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Von Arthur W. Upfield sind erschienen: Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Höhle des Schweigens Man of Two Tribes Aus dem Englischen von Edith Walter
Goldmann Verlag
Deutsche Erstausgabe Die vorliegende Übersetzung folgt der Taschenbuchausgabe von Charles Scribner’s Sons, New York
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann Made in Germany • 4/91 • 1. Auflage © der Originalausgabe 1956 by Bonaparte Holdings Pty Limited © der deutschsprachigen Ausgabe 1991 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Loh, Heidelberg Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Krimi 5147 Lektorat: Ulrich Genzier Redaktion: Ursula Walther Herstellung: Heidrun Nawrot ISBN 3-442-05147-9
Die Nullarbor-Ebene
D
er Wecker riß Senior Constable Easter morgens um Viertel vor vier aus dem Schlaf. Er sagte zu seiner Frau, sie brauche noch nicht aufzustehen, und ging in die Küche, wo er den Holzofen anheizte und den Aluminiumkessel aufsetzte, um schnell Wasser zu kochen. So kurz vor Tagesanbruch wurden die Sterne matter, und es war sehr kühl. Easter trat auf die Veranda und hielt Ausschau nach Osten, lauschte auf das erste Signal des Vier-Uhr-zwanzig-Expreßzugs aus Port Pirie. Jenseits des Hauses hatte die Welt weder Form noch Substanz. Leise ging Easter ums Haus auf die vordere Veranda mit Blick auf das Bahnhofsgebäude, den Wasserturm, die Öltanks für die neuen Diesel und die wenigen Cottages, die von den fest angestellten Bahnarbeitern und dem übrigen Bahnpersonal bewohnt wurden. Mehr als das gab es nicht in Chifley: keine Straßen, keine Läden, kein Hotel. Außer einem einzigen erleuchteten Fenster war um vier Uhr morgens in Chifley nichts zu sehen. In einer mondlosen Nacht sieht man auch nichts von der NullarborEbene oder der dreihundertdreißig Meilen langen Eisenbahnlinie, die sie schnurgerade durchquert. Selbst Euklid könnte hier nirgendwo einen geometrischen Winkel entdecken, nur endlose Quadratmeilen baumlosen Landes, so flach wie eine Tischplatte, in dem, wie die Aborigines glauben, Ganba lebt, nachts umgeht und einen schwarzen Burschen jagt, der unbesonnen genug ist, sein Lagerfeuer zu verlassen, um ein Mädchen von seinem rechtmäßigen Herrn fortzulocken. Jetzt waren alle Höhlen, Kavernen und Schächte im Dunst verborgen, ebenso die unzähligen Meilen, bedeckt mit kniehoher Salzmelde, die Senior Constable Easter und seine Helfer nach Myra Thomas abgesucht hatten. Myra Thomas war fünf Wochen und drei Tage vor diesem Oktobermorgen aus dem VierUhr-zwanzig-Expreß verschwunden. Sie schien an einer der Stationen 5
der Transcontinental Railway aus dem Zug gestiegen oder während der Fahrt aus dem Waggon gestürzt zu sein – in jedem Fall hatte Ganba sie verschlungen, weil sie nachts unterwegs gewesen war, um sich den Kerl einer anderen Frau zu angeln, der er von Rechts wegen angehörte. Der Teufel sollte sie holen! Easter ging in die Küche zurück, brühte Tee auf und stellte, um seine Frau nicht zu stören, ganz leise die Tassen auf den Tisch. Sein Gesicht, sein Hals und seine Hände hatten die Farbe verwitterten Kupfers, zu dem die hellgrauen Augen einen auffallenden Gegensatz bildeten. Sonne und Wind hatten sein Haar gebleicht und seine Haut zerknittert, als sei er schon Vierzig und nicht noch unter Dreißig. Seine Größe und sein Körperbau waren so beeindruckend, daß nur ein Betrunkener es gewagt hätte, sich mit ihm anzulegen. Seine zweite Tasse Tee nahm er auf die Ostveranda mit. Jetzt wölbte sich das Licht – weder das einer unechten noch das einer echten Dämmerung – über den Rand der Welt und verwandelte sich allmählich in ein blendendweißes Leuchten. Der Expreß fuhr auf diesem Streckenabschnitt mit achtzig Meilen pro Stunde – fünfzehn Minuten noch bis zu seiner Ankunft in Chifley. Easter hatte wirklich sein Möglichstes getan, um das verdammte Frauenzimmer zu finden. Sechzehn bis achtzehn Stunden täglich hatte er mühsam die endlose Ebene durchkämmt, die Fährtensucher eingeteilt und angeleitet, denen nicht einmal die Spur einer Wüstenspringmaus entging, aber nirgends war ein Fußabdruck dieser Frau zu sehen gewesen – weder mit Schuh noch barfuß. Woche um Woche hatten sie die Suche fortgesetzt, ohne nachzulassen, und nicht einmal ein Kleidungsstück gefunden, ganz zu schweigen von einer Leiche. Ja, er hatte sich bis zum Äußersten eingesetzt und seine Fährtensucher genauso. Der Inspektor wußte das und war mit ihm der Meinung, daß das dämliche Frauenzimmer absichtlich verschwunden sein mußte. Warum dann die Mühe? Warum die Suche noch einmal beginnen, als sei sie die Frau eines Railway Commissioners und kein mordendes Miststück? Man hätte sie aufhängen sollen, um zu verhindern, daß sie die Nullarbor-Ebene je sah. Und jetzt sollte er sich wohl in Schale werfen, um diesen Wunderknaben aus den Oststaaten abzuholen, der kam, um ihm, Senior Constable Easter, vorzumachen, wie man eine Sache richtig anpackte. 6
Rasiert, in Drillichjacke und Slacks, brachte Easter seiner Frau eine Tasse Tee und verfluchte den Lokführer, der den Zug in der Ferne mehr als einmal pfeifen ließ. Elaine setzte sich auf, sagte lächelnd guten Morgen und fragte ihn, ob er auch Kaffee aufgesetzt habe. »Habe ich! Ich muß hier wirklich schuften wie ein Sklave. Die Grillkoteletts sind auch vorbereitet. Ich muß los, um den komischen Vogel abzuholen.« »Du bist lieb. Ich stehe jetzt auf. Nur keine Sorge. Wir hatten schon früher Inspektoren hier. Hunderte.« Er küßte sie leicht auf das Haar, ging zur Tür, sah sich noch einmal um und grinste, weil ihm heute morgen nicht nach einem Lächeln zumute war. Sie hörte ihn durch den kurzen Flur zur Haustür und dann die Verandastufen hinuntergehen. Der Zug fuhr rumpelnd in den sogenannten Bahnhof ein, der keinen Bahnsteig hatte, während sie in ein Kleid schlüpfte, ein paar neue Scheite ins Feuer warf und sich dann weiter anzog. Es ist schlimm, dachte sie. Nach so viel Arbeit, nachdem alles andere zugunsten dieser einen Sache zurückgestellt worden war, sah es so aus, als wollten sich größere und klügere Gehirne damit befassen. Wofür hielten sie ihren Mann? Für einen Grünschnabel? War er nicht in einer Heimstätte unten an der Südwestecke der Ebene geboren und aufgewachsen? War er nicht schon seit sechs Jahren hier stationiert und lehnte alle Beförderungen ab, weil er jede Meile dieses vermaledeiten Landes liebte? Und warum eigentlich dieses Getue um eine solche Frau? Während sie dem brodelnden Kaffee und den brutzelnden Koteletts zusah, erinnerte sich Elaine Easter, wie alles gewesen war. Ende August hatte Myra Thomas wegen Mordes vor Gericht gestanden. Prozeßort war Adelaide, und in Südaustralien läßt sich die Justiz selten von auswärtigen Schlaumeiern beeinflussen. Myra Thomas, siebenundzwanzig, schick angezogen und als Rundfunkautorin eine lokale Berühmtheit. Ihr Mann, Schauspieler, ebenfalls vorwiegend beim Rundfunk beschäftigt, vierunddreißig Jahre alt, gutaussehend und nach allem, was man so hörte, ein Gewohnheitstrinker und unersättlicher Liebhaber. Der Verteidiger hatte erklärt, der Mann sei ein Lump in Reinkultur und die Beschuldigte eine Märtyrerin gewesen, die seit langem seinen Wutanfällen, seelischen Grausamkeiten und Akten körperlicher Gewalt 7
ausgesetzt gewesen war. Es hieß, der Mann sei spät aus einer »Konferenz« nach Hause gekommen. Es hatte einen »Wortwechsel« gegeben, und er war in die Garage gestürzt und hatte eine Pistole geholt. Mann und Frau rangen miteinander, die Pistole ging los, der Mann fiel tot um. Die ewig gleiche alte Geschichte, die beweist, daß Australier nicht originell sind. Die Staatsanwaltschaft bewies, daß die Pistole, ein Andenken aus dem Krieg, erst vor kurzem geölt worden war und man viel Kraft brauchte, um abzudrücken und zu feuern; die Sachverständigen sagten unter Eid aus, daß die Pistole mindestens neunzig Zentimer von der Brust des Opfers entfernt gewesen war, als sie losging. Für die Gerichtsbeamten und die Presse war es ein Verfahren wie viele andere, aber die Beschuldigte weckte bei allen Männern lebhaftes Interesse. Sie weinte unaufhörlich. Sie weinte während des Resümees des Richters und während die Geschworenen berieten. Sie weinte, als sie von Freunden im Triumph aus dem Gericht geführt wurde und eine Horde von Teenagern sie mit enthusiastischen Ovationen empfing. Das Urteil der Geschworenen sprach jeder Vernunft Hohn. Wenn es je ein Beispiel dafür gegeben hatte, daß das System des Geschworenengerichts bei Mordfällen völlig versagte, dann war es das Urteil dieser Jury, denn sie sprach die Angeklagte frei, um sich nicht mit der Verantwortung für ein Todesurteil zu belasten. Schon Wochen vor dem Prozeß hatte Myra Thomas im Licht der Öffentlichkeit gestanden, und während der Verhandlung bekam sie eine Publicity, die man nur mit der des Melbourne Cup vergleichen konnte, denn während dieses Pferderennens ruhen Arbeit und öffentliches Leben, und ganz Australien steht praktisch still. Für den Ermordeten hatte die Presse kein einziges Wort des Mitleids. Die Heldin und ihre Mutter beschlossen, Adelaide zu verlassen und nach Perth, Westaustralien, umzuziehen. Sie reisten unter falschem Namen in Begleitung zweier anderer Frauen mit dem Expreß, der morgens um vier Uhr zwanzig von Port Pirie abging. Nachdem der Zug Reid verlassen hatte, wurden die Betten aufgeschlagen. Hinter Fisher zogen sich alle zurück und schliefen ziemlich gut. Nur eine der Frauen erinnerte sich am nächsten Morgen, daß der Zug ein paarmal gehalten hatte. Zwischen Deakin und Chifley brachte der Schaffner den Morgentee in die Abteile, und da entdeckten die drei Frauen, daß die vierte nicht 8
mehr da war. Der Zug wurde durchsucht, die Vermißte jedoch nicht gefunden. Man fragte bei allen Stationen zwischen Chifley und Reid an, aber sie war nicht ausgestiegen und zurückgeblieben. Der Zug mußte die Fahrt fortsetzen, und die Eisenbahnarbeiter suchten die Strecke ab, auch ohne Ergebnis. Endlich hatten es der müde Easter und seine müden Helfer aufgegeben, das Land zu beiden Seiten der Bahnlinie zehn Meilen weit zu durchkämmen. Es war eine harte Zeit für Elaine Easter gewesen, die Inspektoren und Sergeants aus Adelaide und Perth verköstigen und bei Laune halten mußte, da es in Chifley kein Hotel gab. Die armen Kerle mußten ja essen und verdienten bessere Schlafplätze als die Lokschuppen. Endlich hatten sie und ihr Mann das Haus wieder für sich allein, heiliger Frieden und Ordnung kehrten zurück. Abends konnten sie wieder dem lieblichen Lied der Stille über der Ebene lauschen, das ab und zu von der dröhnenden Orgelmusik eines nahenden Zuges begleitet wurde. Sie konnten auch wieder zu ihren Büchern greifen. Elaine nähte, probierte neue Rezepte aus, packte für ihren Mann die Proviantkiste, wenn er auf Patrouille gehen mußte. Und jetzt das! Noch ein fremder Polizist, der wohl in diesem Moment aus dem haltenden Zug stieg. Die Diesellok pfiff, und Elaine hörte, wie der Zug die Station verließ und die lange Strecke nach Kalgoorlie im Westen unter die Räder nahm. Und seine Musik würde immer leiser werden und endlich in dem geflüsterten Wiegenlied der Ebene untergehen. Kaffeeduft erfüllte die Küche, und die alte amerikanische Uhr auf dem Sims über dem Herd tickte eifrig, zählte seit drei Generationen die Minuten. Elaine schob die Koteletts ins Backrohr und warf einen letzten prüfenden Blick auf den Frühstückstisch, als sie auch schon auf der Veranda und dann im Flur die Schritte der Männer hörte. Der Zug pfiff sein nostalgisches Lebewohl, und als ihr Mann und der Gast eintraten, schlug die Uhr die halbe Stunde. Der Fremde war für Elaine zuerst eine Enttäuschung. Sie war es gewohnt, sehr große, kräftige Männer in ihrer Küche zu sehen, Männer mit breitflächigen, kantigen Gesichtern und kleinen, stechenden Augen, die sie, wie sie behaupteten, absichtlich zusammenkniffen. Dieser Mann war sehr leicht gebaut, drahtig, dunkelhäutig und hatte die erstaunlichsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte und die sie jetzt mit einem Ausdruck musterten, als bäten sie um Entschuldigung für die Störung. 9
Sie erlebte einen heftigen Schock, als sie merkte, daß er nicht rein weiß war, doch dieser Schock wurde sofort vom Charme seines Lächelns vertrieben; gelassen wartete er darauf, daß ihr Mann sie miteinander bekannt machte. Easter setzte den großen Koffer ab, und Elaine gab sich große Mühe, ihn nicht verwundert anzustarren, denn er sah irgendwie sehr glücklich aus. »Rate mal, wer das ist, Elaine«, sagte er. »Inspector Napoleon Bonaparte. Er besteht darauf, daß wir ihn ›Bony‹ nennen. Er sagt, wenn wir es nicht tun, wird er mich degradieren lassen. Meine Frau – eh –, Bony.« Inspector Bonaparte! Der Götze, den ihr Mann anbetete. Der größte Kriminalbeamte, den es je in Australien gegeben hatte – wie ihr Mann behauptete. Der Polizist, der bisher noch nie versagt hatte – auch das wieder eine Behauptung ihres Mannes. Jetzt verbeugte er sich vor ihr, und ein Teil ihres Verstandes wunderte sich, warum der andere Teil ihr sagte, daß sie eine Frau und nicht nur Elaine Easter war. Sie war gefangen von den blauen Augen und ertappte sich dabei, daß sie seiner Stimme mit Vergnügen lauschte. »Alle meine Freunde nennen mich Bony, Mrs. Easter. Sogar mein Chief Commissioner, meine Frau und meine Söhne nennen mich so. Ich war ganz sicher, daß ich in Chifley nur Freunde treffen würde.«
Bonapartes Auftrag
S
chon beim Frühstück zog der Gast die Easters in seinen Bann, doch erst im Lauf des Tages waren sie nach und nach imstande, ihre Reaktion zu analysieren. Beide stammten aus dem Landesteil, der im Volksmund »der Busch« genannt wird, und sie hatten erwartet, daß ihr Gast das Gegenteil von dem sein würde, was er tatsächlich war – einer von ihnen. 10
Daß er zwei Rassen angehörte, mußten sie widerstrebend akzeptieren. Seine Züge und sein Benehmen unterschieden sich jedoch ganz gewaltig von dem der Stämme, mit denen sie es hier, in diesen südlichen Gebieten Australiens, zu tun hatten, denn Bonaparte war im mittleren Norden von Queensland zur Welt gekommen, und seine Vorfahren mütterlicherseits waren stark von polynesischem Einschlag geprägt. Wenn man in die ruhigen blauen Augen sah und die weiche, akzentfreie Stimme hörte, fiel es leicht, zu vergessen, daß er von zwei Rassen abstammte. Bony kannte die Nullarbor-Ebene von früher, war mit dem Zug durchgebraust, mit dem Flugzeug darüber hinweggeflogen und einmal sogar mit dem Wagen die alte Telegraphenroute entlanggefahren, die sich am Südrand der Ebene hinzieht, da, wo sie zu einem schmalen Küstenstreifen abfällt. Doch noch nie hatte ihn sein Beruf in diesen Teil Australiens geführt, und er erwartete keine schlimmeren Härten als jene, auf die er im Innern des Landes gestoßen war – zum Beispiel undurchdringliches Dickicht aus Dornakazien – dem berüchtigten Mulga-Scrub –, steinige Wüsten, ausgetrocknete Salzseen. Obwohl die verschiedenen geographischen Gebiete sehr unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam – ihre Feindseligkeit den Menschen gegenüber. »Haben Sie ein Büro, in dem die übliche Landkarte von Australien an der Wand hängt?« fragte Bony und wußte sehr wohl, daß die Polizeistation das Kreuz ist, das jeder Polizeibeamte im Outback zu tragen hat. Easter begleitete ihn in das ihm auferlegte Kreuz, wo er die Öllampe anzündete, die von der Decke hing, so daß der übliche unaufgeräumte Schreibtisch, die üblichen an die Wand genagelten Drahtbehälter für die Akten und die übliche Landkarte in einem großen Maßstab in helles Licht gerückt wurden. Während Bony mechanisch etwas anfertigte, das man mit viel gutem Willen für eine Zigarette halten konnte, stand er mit Easter vor der Landkarte, auf der jemand das mit Nullarbor – was »keine Bäume« heißt – bezeichnete Gebiet blau eingerahmt hatte. Der Kartograph hatte auch eine wie mit dem Lineal gezogene Linie von Osten nach Westen blau eingefärbt und Transcontinental Railway darübergeschrieben; die Linie teilte das Gebiet genau in der Mitte. »Die Behörden sind sich über die Ausdehnung der Ebene nicht einig«, erklärte Bony, nicht um Easter zu belehren, sondern eher als Einleitung 11
für das, was er sagen wollte. »Sie ist wahrscheinlich viel größer als die geschätzten dreißigtausend Quadratmeilen. Was wissen Sie darüber?« Easter fuhr mit dem Zeigefinger der Bahnlinie entlang. »Dreihundert Meilen schnurgerade Gleise durch ein Gebiet, so flach und ohne Leben wie ein Brett – so scheint es zumindest auf den ersten Blick.« Der Finger rutschte auf der Karte nach unten, machte ungefähr einen Zentimeter vor der Küste halt, bewegte sich langsam nach oben, überquerte die Bahnlinie, glitt noch höher bis zu einem blauen Punkt namens Wyola-See. »Von hier bis zur Küste sind es ungefähr dreihundert Meilen. Weder Bäume noch oberirdische Gewässer außer in Felsenhöhlen, in denen das Regenwasser steht. Ein Vakuum, von einer Eisenbahnlinie zusammengehalten, und die Züge stoppen nur bei ein paar Häusern und Versorgungsdepots. Keine entlegenen Heimstätten in Richtung Süden und eine einzige im Nordwesten. Keine Straßen außer der Küstenstraße. Keine Zäune, nur Land und Himmel. Diese Frau ist nicht aus dem Zug gefallen.« »Wieso glauben Sie das?« »Ich habe eine Theorie. Keine Fakten.« »Lassen Sie die Theorie hören.« »Nun, ich habe mich schon immer für Psychologie interessiert – für abnormale seelische Reaktionen«, sagte Easter. »Den Fall Thomas habe ich anfangs kaum beachtet, weil er ein ganz gewöhnlicher Ehestreit mit tödlichem Ausgang zu sein schien, aber nach dem Prozeß haben wir alle Zeitungen herausgekramt, und nachdem wir die Berichte gelesen hatten, sind wir zu einem ganz anderen Urteil über Myra Thomas gekommen. Man muß im Zusammenhang mit ihrem Verschwinden noch ein paar andere Dinge berücksichtigen. Ich behaupte, diese Myra Thomas war die personifizierte Eitelkeit. Sie hatte vom Ruhm gekostet – auch wenn es nur ein lokaler Ruhm gewesen war –, aber der Prozeß wurde zu einem wahren Festschmaus für sie. Sie hat in ganz Australien Schlagzeilen gemacht. Ich wette, daß niemand über den Freispruch mehr geschockt war als sie. Und wie geht es weiter? Sie wird zum Mittelpunkt einer nationalen Kontroverse, und dann, nach kaum einer Woche ist der ganze Ruhm dahin. Die Schwachsinnigen, die sie bejubelt haben, als sie das Gericht verließ, haben sie vergessen und stürzen zum Flugplatz, um wegen eines ausländischen Popstars in Ohnmacht zu fallen. 12
Myra Thomas muß, nachdem sie mit den Göttern gespeist hat, unter dem Tisch nach Krümeln suchen.« Bony war ehrlich erstaunt über diese glänzende Analyse. »Was passiert dann?« fuhr Easter fort. »Sie plant ihr Verschwinden – plant, mitten in der phantastischen, einzigartigen und deshalb weltberühmten Nullarbor-Ebene abhanden zu kommen. Das kling poetisch, nicht wahr? In Nachthemd, Morgenrock und Pantoffeln verläßt sie in Cook den Zug und steigt in ein Personenauto oder einen Laster um, den ein Freund fahrt. Er bringt sie auf der einzigen Straße an die Küste, wo sie sich nach Osten oder Westen wenden und in Rauch auflösen können … Und sie bekommt, was sie wollte – immer mehr Publicity, so viel, daß sich die, die sie während des Prozesses genossen hatte, geradezu armselig ausnimmt. Jetzt wird sie eine Zeitlang stillhalten und dann wieder auftauchen mit der Behauptung, sie hätte nach den schrecklichen Erlebnissen – dem Mord an ihrem Mann und dem Prozeß – das Gedächtnis verloren. Stellen Sie sich diese Schlagzeilen vor! Das Geld, das in ihrer Lebensgeschichte steckt!« Easter sah sich einer eingehenden Musterung unterzogen. »Gäbe es keine Beweise, die über das hinausgehen, was Ihnen bekannt ist, wäre ich durchaus geneigt, Ihnen beizupflichten«, sagte Bony. »Eins müssen Sie wissen – ich bin wie Sie der Meinung, daß sie weder aus dem Zug gefallen noch irgendwo unterwegs ausgestiegen ist.« »Freut mich zu hören«, sagte Easter. »Ich dachte …« »Ich weiß, Easter. Schauen Sie sich noch einmal die Landkarte an. Hier, im Nordosten der Ebene, aber weit hinter ihrer Grenze, liegt die neue Stadt Woomera und noch weiter draußen in der Wüste die Raketenbasis. Aber viel näher, nur ein paar Meilen nördlich von Ooldea, an der Ostseite der Ebene, ist das Atombomben-Versuchsgelände Maralinga. Die Schwarzen, die dort gelebt haben, sind längst in die südlichen Ausläufer ihres uralten Stammlandes in der Nähe der Küste abgewandert, so daß es in dem ganzen Gebiet um die Abschußbasis und das Versuchsgelände keine Bevölkerung mehr gibt. Das Gebiet nördlich der Eisenbahnstrecke ist, wie Sie gesagt haben, ein Vakuum. Wir hier in Chifley sind fast am westlichen Ende der Ebene, und die einzige Rinderstation und Heimstätte im Umkreis befindet sich nordwestlich von Chifley und heißt Mount Singular. Ist das richtig?« »Ja. « 13
»Sie wissen natürlich, daß die Sicherheitsmaßnahmen bei diesen Regierungsprojekten sehr streng sind. Sie wissen aber nicht, daß man Myra Thomas während des Krieges als hohes Sicherheitsrisiko eingestuft hat. Kennen Sie einen Mann namens Patsy Lonergan?« »Ich habe ihn nie gesehen«, antwortete Easter. »Von ihm gehört schon. Früher Prospektor, jetzt Trapper – Dingofänger. Das heißt, das war er, bevor er vor vierzehn Tagen in Norseman gestorben ist.« »Was wissen Sie über ihn?« »Sehr wenig. Lonergan hat seit Jahren in Mount Singular Dingofallen aufgestellt, sogar schon bevor die derzeitigen Besitzer das Haus übernommen haben, das siebzig Meilen nördlich der Eisenbahn auf einem steilen Felsen mit Ausblick auf die Ebene erbaut wurde. Lonergan hatte Kamele, und wie die meisten alten Buschmänner seiner Generation war er einmal im Jahr in irgendeiner kleinen Stadt, um sich richtig vollaufen zu lassen. Während der letzten Sauftour ist er gestorben.« »Er hat Verwandte in Norseman«, ergänzte Bony. »Nach seinem Tod haben sie natürlich die Sachen abgeholt, die er bei sich hatte, darunter sein Tagebuch. Wie die meisten Prospektoren machte Lonergan sich täglich Notizen über seine Funde, seine Köder, den Zustand der Futterstellen und Wasserlöcher für seine Kamele. Seine Notizen sind ziemlich rätselhaft, aber das war bei den alten Prospektoren so üblich, damit niemand, der zufällig an ihr Tagebuch kam, ihren Weg zurückverfolgen konnte, falls sie irgendwann einmal mit einem Pfund Gold auftauchten. Andere Tagebücher wurden nicht gefunden, nur dieses letzte, so daß wir annehmen müssen, daß er sie vernichtet hat, wenn sie vollgeschrieben waren. Ich hole das Buch schnell aus meinem Koffer.« Easter hörte Bony in der Küche mit Elaine sprechen, und der Tonfall ihrer Stimme verriet ihm, daß sie den Gast schon akzeptiert hatte. Er selbst war in Hochstimmung, denn jetzt hatte er den Beweis, daß er mit seiner Methode, die Suche nach Myra Thomas zu organisieren, bei seinen höchsten Vorgesetzten Anerkennung gefunden hatte. Er steckte sich gerade seine Pfeife an, als Bony mit einem jener langen, schmalen linierten Kontobücher zurückkam, die Frauen oft als Haushaltsbuch benutzen. »Aus diesem Tagebuch wissen wir«, begann Bony, »daß Lonergan am 6. Juli zum letztenmal von Mount Singular aufgebrochen ist, um seine Fallen zu kontrollieren, und am 4. September nach Mount Sin14
gular zurückkam. Myra Thomas verschwand in der Nacht vom 28. auf den 29. August. Am Abend des 26. August schrieb Lonergan im Camp in sein Tagebuch: Wenig Kamelfutter am Dead Oak Stump, also weiter zum Nightmare Gutter. Bei Dead Oak mit Nummer zwei einen Bastardwelpen gefangen. Zwei reinrassige Hunde bei dem Känguruh, das ich eine halbe Meile vom Cutter entfernt vergiftet habe. Sagen Ihnen diese Ortsbezeichnungen etwas, Easter?« »Hab’ sie noch nie gehört.« »Am nächsten Tag, dem 27. August, schrieb Lonergan: Bumblefoot Hole ziemlich spät erreicht. Noch viel Wasser vorhanden. Land viel besser, je näher an zu Hause. Bei Bluebush Dip eine Bastardhündin erwischt. Köder Nummer drei hat sie erledigt. Die Falle beim Bumblefoot war leer. Hab’ dort Nummer vier verwendet. Nummer vier taugt nichts. Bumblefoot Hole schon mal gehört, Easter?« »Noch nie im Leben.« »Der nächste Tag ist also der 28.«, fuhr Bony fort. »Der Eintrag am Ende dieses Tages lautet: Bis Big Claypan gekommen. Futter nicht schlecht. Die Fallen bei Haldway Boozer leer. Habe sie wieder aufgestellt und fürs nächste Mal vorbereitet. Wetter bisher ruhig und klar, sieht aber heute abend nach Regen aus. Noch immer kein Groschen gefallen?« Easter schüttelte den Kopf, und Bony las den Eintrag vom 29. August: »Hatte die Absicht, heute nacht bei Lost Bell zu kampieren, wurde aber von einer Falle bei den Three Saltbushes aufgehalten. Mußte der Falle über eine Meile nachlaufen. Der größte Hund, den ich je gefangen habe, hat sie dorthin gezerrt, bevor er einen Schrotthaufen daraus gemacht hat. Kein Regen. Futter bei den Three Saltbushes reichlich, aber der Tümpel ist ausgetrocknet. Gestern nacht … Das war die entscheidende Nacht, wie wir wissen, die Nacht, die er bei Big Claypan verbracht hat. Gestern nacht wurde ich gegen fünf Uhr morgens von einem Hubschrauber geweckt. Flog so niedrig, daß ich die Rotorblätter vor dem Himmel sehen konnte. Beweist irgendwie meinen Verdacht, daß ich, als ich vor längerer Zeit bei Bumblefoot kampiert habe, ein Flugzeug gehört habe. »Ein Hubschrauber!« stieß Easter hervor. »Dort draußen in der Nacht vom 28. auf den 29. August, in der Nacht, in der Myra Thomas verschwunden ist.« »Wo war der Zug um fünf Uhr an diesem Morgen?« 15
»In Forrest. Er wurde durchsucht. Ist das alles über den Hubschrauber?« »Er wird nicht mehr erwähnt. Lonergan berichtet weiter, daß er einen Hund bei Curley’s Hate gefangen und im Pigface Valley eine geöffnete leere Falle gefunden hat. Wie viele Hubschrauber gibt es in Ihrem Bezirk?« »Keinen einzigen. Ein paar auf dem Versuchsgelände. Sie haben uns eine Maschine geschickt, die uns bei der Suche nach der Frau helfen sollte. Ist zwei Tage geblieben. Das war in der Woche, nachdem wir mit der Suche begonnen haben.« »In Maralinga haben sie zwei Maschinen, und die waren vom 24. August bis zum 6. September nicht ein einziges Mal in der Luft; am 6. hat man dann eine für die Suche nach der Vermißten abgestellt. Wann können wir nach Mount Singular aufbrechen?« »Nach Mount Singular? Oh, jederzeit. Schon in der nächsten Stunde, wenn Sie wollen.« »Sagen wir in drei Stunden, Easter. Ich muß ein paar Telegramme nach Adelaide auf den Weg bringen.« »Darf ich etwas fragen?« »Aber natürlich. Soviel Sie wollen, Easter. Schießen Sie los.« »Sie haben gesagt, daß die Thomas während des Krieges als hohes Sicherheitsrisiko galt. Warum?« »Sie schrieb das Script für eine Radioshow mit dem Titel Segne sie alle. Die Sendung war vornehmlich für die Truppen bestimmt. Das war bevor der Militärische Abwehrdienst oder wer immer sich um subversive Tätigkeiten kümmerte, dahinterkam, daß man dem Feind über unseren Radiodienst wichtige Informationen übermitteln konnte. Die Show wurde einmal wöchentlich ausgestrahlt, und Myra Thomas war ganz plötzlich nicht mehr dort beschäftigt. Entscheidend ist, daß sie einmal ein Sicherheitsrisiko war und auch heute noch als solches betrachtet wird, wenn man sie jetzt auch für viel weniger gefährlich hält. Aber als sie nur wenige – verhältnismäßig wenige – Meilen vom Atomversuchsgelände und den Raketenbasen entfernt verschwand, haben die Sicherheitsleute in Canberra natürlich sofort die Ohren gespitzt. Und als dann auch noch das Tagebuch von Lonergan auftauchte und bei der Überprüfung festgestellt wurde, daß in dem riesigen Gebiet um die kostbaren Regierungsgeheimnisse kein einziger privater Hubschrauber 16
registriert ist, haben sie zwei und zwei zusammengezählt und etwas herausgebracht, was tatsächlich vier ergeben könnte.« »Haben die Sicherheitsleute das Buch von Lonergans Verwandten bekommen?« »Nein. Sie haben es dem zuständigen Polizeibeamten übergeben, der es an Ihre oberste Dienststelle weiterleitete. Von da wurde es direkt nach Canberra geschickt. Bei einer Konferenz fiel dann jemandem auf, daß Lonergan in seinem Buch nicht erwähnt hat, in welche Richtung die geheimnisvolle Maschine geflogen ist. Kein Mensch wußte, wo Orte wie Curley’s Hate und Bumblefoot Hole waren, da sie auf den Landkarten nicht verzeichnet und offensichtlich Erfindungen von Patsy Lonergan sind. Zum Glück war die Polizei bei dieser Konferenz durch einen guten Freund von mir, Superintendent Bolt, vertreten. Er argumentierte, ein Mann vor Ort könnte den geheimnisvollen Hubschrauber, die Leute, die ihn flogen, ihre Aktivitäten und die – falls überhaupt vorhandene – Verbindung zu der vermißten Myra Thomas schneller aufspüren als zwei Jet-Geschwader, die kreuz und quer über die Nullarbor-Ebene donnern. Als sie ihn fragten, wer dieser Mann vor Ort sein sollte, nannte Bolt, wie zu erwarten, nur einen Namen.« »Den Ihren natürlich.« Easter lächelte. »Natürlich«, erwiderte Bony ernst. »Schauen Sie, der Tag bricht an. Die Morgendämmerung ist die beste Zeit zum Meditieren.« Meditation bei Tagesanbruch – wenn die Sonne aufging. Easter stand da, kratzte sich am Kinn und trottete dann ergeben hinter Bony her auf die Veranda. Er fühlte sich wie ein Mann, der hoffte, in der Lotterie fünf Pfund zu gewinnen und dann fünfzigtausend gewann. Er hatte eine Frau gesucht, von der man ursprünglich geglaubt hatte, sie sei aus einem Zug gestürzt, und bekam jetzt eine Spionin, einen geheimnisvollen Hubschrauber, Raketen und Atombomben frei Haus geliefert.
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Ein Schiff auf See
W
enn man über die Nullarbor spricht, kann es nur einen Vergleich geben. Der Jeep war wie ein Schiff auf einem ganz ruhigen Ozean. Im Osten war die See hellgrau, im Westen zartgrün, und wenn die Sonne den Zenit überschritt, würden die Farben wechseln. Die winzige Ansiedlung Chifley, drei Meilen hinter ihnen, schien, obwohl zu Bauklötzchengröße geschrumpft, weniger als eine halbe Meile entfernt. Die kleinen Häuser, vom Wasserturm bewacht, waren der Brennpunkt eines Zauns, der die ganze Welt umspannte. Die Drähte waren unsichtbar, aber die Pfosten konnte man zählen – Telegraphenmasten, die das stählerne Band flankierten, das Ost- mit Westaustralien verband. Die Straße war nur eine Zwillingsspur von schweren Reifen niedergewalzter Erde; zwischen den Reifenspuren und links und rechts davon wucherten zirka dreißig Zentimeter hohe Salzmelden – auch Salzbush genannt. Weder vor noch hinter dem Jeep konnte man den Fahrweg mehr als fünfzig Meter weit einsehen, aber man hatte das Gefühl, daß er eine unglaubliche Zumutung war und man gar nicht hier sein sollte. Das erste Fahrzeug, das diesen Weg genommen hatte, hatte Felsbrocken und hin und wieder ein steiniges Loch umfahren müssen, und jeder nachfolgende Wagen war streng in der vorgegebenen Spur geblieben. »Ist Mount Singular ein großer Besitz?« fragte Bony. »Laut amtlicher Vermessung nicht allzu groß, tausend Quadratmeilen oder so«, antwortete Easter. »Nur offenes Land, keine Grenzzäune, und da es nur im Süden Nachbarn gibt, kann das Vieh der Weatherbys auf über einer Million Quadratmeilen mit unterschiedlichem Boden weiden, wenn es will. Es gibt sehr wenige Wasserstellen, die das ganze Jahr über nicht austrocknen. Nach Westen hin eine Salzpfannenwildnis, eine halbe Wüste 18
im Norden, die Ebene im Osten. Ich bin nie weiter nach Norden gekommen als bis zur Heimstätte, und das war schon im Jahr ’49.« »Sind die Weatherbys eine alte Familie? Wie viele Familienmitglieder gibt es?« »Der erste Weatherby hat den Besitz im Jahr 1900 übernommen. Ein unbeugsamer Mann, wie man so hört. Seine Frau soll genauso hart gewesen sein wie er. Beide sind in den dreißiger Jahren gestorben und haben den Besitz ihren beiden Söhnen Charles und Edgar hinterlassen. Edgar hat während des Krieges auf den Inseln gedient und ist ungefähr um die Zeit, als ich die Heimstätte besucht habe, mit seiner Frau zurückgekommen. Sie hatten sich westlich von New South einen Besitz gekauft, der aber nichts taugte. Die Brüder haben beschlossen, sich wieder gemeinsam ins Geschirr zu legen. Sie haben keine weißen Viehhüter. Man kriegt heutzutage einfach keine Weißen. Alle Landarbeiter sind Aborigines.« »Wo kaufen sie ein?« »Hauptsächlich in Rawlinna. Das liegt weiter weg als Chifley, aber das Land ist in den nassen Jahreszeiten besser passierbar. Der alte Patsy Lonergan muß diesen Weg benutzt haben, den Zug in Chifley hat er jedenfalls nicht genommen.« »Gute Bürger?« »Es hat noch nie Schwierigkeiten gegeben – nach außen hin.« Eine Stunde später war die Szenerie noch genau die gleiche, und Bony kam wieder auf die Weatherbys zurück. »Wie Sie vorhin sagten, scheinen die Weatherbys gute Bürger zu sein – nach außen hin. Haben Sie je gesellschaftlich mit ihnen verkehrt, Easter?« »O ja. Wenn sie nach Chifley kommen, was nicht sehr oft der Fall ist, verbringen sie immer ein paar Stunden bei meiner Frau. Elaine findet die Frauen sehr sympathisch, wenn mir auch die Frau des jüngeren Bruders, Edgar, ein bißchen launisch zu sein scheint. Die beiden Männer sind eigentlich in Ordnung. Sie kümmern sich um ihre Angelegenheiten und stecken ihre Nasen nicht in unsere. Sie haben nie Schwierigkeiten mit ihren Abos.« »An achtzig Prozent der Stammesfehden ist die Einmischung der Weißen schuld«, sagte Bony und stellte eine andere Frage: »Wie sieht es mit ihrer Verbindung zur Außenwelt aus?« 19
»Sie haben Radio, sonst nichts.« »Haben sie sich nicht an der Suche nach Myra Thomas beteiligt?« »O doch. Sie waren eine ganze Woche bei meiner Truppe. Haben zwei Fährtensucher mitgebracht, die mit den meinen zusammengearbeitet haben, und das beste Rindfleisch, das ich je gegessen habe. Interessieren Sie sich aus irgendeinem Grund besonders für sie?« »Nein. Nicht mehr und nicht weniger als für die Leute, die im Süden und Südwesten in anderen Heimstätten wohnen. Falls Patsy Lonergan nicht durch sein einsames Leben einen seelischen Knacks weg hatte und der Hubschrauber keine Einbildung von ihm war, dann muß die Maschine einen Standort haben, und dieser Standort muß in der Nullarbor selbst oder in der näheren Umgebung sein.« »Und wie wollen Sie die Maschine aufspüren? Jede Heimstätte im Umkreis der Ebene durchsuchen?« »Nein. Angenommen, wir finden den Hubschrauber in irgendeiner Heimstätte, dann wissen wir nur, daß der Besitzer ihn nicht beim Amt für zivile Luftfahrt angemeldet und damit gegen bestimmte Vorschriften verstoßen hat. Mich interessiert nur, für welche Zwecke er bei möglicherweise geheimen Missionen benutzt wird. Es genügt mir nicht, nur den Standort ausfindig zu machen – ich möchte dem Besitzer einige Fragen stellen.« »Natürlich«, sagte Easter nachdenklich. »Aber noch einmal zu meiner ersten Frage – wie beabsichtigen Sie die Maschine aufzuspüren, die Lonergan angeblich gesehen hat?« »Ich habe einen Brief von Lonergans Anwalt in Norseman. Der alte Bursche hatte einen eigenen Besitz und ein für einen Prospektor und Hundefänger beachtliches Bankkonto. Dieser Brief ermächtigt mich, William Black, den Neffen des Verstorbenen, Lonergans Kamele, Ausrüstung und restliche Habe abzuholen, die sich in Mount Singular befindet. Zur Ausrüstung gehören auch die Hundefallen, und es ist meine Aufgabe, sie zu finden. Deshalb muß ich der Route folgen, die der Alte mit seinen Fallen genommen hat, und seine Camps mit den seltsamen Namen aufspüren. Ich hoffe, daß ich dabei diesen Hubschrauber sehe oder höre und feststellen kann, wohin er fliegt und was er vorhat.« »Teufel, was für ein Job!« »Vielleicht leichter, als wir im Moment glauben. Ich bin also William Black, der Neffe des Alten. Ich habe Sie heute morgen in Ihrer Stati20
on aufgesucht, wie mir die Polizei in Norseman geraten hat, und Sie mußten zufällig dienstlich nach Mount Singular – Zeit genug, um einen Vorwand zu erfinden, haben Sie – und waren einverstanden, daß ich Sie begleite.« »Ich verstehe«, sagte Easter, was Bony bezweifelte. Während der nächsten Stunde sprachen sie kein Wort. Die Landschaft hatte sich verändert – nur der Wasserturm von Chifley war noch in der Ferne auszumachen. Er sah aus wie ein auf dem Horizont liegender schwarzer Stein. Nach einiger Zeit schlug Easter vor, Lunchpause zu machen. Bony sammelte trockenes Gestrüpp fürs Feuer, und Easter füllte einen Wasserkessel und hängte ihn an ein eisernes Gestängekreuz. Die Proviantbox wurde ausgepackt, und während sie darauf warteten, daß das Wasser kochte, standen sie herum und schauten auf die Nullarbor-Ebene hinaus. »Muß unangenehm sein, wenn ein Sturm drüberfegt«, meinte Bony, und Easter erzählte ihm, wie froh er manchmal gewesen war, flach auf dem Bauch liegen zu können, mit einem Felsstück auf dem Rücken, das ihn am Boden festhielt. »Ich habe gehört, daß es nördlich der Eisenbahnlinie keine Höhlen oder Luftschächte gibt. Glauben Sie, daß das richtig ist?« »Es wurden bisher keine entdeckt«, antwortete Easter. »Aber das heißt noch lange nichts. Das Land nördlich der Bahnlinie ist noch nicht ganz erforscht. Ich glaube nicht, daß die Landschaft nördlich der Bahnlinie anders ist als im Süden. Es gibt auch andere Punkte.« »Und die wären?« »Es heißt, daß die Luftschächte durch Meeresströmungen entstehen; daß die Gezeiten die Luft in die tief unten gelegenen Gänge zurückdrängen und so den unterirdischen Wind erzeugen. Aber das wissen Sie natürlich alles.« »Ja, und daß die Aborigines die unterirdischen Geräusche dem knurrenden Magen und den Bewegungen von Ganba, der menschenfressenden Schlange zuschreiben«, fügte Bony hinzu. »So ist es. Ich habe die alte Ganba südlich der Eisenbahnlinie unter und über der Erde brüllen und rumpeln und auch ein ganzes Stück nördlich der Eisenbahn wüten gehört – sogar noch weiter im Norden, als wir jetzt sind. 21
Ich nehme an, man hat Ihnen auch erzählt, daß die Nullarbor sogar den Abos verhaßt ist, die auf der Station arbeiten«, fuhr Easter fort. »Nicht nur wegen Ganba, sondern weil es auch weite Strecken gibt, über die weder Vieh noch Pferde gehen wollen, und das bedeutet Untergrundhöhlen im Kalkstein, nicht wahr? Interessieren Sie sich wirklich für Höhlen und solche Sachen?« »Nein«, antwortete Bony. »Ich habe die furchtbare Angst vor der Dunkelheit in einem Loch geerbt, leide aber nicht unter Klaustrophobie.« Er lachte leise. »Hier liegt sie vor uns, die sagenhafte Nullarbor-Ebene. Alles ist sichtbar, aber was ist mit den Dingen, die unter ihr verborgen sind? Hier oben haben wir Platz, Sonnenlicht und Wärme. Aber keinen Schutz vor Stürmen. Hier kann man sich nirgends verstecken. Es gibt keinen Zufluchtsort, nicht einmal einen Baum, der einem Rückendekkung gibt, damit Ganba sich nicht heimlich von hinten anschleichen kann. Es wäre für einen Mann höchst unnatürlich, die Nacktheit einer so kahlen Welt auch noch zu genießen.« Sie aßen kaltes Roastbeef und dick mit Butter bestrichenes Brot, und beiden ging ein Gedanke durch den Kopf, den keiner jemals zugegeben hätte. Der Jeep ist ein verläßlicher Gefährte, lautete dieser kleine, heimliche Gedanke. Als Easter neben dem Wagen stand, war der Kopf seines Filzhutes der höchste Punkt an dem durch nichts unterbrochenen flachen Horizont. Noch hatte Easter sich nicht an die Veränderung gewöhnt, die mit dem zunächst so adretten Inspector Bonaparte vorgegangen war. Bony hatte den modisch geschnittenen grauen Anzug mit einem schäbigen Drillichhemd vertauscht, das in einer fast hautengen grauen Gabardinehose steckte. Die Hose war schmutzig und abgeschabt. Das ließ auf einen ständigen Umgang mit einem Pferd schließen, und obwohl an den Stiefeln mit den elastischen Seiten keine Sporen klirrten, sah man ihnen ebenfalls an, daß ihr Träger häufig ritt. Hier im hellen Sonnenlicht war seine Abstammung noch deutlicher sichtbar. Bony fühlte, daß er forschend gemustert wurde. »Wissen Sie schon, wie Sie sich mit mir in Verbindung setzen werden, nachdem ich Sie in Mount Singular abgesetzt habe?« fragte Easter hastig. Verlegen wich Bony dem Blick des großen, kräftigen Mannes aus. »Ich habe keine Ahnung, Mr. Easter«, sagte er schleppend. Er trat nach 22
einem kleinen Stein und betrachtete mit scheinbarem Interesse die Reifen des Jeeps. »Aber mir passiert schon nichts.« Er lachte offenbar völlig grundlos, betrachtete die Ebene, schaute überallhin, nur nicht dem Polizisten direkt in die Augen. Er kickte wieder das Steinchen hin und her und wiederholte: »Aber mir passiert schon nichts.« »Zum Teufel!« explodierte Easter. »Das nenne ich eine perfekte Nachahmung.« Dann fügte er plötzlich ernst hinzu: »Nichts für ungut.« »Das ist schon in Ordnung, Easter. Wissen Sie, ich habe einmal ein Buch über einen sehr erfolgreichen Mann gelesen, der entdeckte, daß seine Mutter zu einem Viertel schwarz war. Da wurde er so von Verzweiflung gepackt, daß er sich erhängte. Wie dumm! Schließlich hatte er wie ich allen Grund, auf seinen Erfolg Stolz zu sein. Ich stehe in meinem erwählten Beruf ganz oben, Easter, trotz des Makels meiner Herkunft. Inspector Napoleon Bonaparte, Easter. Mit einer tadellosen Personalakte. Ich habe meinen Vater nicht gekannt, aber irgend jemand hat einmal gesagt, wer seinen Vater kenne, sei ein weiser Mann. Ich kannte auch meine Mutter nicht. Sie wurde mit mir an der Brust tot unter einem Sandelbaum gefunden. Ich war drei Tage alt. Wie Sie wissen, bringen es in diesem Land nur wenige sehr weit, hinter denen keine Familie mit Geld und gesellschaftlichem Einfluß steht, aber ich habe meinen Weg auf meine Weise gefunden, ganz allein, und keiner sagt mir, was ich tun oder lassen soll.« »Sie müssen aber zugeben, daß Sie die große Ausnahme sind«, entgegnete Easter. »Das weiß ich. Trotz meiner Abstammung bin ich eine Ausnahme. Oder sogar wegen meiner Abstammung?« Sie packten den restlichen Proviant in die Box und setzten die Fahrt unter der Mittagssonne fön. Im Lauf des Nachmittags waren am nordwestlichen Horizont, dem sie entgegenfuhren, mehrere blauschwarze Buckel zu sehen, die sich langsam zu Felsen formten; sie wuchsen aus dem Meer und hatten, als die Nullarbor noch das Bett des Südlichen Ozeans war, die Landspitzen der Küste gebildet. Wie ein Schiff auf See begann der Jeep diese Küste zu umrunden; nach einer Weile fuhren sie zwischen zwei baumbestandenen Inseln durch, und später passierten sie eine kleine Bucht mit wild wucherndem Dickicht, das von dem leicht ansteigenden Land zu beiden Seiten bis an die Strande mit den zahlreichen Lehmtümpeln herunterreicht, in 23
denen nach dem Regen das Wasser stehenblieb. Plötzlich bog der Jeep auf einen Strand ab, kletterte zwischen Buschwerk höher und kam in eine wellenförmig verlaufende Landschaft. »Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun, sobald Sie wieder in Chifley sind«, sagte Bony. »Geben Sie meiner Abteilung das Datum durch, an dem Sie mich in Mount Singular abgesetzt haben. Fügen Sie meine letzte Instruktion an Sie hinzu, die lautet, daß Sie sich nicht mit mir in Verbindung setzen dürfen. Schicken Sie die Meldung an Box SS11, G.P.O., Adelaide. Ist das klar?« »Selbstverständlich«, sagte Easter. »Jetzt ist es nur noch eine Meile bis Mount Singular.« Der Fahrweg wand sich über leichte Bodenwellen, auf denen Bültgras, blau belaubte Sträucher und Manukas, aber vor allem mehrere Eichenarten wuchsen. Weideland, gutes Weideland für Rinder. Dann tauchte über niedrigem Gesträuch ein Hausdach auf, und nach einer Weile waren Schuppen und kleine Wohnhütten zu sehen. Die Heimstätte war ordentlich, auffallend sauber. Um das einstökkige Haupthaus mit der breiten Veranda zog sich ein weißer Staketenzaun, und als der Jeep vor dem Haupttor hielt, sahen sie hinter dem Zaun Blumenbeete, blühende Rosensträucher und Rasensprenger, die die Pracht am Leben erhielten. In Übereinstimmung mit seiner Rolle als farbiger Neffe von Lonergan blieb Bony neben dem Jeep stehen, als Easter durch das Haupttor zur Haustür ging. Bevor er sie erreichte, kamen zwei weißgekleidete Frauen ums Hauseck und begrüßten ihn offensichtlich überrascht, aber auch erfreut. Was Easter sagte, konnte Bony nicht hören, aber der Senior Constable spielte das Spiel richtig, denn als er ins Haus gebeten wurde, ging er hinein, ohne seinen Begleiter zu erwähnen. Es war gegen halb vier, und Bony rauchte zwei Zigaretten, aber nichts geschah. Mit der Unbekümmertheit des Aborigine begann er herumzuwandern und sah sich den Besitz vom Haupthaus bis zu den weit entfernten Vieh- und Pferdekoppeln genau an. Eine Eingeborene nahm Wäsche von der Leine, und unter einer Eiche spielten mehrere AboriginesKinder. Ein kleiner brauner Hund freundete sich mit Bony an, und ein Schwarm schwarzer Kakadus flog mit heiserem Geschrei vorüber. Nach einer Weile kam außerhalb des Staketenzauns ein Aborigine in Sicht, der sich mit der mühelosen Anmut des echten Wilden bewegte. 24
Einsachtzig groß und ein wandelnder Beweis für ein gutes Leben. Er trug eine Windjacke amerikanischer Machart, eine Arbeitshose, die in kurzen Leggins steckte, und Stiefel mit elastischen Schäften und schweren Sporen. Ein breitkrempiger Hut vervollständigte seinen Aufzug. Obwohl schon fünfzig, war er glattrasiert. Die Narben auf beiden Wangen waren die Symbole dafür, daß er das Mannesalter erreicht hatte, und das Loch in der Nasenscheidewand verriet dem Eingeweihten, daß er im Rang eines Medizinmannes stand. Auf dem breiten Gesicht lag ein Lächeln, das die schwarzen Augen jedoch nicht erreichte. Weiße Zähne blitzten, als er sagte: »Missus sagt, daß du hineinkommen und Tee trinken sollst.« »In Ordnung«, antwortete Bony und musterte den Mann, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Eine Tasse Tee wird mir guttun.« Auch wenn er neben Easter saß, wirkte Bonaparte nicht klein und schwächlich, aber neben dem fetten Aborigine fühlte sich William Black wie ein Zwerg. »Du kommst aus Kalgoorlie, eh?« fragte sein Führer, während sie am Zaun entlanggingen. »Nein. Aus Diamantina.« Unter einem Eukalyptusbaum zog Bony Hemd und Unterhemd aus, damit die schwarzen Augen die Männlichkeitsfarben auf William Blacks Brust, Rücken und Oberarmen bewundern konnten. »Mein Vater war der Bruder von Patsy Lonergan«, klärte er den anderen auf. »Patsy ist grade in Norseman gestorben. Ich bin hier, um seine Kamele und seine Ausrüstung abzuholen.« Er bohrte den Zeigefinger in das Fett über den Rippen des Viehhüters, und sie lachten beide.
