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1. Die Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1594 blieb manchen Leuten sehr unangenehm in Erinnerung, denn in dieser Nacht war in Havanna der Teufel los, und alle spielten verrückt. Begonnen hatte dieser Irrsinn mit der Jagd auf den Generalkapitän der spanischen Krone Don Juan de Alca-
zar, dem der Gouverneur von Havanna einen Mord an einer Frau in die Schuhe geschoben hatte, um ihn loszuwerden. Don Juan befand sich zu dieser Zeit allerdings in Sicherheit auf einer kleinen Insel in der Bucht von Marimelena. Die anderen Bürger, Zecher, Seeleute und Hasardeure wurden im-
4 mer wieder aufgescheucht, durchsucht, gefilzt, herumgestoßen und fanden keine Ruhe. In der Faktorei des Deutschen Arne von Manteuffel war das nicht anders. Auch hier gelangte man nicht zur Ruhe. Das Gebäude war bereits zweimal durchsucht worden, was den blonden Deutschen langsam in Rage brachte. Vom Fenster der Faktorei aus beobachteten Arne, der Türke Jussuf und Jörgen Bruhn das Treiben der Soldaten, die von Haus zu Haus und Kneipe zu Kneipe hetzten, um alles auf den Kopf zu stellen. „Das wird eine heiße Nacht", sagte Jörgen, „in der so mancher Unschuldige verdächtigt und verprügelt wird. Dieser Stadtkommandant geht mit unglaublicher Härte vor. Fast erinnert mich diese Szene an die marodierenden Horden, die erst kürzlich Havanna überfallen haben. Das waren Schnapphähne, diesmal sind es Soldaten, aber einen großen Unterschied kann ich nicht feststellen." Arne blickte durch das Fenster auf die Straße, wo wieder ein Trupp Soldaten vorbeizog. Diesmal trieben sie mit den Musketen in der Faust einen Mann vor sich her, der alle Augenblicke harte Püffe erhielt und ein paar Male stolpernd zusammenbrach. Hin und wieder schrie der Mann voller Angst gequält auf. Die Horde zog weiter in die nächste Gasse. Das Gebrüll und Geschrei war jedoch noch eine ganze Weile zu hören. „Der ehrenwerte Señor de Retortilla spielt total verrückt", sagte Arne. „Ich nehme an, daß ihn der ehrenwerte Gouverneur bedenkenlos über die Klinge springen lassen wird, wenn er Don Juan nicht findet, denn was der eine verpatzt hat, muß der andere auslöffeln, in diesem Fall der Stadtkommandant. Verdammte kor-
rupte und hinterhältige Bande", setzte er verächtlich hinzu. Der Türke Jussuf strich mit Daumen und Zeigefinger über seinen sichelförmigen Schnauzbart und wandte sich vom Fenster ab. „Uns wird man für heute nacht in Ruhe lassen", meinte er, „die Kerle können ja nicht alle Stunde lang die Faktorei durchsuchen." ,,Die können noch viel mehr", sagte Jörgen Bruhn. „Gerade aus dem Grund, weil Don Juan oft hier war." Ja, Don Juan war oft hier gewesen, und ihn und Arne verband schon fast so etwas wie Freundschaft. Jetzt wurde er natürlich verdächtigt, den geflüchteten Generalkapitän versteckt zu haben. Da die zweimaligen Hausdurchsuchungen jedoch ergebnislos verlaufen waren, nahm Arne ebenfalls an, man würde sie für den Rest der Nacht nicht weiter behelligen. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch, denn kurz nach Mitternacht waren die Tritte von genagelten Stiefeln deutlich auf der Pier zu hören. Arne, der im milchigen Schein einer Öllampe gerade etwas in eine Kladde übertrug, hob lauschend den Kopf, als die Tritte übergangslos verstummten. Ein leises Kommando war zu hören. Jörgen Bruhn war schon beim Fenster und warf einen Blick auf die Pier. Arne sah ihn hart schlucken. „Schon wieder dieser verdammte Stadtkommandant", murmelte er betroffen. „Er hat ein halbes Dutzend Kerle dabei. Der Besuch gilt offenbar noch einmal uns." Über der Nasenwurzel des Deutschen erschien eine steile Falte, ein deutliches Zeichen seines Ärgers. Er stand auf und trat ebenfalls ans Fenster. Auf der Pier standen sechs Solda-
5 ten mit Kupferhelmen und Kürbishosen. Sie hatten Musketen geschultert und standen jetzt stramm. Vor ihnen stand Don Ruiz de Retortilla, hakennasig, gelbgesichtig und mit verkniffenen Lippen. Er schritt auf das Tor der Faktorei zu und klopfte mit den Knöcheln dagegen, hartnäckig, fordernd. Aus der Falte über Arnes Nasenwurzel war jetzt eine harte Kerbe geworden, als er den penetranten Kerl klopfen sah. Die letzten beiden Male hatte er den Stadtkommandanten noch mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Weitere Höflichkeit war jetzt nicht mehr angebracht. „Soll ich öffnen?" fragte Jörgen leise. „Ja, ich gehe selbst mit." Während Jussuf zurückblieb, gingen Arne und Jörgen Bruhn nach unten ans Tor, an das immer heftiger und fordernder gepocht wurde. Jörgen entriegelte und öffnete das Tor. Don Ruiz räusperte sich, als er Arnes harte Züge sah. Er wurde kalt und abweisend aus eisblauen Augen fast verächtlich gemustert. „Was wollen Sie?" fragte Arne barsch. Klein und häßlich stand der Stadtkommandant da. Seine sechs Soldaten musterten aus neugierigen Augen den einsehbaren Teil des Innenhofs und verrenkten sich dabei fast die Hälse. Der Mann mit der ungesunden gelben Gesichtsfarbe, die jetzt im Schein der Lampe fahl wirkte, sah verkniffen aus. Seine Nase stach scharf aus dem Geiergesicht hervor. Über dem spitzen Kinn waren die Lippen wie zwei kaum sichtbare Striche. „Ich sehe mich gezwungen, nochmals Ihr Haus und die Faktorei zu
durchsuchen", erklärte er herrisch. „Es besteht der Verdacht, daß sich der Frauenmörder doch bei Ihnen versteckt hält." „Richtig", sagte Arne höhnisch, „Sie suchen ja immer noch diesen unheimlichen Frauenmörder, diese grausame Bestie in Menschengestalt, diesen raubenden und mordenden Don Juan, der durch Havanna schleicht und unschuldige Frauen hinterrücks mordet. Wie oft waren Sie denn heute schon hier und haben Haus und Faktorei durchsucht?" „Äh - das..." „Wie oft?" brüllte Arne den zusammenzuckenden Mann an. „Heute nachmittag, dann ..." „Heute nachmittag", sagte Arne eisig, „dann zweimal in der Nacht. Sind insgesamt drei Durchsuchungen, bei denen Sie nichts fanden, ehrenwerter Señor. Ist das richtig?" „Das ist richtig", sagte Don Ruiz unruhig. Seit seinem ersten Auftritt war er merklich kleiner geworden. „Aber ich habe meine Befehle, und der Verdacht besteht weiterhin. Ich muß Sie ersuchen, das Tor freizugeben, damit die Soldaten ..." Arne ließ ihn wieder nicht ausreden. Ihm platzte fast der Kragen, und das ließ er den korrupten Stadtkommandanten auch spüren. „Es reicht jetzt", sagte Arne, „es reicht jetzt wirklich. Ich verbitte mir ausdrücklich alle weiteren Belästigungen. Mir zu unterstellen, ich würde einen gesuchten Frauenmörder in meinem Anwesen verbergen, fasse ich als persönliche Beleidigung auf, Señor, als Beleidigung meiner Ehre. Sollten Sie dennoch wagen, die Faktorei ein viertes Mal durchsuchen zu lassen, dann fordere ich Genugtuung." Don Ruiz zuckte wieder unmerklich zusammen. Dieser Deutsche war ein harter Brocken, mit dem war
6 nicht gut Kirschen essen, der würde sich wirklich nicht scheuen, Genugtuung zu verlangen. „Ich - ich tue nur meine Pflicht", sagte der Kommandant. „Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Tun Sie Ihre Pflicht. Sollten Sie aber wiederum nichts finden, dann fordere ich Sie anschließend zum Duell. Meine Ehre gebietet mir, so zu handeln. Sie dürfen die Waffen wählen." Die Nase wurde noch spitzer, die Augen traten etwas aus ihren Höhlen, und der ehrenwerte Don Ruiz begann am ganzen Körper zu zittern. „Das - das kann nicht Ihr Ernst sein, Señor de Manteuffel", murmelte er bestürzt. „Es ist mein voller Ernst. Ich habe es unter Zeugen gesagt. Ich lasse mir nicht unterstellen, einen Frauenmörder zu verbergen, zumal Sie sich bereits dreimal erfolglos davon überzeugen konnten. Ein viertes Mal lasse ich nicht ungestraft durchgehen. Und nun wählen Sie! Durchsuchen Sie weiter, und sagen Sie mir, für welche Blankwaffe Sie sich entschieden haben." Im Grunde war Don Ruiz de Retortilla ein feiger Mann, der seinen Mangel an Mut hinter herrischem Gehabe und forschem Auftreten verbarg. Im Schutz seiner Soldaten fühlte er sich sicher, aber aus einem Ehrenhändel würden sie sich heraushalten, der ging sie nichts an und war Sache der beiden Kontrahenten. Sekundenlang sah er Arne an, musterte die riesige kraftvolle Gestalt, die nur aus Muskeln und Sehnen bestand, und verglich sie insgeheim mit seiner Statur. Da blieb nicht mehr viel übrig. Gegen den Deutschen war er ein kümmerliches Männchen, ein Zwerg ohne jede Chance. Das war etwa so, als
wollte eine lahme Hauskatze gegen einen wilden Löwen kämpfen. Nein, ein Duell würde er nicht überleben. Fast fühlte er, wie sich die Degenspitze in seinen Körper bohrte. „Nun, haben Sie sich entschieden?" fragte Arne. Er trat höflich zur Seite und wies mit der Hand einladend in den Innenhof. Auch Jörgen Bruhn trat lächelnd zur Seite. Die Soldaten standen immer noch wie Marionetten herum. Sie warteten auf Befehle ihres entschlußlosen Vorgesetzten, aber der gab keine. Er hatte Angst und wollte sich jetzt wenigstens noch einen Abgang verschaffen, bei dem er nicht das Gesicht verlor. „Ich würde dem Duell selbstverständlich nicht ausweichen", sagte er mit gespielter Lässigkeit, „andererseits muß ich zugeben, daß Sie mir nicht der Mann zu sein scheinen, der feige Frauenmörder verbirgt. Da Sie hier gut angesehen sind, werde ich auf die vierte Durchsuchung ausnahmsweise verzichten. Ich verstehe, daß Sie sich gekränkt fühlen. Wir wollen es ja schließlich auch nicht mit dem Gouverneur verderben. Sie entschuldigen dann wohl die Störung, Señor de Manteuffel." Arne ließ ihm diesen Abgang. Er kannte die Gedanken, die hinter der Stirn des Geiergesichtigen abliefen. In dem verkniffenen Gesicht war nackte Angst zu lesen, erbärmliche Angst, daß er gefordert worden war. „Richten Sie ihm meinen verbindlichen Gruß aus", sagte Arne. „Ich verstehe Ihre Probleme, Señor de Retortilla, und ich bin sicher, daß Sie den feigen Mörder bald fangen werden." In dem fahl wirkenden Gesicht zuckte es wieder. Die Augen flackerten, der Mund öffnete sich etwas. „Gute Nacht", sagte der Kommandant beherrscht. Das kaum merkli-
7 che Zittern in seiner Stimme hörte nur Arne heraus. „Gute Nacht, Señores", sagte Arne. Das Tor schloß sich, und jetzt hatte de Retortilla wieder sein starkes Hemd an, denn er stauchte seine sechs Soldaten zusammen und scheuchte sie mit harten Worten weiter. Arne und Jörgen sahen sich grinsend an. „Er hatte fast die Hosen voll", sagte Jörgen schadenfroh. „Die Sache mit dem Duell hat ihm die Stiefel ausgezogen. Der Mann hatte furchtbare Angst." „Hatte er auch, denn er ist von Natur aus ein Feigling. Er wollte nur noch einen guten Abgang, mehr nicht." „Den hatte er nur scheinbar, denn das haben ihm selbst die Soldaten nicht abgenommen. Und daß Don Juan eine Frau ermordet hat, wird in ganz Havanna kaum ein Mensch glauben." Als sie wieder zurückkehrten, grinste auch der Türke, denn er hatte vom Fenster aus alles beobachtet und auch gehört. „Sehr gut", sagte er zufrieden. „Der ehrenwerte Señor hat einem der Soldaten mit dem Stiefel in den Hintern getreten, weil der nicht stramm stand. Er mußte wohl seine Wut loswerden." „Das ist typisch für ihn", sagte Arne lachend. „Aber jetzt werden wir eine Nachricht an die Schlangen-Insel abfassen und sie losschicken, damit der Bund der Korsaren über alles informiert ist. Kannst du nachher noch eine Taube auflassen, Jussuf?" „Einen Täuberich", sagte der Türke strahlend. „Diesmal ist Omar an der Reihe. Seine Gattin Suleika wird sich freuen, wenn er einfliegt." „Wann wird Omar ungefähr dort sein?"
„Morgen vormittag etwa." „Sehr gut, dann fassen wir die Nachricht ab. Ich werde sie dir diktieren, Jörgen. Es ist äußerst wichtig, daß der Bund der Korsaren informiert wird, denn seit der letzten Nachricht hat sich einiges in und um Havanna getan." Arne faßte die Mitteilung kurz und bündig, aber doch so informativ ab, daß der Bund der Korsaren über alles unterrichtet wurde. Es waren nur die wichtigsten Mitteilungen über die Black Queen, Caligula, Don Juan und den bevorstehenden Angriff auf die Schlangen-Insel. Als Jörgen mit dem Schreiben fertig war, gingen sie hinüber in den Taubenverschlag, wo Jussufs Lieblinge eng beieinanderhockten. Dann wurde die Brieftaube Omar mit der Nachricht versehen, nochmals überprüft und aufgelassen. Der Täuberich stieg schnell auf, zog eine Orientierungsschleife über der Faktorei und „ging auf Kurs". Gleich darauf war er ihren Blicken entschwunden. Arne von Manteuffel sah dem Täuberich nach und lächelte. „Der versteht von Navigation mehr als alle Seeleute zusammen", sagte er. „Schnell und absolut zielsicher, ohne sich zu verirren." „Es ist die Sehnsucht nach seiner Geliebten, die ihn treibt", sagte der Türke versonnen. „Er denkt nur an seine Suleika. Das ist noch die wahre Liebe", fügte er seufzend hinzu. Arne und Jörgen grinsten verständnisvoll. Jussuf war in seine Täubchen regelrecht vernarrt. Er umhegte und versorgte sie wie ein zärtlicher Vater seine Kinder. Und doch war sein Steckenpferd unersetzlich geworden. Ohne Jussufs Brieftauben hätte es für den Bund der Korsaren schlecht ausgesehen. Sie waren lebenswichtig.
8 2. De Retortilla war in dieser Nacht wütend und enttäuscht. Er hatte durch den Deutschen eine Demütigung erfahren, die er hinnehmen mußte, ohne sich dagegen wehren zu können. Zudem saß er jetzt zwischen zwei Stühlen, denn mi,t dem Gouverneur war erst recht nicht mehr zu spaßen. Der hatte eiskalt angedroht, ihn über die Klinge springen zu lassen, wenn es ihm nicht gelänge, Don Juan lebend oder tot beizubringen. Das Gaunerstückchen, das sich der feiste Gouverneur ausgedacht hatte, nämlich die Frau umzubringen, um Don Juan die Schuld in die Schuhe zu schieben, hatte de Retortilla verpatzt, als Don Juan überraschend die Flucht gelungen war. Das hatte sein Ansehen beim Gouverneur erheblich gemindert. Es ging also darum, Don Juan so schnell wie möglich einzuf angen. Alles andere war zweitrangig geworden. Dazu war de Retortilla jedes Mittel recht. Die Hitze, die in dieser Nacht über Havanna lag, drückte ihn außerdem und ließ ihm den Schweiß über das Gesicht rinnen. Diese Schwüle trug ebenfalls nicht zu seiner Stimmung bei, und so ließ er seinen Ärger an den Soldaten aus, die er immer wieder anschnauzte und herumkommandierte. Der Trupp bog jetzt in die Calle habanero ein, ein schmutziges Gäßchen mit zahlreichen Pinten, in denen sich die Seeleute vergnügten. Aus den Kneipen klang Musik, das Grölen Betrunkener und das Gekicher der liederlichen Frauenzimmer, die sich bei Wein und Rum vergnügten. Auch diese Kneipen waren bereits ein paarmal durchsucht worden, und die Zecher hatten nicht gerade gute
Laune, wenn sie die Soldaten sahen, die rüde, hart und rücksichtslos vorgingen. Das lag hauptsächlich an der Belohnung von hundert Goldtalern, die der Gouverneur auf den Kopf Don Juans ausgesetzt hatte - tot oder lebendig. Verständlicherweise wollte sich jetzt jeder eine goldene Nase verdienen, und da taten sich die Soldaten ganz besonders hervor. Das Ziel des Stadtkommandanten war gleich die erste Kneipe in der Calle habanero. Es war eine verwitterte Bude, vor deren halboffener Tür ein Schild baumelte, dessen Inschrift niemand mehr entziffern konnte. „Hier hinein!" befahl de Retortilla mit harter Stimme. „Zwei Mann bleiben in der Gasse und passen auf, daß keiner flüchtet. Wer bei Anruf nicht stehenbleibt, auf den wird sofort geschossen." „Auch wenn es nicht Don Juan ist?" fragte einer einfältig. „Dummkopf", sagte Don Ruiz verächtlich. Als die vier Soldaten mit dem Stadtkommandanten eintraten, war es mit der Gemütlichkeit in der Kneipe schlagartig vorbei. Das Grölen verstummte, der Gesang brach ab, und etliche Augenpaare starrten feindselig auf die Soldaten. Der Wirt, ein hagerer Mann mit Blatternarben im Gesicht, der schlimmer aussah, als er war, kniff verärgert die Augen zusammen. „Wir sind schon mehrmals durchsucht worden", beschwerte er sich, „das geht zu weit. Meine Gäste ..." „Halt dein Maul!" Zwei Soldaten rempelten ihn hart an, stießen ihn in die Ecke und blickten unter die Theke. Inzwischen musterte der geiergesichtige Kommandant die übrigen Gäste. Einen nach dem anderen nahm er aufs Korn. Er blickte in haßerfüllte Gesichter.
9 Manche wandten den Blick ab oder stierten in ihr Glas. Andere gaben sich gleichgültig und unbeteiligt, ein paar andere wiederum schimpften laut und regten sich auf. „Die hinteren Räume durchsuchen!" befahl Don Ruiz mit scharfer Stimme. „Vergeßt auch die Hühnerställe nicht." Drei Soldaten nahmen sich die hinteren Räume vor. Eine Frau schrie laut und gellend, danach folgte das ängstliche Gegacker von aufgescheuchten Hühnern, die im Stall herumflogen. Einmal war das harte Lachen eines Soldaten zu hören. Offenbar hatte er eine Frau betätschelt, denn die darauffolgende Ohrfeige war laut und deutlich zu hören. Don Ruiz ging durch die Reihen, stieß diesen und jenen Zecher an und zwang ihn, den Kopf zu heben und ihn anzublicken. Ein paar Gäste begannen laut zu murren. „Lassen Sie die Leute in Ruhe", sagte der Wirt. „Ich verstecke keine Mörder in meiner Herberge." „Ein renitenter und obstinater Kerl", sagte Don Ruiz. „Das Wort des Gouverneurs ist ihm offenbar nicht heilig. Hier treibt sich ein ruchloser Mörder herum, aber statt sich darüber zu empören, wird er frech und aufmüpfig." Das spitze Kinn stach vor und zeigte auf den Wirt. Der Soldat, der ihm am nächsten stand, verstand die Aufforderung. Er drehte die Muskete um und drosch sie dem Blatternarbigen in die Seite. Als er ein zweites Mal zuschlagen wollte, wich der Wirt fluchend aus, griff unter seine Theke und holte einen Bambusknüppel hervor, mit dem er auf den Soldaten losgehen wollte. Wirt und Gäste hielten eisern zusammen, das zeigte sich jetzt, denn die Zecher wurden zornig. Sie hatten
schon zuviel Schikane über sich ergehen lassen müssen, und bei den meisten war das Maß jetzt voll. Ein paar Kerle sprangen wild fluchend auf. Zwei liederliche Frauenzimmer flüchteten kreischend in die hinteren Räume, aus denen die Soldaten erschienen. „Schlagt die Bastarde tot!" brüllte ein muskulöser Mann. „Hängt sie an dem nächsten Kranbalken auf! Auf sie!" Eine Woge von Leibern stürzte sich auf Don Ruiz und die Soldaten. Der Wirt sah eine günstige Gelegenheit, seinen Zorn abzulassen. Er schwang seinen dicken Bambusknüppel und drosch ihn mit aller Kraft einem Soldaten auf den Helm. Als der ächzend in die Knie ging und seine Muskete verlor, brandete begeistertes Gebrüll in der Kneipe auf. Eine Phalanx aus Betrunkenen, Seeleuten und Rauhbeinen schlug und drosch auf die Soldaten ein. Einer der Kerle kriegte Don Ruiz zu fassen und zerrte bereits an seinem Rüschenhemd. Der Stadtkommandant sah unversehens eine riesige Faust auf sich zufliegen und stieß einen spitzen Schrei aus. Seine sechs Mann drohten in dem Getümmel hoffnungslos unterzugehen. Da erschien für den ehrenwerten Don Ruiz unverhofft die Rettung in Gestalt weiterer Soldaten, die das Viertel durchkämmten. Der Lärm hatte sie offenbar angelockt, das Geschrei, Gekreische und Gebrüll. Die halboffene Tür wurde von kraftvollen Tritten aus den Angeln gesprengt und flog krachend nach innen. Fünf Soldaten unter einem Sargento stürmten herein. Don Ruiz brüllte wie am Spieß, denn der Muskelmann drehte immer noch sein Rüschenhemd zusammen,
10 und die riesige Faust schien jeden Augenblick seinen Schädel einzuschlagen. Da krachte ein Schuß, abgefeuert aus einer Muskete, der die ganze Kneipe erbeben ließ. Von der Decke fiel ein kleiner ausgestopfter Hai, der dort gebaumelt hatte und nun regelrecht explodierte. Staub und Dreck wallten in einer übelriechenden Wolke auf. Schlagartig verging den Zechern die Lust auf jede weitere Prügelei, denn die Soldaten stürmten vor, drehten die Musketen um und hieben rücksichtslos in alles hinein, was sich ihnen in den Weg stellte. Als drei Männer reglos am Boden lagen, herrschte Ruhe. Nur der Wirt hielt noch seinen Knüppel in der Hand und war unschlüssig. Ein Pistolenlauf war auf ihn gerichtet. „Festnehmen!" kreischte de Retortilla mit puterrotem Schädel. „Den da, den - und den auch!" Die entsprechenden Handbewegungen folgten. Der Muskelmann, der ein paar Fetzen vom Rüschenhemd in der Hand hielt und sie wütend anstarrte, wurde gefesselt. Ein weiterer Kerl, der sich dem Kommandanten „bedrohlich" genähert hatte, mußte ebenfalls dran glauben und kriegte Fesseln verpaßt. Ein paar andere Kerle verdrückten sich in dem allgemeinen Wuhling unauffällig und verschwanden nach draußen, wo die Nacht sie schluckte. „Den Wirt noch!" schrie Don Ruiz. „Er hat den Gouverneur beleidigt! Bringt die Halunken in die Residenz zum Verhör und schließt sie in Eisen. Die Kneipe wird geschlossen." Der blatternarbige Wirt protestierte vergebens. „Ich habe den Gouverneur nicht beleidigt!" rief er. „Und ich habe auch keinen Mörder versteckt! Ich
verlange mein Recht, ich bin ein ehrbarer Bürger." „Ein ehrbarer Bürger mit einem Knüppel in der Hand", höhnte Don Ruiz. „Den schlug er nämlich einem Soldaten über den Schädel. Sehr ehrbar war das." „Ich habe mich nur verteidigt." Dem Wirt krachte übergangslos der Kolben einer Muskete ins Kreuz. Mit einem Stöhnen brach er neben der Theke zusammen. Die Soldaten fesselten ihn und schleiften ihn nach draußen. Ein paar Schläge mit den Musketen fegten Krüge, Gläser und Flaschen vom Tisch. Weitere Hiebe zerstörten das Regal und ein riesiges Bierfaß, das auseinanderbarst und seinen Inhalt über den Boden verspritzte. Als die beiden anderen Gefangenen brutal nach draußen geschleift wurden, flüchteten auch die restlichen Männer, denn auch ihnen drohten Festnahmen durch die Soldaten. Was das bedeutete, das wußte jeder von ihnen zur Genüge. Die Soldateska war nicht zart besaitet, es störte sie nicht, wenn einer bei der Folter sein Leben aushauchte oder in den Verliesen hungernd vergammelte. Überall in den Straßen und Gassen rannten Gardisten, Soldaten und andere Kerle herum, die sich unbedingt die ausgelobte Belohnung in Höhe von hundert Goldtalern verdienen wollten. Havanna glich in dieser Nacht einem Tollhaus. Don Ruiz ließ hinter sich einen Trümmerhaufen zurück. Die Kneipe war verwüstet, der Wirt verhaftet, und die Zecher waren geflüchtet. Auf den Straßen rottete sich der Mob zusammen und brachte Schmährufe auf die Soldaten aus. In den Kneipen war der Teufel los. Der Stadtkommandant übersah großzügig ein paar Soldaten, die ausgiebig eine zerschlagene Kneipe plünderten.
