«, sagte Roman, als er die vertraute, schwarzgekleidete Gestalt an der Anlegestelle stehen sah. »Sie täten gut daran, auf ihn zu hören. Er ist ein sehr weiser und erfahrener Mann.« »Das bezweifle ich keinen Moment«, sagte Kalamry mit einem hintergründigen Lächeln. »Ich freue mich schon, ihn kennenzulernen. Aber ich würde mich gern noch mit Ihnen unterhalten, wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind. Ich habe Ihnen ein paar interessante Vorschläge zu machen.« »Ich komme nach dem Abendessen wieder hierher«, versprach Roman. Nok stand am Kai vor der Anlegestelle und paffte seine alte, schwarz gewordene Pfeife. Er sah ungerührt zu, wie Tontin sich mit den Körben abmühte, in denen der Fang war. »Na, wo ist die Belohnung?« knurrte er. »Erzähl mir ja nicht, daß wir unseren Hals umsonst riskiert haben.« »Wir haben nicht über Geld gesprochen«, entgegnete
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Roman schroff. Er ließ seine Abscheu über die Habsucht seines Adoptivvaters deutlich erkennen. »Verdammter Narr! Ich rede mit Sendol. Er wird schon dafür sorgen, daß wir unseren gerechten Lohn bekommen.« Er schlurfte davon und überließ es Roman, Tontin zu helfen. »Was ist denn das für eine Höllenmaschine?« fragte der verkrüppelte Junge, während er einen schweren Korb hochwuchtete, um ihn Roman zu reichen. »Ich hab das Ding wie einen Darkanara aus dem Wasser springen und dann federleicht wieder eintauchen sehen.« Roman gab keine Antwort. Er dachte noch über Kalamrys Angebot nach, das ihm die Chance bot, diesem mühseligen, undankbaren Dasein zu entkommen. So eine Gelegenheit kam vermutlich nicht so schnell wieder, und er bereute es fast, daß er abgelehnt hatte. Aber er konnte Hispar nicht verlassen, solange Eera noch unverheiratet war. Daleen hatte seinetwegen zuviel erleiden müssen, als daß er sein Versprechen an sie einfach hätte brechen können.
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11 Obgleich der magere Fang schnell entladen war, zögerte sich das Abendessen noch lange hinaus. Nok hatte Sendol aufgesucht und kam und kam nicht zurück, und es wäre ein Unding gewesen, mit dem Essen anzufangen, ehe das Oberhaupt der Familie nicht am Tisch saß. Neuigkeiten sprachen sich in einer kleinen Gemeinde schnell herum, und Eera hatte schon von Romans Abenteuer mit dem fremden Schiff gehört und bedrängte ihn, ihr mehr zu erzählen. Tontin, dem es anscheinend an Interesse mangelte, hatte sich mürrisch zurückgezogen, und sie waren allein in der Küche. Eera hörte Roman aufmerksam zu, und ein bewunderndes Leuchten trat in ihre braunen Augen, als er ihr sein Erlebnis in allen Einzelheiten schilderte. Kalamrys Angebot verschwieg er allerdings. Eera wußte nichts von dem Versprechen, das er ihrer Mutter am Sterbebett gegeben hatte, aber er hätte ihr auch so nicht erzählt, daß er mit dem Gedanken spielte, Hispar zu verlassen. Das hätte sie nur unnötig aufgeregt. Es war schon fast dunkel, als Nok endlich nach Hause kam. Der Geruch seines Atems und seine schleppende Sprechweise machten deutlich, daß er unterwegs in der Dorfschenke eingekehrt war. Der Alkoholgenuß hatte seine finstere Stimmung nicht aufzuhellen vermocht, und er schimpfte wütend auf Sendol, der seine Forderung nach einer Belohnung, die ihm seiner Meinung nach zustand, weil er Kalamrys Schiff vor dem Untergang bewahrt hatte, offensichtlich zurückgewiesen hatte. Das Essen, das Eera für sie zubereitet hatte, rührte er nicht an. Er saß mürrisch am Kopfende des Tischs, schaute finster drein und trank ein Glas Wein nach dem anderen. Roman wußte, daß Nok in diesem Zustand so unberechenbar und gefährlich wie eine verwundete Ratte sein konnte, und er war froh, aus dem Haus herauszukommen. Als er am Hafen ankam, mußte er feststellen, daß Kalamrys Jacht nicht mehr an ihrem Anlegeplatz war. Er schlenderte den Kai entlang, starrte angestrengt in das Dunkel, konnte das
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Schiff aber nirgends entdecken. Er war überrascht und enttäuscht. Er hatte sich darauf gefreut, dieses wundervolle Schiff genauer zu erforschen. Nach einer Weile machte er sich verdrossen auf den Heimweg. Er war sich schmerzhaft bewußt, daß er heute nachmittag, als er Kalamrys Angebot ausgeschlagen hatte, vermutlich die Chance seines Lebens verpaßt hatte. Auf dem Weg durchs Dorf hörte er plötzlich jemanden leise seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah Sendol im Eingang seines Hauses stehen. »Komm herein, Roman«, sagte der Heiler. »Ich sehe dich in letzter Zeit nur noch selten, und ich glaube, wir sollten einmal miteinander reden.« Nach den Geschehnissen des heutigen Tages war Roman kaum dazu aufgelegt, Konversation zu machen, aber eine Einladung von Sendol war so ungewöhnlich, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr nachzukommen. Er folgte dem Heiler ins Haus. Sendol führte ein recht einsiedlerisches Leben; er wohnte allein und hielt sich meistens in seinen vier Wänden auf. Das Wohnzimmer wurde von einer gewöhnlichen Petroleumlampe erhellt und war überraschend sauber und gemütlich. Es gab sogar einigen Komfort: kleine Webteppiche zierten den Fußboden, und die Stühle waren weich gepolstert statt wie üblich aus blankem Holz. »Setz dich, Roman.« Sendol war ein hochgewachsener, schmal-gesichtiger Mann unbestimmten Alters. In den ganzen zwanzig Jahren, die Roman ihn nun schon kannte, schien er nicht die Spur gealtert zu sein. Er war ein sonderbarer Mensch, der sich in vielen Dingen von den anderen Dorfbewohnern unterschied, aber von allen respektiert wurde. Er war Lehrer, Beichtvater und Arzt zugleich. Roman kam der Aufforderung nach und sah zu, wie der Heiler Wein in zwei langstielige Gläser goß, die ebenso wie die Karaffe aus geschliffenem Kristallglas bestanden. So feingeformte Trinkgefäße sah man in keinem gewöhnlichen hisparianischen Haushalt. »Wie ich höre, hast du dir heute den Ruf eines Helden
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erworben«, sagte Sendol. Er reichte seinem Gast ein Glas und setzte sich ihm gegenüber. »Sagen wir lieber, ich habe mich zum Narren gemacht«, erwiderte Roman verdrossen. »Kalamrys Schiff war durch das Riff vor der Bucht nicht im mindesten gefährdet.« Der Heiler lächelte flüchtig. »Das mag sein. Trotzdem war es eine mutige Tat. Sie hätte dich leicht das Leben kosten können.« »Und Nok sein Boot, wie er Euch zweifellos in allen Einzelheiten geschildert hat«, entgegnete Roman. »Nok ist ein habgieriger alter Narr«, sagte Sendol. »Er hat dem Dorf noch nie viel Ehre gemacht, und seit Daleens Tod – « Er ließ den Satz in der Luft hängen und sah Roman mit seinen grauen Augen forschend an. »Dieser Kalamry – was hat er dir von sich erzählt?« »Sehr wenig. Er sagte nur, daß er viel reist, auch zu anderen Welten.« »Hat er dir nicht gesagt, aus welchem Grund er nach Hispar gekommen ist.« »Soviel ich seinen Äußerungen entnehmen konnte, hat er nur einer Laune nachgegeben«, erwiderte Roman. »Von einem bestimmten Grund war nicht die Rede.« Er verstand selbst nicht ganz, warum es ihm widerstrebte, Kalamrys Angebot zu erwähnen. Vielleicht fürchtete er die Mißbilligung des Heilers. Immerhin käme es einem Bruch mit der Tradition gleich, wenn er das Dorf verließ. »Glaub mir, Roman«, sagte Sendol, »Männer wie Kalamry tun nichts ohne einen Grund.« Roman zuckte die Achseln. »Was immer er im Sinn hatte, er hat mir nichts davon gesagt. Aber Ihr habt doch selbst mit ihm gesprochen. Welchen Grund hat er Euch denn genannt?« »Besucher können manchmal eine zersetzende Wirkung auf eine abgeschiedene Gemeinde wie die unsere haben«, sagte Sendol, ohne auf Romans Frage einzugehen. »Sie führen den Menschen vor Augen, daß es in der Außenwelt anders zugeht als hier, und das kann leicht Unruhe stiften.«
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»Habt Ihr Kalamry deshalb fortgeschickt?« Sendol beugte sich vor, so daß sein knochiges, altersloses Gesicht deutlich im Schein der Petroleumlampe zu sehen war. »Das war ein Grund.« »Gibt es denn noch andere?« »Er ist – zu bereitwillig gegangen«, sagte Sendol ernst. »Wie meint Ihr das?« »Das kann ich dir nicht erklären«, erwiderte Sendol. »Ich kann dich nur bitten, mir zu vertrauen und mir sofort Bescheid zu geben, wenn du Kalamry wiedersehen solltest.« »Glaubt Ihr denn, daß er zurückkommt?« »Er oder jemand, der ihm gleicht. Das ist durchaus möglich«, sagte Sendol. Er schwieg einen Moment und trank von seinem Wein, die grauen Augen weiterhin auf Roman gerichtet. »Roman, ich habe dich seit dem Tag, als ich dich in Daleens Obhut gab, beobachtet und deine Entwicklung über die vielen Jahre hinweg verfolgt. Ich weiß, daß du mit dem Leben im Dorf oft unzufrieden warst, seit du ein Mann geworden bist. Das brauchst du nicht abzustreiten, ich weiß, daß es stimmt – und vielleicht verstehe ich deine Unzufriedenheit besser als irgendein anderer. Ich weiß auch, daß du dich oft gefragt hast, ob du wirklich hier hingehörst und warum du dich in so vielen Dingen von den anderen unterscheidest.« Roman wurde von einer wachsenden Erregung gepackt. Erinnerungen aus seiner Kindheit regten sich in ihm. Verwundert überlegte er, ob Sendol ihm an diesem Abend vielleicht Aufschluß über einige der Fragen geben würde, an denen er so lange herumgerätselt hatte. »Das sind durchaus keine ungewöhnlichen Gedanken für einen jungen Mann von deiner Intelligenz«, fuhr Sendol fort. »Besonders, wenn man die sonderbaren Umstände deiner Herkunft bedenkt. Deshalb möchte ich, daß du mir versprichst, mich sofort zu unterrichten, falls Kalamry oder ein anderer Fremder erneut versucht, sich mit dir in Verbindung zu setzen.«
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Roman entsann sich plötzlich des flüchtigen, überraschten Blicks in den Augen des Fremden, als er ihm seinen Namen genannt hatte. »Wollt Ihr damit andeuten, Kalamry sei nur deshalb hierher gekommen, um mich kennenzulernen? Warum hätte er das tun sollen?« Sendols Gesichtsausdruck spiegelte eine seltsame Mischung aus Stolz und Traurigkeit wider. »Roman, mein Junge, die Zeit ist noch nicht reif. Du mußt dich noch eine Weile gedulden. Aber eins kann ich dir schon sagen: du hast eine große Zukunft vor dir, die alle deine Träume in den Schatten stellt!« Er stand auf. »Für heute haben wir genug geredet. Es ist schon spät, und ich muß noch verschiedene Dinge erledigen, bevor ich zu Bett gehe. Denk an meine Worte, und komm sofort zu mir, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht.« Draußen auf der schlecht gepflasterten Straße blieb Roman erst einmal stehen und blickte zu den Sternen. In seinem Kopf drehte sich alles. Eine große Zukunft... die alle deine Träume in den Schatten stellt, hatte Sendol gesagt. Aber hier in Hispar hatte er keine solche Zukunft. Wo also dann? Und wann und wie? Das Gespräch mit dem Heiler war wenig aufschlußreich gewesen und hatte seine Unzufriedenheit mit dem Leben im Dorf eher noch verstärkt. Er trottete langsam den Hang hinauf, dachte über seine kindlichen Phantasiegebilde nach und versuchte sie irgendwie mit den neuen rätselhaften Fragen in Einklang zu bringen, die die Ereignisse des heutigen Tages aufgeworfen hatten. In den Straßen war es still. Es war kurz vor Mitternacht, und die schwer arbeitenden Menschen von Hispar schliefen größtenteils schon. Noks Haus stand für sich auf steinigem Grund am Ende der Dorfstraße. Roman war noch ein gutes Stück davon entfernt, als er plötzlich Stimmen hörte. Die eine, heiser und trunken, war eine Männerstimme. Die andere, jammervoll und flehentlich, gehörte einer Frau – Er ging schneller. Er stieß die Haustür auf, betrat die Küche, die nur von der schwachen Glut des ausgehenden
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Feuers erhellt wurde, und schaute sich um. Es gab noch zwei weitere Räume. Einen teilten sich Tontin und Nok. Er hatte sein Bett in einer Ecke in der Küche, und Eera schlief seit Daleens Tod allein in dem zweiten Zimmer. Beide Türen waren zu, aber als Roman sich näherte, erkannte er, aus welchem Raum die Stimmen drangen. Er stieß die Tür zu Eeras Schlafzimmer auf. Das Mädchen stand mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand und hatte die Augen entsetzt aufgerissen. Das Weiß darin schimmerte in der Dunkelheit. Sie war nur mit einem Nachthemd bekleidet und hatte schützend die Arme vor die Brust gerissen. Vor ihr stand Nok, einen schweren Ledergürtel in der rechten Hand. Sein dunkelhäutiger, drahtiger Körper war bis zur Taille entblößt. »Deine Mutter, diese ewig kranke Kuh, war in den letzten Jahren zu nichts zu gebrauchen, aber du kannst dich nicht herausreden«, lallte er trunken. »Los, leg dich wieder aufs Bett, du Miststück, sonst gerbe ich dir das Fell.« Keiner der beiden hatte Romans Anwesenheit bemerkt. Das Mädchen starrte wie hypnotisiert ihren Vater an, und Nok sah und hörte nichts vor lauter Wollust. »Bitte tu das nicht«, schluchzte Eera. »Auch noch Widerworte? Ich werde – « Nok schwang den Gürtel, um damit zuzuschlagen. Roman sprang vor, packte sein Handgelenk und riß ihn von dem Mädchen weg. »Loslassen!« brüllte Nok und versuchte sich dem Griff zu entwinden. Mit der freien Hand schlug er auf Roman ein, verfehlte ihn jedoch in seiner blinden Wut. Roman gelang es, Nok die Arme auf den Rücken zu drehen. »Mach die Tür zu und schließ ab!« befahl er Eera, während er Nok aus dem Zimmer stieß. »Roman, du kannst doch nicht so mit ihm – « »Halt den Mund!« sagte er schroff. »Das hat er sich selbst zuzuschreiben.« Nok versuchte erneut, sich seinem Griff zu entwinden.
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Roman ließ ihn los und versetzte ihm einen Stoß, daß er nach vorn stolperte und lang auf den Steinfußboden in der Küche aufschlug. Roman nutzte die Gelegenheit und drehte die Petroleumlampe hell, die von einem Deckenbalken herabhing. Als er wieder zu Nok blickte, sah er ihn halb geduckt auf sich zukommen. Den Gürtel, dessen schwere Messingschnalle nach unten hing, hatte er jetzt in der linken Hand und in der rechten ein breites, scharfschneidiges Messer, wie man es zum Zerlegen von Fischen verwendete. »Was mischst du dich hier ein!« Nok fletschte die verfärbten Zähne. »Nichts als Ärger machst du. Ich wünschte, Daleen hätte dich nie in dieses Haus gebracht. Aber diesmal mache ich dich fertig.« »Versuch das lieber nicht, Nok«, sagte Roman, den Blick auf das Messer gerichtet. »Denk daran, wie die Sache letztes Mal ausgegangen ist, und da warst du nüchtern.« Nok gab keine Antwort, sondern kam in geduckter Haltung näher. Er atmete pfeifend durch die zusammengebissenen Zähne. Roman war keineswegs so gelassen, wie er sich nach außen hin gab. Er wußte zwar, daß er Nok körperlich überlegen war, aber das Messer war eine ernstzunehmende Gefahr. Wenn es in Hispar ernste Streitigkeiten gab, wurden sie nach alter Tradition mit dem Messer ausgetragen, und obgleich Nok betrunken war, durfte man ihn nicht unterschätzen, wenn er so eine Waffe in der Hand hatte. Roman hatte als Kind vielen Messerduellen zugesehen, aber eines hatte ihn nachhaltig beeindruckt, und die Erinnerung daran schob sich nun unaufgefordert in sein Bewußtsein. Tontin und er hatten damals im Kreis der Zuschauermenge gestanden und den Kampf fasziniert verfolgt. Einem der beiden Kontrahenten war dabei die rechte Hand fein säuberlich vom Gelenk abgetrennt und dann ein Messerstich in die Kehle versetzt worden. Danach war er nur noch blindlings umhergetorkelt und hatte die Schaulustigen
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mit einem dicken Blutstrahl bespritzt. Der grinsende Sieger, der den Todeskampf seines Opfers weidlich genossen hatte, war niemand anderer als Nok gewesen. Seither hatte Roman eine Abneigung gegen Messer entwickelt. Noks rechte Hand im Auge behaltend, ging er Schritt für Schritt um den schweren Holztisch herum. »Na, was denn«, sagte Nok höhnisch. »Hast wohl keine Lust, dich zerlegen zu lassen?« »Leg das Messer weg, Nok«, sagte Roman fest. »Sonst wird einer von uns sterben.« Nok grinste siegessicher. »Das hättest du dir vor deiner Einmischung überlegen sollen.« Roman blieb stehen, unschlüssig, was er tun sollte. In dem großen dunklen Eichenschrank dicht hinter ihm befanden sich noch mehr Messer, aber wenn er sich umdrehte und die Schublade aufriß, um eines herauszunehmen, gab er Nok genügend Zeit, um den Tisch herumzukommen und ihn anzugreifen. Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als Nok zu entwaffnen, aber das hieße, sich in die Reichweite der rasiermesserscharfen Klinge zu begeben, was ohne irgendein Schutzschild leicht tödlich ausgehen konnte. Vielleicht konnte er sich so ein Schild beschaffen. Er schob sich langsam nach rechts, auf die Ecke zu, wo sein Bett stand. Wenn er das Bettuch an sich riß und es um den linken Arm wickelte, konnte er Noks Messer damit abwehren, während er selbst angriff. Der Plan hatte allerdings den Nachteil, daß er seinen Gegner aus den Augen lassen mußte. »Keine Sorge, mein Junge«, spöttelte Nok. »Ich werde dich ganz langsam zerlegen, damit du das Erlebnis voll auskosten kannst.« Er näherte sich jetzt zielstrebig. »Soll ich dir zuerst die Ohren abschneiden? Oder vielleicht ein Stück von deiner hübschen Nase?« Roman entschloß sich zu einer Verzweiflungstat. Er befand sich jetzt dicht am Kopfende des Tischs, während Nok im Begriff war, das andere Ende zu umrunden, um sich ihm von der gegenüberliegenden Seite her zu nähern. Er blieb stehen
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und ließ die Hände in Höhe der Tischkante sinken. »Alter Mann, du redest zuviel«, sagte er. »Wenn du wirklich so gut mit deinem Messer wärst, hättest du mich schon längst erledigt. Du kannst nur Frauen und Kinder verprügeln - das hast du zur Genüge bewiesen -, aber gegen einen richtigen Mann kommst du nicht an, und wenn du noch so viele Waffen hast.« Nok knurrte wütend und schlug mit dem Gürtel. Die schwere Schnalle pfiff dicht an Romans Ohr vorbei und knallte auf die Tischplatte, wo sie eine tiefe Kerbe in dem alten dunklen Holz hinterließ. Roman rührte sich nicht von der Stelle und ließ seine Finger unter die Tischkante gleiten. »Du mußt dir schon etwas Besseres einfallen lassen, Nok«, stichelte er. »Greif doch an. Aber dazu bist du ja zu feige. Wie heute nachmittag, als du gejammert hast, wir würden alle ertrinken – « Die Provokation verfehlte ihren Zweck nicht. Nok setzte zum Angriff an. Das Messer erhoben, dessen Klinge im Schein der Lampe blitzte, rannte er um die Ecke des Tischs. Das war der Augenblick, auf den Roman gewartet hatte. Er nahm die Tischkante fest in die Hände und stemmte sie mit aller Macht hoch. Sein Plan war, den Tisch umzukippen und Nok den Weg zu versperren, um ihn gegen den Schrank zu drücken. Die verzweifelte Anstrengung hätte gelingen können, wäre der Tisch nicht so schwer gewesen. Roman mußte den Plan aufgeben und zurückspringen, denn Nok war gefährlich nahe gekommen und stieß mit dem Messer nach ihm. Die Gürtelschnalle sauste abermals durch die Luft, streifte seine rechte Wange und traf seine Schulter mit solcher Wucht, daß sein Arm taub wurde. Er taumelte zurück und mußte sich jetzt eingestehen, daß seine Lage verzweifelt war. Wenn er immer nur zurückwich, würde Nok ihn bald in eine Ecke gedrängt haben und ihn erledigen. Aber schließlich hatte er keine Waffe, mit der er einen Gegenangriff hätte führen können. Als der Gürtel erneut durch die Luft pfiff, reagierte Roman
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mit einer Schnelligkeit, die ihm die Macht der Verzweiflung verlieh. Er griff mit beiden Händen zu, bekam das Leder zu fassen und zog mit aller Kraft daran. Nok, von der unerwarteten Wendung überrascht, geriet ins Wanken und mußte den Gürtel loslassen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er erholte sich jedoch rasch. Mit einer Behendigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, wirbelte er herum und führte einen Messerhieb, der Romans Hemd aufschlitzte. Roman spürte einen brennenden Schmerz entlang der linken Brusthälfte. Nok hatte ihm die erste Wunde beigebracht. Die Zeit des Zurückweichens war jetzt vorbei. Er ließ den Gürtel fallen, der auf diese Entfernung nur hinderlich war, und griff mit bloßen Händen an. Er mußte Noks rechtes Handgelenk zu fassen bekommen, bevor sein Gegner zu einem zweiten Hieb ausholen konnte. Erst schloß sich seine rechte, dann seine linke Hand um den sehnigen, knochigen Unterarm. Er verdrehte ihn mit der Kraft der Verzweiflung und legte sein ganzes Körpergewicht hinter den Druck. Nok stieß einen Schmerzensschrei aus. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Das Messer fiel aus seiner gebrochenen Hand und schlug klingend auf dem Steinfußboden auf. Roman hob es auf und beugte sich über den reglos Daliegenden. »Tu es nicht, Roman!« schrie Eera von der Tür ihres Zimmers. Die kalte Wut verging, der Bann war gebrochen. Es wäre kaltblütiger Mord gewesen, Nok jetzt zu töten. Er war zu so einer Tat nicht fähig. Er drehte sich um, ging zu dem Mädchen und hielt ihr das Messer mit dem Griff voran entgegen. »Heb das gut auf. Und wenn das Schwein dich noch einmal belästigt – wehr dich damit!« Nok stand schwerfällig auf. Die Kampflust schien ihm vergangen zu sein. Sein rechter Arm hing schlaff und nutzlos
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herab. »Du hast mich zum Krüppel gemacht«, sagte er wehleidig. »Du hast es nur deiner Tochter zu verdanken, daß ich dich nicht umgebracht habe«, sagte Roman schroff. »Geh jetzt auf dein Zimmer und bleib dort.« »Aber mein Arm!« jammerte Nok. »Geh morgen früh zu Sendol. Er wird sich darum kümmern. Und jetzt verschwinde!« »Roman, du blutest ja«, sagte Eera, als sie allein waren. Er schaute auf sein zerrissenes, blutdurchtränktes Hemd. »Ist nur ein Kratzer.« »Vielleicht. Aber die Wunde muß gereinigt werden«, sagte sie fest. Er fügte sich widerspruchslos. Jetzt, da der Kampf vorüber war, fühlte er sich abgeschlafft und unendlich müde. Eera wusch seine blutige, schweißnasse Brust mit kühlem Wasser und strich sehr vorsichtig Heilsalbe auf die frische Wunde. Roman fühlte sich in einen Zustand völliger Entspannung abgleiten. Halb im Traum bildete er sich ein, er sei wieder ein Kind und Eera sei Daleen, die wie immer mit zärtlichen Händen seine Schmerzen linderte. »Roman – « Er hörte ihre Stimme nur leise, wie durch einen Nebel. »Das kann ich dir nie vergelten, aber ich verspreche, es irgendwie zu versuchen. Nok wird weder dir noch mir verzeihen, was heute nacht vorgefallen ist. Wissen die Götter, welche Gemeinheiten er ausheckt, um sich zu rächen. Warum gehen wir nicht fort von hier? Wir könnten die Küste entlang nach Turat oder sogar bis nach Alminar gehen. Wir haben zwar kein Geld, aber wir sind beide stark und können arbeiten.« »Das ist nicht nötig, Eera«, versicherte er ihr verträumt. »Ich kann dich vor Nok beschützen, bis du ein eigenes Zuhause hast.« »Ein eigenes Zuhause?« »Aber ja doch«, sagte er, die Augen immer noch geschlossen. »Du bist ein reizendes Mädchen, Eera, fast schon
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eine Frau. Eines Tages wirst du einen netten jungen Mann kennenlernen und – « Er unterbrach sich, als er sie plötzlich erstickt schluchzen hörte. Er schlug die Augen auf und sah, wie sie hastig fortging. »Eera!« rief er ihr nach. Aber sie war schon in ihrem Zimmer und machte, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Tür zu. Obwohl er völlig erschöpft war, lag er noch lange Zeit wach und machte sich Vorwürfe wegen seiner Dummheit und Ignoranz. Am Rand seines Bewußtseins mußte er schon seit einer ganzen Weile gewußt haben, daß Eeras Gefühle für ihn in letzter Zeit über die einer Schwester hinausgewachsen waren, aber er hatte dieser Tatsache keine Beachtung geschenkt. Dabei lag es auf der Hand, daß ein Mädchen in ihrem Alter unmöglich damit zufrieden sein konnte, den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als für die drei Männer ihrer Familie den Haushalt zu führen. Sie war keine Schönheit, aber ihr kräftiger, jugendlicher Körper hatte durchaus seine weiblichen Reize. Zweifellos hatten sich schon mehrere Jungen aus dem Dorf für sie interessiert, und der Grund für ihre ablehnende Haltung war nun allzu offensichtlich. Die Situation wäre vielleicht nie entstanden, wenn er selbst eine Bindung mit einem Mädchen aus Hispar eingegangen wäre. So aber hatte Eera sein mangelndes Interesse an anderen mit weiblicher Logik als Zeichen seiner Festlegung auf sie interpretiert, statt es als das zu erkennen, was es wirklich war, nämlich ein Ausdruck seines Gefühls, nicht hierhin zu gehören. Und dieses Gefühl war jetzt, da er von der großen Zukunft wußte, die fern von Hispar auf ihn wartete, noch stärker geworden. Kein Bauernmädchen konnte so ein Leben mit ihm teilen. Er liebte Eera wegen ihres freundlichen Wesens und der gütigen Frau, die ihnen beiden eine Mutter gewesen war – aber seine Liebe war die eines Bruders, nichts mehr.