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Eine Heimstätte wie viele andere
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achdem ihm in der Hütte, in der die Männer ihre Mahlzeiten einnahmen, von einer riesigen Aborigine-Frau Tee in einem Aluminiumbecher und Kuchen serviert worden waren, schlenderte Bony zum Jeep zurück, wo er noch ein paar Minuten auf Easter warten mußte. Der Polizeibeamte trat mit den beiden Frauen aus dem Haus. Zusammen gingen sie den eisenharten Weg aus zerstampften Ameisenhügeln entlang, blieben einen Moment stehen und wechselten ein paar Worte zum Abschied. Bony wußte da noch nicht, daß die Frauen Schwestern waren, und es bestand zwischen ihnen auch keine Ähnlichkeit. Die ältere war groß und freundlich, hatte graue Augen und einen breiten Mund. Die andere war kleiner und zierlich und trug das dunkle Haar sehr kurz. Sie hatte große Augen mit einem entschlossenen Blick, und ihr Lächeln wirkte gezwungen. Beide waren Anfang Dreißig, beide ungeschminkt, und ihr Teint zeigte, daß sie sich oft im Freien aufhielten. Die größere bat Easter, seiner Frau Grüße zu bestellen, und die jüngere sagte, er solle die Post nicht vergessen, was merkwürdig war, da er den Postsack unter dem Arm trug. Die Frauen, besonders die jüngere, erinnerten Bony an jemanden, den er kannte, und er rätselte noch daran herum, wie man das eben tut, wenn man ein paar Minuten Zeit hat, als Easter den Frauen förmlich die Hand gab und durchs Tor kam. Die Frauen wandten sich zum Haus zurück, und Easter verstaute den kostbaren Postsack im Jeep. »Ich habe den Weizen gesät«, sagte er leise. »Die Männer sind nicht da, werden aber jeden Moment erwartet. Ich hab’ den Frauen gesagt, 26
wer Sie sind, oder vielmehr, wer Sie angeblich sind und was Sie hier wollen.« »Gut! Wie haben sie’s aufgenommen?« »Sie sagten, sie hätten sich schon gedacht, daß jemand Lonergans Ausrüstung abholen oder deshalb schreiben würde. Die andere Sache werde ich auch ganz in Ihrem Sinn erledigen. Sonst noch etwas?« »Sobald Sie den Auftrag angenommen haben, legen meine Vorgesetzten eine erstaunliche Ungeduld an den Tag und wollen Ergebnisse sehen, Easter. In ein, zwei Wochen wird man wahrscheinlich bei Ihnen anfragen, was ich treibe. Seien Sie nett zu ihnen, Easter. Sagen Sie ihnen, ich hätte gesagt: ›Hände weg, und dabei bleibt es.‹« »Oder etwas in diesem Sinn.« Easter grinste. Während er sich ans Steuer setzte, nahm Bony seinen Seesack vom Jeep. Das war alles. Easter wendete das Fahrzeug und fuhr ab, ohne zu winken. Bony stand lässig da, drehte sich eine Zigarette und zündete sie an wie ein Mann, dem Zeit nichts bedeutet. Ihm war bewußt, daß er beobachtet wurde, nicht unbedingt von den weißen Frauen, die sich wahrscheinlich kaum für ihn interessierten, aber ganz bestimmt von den Aborigines, mit denen er nicht einmal um fünfzig Ecken herum verwandt war und zu denen es auch keine möglichen hierarchischen Bindungen gab. Von nun an mußte er William Black sein. Nachdem er seinen Seesack an einen verkrüppelten Baum gehängt hatte, um ihn vor dem Angriff der von der Arbeit heimkehrenden Hütehunde zu schützen, ging er ungefähr fünfzig Meter zu einem Felsblock mit Blick auf die Nullarbor-Ebene. Es war gerade vier Uhr. Entspannt schaute er auf die hundertzwanzig Meter tiefer gelegene Ebene hinunter. Im Süden und Norden gab es noch andere dunkle Landspitzen. Vor ihm lag Weite und Sonnenlicht, die die Phantasie eines Mannes beflügeln konnten, und hinter ihm die Baumschatten, das wogende Land und die weißen Sanddünen, die ihm ein Gefühl der Sicherheit und die Illusion eigener Wichtigkeit vermittelten. Das war tröstlich nach dem Frösteln, das ihn auf der kahlen Ebene überfallen hatte. Kein Wunder, daß die Aborigines nur ungern diese Küste verließen, um sich in das Meer der Salzmede hinauszuwagen. Sie brauchten Holz, um ein richtiges Feuer zu machen, kein Gestrüpp, das schnell auflodert und ebenso schnell erlischt. Sie brauchten nachts etwas Festes im Rük27
ken, damit sich der Geist dieses Landes, den sie Ganba nannten, nicht anschleichen und ihnen seinen eisigen Atem zwischen die Schulterblätter hauchen konnte. In diesem Land machte man nur ein einziges Mal aus Unachtsamkeit einen Fehler; die Aborigines bewahrt ihr Instinkt davor, und es gibt auch Weiße, die nie einen Fehler begehen und sich von Ganba nie erwischen lassen. Zu ihnen hatte der alte Patsy Lonergan gehört. Er verließ diese Heimstätte mit zwei Kamelen und einem Hund, verschwand in Easters Vakuum und tauchte nach Wochen wieder auf, um seine Dingoskalps abzuliefern und den Bonus zu kassieren. Das wiederholte er vielleicht dreimal im Jahr und leistete sich für das Geld ein richtiges Besäufnis, das vierzehn Tage oder drei Wochen dauerte. Ein törichter Mann? Selbstverständlich nicht. Man braucht einen Ausgleich. Ist der Körper ausgehungert, muß man ihn mit Nahrung vor dem Tod bewahren. Und ist die Seele durch die Drohungen von Ganba erschöpft, dann ist Alkohol ein Gegenmittel, um im Hauptbuch des Lebens das Gleichgewicht zwischen Soll und Haben herzustellen, denn Alkohol ist der Sesam öffne dich zu gemeinschaftlicher Fröhlichkeit, die für die geistige Gesundheit der Einsamen unerläßlich ist. Es war jammerschade, daß Lonergan dieses Tagebuch erst im Januar begonnen hatte und daß es nur Eintragungen über seine vorletzte und letzte Tour enthielt. Sonst hätte es vielleicht noch weitere Hinweise über das Flugzeug gegeben, das er gehört hatte, als er das letzte Mal in dem Camp gewesen war, das er Big Claypan nannte. Der richtige Neffe in Norseman, der das Tagebuch entdeckt hatte, war ein kluger Junge. Er hatte Grips genug, um zu begreifen, was die Notiz über den Hubschrauber zu bedeuten hatte. Was er über den Geisteszustand seines Onkels aussagte, deckte sich mit dem, was die Ortspolizei über ihn wußte, und niemand bezweifelte noch, daß Lonergan den Hubschrauber tatsächlich gesehen hatte. Eine Flugmaschine, die nachts diesen Teil von Ganbas Land überflog, konnte keinen legitimen Grund gehabt haben und ihr Ziel konnte keine Heimstatt und ganz gewiß kein Dorf oder keine Stadt gewesen sein, denn im Vakuum gibt es keine Ortschaften. Die Explosion, die dieses Tagebuch ausgelöst hatte! Die Nachrichten, die Signale, die Konferenzen, die es nach sich zog! Spione, die sich durch die Hintertür schlichen, um Atomversuche zu beobachten. Als 28
ob Spione dumm genug wären, Canberra zu verlassen, wo ihnen alles, was sie brauchten, in gemütlichen Bars und bei offiziellen Cocktailpartys serviert wird. Dennoch existieren unabhängig voneinander ein offizielles und ein polizeiliches Interesse; das offizielle Interesse, streng auf die Wahrung der sogenannten Sicherheit beschränkt; das polizeiliche Interesse, das ausschließlich einer vermißten Person galt. Und beide Interessen verband lediglich ein Satz im Tagebuch eines Dingotrappers. Ein oder zwei Tage in dieser Heimstätte bescherten ihm vielleicht einen Hinweis von den Aborigines. Ihnen entging nur wenig. Der Vormann der Viehhüter war sehr freundlich geworden, nachdem er die Beweise dafür gesehen hatte, daß der Fremde einem unbekannten Stamm im fernen Queensland angehörte. Bony hatte nichts über sich preisgegeben, bis auf die »Tatsache« seiner Verwandtschaft mit Lonergan, den Zweck seines Besuchs und den Grund, warum er sich so weit südlich von Queensland aufhielt. Und er hatte nichts von Wert erfahren, außer daß es in diesem Jahr nicht so viele Dingos gab wie sonst und daß sie sich in den der NullarborEbene benachbarten Gebieten aufhielten. Lonergan hatte zwei Kamele und einen Hund namens Lucy besessen. Seine Ausrüstung und seine persönlichen Habseligkeiten lagen noch in der Hütte, die er während seiner Aufenthalte immer bewohnt hatte und die während seiner Abwesenheit abgeschlossen war. Über seine Fallen hatte der Vormann nichts gewußt, und mit einem Lachen, das alles andere als fröhlich klang, hatte er Bony erklärt, wenn er die Fallen haben wolle, müsse er sie eben suchen. Wo? In welcher Richtung? Wieder ein Lachen. Ein Winken, bei dem die Hand zitterte wie eine Kompaßnadel, die von einem Floh gebissen worden war. Kein Wort von einem Hubschrauber. Aber ebenso kein Wort über die Windmühlen, die Mehrzweckflugzeuge der Station oder den Melbourne Cup, der jetzt bald ausgetragen werden sollte. Black hatte keine Fragen gestellt. Seine Blicke folgten Easters Jeep, der die Küste verließ und »in See stach«, ein winziges Boot, das eine dünne Staubwolke hinter sich herzog. Am Ende sah Black nur noch ein kleines Wölkchen, das zerflatterte. Siebzig Meilen nach Chifley. Steuere einfach und warte, bis Chifley dir entgegenkommt. 29
Die Sonne warf lange Schatten über die Ebene, und Bony hörte hinter sich ein leises Geräusch und sah, als er sich umdrehte, einen großen, kräftigen Mann vom Haus her auf sich zukommen. Er hatte den unverkennbar schwankenden Gang des Reiters und war ebenso unverkennbar wie ein Viehzüchter gekleidet; das leise Klirren seine Sporen hatte William Blacks Aufmerksamkeit erregt. »Guten Ta-ag! Bist du Black?« Bony stand von seinem Stein auf und antwortete schleppend und schüchtern näselnd: »Ja, das bin ich.« »Man hat mir gesagt, daß du Patsys Neffe bist. Ist das richtig?« Black lächelte zustimmend, scharrte mit der Stiefelspitze im Staub und holte den Brief des Anwalts aus Norseman aus der Brusttasche. Dieser Weatherby war ein gutaussehender Mann, von der Sonne dunkelbraun gebrannt, stark geworden durch den Kampf ums Überleben, selbstsicher wie jemand, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen. Seine dunklen Augen musterten eindringlich das Gesicht des kleineren Mannes, und unbewußt registrierte er das Scharren des Stiefels, die übliche nervöse Reaktion der Aborigines in Anwesenheit eines Höherstehenden. Weatherby nahm den Brief entgegen, riß den Umschlag auf und las bedächtig. »In Ordnung, Black, du kannst die Sachen deines Onkels mitnehmen. Wir wollen sie natürlich nicht behalten.« Die Stimme war klar und tief. »Alle Sachen von Patsy sind in einer Hütte, die wir ihm zur Verfügung gestellt haben. In den Büchern steht noch ein Guthaben. Wie ist es damit?« William Black zögerte, und Weatherby schnippte mit den Fingern. »Nun?« »Lassen Sie es bitte stehen, Mr. Weatherby. Der Anwalt hat nichts vom Geld gesagt. Ich sag’ ihm Bescheid.« »In Ordnung. Tu das. Am besten holst du dir jetzt im Büro den Schlüssel zur Hütte. Und bevor du morgen gehst, machst du eine Liste der Sachen, die du mitnimmst. Kannst du schreiben?« »Ja, Mr. Weatherby.« Weatherby machte kehrt und marschierte los, Black nahm seinen Seesack vom Baum und trottete hinter ihm her zum Vorratshaus hinter dem Hauptgebäude. Das Büro nahm nur eine Ecke dieses Vorratshau30
ses ein, in dem alles vorhanden war, was man einem Ort wie diesem brauchte – Lebensmittel, Maschinenteile, Stoffe … »Vergiß nicht die Liste, Black«, sagte Weatherby. »Ich lasse ein Duplikat anfertigen, dann kannst du eine Kopie unterschreiben, und ich unterschreibe die andere für den Anwalt. Morgen früh lasse ich von den Boys die Kamele holen. Hat der alte Mann einen schönen Tod gehabt?« Das war kein Mitgefühl. Kaum Interesse. Ein harter Mann, dieser Weatherby, dachte Bony. Vermutlich der ältere der beiden. William Black kicherte und schaute hierhin und dorthin, vermied es jedoch, den Mann hinter dem Schreibtisch anzusehen. »Er war voll wie eine Strandhaubitze, Mr. Weatherby.« Die nächste Frage, die Weatherby stellte, war völlig korrekt, da es sich um die immer problematischen finanziellen Verhältnisse eines Goldsuchers handelte. Er fragte, ob Patsy Lonergan viel hinterlassen hatte, und erfuhr, daß der Anwalt das Testament nur vor einer Tochter und einem anderen Neffen verlesen hatte. »Hm. Und woher kommst du?« war die Frage, die jeder intelligente Weiße zwangsläufig stellte. Er bekam auch eine zufriedenstellende Antwort und war nicht erstaunt, als William Black ihm sagte, daß Lonergan als sehr junger Mann mehrere Jahre in Queensland verbracht hätte. Der Triangel zum Abendessen wurde geschlagen, und Weatherby stand auf. »Dein Onkel war ein harter Oldtimer«, sagte er. »Weißt du, Black, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaube ich, daß er gar nicht so dumm war, wie er manchmal tat. Er war ein bißchen verdreht, da gibt es keinen Zweifel. Das passiert jedem, der wochen-, ja, monatelang allein durch dieses Land zieht. Der Mann, der allein hinausgeht und Metalle sucht und Skalps und Ähnliches, mag ein Narr sein, aber er ist ein verdammt mutiger Narr. Geh jetzt ins Männerquartier zum Abendessen. Wir sehen uns morgen früh.« »Danke, Mr. Weatherby«, sagte William Black respektvoll und entfernte sich gemächlich. In der Hütte der Männer saßen schon mehrere Aborigines, darunter der Vormann und zwei Mischlinge. Der Vormann lachte Black an, deutete auf die riesige Aborigine-Köchin und sagte: »Schau her, Bill. Sie ist die Köchin hier. Kocht gut, aber nörgelt und keift immer.« 31
Alle brachen in schallendes Gelächter aus, und William Black lächelte der Eingeborenenfrau zu, die er schon am Nachmittag während der Teepause kennengelernt hatte. Sie setzte ihm eine große Portion Roastbeef und Gemüse vor und sagte lachend, er solle ruhig zum Nachfassen kommen. Wirklich eine glückliche Rasse, die das Lachen dazu benutzt, um dahinter viele Dinge zu verbergen, unter anderem eine große Scheu vor Fremden. Sie wollten wissen, woher er kam, und er erklärte ihnen, wo das Diamantina-Land liegt, wieso er nach Norseman gereist und wie er mit Patsy Lonergan verwandt war. Sie bedauerten es aufrichtig, als sie hörten, daß Patsy Lonergan gestorben war, und lachten entzückt, als William ihnen erzählte, daß Patsy bei seinem Tod »so voll gewesen war wie eine Strandhaubitze«. Bony wußte, daß ihre Freundlichkeit gegen ihn auf der Meinung des Medizin- und Vormannes beruhte, aber sie akzeptierten ihn nicht als einen der ihren und wären nicht so freundlich gewesen, wenn er hier Arbeit gesucht oder sich in ihre konservativen Gemeinde gedrängt hätte. Nach dem Abendessen zeigte ihm einer Lonergans Hütte, dann wanderten alle davon in den Busch hinter der Heimstätte, wo zweifellos ihre Hütten lagen. Lonergans Hütte bestand aus nur einem Raum. Es gab eine primitive Koje – vier Pfosten, zwischen denen eine Unterlage aus Juteleinwand befestigt war, und darauf lag eine mit Stroh gefüllte Matratze, ebenfalls aus Juteleinwand. Patsy Lonergan hatte seine Ausrüstung hier abgestellt, und Bony mußte Pack- und Reitsattel der Kamele erst hinaustragen, ehe er sich in der Hütte bewegen konnte. Er schrieb an der Inventarliste, bis es fast dunkel war und notierte: ein Paar gut gepflegte lederne Satteltaschen, zwei Fünf-Gallonen-Wasserkanister, Fußfesseln und Nasenriemen, eine Proviantbox, Decken, alte Kleidung, darunter ein Gehrock mit Seidenrevers, der von einem Herzog in Diensten von Königin Victoria stammen mußte. Er zündete gerade eine Sturmlaterne an, als ein Geräusch an der Tür ertönte. Black entdeckte einen kleinen braunen Hund, der sich vor Aufregung wand. »Wer bist du?« fragte William Black, und der Hund kam herein, sprang auf die Koje, machte es sich bequem und sagte ihm schüchtern, daß sie Lucy sei. 32
Millie und Curley
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ehr früh am nächsten Morgen brachte der Pferdepfleger Lonergans Kamele. Es waren Nachkommen der ursprünglich eingeführten einhöckerigen Dromedare, doch wie bei den meisten Wörtern, die ein bißchen schwierig auszusprechen sind, hatte sich in Australien die kürzere, wenn auch ungenaue Bezeichnung durchgesetzt. Millie und Curley waren in einem guten Zustand. Bony fand sie in einem von einem hohen Geländer umfriedeten Hof, gelassen wiederkäuend, in den Augen einen resignierten Ausdruck, weil sie wußten, daß ihnen wieder harte Arbeit bevorstand. Millie war heller in der Farbe als ihr Freund, und beide machten einen sanftmütigen Eindruck. Millies Nasenring saß noch richtig, doch Curley trug ein starkes Lederhalfter, und das gezackte Loch in seiner Nase sprach Bände. »Kannst du mit Kamelen umgehen?« fragte Weatherby, der mit seinem Bruder zu Bony an das Geländer getreten war. Der Jüngere war schlanker, hatte noch dunklere Haare und Augen, und ihm fehlte die äußere Gelassenheit seines Bruders. »Ja«, sagte Bony und sah wieder zu den Kamelen hinüber. »Sie sind ziemlich ruhig, aber ein bißchen heimtückisch. Hast du eine Liste von den Sachen deines Onkels gemacht?« »Sie ist fast fertig, schätze ich. Fehlen nur noch die Fallen. Der alte Bursche hat sie nicht hergebracht.« Die Bemerkung wurde schweigend übergangen, vielleicht weil die Brüder sich so eingehend für die Kamele interessierten. Endlich sagte der jüngere Weatherby: »Da niemand weiß, wo Patsy seine Fallen aufgestellt hat, wirst du sie wohl abschreiben müssen.« »Sieht ganz so aus«, stimmte der ältere Bruder zu. »Ich glaube, nicht einmal die Abos wissen, in welche Richtung der Alte das letzte Mal 33
wollte. Wahrscheinlich Westen, weil dort in diesem Jahr die Hunde sind. He! Ringer! Komm her!« Der Vormann kam mit einer gesattelten Stute aus dem Hof und brachte sie zu seinem Boß. Er wirkte hart und tüchtig. »Hast du eine Ahnung, wo Patsy das letzte Mal seine Fallen aufgestellt hat?« fragte Weatherby, und Ringer lächelte und scharrte mit der Stiefelspitze im Staub. »Weiß nicht«, antwortete er. »Der alte Patsy war ein ganz Heimlicher. Tommy hat Kamelspuren auf der anderen Seite von Splinter gesehen – kurz vor dem Regen. Kann sein, daß Patsy in den Salzpfannen draußen gearbeitet hat.« »In Ordnung, Ringer. Geh jetzt los, und vergiß nicht Mason’s Hole zu kontrollieren.« »Selbst wenn du wüßtest, wo du sie suchen solltest, würde es sich nicht lohnen, den Fallen nachzulaufen«, sagte der jüngere Weatherby zu Black, während er sich eine Zigarette drehte. Mit ausdruckslosem Gesicht, wie sie es von ihm erwarteten, wandte William Black sich wie zufällig zu ihnen um. Dieser jüngere Weatherby schien ein stärkerer Charakter zu sein als der ältere; er strahlte etwas aus, das auf eine völlig andere Herkunft schließen ließ, und obwohl er Reithosen und Stiefel trug und wie alle Viehzüchter pferdenärrisch zu sein schien, bewegte er sich schwerfälliger. »Ich sollte sie aber wirklich suchen«, antwortete William Black hartnäckig. »Der Anwalt hat gesagt, ich muß alles mitbringen, was meinem Onkel gehört hat.« »Es lohnt sich weder die Mühe noch die Zeit«, betonte der jüngere Bruder. »Aber wenn du willst …« Er rutschte steifbeinig vom Geländer herunter und ging auf das Haus zu – steifbeinig und sehr aufrecht. »Der alte Patsy hat sich seit Jahren hier herumgetrieben«, sagte der. ältere Weatherby. »Niemand hat sich je die Mühe gemacht zu fragen, wo er seine Fallen aufstellt. Wenn du sie unbedingt suchen willst, um es diesem Anwalt rechtzumachen, dann solltest du zum Splinter aufbrechen und von dort den Kamelspuren folgen – falls das noch möglich ist, da es ziemlich heftig geregnet hat, seit Tommy draußen war.« »Wo ist dieser Splinter, Mr. Weatherby?« »Nimm den Rawlinna-Weg, draußen beim Camp der Schwarzen. Nach drei Meilen zweigt ein Pfad zum Wasserloch für die Rinder ab. 34
Ihm folgst du ungefähr sechs Meilen. Hinter dem Wasserloch ist der Weg zu Ende, aber du gehst noch zwölf Meilen weiter, bis du zu einer Anhäufung von Felsbrocken kommst, die wir ›Splinter‹ nennen. Kein Wasser, außer in flachen Felslöchern. Du mußt soviel mitnehmen, wie du kannst, und mit deinem Vorrat sparsam umgehen. Das Wasser in den Lehmtümpeln ist für Menschen zu salzig, Kamele können davon leben. Mach auf jeden Fall die Liste fertig, damit wir sie gegenzeichnen können, bevor du gehst. Nimm meinen Rat an, und vergiß die Fallen.« Bony blieb am Geländer stehen wie ein Mann, der plötzlich ein Problem hat. Lucy kam, schlüpfte unter dem Geländer durch, umtanzte die Kamele und sprang mit dem Vertrauen langer Freundschaft zwischen ihren großen flachen Füßen herum. Daß Weatherby um eine Liste von Lonergans Habseligkeiten gebeten hatte, war ganz in Ordnung. Es waren nicht viele Dinge, und Bony hatte nicht die Absicht, den Inhalt eines kleinen, schäbigen Koffers aufzuführen, den er unter der Koje gefunden hatte. Daß sie die Kamele im Hof gehalten hatten, war zu verstehen, auch daß sie betonten, wie schwierig es sein würde, Lonergans Fallen aufzuspüren. Die Haltung der Weatherbys gegen William Black war normal, und normal war auch die Atmosphäre dieser Heimstätte. Etwas jedoch war merkwürdig. Am Tag vorher hatte der Vormann gesagt, daß die wilden Hunde in diesem Jahr die Gegend im Norden der Heimstätte unsicher machen würden. Heute morgen hingegen hatte er Weatherbys Behauptung bestätigt, daß sich die Hunde im Salzpfannen-Land im Westen aufhielten. Bony ging in die Hütte des alten Trappers zurück, ergänzte die Inventarliste und überprüfte die Konserven, die er in Lonergans Satteltaschen und in der Proviantbox fand. Dann nahm er die Einkaufsbeutel aus festem Kaliko und machte sich auf den Weg zum Hintereingang des Hauses, um sich zu besorgen, was er noch brauchte. Ein eingeborenes Hausmädchen bat ihn ins Vorratshaus zu gehen, Mrs. Weatherby würde gleich hinkommen. Er wartete ein paar Minuten vor der Tür, dann erschien die jüngere der beiden Weatherby-Frauen, schloß auf, und sie traten ein. Sie sah ihn fragend, aber sonst völlig gleichgültig an, und er hatte den Eindruck, daß sie nie richtig lächelte. 35
»Also, was willst du?« fragte sie scharf, und er verlangte Mehl, Zukker, Tee, Fleischkonserven und Marmelade, Salz und Soßen, Tabak in Päckchen, Zigarettenpapier und Streichhölzer. »Vielleicht ist Mr. Weatherby einverstanden, das mit der Summe zu verrechnen, die er meinem Onkel schuldet«, schlug William Black vor. Die Frau nickte und schob ihm den Lieferschein zur Unterschrift über den Tresen. »Ich hab’ auch die Liste fertig.« »Dann mache ich eine Abschrift. Warte.« Sie tippte professionell und schnell, während Bony an einem Kistenstapel lehnte und darüber nachdachte, bevor er nach Mount Singular gekommen war. Ihr Mann, der jüngere Weatherby, fiel ihm ein, und wieder klingelte ein winziges Glöckchen in seinem Kopf, aber eine Antwort auf die Frage fand er nicht. Die Maschine spuckte Papier und Kohlepapier aus, Mrs. Weatherby tauchte eine Feder in die Tinte, reichte sie ihm und sagte: »Du kannst sehr gut schreiben, Black.« Das war ein Fehler, ein ganz kleiner Fehler im Charakterbild eines umherziehenden Halbbluts, ein kleiner Makel an einem sonst vollkommenen Werk, und Bony ärgerte sich auch darüber und nicht über die Gedächtnislücke, die das Glöckchen ihm bewußt gemacht hatte. »Hab’ ich in der Schule gern gemacht«, sagte er. »Sonst war ich nicht besonders gut.« Er unterschrieb die beiden Blätter und bekam seine handgeschriebene Liste zurück. »Mr. Weatherby muß auch unterschreiben«, sagte er. »Der Anwalt …« »Bemüh dich nicht, Black.« Ihre großen Augen waren braune Teiche ohne jeden Ausdruck, und Bony wunderte sich über diesen völligen Mangel an Persönlichkeit. »Ich lasse Mr. Weatherby sofort unterschreiben, und du kannst eine Kopie mitnehmen, bevor du gehst. Alle Anwälte sind Wichtigtuer, und du mußt wirklich nicht besonders darauf achten, was so einer sagt.« Es gelang ihm, beschämt zu lächeln, weil er so halsstarrig war. Er bedankte sich bei ihr, trug die Einkaufsbeutel in die Hütte und packte die Ausrüstung zusammen, um die Kamele beladen zu können. Als er in den Hof kam, lief Lucy ihm eifrig entgegen. Der Nasenriemen, eine leichte Leine, an der eine Schlinge befestigt war, wurde Millie geschickt über den Kopf geworfen, den man dann herunterziehen konnte, um die Schlinge durch ihren Nasenring führen zu können. Millie versuchte Bonys rechtes Ohr anzuknabbern, aber 36
das war keine Bosheit. Das lose Ende des Nasenriemens hing auf den Boden herunter, während Curley den Zügel angelegt bekam. Zu Bonys Belustigung nahm der Hund den Riemen vorsichtig zwischen die Zähne und führte Millie zum Hoftor. Curley mußte anders behandelt werden. Er hatte den großen Kopf hoch erhoben, und seine Augen glitzerten rebellisch, als Bony sich ihm näherte. Als Jungtier war er schwer mißhandelt worden und hatte sich bei dem Versuch, brutalen Schlägen auf den Kopf auszuweichen, den Nasenring gewaltsam herausgerissen. Wie eine Katze läßt sich auch ein Kamel niemals völlig zähmen, und wie ein Elefant vergißt es nie etwas. Bony schaffte es, den kurzen Strick zu packen, der vom Halfter herunterhing, und zog daran, um den Kopf des Tieres so weit zu beugen, daß er die beiden Riemen miteinander verbinden konnte. Der Hund ließ Millie am Zaun stehen, kam zurück und bellte Bony an. Er ließ den Riemen fallen, Lucy nahm ihn zwischen die Zähne, und sanftmütig trottete Curley hinter ihr her zu Millie. Lucy konnte nicht die beiden Kamele gleichzeitig führen, deshalb brachte Bony beide zur Hütte und ließ Millie neben dem Reitsattel niederknien, den sie tragen sollte. Sie schien nicht gerade glücklich dabei. Tatsächlich spielte sie ein Spiel, das jeder intelligente Kenner der Kamelpsychologie begriff. Hin und wieder tat sie so, als ob sie aufstehen wollte, und als Bony ihr den Sattel auflegte, täuschte sie Schmerzen vor; und sie stöhnte protestierend, während die Sattelgurte unter ihrer Brust und dem schlangengleichen Hals festgeschnallt wurden. Sie tat so, als erleide sie eine schwere Demütigung, und das ganze Schauspiel galt ganz allein Curley. Curley war der böse Junge, der, wenn er an der Reihe war, einen Wutanfall bekommen und diesen Zweibeiner ärgern würde, der sie zwang zu arbeiten. Pferde können nicht so denken. Im Vergleich mit dem Kamel ist das Pferd hirnlos. Wie vorauszusehen war, war Curley zum Kampf bereit, als Bony sich ihm zuwandte. Er bockte und protestierte laut, als das Halfter heruntergezogen wurde und man ihm befahl, niederzuknien. Er fiel auf ein Knie, stand auf, kniete sich auf das andere. Er brüllte und tanzte, und Milly sah zu, und ihre Augen fragten Bony deutlich: »Na, wie gefällt dir das?« 37
Bony nahm ganz gelassen einen Strick und warf ein Ende hinter Curleys Beine, und Curley wußte, wenn er noch länger Terror machte, würde er gefesselt. Also kniete er, ohne daß Bony ein Wort sagen mußte, nieder, grunzte und wartete darauf, daß man ihm seinen Packsattel auflegte. Das Spiel war zu Ende, und Millie schnaubte verächtlich. Ein Löwe? Bah! Auch nur ein Lämmchen. Die Last mußte ganz genau ausbalanciert werden. Zu beiden Seiten des mit Stroh gefüllten Packens hingen die Satteltaschen und Wasserkanister. Obenauf lagen die Lebensmittelvorräte, der Seesack und das Zelt. Dann wurde alles festgezurrt. Unter den Strick wurde die Axt geschoben, und als Gegengewicht hingen auf der anderen Seite ein Dutzend eiserne Zeltheringe und die Teleskopstange. Der eiserne Reitsattel war mit einem Kissen gepolstert. Man saß hinter dem Höcker und vor sich hatte man die Proviantbox, die das Essen für den Tag enthielt. Ein anderer Beutel mit einer Bratpfanne und Kochgeschirren war ebenfalls am Sattel befestigt, und das Gleichgewicht dazu stellte das Gewehr her, das auf der anderen Seite festgeschnallt war. Das Bepacken der Kamele brauchte seine Zeit. Die Ausrüstung war in ziemlich gutem Zustand, und das Gewehr war eine Kostbarkeit und der ganze Stolz des alten Lonergan gewesen. Eine Savage .25, eine Hochleistungswaffe, die in einem weichen Lederetui steckte. »Scheint, als wüßtest du wirklich, wie man mit den Biestern umgeht«, sagte der ältere Weatherby, der näher gekommen war. »Hier ist die unterschriebene Kopie deiner Liste. Bist du noch immer entschlossen, die Fallen des Alten zu suchen?« Bony nickte und schaute auf seine Füße, sah dann auf und wich den Blicken des großen Mannes aus. »Muß es versuchen, Mr. Weatherby. Einfach, um sagen zu können, ich hab’s getan. Ich nehm’ den Weg hinter dem Camp der Schwarzen und nach drei Meilen die Abzweigung nach Westen bis zum Wasserloch. Ist das richtig?« »Das ist richtig. Und zwölf Meilen hinter dem Wasserloch stößt du auf den Splinter. Hinter dem Wasserloch gibt es keine verläßliche Wasserstelle mehr. Manchmal trocknen alle aus.« »Trotzdem versuch ich’s.« »Wenn du mußt.« 38
Vorsichtig bis zuletzt, scharrte Bony mit der Stiefelspitze im Staub, sah sich um, als sei er traurig, die Heimstätte verlassen zu müssen, lächelte scheu und sagte: »Schätze, ich geb’ mir vom Wasserloch aus einen Tag, um die Fallen zu finden, und zieh’ dann weiter nach Rawlinna.« »Gute Idee. Reine Zeitverschwendung, nach ihnen zu suchen, Black.« Bony trieb die Kamele an, und sie kamen schwerfällig auf die Beine. Er band Curleys Zügel am Reitsattel fest, nahm Millies Nasenriemen und führte seine kleine Karawane am Wagenschuppen und an den Männerquartieren vorbei, die unbewohnt schienen, umrundete dann das Camp der Aborigines mit seinen Sackhütten, Schuppen mit Pultdächern und rauchenden Lagerfeuern, an denen Männer, Frauen und Kinder hockten und sehr interessiert den Exodus des fremden Mannes aus Diamantina beobachteten. Zehn Minuten später ging Bony noch immer zu Fuß, den Nasenriemen locker in der Armbeuge. Millie hatte sich wiederkäuend mit ihrem Geschick abgefunden. Curley stöhnte immer noch. Lucy rannte voraus und schaute sich immer wieder um. Und so begann die Suche nach Lonergans Fallen, nach dem Camp, das er Big Claypan genannt und über dem er den unbekannten Hubschrauber beobachtet hatte – die Suche nach einem Staubkorn in einem Vakuum.
Lonergans Freunde
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s ist nicht angenehm zu wissen, daß man verfolgt wird. Schritte, die ihren Rhythmus verändern, wenn man es tut, haben etwas merkwürdig Unheimliches, besonders wenn die Nacht dunkel und die Straßenbeleuchtung schlecht ist. Bony konnte keine Schritte hinter seiner kurzen Karawane hören, denn der Boden des gewundenen Pfades war sehr weich, sein Verdacht war aufgekeimt, weil er erwartete, verfolgt 39
zu werden, und die Vögel bestätigten ihm immer wieder, daß er es nicht zu unrecht vermutete. Der Weg wand sich wie die Spur einer Schlange durch Gruppen von zwergwüchsigen Eukalyptusbäumen, führte hin und wieder um einen Felsbuckel herum, durchquerte flache Mulden, dicht bewachsen mit waitabits – Pflanzen mit hakenförmigen Dornen, die sich an der Kleidung festhängten – und den nach Himbeeren duftenden Hölzern, aus denen die Aborigines ihre Speere machten. Als sie etwas mehr als eine Meile zurückgelegt hatten, lief Lucy seitwärts in den Busch und wartete darauf, daß ihr die Karawane folgte. Bony hielt nicht an und rief sie auch nicht, sondern ging geradeaus weiter, und sofort begann Millie sanft am Nasenriemen zu ziehen und leise zu protestieren. Curleys Widerstand war noch deutlicher. Er brüllte, wich auf die Seite aus, tänzelte und schob die Hinterhand unter die Last, weil er hoffte, sie würde zu rutschen beginnen und herunterfallen. Sorgfältig vermied es Bony, sich für den Seitendrall seiner Tiere zu interessieren und ging entschlossen weiter geradeaus, sah sich jedoch durch Curleys Verhalten gezwungen, ständig zurückzuschauen, wobei er sich gleichzeitig bemühte festzustellen, ob er irgendwo ein Anzeichen dafür entdeckte, daß ihm tatsächlich jemand folgte. Für die Rebellion eines Kamels gibt es zwei Gründe: wenn es die heimische Koppel verlassen muß und wenn es in eine Gegend geführt wird, in der es noch nie war. Wie der Hund, wollten auch Millie und Curley die Abzweigung nehmen – einen jetzt vom Regen völlig ausgewaschenen Pfad –, weil das der Weg war, den der alte Lonergan mit ihnen gegangen war. Nach Norden, nicht nach Westen ins Land der Salzpfannen. Die Kamele resignierten, als der Weg sich gabelte und der Hauptstrang nach Süden weiterführte. Bony folgte dem schlechteren Weg, der ihn zu dem sechs Meilen entfernten Wasserloch bringen würde. Er beschloß, zu Fuß weiterzugehen, da er so die Kamele besser lenken konnte, die jetzt zwar fügsam waren, aber noch immer Feuer in den Augen hatten. Ab und zu blieb er stehen, um die Stricke von Curleys Last zu überprüfen, und tat so, als fürchte er, die Ausrüstung könnte herunterrutschen, während er den Vögeln lauschte, deren beharrliche Warnrufe ihn 40
überzeugten, daß jemand hinter ihm her war, der kontrollierte, ob er auch wirklich zum Wasserloch ging. Warum dieses Interesse? Der Vormann hatte gesagt, daß die Hunde nördlich der Heimstätte jagten, und später hatte er – um die Weatherbys zu unterstützen – behauptet, daß sie im Westen besonders zahlreich seien; außerdem soll ein Aborigine die Fährte von Lonergans Kamelen westlich eines senkrecht aufragenden Felsblocks entdeckt haben, den sie Splinter nannten. Warum diese Mühe, ihn, William Black, daran zu hindern, nach Norden zu ziehen? Lonergan hatte seine Fallen ganz sicher nördlich der Heimstätte aufgestellt – das hatten Lucy und die Kamele ihm sehr deutlich gesagt. Gold! Steckte Gold hinter dem Komplott, William Black aus dieser Gegend zu vertreiben und ihn gewissermaßen nach Rawlinna abzuschieben? Vielleicht war Patsy auf Gold gestoßen. Er konnte mit den Weatherbys über seinen Fund gesprochen haben, obwohl es höchst unwahrscheinlich war, daß er den Fundort preisgegeben hatte. Oder hatten sie, obwohl in der Heimstätte alles so normal wirkte, irgend etwas mit dem geheimnisvollen Hubschrauber zu tun? Sie hatten Easter gegenüber nie erwähnt, daß Lonergan diesen Hubschrauber gesehen hatte, aber eine solche Buschneuigkeit hätte er kaum für sich behalten. Aus Gründen, die nur ihnen bekannt waren, hatten die Weatherbys beschlossen, die Sache mit dem alten Mann sterben zu lassen, und sicher wußten sie nichts von seinem Tagebuch. Auf jeden Fall hatte man ihm, William Black, einen unsichtbaren Begleiter mitgegeben. Das stand jetzt fest, denn obwohl manche Vögel notorische Lügner sind, wenn es um sie selbst geht, belügen sie sich gegenseitig nie, falls es etwas über die Aktivitäten von Zwei- und Vierbeinern wie Hunden und Kamelen zu berichten gibt. Die Vögel sagten Bony auch, daß der Verfolger ungefähr drei Meilen vor dem Wasserloch aufgegeben hatte; trotzdem mußten auch später noch Beweise dafür zu finden sein, daß er und die Kamele tatsächlich beim Wasserloch gewesen und auch weitergezogen waren. Daher sorgte er dafür, daß die Kamele im sandigen Boden sehr deutliche Fährten hinterließen. Nach zwei Uhr erreichte er das Wasserloch, das keine Strömung hatte, sondern mit Pumpe und Windmühle betrieben werden mußte. Es war keine schöne Gegend, fast dürr, mit tristen Farben. Der Busch war 41
verkümmert und bot dem Vieh kaum Nahrung. Es war Wasser in den Trogrinnen, aber seit dem letzten Regen vor ein, zwei Wochen waren keine Wildhunde hiergewesen, und auf dem Weg von der Heimstätte hierher hatte Bony ebenfalls keine Spuren gesehen. Nach dem Essen und einer Stunde Rast für die Kamele, führte Bony die Tiere direkt nach Westen. Wie Weatherby gesagt hatte, gab es keinen Weg mehr, und je weiter er kam, um so trockener wurde die Gegend. Sechs Meilen hinter dem Wasserloch beschloß Bony am Rand einer Bodensenke sein Nachtlager aufzuschlagen. Er nahm den Tieren die Last ab und führte sie in die Salzmelden, wo er ihnen die Vorderfüße fesselte und Glöckchen umhängte. Wie gewohnt, standen sie sich gegenüber und unterhielten sich mit Blicken, tauschten unverkennbar ihre Meinung aus – über diesen neuen Herrn, das häßliche Land, in dem möglicherweise scheußliche Überraschungen auf sie warteten, und über das verdammte Leben im allgemeinen. Lucy legte sich neben Bonys Feuer und beobachtete die beiden. Als die Konferenz zu Ende war, taten die Kamele so, als wären sie völlig zufrieden, bis sie glaubten, daß sie der Mann vergessen hatte. Sie standen auf und trabten nach Osten zurück, zurück zur heimischen Koppel. Bald waren sie im niedrigen Busch nur noch am Geläut ihrer Glocken auszumachen. Ein beladenes Kamel geht konstant mit einer Geschwindigkeit von zweieinhalb Meilen pro Stunde. Mit Fußfesseln läuft es eine Meile pro Stunde, wenn es von dem unstillbaren Drang getrieben wird, an einen bestimmten Ort zurückzukehren. Australien ist ein Land, in dem Entfernungen in Stunden gemessen werden und nur der Kundige hoffen darf, sicher von einem Ort zum anderen zu gelangen und Wasser zu finden. Auch hier gab es nichts, woran man sich orientieren konnte, nur graubraunes Dickicht; dazwischen ab und zu ein grün-schwarzer Baum, der das Gestrüpp ein wenig überragte. Hier fand man nicht einmal Kaninchen, und die Hunde und Füchse hatten sich längst verzogen, davon war Bony überzeugt. Vor Sonnenuntergang holte er die Kamele ins Camp zurück und band sie über Nacht an die starken Stämme zweier zwergwüchsiger Bäume. Der leichte Westwind schlief ein, und nur das Scheppern einer Glocke brach hin und wieder die Stille. Es war eine verlassene Gegend, aus der sogar die Vögel geflohen waren. 42
Am nächsten Morgen brachen sie vor Sonnenaufgang auf. Beide Kamele grollten noch. Für den Fall, daß jemand in der Heimstätte sich aufmachte, um William Blacks erstes Nachtlager aufzuspüren, führte Bony die Tiere direkt nach Südosten und in Richtung des fernen Rawlinna, so als hätte er sich entschlossen, die Suche nach den Fallen aufzugeben und nach Norseman zurückzukehren. Zwei Meilen folgte er diesem Kurs, bevor er sich nach Westen wandte, nach einer weiteren Meile nach Norden weiterging und eine riesige Schleife zu’ ziehen begann, die ihn ungefähr zwanzig Meilen nördlich der Heimstätte von Mount Singular in die Nullarbor-Ebene zurückführen würde – weite Entfernungen, viele Meilen und viele Stunden, um eine Fährte zu verwischen. Sofort, als sie sich nach Norden wandten, wurden die Kamele zu kleinen »Lord Fontleroys«, obwohl sie Hunger und nichts zum Wiederkäuen hatten. Lucy zeigte ihre Glückseligkeit dadurch, daß sie ihnen vorauslief. Die Sonne schien warm, die Fliegen waren weniger lästig, und alles war in Ordnung. Bony konnte jetzt reiten, und Millie ging mit einem mutwilligen Hüftschwung wie ein Mädchen, dem es Spaß macht, seinen Rock wirbeln zu lassen. Curley trottete schwankend hinterher, Kopf hoch, mit glänzenden Augen, hungrig und überhaupt nicht mehr widerspenstig. Gegen vier Uhr erreichten sie offene Grasfluren und dünne Akaziengürtel, die in goldener Blüte standen, und ein paar Minuten später setzte sich Lucy plötzlich und sah zu Bony auf. Sie saß auf einem Kamelpfad, den der Regen nicht ganz weggeschwemmt hatte, und hier äußerte Millie den Wunsch, diesem Pfad zur Heimstätte zu folgen. Bony mußte absteigen, um sie zu überreden, mit ihm nach Norden zu gehen, und eine halbe Stunde später sichtete er fünf Sandelbäume, hinter denen nur noch Himmel war. Diese fünf mächtigen Bäume schienen von großen Felsblöcken bewacht zu werden, und zwischen den Blöcken entdeckte Bony Beweise dafür, daß hier ein Kameltreiber kampiert hatte. Der Platz lag an der Spitze eines Vorgebirge mit Blick auf die Nullarbor. Hier gab es die immergrünen Gänseblümchen, den sogenannten Flanellbusch – eine Pflanze mit samtigen weißen Deckblättern – üppige, dornige waitabits und andere Delikatessen für Kamele, und Bony 43
konnte Millie und Curley gar nicht schnell genug von ihrer Last befreien und ihnen die Fußfesseln anlegen. Hier war das im Tagebuch erwähnte Sandalwood Camp – das zweite Camp hinter der Heimstätte. In einer von drei großen Steinen eingefaßten natürlichen Feuerstelle lag die Asche vieler Feuer, die der einsame alte Patsy Lonergan angezündet hatte, und hier konnte Bony sich zum erstenmal ein Bild vom Charakter dieses Mannes machen. Erst ganz am Ende dieses langen Tages band er die Kamele an zwei Bäumen fest. Sie waren müde, satt, zufrieden und bereiteten sich für die Nacht vor. Als es dunkel war, sah er ihre hellen Leiber, und sie sahen Bony; er hockte am Feuer, knetete Teig und legte ihn schließlich auf ein Bett heißer Asche. Auf einmal wurde zuerst Curley und dann auch Millie unruhig, sie standen auf, legten sich hin, standen wieder auf und wurden immer aufgeregter. Die Ameisen konnten nicht daran schuld sein. Hunger konnten sie nicht haben. Und sie waren darauf abgerichtet, drei Tage ohne Wasser auszukommen, also waren sie auch nicht vor Durst nervös. Während das Brot buk, öffnete Bony eine Dose Fleisch für sich und den Hund. Er hatte die Proviantbox nahe ans Feuer gestellt und Lonergans Tischtuch, einen Quadratmeter Segelleinen, davor ausgebreitet. Lucy legte sich neben ihn und sah ihn unverwandt an, aber als er ihr das Fleisch in der offenen Dose anbot, rümpfte sie beleidigt die Nase. Bony aß, und sie sah ihn immer noch erwartungsvoll an, bis er zu wissen glaubte, was sie störte. Das Fleisch mußte geschnitten und auf einem Aluminiumteller serviert werden. Sie aß manierlich und bettelte dann um ein Stück Brotrinde. Bony staunte, als sie die Rinde sofort zu Curley hinübertrug. Curley hörte auf zu stöhnen. Lucy kam wieder, holte sich noch ein Stück Brotrinde und brachte es Millie. Danach legten sich die beiden Tiere nieder und rührten sich bis Tagesanbruch fast nicht mehr. So lernte Bony eine Facette von Patsy Lonergans Charakter kennen. Sein Hund mußte von einem Teller essen, und seine Kamele bekamen jeden Abend ein Stück Brotrinde, das ihnen der Hund brachte. Bestimmt hatte der alte Mann auch mit seinen Tieren gesprochen. Natürlich war es eine einseitige Unterhaltung, wenn man Meinungen und Fragen und Antworten verbal ausdrückte, aber nicht unbedingt ein einseitiger Gedankengang. 44
Die Tiere waren jetzt an einem Ort, den sie kannten, und forderten die Aufmerksamkeit, die sie hier gewohnt gewesen waren. In der vergangenen Nacht, im Salzpfannenland, hatten der Hund keinen Teller und die Kamele keine Brotrinden verlangt. Nachdem er die wenigen Utensilien abgespült hatte, stocherte Bony mit einem Stock in der Asche und holte das inzwischen perfekt gebakkene Brot heraus. Er konnte das leise Gurgeln hören, mit dem beim Wiederkäuen die Nahrung durch den langen Hals der Kamele ins Maul zurückglitt. Die Sterne waren so hell wie Lampen. In der Ferne bellte ein Fuchs, und in einem Sandelbaum rief eine Boobook-Eule. Bony hockte neben dem winzigen Feuer, wie es der Mensch seit Urzeiten tat, und schob ab und zu die brennenden Enden der Hölzer in die Glut. Es ist eine Zeit zum Meditieren, eine Zeit geistiger Entspannung, in der sich einem oft ungerufen wichtige Gedanken und Bilder aufdrängen. In seinem Unterbewußtsein lauerten Fragen, die ihm im Lauf des Tages in den merkwürdigsten Augenblicken durch den Kopf geschossen waren. Warum hatte man versucht, ihn von dem Gebiet fernzuhalten, das im Norden an die Nullarbor-Ebene grenzte? Wie man es auch drehte und wendete, es war ein Niemandsland. Uran statt Gold lautete hier vielleicht die Antwort. Aber wenn es sich um Gold oder Uran handelte, wozu dann den nirgends registrierten Hubschrauber? Gab es diesen Hubschrauber überhaupt? Oder hatte die Phantasie Lonergan die Notiz über den Hubschrauber diktiert, und war es Zufall, daß das ausgerechnet in der Nacht geschah, in der die Frau verschwand? Tatsache oder Phantasie: die Frage mußte auf ein Minimum reduziert werden, indem man sich über Lonergans geistig-seelische Verfassung klarwurde. Aus den Berichten über Lonergan, die er gesehen hatte und die von seinen Verwandten, dem Polizeibeamten aus Norseman und dem Hotelbesitzer stammten, ergab sich nur ein Bild: Lonergan war alt, aber körperlich noch kräftig und zäh gewesen. Nach langer Abstinenz konnte er Männer unter den Tisch trinken, die nur halb so alt waren wie er, und er konnte sich immer deutlich artikulieren, egal wie betrunken er war. Der Polizeibeamte aus Norseman hatte ausgesagt, Lonergans geistig-seelische Verfassung sei die eines alten Mannes gewesen, der viel zu lange allein gelebt hatte; seine Gedanken seien abgeschweift, wenn 45
man ihm eine Frage stellte, und das sei kein absichtliches Ausweichen gewesen. Und genau das war für Bony die Krux. Das Tagebuch war ein Beweis für bewußt irreführende Eintragungen über seine Wanderungen, aber das konnte einfach eine Gewohnheit vieler Jahre sein. Dennoch durfte man eventuelle Begleiterscheinungen seines einsamen Lebens nicht außer acht lassen, denn Einsamkeit beschwört so manches herauf, was ein professioneller Psychologe nie in Betracht ziehen würde. Damit mußte sich Bony auseinandersetzen, bevor er entscheiden konnte, ob die Eintragung auf Tatsachen beruhte oder nicht. Am nächsten Tag ließen Kamele und Hund jene Nervosität vermissen, die sie beherrscht, wenn sie von ihren Gewohnheiten abweichen müssen. Millie fiel widerspruchslos auf die Knie und gestattete Bony, hinter ihrem Buckel in den Sattel zu steigen. Curley sah sich gnädig im Lager um und beschloß, sich anständig zu benehmen. Lucy musterte Mann und Tiere und übernahm dann die Führung – nach Norden. In der Familie herrschte Harmonie. Die Sonne ging da auf, wo sie aufgehen sollte, und der Himmel war wolkenlos. Eine Stunde lang zogen sie auf dem Grünstreifen mit Blick auf die Ebene weiter, und dann führte Lucy sie den Abhang hinunter zu einem schmalen Wasserlauf, von dem aus sie auf die Ebene gelangten und sich wieder nach Norden wenden mußten. Bony mußte sich jetzt ausschließlich auf den Hund und die Kamele verlassen, die ihn führen würden. Lonergan hatte geschrieben: Nichts in der Falle am SheOak Rock. Sie kamen zu einem großen Felsen, der aussah, als hätte er versucht einen Baum zu umarmen. Es war ein Känguruhbaum, und am Fuß des Stammes war eine Falle, in der ein goldener Fuchsrüde lag. Lucy schnupperte an dem Kadaver, sah dann zu Bony auf und zog die Oberlippe hoch. Wie William Black, der vielleicht noch immer verfolgt wurde, rutschte Bony von seinem hohen Sattel herunter und häutete den Fuchs ab; der Balg mochte zur Zeit ungefähr zwei Dollar wert sein. Die Falle hing im Baum. Ohne Millie niederknien zu lassen, hievte sich Bony in den Sattel zurück, und sie setzten ihren Weg fort. Er tat nichts, um sie anzutreiben oder zu führen. Das Kamel folgte dem Hund, und manchmal lief Lucy hinter Curley her. 46
An einer Stelle wandte sich Millie in Richtung Berg und blieb vor einem jahrealten Erdrutsch stehen. Bony war verblüfft, denn in Lonergans Tagebuch stand nichts über einen solchen Platz. Demnach gab es hier auch keine Falle. Er sah sich um, stellte fest, daß im Geröll Quarz enthalten war und daß Lonergan hier haltgemacht hatte, um ein paar Stücke mitzunehmen und auf ihren eventuellen Goldinhalt zu untersuchen. Die Kamele hatten es nicht vergessen, für sie war es ein Rastplatz. Das gleiche passierte kurz vor Sonnenuntergang. Beide Kamele blieben auf einem flachen Vorsprung mit einer Unterlage aus weißem Sand stehen, der wie ein gefährlicher Überhang aussah. Bony hielt es für keine besonders gute Idee, hier zu kampieren, aber Curley kniete nieder und gähnte. Millie sah sich nach ihrem Reiter um und tat es Curley nach, als Bonys hoosta ausblieb. Er wäre gern noch weitergezogen, aber die Augen der beiden Kamele sagten deutlich: Hier haben wir das letzte Mal auch kampiert. Also bitte! Von ihren Lasten befreit und mit gefesselten Füßen zwischen gutem Futter stehend, hielten die Kamele wie üblich ihre Konferenz ab und wandten sich, als sie sich einig waren, nach Süden und trollten sich. »Wenn ihr euch nicht hinlegt«, rief Bony ihnen nach, »dann gehen wir weiter, bis es dunkel ist!« Sie schauten sich nicht einmal um. Curley legte ab und zu eine kleine Pause ein, um ein Maulvoll Futter abzurupfen, aber Millie ging stets weiter, bis sie ungefähr zweihundert Meter voraus war. Dann merkte Curley, daß sie ihn zurückließ, brüllte und stürmte mit gefesselten Füßen vorwärts, um sie einzuholen. Nach einer Weile verschwanden sie, und Bony lief mit Nasenriemen und Halfter hinter ihnen her. Er fand sie in einer schmalen Spalte zwischen kahlen Felswänden. Sie schauten sich um und warteten mit offensichtlicher Ungeduld auf ihn. Dann fand er den Schacht im Fels, mit unbehauenen Ästen abgedeckt und mit Steinplatten beschwert, damit keine wilden Tiere hineinfielen und das Wasser tief unten verunreinigten. Das bedeutete, daß er ins Camp zurück und den Eimer holen mußte. Endlich legten sich die Kamele hin und verbrachten eine halbe Stunde damit, nasses Futter wiederzukäuen, während Bony heißen Tee trank und die Schatten der Klippen beobachtete, die sich auf der Ebene 47
Rennen lieferten. Bald war es dunkel, und das Gebimmel der Glöckchen meldete ihm zufriedenstellend, daß die Kamele in einer Entfernung von etwa hundert Metern weideten. Dann veränderte sich der Glockenklang und sagte ihm, daß die Tiere schnell ins Camp zurückkamen, um sich von Lucy, die schon wartete, die allabendliche Brotrinde servieren zu lassen. Und so führten die Tiere Bony ohne Weg und Steg zu Patsy Lonergans Camps. Ins Lost Beil-Camp. In ein nächstes, das laut Tagebuch Menzie’s Delight (Entzücken) hieß; doch was Mr. Menzie an diesem kahlen, ungeschützten Ort entzückt haben mochte, war Bony unbegreiflich. Sie führten ihn zum Three Saltbushes-Camp, wo ein Dingo die Falle mehr als eine Meile weit verschleppt hatte; am nächsten Tag zum Big Claypan-Camp, das von der »Küste« nicht eingesehen werden konnte und wo der alte Lonergan seinem Tagebuch zufolge den Hubschrauber beobachtet hatte. Bony hatte sich die Stunden notiert, die sie unterwegs gewesen waren, und die Summe mit der Durchschnittsgeschwindigkeit der Kamele multipliziert. Seiner Schätzung nach befand er sich etwa neunzig Meilen nördlich von Mount Singular.