11 „Weiter", befahl er, „weiter! In diesem Chaos kann sich ein Mann vorzüglich verbergen. Denkt an die Belohnung. Da hinein!" Von der Calle habanero stürmte der Trupp in den Camino de los Rojas, ein Gäßchen, das direkt an den Hafen anschloß. Dort ging es etwas ruhiger zu. Das nächste Ziel des Kommandanten war die Kneipe „Los Molinos", ein Etablissement, das einen besseren Ruf genoß als die anderen Spelunken. Auf dem Holzschild über der Tür waren zwei Mühlen eingebrannt. Welchen Bezug das zu der Kneipe hatte, wußte allerdings in Havanna kein Mensch. In das „Los Molinos" verirrten sich nur selten Seeleute. Die Spelunke war zu hausbacken. Aber hier verkehrten Macheteros, Händler, Kaufleute aller Schattierungen und das Volk von Havanna. De Retortilla trat ein, gefolgt von seinen Soldaten. „Sitzenbleiben!" befahl er, „niemand rührt sich von seinem Platz." Ein paar Leute aßen, andere tranken und unterhielten sich. Die Unterhaltung verstummte jedoch beim Anblick des Kommandanten schlagartig. Lähmende Stille breitete sich aus. In einigen Gesichtern stand nackte Angst. Sie alle kannten diesen hinterhältigen, brutalen Kerl, der rücksichtslos gegen alle vorging, deren Nasen ihm nicht paßten. Sie wußten auch, daß er Leute oft zu Unrecht verdächtigte. Seinetwegen hatten schon viele Leute nicht sehr angenehme Nächte im Kerker zugebracht. Die Soldaten schwärmten aus, während de Retortilla es beliebte, den Leuten in die Gesichter zu blicken und sie erschauern zu sehen. Blieb sein harter Blick mal länger auf einem haften, dann hatte er etwas zu
beanstanden, und der Betroffene fühlte sich unangenehm berührt. „Haben Sie einen Mann versteckt, Wirt?" fragte der Kommandant. „Geben Sie es lieber gleich zu, das erspart Ihnen viel Ärger. Es handelt sich um einen Frauenmörder, der geflohen ist." „Nein, ich habe niemanden versteckt", jammerte der Wirt. „Die Soldaten waren schon viermal hier und haben alles durchsucht. Sie hatten sogar Bluthunde dabei. Ich werde mich beschweren, denn die Soldaten haben eine Menge Schaden angerichtet. Wer ersetzt mir das alles?" „Beschwerden nehme ich entgegen. Aber Sie haben sich nicht zu beschweren, denn Sie stehen in dem Verdacht, einem Frauenmörder Unterschlupf gewährt zu haben." „Das ist nicht wahr, ich verstecke keine Mörder." „Trotzdem sind Sie verdächtig, gerade Sie, denn Don Juan de Alcazar verkehrte auch in Ihrer Kneipe." „Er war noch nie hier, mein Ehrenwort darauf." „Ich weiß es besser." Aus der Küche war das Klirren von Geschirr zu hören. Eine Frau begann laut zu kreischen. Gepolter erklang, dann klirrte es wieder. Einer der Kaufleute an dem hinteren Tisch erhob sich. Es war ein hagerer sehniger Mann mit kantigem Gesicht. Seine Lippen umspielte ein etwas spöttisches Lächeln. „Ich kenne Don Juan", sagte er, „aber ich glaube nicht, daß er ein Mörder ist. Das bezweifle nicht nur ich, sondern auch andere ehrbare Bürger von Havanna." „Wie können Sie wagen, so zu reden?" schrie de Retortilla. „Sie bezweifeln die Worte des Gouverneurs! Es gibt Augenzeugen, die den Mord gesehen haben!" „Trotzdem zweifle ich das an", sag-
12 te der hagere Kaufmann gelassen. „Don Juan ist ein ehrbarer Mann und über jeden Zweifel erhaben. War er es nicht, der den Widerstand gegen die Bande Catalinas organisiert hatte? Wir erinnern uns noch sehr gut daran, Señor. Die Bürger vergessen so etwas nicht. Dieser Mann hat gekämpft, als die Bande mordend und plündernd durch die Stadt zog. Er und der deutsche Kaufherr sind es, denen die Bürger ihre Rettung zu verdanken haben." . De Retortilla lächelte, obwohl in seinen Augen ein eiskaltes Licht schimmerte. „Sie reden sich um Kopf und Kragen", sagte er fast freundlich. „Ich sage nur meine Meinung, und das werde ich wohl noch ungestraft tun dürfen." „Dann reden Sie nur weiter", empfahl der Kommandant höhnisch. „Setz dich wieder hin, Alberto", sagte ein anderer, „reg dich nicht auf, es bringt dir nichts ein." Der Kaufmann hörte nicht auf die warnenden Worte. Er redete sich in Eifer. Einmal muß man dieser korrupten Bande die Wahrheit sagen, dachte er. Daß das für de Retortilla ein gefundenes Fressen war, kam ihm nicht in den Sinn. „Soso", sagte der Kommandant, „Don Juan hat also die Stadt gerettet. Sehr interessant. Und die anderen haben geschlafen, das wollten Sie doch sagen, oder?" „Genau das meine ich. Als nämlich die Mordbande durch die Stadt zog, haben sich der Gouverneur und seine Günstlinge feige in die Residenz zurückgezogen und verbarrikadiert. Für die Stadt haben sie jedenfalls nichts getan." Die Soldaten kehrten zurück und meldeten, sie hätten nichts gefunden. Don Ruiz de Retortilla nickte. Dann zog er seine Pistole und richte-
te sie auf den hageren Kaufmann. „Nehmt ihn fest. Er ist ein Verschwörer. Er hat den Gouverneur als Feigling bezeichnet. Er hält zu Don Juan. Wir werden alles aus ihm herausholen, was wir wissen wollen. Feststellen, wo er wohnt. Sein Eigentum wird beschlagnahmt, sein Haus durchsucht." „Nur weil ich die Wahrheit sagte?" fragte der Kaufmann empört. „Weil Sie ein Verschwörer sind und mit schändlichen Frauenmördern paktieren", erklärte der Kommandant kalt. Bei dem Kaufmann rastete etwas aus. Seine Augen funkelten wild. „Ihr korruptes, vollgefressenes Pack!" schrie er. „Ihr habt Don Juan den Mord in die Schuhe geschoben. Ihr verdammten Intriganten! Da steckt eine grenzenlose Schweinerei dahinter." Er holte tief Luft, um sich weiter seine Wut von der Seele zu reden, doch Don Ruiz nickte einem der Soldaten schnell zu. Der Spanier holte mit der Muskete aus und schlug sie seinem Landsmann hart über den Schädel. Wie vom Blitz getroffen, brach der Kaufmann zusammen. Zwei Soldaten ergriffen seine Beine und schleppten ihn wie ein Stück Vieh aus der Kneipe. Die anderen blieben betroffen und von ohnmächtigem Zorn erfüllt zurück. „Bringt ihn in den Kerker", befahl Don Ruiz, „ich werde mich später persönlich um ihn kümmern. Ihr drei bleibt bei mir, wir suchen weiter, und wir werden diesen Kerl auch finden." Die anderen zogen ab. Sie trugen den Kaufmann nicht, das fiel ihnen gar nicht ein. Sie schleppten ihn einfach hinter sich her und rissen dabei gemeine Witze. Unterwegs begegneten dem Kom-
13 mandanten weitere Trupps, die Kneipe um Kneipe und Haus um Haus durchsuchten. Auf einen weiteren Trupp mit Bluthunden stießen sie weiter unten am Hafen. Die Hunde hechelten, als hätten sie bereits eine Spur aufgenommen. Aus den Fenstern der Häuser drang mitunter Gebrüll. Bürger beschwerten sich lautstark über die rücksichtslose Behandlung und die ständigen Durchsuchungen. Doch das ließ die Soldaten kalt. Sie wollten sich die hundert Goldtaler verdienen und waren eifrig bei der Sache. Die gesamte Stadt wurde rigoros auf den Kopf gestellt. Eine knappe halbe Stunde später passierte dem übereifrigen Stadtkommandanten ein peinliches Mißgeschick. Sie hatten ein paar Häuser durchsucht und bogen in die Calle hispanola ein, als aus einem Hauseingang ein hochgewachsener schlanker Mann trat. Er sah sich nicht um und bemerkte auch die Soldaten nicht. Er hatte einen Geschäftsfreund besucht und wollte nach Hause gehen. Don Ruiz durchzuckte plötzlich das Licht der Erkenntnis, als er diesen hochgewachsenen breitschultrigen Mann im schwarzen Umhang sah. Das muß der gesuchte Don Juan sein, schoß es ihm durch den Kopf. Außerdem hatte der Kerl es ziemlich eilig und wollte wohl ungesehen verschwinden. Kein Wunder, er wurde ja auch dringend gesucht. „Halt, stehenbleiben!" rief der Kommandant erregt. Die Soldaten rissen ihre Musketen von den Schultern. Don Ruiz griff zu seiner Pistole und zog sie. Der Mann im schwarzen Umhang war so in Gedanken versunken, daß er nichts hörte. Er hatte einen guten
Abschluß getätigt und dachte an seine Frau und die Kinder, die sich über die gute Nachricht sicherlich ebenso freuen würden. Jetzt wurde ihm seine entfernte Ähnlichkeit und die Haltung mit Don Juan zum Verhängnis. Er hörte die Aufforderung nicht, denn in der Stadt wurde gebrüllt, geschrien und gerufen, als hätte die Hölle sich aufgetan. Der Kommandant schoß, ohne einen Augenblick zu zögern. Der Schuß krachte überlaut in der nur schwach erhellten Straße. Der Mann im schwarzen Umhang blieb stocksteif stehen, dann wankte er ein paar Schritte zur nächsten Hauswand und hielt sich schwankend daran fest. Ein paar Augenblikke stand er so da, dann brach er zusammen und fiel in den Staub der Gosse. Der Schuß hatte die Bürger aufgeschreckt. Fenster wurden geöffnet, ein paar Männer tauchten auf, weitere Neugierige gesellten sich hinzu. „Wir haben ihn!" schrie der Kommandant. „Wir haben ihn erwischt!" Er war heiser vor Aufregung. Seine Rufe trieben noch mehr Bürger aus den Häusern auf die Straße, und jetzt drängten sich die Neugierigen um den Mann, der reglos in der Gosse auf dem Gesicht lag, die Arme ausgebreitet. „Sie haben den Frauenmörder!" schrien hysterische Stimmen. „Sie haben Don Juan erschossen!" brüllten andere, und diese Rufe trieben immer mehr Leute auf die Straße. Don Ruiz sah nur verschwommen wirkende Schemen um sich herum. Die Aufregung, Don Juan erwischt zu haben, schnürte ihm fast die Kehle zu. Mit klopfendem Herzen und nervös wirkenden Schritten, hastete er
14 auf die Stelle zu, wo der Mann lag. „Weg hier, weg hier!" schrie er die Gaffer an, die einen weiten Halbkreis bildeten und auf die kleine Lache starrten, die dunkel unter dem Umhang hervorsickerte. Die eine Hand des Mannes bewegte sich etwas und schien im Staub der Gosse verzweifelt Halt zu suchen. Doch noch bevor Don Ruiz und die Soldaten heran waren, entkrampften sich die Finger. Durch die stumme Gestalt ging ein kurzes Zucken. Dann bewegte sie sich nicht mehr. Der geiergesichtige Kommandant deutete auf den Reglosen. „Dreht ihn um!" befahl er. Einige der aufgescheuchten Bürger hatten Laternen dabei, die sie jetzt hochhoben. Milchiges Licht beleuchtete die Szene. Ein paar Gaffer hatten die Mäuler aufgerissen und blickten schaudernd auf die Soldaten, die den Toten auf den Rücken drehten. „Kein Mörder entgeht der Gerechtigkeit", sagte Don Ruiz und sah dabei die Umstehenden an, als hätten sie alle schwere Schuld auf sich geladen. „Seht ihn euch an. So sieht ein Frauenmör..." Der Rest des Wortes blieb ihm im Hals stecken. Seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen. Er schluckte ein paarmal hart und aufgeregt. Dabei wechselte seine gelbliche Gesichtsfarbe in ein schmutziges Grau. Der Mann, der aus gebrochenen Augen durch den Dunst der Laternen in die Ewigkeit starrte, war nicht Don Juan de Alcazar. Er hatte auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm. Er ähnelte ihm lediglich in Statur und Haltung. Die Szenerie wirkte wie erstarrt. Don Ruiz' Bauchmuskeln verkrampften sich. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich gleich übergeben. Die Menge um ihn herum blieb
mucksmäuschenstill, bis sich ein spitzer Schrei von den Lippen einer Frau löste. „Das ist der Kaufmann Enrico!" rief sie schrill und hysterisch. Es war erstaunlich, wie schnell sich die Gesichter der Gaffer veränderten. Eben noch hatten sie mit leichtem Schauer auf den Toten geblickt und sich still verhalten. Jetzt trafen harte, fragende und fassungslose Blicke den übereifrigen Kommandanten, der sich unbehaglich räusperte. Seine Soldaten starrten abwechselnd ihn und dann wieder den Toten an. Der Name des erschossenen Kaufmannes ging von Mund zu Mund. Empörte Schreie wurden laut, haßerfüllte Worte flogen hin und her. „Saubande!" wetterte ein Mann. „Der Kerl hat einfach geschossen, ohne sich zu überzeugen, wen er vor sich hatte. Man sollte ihn an seinem verdammten Hals aufhängen." „Jawohl, aufhängen!" brüllte die Menge. „Sonst erschießen sie uns auch noch!" „Ruhe!" brüllte Don Ruiz, der schnell erkannte, wie bedrohlich die Lage jetzt für ihn wurde. Er wedelte mit den Armen in der Luft herum. Aber er konnte sich keine Ruhe verschaffen. Die Leute waren gereizt, übernervös und von Haß au die Obrigkeit erfüllt. Jetzt ergab sich die Gelegenheit, der Obrigkeit einmal selbst an den Kragen zu gehen, denn das Maß war voll. Die Soldaten warteten keinen Befehl mehr ab. Sie rissen ihre Musketen herum und wollten die Bürger zwingen, die Straße zu verlassen. Da flog der erste Stein. Er wurde aus der Anonymität der Menge geworfen und traf den ersten Soldaten, der die Muskete hochriß, ins Genick. Er schrie laut auf, die Muskete ent-
15 glitt seinen Händen. Durch die Menge drängte ein Mann und schlug mit einem großen Knüppel nach den Soldaten. Im Nu war eine gewaltige Keilerei im Gange. Auch der nächste Soldat wurde überrannt und zu Boden geworfen. Schreiend und kreischend hieb die Menge auf ihn ein. Don Ruiz sah das alles mit flakkernden Blicken. Panische Angst erfaßte ihn, von dem Pöbel überrollt und aufgehängt zu werden. Am Ende der Straße stand ein Kranbalken, und da drängte jetzt alles hin. Vier Kerle schleppten einen Soldaten in die Richtung. Was ihm bevorstand, konnte der Kommandant an zwei Fingern abzählen. Der Mob wollte ihn hängen. Er kniff aus, stieß in die Masse wogender Leiber und ruderte wild hindurch. In ihrer Aufregung schenkten ihm die meisten keine Beachtung, denn alles stürzte sich auf die verhaßten Soldaten. „Hier ist er, er hat ihn erschossen!" keifte eine Frau. Sie packte zu und erwischte Don Ruiz an den Haaren. Sie zerrte daran, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Der Feigling jammerte und schrie, doch da traf ihn der erste Faustschlag auf die Nase, und die Luft blieb ihm weg. Ein zweiter Hieb traf seinen Nacken. Dicht neben seinem Schädel zerplatzte eine Lampe, die brennendes Öl über die Straße ergoß. Ein flackerndes Rinnsal rann brennend durch die Gasse. Don Ruiz kroch auf allen vieren davon. Fußtritte trafen ihn, ein Kerl riß ihn hoch und verpaßte ihm zwei schallende Ohrfeigen. Aus seiner Nase lief Blut, die Pistole hatte er verloren, und jetzt war er am Ende, als kräftige Hände erneut nach ihm griffen. „Ich will nicht hängen!" schrie er.
Er trat und schlug um sich, kriegte wieder Luft, entwich den zupackenden Händen und rannte blindlings davon. Noch im Laufen stieß er Schreie der Angst aus, hastete weiter und bog um die nächste Ecke. „Da vorn läuft der Hund! Hinterher!" vernahm er Stimmen. Die erregte Meute setzte sich in Bewegung. Don Ruiz hastete keuchend an dem Kranbalken vorbei, flitzte in einen Hauseingang, gelangte in einen Hinterhof und überkletterte in panischer Angst eine Ziegelmauer. Seine spitze Nase stach wie ein Degen in die Luft. Er schnappte nach Luft, rannte, stolperte, raffte sich wieder auf und hörte immer noch das Geschrei hinter sich. Ein kleiner Kläffer sprang ihm nach und biß ihn ins Bein. Schmerzgepeinigt lief der Kommandant weiter, gefolgt von dem kläffenden Köter, der ihn wie ein Stück Wild hetzte. Die Schreie wurden leiser, heiserer und verloren sich. Der Köter drehte ab, als er hastig eine weitere Mauer überstieg. Hier brannten keine Laternen mehr. Auf der anderen Seite stand der kläffende Köter und verbellte die Mauer. Dann waren auch die Stimmen wieder zu hören. Seine Lungen brannten vom ungewohnten Laufen, sein Herz hämmerte wild in der Brust, und in seinen Lenden bohrten glühende Messerspitzen herum. Er hechelte wie ein Hund, lauschte auf die Stimmen, die sich wieder näherten, und hastete weiter. Nach einer Ewigkeit erreichte er die Residenz des Gouverneurs. Hämisch kichernd verschwand er darin. Jetzt konnten sie ihn suchen, solange sie wollten. Er war in Sicherheit.
16 3. Die Suche nach Don Juan beschränkte sich nicht nur auf die Stadt Havanna selbst. Eine Anordnung des Gouverneurs lautete, auch die Bereiche westlich der Stadtgrenze abzusuchen. Im Zuge der allgemeinen Suchaktion waren auch immer wieder Bluthunde eingesetzt worden. Einmal hatten sie eine Spur bis zu einem Bach im Süden außerhalb der Stadt aufgenommen, sie dann aber wegen des Wasser wieder verloren. Sie fanden sie auch nicht mehr wieder, denn daß der Flüchtige in einem Boot das Weite gesucht haben konnte, wurde nicht in Betracht gezogen. Es wurde noch mehr ausgelassen oder nicht beachtet. So nahm man auch nicht an, daß sich Don Juan nach Norden in den Golf abgesetzt haben könnte. Da die Ostgrenze bis nach Südwesten hin von der Havanna-Bai gebildet wurde, ging man erst gar nicht davon aus, daß er über das Wasser entflohen sei. Den westlichen Küstenbereich von Havanna suchte jetzt noch ein Trupp von acht Stadtgardisten ab. Geführt wurde er von dem Sargento Angelo Vego, einem zähen, ausdauernden Mann, den hauptsächlich die Belohnung von hundert goldenen Talern reizte. Er suchte mit seinen Leuten unermüdlich das Küstengebiet ab, in der Hoffnung, doch noch auf den Gesuchten zu treffen. Vielleicht hatte er sich in der Einöde verborgen und wähnte sich dort in Sicherheit. Die Nacht war lau und warm. Der Mond schien hin und wieder zwischen rasch daherziehenden Wolken hindurch. Dem Sargento und seinen Männern wehte ein warmer Wind in die Gesichter. Knapp zwei Meilen hatte der Trupp jetzt in westlicher Richtung
zurückgelegt. Hin und wieder tat sich eine kleine, mit Palmen bewachsene Bucht auf, die den Männern verlassen und öde entgegengähnte. Außer dem leisen Harfen des Windes war kein Laut zu hören. Sargento Vego, der den Trupp anführte, blieb stehen. Seit einer Weile waren seine Schritte bereits langsamer geworden. Er war unschlüssig, ob er die westliche Richtung noch weiter verfolgen sollte, denn bisher waren sie nicht auf die geringste Spur gestoßen. Die Gardisten blieben ebenfalls stehen. Der Marsch war anstrengend gewesen, und sie waren für jede Rast dankbar. Vor ihnen lag eine Landzunge, bewachsen mit Palmen und Mangroven. Dahinter schnitt eine Bucht ein, die man von hier allerdings nicht einsehen konnte. „Ruht euch ein wenig aus", sagte Vego. „Ich denke, wir brechen die Suche an diesem Punkt ab. Wir sind jetzt mehr als zwei Meilen gelaufen. Nicht die Andeutung einer Spur haben wir gefunden. Wir suchen vermutlich auf der falschen Seite." „Ich habe schon Blasen an den Füßen", klagte einer der Gardisten und zog sich den rechten Stiefel aus. „Hundert Goldtaler sind ein paar Blasen wert", sagte der Sargento, aber bei den hundert Talern dachte er mehr an sich selbst, falls es ihnen gelang, den Flüchtigen zu finden. Das war eine hübsche runde Summe, und zu dem Geld gesellte sich bestimmt noch eine Beförderung. An die Beförderung dachte der Sargento schon sehr lange, aber auch daran, daß er die Belohnung nach eigenem Gutdünken aufteilen konnte. Das blieb ihm selbst überlassen. Wenn er also jeden der Gardisten mit einem Goldtaler abfand, dann blieb ihm noch eine feine Summe - immer vor-
17 ausgesetzt, sie erwischten den Kerl. Sie hockten sich in den kühlen Sand und ruhten aus. Vego setzte sich ebenfalls auf den Boden und starrte zu der dunklen Landzunge hinüber. Vielleicht sollte man sie doch noch runden, überlegte er. Es war ja nicht mehr weit, und vielleicht war ihnen ausgerechnet dort das Glück noch hold. Nichts war zu hören außer dem leisen Singen des Windes und dem etwas lauteren Geräusch der pausenlos an den Strand laufenden, kleinen Wellen. Das Geräusch war aber mehr ein Wispern und Flüstern, das zur Umgebung gehörte und von den Männern kaum noch wahrgenommen wurde. Nach einer Weile schreckte der Sargento hoch. Da war ein Geräusch, das nicht zur Umgebung gehörte. Es hörte sich an wie leises, weit entferntes Knarren oder Ächzen. „Da war etwas", sagte einer der Gardisten. „Ruhe! Vielleicht wiederholt es sich." Ihre Sinne waren jetzt geschärft. Die Gardisten reckten die Hälse vor und horchten mit angespannten Gesichtern in die Nacht. Nach einer Weile war das Geräusch wieder zu hören. Ein leises Knarren, dem ein Ächzen folgte. „Das ist hinter der Landzunge", flüsterte der Sargento. „Auf die Beine, folgt mir, aber lautlos." Im Nu war alles auf den Beinen. Vorsichtig bewegten sie sich über den knisternden Sand auf die Landzunge zu. Vego gab mit der Hand ein Zeichen, damit der Trupp etwas nach links abbog. Sie schlichen an den Mangroven vorbei, gingen geduckt zwischen den Palmen hindurch und näherten sich
der versteckten Bucht in einem halbkreisförmigen Bogen. Natürlich nahm Vego nicht an, der Gesuchte würde in der Bucht auf dem Sand sitzen und ächzende Geräusche von sich geben. Aber die Töne paßten nicht hierher, und es konnte ja durchaus sein, daß sich Don Juan doch mit einem Boot abgesetzt hatte, das hier versteckt in der Bucht lag. Nach einer Weile erreichten sie dichtes Gebüsch und fast undurchdringlich scheinende Mangroven, die bizarr und pittoresk auf ihren hohen Stelzwurzeln standen. Wie Fabelwesen aus einer unwirklichen Welt sahen sie aus. Das sumpfige und übelriechende Gelände wurde ein paar hundert Yards weit durchquert, dann war der Einblick in die vom Mond beschienene Bucht frei. Angelo Vego bedeutete seinen Gardisten, ganz ruhig zu bleiben. Wie gebannt starrten sie in die Bucht, die von See her ein vorzügliches Versteck bot. „Ein Zweimaster", flüsterte der Sargento. „Eine zweimastige Schaluppe. Es scheint so, als hätten wir doch noch Glück." Tatsächlich lag in der Bucht ein kleiner Zweimaster, und der hatte die leisen Geräusche verursacht. Jetzt knarrte es wieder, kaum hörbar, aber doch deutlich genug für die geschärften Sinne der Jäger. Der Sargento lächelte. Im Geiste sah er hundert Taler golden blinken. Vielleicht hatte sich Don Juan hier versteckt. Es sah so aus, als hätten sie jetzt eine Glückssträhne. * Auf was der Sargento bei seiner Suche gestoßen war, ahnte er nicht. Und er wußte auch nicht, auf was er sich einließ, denn die zweimastige
18 Schaluppe gehörte der Black Queen, die hier seit kurzer Zeit versteckt vor Anker lag. Sie hatte Späher ausgeschickt, die sich im Hafen von Havanna umsehen sollten, wann der Kampf-Verband gegen die Schlangen-Insel ausgerüstet und zusammengestellt wurde. Die Zeit brannte ihr auf den Nägeln, denn sie konnte kaum erwarten, bis ihr ärgster Feind Killigrew endlich ausgeschaltet war. Der Gouverneur von Havanna kannte die Lage der Schlangen-Insel, denn die Black Queen hatte ihm die erforderlichen Unterlagen zugespielt. An Informationen besaß sie jetzt eine ganze Menge, nur den Termin des Auslaufens des Verbandes kannte sie noch immer nicht. In dieser Nacht war einer ihrer Späher, ein Kreole, zurückgekehrt und berichtete, er hätte Schwierigkeiten gehabt, heil die Stadt zu verlassen, weil überall nach einem Frauenmörder gesucht würde. Die Tore und Ausfallstraßen seien gesperrt und scharf bewacht. Er selbst habe sich nur mit Mühe und Not durchgemogelt. Für die Queen klang das keinesfalls nach Musik. Sie brannte auf Rache und war gereizt. „Der Teufel soll den Frauenmörder suchen", hatte sie gezischt. „Die sollen lieber mit einem schlagkräftigen Verband auslaufen und die englischen Bastarde samt ihrer verdammten Insel in die Luft jagen. Es wird langsam Zeit, daß etwas geschieht. Was denkt sich dieser vollgefressene Gouverneur eigentlich? Am neunten Juli habe ich die Botschaft dem Posten an der Residenz übergeben, aber getan hat sich nichts, überhaupt nichts. Inzwischen sind drei Tage nutzlos vergangen." Sie war wieder einmal fuchsteufelswild geworden. Da half auch Ca-
ligulas sachlicher Einwand nichts. „Alles dauert seine Zeit. Die Spanier können nicht von heute auf morgen einen großen Verband zusammenstellen und stark armierte Kriegsschiffe einfach herbeizaubern. Möglicherweise liegen gar keine im Hafen. Wir müssen uns noch ein paar Tage gedulden. Alles Schimpfen und Fluchen hilft uns nicht weiter." „Hör mit deiner dämlichen Quatscherei auf!" hatte sie ihn gereizt angefahren. „Das Denken besorge ich und kein anderer. Du wirst langsam lahmarschig, mein Freund. Die Späher haben übereinstimmend ausgesagt, daß im Hafen vier Kriegsgaleonen und auf der Werft drei Kriegskaravellen liegen. Das sind sieben Schiffe, falls du noch zählen kannst. Aber man hat auf ihnen nichts Auffallendes festgestellt. Die Kerle verdösen ihre Zeit, statt zu handeln. Ich warte noch höchstens eine Woche, dann werde ich den Fettsack noch einmal per Botschaft ermuntern endlich zuzuschlagen, wenn er die riesige Beute haben will." „Du weißt ja nicht, aus welchen Gründen der Gouverneur noch nichts unternommen hat. Der Fettkloß ist genauso gierig auf die Beut wie wir alle. Aber er wird schon Gründe haben, wenn er noch nichts unternommen hat." „Die Gründe sind mir egal!" hatte die Queen geschrien. „Dieser feiste Dummkopf soll sich gefälligst beeilen. Noch eine Woche, länger gebe ich ihm nicht." „Brich nur alles übers Knie, das hat noch nie zu etwas geführt. Es kann ja sein, daß sich jetzt alles auf den Frauenmörder konzentriert. Niemand von uns weiß, was wirklich dahintersteckt." Da hatte ihn nur ein böser, verächtlicher Blick getroffen, von einem