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12 Am nächsten Morgen beobachtete Roman bedrückt, wie Eera mit gesenktem Kopf ihre gewohnten Küchenarbeiten verrichtete. Auf eine Art war er froh über die Anwesenheit von Nok und Tontin, die ein vertrauliches Gespräch mit ihr unmöglich machte. Er bezweifelte, daß er in dieser emotionsgeladenen Situation die rechten Worte gefunden hätte, und die Vorstellung, sie noch mehr zu kränken, war ihm unerträglich. Er konnte nur hoffen, daß sie sich nach einiger Zeit mit den Tatsachen abfinden und ihn nicht allzu sehr hassen würde. Aber gleichgültig, welche Gefühle sie ihm schließlich entgegenbrachte, eines stand jetzt fest: er mußte sein Daleen gegebenes Versprechen halten, selbst wenn dadurch die ›große Zukunft‹, die laut Sendol auf ihn wartete, hinausgeschoben wurde. Diese Gedanken bedrückten ihn, und er empfand es fast als Erleichterung, als sie schließlich aus dem Haus gingen, obgleich Eera zum erstenmal seit seinem Gedenken nicht mit an die Tür kam, um ihm nachzuwinken. Es war ein trüber, stiller Morgen, und die Berggipfel waren in einer dunklen Wolkendecke verborgen. Die drei Männer gingen schweigend den Hügel hinab und kamen an Sendols Haus vorbei, wo Nok sich von ihnen trennte, um seinen verletzten Arm behandeln zu lassen. Tontin mußte von seinem Zimmer aus gehört haben, was gestern nacht vorgefallen war, und Roman rechnete so halb damit, daß er sich dazu äußern würde, sobald sein Vater fort war – Eera war immerhin seine Schwester – aber er blieb still, und sie gingen schweigend durchs Dorf hinunter zum Hafen. Die Fischerboote waren noch an ihren Liegeplätzen, und die Mehrzahl der Männer stand in Gruppen um die ältesten und erfahrensten Fischer, die einen bevorstehenden Wettersturz vorhersagten. Nachdem Tontin sich diese düsteren Prophezeiungen angehört hatte, wollte er von der Idee, ohne Nok auszulaufen, nichts mehr wissen und lieber bis morgen
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warten. Aber Roman war strikt dagegen, obwohl er sich der möglichen Gefahren durchaus bewußt war. Wenn sie heute nicht auf Fang gingen, gaben sie damit indirekt zu, daß Nok unentbehrlich war – was der Alte ihnen bei jeder passenden Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Außerdem gefiel ihm der Gedanke, seine Kraft und Geschicklichkeit einmal mit den Naturgewalten zu messen. Wenn er so beschäftigt war, brauchte er auch nicht ständig über Eera nachzugrübeln, die mit ihren Sorgen allein zu Hause war. Schließlich gab Tontin nach, und sie liefen aus. Eine kräftige Brise vom Ufer her trug sie aus dem Hafen und an den Mandafs-Perlen vorbei. Sie hatten einen guten Fang, und Roman mußte sogar Tontin von seinem Platz an der Ruderpinne herbeirufen, damit er ihm half, die vollen Netze an Bord zu hieven. Der verkrüppelte Junge beobachtete ständig die finstere Wolkenbank, die sich von den Bergen her näherte, und als sie genug gefangen hatten, wollte er umkehren. Aber Roman setzte sich stur über ihn hinweg und bestand darauf, daß sie diese Glückssträhne ausnutzten und dem Schwarm folgten. Ihr Kurs führte sie aufs offene Meer, wo sie etwa fünf Meilen von den Perlen entfernt von dem angekündigten Sturm überrascht wurden. Ihre Lage wurde noch dadurch verschlimmert, daß die Netze gerade aushingen, als das Unwetter über sie hereinbrach. Tontin mußte am Ruder bleiben und das Boot ständig in Windrichtung halten, so daß Roman nichts anderes übrigblieb, als sich allein mit ihnen abzumühen. Er wurde von Windstößen und heftigen Wellen hin und her geschleudert und vom Schaukeln des Boots ständig aus dem Gleichgewicht gebracht, aber schließlich gelang es ihm, die Netze einzuholen; allerdings wurden sie dabei beschädigt und der größte Teil des Fangs ging verloren. Auf der Rückfahrt nach Hispar wütete der Sturm mit solcher Gewalt, daß die Wanten zu reißen drohten. Erst als sie die Landzunge erreichten, legte er sich allmählich, und als sie in den Hafen einliefen, hörte er ganz auf, und es herrschte nur
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noch eine leichte Brise. Nachdem sie angelegt hatten, luden sie den Fang aus. Sie waren beide müde, und Tontin war schlechtgelaunt und streitlustig und schimpfte wegen der beschädigten Netze. An Land mußte Roman wieder an Eera denken, die er mit seinen ungeschickten Worten tief verletzt hatte. Vielleicht war es das beste, wenn er sich doch mit ihr aussprach und ihr seine Gefühle für sie zu erklären versuchte. Er beschloß, es wenigstens zu probieren, damit sie beide wieder Ruhe fanden. Er überließ Tontin, der mürrisch die Netze auslegte, um sie auszubessern, seiner Arbeit und ging ins Dorf. Als er an der Schenke vorbeikam, sah er mehrere Männer darin sitzen, sich unterhalten und Karten spielen, darunter auch Nok, der den Arm jetzt in der Schlinge trug. Von ihm war also kaum eine Störung während der bevorstehenden Aussprache mit Eera zu erwarten. Als er weiterging und sich langsam dem Haus näherte, wurden seine Schritte immer schleppender, und eine böse Vorahnung beschlich ihn. Er konnte sich dieses merkwürdige Gefühl, das sich wie ein schwarzer Nebel über seinen Verstand gelegt hatte, nicht erklären, aber es war da, und er konnte es nicht ignorieren. Er versuchte sich einzureden, daß er ja nur mit Eera reden würde, seiner kleinen Schwester, die er seit ihrer Geburt kannte. Aber ein anderer Teil seines Verstandes hielt ihm entgegen, daß es die »kleine Eera« nicht mehr gab. Das Mädchen war jetzt eine Frau, empfand wie eine Frau und reagierte wie eine Frau, wenn man sie abwies – Schließlich kam er am Haus an und stieß die unverschlossene Vordertür auf. Zu dieser Tageszeit bereitete Eera gewöhnlich das Abendessen zu, aber die Küche war leer, und das Feuer, das sie stets mit größter Sorgfalt hütete, war zu einem Häufchen weißer Asche niedergebrannt. Er stand einen Moment da und sah sich verwirrt in der sauberen Küche um. Ihre Abwesenheit war so ungewöhnlich, daß sich seine böse Ahnung verstärkte. Er rief ihren Namen. Gestern nacht hatte sie vorgeschlagen, daß sie beide in ein anderes Dorf zögen, um
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Noks Haß zu entgehen. Hatte sie dieses Vorhaben vielleicht allein in die Tat umgesetzt, weil sie nun nicht nur vor Nok, sondern vor allem vor ihm fliehen wollte? Es war durchaus möglich, daß sie in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg aus der ihr unerträglich erscheinenden Situation gesehen hatte. Zwar entsprach so ein einsamer Entschluß ganz und gar nicht Eeras Charakter, aber in ihrer Verwirrung – Er rief sie noch einmal. Wenn sie im Haus war, mußte sie ihn hören und würde bestimmt antworten. Es sei denn, sie versteckte sich absichtlich. Er ging zu Noks und Tontins Zimmer und machte die Tür auf. Die Betten waren gemacht und das Zimmer aufgeräumt. Hier hatte Eera gewissenhaft für Ordnung gesorgt. Er ging wieder in die Küche und blieb vor Eeras Zimmer stehen. Dann stieß er die Tür auf. Und hier fand er sie. Sie lag in ihrem eigenen Blut auf dem Fußboden neben dem Bett. Ein paar Kleidungsfetzen bedeckten notdürftig ihren Oberkörper. Ansonsten war sie nackt, und ihr Unterleib war scheußlich zugerichtet. Jemand hatte sie wie ein Stück Vieh abgeschlachtet, ihr den Leib vom Brust- bis zum Schambein aufgeschlitzt. Roman starrte die Leiche eine volle Minute fassungslos an. Sein Verstand weigerte sich zu begreifen, was seine Augen sahen. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock. Sein ganzer Körper erzitterte wie vom Fieber geschüttelt, und er mußte sich am Türrahmen festhalten. Er begann zu würgen. Halb blind von den Tränen in seinen Augen stolperte er zur Hintertür auf den Hof hinaus. Den sauren Geschmack des Erbrochenen noch im Mund, zwang er sich ein paar Minuten später, wieder hineinzugehen und sich der Aufgabe zu stellen, die erledigt werden mußte. Es war das letzte, was er für Eera noch tun konnte. Er bückte sich, hob die schlaffe Leiche hoch und legte sie aufs Bett. Das klebrige Blut, das auf seinen Armen und seiner Kleidung scharlachrote Flecken hinterließ, bemerkte er nicht. Er deckte den Unterleib mit einem Laken zu, denn er konnte den
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Anblick des schrecklich verstümmelten jungen Körpers nicht ertragen. Das Gesicht schien um Jahre gealtert und in einer stummen Bitte zu ihm aufzuschauen. Impulsiv kniete er sich hin und küßte die kalten Lippen. Plötzlich meinte er, ein Geräusch zu hören. Er sprang auf und lief in die Küche. Weder hier noch draußen vor der Haustür war jemand zu sehen. Als er sich umdrehte, bemerkte er die blutigen Fußstapfen, die aus Eeras Zimmer führten und die er selbst verursacht hatte. Er sah an sich hinab und stellte fest, daß er über und über mit Blut beschmiert war. Aber es hatte keinen Zweck, sich zu waschen und umzuziehen, ehe er nicht die Spuren des scheußlichen Gemetzels in Eeras Zimmer beseitigt hatte. Er ging nochmals auf den Hinterhof und suchte sich Eimer und Scheuerlappen. Er war fast fertig mit der Arbeit, als er vor dem Haus näherkommende Schritte hörte. Es waren Nok und Tontin, und sie hatten ein halbes Dutzend Männer aus dem Dorf bei sich. »Da ist das Schwein!« rief Tontin, dessen Gesicht bleich vor Zorn war. »Seht nur, das Blut meiner Schwester klebt noch an ihm!« »He, das ist ein Mißverständnis!« rief Roman empört. »Ich habe sie so gefunden, als ich nach Hause kam. Ihr glaubt doch nicht, daß ich fähig wäre, Eera so etwas anzutun?« »Hört euch diesen elenden Heuchler an«, fauchte Nok. »Schon seit einem Monat war er hinter ihr her wie ein brünstiger Bulle.« Er wies auf seinen verletzten Arm. »Den hat er mir letzte Nacht gebrochen, als ich sie vor ihm beschützen wollte.« »Das ist nicht wahr!« begehrte Roman auf. »Es war genau umgekehrt. Ich habe sie vor ihm beschützt.« »Das kannst du alles bei der Verhandlung sagen«, erklärte Balmon, einer der Dorfbewohner. Er hatte ein zusammengerolltes Seil bei sich. »Aber wenn ich du wäre, würde ich mir eine bessere Ausrede einfallen lassen. Was ist, kommst du freiwillig mit?«
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Roman musterte die steinernen Gesichter. In keinem zeigte sich ein Funke von Mitgefühl. Für diese Männer war er schon abgeurteilt und für schuldig gesprochen, und sie brannten darauf, ihren gerechten Zorn an ihm auszulassen, sollte er auch nur den geringsten Widerstand leisten. Er konnte nur hoffen, daß bei der Verhandlung, die Sendol leiten würde, die Wahrheit ans Licht kam. Zumindest der Heiler mußte erkennen, daß er zu so einem Verbrechen nicht fähig war. Sich an diese schwache Hoffnung klammernd, trat Roman vor, streckte die Hände aus und ließ sich widerstandslos fesseln. Romans Verhandlung wurde im Gemeindeklassenzimmer abgehalten. Der uralten Tradition gemäß waren nur die Männer des Dorfes anwesend. Als Roman den Blick über die Reihen der zerfurchten, grimmigen Gesichter schweifen ließ und die Voreingenommenheit darin sah, spürte er, daß der Urteilsspruch schon feststand, noch bevor Nok und Tontin ihre Zeugenaussagen machten. Seine einzige Hoffnung ruhte auf Sendol, aber selbst der Heiler würde gegen die Entscheidung der Mehrheit wenig ausrichten können. Tontins Aussage lieferte die Erklärung für das rätselhafte Geräusch, das Roman beim Knien an Eeras Bett gehört hatte. Der Junge war nach Hause gegangen, um Garn zu holen, das er zum Ausbessern der beschädigten Netze brauchte. Dort hatte er dann die blutige Szene in Eeras Schlafzimmer gesehen. Als Roman herausgekommen war, um die Ursache des Geräuschs zu ergründen, hatte er sich hinter der Tür des gegenüberliegenden Zimmers versteckt, um dann, nachdem Roman wieder in Eeras Zimmer gegangen war, den Hügel hinunter zur Dorfschenke zu laufen. Nok spielte die Rolle des trauernden Vaters überzeugend und forderte Rache für seine brutal ermordete Tochter. Er machte sichtlich einen tiefen Eindruck auf sein Publikum. Er untermauerte den Verdacht, der durch Tontins Aussage schon auf Roman gefallen war, indem er von mehreren frei erfundenen Zwischenfällen berichtete, bei denen er Eeras Ehre energisch vor Roman hatte verteidigen müssen, und stellte
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dabei seinen verletzten Arm weidlich zur Schau, um die Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen zu unterstreichen. Anschließend bekräftige Tontin, vermutlich aus Haß auf den Mann, den er für den Mörder seiner Schwester hielt, und um sicherzugehen, daß dieser seiner verdienten Strafe nicht entging, die Richtigkeit der Beschuldigungen seines Vaters, wobei er sich nicht scheute, einen Meineid zu schwören. Schließlich, als Sendol ihn mit ernster Miene fragte, was er auf die Anklagepunkte zu entgegnen hätte, bekam Roman Gelegenheit zum Sprechen. Es war nicht leicht, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen. Die abgestimmten Aussagen von Nok und Tontin klangen überzeugend. Wenn er die beiden der Lüge bezichtigte, verschlimmerte er seine Lage wahrscheinlich nur. »Ich kann nur wiederholen, daß ich unschuldig bin«, sagte er schließlich. »Eera war schon tot, als ich das Haus betrat.« »Wenn du sie nicht getötet hast, wer war es dann?« fragte Sendol. Roman sah Nok in die haßerfüllten, blutunterlaufenen Augen. Wenn er eine Gegenklage vorbringen wollte, dann mußte er das jetzt tun. Aber er sah nicht, wie er so eine Anklage überzeugend hätte aufbauen können. Abgesehen davon, daß Nok leicht ein Dutzend Männer finden würde, die bereit wären zu schwören, daß er die Schenke seit dem Morgen nicht verlassen hatte, glaubte Roman selbst nicht so recht, daß Nok seine Tochter getötet hatte. Er hatte höchstens versucht, sie unter Gewaltandrohung zur Inzucht mit ihm zu zwingen, wenn er die Gelegenheit gehabt hätte, aber daß er sie auf derart bestialische Weise umgebracht hatte, mochte Roman selbst Nok nicht zutrauen. »Ich kann es mir nur so vorstellen, daß ein Fremder das Verbrechen begangen hat«, sagte er. »Das Haus liegt am Dorfrand. Jemand, der den Bergpfad hinunterkam, hätte – « Tontin sprang auf; sein schmales Gesicht war blaß vor Wut. »Wollt ihr euch diesen Unsinn von einem geheimnisvollen Fremden noch länger anhören? Der Mörder
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steht vor euch, und das Blut meiner Schwester klebt noch an ihm. Was für Beweise braucht ihr denn noch?« Tontins Worte brachten die allgemeine Stimmung zum Ausdruck. Aus der Menge kamen ungeduldige Rufe. »Tontin hat recht«, sagte Balmon. »Ich habe die Gruppe angeführt, die Roman festgenommen hat, und ich habe nicht den geringsten Zweifel. Wir wollen uns nicht noch länger mit dieser Sache aufhalten. Ich spreche ihn schuldig! Wer noch?« Obwohl er etwas Ähnliches erwartet hatte, packte Roman beim Anblick dieses Waldes von erhobenen Armen die nackte Verzweiflung. Seine letzte Hoffnung war nun Sendol, der schweigend und mit grimmiger Miene am Tisch des Vorsitzenden saß. »Das Blut meiner Schwester schreit nach Rache!« rief Tontin. »Wer geht mit mir an den Strand und errichtet den Scheiterhaufen?« Endlich reagierte Sendol. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief zur Ordnung. »Halt! Das kann ich nicht zulassen. Roman mag schuldig sein, aber wir haben kein Recht, ihn hinzurichten. Er muß nach Alminar gebracht werden. So lautet das Gesetz.« »So mag das Gesetz der Zentralregierung lauten, aber nicht das Gesetz der Menschen von Hispar«, widersprach Balmon. »Ihr wißt so gut wie ich, wie solche Hinrichtungen seit alters her bei uns stattfinden. Er muß morgen früh bei Ebbe verbrannt werden, damit die Flut seine Überreste verschlingt und das Dorf von seiner Untat reinigt. Wenn wir diesen Brauch mißachten, wird der Geist des Mädchens keine Ruhe finden und Unglück über das ganze Dorf bringen und uns viele Menschenleben und Boote kosten.« »Das war der alte Brauch, ich weiß«, sagte Sendol. »Aber es hat seit mehr als zehn Jahren keine solche Hinrichtung mehr gegeben.« »Aber auch kein solches Verbrechen!« rief Tontin. »Eure Einwände sind zwecklos, Sendol. Wir tun, was die Tradition verlangt, das ist unser gutes Recht.«
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Eine Stunde später lag Roman gefesselt und hilflos auf dem schmutzigen Fußboden eines Schuppens am Hafen. Es gab keine Fenster, war pechschwarz im Innern und stank nach verwestem Fisch. Hinaus kam man nur durch die eine Tür, und die wurde von zwei mit langen Messern bewaffneten Männern aus dem Dorf bewacht. Das also war seine ›große Zukunft‹, die Sendol prophezeit hatte, dachte Roman sarkastisch, während er an seinen Fesseln zerrte. Seine Bemühungen waren vergebens, wie alles andere, was er seit der Entdeckung von Eeras Leiche unternommen hatte. Die Seile schnitten ihm jetzt nur schmerzhaft ins Fleisch der Handgelenke und Fußknöchel. Die Fischer von Hispar waren keine Stümper, wenn es Knoten zu binden galt. Das bornierte, fast tierische Leben im Dorf war ihm jetzt fremder denn je – aber er brauchte es ja nicht mehr lange zu ertragen, der Scheiterhaufen und das Treibholzfeuer warteten schon. Wenn er Glück hatte, schnitt ihm jemand rasch und schmerzlos eine Schlagader auf, so daß er vielleicht starb, ehe die Flammen ihn erreichten. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß niemand in Hispar sich bereitfinden würde, ihm diese Gnade zu gewähren. Er würde langsam und qualvoll im Feuer sterben, bei lebendigem Leib verbrennen, zusehen, wie sein Fleisch vom Körper abbröckelte. Seine Hinrichtung würde in der Geschichte des Dorfs ein wichtiges Datum setzen und den in dieser Hinsicht gewiß nicht verwöhnten Bauern endlich einmal eine Sensation bieten. Sie würden diesen Tag als Festtag begehen und noch viele Jahre später davon reden. Später, nach seinem Tod. Tod war bis zu diesem Moment nur ein Wort gewesen – etwas, das anderen zustieß. Nun gewann es plötzlich neue Dimension, rückte in greifbare Nähe. Er stand am Rand des Abgrunds, allein in diesem nach Fisch stinkenden Schuppen. Beten wäre in diesen Augenblicken vermutlich ein Trost gewesen, aber er brachte es nicht fertig, hatte es noch nie fertiggebracht, das Pantheon der Fischer anzurufen. Ihre Götter waren nicht die seinen, ebensowenig wie ihre Lebensweise. Er war ein Außenseiter,
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ein Wildwuchs. »Immer noch der Traum von der eigenen Größe?« dachte er mit einem Anflug von Selbstverachtung. Er hatte in jeder Beziehung versagt. Sein Versprechen an Daleen nicht gehalten, sich seine Zukunft nehmen lassen. Morgen früh, wenn er auf dem Scheiterhaufen am Meeresufer stand, kam die Stunde der Wahrheit, und mit den Träumen war es dann aus und vorbei. Der Klang von Stimmen draußen vor dem Schuppen riß ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken. Er lauschte angestrengt, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Sein Mund war ausgedörrt, und er hatte furchtbaren Durst, aber ein Rest Stolz blieb ihm noch, und er war fest entschlossen, seine Peiniger um nichts zu bitten. Gerade als er wieder an den Fesseln riß, hörte er draußen einen überraschten Schrei. Dann prallte etwas gegen die Schuppenwand und schlug dumpf auf dem Erdboden auf. Einen Augenblick später ging leise die Tür auf, und die Silhouette eines kräftigen Manns zeichnete sich gegen den Nachthimmel ab. Roman schoß ein greller Lichtstrahl ins Gesicht und er mußte blinzeln. »Bratfertig verschnürt!« hörte er eine bekannte Stimme. »Keine Sorge, gleich bist du frei.« »Kalamry! Was tun Sie denn hier?« »Sagen wir mal, ich mag's nicht, ein tüchtiges potentielles Besatzungsmitglied zu verlieren«, erwiderte Kalamry. Er bückte sich und schnitt die Fesseln durch. Roman stand mühsam auf, und versuchte die Blutzirkulation in seinen steifen, gefühllosen Gliedern wieder in Gang zu bringen. »Was ist mit den Wachen?« fragte er. »Mach dir keine Sorgen um sie«, sagte Kalamry. Er schlug gegen die Waffe in seinem Gürtel. »Ich habe ihnen nur eine schwache Ladung verpaßt, aber sie kommen frühestens in einer halben Stunde wieder zu sich. Dann sind wir schon meilenweit weg – oder möchtest du lieber hierbleiben und dich rösten lassen?«
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»Woher wußten Sie, was geschehen war?« fragte Roman. »Lektion Nummer Eins: frag nie, woher dein Glück kommt«, sagte Kalamry. Er drehte sich um und ging zur Tür. »Komm jetzt, wir müssen weg!« Roman folgte seinem Retter in gehobener Stimmung hinaus in die Nacht. Er spürte, daß nicht nur die Freiheit, sondern ein ganz neues Leben vor ihm lag.