Hüte dich vor Ganba
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n dieser grauen und purpurfarbenen Welt, die scheinbar eine völlig flache runde Scheibe war, gab es nichts, was höher gewesen wäre als Bonys Kopf. Den ganzen Tag waren Mensch und Tier durch dieses Meer von Salzmelden gewandert, die nie höher reichten als bis zu Curleys Knien, und weil es weit und breit nichts Gegenständliches gab, konnte Bony sich das Gefühl, in Bewegung zu sein, nur dadurch bewahren, daß er immer auf den Busch starrte. Kurz nach fünf Uhr, als der Busch im Westen purpur- und im Osten silberfarben war, tauchte vor ihnen eine dünne dunkle Linie auf, die 48
allmählich dicker wurde und sich am Ende zu einer Bodensenke mit einem Durchmesser von etwa einer halben Meile weitete, deren ebener Grund etwa drei bis vier Meter tiefer lag als die Nullarbor. Bony vermutete, daß dies das Bumblefoot Hole war, und nachdem er die Senke durchforscht hatte, entdeckte er, warum Lonergan sie so getauft hatte. Er fand die Überreste eines seit langem toten Dingos, der in die Falle geraten war und sich wieder befreit hatte. Nach Tagen und Nächten völliger Schutzlosigkeit auf der Ebene war Bumblefoot Hole das ideale Camp, das die Kamele noch mehr zu schätzen wußten als der Zweibeiner. Lucy wagte sich als erste den steilen Abhang hinunter, und Bony stellte später fest, daß dies der für die Kamele einzig mögliche Zu- oder Ausgang war. Auf dem Boden der Senke gab es ausreichend Futter, und im Tagebuch wurde erwähnt, daß hier auch ein Wasservorrat vorhanden war. Rechts vom Zugang lagen die vom Regen verwaschenen Aschehäufchen von Lonergans Feuern, und in der Felswand waren mehrere kleine Nischen, von denen eine mit trockenem Buschwerk zugestopft war, das nur der alte Trapper hineingesteckt haben konnte. Nachdem die Tiere Bony zu dem mit Wasser gefüllten Felsenloch geführt und er den Teekessel übers Feuer gehängt hatte, untersuchte Bony die Nischen. Es gab drei in diesem Kreisabschnitt, und in einer fand er eine Zehn-GallonenÖltonne mit abgeschnittenem Boden, der als Deckel für die Felsnische diente. In einer zweiten hatte Lonergan seinen Wasservorrat aufbewahrt. In der ersten Nische lagen Tabak und Streichhölzer in luftdichten Dosen, Fleisch- und Fischkonserven, Patronenschachteln für die Savage, Flaschen mit Strychnin, Schmerztabletten und Leberpillen, Leder für Riemen, ungegerbte Häute für Fußfesseln und dünne Stricke für Führleinen. Was für ein Lager! Was bewies das? Es bewies, daß Lonergan hier nicht nur einmal durchgekommen war, sondern daß dies ein richtiger Standort war. Das bestätigten auch seine gut geschützten Wasserlöcher. Bumblefoot Hole war wirklich ein Loch, ein Ort, an dem man sich verstecken konnte, der Sicherheit bot vor dem Etwas, vor dem nichts verborgen werden konnte, nicht einmal die Gedanken, die einem Mann durch den Kopf gingen. Hier anzukommen war ungefähr so, als betrete 49
man ein Haus, das warm und still ist, nachdem man die Tür hinter sich zugemacht und den Sturm ausgeschlossen hat. Einmal hier, beginnt ein Mann die Wirkung jener im Raum schwingenden kahlen, leeren Welt zu spüren. Er erinnert sich, wie er über die Schulter zurückblickt und unbewußt zurückweicht vor dem Etwas, das ihm folgt, sich anschleicht, ihn beobachtet, wartet … Eine alte Fabel fällt ihm ein, die sich die Abos über Ganba erzählen, und im Moment ist er ganz und gar nicht in der Stimmung, die Lippen zu verziehen und den dummen, unbedarften Schwarzen zu verspotten. Wäre er ein Greenhorn, der zufällig auf dieses Loch gestoßen war, würde er bleiben und verhungern, nachdem er Lonergans Vorräte verzehrt hätte, weil er verdammt zuviel Angst hätte, von hier wegzugehen. Der alte Patsy Lonergan war gegen Ganba abgehärtet gewesen. Er hatte sich mit einer Schutzschicht umgeben. In seiner kahlen Welt gab es Gefährten – zwei Kamele und ein Hund –, mit denen er sprechen konnte und die seine Autorität anerkannten; dadurch hatte er sich ein Gefühl für Werte bewahrt. Zweifellos hatte er Stimmen gehört und seinerseits mit ihnen gesprochen, aber er war geistig nicht so verwirrt gewesen, daß er in seiner Wachsamkeit gegen die Ebene nachgelassen hätte. Lonergan hatte in seinem Tagebuch weder übertrieben, noch war er ungenau gewesen, alles stimmte exakt, von diesem Loch an bis zurück nach Mount Singular. Das festigte Bonys Überzeugung, daß die Notiz über den Hubschrauber auf Tatsachen beruhte. Zwar hatte der alte Mann nicht geschrieben, welche Richtung die Maschine genommen hatte; doch wenn man annahm, daß es einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Myra Thomas gab, lag die Vermutung nahe, daß sie nach Norden geflogen war. Was lag im Norden? Nur die Nullarbor-Ebene, und immer mehr davon, ein weites Gebiet, bestehend aus Lehmpfannen und Wasserläufen, das allmählich zur sogenannten Great Inland Desert anstieg, die sich fast bis zur nordaustralischen Küste erstreckt. Am nächsten Tag blieb Bony im Bumblefoot Hole. Er wusch seine Sachen und machte sich die Mühe, etwas zu kochen, das Ähnlichkeit mit einem Irish Stew hatte. Einmal stieg er mit dem Gewehr den Kamelpfad zum Klippenrand hinauf und hoffte, eines der Känguruhs zu sehen, deren frische Fährten er im Hole entdeckt hatte. Er beschäftigte sich zwei Stunden mit den alten Tagebüchern und Papieren aus dem 50
zerbeulten Koffer, den er in der Hütte in Mount Singular unter. Lonergans Koje hervorgeholt hatte, aber sie gaben nichts her außer der Information, daß der Trapper auch noch anderswo Fallen aufgestellt hatte. Für Bony hatte der Tag etwas von einem Sonntag, denn die meisten Buschmänner waschen ihre Sachen am Sonntagvormittag und lesen am Nachmittag die Renn-Journale. Als die Sonne sank, ging er wieder auf Känguruhjagd und entdeckte zu seiner größten Zufriedenheit in etwa zweihundert Meter Entfernung vier weibliche Tiere, zwei größere Jungtiere und zwei junge Böcke. Schon ließ das Licht allmählich nach. Es war windstill. Die Oberfläche der Ebene schien in ein schnell dunkler werdendes Grün einzutauchen, und der Himmel wurde zu einer Kuppel aus mattem Elfenbein. Nachdem er den richtigen Platz gefunden hatte, pfiff Bony schrill, damit die Känguruhs sich aufrichteten. Der Knall blieb ohne Echo, glich einem einzigen lauten Peitschenschnallen. Bony legte das Gewehr vorsichtig neben einen Felsbrocken und ging .dann zu dem erlegten jungen Bock. Er häutete ihn, ließ das Vorderviertel liegen und stellte, als er zu seinem Camp absteigen wollte, fest, daß das Stück Wild in der jetzt einheitlich schwarzen Oberfläche der Ebene verschwunden war. Er selbst bewegte sich in einem riesigen Raum, der keine Wände und eine Decke aus gewölbtem Blau hatte. Der Boden des Raums war gepolstert und das nicht nur, damit kein Geräusch heraus- sondern auch keins hineindrang. Geräusche waren eine Fata Morgana für die Ohren, und die Stille Realität und Drohung; sie drückte auf die Ohren, daß man das Herz arbeiten hörte wie eine Maschine – die es ja auch ist. Am Rand der Senke blieb er stehen, grüßte den roten Stern seines Lagerfeuers und freute sich über das Klirren der Ketten, mit denen die Kamele angepflockt waren. Die jüngsten Eindrücke beeinflußten ihn noch immer, als ein hauchfeines Geräusch ihn an Ort und Stelle festnagelte. Es kam nicht von Lucy, denn sie lag am Feuer. Es schien aus einem der Sterne zu kommen, die zum Kreuz des Südens zeigten. Der Laut glitt jetzt zu den Schicksalsschwestern, eine geflüsterte Drohung – ooa-i … a-r-a-i … oo-oo … ish-ah. Das Geräusch wurde lauter. Es passierte den Rand der jetzt unsichtbaren Welt. Es brauste auf Bumblefoot Hole und den Mann zu, hielt plötzlich an, drehte nach Norden ab, stöhnte und grunzte unter der Erde, tauchte auf und raste immer schneller über 51
die Ebene. Wohin? Man konnte es nicht sagen. Dann flüsterte es, und das Flüstern wurde lauter, wurde zu einem Dröhnen und Rumpeln, das sich schnell näherte und dann unmittelbar hinter Bonys Rücken mit unendlichem Wohlbehagen aufseufzte. Die Kamelketten klirrten weiterhin melodisch, und der Hund schlief ungestört am Feuer weiter. Bony drehte sich um, verbeugte sich vor der Nullarbor-Ebene und sagte: »Meine besten Grüße, Ganba! Ein andermal. Gute Nacht.« (Einbildung! Das ist ein Bericht, keine Phantasie.) Die Nacht war mild, und Bony schlief, bis die Kamelketten ihm verrieten, daß die Tiere sich erhoben, um zu frühstücken. Bony aß gegrillte Känguruhkoteletts und grillte auch Fleisch für Lucy, und als die Sonne den Horizont anzündete, führte er die Kamele aus Bumblefoot Hole hinaus. Er ließ Millie niederknien, stieg auf, machte es sich im Sattel bequem und wartete. Lucy lief ein Stückchen nach Süden, Bony schüttelte den Kopf und rief sie. Dann rannte sie nach Norden, und Millie machte kehrt und trabte hinter ihr her. Als die Sonne anzeigte, daß es kurz nach elf war, spürte Lucy ihr erstes Kaninchen auf, das Bony zu sehen bekam, seit er die Heimstätte verlassen hatte. Lucy hatte keine Chance. Millie legte die Ohren an, kippte sie wieder nach vorn und kümmerte sich zehn Minuten lang nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Dann blieb sie stehen und fragte etwas. Curley schloß auf und kam an ihre rechte Seite, von wo man einen breiten Graben einsehen konnte, der mit einem Streifen Blaubusch bewachsen war. Das war der im Tagebuch erwähnte Bluebush Dip, was auch die Falle und der Kadaver des Hundes bewiesen, die Bony entdeckte. Da die Kamele hartnäckig darauf bestanden, in diesem Camp zu rasten, brühte Bony Tee auf und aß Dosenfisch und Brot zum Lunch. Am frühen Nachmittag wurden die Kamele leicht nervös und schienen die großen Füße nur sehr vorsichtig zu setzen. Der Boden war mit Kalksteinsplittern übersät, und hier und da ragten kahle Felsblöcke aus dem Salzbusch. Der Weg schlängelte und wand sich, behielt jedoch im allgemeinen die Richtung nach Norden bei. Sie brauchten zwei Stunden, um das große Gebiet unterirdischer Höhlen, Gänge und Luftschächte 52
zu passieren. Um fünf Uhr nachmittags erreichten sie Nightmare Gutter. Nightmare Gutter war eine im Zickzack verlaufende Spalte, sechs Meter breit und ungefähr drei Meter tief – früher offensichtlich eine Barriere für Reisende, aber der alte Lonergan hatte mit der Schaufel einen Weg geebnet, der hinunterund auf der anderen Seite heraufführte. Hier hatte er kampiert, und hier schlug auch Bony sein Lager auf. Am nächsten Abend rastete er am Dead Oak Stump, und, wie schon im Tagebuch stand, gab es hier wenig Futter für die Kamele. Dead Oak Stump. Der Name ließ auf einen Baum schließen, aber hier gab es auf Hunderte von Meilen keine Bäume. Bony fand den Kadaver des Junghundes, den Lonergan erwähnt hatte, aber den Stumpf entdeckte er erst viel später. Er war nicht einmal einen halben Meter hoch und erzählte von einem Baum, der sehr alt geworden war, bevor er starb, von einem Baum, der gelebt haben mußte, ehe Wilhelm der Eroberer die Angelsachsen überrannte. Der Stumpf war so trocken und verrottet, daß Bony ihn mit der Axt hätte ausgraben können; was er jedoch nicht tat, weil er glaubte, daß der Stumpf für Patsy Lonergan einen Gefühlswert besessen hatte. Ein geistig gestörter Mensch ist nicht fähig, Gefühle zu empfinden. Dieser Baumstumpf gäbe an einem kalten Abend ein behagliches Feuer ab, wenn man kein anderes Brennmaterial hatte als Gestrüpp, das kaum lange genug brannte, um Wasser zum Kochen zu bringen. Der alte Lonergan hatte diese Ebene wahrscheinlich geliebt – jede einzelne Meile, obwohl eine wie die andere war. Er war in großen zeitlichen Abständen hierhergekommen und hatte dann, wie Bony jetzt, vor dem Baumstumpf gestanden und ihn angesehen, weil er eine Seltenheit und daher kostbar war. Es war sein Baumstumpf gewesen, wie dies sein Camp war, ebenso wie die anderen Camps, die er eingerichtet hatte. Wahrscheinlich hatte er den Baumstumpf begrüßt, sich von ihm verabschiedet, oft an ihn gedacht und sich gefragt, wie es ihm ging, wenn er nicht da war. Bonys Vertrauen in die geistig-seelische Verfassung des Mannes, der so weit entfernt von seinem Baumstumpf gestorben war, wuchs. Den Sternen nach war es halb zwölf, und er hatte schon zwei Stunden geschlafen, als er von Ganbas Stimme träumte und Lucy ängstlich winselte. Bony wachte auf. Ohne aus seinen Decken zu schlüpfen, setz53
te er sich neben dem inzwischen erloschenen Feuer auf, lauschte und hörte sehr weit entfernt das Geräusch eines Motors, das aus Südwesten näher kam. Es war nicht das gleichmäßige Brummen eines Flugzeugmotors in großer Höhe, und es wurde zwar lauter, aber nur allmählich. Schließlich entfernte es sich mehrere Meilen östlich von Bonys Camp nach Nordosten, und obwohl Bony von Flugmaschinen nicht viel verstand, war er sicher, daß das kein Flugzeug gewesen war. Kurz vor drei Uhr hörte er das Geräusch wieder, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung. Als der Tag anbrach, war er bereit, ließ die Kamele aber noch eine Stunde lang fressen. Er war vergnügt wie jeder Mensch, dessen Vermutungen durch Fakten bestätigt werden. Bevor die Sonne aufging und mit ihrem Farbpinsel die Ferne verwischte, entdeckte er über dem nördlichen Horizont einen rotbraunen Fleck; hinter dem Rand der Welt in dieser Richtung, ungefähr dreißig oder vierzig Meilen weit weg, war die Nullarbor-Ebene zu Ende, denn die Farbe bedeutete Sand – den Sand der Central Desert, in der es nach einem großen Regen blüht wie im Garten Eden. Und an einem stecknadelkopfgroßen Punkt der riesigen Landkarte war die Flugmaschine gelandet, eine Weile geblieben und dann wieder abgeflogen, um zu ihrem Standort zurückzukehren. Diesen Stecknadelkopf galt es zu finden. Eine Wandlung war mit diesem Mann zweier Rassen vorgegangen – eine Wandlung, die bei der zornigen Drohung von Ganba im Bumblefoot Hole begonnen hatte und beim Geräusch der Flugmaschine vollzogen worden war. Seit jeher hatten die ererbten Einflüsse der beiden Rassen um die Seele von Napoleon Bonaparte gekämpft, und die Kontinuität dieses Kampfes hatte den Detective Inspector Bonaparte geschaffen, der ihn immer wieder daran hinderte, in die primitivere der beiden Rassen zurückzusinken. Als Constable Easter und seine Frau ihn kennengelernt hatten, war er höflich, arrogant, innerlich bescheiden, stolz auf die lange Reihe seiner Triumphe gewesen, die er nicht nur über Verbrecher, sondern auch über diese gefürchtete Hälfte in ihm gefeiert hatte. Jetzt hätten die Easters ihn möglicherweise nicht wiedererkannt. In Mount Singular hatte er den Charakter des Halbbluts bis zur Perfektion nachgeahmt. Jetzt handelte er, ohne daß es ihm bewußt wurde, wie ein Vollblut-Aborigine, denn die von seiner Mutter ererbten Instinkte wurden hier stärker. 54
Heute standen seine Augen keine Sekunde still. Sein Gesicht hatte den Ausdruck selbstsicherer Ruhe verloren. Er sah sich ständig um, mit einer ruckartigen Kopfbewegung, wenn er sich normalerweise langsam und mit Überlegung umgedreht hätte. Die Ebene übte allmählich auf ihn genauso großen Einfluß aus wie auf alle Eingeborenen, die nie und nimmer eine Nacht hier draußen verbracht hätten. Es war durchaus möglich, daß sich die Veränderung des Mannes auch auf Millie übertrug. Überaus vorsichtig setzte sie heute einen Fuß vor den anderen. Ihre Katzenohren zuckten ständig nach hinten, und sie schaute unablässig nach links und nach rechts.
Hindernisse aus Stroh
D
ie Ebene war ein schachbrettartiges Pflaster, eilende schwarze Schatten flogen den Kamelen entgegen und gaben dem Reiter das Gefühl, sehr schnell vorwärtszukommen. Der Himmel an diesem Morgen war durchgehend orangefarben, mit einzelnen Wolken dazwischen, und der Wind aus der im Norden gelegenen Wüste war warm und duftete, würde später aber wohl Hitze und Staub mitbringen. Gegen zehn Uhr vormittags sichtete Bony etwas sehr Ungewöhnliches: ein scheinbar endloses Band aus Stroh, ungefähr sechs Meter breit und stellenweise dreißig Zentimeter hoch. Es erstreckte sich in ostwestlicher Richtung, und so wie das Stroh aussah, mußte es wenigstens ein Jahr alt sein. Die Tagebucheintragung über die Buckbush Road hatte ihn neugierig gemacht, und als er sie jetzt vor sich sah, erinnerte sie ihn an die Yellow Brick Road aus Der Zauberer von Oz. Nach etwa einer Meile stieß er auf eine zweite Buckbuschstraße, und am nächsten Tag auf ein drittes Band, das viel weniger verwittert war als die beiden anderen und ihm des Rätsels Lösung bescherte. 55
Es war ein Jahr, in dem das Gebiet, das dummerweise »das tote Herz Australiens« genannt wird, vor Leben sprühte, in dem die angebliche Wüste mit einer ungewöhnlichen Blütenfülle und dem saftigen Grün des Buckbuschs prunkte. Diese Jahrespflanze – ein Strauch – wird ungefähr so groß wie ein Wasserball und verwandelt sich, wenn sie welkt, in filigranartiges Stroh. Der Wind schnappt sie sich und trägt es weiter. Millionen dieser Strohbälle rollen, vom Wind getrieben, über das Land, stapeln sich an Zäunen, bis die Schranke so hoch geworden ist, daß die nächsten Bälle darüber hinwegrollen. Am Ende dieses fruchtbaren Jahres hatte der Nordwind den Buckbusch aus der Wüste in die Ebene getrieben, und die Salzmelden hatten sich ihm entgegengestellt, bis er zu einem mehrere Meter breiten und mehrere Meter hohen Band geworden war. Dann war der wilde Wind eingeschlafen, die Strohbänder waren an Ort und Stelle geblieben, der Regen hatte sie aufgeweicht, und sie verrotteten allmählich. Der alte Lonergan hatte eines seiner Lager The Brisbane Line genannt, der Name ein sarkastischer Hinweis auf eine angebliche Verteidigungsstrategie gegen die Japaner. Es war das vierte Camp nördlich von Bumblefoot Hole und lag am südlichen Ende einer Strohbarriere, die Bonys Einschätzung nach mindestens dreieinhalb Meter hoch war. So weit er nach Osten und Westen schauen konnte, gab es keine Lücke, außer der im Camp, die der alte Trapper mit seiner Schaufel geschlagen hatte. Und sie würde bleiben, bis ein anderer mächtiger Wind sich wieder auf die Ballen stürzte. Hinter dieser Wand aus Stroh war der Weg mit Felsstückchen übersät, und das Gehen wurde wieder gefährlich; unter der felsigen Oberfläche waren Höhlen und Gänge. Bony sah Löcher, von denen einige einen Durchmesser von nur wenigen Zentimetern hatten, andere klafften bis zu zwei Meter auseinander. Viele Löcher waren leicht zu sehen, andere von Salzmelde überwuchert, aber Millie kannte den Pfad, zögerte kein einziges Mal und zeigte auch nie Furcht. Den ganzen Tag bewegten sie sich durch dieses gefährliche Gebiet, und Bony hoffte, in dem von Lonergan The Belfrey getauften Camp übernachten zu können. Am Horizont, noch immer weit weg, tauchte jetzt etwas auf, das wie der Kamm einer Kette aus rotem Fels aussah, tatsächlich aber waren es die Spitzen der Sanddünen. Als die Sonne unter die Ebene sank, erregte 56
eine wirbelnde schwarze Rauchsäule seine Aufmerksamkeit, die vom Boden aufstieg wie aus einem tätigen Vulkan. Die Kamele fürchteten sich jedoch nicht vor diesem Platz, und Millie trabte sogar schneller, um früher ans Ziel zu kommen. Die Säule stieg ohne Unterbrechung auf und wurde ungefähr dreißig Meter über dem Boden wie von einem kalten Keil plattgedrückt – sie setzte sich aus einer großen Schar von Fledermäusen zusammen. Sie kamen aus einer Bumblefoot Hole ähnlichen, aber viel kleineren Senke, und Bony war von ihnen so fasziniert, daß er fast aus dem Sattel flog, als Millie auf die Knie sackte, gähnte und ihm sagte, daß er sich gefälligst beeilen und das Lager aufschlagen sollte. Hier, ein paar Meter hinter ihrem Kopf, waren die Überreste von Lonergans Lagerfeuern. Der Erdwall des Lochs, das dem Lager am nächsten war, neigte sich leicht zur Felswand, aus der die Fledermäuse kamen – so viele, daß man sie nicht einmal schätzen konnte. Offenbar wohnten sie in einer unterirdischen Höhle, die zu erkunden, Bony jedoch nicht die geringste Lust hatte. Er fand Lonergans Wasserloch, tränkte die Kamele, machte Feuer und beobachtete die Armee der Fledermäuse. Die Nacht vertrieb den Tag, und die Wolke aus Fledermäusen besudelte die Pracht des Abendhimmels, als Bony Erde auf sein Feuer schaufelte, sein Bettzeug herausholte und die Zeltplane über sich und den Hund zog, der Fledermäuse noch weniger mochte als er. Heute abend wurde kein Brot gebacken, und Millie und Curley mußten auf ihre Rinde verzichten. Sie legten sich neben der Zeltplane nieder und schliefen schmollend ein. Ihre Glocken weckten Bony bei Tagesanbruch. Der Himmel war klar und die Sterne hell, doch mit dem Tageslicht kamen die Fledermäuse aus ihren Quartieren und hingen wie eine Regenwolke am Himmel, aus der sich etwas bildete, das wie ein lebender Wasserstrahl aussah, der nach und nach in die Höhle zurückfiel. Kurz bevor die Sonne aufging, war keine einzige Fledermaus mehr in der Luft. Die Tage vergingen, und Bony besuchte ein Camp nach dem anderen. Lunatic’s Moan, ein Schacht, aus dem unaufhörlich mit Stöhnlauten die Luft entwich; Lover’s Lane, eine Felsenhöhle zwischen zwei großen Strohbarrieren. Seit Lonergan zuletzt hier gewesen war, waren beide 57
Barrieren vom Wind verweht worden, und Lonergans Pfad gab es nicht mehr, aber Millie pflügte durch die Strohmassen. In der Nacht, die sie in Curley’s Hate verbrachten, regnete es ein paar Zentimeter, und am nächsten Tag verließen sie die Ebene und gingen über vom Wind geriffelten Wüstensand, dann wandten sie sich nach Osten, um den letzten von Lonergans Plätzen aufzuspüren; dort fanden sie seine Feuerstelle im Schatten zweier Känguruhbäume, von den Aborigines Wiradjuri genannt. Bäume! O gesegnete Bäume! Bony hörte den leichten Sonnenuntergangswind in den Baumkronen sein Wiegenlied singen. Bis tief in die Nacht saß Bony an einem Feuer aus festem Holz und pries den toten Patsy Lonergan immer wieder dafür, daß er diesen Platz The Bushman’s Home genannt hatte. Der Regen hatte die flachen Lehmpfannen zwischen den Dünen gefüllt, und Wasser war in die tieferen Senken am Rand der NullarborEbene geflossen. Auf den flacheren Dünen zog der junge Buckbusch die Kamele an, aber auch schon so bald nach dem Regen schmückte der Wind die hohen Dünen mit roten Federn. Der Regen bedeutete Unabhängigkeit von den Felsenhöhlen mit den Wasservorräten, aber er hatte auch einen Nachteil; er löschte diese Seite im Buch des Busches und damit so manche wertvolle Information. Bony kampierte zwei Tage in The Bushman’s Home, wanderte zu Fuß umher, entdeckte eine Gruppe von Känguruhs und erlegte eins. Hier gab es wilde Hunde und viele Kaninchen; diese Welt war freundlich und bot Mensch und Tier Schutz. Doch hinter der nördlichen »Küste« wurde das Land, je weiter man ins Innere vordrang, trister und karger. Seine Erkundungsgänge führten Bony ungefähr drei Meilen landeinwärts; dort verloren sich die Dünen in einem Meer von Spinifexgras und kahlen steinigen Flächen. Die Steine waren von den Sandkörnchen, die der Wind mitbrachte, auf Hochglanz poliert, und die Sonne spiegelte sich mit solcher Kraft darin, daß es eine Qual für die Augen war. Weit im Norden lagen in einer Linie einzelne oben abgeflachte Felsblöcke, rot und kahl, und von da an ergab sich mehr als zweitausend Meilen weit das gleiche Bild wie in der Great Inland Desert. Dort lebten Aborigines, die nie mit Weißen in Kontakt kamen. Bony fragte sich, wer, zum Teufel, diese Hintertür zu Australiens Atomgeheimnissen öffnen wollte. 58
Er zog am Rand der Ebene weiter und wandte sich nach Osten, um den Weg der Flugmaschine, die er am Dead Oak Stump gehört hatte, zu kreuzen. Zum Glück versickerte das Wasser nicht. Känguruhs gab es viele, und die Kaninchen konnten, wenn dieser Sommer schön wurde, zur Plage werden. Bony kam an Kolonien von Wüstenspringmäusen vorbei. Glockenvögel spotteten in den zwergwüchsigen Bäumen, und abends zogen Enten in keilförmigen Formationen über den Himmel. Auch die Krähen waren fleißig, und alles in allem fand Bony diese Tage überaus angenehm. Die Kamele wurden unruhig, und Bony schob das auf ihre Abneigung gegen unbekannte Gegenden, da es scheinbar keinen anderen Grund geben konnte. Das Land war offen. Das Wetter blieb schön. Er entdeckte keine Spuren von wilden Aborigines oder irgendein anderes Anzeichen dafür, daß sie in der Nähe waren. Lucy war weder unruhig noch mißtrauisch, und normalerweise kann ein Mann sich absolut darauf verlassen, daß ein Hund ihn über alles Ungewöhnliche informiert. Fest überzeugt, daß er sich auf dem richtigen Weg befand, kampierte er am Rand der Ebene unter einem uralten Buchsbaum. An diesem Abend überlegte er, wie er weiter vorgehen sollte, hockte am Feuer, ritzte, wie alle Angehörigen von Nomadenvölkern es tun, mit einem spitzen Stock eine Landkarte in den Boden, zeichnete die Eisenbahnlinie, den Haltepunkt Chifley, die Heimstätte von Mount Singular und den gedachten Kurs der Flugmaschine ein. Als er sie am Dead Oak Stump gehört hatte, war ihr Ziel entweder nördlich seines derzeitigen Standorts oder südlich davon gewesen – zwischen ihm und einem Ort in der Nullarbor-Ebene. Er war derzeit nicht weniger als zweihundert Meilen von der nächsten bekannten Heimstätte, Mount Singular, entfernt. Während der letzten Wochen hatte er sich vom Land selbst ernährt, und die Lebensmittel in den Satteltaschen würden noch sieben oder acht Tage reichen, bis er aus Bumblefoot Hole neuen Proviant holen konnte. Bevor er einschlief, beschloß er, die Wüste vier Tage lang zu erkunden, dann würde er umkehren und entlang der gedachten Fluglinie der unbekannten Maschine nach Süden weiterziehen müssen. Da er in diesen vier Tagen so weit wie möglich kommen mußte, führte er die Kamele vor Sonnenaufgang in die Dünen, und das Glück war 59
mit ihm – aber es wandte sich innerhalb von zwei Stunden auch wieder von ihm ab. Er hielt seine kleine Karawane an und blickte zurück über die große Ebene. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Morgenluft wie Kristall und das entgegengesetzte Ende der Ebene wie der Rand einer hohen Klippe, den man aus nicht mehr als hundert Meter Entfernung sieht. Dann blieben Bonys schweifende Blicke plötzlich starr auf einem Punkt haften. Krähen, ein Dutzend etwa – so weit weg, daß sie wie Tintenkleckse aussahen. Ein totes Kaninchen? Ein totes Känguruh? Keins von beidem. Hätte er nur ein Fernglas gehabt! Dort draußen bewegte sich etwas. Etwas Weißes. Wie eine weiße Krähe, aber die gab es nicht. Es war, als würde jemand mit einem weißen Taschentuch winken, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Als er wieder mit der Ebene auf gleicher Höhe war, sah er nicht einmal mehr die Krähen. Es war nicht wichtig. Lucy lief voraus wie immer und warf sich dem leichten Südwind entgegen. Er ging zu Fuß, und die Kamele trotteten hinter ihm her, glücklich, daß es heimwärts ging. Aber das Glück dauerte nicht lange. Nach etwa einer Meile sah Bony die Krähen und den weißen Gegenstand wieder, und Millie zog an ihrem Nasenriemen. Er blieb stehen, um nachzusehen, was nicht stimmte. Entdeckte aber nichts, worüber sie sich aufregen konnten. Der Boden war fest. Ungeduldig wies Bony Millie zurecht und ging weiter. Wieder eine halbe Meile weiter kamen sie auf ein Terrain, das auf unterirdische Höhlen schließen ließ. Bony mußte sich mit den Tieren gewissermaßen durchwinden, um dem nackten Gestein auszuweichen und sich dicht an der halbwüchsigen Salzmelde zu halten. Der weiße Gegenstand flatterte über dem Boden. Es war kein Taschentuch, aber es war irgendein Stück Stoff. Noch wußte er nicht, was es zum Flattern brachte. Ein paar Minuten später sah er, was der weiße Gegenstand war – ein Seidenschal, den der Luftstrom aus einem Schacht in die Höhe trieb wie einen Wasserball, der auf einer Fontäne tanzte. Sich jetzt mit Fragen aufzuhalten wäre reine Spinnerei gewesen. Auf die Launen zweier Kamele einzugehen wäre eine ebensolche Zeitvergeudung. Bony nahm die Lassos vom Sattel und brauchte weniger als drei Minuten, um die beiden Tiere so zu fesseln, daß sie nicht aufstehen konnten. 60
Mit dem Gewehr fing er den flatternden Schal ein und zog ihn aus dem Bereich des Luftstroms. Das Material war feinste Seide. Der Schal hatte kein Monogramm, gehörte aber zweifellos einer Frau. Als Bony in den Schacht spähte, wehte ihm Luft ins Gesicht. Er schnüffelte und war über den Geruch verblüfft. Es roch nicht nur nach nassem Fels und Wasser, Fledermäusen oder unter der Erde lebenden Nagern. Kaffee? Nein! Doch sicherlich nicht nach Kaffee? Er verließ den Schacht und sah sich um. Lucy bellte. Bony spürte eine warnende Kälte im Nacken und fuhr herum. Zwei Krähen schienen den Verstand verloren zu haben; sonst gab es nichts zu sehen. Er ging im Kreis um den Schacht herum und fand das große Loch, einsfünfzig im Durchmesser und ungefähr in der Mitte einer kahlen, flachen Platte aus Kalkstein. Hinter ihm bellte Lucy wütend. Wieder drehte er sich rasch um, und die Kälte in seinem Nacken wurde zu Eis. Vor ihm standen vier wilde Aborigines und zielten mit ihren Speeren auf ihn. Die Speerschäfte waren aus Holz, die Spitzen aus Feuerstein. Ihre Gesichter waren völlig ausdruckslos, ihre weit geöffneten Augen so ruhig wie ihre Körper, ihre Arme und ihre Waffen.
Mißgeschick ist nur ein Ansporn
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ie Wilden hatten Blätter und dünne Zweige in den Haaren, und an Knien und Brust klebte feuchte Erde. Sie hatten sich mit der Perfektion der größten aller Meister an ihre Beute angeschlichen. Die Narben im Gesicht, auf der Brust und auf den Oberschenkeln bewiesen ihre Zugehörigkeit zur Luritja Nation, von der ein kläglicher Überrest noch in der Central Desert lebt. Sie waren klein, unglaublich zäh und hatten die Ausdauer eines Dingos. Die Haare hatten sie sich 61
hoch auf dem Kopf mit einem Band aus Schlangenhaut zusammengebunden; drei waren schwarzhaarig, der vierte hatte graues Haar und einen zottigen grauen Bart. Er war ein Medizinmann. Der Zustand ihrer Oberschenkel und Bäuche ließ darauf schließen, daß sie sich wie die Weißen ernährten. Das war die erste Ungereimtheit. Die zweite war der nicht zu akzeptierende Zufall, daß sie ihr Erscheinen hinausgezögert hatten, bis Bony den Einstieg zu der großen Höhle entdeckt und interessiert hineingeschaut hatte. Er hätte schießen und einen töten können – aber nur einen –, dann wäre er selbst den Speeren der anderen zum Opfer gefallen. Die Formel: »Ich bin Inspector Bonaparte und verhafte euch …« war in dieser Situation leeres Gewäsch und reiner Quatsch. Offensichtlich hatten sie nicht die Absicht, ihn zu töten und sich mit seinen Lebensmitteln und der Ausrüstung davonzumachen, das hätten sie sofort erledigt. Der Medizinmann, ihr natürlicher Anführer, winkte ihn zu sich, und als er gehorchte, schlüpften die drei anderen hinter ihn und gingen dann zu den Kamelen. Der Medizinmann streckte die Hand nach dem Gewehr aus und deutete Bony an, sich auf den Boden zu setzen. Jetzt war er genauso gefangen, als ob er angekettet wäre. Ihre Augen glitzerten, und die Speere blieben auf ihn gerichtet, während Bony Jacke und Hemd auszog. Reglos wie aus Stein gehauene Statuen in einer Ausstellung des weißen Mannes standen sie da, als er sich erhob und ihnen seinen Rücken zukehrte, damit sie seine Männlichkeitsnarben sahen, während er im Geist den alten Häuptling Illawarrie aus dem fernen Norden segnete, der ihn in die Mysterien der Traumzeit eingeführt hatte. Sie wunderten sich, daß er, ein Mann, der nicht ganz ihrer Rasse angehörte, in eine Nation der Urbevölkerung aufgenommen worden war. Der Anführer sagte etwas zu den anderen, doch sie schwiegen und gaben kein Zeichen. Wie von Bony beabsichtigt, wurde es jetzt kompliziert, aber oft retten bewußt herbeigeführte Komplikationen eine so angespannte Situation. Der Anführer wurde freundlicher. Aus dem kleinen Beutel, der an einer Schnur aus Menschenhaar an seiner Brust hing, holte er ein Stück Tabak und biß davon ab. Bony zog sich wieder an, ging in die Hocke und drehte sich eine Zigarette. Die Kamele waren nicht mehr nervös, und Lucy lag neben Millie und wartete ab. Auch die Krieger hockten 62
sich nieder und legten die Speere neben sich auf den Boden. Der Gefangene war ihnen sicher. Jeder von ihnen hätte Bony innerhalb von Sekunden aufspießen können. Sie verfügten über eine unübertreffliche Geschicklichkeit, und als Bony daran dachte, fingen seine Zehen zu zucken an. »Warum tut ihr Männer das?« fragte er und war überrascht, als der Anführer sagte: »Warum kommst du her, he? Sag.« Kontakte mit einer Mission! Hermansburg vielleicht! Ooldea, bevor die große Daisy Bates aufgeben mußte. Vielleicht hatte der Alte Ooldea gerade lang genug besucht, um ein paar Worte Englisch aufzuschnappen. »Dingos«, antwortete Bony. »Patsy Lonergan mein Vater und mein Onkel. Patsy Lonergan … Ihr kennt Patsy Lonergan?« Der Name sagte ihnen etwas. Sie sprachen leise miteinander. »Patsy Lonergan ist gestorben«, sagte Bony und nickte zu den Kamelen hinüber. »Ich hole Patsy Lonergans Kamele. Jetzt fange ich Dingos.« Ihr nächstes Palaver dauerte eine volle Minute. Kein Wort über den Seidenschal, obwohl sie ihn gesehen und beobachtet haben mußten, wie Bony ihn in die Tasche gesteckt hatte. Endlich standen zwei von den jungen Männern auf und begannen, ohne sich um Lucys Kläffen zu kümmern, die Kamele abzuladen. Als sie fertig waren, entfernten sie Millies Nasenriemen und nahmen Curley, obwohl er dagegen protestierte, das Lederhalfter ab. Sie lösten auch die Stricke, die die Tiere niederhielten, dann bekamen sie ein paar Tritte und wurden davongejagt. Der Anführer brüllte einen Befehl, und einer der Männer packte Lucy, der andere fesselte sie mit dem Nasenriemen. Dann wurden die Lassos fest verknotet und ein Ende Bony um die Brust geschlungen. Er war verblüfft, weil die Männer den Kamelen die Last abgenommen und sie losgemacht hatten. An dem Strick, den sie ihm überflüssigerweise um die Brust gebunden hatten, wollten sie ihn wohl in ihr Lager führen. Der Anführer winkte jetzt zu der kahlen Felsplatte mit der klaffenden Öffnung in der Mitte, und Bony blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ein paar Sekunden später wußte er, daß sie die Absicht hatten, ihn in die Höhle hinunterzulassen. Am Rand der Höhle protestierte 63
er, und der Anführer sagte gleichgültig: »Besser geh mit Seil. Langer Weg.« Weisheit mit drohendem Unterton. Als der große Inspector Bonaparte den vier Männern in die unnachgiebigen Augen sah, wurde ihm klar, daß es nur klug war, mit Hilfe des Seils abzusteigen, denn die Höhle war möglicherweise sehr tief. Nach ein paar Minuten fand er sich ungefähr sechs Meter unter der Erdoberfläche auf dem Kalksteinboden der Höhle unverletzt wieder. Er stand in einer großen, fast kreisrunden Kammer mit einem Durchmesser von ungefähr neun Metern und Wänden, die sich zum Ausgang hin verjüngten. Der Kalksteinboden war holperig. Bony sah den Eingang zu einem vermutlich langen Tunnel, an dessen Ende ein sternförmiges Licht brannte. An einer Wand stapelten sich auf einem Felsvorsprung Konservendosen. Eine Öffnung führte in eine nächste Kammer, und dort entdeckte Bony etwas wirklich Überraschendes – einen großen Kerosinofen. Dann zupften die Aborigines oben am Seil und gaben ihm damit zu verstehen, daß er sich losbinden sollte. Er tat es, und sie zogen das Seil hinauf. Er hörte Lucy oben bellen. Aus dem Tunnel kam eine Stimme, die, durch das Echo leicht verzerrt, sagte: »Ich hab’s nicht getan! Verdammt noch mal, ich war es nicht!« Das konnte nicht Ganba gewesen sein, denn sie braucht für ihre unterirdischen Streifzüge kein Licht. Die Stimme ertönte wieder, und es war scheinbar die gleiche, doch was sie sagte, bewies, daß es eine andere war. »Und ob du’s getan hast, du stinkende Ratte!« Oben entstand wieder Bewegung, und Bony mußte zur Seite springen, sonst wären ihm Curleys Packsattel auf den Kopf gefallen. Ihm folgten der Reitsattel, seine gesamte Ausrüstung, sogar die Kamelglokken und die Fußfesseln. Nur das Gewehr fehlte. Der Lärm hatte nicht die geringste Wirkung auf die Stimme oder die Stimmen im Tunnel. »Du hast auf ihn gewartet und hast ihn mit einem Stein erschlagen.« »Ich hab’s nicht getan, sag’ ich dir! Ich nicht!« Oben winselte Lucy vor Angst. Sie wurde langsam am Seil heruntergelassen, und nachdem Bony sie mit den Armen aufgefangen hatte, 64
zogen die wilden Männer das Seil wieder hinauf. Bony löste Lucys Fesseln, und sie leckte ihm dankbar das Gesicht. »Ist er ganz bestimmt tot, Mark?« fragte der Tunnel. »Meine liebe Myra, natürlich ist er tot.« Unzählige chaotische Gedanken schossen Bony durch den Kopf; unter anderem fiel ihm seine Automatic ein. Die Wilden hatten sich nicht die Zeit genommen, seine Ausrüstung zu durchsuchen, hatten sie nur den Kamelen abgenommen und ihm nachgeworfen, alles außer dem schönen SavageGewehr und den Patronengürteln. Sie hatten die Kamele weggejagt und waren jetzt wohl dabei, ihre Spuren zu verwischen, um alles auszulöschen, was auf das Vorhandensein dieser Höhle hinweisen konnte. Ein Dramatiker hätte vielleicht gesagt, daß das nicht zum Charakter des Stückes passen würde. Das meiste war auffallend unorthodox. Der Medizinmann hatte Tabak bei sich – ein Beweis dafür, daß er kürzlich mit Weißen Kontakt gehabt hatte. Die Leute in diesem Tunnel – wer waren sie? Was machten sie hier? Myra Thomas? Wer sonst noch? Wer? Gefangene – wie er. In der Satteltasche, die seine persönlichen Sachen enthielt, war auch seine Automatic. Er stürzte sich darauf, zog sie unter einem Wasserkanister hervor, schnallte die Seitentasche auf und kramte nach der Waffe, klein und kompakt und noch auf sechs Meter tödlich. Das Magazin war voll, das wußte er. Eine angebrochene Schachtel Patronen schob er in eine andere Tasche, verschloß die Satteltasche wieder und schob sie zu seinen anderen Sachen, die auf dem Boden lagen. Eine Stimme im Tunnel sagte: »He, seht doch – ein verdammter Köter!« Nur Englisch bisher. Keine gutturalen Stimmen. Lucy hatte sie gefunden. »Das ist komisch. Wie, zum Teufel, ist der hier reingekommen? Oben muß jemand sein. Kommt mit! Wenn der Hund reingekommen ist, müßten wir auch raus können.« Das Licht flackerte. Es wurde durch den Tunnel getragen. Bony ließ sich nieder und wartete. Er hatte das Sonnenlicht im Rücken, das durch den Höhleneingang fiel, und das war, wie er wußte, in dieser Situation von Vorteil. 65
»Das ist ein Schoßhund«, sagte eine Frau im Tunnel. »Er ist sehr verschmust. Wie heißt du denn, Süßer?« Ein Mann betrat die Kammer, eine Frau folgte ihm, und nach ihr kamen noch vier Männer. Sie blieben am Tunneleingang stehen – Gespenster, die in einem mit Spinnweben verhangenen Winkel eines verfallenen Kerkers lauerten. Die Frau hatte die zappelnde Lucy auf dem Arm. Daß sie eine Frau war, erkannte man nur an ihrer Figur, denn sie trug eine Männerhose und unter der Jacke ein Sporthemd. Der Mann mit der Sturmlaterne war groß und hatte ein Gesicht wie ein Falke. Ein anderer war groß, kräftig und muskulös, der dritte ein Knirps mit offensichtlich schwachen Augen, die er zusammenkniff, um besser zu sehen, und der vierte schien Spiralfedern in den Knien zu haben. Die Gesichter der Leute waren kalkweiß, und ihre Augen glühten in dem dunklen Raum. Sie standen da und starrten den Fremden an, der auf einem Berg von Ausrüstungsgegenständen saß. Die Frau ließ Lucy los, die zu Bony rannte und sich an ihn preßte. »Guten Tag«, sagte Bony höflich. Von der Frau angeführt, näherten sie sich ihm langsam. Der große Mann hatte eine breite Stirn, eine eisengraue Mähne, einen energischen Mund und dunkle Augen, die eine überdurchschnittliche Intelligenz verrieten. Auch seiner Stimme hörte man an, daß er sehr gebildet war. »Wer sind Sie?« fragte er mit Public School-Akzent. Bony erkannte ihn. »Ich bin William Black.« »Das sagt uns gar nichts, Mr. Black. Wie sind Sie hergekommen?« »Ein paar wilde Aborigines haben mich abgeladen.« »Wilde Aborigines! Wie ungewöhnlich. Was sind das für Sachen, auf denen Sie sitzen?« »Kamellasten.« »Kamellasten. Kamele. Wilde Aborigines. Wen haben Sie ermordet?« Die dunklen Augen warfen Bony einen durchdringenden Blick zu – den Blick eines Mannes, der gewohnt ist, daß man ihm gehorcht. Dieser Mann war Dr. Carl Havant, ein Psychiater, der bis vor elf Jahren in Sidney praktiziert hatte. »Ich kann mich nicht erinnern, jemanden ermordet zu haben«, antwortete Bony. 66
»Ich glaube Ihnen nicht. Welche Schule haben Sie besucht?« Ah! Klug ist der Mann, der eine Rolle spielen und sie auch in einer plötzlichen Streßsituation glaubwürdig beibehalten kann. Bony hatte sich durch seine Sprache verraten. »Das ist doch egal«, erwiderte er scharf. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?« »Wir wohnen hier.« Dr. Havant musterte Bony ernst. »Tun Sie uns den Gefallen, und sagen Sie uns genau, wo unser Wohnsitz liegt?« »In einem nördlichen Ausläufer der Nullarbor-Ebene.« »Maddoch! Habe ich nicht immer wieder gesagt, daß es die Nullarbor-Ebene sein muß?« Ein vorwurfsvolles Kopfschütteln in Richtung des kleinen Mannes, dem die Kleider am Körper schlotterten und der seelisch am Ende zu sein schien. Der Mann mit den federnden Knien antwortete an seiner Stelle. »Es hätte auch Ost-Gippsland sein können, wie Clifford gesagt hat. Und ebenso ein bißchen nördlich von Perth.« »Ja, ja, das ist schon richtig. Aber wir sind im Norden der NullarborEbene. Und nun, Mr. Black. Sie sagen, daß Sie von wilden Aborigines hier abgeladen – Ihr eigenes Wort – wurden. Ich dachte immer, wilde Aborigines seien nur noch in Nordaustralien zu finden. Entschuldigen Sie die Wiederholung. Wen haben Sie ermordet, Mr. Black? Zögern Sie nicht, und fürchten Sie nichts.« »Quatsch!« explodierte der Mann mit den federnden Knien. »Ich weiß jetzt, wer dieser Mr. Black ist. Ich wette, daß ich mich nicht irre. Doc, meine Damen und Herren, darf ich Ihnen Inspector Napoleon Bonaparte vorstellen?«
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Bony wird geehrt
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ie waren jung und liebten sich sehr. Er war Kontrolleur in den Lagerhäusern am Hafen, sie arbeitete in einem Geschäft in der Stadt. Sie sparten auf ein Haus, doch heutzutage dauert es lange, ehe man die ständig steigenden Baukosten finanzieren kann. Also siegte die Natur. Ihr Traum war ein gemeinsames Heim, keine überstürzte Hochzeit und die Rückkehr zu ihren Eltern aufs Land. Nur in der Stadt konnten sie richtiges Geld verdienen. Nach langen Diskussionen sprach der Mann mit einem anderen, der ihm den Namen einer Frau nannte; das Mädchen konsultierte die hilfsbereite Krankenschwester, und dank ihrer Fürsprache wurde es in ein privates Krankenhaus aufgenommen, in dem man ihm zugleich einen großen Teil seines ersparten Geldes abnahm. Es war alles sehr geheimnisvoll. Kurz danach wurde in einem Graben fünfzig Meilen außerhalb der Stadt die Leiche gefunden. Der Mann wurde von einem Kriminalbeamten vernommen und dann ins Leichenschauhaus gebracht, wo er seine Liebste identifizieren mußte. Man fragte ihn, wo die Operation durchgeführt worden war, und er sagte, daß ein Taxi seine Freundin nach Geschäftsschluß von ihrer Arbeitsstelle abgeholt hätte. Das hätte sie so mit jemandem verabredet, den er nicht kenne. Er gab zu, gewußt zu haben, daß sie die Absicht hatte, ein Krankenhaus aufzusuchen, aber das sei auch alles. Der Taxifahrer meldete sich und berichtete, daß ihm seine Firma per Funktelefon den Auftrag gegeben hatte. Der Firmenchef sagte, er hätte einen Telefonanruf bekommen. Abgesetzt hatte der Fahrer das Mädchen in der Hauptstraße einer Vorstadt. Die junge Frau war ihm ganz besonders aufgefallen, weil sie sehr hübsch und offensichtlich sehr aufgeregt war. Dann starb der Mo68