19 Schnauben begleitet, das ihren ganzen Zorn ausdrückte.
So war die Lage, als der Sargento die Schaluppe entdeckte. Von den Vorgängen dort wußte er nichts. Sie waren so weit von der Schaluppe entfernt, daß an Bord niemand etwas hören konnte, wenn sie sich leise unterhielten. Zwischen ihnen und dem Zweimaster lagen der morastige Mangrovensumpf und etliche Yards Wasser. „Glauben Sie, daß sich der Kerl dort an Bord versteckt hat?" fragte einer der Gardisten. „Ich weiß nicht. Wenn ich an seiner Stelle wäre, dann würde ich mit dem Zweimaster so weit wie möglich segeln und verschwinden. Aber vielleicht geht er davon aus, daß man sich in der Höhle des Löwen immer am sichersten fühlt. Ich kenne die Gedankengänge des Mörders nicht. Ich hätte anders gehandelt." Der Mond trat wieder zwischen den Wolken hervor und beleuchtete die Schaluppe klar und deutlich. „Dort vorn steht ein Mann, Sargento." Vego kniff die Augen zusammen und erkannte die Gestalt am Fockmast, die kaum zu sehen war. Offenbar döste der Kerl vor sich hin, denn er bewegte sich kaum. Er sah wie ein dickerer Auswuchs des Mastes aus und verschmolz fast mit ihm. Gesehen und gehört hatte er nichts. Er hatte den anrückenden Trupp nicht bemerkt, denn er hing immer noch am Mast rum und rührte sich nicht vom Fleck. „Der pennt im Stehen", raunte der Sargento, „darin haben die Posten ja genügend Übung. Ihr bildet da auch keine Ausnahme."
„Aber, Sargento", protestierte einer der Gardisten leise. „Ich weiß Bescheid, ich stand früher auch mal Posten und habe herausgefunden, wie man im Stehen pennen kann und trotzdem gleich wieder wach ist, wenn sich etwas rührt. Also keine Geräusche verursachen." Der Mond schien immer noch hell. Der Sargento starrte sich fast die Augen aus, aber außer dem dösenden Posten, der zweifelsfrei Ankerwache ging, war auf dem Schiff nichts zu bemerken. Hm, sehr merkwürdig war das trotzdem. Das Schiff war verdächtig, denn es lag ziemlich gut versteckt in einer fast uneinsehbaren Bucht, außerdem war es auf beiden Seiten an den Schanzkleidern mit Drehbassen bestückt, die im Mondlicht aufblinkten. „Vielleicht ist der Kerl noch gar nicht an Bord", meinte der Sargento. „Man kann ihm ein Schiff zur Verfügung gestellt haben, das hier auf ihn wartet. Während die Stadt in hellem Aufruhr ist, mogelt er sich heimlich hierher durch und verschwindet." „Sollen wir dann noch warten?" „Wenigstens vorerst noch. Wir beobachten den Kahn noch eine Weile und werden nichts überstürzen. Wir werden uns doch nicht hundert goldene Taler aus der Nase gehen lassen." Er sah, daß die Gardisten grinsten. Einer rieb sich in der Vorfreude auf den Goldsegen bereits feixend die Hände. Merkwürdig, dachte der Sargento, daß jeder mit hundert Talern rechnet. Verrückt war das. Wenn sich jeder im Besitz von hundert Talern wähnte, dann waren das insgesamt neunhundert. Na, den Zahn würde er ihnen später schon ziehen und den Kerlen das Rechnen beibringen.
20 Eine Weile tat sich überhaupt nichts auf dem Schiff. Die Gardisten vergaßen auch nicht, fleißig hinter sich zu schauen, falls sich der Gesuchte dem Schiff nähern sollte. Doch hinter ihnen blieb alles still, und vor ihnen döste der Posten immer noch. Das ging fast eine halbe Stunde so. Der Sargento wurde schon ganz ungeduldig und kribbelig. Schließlich wollte er ja nicht die ganze Nacht hier tatenlos herumstehen und warten, daß ein Wunder geschah. Da war auf dem Schiff ein leises Knarren zu hören. Unmerklich zuckten alle zusammen, nur der Posten nicht, der stand immer noch wie angenagelt an dem Fockmast. Offenbar hatte er beim Dösen noch nicht die richtige Erfahrung. Dem Sargento klappte vor Verblüffung der Kiefer nach unten, als er sah, was jetzt geschah. Im ersten Augenblick glaubte er, zu träumen. Seinen Kerlen erging es ähnlich. Auch sie sperrten fassungslos die Mäuler auf, während sie wie Mondkälber auf das Schiff stierten. Ein halbnacktes Weib erschien an Deck. Sie hatte ausgeprägte runde Brüste, auf die samtig das Mondlicht fiel, trug nur einen schmalen Schurz, in dessen Gürtel ein Messer steckte. Der Sargento zuckte zusammen, denn einer der Gardisten schluckte so hart, als knackte er Nüsse mit den Zähnen. Seine Zähne schlugen hart aufeinander. Ein Negerweib war das - und was für eins! Die Kerle hielten den Atem an, als sie lautlos wie eine Katze über das Deck schlich. Neun Augenpaare folgten jeder ihrer geschmeidigen Bewegungen. Einer der Kerle klappte den Mund hörbar wieder zu. Dafür wurden seine Augen so rund wie Marmorkugeln. Er stammelte etwas, das nie-
mand verstand. Aber von der Heiligen Jungfrau war die Rede, das vernahm der Sargento aus dem Getuschel. Heilig sah das Weib ja nicht gerade aus, eher gefährlich wie eine Tigerin auf der Jagd. Sie stand jetzt etwa zwei Schritte vor dem dösenden Ankerposten, der immer noch nichts sah und hörte. Fassungslos sahen die Gardisten zu, wie die Negerin ausholte und dem Posten eine schallende Ohrfeige verpaßte. Der Mann stieß vor Überraschung einen heiseren Schrei aus. Das Negerweib benahm sich jetzt wie eine Furie. Sie belegte den Mann mit unflätigen Ausdrücken und stauchte ihn zusammen. „Du verfluchter Hund wagst zu pennen?" schrie sie, daß die geschockten Gardisten jedes Wort verstanden. „Aufhängen sollte man dich Dreckskerl. Habe ich dir nicht befohlen, die Augen offen zu halten? Habe ich das nicht ausdrücklich angeordnet? Gib Antwort, du räudiger Köter." Die Stimme des Mannes drang wie ein Hauch herüber. „Es tut mir leid", sagte er fast ängstlich, „aber ich habe nur gedöst Ich war hellwach." „Und dann hast du mich nicht bemerkt?" fragte sie scharf und beißend. „Doch", erwiderte der Kerl und versuchte, sich herauszuwinden, „aber dabei habe ich mir nichts gedacht." „Wenn ich dich noch einmal auf Wache beim Dösen erwische, hänge ich dich an der nächsten Palme auf, das verspreche ich dir." „Ja, Madame", war die klägliche Antwort. Die Schwarze ignorierte den Posten, ging über das Deck zurückwarf einen Blick nach allen Seiten
21 ins Wasser und verschwand nach einer Weile wieder unter Deck. „Das gibt es doch nicht", sagte der Sargento erschüttert. „Das habe ich nur geträumt. Ein Weib kommandiert auf dem Schiff herum, liest einem Kerl die Leviten, haut ihm was aufs Maul und verschwindet wieder. Und der Kerl läßt sich das widerspruchslos gefallen. Wo, auf der Welt, gibt's denn so etwas?" Das verstanden die anderen auch nicht. Sie glaubten ebenfalls, einen Spuk gesehen zu haben. Verständnislos starrten sie zu dem Posten, der wieder am Mast lehnte, als wäre nichts geschehen. Angelo Vego schüttelte immer noch den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr und begriff überhaupt nichts, schon gar nicht die Sache mit dem Negerweib und dem Posten. Das wollte einfach nicht in seinen Schädel hinein. 4. „Wir ziehen uns etwas zurück", sagte er leise, „aber nur so weit, daß wir das Schiff deutlich im Blickfeld haben. Und ich bitte mir Ruhe aus, damit der Kerl nicht aufmerksam wird." „Was haben Sie vor, Sargento?" fragte einer der Männer. „Erst einmal überlegen, dann sehen wir weiter. Zurück jetzt." Vorsichtig, dabei immer den Posten im Blick behaltend, zog sich der neun Mann starke Trupp zurück. Der Rückzug ging ohne jedes Geräusch vor sich. Der Posten merkte nichts. Offenbar döste er - trotz der harten Ermahnungen - schon wieder. „Daß mit der Schaluppe etwas nicht stimmt, ist klar", sagte der Sargento nachdenklich. „Ich gehe immer
noch davon aus, daß man sie als Fluchtfahrzeug benutzen will. Irgendwann wird der Mörder hier auftauchen und zu fliehen versuchen." „Ist es nicht möglich, daß er doch an Bord ist?" „Das glaube ich jetzt nicht mehr, nachdem ich das Negerweib gesehen habe. Wer von euch kann eigentlich schwimmen?" fragte er dann übergangslos. Diese Frage überraschte sie. Es stellte sich gleich darauf heraus, daß alle acht Mann schwimmen konnten, der Sargento natürlich auch. „Wir werden das Schiff entern", sagte Vego. „Entern? Aber..." „Kein Aber", entschied der Sargento bestimmt. „Ich habe den Entschluß aus naheliegenden Gründen gefaßt. Wenn wir das Schiff entern und es besetzen, dann befinden wir uns in einer einzigartigen Position. Sollte der Hundesohn dann auftauchen, schnappen wir ihn uns. Das geht ganz einfach, denn er wird ja nicht mit einer Streitmacht anrükken. Wir kassieren ihn ein, sacken die hundert Goldtaler ebenfalls ein, und haben ein gutes Werk getan. In Erfüllung unserer Pflicht winkt uns ganz sicher noch eine Beförderung." Das waren zwar große Töne, die der Sargento von sich gab, und es war auch ein verhängnisvoller Entschluß, wie sich später herausstellen sollte, doch die Männer waren begeistert von der Aussicht, den Frauenmörder so einfach schnappen zu können. Das halbnackte Negerweib heizte ihre Phantasie noch zusätzlich an. Ihre Schädel glühten, wenn sie nur daran dachten. „Es dürfte keine Schwierigkeiten geben", sagte der Sargento. „Die Besatzung haben wir im Nu überwäl-
22 tigt. Wir ziehen jetzt unsere schweren Klamotten aus und nehmen nur Blankwaffen mit. Plätschert nicht im Wasser herum, ihr müßt so ruhig wie nur möglich schwimmen. Anschleichen müssen wir uns. Die Entfernung vom Land zur Schaluppe schätze ich auf etwa dreißig, vierzig Schritte, mehr nicht. Ein Kinderspiel also." Helme, Brustpanzer und alles, was sie im Wasser behinderte, wurden abgelegt. Die Blankwaffen nahmen sie in die Fäuste. Später würden sie sie zwischen den Zähnen tragen. „Vorwärts jetzt!" befahl der Sargento. Als sich der Trupp in Bewegung setzte, stolperte einer der Gardisten über die abgelegten Helme. Es gab einen leisen scheppernden Ton. „Verdammt!" fluchte Vego. „Könnt ihr nicht aufpassen, ihr Blödmänner? Bewegt euch leise." Er blieb stehen und starrte zum Schiff hinüber. Der Posten reagierte nicht, demnach hatte er auch nichts gehört. „Wir warten ab, bis sich eine Wolke vor den Mond schiebt. Das wird gleich der Fall sein." Ein paar Augenblicke später tauchte die Wolkenbank auf. Sie trieb sehr rasch dahin. Der Augenblick war günstig und mußte genutzt werden. Auf dem Bauch robbend, die Blankwaffen zwischen den Zähnen, schlichen die Männer zum Wasser und glitten hinein. Lautlos begannen sie zu schwimmen. Als sie etwa die Hälfte der Distanz geschafft hatten, war die Wolkenbank vorübergezogen. Der Mond warf jetzt silbrige Strahlen auf das Wasser und tauchte alles in Helligkeit. Der Sargento blickte immer wieder zu dem Posten, der reglos am
Fockmast stand. Er hatte etwas vergessen, und das ärgerte ihn jetzt. Er wollte seinen Männern noch sagen, von allen Seiten anzugreifen, damit die Überraschung vollständig war, doch das hatte er vergessen. Jetzt konnte er allerdings keine Befehle mehr übers Wasser brüllen. Und natürlich schwamm der ganze Haufen direkt auf die Bordwand von der Landseite zu. Verdammt, es ist nicht mehr zu ändern, aber die Überraschung muß auch so gelingen, dachte Angelo Vego. Offenbar hatte das halbnackte Weib die Phantasie der meisten Schwimmer doch sehr angeregt, denn sie beeilten sich, an die Schaluppe zu gelangen, um das Prachtweib persönlich in Augenschein nehmen zu können. Einer schwamm so hastig, daß er sich durch ein Plätschern verriet. Von da an war das Unternehmen gelaufen, und aus dem „Spaziergang" wurde unvermittelt blutiger Ernst. Der Posten zuckte hoch, der Sargento sah deutlich sein Gesicht, das sich vor Entsetzen verzerrte, als er die neun Köpfe im Wasser entdeckte. Er sah auch, daß die Kerle Blankwaffen zwischen den Zähnen hatten. „Überfall!" brüllte er mit gellender Stimme. „Wir werden angegriffen! Überfall!" Der Posten tat einen wilden Satz zum Fockmast, riß eine Muskete hoch, zielte kurz und feuerte. Einer der Gardisten, der ganz vorn schwamm, wurde in den Kopf getroffen. Ohne einen Laut versank er im Wasser. Der Sargento fluchte unterdrückt, war aber auch gleichzeitig entsetzt, daß der Überfall so plötzlich bemerkt worden war. Mit der Überraschung war es endgültig vorbei. Sie
23 konnten nur noch die Flucht nach ans Schanzkleid und zielte auf einen der Schwimmer. vorn antreten. Er hätte sich ohrfeigen können, Als der Schuß krachte, wußte der daß er glatt vergessen hatte, den Sargento bereits, daß er jetzt seinen Männern die entsprechenden Befeh- vierten Mann verloren hatte. Und le zu geben. Statt von allen Seiten das alles in unglaublich kurzer Zeit. anzugreifen, schwamm nun der geEr hörte ein Stöhnen neben sich. samte Pulk dicht beieinander. So bo- Der Gardist warf die Arme aus dem ten sie von der Schaluppe aus ein Wasser, schnappte nach Luft und prächtiges Ziel. versank anschließend wie ein Stein „Schneller!" schrie Vego. im Wasser. Noch mehr Leute tauchten auf „Schwimmt schneller und verteilt euch so, daß wir von allen Seiten an- dem Schiff auf. Das ganze Deck der greifen können. Auseinander, Schaluppe wimmelte von ihnen. Insgesamt mußten es mindestens neun schlagt andere Richtungen ein." Aber das dauerte und ging alles oder zehn Kerle sein. viel zu langsam. Zwar droschen die Dieser Übermacht waren sie nicht Gardisten jetzt wie die Wilden durch gewachsen. Damit hatte auch keiner das Wasser, doch das Negerweib, das gerechnet. Was wie ein kurzer Handwieder an Deck erschienen war, zog streich ausgesehen hatte, entpuppte ihnen einen Strich durch die Rech- sich jetzt als unüberwindbares Hinnung. dernis, als tödliche Falle, der sie nicht Sie war immer noch halbnackt, mehr entgehen konnten. Ein wild aussehender Kreole feuaber das interessierte jetzt keinen erte einen Blunderbuss ab, der sich mehr, sie hatten ganz andere Sorgen. Wie eine Wilde stürmte sie ein paar mit wildem Krachen entlud. Die LaSchritte über Deck, in jeder Hand ei- dung aus dem trichterförmigen Rohr ne Pistole haltend. Der Sargento sah traf gleich zwei Gardisten. „Zurück!" schrie einer voller das wilde Funkeln ihrer Augen. Angst. Sie zielte ins Wasser und schrie etDer entsetzte Sargento sah keine was. Zwei Schüsse krachten gleich- Möglichkeit mehr, seinen Leuten zu zeitig. Wie gelähmt sah der Sargento, helfen. Sie waren wehrlos gegen die daß zwei seiner Männer getroffen feuernden Musketen, Blunderbusse wurden. Der eine schrie laut auf, der und Pistolen. Sie selbst hatten nur zweite versank stumm. Dann ging Blankwaffen für den Nahkampf. auch der andere unter. Wieder krachte das höllische Ding Die Szene änderte sich schlagartig, und riß wilde Fontänen aus dem noch bevor sie zwei Yards zurückge- Wasser. legt hatten. Auf dem Schiff wurde es Vego hörte ein paar Kugeln an seiplötzlich lebendig. nem Schädel vorbeipfeifen und sah, Vego sah einen riesigen bärtigen daß auch der vorletzte Mann getrofNeger, der nur aus Muskeln und Seh- fen wurde. nen bestand. Er erschien unvermitPanik erfaßte ihn für Augenblicke, telt an Deck, ebenfalls mit einer Pi- obwohl er versuchte, einen kühlen stole und einem schweren Schiffs- Kopf und vor allem die Übersicht zu hauer bewaffnet. Den Schiffshauer behalten. Das war in dieser hölliwarf er der Schwarzen zu, die ihn ge- schen Situation nicht so einfach, schickt auffing. Er selbst stellte sich denn die Kerle an Bord des Zweima-
24 sters räumten gnadenlos alles ab, was im Wasser schwamm. Sie schossen erstaunlich präzise und genau. Der Sargento holte tief Luft und tauchte ab. Dicht neben ihm trieb ein Toter mit ausgebreiteten Armen im Wasser, der langsam immer tiefer sank. Noch unter Wasser hörte er es dumpf knallen. Das ganze Meer war in Aufruhr. Er schwamm unter Wasser so lange, bis ihm buchstäblich die Luft wegblieb, erst dann wagte er, den Schädel aus dem Wasser zu strecken und schnell nach Luft zu schnappen. Auch für einen kurzen Rundumblick reichte es noch. Er sah, daß sie auf der Schaluppe ein kleines Boot abfierten, während andere Kerle und vor allem das Negerweib wieder ins Wasser schossen. Noch im Abtauchen bemerkte er, daß auch der letzte seiner Männer den Tod gefunden hatte und sich jetzt alles auf ihn selbst konzentrierte. Sie wollten ihn um jeden Preis haben, um jeden Zeugen auszuschalten. Ein Schuß krachte überlaut. Er sah noch das grelle Aufblitzen, hörte den berstenden Knall und ging auf Tiefe. Er wurde jetzt etwas ruhiger und rechnete sich eine Chance aus, dem Gemetzel doch noch zu entkommen. Wenn er erst einmal die Mangroven erreicht hatte, sah alles ganz anders aus. Die Kerle mit dem Boot würden ohnehin noch eine Weile brauchen, bis sie das Land erreichten. Als er zum zweiten Male mit weitoffenem Mund gierig nach Luft schnappte, war der Strand nur noch ein paar Schritte entfernt. Wieder feuerten sie. Als er sich umdrehte, bemerkte er auch, daß das kleine Boot bereits bemannt wurde und zwei Kerle hineinkletterten. Er tauchte noch einmal, schwamm ein paar Yards und stieß dann auf Grund. Anschließend stürmte er, so
schnell er konnte, aus dem Wasser. Die Mangroven mit ihren vielen Wurzeln bildeten ein gutes Versteck, doch ein schnelles Vordringen war nicht möglich. Immer wieder verfing er sich in den Stelzwurzeln, stolperte, raffte sich auf, taumelte weiter, bis es in seinen Lungen höllisch zu stechen begann. Als er aus dem Mangrovendschungel heraus war, zog er sich hoch und rannte weiter zu der Stelle, wo sie ihre Waffen und Uniformen abgelegt hatten. Er konnte immer noch nicht fassen, daß er als einziger das grausige Gemetzel überlebt hatte. Er sah, daß das kleine Boot rasend schnell an den Strand gepullt wurde. „Bringt mir den Kerl, tot oder lebend!" hörte er das Negerweib laut rufen, was die Kerle zu noch schnellerem Pullen veranlaßte. Er sah weiter, daß der riesige Neger mit dem krausen Bart in dem Boot hockte und mit einer Muskete schoß. War die leer geschossen, griff er zu einer Pistole. Scheinbar wahllos feuerte er in die Mangroven hinein. Angelo Vego hastete weiter. Dann riß es ihn plötzlich herum. Erst jetzt hörte er den Knall. Den Blitz hatte er nicht gesehen. Aber in seiner Schulter wühlte ein heißer, stechender Schmerz, als hätte ihn ein glühendes Messer getroffen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er an die linke Schulter. Dieser verfluchte Bastard hatte ihn erwischt. Der scheint mit dem Satan persönlich zu paktieren, dieser Hundesohn, dachte er. Er fühlte klebriges Blut, das zwischen seinen Fingern durchquoll, und fluchte unbeherrscht. Der wilde Schwarze hatte jetzt das Mangrovendickicht erreicht und drängte rücksichtslos hinein. Wurzeln krachten unter seinen Tritten,
25 er stampfte wie ein wildgewordener Stier mitten hindurch. Vego gelang es, das Dickicht zu erreichen, das ihn vor den Blicken des höllischen Schwarzen verbarg. Er fand auch die Stelle wieder, wo die Waffen lagen. Als er die erste Muskete aufnahm, zum Glück waren alle geladen, sprangen auch die anderen Kerle an Land. Krachen, Knacken und Fluchen waren zu hören. Vego spielte für kurze Augenblicke mit dem Gedanken, so schnell wie möglich zur Stadt zu flüchten. Dann verwarf er diesen Gedanken. Dem schwarzen Hundesohn wollte er noch eine Lehre erteilen. Aus dem Dickicht heraus sah er, wie der Neger alles zermalmte, was ihm im Weg stand. Wie ein Tier war der Kerl, wie eine reißende Bestie. Dieser Mann war der gefährlichste von allen. Er zielte mit der Muskete und schoß. Es blitzte grell auf, doch der Neger warf sich in den Dreck, verharrte dort für eine kurze Zeit und sprang dann blitzschnell wieder auf. Es war beängstigend, wie der Kerl reagierte. Ein zweiter Schuß blaffte los, diesmal aus der Pistole abgefeuert. Es war, als hätte der Schwarze das schon im voraus geahnt, denn wieder warf er sich einen Lidschlag vorher in Deckung. Vego schnappte sich zwei Pistolen, eine Muskete und zog sich immer weiter zurück. Sah er den schwarzen Schatten im Mondlicht auftauchen, dann feuerte er, was den Riesen sofort in Deckung zwang. Dann hetzte er los, die Muskete unter den Arm gepreßt, die Pistolen in der Hand haltend, obwohl der Streifschuß an der Schulter höllisch brannte und schmerzte. Wie lange er gelaufen war, wußte er nicht. Einmal glaubte er, dicht vor
sich einen Schatten zu sehen. Er schoß mit der Muskete darauf, doch der Schatten löste sich in Nichts auf. Vego warf die leergeschossene Muskete auf den Boden und hastete weiter. Etwas später sah er die Verfolger, die ihm unerbittlich auf den Fersen blieben. Dann hörte er laute Stimmen. Gebrüll klang von der Stadt herüber, und auch weiter südlich waren laute Rufe zu vernehmen. Das war die Rettung. Gardisten und Soldaten waren auf die wilde Ballerei aufmerksam geworden. Seine Verfolger blieben unentschlossen stehen. Sie wußten nicht, ob sie folgen sollten. Die Stimmen und das Geschrei störten sie. Schließlich drehten sie um und begaben sich auf den Rückzug. Sie schienen es höllisch eilig zu haben. Zum ersten Male nach dem mißlungenen Enterversuch konnte Vego aufatmen. Er war die wilde Horde los. Aber er war auch seine acht Männer los, die ausnahmslos den Tod gefunden hatten. Verzweifelt lief er weiter, auf die Stadtgrenze zu.