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13 Annrith beugte sich über die Reling und schaute hinab in die Tiefen des grünen, kristallklaren Meeres. Es war, als flöge man über die Landschaft einer fremden, zauberhaften Welt dahin. Felsengebirge, dunkle Wälder aus wogendem Seegras, fahle Sandwüsten zogen dort unten vorüber, als die Jacht mit einem leisen Plätschern vom Bug durch das stille Wasser glitt. Zahllose kleine Fische blitzten plötzlich silbrig auf, als der Schwarm eine rasche Wendung machte und dabei für einen Moment ins Sonnenlicht geriet. Kandar war ihre Welt. Sie liebte dieses Meer und besonders die schöne Küste an den Mietroveloren. Belphar hatte sie anfangs stark beeindruckt. Zuerst der Anblick des faszinierend Neuen und Fremden, und dann die überraschende romantische Beziehung mit Haldor und der unglaubliche, märchenhafte Traum, daß sie, Annrith Therys, Kaiserin der Dreizehn Welten werden sollte. Aber seit jener schrecklichen Nacht, in der das Klacken der Tath sie geweckt hatte, war dieser Traum zu einem Alptraum geworden. Jetzt war sie wieder auf ihrer eigenen Welt, zu Hause. Trotzdem kam sie sich sogar hier irgendwie verloren vor. Die Ereignisse auf Belphar schienen etwas tief in ihrem Innern verändert zu haben. »Annrith, mein Schatz, unsere Gäste lassen fragen, ob du ihnen bei einer Partie Kensaler Gesellschaft leisten möchtest.« Zögernd wandte sie sich von der Reling ab und sah ihren Vater an. Es war seine Idee gewesen, so kurz nach ihrer Rückkehr nach Kandar auf diese Kreuzfahrt zu gehen. Sie hatte eingewilligt in dem Glauben, eine mehrwöchige Reise auf der vierzig Meter langen Luxusjacht, allein mit ihm und der zurückhaltenden Besatzung würde eine angenehme Abwechslung sein und ihr Gelegenheit geben, sich von den Anspannungen und Enttäuschungen der letzten Monate zu erholen. Zu spät hatte sie bemerkt, daß ihr fürsorglicher Vater, eindeutig in der Absicht, ihr den Wiedereinstieg in das
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gesellschaftliche Leben von Kandar zu erleichtern, zehn ihrer alten Bekannten eingeladen hatte. Aber die Anwesenheit der Gäste hatte ihre Einsamkeit und Isoliertheit nur um so deutlicher hervortreten lassen. Sie schien sich in den wenigen Monaten ihrer Abwesenheit von ihnen und ihren Interessen entfremdet zu haben. Sie erschienen ihr nun oberflächlich und unreif, als verzogene, vergnügungssüchtige Kinder der Reichen, die kein Verständnis und Interesse für die wichtigen Dinge im Leben aufbrachten. Hinzu kam, daß in den Kreisen der vornehmen Gesellschaft von Kandar bislang nur eine entstellte Version der Ereignisse auf Belphar kursierte, die für sie wenig schmeichelhaft war. Man erzählte sich, sie, das romantische unerfahrene Mädchen von den äußeren Welten, habe sich unsterblich in den schneidigen und feschen Kaiser verliebt, sei ihm geradezu nachgelaufen und habe schließlich eine blamable Abfuhr erhalten. Es war nicht gerade angenehm, die liebenswürdige Gastgeberin zu spielen, wenn man wußte, daß die Gäste hinter ihren lächelnden Gesichtern so über einen dachten. »Sag ihnen bitte, daß ich mich im Moment nicht wohl fühle, ihnen aber im Speisesaal vor dem Dinner bei einem Drink Gesellschaft leisten werde.« Olan Therys schmales, feingeschnittenes Gesicht umwölkte sich sorgenvoll. »Annrith, du bist zuviel allein. Ich hatte gedacht – « »Ich weiß, Vater«, versicherte sie ihm mit einem flüchtigen Lächeln. »Du kannst nichts dafür. Es liegt an meiner eigenen Dummheit und Halsstarrigkeit.« »Du nimmst es mir wirklich nicht übel, daß ich dich von Belphar fortgebracht habe?« »Übelnehmen? Ich bin heilfroh darüber. Welche Zukunft hätte ich denn dort gehabt? Haldor, soviel stand fest, brauchte mich ja nicht mehr.« »Du darfst nicht zu streng mit ihm ins Gericht gehen«, sagte ihr Vater. »Es heißt, das Attentat habe ihn zum Krüppel gemacht.«
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»Ja, hätte ich ihn nicht gerade dann trösten können? Wenn er mich wirklich so lieben würde, hätte er es mich wenigstens versuchen lassen können. Oder hielt er mich für ein hochnäsiges, dummes Ding, das sich beim Anblick seiner Wunden entsetzt abwenden würde?« »Der Kaiser ist ein stolzer und schwieriger Mensch«, erwiderte Olan Therys. »Aber soweit ich das beurteilen kann, sind seine Gefühle für dich aufrichtig. Er hat vermutlich gute Gründe für sein Verhalten, und wenn er seine jetzigen Schwierigkeiten überwunden hat – « »Wird er mich zurückrufen und erwarten, daß ich wie ein treuer Hund gehorche?« Annrith warf hochmütig den Kopf in den Nacken, richtete ihren schlanken, sonnengebräunten Körper, dessen dunkle Färbung einen reizvollen Kontrast zu dem knappen weißen Bikini bildete, zur vollen Größe auf und sah ihren Vater verächtlich an. »Willst du etwa, daß ich mich so erniedrige, Vater?« »Ich will nur dein Glück, mein Kind«, sagte er mit ruhiger, ernster Stimme. Ihr Zorn verflog, und sie fühlte sich plötzlich beschämt. Sie ging auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute ihm lächelnd ins Gesicht. »Manchmal frage ich mich, wie es möglich ist, daß ein sanftmütiger Mensch wie du, ein solches Biest zur Tochter haben kann«, sagte sie. »Verzeih mir mein Benehmen. Ich gehe jetzt hinunter zu unseren Gästen und unterhalte sie.« Er schüttelte, nun ebenfalls lächelnd, den Kopf. »Nein. Sie sollen sich ruhig eine Weile allein unterhalten. Wir bleiben hier.« Er schlang ihr den Arm um die Taille und führte sie an die Reling. Sie schaute zum Strand. Die Jacht fuhr gerade an einer Bucht vorbei, der eine Reihe schwarzer, vulkanischer Inseln vorgelagert waren. Abseits des kleinen Hafens schmiegten sich die weißen Häuser eines Fischerdorfes an den Berghang. Sie versuchte sich vorzustellen, wie einfach und unkompliziert das Leben in so einem Ort sein mußte. Diese Menschen lebten
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weltabgeschieden in einer sicheren, unveränderlichen Gesellschaft. »Wie heißt diese Ortschaft?« fragte sie. »Hispar«, antwortete ihr Vater. »Hispar – «, murmelte sie. Sie fand den Namen hübsch und klangvoll. Alminar war ein Traum, der Romans wildeste Phantasien weit übertraf. Er schlenderte den sonnenbeschienenen, mit Mosaiksteinplatten ausgelegten Paseo entlang und konnte sich an den Wundern der Stadt nicht sattsehen. Die hohen Häuser, der Verkehr und die Menschen faszinierten ihn – besonders aber die Mädchen. Aus Hispar kannte er nur die eintönige schwarzgraue Bauernkleidung, und der Anblick der langbeinigen, schwarzhaarigen Mädchen in ihren farbenfrohen Kleidern entzückte ihn immer wieder aufs neue. Auch die Männer schienen sich nicht weniger auffallend zu kleiden. Er war jetzt froh, daß Kalamry ihn gleich bei ihrem ersten Ausflug an Land ins nächstgelegene Konfektionsgeschäft geschleppt und ihm drei neue Anzüge samt Wäsche gekauft hatte. Das waren zwei mehr, als er jemals zur selben Zeit besessen hatte. Kleidung mußte haltbar und zweckmäßig sein, etwas anderes kannte er nicht. Erst in dem Laden, als er in den Spiegel geschaut und den bunt angezogenen, fremden jungen Mann darin gesehen hatte, war ihm langsam aufgegangen, daß Kleidungsstücke noch andere Zwecke erfüllten, als einen vor Kälte und Nässe zu schützen. Eines stand fest: er wollte nicht nach Hispar zurück, selbst wenn er gekonnt hätte. Außerdem fühlte er sich Kalamry verpflichtet. Abgesehen von Daleen, hatte er noch nie in seinem Leben so tief in jemandes Schuld gestanden. Kalamry war ihm in den letzten drei Tagen ein Fremdenführer, Freund und Lehrer zugleich gewesen und hatte ihm geholfen, die gewaltigen Lücken in seinem Wissen über die Welt außerhalb von Hispar zu stopfen, die er jetzt erst allmählich als solche erkannte. Es gab so vieles zu sehen und zu lernen. Und immer mußte er an die Mädchen denken, die farbenprächtigen
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Schmetterlingen gleich das Stadtbild bereicherten. Selbst die jüngsten von ihnen machten einen so selbstsicheren und welterfahrenen Eindruck, daß er bezweifelte, jemals den Mut aufzubringen, eines anzusprechen, weil er befürchtete, seine Dummheit und Unwissenheit preiszugeben. Am meisten machte ihm aber seine bäuerliche Aussprache zu schaffen. In Hispar redete jeder so, aber hier klang diese Sprechweise unbeholfen und schwerfällig, und manchmal konnten die Leute kaum verstehen, was er sagte. Er kam am Ende des Paseos an, der hier die Straße kreuzte, die am Hafen entlang führte. Im selben Moment bemerkte er ein rotes Fahrzeug, das gerade neben der Anlegestelle von Kalamrys Jacht hielt. Er blieb stehen und sah zwei Männer aus dem Wagen aussteigen. Sie hatten strenge, nachdenkliche Gesichter, die ihn irgendwie stutzig machten. Statt, wie beabsichtigt, die Straße zu überqueren, wartete er, bis die beiden Fremden an Bord der Jacht gegangen und in der Kajüte verschwunden waren. Dann folgte er ihnen aufs Schiff, betrat vorsichtig das Vorderdeck, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer die Fremden sein mochten, aber ein dumpfes Gefühl sagte ihm, daß Kalamry in Schwierigkeiten war. Er schlich lautlos zum Belüftungsschacht über dem Aufenthaltsraum und lauschte. Zunächst hörte er nur einen undeutlichen Wortwechsel. Dann vernahm er deutlich Kalamrys Stimme, die empört und ziemlich aufgeregt klang. »Was Sie nicht sagen! Gehen wir doch zur Polizei, dann werden wir ja sehen, ob Sie mit diesem Unsinn durchkommen!« Sein Gesprächspartner brummte etwas Unverständliches. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich hier Urlaub mache«, polterte Kalamry. »Ich habe eine gültige Aufenthaltserlaubnis von der Einwanderungsbehörde. Paß – wie komme ich dazu, Ihnen meinen Paß zu zeigen? Wer sind Sie überhaupt?«
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Roman konnte die Antwort nicht verstehen. »Hören Sie mal, Freundchen«, sagte Kalamry. »Ich weiß nur, daß die Sache langsam brenzlig wurde. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten diese hirnlosen Bauern den Jungen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.« Die Antwort war wiederum unverständlich. »Wenn das so ist, kann ich nur sagen, daß Ihr Mann vor Ort – dieser Sendol – die Sache gründlich verpfuscht hat. Ob ich eingeschritten bin? Ja, natürlich, wer hätte das nicht getan? Ich sag Ihnen, der Junge hat Schneid. Er hat sein Leben riskiert, um mich vor diesem Riff zu retten.« Es gab wieder eine Unterbrechung, dann erhob Kalamry wutentbrannt die Stimme. »Es interessiert mich einen Dreck, für wen Sie arbeiten! Wenn nichts Offizielles gegen mich vorliegt, machen Sie gefälligst, daß Sie von meinem Schiff herunterkommen! Verstanden?« Auf der Treppe, die vom Aufenthaltsraum an Deck führte, ertönten Schritte. Roman zog sich vom Belüftungsschacht zurück und legte sich flach aufs Achterdeck, wo ihn der Kajütenaufbau vor Blicken von vorn schützte. Einen Augenblick später hörte er zwei Wagentüren zuschlagen und dann ein Motorengeräusch, das sich rasch entfernte. Er stand auf und spähte über das Kajütendach. Kalamry stand an Deck und sah mit steinerner Miene zu, wie seine offensichtlich unerwünschten Besucher davonfuhren. Als der Wagen um eine Ecke bog und verschwand, ging er wieder die Treppe hinunter. Roman wartete eine Weile, dann folgte er ihm nach unten. Der Aufenthaltsraum war leer. Kalamry hatte sich anscheinend in der vorderen Kajüte eingeschlossen, in der sich die Schiffsfunkgeräte befanden. Roman versuchte erst gar nicht, ihm dorthin zu folgen, denn Kalamry hatte ihm gleich am ersten Tag seines Aufenthalts an Bord unmißverständlich klargemacht, daß dieser Raum für ihn tabu war. Statt dessen ging er in die Kombüse und räumte auf. Ungefähr zehn Minuten später kam Kalamry wieder zum
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Vorschein. »Na, hat dir der Spaziergang gefallen?« »Ja, prima«, sagte Roman. Er trocknete sich die Hände ab. »Als ich vorhin zurückkam, sah ich einen Wagen wegfahren. Sie hatten wohl Besuch?« »Nur ein paar hiesige Geschäftsleute, die mir irgendeinen Vorschlag machen wollten«, erwiderte Kalamry leichthin. »Aber ich habe ihnen gesagt, daß ich Urlaub mache.« Roman befand sich in einer peinlichen Lage. Kalamry beantwortete freimütig fast alle seine Fragen, nur wenn Roman Genaueres über sein ›Gewerbe‹, wie er es nannte, in Erfahrung bringen wollte, war er immer seltsam zurückhaltend und wechselte sofort das Thema. Der Besuch der beiden Fremden, soviel hatte Roman der Unterhaltung entnehmen können, obwohl er nur einen Gesprächsanteil davon mitgehört hatte, hing irgendwie mit seiner Anwesenheit auf diesem Schiff zusammen. Aber wenn er Kalamry das vorhielt, bezichtigte er ihn damit indirekt der Lüge und mußte überdies zugeben, daß er das Gespräch heimlich belauscht hatte. Er beschloß, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und sich mit den Auskünften zufriedenzugeben, die Kalamry ihm von sich aus gab. Es wäre töricht gewesen, den besten Freund zu brüskieren, den er je gehabt hatte. Kalamry schien seine Unsicherheit nicht zu bemerken. »Laß den Krempel liegen«, sagte er. »Wir sind heute abend eingeladen – pikfeine Gesellschaft. Am besten, wir gehen in die Stadt und besorgen dir ein paar anständige Klamotten.« »Aber ich habe doch schon drei Anzüge«, wandte Roman ein. »Das ist Freizeitkleidung«, belehrte ihn Kalamry grinsend. »In den Lumpen kannst du dich in der vornehmen Gesellschaft von Alminar nicht sehen lassen. Da wirst du übrigens auch Gelegenheit haben, ein paar dieser Mädchen kennenzulernen, auf die du anscheinend so verrückt bist. Und Kleidung spielt bei solchen Sachen eine wichtige Rolle, glaub mir.« Die Schmerzen hatten während der letzten Wochen ein wenig nachgelassen, aber Haldor gab sich nicht der Täuschung
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hin, daraus auf eine baldige Gesundung zu schließen. Paradon hatte ihm erklärt, daß auch ohne die Schmerzmittel, die er immer noch verweigerte, die ständige Gewöhnung seine Schmerzschwelle allmählich erhöhen und ihm eine gewisse Erleichterung verschaffen würde. Daneben litt er jedoch an fortschreitenden Lähmungserscheinungen, die seine Beine mit jedem Tag spürbar tauber werden ließen. Paradon hatte das vorausgesehen und ihm eine flexible, elektrisch betriebene Gehhilfe angepaßt, die seinen Unterleib umhüllte und es ihm ermöglichte, ohne fremde Hilfe in seinen Gemächern umherzuwandern, die nun zu seinem Gefängnis geworden waren. Schlimmer als die Schmerzen oder die Lähmung war jedoch die wilde Panik, die ihn seit einiger Zeit jede Nacht aus dem Schlaf riß, sein Herz rasen ließ und seinen Verstand an den Rand des Wahnsinns trieb. Immer dann fragte er sich angstvoll, ob der Zerfall seiner Gehirnzellen nun endlich eingesetzt hatte. Ohne den Kopf zu bewegen, der in der Meßsonde steckte, blickte er seitlich zu dem hochgewachsenen, grauhaarigen Heiler auf. »Nun? Gibt es irgendwelche Anzeichen?« Paradon wandte sich von den Monitoren und Skalen ab; sein Gesicht wirkte ernst. »Immer noch die geringfügige Schwankung des Alpha-Rhythmus. Ansonsten ist nichts Definitives feststellbar.« »Und Eure Prognose?« »Die kennt Ihr bereits«, sagte Paradon. »Es kann nicht mehr lange dauern. Ein paar Tage noch, vielleicht eine Woche – warum geht Ihr dieses Risiko ein, anstatt mich sofort handeln zu lassen?« »Muß ich das noch einmal erklären? Folcho hat ein paar armselige Gestalten seinen bekannten Verhörmethoden unterzogen, aber über ihre Hintermänner weiß er im Grunde nicht mehr als vor annähernd zwei Monaten.«' »Immerhin hat es keine neuen Anschläge auf Euch gegeben«, gab Paradon zu bedenken.
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»Vielleicht nur deshalb nicht, weil die Verschwörer darauf warten, daß ich die Macht aus den Händen lege und mich dem Transfer unterziehe.« »Damit setzt Ihr stillschweigend voraus, daß diese Personen von der Existenz des Verfahrens wissen. Dafür gibt es keinen Beweis.« »Einen Beweis nicht, aber ich frage mich langsam, ob wir uns nicht allzu sicher gewähnt haben. Immerhin gibt es eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, die offen auf unser Geheimnis hindeuten – wahrscheinlich sogar so viele, daß interessierte Kreise bei genaueren Nachforschungen der Wahrheit auf die Spur kommen könnten. Läßt man das einmal außer acht, besteht immer noch die Möglichkeit, daß jemand eine unbedachte Äußerung gemacht hat.« »Jemand?« Paradons magerer Körper versteifte sich. »Es gibt nur drei Menschen, die das Geheimnis kennen, und ich – « Haldor lächelte müde. »Und Ihr, mein lieber Paradon, seid die Verschwiegenheit in Person. Das weiß ich sehr wohl«, beschwichtigte er den empörten Patriarchen. »Dann bleiben nur noch Ihr oder Lingard.« »Der es manchmal an der nötigen Diskretion mangeln läßt. Wie Ihr selbst einmal sagtet, gleicht er einem gutmütigen Elefanten, der in einem Porzellanladen herumtrampelt.« »Dennoch habt Ihr ihn zum Regenten gemacht.« »Selbstverständlich. Weil List und Tücke ihm völlig fremd sind. Wem könnte ich sonst so bedingungslos vertrauen – außer Euch, und Ihr tragt schon genug an Eurer Last. Ja, wenn es Folcho gelungen wäre, die Identität der Verschwörer aufzudecken, statt uns ständig nur vage Hinweise zu liefern, die erst auf diesen, dann wieder auf jenen Planeten deuten. Dann könnte ich es getrost Lingard überlassen, unsere Feinde zu vernichten, und mich sofort einem Transfer unterziehen.« »Ich verstehe Eure Bedenken durchaus«, erklärte Paradon. »Aber mir scheint, daß Ihr lieber ein kalkuliertes Risiko eingehen solltet, statt wie bisher weiterzumachen. Meine
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Organisation ist im Gegensatz zu der von Folcho kein direkter Nachrichtendienst, aber sie ist weitaus empfänglicher für die Stimmung im Volk. Und diese Stimmung ist schlecht. Es gehen zahllose Gerüchte über Euren Gesundheitszustand um, und sie werden noch genährt durch die Tatsache, daß Ihr Euch schon so lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt habt.« »Wollt Ihr etwa, daß ich so vor das Volk trete?« fragte Haldor, während der Patriarch ihm den Meßsondenhelm abnahm. »Selbstverständlich nicht. Das wäre katastrophal. Aber mit jedem Moment, um den Ihr die Entscheidung hinausschiebt, kann sich die Lage nur verschlimmern«, sagte Paradon. »Was den Zeitfaktor angeht, bedenkt folgendes. Wenn Ihr Euch heute dem Transfer unterziehen würdet, müßten mindestens vier, wahrscheinlicher aber fünf Wochen verstreichen, ehe Ihr in der Öffentlichkeit auftreten könntet.« Haldor sah nachdenklich zu, wie der Heiler seine Ausrüstungsgegenstände zusammenpackte. Was nützte es, wenn er weiterhin in diesem Zimmer herumsaß, wo er nur die Informationen erhielt, die Folcho als seinen Zwecken dienlich erachtete, und im Ernstfall ohnehin nicht persönlich eingreifen konnte? Hinzu kam die Gewißheit, daß sich sein Gesundheitszustand sowohl physisch als auch psychisch nur verschlechtern konnte und er um einen Transfer nicht herumkam, wenn er nicht den Verstand oder das Leben verlieren wollte. Die Ironie des Ganzen war, daß die Schwierigkeiten längst hätten behoben sein können, wenn er sich kurz nach dem Attentat, als Paradon es ihm empfohlen hatte, dem Transfer unterzogen hätte. Aber damals hatte er nicht sicher sein können, ob die Verschwörer nicht zu einem neuen Schlag, vielleicht sogar zu einem Staatsstreich ausholen würden. Er erkannte, daß es keine Alternative zu dem kalkulierten Risiko gab, das der Heiler vorschlug. Nach der Operation wäre er dann in der Lage, alle über ihn umgehenden Gerüchte Lügen zu strafen und die Maßnahmen gegen die Verschwörer
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selbst in die Hand zu nehmen. »Wie lange werden Eure Vorbereitungen dauern?« fragte er. »Im Höchstfall zwei Tage«, erwiderte der Heiler. »Der am besten geeignete Ableger muß ausgesucht, nach Belphar gebracht und für die Operation vorbereitet werden.« »Also gut«, seufzte Haldor. »Dann wollen wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
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14 Kaum eine Stunde, nachdem die Jacht vor Alminar angelegt hatte, war Sephrano an Bord gekommen, wie gewöhnlich übertrieben auffällig gekleidet und sichtlich versessen darauf, den neuesten Klatsch vom belphargianischen Hof loszuwerden, den er nur wenige Tage zuvor verlassen hatte. »Es kommt alles, was in Alminar Rang und Namen hat, meine liebe Annrith. Dazu noch ein paar namenlose Niemande, die dafür aber um so amüsanter sind«, sagte er grinsend, den winzigen Insektenkopf vorneigend, der auf seinem eckigen, zwei Meter langen Körper thronte. »Aber zuerst steht ein trauter kleiner Imbiß auf dem Programm. Es wird ein gemütliches Plauderstündchen – nur Sie und ich und ein paar besonders gute Freunde – « Obgleich sie alles andere als in festlicher Stimmung war, hatte Annrith dem Drängen ihres Vaters nachgegeben, zusammen mit ihren Gästen an Sephranos Party teilzunehmen. Früher oder später würde sie sich den vornehmen Kreisen der kandarianischen Gesellschaft ohnehin stellen müssen, und diese Gelegenheit schien so gut wie jede andere. Niemand konnte leugnen, daß Sephranos Parties gewöhnlich höchst amüsant waren. Er scheute keine Mühen und Kosten, um sich seinen Ruf zu bewahren, der größte Possenreißer im Imperium zu sein. Er scheute auch keine Schmerzen – wenngleich man zugeben mußte, daß gewöhnlich andere Leute sie zu ertragen hatten. Die Betreffenden fanden das nicht immer so amüsant wie die Zuschauer. Hin und wieder vergaß jemand alle Rücksichtnahme auf die Etikette und zeigte sich unsportlich genug, um eine häßliche Szene zu machen. Aber auf die eine oder andere Art gelang es Sephrano gewöhnlich, die Wogen wieder zu glätten. Die Tatsache, daß er reich genug war, um stattliche Entschädigungen für seine Späße zahlen zu können, war zweifellos eine große Hilfe, um solche unliebsamen Vorfälle zu bereinigen.