tor des Taxis ab, und während der Fahrer sich bemühte, ihn wieder in Gang zu bringen, beobachtete er zufällig, daß das Mädchen in ein Privatauto einstieg. An den Wagen erinnerte er sich, weil es ein neues Lagonda-Modell war. Er merkte sich auch die Zulassungsnummer. Der Lagonda gehörte Dr. Carl Havant. Daher wurde Dr. Carl Havant, der bekannte Psychiater, wegen Mordes angeklagt. Das Gericht befand auf Totschlag und verurteilte ihn zu zehn Jahren. Das war 1947 gewesen. Und jetzt, im Jahr 1956, traf ihn Inspector Bonaparte in einer Höhle unter der NullarborEbene. Sogar wenn man eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung in Betracht zog, stimmten die Daten nicht. »Was für ein Inspector?« fragte Dr. Havant, und Edward Jenks mit den federnden Knien gluckste vor Vergnügen. »Ein Detective Inspector, natürlich.« Edward Jenks war fünfunddreißig und arbeitete als Koch auf einer kleinen Station, als Bony ihn verhaftete. Jetzt sah er aus wie über Sechzig. Er war mittelgroß, untersetzt, noch sehr kräftig, und sein großer Kopf saß auf einem kurzen, dicken Hals. Als Seemann auf Landurlaub wurde er in Brisbane von einer Prostituierten geprellt, was ihn so wütend machte, daß er ihr später auflauerte und sie erwürgte. Da die Todesstrafe in Queensland abgeschafft worden war, wurde er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, nach neun Jahren jedoch auf Bewährung entlassen. »Ein Detective Inspector«, wiederholte Dr. Havant, und die Frau lachte mit einem Anflug von Hysterie. »Und Bonaparte heißt er. Freut mich, Sie kennenzulernen, Inspector Bonaparte. Ich bin sicher, wir alle sind sehr froh, daß Sie uns gefunden haben.« Das Sonnenlicht fiel jetzt voll auf Bony, der still und anscheinend ganz entspannt auf seiner Ausrüstung saß. Das Gesicht des Doktors und das eines zweiten Mannes war weiß wie Kreide. Sie hatten sich erst vor kurzem rasiert. Ein hochgewachsener Mann von ungefähr dreißig Jahren hatte sich einen braunen Van-Dyck-Bart stehenlassen, und der kleine, nervöse Mann sah im Schatten alt und krank aus. Das waren nur Eindrücke. Die Männer wirkten angespannt. Am lockersten war noch die Frau. Ihre Hände waren gepflegt, die Haare ordentlich aufgesteckt. Bony erinnerte sich an die Stimmen im Tunnel 69
und beschloß, die Situation in die Hand zu nehmen, die weder er noch die anderen bisher verstanden. »Sind Sie Myra Thomas?« fragte er. »Die bin ich«, antwortete sie gelassen. »Das müßten Sie eigentlich wissen.« »Sie müssen mir Ihre Identität bestätigen.« »Selbstverständlich. Tut mir leid, Inspector.« »Ich habe Sie gesucht.« Der Psychiater und Abtreiber kicherte und schnupperte dann in die Luft. »Rieche ich Kaffee, Myra?« »Kaffee, ganz recht. Aber falls es jemanden interessiert, da liegt eine Leiche herum. Ich habe das Frühstück zubereitet, als Igor umgebracht wurde.« Der kleine Mann versuchte, sich zu rechtfertigen, aber der Van-DyckBart sprach laut dazwischen, und dann befahl der Doktor Ruhe. Ein riesiger Kerl machte Bony auf sich aufmerksam, indem er sagte: »Seid vernünftig. Der Mann ist ein Detective Inspector. Verdammt! Wollt ihr noch mehr Schwierigkeiten? Gib mir die Lampe, Mark. Ich erledige die Sache.« »Das kann warten, Joe, bis wir alles geklärt haben«, entgegnete Van Dyck. »Vergiß den Detective. Er kann nichts unternehmen. Wir frühstücken jetzt und lassen uns von ihm erzählen, wie er hergekommen ist und was er für Absichten hat.« »Genau«, sagte Havant. »Frühstück, Myra. Kaffee.« Sie zerstreuten sich. Die Frau und Jenks verschwanden in der angrenzenden Felsenkammer, in der Bony den großen Kerosinofen gesehen hatte. »Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen zur Seite zu rücken«, sagte Van Dyck. »Ich heiße Brennan. Mark Brennan.« Mark Brennan! Bony warf ihm einen scharfen Blick zu und begegnete ruhigen und offenen hellblauen Augen. Mark Brennan. Bony kannte den Namen und die Umstände und ließ die Ereignisse abrollen wie ein Film: Goldene Sonnenstrahlen ergossen sich über die kleine Kirche, die in der Nähe von Orange, Neusüdwales, inmitten eines Eukalyptuswäldchen stand. Die Menge vor dem Kirchenportal hörte den Hochzeits70
marsch. Man schrieb das Jahr 1939, und in den Militärlagern hatte man begonnen, Freiwillige einzuziehen. Unter den Leuten vor dem Gotteshaus war auch ein junger Mann in der für ihn offensichtlich noch ungewohnten Uniform. Ein paar andere junge Männer neben ihm neideten ihm anscheinend die Aufmerksamkeit ein bißchen, die ihm die Mädchen schenkten. Sie warfen ihm, während sie alle auf das Brautpaar warteten, immer wieder bewundernde Blicke zu. Der junge Mann war der Sohn des Ladenbesitzers im Ort und zum erstenmal auf Urlaub. Andere beobachteten ihn verstohlen, denn in der Kirche heiratete das Mädchen, das einmal sein Mädchen gewesen war, seinen jahrelangen Rivalen. Die Hände in den Taschen, stand er in der lässigen Haltung des Rekruten da, der sich schon als Veteran sieht. Braut und Bräutigam traten ins Freie. Sie paßten sehr gut zusammen, zwei schöne junge Menschen, die sich Treue geschworen hatten. Sie kamen die Kirchenstufen herunter, und die Leute warfen mit Konfetti. Mark Brennan warf keine Konfetti. Er zog seine Pistole und zielte zwischen die Augen der Braut. Der Bräutigam wurde von ihrem leblosen Körper fast zu Boden gerissen. Dennoch trat er dem Mörder entgegen, der ihm in den Magen schoß. Der Fall weckte großes öffentliches Interesse. Was für ein tragischer junger Mann! Hin und her gerissen zwischen der Pflicht, seinem Land zu dienen und verzweifelt über den Verlust seiner Liebsten. Die Jury empfahl einen Gnadenakt. Das Gericht sprach die Todesstrafe aus, und der Executive Councel wandelte sie automatisch in eine lebenslängliche Strafe mit dem Zusatz um: Darf nie entlassen werden. Darf nie entlassen werden! Und hier stand er und half Bony, seine Ausrüstung an der Seitenwand einer Höhle unter der Nullarbor-Ebene zu stapeln. Der Bart gab ihm ein künstlerisches Aussehen. Die Augen waren kalt – wahrscheinlich so kalt wie damals, als er zweimal abgedrückt und geschossen hatte. Als sie die Arbeit erledigt hatten, setzte sich Bony auf Curleys Sattel und drehte sich eine Zigarette. Geduldig wartete er auf des Rätsels Lösung. Ein sauberes Segeltuch war auf dem Boden ausgebreitet worden, und Myra Thomas stellte geschnittenes Brot darauf, öffnete ein paar Büchsen Sardinen, eine Flasche mit Soße und eine Büchse Marmelade. 71
Jenks erschien mit einer Kanne Kaffee und einer Obstbüchse voller Zucker. Er schenkte den Kaffee in Aluminiumbecher ein, und Mark Brennan sagte: »Bedienen Sie sich, Inspector.« Mit einem Becher Kaffee ging Bony zu seinem Sattel zurück. »Haben Sie schon gefrühstückt, Inspector?« erkundigte Dr. Havant sich fürsorglich. »Ja, vielen Dank«, antwortete Bony höflich. »Sie sind hier in seltsamer Gesellschaft, Inspector – in einer einzigartigen sogar. Ich werde hoffentlich eines Tages mehrere Bücher darüber schreiben. Über die Wirkung absoluter Isolation auf den menschlichen Geist, verstehen Sie? Und ich werde auch eine wissenschaftliche Arbeit über den Herdeninstinkt des Menschen schreiben. Jenks hatte sehr viel von Ihnen gesprochen, Inspector. Und es spricht sehr zu seinen Gunsten, daß er Ihnen nicht feindlich gesinnt ist, denn schließlich haben Sie ihn aufgespürt und verhaftet. Darin unterscheidet er sich von unserem Freund Joseph Riddell hier, für den alle Polizisten ein rotes Tuch sind.« Joseph Riddell hatte 1941 auf einer Farm in der Nähe von Brisbane gearbeitet. Ein schweigsamer Dreißigjähriger, kräftig, ein guter Arbeiter, der von seinem Arbeitgeber rücksichtsvoll behandelt wurde. Eines Nachmittags hatten die beiden eine Auseinandersetzung wegen der Kopfverletzung einer Kuh, und am Abend erschoß Riddell den Farmer mit dem Gewehr des Opfers. Er verschwand mit dem Wagen des Farmers, ließ ihn stehen und stahl einen anderen, den er ebenfalls stehenließ, als der Tank leer war. Als man ihn endlich faßte, wurde er zu zwölf Jahren verurteilt. Auch in seinem Fall wurde ein Gnadengesuch eingebracht. Einsamer, unglücklicher Mann, der in einer Hütte hauste, während der Farmer mit seiner Frau im Luxus in einem eleganten Haus lebte. Auch wenn er die Kuh beim Melken geschlagen hatte, hatte sein verdammter Boß nicht das Recht, ihm dumm zu kommen. Nachdem er neun Jahre abgesessen hatte, wurde er entlassen. Und jetzt war dieser Joseph Riddell hier, noch immer ein kraftvoller Mann, fast noch ohne Grau in Haar und Bart. Als er merkte, daß Bony ihn ansah, hockte er sich hin und grinste. Dem Grinsen folgte ein dröhnendes Lachen. 72
»Zum Teufel, ist das vielleicht komisch«, stellte er mit tiefer Stimme fest. »Wirklich verdammt komisch. Du wirst eine Menge zu schreiben haben, Doc.« »Was ist hier komisch?« stieß der kleine Mann mit dem schütteren blonden Haar und den schwachen Augen hervor. »Wenn er wirklich Polizeibeamter ist, kann er uns alle hier herausholen. Es ist nichts Komisches daran, wieder auf der Erde leben zu können, anstatt wie eine Kolonie von Ratten in einer Höhle.« Die Stimme steigerte sich in Erregung, der Akzent blieb unverändert, und da war auch noch immer ein Unterton von Autorität. Der Mann erinnerte Bony an jemanden, dessen Bild er in einer Zeitung gesehen hatte, und jetzt gab Havant dem Bild auch einen Namen. »Mein lieber Clifford Maddoch, ich stimme ganz mit Joe überein – die augenblickliche Situation ist wirklich urkomisch. Ich mag das Wort nicht, wiederholte es aber, weil ihr es benutzt habt. Sie ist komisch, weil wir zufällig leicht im Nachteil sind, wenn Inspector Bonaparte schnell mal hereinschaut, um uns guten Morgen zu wünschen.« Das also war Clifford Maddoch. Er hatte seiner Frau eine Dose Strychnin verabreicht, da Thallium zu diesem Zweck noch nicht in Mode gekommen war. Er war Manager eines bedeutenden Zweigbetriebs einer Wollmakler-Firma, Präsident des örtlichen Golfclubs und Sekretär des Urban District Committee gewesen. Vierzehn Jahre hatte ihn die vernichtende Stimme seiner Frau gefoltert, war in seinen Geist und seine Seele eingedrungen und hatte sie unbarmherzig durchbohrt. Ein merkwürdiger Zufall, daß der Richter ihn auch zu vierzehn Jahren verurteilt hatte. Nachdem er zehn Jahre abgesessen hatte, wurde er entlassen. »Du sei bloß still, Clifford!« fauchte Riddell. »Es hat gar keinen Sinn, wenn du dich an den Inspector ranschmeißt, nach dem, was du eben getan hast.« Der kleine Mann sprang auf. Es sah so aus, als würde jeder einzelne Nerv in seinem Gesicht zucken. »Ich bin unschuldig!« brüllte er. »Ich habe euch schon gesagt, daß ich es nicht getan habe. Ich habe Igor Mitski gemocht – alles an ihm gemocht, nur nicht seine Stimme.« Bony erinnerte sich auch an den Fall Igor Mitski, an den Vertriebenen, den Sänger, den man, nachdem er ins Land gekommen war, auf eine Station im Nordwesten von Neusüdwales geschickt hatte. Er war 73
kultiviert, sprach ein bißchen Englisch und war gezwungen, in einem fremden Land unter Fremden zu leben. Ein polnischer Jude, der schwer gelitten hatte. Der Viehzüchter und seine Frau waren freundliche Menschen. Anstatt Mitski zum Gärtner zu machen, übertrugen sie ihm den Musikunterricht ihrer achtjährigen Tochter. Die Lage spitzte sich zu und vernichtete Mitski und das Kind. Er litt noch immer an den seelischen Wunden, die ihm die Eroberer seines Vaterlandes geschlagen hatten; das Kind war verwöhnt und eigensinnig, wie nur ein Kind sein kann. Im Zorn erschlug Mitski die Kleine. Er wurde wegen Totschlags verurteilt und nach zwanzig Monaten entlassen. Mitski! Bony hatte sich in der Stadt im äußersten Westen aufgehalten, in der Mitski vor Gericht stand. Er war am letzten Prozeßtag eingetroffen und bei der Urteilsverkündung dabei gewesen. Eine Frau war aus dem Zeugenstand zur Anklagebank gestürzt, und ein Mann hatte sie rasch in die Arme genommen und versucht, sie zu beruhigen. Bony hatte dem Verfahren nicht offiziell beigewohnt, daher hatte er den Zwischenfall vergessen gehabt. »Mitski hat ein kleines Kind erschlagen«, sagte er. »Das ist richtig, Inspector«, antwortete Dr. Havant. »Hier kennt jeder die Vergangenheit aller anderen. Wir sprechen oft über persönliche Erlebnisse, Wünsche, ehrgeizige Ziele und befriedigende Erfahrungen. Wir sind im Grunde eine sehr konservative Gemeinde.« Er lachte auf seine trockene, humorlose Art und wandte sich an die anderen. »Ich schlage vor, wir nehmen den Inspector in unsere ehrenwerte Gemeinschaft auf. Ich habe die Ehre, den Namen von Inspector Bonaparte einzubringen. Ich fühle, daß er alles tun wird, um jedes Mitglied zu unterstützen und zu ermutigen, daß er sich würdig erweisen und sich immer für die Wehr- und Glücklosen einsetzen wird. Was sagt ihr dazu?« »Es ist ein verdammtes Risiko«, knurrte Riddell. »Er ist nicht qualifiziert.« »Ich stimme für Inspector Bonaparte«, sagte Clifford Maddoch. »Ich unterstütze Ihren Antrag ebenfalls, Herr Präsident«, erklärte Mark Brennan schleppend. Dr. Havant stand auf. Er strahlte die Versammlung an, und seine kreideweißen Wangen bekamen sogar ein wenig Farbe. Die dunklen Augen erinnerten Bony plötzlich an die Augen der Frau in Mount 74
Singular. Dann fiel ihm ein, wo er sie früher gesehen hatte, und diese außergewöhnliche Möglichkeit war wie ein Licht, das in seinem Kopf explodierte. Er hörte den Doktor sagen: »Willkommen, Inspector, in unserer exklusiven Vereinigung. Wir ernennen Sie hiermit offiziell zum Mitglied des Instituts entlassener Mörder.«
Eine Leiche für Bony
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ch weiß die Ehre zu schätzen«, sagte Bony ernst. »Es sind viele Fragen offen, und bestimmt wollen Sie auch verschiedenes von mir wissen. Doch das Wichtigste kommt zuerst: Wo ist der Tote?« »Am besten, Sie verhaften gleich diese halbe Portion«, entgegnete Joseph Riddell. »Er hat Igor Mitski gehaßt, weil seine Stimme ihn an seine Alte erinnert hat. Er wollte nie, daß Igor singt, dabei war er besser als diese idiotischen Rundfunksänger.« Maddoch schrie abermals, daß er unschuldig sei, und als Riddell ihn wieder verspottete, fiel Myra Thomas ihm ins Wort: »Das reicht, Riddell. Von jetzt an verhältst du dich gefälligst ruhig. Du hast keinen Beweis dafür, daß Clifford Mitski umgebracht hat, also halte deinen dummen Mund.« Bony mischte sich rasch ein. »Soviel ich weiß, sind Sie alle verurteilte Mörder und bis auf einen auf Bewährung entlassen. Außer daß Sie sich nicht, wie vorgeschrieben, regelmäßig gemeldet haben, interessieren Sie mich offiziell nicht. Aber Sie sagen, Sie haben einen Toten hier – einen Mann, der ermordet wurde, und Sie unterstellen, daß einer von Ihnen die Tat begangen hat. Wo ist die Leiche dieses Mannes?« »Jenks, die Lampe«, sagte der Doktor und fügte, für Bony bestimmt, hinzu: »Jenks verwaltet die Lampen und das Öl, das ziemlich knapp ist.« Der frühere Seemann zündete ein Streichholz an und hielt es an den Docht der Sturmlaterne. Der Doktor nahm sie ihm ab und ging in den 75
Tunnel voraus. Sie konnten aufrecht gehen, und der Boden war eben. Links zweigte ein Nebentunnel ab, aus dem ein leises Stöhnen drang. Der Haupttunnel mündete in eine Felsenhöhle von so gewaltigen Ausmaßen, daß die Lampe sie nicht ausleuchten konnte. Bony wurde an einem riesigen Felsblock vorbeigeführt, der aus dem Höhlendach gebrochen war, und dann ging es weiter über eine freie Fläche. Endlich blieb Havant stehen. Das Licht fiel auf einen Mann, der auf dem Bauch lag. Unter seinem Gesicht floß ein blutiges Rinnsal hervor und versikkerte in der Dunkelheit. Der Mann trug derbe und haltbare Arbeitskleidung. »Ich hoffe, es hat ihn niemand angerührt«, wandte Bony sich an den Doktor. »Nein. Ich habe ihn nur am Haar angefaßt und den Kopf gehoben. Das Stirnbein ist zerschmettert. Daß er tot ist, war offensichtlich, und bevor ich ihn näher untersuchen konnte, wurde ich von Ihrem Hund abgelenkt.« »Jemand soll ihn umdrehen.« Jenks tat es, und Myra Thomas schrie auf. Bony schätzte den Toten auf etwa einsachtzig, er war verhältnismäßig gut genährt, das Gesicht glattrasiert, das eisengraue Haar ganz kurz geschnitten. »Womit wurde er getötet?« fragte Bony. »Das wissen wir nicht«, antwortete Myra Thomas. »Wahrscheinlich mit einem Stein.« »Wir haben noch nicht nach der Waffe gesucht«, warf Brennan ein. »Das wollen wir jetzt nachholen. Bringen Sie noch ein paar Laternen, wenn Sie welche haben.« Jenks ging, und Bony sah der Gestalt nach, die sich durch den Tunnel in Richtung des Tageslichts am anderen Ende entfernte. Er fragte, wer den Toten gefunden habe, und Mark Brennan antwortete, daß er ungefähr eine halbe Stunde, bevor Bony aufgetaucht war, hierhergekommen sei. Als Bony um Einzelheiten bat, fuhr Brennan fort: »Myra und ich waren in dem Gang, der zum Luftschacht führt, und haben ihren weißen Schal gesucht. Da hörten wir Igor schreien. Es klang so wie: ›O nein, tu’s nicht! Tu’s nicht!‹ Dann schrie er einmal ›Hilfe!‹ Ich ließ Myra stehen und lief mit unserer Lampe los, um nachzusehen, was passiert war. Als ich in den Haupteingang kam, stieß ich mit Dr. Havant zusam76
men, und er sagte, er sei im sogenannten Saal gewesen, also war Igor nicht dort. Wir kamen hierher und trafen Riddell mit einer Lampe, und Maddoch war bei ihm.« »Ist nur noch Jenks übrig. Was war mit ihm?« »Er tauchte einfach auf und machte sich mit uns auf die Suche nach Mitski«, antwortete Brennan. »Wir sahen uns hier um, und ich fand zufällig den Toten. Es ist eine ziemlich große Höhle, wie Sie sehen.« Doch Bony sah vorläufig gar nichts. Erst als Jenks noch drei Sturmlaternen brachte, sie angezündet und alle vier auf den Felsblock gestellt hatte, bekam Bony eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Höhle. »Es ist offensichtlich, daß einer von uns der Mörder sein muß«, sagte Dr. Havant nicht sehr originell. »Gibt es hier noch andere Gänge?« »Einen, der als Sackgasse endet. Ein anderer führt hinunter in den, wie wir ihn nennen, ›Juwelierladen‹ und von dort weiter zu einem Platz, den ich ›Fiddler’s Leap‹ getauft habe.« »Und Sie sind die einzigen, die hier unten hausen?« »Ja. Einer von uns hat Mitski mit einem Stein erschlagen.« »Woher wissen Sie, daß es ein Stein war?« »Weil er mit einem stumpfen Gegenstand getötet wurde. Wir haben keine stumpfen Gegenstände – nur Steine in allen Größen – vom kleinen Kieselstein bis zum Felsbrocken. Wir haben Messer – Tischmesser. Mitski wurde nicht mit einem Tischmesser umgebracht.« »Muß der stumpfe Gegenstand Ihrer Meinung nach blutig sein, Doktor?« »Die Antwort darauf ist nicht leicht, Inspector. Wahrscheinlich nicht, wenn der Täter nur einmal zugeschlagen hat. Waren es mehrere Schläge, dann ganz bestimmt.« Bony bat alle, zurückzutreten und konzentrierte sich darauf, die Tatwaffe zu suchen. Auf dem Boden lagen weder Schutt noch Geröll, und als er darüber eine Bemerkung machte, erfuhr er, daß Schutt und Geröll schon vor langer Zeit in den kurzen blinden Gang transportiert worden waren. »Wir gehen jetzt dahin zurück, wo wir uns getroffen haben«, sagte Bony, und Dr. Havant erklärte entgegenkommend, das sei der sogenannte Saal. 77
Bony, der sich in dem Höhlenlabyrinth nicht besonders wohl fühlte, war froh, als er wieder im Saal war. Die anderen standen da, beobachteten ihn und warteten, als er sich auf seinen Packsattel niederließ und sich die unvermeidliche Zigarette drehte. Ihr Verhalten wich von dem normaler Menschen stark ab, denn die hätten Näheres wissen wollen, hätten Erklärungen verlangt, und er fragte sich, wie er ihre Haltung deuten konnte. Er erkannte, daß es sehr klug von ihm gewesen war, seine Neugier zu zügeln. »Machen Sie sich’s doch bequem«, sagte er. »Ich spreche zuerst, doch bevor ich anfange, müssen Sie mir eine Frage beantworten. Sind Sie unfreiwillig hier? Werden Sie hier festgehalten?« Alle wollten auf einmal reden, und er winkte ab. Daß ein paar von ihnen schon sehr lange hier gefangen waren, sah man ihren Gesichtern an, und ein Kind hätte daraus schließen können, daß sie nicht geblieben wären, wenn sie einen Fluchtweg gefunden hätten. »Sie wissen, wer ich bin und wofür ich stehe«, begann er. »Sie wissen, daß ich Menschen verfolge, aber meine persönliche Meinung über Verbrechen und Verbrecher kennen Sie nicht. Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Von Amts wegen ist es mir egal, ob ein Gesetz vernünftig oder sinnlos ist. Von Amts wegen ist es mir auch egal, welche Strafe über einen Gesetzesbrecher verhängt wird. Persönlich, als Privatmensch, empfinde ich Abscheu vor Mord, dem Verbrechen, mit dem wir es hier zu tun haben. Damit Sie mich richtig verstehen – es gibt noch einen Punkt. Jeder von Ihnen hat einen Mord begangen und wurde begnadigt, als man glaubte, er sei genug gestraft. Weil gewisse Bedingungen auf Sie nicht zutreffen, kann ich offiziell bestätigen, daß Sie gewaltsam daran gehindert wurden, die Vorschriften zu erfüllen. Das ist keine überstürzte Erklärung, denn ich glaube zu wissen, warum man Sie in diesem Gewahrsam zurückhält – oder kennen Sie vielleicht selbst den Grund?« »Wir kennen ihn nicht, Inspector«, sagte Dr. Havant. »Aber wir würden ihn verdammt gern kennenlernen«, knurrte Riddell. »Lassen wir ihn vorläufig beiseite«, fuhr Bony fort. »Ich hatte den Auftrag, eine vermißte Frau zu suchen, eine gewisse Myra Thomas, die aus einem Zug verschwunden ist. Nachdem sie freigesprochen worden war, hatte die Polizei nichts gegen sie, sie war und ist für uns nur in78
teressant, weil sie als vermißt gilt. Sie alle hier sind vermißte Personen, und jeder Polizist hat die Pflicht, nach Vermißten zu suchen. Also habe ich mich auf die Suche nach Myra Thomas gemacht und fand mit Hilfe mehrerer Spuren – zu denen auch ihr Schal gehört – hierher. Ich hätte Sie auch befreit, wenn ich es nicht an der nötigen Wachsamkeit und Vorsicht hätte fehlen lassen. Jetzt bin ich ein Gefangener wie Sie alle. Ich bin überzeugt, daß Sie wiederholt versucht haben, einen Weg in die Freiheit zu finden, und mit Hilfe meines unverbrauchten Verstandes wird es uns vielleicht sogar gelingen. Jetzt zu der Krux der künftigen Beziehung zwischen Ihnen und mir. Falls mir etwas zustoßen sollte und Sie vielleicht eine Möglichkeit hätten zu fliehen, würden Sie nie den Weg zurückfinden – auch wenn Sie nicht von Ihren Kerkermeistern oder deren Helfershelfern gejagt würden. Wir sind im Augenblick mehr als zweihundert Meilen von der nächsten Heimstätte entfernt und in der unbarmherzigsten und feindseligsten Gegend Australiens. Sie mögen als verurteilte Mörder eine fast ebensogroße Feindseligkeit gegen mich, einen Polizeibeamten, empfinden, aber Ihnen muß klarsein, daß Sie sogar in diesem Stadium von mir abhängig sind, denn nur ich kann Sie aus diesem Loch und in die Zivilisation bringen. Um ein nautisches Klischee zu bemühen – wir sinken oder schwimmen gemeinsam.« »Ich schwimme nicht«, knurrte Riddell. Myra Thomas wollte etwas sagen, aber Dr. Havant drehte sich um und sah den Gorilla finster an. »Riddell!« sagte er leise. »Ich will nicht …« »Riddell, ich kann deine Gedanken lesen.« Riddell wich Havants Blicken aus. Er schaute auf seine nackten Füße hinunter, und sein riesiger Körper schien zu schrumpfen. Bony hätte es nicht für möglich gehalten, daß sich ein Mensch so schnell in ein jämmerliches Nichts verwandeln konnte. Weder die Worte noch das Gesicht des Doktors wirkten irgendwie drohend, doch seine Überlegenheit war unvergleichlich. Bony, der die plötzliche Spannung fühlte, machte sich wieder bemerkbar. 79
»Ich habe zwei Aufgaben vor mir«, sagte er. »Diejenigen zu finden, die Sie widerrechtlich Ihrer Freiheit beraubt haben. Und den Mörder von Igor Mitzki zu überführen.« »Ich hoffe, Sie entlarven ihn, Inspector«, sagte die von der Mordanklage freigesprochene Myra Thomas. »Er hat keinem hier etwas zuleide getan.« Sie bückte sich und sammelte das Frühstücksgeschirr ein. Bevor sie es in den Nebenraum trug, fügte sie hinzu: »Und glaubt ja nicht, daß ihr anderen jetzt eine Chance habt, weil einer von euch Igor getötet hat.« »Das kann man nie wissen«, sagte Jenks. »Hey, Doc, eines Tages wirst du ein Buch mit dem Titel Wer kriegt die Frau? schreiben können.« »In dem kommst du bestimmt nicht vor, Ted«, näselte Brennan. »Du sagst es, Mark. Wir werden alle drin vorkommen. Das Frauenzimmer hat Unfrieden gesät, seit es hier ist. Sie ist auf Zank und Streit aus. Deshalb hat sie auch ihren Mann weggepustet.« »Schon gut, schon gut. Denk an was anderes.« Myra Thomas kam aus dem Nebenraum zurück, sammelte die restlichen Sachen ein, blieb stehen und sah verächtlich auf den ehemaligen Seemann hinunter, der, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, auf dem Boden saß. Was er dann tat, passierte so schnell, daß nicht einmal Bony folgen konnte. Jenks beugte sich vor und packte Myra am Knöchel. Sie fiel wie in Zeitlupe. Bony stand auf, als sich alle anderen auf Jenks und Myra warfen, bis das Ganze nur noch ein wirres Knäuel von Körpern und um sich schlagenden Armen und Beinen war. Dr. Havant ging zu Bony und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. »Das ist nichts, Inspector. Es ist wie Wasser auf einem Feuer, mit der Zeit muß es einfach anfangen zu kochen. Ich finde, solche Prügeleien sind nötig, um Dampf abzulassen und nicht völlig durchzudrehen. Solange sie sich wegen einer Frau schlagen, kämpfen sie nicht gegen uns.« »Aber sie werden die Frau verletzen«, wandte Bony ein. »Nur keine Bange«, antwortete Havant mit eisiger Ruhe. »Sie stammt aus den Slums, und das klebt an ihr – wird immer an ihr kleben bleiben, trotz des edlen Mäntelchens der Bildung, das sie sich umgehängt hat.« Myra Thomas bemühte sich im Moment verzweifelt, ihre Zähne in Jenks’ Arm zu schlagen, und er tat sein möglichstes, sie an den Haa80
ren zu ziehen. Mark Brennan hämmerte mit einer Faust auf Jenks ein und versuchte mit der anderen Riddells Nabel an seiner Wirbelsäule festzunageln. Der große Mann wehrte sich, indem er mit einer Hand Brennans Haar nach oben und mit der anderen den Van-Dyck-Bart nach unten zog. Als der kleine Maddoch mit einer Kanne kochenden Wassers erschien, rief der Doktor seinen Namen und schüttelte den Kopf. Maddoch zuckte mit den schmalen Schultern und trottete in den Nebenraum zurück. Es war erstaunlich, daß er trotz des Geschreis die Stimme des Doktors gehört hatte. Als Maddoch zurückkam, ging er vorsichtig um das Menschenknäuel herum und sagte, den Mund ganz dicht an Bonys Ohr: »Es ist die Höhle, Inspector. Hin und wieder führen sie sich so auf, aber es passiert häufiger, wenn die Frau in der Nähe ist. Sie hat einen schlechten Einfluß.« »Ein wahres und originelles Wort«, pflichtete Havant ihm trocken bei. »Wissen Sie, Inspector, Menschenhaar ist wirklich ganz schön widerstandsfähig und hält einiges aus. Myra hat den Krach angefangen. Ich glaube, sie genießt es, obwohl man im Moment fast ein bißchen um sie besorgt sein müßte.« Es gab jedoch keinen Grund, sich einzumischen. Plötzlich löste sich Myra aus dem Gewirr, und ihre violetten Augen blitzten triumphierend. Sie lächelte herausfordernd zu Bony und Havant herüber, schlug Jenks einmal kräftig ins Gesicht, hob eine Decke, hinter der eine zweite Nebenkammer zum Vorschein kam, und verschwand. Brennan setzte sich auf und kämmte sich liebevoll den Bart mit den Fingern, als wollte er sich überzeugen, daß er noch dran war. Die anderen standen taumelnd auf und begutachteten einfältig den Schaden. Nachdem die Kampfhandlungen eingestellt waren, herrschte Ruhe. Unbemerkt war inzwischen der Hund entwischt.
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Arthur Fiddlers Ausweg
V
on allen Männern schätzte Bony Clifford Maddoch als den ungefährlichsten und vernünftigsten ein. Mit Ausnahme von Maddoch und Havant leckten jetzt alle ihre Wunden, und Havant hatte er energisch angewiesen, bei ihnen zu bleiben. Wieder stand er neben den sterblichen Überresten von Igor Mitzki, drehte den Lampendocht höher, und ihm gegenüber wartete Maddoch und beobachtete ihn. »Ein heftiger Schlag«, sagte Bony. »Wenn ein Stein die Waffe war, muß er ziemlich groß und schwer gewesen sein.« »Ich habe es nicht getan, Inspector!« rief der kleine Mann verzweifelt. »Ich könnte niemanden töten – nicht auf diese Weise. Mitzki war ein feiner Mensch. Ich konnte mit ihm sprechen, obwohl er sich hauptsächlich für Musik interessierte und ich nicht viel davon verstehe. Er konnte auch singen und sogar richtige Musik auf einer Reihe von Aluminiumbechern machen. Ich hatte keinen Grund, ihn zu töten.« »Sie haben seine Stimme nicht gemocht«, sagte Bony. »Nur wenn er aufgeregt war«, gab Maddoch zu. »Dann ähnelte seine Stimme nämlich der meiner Frau – ihrer gehässigen Stimme … Ich höre sie sogar jetzt noch. Aber ich bin kein richtiger Mörder. Ich könnte niemandem etwas zuleide tun. Sie werden mich wahrscheinlich nicht verstehen können, aber Igor hat mich verstanden. Sehen Sie, nachdem die Russen sein Land besetzt hatten, zwängten sie seinen Kopf in einen Metallhelm und schlugen unaufhörlich mit einer Eisenstange darauf, und diese Töne haben ihn fast wahnsinnig gemacht. Er wußte also, was ich in all den Jahren auszuhalten hatte und daß Ich einfach etwas dagegen tun mußte. Ich habe eigentlich nicht meine Frau ermordet, im Geist jedenfalls nicht, aber ich mußte diese Stimme zum Schweigen bringen, die in meinen Kopf kroch wie ein sprechender Wurm.« 82
Nein, er hatte keiner Frau weh tun können, indem er sie niederschlug. Er hatte ihr nicht weh getan, als er das Gift in ihren Sherry geschüttet hatte; es war das Gift, das sie getötet hatte – nicht er. Jeder Polizist weiß, daß es Menschen gibt, die geborene Mörder sind, doch das Gesetz will diesen Milderungsgrund nicht anerkennen. Also mußte Bony hartnäkkig bleiben. »Wenn Mitski aufgeregt war, hat seine Stimme Sie aber gereizt«, sagte er. »Ja, das ist richtig. Ich habe ihn immer gebeten, ruhig zu bleiben. Und er redete nicht ununterbrochen auf mich ein wie meine Frau, bis ich nach Schlaf hätte schreien können. Aber ich habe es nie gewagt, in ein anderes Zimmer zu gehen, um ihre Stimme loszuwerden.« »Wo waren Sie, als Mitski ›Tu’s nicht! Hilfe!‹ rief?« »Ich kam aus dem Juwelierladen zurück, wo ich Küchenabfälle in einen Schacht geworfen hatte«, antwortete Maddoch. »Den Weg kenne ich so gut, daß ich keine Lampe brauche, und Öl ist für uns sehr kostbar. Ich habe Igor gehört, als ich noch in dem Gang war, der zu dieser Höhle führt, und als ich hier reinkam, bewegte sich etwas. Was es auch sein mochte – ich wußte zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht, was es war –, es blieb stehen, als ich darauf zuging. Ich konnte nichts sehen und tastete mich um den großen Felsbrocken herum, da hörte ich auf einmal jemanden hinter mir. Dann packte mich Riddell, und alle anderen waren auch da.« »Sie sagen, Sie haben kein Licht gehabt. Wo war das Licht in dieser Höhle, als Sie sahen, daß sich etwas bewegte?« »Ich habe kein Licht gebraucht.« »Wieso konnten Sie dann im Dunkeln sehen, daß sich etwas bewegte?« »Das will ich Ihnen zeigen, Inspector. Ich bleibe hier. Gehen Sie hinüber, und blasen Sie die Lampe aus.« Bony war mit dem Vorschlag einverstanden. Nachdem er die Lampe gelöscht hatte, wartete er, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und stellte dann fest, daß das Licht aus dem Saal gerade noch so viel Helligkeit verbreitete, daß er die formlose Gestalt neben der Leiche und den Felsbrocken sehen konnte. »Winken Sie mit den Armen«, sagte er, und Maddoch winkte. Er zündete die Lampe wieder an und rief ihn zu sich. 83
»Wie groß sind Sie?« »Nicht ganz einssiebzig, Inspector.« »Wie alt?« »Vierundfünfzig. « »Zeigen Sie mir jetzt den Rest dieses Höhlensystems.« Maddoch führte Bony in einen kurzen Gang, der als Sackgasse endete, und erklärte ihm, früher hätten sie ihre Abfälle hierhergebracht, jetzt aber sei der Gang Teil eines Stollens, den Jenks grub, weil er glaubte, hier gebe es den einzigen Weg ins Freie. »Er arbeitet schon lange daran«, sagte Maddoch und deutete auf ein zerklüftetes Loch, das auch für den Riesen Riddell groß genug war. Bony spähte hinein und stellte fest, daß der Stollen erst rund anderthalb Meter vorwärtsgetrieben worden war. »Er hat ja nur die Tischmesser zum Graben, die deshalb so schartig und oft abgebrochen sind, deshalb hat ihm der Doktor verboten, weiterzugraben.« Unzählige Fragen, die eine Erklärung verlangten, schossen Bony durch den Kopf, doch er zwang sich, sich auf den Toten und auf den Grundriß dieses unterirdischen Labyrinths zu konzentrieren. »In Ordnung, Maddoch, gehen wir weiter.« Diese Höhle – offensichtlich der Schlafraum der fünf Männer –, von der Maddoch sagte, sie sei die größte, hatte eine Nebenkammer. Damit hatte Bony einen Überblick über diesen Teil des Labyrinths, und Maddoch ging ihm durch einen abwärts führenden Gang mit holprigem Boden voran. Dieser Gang war so schmal, daß zwei Personen nicht aneinander vorbeikonnten. Nach zahlreichen Windungen und scharfen Kehren kamen sie in den Juwelierladen. Das Licht, das Maddoch trug, wurde millionenfach zurückgeworfen. In dieser Kammer gab es so viele wie Kristallleuchten vom Höhlendach hängende Stalaktiten, die mit aus dem Boden ragenden Stalagmiten zusammenwuchsen, daß die Säulen aus Kalziumkarbonat fließende Vorhänge, Orgelpfeifen aus Perlen, sogar Haifischzähne, geheimnisvolle Grotten und Folterwerkzeuge bildeten. »Schauen Sie, ich zeige es Ihnen!« rief Maddoch mit einem Unterton von Begeisterung in der dünnen Stimme, die durch das Echo zur Stimme eines Riesen wurde. Er trat hinter die Säulen und schwenkte die Lampe hin und her und auf und ab, und die Säulen schimmerten perlweiß und silbern. Sekundenlang funkelte und blitzte es wie von Myria84
den Edelsteinen. Doch aller Glanz erlosch in dem Augenblick, in dem das Licht weiterwanderte. Als Maddoch die Lampe hob, strahlten vom Höhlendach unzählige Sterne. Der kleine Mann spielte Aladin mit seiner riesengroßen, herrlichen Schatzhöhle und mußte von Bony auf die Erde zurückgeholt werden, der wissen wollte, ob das fließende Wasser, das in ein großes Becken plätscherte, langsam überlief und dann kaskadenartig in einen Schacht stürzte, ihr Wasservorrat war. »Ja, Inspector. Früher waren Fische drin – vor meiner Zeit. Igor hat gesagt, er hätte mit ihnen gespielt, und es hat ihm leid getan, als Fiddler sie gefangen und gekocht hat. Sie hatten keine Augen, waren stumpfweiß und schmeckten nicht besonders.« Ein Gang hinter dieser Höhle war nicht so leicht zu begehen. Er war stellenweise so schmal, daß Bony sich fragte, ob Riddell je hier durchgekommen war. Es ging steil hinunter, und am Ende mußten sie unter einem überhängenden Felsen durchkriechen – für jemanden, der an Klaustrophobie litt, sehr unangenehm. Von diesem Punkt an führte der Gang manchmal fast im spitzen Winkel leicht nach oben und endete in einer weiteren Höhle, die eine sehr ungewöhnliche Form hatte. Es war eine längliche Kammer, und sie standen auf einem breiten Vorsprung über einer ebenso breiten Bodenspalte. Hinter der Spalte war ein zweiter Vorsprung, und an seinem Ende sah man im schwachen Tageslicht den Eingang zu einem weiteren Tunnel, der, bevor die Erde sich gespalten hatte, die Fortsetzung des Ganges gewesen war, durch den sie gekommen waren. In dieser Kammer gab es eine Vielfalt von Geräuschen. Wasser sprudelte, und aus der Bodenspalte kam das ferne Rauschen eines großen Gewässers, und dann hörte man noch ein Geräusch, das einen zweifeln ließ, ob Ganba tatsächlich nur eine Legende der Aborigines war. Maddoch trat an den Rand des Abgrunds und winkte Bony mit der Lampe, zu ihm zu kommen und auch hinunterzuschauen. Bony bedankte sich höflich, weil er nicht wußte, was er von diesem Mr. Clifford Maddoch halten sollte. »Sie mögen keine Höhen«, sagte Maddoch. »Ich auch nicht, aber manchmal zwinge ich mich dazu, etwas zu tun, was ich nicht mag. Wie breit ist Ihrer Meinung nach dieser schwarze Abgrund?« »In diesem Licht kann man das nur schwer schätzen. Drei Meter vielleicht.« 85
»Jedenfalls ein beachtlicher Sprung«, räumte Maddoch ein. »Fiddler hat ihn gewagt – zurückgekommen ist er nicht. Sollen wir uns ein bißchen ausruhen und eine Zigarette rauchen? Erinnern Sie sich an Fiddler?« Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saßen sie da, und ihre Füße waren ungefähr einen halben Meter vom Abgrund entfernt. Bony begann mit Tabak und Papier zu hantieren, und Maddoch holte ein Messer heraus, das fast keine Klinge, aber noch eine lange Spitze hatte, und schnitt sich ein Stück Kautabak ab. »An seinen Fall erinnere ich mich nur noch bruchstückweise«, antwortete Bony. »Erzählen Sie.« »Ich habe Fiddler nicht gekannt, und was ich von ihm weiß, habe ich von Mitski erfahren – daß er anmaßend und oft unangenehm war. Arthur Fiddler muß psychisch gestört gewesen sein. Hat schon sehr früh mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht, und als er mit Anfang Dreißig als Schornsteinbauer arbeitete, stürzte einer seiner Arbeitskollegen ab und war tot. Fiddler kümmerte sich um die Witwe und die beiden Kinder. Er hätte die Frau heiraten können, tat es aber nicht. Anscheinend hat er zwei Jahre lang vorbildlich für diese Familie gesorgt, und dann hat die Frau ihn und die beiden Kleinen verlassen. Dann – Sie erinnern sich? – hat er die Kinder mit Gas aus dem Küchenherd vergiftet und ist selbst nur durch ein Wunder der medizinischen Wissenschaft am Leben geblieben. Dann kam das übliche – Todesurteil, zu lebenslanger Haft begnadigt und nach elf Jahren auf Bewährung entlassen. Als er hergebracht wurde, hatte Igor Mitski hier schon zehn Monate allein gelebt, denn er war das erste Opfer der Entführer, und daß Fiddler kam, rettete ihm den Verstand. Fiddler war so geschmeidig und beweglich, wie ein Schornsteinbauer eben sein muß, und er sprach mit Igor darüber, ob man nicht versuchen sollte, über den Abgrund zu springen, um zu sehen, ob das Tageslicht auf der anderen Seite vielleicht eine Fluchtmöglichkeit bedeutete. Genau wie wir haben die beiden natürlich gesehen, daß der Vorsprung gegenüber etwas tiefer liegt, und wir waren übereinstimmend der Meinung, daß die Spalte etwa drei Meter breit ist. Doch wie Sie ebenfalls sehen, ist nicht genug Platz für den Anlauf da, so daß der Sprung eine riskante Sache bleibt, denke ich. 86
Fiddler entschloß sich jedoch zu springen und ging, um einen größeren Anlauf zu haben, ein Stück in den Gang zurück. Mitski stand mit der Lampe direkt am Rand des Abgrunds, damit Fiddler den Absprang nicht verfehlte. Fiddler schaffte den Sprung. Er rief Igor von der anderen Seite etwas zu, der ihm begeistert gratulierte. Dann drang Fiddler weit in den Gang vor und verschwand. Igor wartete auf ihn, aber als er endlich zurückkam, war die Lampe ausgegangen. Fiddler rief, oben gebe es gar nichts – kein Haus, kein kultiviertes Feld, keine Straße. Das Land erstrecke sich flach wie ein Pfannkuchen von Horizont zu Horizont. Nur im Norden hatte er Sanddünen gesehen. Er sagte, sie müßten auf dem Mars sein. Er hatte sich ein Stückchen vom Höhlenausgang entfernt, und dann war ihm klargeworden, daß er das Loch vielleicht nie wieder finden würde. Er zog das Hemd aus, das zufällig weiß war, und legte es zu seiner Orientierung über einen Busch. Aber als er ungefähr eine Meile weit gegangen war, sagte er sich, daß er auch das Hemd nicht mehr sehen würde, wenn er seinen Ausflug noch weiter ausdehnte, und deshalb hatte er kehrtgemacht. Igor hatte gesagt, Fiddler sei sehr aufgeregt gewesen und habe wie ein Mann gesprochen, der einen großen Schock erlitten hatte. Er wollte wieder zurückspringen, mußte aber warten, bis Igor frisches Öl in die Lampe gefüllt hatte. Als Igor zurückkam, schien Fiddler jedoch allmählich den Mut zu verlieren. Er sagte, daß ihm dieser Sprung viel schwieriger vorkäme als der erste. Sie überlegten, wie Igor ihm helfen könnte, aber es gab keine Möglichkeit. Endlich sagte Fiddler, daß er nicht länger warten wollte. Also stellte Igor die Lampe an den Rand des Felsvorsprungs, und Fiddler suchte sich den längsten Anlauf aus. Er verfehlte den Felsvorsprung nur um wenige Zentimeter, und Igor konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Fiddler stürzte in den Abgrund, und Igor blieb fünf weitere Monate allein, bis Dr. Havant hergebracht wurde.« »Einen Weg in die Spalte gibt es wohl nicht?« fragte Bony. »Nein. Und es geht sehr tief hinunter. Man kann ganz langsam bis sieben zählen, bevor man einen Stein auf dem Wasser aufklatschen hört.« »Wer ist nach Dr. Havant gekommen?« 87
»Ich. Dann Brennan und nach ihm Riddell. Nach Riddell kam Jenks. Myra Thomas ist noch nicht lange hier. Ich weiß nicht genau, seit wann. Wir zählen die Tage nicht mehr. Was ist denn das?« Lucy trat in den kleinen Lichtkreis der Lampe und wedelte begeistert mit dem Schwanz, weil sie Bony gefunden hatte. »Den kleinen Hund hatte ich ganz vergessen. Sie nicht?« rief Maddoch und drückte Lucy fest an sich. »Ja – und nein«, gestand Bony. »Erzählen Sie mir jetzt, wie Sie hierhergekommen sind.« »Nun ja, in gewisser Weise war es bei mir genauso wie bei den anderen, Inspector. Zu meinen Entlassungsbedingungen gehörte unter anderem, daß ich in Zukunft auf der kleinen Station meines Bruders lebe. Ich fuhr mit dem Zug zu ihm. Eine Frau und ein Mann reisten in demselben Abteil wie ich, und plötzlich fragte mich die Frau, ob ich Clifford Maddoch sei. Als ich ja sagte, geriet der Mann ganz aus dem Häuschen und meinte, es sei schön, daß wir uns jetzt schon kennenlernten, sie seien Nachbarn meines Bruders, und er habe ihnen erzählt, daß ich auch mit diesem Zug reisen wollte. Ich fand ihr Verhalten sehr anständig, denn wenn man ein paar Jahre im Gefängnis gesessen hat, hat man vor der Welt draußen schon ein bißchen Angst. Als der Zug in einen Bahnhof einfuhr, wo er zwanzig Minuten Aufenthalt hatte, meinte der Mann, wir sollten aussteigen und uns ein bißchen die Beine vertreten. Das war ein vernünftiger Vorschlag, und natürlich gingen wir beide zuallererst zur Toilette, die, wie auf den meisten Bahnhöfen, am äußersten Ende und schon im unbeleuchteten Teil des Bahnsteigs lag. Als ich die Toilettentür öffnete, wurde ich von hinten niedergeschlagen, und von da an war alles nur noch Schlaf und Traum. Ich träumte, ich würde auf einem Laster irgendwohin transportiert. Ich erinnere mich, daß man mich von dem Laster – es kann auch ein Personenwagen gewesen sein – herunterhob. Dann hatte ich das Gefühl zu schweben, und ein furchtbar lautes Geräusch toste um mich herum. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf Decken im sogenannten Saal. Dr. Havant flößte mir Kaffee ein, und Igor Mitski kniete neben mir.« »Können Sie den Mann und die Frau aus dem Zug beschreiben?« »O ja. Der Mann oder die Frau oder beide haben bei allen Entführungen eine Rolle gespielt. Die Frau war dunkel und zierlich. Sie lächelte 88
oft, aber ihre Augen blieben kalt. Myra Thomas erinnerte mich irgendwie an sie. Der Mann erschien mir nicht besonders kräftig, aber drahtig und sehr sportlich. Er hatte auch dunkles Haar und dunkle Augen. Ich glaube mich zu erinnern, daß er sehr viel geredet hat, aber ganz sicher bin ich nicht.« »Würden Sie die beiden wiedererkennen?« »Und ob ich sie wiedererkennen würde, Inspector«, antwortete Clifford Maddoch, und die Schroffheit und der spröde Haß, der aus seinen Worten sprach, erschreckten Bony.