Caligula blieb abrupt stehen. „Zurück", sagte er, „es hat keinen Zweck mehr. Der Bastard hat Glück. Da vorn tauchen bewaffnete Kerle auf." Jetzt waren sie es, die sich höllisch beeilen mußten. Von einem Augenblick zum anderen hatte sich das Blatt gewendet. Der muskulöse Neger knirschte mit den Zähnen. Jetzt würden sie in Havanna zur großen Jagd blasen, denn natürlich würde der Kerl lauthals verkünden, was in der Bucht passiert war.
26 Wie gehetztes Wild jagten sie zurück, stürmten durch die Mangroven und sprangen ins Boot. Sie pullten aus Leibeskräften. Caligula richtete sich im Boot auf und brüllte aus Leibeskräften: „Ankerauf und weg! Beeilung, schnell, schnell! Gleich haben wir die ganze Meute am Hals!" Die Black Queen kochte zwar vor Zorn, aber sie reagierte schnell und trieb die Kerle zur Eile an. Noch bevor das Boot heran war, wurde der Anker gehievt und das Focksegel gesetzt. Sie nahmen sich auch nicht mehr die Zeit, das Boot an Bord zu hieven. Sie hängten es an langer Leine achtern an. Gleich darauf ging auch das Großsegel hoch. Die Schaluppe nahm langsam Fahrt auf. „Wohin?" fragte die Queen. „Richtung Westen, dicht unter der Küste bleiben", sagte Caligula. „Dieser letzte Bastard ist uns leider entwischt." „Das dachte ich mir bereits", sagte die Queen höhnisch. „Ihr seid eben nicht mehr in Form und liegt zuviel auf der faulen Haut. Aber gerade dieser eine Kerl hetzt uns jetzt ganz Havanna auf den Hals." „Die Schüsse haben genau das gleiche bewirkt", sagte Caligula schroff. „Außerdem verbitte ich mir diesen Ton. Ich bin noch sehr gut in Form." „Du vielleicht schon", fauchte sie, „aber der da nicht! Der Kerl hat gepennt. Er hätte die Angreifer viel früher bemerken müssen, nicht erst im letzten Augenblick." Im Gesicht des Ankerpostens begann es zu zucken. Die Queen sah ihn eiskalt an. Er sah, wie sich ihre Brüste hoben und senkten, spürte den fast animalischen Geruch, der von ihr ausging, und hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne.
„Es muß wieder mal ein Exempel statuiert werden." Er konnte sich darunter nicht viel vorstellen, aber daß es eine sehr bedrohliche Sache war, das ahnte er. Das schwarze Weib ging hart und rücksichtslos mit Leuten um, die etwas verpatzt hatten. Verzerrt grinsend blickte er sie an. Dann sah er etwas kurz und hell aufblitzen. Das Gesicht der Schwarzen wurde immer größer, zerfloß zu einer tintigen Wolke und war nur noch eine verwehende Fratze. Erst jetzt spürte er den Schmerz in seiner Brust, doch der ging rasch vorüber. Es brannte ein wenig. Er wollte noch schreien, aber nur seine Lippen öffneten sich, den Schrei brachte er nicht mehr heraus. Nach einer halben Körperdrehung fiel er stumm auf die Planken. „Werft ihn über Bord", sagte die Queen kalt zu den anderen Kerlen, „und beeilt euch damit. Nehmt euch im übrigen ein Beispiel an diesem Kerl, der auf Ankerwache schlief, statt Ausschau zu halten." Mit einer schnellen Bewegung steckte sie das Messer in den Gürtel zurück und sah zu, wie sie den Kreolen über Bord warfen. Ein letztes Aufklatschen, dann war er weg. Die Kerle standen betreten herum. Selbst die abgebrühten von ihnen hatten ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Dieses Weib war wie der Satan, hart, rücksichtslos, gemein und brutal. Vor allem war sie absolut unberechenbar. Dazu wechselte ständig ihre Laune. Sie hatten vor ihr mehr Angst als vor Caligula, denn der war wenigstens noch einigermaßen berechenbar. In Caligulas Gesicht zuckte kein Muskel, als der Tote über Bord flog. Er sah nur die Queen und dachte sich seinen Teil. Mitunter empfand er so eine Art Haßliebe für sie, dann wie-
27 der war er ihr fast hörig, wenn sie ihre Reize ausspielte. „Wenn du einen nach dem anderen umbringst", sagte er in die lastende Stille hinein, „dann haben wir bald keine Leute mehr. Jetzt sind wir mit mir nur noch neun Männer." Sie musterten sich für lange Augenblicke wie zwei Todfeinde. Dann lachte die Black Queen kurz und verächtlich auf. „Kerle wie den da finde ich in jeder Hafenspelunke", sagte sie, „an solchem Gesindel herrscht in der Karibik kein Mangel. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, denn er hat auf Wache geschlafen, nur deshalb sind die Kerle so dicht ans Schiff gelangt." „Jedenfalls wünsche ich, daß keine weiteren Kerle mehr umgebracht werden", sagte Caligula scharf. „Wir befinden uns in einer schlechten Situation und sind aufeinander angewiesen." „Ganz richtig", sagte sie, „und deshalb können wir uns solche Versager an Bord nicht leisten. Wir segeln weiter westwärts. Etwa dreißig Meilen von hier aus gibt es eine Lagunenbucht, in der uns so schnell keiner finden wird. Die laufen wir an und verstecken uns. Dort können sie uns suchen, bis sie schwarz werden." Caligula nickte widerwillig. Er gab keine Antwort, denn ihr Argument war ebenso stichhaltig wie seins. Die Drehbassen wurden überprüft und weitere Kugeln an Deck gemannt, für den Fall, daß es unliebsame Überraschungen gab. Sie mußten damit rechnen, von nun an gejagt zu werden. Aus der Stadt war immer noch Gebrüll und Geschrei zu hören. Ganz Havanna stand kopf und befand sich in einem turbulenten Aufruhr. 5. An der Stadtgrenze traf Angelo
Vego auf einen Offizier der Stadtgarde. Bevor er ihn erreichte, sah er sich noch einmal gehetzt nach allen Seiten um. Es gab keine Verfolger mehr, er war die fürchterliche Meute los. Sie waren vermutlich längst abgesegelt. „Sargento Vego", meldete er erregt. „Ich war mit einem Trupp Gardisten unterwegs, als wir auf einen verdächtigen Zweimaster stießen." Schnaufend berichtete er dem Offizier, was sich zugetragen hatte. Der Mann hörte aufmerksam zu. Seine Augen wurden immer größer. „Alle Männer haben den Tod gefunden?" fragte er entsetzt. „Ja, alle. Die Bande kann noch nicht weit sein. Sie sind mir lange Zeit gefolgt, dann kehrten sie um." Für den Offizier der Stadtgarde war die Meldung wichtig genug, um sofort Alarm zu schlagen. „Schnell, zum Hafen", sagte er. „Sind Sie schwer verletzt?" „Nur ein Streifschuß", keuchte Vego, „halb so schlimm." Der Offizier legte ein beachtliches Tempo vor, dirigierte Vego zum Hafen und eilte an einer Pier entlang, an der drei gut armierte Schaluppen lagen. Es waren Hafen-Schaluppen, die meist den Küstendienst vor Havanna versahen. Zwei Männer hielten sich an Deck im Schein einer Laterne auf. „Alle Mann an Bord?" fragte der Stadtgardist. „Ja, sie schlafen." „Dann purrt sie hoch und beeilt euch damit." Kapitäne und Mannschaften der drei Schaluppen erschienen überraschend schnell an Deck. Sie waren es gewohnt, zu den unmöglichsten Zeiten hochgepurrt zu werden. In Havanna war immer was los, und die Hafen-Schaluppen des Küstendienstes hatten ständig einsatzbereit zu sein.
28 Als die drei Kapitäne an Deck waren, erzählte der Offizier in knappen Worten von den Vorfällen. Die Männer hörten aufmerksam zu, nickten, stellten jedoch keine unnötigen Fragen. „Auslaufen in westlicher Richtung", befahl der Offizier, „stellt den Zweimaster und bringt die Gefangenen ein. Auch das schwarze Weib, das sich an Bord befindet. Anschließend Meldung an mich oder den Hafenkommandanten." Auf die drei Schaluppenführer konnte er sich verlassen. Das waren harte Kerle, die durchaus in der Lage waren, den mysteriösen Zweimaster aufzuspüren und auch zu stellen. Er wartete noch, bis die Segel gesetzt waren und die drei Schaluppen langsam aus dem Hafen glitten. Weiter draußen blies der Wind kräftiger in die Segel, und sie liefen mit schneller Fahrt westwärts. „Die Angelegenheit erscheint mir wichtig genug, daß der Gouverneur sie erfährt", sagte der Offizier. „Ich möchte mich keiner Unterlassungssünde bezichtigen lassen. Also werden Sie mir zum Palast folgen und dort dem ehrenwerten Don Antonio de Quintanilla die Geschichte haarklein berichten." „Um diese Zeit?" fragte Vego entsetzt. „Und so, wie ich aussehe, dreckverschmiert und verletzt?" „In dieser Aufmachung wirkt das glaubwürdiger, als wenn Sie sich jetzt säubern und umziehen. Außerdem drängt die Zeit. Der Gouverneur ist um diese Zeit immer auf." Vego war noch nie im Palast des ehrenwerten Gouverneurs gewesen und fühlte sich bei dem Gedanken, dort zu nächtlicher Zeit zu erscheinen, auch nicht wohl. Aber es mußte sein. Die Angelegenheit mit dem Zweimaster schien wichtiger zu sein, als er geglaubt hatte.
Ein paar Minuten später hatten sie bereits die Wachen passiert und wurden von einem Lakai gemeldet. Der Gouverneur ließ bitten, hieß es, man möge sich noch ein paar Augenblicke gedulden. Vego wurde es immer unbehaglicher, als er sah, welcher Luxus hier getrieben wurde. Er fühlte sich klein und häßlich in seiner verdreckten und besudelten Uniform und sah sich in der getäfelten Halle immer wieder bedrückt um, als säßen ihm Verfolger im Nacken. Gouverneur müßte man sein, überlegte er, dann lebte man besser als der König von Spanien. Der Offizier wurde bereits langsam nervös, denn aus den „paar Augenblicken" war mittlerweile eine halbe Stunde geworden. Der erlauchte Herr saß indessen vermutlich hinter seinem Prunktisch und aß kandierte Früchte. Die Männer ließ er absichtlich warten, um zu demonstrieren, wie beschäftigt er sei. Hirnrissig war das, fand der Offizier, aber das waren eben die Macken des erlauchten Herrn. Endlich wurden sie vorgelassen. Vego war von der Warterei bereits zermürbt und von dem Prunk und Luxus eingeschüchtert. Als er jetzt auch noch den hohen Herren sah, traute er sich kaum weiter. Er kam sich wie ein der Suhle entstiegenes Schwein vor, das sich auf die Chaiselongue eines Kaisers verirrt hat. Wenn man Wasser in diesen Raum füllen würde, schoß es ihm ganz spontan durch den Kopf, dann wäre der Hafen um ein mächtiges Stück größer geworden, und man hätte gut und gern acht Schaluppen darin unterbringen können. Seine Durchlaucht thronte hinter einem riesigen reichverzierten Tisch und blickte etwas* grämlich. Indigniert hob er die Augenbrauen
29 und musterte ungnädig das besudelte Individuum, dessen Schädel bei der ungnädigen Musterung knallrot anlief. „Sargento Vego", meldete der Offizier. „Ich halte seine Nachricht für so wichtig, daß ich mir erlaubte, den erlauchten Herrn damit zu belästigen. Verzeihen Sie bitte." Der so Belästigte blickte immer noch befremdet auf den Sargento, als sei da gerade ein Käfer einem Mistbeet entstiegen. Er rümpfte die fleischige Nase, stand auf, watschelte durch den Raum, ließ sich ächzend in den Sessel einer Sitzgruppe fallen, klopfte ungeduldig mit den Wurstfingern auf die Luxusplatte und wartete. „Ich höre", sagte er. Vego hatte sich wesentlich behaglicher gefühlt, als der riesige Neger ihn verfolgte. Das war richtig gemütlich gewesen, angesichts dieses feisten Kapauns mit seiner unbegrenzten Machtfülle, den aufgeblasenen Hamsterbacken, dem Doppelkinn und den verschlagen blickenden Augen, denen nichts entging. Auch eine gepuderte Perücke trug der Erlauchte, und er duftete nach Rosenwasser und Puder. Aber gefährlich war er, das spürte der Sargento instinktiv als „Mann der Straße". Dieser aufgeblasen wirkende Gouverneur war ein Hai schlimmer noch, er war ein Riesenhai, dem keine Beute entging, der alles verschlang, was er sich als Futter auserkoren hatte. Das dicke Patschhändchen griff zu einer silbernen Tischglocke und schüttelte sie ungeduldig. Die andere Patschhand langte in eine Kristallschale mit goldenem Rand, fischte eine kandierte Frucht heraus und führte sie zu dem Doppelkinn. Unter der fleischigen Nase schloß sich ein
rosiger Spalt, der gleich darauf zu mampfen begann. Auf das Klingelzeichen eilte ein herausgeputzter Lakai herbei. Eine herrische Handbewegung wies ihn an, aus der Karaffe schweren Portwein in den danebenstehenden Kelch nachzufüllen. Der Lakai tat es, damit der Dicke sich nicht überanstrengte, und verschwand auf leisen Sohlen. Natürlich fiel es dem Erlauchten nicht ein, dem Mann, der sich fürs Vaterland geschlagen hatte, einen Platz anzubieten. Die Sitzgruppe hätte ja verunreinigt werden können. „Berichten Sie, Vego", forderte der Offizier den Sargento auf, der sich immer noch nicht traute, etwas zu sagen. Nur sehr zögernd sagte er die ersten Worte. Sein Blick war dabei auf das Doppelkinn des Dicken gerichtet, das sich pausenlos hob und senkte. Hörte die Bewegung einmal auf, griff der Dicke in die Schale und verzehrte die nächste kandierte Frucht. Hin und wieder trank er aus dem silbernen Kelch einen Schluck des dunklen Weines. Danach tupfte er sich den Mund geziert mit einem Spitzentüchlein ab. Vego berichtete etwas flüssiger, denn er bemerkte, daß der Dicke ganz ungeniert gähnte und wieder den ungnädigen Blick kriegte. Erst als er von dem Negerweib erzählte, horchte der Gouverneur plötzlich auf. Er geruhte sogar, sich kerzengerade aufzurichten. „Niggerweib", sagte Don Antonio de Quintanilla erregt. „Aha, das ist es. Vor drei Tagen hat..." Er sprach nicht weiter, griff nach dem Glöckchen und bimmelte aufgeregt. Die Ordonnanz wurde sofort angebellt: „Holen Sie den Posten, der am neunten Juli die Botschaft samt
30 der Positionsmarkierung des Piratenverstecks in Empfang genommen hat. Er soll augenblicklich hier erscheinen." Knapp fünf Minuten später war der Mann zur Stelle. Er sah noch etwas verschlafen aus, denn sie hatten ihn ziemlich unsanft aus dem Bett geholt. „Sie haben mir eine versiegelte Schriftrolle überbringen lassen", sagte der Gouverneur. „Von einem Niggerweib. Beschreiben Sie das Weib." „Ein - ein Prachtweib, mit Verlaub. Sie verbarg ihr Gesicht und die Haare unter einem Schleier, aber ich sah ihr Gesicht dennoch für einen Augenblick. Sie hatte ebenmäßige Züge, pechschwarze Augen und eine schlanke gerade Nase über einem mit Verlaub - sinnlichen Mund. Ihr Körper war schlank und geschmeidig. Sie hatte auch - mit Verlaub sehr ausgeprägte Brü ... äh - Rundungen." Der Gouverneur wechselte die Blickrichtung und sah den schwitzenden Sargento an, der sich immer noch unbehaglich fühlte. „Stimmt die Beschreibung?" fragte er ungehalten. „Ja, genauso sah sie aus", bestätigte der Sargento. „Diesmal trug sie nur einen Lendenschurz mit einem Messer im Gürtel, sonst nichts." Augenblicke lang stellte sich der Dicke wohl das vollbusige Negerweib vor, denn in seinen Mundwinkeln nistete ein widerliches Grinsen. Er gab dem Posten ein Zeichen, zu verschwinden, was der mit offensichtlicher Freude und Eile auch tat. Als er draußen war, änderte sich die Stimmung des Gouverneurs. Diesmal sprang er aus seinem Sessel. „Unverzeihlich, daß das Weib entkommen ist!" schrie er. „Unverzeihlich ist das! Sie haben es nicht ge-
schafft, das Schiff zu entern, obwohl Sie acht Leute hatten. Bin ich denn nur von unfähigen Trotteln umgeben? Weshalb haben die Leute nicht angegriffen?" „Wir haben angegriffen", sagte der Sargento, obwohl er das schon einmal erzählt hatte, „aber wir wurden überrascht, und sie schossen vom Schiff aus auf uns. Außer mir hat niemand überlebt." Der Tod der acht Gardisten berührte den Dicken nicht. Er runzelte nur unwillig die Stirn und war sehr verärgert. Dann forderte er den Sargento auf, auch andere Einzelheiten zu berichten. Vego beschrieb alles, so gut er konnte. Er sah, wie der Dicke wieder zusammenzuckte, als er von dem hünenhaften Neger berichtete. Auch den mußte er haarklein beschreiben. Das Gesicht des Gouverneurs wurde immer länger, seine Stimmung immer schlechter. Der Sargento wünschte sich weit fort, aber noch war er nicht entlassen. Eine herrische Bewegung mit der ringgeschmückten Hand folgte. „Ruhe jetzt! Lassen Sie mich die Lage überdenken." Das Denken des Dicken war sowohl für den Offizier als auch den Sargento peinlich, denn der Gouverneur nahm die beiden überhaupt nicht wahr und ließ sie stehen, wo sie standen. Mit Andacht widmete er sich dem schweren Wein und den kandierten überzuckerten Früchten. Er frißt wie eine Seekuh, dachte der Sargento, kein Wunder, daß er von diesem Zuckerzeug immer fetter wird. Er schaufelt das Zeug geradezu in sich hinein. Ein widerlicher, schleimiger Kerl ist das. So und ähnlich waren seine Gedanken, aber nach außen hin gab er sich demütig und devot. Der Dicke hingegen wußte jetzt,
31 wer der Neger war. Es war kein Zweifel möglich. Diesen Bastard hatte er foltern lassen, um das Versteck der englischen Piraten zu erfahren. Aber der Bastard hatte der Folter widerstanden, und dann war dem Unhold auch noch die Flucht aus dem Stadtgefängnis gelungen. Er nahm die beiden Männer kaum noch wahr und grübelte über die Zusammenhänge nach. Warum waren das Negerweib und dieser verdammte schwarze Bastard so erpicht darauf, die Position dieser Insel zu verraten? Da steckte doch Haß oder Feindschaft dahinter, er sah jedenfalls im Augenblick kein anderes Motiv. Daß seine Vermutung absolut richtig war, wußte er nicht, er dachte nur darüber nach und ahnte es. Der Neger, das Weib und die englischen Piraten mußten untereinander verfeindet sein. Egal, wie auch immer die Zusammenhänge waren: Das Negerweib mußte hergeschafft werden. Dann würde man weitersehen und alles Wissenswerte erfahren. „Das Niggerweib muß her", befahl der Gouverneur. „Ein paar Schiffe sollen sofort auslaufen und nach den Bastarden suchen." Der Offizier nahm Haltung an. „Ich habe das bereits veranlaßt, Señor Gouverneur", sagte er. „Drei Schaluppen sind ausgelaufen und suchen die See in westlicher Richtung ab." Durch die Anordnungen des Offiziers hatten sie schon fast eine Stunde Zeit gewonnen, während der Gouverneur noch geruhte, sie zu empfangen und dabei untätig in seinem Sessel gehockt hatte. Ein Lob wollte ihm aber trotzdem nicht über die fleischigen Lippen. „Die Küste muß auch von Land her abgesucht werden", verlangte der
Dicke. „Es genügt nicht, daß man nur auf See sucht." „Das werde ich sofort in die Wege leiten, Señor Gouverneur." „Dann leiten Sie! Leiten Sie endlich! Es darf keine Zeit verloren werden. Jeder Augenblick ist kostbar." Eine Handbewegung entließ die beiden Männer. Als sie an der hohen Tür waren, mampfte der Dicke schon wieder Früchte. Er schenkte ihnen keinen einzigen Blick mehr und nahm auch nicht den abschließenden Kratzfuß zur Kenntnis. Er lehnte sich zurück, klingelte wieder dem Lakaien und ließ sich den schweren Wein nachschenken. Als der Lakai gehen wollte, wies der feiste Mann ärgerlich auf die leere Kristallschale. „Die hat immer aufgefüllt hier zu stehen!" fauchte er. „Wer das vergißt, ist die längste Zeit bei mir Diener gewesen. Hinaus!" Der Lakai brachte neue Früchte, vergaß auch den Rotwein nicht und war in dieser Nacht pausenlos beschäftigt, auf ein Klingelzeichen herbeizueilen, um dem Dicken nachzuschenken. Und der soff in dieser Nacht wie ein Pferdeknecht. Als er schon den glasigen Blick drauf hatte, wurde ihm der Stadtkommandant de Retortilla gemeldet. Der Dicke geruhte unverzüglich, ihn zu empfangen, denn er versprach sich Neuigkeiten. Daß sich der übereifrige Kommandant schon seit mehr als zwei Stunden feige in der Residenz versteckt hatte, wußte er nicht. De Retortilla sah aus, als wäre er soeben einem Dampfbad entstiegen. Sein Gesicht war schweißüberströmt, die Haare klebten ihm an der Stirn, die Nase war noch spitzer, und seine Lippen bildeten einen fast unsichtbaren Strich, so verkniffen waren sie. Er hat nichts Neues zu berichten,
32 dachte der Gouverneur, gar nichts. Deshalb war er ausgesprochen freundlich, um ihn später nur noch mehr herunterputzen zu können. „Sie haben endlich den Mörder", sagte der Gouverneur. „Ich wußte, daß ein Mann wie Sie dazu durchaus imstande ist. Es war schwierig, nicht wahr, mein Freund?" Der zum Freund ernannte Kommandant stand da wie ein Häufchen Elend. Bei soviel Freundlichkeit war es schlimm, mit schlechten Nachrichten aufzuwarten. Sie würden den Gouverneur sicherlich enttäuschen. „Ist er schon im Gefängnis?" fragte der Dicke hinterhältig. „Nein, lassen Sie mich raten: Er ist erschossen worden. Auch gut, Hauptsache, er weilt nicht mehr unter den Lebenden. Trinken Sie einen Tropfen mit auf den Erfolg, mein Freund." Der „Freund" wand sich wie ein glitschiger Aal und begann, noch mehr zu schwitzen. Dicke Tropfen standen auf seiner Stirn. „Mein armer de Retortilla", heuchelte der Dicke, „sagen Sie gar nichts. Sie haben sich bei der Jagd wahrscheinlich überanstrengt. Einen Augenblick." Auf sein Läuten erschien wieder der Lakai. „Bring Tücher mit Kampferöl und tupfe ihm die Stirn ab. Der Kommandant hat sich überanstrengt, sein Herz scheint nicht in Ordnung zu sein." Hinterhältig grinsend sah er zu, wie der Lakai de Retortilla den Schweiß abtrocknete. Der Kommandant zitterte an allen Gliedern und wollte etwas sagen, wurde jedoch immer wieder durch eine beruhigende Handbewegung des Dicken zum Schweigen verurteilt. Der Lakai verschwand wieder. Der Dicke lächelte ölig.