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Wie man Sephranos Späße einschätzte, hing nicht zuletzt vom eigenen Standpunkt ab. Annrith bezweifelte, daß seine Parties so gut besucht gewesen wären, wenn nicht mindestens neunundneunzig Prozent seiner Gäste es für höchst unwahrscheinlich gehalten hätten, selbst zur Zielscheibe der allgemeinen Belustigung zu werden. Sephrano selbst hob oft hervor, ein Schauspiel, das so vielen Menschen ein so sündhaft-köstliches Vergnügen bereite, jedoch gleichzeitig relativ harmlos war, sei von seinem praktischen Nutzen her durchaus vertretbar. Machte man sich diesen Standpunkt zu eigen, dann war die Intensität des Vergnügens proportional der Intensität der Schmerzen und Leiden des Opfers. Denn schließlich wurde niemand dabei getötet – zumindest nicht über die Wiederbelebungsfähigkeiten von Sephranos ständig einsatzbereitem Ärztestab hinaus. Abgesehen von einem unglücklichen Zwischenfall. Aber Sephrano hatte die Witwe des Opfers großzügig entschädigt, und die drohende Mordanklage war schnell unter den Teppich gekehrt worden. Manche Späße fanden größeren Anklang als andere. Die erfolgreichsten waren zweifellos jene, welche die sadistischen Triebe des Publikums in hohem Maß ansprachen. Festnahme und Vernehmung durch die ›Geheimpolizei‹ war am beliebtesten. Denn welcher Sterbliche besaß schon ein gänzlich reines Gewissen? Sephrano wurde es nicht müde, sich an den mannigfaltigen, skandalträchtigen Geständnissen zu ergötzen, die selbst dem geachtetsten Bürger durch geschickte Anwendung von physischem und psychischem Druck entlockt werden konnten. Die Zerstörung des kostbarsten Besitztums des Opfers war ebenfalls sehr beliebt. Sephranos Stammgäste schwelgten heute noch in sehnsüchtigen Erinnerungen an die Zeit, als er in der Uniform eines Regierungsbeamten höchstpersönlich einen Trupp von Abbruchexperten angeführt und die Villa eines neureichen Industriemagnaten gesprengt hatte, der seine Behausung unklugerweise nur einen halben Kilometer von Sephranos Residenz entfernt errichtet hatte. Dann gab es
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Späße, die ihre Dynamik aus einer sorgfältig präparierten Situation bezogen: eine frisch vermählte Braut wachte am Morgen ihrer Hochzeitsnacht neben einem vor acht Tagen verreckten Greis auf; oder das Opfer befand sich in einem ›rein zufällig‹ abgesperrten Raum, zusammen mit einer Anzahl Kreaturen, vor denen es eine panische Angst hatte. Skorpione, Schlangen, Spinnen, ja sogar weiße Mäuse, hatten für so manches unterhaltsame Erlebnis gesorgt. An diesem Abend hatten etwa fünfundzwanzig Gäste an dem kleinen Imbiß teilgenommen. Sephrano hatte sie wie üblich mit einer bunten Mischung aus Hoftratsch, boshaften Anspielungen und einer Reihe frei erfundener Geschichten unterhalten, über die selbst Annrith trotz ihrer Niedergeschlagenheit hatte lachen müssen. Ihr Vater, der sich anscheinend eine leichte Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte und bettlägerig war, hatte darauf bestanden, daß sie ohne ihn ausging. Trotz ihrer Besorgnis um ihn hatte sie nachgegeben, weil sie keinen neuen Gerüchten Nahrung geben und sich nicht nachsagen lassen wollte, daß sie zu feige sei, sich nach der Abfuhr durch den Kaiser, den vornehmen Kreisen der kandarianischen Gesellschaft zu stellen. Sephrano besaß Residenzen auf sieben Welten des Imperiums. Hier auf Kandar hatte er eine riesige Villa erbaut, die eigens auf seine besonderen Vergnügungen und die seiner Gäste zugeschnitten war und seinem Ruf, ein Leben in Luxus zu führen, alle Ehre machte. Sie war fast schon ein Märchenschloß, thronte hoch oben auf den Klippen, etwa neun Meilen abseits von Alminar und überblickte eine Bucht mit stillem, kristallklarem Wasser und einen weißen Strand, die über Antigravschächte erreichbar waren, die durch das solide Felsgestein führten. Was in der Villa an Unterhaltung geboten wurde, umfaßte die gesamte Palette denkbarer menschlicher Gelüste: Tanzen, Trinken, Essen, Sex, dazu ein paar Neuheiten wie den Bewußtseinstranszendentaler und den EnzephaloOrgasmusstimulator, der bei der diesjährigen Reichsmesse als
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größter Fortschritt in der Neuro-Sextechnik seit der Erfindung der Pornografie gefeiert worden war. Wie bei solchen Anlässen üblich, trugen die meisten Gäste eine einfache schwarze Augenmaske, die in manchen Fällen kunstvolle Pseudohautgebilde verbarg. Viele davon waren so perfekt, daß sie als Masken nicht erkennbar waren und man sie von echten Gesichtern nicht unterscheiden konnte – es sei denn, man sprühte Lösungsmittel darauf. Diese Pseudohautmasken waren nicht immer nach den besonderen Wünschen ihrer Träger angefertigt, und in einer so großen Menschenmenge war es unvermeidlich, daß die beliebteren Modelle mehrfach auftauchten. Annrith, die nur eine juwelengezierte Augenmaske trug, überraschte es nicht, daß sie sich im Verlauf des Abends mehrmals ihren Spiegelbildern gegenübersah. Obwohl sie wußte, daß diese Gesichtsmasken durchaus als Kompliment an ihre Schönheit und Berühmtheit gewertet werden konnten, beschlich sie jedesmal ein etwas unheimliches Gefühl, wenn sie einer ihrer Doppelgängerinnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Ein anderes Gesicht tauchte ebenfalls mehrfach auf, aber das war Absicht. Sephrano hatte das gesamte männliche Dienstpersonal seiner Villa – und aus einem nachträglichen, verrückten Einfall heraus auch mehrere der weiblichen Bediensteten – mit Pseudohautnachbildungen seines eigenen Gesichts ausstaffiert, so daß die Gäste auf Schritt und Tritt lächelnden Sephranos begegneten, die ihnen Erfrischungen oder diese oder jene Zerstreuung anboten. Annrith vermied es absichtlich, sich irgendeiner Gruppe anzuschließen. Sie schlenderte von Raum zu Raum und beobachtete unbeteiligt die vielen prächtig gekleideten Menschen, an denen sie vorüberkam. Eine Zeitlang hielt sie sich im Ballsaal auf und tanzte mit einem gutaussehenden jungen Edelmann aus Alminar. Seinen Vorschlag, ihre Partnerschaft auf intimere Bereiche auszudehnen, wies sie jedoch höflich zurück. Sozialer Sex war durchaus nichts Unübliches im Imperium, aber Annrith konnte dieser
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gesellschaftlichen Gepflogenheit wenig Reizvolles abgewinnen. Sie war in keiner Weise frigide, aber eine so flüchtige Beziehung schien keine echte Befriedigung zu versprechen. Überdies hatte sie den jungen Mann stark im Verdacht, ihr den Vorschlag weniger deshalb gemacht zu haben, weil er sie wirklich begehrt, sondern weil er vor seinen Freunden damit prahlen wollte, jene Frau besessen zu haben, die beinahe Gemahlin des Kaisers geworden wäre. Beinahe. Der Gedanke entfachte ihren Kummer über Haldors Ablehnung aufs neue. Ihr fielen die langen Nächte wieder ein, in denen sie wachgelegen und sich verständnislos gefragt hatte, warum diese Beziehung, die so wundervoll begonnen hatte, in die Brüche ging. Ihr Vater hatte sie zwar immer wieder zu besänftigen versucht, aber es war ihr unmöglich gewesen, mit ihm über die Probleme zu reden, die sie quälten. Als sie den Ballsaal verließ, spürte sie wieder jenes Gefühl der Leere und des Alleinseins, das sie von dem fröhlichen Treiben ringsum absonderte. Ein paar Minuten sah sie zwei Ringkämpfern auf einem der Patios zu, aber die streng formalisierten Bewegungen der zwei eingeölten, muskelbepackten Körper vermochten ihre Aufmerksamkeit nicht lange zu fesseln. Als sie sich umdrehte, um weiterzugehen, sah sie sich unverhofft ihrem Gastgeber gegenüber. »Annrith, meine Teuerste! Habe ich es doch gewußt. Diese Haltung und Grazie sind unverwechselbar!« Sephranos winziger Kopf auf dem stockdünnen Hals schien vor Entzücken regelrecht zu vibrieren. »Ich hoffe, Sie unterhalten sich gut?« »Ihre Villa ist einfach wundervoll, Sephrano«, erwiderte sie. »Sie sind zu beneiden.« »Wie freundlich von Ihnen!« Er nahm sie beim Arm. »Aber ich fürchte, ich habe Sie ein wenig vernachlässigt. Kommen Sie mit und trinken Sie ein Glas Wein mit mir.« Er führte sie grinsend und unaufhörlich schwatzend durch die Räumlichkeiten. Einmal blieb er kurz stehen, um einem
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Diener Anweisungen zu erteilen. »Na, hier scheint ja nicht viel los zu sein«, bemerkte Annrith, als sie sich an einen der vielen freien Tische in einem fast menschenleeren Raum setzten. In der Mitte stand unübersehbar eine riesige, derzeit ausgeschaltete Stereoprojektionskugel. »Im Moment nicht«, gab Sephrano zu, während ein Kellner ihnen eine Weinflasche in einem goldenen Kühlbehälter servierte. »Aber nachher wird es hier eng wie in einer Sardinenbüchse, und die Leute werden sich sogar um die Stehplätze raufen. Außer denen, die entweder volltrunken sind oder irgendwelchen Gelüsten nachgehen, die sie vollständig in Anspruch nehmen, läßt sich niemand die Sensation des Abends entgehen. Und diesmal habe ich meinen Gästen etwas ganz Besonderes versprochen.« Annrith mied seinen leidenschaftlichen, brennenden Blick und sah unwillkürlich zu der leeren Bildschirmkugel. Von plötzlicher Abscheu erfüllt, beschloß sie, sich nicht der sadistischen Menge anzuschließen, die nachher in diesem Raum zusammenkam, um sich an den Leiden von Sephranos Opfer, wer immer das sein mochte, zu ergötzen. »Im Grunde ist die Sache ganz harmlos«, sagte er, als spüre er ihre Abscheu. »Ein bedeutender Psychologe ist sogar der Ansicht, diese Form des Voyeurismus sei vorzüglich geeignet, Frustrationen und Spannungen abzubauen.« Sie nahm das Kristallglas voll perlenden Weins von ihm entgegen, ohne auf seine Rechtfertigung einzugehen. Es war nur zu offensichtlich, daß ein Kommentar ihrerseits über seine Lebensweise oder seinen sonderbaren Humor Sephrano wenig beeindrucken würde. Sie trank einen Schluck. Der Wein war ausgezeichnet, aromatisch und schwer, eine Spur süßlich und besaß jenen kaum spürbaren herben Nachgeschmack, für den die Winzer der Mietroveloren zu Recht berühmt waren. Sie beglückwünschte Sephrano zu seinem guten Geschmack. »Ich danke Ihnen, meine Teuerste. Es freut mich, daß er Ihnen zusagt«, entgegnete er und füllte ihr Glas nach. »Aber
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wir sprachen gerade über die Villa. Ich muß Ihnen unbedingt alles zeigen, solange Sie noch hier sind. Besonders die Grotte ist sehr sehenswert.« »Die Grotte?« Sephrano klatschte übertrieben heftig in die Hände, um seinem scheinbaren Erstaunen Ausdruck zu verleihen. »Sie haben noch nichts von ihr gehört? Dann muß ich Sie auf der Stelle hinführen«, sagte er eifrig. »Ich garantiere Ihnen, daß Sie im ganzen Imperium noch nichts Vergleichbares gesehen haben. Für mich persönlich ist es immer wieder ein einzigartiges, geradezu ehrfurchtgebietendes Erlebnis.« Sie nahm die Einladung teils deshalb an, weil sie hoffte, ihm bei dieser Gelegenheit Genaueres über die Ereignisse auf Belphar entlocken zu können, teils aber auch, wie sie sich eingestehen mußte, weil sie neugierig war, was für ein Erlebnis das sein mochte, das eine Kreatur wie Sephrano als ›ehrfurchtgebietend‹ bezeichnete. Sie gingen Arm in Arm über einen Innenhof, wo ein Streichorchester, in traditionelle Gewänder gehüllt, wilden, kreisenden Balati spielte, eine Musik mit sonderbaren Viertelton-Intervallen und einer seltsam anmutenden Akkordstruktur. Eine unscheinbare Tür in der gegenüberliegenden Wand erwies sich als Eingang zu einem Aufzugsschacht. »Höhlen und Grotten haben mich schon immer fasziniert«, erklärte Sephrano, als sie auf dem dämpfenden AG-Feld langsam abwärts schwebten. »Mein Psychologe behauptet, dieses Interesse habe etwas mit dem Wunsch zu tun, in den Mutterleib zurückzukehren, was durchaus richtig sein mag. In der Tat ist es ein sehr beruhigendes, zugleich aber auch recht beängstigendes Erlebnis, wenn man sich von Millionen Tonnen soliden Felsgesteins umschlossen weiß und nur durch diesen schmalen Schacht, einer Nabelschnur gleich, mit der Außenwelt verbunden ist. Als der Architekt mir berichtete, daß seine Instrumente eine natürliche kleine Höhle hier unten entdeckt hatten, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen,
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sie nach meinen Vorstellungen zu gestalten.« Sie erreichten den Schachtboden und traten hinaus an das Ufer eines unterirdischen, kreisförmigen Sees von etwa hundert Metern Durchmesser. Das Wasser wurde von einer unterseeischen Lichtquelle beleuchtet und wechselte fortlaufend die Farbe. Der leuchtende Goldton wich einem Tieforange, ließ den See wie geschmolzene Lava erglühen, dann ging es weiter durch das Spektrum zu einem satten Purpur. Die ständig wechselnde, kaleidoskopische Vielfalt war von einer geradezu hypnotischen Faszination und erzeugte, vielleicht noch verstärkt durch die Wirkung des Weins, ein seltsames Gefühl von Unbeschwertheit und Wohlbefinden in Annrith. Sie spürte ein angenehmes Prickeln, als würden ihr Körper und Geist von zahllosen winzigen Freudenexplosionen durchflutet, und sie hörte Sephrano nur mit halbem Ohr zu, der gerade erklärte, wie die natürliche Höhle mittels einer kontrollierten Atomexplosion vergrößert worden war. Das Wasser machte etwa ein Drittel des Gesamtvolumens dieser Kugel aus, die man in den gewachsenen Fels gesprengt hatte. Annrith stockte der Atem, als sie aufschaute und das wundervolle Schauspiel an der kuppelförmigen Höhlendecke erblickte. Die Explosionshitze hatte die natürliche Gesteinsschicht geschmolzen und Kraftwirbel eine glattpolierte, kugelförmige Oberfläche geschaffen, auf der leuchtende, psychedelische Farben schimmerten. Dieses Wunderwerk war in einer einzigen Mikrosekunde während der größten Hitzeentfaltung entstanden und hing nun dort, für alle Zeiten erstarrt. Zudem schienen die Farben zu tanzen, was durch Reflexionen des ständig wechselnden Lichtscheins unten vom See hervorgerufen wurde. »Die perfekte Zufallskunst«, bemerkte Sephrano. »Man könnte die Explosion hundert-, ja tausendmal wiederholen, ohne dasselbe Muster zu erhalten. Mit dem optischen Effekt bin ich recht zufrieden, aber ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, welche akustische Untermalung am besten zu so einem Schauspiel paßt. Vom rein ästhetischen Standpunkt
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würde ich meinen, daß der Schalleffekt des Wassers die größtmögliche Harmonie herstellen würde, aber das scheint mir eine allzu puristische Sichtweise zu sein. Auch entstehen durch die Kuppelformen gewisse akustische Schwierigkeiten. Orchestermusik beispielsweise schallt zwischen Kuppel und Wasseroberfläche hin und her und erreicht das Ohr des Zuhörers als totales Chaos. Derselbe Effekt tritt auch bei Soloinstrumenten wie dem Piano und der Gitarre auf. Mir schien, daß hier etwas sehr Einfaches und Grundlegendes erforderlich wäre, das aber zugleich musikalisch und vielgestaltig sein müßte – « Seit Betreten der Grotte hatte Annrith ein Klangschema knapp an der Schwelle zur Hörbarkeit wahrgenommen. Als Sephrano nun an ein in die Felswand eingelassenes Kontrollpult trat und eine Einstellung vornahm, wurde der Klang lauter. Sie konzentrierte sich darauf und konnte drei reine, kristallklare Töne unterscheiden, die in unterschiedlichen Zeitabständen aufeinander folgten. Sie erzeugten ein unheimlich anmutendes, schwebendes Klangbild, das sich ständig wiederholte, ohne jemals zur Vollendung zu kommen. »Ein verfünffachtes Arpeggio«, beantwortete Sephrano ihre unausgesprochene Frage. »Wie Sie vermutlich wissen, gibt es nur drei vermehrbare Grundakkorde, und wenn man so ein Arpeggio chromatisch aufsteigen läßt, wiederholen sich dieselben Noten bei jedem vierten Halbton. Die verwendeten Noten sind reine elektronische Töne ohne Vibrato oder Obertöne. Das Gesamtklangbild ergibt sich durch die akustischen Eigenschaften der Kuppel.« Annrith war zutiefst beeindruckt, beinahe überwältigt. Ihr ganzes Wesen schien in Einklang mit dieser phantastischen Umgebung zu pulsieren. Sie hatte Sephrano immer für einen oberflächlichen, oft auch bösartigen Dilettanten gehalten, aber durch die Erschaffung dieser Grotte hatte er sich zweifellos eine Art künstlerische Unsterblichkeit verdient. »Wenn man das Erlebnis voll auskosten will, empfiehlt es
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sich, buchstäblich hineinzutauchen«, bemerkte Sephrano. »Der See hat eine ständige Temperatur von 24 Grad.« Annrith starrte auf das Wasser, auf diese roten, grünen und blauen Juwelen, die ihren Blick fesselten, und vernahm ständig wiederkehrenden, lockenden Sirenengesang des augmentierten Dreiklangs, der immer tiefer in ihr Bewußtsein drang. Sie spürte ein unwiderstehliches Verlangen, sich in diese schillernden Tiefen zu stürzen und ihren Körper der sanften Umarmung des Wassers auszusetzen. »Ich glaube, das würde ich gern einmal ausprobieren«, meinte sie verträumt. »Unbedingt, meine liebe Annrith, unbedingt.« Sephrano öffnete eine Tür unweit des Kontrollpults. »Hier finden Sie Umkleideräume und alle nötigen Badeutensilien. Wenn Sie es wünschen, bleibe ich selbstverständlich, aber ich glaube, Sie würden die Anwesenheit einer anderen Person als störend empfinden. Man kostet das Erlebnis am besten allein aus, zumindest beim erstenmal.« Das erschien Annrith einleuchtend. »Ja, das glaube ich auch. Überdies dürfen Sie Ihre Gäste meinetwegen nicht vernachlässigen. Gehen Sie nur. Ich sehe Sie dann später und erzähle Ihnen, wie ich Ihr Kunstwerk genossen habe.« Kaum daß Sephrano im Aufzugsschacht verschwunden war, eilte sie in den Umkleideraum. Sie konnte es kaum abwarten, sich ihrer Kleidung zu entledigen, und war vor lauter Eifer ganz ungeschickt. Ob nun die Wirkung von Sephranos Wein oder die fremdartige, zauberhafte Umgebung dieser Grotte daran schuld waren, jedenfalls fühlte sie sich von den Sorgen, die sie während der vergangenen Monate bedrückt hatten, gänzlich befreit. Im Moment zählte nichts anderes als die angenehmen Empfindungen ihres eigenen Körpers, und sie brannte darauf, vollends in einen Zustand totaler Sinnlichkeit hineinzutauchen und ihren Verstand ganz abzuschalten. Sie verließ den Umkleideraum und trat ans Seeufer. Die nackte Haut ihres Körpers schien so lichtempfindlich geworden zu sein, daß sie glaubte, das Farbenspiel in der
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Grotte leibhaftig spüren zu können: ein kühles elektrisches Prickeln des Blaus, ein sanftes Streicheln des Golds, eine feurige lustvolle Hitze des Rots, die ihr Blut rauschen ließ. Und immerzu die hallenden musikalischen Töne, die sie in reinstes Entzücken versetzten. Zeit verging – und verging. Sie schien eine Ewigkeit dort zu stehen, kostete das Wonnegefühl aus, an so einem Ort zu sein, geborgen, allein, aber trotzdem irgendwie in Einklang mit etwas Größerem – vielleicht dem Planeten, unter dessen Oberfläche sie sich befand. Hatte Sephrano nicht etwas von einer Rückkehr in den Mutterleib gesagt? Aber der Übergang war noch nicht vollständig. Da war das wartende Wasser, das sie rief. Sie tauchte mit einem graziösen Kopfsprung hinein und seufzte vor Entzücken, als die Flüssigkeit sie umarmte. Schwerelos flog sie durch den warmen See, den Klang der emporsteigenden Arpeggios noch in den Ohren, die ineinanderfließenden, wirbelnden Farben in den Augen. Sie wurde eins mit ihrer Umgebung, ging so vollständig darin auf, daß sie ein nie für möglich gehaltenes Gefühl der Entspannung und des Freiseins erlebte. Schließlich kam sie wieder an die Oberfläche, drehte sich auf den Rücken und streckte Arme und Beine aus und ließ sich treiben. In dieser weichen Wiege liegend, betrachtete sie das grandiose Farbenspiel an der Kuppeldecke. Dies war der Anfang und das Ende allen Lebens, das Alpha und Omega, jenseits dessen nichts zählte – jetzt und immer! Der Zauber fand schließlich ein Ende, als ein Aufklatschen im Wasser ertönte. Sie war nicht mehr allein. Jemand war in den See gesprungen. Verwirrt und neugierig drehte sie sich auf den Bauch und tauchte erneut in die sich ständig verändernde, kristallene Tiefe hinab. Es war ein Mann. Er schwamm mit kraftvollen Stößen seiner muskulösen Gliedmaßen unter Wasser auf das andere Ufer zu. Sie brannte plötzlich darauf herauszufinden, welcher
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von Sephranos Gästen auf die oben erhältlichen Vergnügungen verzichtet hatte, um den einsamen Frieden dieser Grotte zu suchen. Der Mann wußte anscheinend nichts von ihrer Anwesenheit und bemerkte auch nicht, daß sie ihm durch den ruhelosen, flüssigen Regenbogen folgte, in dem sie wie zwei Unterwasservögel dahinflogen. Endlich, als ihre Lungen schon zu platzen drohten, tauchte er auf. Sie durchstieß die Wasseroberfläche nur wenige Meter hinter ihm und sah seinen klatschnassen, gelbbraunen Haarschopf, der plötzlich überrascht hochruckte, als er ihre Anwesenheit zu bemerken schien. Er drehte sich um und trat Wasser. Annrith, ohnehin schon außer Atem, keuchte vor Überraschung, als sie sein Gesicht sah. Es war eindeutig keine Pseudohautmaske. Sie kannte jeden einzelnen Zug darin zu genau, als daß eine auch noch so perfekte Nachahmung sie hätte täuschen können. Sie akzeptierte seine Gegenwart als Teil des Zaubers der Grotte, als Vollendung des Wunders, das diese Umgebung schuf. Dies hatte noch gefehlt, und jetzt war es da. Für Logik oder Zweifel war jetzt nicht die Zeit. Dies war der Augenblick totaler Sinnlichkeit, zu kostbar und selten, um ihn durch skeptische Fragen zu zerstören. »Haldor!« rief sie atemlos, sich durch das schillernde Wasser auf ihn zutreiben lassend, während das Verlangen ihren Körper in Erwartung der kommenden Leidenschaft erglühen ließ. Ungefähr eine Stunde später fand der süße Wahn ein Ende. Sie lag an seiner Seite auf der kreisförmigen Couch im Umkleideraum, und ihr Körper glühte noch von den Nachwirkungen der Leidenschaft. Sich halb aufrichtend, betrachtete sie sein schlafendes, entspanntes Gesicht. Es war das von Haldor, und doch – »Wer bist du?« fragte sie unvermittelt. Er schlug die Augen auf. Sie waren golden wie die von Haldor, aber irgendwie klarer, ohne jene kaum merkliche Traurigkeit, die sie darin entdeckt hatte. Das Gesicht war
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genau dasselbe – aber es wirkte jünger und irgendwie unberührter. »Ich heiße Roman.« Er hatte eine langsame und musikalische Sprechweise, die sie sofort erkannte. Er war ein Bauernjunge aus den Mietroveloren. »Und wie heißt du?« Er meinte es völlig ernst. Er wußte wirklich nicht, wer sie war. Sie hingegen wußte mit plötzlicher unerträglicher Gewißheit, daß sein Auftauchen hier an diesem zurückgezogenen Ort und zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war. Sephranos Spitzel mußten lange und überall gesucht haben, um ein Gesicht zu finden, das die Illusion vervollständigte – das sie in die Falle lockte. Sie ließ den Blick über die ornamentierte Zimmerdecke schweifen und suchte nach den versteckten Stereokameras, die sich dort befinden mußten. Die Kameras – und oben in der Villa jene gewaltige Projektionskugel, um die sich Sephranos Gäste in diesem Moment zu Hunderten scharten. Zweifellos hatten sie das Schauspiel ihrer Paarung mit diesem Bauernjungen weidlich genossen und sich an der Erniedrigung jener Frau ergötzt, die beinahe Kaiserin der Dreizehn Welten geworden war. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Sephrano die Sache von Anfang an geplant hatte. Dem Wein hatte er ein Aphrodisiakum beigemischt und irgendeine andere Droge, die ihren Realitätssinn schmälern sollte. Dann hatte er sie in diese Grotte gelockt, wo die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit ohnehin schon ziemlich schmal war, und hier hatte sie wunschgemäß auf die vorprogrammierten Reize reagiert. Der größte Possenreißer im Imperium hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Sie stand auf. Sie konnte die Blicke der Zuschauer spüren, die jetzt mit lüsternen Augen ihren nackten Körper musterten, und sie fühlte sich angeekelt und beschmutzt. »Geh noch nicht!« Er richtete sich auf und sah sie bittend an. Sein Wunsch, diese Beziehung nicht so schnell enden zu lassen, war nur zu offensichtlich. Er hatte eindeutig nicht die
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geringste Ahnung, daß man ihn nur als Werkzeug benutzt hatte. Aber sie unterdrückte den Anflug von Mitleid für ihn und führte sich vor Augen, wie sehr sie selbst erniedrigt worden war. Sie würde sich nur noch lächerlicher machen, wenn sie diesem Bauernjungen gegenüber irgendeine Gefühlsregung zeigte. Sie ignorierte ihn und begann sich anzuziehen. Er stand auf. »Aber nach dem, was geschehen ist – « Sie starrte ihn an, was ihn anscheinend aus einem wiederbelebten Schamgefühl heraus veranlaßte, sein Geschlecht mit den Händen zu bedecken. Er war nur ein Junge, fast noch ein Kind, und trotzdem mußte sie ihm weh tun. Ihr blieb nichts anderes übrig, wenn sie wenigstens mit einem Anschein von Würde aus dieser Situation hervorgehen wollte. Sie ließ ihr Gesicht zu einer verächtlichen hochmütigen Maske erstarren und sagte scharf: »Nachdem was geschehen ist? Ein bißchen Partysex?« »Es muß dir mehr bedeutet haben«, erwiderte er ruhig. Sie haßte sich wegen des Schmerzes, den sie in seinem Gesicht sah. »Meine Götter, bist du vielleicht naiv, Kleiner!« höhnte sie, weiterhin die Hochmütige spielend. »Was du da sagst, ist ja sehr schmeichelhaft für mich, bloß habe ich das Gefühl, du verwechselst Spiel und Ernst. Man hat mir wiederholt bestätigt, daß ich ziemlich gut im Bett bin.« Bestrebt, seinen vorwurfsvollen Blicken zu entfliehen, ging sie eilig zum Aufzug.
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15 Roman zog sich sehr langsam an. Er war wie vor den Kopf geschlagen von der plötzlichen Kälte, mit der sie ihn zurückgewiesen hatte. Ein bißchen Partysex, hatte sie gesagt. Obgleich Kalamry angedeutet hatte, daß solche kurzlebigen Liebesaffären in diesen Kreisen gang und gäbe waren, hatten ihn die Worte tief verletzt. Selbstverständlich kam es auch in Hispar zu außerehelichen intimen Beziehungen, aber selbst bei den flüchtigsten gab es gewiß noch einige menschliche Wärme. Aber hier – eine beiläufige Paarung zwischen zwei Personen, die einander so gleichgültig waren, daß sie sich nicht einmal beim Namen kannten? So ein Verhalten war vielleicht charakteristisch für Tiere, aber für zivilisierte Menschen – War sie also ein Tier, diese wunderschöne Frau, die sich ihm so bedingungslos hingegeben hatte? Trotz seines Grolls brachte er es nicht fertig, so über sie zu denken. Selbst in der Glut ihrer Leidenschaft war sie noch so zärtlich gewesen, daß sie mehr als rein sinnliche Befriedigung aus diesem Zusammensein gezogen haben mußte. Zugegeben, diese Begegnung war für ihn das erste Liebeserlebnis gewesen und mochte ihn deshalb wesentlich stärker und nachhaltiger beeinflußt haben. Trotzdem konnte er nicht glauben, sie sei gefühlsmäßig so unbeteiligt gewesen, daß sie es fertigbrachte, auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben zu verschwinden. Sein Schmerz wich allmählich zunehmender Entschlossenheit. Er durfte sie nicht einfach gehen lassen. Er mußte wenigstens den Versuch machen, sie zurückzugewinnen. Sie zurückgewinnen, dachte er mit einem plötzlichen Anflug von Selbstverachtung. Als ob sie ihm jemals gehört hätte. Diese Frau war nur ein flüchtiger Traum gewesen, eine Zauberfee, die sich in seinen Armen aufgelöst, als er sie zu fassen und festzuhalten versucht hatte. Vielleicht liebte er weniger sie, als vielmehr die Vorstellung, die er sich von ihr machte, und die ungeahnten Gefühle und
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Empfindungen, die sie in ihm erweckt hatte. Trotz ihrer höhnischen Worte wollte er nicht glauben, daß ihre Beziehung sie nicht ähnlich nachhaltig beeindruckt hatte. Er mußte sie finden. Wenn sie ihn dann erneut abwies, würde er seinen Irrtum eingestehen müssen, aber ehe das nicht geschah, kam er von seiner Sehnsucht nicht los. Er schwebte durch den Antigrav-Aufzugsschacht hinauf zur Villa und überlegte, was er zu ihr sagen sollte. Alle Worte, die ihm in den Sinn kamen, erschienen ihm unangemessen. Vor allem durfte er sie nicht bitten oder gar anflehen. Er spürte, daß eine Frau wie sie nur Verachtung für so ein Verhalten übrig haben würde. Aber wie sollte er diese ungewohnte Situation anpacken, die so grundverschieden war von den überschaubaren, konkreten Problemen seines Lebens in Hispar? Er war noch zu keinem Entschluß gekommen, als er aus dem Aufzug auf den hellerleuchteten Hof hinaustrat, wo eine prächtig gekleidete Menschenmenge zu kreischender Orchestermusik tanzte. Er wurde plötzlich unsicher, als er sich in dieser Welt wiederfand, deren Existenz er fast vergessen hatte. In der zauberhaften Abgeschiedenheit der Grotte waren sie beide auf ihr grundlegendes Wesen reduziert oder veredelt worden: ein Mann und eine Frau. Hier oben, mitten in diesem geselligen Treiben wurde er wieder daran erinnert, daß er nur ein unwissender Bauernjunge war, dem die nötige Wortgewandtheit und Erfahrung im Umgang mit diesen Menschen fehlte. Und sie – er hatte keine Ahnung, wer oder was sie war, aber ihrer kostbaren Kleidung und ihrer Schönheit nach mochte sie die Frau eines reichen Kaufmanns oder gar eines Edelmanns sein. Verwirrt und in diese verunsichernden Gedanken verstrickt, zwängte er sich an der tanzenden Menge vorbei und ging durch einen Bogengang, der in einen großen Saal führte. Seltsame, bunte Gemälde hingen an den hohen weißen Wänden. Er blieb unsicher im Eingang stehen und forschte in den Gesichtern der Leute, die an den vielen Tischen saßen,
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oder an dem langen Büfett standen, das eine ganze Seitenwand einnahm. So viele fremde Gesichter. Aber das, welches er suchte, war nicht darunter. Er versuchte, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, und zwang sich, den Saal zu durchqueren, um zum nächsten zu gelangen. Hier war die Beleuchtung gedämpft, und aus verborgenen Lautsprechern drang sanfte, sinnliche Musik. Der Fußboden war mit Teppichen ausgelegt, in die man bis zu den Knöcheln einsank, und das Mobiliar bestand im wesentlichen aus langen, niedrigen Polsterliegen, von denen die meisten belegt waren. Die Paare, die sich darauf tummelten, waren zu sehr mit ihrem Vergnügen beschäftigt, als daß sie sein Vorbeigehen bemerkt hätten. Partysex. Die Paare auf den Liegen wurden ganz offensichtlich von dem Geschehen in der riesigen Stereoprojektionskugel angespornt, die unübersehbar mitten im Raum stand. Die fünf Personen darin, geradezu grotesk wirkend mit ihren ins Überdimensionale vergrößerten Körpern, vollzogen mit der Präzision und Unermüdlichkeit von Maschinen eine Serie von ständig variierenden Geschlechtsakten. Der Anblick dieses öffentlich zur Schau gestellten verwerflichen Tuns erschütterte Romans bäuerliche Moralvorstellungen. Angewidert wandte er die Augen ab und stolperte hastig auf die helle Türfüllung am anderen Ende des Saals zu. Als er sie erreichte, war er schweißgebadet und spürte einen Würgreiz in der Kehle. Er stolperte in den hellen Saal. Vor ihm stand die Frau, die er suchte, gerade so, als hätte sie dort auf ihn gewartet. »Na, mein Hübscher, du willst doch nicht schon gehen?« Das perfekte Gesicht, das er vor der Episode in der Grotte noch gut in Erinnerung hatte, lächelte ihn an. »Weißt du, du kannst noch viel mehr Spaß haben. Warum kommst du nicht mit uns?« Uns? Vor seinen Augen verschwamm alles, und er fragte sich verwirrt, ob er vielleicht träumte. Vor ihm standen zwei
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Frauen, und beide hatten ihr Gesicht. Ihr Gesicht, ja – aber nichts, was ihrem perfekten Körper auch nur annähernd gleichkam. Die eine, die ihn angesprochen hatte, trug ein langes rosafarbenes Abendkleid aus einem hauchdünnen Stoff, das ihre plumpe, aus den Fugen geratene Figur nur zu deutlich erkennen ließ. Die andere war hochgewachsen, fast einen halben Kopf größer als er, und mit einem metallisch-grünen Hosenanzug bekleidet, der eng an ihrem klapperdürren Körper anlag. Letztere trat jetzt vor ihn und streckte eine knochige Hand aus, mit der sie ihn aufdringlich streichelte. »Komm mit, mein Hübscher«, forderte sie ihn auf. Ihre Stimme klang atemlos, und ihre glasigen Augen zeugten von einer Mischung aus Wollust und Trunkenheit. »Wenn du nicht mehr kannst – ich habe noch ein halbes Dutzend Hormonkapseln übrig.« Er trat zurück und fegte die Hand beiseite, die ihn allzu eifrig befühlte. »Brauchst doch nicht gleich grob zu werden!« kreischte die Dürre. »Schließlich sind wir hier auf einer Party.« Sie wandte sich ihrer Begleiterin zu. »Komm, Maezel, wir suchen uns einen richtigen Mann.« Verwirrt sah Roman dem ungleichen Gespann nach. Die eine watschelte unbeholfen, die andere stolzierte in der wiegenden Gangart eines Vogels davon. Beide hatten ihr Gesicht. Als er sich von dem Schock erholt hatte, fiel ihm die Erklärung dafür ein. Kalamry hatte ihm einiges über die Gepflogenheit, Pseudohautmasken zu tragen, erzählt. Wer es sich leisten konnte, ließ sich seine Maske von einem hervorragenden Künstler anfertigen. Daneben gab es jedoch einen blühenden Handel mit gebrauchsfertigen Massenprodukten, so daß jede Frau, der es beliebte, sich der Welt mit einem Gesicht präsentieren konnte, das dem gerade gängigen Schönheitsideal entsprach. Und ihr Gesicht? Er begegnete ihm ein dutzendmal, als er durch die überfüllten, lauten Räume der Villa wanderte.