Bony gewinnt einen Verbündeten
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etzt, Maddoch, entspannen Sie sich, und lassen Sie mich nachdenken«, sagte Bony. Zusammen mit Arthur Fiddler und Igor Mitski, der noch immer erschlagen in seinem Blut lag, waren sieben wegen Mordes zu langen Haftstrafen verurteilte Männer aus der Haft entlassen, entführt und in diese Höhlen verfrachtet worden. Und eine Frau, die von der Mordanklage freigesprochen worden war, hatte man ebenfalls entführt und gefangengesetzt. Keiner dieser Männer hatte seine Strafe voll abgebüßt, alle waren begnadigt worden. In Mark Brennans Fall war sogar in der Strafakte vermerkt gewesen, daß er nie auf freien Fuß gesetzt werden dürfe. Warum die zuständigen Behörden das rechtsmäßige Gerichtsurteil so mißachtet hatten, durfte einen Polizeibeamten von Amts wegen nicht interessieren. Bony suchte Fakten. Es war sein Beruf, Verbrecher dingfest zu machen, und daran hielt er sich. Die Kanäle, in denen politischer Einfluß geltend gemacht worden war, um die Freilassung dieser sieben Mörder 89
zu erwirken, kannte er nicht, und sie gehörten auch nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Für ihn war nur interessant, daß die sieben nach ihrer Freilassung wieder gefaßt und eingesperrt worden waren, und zwar ohne staatliche Autorität, an einem Ort, der dem Staat nicht unterstellt war. Diese Männer waren freie Bürger gewesen, wenn sie auch noch eine Zeitlang gewisse Auflagen zu erfüllen hatten; daß sie diesen Auflagen nicht nachgekommen waren, war höhere Gewalt. Innerhalb weniger Tage nach ihrer Freilassung waren sie niedergeschlagen oder betäubt worden, man hatte sie auf der Straße und dann vermutlich in der Luft Hunderte von Meilen verschleppt und in diese Höhlen gebracht, in denen die Lebensbedingungen viel schlechter waren als in den modernen australischen Gefängnissen. Man versorgte sie mit Konserven, einem Ofen und Öl für ein halbes Dutzend Lampen. Sie bekamen mit Stroh gefüllte Matratzen, Decken, einfache Medikamente, aber dem Arzt unter ihnen verweigerte man ärztliche Instrumente. Obwohl man ihnen das Nötigste nicht vorenthielt, Haarschneidemaschinen und Sicherheitsrasierapparate zum Beispiel, gab man ihnen keine neuen Schuhe, und auch ihr Geist mußte verkümmern, da ihre Kerkermeister ihnen weder Bücher noch Papier zur Verfügung stellten. Der Nachschub an Vorräten funktionierte nicht immer, und einmal hatten sie fünf Tage lang kein Kerosin gehabt, um den Ofen zu heizen und die Lampen anzuzünden; daraufhin hatten sie Jenks zum Verwalter des Brennmaterials und der Lampen ernannt. Die Gefangenen sagten nicht dasselbe aus, wenn es um die Frage ging, welcher Transportmittel sich ihre Kerkermeister jeweils bedienten. Einer sagte, er hätte in seinem halb betäubten Zustand geglaubt, die Rotorblätter eines Hubschraubers gesehen zu haben; ein anderer war der Meinung, er hätte die ganze Zeit auf einem Laster gelegen. Wenn Vorräte angeliefert wurden, meinten sie aus dem Motorengeräusch schließen zu können, daß es sich um einen Laster handle, doch Bony war überzeugt, daß es eine Flugmaschine war. »Erzählen Sie«, sagte er, »wie geht es im einzelnen vor sich, wenn Vorräte gebracht werden?« »Sie kommen immer nachts«, antwortete Maddoch. »Wir hören sie – ich meine, den Motor, schon lange, bevor das Fahrzeug hier eintrifft. 90
Zuallererst leuchtet jemand mit einer sehr starken Lampe in den Saal herunter. Dann sagt ein Mann: ›Ihr alle, dort unten, laßt euch sehen.‹ Vielleicht will er so feststellen, wie viele von uns noch leben. Vor langer Zeit hat sich Dr. Havant einmal widersetzt, da wurde ihm gesagt, die Vorräte seien streng rationiert, und es könnten nur die Gefangenen berücksichtigt werden, die sich zeigten. Der Doktor protestierte weiter, und niemand zeigte sich. Also ließ man keine Vorräte zu uns herunter, und da wir kaum noch etwas zu essen hatten, waren wir schon fast verhungert, als sie das nächste Mal kamen. Seit damals versteckt sich keiner mehr. Die Sachen werden in Säcken heruntergelassen, und das Öl kommt in Metallkanistern zu vier Gallonen. Die leeren Dosen und Kanister werden hinaufgezogen. Einmal packte Jenks das Seil und versuchte hinaufzuklettern. Man sagte ihm, er riskiere nur, eins über den Schädel zu bekommen. Ein andermal hielt Mitski das Seil fest und weigerte sich, es loszulassen. Die Männer oben feuerten einen Warnschuß ab, und damit war die Sache erledigt.« Laut Maddoch war die Langeweile ihr größter Feind, besonders seit sie wußten, daß die einzige Fluchtmöglichkeit jenseits des Abgrunds lag, in dem Fiddler ums Leben gekommen war. Nach ihm wagte keiner mehr den Sprung – zum Teil auch abgeschreckt durch das, was Fiddler zu Igor Mitski über die Trostlosigkeit und Verlassenheit der Welt draußen erzählt hatte. Dr. Havant hatte großen Einfluß auf Igor Mitski, den er schon in der Höhle vorfand, aber auch auf alle anderen, die nach ihm kamen. Maddoch erklärte, daß nur der Doktor sie davor bewahrt hatte, zu Tieren zu werden. Er hatte hypnotische Kräfte, die Riddell und Jenks beruhigen konnten, nicht aber Mitski, Brennan oder Myra Thomas. Maddoch sagte, auch er könne sich den hypnotischen Kräften widersetzen, gab jedoch zu, ihm sei klargeworden, daß nur ein starker Anführer die kleine Gemeinde vor dem Wahnsinn retten konnte. »Daran glaube ich ganz fest, Inspector«, fuhr er ernst fort. »Der Doktor hat einen unendlichen Vorrat an Geschichten – eine ganze Bibliothek gewissermaßen. Wir hören ihm zu, solange er bereit ist zu erzählen. Zum Beispiel John Steinbecks Früchte des Zorns und Buchans Neununddreißig Stufen. Er kommt mir vor wie Scheherezade, die sich selbst das Leben rettete, weil sie die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht so fesselnd erzählen konnte. Wenn man die Augen zumacht und zuhört, 91
kann man die Geschichten des Doktors fast miterleben. Er hat uns das Leben gerettet, weil sogar Riddell begriffen hat, daß es in diesen Höhlen etwas Schlimmeres gibt als ewige Dunkelheit.« »Und trotzdem gibt es Prügeleien, wie wir heute gesehen haben«, warf Bony ein. »O ja. Und Dr. Havant tut nichts, um sie zu unterbinden. Er sagt, der Dampf muß durch ein paar Sicherheitsventile entweichen können; die Ausbrüche von Gewalttätigkeit sind ein solches Ventil. Diese bedrükkende Höhlen haben unsere Männlichkeit unterdrückt, sie regen den Sexualtrieb zwar nicht übermäßig an, und wir sind auch noch vernünftig genug, um uns zu sagen, daß der erste, der sich an Myra Thomas vergreift, von den anderen umgebracht werden könnte. Igor Mitski ist ihretwegen gestorben. Er war nie mehr als höflich und freundlich, aber sie hat ihn herausgefordert, und das wußten die anderen. Ich habe gesehen, wie sie Mark und sogar Riddell ermutigte. Sie zieht Mord an – nicht den an ihr selbst, natürlich. Ich glaube, sie möchte, daß wir uns gegenseitig umbringen, bis nur noch der Beste übrig ist. Inzwischen bildet sie sich ein, uns alle fest in der Hand zu haben. Auch Sie, Inspector.« »Was hat sie über ihren eigenen Fall erzählt?« fragte Bony, und Maddochs Gesicht verzog sich vor Widerwillen. »Sie sagt, sie hätte ihren Mann getötet, weil sie ihn und seine Lügen satt hatte, prahlt jedoch damit, wie sie die Jury, die Presse und die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt hat. Sie prahlt damit, was für eine hervorragende Schauspielerin sie ist. Sie glauben doch wirklich nicht, daß ich Mitski getötet habe, oder?« Bony drehte sich um und sah Clifford Maddoch fest an. Ein Mann mit einem schwachen Charakter eignet sich nicht unbedingt zum Manager einer bedeutenden Firma, und er versuchte sich Maddoch so vorzustellen, wie er gewesen war, bevor gewissermaßen alle Sicherungen bei ihm durchbrannten. Geistig dynamisch, ein erstklassiger Fachmann, ein Mann mit gesundem Urteilsvermögen, der schnell und sicher Beschlüsse fassen und Entscheidungen treffen konnte. Nachdem er einmal zu dem Schluß gekommen war, daß er die nörgelnde Stimme seiner Frau nicht länger ertragen konnte, hatte er sich bestimmt sofort einen Plan zurechtgelegt, wie er sich von ihr befreien könnte. Und nun bettelte der ehemals so selbstsichere leitende Ange92
stellte, Bony möge ihm glauben, daß er nicht noch einmal getötet hatte. Das gelbe Licht fiel auf die großen Augen, die farblose Haut, den zitternden Mund eines Mannes, der geistige und seelische Qualen litt, den Schande und Strafe gedemütigt hatten und der menschlicher Gewalt und menschlicher Verworfenheit ausgesetzt war. Die Hinrichtung wäre für ihn eine Erlösung gewesen. »Diese Frage werde ich Ihnen beantworten, wenn Sie mir versprechen, darüber nichts vor den anderen verlauten zu lassen«, sagte Bony und war bestürzt, weil Maddoch schnell und ohne zu überlegen zustimmte. »Sie könnten Igor Mitski nur getötet haben, wenn Sie Stelzen benutzt hätten, Clifford.« Maddoch seufzte laut. »Ich danke Ihnen sehr, Inspector.« »Dann sind wir von jetzt an Verbündete, Maddoch. Ich brauche einen Verbündeten. Sie werden verstehen, daß meine Position Ihnen allen gegenüber nicht gerade normal ist. Ich brauche diskrete Unterstützung in vielem, was ich tun und sagen werde. Einen heimlichen Verbündeten, der mich über jede gegen mich gerichtete Intrige informieren muß. Was meinen Sie dazu?« »Sie können auf mich zählen.« »Dann werde ich mich auf Sie verlassen. Sagen Sie mir, was Sie von Dr. Havant halten.« »Ein brillanter Verstand, der irgendwo aus dem Ruder gelaufen ist. Ich sage das, weil ich nicht glaube, daß er gestört ist, nein, er ist nur vom richtigen Kurs abgekommen. Vielleicht trifft das auf uns alle zu – außer auf Sie, selbstverständlich. Das Leben hier ist widernatürlich, und für den Doktor ganz besonders. Das Gefängnis war im Gegensatz dazu das reine Paradies.« »Das glaube ich Ihnen, Maddoch.« »Hier unten können wir uns nicht aus dem Weg gehen. Und, was noch schlimmer ist, wir kommen von uns selbst nicht los – abgesehen von den kostbaren Stunden, in denen Dr. Havant zum Geschichtenerzähler wird. An geistigen Anregungen wie Bücher, Theater, Kino, Zeitungen gewöhnt, degeneriert der moderne Mensch sehr schnell, wenn man ihm diese Dinge entzieht. Davon sind wir alle bedroht.« »Ja, das ist richtig«, räumte Bony ein und stand auf. 93
»Hallo, Ihr Hund ist wieder ausgerissen. Er hat es immer sehr eilig, nicht wahr? Eben sieht man ihn noch, im nächsten Moment ist er verschwunden.« Aber als sie in den Saal kamen, war auch Lucy da und ließ sich streicheln. Eine Wolke hing vor der Sonne, und das Licht im Saal war schwach, das gewölbte Höhlendach nicht zu sehen. Dr. Havant und Riddell saßen etwa anderthalb Meter voneinander entfernt auf dem Felsvorsprung und spielten Dame. Das Spielbrett war mit einem Messer in den Fels geritzt, und Steine dienten als Spielfiguren. Die beiden waren in ihr Spiel vertieft, und Bony ging zu Mark Brennan hinüber, der – fast zu beiläufig – einen annähernd quadratischen Steinsplitter unter seinen rechten Oberschenkel schob. Er hatte den Splitter mit einem Taschenmesser bearbeitet, doch als Bony näher kam, tat er so, als schneide er ein Stück Tabak ab. Mit dem Rücken zur Felswand setzte Bony sich neben ihn. »Erinnern Sie sich an Jim Ord, Inspector?« fragte Brennan. »Aber ja. Warum?« »Er war mit mir zusammen in Goulborn. Er hat uns immer erzählt, er wäre oben in Milprinka fast mit einem Mord an einem Schweden davongekommen, wenn nicht Sie den Fall bearbeitet hätten.« »Ord war sehr klug, Mark. Er hat nur zwei Fehler gemacht. Hat er Ihnen auch erzählt, was er gesagt hat, nachdem ich ihn verhaftet hatte?« »Ja, hat er. Und auch das hat zu ihm gepaßt. Er hat gesagt, wenn ein Mann die Gesetze bricht, spielt er gegen die Polizei, und es ist eine faire Sache. Er war auch stolz auf das, was Sie zu ihm gesagt hatten. ›Ord‹, haben Sie gesagt, ›Sie hätten mich beinahe geschafft.‹« »Ich erinnere mich«, gestand Bony. »Er war ein guter Sportsmann – trotzdem, einen Mann mit einer vollen Flasche niederzuschlagen und dann zu Tode treten, ist nicht sehr sportlich.« »Vergessen Sie nicht, was Stassan mit Ords kleiner Tochter angestellt hat. In solchen Dingen kenne ich keine Nachsicht. Stassan hat’s genau dahin gekriegt, wo er’s am meisten verdient hat.« »Sind Sie wirklich der Meinung, das beste Mittel zur Vergeltung ist Mord, Mark?« »Bei einem Kerl wie Stassan – ja. Und so denken auch die meisten anderen in Goulburn. Schwule, Zuhälter und Kinderschänder müßten automatisch gehängt werden. Ord hätte geadelt werden müssen, weil 94
er auf Stassan herumgetrampelt ist, bis der beim Teufel war. Kelly sei Dank, daß wir keinen Stassan hier haben! Er würde kaum lange am Leben bleiben.« »Hat Igor Mitski Ihrer Meinung nach in diese Kategorie gehört?« »Nein, Inspector. Er hat bei dem Kind nur ein bißchen zu fest zugeschlagen. Manchmal muß man auch nachsichtig sein können, nicht wahr? Mitski wird in Europa verfolgt und gefoltert. Er ist Musiker und hervorragender Sänger, und was passiert, als er nach Australien kommt? Sie schicken ihn nach Westen, wo er ein dummes Gör unterrichten muß, das sich als Tochter des Schafzüchters für eine Prinzessin und den Rest der Welt für den letzten Dreck hält. Ich kann es Mitski nicht übelnehmen, daß er ihr eine geknallt hat. Sein Pech, daß es ein bißchen zu hart war. Was fangen wir jetzt mit ihm an?« »Unter den gegebenen Umständen müssen wir die Leiche ohne die üblichen gesetzlichen Formalitäten beseitigen.« »Eine Ahnung, wer’s getan hat?« »Noch nicht, Mark, aber das kommt schon noch.« »Das weiß ich. Wir alle wissen, daß Sie nie aufgeben. Einer von uns hat Mitski erschlagen, Inspector, und er muß wissen, daß Sie ihn früher oder später schnappen. Er kann nur hoffen, Ihnen zuvorzukommen und auch Sie zu erledigen.« Brennan lächelte, und Bony staunte, daß er es konnte. »Wenn er Sie fertigmacht, bevor wir hier raus sind und in Ruhm und Ehren nach Hause zurückkehren, wäre ich wirklich sauer auf ihn.« »Haben Sie eine Ahnung, wer Mitski getötet hat?« Brennan schüttelte den Kopf. »Haben Sie eine Ahnung, warum er getötet wurde?« »Ja.« »Warum?« »Er verstößt gegen die Vorschriften der Vereinigung, einem Cop zu helfen.« »Gegen die Vorschriften der Vereinigung?« »Ja, Inspector. Die Vereinigung entlassener Mörder. Sie wissen doch noch, wir haben Sie aufgenommen, Sie sind Mitglied. Hier ist Ihr Ausweis.« Brennan griff unter sein Bein und holte das Täfelchen aus Kalkstein heraus, an dem er gearbeitet hatte. Die Gravur lautete: 95
D. I. N. Bonaparte V. E. M. Bony hob den Kopf und sah den Mann an, der innerhalb von dreißig Sekunden zwei Leben ausgelöscht hatte. »Danke, Mark. Ich werde dieses einzigartige Dokument in Ehren halten.«
Der weibliche Jonas
D
ie Wolke, die vor der sinkenden Sonne hing, zog weiter, und im Handumdrehen herrschten im Saal warme Farben vor. Die Wirkung setzte sofort ein, machte sich sogar auf Dr. Havants kalkweißem Gesicht bemerkbar und bestätigte den ersten Eindruck, den Bony von diesem Mann gehabt hatte. Lässig auf dem Felsvorsprung sitzend, studierte er das Spielbrett, und Bony wußte nicht so recht, ob der Doktor Riddell absichtlich ermutigte oder ob ihn dieser Partner, der ihm geistig unterlegen war, wirklich in die Enge getrieben hatte. Nachdem Bony seinen Ausweis eingesteckt hatte, stand er auf und ging zu den beiden Spielern hinüber, um zu kiebitzen. Riddell blickte auf, und seine kleinen Augen funkelten triumphierend. Der Doktor betrachtete noch immer das Spielbrett, machte einmal eine Bewegung, als wolle er ziehen, zögerte und zog dann tatsächlich. Riddells Gegenzug manövrierte ihn in eine Lage, aus der es für ihn kein Entrinnen gab. »Gratuliere, Joe«, sagte Havant und rutschte von dem Felsvorsprung herunter. »Nun, Inspector, wie sind Sie mit Maddoch zurechtgekommen?« »Ich habe jetzt eine Vorstellung vom Grundriß der Höhlen und Verbindungsgänge, Doktor. Die Frage, wer Mitski getötet hat, hat große Ähnlichkeit mit dem Damespiel, und ich werde die Partie gewinnen. Inzwischen müssen wir uns überlegen, was wir mit Mitskis Leiche tun sollen.« 96
»Das ist richtig. Was schlagen Sie vor?« »Ich nehme an, eine Bestattung kommt nicht in Frage.« »Eine Erdbestattung ist nicht möglich, nein. Es gibt nur eine Möglichkeit, und das ist die Spalte, in die Fiddler gestürzt ist. Soll ich ihn hinbringen lassen?« »Ja, und vielen Dank, Doktor.« Havant sah Riddell an und rief nach Jenks. Jenks kam aus der Nische, die als Küche diente. »Ich möchte, daß ihr beide den Leichnam unseres verstorbenen Freundes in Fiddler’s Leap in die Spalte versenkt«, sagte er ruhig und förmlich wie immer. Riddell preßte die vollen Lippen zusammen. Jenks’ kantiges Gesicht blieb völlig ausdruckslos, aber er sagte: »Wissen Sie, was passiert ist, als Fiddler abstürzte? Ich meine, was Mitski uns darüber erzählt hat …« »Ja, Ted, ich weiß noch, was er gesagt hat«, antwortete der Doktor. »Es gluckste und blubberte wie in einem zum Teil verstopften Abflußrohr. Vielleicht könntest du dein majestätisches Gehirn dazu bringen, dich mit der Angelegenheit zu beschäftigen, und uns dann einen alternativen – Friedhof vorschlagen.« Das majestätische Gehirn versuchte es – ohne Erfolg. »Na schön, dann gehen wir eben, Joe«, gab Jenks klein bei. »Mark und Clifford könnten euch mit Lampen vorausgehen, dann habt ihr’s leichter«, meinte Dr. Havant. Brennan holte zwei Lampen aus der Küche, und sie hörten Myra Thomas sagen: »Was wir so Abendessen nennen, ist in einer halben Stunde fertig, Mark. Wenn ihr Männer wollt, daß ich auch in Zukunft koche, solltet ihr rechtzeitig zurück sein.« »Okay, Myra«, sagte Brennan. »Wenn wir jemals hier rauskommen, wirst du nie wieder kochen müssen.« »Das hast du mir schon einmal gesagt, Mark.« Die Stimme war zwar leise, aber klar. Sie hörte ein Lachen und dann Topfklappern. »Verschwinde, Mark. Die Wachhunde sind nicht weit weg.« Riddell stieß zischend den Atem aus. Jenks lachte. »Das war’s, was ich gemeint habe, Inspector«, sagte Maddoch. Der Gorilla fuhr herum und boxte dem kleinen Mann in die Brust. Maddoch wurde nach hinten geschleudert, taumelte und rang nach Luft. Die Stimmen und die Worte hatten Riddell bis zur Weißglut ge97
reizt. Es war, als sei aus dem Küchenherd ein Funke auf eine Pfanne mit Öl geflogen, und wenn Riddell explodierte, griff das Feuer auch auf Jenks über. Jenks wich zur Wand zurück, um loszurennen, und ohne Dr. Havants gebrüllten Befehl zu hören, stürzte sich Riddell auf Bony. Jenks lief nicht weiter, Havant wiederholte seinen Befehl nicht. Mark Brennan stand im Eingang zum Nebenraum, und der kleine Maddoch rang noch immer mühsam nach Atem. Sie sahen, daß Bony dem angreifenden Gorilla zur Seite auswich und sich blitzschnell hinter ihn stellte, die Arme unter die Achselhöhlen des großen Mannes schob und die Hände in seinem Nacken verschränkte. Das indirekte Licht von oben fiel auf Riddells Gesicht, und ganz langsam wurde die Wut in seinen Augen zu Schmerz. Er riß den breiten Mund auf, wollte schreien, aber Bonys unbarmherziger Griff lahmte ihn, und er brachte keinen Ton heraus. Obwohl er nicht zimperlich und an Gewalt gewöhnt war, verriet sein Gesicht, daß er unbeschreibliche Schmerzen litt. Sie sahen, wie Bonys Daumen Riddells Schädelbasis bearbeiteten, und sogar sie waren geschockt über die Wirkung. Myra Thomas kam aus der Küche. Sie riß, als sie Riddells Gesicht sah, die violetten Augen auf und verzog den Mund zu einem Lächeln: »Du scheinst das nicht gerade zu genießen, Joe.« Bony ließ den riesigen Körper los, und wie ein vom Sturm entwurzelter Baum fiel Riddell seitlich zu Boden, blieb auf dem Rücken liegen, sein Mund öffnete und schloß sich immer wieder, bis die Erleichterung kam, und er endlich schreien konnte. Der Schrei endete in einem gepeinigten Schluchzen und in Myra Thomas’ leisem Gelächter. »Verschwinden Sie in Ihre Küche«, sagte Bony. Myra Thomas hätte sich ihm widersetzt, hätte nicht der Blick eisblauer Augen den ihren eingefangen – und die Augen wuchsen, wurden immer größer, bis sie nichts anderes mehr sah. Sie hatte Havants hypnotische Augen widerstanden, doch diese waren anders, erschreckend, magnetisch und herausfordernd. Als der Blick sie losließ, gehorchte sie wortlos. »Riddell! Aufstehen!« befahl Bony, und Riddell stöhnte, drehte sich um, rappelte sich auf Knie und Hände hoch und stand dann schwan98
kend auf. Die Beine weit gespreizt, stolperte er wie betrunken – die Augen waren blutunterlaufen, die Mundwinkel hingen schlaff herunter. »Das ist ein Griff der Aborigines, und viele Leute würden eine Menge dafür bezahlen, wenn sie erfahren könnten, wie man’s macht. Ich tu’s nicht gern und möchte ihn nicht noch einmal bei Ihnen anwenden müssen, Riddell. Und ihr anderen hört mir jetzt genau zu. Ich befehle hier. Ich hoffe, euch alle hier herausholen und in die Zivilisation zurückbringen zu können, aber ihr werdet euch nicht wie wilde Tiere benehmen. Ihr werdet mir widerspruchslos gehorchen und alles tun, was ich euch auftrage. Bringt den Leichnam weg und bestattet ihn wie besprochen«, sagte Bony. Ihre schlurfenden Schritte entfernten sich durch den tunnelähnlichen Gang. Maddoch kroch zu Bonys Kamelausrüstung und würgte. Havant ging zu ihm. Bony betrat die Küche. »Mrs. Thomas«, begann er leise, »ich habe schon früher mit Frauen wie Ihnen zu tun gehabt. Dr. Havant kennt bestimmt den richtigen Ausdruck für Ihr Verhalten. Ihr Ehrgeiz ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet, aber Sie werden hier keine Anstrengungen mehr unternehmen. Unter normalen Umständen wird weibliche Koketterie von der Gesellschaft geduldet. Wir leben hier aber nicht unter normalen Bedingungen, das ist Ihnen klar. Deshalb werden Sie sich in Zukunft streng zurückhalten und so unauffällig benehmen wie nur möglich.« In ihren dunklen Augen zeigte sich während seiner Strafpredigt nur Bewunderung. Sie schien ehrlich zerknirscht zu sein, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache. »Ich kann die Zurückhaltung in Person sein, Inspector«, antwortete sie. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie es mir. Und ich hoffe, Sie tauen mit der Zeit ein bißchen auf und nennen mich Myra.« »Wo waren Sie, als Igor Mitski um Hilfe rief?« »Hier. Ich habe den Frühstückskaffee gemacht. Als ich ihn hörte, war mir klar, daß er in Schwierigkeiten steckte, und ich lief durch den Gang, aber die anderen waren schon vor mir da.« »Die anderen … Brennan auch?« »Ich glaube ja, aber ich könnte mich irren. Ich war natürlich schrecklich aufgeregt, als ich Mitski in der Blutlache liegen sah.« »Haben Sie ihn gegen die anderen ausgespielt?« »Wie meinen Sie das?« 99
»Ich wiederhole«, sagte Bony eisig. »Haben Sie Mitski gegen die anderen ausgespielt?« »Ich verstehe noch immer nicht, was Sie meinen, Inspector.« »Ich denke, Sie verstehen sehr gut. Aber ich will es anders formulieren. Haben Sie die Männer gereizt, indem Sie Mitski ermutigten, wie Sie vorhin hier in der Küche die anderen reizen wollten, indem Sie mit Brennan Ihr Spielchen trieben?« Myra Thomas’ Augen blitzten verächtlich. »Glauben Sie wirklich, ich würde Mörder zu Annäherungsversuchen herausfordern?« »Ja. Es sind Männer.« Bony deutete auf eine leere Kiste. »Setzen Sie sich. Ich werde jetzt über Igor Mitski reden, und das werden Sie auch tun, und wenn es eine Stunde dauert – oder einen Tag oder eine Nacht. Mitski war für Sie ein Versuchskaninchen – genauso wie jetzt Brennan. Sie wollen herausfinden, wie weit Sie gehen, wie weit Sie die Männer treiben können. Wollen Ihren Standort in der Situation bestimmen, in der Sie jetzt sind. Sie sind nicht unintelligent, und müssen wissen, daß es keine gewalttätigere Wut gibt als die Wut im Herzen eines Mannes, den man scheinbar zum Narren gemacht hat. Haben Sie Igor Mitski Intimitäten gestattet, oder haben Sie nur so getan?« »Für mich war Mitski ein Musiker, ein Sänger, sonst nichts«, erklärte sie mit leiser, bebender Stimme. »Als man mich hier ablud, kam ich mir vor wie die einzige Henne in einem Hof voller Gockel. Das können Sie nicht nachempfinden, aber Sie haben mir noch keine Feder ausgerupft. Ich wurde auf die harte Tour erzogen und habe es mit Hilfe der Gaben, mit denen ich geboren wurde, zu etwas gebracht. Ihr Männer langweilt mich tödlich. Kluge Denker, Beschützer! Ich benutze mein Gehirn und habe noch eine Menge übrig, falls Sie es brauchen.« War sie ehrlich? Bony bezweifelte es. Sie fuhr ruhiger fort: »Mitski war freundlich und durch und durch anständig. Er war wie Cliff Maddoch, ein Schwärmer, die Art Mann, von der ein Mädchen mit siebzehn träumt. Aber wenn sie zwanzig ist, muß ihr Mann der starke, entschlossene Typ sein, die Sorte, mit der sie kämpfen muß, um ihre Jungfräulichkeit nicht zu verlieren. Filmkram. Als ich herkam, hielt mir Doc Havant die Gockel vom Leib, und Mitski half ihm, mich in die Nebenkammer zu bringen und mich zu pflegen, bis die Drogen, mit denen man mich vollgepumpt hatte, meinem 100
Körper nichts mehr anhaben konnten. Ich konnte mir keine Favoriten leisten, also mußte ich zu allen anderen auch nett sein – zu Brennan, Riddell und den übrigen. Was hätte ich sonst tun sollen?« Plausibel! Vernünftig! Echt oder falsch? Glaubte sie selbst, was sie sagte? Oder war sie von Eitelkeit geblendet? »Ich will Ihnen sagen, was passiert wäre, wenn Sie nicht gekommen wären«, fuhr sie fort. »Der Mann, der Mitski umgebracht hat, hätte auch die anderen getötet, damit er der einzige Gockel im Stall gewesen wäre. Meiner Meinung nach ist Riddell der Mann. Er war sehr schnell dabei, Cliff Maddoch zu beschuldigen. Und das wäre genau der Plan, den Riddell sich einfallen ließ. Deshalb war ich sehr froh, Sie zu sehen. Das wird den Affen auf andere Gedanken bringen.« »Dann glauben Sie, daß mein Erscheinen etwas an der Situation geändert hat?« »Nun, schlimmer könnte sie wohl nicht mehr werden, oder?« »Dann empfehle ich Ihnen für die Zukunft Vorsicht und größte Zurückhaltung – ganz besonders gegen mich.« »Gewiß, Inspector – und gegen die anderen.« »Sie kennen die Geschichte von Jonas, den die Matrosen dem Wal vorwarfen, weil er dem Schiff Unheil brachte? Sie könnten sich in der gleichen Situation wiederfinden – aber in Fiddler’s Leap gibt es keinen Wal, der Sie wieder ausspucken könnte. Denken Sie darüber nach.« Sie warf schnell den Kopf zurück, und das Haar flog ihr um das Gesicht. Als Bony ging, rührte sie in dem großen Topf auf dem Herd. In dem Bogengang zwischen den kleinen und den großen Höhlen drehte sich Bony um und beobachtete sie. Sie mußte seinen Blick gefühlt haben, denn sie sah über die Schulter zurück und lächelte. Bony dachte, daß die Medizin, die er Riddell verabreicht hatte, möglicherweise wirken würde. Clifford Maddoch ging es besser, obwohl er noch starke Schmerzen in der Brust hatte. Aber Dr. Havant versicherte ihm freundlich, daß er bald wieder so gut wie neu sein würde. Sie nahmen Handtücher und Seife und gingen zu dritt in den Juwelierladen, wo sie sich wuschen und zu Eimern umfunktionierte Ölkanister mit Wasser für die Küche füllten. Das Beerdigungskommando kam zurück, griff wortlos nach den Handtüchern und verschwand ebenfalls. 101
Die Köchin servierte ein sättigendes Irish Stew mit Kartoffeln und würzigen Zwiebeln, und Jenks half Maddoch später beim Geschirrspülen. Als sie fertig waren, war es draußen dunkel geworden, und Myra Thomas bat Havant, ihnen eine Geschichte zu erzählen. »Gern, wenn alle es wollen«, gab der Doktor nach. »Gestern bin ich mit dem Jack London fertig geworden. Unserem neuesten Mitglied zu Ehren will ich euch heute Das Geheimnis des Schwertfischs erzählen. Ich habe die Story vor ein paar Jahren gelesen, es ist der Bericht über eine von Inspector Bonapartes Morduntersuchungen. Vorschlag angenommen?« »Einstimmig.« Bony lehnte sich gemütlich an Curleys Sattel, und neben ihm schlief satt und zufrieden Lucy. Die beiden Lampen, die in der Mitte der Höhle standen, warfen ihr Licht auf Dr. Havant, der im Türkensitz auf einer zusammengefalteten Decke saß. Die anderen hatten es sich in den verschiedensten Haltungen bequem gemacht. Der Doktor begann mit seiner Erzählung. Bony konnte nur staunen, denn es war, als würde Havant aus einem Buch vorlesen. Seine Zuhörer waren so gefesselt, daß niemand Lucy bemerkte, die nach einer Stunde aufstand und in die Küche trottete. Nach etwa zehn Minuten – es konnte auch ein bißchen länger sein – begann sie die Gesellschaft anzubellen, die hingerissen dem Geschichtenerzähler lauschte. Dann unterbrach sich der Doktor, und alle schauten zu Lucy, die hoch über ihnen am Rand der Öffnung stand. Sie schwiegen eine volle spannungsgeladene Minute lang. Dann sprach Mark Brennan aus, was sie alle dachten: »Wenn der Hund dort hinauf kann, können wir es auch.«
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Mitski oder Ganba?
I
rgendwann in der Nacht – womit die oberirdische Nacht gemeint ist – weckte Ganba Bony aus seinem wohlverdienten Schlaf. Dem Beben im Innersten der Erde nach zu schließen, war Ganba in Bewegung und gab Töne von sich, die ihr durch die Gänge voraneilten, durch Ritzen drangen und von den Höhlenwänden als Echo zurückgeworfen wurden. Bony hörte Ganba durch einen Gang gleiten, an einem Überhang stocken und dann durch einen Ausgang ins Freie stürmen, wo sie sich einen Schwarzen schnappen konnte. Bony hatte auf dem Boden der Haupthöhle geschlafen, nicht weit von der Schlafkammer der Männer entfernt. Nachdem Ganba ihn geweckt hatte, drehte er sich eine Zigarette, ohne die Sturmlaterne anzuzünden, und Lucy, ganz offensichtlich nervös, preßte sich fest an ihn. Er streichelte sie und fragte sich, ob der tote Mitski Ganbas Rollt übernommen hatte. Mitski hatte berichtet, daß nach Fiddlers Todessturz in dem unterirdischen Fluß gräßliche Geräusche zu hören gewesen waren, als rülpse und würge eine große Bestie dort unten. Obwohl ganz allein, hatte er den Mut gehabt, dem Ursprung dieser Geräusche bis zu der Spalte nachzugehen, die seinen Gefährten verschluckt hatte, und war zu dem Schluß gekommen, daß der Leichnam die Strömung entweder ganz oder zum Teil blockierte. Im Schlafquartier der Männer zündete jemand eine Lampe an, und Dr. Havant sagte: »Alles in Ordnung, Clifford. Es ist nur der arme Mitski, der sich über die Form seiner Bestattung beklagt.« »Er soll aufhören«, brummte Jenks. »Schließlich weiß er, daß wir hier unten keine weiche Unterlage haben.« Mehr wurde nicht gesagt, und bald ging auch die Lampe aus. Das Rumpeln und Stöhnen erstarb, und Bony schlief wieder ein. Als weitere Verdauungsstörungen von Ganba ihn abermals weckten, hatte er das 103
Gefühl, keinen Schlaf mehr zu brauchen und drehte sich eine zweite Zigarette. Im Männerquartier wurde wieder eine Lampe angezündet, dann tauchte Jenks auf und schaute auf Bony hinunter. »Verdammter Krach«, sagte er. »Hoffentlich geht das nicht einen Monat lang so weiter.« Ohne Aufforderung hockte er sich ans Fußende von Bonys Decken und biß fest in ein Stück Tabak. Mit der seit Jahrzehnten geübten Lässigkeit des Australiers fragte er: »Wie geht’s denn so, Inspector?« »Ach, recht gut, auch wenn ich mich mit so vielen Fragen herumschlagen muß«, antwortete Bony. »Eine Frage möchte ich zum Beispiel jetzt gern beantwortet haben: Was habt ihr versucht, um hier rauszukommen?« »O das!« rief der Seemann gleichgültig. »Nun, wir haben zum Beispiel ’ne richtige Zirkusnummer eingeübt. Der Doc hat ausgerechnet, wie hoch es ungefähr bis zu dem Loch im Höhlendach ist. Wir hatten nämlich die Idee, eine Art Menschenturm zu bauen, mit Joe als Untermann. Mark sollte ihm auf die Schultern klettern und ich wiederum Mark. Als letzter wäre Maddoch an der Reihe gewesen. Der Doc rechnete, daß Maddoch dann hoch genug wäre, um den Rand des Lochs zu erreichen und sich hinaufzuziehen. Wir wollten die Decken zu einem Seil zusammenknoten, und Cliff sollte ein Ende mit hinaufnehmen, oben etwas suchen, an dem er es festbinden konnte, und der Rest wäre ein Kinderspiel gewesen.« »Eine gute Idee«, stimmte Bony zu. »Ja, wirklich toll. Aber es hat nicht funktioniert. Wir haben viel geübt und es trotzdem nicht geschafft. Mark konnte sich zwar auf Joes Schultern halten, aber weder ich noch Cliff brachten es fertig, weil Joe so gewackelt hat. Wir haben es aufgegeben, nachdem sich ein paar von uns verletzt hatten.« »Und wenn ihr das Deckenseil über Fiddler’s Leap gespannt hättet? Habt ihr das mal versucht?« »Wir haben daran gedacht, aber keiner hatte Mumm genug, über den Abgrund zu springen, und auf der anderen Seite gibt es nicht viel, an dem man eine Schlinge befestigen könnte. Oh, wir haben ein paar ganz verrückte Sachen gemacht, Inspector. Ich habe gedacht, ich könnte einen Tunnel ins Freie buddeln. Bin einen oder zwei Meter tief gekom104
men, aber der Felsen ist zu hart, und sie haben mir verboten, noch mehr Messer kaputtzumachen. Aber es gibt einen Weg ins Freie, nicht wahr? Es muß einen geben? Lucy hat ihn gefunden.« »Ja, das hat sie«, sagte Bony. »Ganz egal, wie eng er ist, Inspector. Wenn der Hund rauskann, können wir’s auch. Und rausgekommen ist sie, das steht fest.« »Sie behaupten noch immer, Sie könnten keinen Ausgang übersehen haben?« »Kann mir nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte«, bestätigte Jenks. »Stunden- und tagelang sind wir auf Händen und Knien herumgekrochen und haben unsere Nasen in die kleinsten Öffnungen und Risse und Sprünge und Gott weiß was gesteckt. Ich oder Mark sind auf Joes Schultern geklettert, damit wir die Wände so hoch wie möglich absuchen konnten. Die Schurken, die uns hier unten eingesperrt haben, müssen sehr sicher sein, daß man nicht mehr rauskann, sobald man drin ist.« »Wenn Sie einverstanden sind, sehen wir uns jetzt einmal den Luftschacht näher an, Jenks.« »Paßt mir gut. Hab’ sowieso genug geschlafen.« Jenks ging mit der Lampe voraus, und als sie den Hauptgang betraten, kündigte weit vorn im Saal das Licht den neuen Tag an. Der Gang, der vom Hauptgang abzweigte, war sehr eng, schlängelte und krümmte sich und war stellenweise so niedrig, daß sie sich kaum bewegen konnten. Dann weitete er sich, wurde höher, und vor sich hörten sie laut und durchdringend das Brausen und Zischen der durch den Schacht nach oben strömenden Luft. »Es klingt irgendwie anders heute morgen«, sagte Jenks im Weitergehen. »Sonst hat es immer gewinselt wie ein junger Hund. Jetzt stöhnt es wie der Wind in der Takelage. Jesus! Meine Seele würde ich dafür hergeben, wenn ich jetzt auf See sein könnte, anstatt in diesem stinkenden Rattenloch.« Der Gang wurde wieder eng wie ein Rohr, und sie mußten kriechen. Der Luftzug war hier sehr stark, und dahinter brauste und rauschte es ununterbrochen. Nach drei oder vier Metern kamen sie in eine kleine Kammer, in der ein Inferno tobte und ein so starker Wind wehte, daß das Licht flackerte. Am anderen Ende der Kammer war eine Nische ohne Boden und Decke. Von unten kam der Sog, der so stark war, daß 105
er sich selbst durch das Dach der Höhle jagte. Der Luftstrom in der Nische prallte Bony wie eine Stahlschranke gegen die Hand, die er langsam ausstreckte, um zu testen, wie stark der Sog war. Jetzt verstand er auch, wie Myra Thomas’ Schal, in den Luftstrom hineingezogen und von ihm getragen, über der Erde schweben konnte. Das war ganz bestimmt nicht Lucys Ausgang. Er kroch in den Gang zurück, prüfte den Luftzug, der in das Loch drang und kam zu dem Schluß, daß Myra Thomas nicht in der Nähe des Sogs gewesen sein mußte, als ihr der Schal weggerissen worden war. Hier konnte man ungestört reden, und Brennan hatte gesagt, er und Myra Thomas seien hiergewesen, um miteinander zu sprechen. »Dr. Havant meinte, der Luftstrom entsteht durch einen Wasserstau irgendwo da unten«, sagte Jenks. »Stimmt das?« »Ja. Hat er einmal aufgehört, seit Sie hier sind?« »Nein. Das Geräusch verändert sich ab und zu. Hab’ mal einen Ingenieur gekannt. War ein gescheiter Bursche. Wenn er hier wäre und das nötige Rüstzeug hätte, würde er aus dem Luftstrom einen Generator machen, und wir hätten elektrisches Licht. Sagen Sie, war der Hund nicht eben noch da?« »Er besucht vielleicht die Köchin.« »Da bin ich auch dafür, Inspector. Ich rieche Kaffee.« Riddell stand in der Öffnung zur Küche und redete mit Myra Thomas. Er war unrasiert und hatte nur eine Hose an. Sein bulliger Oberkörper war total behaart. Er trat beiseite, als er sie sah, und Myra Thomas, die sie nicht sehen konnte, sagte: »Aber, Joe, du weißt ganz genau, daß eine Frau an einem Ort wie hier einen Freund braucht.« »Wir haben frühe Gäste«, sagte Riddell laut. »Wo wart ihr beiden denn?« »Haben gearbeitet«, fauchte Jenks. »Ist der Hund hier?« »War eben noch da«, antwortete Riddell. »Warum?« »Guten Morgen, Myra.« Bony betrat die kleine Kammer, in der eigentlich nur für den Ofen und die Frau genug Platz war. »Dieser Kaffee riecht ja besser als gut.« »Kocht schon seit Stunden«, sagte sie und füllte zwei Becher. »Ich konnte wegen des gräßlichen Lärms nicht schlafen. Sie wahrscheinlich schon. Sie machen immer das Richtige zur richtigen Zeit, Inspector.« 106
Sie hatte sich das schwarze Haar zurückgekämmt, so daß es die Ohren freiließ, und ihre Augen erschienen in diesem Licht indigoblau. Es war ein Jammer, aber zweifellos nötig, daß sie so schlecht sitzende Männerkleidung trug, die ihren Körper gewissermaßen geschlechtslos machte. »Es ist reine Vorsicht, nachzuschauen, wohin man tritt, bevor man den Fuß hebt«, sagte er, ohne zu lächeln. »Danke für den Kaffee.« In der Halle setzte er sich auf seinen Packsattel und schlürfte dankbar den dampfenden Kaffee. Dr. Havant erschien, und nach ihm kamen Maddoch und Brennan, der Bony beglückwünschte, weil er seiner Nase nachgegangen war. »Der erste Kaffee und die erste Zigarette!« Havant seufzte. »Was für eine Nacht! Dieser gräßliche Lärm fängt wieder an.« »Es zerrt an meinen Nerven«, klagte Maddoch, und Riddell sagte höhnisch: »Wieso auch nicht? Offensichtlich verstopft Mitski den Abfluß dort unten. Jetzt ruft der arme Teufel um Hilfe. Er friert und ist ganz durchnäßt. Würde dir genauso gehen, du verdammter Fuchs, wenn dir jemand eins über den Schädel geben und dich in die Spalte schmeißen würde.« »Das reicht jetzt, Joe«, sagte Dr. Havant. »Nun, er hat …« »Beherrsch dich, Joe! Es ist zu früh am Tag, um sich aus lauter Nervosität gehenzulassen. Wir haben zu arbeiten.« »Zu arbeiten? Was ist das?« höhnte Riddell. »Ständige Bewegung von Muskeln, die bei uns schon sehr lange brachliegen – außer bei Inspector Bonaparte. Der Hund! Hat jemand heute morgen schon den Hund gesehen?« »Lucy ist bei mir!« rief Myra aus der Küche. »Wir Frauen müssen aufeinander aufpassen. Das Frühstück besteht aus Porridge und dem üblichen Dosenzeug, das unser liebes Heimatland auch nach England exportiert. Es wartet auf euch, ihr könnt es jederzeit haben.« Es folgte ein allgemeiner Exodus, und Bony ging mit Seife und Handtuch hinterher. Ich werde mich bald rasieren müssen, dachte er, sonst sehe ich aus wie ein Affe – wie Riddell. Im Juwelierladen war Ganbas Lärm, der von Fiddler’s Leap herkam, ohrenbetäubend. Bony beschloß, sich umzusehen, bevor er sich wusch, 107
nahm eine Lampe und kroch durch Gänge, die nicht viel besser waren als ein Kaninchenbau. Als er aus dem Gang auf das Plateau bei der großen Spalte trat, fühlte er eine Veränderung. Das Licht, das bis auf das gegenüberliegende Plateau vordrang, war noch so, wie er es zuletzt gesehen hatte, aber das ferne Wasserrauschen hatte aufgehört. Das Wasser war stark gestiegen und nur noch etwa dreißig Zentimeter vom oberen Rand des Felsplateaus entfernt, nachdem es so weit unten gewesen war, daß man langsam bis sieben zählen mußte, ehe ein Stein auf der Oberfläche aufschlug. Das Licht fiel auf die Wasseroberfläche, zu der hin und wieder eine blubbernde Luftblase aufstieg, wie Taucher sie erzeugen. Das Geräusch, das in der engen Felsenkammer förmlich explodierte, traf die Ohren im Rhythmus eines Schmiedehammers. Entsetzen, aus der Theorie entstanden, die der Mann entwickelt hatte, dessen Leiche in den lärmenden Abgrund geworfen worden war, schlug sich bedrückend auf einen Teil von Bonys Wesen nieder und lahmte durch seine Bedrohung den anderen. Ein Teil seines Verstandes sah Ganba in dem breiten Band schwarzen Wassers lauern und fühlte Ganbas Atem im Nacken. Der andere Teil stellte ganz sachlich fest, daß das Wasser innerhalb weniger Stunden fast bis zu dem Felsvorsprung angestiegen war, auf dem er stand. Wenn es weiterstieg, würde es alle Gänge und Höhlen überfluten. Daß ihnen möglicherweise eine solche Katastrophe drohte, ängstigte ihn unbeschreiblich, und von Ganbas Stimme verfolgt, kehrte er in den Juwelierladen zurück. Er blieb nur lange genug, um sich zu waschen und zu kämmen, und als er den Saal betrat, wo er die anderen beim Frühstück antraf, hatte er seine Beherrschung wiedergewonnen, doch sein Zorn und eine ererbte Phobie machten ihn schweigsam. Dr. Havant fragte, ob Lucy ihm nachgelaufen sei. »Sie ist schon wieder verschwunden, Inspector. Wir haben nicht daran gedacht, sie zu beobachten. Sind Sie sicher, daß sie nicht mit Ihnen bis Fiddler’s Leap gelaufen ist?« »Ganz sicher. Wäre sie hinter mir hergelaufen, hätte sie sich vor dem Lärm aus der Spalte gefürchtet. Wir müssen ernsthaft nach der Öffnung suchen, durch die sie ins Freie gelangt. Wenn wir das Gebiet abgrenzen, können wir systematisch suchen. Brennan und ich blockieren den Ge108
röllgang zwischen dem Juwelierladen und der Spalte, und ihr anderen blockiert den Gang, der zum Luftschacht führt. Wenn der Ausgang hinter diesen beiden Barrieren liegt, wird Lucy uns bald wissen lassen, daß sie ausgesperrt ist. Myra kann hier auf Lucy warten.« Während er und Brennan den Gang mit Felsblöcken verbarrikadierten, damit der kleine Hund nicht wieder verschwinden konnte, fühlte sich Bony seltsam bedrückt. Er hatte den anderen nichts von der Gefahr gesagt, die er vorhersah, falls das Wasser weiterstieg, denn er wollte nicht, daß sie in Panik gerieten. Er mußte einerseits unbedingt den Weg finden, auf dem Lucy ins Freie entwischt war; andererseits durften die anderen nicht vorzeitig davon erfahren. Nicht, bevor er sie gründlich auf das vorbereitet hatte, was sie auf der Nullarbor-Ebene erwartete. Wenn sie ohne diese Vorbereitung ihre Freiheit wiedererlangten, würde sich das auf ihre Moral verheerender auswirken als die Bedrohung durch das steigende Wasser. »Hat Mitski gesagt, wie lange dieser Lärm angedauert hat, nachdem Fiddler in den Abgrund gestürzt war?« fragte er Brennan. »Er wußte es nicht genau«, antwortete Brennan, der sich mit einem Felsbrocken abplagte, angestrengt. »Genau wie wir – seit Myra ihre Uhr zerbrochen hat – konnte auch Mitski die Zeit nicht bestimmen. Er hat gesagt, seiner Meinung nach wären es ungefähr vierundzwanzig Stunden.« Der Lärm hörte für etwa zwei Stunden auf, als es Bonys Schätzung nach Mittag war, und begann von neuem, als sie die Mahlzeit zu sich nahmen, die Dr. Havant »Luncheon« nannte. Sie sahen sich an, und Bony sagte laut, um gehört zu werden: »Das klingt, als würden viele Menschen gleichzeitig ertrinken, nicht wahr?« »Bitte, Inspector!« flehte Clifford Maddoch. Eine Minute später sagte Bony mit einem echten Frösteln: »Ob Mitski sich wohl bemüht, zurückzukommen, um seinen Mörder anzuklagen?« »Puh!« rief Jenks. »Hören Sie bloß auf, Inspector! Da kriegt man ja Zustände.« »Ja, hören Sie auf!« schrie Maddoch. »Das ist grausig!« Er steckte sich die Finger in die Ohren. Havant sah sie mit einem spöttischen Lächeln im kalkweißen Gesicht der Reihe nach an. Brennan hatte die Augen fest zusammengekniffen, und Riddell saß zusam109
mengekauert da, schwieg und wartete. In der Öffnung zur Küche stand Myra so angespannt, als könne Mitski jeden Moment erscheinen. Das Rumpeln, das Stöhnen und Gurgeln hörte plötzlich auf, und die Stille war sogar noch peinigender. Dann kam ein einziger lauter Krach, dann wieder Stille. Und in diese Stille hinein sagte Bonys Stimme: »Das klingt, als hätte Mitski die Mauer umgestoßen, die Brennan und ich aufgerichtet haben. Er könnte durch den Juwelierladen kommen.« Maddoch stöhnte und schauerte. Die anderen gaben keinen Laut von sich und saßen da, als könnten sie nie wieder Luft holen. Dann brach das Inferno über sie herein. Ihre Ohren wurden bombardiert. Der Felsen, auf dem sie saßen, bebte. Von irgendwoher stürzte Lucy auf Bony zu und vergrub den Kopf in seinem Schoß. Maddoch packte das Tischtuch aus Segelleinen und zog es sich über den Kopf.
Bony wendet sich an die V. E. M.
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it leichtem Bedauern lehnte sich Bony zurück und beobachtete, wie die eisige Furcht, die alle gepackt hatte, allmählich auftaute. Brennan ließ die Blicke wandern. Riddell fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe, hatte die Augen noch geschlossen, öffnete jedoch langsam eine Faust. Jenks suchte in seiner Tasche nach Tabak, und Myra schaute von einem zum anderen, als habe sie keinen von ihnen je gesehen. Dr. Havant schien von allem am wenigsten berührt; er lächelte noch immer wie über einen Witz, den keiner von ihnen verstehen würde. Bony wartete. Sein Versuch, Igor Mitskis Rückkehr heraufzubeschwören, war ergebnislos geblieben – nur Clifford Maddoch war einem Zusammenbruch nahe. 110
Myra Thomas’ nächste Handlung war überraschend normal. Sie hob das Geschirr auf, das nach allen Seiten geflogen war, als Clifford Maddoch sich das Tischtuch geschnappt hatte. Das Geräusch von Aluminiumtellern, die auf Aluminiumbechern klapperten, war den Männern vertraut und erweckte sie einigermaßen wieder zum Leben. Maddoch nahm das Tischtuch vom Kopf und sah sich benommen um. Das Entsetzen auf seinem Gesicht glich einer wächsernen Maske, die in der Sonne des Schweigens schnell zu schmelzen begann. Seine Lungen dehnten sich aus, um Luft aufzunehmen, dann atmete er lange und gründlich aus. »Wie hat dir das gefallen, Cliff?« fragte Jenks. »Es war … Meine Frau war so – zwischen den Krämpfen –, als sie starb. Ich könnte es nicht noch einmal aushaken. Wird es wiederkommen?« Dr. Havant lachte leise. »Obwohl die Bühnenrequisiten hervorragend waren, Inspector«, wandte er sich an Bony, »war die Auferstehung unseres dahingegangenen Freundes zu überwältigend – was bedauerlich ist. Denn unser Doppelmörder hat sich trotzdem nicht verraten.« »Mein Kompliment«, erwiderte Bony kalt, »Ihr Scharfsinn ist wirklich bewundernswert. Doch inzwischen haben wir wohl nur ein ernstes Problem – wie kommen wir hier hinaus?« »Das ist allerdings das Wichtigste«, erklärte Riddell großspurig. »Und der verdammte Hund kennt den Weg. Wir kriechen rum, holen uns Kreuz- und Halsschmerzen und brauchten doch nur dazusitzen und Lucy im Auge zu behalten. Sie wird nicht aufhören, hin und her zu rennen, wenn wir sie beobachten.« Jenks, der einzige, der sich wirklich bemüht hatte, auszubrechen, schlug vor, daß jemand den Hund an die Leine nehmen sollte. »Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Bony, »daß Lucy kein Stadthund ist. Wenigstens einer ihrer Vorfahren war ein Dingo. Viele dieser im Busch geborenen und aufgewachsenen Hunde stammen von reinrassigen Dingos ab, und da sie wissen, daß man ihren ersten Wurf vernichtet hat, verstecken sie ihre Welpen so schlau, daß sie erst auftauchen, wenn die Mutter es ihnen erlaubt. Man findet die Welpen nicht, indem man sich die Mutter mit einem Strick ans Bein bindet. Und sie wird Sie auch nicht zu ihnen führen, wenn sie nur den leisesten Verdacht hat, daß man sie beobachtet. Man muß sie beobachten, ohne 111
daß sie es merkt, und das ist nicht leicht. Man darf sich nicht mehr als sonst um sie kümmern. Zusammenfassend sei gesagt: Wenn Sie Lucy zu etwas drängen wollen, wird sie bleiben, wo sie ist und uns alle auslachen.« »Die Idee mit den blockierten Gängen ist die beste«, sagte Havant. »Wir sollten noch ein paar verbauen. Wenn sie heute abend wieder entwischt, wissen wir, daß sie nicht durch den Gang beim Luftschacht und nicht durch den Juwelierladen ins Freie gekommen ist. Dann sollten wir uns an verschiedenen Punkten aufstellen und auf sie warten – wie auf eine verlorene Tochter.« »Da ist viel Vernünftiges dran«, kommentierte Jenks. »Irgendwann muß sie sich verraten. Je früher, um so besser. Ich habe diese verdammte Höhle satt, und manchmal bin ich soweit, daß ich glaube, ich halte es nicht mehr hier aus.« »Es dauert jetzt nicht mehr lange, Jenks«, sagte Havant zuversichtlich, als stünde der ehemalige Seemann kurz vor einem Zusammenbruch. »Gerade jetzt dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben – wir müssen im Gegenteil unsere Lebensgeister aufs neue anstacheln. Wie du eben gesagt hast, der Hund wird uns den Weg ins Freie zeigen. Und dann …« »Dann werde ich das Schwein jagen, das uns hier unten eingesperrt hat«, sagte Jenks so ernst wie ein Kreuzfahrer, der seinen Eid ablegt. »Sobald ich es in die Finger kriege, mach’ ich’s wie mein Irischer Terrier. Ich lasse nicht mehr los. Hat uns die Regierung hierher verbannt?« »Ganz bestimmt nicht«, antwortete Bony. »Ich weiß nicht, wer es war – noch nicht.« »Haben Sie eine Vorstellung, wer’s gewesen sein könnte, Inspector? Sie haben so viele Fragen gestellt. Jetzt beantworten Sie einmal ein paar. Zum Beispiel diese.« »Theorien sind meist sinnlos«, wich Bony aus. »Stimmt. Aber es verschafft einem eine gewissen Befriedigung, sich auszudenken, was man mit dem Kerl oder den Kerlen tun wird, die uns in dieses Loch gesteckt haben.« »Gute Idee, Ted«, sagte Myra. »Inzwischen kannst du Kerosin in den Ofen füllen und Wasser holen. Ich habe Lust, heute nachmittag etwas zu backen.« »Braucht der verdammte Ofen schon wieder Kerosin?« fauchte Jenks und stand auf. »Verdammt, der frißt ja das Öl!« 112
»Wie du willst, du bist der Boß«, antwortete Myra schnippisch. »Kein Ofen, kein Brot. Nichts.« »Ein Jammer, daß dir keiner zeigen kann, wer der Boß ist, du Schlampe!« schrie Jenks, und Brennan stürmte aus der Küche. »Das reicht!« rief Bony. »Hört sofort auf!« Sie schienen zu erstarren. »Setzen Sie sich. Sie alle! Hören Sie? Sie sollen sich setzen.« Jenks duckte sich, ließ sich auf eine Decke nieder. Brennan lächelte höhnisch – und gehorchte. Myra machte kehrt, um in die Küche zurückzugehen, aber Bony zischte: »Sie auch, Myra! Oder sind Sie taub?« Sie drehte sich um, sah ihn flüchtig an und setzte ihren Weg fort. Brennan sagte, als habe er Sand zwischen den Zähnen, mit seiner näselnden Stimme: »Setz dich lieber hin, Myra. Sonst fängst du am Ende noch eine. Sich zu entschuldigen, scheint hier nicht mehr modern zu sein.« Sie setzte sich, und Brennan ließ sie nicht aus den Augen. »Ich dreh’ dir eine Zigarette«, sagte er, doch sie ignorierte ihn. »So ist es besser«, sagte Bony. »Ich habe die Absicht, Ihnen verschiedenes zu erklären, damit Sie begreifen, was vor uns liegt und wie albern es ist, sich zu streiten. Ich glaube zu wissen, auf welchem Weg Lucy ins Freie gelangt. Wenn ich recht habe, bedeutet es viele Tage, vielleicht sogar einen Monat harter Arbeit, um den Gang zu erweitern, denn Sie sind doch intelligent genug, um zu wissen, daß da, wo Lucy durchschlüpfen kann, für Joe Riddell noch lange kein Durchkommen sein muß. Aber egal, wann wir hier wegkönnen, geht es mit den Schwierigkeiten erst richtig los. Sie müssen sich im klaren sein, daß Sie einiges überwinden müssen, um am Leben zu bleiben. Der beste, der sicherste Weg wäre, wenn Sie alle hierbleiben würden, während ich mich aufmache, um Hilfe und Fahrzeuge zu holen. Es würde höchstens drei Wochen dauern. Sie müßten …« »Kommt nicht in Frage!» stieß Riddell hervor. »Hier warten?« schrie Jenks. »Nicht für eine Million! Wie der Blitz wäre ich draußen und weg.« »Ich warte auch nicht, Inspector. Mir gefällt Mitskis Totengesang nicht. Wie steht es mit dir, Doktor?« »Ich werde vernünftig sein und abwarten, was Bonaparte zu sagen hat«, antwortete Havant. »Und ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr den Mund halten und ihm zuhören würdet.« 113
»Sie werden diesen Lärm nicht mehr hören«, versicherte Bony. »Was den Abfluß am Grund von Fiddler’s Leap verstopft haben mag, wurde inzwischen mitgerissen, und das Wasser kann wieder frei strömen. Damit ist eine Gefahr ausgeschaltet. Jetzt hört mir bitte aufmerksam zu. Sobald wir hier draußen sind, müssen wir mehr als zweihundert Meilen bis zur nächsten Heimstatt zu Fuß gehen. Wir könnten täglich fünfundzwanzig Meilen zurücklegen, das hieße, daß wir acht Tage unterwegs wären. Aber natürlich nur, wenn Sie alle durchtrainiert wären. Kann einer von Ihnen ehrlich behaupten, daß er auch nur ein einziges Mal fünfundzwanzig – oder auch nur fünfzehn Meilen pro Tag zu Fuß gegangen ist? Traut sich einer von Ihnen zu, acht Tage lang fünfundzwanzig Meilen pro Tag zu gehen, nachdem Sie jahrelang in diesen Höhlen eingesperrt waren? Natürlich nicht. Wenn einer oder mehrere nicht schon am zweiten oder dritten Tag zusammenbrechen, gebe ich meinen Beruf auf und werde Gangster. Aber gut, nehmen wir einmal an, Sie könnten wenigstens zehn Meilen pro Tag gehen, so daß sich der Marsch über zwanzig Tage – sagen wir, drei Wochen hinziehen würde. Dazu brauchen wir aber auch Lebensmittel und einen Wasservorrat für drei Wochen, denn es ist durchaus möglich, daß wir tagelang kein Wasser finden. Es geht nicht darum, daß der überlebt, der am kräftigsten ist, das müssen Sie begreifen. Wenn Sie, auch nachdem ich alle Karten offen auf den Tisch gelegt habe, entschlossen sind, nicht auf Fahrzeuge zu warten, dann werden Sie meinen Anordnungen widerspruchslos gehorchen, denn es ist meine Pflicht, Sie alle zurückzubringen – nicht nur die Starken. Sie sollten schnell akzeptieren, daß ich der einzige bin, der Sie durch die Nullarbor-Ebene führen kann. Falls etwas mich daran hindern sollte, zum Beispiel ein Schlag auf den Hinterkopf, werden Sie im Kreis laufen, bis Sie zusammenbrechen und sterben. Ich kann Ihnen versichern, zu verhungern und ganz besonders zu verdursten ist der furchtbarste Tod, den es gibt.« Bony unterbrach sich, wartete auf Kommentare. Sie beobachteten ihn, blieben aber stumm. »Es gibt sehr viele Leute, die sich einbilden, sie wüßten alles über diesen Kontinent, weil sie in Australien geboren sind. Sie fahren in den besiedelten Gebieten auf den Autobahnen oder mit dem Wagen und dem 114
Bus in die Stadt und glauben, daß sie den Outback kennen. Ärzte und Universitätsprofessoren, Seeleute und alte Jungfern – alles erfahrene Australienkenner. Und ich habe keinen Grund, mir selbst einzureden, daß Sie nicht zu der großen Gruppe der Besserwisser gehören. Haben Sie sich, seit Sie wissen, daß Sie sich jetzt am äußersten nördlichen Ende der Nullarbor-Ebene befinden, schon gefragt, warum man Sie ausgerechnet hierhergebracht hat und nicht in eines der zahlreichen Höhlensysteme in der Nähe der Eisenbahn, nur einen Steinwurf entfernt von der einzigen Touristenstraße, die nach Süden führt? Nein. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, Ihre Wunden zu lecken – echte und eingebildete. Warum hat man Sie hierhergebracht? Weil Sie, sollten Sie je hinauskommen, die Nullarbor-Ebene so sicher umbringen würde, als wären Sie in einen Wald voll hungriger Tiger geraten. Und falls Sie sich entschließen sollten, zusammen mit mir in zivilisierte Gegenden zurückzukehren, wird Schlimmeres über Sie kommen als hungrige Tiger. Müdigkeit wird Sie quälen. Ihre gepeinigte Phantasie wird Ungeheuer erschaffen, die Sie verfolgen. Angst wird Ihnen auf den Fersen sitzen.« Bony unterbrach sich, um seine Worte entsprechend einwirken zu lassen. »Denken Sie daran, daß ich bei Ihnen sein werde. Sie können sich nicht hinlegen, wenn Sie müde sind, weil ich Sie mit Tritten aufscheuchen werde. Sie werden nicht jammern und stöhnen, daß Sie total erschöpft sind, weil ich Ihnen die Erschöpfung mit einem brennenden Streichholz unter Ihrer Nase austreiben werde. Wenn Sie mit mir aufbrechen, werden Sie mit mir ankommen, auch wenn Sie dann nur noch lallende Idioten sind. Sie können mich nicht bluffen, die Ebene kann mich nicht bluffen. Aber die wilden Aborigines könnten es, so daß alle, die mit mir unterwegs sind, vielleicht viel, viel weiter gehen müssen als zehn Meilen pro Tag.« Mit vorsätzlicher Arroganz fügte er hinzu: »Ich hoffe, ich drücke mich deutlich genug aus.« Wieder wartete er auf Kommentare, Fragen, Proteste. Es kamen keine. »Als ich aufbrach, um Myra Thomas zu suchen«, fuhr er fort, »wußte ich nicht, daß noch einige Männer verschwunden waren. Daß Sie sich nach der Entlassung nicht, wie vorgeschrieben, regelmäßig gemeldet 115
haben, hat man zweifellos für Widersetzlichkeit gehalten. Ich bin seit drei Wochen in dieser Gegend und bin kein einziges Mal auf Spuren von Aborigines gestoßen. Ich hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß wilde Aborigines im äußersten Norden der Ebene ihr Nomadenleben führen. Aber ich hatte keinen Grund zu vermuten, daß Aborigines für Leute arbeiten könnten, die entlassene Mörder in Höhlen einsperren; Aborigines, die außerdem den Auftrag hatten, auf mich zu warten und mich zu fassen, falls ich diese Höhle entdeckte. Es ist sicher, daß sich die Aborigines mit Ihren weißen Kerkermeistern in Verbindung gesetzt und den Auftrag bekommen haben, dieses Gebiet im Auge zu behalten, für den Fall, daß es mir gelingen sollte zu fliehen. Daher sind für mich, als Ihr Anführer, die wilden Aborigines das größte Hindernis. Sie glauben, daß Sie alles über die Aborigines wissen. Sie haben sie gesehen, wenn sie landwirtschaftliche Maschinen bedienen oder Laster fahren; ihre Kinder gehen in die Schule, und ihre Frauen besuchen Nähkurse. Vielleicht haben Sie sie in einem Café Milchshakes trinken und sogar Zeitungen und Bücher lesen gesehen; und sie gehen sogar ins Kino. Zweifellos haben Sie sie immer nur für rückgratlose Dummköpfe gehalten, die tief unter euch stehen. Oh, der Dünkel des weißen Mannes kennt keine Grenzen. Sie werden es nicht sehr lustig finden, wenn ich Ihnen sage, daß Sie der wilde Aborigine in seinem nicht von Zäunen umgebenen und nicht kultivierten Land für naive, unbedarfte, quakende Jungenten hält, die ziellos herumrennen und daraufwarten, daß man ihnen den Hals umdreht. Können Sie, Dr. Havant, und Sie, Joe Riddell, sich als kleine Entchen sehen? Ich kann es. Ich will nicht behaupten, daß die wilden Aborigines uns massakrieren werden. Meiner Meinung nach werden sie uns nur einfangen, in diese Höhlen zurückbringen und sehr streng bewachen, bis man entweder ein anderes Gefängnis für uns gefunden oder den Ausgang für immer und ewig verschlossen hat. Wenn Sie nur noch ein bißchen Verstand übrighaben, bleiben Sie hier, bis ich mit ein paar Fahrzeugen zurückkomme. Ich könnte es in zwei Wochen schaffen. Mein Ruf muß Ihnen Garantie genug sein, wenn ich Ihnen verspreche, daß Sie spätestens nach drei Wochen die Freuden und Lichter der Großstadt genießen können. Und was werden Sie zu erzäh116
len haben! Wieviel Publicity, wieviel Ruhm erwarten Sie. Überall werden Sie kostenlos essen und trinken können. Und Sie haben bestimmt die Möglichkeit, so viel Geld zu verdienen, daß Sie den Bluthunden vom Finanzamt die Schnauze stopfen können. Wenn Sie mit mir kommen, werden Sie heulen vor Erschöpfung, stöhnen unter meinen Stiefeltritten, vielleicht sogar sterben, aber Ihre Körper werden mit mir das Ende der Reise erreichen, die Sie in einem bequemen Wagen oder Flugzeug hätten zurücklegen können.«
Visionen von Freiheit