„Nun berichten Sie in aller Ruhe, mein Freund." „Es - es tut mir leid, Don Antonio. Ich habe von dem flüchtigen Mörder immer noch keine Spur. Er ist wie vom Erdboden verschwunden." „Ha, solche Scherze liebe ich", sagte der Dicke aufgeräumt. „Sie sind ja ein Schelm. Nein, sagen Sie nur die Wahrheit." „Es ist die Wahrheit, Don Antonio." Das Gesicht des Dicken veränderte sich in erschreckender Weise. „Sie wagen, mich mitten in der Arbeit zu stören, nur um mir mitzuteilen, daß Sie immer noch keine Spur von dem Kerl haben? Das wagen Sie wirklich, Señor de Retortilla?" „Ich wollte Ihnen nur Bericht erstatten", sagte der Kommandant gequält. „Es tut mir wirklich leid. Ich bin aber sicher, daß ..." „Es tut Ihnen leid?" Aus der ölig klingenden Stimme wurde übergangslos ein hysterisches Kreischen, das durch den gesamten Palast zu hören war. „Sie sind unfähig! Eine Null sind Sie!" schrie der Dicke gellend. „Sie nennen sich Stadtkommandant und sind nicht in der Lage, einen hinterhältigen Mörder aufzuspüren? Das ist die Höhe! Ein elender Versager sind Sie! Ich werde Sie wegen Unfähigkeit im Amt vor ein Standgericht stellen lassen. Das ist nicht nur empörend, das ist himmelschreiend!" Er sprang aus seinem Sessel auf, trat einen Schritt vor und stach den Zeigefinger auf die Brust seines Gegenübers. Diesmal war seine Stimme noch lauter und durchdringender. „Sie bringen mir Don Juan, Sie Versager! Sie bringen ihn mir hier in die Residenz, tot oder lebendig! Aber Sie bringen ihn schnell. Und wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, dann finden Sie sich in kürzester Zeit vor den Musketenläufen eines Pelotons
Richten Sie Ihre Zuschriften bitte an Seewölfe-Redaktion, Erich Pabel Verlag GmbH. Karlsruher Straße 31, Postfach 1780, 7550 Rastatt
Liebe Seewölfe-Freunde! Im letzten FORUM veröffentlichten wir einen Brief von Herrn M Straße 4 ,2000 Bremen 1. Hier ist der Rest seiner Zuschrift, den wir aus Platzmangel nicht mehr bringen konnten: Zum Ende noch ein paar Fragen: 1. Gibt es die Fox-Serie von Adam Hardy als gebundene Bücher? 2. Wann startet die Zweitauflage - hoffentlich in anderem Format ? 3. Spielt sich die Handlung der Seewölfe in Zukunft immer in der Karibik ab ? Wäre schade! 4. Bleiben die Spanier immer die größten Feinde, die sich dann auch noch übertölpeln lassen? 5. Finden Sie es realistisch, wenn Seegefechte nur mit Sachschaden und Schrammen (auf Seiten der Seewölfe) enden? 6. Finden Sie, daß die Spanier wirklich so waren, wie sie von Ihnen dargestellt werden? Ich glaube, dann wären die Spanier keine See- und Weltmacht geworden. Hiermit erlaube ich Ihnen, Teile oder den ganzen Brief im Forum abzudrucken. Ich hoffe, daß Ihnen Anregungen und Ideen gefallen werden. Mit freundlichem Arwenack M Besten Dank für Ihren Brief, lieber Herr M Im letzten FORUM sind wir ja bereits auf einige Punkte in Ihrem Brief eingegangen. Aber nun zu Ihren Fragen. 1. Der Pabel Verlag brachte die 11 Fox-Bände als Sammelbände in zwei gebundenen Büchern heraus (jetzt vergriffen). 2. Die Verlagsleitung hat bezüglich einer Zweitauflage noch nichts entschieden. 3. Die Handlung der Seewölfe würde auf mehrheitlichen Wunsch unserer Leser in die Karibik verlegt, die - das möchten wir an dieser Stelle einmal betonen - zur Zeit der See wölfe und noch fast ein Jahrhundert lang ein Kristallisationspunkt der seefahrenden Nationen (und von Abenteurern) war. Hier haben sich die Seewölfe ein Domizil auf der Schlangen-Insel aufgebaut und im Bund der Korsaren zu einem Leben in Freiheit gefunden. Was sollte daran „schade" sein?
4. Tut uns leid, lieber Herr M , für die Habenichtse der damaligen Alten Welt wie England, Frankreich und die Niederlande war Spanien nun einmal „der Feind", der sich aufgrund einer umstrittenen Papstentscheidung anmaßte, die Neue Welt als seinen Besitz zu betrachten, was nachgewiesenermaßen im Zuge der Besitzergreifung zur Ausrottung der dort lebenden Eingeborenen führte, von der Ausbeutung gar nicht zu sprechen. 5. Wenn Seegefechte der Seewölfe mit deren Ende enden, dann endet auch die SEEWÖLFESerie, was ebenfalls nicht realistisch wäre, jedenfalls nicht realistisch im Sinne unserer Leser. Im übrigen - das wissen Sie, da Sie die Serie von Anfang an kennen - haben unsere Seewölfe nicht nur „Sachschäden" empfangen, sondern bereits acht Schiffe verloren, ganz abgesehen von den Blessuren unserer Helden, die wir uns bemühen am Leben zu erhalten, was auch sehr entschieden von unseren Lesern gewünscht wird. 6. Niemand bestreitet, daß Spanien eine Seeund Weltmacht war, aber diese Macht begann zu zerbröseln, als die legendäre Armada 1588 zerschlagen wurde - es war der Anfang vom Ende, und andere europäische Nationen stiegen zu Seeund Weltmächten auf: England, die Niederlande und Frankreich. Das ist die Geschichte, und warum sollen wir sie nach unserer heutigen Erkenntnis anders zeichnen, als sie verlaufen ist? Der Aufstieg und der Niedergang einer Weltmacht sind stets auch verbunden mit der Kraft (oder Schwäche) der handelnden Persönlichkeiten. Das ist heute nicht anders. Wohin Größenwahn (leider auch immer jener Personen, von denen diese Macht vertreten wird) führen kann, wissen wir aus unserer eigenen Geschichte dieses jetzigen Jahrhunderts, als wir zweimal fast gegen die gesamte Welt Krieg führten. Vergleiche hinken, aber Parallelen sind vorhanden. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In der Fortsetzung unseres Galeassen-Berichts stellen wir unseren Lesern auf den beiden vorigen Seiten eine Rißzeichnung des Rumpfes dieses „Ruder-Seglers" vor. Die Nummern bedeuten: 1 Galionsfigur (der Rammsporn war bereits zu dieser Zeit - Ende des 17. Jahrhunderts - verschwunden und das Vorschiff wurde mit einer Figur verziert), 2 unteres Buggeschütz (ein sogenannter Jager, der im Jagdkurs schoß - bei Auswandern des Ziels mußte die ganze Galeasse nachdrehen), 3 Galionsplattform, 4 oberes Buggeschütz, 5 Fockmast, 6 Backbordseitengeschütz, 7 Kielschwein, 8 Schanzkleidöffnungen, 9 Seitenbeplankung, 10 Ruderdeck, 11 Großmast, 12 Lenzpumpe, 13 Seitenbalustrade, 14 Achterdeckseitengeschütz, 15 achteres Schanzkleid, 16 Besanmast, 17 und 19 Heckfenster, 18 Heckgalerie, 20 Heckgeschütz, 21 Ruderschaft, 22 Ruderblatt.
37 wieder. Ich lasse Sie gnadenlos erschießen. Haben Sie sonst noch etwas zu berichten?" So war der Dicke, dachte de Retortilla entnervt. Ein rücksichtsloser, egoistischer vollgefressener Fettsack, der seine Untergebenen herumstieß, wie es ihm paßte, und sie sogar umbringen ließ, wenn sie ihm lästig wurden oder er sie nicht mehr brauchte. Er haßte ihn aus vollem Herzen und wünschte sich, er hätte sich nie mit diesem hinterhältigen Intriganten eingelassen. Sollte er ihm jetzt noch sagen, daß er aus Versehen einen durchaus ehrbaren Kaufmann erschossen hatte? Nein, dieses Geständnis brachte er nicht mehr über die Lippen. Das war zuviel. Der Dicke hätte ihn wahrscheinlich sofort auf der Stelle in den Kerker werfen lassen. Gelb und grau im Gesicht, die Wangenknochen hektisch gerötet, stand er da und schüttelte den Kopf. „Leider nicht", stammelte er. „Ich hielt es nur für meine Pflicht, Sie über den Stand der Dinge zu unterrichten." „Darauf pfeife ich!" brüllte Don Antonio wieder in voller Lautstärke. „Darauf pfeife ich, mein Herr! Man stiehlt mir nicht meine kostbare Zeit, um mir Negatives mitzuteilen. Und das mitten in der Nacht! Ich will Erfolge sehen, ich will Don Juan haben - und das ist ausschließlich Ihre Aufgabe. Und jetzt verschwinden Sie, Sie erbärmlicher Versager. Denken Sie an das Erschießungskommando, vielleicht beflügelt das Ihre traurige Phantasie. Hinaus, Sie Kümmerling!" De Retortilla ließ alles zähneknirschend und gedemütigt über sich ergehen. Aber insgeheim schwor er dem Fettsack Rache. Da war noch etwas, mit dem er bei gegebener Zeit
nicht hinter dem Berg halten würde, etwas, das dem erlauchten Herrn noch sehr sauer aufstoßen würde. Jetzt war allerdings nicht der Zeitpunkt dazu. Er mußte eine günstigere Gelegenheit abwarten. „Hinaus!" tobte der Dicke. „Ich kann Sie nicht mehr sehen! Getrauen Sie sich erst dann unter meine Augen, wenn Sie den Kerl haben!" Puterrot vor Wut im Gesicht sah er so aus, als wollte er höchstpersönlich auf den Stadtkommandanten losgehen. De Retortilla drehte sich um und wankte total geschafft hinaus. Er floh regelrecht vor dem Dicken, seiner grell kreischenden Stimme und seiner wilden Wut. Er taumelte mehr, als er ging, zu seinem Amtssitz und ließ seine direkten Untergebenen antreten. Das entsprach genau der Hackordnung. Der Gouverneur hatte ihn getreten, folglich trat er seine nächsten Untergebenen, und die konnten dann weitertreten, bis der unterste Dienstgrad an der Reihe war. Bei den Kleinen blieb es dann hängen. Das waren die zorn- und wutbeladenen Sündenböcke, die nicht mehr in der Lage waren, noch weiter nach unten zu treten. Als seine Offiziere sich eingefunden hatten, war de Retortilla kaum noch der Vorfall im Palast anzusehen. Nur seine gelbliche Gesichtsfarbe verschwand nicht. „Ich verlange", schrie er laut, „daß Sie mir diesen Frauenmörder so schnell wie möglich bringen - tot oder lebendig! Setzen Sie alles in Bewegung, suchen Sie, stöbern Sie jeden Winkel durch! Der Kerl muß gefunden werden! Wenn Sie ihn nicht beibringen, dann rollen bei den oberen Chargen ein paar Köpfe, das verspreche ich Ihnen. Einige von Ihnen
38 werden sich dann vor einem Peloton wiederfinden." Die Offiziere verschwanden eingeschüchtert und knöpften sich die unteren Dienstgrade vor. Auch denen wurde versprochen, mit einem Exekutionskommando Bekanntschaft zu schließen. Der Anschiß ging noch weiter nach unten, und so war in Havanna wieder einmal der Teufel los. Gardisten und Soldaten purrten erneut die müden Bürger hoch. 6. Am Vormittag des zehnten Juli war auf der Schlangen-Insel die erste Hiobsbotschaft eingetroffen. Der Täuberich Dragan hatte sie gebracht. Die Nachricht besagte kurz und bündig, daß die Black Queen in Havanna aufgetaucht sei und dem Gouverneur auf einer Seekarte die genaue Position der Schlangen-Insel verraten habe. Das schlug wie eine Bombe ein, und daran erhitzten sich jetzt ernsthaft die Gemüter. „Keine Hysterie bitte", sagte Hasard ruhig, als die führenden Köpfe des Bundes der Korsaren versammelt waren. Dennoch herrschte verständliche Aufregung, obwohl sie immer damit gerechnet hatten, daß das Geheimnis um die Insel eines Tages gelüftet werden könnte. Jetzt war es soweit. Arkana, Araua, Karl von Hutten, Siri-Tong und all die anderen zogen betroffene Gesichter, als Renke Eggens die Nachricht für sie gelesen und übersetzt hatte. „Bald wird hier der Teufel los sein", sagte die Rote Korsarin, „eine Armada von Kriegsschiffen wird anrücken und uns zur entscheiden-
den Schlacht zwingen - zur letzten vielleicht." Hasard war zwar auch aufgewühlt, aber er zeigte es nicht. Er blieb kühl und gelassen und sah die Männer und Frauen der Reihe nach an. „Natürlich heißt das für uns allerhöchste Alarmstufe, aber es ist kein Grund zur Panik. Wir haben eine ganze Schiffsladung Kanonen, Pulver und Kriegsgüter erbeutet, und damit werden wir den Ausbau zu einer wirklichen Festung vorantreiben." „Jetzt, nachdem es fast zu spät ist", sagte Siri-Tong erbittert. „Wir haben es versäumt, schnell und sofort zu handeln. Ich habe immer darauf gedrängt, den weiteren Ausbau voranzutreiben und die Insel zu befestigen. Leider ging das immer recht schleppend vor sich." „Auch ich habe darauf bestanden", erwiderte Hasard scharf. „Du tust ja so, als hätte sich kein Mensch darum gekümmert. Sieh dich doch in den Felsen um, dann wirst du erkennen, was wir bisher geleistet haben. Den Angriff der Queen haben wir abgeschlagen, sehr erfolgreich sogar, und danach haben wir weiter befestigt, geschanzt und noch mehr Kanonen in Stellung gebracht." „Sicher, den Angriff haben wir abgeschlagen", sagte Siri-Tong, „leider hat uns das auch nicht geholfen. Die Queen ist entwischt, und jetzt präsentiert sie uns die Rechnung." „Gut, das Geheimnis ist gelüftet", entgegnete Hasard, „aber bisher ist die Position offenbar nur dem Gouverneur bekannt, und der kann nicht von heute auf morgen ein Kriegsgeschwader in Marsch setzen. Uns bleibt zwar nicht mehr viel Zeit, aber wir werden sie nutzen - zum Wohle aller, und jeder Mann wird mit anpacken."
39 „Wir haben auch keine andere Wahl mehr", sagte Siri-Tong kratzbürstig. „Jetzt, da es fast zu spät ist, sehen die Herren endlich ein, daß mein Drängen auf Ausbau der Batterien keine bloße Angeberei war. Es war immer akut, von da an, seit wir den Schlupfwinkel besitzen." Die Augen der Roten Korsarin blitzten angriffslustig. Sie war es gewesen, die auch die notwendigen Arbeiten immer schnell und augenblicklich in Angriff genommen hatte. Ihr ständiges Drängen war den anderen manchmal sogar auf die Nerven gegangen. Hasard markierte auf einem Stück Papier ein paar Punkte, die ihm strategisch am wichtigsten erschienen. Das Papier zeigte den Umriß der Schlangen-Insel und die Punkte, wo die Batterien standen. Dann reichte er das Papier herum, und alle steckten die Köpfe zusammen. „Im Norden der Inselbucht müßte eine Barriere aus Steinen errichtet werden, oder wir müßten eine Kette ziehen. Die Nordbucht ist ein empfindlicher Punkt, von drei Seiten allerdings durch Geschütze gesichert." „Das ist noch zu wenig", erklärte Siri-Tong. „Eben drum verwies ich auf die Barriere, Madam", erwiderte Hasard gelassen. „In den Felsen können wir weitere Geschütze aufstellen. Die fünf weiteren Buchten, einschließlich der Bucht, in die Old Donegals Rutsche führt, könnten wir auf die gleiche Art und Weise sichern. Steine und Felsen haben wir genug. Die Westseite der Insel ist wegen der hohen Felsen fast uneinnehmbar, aber auch dort werden wir die Felsen stärker armieren." „Und wie lange soll das dauern?" wollte Siri-Tong wissen. Ihre Frage
klang immer noch angriffslustig und streitsüchtig. „Wir sind ein paar hundert Leute auf der Insel. Wenn alle in die Hände spucken und kräftig zulangen, ist die Insel in ein paar Tagen befestigt und ausgebaut." „Inzwischen rücken die Dons an", sagte die Rote Korsarin. Hasard wollte schon aufbrausen, aber er besann sich. „Wir müssen uns damit abfinden, daß das Geheimnis gelüftet ist, Siri-Tong, da helfen kein Jammern, Fluchen, Klagen und schon gar keine unangebrachten Vorwürfe. Es geht nicht nur um unsere Existenz, sondern auch um die der Timucuas-Indianer auf Coral Island." „Was mir bestens bekannt ist." „Was haltet ihr von dem Vorschlag mit den Barrieren?" fragte der Seewolf. „Wenn wir die Stellen ausbauen, kann es keinem Schiff gelingen, eine der Buchten anzulaufen." Zustimmendes Gemurmel erklang. Der Wikinger stimmte zu, Karl von Hutten gab seine Zustimmung, Jerry Reeves und schließlich auch die Schlangenpriesterin Arkana mit ihrer Tochter Araua. „Gut, dann ist dieser Vorschlag angenommen, und wir gehen unverzüglich mit allen zur Verfügung stehenden Leuten an die Arbeit. Zusätzlich zum Patrouillendienst wird Old O'Flynn mit der ,Empress' Aufklärung weit nach Westen fahren. Auf Arne und seine Nachrichten durch die Tauben ist zwar unbedingt Verlaß, aber wir werden jede Möglichkeit, von den Dons überrascht zu werden, ausschalten." Der riesenhafte Pater David, der noch im Sitzen so aussah, als stehe da ein erwachsener Mann, fand den Plan ebenfalls in Ordnung. „Es ist merkwürdig, daß Ihr Vetter nichts über diesen Don Juan mitge-
40 teilt hat, Sir Hasard", sagte der Pater. „Aus welchem Grund mag er ihn verschwiegen haben?" „Das weiß ich nicht, Pater. Wir müssen abwarten, wahrscheinlich wird bald eine neue Meldung eintreffen. Wir haben also eine Galgenfrist, die wir nutzen werden, denn ich betonte einmal, daß die Dons keinen schlagkräftigen Verband innerhalb von zwei, drei Tagen aufstellen können. Dazu bedarf es zu vieler Vorbereitungen. Die Schiffe müssen ausgerüstet, in Marsch gesetzt und schließlich müssen Landungstruppen zusammengestellt werden. Besprechen wir jetzt noch die Einzelheiten. Falls jemand weitere Vorschläge hat, möge er sich bitte melden." Die Besprechung dauerte noch knapp eine Stunde, dann waren alle Details aufgeklärt. Anschließend wurde unverzüglich mit der schweißtreibenden Arbeit begonnen. Inzwischen war auch die „Empress" aufgeklart, verproviantiert und zum Auslaufen bereit. Das alte Rauhbein Old O'Flynn rieb sich die Hände. „Aufklärung fahre ich gern", sagte er, „da passiert immer mal was. Ich schlage vor, Sir, daß ich wieder auf die altbewährte Besatzung zurückgreife. Martin, Nils, Sven - und die beiden hervorragenden Söhnchen, die sich so wacker geschlagen haben." „Bewilligt", sagte Hasard. „Falls du Feindberührung hast oder auch nur einen verdächtigen Don siehst, dann setzt du dich augenblicklich ab und segelst zurück. Keine Eigenmächtigkeiten, Donegal. Deine Meldung ist äußerst wichtig, uns bleibt dann noch ein wenig Zeit." „Na, wer bin ich denn!" grollte Old O'Flynn. „Ich weiß doch, was ich meinem guten Ruf schuldig bin. Ich
pflege nie eigenmächtig zu handeln fast nie", sagte er einschränkend. „Von dir hängt sehr viel ab", mahnte Hasard noch einmal. Die Zwillinge grinsten. Sie waren froh, wieder mit dabei sein zu können, denn sie fuhren gern unter dem „Admiral" oder ihrem abenteuernden Großvater, wie sie ihn auch nannten. Old Donegal nutzte den Mahlstrom, setzte die Segel, das heißt, er ließ sie setzen, und übernahm die Ruderpinne. Die „Empress", Old Donegals ganzer Stolz, glitt aus der Bucht. Von der Seite war noch die Galionsfigur zu sehen. Fürchterlich sieht der Zankteufel aus, dachte Hasard schaudernd. Der bloße Anblick dieses Weibes zog den Schiffen schon die Segel von den Rahen. Aber das juckte den kauzigen Alten nicht. Mit einem donnernden „Ar-we-nack" rauschte er hinaus und entschwand ihren Blicken. Das war am zehnten Juli gewesen.