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Jedesmal näherte er sich der Frau hoffnungsvoll, und jedesmal wurde die Illusion durch eine geringfügige Abweichung in der Gestik, Körperhaltung, Figur oder des Tonfalls zerstört. Bei seiner Suche fielen ihm noch andere wiederholt auftretende Gesichter auf: eine Albino-Schönheit, ein flammender Rotschopf mit kecken, herausfordernden Gesichtszügen und eine niedliche Blondine mit einem Babygesicht und einer scheinbar ständig gerümpften Nase. Seine Hoffnungslosigkeit verstärkte sich allmählich, und er fragte sich, ob es noch Sinn hatte, die Suche fortzusetzen. Wenn die Frau, die er in der Grotte geliebt hatte, ebenfalls eine dieser Maskenträgerinnen gewesen war, dann suchte er ein Hirngespinst, eine Kombination aus Gesicht, Körper und Stimme, die nicht mehr existierte. Niedergeschlagen und überzeugt, sich durch sein Unwissen und seine mangelnde Erfahrung zum Narren gemacht zu haben, trat er schließlich auf eine stille Terrasse hinaus, die den Blick auf das mondbeschienene Meer freigab. An einem Tisch saßen zwei Männer, die sich angeregt unterhielten, aber sofort verstummten, als sie Roman erblickten. »Wie recht Sie haben, mein lieber Kalamry. Wenn man ihn leibhaftig sieht, ist sie sogar noch augenfälliger!« sagte der hochgewachsene Mann in dem geblümten Gewand und führte mit einer merkwürdig zappeligen Bewegung seine blasse Hand an die Kehle. Kalamry nickte. Sein Gesicht war rot von Alkoholgenuß oder anderen Rauschmitteln, und seine leicht vorstehenden Augen wirkten glasig. »Das sagte ich Ihnen ja, nicht?« Er winkte Roman heran. »Komm her und begrüß deinen Gastgeber.« Roman ging auf den Tisch zu. Der prüfende Blick des großen Mannes machte ihn unsicher. »Das ist Lord Sephrano von Alminar«, stellte Kalamry vor. »Mylord, es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«, sagte Roman. »Die Stimme ebenfalls, wenn man von dem Akzent
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absieht!« Sephrano klatschte entzückt in die Hände. »Wirklich, Kalamry, das ist unbezahlbar!« Roman spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln vor Ärger verkrampften. »Findet Ihr meinen Akzent amüsant?« »Und dieselbe Arroganz«, kicherte Sephrano. »Ich weiß selbst nicht, warum ich es so erstaunlich finde, aber man trifft die echte unberührte Ware so selten an, daß man darüber leicht die Macht der angeborenen Eigenschaften vergißt.« Roman spürte seinen Groll wachsen. Sephrano behandelte ihn, als habe er sich durch irgend etwas zum Gespött gemacht. »Ich habe den Eindruck, daß ich hier störe, Kalamry«, sagte er steif. »Ich ziehe mich zurück, damit Sie Ihre Unterhaltung fortsetzen können.« »Aber nein, bleiben Sie doch!« Sephrano stand auf und sah lächelnd zu Roman herab, den dünnen, insektenhaften Körper leicht vorgebeugt. »Setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas mit uns. Sie müssen mir erzählen, wie Ihnen meine Party gefällt.« Roman gehorchte. Es wäre mehr als unhöflich gewesen, eine Einladung seines Gastgebers abzulehnen. Sephrano nahm eine lange grüne Flasche aus dem Kühlbehälter auf dem Tisch. »Sie müssen unbedingt diesen Wein kosten. Man stellt ihn aus Trauben her, die in meinen Ländereien in Astraga wachsen. Der kalkhaltige Boden dort verleiht ihnen einen bitter-süßlichen Geschmack, der selbst beim Kaiser großen Anklang findet. Ich bin sehr gespannt auf Ihr Urteil.« Als er das langstielige Glas in die Hand nahm und von der gekühlten, goldfarbenen Flüssigkeit trank, spürte Roman erneut, daß Sephranos blasse Augen ihn beobachteten. Der Wein war mild verglichen mit dem herben Rotwein von Hispar und mit winzigen Luftblasen durchsetzt. Aber die Milde mochte trügerisch sein, dachte er, als sich eine brennende, jedoch angenehme Wärme in seinem Magen ausbreitete. So einen Wein genoß man vorzugsweise in Maßen.
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»Nun?« Sephrano schaute ihn fragend an, ein Lächeln auf dem langen Gesicht. »Ein sehr schmackhaftes Getränk«, erwiderte Roman zurückhaltend. Er wußte, daß seine mangelnde Erfahrung ihn leicht der Lächerlichkeit preisgeben konnte. »Sie könnten eine Vorliebe dafür entwickeln, nicht wahr?« »Mylord, Ihr macht Euch über mich lustig«, sagte Roman. »Kalamry muß Euch von meiner Herkunft unterrichtet haben. Da, wo ich herkomme, haben wir weder die Zeit noch die Mittel, um teure Weine zu kosten.« »Was Ihr Verhalten nur um so erstaunlicher macht«, bemerkte Sephrano. »Sagen Sie mir doch, wie Sie den Abend verbracht haben. Haben Sie vielleicht amüsante Menschen kennengelernt? Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie sich gelangweilt hätten.« Roman zögerte. Selbst wenn Sephrano ihn wirklich nicht zum Narren hielt, würde er seiner mangelnden Erfahrung wegen bestimmt irgend etwas sagen, das ihn dumm dastehen ließ. Im übrigen, welches Interesse konnte ein Mensch wie Sephrano an seiner Meinung haben? Die Peinlichkeit einer Entgegnung blieb ihm erspart, denn ein Diener kam auf die Terrasse, sagte etwas zu ihrem Gastgeber und entfernte sich dann wieder. Sephrano wandte sich Kalamry zu und zuckte nervös mit seinen langen knochigen Fingern. »Anscheinend muß ich aber auch alles selbst machen. Ich muß Sie verlassen.« Er stand auf. »Ich glaube, Sie und Ihr Begleiter täten gut daran, bald zu gehen. Sie haben gute Arbeit geleistet, Kalamry. Der Kristall dürfte innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf Belphar sein. Ich muß allerdings gestehen, daß ich es für klüger hielte, wenn Folcho keinen Gebrauch davon machen und sich eine Weile gedulden würde. Ich bin sicher, daß die Augenzeugenberichte über das heutige Geschehen seinen Zwecken weitaus dienlicher sein werden. Die Leute pflegen bei Skandalgeschichten eine blühende Phantasie zu entwickeln und allerlei Neues hinzuzudichten. Ich bin überzeugt, daß aus
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Ihrem jungen Freund am Ende mindestens ein Dutzend lüsterne Seeleute geworden sein werden.« Roman wartete, bis ihr Gastgeber verschwunden war, ehe er sich Kalamry zuwendete. »Was sollte dieses Gerede?« fragte er. Kalamry zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Der gute Sephrano gibt immer so verrücktes Zeug von sich, besonders auf Partys. Die meiste Zeit ist er so im Rausch, daß er selbst nicht weiß, wovon er redet.« »Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte Roman. Kalamry bedachte ihn mit einem kühlen Blick seiner blutunterlaufenen, vorstehenden Augen. »Glaub, was du willst. Komm, trink deinen Wein. Wir müssen jetzt gehen.« »Wohin?« »Auf mein Schiff natürlich.« »Ich kann jetzt noch nicht weg. Ich suche jemanden.« Kalamry seufzte. »Nun mach mir bloß keinen Ärger. Die Party ist für uns vorbei.« »Geben Sie mir noch eine halbe Stunde.« »Du verschwendest deine Zeit, Junge. Sie ist fort«, sagte er. »Und selbst wenn sie noch da wäre, wärest du wahrscheinlich der letzte, den sie sehen wollte.« »Sie? Sie wissen, wen – « Kalamry sah ihn mitleidig an. »Hör mal, Junge, warum versuchst du nicht, die ganze Geschichte einfach zu vergessen?« »Kalamry«, sagte Roman in festem Tonfall, »ich rühre mich nicht eher von der Stelle, bis Sie mir die Wahrheit sagen.« »Schön, wenn du's wissen willst: die ganze Sache war von Anfang an geplant – einer von Sephranos kleinen Partyscherzen. Er hat deine geheimnisvolle Unbekannte mit soviel Aphrodisiakum vollgepumpt, daß sie nicht mehr klar denken konnte. In dem Zustand wäre sie sogar mit einem Schimpansen ins Bett gegangen.« Roman spürte einen wachsenden Groll. Kalamry versuchte absichtlich, die Erinnerung an sein zauberhaftes Erlebnis in
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der Grotte zu zerstören und in den Schmutz zu ziehen. »Ich hab dich nach unten in diese Höhle gebracht, wo du dann wie ein braver Hengst deine Rolle gespielt hast. Mehr ist an der Sache nicht!« »Das glaube ich nicht! Das kann nicht, das darf nicht wahr sein«, stöhnte Roman verzweifelt. »Wenn ich's dir sage, Junge. Sie ist fort, und wenn du noch einen Funken Verstand hast, gehst du jetzt ebenfalls.« »Nein. Sagen Sie mir wenigstens, wer sie ist.« »Glaub mir, es ist besser, wenn du ihren Namen nicht weißt«, versicherte ihm Kalamry. »Gut, dann suche ich eben Sephrano und frage ihn.« Roman stand auf, um wieder in die Villa zu gehen. »Nein, bleib hier!« rief Kalamry ihm nach. Er schüttelte den Kopf. »Meine Götter! Du mußt immer mit dem Kopf durch die Wand, wie? Wenn du es unbedingt wissen willst, die Dame, mit der man dich zusammengebracht hat, war Lady Annrith Therys.« »Und zu welchem Zweck?« »Sieh mal, selbst wenn ich dir das zu erklären versuchte, würdest du es nicht verstehen. Ich kann dir nur raten, jetzt sofort mit mir heimzugehen. Vermutlich gibt es hier ein paar Freunde ihrer Familie, die die Sache gar nicht so komisch finden wie Sephrano. Sie werden nicht wagen, sich mit ihm anzulegen, aber wenn sie dich in die Finger bekommen, gebe ich für dein Leben keinen Pfifferling mehr.« »Ich verstehe das alles nicht – «, murmelte Roman. Zögernd folgte er Kalamry durch die Räumlichkeiten der Villa. Warum hatte man mit soviel Aufwand und Findigkeit eine Situation geschaffen, die es ihm ermöglichte, mit der schönsten Frau zu schlafen, die er je in seinem Leben gesehen hatte? Vielleicht lag es an seiner mangelnden Erfahrung, aber er sah in der Sache keinen Sinn. Er war immer noch am Nachgrübeln, als sie die Tür jenes dämmerig beleuchteten Saals erreichten, den er vorhin durchquert hatte. Er hielt Kalamry an der Schulter fest.
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»Müssen wir da durch?« fragte er. »Dieser Raum ist mir zuwider.« Kalamry drehte sich um und sah ihn verächtlich an. »Ja, das müssen wir, Kleiner. Du stellst viele Fragen. Jetzt sollst du ein paar Antworten bekommen.« Roman folgte seinem Begleiter in den dämmrigen Saal, in dessen Mitte die hellerleuchtete Projektionskugel stand. Obwohl die Erinnerung an seinen ersten Besuch hier ihn immer noch mit Abscheu erfüllte, mußte er das Ding wie hypnotisiert anstarren. Die sorgfältig choreografierte Darbietung der fünf SexAthleten schien zu Ende zu sein. Die Kugel zeigte jetzt lediglich einen Mann und eine Frau, zwei riesige, statuenhafte Gestalten, die einen konventionelleren, aber nicht minder leidenschaftlichen Geschlechtsakt vollzogen. Roman blieb wie angewurzelt stehen, als er die beiden Gesichter wiedererkannte. Dann, als ihm das volle Ausmaß seiner Erniedrigung bewußt wurde, wallte heiße Wut in ihm auf und ließ seinen ganzen Körper erzittern. Brüllend vor Zorn schnappte er sich den erstbesten festen Gegenstand in seiner Nähe, einen großen Holztisch, rannte damit vor und schleuderte ihn mit aller Kraft auf die Projektionskugel. Die Kugel zersplitterte unter der Wucht, implodierte mit einem Donnerschlag und löschte die obszönen Bilder aus. Im Saal herrschte plötzlich völliges Dunkel. Rings um sich hörte er Schreie und Rufe, und Kalamry, der seinen Namen rief. Roman bahnte sich einen Weg durch das Knäuel von Körpern, um zu dem hellen Türeingang in einiger Entfernung zu gelangen. Plötzlich durchflutete helles, blendendes Licht den Saal und enthüllte Hunderte von nackten und halbnackten Menschen. Er sah Kalamry, der hastig auf ihn zukam. »Du verdammter Idiot!« schrie er, nach Romans Arm greifend. »Los, raus hier. Sephrano wird – « Roman hörte ein lautes Geräusch hinter sich und spürte
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etwas mit der Wut einer riesigen Faust auf seinen Hinterkopf schmettern. Kalamrys wütendes Gesicht löste sich in Nichts auf, als er bewußtlos vornüber kippte.
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16 Annrith stürmte auf das Dach von Sephranos Villa hinaus und eilte zu ihrem geparkten Flugzeug. Sie hatte gehofft, Sephrano bei ihrem fluchtartigen Aufbruch zu begegnen. Das hätte ihr Gelegenheit gegeben, wenigstens einen Teil ihrer angestauten Wut loszuwerden. Hätte sie eine Waffe bei sich gehabt, sie hätte ihn mit Freuden umgebracht. Aber zweifellos würde er sich hüten, ihr über den Weg zu laufen, so daß selbst eine Suche nach ihm vermutlich aussichtslos gewesen wäre. Deshalb hatte sie den direkten Weg zum Dach gewählt und die belebteren Räume sorgsam gemieden, obgleich ihr ein gelegentliches Spießrutenlaufen vorbei an Leuten, die hämisch grinsten oder spöttische Bemerkungen machten, wenn sie sie erblickten, trotzdem nicht erspart geblieben war. Mit aufheulendem Motor startete sie das Flugzeug und steuerte es mit wachsender Geschwindigkeit durch den warmen Nachthimmel nach Alminar. Ihre Hände, die das Steuer umklammerten, waren schweißnaß, aber in ihrem Verstand spürte sie einen Haß, so kalt und hart wie ein Eiszapfen, auf den Mann, der sie der Lächerlichkeit preisgegeben und wie eine Dirne hatte dastehen lassen. Ihre größte Sorge war im Moment jedoch, wie sie den Vorfall ihrem Vater beibringen sollte. Sicherlich würde er sie verstehen und ihr verzeihen, aber sie hatte Angst vor dem, was er unternehmen würde. Olan Therys war von Natur aus ein friedfertiger, sanftmütiger Mensch, aber wenn er hörte, wie die Ehre seiner Tochter zunichte gemacht worden war, nur um Sephranos Gästen zu einem billigen, schmutzigen Nervenkitzel zu verhelfen, würde er sich ganz bestimmt rächen wollen. Sephrano mußte das bereits klar sein, und zweifellos hatte er schon seine Vorkehrungen getroffen. Sie erreichte den Hafen und landete das Flugzeug auf dem Vorderdeck der Jacht. Sie nickte dem salutierenden Wachhabenden flüchtig zu und ging eilig unter Deck zur Kabine ihres Vaters. Sie klopfte an die Tür, erhielt aber keine
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Antwort. Dennoch machte sie auf und trat ein. Das Licht brannte, und ihr Vater lag noch so im Bett, wie sie ihn vor einigen Stunden verlassen hatte. Sein Gesicht war von ihr abgewendet und lag im Schatten. Sie zögerte. Er schien fest zu schlafen, und vielleicht war es besser, die Unterredung auf morgen früh zu verschieben. Aber dann lief sie Gefahr, daß einer der zurückkehrenden Gäste ihn weckte und ihm die Geschichte genüßlich in allen skandalösen Einzelheiten schilderte. Diese Vorstellung, daß er den Vorfall von jemand anderem erfuhr, ließ sie zu einem Entschluß kommen. »Vater!« rief sie. Sie trat an sein Bett und faßte ihn an der Schulter. Er drehte ihr den Kopf zu. Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß einen leisen Entsetzensschrei aus. Sein Gesicht war grünlich-gelb verfärbt, der Mund halb offen und qualvoll verzerrt, und seine Augen, die blind zu ihr aufsahen, waren tief eingesunken. »Annrith! Den Göttern sei Dank, daß du rechtzeitig gekommen bist – « Das Sprechen schien ihn große Mühe zu kosten, und seine Stimme war kraftlos wie leise raschelndes Laub. »Ich hole einen Heiler«, sagte sie. »Nein, laß. Es ist zu spät. Die Vergiftung ist schon zu weit fortgeschritten. Hör mir nur zu! Bist du allein?« »Ja.« »Gut. Dann nimm dein Flugzeug und flieg sofort nach Cephas.« »Ich kann dich doch nicht verlassen!« »Bald werde ich dich verlassen – jetzt tu, was ich sage. Flieg nach Cephas und nimm das erste Schiff nach Belphar – ich hätte dich nie von dort fortbringen dürfen. Geh zu Haldor, er wird dich beschützen. Versprich mir, daß du – « Ein Krampf schüttelte seinen Körper. Er bäumte sich unter der Bettdecke auf, dann erstarb das furchtbare Röcheln. Lange Zeit stand sie da und starrte das tote Gesicht an. Sie
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wußte, daß er sein Leben gegeben hatte, um sie zu beschützen. Und sie wußte, daß sie jetzt ganz allein war. Vielleicht hätte sie seinem letzten Wunsch gehorcht, obwohl es sie große Überwindung gekostet hätte, jenen Mann um Hilfe zu bitten, der sie abgewiesen hatte. Aber nach dem, was heute in Sephranos Villa vorgefallen war, hatte sie von Haldor nichts mehr zu erwarten. Auch konnte sie keinem ihrer Bekannten hier auf Kandar jemals wieder gegenübertreten. Davon abgesehen, bestand die Gefahr, daß diejenigen, die ihren Vater umgebracht hatten, erneut zuschlugen – diesmal gegen sie. Und sie war nicht gewillt, vom Leben Abschied zu nehmen, wenngleich ihre Zukunft düster und hoffnungslos aussah. Sie deckte dem toten Ding auf dem Bett, das sie nicht mehr als ihren Vater ansehen konnte, der immer vor Leben und Liebe gesprüht hatte, das Gesicht zu und wandte sich ab. Bald mußten die ersten Gäste zurückkommen. Sie konnte nicht hierbleiben. Und sie konnte nicht nach Belphar. Sie brauchte jetzt einen Ort, wo sie ganz allein war, fern von allen Menschen und Dingen, die sie an die schrecklichen Ereignisse erinnerten. Sie mußte fliehen. Ihr Blick fiel auf ein Stereofoto von sich und ihrem Vater, das vor ungefähr fünf Jahren gemacht worden war. Sein Haar war damals dunkler gewesen und sie etwas rundlich, ein junges Mädchen mit klaren Augen. Und im Hintergrund war eine Insel, unbewohnt, unverdorben. Sie ging eilig aus der Kabine und schloß leise die Tür hinter sich. Das einzige, was sie für Olan Therys tun konnte, war, am Leben zu bleiben, denn das war sein Wunsch. Als sie fünf Minuten später in das Flugzeug stieg und startete, hatte sie eine Freizeithose und einen Pullover an und eine Reisetasche bei sich, die gerade das Allernotwendigste enthielt. Die Morgendämmerung warf schon erste Lichtstrahlen auf die Wasser der Mietroveloren, als sie nach Süden flog. Lingard betrachtete die verkrümmten Gliedmaßen und den
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Körper, der fast schon so aufgedunsen war wie der von Folcho. Einzig das Gesicht war noch das alte, aber es war tief zerfurcht von Leiden und Schmerz. »Den Göttern sei Dank, daß du dich endlich entschlossen hast«, sagte er. »Wenn man dich hier so sieht – « Haldors verkrampfte Züge lockerten sich ein wenig, als er lächelte. »Ich weiß, alter Freund. Aber denk daran, daß jetzt deine Probezeit beginnt. Jetzt, da du der mächtigste Mann im Imperium sein wirst, werden dir viele ihre Treue bekunden und ihren Rat anbieten. Aber höre nur auf Paradon, darum bitte ich dich.« »Ich glaube, du unterschätzt die Treue deiner anderen Untertanen«, wandte Lingard ein. »Und du bist wie immer zu vertrauensselig«, erwiderte Haldor nachsichtig. »Bitte hör auf meine Worte und vertraue nur Paradon, denn er allein hat nichts zu gewinnen.« Es hatte wohl keinen Zweck, noch weitere Einwände gegen einen so zynischen Standpunkt vorzubringen, überlegte Lingard. Das wichtigste war, daß Haldor beschlossen hatte, sich der Transferoperation zu unterziehen, und daß er in ein paar Wochen wieder jung, gesund und stark war. Und ich? Lingard war entsetzt über die Schnelligkeit, mit der dieser selbstsüchtige Gedanke aufkam. Immerhin war sein jetziger Körper noch gut für viele Jahre. Er hatte genug Zeit, sich mit dieser Frage zu befassen. Sollte Haldor erst einmal die Operation überstehen und sich davon erholen. Jetzt, da die kandarianische Hexe aus dem Weg war – hoffentlich für immer – würde Haldor seinem besten Freund das Geschenk der erneuten Jugend kaum versagen. Und selbst wenn Paradon sich sträubte, war das nicht weiter schlimm, denn bis dahin befand sich Kronak im Besitz des nötigen Wissens. Kronak und Folcho! Lingard wurde von leichtem Unbehagen gepackt, als er sich erinnerte, daß solche Kreaturen seine Verbündeten waren. Wenn er nur offen mit Haldor sein könnte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihn mit solchen Problemen zu behelligen. Später vielleicht.