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arter Typ!« höhnte Riddell. »Ruhe!« befahl Dr. Havant mit ungewöhnlicher Strenge. »Weil du es sagst?« entgegnete Riddell. »Riddell, schau mich an!« Riddell war widerspenstig – Dr. Havant entschlossen. Riddell wurde sichtlich kleiner. »Weil ich es sage!« wiederholte Havant und sagte dann zu Bony: »Wir haben Ihnen aufmerksam zugehen. Was Sie uns vorgetragen haben, scheint mir die Quintessenz der Vernunft, und so wie Sie die Ebene schildern, verlangt sie von einem Mann höchste Ausdauer. Ich bin wie Sie der Meinung, daß wir hier warten sollten, bis Sie uns holen lassen. Als Arzt stimme ich Ihnen zu, daß wir nicht kräftig genug sind, um solche Strapazen auszuhalten.« »Also ich bleibe nicht hier«, erklärte Jenks. »Nicht um alles in der Welt! Ich schaffe den Weg. Ich gehe mit Bonaparte.« »Ich auch«, sagte Brennan. »Ich will von Anfang an dabei sein. Wenn ich die zweihundert Meilen nicht aufrecht gehen kann, dann krieche ich eben auf allen vieren. Ich will den Wind und die Sonne fühlen, vor den großen schwarzen Jungs fürchte ich mich nicht.« Sie warteten darauf, daß Riddell seine Stimme abgab, aber er starrte sie nur finster an und schwieg. 117
»Wenn du dich entschließt zu bleiben, Doktor, dann bleibe ich auch«, meldete sich Maddoch zu Wort. »Danke, Clifford«, antwortete Havant. »Du solltest lieber mitgehen, Riddell, denke ich.« »Ich gehe, Doc, da kannst du Gift drauf nehmen.« »Und ich auch«, fügte Myra Thomas hinzu. »Nein«, riet Havant ihr ab. »Du solltest bei mir und Clifford bleiben.« »Das wäre zu langweilig. Ihr beide zusammen ergebt nicht einmal einen richtigen Mann.« Ihre Augen funkelten spöttisch. Easter hatte sie ganz richtig beurteilt. »Jeder von euch hat mir so viel sensationelles Material für Rundfunksendungen geliefert, daß ich einen Haufen Geld damit machen kann. Das lasse ich mir nicht entgehen. Ich habe nicht die Absicht, Daniel zu spielen, der mit zwei zahmen Löwen zurückbleibt.« »Du könntest für die Löwen, die du begleitest, zur Katastrophe werden, Myra«, antwortete Dr. Havant kühl. »Die Löwen, wie du uns jetzt alle zu nennen beliebst, könnten es möglicherweise deinetwegen nicht schaffen, weil du eine Frau und das schwache Glied in der Kette bist.« »Ich bin genauso kräftig wie jeder einzelne von euch, und niemand wird mich daran hindern, mit Inspector Bonaparte zu gehen. Nicht einmal Bonaparte selbst.« »Das sagst du«, höhnte Riddell, und sie fuhr wütend zu ihm herum. »Halt den Mund, du widerlicher Gorilla!« schrie sie. »Halt den Mund, du – du …« »Ja, das solltest du wirklich«, warf Brennan leise ein. »Und du beherrsch dich, Myra! Du bist eine Dame, vergiß das nicht. Du wirst tun, was der Inspector sagt. Wenn er meint, daß du bleiben sollst, dann bleibst du. Ich werde mir auch von dir nicht die Chance verderben lassen, an einem Samstagabend wieder die Pitt Street unsicher zu machen. Lieber erwürge ich dich vorher. Hast du kapiert, Myra?« Die violetten Augen sahen Bony an, der zu dem Schluß kam, daß es klüger wäre, die Frau unter Kontrolle zu haben. »Zu Myras Gunsten«, sagte er, »spricht die Tatsache, daß sie noch nicht lange hier und daher bestimmt leistungsfähiger ist als andere, die schon ein Jahr und noch länger hier unten vegetieren. 118
Damit alles klar ist: Dr. Havant bleibt, und Clifford möchte auch bleiben. Die anderen haben sich entschlossen, mit mir zu gehen. Mark Brennan, ich schätze Ihren Enthusiasmus. Ich kann Sie nur beglückwünschen, weil Sie so energisch sind und sich von niemandem die Chance verderben lassen wollen, in die Zivilisation zurückzukehren. Auch nicht von Myra. Darf ich damit rechnen, daß Sie mich in meinen Entscheidungen unterstützen werden?« »Das dürfen Sie. Und ob Sie das dürfen!« »Dann zu unserem nächsten Schritt. Weil der Weg, den der Hund ins Freie nimmt, möglicherweise auch für uns verhältnismäßig einfach ist, muß ich Sie davor warnen, die Höhle am hellichten Tag zu verlassen. Das könnte alle unsere Hoffnungen zunichte machen. Die wilden Aborigines haben Augen wie Adler. Wir haben keine Ahnung, wo sie sind, und sie könnten uns belauern wie Dingos flüchtende Kaninchen. Ein großer Vorteil für uns ist, daß sie sich nachts vor der Ebene fürchten. Also bahnen wir uns nachts den Weg ins Freie. Ihr Weg in die Freiheit und zu den strahlenden Lichtern beginnt nachts. Und jetzt suchen Sie in der Küche nach Lucys Geheimgang.« Sie ließen Bony auf seinem Packsattel zurück, und er drehte sich eine Zigarette. Sogar Dr. Havant stürmte in die Küche. Bony mußte an seine drei Söhne denken. Sie benahmen sich genauso, wenn er sie zur Belohnung für irgend etwas auf Schatzsuche schickte. Havant hatte unter extrem ungewöhnlichen Umständen wahre Wunder gewirkt. Er hatte dafür gesorgt, daß sie alle bei klarem Verstand blieben und nicht durchdrehten, hatte ihnen dadurch menschlichen Anstand und menschliche Würde bewahrt. Sie hatten einfache sanitäre Vorschriften befolgt, sich verhältnismäßig sauber gehalten und ziemlich zivilisiert gegessen. Sie hatten sich der rauhen, aber unschätzbar wertvollen Ordnung der Allgemeinheit angepaßt, und wenn sie manchmal die Beherrschung verloren, dann nur für kurze Zeit. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte er, Napoleon Bonaparte, Mörder gejagt. Für ihn war Mord das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen. Er hatte die Leichen der Erschlagenen gesehen, und das Mitleid, das die Öffentlichkeit den Mördern entgegenbrachte, widerte ihn an. Für die Opfer hatte man bestenfalls ein kühles und gleichgültiges Schulterzucken übrig. Seiner Meinung nach gab es für Mord nur die 119
eine Strafe – Auge um Auge – Zahn um Zahn. Das Gesetz der Bibel, das Gesetz der Aborigines. Hier waren sechs Mörder, und hier war er, der Mörder haßte und unbarmherzig verfolgte. Doch konnte er Clifford Maddoch hassen? Oder Mark Brennan? Nicht einmal das Tier Joe Riddell. Havant war ihm ein Rätsel. Myra Thomas gehörte zu der Sorte Frau, die er nicht mochte, auch wenn sie keine Mörderin gewesen wäre. Wenn er auf Menschenjagd war, war der Mörder für ihn etwas so Unpersönliches wie ein Wildhund. Diese Suche nach einer verschwundenen Frau, die ihn in eine Kolonie von sechs Mördern geführt hatte, war für ihn zu etwas sehr Persönlichem geworden. Sie hatten ihn ohne Groll und Erbitterung akzeptiert und ihn sogar in ihre lächerliche Vereinigung entlassener Mörder – V. E. M. – aufgenommen. Es gab unter ihnen keinen menschlichen Tiger, der keiner Besserung fähig war – außer demjenigen vielleicht, der Mitski umgebracht hatte. Die Haft hatte sie diszipliniert, und sie hatten gelernt, sich auf die Beamten zu verlassen. Mit der Zeit vergaßen sie auch die Feindseligkeit gegen die Polizei, die für ihre Verhaftung verantwortlich war, und gegen den Richter, der sie verurteilt hatte. Wie Brennan angedeutet hatte, waren sie loyal gegen ihre Mitgefangenen und irgendwie stolz auf das Gefängnis, in dem sie ihre Strafe abgesessen hatten. Das Ganze war vergleichbar mit dem Stolz eines Soldaten auf sein Regiment und der Treue gegen seine Kameraden. Indem sie Bony in ihre Vereinigung aufgenommen hatten, verhielten sie sich nur, wie erwartet. Die Polizisten hatten ihre Arbeit getan und die Gefängniswärter die ihre. Sie und ihre Gegner gehörten verschiedenen Gewerkschaften an, das war alles. Bony mußte sich vor solchen Gedanken hüten, damit sie seine künftigen Menschenjagden nicht beeinflußten, er mußte sich die Gefahr rührseliger Sentimentalität bewußt machen. Der Staat – diese Front aus Diplomaten, Politikern und gewählten Halunken – hatte den Gerichten ein Bein gestellt, um selbst Ruhm und Ehre einzuheimsen. Der Staat war dafür verantwortlich, daß man sich der Hysterie der Massen gebeugt hatte und ein Mord heutzutage kein schwereres Verbrechen zu sein schien als – zum Beispiel – Bigamie. Seine Pflicht war es jetzt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um diese Mörder in die Zivilisation 120
zurückzubringen, und wenn er es geschafft hatte, mußte sein offizielles Interesse an ihnen zu Ende sein. Mit einer Ausnahme. Sie kamen aus der Küche zurück, geknickt wie abgeschnittene Blüten. »Das Loch ist hinter dem Felsen an der Rückseite des Ofens«, erklärte Mark Brennan. »Der Felsbrocken läßt sich nicht bewegen. Dazu würden wir Brechstangen und Sprengstoff brauchen. Sieht aus, als hätten wir Pech gehabt.« Bony ging in die Küche. Der Ofen war zur Seite gerückt worden. Ein großer Felsbrocken oder eine felsige Horstbildung war von der Decke gefallen oder hatte sich von der Felswand abgespalten. Die Spalte dazwischen war ungefähr dreißig Zentimeter breit; vielleicht etwas mehr. In dieser Spalte hatte der Hund den Ausgang entdeckt. »Um den wegzukriegen, brauchen wir eine Atombombe«, höhnte Riddell, und Myra Thomas sagte vergnügt: »Ist das alles? Wir können ja die Aborigines bitten, uns ein paar runterzuwerfen. « »Man kann hineingreifen, Inspector, und fühlt das Loch in der Wand – ungefähr einen halben Meter über dem Boden«, sagte Maddoch. »Holen Sie den Hund!« befahl Bony. Lucy wurde gebracht. Bony kniete nieder und schob sie vorwärts. »Such, such und faß!« sagte er beschwörend. Lucy ließ sich nicht lange bitten. Sie verschwand. Es war so still, daß sie ihr leises Bellen hörten, und als niemand ihr folgte, kam sie zurück. Bony schlug vor, sie sollten noch einmal versuchen, den Felsbrocken beiseite zu schieben. Er half natürlich mit. Gemeinsam hievten, schoben und zerrten sie, vor Anstrengung schnaufend und grunzend. »Muß eine Horstbildung sein«, sagte Bony. »Hat einer von euch schon mal in einer Mine gearbeitet?« Jenks behauptete, in Neusüdwales als Schachtbauer beschäftigt gewesen zu sein. »Wir wollen versuchen, eine Sprengladung anzubringen, Jenks«, sagte Bony. »Könnten Sie ein Loch in diesen Felsen bohren, damit wir die Ladung darin unterbringen können? Es wird seine Zeit dauern.« »Und womit soll ich bohren?« fragte Jenks. 121
»Ich habe acht Zeltheringe aus Stahl und einen kleinen Hammer, um die Heringe in den Boden zu treiben und Dingofallen zu reparieren. Ich hole sie.« Sie trotteten hinter ihm her zu seinen Packtaschen, und er holte Hammer und Heringe heraus. Jenks untersuchte die Heringe sehr sorgfältig. »Sie sind zwar nicht aus Stahl, aber aus gutem Eisen«, sagte er. »Aber warten Sie noch! Wo ist der Sprengstoff?« Bony nahm zwei Schachteln mit je fünfzig Gewehrpatronen aus der Packtasche. »Wir entfernen die Hülsen«, erklärte er. »Der Kordit könnte es schaffen.« »Ja, aber was nehmen wir als Zündkapsel?« fragte Jenks, und Bony erklärte ihm, daß jede Patrone ein Zündhütchen oder eine Zündkapsel hatte; als Zündschnur mußten sie mehrere zusammengebundene und in Kerosin getränkte Lumpen verwenden. Allerdings würden sie, sobald diese Zündschnur brannte, wie die Teufel rennen müssen. »Vielleicht funktioniert es gar nicht«, warnte er sie. »Wir können es nur versuchen.« »Sagen Sie einfach, was wir zu tun haben«, stimmte Riddell zu. »Los, fangen wir an, Ted.« »Zuerst muß der. Ofen hinausgetragen werden«, sagte Bony. »Dann kann Myra in aller Ruhe weiterbacken. Und nehmt Lucy mit. Sie muß angebunden werden.« Die empörte Lucy wurde am Reitsattel angeleint, und Bony setzte sich neben sie. Er hörte die dumpfen Hammerschläge und beobachtete Myra, die sich – um alles andere zu verdrängen – völlig auf ihre Küchenarbeiten konzentrierte. Havant setzte sich zu Bony. Der Sonnenstrahl fiel zwischen sie und die Mündung des Hauptgangs, und an der Öffnung über ihnen flogen weiße Wolken vorbei, die, wie Bony nur vermuten konnte, in südlicher Richtung unterwegs waren. »Es ist sehr klug von Ihnen, daß Sie hier auf die Rettungsmannschaft warten wollen, Doktor«, sagte Bony, als er merkte, daß Dr. Havant auf ein Wort von ihm wartete. »Ich wünschte, die anderen wären genauso klug. Wenn wir es schaffen, hinauszukommen, werden Sie doch unsere Chance nicht durch Unvorsichtigkeit zunichte machen?« 122
»Selbstverständlich nicht. Das würde schließlich auch mich treffen, Inspector. Was haben Sie für Schwierigkeiten? Was kann ich tun?« »Meine Hauptsorge sind die Aborigines. Wie ich schon sagte, durchstreifen sie nachts nicht die Ebene, weil sie sich zu sehr vor Ganba fürchten. Wir sind hier aber nur drei Meilen vom nördlichen Wüstengebiet entfernt, wo sie leben und sich sicher fühlen. Wenn es uns gelingen sollte, den Gang zu erweitern, den Lucy benutzt, dürfen wir uns unter keinen Umständen bei Tag im Freien zeigen. Es wäre wichtig, vor Tagesanbruch mindestens schon zehn Meilen in die Ebene vorgedrungen zu sein, und dabei müssen wir auf unser Glück vertrauen und hoffen, daß sie unsere Spuren nicht entdecken und uns nicht verfolgen. Allein wäre das für mich überhaupt kein Problem. Mit den anderen und mit einer Frau – Sie kennen ihre körperliche Verfassung. Immer vorausgesetzt, wir können übertriebene Eile, ja, sogar eine Panik unterbinden, dürfen die Zurückbleibenden diesen Ausgang auf keinen Fall benutzen. Ich werde Sie sogar bitten, ihn zu blockieren. Sie könnten der Versuchung sogar nachts widerstehen, aber glauben Sie, Maddoch ständig im Auge behalten zu können?« »Maddoch – ja. Die Frau nicht. Ich bin froh, daß sie mit Ihnen geht.« »Gehören Sie nicht zu ihren Bewunderern?« »Nein, ich gehöre nicht zu ihren Bewunderern, Inspector. Ich finde sie abstoßend. Sie hat mich mit einer Henne in einem Hof voller Gokkel und einem Daniel in der Löwengrube verglichen. Tatsächlich ist sie weder eine Henne noch ein weiblicher Daniel. Sie ist geschlechtslos, ohne es zu wissen, aber ihr Mann wußte es, und dieses Wissen war die Ursache der Feindseligkeit, die zu seinem Tod geführt hat. Sie hat, in einer für Laien verständlichen Sprache ausgedrückt, einen gespaltenen Verstand, und damit meine ich nicht eine gespaltene Persönlichkeit. Eine Hälfte dieses Verstandes bewundert Myra Thomas, und die andere verteidigt Myra Thomas ständig, die sich vor Männern, vor Sex und auch davor fürchtet, daß andere Frauen sie durchschauen könnten, denn das läßt ihre unterschwellige Eitelkeit nicht zu. Also nehmen Sie sie mit, Inspector, und sehen Sie zu, daß Sie sie irgendwo loswerden.« »Sie geht mit uns, Doktor. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie von Mark Brennan halten.« 123
»Brennan hat meiner Meinung nach unter der legalen Haft am wenigsten gelitten, und daher konnten ihm auch diese Höhlen nicht viel anhaben. Ihm ist seine Abhängigkeit von Ihnen am deutlichsten bewußt, er weiß, daß nur Sie ihn heil zurückbringen können. Er ist in so mancher Beziehung ein sympathischer Mensch, aber – der Psychiater kann eine Seele kurieren, die früher einmal gesund war; für eine von Geburt an deformierte Seele kann er nichts tun. Für Mitski habe ich sehr viel tun können. Ich konnte auch Maddoch helfen. Für Brennan kann man nichts tun. Sie werden in ihm jedoch einen ausgezeichneten Gefolgsmann finden. Riddell ist nur Körper, den eine niedrige Intelligenz leitet. Jenks ist intelligenter und, wie ich festgestellt habe, am schwersten zu verstehen. Jenks hat viel Gutes in sich. Dieser Dr. Havant«, er grinste – »nun ja, über ihn wissen Sie Bescheid. Als Sie ihn fanden, war sein Lebenswille verdorrt. Sie werden feststellen … Haben Sie den Schatten gesehen?« »Ja. Dort oben ist jemand.«
Der Geruch der Freiheit
G
ehen Sie ganz normal in die Küche und sagen Sie den anderen, daß sie die Arbeit am Felsen unterbrechen sollen. Bitten Sie Brennan, zu mir zu kommen – ganz ohne Eile.« Havant stand auf und ging in die Nebenkammer. Myra kochte weiter. Bony gähnte, zündete sich eine Zigarette an und vermied es, zu der Öffnung im Höhlendach hinaufzuschauen. »Setzen Sie sich, Mark, ich muß mit Ihnen reden«, sagte er, als Brennan erschien. »Ich verlasse mich darauf, daß Sie mir von nun an helfen, für eine gewisse Disziplin zu sorgen. Dem Doktor habe ich gerade erklärt, daß unser größtes Hindernis die Aborigines sind. Wenn Sie wie nebenbei hinaufschauen, sehen Sie möglicherweise einen – oder seinen 124
Schatten. Der Schatten eines Mannes bewegt sich schneller als der einer Wolke.« »Es ist ein Abo, Inspector. Er schaut zu uns herunter.« »Benehmen Sie sich ganz natürlich. Drehen Sie sich eine Zigarette.« Als er wieder hinaufblickte, war nur noch das fahler werdende Blau des abendlichen Himmels zu sehen. »Sind Sie jetzt überzeugt, Mark?« »Ja, natürlich. Warum?« Bony wiederholte, was er Dr. Havant gesagt hatte. »Und deshalb brechen wir hier genauso vorsichtig aus, als wären wir im Coulburn-Gefängnis. Diese Aborigines sind die Wärter, Mark. Nachts hat hier allerdings niemand Aufsicht, und deshalb müssen wir alles nachts erledigen. Ich bin froh, daß Sie diesen Kerl gesehen haben, jetzt können Sie mir nämlich helfen, die anderen zu überzeugen.« »Aber selbstverständlich. Ich begreife auch, daß wir alles in den Sand setzen und uns eine verdammt gute Chance verderben könnten. Wenn die anderen nicht spuren, müssen sie eben gedrillt werden und eins auf die Nase kriegen. Sie werden mich immer an Ihrer Seite finden. Wie ich schon einmal gesagt habe, will ich hier raus und werde nicht dulden, daß sich Ihnen jemand widersetzt.« »Gut. Wie gehen die Bohrarbeiten voran?« »Wir haben ungefähr fünf Zentimeter geschafft. Glauben Sie, daß die Abos das Klopfen gehört haben?« »Möglicherweise, aber stutzig werden sie bestimmt erst, wenn wir nicht weitermachen. Sagen Sie den anderen, sie sollen herkommen und so tun, als ob sie sich furchtbar langweilen würden und alles satt hätten. Vielleicht gelingt es mir, Myra zu überreden, eine Kanne Tee zu kochen.« Als Brennan gegangen war, kam Myra zu Bony herüber und blieb vor ihm stehen. Er forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. »Um was ging’s denn bei der Konferenz?« fragte sie. »Aborigines. Sie sind oben an der Öffnung.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe ihre Schatten gesehen. Und Mark hat einen ertappt, als er zu uns runterschaute.« »Oh! Und ich habe schon gedacht, daß ihr euch überlegt, wie ihr mich zurücklassen könnt.« 125
»Ich hätte genau das tun sollen, aber ich hab’s nicht getan. Haben Sie ein Paar feste Schuhe?« »Seien Sie nicht albern. Als ich im Zug den Mann vor dem Waschraum traf, hatte ich nur einen Morgenrock über dem Schlafanzug und ein Paar Pantoffeln an. Er hat mich niedergeschlagen, ohne mir vorher zu sagen, daß ich mich richtig anziehen soll. Als Frau erwartet man eigentlich nicht, so behandelt zu werden, nicht wahr?« »Zweihundert Meilen barfuß zu gehen, kann sehr mühsam werden.« »Auch die Männer haben weder Stiefel noch Schuhe, Inspector. Sie sind da fein raus.« »Die Männer haben inzwischen Hornhaut auf den Sohlen, Sie nicht. Ich warne Sie – wenn Sie nicht mithalten können, müssen wir Sie möglicherweise zurücklassen.« »Sogar das wäre mir lieber, als auch nur eine Sekunde länger als nötig hierzubleiben. Sie haben keine Ahnung, was es heißt, wenn man als Frau nichts anzuziehen hat.« »Ich weiß aber, daß Sie allen Grund haben, dem Doktor für vieles dankbar zu sein.« »Ihm!« rief sie schaudernd. »Nicht für eine Million Pfund würde ich mit ihm allein bleiben, selbst wenn er mich aus der Bredouille herausholen könnte, in die er mich gebracht hat. Na ja, also ich weiß nicht. Für eine Million …« »Wie wär’s, wenn Sie uns allen eine Tasse Tee machen würden?« »Tee! Wir sprechen über die Sünde, und Sie wollen Tee. Ich könnte einen Mann mit Humor anbeten.« Sie sagte es leise und sah Bony mit offener Bewunderung an. Er wußte jedoch noch immer nicht, ob sie jetzt sie selbst war oder Mae West spielte. Sie machte Tee und gab jedem einen kleinen Kuchen dazu. Der Doktor hatte den Männern Bescheid gesagt, und als er jetzt vorschlug, eine Partie Dame zu spielen, stimmte Riddell eifrig zu. Bony bat Jenks, sich zu ihm zu setzen. »Hartes Gestein?« fragte er. »Habe schon mit härterem gearbeitet – und mit weicherem. Bin mit einem Hering ungefähr fünf Zentimeter tief gekommen. Wie tief sollten wir Ihrer Meinung nach gehen?« 126
»Ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Zentimeter«, antwortete Bony. »Was meinen Sie?« »Das gleiche. Wird lange dauern.« »Das ist unvermeidlich. Außerdem können wir, um ganz sicher zu sein, die Ladung sowieso nicht vor Mitternacht hochgehen lassen.« »Sind die Schwarzen wirklich dort oben?« »Brennan hat einen hereinschauen sehen. Ich habe ihre Schatten beobachtet. Der Doktor ebenso. Keine Frage, Jenks, sie sind oben.« »Soll ich mir einen vornehmen?« »Das wäre ein kurzlebiges Vergnügen.« »Darf das Frauenzimmer wirklich mit – falls wir hier rauskommen?« »Wenn sie mitkommen will.« »Sie ist uns sicher eine Last.« »Es ist für uns alle besser, wenn sie mitgeht. Wenn sie bleibt, macht sie vielleicht irgendeinen Unsinn und verrät unsere Flucht.« »Dann sollten wir ihr wohl am besten eins über die Birne geben und sie in Fiddler’s Leap schmeißen.« Der Vorschlag war ernst gemeint. Bony warf dem Ex-Seemann einen scharfen Blick zu, und ein Grinsen ließ die grauen Stoppeln auf Jenks’ Kinn deutlicher hervortreten. »Ich vergesse immer wieder, daß Sie Kriminalbeamter sind, Inspector.« »Das könnte gefährlich sein, Jenks. Wir können es nur schaffen, wenn wir an einem Strang ziehen und nicht in Panik geraten.« Bony erklärte Jenks, mit welchen Widerständen sie zu rechnen hatten, und ermahnte ihn zu extremer Vorsicht. Eine Stunde später nutzte Bony die Gelegenheit, mit Riddell zu sprechen. »Joe, Sie sind der Stärkste hier«, schloß er. »Viel hängt von Ihnen ab. Wir müssen Wasser mitnehmen, und Sie werden das meiste davon tragen müssen. Nach den ersten zwei bis drei Tagen brauchen wir uns nicht mehr so zu beeilen, aber Lebensmittel und Wasser sind bis zum letzten Meter wichtig. Wenn wir einen Ausbruch aus einem richtigen Gefängnis planen würden, könnten Sie das Ihre dazutun und dafür sorgen, daß auch die anderen spuren. Oder?« »Sagen Sie mir nur Bescheid, Inspector. Was immer Sie wollen, gilt, und der Kerl, der Ihnen widerspricht, kriegt es mit mir zu tun.« Das Stückchen Himmel hoch über ihnen wurde fahl, und während sie bei Lampenlicht zu Abend aßen, warteten sie auf den ersten Stern. 127
Erst als er in dem gezackten Loch sichtbar wurde, erlaubte Bony, daß die Bohrarbeiten fortgesetzt wurden. Sofort wurden die Männer wieder zu ausgelassenen Jungen und trieben den Zelthering in das Loch, das einen Durchmesser von ungefähr drei Zentimetern hatte. Als sie endlich tief genug gebohrt hatten, dämmerte schon der neue Morgen herauf. Sie packten den Kordit in das Loch, dann schoben sie die Zündkapseln nach, und Jenks tränkte die zerrissenen Kartons und Lumpen, die als Lunte dienen sollten, großzügig mit Kerosin. Riddell meinte, daß Bony die Ehre gebühre, das Streichholz an die Lunte zu halten. Sie warteten in der Halle. Bony hoffte, daß der Morgenwind die Dämpfe des Kerosins und das brennende Material über die Ebene zerstreuen würde. Die Explosion dröhnte ihnen in den Ohren, und sie stürzten in die Küche. Der Felsen war in drei Teile geborsten. Sie zerrten die einzelnen Brocken weg und stritten darüber, wer sich als erster auf den Boden legen durfte, um in das kleine Loch zu schauen; Hoffnungslosigkeit überkam Bony bei ihrem Gezänk. Als alle in das Loch hineingespäht hatten, sagte er kalt: »Dürfte auch ich einmal das Ergebnis Ihrer Bemühungen sehen?« »Aber selbstverständlich«, antwortete Riddell, und Brennan hatte wenigstens Anstand genug, um ein beschämtes Gesicht zu machen. »Man sieht das Tageslicht, Inspector. Aber um unsere Chance steht es nicht besonders gut.« Bony schaute in einen Trichter, der am anderen Ende breiter wurde. Er war steil aufwärts gerichtet und etwa einen halben Meter lang. Dahinter schien ein enger Gang zu liegen, der nicht ganz so steil nach oben führte wie der Trichter. Bony ließ sich eine Lampe bringen und schob sie in den Trichter, um das Gestein zu prüfen. Dann sah er feine Risse und Sprünge im Fels und schöpfte Hoffnung. »Jenks!« rief er. »Sehen Sie diese Risse?« »Es sind tatsächlich Risse«, pflichtete Jenks ihm bei. »Ich könnte versuchen, durchzubrechen. Oder vielleicht würden wir mit einer zweiten Sprengladung etwas erreichen. Haben wir noch Kordit?« »Ein bißchen.« »Dann machen wir weiter. Reichen Sie mir den Hammer und ein Eisen.« 128
»Nicht jetzt«, sagte Bony. »Gehämmert wird erst heute abend. Hier haben Sie einen Hering, versuchen Sie hier und da ein bißchen zu kratzen.« Der Hering war stumpf. Bony verlangte einen neuen und rollte sich dann seitlich weg, damit Jenks genug Platz hatte. Er hörte, wie die Spitze des Herings den Fels abtastete, und hin und wieder brummte Jenks etwas. »Könnte ich möglicherweise mit zwei Hammerschlägen durchbrechen«, verkündete Jenks, und wieder ordnete Bony an, damit zu warten. Dann setzte Bony sich auf und musterte die Zuschauer. »Geht in die Halle und singt. Singt irgend etwas, aber singt und hört nicht auf zu singen. Schlagt den Takt, macht so viel Krach wie möglich.« Sie marschierten hinaus, schlugen mit großer Begeisterung Topfdekkel zusammen, und Myra Thomas begann Long, long Trail zu singen. Bony war überrascht, weil sie eine wirklich gute Stimme hatte, und bald fielen andere Stimmen ein. »Fangen Sie an, Jenks«, sagte er und reichte dem Seemann den Hammer. Obwohl Bony in der Nähe stand, hörte er das Hämmern kaum. Da er Jenks nicht helfen konnte, überlegte er, wie es weitergehen sollte, falls es gelang, die Öffnung zu vergrößern. Long Trail ging in Bells of St. Mary über, und Glocken wurden von dem Liedchen Three Blind Mice abgelöst. »Der Fels gibt ein bißchen nach«, stieß Jenks keuchend hervor. Er wechselte die Stellung, fuhr sich mit dem Arm über das stoppelige Gesicht und arbeitete weiter. Dann ertönte ein Geräusch, das nicht vom Hammer stammte, ein bedeutsames Geräusch, und Jenks zog sich zurück und untersuchte den Trichter im Licht der Lampe, die Bony hielt. »Könnte eine oder zwei Tonnen dieser verdammten Mauer herunterholen. Bringen Sie mir ein Seil, das ich an dem Hering befestigen kann, dann können wir ziehen, wenn wir weit genug entfernt sind.« Der Chor der Vereinigung entlassener Mörder war wieder bei Long, long Trail angelangt, als Bony durch den Saal zu seinen Sachen ging. Mit lebhaften Gesten forderte er sie auf, noch mehr Lärm zu machen. Es war für Jenks gar nicht so einfach, die Schnur so an dem Zelthering 129
zu befestigen, daß er Hebelwirkung hatte. Er grunzte und fluchte und grinste, als sie sich gemeinsam in den Saal zurückzogen. Dann spuckte er in die Hände, packte das Seil, nickte Bony zu, der dicht hinter ihm stand, und sie begannen langsam zu ziehen. Sie fühlten, daß sich der Hering bewegte. Vor dem fernen Licht sahen sie, daß die Form des Trichters sich veränderte – und dann wieder gleich blieb. Sie versuchten es noch einmal mit einem frischen Hering, der erste war völlig verbogen und unbrauchbar. Es folgte ein leises Knirschen, und urplötzlich änderte sich die Form des Trichters wieder. Er war zu einem Tunnel geworden. »Ahoi!« schrie Jenks und stürzte auf das Loch zu, das jetzt sogar für Riddell groß genug und bequem zu passieren war. »Halt!« schrie Bony. Jenks, der auf Händen und Knien in die Öffnung kriechen wollte, wandte den Kopf und blickte direkt in die Mündung einer Automatic. »Stehen Sie auf, Jenks! Wenn Sie nicht tun, was ich sage, schieße ich. So ist es besser. Hier geht keiner raus, bevor es dunkel ist.« »Verdammte Pistole! Sie haben eine verdammte Pistole? Zum Teufel! Ich wollte wirklich nichts Schlimmes tun, Inspector.« »Ich habe gedacht, Sie könnten in der Aufregung vergessen haben, was ich gesagt hatte, Jenks. Holen Sie die anderen.« Sie standen am Kücheneingang, sahen Bony, der vor der zerklüfteten Öffnung kauerte und seine Pistole in der Hand hielt. Ihre Augen blitzten, ihre Lippen und ihre Hände zitterten, als wollten sie die Freiheit sofort packen, schmecken und festhalten. Bevor sie etwas sagen konnten, rief Bony Maddoch zu sich. »Ich vertraue Ihnen, Maddoch«, sagte er. »Wenn Sie mich enttäuschen, erschieße ich Sie wie ein Kaninchen. Kriechen Sie durch das Loch, folgen Sie dem Gang, und stellen Sie fest, wohin er führt. Gehen Sie so weit wie möglich, aber halten Sie an, bevor Sie ins Freie gelangen – falls es eine Öffnung ins Freie gibt. Ist das klar?« »Ja. Und Sie dürfen mir vertrauen, Inspector.« Der kleine Mann schlüpfte in das Loch. Sie hörten noch, daß er ein paar Steine aus dem Weg räumte, dann wurde es still. »Kommen Sie zu mir, Brennan«, sagte Bony. 130
Brennan setzte sich in Bewegung, mußte auf Bonys Geheiß jedoch etwa anderthalb Meter entfernt stehenbleiben. »Ich vertraue auch Ihnen, Mark. Wissen Sie noch, was wir über Disziplin gesagt haben?« »Selbstverständlich weiß ich das noch. Was soll ich tun?« »Ich möchte niemanden erschießen, Mark, aber ich bin entschlossen, mich in jedem Fall durchzusetzen und mit unserem Ausbruch bis zum richtigen Zeitpunkt zu warten. Ich verlasse mich darauf, daß Sie mich unterstützen. Dasselbe gilt für alle übrigen. Ich habe Sie alle wiederholt ermahnt und erwarte jetzt, daß Sie sich vernünftig benehmen.« Die anfängliche Aufregung, von der sich alle fast zu einer Unüberlegtheit hinreißen ließen, legte sich allmählich, und auch der Groll, der in Jenks schwelte, erlosch langsam. Schweigend warteten sie auf Maddochs Rückkehr. Als er kam, strahlte er vor Freude. »Der Gang verläuft nach oben«, berichtete er, »und dann leicht nach links. Im Dach ist ein langer, ungefähr fünf Zentimeter breiter Spalt, durch den Licht einfällt. Als ich das Ende des Ganges sah, dachte ich, daß es nicht mehr weiter geht. Aber das stimmt nicht. Auf einer Seite ist eine schmale Öffnung. Ich quetschte mich durch und kam in eine Art Tunnel. Er ist gerade breit genug für mich, aber die Wände und die Decke bestehen aus losem Geröll, so daß wir ihn leicht für Joe erweitern können. Das Ende des Tunnels mündet in eine flache, mit Salzbusch bewachsene Mulde.« Triumphierend zeigte er ihnen ein paar Zweige der Miniatursträucher, und sie umdrängten ihn, um die saftigen und samtigen Blätter zu berühren. Myra Thomas hielt sich ein Blatt an die Wange, und Bony dachte, daß sie endlich einmal ganz Frau war und sich natürlich benahm. Maddoch umklammerte Bonys Arm, und als Bony sich umdrehte, blickte er in flehende Augen. »Ich will auch mitgehen, Inspector. Ich habe die Sonne dort draußen gerochen. Ich habe sie auf meiner Hand gefühlt, als ich sie einen Augenblick ins Freie hielt. Ich muß mit Ihnen gehen. Ich könnte nicht bleiben – jetzt nicht mehr.«
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Die Ebene wartet
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eim Frühstück hatte Bony das Gefühl, daß seine Mitgefangenen nicht mehr so gereizt waren wie bisher. Nach dem Essen hatte er in dem durch die Explosion größer gewordenen Loch geschlafen, damit niemand an ihm vorbei konnte. Brennan hatte sich erboten, mit Havant im Saal zu bleiben, um jeden Verdacht zu zerstreuen, falls die Aborigines wiederkommen sollten, und Myra hatte erklärt, sie müsse etwas nähen, und sich in ihr »Zimmer« zurückgezogen. Als Bony aufwachte, stellte er fest, daß Brennan und der Doktor noch fest schliefen. Aus dem Winkel, in dem der Sonnenstrahl in den Saal fiel, schloß er, daß es ungefähr drei Uhr nachmittags war. Er ging Maddochs Fußspuren nach, um zu überprüfen, ob der Bericht des kleinen Mannes in allen Punkten richtig war. Er war sehr zufrieden, als er feststellte, daß Maddoch sehr genau beobachtet hatte. Sie mußten an einer einzigen Stelle noch etwa eine Stunde arbeiten, dann konnte auch der massige Riddell mühelos den Gang passieren. Er kochte Kaffee, als Myra in der Küche erschien, wo der Ofen jetzt wieder fast an seinem alten Platz stand. Myra richtete zwei Fragen an ihn: »Würden Sie mir aus Ihrem Tabak eine Zigarette drehen?« Und: »Geht es heute abend los?« Sie hatte offensichtlich gut geschlafen, denn sie war vergnügt und zur Mitarbeit bereit. Er sagte, daß sie noch in dieser Nacht aufbrechen würden, drehte ihr eine Zigarette und schenkte Kaffee ein. »Wir haben noch eine Menge vorzubereiten, Myra, und ich möchte, daß Sie bis – sagen wir, sieben Uhr abends – so viel Brot backen wie nur möglich. Zum Abendessen machen Sie einen kräftigen Eintopf. Was wollen Sie mitnehmen?« 132
»Was soll ich denn mitnehmen wollen? Außer einem zerbrochenen Kamm, meiner Nagelschere und einem kleinen Spiegel besitze ich nichts. Wird es wirklich so hart, wie Sie gesagt haben?« »Vielleicht noch härter – besonders für unsere Füße. Ich mache Ihnen ein paar Schuhe, dadurch werden Sie’s ein bißchen leichter haben. Trotzdem würde ich Ihnen immer noch raten, hierzubleiben.« »Ich gehe, Inspector«, sagte sie. »Ich schaffe es, Sie werden schon sehen, daß ich nicht schwächer bin als die Männer. Ich habe noch zuviel vor im Leben.« »Sie riechen wohl schon die Schlagzeilen?« »Es duftet wie Rosenöl.« »Dann sorgen Sie für den irdischeren Duft eines herzhaften Essen, während ich die anderen wecke.« Sie waren um das Tischtuch versammelt, als Bony ihnen im einzelnen erklärte, was sie für Vorbereitungen zu treffen hatten. Jetzt war Lucy der einzige Rebell, sie schmollte, weil sie am Kamelsattel angeleint war. Nach dem Essen befahl Bony, alle Lampen anzuzünden und in die Haupthöhle zu bringen, wo sie arbeiten konnten, ohne von oben beobachtet zu werden. Nachdem er für jeden eine Decke beiseite gelegt hatte, wies er Jenks an, mehrere Decken in Streifen zu reißen. Brennan mußte Fleischbüchsen, Kaffee und Zucker, einen Sack Mehl und verschiedene Kleinigkeiten wie Streichhölzer und Tabak herbeischaffen. Riddell füllte im Fluß, der durch den Juwelierladen strömte, noch einen Kanister mit Wasser. »Maddoch, sind Sie noch immer fest entschlossen, mit uns zu gehen?« fragte Bony, und Maddoch nickte mit einem Blick auf Dr. Havant. Der Doktor sagte, er wolle so geduldig wie möglich warten, und war ganz und gar nicht verärgert, weil er allein bleiben mußte. Die Vorräte wurden so gleichmäßig wie möglich, damit keiner zuviel schleppen mußte, auf die Decken verteilt und darin eingerollt. Mit den Streifen aus den zerrissenen Decken verschnürte man die Bündel und knüpfte auch noch eine Schlinge, damit sie über der Schulter getragen werden konnten. Als sie fertig waren, wurden die Bündel in der Küche bereitgestellt, ebenso die Wassertonne und die primitiven Tragegurte, die Riddell umlegen mußte, damit er die Last des Kanisters weniger spürte. Bony überlegte, ob er das Einmannzelt des alten Patsy mitnehmen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. 133
»Wir sind mit unseren Vorbereitungen fast fertig«, sagte er. »Nehmen Sie nichts Überflüssiges mit. Sie sollten sich jetzt aus Deckenstücken Schuhe zurechtschneiden. Sehen Sie …« »Meine Füße sind abgehärtet genug«, fiel ihm Jenks ins Wort, und Riddell war der gleichen Meinung. Bony erklärte ihnen kurz, welche Vorsichtsmaßnahmen ein Aborigine ergriff, damit man seiner Fährte nicht folgen konnte – er klebte sich viele Federn mit Blut an die Fußsohlen. »Das zweitbeste Material ist die Wolle vom Rücken der Schafe. Da wir weder Federn noch Wolle haben, müssen wir die Decken benutzen. Und wir müssen ganz sicher sein, daß wir unsere Deckenschuhe nicht verlieren. Sie werden anfangs ein bißchen plump und unbequem sein.« Sie schnitten sich aus der Decke Sohlen in ihrer Schuhgröße zurecht und befestigten sie mit Deckenstreifen, die wie Wickelgamaschen bis unter die Knie reichten. »Sieht so aus, als wollten wir zum Südpol«, sagte Myra. »Wenn wir nur eine Kamera hätten! Was für ein Anblick wären wir im Fernsehen. Wie sehe ich aus?« Eine Hand in die Hüfte gestützt, tanzte sie über den unebenen Boden. Brennan lachte leise, und sogar Bony mußte lächeln. »Im Fernsehen wärst du eine echte Sensation. Dieser Flicken auf deinem Hinterteil macht sich großartig.« Brennan gluckste vor Vergnügen, und Bony stellte plötzlich fest, daß dieser Brennan für ihn ebenso neu war wie das Mädchen. Sogar Maddoch hatte sich verändert. Seine Augen lebten wieder. Der Sonnenstrahl schimmerte rötlich an der Wand der kreisrunden Halle, als Bony den Doktor bat, ihn zu begleiten, damit er verschiedene Arbeiten verrichten konnte, nachdem die anderen aufgebrochen waren. Bony führte Havant zum Ausgang und sagte: »Da draußen liegt ein neues Leben. Können Sie sich diese Chance selbst versagen?« »O doch, Inspector.« »Dann muß ich Ihre Entscheidung akzeptieren. Sobald wir fort sind, müssen Sie diesen Ausgang fest mit Geröll verschließen, damit er nicht durch Zufall entdeckt werden kann.« »Dann habe ich wenigstens eine Aufgabe.« 134
»Ritzen Sie jeden Tag ein Zeichen in den Felsen, damit Sie wissen, wie viele Tage jeweils vergangen sind«, riet ihm Bony. »Soll ich darauf bestehen, daß Maddoch bei Ihnen bleibt?« »Nein. Aber ich denke, es wäre besser für ihn, wenn die Bedingungen dort draußen tatsächlich so sind, wie Sie sie geschildert haben.« »Ich habe nicht übertrieben. Wenn wir Glück haben, halten wir körperlich alle durch. Die mentale Komponente macht mir jedoch große Sorgen. Ich glaube aber, daß Maddoch mental nicht weniger belastbar ist als Jenks, Brennan oder sogar die Frau. Ich werde trotzdem noch einmal mit ihm reden.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Bony: »Was haben Sie vor, wenn Sie wieder ins normale Leben zurückkehren?« »Oh!« rief Havant leise, als fühle er sich von der Frage überrumpelt. »Ich habe einen kleinen Besitz mit Weideland im Süden der RiverinaRegion. Er wurde während meiner Abwesenheit verwaltet, und dorthin wollte ich nach meiner Haftentlassung gehen. Ich nehme an, die Behörden werden darauf bestehen, daß ich die Auflagen erfülle, die mir bei meiner Entlassung gemacht wurden.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Bony. »Ich werde in jedem Fall berichten, was Sie hier für Ihre unglücklichen Mitgefangenen getan haben. Man könnte Ihnen die Auflagen erlassen.« »Wäre das möglich? Dann würde ich irgendwohin nach Nordaustralien gehen – unter einem anderen Namen, weil ich mich ein bißchen vor dem Aufsehen fürchte, das diese ganze Sache hervorrufen wird. Die Entführung von Myra, zum Beispiel, war zu spektakulär, um nicht weltweites Interesse zu erregen. Auch ihr wird das allmählich klar.« »Sie wird dieses Interesse für sich zu nutzen wissen, Doktor. Wir sehen uns in drei Wochen wieder, und ich möchte, daß Sie mich als Ihren Freund betrachten, an den Sie sich jederzeit wenden können. Das heißt – wenn Sie Igor Mitski nicht ermordet haben. Haben Sie es getan?« »Nein, und ich will Ihnen auch sagen, warum ich es nicht gewesen sein kann. Außer Maddoch war Mitski der einzige kultivierte Mann hier. Ich bin physisch nicht mehr an Frauen interessiert, und der Mord an Mitski war eine Eifersuchtstat. Es war unvermeidlich. Wäre Mitski nicht umgebracht worden, hätte es einen anderen getroffen. Wenn Sie nicht gekommen wären, müßten 135
wir bestimmt noch andere im Abgrund von Fiddler’s Leap bestatten. Das einzige, das diese Frau bisher vor ihrer eigenen Dummheit gerettet hat, war die Tatsache, daß zu viele Löwen in der Grube waren. Mitskis Mörder wollte alle ausschalten, bis auf einen – sich selbst.« »Damit können Sie recht haben, Doktor. Nun, ich muß jetzt noch letzte Vorbereitungen für unseren Aufbruch treffen.« Als Bony die Küche betrat, hörte er aus dem Saal Gelächter. Riddell hatte die Schere in der Hand und stutzte sich den Bart. Jenks rasierte sich mit vor Konzentration gerunzelter Stirn. Alle trugen die Deckenstiefel, und es gab keinen einzigen Aborigine in ganz Australien, der nicht wußte, was diese Fußkleidung zu bedeuten hatte. Bony stöhnte. Er hatte ihnen ausdrücklich verboten, sich mit dieser Fußbekleidung im Saal aufzuhalten. »Sie haben nicht zufällig einen Aborigine bemerkt, der Sie beobachtet?« fragte er scharf. »Da sie gestern hier waren, könnten wir vielleicht Glück haben, und sie sind heute woanders. Das Brot riecht köstlich, Myra. Und das Stew! Wann essen wir?« »Sobald die Jungs damit fertig sind, sich in Filmstars zu verwandeln.« Das Abendessen verlief fast vergnügt. Bony freute sich, weil er hoffte, daß diese Stimmung wenigstens achtundvierzig Stunden anhalten würde. Gleichzeitig jedoch fürchtete und ahnte er, daß es anders kommen konnte. Hinterher half Maddoch Myra beim Aufräumen, und Riddell trug die leeren Fleischdosen und den anderen Abfall auf den Müllhaufen hinter der Haupthöhle. »Zwei Sachen hab’ ich noch vergessen«, sagte Bony. »Einen Tomahawk und einen Büchsenöffner. Sollten wir den Büchsenöffner verlieren, bleibt uns noch der Tomahawk.« Sie fanden das riesig komisch, und er hatte das Gefühl, jetzt härter durchgreifen zu müssen. »Sie kennen die Ausmaße dieser Höhlen«, sagte er, um sie zu beruhigen. »An dieses Höhlensystem schließen sich weitere an, sie erstrekken sich über ein weites Gebiet. Hier und auf der Eben gibt es viele Kavernen. Die Gebiete werden vom Vieh gemieden und sind nachts gefährlich. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie leicht man abstürzen kann. Es gibt unzählige Spalten und kleine Löcher, die nur darauf warten, einem die Beine oder den Hals zu brechen. 136
Wir müssen vor Tagesanbruch zehn Meilen zurücklegen, und man sieht nicht, ob man festen Boden unter den Füßen hat oder ob er löchrig und porös ist. Wir müssen im Gänsemarsch gehen. Ich voraus, mit Lucy als zusätzlicher Sehhilfe. Sie, Mark, gehen als letzter und behalten ständig die anderen im Auge. Sobald wir draußen sind, darf nicht mehr gesprochen werden, denn wenn es nicht windig ist, tragen nachts die Geräusche weit. Bitte wiederholen Sie das, Mark.« Brennan wiederholte, was Bony erklärt hatte. »Wenn jemand etwas sagen will, muß er es so leise wie möglich tun. Wenn etwas hinunterfällt oder die Verschnürung eines Deckenstiefels sich lockert, müssen wir alle stehenbleiben. Ich habe Ihnen gezeigt, wie man eine Deckenrolle fachmännisch trägt. Und Ihnen, Riddell, habe ich gezeigt, wie Sie den Wasserkanister in die Gurte einhängen müssen, damit die Last nicht zu schwer wird. Also – keine Unterhaltungen. Kein Geräusch in der ersten Nacht. Kein Anzünden von Streichhölzern.« Das Tageslicht war noch nie so langsam geschwunden wie an diesem langen, langen Abend. »Bis ein Uhr morgens dürfte der Mond scheinen«, sagte Bony. Der Himmel war klar und schien ihnen zu winken. Endlich war es soweit. Und Bony sagte: »Wir gehen, Jenks, Sie folgen mir; Doktor nehmen Sie den Hammer und einen Zelthering mit.« Sie schlängelten sich durch das Loch in der Küchenwand, und als sie zu der Engstelle kamen, bekam Jenks die Anweisung, sie zu erweitern. Es war weniger mühsam, als Bony befürchtet hatte. Er wandte sich an Havant. »Nun, Doktor, hier trennen sich unsere Wege. Halten Sie die Festung. Bewegen Sie sich. Zünden Sie die Lampen an wie sonst auch. Falls die Gefängniswärter mit Vorräten oder einem neuen Gefangenen kommen, müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Halten Sie sie hin, wenn möglich. Wenn wir nicht innerhalb von fünf Tagen aufgespürt und zurückgebracht worden sind, können Sie sicher sein, daß Sie bald gerettet werden. Au revoir.«. Havant schüttelte ihm die Hand. Dann Maddoch, dann Brennan. Myra Thomas sagte: »Ich werde Sie aufsuchen, Doktor – privat.« Auch sie drückte Havants die Hand, die er ihr nur zögernd reichte, und Riddell brummte, daß sie zusammen einen trinken müßten. Jenks grinste und nickte. 137
Die kühle, sternklare Nacht empfing einen nach dem anderen, und es war, als kehrten sie von einem fernen Planeten zur Erde zurück. Die Ebene war eigens für sie von unzähligen Düften erfüllt. Bony, der Lucy rasch auf den Arm genommen hatte, damit ihre Spuren sie nicht verrieten, zählte seine Leute. Er ging zurück, und sie stellten sich hintereinander auf, mit dem hochgewachsenen Brennan am Ende der Reihe. Als sie losgingen, näherte sich der Mond dem Zenit, und die Schatten wurden kurz. Lucy wollte laufen, und Bony mußte ihr einen Klaps geben, weil sie so sehr zappelte, daß er nicht sehen konnte, wohin er die Füße setzte. Bonys Kopf und seine Hände waren voll beschäftigt. Die anderen brauchten nicht aufzupassen, wohin sie traten – sie mußten sich nur dicht hinter ihm halten. Eine Welt wie diese hatten sie noch nie erlebt und sie hätten sie sich nicht einmal vorstellen können. Diese Welt hatte keine Grenzen, keine Wahrzeichen, nichts, woran sich das Auge festhalten konnte, nichts als den Mond hoch oben – den fernen, kalten Mond. Anfangs war alles Märchenland, Verzückung, doch bald verlor die Umgebung jeden Reiz durch ihre Starre, denn nichts schien sich zu regen, nicht einmal sie selbst, die einen Fuß hoben und vor den anderen setzten, dann den anderen Fuß hoben … Sie folgten Bony, aber nach einer Weile erschien es ihnen sinnlos, überhaupt weiterzugehen. Bony trug den Hund die ersten zwei Meilen und setzte ihn dann ab. Er vertraute darauf, daß die Aborigines ihre Fährte nicht entdeckten. Es gibt nichts Schlimmeres, als ohne geistige Ablenkung gehen zu müssen, das wußten die Vorfahren, als sie die Tretmühle erfanden. Bevor der Mond unterging, rasteten sie zweimal für fünfzehn Minuten. Danach fiel es noch schwerer, ohne sichtbares Resultat die Muskeln zu betätigen. Sie näherten sich der hohen Wand nicht – sie erhob sich plötzlich vor ihnen und löschte die Hälfte der Sterne aus. Ihre Gehirne wehrten sich dagegen. Nein! Jetzt auf diese Klippe klettern – nein, nein. Bony sagte beschwichtigend: »Sie ist doch nur aus Stroh. Wir müssen am anderen Ende durch, und dort dürfen wir es wagen, Feuer zu machen, Tee zu kochen und ein paar Stunden auszuruhen. Die Morgendämmerung ist nah, und wir sind mindestens neun Meilen gelaufen.« 138
Auf der Nullarbor-Ebene
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ie Strohwand war ungefähr drei Meter hoch und genauso dick. Ob es dieselbe Wand war, die Bony über zwanzig Meilen weiter westlich mit der Schaufel umgemäht hatte, interessierte ihn nicht. Er arbeitete sich hindurch, und die anderen folgten ihm ziemlich mühelos, dann führte er sie mehrere hundert Meter nach rechts und zündete ein gutes Stück von der Wand entfernt ein Feuer an. Im Schein des hellen Feuers überprüfte Bony die Ausrüstung seiner Gefährten und stellte fest, daß nichts fehlte. Dann ließ er sich aus psychologischen Gründen von ihnen dabei helfen, eine Nische ins Stroh zu stampfen, in der sie schlafen würden und die ihnen eine Illusion des Geborgenseins vorgaukeln sollte. Er richtete sich auf vier Stunden Schlaf ein. Lucy band er an seinem Fußknöchel fest. Als er aufwachte, schien die Sonne durch das zerbrechliche Dach des Schlafgemachs und versilberte die Wände. Es sah aus, als befänden sie sich in einem von einer Seidenraupe gesponnenen Kokon. Das Stroh schimmerte und gab leise Töne von sich, die Töne einer sanften Brandung hinter dem Eingang einer silbernen Höhle. Bony wußte, daß Wind aufkam – Gott sei Dank aus Norden, denn bei Südwind hätten die feinen Nasen der Aborigines sie mindestens eine Meile weit gewittert. Als er auf der Asche des vorhergehenden ein neues Feuer entfachte und den Kessel mit Teewasser füllte, sagte ihm die Sonne, daß es neun war. Er hockte sich auf die Fersen und überlegte, wie lange er seine Gefährten schlafen lassen sollte. Sie waren jetzt neun Meilen von den Höhlen und zwölf Meilen von der Wüste entfernt, auf der die Wilden kampierten. Es war zwar unwahrscheinlich, aber dennoch möglich, daß die Aborigines bei Sonnenaufgang die Höhlen aufgesucht hatten und zufällig auf die Spuren der 139
Flüchtlinge gestoßen waren. Dieses Risiko war nicht ganz auszuschließen. Angenommen, die Aborigines verließen die Wüste bei Sonnenaufgang und beabsichtigten, bei Sonnenuntergang zurückzukehren, weil sie sich nachts auf der Ebene nicht aufhalten wollten, dann würden sie sich in einem Radius von etwa zwanzig Meilen bewegen. Und die Flüchtigen waren nur zwölf Meilen von der Wüste entfernt. Es durfte keine Verzögerungen geben. Das Wasser kochte, er warf eine Handvoll Tee in den Kessel und wartete zwanzig Sekunden, ehe er das Getränk vom Feuer nahm. Als er auf die Wand zuging, sah er, daß sie im Wind zitterte und das Geräusch jetzt laut und nah war. Er weckte die Schläfer, sagte ihnen, sie sollten zum Frühstück ans Feuer kommen und alles mitnehmen. Als sie die Nische verließen, blieb einer nach dem anderen stehen und schaute sich um. Bony merkte, daß sich in ihnen der erste Widerstand gegen die Ebene regte. Ihre Augen weiteten sich, und sie schienen nicht glauben zu können, was sie sahen, das verrieten ihre Mienen. Er wußte, daß er ihnen jetzt keine Zeit zum Nachdenken lassen durfte. Mit den Bündeln in den Armen näherten sie sich steif dem Feuer. »Ich habe gedacht, wir könnten den ganzen Tag auf unserem Strohlager kampieren«, beklagte sich Riddell. »Das haben Sie nämlich gesagt. Und jetzt? Fünf Minuten Schlaf, und schon wecken Sie uns.« »Ich könnte ein Jahr lang schlafen.« Myra Thomas gähnte. »Wo kann man sich waschen? Ich hab’s dringend nötig.« »Waschen fällt flach, bis wir Wasser gefunden haben«, sagte Bony. »Ich habe ursprünglich gedacht, daß wir einen Tag lang hierbleiben können, aber jetzt zittert die Wand schon im Wind, und wenn er stärker wird, wird sie sich bewegen. Wir sind noch nicht weit genug gekommen – noch nicht in Sicherheit. Also eßt und trinkt, und dann brechen wir auf.« Sie waren mürrisch, bis Brennan fragte, wie die Wand hierhergekommen war. Die Erklärung war eine gute Gelegenheit, sie abzulenken. »Sie sieht wirklich so aus, als ob mit ihr gleich was passieren würde«, meinte Jenks. Er stand mit einem Becher Tee in der einen und einem Fleischsandwich in der anderen Hand da und sah sich um. »Mann! Das ist also die große NullarborEbene. Ich schenk’ sie euch. Und wenn ich 140
jetzt draußen auf See wäre, würde ich sagen, es kommt ein höllischer Wind auf.« »Ja, wir packen ein und brechen auf, bevor die Wand uns überrollt. Wir müssen einen sicheren Ort finden, an dem wir kampieren können.« Bony schnürte sein Bündel und das von Myra, das sie selbst tragen mußte. Er war gezwungen, auch den anderen zu helfen, da sie noch nicht so geübt waren wie er. »Ich trage Ihr Bündel, Joe«, sagte er zu Riddell. »Sie haben mit dem Wasser genug zu schleppen. Und heute kann Lucy selber laufen.« »Okay. Jedes bißchen hilft, wie der Affe sagte, als er …« »Halten Sie mir bitte einen Moment den Spiegel«, bat Myra, und D. I. Bonaparte, M. d. V. E. M., hielt ihr den kleinen Spiegel, während sie sich kämmte und sich mit einem Lappen, den sie mit der Zunge angefeuchtet hatte, übers Gesicht fuhr. »Wie ich aussehe! Ich brauchte ein bißchen rote Okkerfarbe oder irgendwas, was die Schwarzen benützen.« »Wer weiß, was wir noch finden werden, Myra. Im Augenblick sehen Sie für mich gut und attraktiv aus. Stellen Sie sich, während wir gehen, im Kopf eine Liste mit all den Dingen zusammen, die Sie später in den Läden kaufen wollen.« »O ja«, knurrte Riddell. »Und ich denke an die Biere, die ich trinken möchte.« »Und womit wollen wir das alles bezahlen?« fragte Brennan, und Maddoch entgegnete fröhlich, er habe genug Geld auf der Bank, um sie alle für ein Jahr betrunken zu machen. Sie waren schon viel zuversichtlicher, als Bony seine Instruktionen erteilte. »Wir gehen einzeln und hintereinander, wie gestern. Und zwar eine Stunde lang. Dabei richten wir uns nach der Sonne und machen dann eine Stunde Pause. Sie halten sich hinter mir, Myra, und Sie, Mark, bilden den Schluß. Sie können sich jetzt unterhalten, soviel Sie wollen. Sie dürfen auch singen. Singen würde sogar helfen. Und schauen Sie nicht allzuoft auf die Ebene. Sie ist heute abend ganz bestimmt noch da.« Sie setzten sich in Bewegung. Bony brauchte jetzt nicht mehr zu befürchten, daß sie in ein Loch fallen oder über einen klippenartigen Rand in ein zweites Bumblefoot Hole abrutschen könnten. Lucy zerrte an der Leine, und Bony ließ sie los. Sie lief, endlich glücklich, voraus. 141
Sie glichen einer kleinen Raupe, die über einen Flugplatz kriecht, und bald hatte der Wind sie eingeholt, zerrte an Myras Haaren, zerzauste die Köpfe der Männer. Nach einiger Zeit rief Maddoch: »Schaut euch das Stroh an!« Sie blieben stehen und beobachteten verblüfft, was passierte. Sie konnten weder das östliche noch das westliche Ende des Bandes ausmachen, das sich wie eine blaßgelbe Schlange wand. Stellenweise wölbte sie sich ihnen entgegen, überschlug sich manchmal, riß aber an keiner Stelle. Bony wußte, daß sie einen Mann überrollen konnte, ohne ihn zu verletzen, aber sie sah so schwer aus wie geschmolzenes Metall. Brennan, der als letzter zu befürchten schien, daß er das erste Opfer sein könnte, sagte gepreßt: »Gehen wir weiter? Worauf warten wir hier?« Die Wand erwies sich als Schrittmacher, und Bony schätzte, daß sie in dieser ersten Stunde fast drei Meilen zurückgelegt hatten. Die Wand schien ihnen mit derselben Geschwindigkeit zu folgen. Jetzt war sie vom Wind und der Bewegung zerzupft, wurde immer kleiner und zog gewissermaßen einen weichen Strohteppich hinter sich her. Da niemand etwas von einer Rast sagte, ging Bony noch eine Stunde weiter, so daß sie zweieinhalb Meilen mehr zurücklegten, als er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Es war kein angenehmer Tag, und Bony war sich sicher, daß die Abos ihr Camp nur ungern verlassen würden. Auf dem nächsten Abschnitt mußten sie sich leicht gegen den Wind stemmen. Die Wand folgte ihnen jetzt ein wenig langsamer, bis sie auseinanderbrach. Die Enden rasten weiter, bogen sich nach innen, andere Teile zerrissen, und bald sprengten kurze Stücke über die Ebene – ein paar schneller als die anderen. Ein Ballen überholte die Wanderer, verstreute Stroh hinter sich, wurde schnell kleiner und zerriß schließlich in kleine Büschel, die sich nach kurzer Zeit zu großen Haufen formten. Aber auch sie wurden schnell wieder kleiner, bis sie zwischen den Salzmelden verschwanden. So erlebten sie die Zerstörung einer jener mächtigen Strohwände, doch nachdem diese eingebildete Gefahr nicht mehr existierte, gab es auch nichts mehr, was die Aufmerksamkeit der Wanderer von ihren schmerzenden Muskeln ablenken konnte. 142
Bony entdeckte einen etwa hundert Meter langen Blaubuschgürtel, einen kleinen Wald aus etwa einen Meter hohen Bäumchen, der das Meer von Salzmelden überragte. Hier fanden sie Schutz vor dem Wind; aber die aufgestaute Sonnenhitze und unzählige kleine Fliegen peinigten sie. Dankbar ließen sie sich nieder, und nur Maddoch begleitete Bony, der trockenen Busch suchte, damit sie Feuer machen und Tee kochen konnten. Jenks verfluchte die Fliegen, und Riddell erklärte, daß er heute keinen Schritt weiter gehen würde, ganz egal, ob die Fliegen ihn fraßen oder nicht. Bony lächelte Maddoch zu, und Maddoch versuchte das Lächeln zu erwidern. Es gelang ihm jedoch nicht. »Drehen Sie Myra eine Zigarette«, bat Bony ihn, hockte sich ans Feuer und fabrizierte sich selbst eine. Sie mußten acht Meilen weit gegangen sein. Acht plus neun ergaben siebzehn. Die Strohknäuel verdeckten oder verwischten die Spuren, die sie nicht hatten vermeiden können. Sie waren von ihrem Gefängnis noch immer nicht weit genug entfernt, um vor den Wärtern sicher zu sein. Er hoffte, daß die Unbequemlichkeiten dieses Mittagslagers zu seinen Verbündeten würden. Nach dem Essen legte er sich zurück, entspannte sich und wartete darauf, daß die Verbündeten das ihre taten, und das Feuer erlosch, das mit seinem Rauch die Fliegen ferngehalten hatte. Er lag mit geschlossenen Augen da, stellte sich die Ebene auf Landkartengröße verkleinert vor und steckte im Geist Stecknadeln hinein, um Patsy Lonergans Camps und die weit östlich gelegenen Höhlen zu markieren. Er war mit der Absicht aufgebrochen, dem Schenkel eines Dreiecks zu folgen, und hoffte zuversichtlich, daß dies der richtige Weg war, um Bumblefoot Hole zu erreichen, wo es Wasser, Vorräte und ausreichend Schutz gab. Bumblefoot Hole zu finden wäre unmöglich gewesen, hätte es den »Felsen« nicht gegeben, diesen höchsten Punkt einer Erhebung jenseits des Horizonts, nach dem sich Bony bald orientieren konnte. Er hoffte, daß das, was er sah, mit dem Bild übereinstimmte, das er im Gedächtnis hatte. Die Ebene bekam durch den ersten dieser Sommerstürme ein neues Gesicht. Der Wind fegte aus der riesigen Wüste heran und überzog alles mit hellbraunem Staub, der den Horizont noch mehr einengte, die Son143
ne hellrot, den hellen Salzbusch purpurn färbte und auf den Blaubusch königsblaue Schatten legte. Der Himmel war so weiß wie der Bauch eines Hais. Und der Wind war leise, außer wenn er an den Ohren vorbeizischte – ein Geräusch, das aus dem eigenen Kopf zu kommen schien. Riddell schrie, und als Bony die Augen öffnete, sah er daß der große Kerl wie ein Verrückter mit den Armen um sich schlug und gegen die Fliegen kämpfte. Aus seinem Mund strömten die gräßlichsten Flüche einer ganzen Nation. Er war halb wahnsinnig und völlig verzweifelt. Brennan sagte etwas, und im nächsten Moment begannen sie aufeinander einzuschlagen. Myra sah Bony an und zuckte mit den Schultern. Maddoch kroch zu Bony. Tränen rannen ihm über das staubige Gesicht und hinterließen hellrote Spuren. Fliegen klebten an seinen Mundwinkeln und krochen ihm in die Nase und in die Augenwinkel. »Wir müssen zurück«, sagte er weinend. »Die Höhlen sind besser als dies.« »Sie gehen vorwärts, nicht zurück, Clifford«, sagte Bony streng. »Es gibt kein Zurück.« »Aber das … Ich hatte ja keine Ahnung, Inspector.« Inspector! das gehörte gewiß in eine frühere Inkarnation. Bony wollte Maddoch korrigieren und ihm sagen, daß er für seine Freunde »Bony« hieße, dann fiel ihm ein, daß zur Befehlsgewalt Respekt, ja sogar Furcht gehörten. »Warum prügeln sich die zwei Irren?« fragte er kalt. Maddoch drehte sich um und beobachtete, wie sich der untersetzte Jenks zwischen die beiden Streithähne warf und sie trennte. »Wir brechen jetzt wohl am besten wieder auf!« rief Bony. »Wir lassen uns Zeit und sehen uns nach einer Höhle oder einem Loch um, in dem wir über Nacht kampieren können. Was meinen Sie?« Er riskierte die freundliche Frage, weil er mit positiven Antworten rechnete. Fast eifrig erklärten sich alle einverstanden. Bony gab sein Bündel Riddell und übernahm von ihm den halbvollen Wasserkanister. Die demoralisierende Ebene schlug sie sofort wieder in ihren Bann. Als sie den Blaubuschgürtel verließen, glichen sie Seeleuten, die aus einem sicheren Hafen ausliefen, aber sie hatten keine Schiffsplanken unter den Füßen, und es gab keine Stahlwände, die sie schützten. Und bald wußten sie nicht mehr, was hinter ihnen war und wohin sie segelten. 144
Um sie herum war nur die alptraumhafte Gleichförmigkeit der Ebene mit einem wolkenlosen Himmel darüber. Man kann auf einem Kamel oder auf einem Pferd reiten oder in einem Jeep sitzen, die Nullarbor aus seinen Gedanken verbannen und wunderbare Erleichterung in einem Kinofilm finden, der vor dem geistigen Auge abläuft. Zu Fuß jedoch, muß man mit weit offenen Augen und für die Realität geschärften Sinnen gehen. Und als die Sonne sagte: »Ich habe euch jetzt lange genug gesehen«, und sich interessanteren Insekten zuwandte, hatten sie noch keine Höhle und keinen Blaubusch gefunden, unter dem sie sich verkriechen konnten. Der Himmel geriet in Flammen, und der hochauffliegende Staub verhängte den Weltraum mit riesigen scharlachroten Draperien und schloß ihn aus, als hätte das Böse selbst sie geschaffen. Die Farben in den Falten wurden zu dem dunklen Magentarot und dann zu Schwarz, und endlich kam die Nacht. Ein winziger Funke glühte in der Dunkelheit, von einem Mann gehütet, der die Enden brennender Stöcke zusammenschob. Um ihn herum lagen, in Decken gewickelt, unruhige Schläfer. Er war zwar nicht satt, aber zufrieden, daß er diese Schläfer an diesem Tag so viele Meilen weit geführt hatte.