Jetzt schrieb man auf der Schlangen-Insel den dreizehnten Juli, und in der kurzen Zeit hatte sich eine ganze Menge geändert. Hunderte tatkräftiger Fäuste hatten zugepackt. Steinbarrieren waren ins Meer gesenkt worden, Kanonen auf die Hügel, Felsen und Berge geschafft und in Stellung gebracht worden. Teile der natürlichen im Fels gewachsenen Höhlen wurden als Pulver- und Kugelmagazine genutzt. Old Donegals Kneipe blieb geschlossen, denn zum Saufen war erst wieder Zeit, wenn alles zur Festung ausgebaut war. Darüber würden noch einmal ein paar Tage vergehen, denn die Kletterei in den schroffen
41 Hügeln und Bergen mit schwerem Geschirr war eine schweißtreibende, fast unmenschliche Knochenarbeit. Das gab sogar der Profos Edwin Carberry zu, obwohl er vorher großspurig behauptet hatte, die „paar Kanönchen" würde er allein in die Berge tragen und aufstellen. Die anderen sollten inzwischen auf ihn warten und das Bier kühl halten, er wäre gleich wieder zurück. Da hatte sich der Profos allerdings mächtig vertan. An diesem Vormittag, als weitere Geschütze in den Felsen getarnt wurden, sah Dan O'Flynn mit seinen scharfen Augen einen winzigen Punkt am Himmel, der pfeilschnell heranflog und dann etwas größer wurde. „Eine Taube!" schrie Dan. „Das bedeutet neue Nachrichten von Arne!" „Wenn du richtig gesehen hast, wird es gleich bimmeln", meinte Ferris Tucker. „Kann nur noch Augenblicke dauern." „Na bitte", sagte Dan, als kurz darauf tatsächlich ein zartes Bimmeln zu vernehmen war. „Ich sehe doch die Tauben schon in Havanna starten, klar und deutlich sogar." „Stimmt das wirklich?" fragte Paddy Rogers, dem das Denken mitunter etwas schwerfiel, der es aber durch reichlich viel Essen wieder auszugleichen versuchte. „Klar, das stimmt", versicherte Ferris trocken. „Dan kann noch viel weiter sehen - bis zu den Sternen." Das fand Paddy unheimlich enorm, und er blickte Dan bewundernd an. „Du hast höllisch scharfe Augen", sagte er. „Kann man wohl sagen", erwiderte Dan. „Aber das ist Übung. Die O'Flynns waren schon immer Sternengucker." „Einer der O'Flynns", sagte Ferris
Tucker ernst, „hat mal ein Auge auf eine Frau geworfen. Da hatte er nur noch eins. Aber mit dem sah er genauso prächtig wie mit zweien." Sie ließen den verblüfft grübelnden Paddy stehen und eilten zu den Taubenverschlägen, die Gotlinde versorgte. Eine ganze Meute hatte sich da bereits eingefunden, denn jeder war gespannt, was Arne mitzuteilen hatte. Es bimmelte immer noch im Taubenschlag. Omar begrüßte seine Suleika ziemlich stürmisch. Sie ließen dem liebestrunkenen Täuberich noch ein paar Augenblicke Zeit. Dann befreite die Frau des Wikingers Omar von seinem Nachrichtenröhrchen, das in einem Federkiel steckte. Sie überreichte den Federkiel Hasard, der das zusammengerollte Papier hervorzog und es an Renke Eggens weiterreichte. Das Schreiben war in Deutsch abgefaßt. „Liebe Freunde. Wir haben die Queen und Caligula samt einer ankernden Zweimast-Schaluppe in einer Bucht dicht bei Havanna entdeckt und werden versuchen, sie auszuschalten. Männer aus ihrer Crew beobachten tagsüber das Hafengelände, um auszukundschaften, wie der Gouverneur reagiert, und was er unternimmt. Don Juan befindet sich auf der Flucht. Der Gouverneur hat ihm den Mord an einer Spanerin der höheren Gesellschaft vorgeworfen. Man sucht überall nach ihm, ganz Havanna steht kopf. Die Faktorei wurde bereits dreimal durchsucht. Was Don Juan betrifft, vermute ich eine intrigante Lumperei. Der Gouverneur will ihn vermutlich aus dem Weg haben, um selbst den großen Coup gegen die Schlangen-Insel zu landen. Zu eurer Beruhigung sei noch erwähnt, daß bisher kein Kampfverband zusam-
42 mengestellt wurde. Zur Zeit betreibt man ausschließlich die Suche nach Don Juan. Ich empfehle Euch dringend, die Insel auf eisenharte Abwehr auszubauen. Es grüßen Arne, Jörgen und Jussuf." „Das haben wir getan", sagte Hasard erleichtert. „In den nächsten zwei, drei Tagen ist die Insel eine eisenharte Festung, an der sich die Dons die Zähne ausbeißen werden." Renke gab den Schrieb wieder zurück. Er atmete erleichtert auf, nachdem er die Nachricht verlesen hatte. Auch die anderen wirkten erleichtert. „Damit haben wir wenigstens etwas Zeit gewonnen", meinte Big Old Shane bedächtig. „Unseren gefährlichsten Gegner sind wir auch für eine Weile los, denn solange sie ihn jagen, kann er gegen uns nicht aktiv werden." „Richtig", sagte Hasard, „damit bleibt uns eine Galgenfrist. Es tut mir zwar leid um Don Juan, aber in unserem Sinne ist das eine gute Nachricht." „Was mag da nur im Gange sein?" fragte Pater David grübelnd. „Don Juan ist ein geradliniger Mann, der begeht keinen Mord, schon gar nicht an einer Dame der Gesellschaft." „Ein Ränkespiel des Gouverneurs", sagte Hasard, „wie Arne uns schrieb. Der korrupte Kerl will Don Juan loswerden, hängt ihm einen Mord an und schiebt ihn auf billige Weise ab. Dann kann er in aller Ruhe gegen uns vorgehen und sich später nach Lust und Laune an den vielen Schätzen bereichern. So jedenfalls mag er das sehen." „Wenn er das so sieht, dann werden ihm bald ein paar Beißerchen fehlen", sagte Ben Brighton grimmig, „weil der ehrenwerte Herr dann eine riesige Nuß zu knacken hat." „Gerade solche Kerle sollte man
nicht unterschätzen. Die Intriganten sind immer schlimmer als die geradlinigen Kämpfer. Bei denen weiß man, wie man dran ist, siehe Don Juan. Bei den anderen weiß man das nicht, die taktieren aus dem Hinterhalt." „Weil wir gerade von Don Juan sprechen", sagte Pater David nachdenklich und mit gerunzelter Stirn, „das Ränkespiel des Gouverneurs gegen Don Juan kann möglicherweise dazu beitragen, Don Juan endlich die Augen zu öffnen, und ihm die Erkenntnis bringen, daß er doch auf der falschen Seite steht." Hasard nickte. „Das ist gut möglich. Im Zweifel befindet er sich ja schon lange, aber Sie haben recht, Pater. Das könnte der letzte Anstoß sein. Daß er von einer aufgeblasenen, korrupten Bande umgeben ist, hat er wohl längst erkannt. Er wollte es nur nicht wahrhaben und verschloß bewußt die Augen. Ich bin sicher, daß sich das bald ändern wird." Es wurde noch ein Weilchen diskutiert, dann drängte Hasard wieder zur Arbeit. Es gab noch verdammt viel zu tun auf der Schlangen-Insel. 7. Die drei Schaluppen, die der Offizier der Stadtgarde auf den Marsch geschickt hatte, um den Zweimaster aufzubringen, befanden sich zum selben Zeitpunkt westlich von Havanna. Eine Bucht nach der anderen wurde regelrecht abgeharkt und genau durchsucht. Der Hombre de chalupa, der Verbandsführer, hieß Virgil Guantos, stand im Rang eines Teniente und war ein ausgefuchster, älterer Mann mit grauen Schläfenhaaren.
43 Ihm zur Seite stand ein jüngerer Bootsmann, der den Küstenbereich von Havanna wie seine Hosentasche kannte. Er war als Junge bei seinem Vater immer zum Fischen mit hinausgefahren und hatte das Handwerk von Grund auf erlernt. Guantas und Manolita, wie der schwarzhaarige Bootsmann hieß, verband ein fast herzliches Verhältnis. Seit fast einem Jahr duzten sich die beiden. „Wir befinden uns jetzt etwa dreißig Meilen vom Hafen entfernt", sagte Manolito, „und wir haben nicht einmal das Heck des Zweimasters gesehen. Glaubst du, daß er weitergesegelt oder vielleicht sogar auf Nordkurs gegangen ist?" Der Teniente hob die breiten Schultern. „Leider weiß ich nicht viel über diesen mysteriösen Kahn. Aber es ist anzunehmen, daß er sich in irgendeiner Bucht versteckt hat." „Die nächste Bucht wäre ein ideales Versteck", sagte Manolito. „Sie liegt nur knapp eine Meile weiter westlich. Es ist die Laguna del cielo." „Den Namen habe ich noch nie gehört." Der Jüngere grinste. „Die Himmels-Lagune", erklärte er. „Kein Wunder, daß du den Namen nicht kennst, den habe ich ihr nämlich gegeben, als ich mit meinem Vater zum Fischen fuhr." „Aha, in der romantischen Entwicklungsphase, was?" „Nicht unbedingt, Virgil. In dem Wasser der Lagune spiegelt sich der Himmel so genau, als würdest du nach oben blicken. Wie ein Spiegel aus Kristall sieht das Wasser aus." Guantas lächelte nachsichtig. „Na, dann werden wir sie da ja bestimmt finden. Ich weiß, welche Lagune du meinst. Schmale Einfahrt,
vorspringende Landzunge, hoher Palmen- und Baumbewuchs." „Die Lagune des Himmels", sagte Manolito andächtig. „Dort habe ich' mich heimlich mit einem Mädchen getroffen." „Aha, daher weht der Wind." Diesmal grinste der Ältere belustigt und verstehend. Er wußte noch nicht, wie recht er mit seiner Vermutung haben sollte, in der Lagune auf die Gesuchten zu stoßen. Die zweite Schaluppe segelte fast auf gleicher Höhe, während die dritte etwas zurückblieb. Etwas später war die Landzunge zu sehen, die die Lagune abschirmte. Ein dichter Palmenhain schirmte sie ab. Daneben wuchs ein kleiner Wald, der sie zusätzlich von See her verbarg. Keiner der drei Schaluppenführer ahnte, daß ein Augenpaar sie seit längerer Zeit beobachtete. Der Posten hatte die Sichtung der drei Schaluppen längst gemeldet. Die Einfahrt war schmal. Sie war so eng, daß eine Galeone Mühe gehabt hätte, sie zu durchsegeln. Von der Einfahrt aus konnte man einen kleinen Ausschnitt der Lagune überblikken. Das Wasser war tatsächlich so klar, wie Manolito gesagt hatte. Der Himmel spiegelte sich naturgetreu darin wider. Auf dem Wasser waren Wolken zu sehen, obwohl eine leichte Brise die Oberfläche kräuselte. „Nichts zu sehen", sagte Guantos, „aber das bedeutet nichts. Die Bucht knickt etwas nach links ab, glaube ich." „Nur ein wenig. Den richtigen Blick hat man erst, wenn man die Einfahrt passiert hat." „Gut, wir segeln allein hinein", entschied Guantos, „die beiden anderen gehen in Wartestellung."
44 Er gab die entsprechenden Handzeichen an die beiden Schaluppenführer. Die Männer zeigten klar und verstanden. Dann ging alles schnell und überraschend. Als die Schaluppe die Einfahrt durchsegelt hatte und die Lagune in ihrer ganzen Länge sichtbar wurde, deutete Manolito erregt nach links. „Da sind sie - der Zweimaster." Dieses Hinweises hätte es nicht bedurft, denn Guantos sah den Zweimaster ebenfalls sofort. Der Mannschaft war das in der Bucht liegende Schiff ebenfalls nicht entgangen. Es lag wie auf dem Präsentierteller da. Dann erlebten sie die höllische Überraschung. An dem Schanzkleid des Schiffes blitzte es grell auf. Eine Drehbasse spuckte ihr heißes Eisen aus. Eine zweite wurde ebenfalls abgefeuert. In der stillen Bucht krachte und donnerte es. Blitze zuckten über das Wasser. Der erste Schuß ging vorbei, der zweite Drehbassenschuß schlug auf der Schaluppe ein und zerfetzte feinen Teil des Schanzkleides. Holzsplitter flogen nach allen Seiten. „Verflucht noch mal", stieß der Teniente hervor, „die Halunken müssen uns schon vorher entdeckt haben! Die warten ja direkt auf uns." Seine Worte wurden vom Dröhnen der Drehbassen überlagert. Der nächste glühende Eisenhagel rauschte heran. Die Männer duckten sich, als wieder Splitter nach allen Seiten flogen und erneut lange Flammenzungen heranleckten. Das war ein Eisengewitter, das sich da mit höllischer Präzision entlud, veranstaltet von Kerlen, die ihr Handwerk verstanden und wie die Wilden kämpften. Manolito sah eine Horde Kreolen, die von einer Drehbasse zur anderen
sprangen, sie ausrichteten und feuerten. Ein paar andere Kerle luden die heißen Rohre sofort wieder nach. „Zurück!" brüllte Guantos, als ihm erneut ein Splitterregen um die Ohren flog. Er war kein Neuling auf dem Gebiet der Kriegsführung und hatte seine Erfahrungen. Aber diesmal war die Position denkbar schlecht für ihn. Sie waren total überrascht worden, und wenn sie jetzt nicht schleunigst verschwanden, dann wurden sie erbarmungslos zusammengeschossen. Er legte Ruder und drehte ab, auf die rettende Einfahrt zu. Doch die wilden Kerle gaben sich mit seiner Flucht noch nicht zufrieden. Wieder feuerten sie, und wieder spürte Guantos, wie es heiß und brüllend über ihre Köpfe hinwegrauschte. Diesmal schossen die Kerle mit Grobschrot. Im Focksegel erschienen ein paar kleine Löcher. Direkt achtern am Heck war noch mal ein häßliches Prasseln zu hören. Dicker Rauch wölkte in der Bucht auf, der den schießwütigen Kerlen für Augenblicke selbst die Sicht nahm. Dieser Augenblick reichte aus, um zu verschwinden. Der Feuerspucker ließ noch einmal ein grausiges Donnern hören, dann schwiegen die Drehbassen. „Verflucht, das war knapp", sagte Guantos, als sie endlich außerhalb der Reichweite des Feuers waren. „Ist jemand verletzt worden?" Manolito hatte schon nach seinen Leuten gesehen. Verletzt war niemand, wie sich herausstellte. „Zum Glück ist keiner verletzt", sagte er, „aber wir haben drei oder vier Treffer abgekriegt. Ich werde gleich nachsehen." „Das hat Zeit bis später", wehrte Guantos ab. „Die Treffer gingen ins
45 Schanzkleid, ins, Segel und achtern ins Heck." Er warf einen schnellen Blick über die Schulter. In der Lagune des Himmels wölkte immer noch Pulverrauch auf. Der Zweimaster war aus ihrer jetzigen Position nicht mehr zu sehen. Guantos schüttelte drohend die Fäuste. „Verdammte Bande. Aber jetzt haben wir sie. Die Kerle sitzen in der Falle, und die Falle riegeln wir ab." Das hatte er jedenfalls vor, doch es kam alles wieder einmal ganz anders, als er sich das vorstellte. Der Satan persönlich mußte mit den Kerlen im Bunde sein. Die beiden anderen Schaluppen waren näher herangesegelt, als die Kapitäne das Drehbassenfeuer hörten. Sie wußten auch so, was los war. Lange Erklärungen waren nicht mehr erforderlich. „Wir haben ihn!" brüllte Guantos. „Wir riegeln jetzt die Bucht ab. Ihr geht auf der Steuerbordseite in Position, ihr anderen etwas höher versetzt in nördlicher Richtung. Ich selbst bleibe dicht hinter der Landzunge." Die Schaluppen nahmen die Positionen ein. Guantos selbst segelte bis dicht an die Landzunge heran. Die zweite Schaluppe war gerade dabei, ebenfalls ihre Position einzunehmen, als die Kerle auf dem Zweimaster zum nächsten Schlag ausholten. Die Drehbassen waren bereits geladen, Schaluppe zwei krebste noch mit schwacher Fahrt herum. Guantos hatte vor, abzuwarten, ob der Zweimaster vielleicht den Durchbruch wagte. Tat er das nicht, dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als nacheinander in die Bucht zu segeln, und zwar in die rechte äußere Ecke, wo sie nicht im unmittelbaren Feuerbereich des Zweimasters wa-
ren. Wenn dann eine weitere Schaluppe die Einfahrt blockierte, ging es den Kreolen an den Kragen. Da geschah wieder das, womit keiner gerechnet hatte. „Der Zweimaster!" schrie Manolito. Der Zweimaster segelte erstaunlich schnell auf die Einfahrt zu, passierte sie und eröffnete sofort das Feuer. Eine Grobschrotladung zwang die Spanier in Deckung. Der Hagel fuhr brüllend über die Decks und riß Späne aus den Planken. Guantos wußte, daß er mit diesen Kerlen eine harte Nuß zu knacken hatte. Das waren brettharte Kämpfer, die bedenkenlos ihr Leben aufs Spiel setzten. Nach allen Seiten feuernd, rauschte der Zweimaster heran. Er segelte wie ein feuerspeiendes Ungeheuer, wie ein wutschnaubender Drache, der seine Flammen pausenlos nach allen Seiten spie. Dem Teniente standen buchstäblich die Haare zu Berge, als sie erbarmungslos und hart eingedeckt wurden. Seine Leute waren durch den ständigen Beschuß aus den Drehbassen nicht in der Lage, das Feuer zu erwidern, was den Teniente mächtig wurmte. Sie kriegten einfach kein Bein auf die Planken, denn immer wieder krachte es, blitzte es grell auf, fuhr eine Ladung Grobschrot über die Schiffe hinweg. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Durch den Pulverqualm sah er auf dem Achterdeck des Zweimasters ein vollbusiges Weib. Sie stand an der Ruderpinne und steuerte das Schiff, als ginge sie das alles gar nichts an. Hin und wieder riß sie den Mund auf und brüllte den wie wild feuernden Kerlen etwas zu. Guantos hörte ein lautes Krachen.
46 Er sah, wie eine seiner Schaluppen von einer Kettenkugel getroffen wurde. Die Fock zerfetzte und riß. Die Spanier warfen sich flach auf die Planken, denn der Kettenkugel folgte eine Ladung grob gehacktes Blei. Manolito rannte an eine der Drehbassen, fluchte wild, richtete das Rohr kurz aus und feuerte. Das war der erste bescheidene Erfolg. In den Zweimaster schlug es ein, ein paar Splitter flogen wie bei einer heftigen Explosion durch die Luft. Doch der Erfolg ließ auf sich warten. In der Steuerbordseite erschien ein gezacktes Loch, das die Kerle überhaupt nicht juckte. Erneut zwang sie das grob gehackte Blei in Deckung. Es schwirrte laut und häßlich, als der glühende Segen in die Bordwand prasselte. Die andere Schaluppe, die weiter nach Norden versetzt segelte, erhielt ebenfalls einen Treffer. Ein oder zwei Männer rissen die Arme hoch und sanken auf die Planken. Guantos knirschte vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Sie konnten den Durchbruch des Zweimasters nicht verhindern, obwohl sie in der Überzahl waren. Die Kreolen waren geschickter, schneller und schossen aus allen Rohren. Sie riskierten buchstäblich alles. Klar, wenn man nichts mehr zu verlieren hat, dachte Guantos erbittert, dann riskiert man den höchsten Einsatz. Damit war der Durchbruch gelungen. Alle drei Schaluppen hatten ein paar Treffer abgekriegt, und zwei Leuten waren verwundet. Manolito sprang wieder an die Drehbasse und setzte dem flüchtenden Zweimaster einen Schuß nach. Als die Drehbasse losballerte, blitzte es vom Heck des Zweimasters ebenfalls zweimal hintereinander auf. Eine Eisenkugel sauste dicht am
Fockmast vorbei und streifte fast einen Mann, der vor Schreck die Luft anhielt. Er spürte den heißen Luftzug und blieb wie erstarrt stehen. Aber Manolitos zweiter Schuß traf ebenfalls. Die gerade feuernde Drehbasse wurde getroffen, brach aus der Halterung und zerstörte einen Teil des achteren Schanzkleides. Der Zweimaster ging auf Westkurs. Er feuerte nicht mehr, sondern spielte jetzt seine überlegene Geschwindigkeit aus und setzte sich ab. Fluchend griff der Teniente nach dem Spektiv und blickte hindurch. Das Negerweib stand immer noch an der Ruderpinne. Ihr Oberkörper war nackt, und was der Teniente sah, schnürte ihm ein bißchen die Kehle zu. Teufel, Teufel, dachte er benommen. Das war vielleicht eine Anatomie. Die hätte er gern ein wenig näher studiert, wenn die Umstände günstiger gewesen wären. Ein Höllenweib war das, ein Satansbraten. Ihm blieb glatt die Luft weg, und das Okular des Spektivs beschlug, so sehr preßte er das Auge daran. Die Schwarze stand in höhnischer, herausfordernder und siegessicherer Pose auf dem Achterdeck. Als sie sich einmal flüchtig umdrehte, sah er ihr spöttisches Lächeln. „Scheiß verfluchter", sagte er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. „Der Teufel soll den Satan holen oder umgekehrt." Er setzte das Spektiv ab und räusperte sich. Jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um sich lüstern vollbusige Negerweiber anzusehen. Die Zeit brannte ihnen auf den Nägeln. Jetzt erst recht, dachte er verärgert, jetzt wollte er den Zweimaster stellen, der ihnen so zugesetzt hatte. Er fühlte sich blamiert und gedemütigt, denn das war ihm in seiner
47 ganzen Fahrenszeit nun doch noch nicht passiert, daß er so schmählich zurückstecken mußte. „Hinterher!" rief er den Kapitänen der aufgesegelten Schaluppen zu. „Wir bleiben dran!" „Unsere Fock ist hin!" rief ein bulliger Mann herüber. „Wir sind schon dabei, eine neue anzuschlagen. Zwei Verletzte hat es gegeben." „Verstanden!" schrie der Teniente sauer. „Dann folgt uns langsam, wir halten Fühlung. Ich muß diese verdammten Kerle kriegen." „Verstanden." Die beschädigte Schaluppe fiel zurück. Die beiden anderen nahmen wieder Fahrt auf, um den Zweimaster nicht aus den Augen zu verlieren. Dem anderen Schaluppenführer bedeutete Guantos, weiter auszuscheren, um den Zweimaster in die Zange zu nehmen. Der Kapitän verstand, zeigte ebenfalls klar und schor weiter nach Norden aus. Die andere Schaluppe fiel immer weiter zurück. Fast eine Stunde lang war die Verfolgung jetzt im Gange. Durchs Spektiv sah der Teniente, daß die zurückgebliebene Schaluppe wieder volle Fahrt lief, allerdings nicht aufholte. Das verdroß ihn weiter nicht, aber es ärgerte ihn mächtig, daß sie nicht in der Lage waren, den verdammten Zweimaster einzuholen. Der Abstand wurde immer größer, denn die farbige Lausebande fuhr zwei Segel mehr und war somit schneller. „Verdammt noch mal, Manolito. Wir schaffen es einfach nicht, den Kerlen aufzusegeln", fluchte der Teniente. „Aber ich bleibe trotzdem dran, solange es nur geht. Gib dem anderen Zeichen, beizudrehen, er soll auf die letzte Schaluppe warten, da-
mit wir zumindest Sichtkontakt halten." Gleich darauf drehte die zweite Schaluppe bei, ging in den Wind und wartete auf die dritte, die wieder voll segelfähig war. Der Teniente war ein sturer und zäher Kerl. Er blieb dran und hielt weiterhin zu dem Zweimaster Kontakt, obwohl der immer kleiner wurde und schließlich an der westlichen Kimm nur noch als Punkt zu erkennen war. „Die lachen sich doch jetzt halbtot, die Kerle", sagte er. „Erst haben sie uns total überrumpelt, und jetzt ziehen sie hohnlachend ab. Ich fühle mich wie ein Idiot." „Jedenfalls dreht er nicht nach Norden hoch", sagte Manolito. „Ich nehme an, daß er weiter Westkurs hält und sich später erneut in einer Bucht verbirgt. Es gibt da noch hervorragende Verstecke, aber ich kenne sie alle und finde sie selbst bei totaler Finsternis. Du wirst sehen, daß er sich irgendwo versteckt." „Dann haben wir wenigstens noch eine kleine Chance", brummte der Teniente. „Wenn das nicht der Fall ist, dann beiße ich mir vor Wut beide Ohren ab." Manolito grinste bei der Vorstellung und wollte seinen verärgerten Kapitän ein bißchen aufmuntern. „Du kriegst eher den Zweimaster, als daß du es schaffst, dir beide Ohren abzubeißen. Hältst du eine Wette dagegen?" Der Teniente grinste verzerrt. „Ich halte sie und setze einen halben Goldtaler. Soviel ist mir die Sache wert. Das nennt man nämlich Optimismus." Der Teniente ließ etwas später beidrehen und wartete, bis auch die anderen Schaluppen wieder aufgeschlossen hatten. Dann ging die wilde Jagd weiter nach Westen. Die
48 Drehbassen waren geladen und feuerbereit. Arn späten Nachmittag erreichte der Dreier-Verband die etwa fünfzig Meilen westlich von Havanna liegende Bahia Honda. Es war eine relativ große Bucht, die der Teniente nicht so genau kannte. „Leer", sagte er trocken. „Also sind die Kerle doch weitergesegelt. Das habe ich mir fast gedacht." „Die Bucht sieht nur auf den ersten Blick leer aus", wandte Manolito ein. „Hier habe ich oft gefischt, denn hier brachte man immer einen guten Fang ein. Ich kenne diese Bucht genau. Von ihr gehen ein paar Nebenbuchten aus, die man kaum sieht. Wir sollten unbedingt hineinsegeln, Virgil, denn es gibt vorzügliche Verstecke." „Nun gut, ich will nichts auslassen. Vielleicht hast du recht." Der Verband segelte in die große Bucht. Aber auch hier erlebte der Teniente eine Enttäuschung, denn auch die Nebenbuchten waren leer und gähnten ihnen entgegen. 8. Die Queen triumphierte, als die drei Schaluppen hoffnungslos zurückfielen und an der Kimm verschwanden. Nach einer Weile waren sie nicht mehr zu sehen. Mit der Fühlungshaltung war es endgültig vorbei. „Wir verstecken uns in der Bahia Honda", sagte die Queen zu Caligula. „Dort gibt es Nebenbuchten, und da kenne ich eine Stelle, wo uns niemand finden wird." „Die werden alles absuchen", wandte Caligula ein. „Wir sollten weiter westwärts segeln oder auf Nordkurs gehen."
„Nein", entschied sie. „Im Norden haben wir nichts verloren. Es bleibt bei der Bucht." Caligula schwieg. Mit der Queen war nicht zu reden. Sie wußte alles besser, kommandierte und gab den Ton an. Dabei war sie mitunter biestig und unausstehlich geworden. Eines Tages würde er dieses Weib zum Teufel jagen, trotz aller Leidenschaft. Stur und unbeirrbar segelte sie in die große Bucht. Sie kannte diesen Küstenbereich. Caligula kannte ihn auch, ebenso die kleinen Nebenbuchten. Doch die Queen hatte noch eine Überraschung bereit. „Ein Blick in diese Bucht, und selbst ein Blinder entdeckt uns", maulte der Neger. „Du riskierst in deinem blinden Eifer etwas zuviel." Sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. Erst nach einer Weile, als sie eine der kleinen Nebenbuchten erreichten, sprach sie wieder ein paar Worte. „Wir segeln dort in die Flußmündung und verstecken uns. Wenn wir das Schiff mit Geäst tarnen, sieht uns kein Mensch." Caligula blickte auf eine kleine Flußmündung, die zwischen dichten Mangroven lag und kaum zu sehen war. Das Flüßchen war sehr schmal und vermutlich auch nicht sehr tief. Aber ein vorzügliches Versteck war es, das mußte er anerkennen. Kurz vor der Mündung wurden die Segel weggenommen. Das kleine Beiboot wurde abgefiert, die beiden Masten wurden umgelegt. Mit Bootshaken drückten die Kreolen den Zweimaster langsam in den Fluß hinein. Es war stickig heiß zwischen den Mangroven. In der Umgebung des kleinen Flusses herrschte trübes Dämmerlicht. Einer der Kerle lotete Tiefe.