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Das Geräusch der aufgehenden Tür riß ihn aus seinen Überlegungen, und als er sich umdrehte, sah er die knochige Gestalt des Patriarchs auf sich zukommen. Er wirkte sehr erregt. »Was ist mit Euch, Paradon?« fragte Haldor. »Eure Zweifel an der Sicherheit unseres Geheimnisses waren nur zu berechtigt«, erwiderte der Heiler. »Die drei Ableger auf Tylo sind allesamt tot – von Unbekannten heimtückisch ermordet.« »Und die auf Kandar?« fragte Haldor. »Zwei sind ebenfalls tot. Der andere gilt als vermißt.« Lingard hörte entsetzt zu. Offensichtlich waren diese Morde das Werk derselben Gruppe, die für das Attentat auf Haldor verantwortlich war. Diese Personen mußten genau gewußt haben, daß sein Überleben von einem Transfer in einen der Klon-Körper abhing. Wenn man sie nur endlich unschädlich machen könnte – aber wie sollte man einen Feind vernichten, den man gar nicht kannte? »Haltet Ihr es für möglich, daß der andere Ableger entkommen ist?« fragte er Paradon. »Das können wir nur hoffen«, sagte der Heiler. »Meine Männer suchen im Moment den ganzen Planeten nach ihm ab.« »Und was wird, wenn sie ihn ebenfalls tot auffinden?« fragte Lingard. Paradon ließ die knochigen Schultern hängen. »Daran wage ich nicht zu denken.« »Dann solltet Ihr am besten sofort damit anfangen«, sagte Lingard barsch. »Es gab nur sechs Ableger. Das weißt du sehr gut«, warf Haldor beschwichtigend ein. »la, es gab nur sechs Ableger, aber bestimmt gibt es Tausende von anderen Körpern, die für diesen Zweck ebenfalls geeignet sind«, sagte Lingard hitzig. »Das ist doch sicherlich nur eine Frage der Gewebsmodellierung und Zellanpassung, oder?«
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Paradon starrte ihn verblüfft an. »Woher wißt Ihr von solchen Techniken?« Lingard zögerte. Es war unklug von ihm gewesen, Dinge zu erwähnen, die er von Folcho gehört hatte. Er beschloß, einen Bluff zu versuchen. »Ihr selbst habt vor vielen Jahren von einem solchen Verfahren gesprochen.« Paradon runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kann mir nicht vorstellen, in welchem Zusammenhang. Überdies bezweifle ich stark, daß uns das in irgendeiner Form nützen könnte. Die Zahl der Tests, die nötig wären, um einen Körper mit einer geeigneten Genstruktur auszusondern, könnte in die Millionen gehen. Dazu ist keine Zeit. Im übrigen gibt es Anzeichen dafür, daß der verbleibende Ableger noch lebt und sich vielleicht nur irgendwo versteckt.«
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17 Vertraute Elemente. Romans Sinne erkannten die Bewegung, die er spürte, sofort als die eines Bootes, das durch eine sanfte Dünung glitt. Die Vibration sagte ihm, daß dies kein Segelboot war. Als er sich bewegte, spürte er einen leichten Schmerz am Hinterkopf. Er tastete nach der Stelle in der Erwartung, zumindest blutverschmiertes Haar vorzufinden. Aber da war nichts, nur eine gewisse Empfindlichkeit seiner Kopfhaut. Anscheinend hatte er eine Art elektrischen Schlag erhalten und spürte nur noch dessen Nachwirkungen, die jetzt rasch abklangen. Nach einer Weile schlug er die Augen auf und sah, daß er auf einer Liege im Aufenthaltsraum von Kalamrys Jacht lag. Er hatte keine Möglichkeit festzustellen, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber draußen hinter den Bullaugen herrschte immer noch Dunkelheit. Er richtete sich auf, um besser hindurchsehen zu können, und erblickte in der Ferne die Lichter einer Stadt. Alminar? Das war anzunehmen. Kalamry mußte es irgendwie gelungen sein, ihn aus Sephranos Villa heraus und auf sein Schiff zu bringen, womit er ihm vielleicht wieder einmal das Leben gerettet hatte. Wenn man ihn dort in die Hände bekommen hätte, wäre ihm der Schaden, den er in seiner mörderischen Wut angerichtet hatte, gewiß teuer zu stehen gekommen. Mit dem Gedanken flammte auch die Erinnerung an die Szene in der riesigen Projektionskugel wieder auf, an jene obszöne Zurschaustellung, die ein zauberhaftes Erlebnis zu einer Sache animalischer Lust herabgewürdigt hatte. Ob die Frau – Annrith hatte Kalamry sie genannt – dieses ungeheuerliche Schauspiel ebenfalls gesehen hatte? Wie hatte sie dann darauf reagiert? Er war sicher, daß sie von den versteckten Kameras ebensowenig gewußt hatte wie er. Keine Frau hätte sich in dem Bewußtsein, daß jede ihrer Bewegungen und Gesten von einer Unmenge lüsterner Voyeure verfolgt wurde, so verhalten können wie sie –
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allenfalls eine völlig heruntergekommene, nichtswürdige Nymphomanin, und das glaubte er von Annrith niemals. Was hatte Kalamry gesagt? Einer von Sephranos kleinen Partyscherzen? Es schien, als wäre die ganze Episode eine Art ausgeklügelter Witz auf seine und Annriths Kosten gewesen. Er, der einfache Bauernjunge, war ein Nichts, aber sie war, laut Kalamry, eine hochgestellte Dame der Gesellschaft. War es wirklich nur seine mangelnde Erfahrung, die ihn glauben machte, daß in der Grotte zwischen ihm und Annrith etwas vorgefallen war, das über rein sinnliche Begierde hinausging? Wie würde sie sich verhalten, wenn sie sich wiedersahen? Würde sie Abscheu empfinden, in ihm nur das Werkzeug ihrer Erniedrigung sehen? Für ihn stand bereits fest, daß er diese fremde wundervolle Frau liebte. Er war ihr Sklave, würde sie immer bewundern. Nichts vermochte daran etwas zu ändern, nichts noch so Obszönes. Er war fest entschlossen, alles daran zu setzen, um sie wiederzusehen. Selbst wenn sie anfangs eine ablehnende Haltung einnehmen sollte, würde er bestimmt irgendeinen Weg finden, den Schaden wiedergutzumachen und sie umzustimmen. Aber es war wohl besser, diesen romantischen Traum für sich zu behalten, statt Kalamry davon zu erzählen. Sein guter Freund Kalamry, der ihm in Hispar das Leben gerettet hatte. Aber hätte ein wahrer Freund zugelassen, daß er in die Ereignisse in Sephranos Villa verstrickt wurde? »Die ganze Sache war von Anfang an geplant«, hatte Kalamry gesagt. »Von Anfang an« – welche Zeitspanne war darunter zu verstehen? Ein Knattern, das aus der vorderen Kajüte kam, unterbrach seinen Gedankengang. Laut Kalamry war dieser Raum für ihn tabu, aber Roman war nun nicht mehr bereit, sich solchen willkürlichen Vorschriften zu beugen. Er schwang die Beine über den Liegenrand und ging die paar Schritte zur vorderen Kajüte. Die Tür ließ sich leicht öffnen, und Roman trat ein. Das Knattern hatte aufgehört, aber das Kontrollämpchen des komplizierten Funkempfängers leuchtete noch, und im
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Ablegekasten der Ausdruckautomatik lag ein Blatt Papier. Er schaute es sich an. LCO/K2RE EILT. PRIORITÄT. IHRER EINZIGER ÜBERLEBENDER ABLEGER UND DAHER UNENTBEHRLICH. WIEDERHOLE UNENTBEHRLICH. GEBEN SIE PLAN A AUF UND LAUFEN SIE IRINAL AN ZWECKS ÜBERGABE AN OFFIZIELL ANERKANNTE AGENTEN ZWECKS SOFORTIGEN TRANSPORTS NACH BELPHAR. SICHERE, UNVERSEHRTE ANKUNFT UNBEDINGT ERFORDERLICH – WIEDERHOLE UNBEDINGT ERFORDERLICH, UM JEDEN PREIS. FOLCHO. Roman las die Nachricht noch ein paarmal, aber abgesehen von dem Wort Irinal, das der Name eines kleinen Hafens an der Küste etwa hundertfünfzig Meilen westlich von Alminar war, sagte sie ihm nichts. Und Kalamry konnte er schwerlich danach fragen, ohne einzugestehen, daß er die verbotene vordere Kajüte betreten hatte. Andererseits, warum sollte er sich eigentlich noch an die Anweisungen seines vermeintlichen Freundes halten? Er nahm das Blatt Papier aus dem Kasten, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche. Ohne sich die Mühe zu machen, die Kajütentür wieder zu schließen, schritt er eilig durch den Aufenthaltsraum und stieg die Treppe hinauf. Kalamry drehte überrascht den Kopf, als Roman ins Ruderhaus stürmte. »Schon wieder auf den Beinen? Du mußt ja einen wahren Ochsenschädel haben.« Er verstummte, als er Romans grimmige Miene bemerkte. »Was ist? Stimmt was nicht?« »Ich will ein paar Erklärungen, Kalamry«, erwiderte Roman gelassen. »Was für welche? Wie ich dir jungem Narr wieder einmal das Leben gerettet habe?« fragte Kalamry. »Sephrano hätte dich in Scheiben schneiden lassen, wenn ich dich da nicht
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herausgeholt hätte.« »Und Folcho?« »Folcho?« Kalamrys breites Gesicht erstarrte zu einer teigig-blassen Maske. »Was weißt du von Folcho?« »Wenig. Aber ich mache einen Handel mit Ihnen, wenn Sie mir mehr sagen.« »Einen Handel – was hast du schon, womit du handeln könntest?« »Eine Nachricht von Folcho, die gerade aus dem Empfänger kam.« Kalamry trat vor. »Ich habe dir doch gesagt, daß du dort nichts zu suchen hast. Gib sie her!« »Nein. Erst geben Sie mir ein paar Erklärungen«, entgegnete Roman grimmig. »Sie sagten, das gestrige Geschehen sei von Anfang an geplant gewesen und hinge mit Sephranos Partyscherzen zusammen, aber an der Sache ist mehr, da bin ich sicher. Ich will die ganze Wahrheit, Kalamry. Wenn Sie nicht mit der Sprache herausrücken, werfe ich die Nachricht über Bord.« »Mach keinen Unsinn, Junge«, sagte Kalamry beschwichtigend. Er versuchte freundlich zu lächeln, brachte aber nur eine Grimasse zustande, die eher einem Zähnefletschen glich. »Kalamry, ich scherze nicht! Ich verlange, daß Sie mir die Sache in allen Einzelheiten erklären. Ich will wissen, wie und wozu ich mißbraucht worden bin.« »Mißbraucht – ach, du meine Götter!« rief Kalamry. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Männer dich um das Erlebnis beneiden, das man für dich arrangiert hat? Das war nicht irgend jemand. Diese Frau wäre vor ein paar Wochen beinahe Kaiserin geworden.« »Aber warum ich?« »Das habe ich dir schon erklärt«, knurrte Kalamry. »Sie war so aufgeputscht, daß es keine Rolle spielte, wen wir auf sie losließen.« »Trotzdem, warum mußte ausgerechnet ich derjenige sein?« fragte Roman erneut.
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»Was kümmert dich das? Du hast deinen Spaß gehabt, jetzt vergiß die Sache«, sagte Kalamry. »Muß doch eine großartige Abwechslung für dich gewesen sein, daß du statt dieser fetten Bauerndirne endlich mal eine richtige Lady im Bett hattest.« Roman erkannte schlagartig, daß Kalamry Eera meinte. Warum brachte er sie in diesem Moment ins Gespräch? Bestimmt hatte er sie doch nie gesehen? Er entsann sich plötzlich in allen Einzelheiten an das blutige Gemetzel in Noks Hütte an jenem Nachmittag. »Erzählen Sie mir von Eera«, sagte er ruhig. »Was gibt's da zu erzählen?« fragte Kalamry. »Irgendwie mußte ich dich ja aus dem elenden Kaff herausholen. Sendol hätte dich nicht gehen lassen, und du selbst hast von deinen blödsinnigen Verpflichtungen gefaselt.« Endlich begriff Roman. Den geheimnisvollen Fremden aus den Bergen hatte es nie gegeben, nur Kalamry. Kalamry, sein Freund und Wohltäter, hatte das Ganze inszeniert, damit Roman ein paar Tage später das Rendezvous in der unterirdischen Grotte einhalten konnte, das man für ihn arrangiert hatte. Deshalb war Eera auf so entsetzliche Weise gestorben – damit er gerettet, nach Alminar gebracht und seine Rolle bei Sephranos Scherz spielen konnte. Roman wurde von blindem Zorn gepackt. Er sprang vor und schlug dem Mörder die Handkante in das spöttisch grinsende Gesicht. Aber das war nur der Anfang. Die wahnsinnige Wut, die sich seit Eeras Tod in ihm angestaut hatte, entlud sich schlagartig und verwandelte ihn in ein gefühlloses Mordwerkzeug. Kalamry war schwer und kräftig, aber gegen so wilde Entschlossenheit hatte er wenig Chancen. Kaum fünf Minuten später lag er reglos am Boden, das Gesicht zerschmettert, der Kopf in einem unmöglichen Winkel auf dem Hals verdreht. Roman machte die Tür auf und schleifte die Leiche aus dem Ruderhaus an Deck. Er schob sie über die Schiffswand und beobachtete, wie sie mit einem flüchtigen Fluoreszieren verschwand. Danach schaute er auf das mondbeschienene
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Meer hinaus, zitterte am ganzen Leib, als sein Nervensystem auf die plötzliche Gewalttat reagierte. Sein Verstand war ein einziges Durcheinander von Fragen. Einige davon hätte Kalamry vielleicht beantworten können, aber sein Mund würde seine Geheimnisse jetzt nur noch den Fischen anvertrauen. Er ging zurück ins Ruderhaus, zog die Funkbotschaft aus der Tasche und las sie noch einmal. Er mußte noch viel mehr in Erfahrung bringen. Eeras Tod war gerächt, aber das war nur ein Anfang. Vielleicht konnte die Frau, die von Kalamrys und Sephranos Machenschaften so tief verletzt worden war, ihm einige der Antworten geben. Auf jeden Fall mußte er sie wiedersehen. Er ging an die Steuerung und drehte am Ruder, bis er die Lichter der Stadt durch die vordere Scheibe genau vor sich sah. Er drückte den Beschleunigungshebel und spürte das heftige Vibrieren der Maschinen, als sie die Jacht in Fahrt brachten. Die Party war ein Mordsspaß gewesen, daran hatte Dorf Alweden nicht den geringsten Zweifel. Aber wie alle schönen Dinge im Leben war sie zu Ende gegangen, hatte ihn gar nicht lange nach dem Morgengrauen übermüdet, verkatert und frustriert sich selbst überlassen, und wie jedesmal hatte er gejammert: »Ich will mehr! Ich will alles, was da ist, und dann noch mehr – mehr!« Und nun saß er im gemütlichen Aufenthaltsraum von Olan Therys Jacht nahe an der Theke, schlürfte süßen, schwarzen Kaffee und kicherte ab und zu vor sich hin, während die Glinol- und Koofkapseln sich langsam in seinem Magen auflösten. Die übrigen Gäste waren allesamt erschöpft zu Bett gegangen, aber wer brauchte sie schon? Dorf Alwedens Einmann-Party ging gerade erst los. Jeekay würde ihm zu einem zwölfstündigen Höhenflug verhelfen, und vielleicht konnte er noch mehr herausschinden, wenn er daran dachte, zwischendurch zu essen. Wohlgemerkt, das war nichts, verglichen mit dem, was sie dir von Ffrinje versprachen. Sie sagten, das Zeug hole dich aus dem untersten Tief und
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schieße, dich für zwei volle Wochen in stratosphärische Höhen. Vielleicht diesmal! Klar, es war ein Einwegtrip. Das sagten sie auch, die anderen, die dauernd davon redeten, du solltest dich zusammenreißen und solchen Quatsch. Zum Henker mit ihnen! Was wußten die schon? Taten die jemals etwas anderes, als das Leben zu nehmen, wie es kam: stumpf und trübe und eintönig? Man mußte das Leben genießen wie eine Orange, das Fruchtfleisch herausquetschen, jeden Tropfen Saft herauspressen, mehr und immer mehr. Zum Henker mit ihnen! »Jawohl, zum Henker mit ihnen!« Aus der schwindelnden Höhe seines Adlerflugs bemerkte Dorf Alweden gleichzeitig zweierlei: daß er (a) mit sich selbst geredet haben mußte – was keineswegs ungewöhnlich war – und (b) nicht mehr allein war. Er schaute nach unten durch das falsche Ende des Fernrohrs, was ihn einige Höhe kostete, und sah eine verschwommene Gestalt auf dem Hocker neben sich sitzen. Kleidung und Gesichtszüge waren noch nicht zu erkennen, aber die Stimme hatte er trotz der watteartigen Filterwirkung des Jeekays als die eines Mannes identifiziert. Was sollte er mit einem Mann? Was dieser Party noch fehlte – He, Moment mal. Ein anständiger Maricon wäre zur Abwechslung auch nicht schlecht. Zum Henker mit den Frauen! Diese rothaarige Hure Annrith, zum Beispiel. Spielt sich während der ganzen Kreuzfahrt als personifizierte Keuschheit auf und paart sich dann heute nacht vor fünfhundert Augenpaaren mit einem gutgebauten Jungen mit einer Pseudohautmaske. Grapscht ihn sich, als könnte sie nicht genug kriegen, und seufzt nach mehr – mehr – Position vierzehn, fünfundneunzig, Kombination viereinundzwanzig kandathanisch. Und der Junge – na ja, er hatte die Statur, aber war, seien wir mal ehrlich, reichlich schwerfällig. Wollte ich ihr ja sagen – wenn schon eine richtige Show, dann nicht mit so einem Anfänger. Wollt ich ihr sagen, hatte aber keine Gelegenheit mehr. Konnte ihr nicht mal zeigen, wie man's richtig macht.
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Dorf Alweden trudelte in einem raschen Spiralflug dem Erdboden entgegen und sah plötzlich klar und deutlich das Gesicht des Mannes vor sich, der ihn an den Jackenaufschlägen seines seidenen Abendanzugs gepackt hatte. »Zum Henker, Sie haben mir mein Hoch versaut!« maulte er. Dann sah er genauer hin. »Sieh mal, Junge, nichts gegen einen Gag, aber du kannst dir eine Menge Ärger einhandeln, wenn du am hellichten Tag mit der Maske da rumrennst. Was willst du überhaupt hier – etwa noch mehr? Na, da hast du Pech. Aber wenigstens hast du dein Teil gehabt. Als ich zurückkam, dachte ich, jetzt wäre ich vielleicht an der Reihe. Ich meine, die Keuschheitsmaske konnte sie schlecht wieder aufsetzen, oder? Aber sie hat uns angeschmiert, Junge. Ich hab den verdammten Kahn drei-, viermal abgesucht, bis dieser schwachsinnige Matrose mir endlich Bescheid sagte. Wenn seine Geschichte stimmt, ist sie in ihrem kleinen Flitzer vor über drei Stunden nach Süden abgehauen, als wäre ihr der Boden hier zu heiß geworden. Was will sie im Süden? Da gibt's doch nur menschenleere Inseln.« Sein Jackett wurde plötzlich losgelassen, und Dorf Alweden plumpste sanft auf den Boden. Er plapperte und kicherte vor sich hin, während sein Verstand sich höhesuchend an die heißen Aufwinde des Jeekays klammerte, das in seinen Gedärmen explodierte.
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18 Die Insel war noch genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ein dunkler, vulkanischer Sandstrand, der sanft abfiel und die Grenze bildete zu einer üppig wuchernden Vegetation, die vorwiegend aus Blüten- und Kletterpflanzen, Büschen und Palmen bestand. Bis zu Annriths Ankunft waren ihre wichtigsten Bewohner die Schwärme von winzigen, vielfarbigen Vögeln, die geflügelten Juwelen gleich durch die warme Luft schwirrten, und eine Säugetierart, die harmlos war, große Augen besaß und auf Bäumen wohnte. Ihr einziges Ziel war zunächst, allein zu sein, fern von allem, was sie an die korrupte Gesellschaft erinnerte, die sie hinter sich gelassen hatte. Und die Einsamkeit schien ihr zu bekommen, denn sie bemerkte, daß sie sich bei diesem neuen, einfacheren Leben allmählich erholte. Sie hielt sich oft am Strand auf, ließ sich sonnen oder schwamm in der klaren See, meist nur notdürftig bekleidet, außer wenn sie Streifzüge ins Inselinnere unternahm und die Kleidung als Schutz brauchte. Ganze Tage vergingen, ohne daß sie auch nur einen Gedanken an die Außenwelt verschwendete, und wenn sich wirklich einmal Erinnerungen aufdrängten, schob sie sie mit Leichtigkeit beiseite. Es schien fast, als sei ihr bisheriges Leben ein Roman, den sie irgendwo gelesen hatte, oder das eines anderen. In der zauberhaften Abgeschiedenheit der Insel waren diese Erinnerungen, selbst die an den Tod ihres Vaters, schattenhaft und unwirklich und vermochten sie kaum zu beeinflussen. Ihr Geist und ihr tiefgebräunter Körper schienen neu zu erblühen, und sie strotzte vor Gesundheit und Wohlbefinden. Sie hielt sich fast schon drei Wochen auf der Insel auf, als ihr einsames Dasein gestört wurde. Eines Morgens, als sie an den Strand ging, sah sie eine kleine Jacht dicht am Ufer ankern. Verärgert über die Störung, zog sie sich ins Unterholz zurück und hoffte, daß man sie an Bord nicht gesehen hatte. Die Eindringlinge konnten nicht wissen, daß die Insel
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bewohnt war, aber solange sie sich hier aufhielten, mußte sie auf der Hut sein und darauf achten, ob jemand an Land kam. Sie ging eilig zurück zu ihrem Lager, das versteckt auf der anderen Seite der Insel lag, und traf ihre Vorbereitungen. Der einfachste Weg, alle Schwierigkeiten zu vermeiden, überlegte sie, war, daß sie in ihr Flugzeug stieg und weiterzog, aber dazu war sie nicht bereit. Sie hatte genug vom Davonlaufen. Sie zog feste Kleidung an, um sich vor den dornigen Büschen zu schützen, schnallte sich einen Pistolengurt um die Taille und dachte bei sich, daß man sie hoffentlich nicht zwang, davon Gebrauch zu machen. Dann machte sie sich auf den Rückweg, schlich, als sie in Ufernähe kam, vorsichtig durchs Unterholz zu einer Stelle, von wo sie den Strand überblicken konnte. Obgleich die Sonne jetzt ziemlich hoch am Himmel stand, regte sich auf dem fremden Schiff immer noch nichts. Es war eine gewöhnliche Vergnügungsjacht von der Art, wie sie sie in den Häfen entlang der Küste viele Male gesehen hatte. Die Leute an Bord waren vermutlich auf Urlaubsreise und sicherlich nur deshalb in der Bucht vor Anker gegangen, um hier zu übernachten, bevor sie zu einer der größeren, bewohnten Inseln weiterfuhren. Das Beiboot hing achtern an seinem Ausleger und machte deutlich, daß noch niemand an Land gegangen war. Dieser tröstliche Gedanke stellte sich unvermittelt als Trugschluß heraus, denn als sie den Blick rechts am Strand entlangschweifen ließ, sah sie einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr am Ufer entlangspazierte. Offensichtlich war er geschwommen und erforschte jetzt den Strand. Später würde er seine Erkundungen vermutlich auf das Inselinnere ausdehnen und dabei vielleicht sogar auf ihr Camp stoßen. Der Unbekannte hatte es anscheinend nicht eilig. Annrith ging ihm im Schutz des Unterholzes nach und war schon nach kurzer Zeit auf gleicher Höhe mit ihm. Er war groß, mit einer kurzen Badehose bekleidet, hatte blondes Haar und einen muskulösen, sonnengebräunten Körper.
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Sie war nur etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, als er plötzlich stehenblieb und in ihre Richtung sah, gerade so, als spüre er ihren Blick. Einen Moment lang war sie vom Anblick seines Gesichts wie gelähmt, dann wich ihre Verblüffung aufwallendem Zorn. Sie zog die Pistole aus dem Halfter. Dieses junge, stolze Gesicht, umrahmt von einem Glorienschein aus gelbbraunem Haar, kannte sie nur zu gut. Sie trat aus dem Unterholz auf den Strand und stellte sich mit erhobener Waffe vor ihn. »Was tun Sie hier?« fragte sie scharf. »Mylady, ich – « Er hob die Hand und trat einen Schritt vor. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« befahl sie. »Wer hat Sie geschickt?« »Niemand, das versichere ich Ihnen.« »Erwarten Sie etwa, daß ich das glaube?« fragte sie spöttisch. »Ist Sephrano noch nicht zufrieden mit dem, was er angerichtet hat, daß er Sie mir nachjagt?« Die unterdrückten Erinnerungen an die Schmach und Erniedrigung durchfluteten sie plötzlich mit unverminderter Heftigkeit. Obgleich sie wußte, daß dieser Junge nichts weiter als ein Werkzeug in Sephranos Händen gewesen sein konnte, konzentrierte sich nun ihr ganzer Zorn und Haß auf ihn. Die widerstreitenden Gefühle, die in ihr wüteten, löschten ihr Denkvermögen aus. Annrith spürte, wie die Pistole in ihrer Hand zweimal in kurzer Aufeinanderfolge ruckte. Sein – Haldors – Gesicht erstarrte verblüfft, dann fiel der Junge vornüber in den dunklen Sand. Sie starrte auf den Körper hinab. Sie empfand keine Genugtuung, eher Abscheu darüber, daß sie sich zu einer so brutalen und sinnlosen Tat hatte hinreißen lassen. Sephrano zu töten hätte ihr vielleicht eine gewisse Befriedigung verschafft, aber diesen Jungen – Sie schleuderte die Pistole von sich, hörte, wie sie durch die Büsche fegte. Aber sie wußte, es war eine nutzlose Geste. Die kurze Zeit der friedlichen Abgeschiedenheit war vorüber, die Insel beschmutzt. Obgleich
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der Junge keine Gefahr mehr darstellte, spürte sie, daß ihre Ruhe jetzt zu Ende war. Sie konnte nicht mehr hierbleiben. Sie betrachtete den Körper nachdenklich. Reglos und verkrümmt lag er da. Das blonde Haar an der einen Schädelhälfte war mit Blut verklebt. Der andere Schuß war offenbar danebengegangen. Wenn nur – Von Gewissensbissen gequält, kniete sie neben dem Körper nieder und drehte ihn herum. Sie zwang sich, das reglose, junge Gesicht anzuschauen. Der Anblick raubte ihr alle Entschlossenheit. Sie begann zu schluchzen. Keine Rache, kein noch so großer Zorn konnte diese Tat rechtfertigen. Sie war so verstört, daß sie erst nach einiger Zeit auf das schwache, regelmäßige Pulsieren der Halsschlagader und auf das flache Sichheben und -senken des Brustkorbs aufmerksam wurde. Der Junge war gar nicht tot. Sie schöpfte neuen Mut und untersuchte seine Wunde genauer. Die Kopfverletzung war weniger schlimm, als sie aussah, eigentlich nur ein Kratzer, wie sie feststellte. Der Junge hatte zwar viel Blut verloren, und seine Wunde mußte versorgt werden, aber sonst sprach nichts dagegen, daß er nach einer Weile das Bewußtsein wiedererlangte. Ihr Verstand, vor praktische Aufgaben gestellt, funktionierte plötzlich wieder. Sie lief zurück zum Camp, um Verbandszeug zu holen. Romans erste Empfindung war ein pochender Schmerz in seinem Schädel. Er schlug die Augen auf und sah die Konturen von Annriths Gesicht gegen den hellen Himmel. Er spürte eine Flut der Erleichterung und Freude. Also war es doch kein Traum gewesen – er hatte sie tatsächlich endlich wiedergefunden. Er richtete sich halb auf und forschte in ihrem Gesicht. Es wirkte schmaler, als er es in Erinnerung hatte, und ihre Augen waren kaum merklich von Leid geprägt, was ihr Gesicht auf wundervolle Art traurig aussehen ließ. »Es war dein Recht, mich zu töten«, sagte er. »Nein. Dieses Recht hat niemand«, widersprach sie. »Was
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tust du hier?« »Ich suche dich – schon seit jener Nacht. Zuerst ging ich auf die Jacht deines Vaters. Irgendein betrunkener Narr dort – einer von euren Gästen, vermute ich – erzählte mir, du wärest mit deiner Flugmaschine aufgebrochen. Er sagte etwas von den Inseln.« Sie musterte ihn mit kühlen Augen. »Und warum wolltest du mich unbedingt finden? Um dich über mich lustig zu machen?« »Das glaubst du nicht wirklich. Ich hatte von dem Geschehen genausowenig eine Ahnung wie du. Sephrano und Kalamry hatten das Ganze inszeniert.« »Wer ist Kalamry?« fragte sie. »Jemand, der mich aus Hispar fort und in Sephranos Villa gebracht hat. Das dort ist seine Jacht.« Sie schaute seewärts, so daß er ihr feingeschnittenes Profil bewundern konnte. »Dieser Kalamry – ist er jetzt an Bord?« »Nein. Er ist tot«, sagte Roman. »Ich habe ihn umgebracht.« Sie drehte den Kopf und sah ihn mit geweiteten Augen an. »Wegen des Vorfalls in Alminar?« »Deswegen und noch aus einem anderen Grund.« Er schilderte ihr Kalamrys Ankunft in Hispar und die darauffolgenden Ereignisse. Sie hörte ihm schweigend zu; der Zorn war jetzt gänzlich aus ihrem Gesicht verschwunden. »Das tut mir leid, Roman«, sagte sie, als er geendet hatte. »Sie haben uns benützt – dich und mich.« Er nickte. »Ich weiß zwar nicht, warum man gerade mich ausgesucht hat, aber in einer Beziehung bin ich sogar dankbar dafür.« »Dankbar?« »Ohne diese Geschehnisse hätte ich vielleicht mein ganzes Leben in Hispar verbracht«, erklärte er. »Dann hätte ich dich nie kennengelernt und nie die Chance erhalten, dich zu lieben oder dir zu dienen.«
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Sie sah ihn mit plötzlich tränenerfüllten Augen an, und er wußte, daß dies ein neuer Anfang für sie beide war – ein ehrlicherer Anfang als das, was in Alminar zwischen ihnen vorgefallen war. Das Leben auf der Insel war vorher schön gewesen, aber jetzt war es vollkommen. Sie waren in einem Paradies, das eigens für sie geschaffen schien, in einer Traumwelt, in der sie sie selbst sein konnten: ein Mann und eine Frau, die sich liebten. Manchmal schaute sie nachdenklich in sein schlafendes Gesicht und wunderte sich über den seltsamen genetischen Zufall, der eine so große Ähnlichkeit mit Haldor hervorgebracht hatte. Er selbst schien sich dieser Tatsache nicht bewußt zu sein, und sie verspürte wenig Neigung, ihn darauf aufmerksam zu machen. Sie war sich absolut sicher, daß Roman derjenige war, den sie liebte. Ihr war jetzt klar, daß in ihren Gefühlen für Haldor viel Ehrfurcht mitgeschwungen hatte. Welche Frau hätte schon dem stattlichen, mächtigen Kaiser widerstehen können und sich nicht ganz unweigerlich eingeredet, daß sie den Mann liebte, der so ungewöhnlich gut aussah und ihr soviel zu geben vermochte? Das war jetzt alles vorbei. Roman hatte nur sich selbst zu geben – aber mehr wollte sie nicht. Jeder Tag brachte ihnen neues Entzücken und Vergnügen, und nichts schien durch Wiederholung schal oder langweilig zu werden. Roman war jung, aber er besaß die Jahrhunderte alte Weisheit der Bauern und konnte sie vieles über die Abläufe in der Natur lehren. Die scheuen Baumbewohner lockte er mit Futtergaben in ihr Camp, und die bunten kleinen Vögel wurden nach ein paar Tagen so zahm, daß sie Körner aus seiner Hand fraßen. Sie folgten den Fischschwärmen in der Bucht, flogen schwerelos durch die Tiefen des warmen, kristallklaren Wassers, legten sich danach nackt und glücklich auf die Felsen und ließen sich vom Sonnenlicht trocknen. Das Leben war einfach und unkompliziert, und die meiste Zeit über nahm sie als selbstverständlich an, daß es immer so
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weitergehen konnte. Nur manchmal, wenn sie mitten in der Nacht wach wurde und den nagenden Zweifel verspürte, war ihr klar, daß nach den zurückliegenden Ereignissen nichts mehr gewiß war – am allerwenigsten das Vergnügen. Ihre Feinde, die sie umzubringen versucht und ihren Vater getötet hatten, würden bestimmt nicht aufgeben. Es sei denn – vielleicht steckte mehr hinter Sephranos Scherz, als sie damals geglaubt hatte. Wenn die Verschwörer nur ihre Heirat mit Haldor hatten verhindern wollen, hätten sie ihr Ziel dann nicht ebensogut dadurch erreichen können, daß sie ihren Ruf statt sie selbst vernichteten? Haldor würde nie eine Frau zu einer Kaiserin machen, die das Gespött der ganzen kandarianischen Gesellschaft war. Es war ein hoher Preis, aber wenn sie dadurch die Möglichkeit erhielt, ihr Leben mit Roman zu verbringen, war sie bereit, ihn zu zahlen. Das Ende kam schnell und unverhofft, nur vierzehn Tage nach Romans Ankunft. Er war mit seinem Speer an den Strand gegangen, um Fische zu jagen, und sie erledigte noch schnell die paar Handgriffe, die nötig waren, um ihren einfachen Haushalt in Ordnung zu halten. Gerade als sie aufbrechen wollte, um ihm nachzugehen, hörte sie das Geräusch einer Flugmaschine. Die Insel war schon öfters überflogen worden, aber diese Maschine schwebte in geringer Höhe und schien zu kreisen. Sie lief eilig an den Strand, um Roman zu warnen, aber es war bereits zu spät. Die Maschine setzte gerade zur Landung im Sand an, und Roman bemerkte sie offenbar gar nicht. Er schwamm parallel zum Ufer, den Kopf mit der Tauchermaske unter Wasser, so daß nur dessen Schnorchel herausragte. Annrith versteckte sich im Gestrüpp und beobachtete, wie die Luke der Flugmaschine aufging und zwei dunkelgekleidete Männer auf den Strand traten. Sie spürte einen Angstschauer, als sie den großkalibrigen Nadler sah, den einer der beiden trug. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wer die Männer sein konnten und was sie hier wollten, aber ihr Erscheinen war gewiß kein Zufall.