Ein glücklicher Mann
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ie Sonne ging auf und musterte sie mißtrauisch. Irgendwo in der Mitte der Nullarbor lagen sechs schmale Schatten, und ein siebter war ungefähr eine Meile entfernt. Den siebten Schatten warf Lucy. Es wehte kein Wind. Der Himmel war wolkenlos, die Luft kühl, und es gab keine Fliegen. Es war einer jener Tage, an denen man sich fragte, was, zum Kuckuck, man an dem Ort tat, an dem der Morgen einen fand. Man wacht auf, steht auf, und hier ist man. Man fragt sich, woher man gekommen ist und wohin man geht. Das Entscheidende ist jedoch, 145
daß man, wenn man überhaupt irgendwohin geht, es auf seinen wunden Füßen tun muß. Bony inspizierte keine Detectives, sondern eine schmutzige und niedergeschlagene Truppe. Er mußte Maddochs Deckenbündel fester schnüren, Myras Deckenschuhe frisch binden und sich dann den halbvollen Wasserkanister so in die Rückengurte hängen, daß er fest saß. Die Truppe wollte noch ein paar Stunden bleiben. Maddoch drängte zur Rückkehr in die Höhlen. »Unser nächstes Ziel ist eine große Mulde namens Bumblefoot Hole«, lockte Bony. »Dort gibt es eine Menge Wasser und Vorräte, die ich auf dem Weg nach Norden zurückgelassen habe. Don können wir eine ganze Woche bleiben, wenn wir wollen. Jetzt müssen wir weiter, weil unser Wasservorrat zur Neige geht. Also los.« Myra ging wieder hinter ihm, und Brennan war der Schlußmann. Nach einer Weile begann Bony zu kommandieren: »Links, rechts, links, rechts, links – links – links.« Das half ihnen, und als Myra Tipperary anstimmte, und alle anderen mitsangen, half das noch mehr. Am Ende der ersten Stunde waren sie guter Stimmung. Beim nächsten Halt rasteten sie nur kurz. Und auf dem Platz, den sie am Ende der dritten Stunde erreichten, erwartete sie Gesellschaft – eine Kolonie von Wüstenspringmäusen. Hier machten sie Feuer und kochten Tee. Bony tat sein Bestes, seine Begleiter für die Gewohnheiten dieser Nager mit dem wissenschaftlichen Namen Leporillus zu interessieren. Die Behausungen der Mäuse unterschieden sich in Größe und Form, waren aber sehr fachmännisch aus geflochtenem Busch gebaut, und alle hatten zwei Dächer, die zum Schutz gegen den Wind mit Steinen beschwert waren. Jenks schlug mit dem Fuß gegen einen Bau, und Brennan nahm die Steine vom Dach des anderen weg. Ein Nager von der Größe einer gewöhnlichen Ratte schoß mit weiten Sprüngen heraus und sah mit den Vorder- und langen Hinterbeinen wie ein echtes Beuteltier aus. Bony ließ sie zwei Stunden ausruhen. Maddoch und Myra lagen auf dem Bauch, das Gesicht in die Arme gepreßt, um die Fliegen abzukehren, die hier jedoch nicht wirklich bösartig waren. Glücklich war nur Lucy. Sie schnupperte an den Bauten der Springmäuse und Brennan lachte laut, als eine Springmaus aus einer Hintertür schoß und zugleich 146
ein Kaninchen durch die Vordertür flitzte und Lucy sich nicht entscheiden konnte, welches Tier sie jagen sollte. Jenks war rastloser. Er stand lange da und starrte auf die Ebene. Seine Augen und Lippen waren zuammengekniffen, und er schien über etwas, was ihm nicht in den Kopf wollte, nachzudenken. »Wie weit sind wir heute gekommen?« fragte Riddell. »Nur sieben verdammte Meilen! Und der halbe Tag ist schon vorbei. Schaffen wir nicht mehr als vierzehn Meilen am Tag?« »Wir können mehr schaffen, wenn wir abgehärtet sind, Joe«, antwortete Bony. »Woher wollen Sie wissen, daß es sieben Meilen waren?« erkundigte sich Riddell. »Der Sonne nach zu schließen, sind wir drei Stunden gegangen. Ein normaler Mann, den nichts behindert, legt zu Fuß in der Stunde ungefähr zweieinhalb Meilen zurück. Da wir alle schwer zu tragen haben und müde sind, schätze ich unser Tempo auf etwas unter zweieinhalb Meilen pro Stunde.« »Wie weit sind wir dann von den Höhlen entfernt?« »Rund vierzig Meilen.« »Und wie weit ist es noch zu dieser Mulde – von der Sie uns erzählt haben?« »Das kann ich auch nicht annähernd genau sagen, Joe. Ich hoffe, etwas weniger als fünfzig Meilen.« »Also«, sagte Riddell, »sollten wir uns darauf einstellen.« »Das haben wir doch längst getan. Wir schaffen es, Joe. Wir schaffen auch die restlichen zweihundert Meilen hinter Bumblefoot Hole. Haben Sie daran gezweifelt?« »Nun …« »Wir schaffen es«, beteuerte Bony, und als Riddell das Aufblitzen in den blauen Augen sah, wandte er sich ab. »Glauben Sie, daß wir die Abos bluffen konnten?« fragte Brennan und setzte sich neben Bony. »Genau weiß ich das erst – nun ja, sagen wir – morgen abend. Es ist leicht möglich, daß Sie unsere Flucht nie entdecken. Sie haben uns erst vor ein paar Tagen besucht, und möglicherweise nehmen sie an, daß alles in Ordnung ist, und lassen sich ein paar Wochen nicht blicken. 147
Glauben Sie, Sie könnten heute nachmittag eine Zeitlang Myras Bündel tragen?« »Aber klar doch«, sagte Brennan schleppend. »Was tut man nicht alles, um einer Dame zu helfen? Gehen wir weiter.« Links – rechts – links. Weit und breit war nichts zu sehen. Sie setzten einen Fuß vor den anderen – immer wieder und immer wieder – und hefteten ihre Blicke auf die Fersen des Vordermannes. Singen! Zum Teufel mit Singen. Reden! Wozu? Tagträume von Großstadtlichtern, von einem Biersee, in dem man badete, von unzähligen Frauen. Lichter, Bier und Frauen! Man wäre besser beim alten Doc geblieben, wo es Wasser gab und keine Fliegen, wo man nicht denken mußte und dem Doc zuhören konnte, wenn er Geschichten erzählte. Wie idiotisch, diese Strapaze auf sich zu nehmen! Es war vier Uhr, als Bony einen Schatten entdeckte, wo keiner sein sollte, eine schwarze Linie ungefähr fünfhundert Meter weiter rechts. Er ging darauf zu, hoffte – und die Hoffnung wurde zu Gewißheit, als der Schatten breiter wurde und Bony sah, daß es sich um ein MiniaturBumblefoot Hole handelte. Lucy lief weiter und verschwand, und wenig später standen sie am Rand einer schräg abfallenden Böschung, die in einem felsigen Boden endete, der zur anderen Seite hin allmählich zum Fuß einer Klippe anstieg. Man sah die Schatten kleiner Nischen, und alter knorriger Salzbusch versprach endlich einmal richtiges Feuerholz. Hoffentlich gab es auch Wasser. »Das sieht ja gut aus!« rief Brennan. »Ein Loch ist besser als die ganze Ebene.« Bony stimmte ihm zu und drehte sich erleichtert um. Plötzlich runzelte er die Brauen, und sein Blick schweifte über die Ebene. »Wo ist Maddoch?« fragte er scharf. Sie sahen sich gegenseitig an und dann auf den Salzbusch in der kleinen Mulde. »Als ich mich vor einer halben Stunde umsah, war Maddoch noch vor Ihnen, Jenks. Was ist aus ihm geworden?« Der Seemann riß trotz der Fliegen die Augen auf und sah Bony an, als hätte er die lächerlichste Frage der Welt gestellt. Er schaute sich überall um. 148
»Cliff!« rief er. »Er war eben noch da, direkt vor mir! Wo ist er hin? Ich weiß es nicht. Er muß schon dort unten sein. Er ist bestimmt vorausgelaufen, ohne daß wir’s gemerkt haben.« »Hast du ihm mit einem Stein den Schädel eingeschlagen?« erkundigte sich Brennan. Bony stellte sich die Szene vor, die er gesehen hatte, als er das letzte Mal zurückblickte. Sie waren nicht genau in einer Reihe gegangen, aber Maddoch war bestimmt noch dagewesen. Alle waren mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf dahingetrottet. Es war wahrscheinlich, fast sicher, daß Jenks und Brennan im Geist überall gewesen waren, nur nicht auf der Nullarbor-Ebene, und daher leicht übersehen haben konnten, daß Maddoch zurückgeblieben war. »Er ist zu den Höhlen zurück«, sagte Myra. »Er wollte es schon die ganze Zeit, der Idiot.« »Wir müßten ihn doch sehen!« schrie Jenks, blickte nach Osten, und Brennan, der nach Westen schaute, pflichtete ihm bei. Riddell hatte verstanden, was Jenks meinte, und richtete den Blick nach Norden. Bony war sicher, daß er einen Gegenstand von Maddochs Größe noch aus einer Entfernung von drei Meilen sehen konnte. Vor einer halben Stunde, als er zum letztenmal zurückgeschaut hatte und Maddoch noch dagewesen war, mochten sie etwa eine Meile von hier entfernt gewesen sein. Wenn sich Maddoch unbemerkt verdrückt hatte und in die Höhlen zurück wollte, hätte er sich nach Norden gewandt. Aber er würde diese Richtung nicht lange beibehalten. Schon nach ein paar Minuten müßte er nach links oder rechts abweichen, was davon abhing, welches seiner Beine das längere war. Da es keine natürlichen Markierungen gab, nach denen er sich richten konnte, würde er im Kreis laufen; das Problem war nur, wie weit er gehen konnte, bevor er haltmachte, und hinterher würde er den Weg in einem anderen Kreis fortsetzen. Daß Bony einen Mann drei Meilen weit deutlich sehen konnte, hatte in dieser tückischen Ebene nicht viel zu bedeuten, in der die Entfernungen täuschen und eine genaue Berechnung nicht möglich ist. »Sie schlagen hier ein Lager auf, und ich suche ihn.« Bony führte seine Schar in die Mulde. Sie halfen ihm beim Feuermachen, und dann stellte Bony fest, daß Lucys Schnauze naß war. Also mußte es hier Wasser geben. Er entdeckte ein Felsenloch, das zur Hälfte mit von grünem 149
Schleim bedeckten Wasser gefüllt war. »Sie können dieses Wasser sparsam zum Waschen benutzen«, sagte er. »Aber ungekocht dürfen Sie es auf keinen Fall trinken. Brennan, Sie haben während meiner Abwesenheit die Verantwortung für den Trinkwasserkanister. Sehen Sie diesen Busch da drüben?« »Ja.« »Wenn ich bis Sonnenaufgang nicht zurück bin, machen Sie Feuer darunter. Es muß stark rauchen. Haben Sie verstanden?« »Ja, aber – Sie können uns doch nicht hier allein lassen. Was sollen wir tun, wenn Sie nicht zurückfinden?« »Ja, was machen wir dann, Inspector?« fragte auch Jenks. »Wenn Maddoch sich selbständig machen will, lassen Sie ihn laufen. Er kriegt nur das, was er verdient.« »Das stimmt«, fauchte Riddell. »Und ob das stimmt, verdammt! Soll er doch verrotten!« Bony sah sie der Reihe nach so lange an, bis sie die Augen niederschlagen mußten. »Ich kann Maddoch nicht zurücklassen. Noch weiß ich nicht, wer Mitski ermordet hat, und ich nehme Mitskis Mörder mit, bis wir unser Ziel erreicht haben.« Es heißt, ein Mann bemühe sich sein Leben lang, in den schützenden Mutterleib zurückzukehren, und es war dieser Impuls, der den kleinen Maddoch, der Frieden und Sicherheit liebte, dazu trieb, die Mutter zu suchen, die er als kleines Kind verloren hatte. Er heiratete – nicht die Trösterin und nicht die behütende Mutter, sondern eine Xanthippe –, und der Ausgang der Tragödie war unvermeidbar. Für Maddoch hatte zuerst das staatliche Gefängnis und dann die Verbannung in die Höhlen Schutz und Geborgenheit vor der gnadenlosen Welt bedeutet, die er fürchtete. Obwohl er es nicht einmal vor sich selbst zugegeben hätte, war die Zeit im Gefängnis die glücklichste seines Lebens gewesen und die in den Höhlen der Nullarbor verbrachte eine Entschädigung für unnötige Härten. Seine Sehnsucht nach dem Schutz der Höhlen erreichte ihren Höhepunkt, als er die winzigen Behausungen der Wüstenspringmäuse gesehen hatte. Inspector Bonaparte lehnte es ab, umzukehren, also mußte er sich unbemerkt davonmachen und die warme Behaglichkeit und Sicher150
heit der Höhlen suchen, in denen es keine Fliegen, keine unbarmherzig brennende Sonne, kein peinigendes Links, Rechts, Links, Rechts gab. Ganz unauffällig verließ er die Reihe, blieb langsam zurück. Die beiden letzten gingen an ihm vorbei, ohne den Kopf zu heben. Einen Augenblick hielt er inne und sah ihnen nach. Dann fiel ihm ein, daß ihr Anführer sich jeden Moment umdrehen konnte, und dann stand er da wie ein Idiot. Sofort ließ er sich der Länge nach in den Salzbusch fallen und lag still. Dann lief er los. Nach einer Weile wurde er langsamer und warf einen Blick zurück. Der Trupp war verschwunden. Er war frei und konnte dahin zurückkehren, wo Dr. Havant wartete. Der Doktor würde sich freuen, ihn zu sehen, und glücklich sein, wenn er hörte, daß Clifford Maddoch zurückgekommen war, um ihm Gesellschaft zu leisten. Nach einer Weile merkte er, daß die Sonne verschwunden war. Hm! Er mußte gut vorangekommen sein. Jetzt war es bestimmt nicht mehr weit. Er stolperte und fiel auf den Bauch, rappelte sich auf und sah sich mit müßiger Neugier nach dem um, was seinen Fuß festgehalten hatte. Aber das war eigentlich nicht so wichtig. Er mußte Dr. Havant finden. Der Abend rückte den Horizont näher heran, und es war so still, daß er es hörte, wenn er mit dem Fuß einen Busch streifte, so leise das Geräusch auch sein mochte. Dann stand plötzlich der Mond am Himmel, und er wußte, daß er ganz nahe bei den Höhlen sein mußte, denn als er herausgekrochen war, hatte der Mond auch geschienen. Diesem Gedanken folgte ein Schrei, kam näher, schien ihn einzuhüllen. Er erkannte den Ruf der australischen Kraniche nicht. Er warf sich zu Boden und fühlte den kühlen Salzbusch unter seinem Gesicht. Dann rannte er; er wußte, daß er der Höhle immer näher kam, in der er Dr. Havant finden würde. Das kleine Loch! Maddoch quietschte vor Vergnügen. In dieses kleine Loch würde seine Frau nie kriechen können. Sie war zu dick, das kreischende Miststück. Der Mond schien sehr hell. Maddoch schaute lange zu ihm auf, doch der Mond blieb nicht stehen, so daß er den Kopf wenden mußte, was ziemlich schmerzhaft war. Zum Kuckuck mit dem Mond! Er schloß die Augen, und dann war der Mond fort, und es war heller Tag. Maddoch schaute an seinem Arm entlang. Er sah seine Hand, die mit dem Hand151
teller nach oben auf dem Boden lag. Und neben der Hand stand ein Känguruh und wusch sich das Gesicht mit der Pfote – wie eine Katze. Ein Känguruh. Vielleicht wußte Dr. Havant, wie man es tötete, und sie konnten den Schwanz essen. Känguruhsuppe war eine Delikatesse. Einmal hatte er sie zum Dinner vorgesetzt bekommen. Das Känguruh nahm keine Notiz von ihm, es sah ihn gar nicht. Wie seltsam! Es kam und schnupperte an seinen Fingerspitzen. Also wirklich! Wie ungewöhnlich! Dann setzte sich das Känguruh tatsächlich auf seine Hand. Es war perfekt, von der Nase bis zum Schwanz. Sein Fell war rehbraun, und auf dem warmen, weichen Bauch hatte es einen dünnen weißen Streifen. Mit einer für ihn ungewöhnlichen Gewalttätigkeit schloß er die Hand und nahm das Känguruh gefangen. Ohne die Hand zu öffnen, richtete er sich mühevoll auf, betrachtete den Schwanz seines Gefangenen und lachte fröhlich, weil er dem einsamen Dr. Havant ein so großartiges Geschenk mitbringen konnte. Er versuchte aufzustehen, es gelang ihm nicht, er versuchte es noch einmal, ohne das Känguruh aus seiner Hand entkommen zu lassen. Ein Fuß tauchte vor ihm auf, und er hob den Kopf und erwartete, seine Frau zu sehen. Er öffnete den Mund, um zu schreien. Die Frau verwandelte sich in Inspector Bonaparte, der sagte: »Ein riesiger Zirkel hätte keinen vollkommeneren Kreis ziehen können als Ihre Füße. Ich konnte Ihnen mühelos folgen. Los, los, Clifford. Stehen Sie auf. Wir gehen zurück ins Camp, wo es Kaffee und etwas zu essen gibt.« Ein Arm zog Clifford in die Höhe. Seine brennenden Füße schleppten sich kaum weiter. »Wo waren Sie, als Mitski ermordet wurde, Clifford?« fragte die eindringliche Stimme, und erst nach mehreren vergeblichen Versuchen war er imstande zu sagen: »Bin vom Juwelierladen raufgekommen, Inspector. Hab’ ihn in der Nähe des Felsblocks gesehen.« »Haben Sie ihn getötet?« »Nein. War gar nicht möglich. Ich war nicht …« »Nein, natürlich nicht, Clifford. Und jetzt heben Sie die Füße, und helfen Sie ein bißchen. Wir müssen nicht weit laufen. Ich helfe Ihnen und Sie mir, und unsere Herzen jauchzen für und für. Du liebe Güte, ich wußte gar nicht, daß ich ein Dichter bin, was sagen Sie dazu?« »Ich – ich möchte in die Höhle und zum Doktor zurück.« 152
»Nicht jetzt, Clifford. Wir sind auf der Nullarbor. In Australien, dem echten Australien, das nur die Aborigines, die alten Siedler, die Viehhüter und Wanderer wie wir kennen. Für die Leute in Autos, die die Straßen befahren, für Politiker, die nur im kühlen Winter ins Landesinnere kommen, verkleidet sich Australien und setzt eine Maske auf. Sie und ich sehen Australien ohne Verkleidung – wie es wirklich ist. Sie haben sehr viel Grund zur Freude. Los, heben Sie die Füße. So ist es besser. Sie werden Australien genauso liebenlernen wie ich. Sie müssen sich auf den Bauch legen, das Gesicht in den Sand und an die heißen Felsen drücken, das Land riechen und durch Ihren leeren Bauch fühlen, wie nahe es Ihnen ist. Sie müssen es preisen mit einer Stimme, die heiser klingt, weil Sie keinen Speichel mehr haben. Und dann, Clifford, wird es Ihnen ergehen wie vielen Männern – Australien wird zur großen Liebe Ihres Lebens werden.« Was sagte der Inspector da? Was? »Was haben Sie in der Hand, Clifford? Lassen Sie sehen!« Eine Atempause, dem Himmel sei Dank. Und Maddoch öffnete die Hand. »Schauen Sie doch, Clifford, schon halten Sie das echte Australien in der Hand. Wissen Sie nicht, daß Wissenschaftler, Schriftsteller und Fotografen mit Laster und Wohnwagen in ganz Australien umherfahren und nie eine Känguruhmaus zu sehen bekommen, geschweige denn in der Hand halten können? Sie sind ein wahrhaft glücklicher Mensch.«
Wieder greift die Ebene an
S
ie gingen nebeneinander, um Verzögerungen, wie die von Maddoch verursachte, zu vermeiden. Am Anfang der langen Wanderung war es nötig gewesen, dem Anführer zu folgen, um die Gefahr von Verletzungen so gering wie möglich zu halten, und der Anführer hatte auch das Tempo vorgeben müssen, um eventuellen Verfolgern zu entgehen. Jetzt mußten sie sich beeilen, weil Proviant und Wasser knapp wurden. 153
Maddochs Zustand war Anlaß genug gewesen, sich einen Tag länger in der Mulde aufzuhalten, in der Lucy zum Glück Wasser gefunden hatte. Nach diesem Ruhetag hatte sich Maddoch so weit erholt, daß sie aufbrechen konnten. Die neue Ordnung, in der sie marschierten, zwang zwar zu einer langsameren Gangart, war jedoch sehr wichtig für die Aufrechterhaltung der Moral. Bony überredete seine Gefährtin zu singen, und als sie keine Lust mehr hatten, forderte er Brennan auf, den Feldwebel zu spielen und sie im Takt marschieren zu lassen. Das gefiel Brennan. Riddell nörgelte ununterbrochen. Jenks hüpfte hin und wieder über einen Busch, anstatt gleichmäßig zu gehen, und seine Gewandtheit veranlaßte Bony zu der Frage, ob er früher Steptänzer gewesen sei. »Nein, nein«, antwortete Jenks. »Mein Alter hat sich immer eingebildet, daß ich als Boxer gut genug wäre, um für seinen Whisky zu sorgen. Er hat die Stunden im Boxstudio bezahlt und sich zu Tode gesoffen, bevor ich’s geschafft hatte. Trotzdem hab’ ich gelernt, mich gegen die Liverpool Iren durchzusetzen, und sie sind die Jungs, die den Schritten eines Mannes Schwung geben. Was meinst du, Joe!« »Du bist gar nicht so schlecht, Ted. Zur Hölle mit diesen Fliegen!« Am Nachmittag des nächsten Tages wurde Bony durch den Anblick eines fahlblauen Buckels weit im Westen von seinen Ängsten befreit. Jetzt wußte er, daß die Richtung stimmte, die er eingeschlagen hatte. Bei Sonnenuntergang, als sie gezwungen waren, ungeschützt auf der offenen Ebene zu kampieren, verschwand der Buckel hinter dem grellen Glanz, doch nachdem die Sonne verschwunden war, hob er sich deutlich vom Horizont ab und glich aufs Haar dem Bild, das Bony im Gedächtnis hatte. Am nächsten Morgen änderte er die Richtung und steuerte direkt nach Süden und auf Bumblefoot Hole zu. Wind kam auf, aber nicht so heftig wie der Sturm, der die Strohwand zerfetzt hatte. Er blies einzelne kleine Wolken vor sich her, die ihre schnell vorübergleitenden Schatten auf den versilberten Boden der Ebene warfen und den Eindruck verstärkten, daß diese konturlose Welt keinerlei Sicherheit bot. »Wir müßten Bumblefoot Hole heute noch erreichen«, sagte er zu seinen Begleitern. »Und dann sind wir schon halb zu Hause. Dort können wir zwei Tage kampieren, uns ausruhen, unsere Fußbekleidung repa154
rieren, baden und ein paar Sachen waschen. Wir bereiten uns auf die zweite Etappe unserer Wanderung vor.« »Das klingt herrlich«, sagte Myra, die neben ihm ging. Obwohl er ihr Bündel trug und ihre Deckenschuhe in Ordnung gehalten hatte, war sie entsetzlich müde, wurde aber unaufhörlich angespornt von der verlokkenden Karotte des Ruhms, die vor ihrer Nase baumelte. »Wir könnten Bumblefoot Hole auch verpassen«, warnte Bony. »Obwohl es viel größer ist als die andere Mulde, in der wir kampiert haben, könnten wir daran vorbeilaufen, besonders an einem Tag wie heute, an dem die Wolkenschatten so schnell fliegen. Also haltet die Augen offen, alle!« »Wann ungefähr müßten wir dort sein?« fragte Myra. Jenks warf spöttisch ein: »Verdammt! Gib dem Inspector eine Chance. Richten Sie sich vielleicht nach diesem merkwürdigen Felsen am Horizont, Inspector?« Bony antwortete, das sei tatsächlich der Fall. »Myra, wie, zum Teufel, soll der Inspektor sagen können, wann er in den Hafen einläuft, wenn er keinen Lotsen hat? Hör zu, falls wir tatsächlich auf Bumblefoot Hole stoßen, ist es ein absolutes Wunder.« Brennan schlug nüchtern vor, daß sie vielleicht versuchen sollten, den Felsen zu erreichen. »Das ist schlechtes Land, Mark«, erklärte Bony. »Niedriges Strüpp, Sand, Salzpfannen, Wüste ohne Wasser, zweitausend Meilen weit nichts und dann der Indische Ozean.« Während der Vormittagsrast bestand Brennan mit bebender Stimme von neuem darauf, zu dem höher gelegenen Land vorzustoßen und die Ebene zu verlassen. Als Maddoch energisch wiederholte, was Bony gesagt hatte, schlug Brennan ihn nieder. Riddell ergriff Maddochs Partei, und Jenks sprang auf. »Recht so«, sagte Myra gereizt. »Zerfleischt euch nur gegenseitig, ihr bärtigen Paviane und ungewaschenen Helden. Immer zu ’ner Schlägerei aufgelegt, aber jammern und wehklagen, wenn man ein Stückchen zu Fuß gehen soll. Haltet den Mund! Mir wird übel.« »Dir wäre es mit Dr. Havant in der Höhle um diese Zeit noch viel übler!« schrie Jenks, dessen Ban sich nicht wie es sich gehörte, ans Gesicht schmiegte, sondern abstand wie die Stacheln eines zornigen Igels. Bony war dankbar, daß es in Australien keine Paviane gab. Er sagte, als 155
müsse er ein paar rebellische Kinder zur Ordnung rufen: »Wir wollen unsere Energie darauf beschränken, einen Fuß zu heben und dann den zweiten und diese Bewegung regelmäßig zu wiederholen.« Eine Ewigkeit später meldete die Sonne ein Uhr, und als eine drohende Wolke am Himmel erschien, rasteten sie eine Stunde, um zu essen. Sie hatten Schmerzen, ihre Nerven waren zerfranst, und im Lauf des Nachmittags verlor sogar die Aussicht ihren Reiz, in Bumblefoot Hole all die versprochenen Annehmlichkeiten genießen zu können. Die Gesellschaft wurde immer schweigsamer und mürrischer, und Bonys aufmunternde Worte erreichten sie gar nicht mehr. Die Schatten beunruhigten ihn, schufen ein zusätzliches Problem, denn er sah sich oft gezwungen, stehenzubleiben und sich zu überzeugen, daß der jeweilige Schatten nicht Bumblefoot Hole war. Während der Rast um vier Uhr erlitt Brennan einen Nervenzusammenbruch. Er stand auf, faßte den blauen Felsen im fernen Hochland ins Auge und ging darauf zu. »Wohin, zum Teufel, willst du?« brüllte Riddell. »Komm zurück, du Wahnsinniger!« schrie auch Jenks. Brennan drehte sich um und fluchte wüst. Er ging weiter auf das Land zu, das mit furchtbarer Gewißheit eines bedeutete – den Tod. »Seid ruhig«, befahl Bony. »Wartet. Beobachtet ihn nur.« Brennan hatte sich hundert Meter weit entfernt, und während sie warteten und ihm nachsahen, legte er die zweiten hundert Meter zurück. Zweihundert Meter sind auf der Nullarbor-Ebene keine Entfernung, wo man glaubt, fünfzig Meilen weit sehen zu können. Als Bony hinter dem verschwundenen Maddoch hergegangen war, hatte er festgestellt, daß der Kleine nur etwa tausend Meter weit gekommen war, und dennoch hatte ihn keiner gesehen. Plötzlich raste der Rand eines Wolkenschattens auf Brennan zu und hüllte ihn in Dunkelheit. Auf einmal begann er wild mit den Armen zu fuchteln und fiel flach auf den Bauch. »Was hat er denn jetzt?« fragte Jenks besorgt. Der Schatten verließ Brennan und fiel über sie her. Staub stieg neben dem dahingestreckten Mann auf. Büschel vom Salzbusch um ihn herum schienen nach oben getragen zu werden. 156
»Bleibt hier, ich hol’ ihn«, sagte Bony. Als er die halbe Strecke zu Brennan zurückgelegt hatte, drehte er sich um und überzeugte sich davon, daß sie ihm gehorchten. Brennan hatte mit den Fingern kleine Löcher in den Boden gebohrt, an die er sich klammerte. Er lag ganz flach, und die Zehen seiner mit Lumpen umwickelten Füße waren fest in der Erde vergraben. Das Gesicht preßte er zwischen den noch vorn ausgestreckten Armen in den Staub. Er blickte nach Westen, wo ein nächster Wolkenschatten auf sie zuraste. »Brennan, stehen Sie auf!« befahl Bony. »Sehen Sie, Brennan!« Brennan drückte sich noch fester auf den Boden, und Bony versetzte ihm einen Fausthieb zwischen die Schultern. »Nein – nein!« schrie Brennan, ohne den Kopf zu heben. »Legen Sie sich nieder – legen Sie sich schnell nieder – es reißt Sie sonst in den Weltraum.« »Aber nein, Mark. Keine Gefahr. Setzen Sie sich auf. Es ist alles in Ordnung. Es sind nur die Wolken, die die Welt scheinbar durcheinanderwirbeln. Stehen Sie auf, Bumblefoot Hole liegt direkt vor uns.« Mit einer raschen Bewegung warf sich Bony den langen Brennan über die Schulter. Brennan hatte die Augen geschlossen und weigerte sich, sie zu öffnen. Lucy kam, leckte ihm das Gesicht. Brennan keuchte, weniger vor Müdigkeit als vor Entsetzen. Bony half ihm auf die Beine und stützte ihn, während seine Augen allmählich den glasigen Blick verloren. Nach einer Weile konnte er allein stehen, und eine Zeitlang fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen und sah Bony verblüfft an. »Guter Gott! Das war vielleicht ’n Ding, Inspector. Ich konnte mich nicht festhalten. Die Erde hat sich immer schneller gedreht. Ich kann Ihnen nicht sagen … Sie ahnen ja gar nicht …« »Doch, ich weiß«, sagte Bony. »Ich habe es auch erlebt. Sie haben Phantasie wie ich, und die Ebene hat unzählige Möglichkeiten, uns zum Narren zu halten. Der phantasiebegabte Mensch geht früher unter als der phantasielose. Aber nur Männer mit Phantasie besteigen den Everest und durchqueren die Nullarbor. Geht’s Ihnen besser?« Brennan nickte. Er sah sich um, als sei er entschlossen, sich selbst zu testen. Wieder musterte er die geschmeidige Gestalt neben sich, begegnete den blauen Augen und sagte: »Sie sind ein feiner Kerl, Kumpel. 157
Ich bin wieder in Ordnung. Wenn ich noch einmal anfange zu spinnen, hauen Sie mir eine runter.« »Ich schmeiß den Wasserkanister nach Ihnen, Mark. Ich hab’ mal einen Typen gekannt, der immer, wenn’s ihm dreckig ging, sagte: ›Das beste Mittel dagegen ist tüchtig rauchen.‹ Wir können sagen: ›Das beste Mittel dagegen ist tüchtig laufen.‹ Übrigens, wo waren Sie, als Mitski umgebracht wurde?« »Ich? Im Gang beim Windloch. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.« »Mit Myra zusammen, nicht wahr?« »Ja. Sie hat damals ihren Schal verloren, der Sog hat ihn nach oben gerissen.« »Was habt ihr beiden dort gemacht?« »Ich?« fragte Brennan naiv. »Ich hab’ versucht sie zu beruhigen. Aber es war hoffnungslos.« »Warum sind Sie mit ihr hingegangen?« »Also, um ehrlich zu sein, sie hatte Mitski ein bißchen an der Nase rumgeführt, und die Dinge standen nicht zum besten. Der Doc hat Jenks fertiggemacht, weil der irgend etwas gesagt hatte. Ich habe nicht gehört, was es war. Das war am Abend vorher. Ich habe Myra gesagt, daß ich etwas Ernstes mit ihr bereden wollte, und sie kam mit mir. Nachdem ich ihr erklärt hatte, daß sie mit Sicherheit Schwierigkeiten bekommen würde, wenn sie weiterhin so tat, als würde sie einen mehr als die anderen mögen, hat sie mir gewissermaßen zu verstehen gegeben, daß sie nur mich mag. Aber als ich sie in die Arme nehmen wollte, ist sie wütend geworden. Und genau da haben wir Mitskis Schrei gehört.« »Nur gut, daß man mich zu euch hinuntergeschickt hat, Mark.« »O ja. Ich will Ihnen etwas sagen, Inspector, obwohl ich’s eigentlich nicht tun sollte und die Kumpel in Goulburn mir dafür die Hölle heiß machen würden. Den Stein, mit dem Mitski umgebracht wurde, hat Myra am selben Morgen auf ihrem Bett gefunden. Jedenfalls hat sie mir gesagt, daß sie ihn gefunden hat. Ich hab’ ihn in Fiddler’s Leap ins Wasser geschmissen.« Er hatte ihn in Fiddler’s Leap ins Wasser geschmissen – die stumpfe Mordwaffe. Einfach so. Warum? Weil die Kumpel in Goulburn ihm die Hölle heißmachen würden, wenn er einem Polizeibeamten half? »War der Stein blutig?« fragte Bony. 158
»Ja. An einer Stelle war eine verschmierte Blutspur. Mitski ist damit getötet worden, das steht fest.« »Wann hat Myra den Stein auf ihrem Bett gefunden?« »Wann, Inspector?« Brennan runzelte die Stirn, so sehr strengte er sein Gedächtnis an. »Sie hat es mir gesagt, weil ich sie danach gefragt habe. Das weiß ich. Es war nachdem sie das Frühstücksgeschirr gespült hatte.« »Mir gegenüber hat sie es nicht erwähnt, Mark.« »Ich habe ihr geraten, es zu verschweigen.« »Und warum?« »Ach, Sie wissen doch, wie das ist. Verdammt! Sie müssen es wissen.« »Vielleicht weiß ich es. Mitskis Mörder hat versucht, Myra die Schuld in die Schuhe zu schieben. Vielleicht hat aber auch Myra tatsächlich den Mord begangen und Ihnen nur ein Märchen von dem Stein erzählt.« »Es könnte natürlich beides möglich sein, Inspector. Warum zerbrechen Sie sich den Kopf darüber? Mitski ist tot, und seine Leiche ist gut aufgehoben. Lassen Sie sie ruhen.« Sie gingen zu den anderen zurück, und Bony erklärte, daß Brennan einen Schwindelanfall gehabt hatte. Keiner sagte etwas, aber der Ausdruck in Myras und Maddochs Augen verriet Bony, daß sie verstanden, was er meinte. Bony nahm sich vor, die beiden zu beobachten. Weiter. Anstrengung ohne Motiv. Man geht eine Straße entlang, und da steht eine Straßenlaterne, an der man vorüber muß, die man hinter sich läßt. Immer geschieht etwas. Hier geschah nichts, nur daß die Wolkenschatten über den Boden huschten. Man kam aus dem Nirgendwo, und man ging ins Nirgendwo, denn das Nirgendwo ist weder Ort noch Ding. Man zählt seine Schritte: einhundert, eintausend, eine Million – und steht auf demselben Fleck, auf dem man am Anfang stand. Die Sonne nahm den Weg ins Hochland, das Zacken in den westlichen Horizont schnitt. Die Wolken lösten sich auf, die kleinen zuerst. Die menschlichen Schatten wurden länger. Wolken. Na und? Schatten. Na und? Geht weiter, Füße, geht weiter … Steigt über diesen verdammten Busch, Füße! Unvermittelt blieb Bony stehen. Automatisch taten die ändern es ihm gleich und stellten fest, daß er Lucy ansah. Ihre Nase zeigte nach Süd159
westen. Ihr dünner Schwanz zitterte. Sie warf einen Blick zurück, und Bony rief: »Lauf zu! Faß sie!« Lucy lief dem Geruch nach, der ihr in die Nase stieg. Sie folgten ihr, und hin und wieder wedelte sie aufgeregt mit dem Schwanz. Die Wolkenschatten waren verschwunden, aber ein anderer tauchte auf, ein Schatten, der immer breiter und länger wurde. »Was schnuppert sie da?« fragte Riddell. Brennan antwortete: »Roastbeef, Yorkshire Pudding, Pastinak und Spargel.« »Könnte sein, könnte sein«, sagte Jenks kichernd. Der Anführer fühlte sich verpflichtet, eine Erklärung abzugeben. »Ich habe mich gefragt, wer wohl als erster Bumblefoot Hole sehen würde«, sagte er. »Ich habe gedacht, ich würde euch darauf hinweisen müssen, aber Lucy hat mir die Mühe abgenommen. Es liegt direkt vor uns. Und Freunde von mir erwarten uns, um uns willkommen zu heißen. Wie Lucy kann auch ich sie riechen.«
Das Gasthaus auf halbem Weg
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egungslos standen sie da, vier Männer und eine Frau, von Müdigkeit wie betäubt, und Bony – erfüllt von berechtigtem Stolz, weil er sie hierhergeführt hatte. Sie sahen Lucy nach, die mit wahren Bocksprüngen in der Mulde verschwand und wie ein Hase auf die Kamele zujagte, die sie mit ein wenig überheblicher, aber herzlicher Zuneigung begrüßten. »Nun, hier sind wir«, rief Bony fröhlich. »Wir müssen am Rand entlang zu dem einzigen Pfad gehen, der hinunterführt. Es mag Ihnen ja so vorkommen, als sei dieser Ort nichts Besonderes, aber mir gibt er das Gefühl, endlich zu Hause zu sein.« Millie betrachtete sie mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit, doch Curley spreizte die Hinterbeine, schloß die Vorderbeine und signalisierte so 160
unverkennbar seine Ungeduld. Bei der alten Feuerstelle angekommen, warfen die Wanderer die Bündel und den Wasserkanister ab und ließen sich auf den Boden fallen. Bony machte Feuer und setzte den Teekessel auf. Die vier Männer, die der Gefängnisroutine standgehalten und sich erfolgreich gegen die furchtbare Langeweile in den Kerkern der Natur behauptet hatten, verfielen jetzt zusehends. Die Frau wurde noch immer von ihrer eisernen Entschlossenheit zu überleben angetrieben und wollte nach Möglichkeit genießen, was sie gewiß nicht verdient hatte. Bei ihr hatten die Schrecken der Ebene die geringsten Spuren hinterlassen. Bony hatte sie natürlich soviel wie möglich geschont, was sie für selbstverständlich gehalten und ihn veranlaßt hatte, über die Rücksichtslosigkeit nachzudenken, mit der sie alle anderen ausnutzte. Sie saß mit geschlossenen Augen da und kämpfte gegen den Einfluß an, den die Ebene und Bony als Anführer auf sie ausübten. Jenks sah nur vor sich hin. Mark Brennan seufzte erleichtert, weil er die schwere Nervenkrise unbeschadet überstanden hatte. Maddoch lag lang ausgestreckt da und hatte das Gesicht in den Armen vergraben. Unter den gegebenen Umständen hatten sie sich während der letzten Tage erstaunlich gut gehalten, denn statt der vorgesehenen fünfzehn hatten sie täglich fast zwanzig Meilen zurückgelegt. Bony schenkte Tee ein, als Lucy zu ihm kam, um ihm zu sagen, daß sie und die Kamele Durst hatten. Er gab ihr Wasser in seinem alten Filzhut, sah jedoch voraus, daß es schwierig sein würde, die Kamele zu tränken. Als er Riddell das Problem erklärte, sagte der liebenswürdige Zeitgenosse, seinetwegen könnten die Kamele verrotten. Myra blies ihm energisch den Marsch und verriet auf diese explosive Weise, daß ihre Nerven auch nicht die besten waren. Als Lucy keinen Erfolg hatte, kamen Millie und Curley selbst, um zu protestieren. Da sie jetzt nicht gefesselt waren, schlich Millie sich leise ins Camp und steckte die Nase in den leeren Teekessel. Der interessierte Curley stürmte mitten in die Gruppe, die wild auseinanderstob, und schnupperte an den Deckenbündeln. Dann streckte er den langen Hals nach Bony aus, die zuckende, gespaltene Oberlippe war trocken und heiß, und die großen schwarzen Augen flehten um Wasser. Bony ersuchte die anderen noch einmal, ihm zu helfen, und mürrisch gaben sie nach. Sie mußten die Tiere mit Stöcken zurückhalten, wäh161
rend Bony mit einem Fünflitereimer ungefähr vierzig Liter Wasser aus dem Loch schöpfte und in eine Felsenpfanne schüttete. Als sie mit dem Essen fertig waren, war die Sonne schon untergegangen, und die Abenddämmerung hüllte Bumblefoot Hole ein. Bony schlug vor, daß sich jeder eine Nische suchen und schlafen sollte, und weder Jenks noch Riddell ließen sich lange bitten. Maddoch war fast bewußtlos, und Brennan schleppte ihn in eine Felsnische, wickelte ihn in seine Decke und ging dann ebenfalls zur Ruhe. Dann war alles still, und allmählich wurde es dunkel. Die Kamele hatten sich hingelegt, und Bony wog den Beutel in der Hand, der das restliche Mehl enthielt. »Marsch ins Bett, das gilt auch für Sie«, sagte er energisch zu Myra. »Die Nische da drüben ist genau die richtige für Sie.« »Und was haben Sie vor?« »Brot backen, sobald das Feuer heruntergebrannt ist. Wie geht es Ihren Füßen?« »Sie sind noch immer wund. Müßten gewaschen werden. Ich müßte mich von Kopf bis Fuß waschen. Könnte ich Wasser in die Felsenpfanne schütten und mich richtig darin aalen?« »Ja, Wasser gibt es genug. Ich schöpfe Ihnen etwas aus dem Loch.« »Glauben Sie, daß es für mich sicher ist?« »Aber selbstverständlich. Die Kamele tun Ihnen nichts.« »Ich habe nicht an die Kamele gedacht, Inspector.« »Die Männer schlafen alle fest.« »Alle, außer einem«, sagte sie herausfordernd. Langsam stieg ihm Zornesröte in die dunkle Stirn, und seine Augen funkelten. Wortlos ging er mit dem Eimer zum Wasserloch und schöpfte. Myra hockte am Feuer, bis er kam, eine Decke schnappte, zum Bekken zurückging und einen provisorischen Vorhang anbrachte. Sie blieb eine halbe Stunde weg. Als sie wieder erschien, war ihr Körper erfrischt und – so hoffte Bony – auch ihr Verstand. »Bleiben Sie«, sagte er. »Ich möchte mit Ihnen reden. Sie brauchen Ihre Zeit nicht mit zweideutigen Bemerkungen zu verschwenden. Das ist eine Sprache, die ich nicht verstehe.« Er stach zwei-, dreimal in das Brot, das in der heißen Asche buk und kam zu dem Schluß, daß es noch nicht durch war. »Wo waren Sie, als Mitski getötet wurde?« »Das habe ich Ihnen schon gesagt, Inspektor. In der Küche.« 162
Sie war völlig gelassen. »Das haben Sie mir gesagt, aber wo waren Sie wirklich?« »Also ich kann nur …« »Ich will die Wahrheit hören, Myra. Warum wollen Sie nicht zugeben, daß Sie mit Mark Brennan im Gang beim Zugloch waren?« »Weil ich nicht zugeben will, daß ich mit einem dieser Mörder allein war, das ist der Grund. Ich nehme an, Brennan hat sich damit gebrüstet.« »Nein. Ich habe gewußt, daß Sie dort gewesen sein müssen, weil der Sog Ihnen das Tuch entrissen hat, durch das ich die Höhle entdeckt habe. Sobald wir in die Zivilisation zurückkehren, werden wir von einem Aufgebot an Polizeibeamten und Sicherheitsleuten umringt sein. Letztere interessieren sich für Sie, weil sie glauben, daß Ihr Verschwinden absichtlich inszeniert worden ist und daß Sie auf der Raketenbasis spionieren wollten. Ich kann Sie mit einem einzigen Wort von jedem Verdacht befreien oder wochenlang unter Mordverdacht in Untersuchungshaft schmoren lassen.« Sie schwieg, und der Widerschein des flackernden Feuers tanzte in ihren unergründlichen Augen. »Ich will den Mörder von Igor Mitski«, fuhr er fort. »Es liegt an Ihnen, den Verdacht gegen Sie zu zerstreuen. Von wem wußten Sie – oder woraus haben Sie geschlossen, daß Mitskis Mörder plante, alle Rivalen zu töten, um der einzige Löwe in der Löwengrube zu sein?« »Das war Havants Idee. Er hat es prophezeit, und als wir alle auf Mitskis Leiche starrten und begriffen, daß er ermordet worden war, hat Havant gesagt: ›Wer ist der nächste?‹« »Haben Sie Mitski umgebracht?« »Natürlich nicht. Er war genauso harmlos wie Sie.« »Wissen Sie, wer es getan hat?« »Warum? Sollte ich es wissen?« »Antworten Sie. Mit Mitski waren sechs Männer bei Ihnen. Welchen von ihnen hätten Sie am meisten gefürchtet, wenn er als einziger noch übrig gewesen wäre?« »Riddell.« 163
»Mit wem wären Sie unter den gegebenen Umständen am liebsten allein geblieben – vorausgesetzt, daß Ihnen etwas an Ihrer Keuschheit lag?« »Wie edel ausgedrückt!« spottete sie. »Da könnte ich natürlich Maddoch nennen, aber – einige Spinnen beißen und einige nicht.« »Dann halten Sie es für möglich, daß Maddoch Mitski getötet hat?« »Ja. Riddell hat Maddoch beschuldigt, aber Riddell ist schließlich nur ein Tier. Ich will Ihnen eins sagen, mein lieber Inspector: Jeder von ihnen wäre über mich hergefallen, hätten sie nicht gefürchtet, umgebracht zu werden. Mir gefällt so was.« »Schließen Sie da auch Dr. Havant mit ein?« »Ich wollte nicht allein mit ihm zurückbleiben, oder?« Bony holte das Brot aus der Asche und bereitete das Feuer für den nächsten Laib vor. Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Was werden Sie tun, sobald Sie die Ebene hinter sich haben – und mich losgeworden sind?« fragte er. »Die Jungs von der Presse werden da sein. Viele. Ich habe im Kopf schon alles fertig, vorausgesetzt, Sie verderben mir nicht die Show. Die Männer werden ihre kleinen Geschichten erzählen, nur keine Bange. Aber ich ziehe die Sache vom Standpunkt der Henne unter lauter Gokkeln auf. Sie können nicht behaupten, sie hätten mich verführt. Aber ich werde erzählen, wie es mir gelungen ist, ihren hartnäckigen Annäherungsversuchen auszuweichen. Das wird einschlagen wie eine Bombe. Ich könnte auch erzählen, daß ich mich gegen Sie wehren mußte, werde es aber nicht tun, weil Sie sehr viel an sich haben, das meine Großmutter bewundern würde. Ich kenne jemanden in Melbourne, der als PRAgent absolute Spitze ist. Ich werde das Ganze für den amerikanischen Rundfunk schreiben, gehe selbst hinüber und werde im Fernsehen auftreten. Eine tapfere junge Frau kann dort mit jeder Unterstützung rechnen. Australien kann sich zum Teufel scheren. Es kann meine Geschichte ebenso von Amerika kaufen, wie es die Sachen anderer amerikanischer und englischer Spitzenleute kauft. Man muß sich rar machen, dann ist man um so mehr gefragt – das ist die Kunst. Ich beherrsche sie. Sehr gut.« Daß sie in dieser Kunst Meisterin war, glaubte Bony ihr aufs Wort. »Mir scheint, wir werden uns nicht gegenseitig auf die Zehen treten«, sagte er ironisch. 164
»Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben? Gute Nacht, Inspector. Ich hoffe, Sie trauen mir jetzt.« »In jeder Beziehung, nur nicht, was den Mord an Mitski angeht.« »Gütiger Gott! Sie erinnern mich an die Nemesis.« »Das ist anderen vor Ihnen auch so ergangen. Gute Nacht.« Er blieb auf den Fersen am Feuer hocken und löschte es dann, um den kostbaren Holzvorrat nicht zu vergeuden. Er beobachtete die kleinen Löcher, die sich in der feinen Asche auf der Kruste des backenden Brotlaibs bildeten und aus denen hin und wieder winzige Rauchschwaden in die Höhe schössen. Die feine Asche, die den Friedhof seines Geistes bedeckte, brach auf, und eine Stimme aus der Vergangenheit sagte: »Sie ist ein zäher Brocken.« Myra Thomas war ein zäher Brocken. Der Mordprozeß hatte sie nicht weicher gemacht, auch die Erlebnisse in den Höhlen hatten ihrer Zähigkeit nichts anhaben können. Sie mußte angeboren sein, und kein Pygmalion hätte das ändern können. Er wollte den Leuten einen Tag Zeit zum Ausruhen lassen, denn die Ebene würde sie noch härter als zuvor beanspruchen. Bony sah explosive Situationen voraus, denen nur mit viel Scharfsinn und Diplomatie beizukommen war, zumal die Menschen, mit denen er es dann zu tun hatte, körperlich viel zu erschöpft sein würden, um einem vernünftigen Gedanken zugänglich zu sein. Es war natürlich völlig ausgeschlossen, Myra Thomas zu vertrauen. Sie würde weiterhin jeden beund ausnutzen, wenn es ihr paßte, und deshalb konnten ihr zusätzliche körperliche Anstrengungen nicht schaden. Lucy kam zu Bony und sah ihn hoffnungsvoll an. Er hatte sie gut gefüttert, also konnte es ihr an nichts fehlen. Bald darauf bewegte sich etwas hinter ihm, und er fuhr herum. Da standen die beiden Kamele, den Kopf gesenkt, die Oberlippe hochgezogen, ähnlich den geblähten Nasenflügeln hungriger Menschen, denen der Duft eines köstlichen Abendessens in die Nase steigt. Sie waren gute und zuverlässige Gefährten gewesen. Vielleicht würden sie es wieder sein. Er überlegte, ob sie Myra und Maddoch ohne Reitsattel tragen konnten, und kam zu dem Schluß, daß es möglich, aber schwierig und bestimmt mit gefährlichen Verzögerungen verbunden wäre. Also entschied er sich dagegen. Er nahm den Brotlaib aus der Asche, lehnte ihn aufrecht an den Teekessel, damit die Feuchtigkeit daraus verdampfte; dann brach er vom 165
ersten Laib zwei Stückchen ab, und Lucy brachte sie Millie und Curley, die schon ungeduldig darauf warteten. Nachdem er das frische Brot an einer für die Kamele unzugänglichen Stelle deponiert hatte, schöpfte er Wasser für sich und badete. Später nahm er seine Decke zu einem weit entfernten Felsblock mit, leinte Lucy an und band die Leine an seinem Fußgelenk fest. Er schlief lange. Die Sonne meinte es gut, als er erwachte. Er fand die anderen ums Feuer versammelt und stellte fest, daß die Kamele nicht mehr da waren. Man begrüßte ihn beinahe fröhlich. Am späteren Vormittag, als sie noch immer untätig herumsaßen, riet er ihnen, zu baden und ihre Sachen zu waschen, weil sie am nächsten Morgen wieder aufbrechen mußten. Brennan und Riddell erhoben Einwände. »Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie alle hierblieben, bis ich mit Transportmitteln zurückkomme«, sagte Bony und wurde sofort überstimmt. »Nun, das liegt an Ihnen – an jedem einzelnen. Ich breche morgen früh vor Sonnenaufgang auf.« Riddell murrte weiter, aber Brennan gab ebenso nach wie Jenks. Maddoch war sehr still und mußte weiterhin beaufsichtigt werden. Am Nachmittag bot Bony Myra seine schäbigen Reitstiefel an. Sie stellte dankbar fest, daß sie sie tragen konnte, wenn sie sich die Füße mit Streifen von der Decke umwickelte. Er tat, was er konnte, um die Fußbekleidung der anderen zu flicken, die jetzt wußten, was der Salzbusch bloßen Füßen antun konnte. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, lag Bumblefoot Hole schon eine Meile hinter ihnen.