49 „Drei Fuß", meldete er. „Das genügt noch", sagte die Queen. „Wir bleiben hier liegen und tarnen das Schiff." Auch das wurde unverzüglich in Angriff genommen. Die Schwarze wußte sehr genau, was sie wollte. Mangroven wurden gefällt, Geäst wurde mit dem Schiffshauer geschlagen und an die Mündung geschleppt. Die Kerle schwitzten wie die Affen, denn die Queen trieb sie unermüdlich an. Länger als eine Stunde nahm die Tarnung in Anspruch. Der Zweimaster lag jetzt mit dem Heck zur Bucht und war so gut wie unsichtbar geworden. Caligula schickte einen Späher aus, der das Nahen der Schaluppen melden sollte, die zweifellos hier aufkreuzen und die Bucht genau absuchen würden. Als die Tarnung so gut wie perfekt war, bestieg die Queen das Beiboot und nickte Caligula aufmunternd zu. „Sieh dir das mal von weitem aus der Bucht an", sagte sie, „dann wird dein ständiges Gemecker vielleicht aufhören." „Ich meckere nicht", sagte der Neger scharf, „ich kritisiere nur, auch wenn dir das nicht paßt. Du hast uns schon etliche Male in haarsträubende Situationen gebracht, und wir haben Kopf und Kragen riskiert, nur weil du auf deiner Ansicht beharrtest." Fast widerwillig sprang er ins Boot und trieb es mit kräftigen Riemenschlägen über die Bucht. „Nimm an, du bist jetzt der Kerl von der Schaluppe mit den besonders scharfen Augen", sagte sie, „und müßtest nach einem Zweimaster Ausschau halten." Sie legte ihm versöhnlich die Hand auf den Arm und lächelte dazu.
„War meine Idee nicht gut, mein Liebling?" Caligula blickte natürlich zuerst zu der Flußmündung, doch dann versuchte er, sich in die Rolle der Jäger zu versetzen. Kein Zweifel, die Bucht war leer. Wieder irrte sein Blick zur Mündung ab, aber da gab es nur Gestrüpp, riesige stinkende Mangroven und einen undurchdringlich scheinenden Wald. Der Fluß war nicht mal als kleine Lache zu erkennen, und von dem Zweimaster war absolut nichts zu sehen, so sehr er seine Augen auch anstrengte. „Verdammt perfekt", gab er zu. „Es ist ein absolut sicheres Versteck, das muß ich zugeben." „Na also." Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte perlend, unbeschwert und fast fröhlich, wie er es schon lange an ihr nicht mehr gesehen hatte. „Hier sind wir sicher, Caligula, hier stöbert uns niemand auf. Die Kerle werden wieder verschwinden, und wenn die Luft sauber ist, kehren wir zurück." „Der Liegeplatz ist prächtig", sagte Caligula, „allerdings ist er auch eine fast tödliche Falle, wenn uns doch jemand entdeckt. Wir sind dann völlig hilflos." „Das Achterdeck ist mit Drehbassen gespickt", entgegnete die Queen. „Aber ich rechne nicht damit, entdeckt zu werden. Das ist so gut wie ausgeschlossen. Kehren wir zurück, die Bastarde werden sicher bald in die Bucht segeln. Es kann nicht mehr lange dauern." Caligula wog das Für und Wider ab und war immer noch skeptisch und mißtrauisch, weil sie schon zu viele Fehlschläge erlitten hatten. Aber er fand keine schlagkräftigen Argumente, und so nickte er. Das Schiff war wirklich hervorragend getarnt,
50 man sah es selbst aus der Nähe nicht. Sie pullten zurück, zogen das Boot an Land und verbargen es zwischen den Stelzwurzeln der Mangroven. Ein paar Wurzeln warfen sie darüber, bis auch das Boot nicht mehr zu sehen war. Dann enterten sie an Bord. An Deck stand schmierig grinsend ein Kreole, den Caligula oder die Queen Iaie nannten. Das hieß nichts anderes als Wildsau, denn so ähnlich sah der Kerl auch aus. Er war drekkig, schmierig, verschlagen und hinterlistig. Über seinen tückischen Augen wuchsen Brauen wie bei einer Wildsau. Auch seine hochgestellte Nase wies ihn als Ableger dieser Gattung aus. „Euch konnte man gut beobachten", sagte er, „aber ihr habt uns bestimmt nicht gesehen, hä?" „Von außen ist nichts zu entdecken, selbst aus nächster Entfernung nicht", sagte Caligula. „Wenn die Schaluppen hier aufkreuzen, dann verhaltet euch absolut ruhig. Wer auch nur hustet, kriegt von mir ein Messer in den Wanst. Das gilt auch für dich, Iaie." In der Wildsau-Visage zuckte es. „Sicher doch, klar doch", sagte er hastig. Mit dem Messer war man hier schnell bei der Hand, wobei er sich vor der Queen noch mehr fürchtete als vor Caligula. Die drohte das erst gar nicht lange an, sondern handelte sofort. Der Kerl von der Ankerwache hatte diese betrübliche Erfahrung bereits hinter, sich und befand sich jetzt in Gefilden, wo vermutlich keine Piraterie mehr betrieben wurde. Die Kerle aßen ein paar Happen, hauten sich auf Deck und harrten der Dinge, die bald folgen sollten. Es dauerte auch nicht lange, da meldete der Ausguck den Aufmarsch der drei Schaluppen, die sich gerade
anschickten, in die Bahia Honda zu segeln. Caligula kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Du bleibst hier an Bord", sagte er zu dem Ausguck, der gerade wieder umkehren wollte. „Möglich, daß wir jede Hand brauchen, falls wir doch entdeckt werden." „Wir werden nicht entdeckt", zischte die Queen. „Teufel noch mal, sei doch nicht immer so mißtrauisch." „Mein Mißtrauen hat mir oft genug das Leben gerettet - und meine Skepsis auch. Ich bin nicht mehr so sorglos wie früher, ich habe genügend bittere Erfahrungen hinter mir." „Niemand findet uns", versicherte die Queen noch einmal. Etwas später tauchten die drei Schaluppen in der großen Bucht auf. Dann schwenkten sie um in eine der Nebenbuchten, kehrten aber bald wieder zurück und steuerten die Bucht an, in der der Zweimaster sich versteckt hatte. In mehr als hundert Yards Abstand segelten sie an dem Versteck vorbei. Jetzt konnte sich auch Caligula das Grinsen nicht verkneifen. Er sah die Männer auf den Schaluppen ganz deutlich. Sie blickten auch zur Flußmündung, doch niemand reagierte. Sie sahen nichts. Die Queen grinste höhnisch, griff nach Caligulas Arm und sah den Neger triumphierend an. „Na, mein starker Liebling?" flüsterte sie. „Jetzt kannst du dein Mißtrauen sausen lassen, deine Skepsis auch. Die irren wie blinde Hühner durch die Gegend." Der Verband zuckelte weiter, bis fast zum Ende der Bucht. Dort wendete er, und es sah so aus, als würden die Kerle jetzt sehr enttäuscht zurücksegeln.
51 Aber das sah wirklich nur so aus, denn da gab es noch einen Mann namens Manolito.
Der Teniente war maßlos enttäuscht, den verdammten Zweimaster auch hier nicht anzutreffen. Sie hatten die Nebenbuchten abgeharkt - wieder einmal erfolglos. „Ein Scheißspiel ist das", sagte er mißmutig. „Wir können umkehren und nach Havanna zurücksegeln. Die verdammte Bande ist längst nach Norden oder weiter westwärts gesegelt, die holen wir nie mehr ein. Wir vertrödeln nur unsere Zeit." „Wir haben sie", sagte der Bootsmann lächelnd, „auch wenn du das nicht glauben willst, Virgil. Laß dir nichts anmerken, ich weiß, wo sie stecken." „War ich nicht immer wie ein väterlicher Freund zu dir?" fragte Guantos mit finster klingender Stimme. „Doch, das bist du immer noch", sagte der Jüngere fröhlich. „Verarscht man seine älteren Freunde?" „Nein, denen gegenüber ist man ehrlich und aufrichtig." „Dann halt jetzt dein Maul und treib mich nicht zum Wahnsinn." „Der Zweimaster liegt hier", behauptete Manolito, ohne beleidigt zu sein. „Ich habe dir doch gesagt, daß ich in dieser Bucht jeden Winkel vom Fischen her kenne. Dort drüben, bei dem Mangrovendickicht, wo es in den dschungelähnlichen Wald geht, gibt es einen kleinen Fluß, etwa drei Fuß tief. Dieser Fluß ist mit Gestrüpp getarnt, die ganze Mündung ist künstlich verschlossen worden." „Wirklich? Das wäre mir nie aufgefallen." „Aber mir, ich kenne den Fluß. Wer also sollte die Mündung so tarnen,
daß sie nicht mehr zu sehen ist? Sieh dich vorsichtig um, Virgil, aber blikke nicht direkt dorthin. Ich bin sicher, daß der Zweimaster dort liegt, die Masten umgelegt hat und die Kerle uns genau beobachten und sich eins ins Fäustchen lachen. Alles Weitere überlasse ich dir." „Du bist doch ein Mordskerl", sagte der Teniente grinsend. „Und du bist sicher, daß die Bande hinter dem Gestrüpp steckt?" „Wir können ja mit ein paar Kettenkugeln die Tarnung zerhacken. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen." Der Teniente zitterte fast vor Freude. Er blickte seinen Bootsmann mit funkelnden Augen an. Dann boxte er ihn leicht in die Seite. Den anderen Schaluppenführern konnte er keine längeren Erklärungen abgeben. In der Bucht war jedes Wort zu hören, und wenn die Kerle wirklich dort lagen, dann sollte es diesmal für sie eine höllische Überraschung werden. Aber sie würden auch so begreifen, wenn die Drehbassen erst einmal losballerten. Manolito ging an eine der Drehbassen. Die anderen Kerle standen ohnehin auf der Lauer, obwohl sie noch nichts ahnten. Sie segelten weiter, diesmal aber ziemlich dicht an der verborgenen Flußmündung vorbei.
Caligula grinste niederträchtig, als der Verband scheinbar zurücksegelte und Kurs auf die große Bucht nahm. Daß er diesmal ziemlich dicht die Flußmündung passierte, beunruhigte Caligula nicht weiter. Die Kerle hatten nichts bemerkt. Die Queen blinzelte ihm überlegen lächelnd zu. Dann bohrten sich ihre
52 Blicke in die vordere Schaluppe. Einer der Kerle sah zwar herüber, aber dann drehte er sich wieder um, lehnte träge an der Drehbasse und döste vor sich hin. Die anderen Kreolen feixten niederträchtig. Das war vorerst das letzte Mal, daß sie feixten, denn jetzt verging ihnen übergangslos das Grinsen und die überlegene Gelassenheit. Der träge herumlümmelnde Kerl schwenkte blitzartig die Drehbasse etwas herum. Ein greller Blitz zuckte aus dem Rohr, ein dumpfer Knall folgte. Eine Kettenkugel fegte heran und riß die Tarnung auseinander. „Verflucht!" brüllte Caligula. „Verflucht noch mal!" Unbeherrscht sprang er auf und stürzte an die feuerbereite Drehbasse. Jetzt saßen sie in der Falle. Er warf der Queen noch einen haßerfüllten wilden Blick zu. Ein zweiter Schuß krachte und donnerte genau ins Heck, daß die Splitter nach allen Seiten flogen. Caligula warf sich auf die Planken, die anderen Schnapphähne waren entsetzt und suchten verzweifelt Dekkung. Jetzt feuerten auch die Drehbassen der beiden anderen Schaluppen. Die Kapitäne merkten sehr schnell, welches Spiel hier lief. Es wurde kein Pardon mehr gegeben. Ein zweiter Schuß traf das Heck. Wieder flogen die Fetzen nach allen Seiten. Die Schnapphähne brüllten und schrien ihre Wut hinaus. Caligula scheuchte die Wildsau an eins der Rohre, griff selbst nach der achteren Drehbasse und feuerte. Der Dschungel neben ihnen bebte. Die Mangroven wackelten auf ihren hohen Stelzen, als gehacktes Blei in sie hineinfuhr. Die Hölle hatte sich aufgetan und
spie ihre tausend todbringenden Teufelchen erbarmungslos in den Zweimaster. Caligula konnte nicht erkennen, ob sein Schuß getroffen hatte, denn der Teniente zog jetzt gnadenlos vom Leder. Die beiden anderen Schaluppen spuckten Feuer, Rauch und Eisen und verbissen sich in ihren jetzt entblößt daliegenden Gegner. „Diese Scheißlage hast du uns eingebrockt!" brüllte Caligula voller Zorn. „Ich war gleich nicht dafür, aber..." Seine weiteren Worte gingen in einem wüsten Feuerhagel unter, der von drei Seiten auf sie zuraste. Eine der Schaluppen wendete, um wieder anzugreifen, während die beiden anderen ihr tödliches Blei wieder in den Zweimaster hackten. Die Queen selbst war von diesem blitzartigen Feuerüberfall ebenfalls entsetzt. Aber sie fing sich sehr schnell wieder und blieb immer noch eiskalt. Alle Beschimpfungen halfen jetzt nicht weiter. Sie mußten versuchen, wenigstens noch mit heilen Knochen aus diesem Desaster zu entwischen. Sie feuerte ebenfalls eine Drehbasse ab und sah, daß es auf der einen Schaluppe in der Bordwand einschlug. Der zweite Schuß ging knapp am Mast vorbei. Das Heck erbebte erneut. Krachend donnerte eine Kugel hinein, die einen wahren Trümmerregen auslöste. Was die Queen verwirrte, war die Tatsache, daß sich die Kerle auf den Schaluppen kaum um das Feuer kümmerten. Unbeirrt hämmerten sie ihre Ladungen in den Zweimaster. Sie kreuzten so dicht auf, daß man ihre Gesichter deutlich erkennen konnte. Das Wild war gestellt und saß in der Falle. Und das Wild waren sie.
53 Sie konnten nur mit den beiden ach- von einem Augenblick zum anderen teren Drehbassen feuern, mußten buchstäblich fort - hinweggeblasen aber hinnehmen, daß ihr Heck buch- und zerfetzt. stäblich von den pausenlos heranCaligula schluckte trocken. Er donnernden Kugeln zerhackt wurde. spürte, daß sich auch das Vorschiff Das Ruderblatt flog zerschossen immer weiter neigte. Dennoch feuerdavon und löste sich in einem Regen te er weiter und traf auch zweimal aus Holztrümmern auf. Eine Kugel hintereinander. durchschlug die Bordwand direkt an „Hier ist nichts mehr für uns zu hoder Wasserlinie. Sie hörten es gleich len!" schrie die Queen. „Wir können darauf rauschen. Wasser drang in nur noch unsere Haut retten. Wir den Zweimaster, sie hörten es gur- räumen das Schiff und verschwingeln und brausen. den." Caligula knirschte wieder vor ohn„Denk an die Schatztruhe von mächtiger Wut mit den Zähnen, Grand Cayman!" brüllte Caligula während die Queen eine Ruhe an den zurück. „Bring sie in Sicherheit, die Tag legte, die er direkt als provozie- Silberbarren auch! Ich halte solange rend empfand. Sie griff eiskalt nach die Stellung. Ohne das Zeug sind wir einer Muskete, stellte sich neben den nur noch ein Scheiß. Nehmt auch umgelegten Großmast und feuerte Handwaffen, Munition und Proviant sie ab. mit." Die Queen nickte hastig und verDer Schuß, der auf den Schwarzhaarigen gezielt war, ging daneben, schwand mit ein paar entnervten der zuckte nicht einmal mit der Kerlen nach Unten. Ohne das „Zeug", wie Caligula gesagt hatte, konnten Wimper. Caligula lud nach, feuerte, warf sie sich begraben lassen. Dann waren sich glatt auf die Planken, wenn die sie nichts mehr wert und nicht weiKugeln herandonnerten, und fluchte ter als armselige Piraten, die nicht laut, als das Heck ihres Schiffes im- einmal ein Schiff hatten. mer tiefer sackte und schließlich mit In aller Eile wurde die Truhe an einem dumpfen Ruck auf dem Deck gebracht. Sie hatten sie für alle Grund des Flusses aufsetzte. Fälle auf Grand Cayman vergraben Das Deck war ein Trümmerhau- - als Betriebskapital, wenn alles einfen, das Heck zerschossen, doch die mal schiefging. Die Silberbarren konnten sie allerKerle auf den Schaluppen gaben keine Ruhe. Sie fuhren einen Angriff dings nicht mitnehmen, bestenfalls nach dem anderen, wechselten die einen Teil davon. Soviel trug das Positionen und hauten umschichtig kleine Boot nicht, wenn die Kerle alle an Bord waren. ihre Breitseiten hinaus. Proviant wurde über den Bug des Dann erwischte es Iaie, die Wildsau. Er hielt zwei Pistolen in der Zweimasters abgefiert, und das alles Hand und ballerte drauflos, was das im Schußhagel der pausenlos angreiZeug hielt. Dabei kreischte er mit fenden Schaluppen. Das Heck war zwar zerschossen überschnappender Stimme obszöne und zerfetzt, jetzt aber diente es weWorte. Dann traf ihn ein Dreipfünder, als nigstens noch als Deckung und gab er auf dem Deck herumhüpfte und einigermaßen Schutz. Die Kreolen luden in fieberhafter laut schrie. Hast um, zuckten immer wieder zuSein Schreien verstummte, er war
54 sammen, wenn es einschlug und die Bordwände zersplitterten, und sie fluchten ihre Wut hinaus. Immer mehr Wasser drang in die Räume. Nach kurzer Zeit saß der Zweimaster endgültig auf Grund. Der Bug setzte auf. Caligula hielt immer noch an den Drehbassen aus und feuerte. Er sah, daß auf einer Schaluppe jetzt ein Boot ausgesetzt wurde. Sie hielten sich etwas weiter zurück, während die beiden anderen immer wieder angriffen. Dann zog sich eine weitere Schaluppe zurück, ließ ebenfalls ein Boot zu Wasser und griff etwas später erneut an. Jetzt wurde es ausgesprochen mulmig, denn die Spanier hatten vor, ein stark bewaffnetes Landkommando in den Dschungel zu schicken, um auch den letzten Kerl auf dem Zweimaster auszuräuchern. Die Übermacht war zu groß. Caligula konnte sich auf derartige Kämpfe mit seiner Handvoll Kerlen nicht einlassen. „Wie weit seid ihr?" brüllte er. „Die Halunken stellen Landkommandos zusammen und räuchern uns aus!" „Das Boot ist beladen!" rief die Queen zurück. „Gib noch ein paar Schüsse ab, es wird gleich dunkel. Inzwischen pullen wir das Boot ein Stück den Fluß hinauf." Die Dunkelheit ist unsere Rettung, dachte Caligula. Im Schutz der Nacht konnten sie ungehindert in dem urwaldähnlichen Dickicht verschwinden. Der Zweimaster war ohnehin erledigt, den konnten sich die Kerle vornehmen, wenn sie wollten. Er wollte noch einmal feuern, aber da haute ein Treffer die Bordwand mitsamt der Drehbasse weg. Die andere steckte in einer Halterung, die keine mehr war. Er traute sich nicht mehr, sie abzufeuern. Sie würde ihm
um die Ohren fliegen, denn alles war in Fetzen. „Ihr bleibt hier", sagte er zu drei Kerlen, die noch an Bord waren und sich gerade absetzen wollten. „Schnappt euch die Waffen, werft sie über Bord und dann hinterher. Wir halten das Landekommando noch etwas auf, damit das Boot in Sicherheit ist." Waffen, Munition und Pulver wurden in den Dschungel gefeuert. Das Gluckern im Bauch des zerschossenen Zweimasters hatte aufgehört. Er saß unverrückbar fest auf Grund. Eine Schaluppe feuerte noch. Die beiden anderen hatten die Segel eingeholt. Männer mit Musketen und Pistolen bewaffnet, enterten die Boote und legten ab. Die drei Schnapphähne sprangen über den Bug ins Wasser, wateten zum Ufer und schnappten sich die Waffen. Caligula warf einen letzten Blick auf das Wrack und lachte zynisch. Das ist das Resultat der glorreichen Idee meiner Geliebten, dachte er verbiestert. Alles im Eimer, alles hin, zerfetzt und kaputt. Wütend spuckte er auf die zerschossenen Planken. Dann begab er sich auf den Rückzug. Er sprang vom Bug ins Wasser und watete ebenfalls an Land, wo seine drei Schnapphähne bereits lauerten. Sie drückten ihm eine Muskete und zwei Pistolen in die Hand. „Das war's für heute", knurrte er gallig. „Wir haben nur noch eine Hose am Arsch, mehr nicht." „Die Übermacht war zu groß", sagte einer lahm. „Ach, halt doch die Schnauze. Die Idee, sich hier zu verstecken, war einfach beschissen. Wir könnten längst im Norden oder weiter im Westen sein. Aber Madam weiß ja alles besser."
55 Er sah sich nach dem Boot um, aber das war bereits verschwunden und wurde den Fluß hinauf gepullt. Zwei Boote näherten sich jetzt der Flußmündung. Ein paar Männer standen aufrecht, die Musketen auf den Zweimaster gerichtet. Dann wurde wahllos in den Dschungel gefeuert. Caligula und seinen drei Schnapphähnen pfiff heißes Blei um die Ohren. Sie schossen ebenfalls, zogen sich dabei aber langsam und vorsichtig zurück. Es waren nur noch ein paar Minuten bis zur Dunkelheit. Wenn sie die Kerle solange aufhalten konnten, waren sie vorerst in Sicherheit. In der Finsternis des Dschungels würde sie niemand mehr finden. Noch einmal pfiff es heiß herüber. Caligula feuerte seine Pistolen ab. Die Schnapphähne ließen noch einmal die Musketen donnern. „Weiter zurück", befahl er leise. „Auch verirrte Kugeln können noch treffen. Setzt euch flußaufwärts ab. Wir folgen dem Verlauf des Flusses, bis wir auf das Boot stoßen." Die Dämmerung senkte sich herab. Sie währte nur kurze Augenblicke, dann wurde es dunkel. Im Dschungel begannen die typischen Geräusche. Geduckt schlichen sie weiter, den anderen nach. Der Mond hing wie ein halbangefressener Käse am Himmel, als Caligula den Rückzug antrat. Es fiel auch kein Schuß mehr. Das letzte, was er sah, waren ein paar schattenhafte Umrisse der Männer, die jetzt an Land sprangen und geduckt auf den zerschossenen Zweimaster zuliefen. Er grinste höhnisch. Wieder einmal hatten sie es geschafft, zu entwischen. Aber der Queen würde er noch die Leviten lesen, das nahm er sich vor.
Der Teniente und sein Bootsmann waren die ersten, die an Land gingen und sich dem Wrack näherten. Der Mond schien bleich vom Himmel und beleuchtete eine gespenstische Szene. Das Wrack sah wie ein zum Sprung daliegendes Ungeheuer aus. Die Planken waren zerfetzt, aufgerissen, zersplittert und nach allen Seiten verstreut. „Die Kerle und das Negerweib haben sich abgesetzt", sagte der Teniente erbittert. „Die stecken irgendwo in der Wildnis. Da können wir sie suchen, bis wir schwarz werden." „Vermutlich sind sie dem Flußverlauf gefolgt", sagte Manolito. „Wenn wir folgen..." „Nein, das hat keinen Zweck. Die Bande könnte im Hinterhalt lauern und einen nach dem anderen abknallen. Wir hätten nur Verluste unter den eigenen Leuten. Das riskiere ich nicht. Sehen wir uns den Kahn einmal an." Das Wrack war tatsächlich verlassen. Ein paar weitere Männer brachten Lampen mit, die sie schon entzündet hatten. Die Räume wurden durchsucht, und dann wurde einer der Männer plötzlich fündig. „Silberbarren", sagte er andächtig, „eine ganze Menge. Die haben sie nicht mehr von Bord gekriegt." „Wenigstens etwas", murmelte der Teniente. „Bringt das Zeug gleich in die Boote." Die Barren wurden an Deck gebracht und weitergereicht. Es war ein hübscher Batzen, der sich da zusammenfand. Der Teniente durchsuchte das Wrack weiter. Den restlichen Proviant ließ er unangetastet. Er ekelte sich davor, außerdem konnte das Zeug vergiftet sein, denn den Schnapphähnen war jede Heimtükke zuzutrauen. Als die Barren verladen waren.