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Sie stand wie gelähmt, unschlüssig, was sie tun sollte. Roman schwamm immer noch sorglos in einiger Entfernung vom Ufer, ohne etwas zu bemerken, und die Fremden schienen seine Rückkehr an den Strand abwarten zu wollen. Das war immerhin ein hoffnungsvolles Zeichen. Denn wenn es ihre Absicht war, Roman zu töten, hätten sie das sofort tun können. Der Nadler konnte dieses Werk über weitaus größere Entfernungen vollbringen als jene, die sie gegenwärtig von ihrem Opfer trennte. Trotzdem konnte sie nicht einfach dastehen und zusehen. Sie verließ ihr Versteck und lief über den dunklen Sand. Sie hatte die Entfernung zwischen sich und den beiden Männern vielleicht auf die Hälfte verkürzt, als Roman erstmals den Kopf aus dem Wasser hob und zum Strand blickte. Er winkte mit dem Arm, rief etwas, das sie nicht verstehen konnte, und schwamm dann zum Ufer. Die Fremden drehten daraufhin die Köpfe, erblickten sie und beobachteten gelassen, wie sie näher kam. Beide Gesichter waren ihr unbekannt, und doch hatten sie irgend etwas Vertrautes an sich – vielleicht der starre, maskenhafte Ausdruck, den sie unwillkürlich mit professionellen Mördern in Verbindung brachte. »Was wollen Sie hier?« fragte sie scharf, als sie vor den Fremden stehenblieb. Der untersetzte Mann mit dem Nadler in der rechten Armbeuge musterte interessiert Annriths spärlich bekleideten Körper. »Also, diese Stadtmädchen hängen mir langsam zum Hals raus«, sagte er. »Vielleicht sollte ich mal auf Insulanerinnen umsteigen.« »Hör auf mit dem Unsinn!« fuhr ihn sein Begleiter an. »Wir sind hier nicht zu unserem Vergnügen.« »Was spricht dagegen, Arbeit und Vergnügen miteinander zu verbinden?« maulte der Mann mit der Waffe. Roman, der an den Strand watete, in einer Hand die Tauchermaske, in der anderen den Speer, reichte das Wasser jetzt gerade noch bis an die Knie.
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»Was ist hier los?« rief er. »Wer sind diese Leute?« »Das ist unser Mann«, sagte der ältere der beiden Fremden, griff mit der Hand in seine Jackentasche und brachte eine kleine, pistolenähnliche Waffe zum Vorschein. »Paß auf das Mädchen auf.« »Geh zurück, Roman!« schrie Annrith verzweifelt. Aber er stürmte blindlings ans Ufer, hatte offenbar nur den einen Gedanken, sie vor welcher Gefahr auch immer zu retten. »Roman!« schrie sie nochmals, denn der Fremde richtete nun die kleine Waffe auf ihn, zielte sorgfältig und schoß. Es gab einen Knall, als wäre eine Flasche entkorkt worden, und Roman brach zusammen. Die drohende Mündung des Nadlers mißachtend, wollte Annrith zu ihm laufen. Der gedrungene Mann packte sie jedoch am Arm, grub seine kräftigen Finger schmerzhaft in ihr Fleisch und zog sie zu sich heran. »Mach keine Dummheiten, Mädchen«, zischte er durch seine verfärbten Zähne. »Deinem Freund passiert schon nichts. Das war nur ein Betäubungsschuß. Wir haben Anweisung, ihn lebend und unversehrt an seinen Bestimmungsort zu bringen.« »Was für ein Bestimmungsort?« »Das geht dich nichts an. Aber wenn – « »Du redest zuviel«, knurrte der ältere Mann, der sich über Roman gebeugt und ihn untersucht hatte und sich nun aufrichtete und auf sie zukam. »Ach, stell dich nicht so an«, sagte der Untersetzte. »Wir können uns ruhig ein bißchen amüsieren, bevor – « »Halt's Maul, du geiler Hund!« fauchte sein Begleiter und hob die Betäubungspistole. »Folcho hat gesagt, lebend und unversehrt. Von Vergewaltigung war nicht die Rede.« Folcho! Der Name ließ eine Alarmsirene in Annriths Gehirn schrillen. »Bitte nicht!« schrie sie, aber es war bereits zu spät. Die Betäubungspistole knallte abermals. Ein Bienenschwarm schien plötzlich in ihrem Kopf zu erwachen und ihr Bewußtsein mit einem nervenaufreibenden Sirren zu
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durchdringen. Sie brach ohnmächtig zusammen.
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19 Annrith erwachte brutal aus der süßen Vergessenheit des Schlafs, Romans Bild, als er in den grauen Sand stürzte, sofort vor Augen. Aber die Insel, der Strand und Roman waren fort. Sie lag in einem Bett, in einem weichen, prunkvollen Bett in einem Zimmer, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Verwirrt setzte sie sich auf, dann packte sie die Angst, als sie ihre Umgebung wiedererkannte. Sie war im Schlafzimmer jener Suite, die sie einst im Kaiserlichen Palast bewohnt hatte, und obgleich Tageslicht durch die Fenster fiel, zitterte sie am ganzen Leib, denn die Erinnerung an die tödliche Bedrohung der Tath drängte sich mit unverminderter Heftigkeit in ihr Bewußtsein. Sie sah an sich hinab und stellte fest, daß sie noch dieselbe Kleidung wie auf der Insel trug. Wieviel Zeit war vergangen? Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Auf halbem Weg zur Tür erlitt sie einen plötzlichen Schwächeanfall und mußte sich auf den Stuhl vor der Frisierkommode setzen. Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel anstarrte, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem von Olan Therys vornehmer, wohlerzogener Tochter. Das Mädchen, das hier vor einigen Monaten gesessen hatte, existierte nicht mehr. Dieses Gesicht war schmal und dunkel, wie das eines Bauernmädchens und das zerzauste Haar eine wilde, rot schimmernde Mähne. Es war das Gesicht jenes Mädchens, das Roman liebte und seine Nähe brauchte. Alles andere zählte nicht. Der Gedanke gab ihr wieder Kraft. Sie stand auf und ging zur Schlafzimmertür. Sie ließ sich öffnen. Der Raum dahinter war tadellos eingerichtet, aber menschenleer. Sie schritt eilig hindurch zur Eingangstür. Irgendwo mußte hier jemand sein, der ihr sagen konnte, wo Roman war. Die Tür war abgesperrt. Sie trommelte mit den Fäusten dagegen und schrie vor Wut, aber schließlich, als ihre Hände
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zu bluten anfingen, mußte sie die Zwecklosigkeit ihrer Anstrengungen einsehen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf ihre Gefängniswärter zu warten, wann immer es diesen zu erscheinen beliebte. Sie beruhigte sich ein wenig, denn ihr fiel ein, daß einer der Männer auf der Insel gesagt hatte, sie hätten Anweisung, Roman lebend und unversehrt an seinen Bestimmungsort zu bringen. Aber das warf eine Menge Fragen auf. Warum, zum Beispiel, hatte man sie beide nach Belphar gebracht? Sie selbst war gewiß nicht hier, um Haldor zu ehelichen, der über die Geschehnisse auf Sephranos Party mittlerweile genauestens im Bild sein mußte. Vielleicht hatte er sie herbringen lassen, um sich an ihr zu rächen, denn die Schande, die sie auf sich geladen hatte, mußte auch ihre Schatten auf ihn geworfen haben. Aber in dem Fall wäre es aus seiner Sicht vermutlich sinnvoller gewesen, sie still und unauffällig auf der Insel töten, statt in diese Suite hier bringen zu lassen. Desgleichen hätte er Roman – Von neuer Sorge um ihn erfüllt, drehte sie sich wieder zur Tür herum – gerade rechtzeitig, um sie aufgehen zu sehen. Sie stürmte vor, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen und starrte die Gestalt an, die auf einem summenden Metallgerüst auf sie zuglitt. Der Kopf war der von Haldor, ebenso die Schultern, aber dieses verkrümmte, aufgedunsene Wrack von einem Körper – Er sah sie einen Moment schweigend an, das Gesicht zu einer schmerzvollen Maske verzerrt. »Es scheint, als hätten wir uns beide verändert«, sagte er schließlich. »Ich verstehe nicht.« »Nein, du verstehst nicht – nicht einmal jetzt«, sagte er erbittert. »Ist dir oder deinem seligen Vater nie der Gedanke gekommen, daß meiner Weigerung, weder dich noch ihn zu empfangen, etwas anderes als plötzliche Interesselosigkeit zugrunde liegen könnte? Der Attentäter hat bessere Arbeit geleistet, als er ahnte. Anstatt mich sofort zu töten, hat er es so angestellt, daß ich ganz allmählich sterbe, jeden Tag ein bißchen mehr – in diesem zerfallenden, verstümmelten
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Wrack.« »Haldor, ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung – « »Natürlich nicht. Du warst so mit deinen selbstsüchtigen kleinen Plänen beschäftigt, daß es dir nicht einmal in den Sinn kam, ich könnte leiden. Wäre das Attentat nicht gewesen, wärst du jetzt die mächtigste Frau im Imperium. Ich hielt dich für etwas Besonderes, für rein und unverdorben. Du hast deine Rolle gut gespielt, so gut, daß ich darauf hereingefallen bin. Lingard hat mich gewarnt – Lingard, der treuste und offenste Mensch, den ich kenne. Aber ich wollte nicht auf ihn hören. Selbst als Folcho mir die Aufzeichnung des Geschehens in Sephranos Grotte vorführte, wollte ich es immer noch nicht glauben. Ich redete mir ein, das Ganze sei ein geschickt aufgezogener Schwindel und die Frau, die sich dort zur Schau stellte, eine andere mit einer Pseudohautmaske deines Gesichts.« »Ich stand unter Drogen.« »Ja, ich weiß«, sagte Haldor. »Der große Spaßmacher hat es mir selbst bestätigt, bevor er starb.« »Sephrano tot? Du hast ihn umbringen lassen?« »Nein. Er starb an einem seiner Späße, ein paar Tage nach diesem Vorfall. Er soll einige seiner Gäste hinunter in die Grotte geführt haben, wo er dann von zweien von ihnen, die anscheinend etwas ausgelassen waren, trotz heftiger Protestschreie ins Wasser geworfen wurde. Die Schreie verstummten aber rasch. Einige Tage zuvor hatte er einen Canarzaschwarm in dem See losgelassen, und die Fische waren so ausgehungert, daß sie sich schon gegenseitig auffraßen. Die Gäste fanden das Schauspiel köstlich. Wenn man bedenkt, daß sie die Opfer dieses Scherzes hätten sein sollen, kann man ihnen das kaum verübeln, oder?« Annrith überlegte, ob Sephranos Tod sie befriedigte, aber die Vorstellung, daß sein knochiger Körper von Tausenden winziger, gieriger Mäuler zerfleischt worden war, erfüllte sie nur mit Abscheu. »Ich finde sein Ende ziemlich poetisch«, bemerkte Haldor.
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»Aber man kann einen Scherz auch zu weit treiben. Dein Inselidyll, zum Beispiel. Vielleicht hätte ich es noch hingenommen, daß mir mein droit de Seigneur durch Sephranos Scherz geraubt wurde, aber dein Verhalten auf der Insel war unentschuldbar – wenngleich das Publikum in diesem Fall sehr viel kleiner war.« »Publikum?« »Flugspione, die von einem nahe gelegenen Schiff gesteuert wurden«, erklärte Haldor. »Ich erhielt täglich Aufzeichnungskristalle. Wenn ich sie ansah, war mir jedesmal, als hätte ich Sephranos Canarzas in mir, als würden sie mir das Herz und die Gedärme zerfleischen. Eure Affäre in der Grotte war etwas Tierisches, zustande gekommen durch Drogeneinnahme, aber auf der Insel warst du du selbst und hast dich deinem Naturell entsprechend verhalten.« Das Wissen, daß ihre Romanze mit Roman in allen Einzelheiten von Spionaugen beobachtet und aufgezeichnet worden war, hätte sie beschämen müssen, aber es war ihr gleichgültig. Nichts vermochte die Erinnerung an das, was auf der Insel geschehen war, in den Schmutz zu ziehen. »Ich gab Roman nur, was, wie ich glaubte, du zurückgewiesen hattest«, sagte sie. »Ich liebe ihn.« »Und jetzt?« Die goldenen Augen sahen sie eindringlich an. »Wenn du uns am Leben läßt, werde ich ihn weiterhin lieben«, sagte sie schlicht. »Selbstverständlich lasse ich euch leben«, erwiderte Haldor. »Der Junge, den du Roman nennst, ist mir teurer als mein eigener Sohn.« »Du machst dich über mich lustig!« »Keineswegs, meine liebe Annrith. Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, daß Romans unglaubliche Ähnlichkeit mit mir auf etwas anderes als einen bloßen genetischen Zufall zurückzuführen sein könnte?« »Du meinst, er ist dein Sohn?« »Mehr als das. Er ist einer von sechs Klon-Ablegern, die
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aus einer Kultur meiner eigenen Zellen gezüchtet wurden – also ein künstlich geschaffener Zwilling von mir.« »Zu welchem Zweck?« »Es überrascht mich, daß dein berechnender Vater sich nicht die Mühe gemacht hat, die Vergangenheit seines zukünftigen Schwiegersohns ein wenig genauer zu durchleuchten«, entgegnete Haldor. »Aber selbst wenn er der Wahrheit auf die Spur gekommen wäre, bezweifle ich stark, daß er dir unter diesen Umständen etwas davon gesagt hätte.« »Die Wahrheit? Was für eine Wahrheit?« »Die Wahrheit über einen Kaiser, der über siebzig ist, aber gut dreißig Jahre jünger aussieht.« Annrith furchte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Du redest, als wärst du dein eigener Vater, der alte Kaiser Haldor, dessen Nachfolge du vor zwanzig Jahren angetreten hast.« »Vielleicht hätte ich besser sagen sollen: ein Kaiser, dessen Verstand und Gehirn über siebzig Jahre alt sind«, sagte Haldor. »Der Körper ist in der Tat um die Vierzig.« »Wie kann denn ein Gehirn älter sein als der Körper, der es beherbergt?« »Begreifst du immer noch nicht? Ich versichere dir, Roman ist nicht hierher gebracht worden, weil ich mich an ihm rächen will.« Plötzlich erfaßte Annrith die Wahrheit mit all ihren schrecklichen Konsequenzen. »Du – du willst Romans Körper stehlen?« »Man kann nicht stehlen, was einem schon gehört«, sagte Haldor. »Ohne den Zellkern, den Paradon so sorgfältig implantiert hat, hätte er nie existiert. Das Leben, dessen er sich bislang erfreut hat, war ein Geschenk von mir – und jetzt ist es an der Zeit, daß er diese seine Schuld begleicht.« »Nein!« Annrith kämpfte hilflos gegen das Entsetzen an, das ihren Verstand wie ein Nebel einhüllte. »Meine liebe Annrith, ich habe keine andere Wahl«, erklärte Haldor. »Ich versichere dir, dieser Schritt fällt mir nicht leicht. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, die Bürde der
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potentiellen Unsterblichkeit zu tragen? Paradon und ich waren bereits übereingekommen, daß es keinen zweiten Transfer mehr geben sollte. Ich hatte mir vorgenommen, dich zu heiraten, eine Familie zu gründen und die Macht an unsere Nachkommen weiterzugeben, so daß ich eines Tages in Frieden hätte sterben können. Aber das Attentat hat die Situation von Grund auf verändert. Es kann nur noch wenige Wochen dauern, bis die Zerfallserscheinungen dieses Körpers den kritischen Punkt überschreiten, und das Imperium braucht mich. Mir bleibt keine andere Wahl, als die Verantwortung auf mich zu nehmen.« Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich in dem grauen Nebel ab. »Du sagtest, es gäbe noch andere wie Roman.« »Sorgsam auf zwei Planeten verteilt«, erklärte Haldor. »Aber die Verschwörer haben sie systematisch aufgespürt und getötet – alle, bis auf den einen, der durch Sephrano und seine Helfershelfer aus seiner natürlichen Umgebung herausgerissen wurde. Dieser eine heißt Roman, und bald wird er Haldor heißen.« Als sie in das schmerzverzerrte Gesicht sah und in den goldenen, harten Augen forschte, erkannte sie, daß Bitten keinen Sinn hatte. Die Entscheidung war bereits vor zwanzig Jahren gefallen, als man Roman schuf. »Diese Situation wird nie wieder entstehen«, fuhr er fort. »Das Geheimnis des Transferverfahrens wird mit Paradon sterben, und bis dahin wird es ohnehin nicht mehr wichtig sein. Unsere Nachkommen – « »Unsere Nachkommen!« stieß sie rauh hervor, fassungslos über seine stillschweigende Annahme, sie würde ihn heiraten. »Wir beide – und du in Romans Körper?« Ihr wurde speiübel. »Da könnte ich ja gleich mit einer Leiche ins Bett gehen.« »Ich sehe da keine Analogie«, bemerkte Haldor ruhig. »Der fragliche Körper scheint dir bisher beachtliche Befriedigung verschafft zu haben. Aber vielleicht braucht es dazu gar nicht zu kommen. Laut Paradon bist du schwanger; die Thronfolge
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ist also bereits gesichert. Und das Kind wird, zumindest genetisch gesehen, meines sein.« Die Neuigkeit traf Annrith mit der Wucht einer Explosion, zerstörte ihre mühsam bewahrte Fassung und beraubte sie allen Denkvermögens. Haldors zerfurchte Züge verschwammen vor ihr, und sie brach mit einem qualvollen Stöhnen zusammen.