56 Das Landkommando kehrte zu den gingen der Teniente und Manolito noch einmal in die Pulverkammer Schaluppen zurück, ging an Bord des Zweimasters. Sie stand bereits und setzte die Segel. halb unter Wasser. Aber es fand sich Etwas später liefen sie aus - zurück noch ein Fäßchen Schießpulver, das nach Havanna. trocken war. Viel war es nicht mehr die Kerle hatten den größten Teil ihres Pulvers aufgebraucht und ver9. schossen. Auch Kugeln fanden sich kaum noch. In Havanna gingen die Suchaktio„Hier ist nichts mehr zu holen", nen nach Don Juan pausenlos weiter. sagte Guantos. „Wir verlassen das Die Kommandos konzentrierten sich dabei mehr auf das Gebiet westlich Wrack und jagen es in die Luft." Das Fäßchen wurde zwischen zer- der Stadt. borstene Planken eingeklemmt und Ein Trupp mit Bluthunden fand mit einer Lunte versehen. Die Män- am frühen Morgen des vierzehnten ner zogen sich zurück, während der Juli in einem Dickicht die Leiche eiTeniente die Lunte zündete und an- ner Frau. Sie war unbekleidet und blies. eindeutig ermordet worden. Dann verließ auch er das Wrack Die Bluthunde wurden wild, denn und enterte ins Boot ab. sie hatten eine Spur und gaben keine Etwas später gab es einen grellen Ruhe mehr. Sie zerrten ihre Führer Blitz, dem eine dumpfe brüllende buchstäblich mit. Explosion folgte. Der Blitz breitete Die Spur führte zu der Bucht, in sich aus, Feuer ergriff das Wrack der der Zweimaster geankert hatte. und ließ es auflodern. Eine weitere Spur führte bis vor das Guantos sah mit gerunzelter Stirn Tor der Gouverneursresidenz, zu jein die hoch auflodernden Flammen, ner Stelle, wo der Posten die Nachdie das Wrack verzehrten. Das Feuer richt des „Niggerweibes" entgegenerleuchtete den Fluß und ließ den genommen hatte. Dschungel wie eine Flammenwand Sofort wurde der Stadtkommanerscheinen. dant de Retortilla unterrichtet. Seine „Irgendwo dort hinten stecken die Laune war noch schlechter geworHalunken", sagte er zu Manolito. „Zu den, doch als der Sargento die Melschade, daß wir sie nicht erwischt dung überbrachte, erschien ein flüchhaben. Aber die Suche nach ihnen ist tiges Lächeln auf seinem Gesicht. eine Angelegenheit der Soldaten, „Merkwürdig", sagte er fast heiter, wenn die sich überhaupt hierher in „aber wenn man euch Kerlen mit Marsch setzen. Und dann ist es die dem Peloton droht, dann finden sich Suche nach der Nadel im Heuhaufen. eigenartigerweise neue Spuren. Das Wir haben unsere verdammte ist doch schon etwas." Pflicht und Schuldigkeit jedenfalls Der Sargento, dem die Nähe de Regetan." tortillas direkt unheimlich war, war Das Wrack barst knallend ausein- heilfroh, als er endlich wieder abzieander. Reste von trockenem Schieß - hen konnte. Er wußte das sonderbare pulver entzündeten sich und glute- Gebaren des Kommandanten ohneten noch einmal auf. Brennende hin nicht zu deuten. Trümmer versanken zischend im Der grinste jetzt und begann sehr Wasser. merkwürdige Schlußfolgerungen zu
57 ziehen, die ausschließlich dazu dien- an brauchte sie nämlich, aber das verstehen Sie doch nicht." ten, ihn selbst zu entlasten. Der Offizier verstand von dieser Er war noch total übernächtigt und entnervt, aber jetzt konnte er Ungereimtheit absolut nichts. Und sich wieder in den Palast trauen und daß die Frau Holz gesammelt hatte, dem Fettsack eine Geschichte erzäh- brauchte man ihm auch nicht zu erlen, die er sich noch in allen Einzel- klären, das sah ein Blinder mit dem Krückstock, denn der Korb war zum heiten gründlich ausdachte. Teil mit kleineren Holzstücken geZuvor aber begab er sich an Ort und Stelle, um sich von der Meldung füllt, und die Schnur diente dazu, persönlich zu überzeugen. Das Reisig zusammenzubündeln. machte sich immer gut, wenn er dem Aber der Kommandant faselte Dicken melden konnte, er sei natür- dauernd etwas von Don Juan und erlich selbst am Ort der schrecklichen ging sich in geheimnisvollen AndeuUntat gewesen. tungen. Die Frau lag immer noch an der„Lassen Sie die Tote wegbringen", selben Stelle, an der man sie gefun- sagte er arrogant. „Ich muß das dem den hatte. Die Gardisten hatten Gouverneur melden. Eine fatale Sanichts angerührt, für den Fall, daß che ist das." sich der ehrenwerte StadtkommanEr redete noch etwas von einem dant persönlich überzeugen wolle. Don Juan in Frauenkleidern, verunDie Tote war nackt, man hatte ihr sicherte die Gardisten und versämtliche Kleidungsstücke geraubt, schwand dann. auch die Schuhe. So, die sollen sich jetzt selbst etwas „Sie ist durch einen Messerstich in zusammenreimen, dachte er. Den den Rücken ermordet worden", sagte Impuls hatte er gegeben, und jetzt ein Offizier der Garde und deutete konnte er dem Dicken eine Geschichte dezent auf eine blutige Stelle im unters Rüschenhemd jubeln, die ihn in allen Punkten entlastete. So einRücken, die jetzt verkrustet war. Nicht weit von der Leiche lagen ein fach war das. Man mußte nur noch den Dicken überzeugen, denn er war Weidenkorb und ein Stück Schnur. „Kennt sie jemand?" fragte der sehr mißtrauisch und konnte ebenfalls denken. Kommandant. Sein nächster Weg an diesem frü„Nein, niemand kennt sie. Vielleicht läßt sich das später feststellen, hen Morgen führte ihn zur Residenz, wenn sie als vermißt gemeldet wird." wo er die verblüfften Wachen an„Das wird sich zeigen. Von hier aus fuhr, sie mögen ihn gefälligst sofort führt also die eine Spur zu der und augenblicklich zum Gouverneur Bucht, die andere zum Palast. Ist vorlassen, weil sich umwälzende Dinge von unübersehbarer Tragweidas richtig?" „Das ist richtig, Señor Komman- te ereignet hätten, die keinerlei Aufschub duldeten. dant." Der Kommandant zog jetzt mesDer Dicke empfing ihn äußerst griesgrämig, mißmutig und verbisserscharfe Schlüsse. „Hm, hm", sagte er nachdenklich, sen. Er hatte vom vielen Portwein „die Frau hatte Holz gesammelt, und noch einen Brummschädel und gab wurde dabei ermordet. Dann ent- sich sehr ungnädig. „Was hat sich zugetragen?" fragte kleidete man sie, weil man diese Kleider dringend brauchte. Don Ju- er kalt. „Sie w.ollen doch bloß Ihren
58 Kopf retten, de Retortilla. Haben Sie Don Juan nun gefunden, oder haben Sie ihn nicht? Ich will eine klare Antwort, verdammt, und kein Drumherumgefasel." Der Dicke griff sich an den Kopf, ließ sich ächzend in der gewaltigen Sitzgruppe nieder und wartete verbiestert auf eine Antwort. „Am westlichen Stadtrand wurde die Leiche einer Frau gefunden", sagte de Retortilla in überheblichem Tonfall. „Ich kenne jetzt den Weg des Don Juan genau und kann ihn haarklein verfolgen." „Haben Sie ihn oder nicht?" brüllte der Dicke. „Ich habe ihn nicht persönlich, Señor Gouverneur, aber ich habe endlich Fakten, und ich bitte darum, ausreden zu dürfen." „Dann beeilen Sie sich." „Alle Spuren deuten auf Don Juan hin", erklärte de Retortilla mit fester überzeugender Stimme. „Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Don Juan hat auf seiner Flucht eine Frau umgebracht und sich ihre Kleidung angezogen, um sich zu tarnen, weil ja bekanntlicherweise alles nach ihm abgesucht wurde. Das war Punkt eins. Die Bluthunde nahmen eine Spur auf, die zur Bucht führte, wo der Zweimaster lag. In der Frauenkleidung ist Don Juan dort hingelaufen. Den Zweimaster hatte er für alle Fälle bereits dort liegen. Mit diesem Schiff ist er unverzüglich geflohen. Vorher war er jedoch noch vor der Residenz, das bewies die aufgenommene Spur durch die Bluthunde. Sie haben mir unrecht getan, Señor Gouverneur, als Sie mich der Unfähigkeit beschuldigten. Kein Wunder, daß man Don Juan nicht fand, denn jemand, der nicht mehr da ist, kann man ja auch nicht aufspüren. Daher resultierten unsere Fehlschläge."
„Ihre Fehlschläge", verbesserte der Dicke giftig. De Retortilla räusperte sich, gab sich einen Ruck und sprach mit beschwörender Stimme weiter, denn der Dicke blies skeptisch seine Hamsterbacken auf, als glaubte er die Geschichte nicht. „Jetzt ist Don Juan über alle Berge, und wir können die Suche im Stadtgebiet nach ihm einstellen. Den Rest und die weiteren Zusammenhänge kann ich mir an den Fingern einer Hand abzählen. Somit besteht auch der Zusammenhang zwischen Don Juan und dem Niggerweib." „So", schrie der Gouverneur aufgebracht, „so einfach ist das alles, was? Die Geschichte hört sich ja sehr ' schön an, aber sie hat noch einen kleinen Fehler, mein Bester. Was hat es denn mit Ihrem Gaul auf sich, mit dem der Hurensohn geflohen ist?" „Mit welchem Gaul?" stotterte de Retorilla. „Mit Ihrem Gaul, Ihrem Pferd oder " Ihrer Mähre. Ich denke, damit ist er geflohen." Diesen Punkt hatte de Retortilla nicht mehr bedacht. Aber der Dicke dachte an alles und vergaß nichts. Zum Glück fand er auch darauf ziemlich schnell eine Antwort. „Don Juan hatte einen Helfershelfer. Das war alles sehr geschickt und schlau eingefädelt. Dieser Helfershelfer floh natürlich mit meinem Pferd, um ganz bewußt eine falsche Spur zu legen, die uns in die Irre führen sollte. Dieser Mann ging unglaublich raffiniert vor, daß muß ich leider zugeben." Die Hamsterbacken des Dicken zitterten leicht. Er griff nach den kandierten Früchten und mampfte das widerlich süße Zeug schon am frühen Morgen. Sein Gesicht rötete sich, er war nahe daran überzuschnappen.
59 „Das ist Blödsinn, Quatsch, aus den Fingern gesogen!" schrie er. „Das nehme ich Ihnen nicht ab. Zwischen dem Niggerweib und Don Juan besteht überhaupt keine Verbindung, sonst wäre alles unlogisch. Wenn es da eine Verbindung gegeben hätte, dann hätte das Niggerweib Don Juan die Nachricht über die Position der englischen Piraten zustecken können, oder geht das nicht in Ihren verdammten Schädel? Nein, sie hat sich an mich persönlich, den Gouverneur gewandt. Sie haben eine üppig blühende Phantasie, de Retortilla. Ich habe das Gefühl, als wollten Sie sich reinwaschen." Der Kommandant blieb stur. Er durfte keine Handbreit Boden nachgeben, sonst war alles umsonst. „Er ist mit dem Zweimaster geflohen, das steht außer Zweifel. Die Bluthunde irren sich nicht, ich weiß es genau. Einer der Offiziere kam sofort darauf zu sprechen, als ich am Tatort war, wo man die Leiche fand. Es ist jetzt eine Angelegenheit der Küstenwache, die Jagd nach Don Juan weiterzuführen." „Das haben Sie fein hingekriegt. Damit glauben Sie, die Sache sei für Sie erledigt. Der Zweimaster wird bereits von drei Schaluppen gejagt, das habe ich gestern nacht angeordnet. Aber an Bord befindet sich mit Sicherheit nicht Don Juan, das weiß ich." De Retortilla geriet ins Schwitzen. Mit dem dicken Kerl war einfach nicht zu reden, und überzeugen ließ er sich erst recht nicht. Da war alles in den Wind gesprochen. „Ich habe jedenfalls meine Pflicht getan", sagte er beleidigt. „Aber das erkennt man ja nicht an. Ich kann keinen Mann beibringen, der nicht mehr da ist. Ich habe meine Pflicht getan", wiederholte er stur. Der Dicke, sonst vornehm tuend,
blasiert und aufgeblasen, wurde jetzt ordinär und fing zu brüllen an, denn de Retortilla wollte mit aller Gewalt kneifen. Er sprang aus dem Sessel und spuckte Gift und Galle. „Ihre Pflicht? Einen Scheiß haben Sie getan! Faule Ausreden haben Sie, um sich vor der Verantwortung zu drücken. Sie sind ein überängstlicher Scheißer, de Retortilla." Der Kommandant stand bolzengerade da. Seine Nase wurde wieder spitz wie ein Degen, wenn er sich aufregte. Aber er hatte noch einen ganz dicken Trumpf im Ärmel, und den knallte er jetzt voll auf die Edelholzplatte des großen Tisches.
Ohne dazu aufgefordert zu sein, ließ er sich in einem der Sessel nieder und grinste tückisch und verschlagen. „Ich habe nicht gesagt, daß Sie Platz nehmen sollen!" schrie der Dikke laut. „Stehen Sie sofort wieder auf." „Einen Dreck werde ich", sagte der Kommandant freundlich und zahlte mit gleicher Münze zurück. „Ich habe es satt, meinen Kopf für eine Sache hinzuhalten, für die ich nicht verant-
60 wortlich bin. Verstehen Sie, was ich wir werden auch gemeinsam den Ermeine?" folg einheimsen, wenn die englischen „Was soll das heißen?" fragte der Piraten zur Strecke gebracht sind. Dicke entgeistert. Dann ist das ganze Nervenspiel vor„Nun", sagte de Retortilla hämisch bei, und da Sie einen großen Anteil und rieb seine dürren Hände. „Der an allem haben, werde ich Sie auch Plan, die Señora de Azorin ermorden nicht vergessen. Vergessen wir hinzu lassen, stammt ja nicht von mir, gegen unsere Streitigkeiten." sondern von Ihnen. Sie haben diesen Spontan streckte er de Retortilla Plan ausgeheckt, ich selbst habe nur die feiste Patschhand hin, der sie zöIhren Befehl ausführen lassen. Hä- gernd ergriff. hä." „War wohl alles ein bißchen viel", Der Dicke wechselte erneut die murmelte er. Farbe. Fassungslos sah er zu, wie de Der Dicke stand schwerfällig auf, Retortilla nach seinen kandierten watschelte zu einem Schrank hinFrüchten griff, sie in der Hand zer- über, entnahm ihm zwei Kristallglämatschte und wieder in die Kristall- ser und goß Portwein ein. Mit den schale warf. Gläsern in der Hand kehrte er wieDer Kerl mußte glatt verrückt ge- der zurück. worden sein. „Trinken wir einen VersöhnungsDer Gouverneur erkannte die Ge- schluck", sagte er, „und darauf, daß fährlichkeit, die von diesem Mann dieser ganze Rummel endlich vorbei ausging. Der konnte ihn in Teufels ist." Küche bringen und ans Messer lieDem Kommandanten fiel der fern. Er mußte diesen äußerst ge- zweite Stein von der Seele. Er hob fährlichen Mitwisser verschwinden das Glas und trank. Der Dicke leerte lassen, denn der spielte alle Trümpfe sein Glas auf einen Zug und wischte aus, die er im Ärmel hatte. sich den Mund ab. Dann lehnte er Die Drohung war zwar verhüllt, sich zufrieden zurück. aber eindeutig genug. Eine halb Minute verging, in der de Er lehnte sich zurück und schüttel- Retortilla nicht in der Lage war, ein te den Kopf. Wort zu sprechen. Ihm war so merk„Wahnsinn ist das alles", sagte er würdig zumute, und der ehrenwerte etwas freundlicher. „Ihre Nerven Gouverneur schien wie eine sind überreizt, und meine sind es Schweinsblase auf und nieder zu auch. Das stammt von der hekti- schweben. schen Jagd auf den Kerl und den Ein höhnisches Lächeln umspielte daraus resultierenden Umständen. Wir sollten unsere Nerven besser in seine wulstigen Lippen. Der Komder Gewalt haben. Wenn ich mir das mandant richtete sich ächzend auf. genau überlege, dann haben Sie tat- Schweiß stand in dicken Perlen auf sächlich genug Beweise, daß Don Ju- seiner Stirn, und sein Blick wurde an mit dem Zweimaster geflohen ist. trübe. Es hörte sich nur so unwirklich an." „Was - was ist passiert?" stammelDe Retortilla atmete erleichtert te er mühsam. auf. Na, endlich wurde der Dicke „Was soll schon passiert sein?" hörwieder normal. te er die fette widerliche Stimme des „Wir sitzen doch alle im selben Dicken total verzerrt. „Im Wein war Boot", sagte der Gouverneur, „aber Gift, sonst nichts, Sie Idiot. Nein, be-
61 mühen Sie sich nicht, Sie können nicht mehr aufstehen." Der Gouverneur räumte die Gläser ab und ließ sie verschwinden. In dem Augenblick sackte de Retortilla tot zusammen und kippte aus dem schweren Sessel. Erregt läutete der Dicke nach dem Lakai und brüllte nach einem Arzt. Lakai und Arzt erschienen kurz darauf. „Schrecklich!" rief der Dicke. „Er hat schon wieder einen Herzanfall erlitten. Erst gestern und jetzt schon wieder. Helfen Sie ihm schnell!" Der Lakai bestätigte den „Herzanfall" von gestern. Da habe er dem ehrenwerten Kommandanten noch die Stirn abgetupft, aber diesmal sei der Anfall wohl schwerer. „Er ist tot", sagte der Arzt, „ich kann ihm nicht mehr helfen. Sein Herz hat versagt, es schlägt nicht mehr."
Der Dicke brach in hemmungsloses Schluchzen aus. „Mein armer Freund!" rief er klagend. „Er hat sich für mich aufgeopfert! Im Dienst und in treuer Pflichterfüllung ist er gestorben. Die Suche nach dem Mörder war wohl zuviel für ihn. Ich werde bis an mein Lebensende um ihn trauern." Arzt und Lakai sahen fast mitleidig auf den armen Dicken, der so herzergreifend klagte. Endlich hob er wieder den Kopf. „Ein treuer Mensch ist von uns gegangen", sagte er dumpf, „aber wir werden ihn nie vergessen. Ich werde ihn mit besonderen Ehren bestatten lassen. Und nun bringen Sie ihn hinaus, ich muß mit meiner Trauer allein fertig werden." Der Tote wurde hinausgetragen, der treue Freund, der sich im Dienst des Gouverneurs aufgerieben hatte. Als die Tür sich schloß, lehnte sich
62 der Dicke zurück, griff nach seinen kandierten Früchten und blickte grinsend zur Decke: Hervorragend, dieses indianische Gift - und wie gut,
es im Schrank griffbereit liegen zu haben. Das Kapitel de Retortilla konnte er abhaken - für alle Zeiten...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 411
Das Spiel der Füchse von Roy Palmer Die beiden berittenen Gardisten, die das Ende der Gefangenenkolonne bewachten, galoppierten nach vorn, wo es offenbar Ärger mit den Schaulustigen und Gaffern gab. Zurück blieben nur die vier anderen Soldaten, die ihre Köpfe reckten, um zu sehen, was da vorn los war. Eine bessere Chance für Arne von Manteuffel, Don Juan und Jörgen Bruhn, die Crew der Schebecke zu befreien, ergab sich nicht. Arne stürmte geduckt los und war mit ein paar Sätzen auf der linken Seite der Kolonne. Bevor die beiden Soldaten reagieren konnten oder überhaupt etwas begriffen, krachten ihre Köpfe zusammen, und sie sackten bewußtlos aufs Pflaster. Auf der rechten Seite der Kolonne passierte das gleiche. Dort war Jörgen Bruhn in Aktion . . . Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Mannes in Havanna erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen.
Entdecker Ein Entdecker ganz besonderer Art war Joshua Slocum, obwohl die offizielle Geschichte der Seefahrt ihn kaum erwähnt. Aber er verdient es, hervorgehoben zu werden, nicht allein wegen seiner großartigen Reisen, sondern auch wegen seiner Kauzigkeit. Aus Slocums Leben als Fahrensmann gab es nichts Besonderes zu erwähnen. Er war auf etlichen Schiffen gefahren, hatte sich bewährt und galt als sehr guter, erfahrener Seemann. Doch dann wollte er „Abwechslung" in sein Leben bringen, ging an Land und verdingte sich auf einer Werft. 1892 änderte sich erneut sein Leben, als er einen alten Kutter geschenkt kriegte. Der Ex-Besitzer wollte den morschen Kahn gründlich überholen lassen, doch da der Wurm im Holz bohrte, wäre die Reparatur fast so teuer wie ein Neubau geworden. Selbst das Abwracken wollte sich die Werft noch bezahlen lassen. Das stank dem Mann, und so schenkte er Joshua Slocum kurzentschlossen das Schiff, als der ihm gerade über den Weg lief. Slocum gefiel der morsche Kahn so gut, daß er sich mit Feuereifer und zäher Ausdauer daran machte, das elf Yard lange Schiff gründlich zu überholen. Er scheute keine Mühen und verbrachte ein volles Jahr damit, den Zwölftonner von vorn bis achtern zu erneuern. Der Kutter erstrahlte in vollem Glanz und ließ Joshua keine Ruhe mehr. Es wäre doch
ein Jammer, wenn das feine Schiffchen im Hafen liegenbleiben würde. Er faßte den Entschluß, mit der „Spray", wie der Kutter hieß, die Welt zu umsegeln und verkündete das auch seinen Freunden und Bekannten, die ihn allerdings nicht ernst nahmen. Er könne nicht mehr ruhig an Land in einem Bett schlafen, sagte er, und brauche wieder eine richtige Koje, in der er über das Meer schaukeln konnte. Joshua kaufte ein und versorgte sich mit Proviant, Wasser, einer Uhr aus Blech, einem Gewehr, einer zweiflammigen Petroleumlampe, die auch als Kocher diente und weiteren Utensilien. Auch ein Rettungsboot vergaß er nicht. Am ersten Juli 1895 legte Joshua ab, setzte die Segel und ging unverdrossen in See. Die paar Zuschauer glaubten, der alte Kauz würde mit seinem unzureichenden Seewerkzeug bestenfalls eine kleine Küstenfahrt nach dem nächsten amerikanischen Hafen unternehmen. Doch da kannten sie Joshua schlecht. Der ging auf Kurs in den offenen Atlantik und wollte Europa einen Besuch abstatten. Ein paar neugierige Presseleute waren auch noch erschienen, aber sie brachten nur einen kurzen Bericht, der die Leser erheitern sollte. Joshua ließ die Zweifler zurück und befand sich bald darauf mutterseelenallein im Atlantik. Sein Schiff lief prächtig und bereitete ihm viel Freude. Nur verdammt langweilig wurde es in den nächsten Tagen und
Wochen. Er segelte fast auf der gleichen Route wie seinerzeit Kolumbus, nur in umgekehrter Richtung. Zu tun hatte er auch nicht viel, er brauchte auch nicht ständig am Ruder zu stehen, denn er segelte fast die ganze Fahrt nach Europa raumschots. Nachts band er das Ruder fest und legte sich beruhigt in die Koje. Die geringfügigen Abweichungen vom Kurs glich er anderntags darauf wieder aus. Da die Langeweile immer schlimmer wurde, beschloß der alte kauzige Mann sich eine Mannschaft an Bord zu holen, mit der er sich unterhalten konnte. Diese Crew war zwar nur imaginär, doch sie beschäftigte Joshua ganz beträchtlich. Endlich konnte er jemanden anbrüllen und Befehle erteilen, und das tat er gründlich und ausdauernd. Hin und wieder kletterte er auf den Mast, hielt Umschau und brüllte dann an Deck: „Deck, ho! Alles wohl. Land noch nicht in Sicht." Ein anderes Mal brüllte er aus seiner „Kapitänskammer":
„Steht nicht faul an Deck rum und tratscht nicht, ihr müden Säcke. Hurtig, hurtig an die Arbeit." Manchmal, wenn die Sonne im Zenit stand, gab er sich auch freundlicher zu seinen unsichtbaren Leuten. „Acht Glasen, Männer. Holt euch einen Schluck Rum, aber besauft euch nicht wieder." Oft laschte er das Ruder fest und legte sich in seine Koje. Dann gab er seinem unsichtbaren Rudergänger Befehle. „Einen Strich Backbord, Mister Dirk." Dann wiederholte er mit verstellter Stimme den Befehl und fügte krächzend hinzu: „Yes, Sir." Seinen eigenartigen Humor verlor er nie, obwohl er in haarsträubende Situationen geriet und fast gekentert wäre. Schwimmen konnte er natürlich auch nicht, wie die meisten Rauhbeine aus der WindjammerZeit. Er erfand Namen für seine Besatzung und hatte auch einen Kerl an Bord, den er nicht leiden konnte. Wird fortgesetzt. Fred McMason