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20 Folchos gewohnter schwerfälliger Gang war einem beinahe munteren Ausschreiten gewichen, als er das Zimmer durchquerte und auf die Terrasse hinaustrat, wo Lingard stand. Er hatte die Wahrheit des Grundsatzes, der seine Handlungsweise bestimmte, nie angezweifelt: Wissen ist Macht. Wenn man wußte, warum ein Mensch tat, was er tat, hatte man den Schlüssel zu seinen geheimen Träumen und Ambitionen, und wenn man dieses Wissen besaß, konnte man jeden, sogar den Kaiser, benutzen. Die Gewißheit, daß seine Pläne sogar noch besser als erwartet gediehen, hatte ihn in eine ungewöhnlich lebhafte Stimmung versetzt, und er verspürte das Bedürfnis, mit dem einen anderen Menschen zu reden, dem er voll vertrauen konnte. »Mylord, ich erhielt gerade Nachricht von Kronak, daß die Transferoperation morgen stattfindet und daß er assistieren wird«, erklärte er mit einem triumphierenden Grinsen. Lingards schwarzbärtiges Gesicht war ernst. »Den Göttern sei Dank, daß Haldor sich endlich entschlossen hat«, sagte er. »Ich befürchtete schon, er könnte die Sache zu lange hinausschieben. Wir hatten wirklich Glück, daß es Euren Männern gelang, diesen Roman aufzustöbern, ehe die Mörder ihn faßten.« »Mylord?« Folcho stellte verwundert den haarlosen Kopf schräg. Daß Lingard in Rätseln sprach, war ihm neu. »Ich rede von Eurem Eingreifen auf Kandar«, erklärte Lingard. »Die Verschwörer hatten ganz offensichtlich eine gut funktionierende Organisation aufgebaut, um sämtliche Ableger auszulöschen. Wenn sie ihn zuerst gefunden hätten – « Folchos feister Körper erbebte, so heftig war der Drang, lauthals zu lachen. »Mylord belieben zu scherzen.« »Scherzen?« Lingards Gesicht verfinsterte sich. »Ich wüßte nicht, was an der Situation komisch sein sollte.« Folchos Heiterkeit schwand. Lingard war entweder ein
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großer Heuchler oder ein unglaublicher Dummkopf. Auf jeden Fall schien er nicht zu begreifen, wieviel Planung und harte Arbeit nötig gewesen waren, um die gegenwärtige Situation zu schaffen. »Diese Gefahr bestand zu keinem Zeitpunkt, Mylord«, versicherte er ihm. »Der Ableger Roman war von Anfang an als der geeignetste ausersehen.« »Ausersehen? Von wem?« »Ihr sagtet vorhin selbst, daß die Gefahr bestand, der Kaiser könne den Transfer zu lange hinausschieben. Zum Wohl aller Beteiligten war es deshalb erforderlich, seine Entscheidung zu beschleunigen. Ein Mann, dem ein halbes Dutzend lebensfähige Körper zur Auswahl stehen, dürfte es kaum eilig haben, wenn er jedoch weiß, daß ihm nur ein solcher Körper bleibt – « »Wollt Ihr damit sagen, daß die anderen Ableger von Euren Männern getötet wurden?« fragte Lingard. »Aber natürlich. Ich ging dabei von dem Grundsatz aus, daß das Leben um so kostbarer wird, je geringer die Chancen seines Fortbestehens sind.« »Aber gleich fünf von ihnen zu töten – « Lingard war sichtlich erschüttert. »Wenn nun etwas schiefgegangen wäre?« »Aber es ist nichts schiefgegangen, Mylord«, erwiderte Folcho, leicht ungehalten darüber, daß dieser stumpfsinnige schwarze Bär von einem Mann seine Gerissenheit nicht zu schätzen wußte. »Niemand konnte voraussehen, daß der Kaiser den Transfer hartnäckig so lange hinausschieben würde, aber als das offensichtlich wurde, waren weitere Maßnahmen unumgänglich.« » Weitere Maßnahmen?« »Mylord, wir wollen doch, daß zumindest zwischen uns Offenheit herrscht«, sagte Folcho. »Ihr wißt so gut wie ich, daß Paradon die Transferoperation um niemandes als des Kaisers willen durchgeführt hätte. Und als der Kaiser beschloß, sich keinem Transfer mehr zu unterziehen, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, die kandarianische Hexe zu
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ehelichen und Nachkommen zu zeugen, mußte etwas geschehen. Selbst wenn der Anschlag auf Annrith mittels der Tath geglückt wäre, hätte das nur eine aufschiebende Wirkung gehabt, denn da der Kaiser sich nun einmal entschlossen hatte zu heiraten, wäre eine andere geeignete Kandidatin zweifellos rasch zur Stelle gewesen.« »Dann wart Ihr auch für den Anschlag auf Annrith verantwortlich?« fragte Lingard. »Mylord, hier tut Ihr mir Unrecht. Ich müßte mich schämen, ginge ich so stümperhaft zu Werke. Ich ziehe subtilere Methoden vor, wie zum Beispiel die Episode in Sephranos Grotte. Unser einziges Interesse an Annrith war, ihren Einfluß auf den Kaiser zu brechen. Das ließ sich am wirkungsvollsten dadurch erreichen, daß man das Bild, das er sich von ihr machte, zerstörte, anstatt sie zu töten. Was den Mordanschlag auf sie betrifft, so muß ich gestehen, daß ich anfangs glaubte, Ihr könntet die Hand dabei im Spiel gehabt haben.« »Ich?« Lingard erhob, befremdet über diese Unterstellung, die Stimme. »Meine Götter, Mann! Was wäre das für ein Krieger, der sich solcher Methoden bedient? Noch dazu gegen eine Frau – wenn es auch eine solche Hure ist!« »Vergebt mir, jemals einen derartigen Gedanken gehegt zu haben.« Folcho neigte unterwürfig den Kopf und dachte gleichzeitig, welch ein Heuchler dieser bärtige Riese doch war. In der Tat, was war das für ein Krieger, der die schmutzige Arbeit anderen überließ, sich aber nicht scheute, deren Früchte zu ernten! »Aus der Vernehmung Golbleens und meinen anschließenden Nachforschungen ergibt sich eindeutig, daß der Befehl zur Ermordung Annriths von Kadath kam, von der selphardischen Matriarchin persönlich.« »Wißt Ihr, welchen Zweck sie damit verfolgt haben könnte?« »Liegt das nicht auf der Hand, Mylord?« fragte Folcho. »Der Kaiser hatte endlich beschlossen zu heiraten. Glaubt Ihr, die Selpharderinnen hätten sich diese Gelegenheit, ihre Macht
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zu erweitern, entgehen lassen? Die Beseitigung Annriths war als erster Schritt gedacht. Bald danach wäre die sorgfältig ausgesuchte selphardische Kandidatin auf den Plan getreten, um die Stelle der Kandarianerin einzunehmen und zum Ohr und der Zunge Kadaths im Bett des Kaisers zu werden.« Lingard kniff die schwarzen Augenbrauen zusammen. »Als Ihr uns die Vernehmung Golbleens vorführtet, habt Ihr angedeutet, er sei auch in das Attentat auf den Kaiser verwickelt. Wenn dem so war und er im Dienst der Selpharderinnen stand, wie ist es dann möglich, daß der Anschlag sie anscheinend doch sehr überraschte?« Folcho empfand gelinde Verwunderung. Er hätte nie für möglich gehalten, daß sich hinter dem gutmütig-offenen Wesen des Regenten ein derart hintergründiger Humor verbarg. »Mylord, an Golbleens Beteiligung an dem ersten Anschlag besteht kein Zweifel. Der zweite ist jedoch, soweit es den Kaiser und Paradon betrifft, immer noch ein Rätsel. Sie mögen einen Verdacht haben, aber es fehlt ihnen an der nötigen Gewißheit, die allein in den Augen der beiden edlen Herren eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Kadath rechtfertigen würde. Selbstverständlich stellen die Selpharderinnen nicht die offizielle planetarische Regierung, aber jegliche Strafmaßnahmen gegen sie würden unsere Beziehungen mit Kadath ernsthaft gefährden. So gesehen, besteht auf Dauer eine Pattsituation, die unter den gegebenen Umständen als durchaus befriedigend anzusehen ist.« »Befriedigend?« Lingard furchte die Stirn. »Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Befriedigend für wen?« Folcho unterdrückte seinen Ärger. Er sah nicht, welchen Sinn dieses Versteckspiel hatte, insbesondere zu diesem Zeitpunkt, da er sich ein gewisses Maß an Lob für seine hervorragende Arbeit erhofft hatte. »Alles steht zum besten, Mylord, genügt Euch das nicht? Die Menschen im Imperium sind dem Kaiser treu ergeben und werden ihm zujubeln, wenn er sich nach der Transferoperation wieder gesund und kraftvoll der Öffentlichkeit präsentiert. Was wollt Ihr mehr?«
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»Mir ist unbegreiflich, wie Ihr so reden könnt, obgleich die Drahtzieher des heimtückischen Anschlags auf Haldor Euren eigenen Worten nach immer noch auf freiem Fuß sind«, sagte Lingard. »Mylord belieben wieder einmal zu scherzen«, seufzte Folcho. Ihm schien, daß Lingard sein Spiel allmählich zu weit trieb. »Scherzen? Heißt das – « Lingard unterbrach sich und starrte Folcho eindringlich an. »Meine Götter, Mann! Heißt das etwa, daß Ihr die ganze Sache von Anfang an geplant habt?« »Mylord, wir konnten schwerlich auf ein Eingreifen der Götter warten, oder? Ein Ffrinjesüchtiger ist in hohem Maße beeinflußbar. Man kann ihn wie einen Roboter programmieren, eine bestimmte Aufgabe mit peinlicher Genauigkeit auszuführen. Das Attentat war von vornherein darauf abgestellt, eine nicht-tödliche Verletzung herbeizuführen, mit dem Ziel, einen Transfer als dringlich und wünschenswert erscheinen zu lassen. Ich war mir sicher, daß Paradon es nicht würde ertragen können, den Kaiser ständig leiden zu sehen. Mylord!« Das letzte Wort war ein schriller Entsetzensschrei, denn Lingard riß den langen, gebogenen Dolch aus der juwelengezierten Scheide und stürmte mit wutrotem Gesicht vor. Folcho fiel auf die Knie; sein unförmiger Körper erzitterte vor Angst. »Mylord, es war unumgänglich! Ihr selbst sagtet doch, daß etwas geschehen müsse! Ihr selbst – « Die lange Dolchklinge fand ihr Ziel, und Folchos Protestrufe, seine Ambitionen und sein Leben endeten mit einem gurgelnden Aufschrei. Lange Zeit stand Lingard da und betrachtete die blutige Klinge des Dolchs in seiner Hand. Er widerstand der Versuchung, sie in die eigene Brust zu stoßen und dem Leben, das ihm plötzlich zur Last geworden war, ein Ende zu setzen. Er mußte bezahlen, bevor ihm diese Erlösung zuteil werden konnte. Erst mußte er versuchen, den Schaden irgendwie
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wiedergutzumachen, den er durch seine Dummheit und Einfalt angerichtet hatte. Jetzt endlich begann er zu verstehen, was Haldor an jenem Tag gemeint hatte, als er vom Alter und der wachsenden Bürde der Schuld gesprochen hatte. Es war zwecklos, sich vormachen zu wollen, ihn träfe keine Schuld, weil er von Folchos unfaßbaren Schandtaten nichts gewußt hatte. Hätte er dieser Kreatur nicht seine Unterstützung und seinen Schutz zugesagt, hätte sie nie gewagt, ihren teuflischen Plan zu verwirklichen. Gewiß, zu Anfang hatten ihn Zweifel geplagt, aber er hatte sie selbstsüchtig beiseite geschoben, um in den Genuß eines neuen Lebens zu kommen. Dieser sein Egoismus war schuld an allem – schuld an der schweren Verletzung und den darauffolgenden Leiden des Mannes, der sein teuerster Freund und Kamerad gewesen war. Das einzige, was er jetzt tun konnte, war, Haldor alles zu gestehen und um eine Strafe zu bitten, die ihm eine Wiedergutmachung nach besten Kräften ermöglichte. Gnade wollte er nicht. Das wäre unerträglich gewesen.
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21 Haldor betrachtete die vor ihm kniende, riesige Gestalt, und der Zorn, der während des unglaublichen Geständnisses in ihm gewütet hatte, verflog. »Steh auf, Lingard«, befahl er. »Du warst ein Narr, aber du bist immer noch mein Freund.« »Wie kannst du das sagen nach allem, was geschehen ist?« Lingard verzog gequält das Gesicht. »Du hättest sterben können wegen meiner Dummheit, und du hast über alle Maßen gelitten – « »Man könnte es so sehen. Aber ich glaube, daß Folcho seinen Plan mit oder ohne deine Zustimmung ausgeführt hätte. Im Grund trifft dich keine Schuld.« »Du bist zu nachsichtig.« »Was willst du denn, das ich tue?« fragte Haldor. »Soll ich dich in Schimpf und Schande davonjagen? Das wäre zweifellos das Dümmste, was man tun könnte, öffentlich bekanntzugeben, daß der geachtete Regent seinen besten Freund, den Kaiser, verraten hätte. Das Volk ist dir ebenso treu ergeben wie mir. Sein Vertrauen in dich zu erschüttern hieße, die Stabilität des Imperiums ernsthaft zu gefährden.« »Du machst dich über mich lustig, Haldor«, sagte Lingard kläglich. »Um der Götter willen, Mann! Sei nicht so verdammt demütig!« brüllte Haldor mit wieder aufwallendem Zorn. »Wie kann ich denn weiterleben, ohne jedesmal, wenn ich dich sehe, daran zu denken, was ich dir angetan habe?« fragte Lingard. »Ich hätte mich umbringen sollen, nachdem ich Folcho, diese Kröte, erschlug.« »Und welchen Sinn hätte das gehabt?« fragte Haldor. »Die Sache ist ausgestanden.« »Noch nicht ganz«, widersprach Lingard. »Die Transferoperation liegt noch vor dir. Sie war schon immer ein beträchtliches Wagnis, und Paradon ist nun alt – « »Das mag sein, aber ich habe immer noch größtes
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Vertrauen in sein Können. Was Kronak angeht, so werde ich dafür sorgen, daß man ihn entläßt. Paradon muß einen verläßlicheren Nachfolger haben – oder hättest du es lieber, wenn er bleibt und das Geheimnis des Transfers erfährt, damit er dir in Zukunft dienlich sein kann? Deine Ableger sind ja noch sämtlich vorhanden.« »Glaubst du wirklich, ich könnte mit dieser Schuld, die ich auf mich geladen habe, ein weiteres Leben ertragen?« Haldor schüttelte den Kopf. »Du Ärmster! Du bist erst zufrieden, wenn man dich bestraft, ist es nicht so? Aber ich lasse dich nicht töten. Ich will keine Rache, ich trage selbst schon genug Schuld.« Mit einem Summen seiner motorisierten Gehhilfe glitt er zum Fenster. Die Dämmerung brach über Largol herein, und am purpurroten Himmel erschienen bereits die ersten Sterne. »Komm her, Lingard«, sagte er leise. »Erinnerst du dich an die Zeit, als du und ich Seite an Seite standen und wir unsere Schwerter herausfordernd zu diesen Sternen erhoben? Wie wir davon sprachen, ein Reich aufzubauen, das über Belphars Sonne und die äußeren Welten hinausreichte? Und wie wir dann nach vielen Jahren erkannten, daß es hier in den Dreizehn Welten mehr als genug Arbeit für uns gab? Aber diese Sterne mit ihren Hunderten von Planeten sind immer noch da, auch wenn wir keine Verbindung zu ihnen haben. Fragst du dich nicht manchmal, was dort vorgeht? Ob es dort vielleicht andere Reiche gibt? Oder ob die lange Nacht der Barbarei über sie hereingebrochen ist? Da du anscheinend unbedingt eine Strafe haben willst, werde ich sie dir geben. Ich schicke dich ins Exil, wo du deine Schuld sühnen und gleichzeitig etwas Nützliches tun kannst. Nimm eines der neuen Verzerrerantriebsschiffe, Lingard, und flieg zu diesen Sternen. Wenn du Antworten auf einige meiner Fragen hast, komm zurück.« Er war ein Augenpaar, seine Welt ein blasser grauer Ausschnitt von der Zimmerdecke etwa zwei Meter über ihm. Manchmal bemerkte er undeutliche Bewegungen am Rand seines Gesichtsfeldes, aber die Muskeln, die seine Augen
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hätten bewegen sollen, gehorchten ihm nicht. Er konnte nur starr nach oben sehen oder die mit Farben durchsetzte Dunkelheit hinter seinen bleiernen Augenlidern betrachten, die er mit einer qualvollen konzentrierten Willensanstrengung ganz langsam auf und zu machen konnte. Die Existenz von Augen ließ auf einen Kopf, einen Hals, einen Körper und sogar Gliedmaßen schließen, aber er spürte nichts von alledem. Er war ein Augenpaar, das in einem Meer der Empfindungslosigkeit schwebte, seine Überzeugung, daß er ein Mensch sei, nur eine Theorie, die er nicht zu beweisen vermochte. Vielleicht war er nur eine Kamera mit zwei Verschlüssen, die sich zwar öffnen oder schließen konnten, ansonsten aber ebenso bewegungsunfähig waren wie die Decke, die auf ihn hinabstarrte. Ein Augenpaar und – Das Geräusch von Schritten machte ihn auf die Existenz eines weiteren Sinnes aufmerksam. Er besaß auch zwei funktionstüchtige Ohren. Nahm er die Sinnesorgane zum Maßstab, war er zu mindestens zwei Fünfteln ein Mensch. Ein Zwei-Fünftel-Mensch, und er hieß – Roman. Über diese Erinnerung hinaus war alles verschwommen. Da war noch mehr, sehr viel mehr, aber alles eine formlose Masse, die sinnvoll zu ordnen seine Fähigkeiten überstieg. Er lebte und wußte, daß er hier und jetzt war; das sagten ihm die beiden Sinne, die er besaß. Die Vergangenheit war bedeutungslos für ein Wesen, das nur aus Augen und Ohren bestand. Die Schritte waren jetzt näher. Ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld, verschwommen zuerst, dann schärfer, als seine trägen Augenmuskeln es in den Brennpunkt brachten. Er sah die zerfurchten, asketischen Züge eines alten Mannes in einem schwarzen Talar. Der Talar war schmucklos bis auf eine Schlange und ein Stabemblem, die in Silber auf die Brust gestickt waren. Sendol. Ein Erinnerungsfetzen schälte sich aus dem formlosen Nebel. Der Name war irgendwie wichtig, aber in welchem Zusammenhang wußte er nicht mehr. Der Name und die Erinnerung an schwarze Talare. Aber dieses Gesicht
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gehörte nicht Sendol. Sendol, den er aus Hispar kannte. Worte mit nur unklarer Bedeutung trieben in dem tauben Meer, das sein Verstand war. Die Anstrengung, sie sinnvoll zusammenzufügen, war zu groß. Er gestattete den bleiernen Augenlidern, wieder herabzusinken. »Ich halte das für äußerst unklug.« Die Stimme war müde von der Last des Alters. »Warum? Glaubt Ihr vielleicht, ich würde Eurem einzigen Exemplar Schaden zufügen, Paradon?« Eine andere Stimme, lauter, schroff vor Erbitterung. »Unter diesen Umständen ist das höchst unwahrscheinlich, meint Ihr nicht?« »Aber – « »Hört auf mit dem Gerede, Mann, und geht mir aus dem Weg!« Roman schlug die Augen wieder auf und sah sich einem anderen Gesicht gegenüber. Es war gutaussehend und von einer verblassenden, blonden Haarmähne gekrönt, jedoch von Schmerz gezeichnet, und aus den goldenen Augen sprachen entsetzliche Qualen. Die Züge waren ihm vertraut. Er kannte dieses Gesicht gut, so gut wie – Und trotzdem, dachte er mit bitterer Enttäuschung, konnte er dem Gesicht keinen Namen zuordnen. Außer der Gewißheit, daß er es kannte, gab sein leeres Gedächtnis nichts her. Da waren keine Bezugspunkte, keine Assoziationen. Er kannte diesen Mann, aber das Leben, in dem er ihn gekannt hatte, war nun weniger als ein flüchtiger Traum. Das schmerzgezeichnete Gesicht kam näher. »Das also ist der große Liebhaber. Ein stattlicher Junge, alles, was recht ist.« »Unter den gegebenen Umständen ist das kaum verwunderlich.« Ein Mundwinkel in dem vertrauten Gesicht zuckte verächtlich. »Verschont mich mit Euren überflüssigen Bemerkungen, Paradon. Sagt mir lieber – der Körper?« »In bester Verfassung. Unversehrt, kerngesund und stark
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wie ein junger Bulle.« »Eine unglückliche Wortwahl. Kann er uns hören?« »Er kann hören und sehen. Sonst nichts.« »Ich will mit ihm reden.« »Euer Majestät, davon möchte ich abraten – « »Tut, was ich sage, Paradon!« »Nun gut. Wenn Ihr darauf besteht – « Er hörte Schritte, die sich entfernten, aber das zerfurchte, gequälte Gesicht blieb über ihm, füllte sein Blickfeld aus und schaute auf ihn herab. Der Mund war zum Zerrbild eines Lächelns verzogen. »Annriths junger Bulle. Bei den Göttern, Sephrano hat die Rolle gut besetzt. Ich nehme an, du weißt, daß ich dich, wärst du jemand anderer, eigenhändig, ganz langsam und genüßlich umgebracht hätte?« »Euer Majestät, der Junge kann unmöglich begreifen, wovon Ihr sprecht«, sagte der andere. »Sein Verstand ist leer. Warum tut Ihr das?« »Weil ich es so will!« Die Stimme klang schroff und gepeinigt. »Wie Ihr wünscht. Hierdurch wird die Lähmung der Sprachzentren beseitigt, aber ich sehe immer noch nicht – « »Tut, was ich sage!« Es gab einen leisen Knall. Einen Moment später spürte Roman ein Prickeln, ein Wiederbeleben des Gefühls in seinem Hals, dessen Existenz er bislang nur vermutet hatte. Der Körper war immer noch ein Traum-Anhängsel, das er nicht fühlen konnte, aber Kopf und Hals hatte er wieder. Er drehte den Kopf ein wenig und sah von den beiden Männern zum erstenmal mehr als nur Gesicht und Schultern. Der alte Mann in dem Talar hielt einen silberfarbenen, zylindrischen Gegenstand in den blassen, langen Fingern. Er war sehr mager und groß und erinnerte an eine Vogelscheuche mit seinen knochigen Gliedern, die sich unter seinem locker sitzenden Gewand deutlich abzeichneten, wenn er sie bewegte. Der andere entpuppte sich als mißgestalteter Krüppel, der
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sich nur mit Hilfe eines fahrbaren Metallgerüsts aufrecht halten konnte. Der Eindruck von Macht, den der imposante Kopf und die Schultern hervorriefen, wurde durch das krumme, aufgedunsene Zerrbild eines Körpers darunter wieder zunichte gemacht. Die Arme wirkten normal, aber die Beine hingen verdreht und nutzlos in dem Metallgerüst. Das Gesicht. Als er es jetzt aus normalem Blickwinkel sah, erkannte er es sofort wieder. Obgleich es von Leid und Bitterkeit gezeichnet und entstellt war, wußte er, daß er dieses Gesicht millionenmal gesehen hatte. Die Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein, dazu war sie zu groß. Alle die Kindheitsträume und Spekulationen über seine Zukunft brachen plötzlich über ihn herein und formten ein vollständiges Bild. Er verstand jetzt die Bedeutung von Sendols Behauptung, ihm sei eine große Zukunft beschieden. Und er wußte, warum man ihn in diesen blaßgrauen Raum gebracht hatte. Er öffnete den Mund und zwang seine trockene Zunge, die heiseren Worte zu artikulieren: »Ihr – müßt mein Vater sein.« Das zerfurchte Gesicht starrte ihn einen Moment mit den goldenen, weitaufgerissenen Augen schweigend an. Dann flog der imposante Kopf zurück, und ein rauhes, schallendes Gelächter ertönte. »Meine Götter, Paradon! Was stellen Eure Gärtner bloß mit ihren Schützlingen an?« »Sie halten sich nur an meine Anweisungen«, erwiderte der Angesprochene. »Sie wissen nichts von dem Geheimnis.« »So? Und wie erklärt Ihr Euch das?« »Euer Majestät, es ist nichts Ungewöhnliches daran, daß ein Findelkind über seine wahre Herkunft nachgrübelt und dabei grandiose Phantasien entwickelt.« »Ja, da habt Ihr vermutlich recht. Aber es hat mich doch ziemlich aus der Fassung gebracht, dieses Wort zu hören. Vater – wahrlich ein Scherz für die Götter!« »Das mag Euch so vorkommen, aber ich möchte Euch daran erinnern, daß er in stärkerem Maß Euer eigen Fleisch
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und Blut ist als jedes Kind, das Ihr mit Annrith gezeugt haben könntet.« Das zerfurchte Gesicht verzerrte sich qualvoll. »Ihr hattet recht, Paradon. Ich hätte nicht herkommen sollen.« Ein elektrisches Summen ertönte, und das Metallgerüst beförderte seine Last zur Zimmertür. »Der Transfer?« fragte der Alte. »Wir reden später darüber«, erwiderte der andere, der ohne anzuhalten aus dem Zimmer glitt. Roman schaute zu dem knochigen alten Gesicht auf. »Sagt mir – warum hat man mich hierher gebracht?« fragte er. »Vergib mir, mein Kind«, sagte Paradon. »Aber es ist besser, manche Dinge nicht zu wissen.« »Aber ich – « Romans Frage erstarb auf seinen Lippen, denn die Betäubungspistole knallte abermals und löschte sein Denken aus. Lingard ging in dem kleinen Schiff umher und überprüfte die Anlagen, Vorräte und Ersatzteile, obwohl er das schon unzählige Male getan hatte. Sämtliche Instrumententafeln im Kontrollraum zeigten grünes Licht; das Schiff war startklar. Dem Computer war bereits der Kurs eingespeist, der ihn durch die Atmosphäre Belphars hinaus in die gewaltige Leere führen würde, vorbei an den Grenzen des Systems, wo Tarl, der äußere Eisplanet, seine einsame Bahn zog. Was jetzt noch zu tun blieb, war lediglich, den Kontrollturm zu rufen und um Starterlaubnis zu bitten. Und trotzdem zögerte er noch, beschäftigte sich eifrig mit diesen sinnlosen Arbeiten. Er, der sich in tausend Kämpfe und Schlachten gestürzt hatte, schreckte zurück vor diesem Abenteuer, denn er wußte, sobald er den Knopf drückte, der die Schiffsmaschinen in Gang setzte, tat er etwas Unwiderrufliches. Haldor war gnädig, aber in seiner Gnade viel grausamer gewesen, als er ahnte. Lingard hätte lieber einen schnellen Tod hingenommen als dies. Das Exil von Belphar und den Dreizehn Welten bedeutete ihm wenig, aber den Kameraden
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zu verlassen und vielleicht nie wiederzusehen, an dessen Seite er den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hatte – erst in den letzten paar Stunden hatte Lingard erkannt, wie schmerzlich das sein würde. Aber ein Soldat, ein Krieger konnte einen anderen nicht um etwas anflehen, selbst wenn dieser sein teuerster Freund war und ihm stets als Maßstab allen Edelmuts und aller Tapferkeit gedient hatte. Haldor war und würde immer sein Leitstern sein – aber ihre Beziehung war nie von Sentimentalität geprägt gewesen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er die unerwünschten Gedanken so vertreiben, und ging dann entschlossen in den Kontrollraum. Die Entscheidung war gefallen, jetzt mußte sie in die Tat umgesetzt werden. Er wollte die Sache jetzt schnellstmöglich hinter sich bringen, bevor er vielleicht wieder schwach wurde. Im Kontrollraum stellte er fest, daß zwischen den einheitlich grünen Lichtern der Funkanlage ein einzelnes rotes Lämpchen flackerte. Er drückte eine Taste. »Bitte, an Bord kommen zu dürfen«, sagte eine anonyme Stimme aus dem Lautsprecher oben. Verblüfft und leicht gereizt über die unerwartete Störung zu diesem Zeitpunkt, löste Lingard die Verriegelung der Hauptschleuse. Sein Ärger wuchs, und er eilte dem Besucher entgegen. Wenn das ein kleiner Hafenbeamter mit irgendeiner Routinemeldung sein sollte, würde er es schwer bereuen, gekommen zu sein. Sein Ärger wich plötzlicher Verwirrung, als der Aufzug in Sicht kam und das Metallgerüst, welches Haldor trug, leise summend ins Schiff glitt, an ihm vorbei und dann in den Kontrollraum. Er glaubte, eine Veränderung an ihm zu bemerken, eine gewisse Ruhe in den goldenen Augen und ein Nachlassen der Spannung in dem schmerzverzerrten Gesicht. Bemüht, seine wirren Gedanken zu ordnen, ging er ihm nach. »Haldor, das ist – « »Eine Überraschung?« Als Haldor das Hauptkontrollpult erreichte, drehte er sich herum. »Ja, in gewisser Hinsicht ist es
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auch für mich eine Überraschung, aber vielleicht bringt das Alter mit der wachsenden Schuld auch ein wenig Weisheit.« »Ist etwas Unvorhergesehenes geschehen?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Haldor mit einem ruhigen Lächeln. »Ich habe nur einige Dinge begriffen, die Paradon mir seit langem zu erklären versucht hat. Vielleicht hat mir der Anblick dieses Gesichts, das mein eigenes Spiegelbild ist, zu der Erkenntnis verholfen, wie besessen ich von meiner Unentbehrlichkeit war. Paradon hat recht: erst der Tod gibt dem Leben einen Sinn.« Lingard sah ihn verständnislos an. »Tut mir leid, alter Freund«, sagte Haldor. »Ich drücke mich wieder einmal auf eine Art aus, die nicht nach deinem Geschmack ist. Ich will es in einfachere Worte kleiden. Ich habe beschlossen, mich dem Transfer nicht zu unterziehen.« »Aber das Imperium!« »Wird, so die Götter wollen, unter der Herrschaft eines neuen Kaisers weiterbestehen.« »Ein neuer Kaiser?« »Roman, der meinen Namen annehmen und Annrith zur Kaiserin machen wird.« »Aber er ist doch nur ein Bauernjunge«, wandte Lingard ein. »Er ist mein Sohn – in einem tieferen Sinn als jedes von einer Frau zur Welt gebrachte Kind. Er besitzt alle meine Fähigkeiten und vielleicht nicht alle meine Fehler«, erklärte Haldor. »Er wird regieren und nach ihm seine Erben.« »Und du?« »Ich werde auf Belphar nicht mehr gebraucht. Ich habe die Bürde lange genug getragen, und ich möchte die Sterne sehen, bevor ich sterbe.« Lingard spürte plötzlich eine hoffnungsvolle Erregung. »Wir können sie gemeinsam sehen. Seite an Seite, wie immer.« Haldor schüttelte sachte den Kopf. »Nein, mein Freund. Für mich ist jetzt kein Platz mehr auf Belphar, aber du wirst
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noch gebraucht. Paradon wird dem neuen Kaiser mit weisem Rat zur Seite stehen, aber er braucht auch dich und deine Stärke und deinen Mut. Ich gehe allein – an den Rand und vielleicht darüber hinaus, wenn dieser Körper nicht vorher zerfällt.« Lingard sah in das schmerzzerfurchte Gesicht und in die goldenen Augen, in denen das Licht einer neuen inneren Vision brannte, und wußte, daß es so geschehen mußte.
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