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Die Ebene schlägt zum letztenmal zu
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iner? Zwei? Wie viele Tage war es her, seit wir unendlich lange Stunden in dem Loch rasten durften, das der Inspector Bumblefoot Hole genannt hat? Ach was, zum Teufel damit! Er würde die verdammte Ebene einfach ignorieren. Es hatte keinen Sinn, sie anzusehen. Es gab ja auch nichts zu sehen, nichts als die Erhebung am Ende. Nicht einmal Wolken waren da, die man betrachten konnte, und wenn er Joe und Ted und den trübsinnigen alten Clifford ansah, hatte er das Gefühl, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Mark Brennan marschierte. Er hatte es satt, dauernd »links, rechts, links« vor sich hin zu flüstern, aber er hörte es immer noch, und es war nicht seine Stimme, die kommandierte. Er erinnerte sich an die Stimme, den Mann und den Ort. Der Ort war eine Straße inmitten grüner Weideflächen. Am Straßenrand standen Eukalyptusbäume, und in der Ferne sah man grüne Hügel. Der Mann war ein Sergeant, der neben einer Gruppe von Männern hermarschierte, die ihm ähnlich sahen. Er hatte eine Menge Bänder auf der Brust, der Sarge, Medaillen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein guter Haufen war das gewesen. Viele waren gefallen, und einige waren in der Kriegsgefangenschaft zugrunde gegangen. Ein Jammer, daß er nicht mit ihnen gezogen war. Ein Jammer, daß er wegen dieses Frauenzimmers den Kopf verloren hatte. Dieses Miststück! Er diente seinem Vaterland, und sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als hinzugehen und diesen Intriganten zu heiraten, der nicht kämpfen, sondern auf seiner Farm bleiben und auf dem schwarzen Markt und mit anderen Sachen eine Menge Geld machen wollte. 167
Er hatte sie daran gehindert. Sie waren sich so schön vorgekommen, als sie vor die Kirche traten. Trotzdem, wenn er heute zwei und zwei zusammenzählte, dann war es verdammt idiotisch von ihm gewesen, sie zu erschießen. Die beiden waren es nicht wert gewesen, daß er ihretwegen im Knast saß, während sein Haufen in Übersee war, mit den Mädchen schäkerten und ein bißchen kämpfte. Es hatte sich auch um vieler anderer Dinge willen nicht gelohnt. Er hätte sie in Ruhe lassen können, und nach einiger Zeit hätte das Frauenzimmer ihrem lieben Mann ohnehin die Hölle auf Erden bereitet – ohne Nachhilfe von Soldat Mark Brennan. Sein Vater war daran zerbrochen – auch deshalb hatte es sich nicht gelohnt. Er war ein so anständiger alter Knabe gewesen. Seine Mutter hatte sehr darunter gelitten, aber sie hatte standgehalten und bewirtschaftete die Farm und wartete darauf, daß er zurückkam und ihr half. Das hätte er auch getan, wenn er nicht gekidnappt und in die Höhlen verschleppt worden wäre. Doch besser spät als nie. Jetzt war er vielleicht schon unterwegs zur Farm und zu seiner Mutter. Unterwegs? Wo war der Weg? Geh weiter, gib’s deinen Füßen. Vorwärts! Vorwärts! In Ordnung, Sarge, in Ordnung. Feiner Kerl, dieser Sergeant, wie hieß er doch gleich? Die Gefängniswärter waren anständig. Ein paar waren auch link, aber nicht viele. Die meisten behandelten einen fair. Auch der Gefängnisdirektor. Er hatte ihm Glück gewünscht. Er wäre nach Hause gekommen, wenn er nicht auf das Weibsbild in dem Auto hereingefallen wäre, das ihm angeboten hatte, ihn ein Stück mitzunehmen. Wenn er die jemals wiedersah, erwürgte er sie. Sie hatte ihm einen Schluck Café Royal angeboten und ihn damit betäubt. Er könnte sie erwürgen. He, warten Sie, Mister Mark Brennan. Nichts dergleichen. Das hattest du doch schon mal. Jetzt mußt du Blumen auf das Grab deines Vaters legen und dich um deine alte Mutter kümmern. Links, rechts! Seien Sie nicht so streng, Sarge. Ich schaffe es. Keine Sorge. Ich gehe mit Inspector Bonaparte durch diese verdammte Ebene. Inspector Bonaparte! Er ist in Ordnung. Wenn der eine Spur gewittert hat, verliert er sie auch nicht mehr, da ist er wie ein tasmanischer Tiger. Ein feiner Kerl ist er. Verdammt feiner Kerl. Wir wären ohne ihn ganz schön aufgeschmissen. Ihn müde machen? Hoffnungslos. Hast du je solche Augen gesehen, Mark, du gemeines Schwein. Hast du? 168
»Was ist, Clifford? Was hast du gesagt?« »Nichts, Mark. Überhaupt nichts.« Was kann man schon sagen? Man muß auf die Füße achten und aufpassen, wohin man sie setzt, und das macht es um so schwieriger, sie wieder zu heben. Unterbrich mich nicht, Mark. Bitte. Nicht jetzt. Wenn du etwas sagst, könnte ich vergessen, meine Füße zu heben und wieder auf den Boden zu stellen, und dann könnte ich nie wieder einen Schritt gehen. Wie denn auch? In welchem Buch hat das gestanden? Kümmere dich doch nicht um den Titel. Der Autor sagt, daß wir alle dazu bestimmt sind, über diese Erde zu schreiten und jedem nur eine bestimmte Anzahl von Schritten gegeben ist, bevor er sich erleichtert hinlegt und stirbt. Weißt du was? Ich glaube, ich werde sehr bald die mir zugemessene Anzahl von Schritten erreicht haben, viele Jahre vor meiner Zeit. Zombie! Frida hat mich einen Zombie genannt. Ich habe mich auch so gefühlt, als sie schrie und immer weiterschrie, bis ich glaubte, daß sich mein Gehirn zersetzt. Ich wäre nicht so verzweifelt gewesen, wenn sie nur nicht geschrien hätte. Und mir diese Dinge zu sagen, in meinem eigenen Büro, in Gegenwart von Kendal und Mace, die natürlich die Ohren spitzten. Und alles noch einmal zu sagen, am Abend, nach der Versammlung des Vorstadtkomitees. Ich habe den Männern angesehen, was sie dachten. Ich habe versucht, barmherzig zu sein. Hätte ich die furchtbare Wirkung von Strychnin gekannt, hätte ich es ihr nicht gegeben. Ich hätte mir statt dessen Cyanid besorgt. Nun, Clifford Maddoch! Vergiß nicht, die Füße zu heben und wieder auf den Boden zu setzen – diesen, den anderen, diesen, den anderen. So ist es richtig, Clifford. Das schafft Inspector Bonaparte. Er vergißt nichts. Er vergißt nie etwas. Wie dumm von mir, die kleine Känguruhmaus zu zerquetschen. Ich hätte sie aufheben und in Sydney zu einem Tierpräparator schicken können, um sie ausstopfen zu lassen. Dann hätte niemand behaupten können, ich hätte das echte Australien nicht gesehen, nicht wahr? Schade, daß Mitski gestorben ist. Komisch, wie ähnlich seine Stimme der Stimme meiner Frau war. Mitski hätte eine Melodie auf die kleine Känguruhmaus komponiert. Jetzt liegt er in Fiddler’s Leap. Fiddler’s Leap. Bumblefoot Hole. Big Claypan. Curley’s Hate. Wirklich seltsame Namen. 169
Noch zwölf Schritte bevor ich den Kopf hebe und nachschaue, ob es etwas zu sehen gibt. Eins, zwei, drei … zehn, elf, zwölf. Nichts. Nur Salzbusch und Himmel. Zwei Sachen. Ich versuch’s noch einmal. Ich gehe vierundzwanzig Schritte, bevor ich aufblicke. »Entschuldige, Riddell, ich hab’ nicht über dich gelacht.« Verdammter Zwerg. Hab’ diesen hochnäsigen Kerl immer gehaßt. Hat dem alten Mitski den Schädel eingeschlagen. Hat er wirklich getan. Hab’s mit eigenen Augen gesehen. Bewegt sich wie ’n Sperlingshahn. Wäre er ein Mann wie ich, Joe Riddell, hätte er seine Alte nicht vergiften müssen. Er hätte sie an den Füßen hochgehoben und ihren Kopf im Hinterhof auf den Zement geknallt. Er hätte immer behaupten können, daß sie aus dem Fenster im ersten Stock gefallen ist. Aber ich hätte selber aber auch mehr Grips haben können, wenn ich’s mir so überlege. Den Kerl gleich erschießen, weil er wegen der Kuh rumgejammert hat, war schon ’n bißchen hart. Darauf kann ich nicht stolz sein. Ich hätte ihn auf einem Baum in ’ner Astgabel einklemmen sollen. Hätte sagen können, daß er nach Wespennestern gesucht hat. Gott! Wie lange noch? Woche für Woche gehen, sinnlos gehen. Ich hätte beim ollen Havant in der Höhle bleiben sollen. Das wäre richtig gewesen, wenn die Schlampe geblieben war’. Dann hätte ich mal nachgeschaut, aus was die gemacht is. Verdammt! Das Land da drüben schaut anders aus als das, in dem wir gestern waren. Wir kommen also doch vorwärts. Dort ist ein Kaninchen. Hab’ kein Kaninchen mehr gesehen, seit dem einen, das zwischen den Stecken und dem anderen Zeug rausgehüpft ist, nachdem Mark drin rumgestochert hat. Essen! Ich würd’ es samt dem Fell essen. Wenn ich endlich von der verdammten Ebene runter bin, pump’ ich mir hundert Piepen von Maddoch und kauf mir hundert Laib Brot und ’n halben Ochsen und zwei Speckseiten und zehn Dutzend Eier. Dann verkriech’ ich mich irgendwo. Keine Farmer mehr für mich. Kein Leben mit Kühen mehr. Weiber! Zur Hölle mit den Weibern! Fressen – Futter – Essen – das ist alles, was ich noch will. Nur noch essen, essen, essen. Die Sonne geht im Osten auf und im Westen unter, dachte Edward Jenks. Mich kann man nicht bluffen. Wir gehen nach Süden. Kommen immer näher an dieses Land ran. Der Inspector kennt sich aus, das muß man ihm lassen. Er hat mehr im kleinen Finger als die anderen in der Tasche. Himmel! Joe ist total fertig, der große Kerl. Mark schwankt wie 170
ein Betrunkener, und Clifford könnte nicht mal einen Meter weit laufen, wenn seine Alte plötzlich hier auftauchen würde. Bleib’ ich allein übrig. Den zähen Jenks haben sie mich genannt. Ich habe mich auch gar nicht schlecht gehalten. Noch steckt eine Menge Leben in diesem alten Hund, das werd’ ich allen beweisen, auch dieser Schlampe – wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Mit mir macht keine Frau, was Cliffords Alte mit ihm angestellt hat. Wenn ich’s genau überlege, bleibt nur noch dieser verdammte Cop, der sich Detective Inspector nennt. Hat einen tollen Ruf, heißt es. Aber den hat auch Mister Edward Jenks, Esquire, A.B. Eine andere Methode, und auf die kommt’s an. Noch einen Tag, vielleicht auch zwei, und wir erreichen einen On. Dann fangen wir alle wieder bei Null an. Wenn ich Myra Thomas je in einer dunklen Gasse begegne, oh … was sagen wir denn dann, Mister Jenks und Missus Thomas? Die Nächte waren nur noch kurze Zwischenspiele. Die Ruhepausen, die Bony anordnete, entbehrten jeder Realität. Myra Thomas zehne von ihrem Traum von Macht und Ruhm. Jenks sah hin und wieder auf, nicht auf die Ebene, die sie alle mit brutaler Gewalt auf sich selbst reduzierte, sondern auf die schwankende weibliche Gestalt in Männerkleidung. Kein einziger bemerkte die Krähen, die ihnen entgegenkamen, als wären es Tauben, die sie zu den Bäumen führten, auf denen sie nachts sicher vor wilden Hunden und Füchsen schliefen. Der nächste Tag war der letzte ihres Marschs, und im Lauf des Nachmittags gingen sie an der Küste entlang von einem Felsvorsprung zum anderen. Bony beobachtete die Sonne, rechnete sich die ungefähre Zeit aus und kampierte in dieser Nacht im Schutz eines kleinen Hügels, auf dem ein paar Dornakazien wuchsen. Sie aßen eine Dose Fleisch und zwei Dosen Fisch, und damit waren ihre Vorräte aufgebraucht. Es gab Streit, weil drei Dosen nicht als Teller für sechs Leute reichten. »Verdammt!« fluchte Jenks. »Und woraus soll ich essen?« Myra entgegnete: »Verleugne doch nicht deine natürlichen Instinkte, iß vom Boden, wie immer.« Jenks schaute zu Riddell hinüber, als erwarte er von ihm Unterstützung, und Bony brachte schnell eine Pfanne, die den Teller ersetzen sollte. Er selbst aß seine halbe Dose Fisch mit Tomatensauce auch aus einem Kochgeschirr und sagte: »Wie Sie sich erinnern werden, hatten 171
wir in unserem letzten Camp noch Teller und Gabeln. Jemand hat sie dort vergessen. Also müssen wir uns jetzt mit unseren Fingern behelfen.« »Mit denen Ted sich für den Rest seines Lebens begnügen wird«, höhnte Myra. »Sind wir nicht ein bißchen vorlaut, Myra? Nächste Woche sehen wir Mrs. Myra Thomas, berühmte Mörderin, die Pitt Street entlangschlendern. Und niemand wird daran denken, daß die stolze Schöne mit einem Haufen Männer auf einer Ebene gelebt hat, auf der es weder Busch noch Baum gab, hinter denen sie sich verstecken konnte. Wirst du deinem lieben Publikum alle Schrecken verraten, die du durchlebt hast?« »Ich werde meinem Publikum alles über dich erzählen, Jenks. Zum Beispiel, daß du wie ein schmatzendes Schwein frißt, das du ja auch bist.« »Und daß du die Henne unter vielen Gockeln warst, nehme ich an. Daß du dich gegen die Gockel gewehrt und ›es‹ gerettet hast. Und daß du deinen Mann umgebracht hast, weil er herausgefunden hatte, daß du geschlechtslos bist, wie Doc Havant gesagt hat. Ich hätte das ändern können. Weiber! Verdammt! Du bist kein Weib. Du bist nichts als Geschwafel und Betrug. Die Zehn-Dollar-Huren in den Hintergassen am Hafen sind mehr Frau als du. Du bist nicht mal als Frau geboren. Warte nur, bis ich meine kleine Rede im Rundfunk gehalten habe.« »Das wirst du nie tun. Die sind dort sehr eigen, wenn es darum geht, die Luft von Mikroben reinzuhalten.« »Wie war’s, wenn wir schlafen gingen?« klagte Maddoch. »Keinem von uns macht es Spaß, eurer höflichen Unterhaltung zuzuhören.« »Misch du dich nicht ein, Clifford. Du weißt, daß diese Kuh uns gegeneinander ausgespielt hat. Du weißt, daß sie uns eingeheizt hat, bis einer dem armen alten Mitski den Schädel eingeschlagen hat. Sie kann es nicht gewesen sein, denn sie hat sich um diese Zeit von Mark vergewaltigen lassen, stimmt’s oder stimmt’s nicht, Mark?« »Zieh mich da nicht hinein«, bat Brennan. »Ich bin viel zu müde, um auch nur daran zu denken. Gib uns Frieden – Frieden – und noch einmal Frieden. Warum, zum Teufel, sind die Frauen eigentlich erfunden worden?« 172
»Schöne Lügnerinnen«, sagte Jenks salbungsvoll. »Weiche Beine in weichen Betten. Mich juckt es einfach, das wieder mal zu sehen, nachdem ich jahrelang keine Frau zu Gesicht bekommen habe. Ich …« »Es können sogar noch mehr Jahre vergehen, bevor Sie alle Frauen zu sehen bekommen – schöne oder weniger schöne, wenn Sie vergessen, mir zu gehorchen, sobald wir die Heimstätte erreichen«, unterbrach Bony. »Dort sind weiße Männer und weiße Frauen, und wir werden von ihnen Nahrungsmittel, Kleidung und Transportmittel brauchen. Vielleicht erkennen Sie sogar jemanden, der bei Ihrer Entführung mitgewirkt hat. Aber sollten Sie die Beherrschung verlieren und jemanden verletzen, dann finden Sie sich im Gefängnis wieder.« »Ah! Sie glauben also, wir könnten jemanden treffen, mit dem wir gern Streit anfangen würden, ja, Inspector!« fragte Jenks, und seine Stimme klang hart. »Ja, das glaube ich. Sie haben aus Ihrem Wunsch nach Rache nie ein Hehl gemacht, Jenks. Um zu verhindern, daß Sie etwas tun, das auch Mark, Joe und Clifford wieder ins Gefängnis bringen könnte, hätte ich gute Lust, Sie jetzt schon zu verhaften.« »Nur keine Sorge, Inspector«, stieß Riddell knurrend hervor. »Nein, überlassen Sie das nur mir«, fügte Brennan hinzu. »Jeder, der irgend etwas tut, was mich daran hindern könnte, in ein normales Leben zurückzukehren, kriegt eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.« »In Ordnung«, sagte Bony. »Sehen Sie den Stern?« »Den roten Stern?« fragte Myra. »Der so tief hängt?« »Den meine ich, Myra. Das ist ein erleuchtetes Fenster. Und dieses Fenster gehört zu einer Heimstätte namens Mount Singular. Glauben Sie, Sie schaffen es jetzt noch noch bis dorthin?« »Und ob! Auf jeden Fall werde ich’s versuchen.« Sie stand auf und schien überhaupt nicht müde zu sein, und die anderen waren genauso lebhaft. »Wie weit ist es ungefähr noch?« fragte Brennan. »Etwa vier Meilen. Schwierige Meilen und am Ende gibt es eine schwierige Klippe. Ich möchte noch vor Mitternacht da sein, weil um Mitternacht die meisten Radiosender abschalten. Wir gehen im Gänsemarsch. Mark, Sie sind wieder der Schlußmann. Es wird nicht gesprochen. Und es werden keine Streichhölzer angezündet.« 173
Maddoch sagte mit vor Aufregung schriller Stimme: »Wir brauchen jetzt nichts mehr zu tragen, nicht wahr?« »Nichts«, sagte Riddell. »Nur uns selbst.« Erregung trug sie über die erste Meile. Dann stürzte Brennan, fluchte wild und rappelte sich wieder auf. Myra stolperte, mußte gestützt werden und verlangte allen Ernstes eine Pause und eine Streichholzflamme, um sich in ihrem kleinen Spiegel begutachten zu können. Der Felsvorsprung, auf dem Mount Singular stand, ragte wie eine Mauer vor ihnen auf, die sich deutlich vom Sternenhimmel abhob, und der »Stern«, der ihnen gewinkt hatte, war wie der Mond von einer Wolke verhangen. Wie in jener Nacht vor so langer Zeit, als sie die Höhlen verlassen hatten, folgten sie auch jetzt dem Anführer, der Augen hatte, die besser sahen als die ihren, und eine Nase, die viel feiner war. Er führte sie zwischen Felsbrocken hindurch und über die flachen Rinnen zum Nordende des Felsvorsprungs. Vor dem letzten und am wenigsten anstrengenden Anstieg blieb er stehen. »Könnt ihr riechen, was ich rieche?« fragte er. »Kerosin«, antwortete Myra. »Benzin«, meinte Brennan. »Eine Garage«, sagte Maddoch. Sie schienen auf einem Stück offenen Landes zu stehen, und Bony führte sie weiter, bis sie von einer Barriere aufgehalten wurden. Sie sahen, daß er die Arme hob und sich bückte, und hörten ihn dann mit einem Stein gegen Holz klopfen. »Eine Tür zu einem Höhleneingang«, sagte er. »Eine Holztür.« Er legte sich ein paar Sekunden lang auf den Boden. »Öl und Benzin hinter der Tür, die für einen Hubschrauber hoch und breit genug ist. Und jetzt reißen Sie sich noch ein letztes Mal zusammen. Und zum letztenmal sage ich Ihnen, daß es an Ihnen allein liegt, ob Sie ins Leben und ins Licht oder ins Gefängnis zurückkehren.«
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Es hätte schlimmer sein können
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er Raum war groß und solide möbliert und wurde von zwei Stehlampen erleuchtet. An der Wand gegenüber der Verandatür stand ein fester Tisch aus Rotholz, auf dem der Radiosender und -empfänger stand, vor dem jetzt Charles Watherby saß. Sein jüngerer Bruder Edgar war in eine Fliegerzeitschrift vertieft. In der Nähe der Verandatür saßen die Ehefrauen der beiden; die eine nähte, die andere tat nichts. Ihr Blick war auf ein Bild gerichtet, aber sie sah es nicht. Als die Ältere etwas sagte, schien sie sie nicht zu hören. Sie hörte auch nicht ihrem Schwager zu, der sagte: »Ja, Jim. Zweihundert fette Kälber. Sie müßten am Siebzehnten in Kalgoorlie sein. Ich habe die Genehmigung, sie durch Lancefold zu treiben. Dort gibt es eine Menge Futter. Wirst du die Jungs durch deinen Besitz und dann weiter in die Stadt begleiten? Over.« Im Lautsprecher sagte eine Stimme: »Okay, Charles, ich kümmere mich darum und bleibe mit deinen Männern in Verbindung, wenn sie durch Lancefold kommen. Hat dein Vormann das Kommando? Over.« »Nein«, antwortete Weatherby, »er hat hier Wichtigeres zu tun. Wir müssen Futter kaufen. Der letzte Regen ist über uns hinweggezogen. Unser Futter vertrocknet bald. Wie sieht es bei dir aus?« Der Lautsprecher sagte, bei ihm sehe es recht gut aus. Weatherby sprach noch immer über die Futterknappheit, als die Tür ganz leise geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, die den jüngeren Edgar aufspringen ließ. Die Gestalt sah wie ein wilder Aborigine aus, der zum erstenmal im Leben abgelegte Missionskleidung trug. Das dunkle Haar war lang, der stoppelige Backenbart verfilzt. Er war barfuß und seine Hosenbeine von den Knien abwärts völlig zerschlissen. Der Wilde lief durch den 175
Raum, blieb neben dem Radiosender und -empfänger stehen und zielte mit einer Automatic auf den älteren Weatherby. »Aufstehen!« befahl er. »Zurück! Noch weiter zurück.« Weatherby gehorchte. Die Augen des Wilden lagen im Schatten, den die Stehlampen warfen, aber die Waffe war deutlich genug zu sehen. »Wer, zum Teufel, sind Sie? Was, verdammt noch mal …« »Ich bin Detective Inspector Bonaparte, alias William Black. Diese Waffe ist mit fünf Patronen geladen. Draußen warten Freunde von mir – Clifford Maddoch, Mark Brennan, Edward Jenks und Joseph Riddell. Außerdem eine Mrs. Myra Thomas. Und Ihr Vormann. Da Sie beide intelligente Menschen sind, werden Sie begreifen, daß die Situation für Sie und Ihre Frauen nicht ganz ungefährlich ist. Und jetzt rufen Sie Kalgoorlie.« »Verdammt will ich sein, wenn wir das tun«, sagte Edgar und trat vier Schritte vor. »Sie würden nicht schießen. Sie bluffen nur, Inspector! Verdammt will ich sein.« Die Verandatür knarrte in den Angeln, und eine der Frauen schrie auf. Die Männer fuhren herum und erkannten ihren Vormann, flankiert von zwei wiederauferstandenen Buschrangern aus alter Zeit. Der ältere Weatherby wandte sich an Bony. »Sie sind alle frei?« fragte er gepreßt. »Alle außer Dr. Havant. Warum zögern Sie? Es sind gefährliche Männer. Stellen Sie die Verbindung mit Kalgoorlie her. Sofort.« »Nein!« schrie Edgar. »Wir haben auch Waffen.« »Tote können nicht mehr zielen«, gab Bony zu bedenken und fügte hinzu: »Ich verfehle mein Ziel nie.« »Charles!« rief seine Frau. »Tu, was er sagt. Er hat recht. Ruf Kalgoorlie.« Der ältere Weatherby ließ sich auf den Stuhl fallen, legte einen Schalter um und drehte an Knöpfen. Wieder knarrten die Türangeln, und die Riegel zitterten. Die Frauen hatten die Bedrohung von draußen vor Augen. Edgar zuckte mit den Schultern und ging, einen Ausdruck der Resignation in den dunklen Augen, zu seinem Sessel zurück. Bony rief ins Funkgerät: »Mount Singular ruft! Lancefold bitte melden! Kalgoorlie bitte melden! Mount Singular ruft! Ruft dringend Kalgoorlie! Over.« Er schaltete auf Empfang, und eine tiefe Stimme sagte: »Kalgoorlie Basis, Mount Singular. Ich empfange Sie deutlich.« 176
»Inspector Bonaparte meldet sich aus Mount Singular, Kalgoorlie. Warten Sie einen Moment. Mrs. Weatherby, lassen Sie die Leute herein, bevor sie die Tür aufbrechen. Nur noch einen Augenblick, Kalgoorlie.« Bonys Schützlinge drängten, den Vormann vor sich herschiebend, in den Raum. Bony gebot mit erhobener Hand Ruhe. »Brennan, kommen Sie her. Die ändern bleiben noch einen Augenblick stehen. Sie, Mark, passen auf die Weatherbys auf, während ich nach Kalgoorlie berichte. Ich habe eine Nachricht für Sie, Kalgoorlie. Over.« Bony gab dem älteren Weatherby einen Wink, dann meldete der Lautsprecher, Kalgoorlie sei bereit. »Wir haben schon darauf gewartet, daß Sie mit uns Kontakt aufnehmen, Inspector.« Weatherby hantierte mit Schalter und Knöpfen, und Bony erwiderte: »Danke, Kalgoorlie. Geben Sie folgende Nachricht telefonisch an Superintendent Wyeth durch: Inspector Bonaparte berichtet, daß er mit Mrs. Myra Thomas und den folgenden Männern, die ihren Bewährungsauflagen nicht nachgekommen sind, in Mount Singular eingetroffen ist: Mark Brennan, Joseph Riddell, Clifford Maddoch und Edward Jenks. Trotz extremer Provokation bewahren die Männer bisher äußerste Zurückhaltung, aber die Situation könnte explosiv werden, und ich fordere so schnell wie möglich Verstärkung an. Haben Sie verstanden, Kalgoorlie? Over.« »Jedes Wort, Inspector. Halten Sie die Verbindung aufrecht.« Stille, und in dieser Stille traf die Reaktion ihn schwer. Seine Hoffnung, diese emotional hochexplosive Situation ohne Komplikationen meistern zu können, wurde durch Maddoch zerstört, der auf den jüngeren Weatherby deutete und rief: »Sie kenne ich! Sie sind der Mann, den ich im Zug getroffen habe, als ich zu meinem Bruder fuhr, der Mann, der mich auf dem Bahnsteig niedergeschlagen hat. Sie haben mich gekidnapped! Sie – Sie Verbrecher!« »He! He!« wieherte Jenks hinter einem Vollbart hervor, der wie ein runder Kaminbesen aussah. »Jetzt wissen wir also, wo wir sind, und wir wissen auch, wozu sie den Hubschrauber brauchen, den sie in der Höhle am Fuß der Klippe versteckt haben. Euch Verbrecher zu treffen, darauf habe ich schon lange gewartet!« »Jenks!« rief Bony scharf. 177
Jenks zuckte mit den Schultern, blieb aber auf dem Sprung, jederzeit bereit, zuzuschlagen. Er warf Bony und dann der Automatic einen wütenden Blick zu. Riddell meldete sich zu Wort: »Verdammt! Hör auf, dich aufzuspielen, und besorg uns lieber was zum Mampfen und Whisky. Für was anderes ist später noch Zeit genug.« »Eine Menge Zeit sogar«, unterstützte ihn Myra. »Wir werden nicht dulden, daß du den wilden Mann spielst, Jenks. Jetzt nicht mehr. Wir haben’s fast geschafft, und die hellen Lichter warten auf uns. Wenn wir diese Leute fertigmachen und das Haus verwüsten, landen wir nur wieder im Gefängnis. Benimm dich wie ein Erwachsener, Idiot!« »Geben Sie mir die Waffe, Inspector«, bat Brennan. »Sie haben zuviel von ’nem Gentleman, um mit ihm fertig zu werden. Ich stoppe Ted, während Sie noch überlegen, was Sie tun sollen. Kein verdammtes Gefängnis mehr für mich. Ich ertrage es nicht mehr.« »Sie bewachen das Radio, Mark«, befahl Bony. »Meine Damen, etwas zu essen und Kaffee oder Tee. Bitte. Hierher.« Die ältere Frau nickte und ging zur Tür. Myra Thomas lief hinter ihr her und jammerte: »Ich brauche ein Bad und saubere Sachen. Ich will …« Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stentorstimme: »Superintendent Wyeth für Inspector Bonaparte. Over an Mount Singular.« Bony ging zum Funkgerät und mußte sich eine Sekunde dem älteren Weatherby zuwenden. Diese Gelegenheit nutzte Jenks sofort. Der frühere Seemann wich Riddells Pranken aus, die ihn fassen wollten, und stürzte sich auf Edgar Weatherby, packte ihn an der Kehle und preßte ihn in den Sessel. Der Lautsprecher wiederholte ständig, daß Superintendent Wyeth Inspektor Bonaparte rufe. Riddell versuchte zwar, prompt zu handeln, das mußte man ihm zugestehen, aber der Aborigine-Vormann war schneller. Er hob einen Stuhl und knallte die Kante der Sitzfläche auf Jenks’ kugelrunden Schädel. Das rief Brennans Loyalität auf den Plan. Er stürmte an Bony vorbei und griff zusammen mit Riddell den Vormann an. Maddoch wartete ab. Dann packte auch er einen Stuhl, fiel plötzlich zu Boden, drehte sich auf den Bauch und begann vor Wut zu weinen. Die jüngere Mrs. Weatherby schrie gepeinigt. Ihr Mann streichelte seinen verletzten Hals, und Superintendent Wyeth rief immer noch nach Inspector Bonaparte. Da die beiden Weißen in schlechter körperlicher Verfassung waren, ging 178
im Raum allerhand zu Bruch, bevor es ihnen gelang, den Schwarzen einzuschläfern. »Over auf Mount Singular!« befahl Bony. »Inspector Bonaparte am Mikro, Superintendent. Ich wurde leider ein bißchen aufgehalten und konnte nicht sofort zurückrufen. Schicken Sie mir Verstärkung, so schnell es irgend geht. Bitte halten Sie fest: Die Personen, die ich in meiner ersten Nachricht an Sie aufgezählt habe, wurden von den Weatherbys jahrelang in unterirdischen Höhlen am nördlichen Ende der Ebene gefangengehalten. Motiv – nicht von dieser Welt, aber akzeptabel. Ich bin sehr froh, berichten zu können, daß sie sich vorbildlich verhalten haben und es weiterhin tun. Sie verdienen jede nur erdenkliche Nachsicht. Over.« »Was für eine Geschichte, Bonaparte! Was für eine Geschichte! Uns liegen noch drei Namen vor: Fiddler, Mitski und Dr. Havant. Sind sie auch beteiligt?« »Ja. Fiddler und Mitski sind tot. Havant haben wir in den Höhlen zurückgelassen, weil er nicht kräftig genug war, um zweihundert Meilen über die Ebene zu marschieren.« »Große Sache, Bonaparte. Konspirative Verschwörung?« »Sehr gut organisiert. Es wäre klug, die Presse vorläufig nicht zu informieren und abzuwarten. Der Geheimdienst hat nichts damit zu tun. Es ist ganz unser Fall. Over.« »Gut. Der Mann aus Rawlinna ist schon unterwegs, und mit Easter setzen wir uns in Verbindung, er soll sofort aufbrechen. Ich komme mit einer Chartermaschine, sobald es hell genug ist und der Pilot eine ungefährliche Landung wagen kann. Sagen Sie den Leuten in Ihrer Begleitung, daß wir Ihren Bericht über sie selbstverständlich berücksichtigen werden und daß sie nichts zu befürchten haben. Perth wartet auf mich. Bleiben Sie auf Empfang.« Brennan sah Bony lächelnd in die kalten blauen Augen. »Danke, daß Sie’s für uns ein bißchen beschönigt haben.« »Wir haben noch ein paar Stunden vor uns, Mark. Ist Jenks tot? Und der Aborigine?« »Der Abo vielleicht. Aber keine Stuhlkante könnte Jenks umbringen. Was für ein Mann!« »Joe! Wo ist Riddell?« »Sieht sich nach was zu essen um, denke ich. Konnte es nicht mehr erwarten.« 179
»Rufen Sie ihn.« Brennan ging zur Tür und rief. Riddell kam, an einer Hammelkeule kauend, herein. Bony seufzte. »Setzen Sie sich, Joe, und passen Sie auf die beiden Männer auf. Mark, suchen Sie irgendwas, womit ich Jenks fesseln kann, und machen Sie bitte schnell. Ich muß mich um Clifford kümmern, er scheint total fertig zu sein.« Mit einer Dankbarkeit, die er sich keineswegs anmerken lassen wollte, saß Bony entspannt da, aß Sandwiches und trank heißen Kaffee. Er hatte das Gefühl, daß er die Situation endlich wirklich im Griff und die Leute strategisch so gut verteilt hatte, daß er gelassen abwarten konnte, bis die angeforderte Verstärkung eintraf. Maddoch schlief völlig erschöpft auf dem Sofa. Riddell nagte noch immer an seiner Hammelkeule. Brennan war der Hans Dampf der ganzen Gesellschaft und fütterte Jenks, der mit gefesselten Händen und Füßen auf dem Boden saß, mit Sandwiches. Der Aborigine-Vormann war zwar noch bewußtlos, aber trotzdem gefesselt. Die beiden Frauen und ihre Männer saßen reglos da und brüteten finster vor sich hin. Nur Myra Thomas war nicht da. Nach einer Weile stand die jüngere Mrs. Weatherby auf und zog ihren Stuhl so nahe an Bony heran, daß ihre Knie fast die seinen berührten. Ihr Mann machte einen Versuch aufzustehen, winkte dann resigniert ab und begann geistesabwesend seine Pfeife zu stopfen. Mrs. Weatherbys dunkle Augen forschten in Bonys Gesicht. »Habe ich richtig gehört, Inspector? Ist Igor Mitski tatsächlich tot?« »Ja.« »Das macht mich sehr froh, Inspector. Sie wissen natürlich, daß er meine kleine Tochter umgebracht hat.« Bony nickte. »Er hat sie mit der Faust geschlagen. Dann hat er sie bei den Füßen gepackt, hochgehoben und herumgeschwungen, so daß ihr Kopf an einem Torpfosten zerschmetterte. Findet so etwas Ihre Billigung?« »Selbstverständlich nicht, Mrs. Weatherby. Aber ich glaube, die Einzelheiten stimmen nicht ganz. Was meinen Sie, Mark?« »Sie stimmen so ziemlich, Inspector. Eine Dame hat immer recht und so weiter.« »Sie haben mir die Geschichte aber anders erzählt, Brennan.« 180
»Das hat er meiner kleinen Mayflower angetan, Inspector«, fuhr Mrs. Weatherby mit leiser Stimme fort, aber ihre Augen waren hart geworden, und ihre schmalen Nasenflügel bebten. »Jean! Laß den Inspector jetzt in Ruhe. Wir dürfen uns bestimmt hinlegen, bis alles vorbei ist. Bitte, Inspector.« »Ja, gehen Sie nur«, sagte Bony. Aber Mrs. Edgar Weatherby sprang auf, ein Damm schien in ihr zu bersten, und ihre Worte wurden zu schrill herausgeschrienen Sätzen. »Nein! « schrie sie. »Nein, ich bleibe! Es war von Anfang an meine Idee, und ich übernehme die ganze Verantwortung. Ich bin die Mutter des ermordeten Kindes. Ich habe meinen Mann dazu überredet, Gerechtigkeit zu üben. Hören Sie mir jetzt gut zu, Sie alle, denn nach heute abend werde ich nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit verlieren; auch mein Mann, meine Schwester und ihr Mann nicht.« Bony merkte, wie sehr sie sich bemühte, ihre Beherrschung wiederzugewinnen. Ihre Gesichtsmuskeln arbeiteten, und der Mund über dem energischen Kinn spannte sich. »Ihnen zu sagen, was in diesem Land vorgegangen ist – und ganz besonders in den Staaten, die von einer ungeordneten Verwaltung regiert werden –, hieße wohl, Eulen nach Athen zu tragen, Inspector. Wir alle wissen, daß es in Australien eine immer größer werdende Gruppe von Menschen gibt, die dem Verbrechen völlig gleichgültig gegenübersteht, und eine zweite Gruppe, die mit Mördern buchstäblich sympathisiert. Beweis: Als Myra Thomas freigesprochen wurde, wurde sie vor dem Gerichtsgebäude von einer jubelnden Menge erwartet. Unser Ziel ist Gerechtigkeit. Wir müssen das Urteil akzeptieren, das ein Richter vor einem ordentlichen Gericht spricht, aber die Gerechtigkeit wird in den Schmutz getreten, wenn eine Bande von Politikern diese Urteile untergräbt und die Mörder begnadigt, lange bevor sie ihre Strafe abgesessen haben. Sie untergraben die Gerechtigkeit und verhindern, daß ihr Genüge getan wird – und das nur, um selbst populär zu werden. Sie leisten Männern und Frauen Vorschub, die zwar Mordlust im Herzen tragen, aber zu feige sind, tatsächlich zu töten. Sie leisten Leuten Vorschub, die das Gesetz mißachten, die Polizei und alles hassen, was ihren verbrecherischen Absichten Fesseln anlegt. 181
Ihn zu hängen war für den Mörder meiner kleinen Tochter zu drastisch; zu grausam für den Mörder des jungen Brautpaars; zu heidnisch für den Mörder des Farmers, der dagegen protestierte, daß sein Vieh gequält wurde; undenkbar für den Gattenmörder; zu gewalttätig für den Engelmacher. Zwölf Jahre haben sie dem Mörder meines Kindes gegeben. Dann kamen die Politiker auf Stimmenfang und begnadigten ihn schon nach elf Jahren. Mark Brennan sollte nie wieder freigelassen werden; aber dieses Urteil wurde aufgehoben; Maddoch und die anderen wurden aus den Gefängnissen entlassen ohne Rücksicht auf das Urteil einer kompetenten Jury. Gestern – Tod. Heute – ein paar Jahre Gefängnis. Morgen – höchstens noch ein paar Monate.« »Heute – eine Mitgliedschaft«, sagte Mark Brennan. Mrs. Weatherby drehte sich um und starrte ihn an. »Die Welt verrottet, ihre Maßstäbe sind faulig, weil sie von machtbesessenen Männern regiert wird«, fuhr sie fort. »Mein Mann, meine männlichen Verwandten, lehnen sich zurück, jammern und tun nichts. Also mußte ich handeln, Inspector. Ich mußte den Stimmen gehorchen und den Opfern Frieden geben. Ich werde die Namen meiner Helfer nicht nennen; Beweise werden Sie nie finden. Wir haben sogar im Justizministerium Leute gefunden, die uns unterstützt und uns gesagt haben, wann ein Mörder entlassen werden sollte. So konnten wir ihm auflauern und ihn in die Höhlen bringen. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Es ist alles, was ich je sagen werde.« Im Raum war es sehr still. Die Frau mit dem energischen Kinn und den gehetzten Augen schaute Bony weiterhin unverwandt an. »Wie lange wollten Sie die Leute in diesen Höhlen gefangenhalten?« fragte Bony. »Bis zu ihrem Tod.« Als sie sich ihrer Schwester zuwenden wollte, kam eine junge, in elegantes Weiß gekleidete Frau herein – Myra Thomas. »Und jetzt möchte ich etwas essen«, verkündete Myra. Die beiden Weatherby-Frauen gingen an ihr vorbei zur Tür, ohne einen einzigen Blick an sie zu verschwenden. Sie verloren über einen Menschen wie Myra Thomas kein Wort.
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Wirklich verdienstvoll
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u grüne Neune!« rief Jenks. »Guckt sie euch doch an, unsere Lady Myra!« »Sieht so aus, als ob ich etwas versäumt hätte«, sagte sie zu Bony. »Bitten Sie jemanden, mir etwas zu essen und zu trinken zu bringen. Ich bin halbtot vor Hunger.« »In der Küche gibt’s haufenweise Essen«, knurrte Riddell. »Verschwinde, und iß gefälligst draußen, Myra. Hier drin sind Weiber nicht erlaubt.« »Steht die Leitung nach Kalgoorlie noch?« fragte sie Bony, und als er nickte: »Hat sich die Presse schon gemeldet?« »Nein. Gehen Sie, und holen Sie sich Ihr Abendessen selbst. Und ich hätte gern noch Kaffee.« »Sie haben Nerven, Inspector! Ich bin kein Dienstbote.« Die fast violetten Augen funkelten vor Zorn, aber das sorgfältig zurechtgemachte Gesicht verriet keinerlei Emotionen. »Bringen Sie für alle Kaffee, Myra«, sagte Bony. »Wir müssen noch lange hier warten. Und Sie könnten auch nachsehen, ob die beiden Damen in ihren Zimmern sind. Versuchen Sie sich zur Abwechslung einmal nützlich zu machen.« »Und bring gleich auch Schnaps für den Schwarzen mit, faules Stück«, befahl Jenks. »Er kommt langsam aus dem Traumland zurück.« Der Aborigine stöhnte, und Jenks sagte: »He, Inspector, wie war’s, wenn Sie mir die Stricke abnehmen würden? Ich werde ruhig sein. Geb Ihnen mein Wort.« Myra brachte den Kaffee. Bony half dem Vormann, sich aufzusetzen und überzeugte sich, ob er in Ordnung war. Er drehte Jenks eine Zigarette, schob sie ihm zwischen die Lippen. Von da an saßen sie nur herum und warteten. 183
Riddell und Brennan schliefen, der ältere Weatherby schien zu dösen, und Myra Thomas war in eine Zeitschrift vertieft, als der Lautsprecher sich wieder meldete: »Superintendent Wyeth fliegt jetzt ab, Inspector Bonaparte, und wird bei Tagesanbruch landen. Ich soll Ihnen auch noch ausrichten, daß Sie Sergeant Easter gegen vier Uhr und Sergeant Lush aus Rawlinna eine Stunde später erwarten können. Over.« »Danke, Kalgoorlie. Hier ist alles ruhig. Over.« Zwanzig vor vier hörten sie den Jeep, und ein paar Minuten später kam Sergeant Easter durch die Verandatür herein. Bony stand auf und ging ihm entgegen. Easter brauchte ein paar Sekunden, bis er ihn erkannte. »Constable Easter!« rief Myra. »Wie ich mich freue, Sie kennenzulernen. Ich bin Myra Thomas. Darf ich Ihnen Kaffee und Sandwiches bringen?« Easter war erschüttert, trug es jedoch wie ein Mann. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Mrs. Thomas.« Er musterte die anderen, runzelte die Stirn, als er den Aborigine und Jenks erblickte, die noch immer gefesselt waren, sah Bony eine volle Sekunde lang in die Augen und setzte sich dann. »Man hat mir nur gesagt, daß Sie hier eingetroffen sind und Unterstützung brauchen, Inspector.« Bony schilderte ihm seine Abenteuer von dem Moment an, als sie sich vor dem Zaun der Heimstätte getrennt hatten. Mit ernster Höflichkeit nannte er ihm die Namen derer, die er aus den Höhlen mitgebracht hatte, und berichtete in groben Umrissen, was Mrs. Edgar Weatherby ihnen erzählt hatte. Easter war noch schwerer erschütten, verhielt sich jedoch wie ein echter Polizeibeamter. Bony hätte ihm genausogut ein Märchen erzählen können. »Bevor wir herkamen, Easter«, fuhr er fort, »haben wir ganz zufällig und ohne Schwierigkeiten eine Höhle entdeckt, in der der Helicopter versteckt ist, dann haben wir ebenfalls ganz zufällig – den Vormann getroffen und mitgenommen. Wo Mr. Weatherby das Fluggerät erworben und wie er es unbemerkt hierhergebracht hat, können wir später ermitteln. Wahrscheinlich war er im Krieg selbst Pilot. Zwei andere Fragen können wir sofort klären, nachdem Sie einen Happen gegessen haben. Da Sergeant Lush bald hier aufkreuzen wird, könnten wir vielleicht reinen Tisch machen, während Sie essen – und das im doppelten Sinn.« »Das ist eine gute Idee, Inspector. Ich bin bereit.« 184
»Riddell! Brennan! Seht zu, daß ihr den Aborigine auf die Beine kriegt.« Sie zerrten den Vormann in die Höhe. Er war sehr verängstigt. »Du bist Medizinmann«, stellte Bony fest, und das Weiß der schwarzen Augen weiteten sich. »Als ich mit den Kamelen aufgebrochen bin, hat man dir befohlen, mir zu folgen? Sag mir die Wahrheit. Du brauchst nichts zu befürchten. Wie weit bist du mir nachgegangen?« »Bis zum Wasserloch. Sammy Pickup hat Kamele draußen auf der Ebene gesehen. Er hat’s dem Boß erzählt.« »Und der Boß hat dir gesagt, du sollst ’dich hinsetzen und mit dem Medizinmann reden?« »Ja. Das ist richtig. Boß hat gesagt, daß ich mit dem LuritjaMann reden soll.« »Und worüber solltest du reden? Was hat dir dein Boß gesagt?« Der Medizinmann sah zu den Weatherbys hinüber, aber der ältere schlief noch, und der jüngere betrachtete seine Schuhe. »Du sammelst also kleine Stöckchen und reibst mit deinem Churingastein deinen Zauber hinein«, sagte Bony, und der Aborigine nickte mit strahlendem Gesicht. »Du machst Feuer mit den kleinen Stöckchen und setzt dich an dieses Feuer, und bald darauf verläßt dich dein Geist und fliegt durch die Luft, um sich mit dem Geist des Luritja-Mannes zu treffen. Was hast du ihm gesagt?« »Ich hab’ ihm erzählt, daß du in die Wüste gehst und Fallen von Patsy Lonergan suchst. Der Boß wollte, daß der LuritjaMann in deiner Nähe bleibt. Wenn du die weißen Männer findest, muß er dich zu ihnen hinunterschicken und alles, was du hast, aber nicht dein Gewehr und das Packleinen. Luritja sagt ›in Ordnung‹. Er sagt, wenn die Flugmaschine kommt, sollen die Männer viel Tabak und Proviant an denselben Ort legen. Das hab’ ich dem Boß gesagt.« »Sehr gut«, sagte Bony. »Du kannst gehen. Löst seine Fesseln.« Myra Thomas packte Bony am Arm. »Ist das wahr? Ist diese Art der Verständigung wirklich möglich?« »Für mich ist es wahr, Myra«, erwiderte er. »Aber was für eine Geschichte! Was wird das für ein Script!« Sie drehte sich um, lief zum älteren Weatherby und rüttelte ihn wach. »Papier«, forderte sie. »Ich brauche Schreibpapier, schnell. Und einen Bleistift.« 185
»Hab’ ich recht gehabt?« fragte Easter, und Bony lächelte zustimmend. »Jetzt kommen wir zu Edward Jenks«, sagte Bony. »Stellt ihn bitte auf die Beine.« Brennan und Riddell stützten ihn. Maddoch, der aufgewacht war, und Myra mit Schreibblock und Bleistift kamen hinzu. »Edward Jenks, Constable Easter wird Sie wegen Mordes an Igor Mitski verhaften. Meine Pflicht ist es, alle erforderlichen Beweise zu erbringen, um die Anklage hieb- und stichfest zu machen. Riddell hat ausgesagt, daß er glaubt, gesehen zu haben, wie Maddoch Mitski mit einem Stein erschlug. Aber die Lage der tödlichen Kopfverletzung schloß aus, daß ein Mann, der so viel kleiner war als das Opfer, den Schlag ausgeführt haben konnte. Sie sind zwar nicht viel größer als Maddoch, aber Sie sind sportlich. Sie können sehr hoch springen, wie wir alle oft beobachtet haben. Sie sind einfach hochgesprungen und haben Mitski den Felsbrocken auf den Kopf geschmettert, denn im Sprung waren Sie mit Ihrem Opfer auf gleicher Höhe.« »Also damit kommen Sie nicht durch, Inspector«, höhnte Jenks. »Bevor Sie Mitski getötet haben, Jenks, hatten Sie das Bild eines Hühnerhofs mit nur einer Henne, aber vielen Gockeln vor Augen, und Sie planten, Ihre Rivalen auszuschalten – einen nach dem anderen. Als Sie mich erkannten, erschien Ihnen dieser Plan nicht mehr so attraktiv.« »Erstens haben Sie keine Zeugen«, erklärte Jenks. Er faßte die drei entlassenen Mörder ins Auge, und Bony sah, daß sie nickten. »Das könnte ein Irrtum sein, Jenks«, sagte er kalt. »Weil Sie meinen Ruf kennen, hatten Sie, als Sie mich erkannten, das Gefühl, den Felsbrocken, mit dem Sie Mitski erschlagen haben, irgendwie loswerden zu müssen. Die Gelegenheit kam, als ich Sie bat, zusätzliche Lampen zu bringen, die Sie aus der Küche holen mußten. Da haben Sie den Stein auf Myras Bett geworfen, um sie zu belasten. Warum? Weil sie zuerst mit Ihnen geflirtet hatte und Sie dann abblitzen ließ?« »Du Ungeheuer!« fauchte Myra. »Ich werde gegen dich aussagen und die anderen ebenfalls, sonst …« Jenks wurde formell verhaftet, und Easter las ihm seine Rechte vor. Ein bißchen später zog Riddell Bony beiseite und sagte: »Wir haben’s jetzt hinter uns, Inspector. Was in diesen Höhlen geschehen ist, zählt nicht mehr. Es tut mir leid …« 186
»Ich glaube, ich verstehe, Riddell. Loyalität unter Mördern kann stark sein. Ich könnte dagegen angehen, aber ich sage Ihnen jetzt etwas, was Sie nicht wissen. Jenks hat versucht, Myra zu belasten, indem er den Stein auf ihr Bett legte, und eine solche Tat erlaubt es uns nicht, loyal zu sein. Ich hätte euch alle unter dem Verdacht der Komplizenschaft festnehmen können.« Riddell zuckte mit den Schultern, und Maddoch sagte: »Sie könnten, aber Sie werden es nicht tun, Inspector. Wir haben das Spiel gespielt. Sie würden sich nicht an uns schadlos halten.« »Wieso sollte er sich an uns schadlos halten?« unterbrach ihn Brennan. Maddoch erklärte, was er meinte. »Sie nicht, Inspector. Erst vor einer Stunde, als Jenks auszubrechen drohte, habe ich Ihnen gesagt, daß Sie zu sehr Gentleman sind. Sie tun Ihre Arbeit und sind ziemlich hart. Aber so hart, daß Sie uns alle wieder in den Knast schicken – so hart sind Sie nicht. Wissen Sie was?« »Was denn, Mark?« fragte Bony lächelnd. »Zwischen uns war alles in Ordnung, bevor das Miststück zu uns gekommen ist. Wir haben sie nie zum Mitglied gemacht, müssen Sie wissen. Wir mußten irgendwo eine Grenze ziehen.« Von draußen kam ein Geräusch, das schnell lauter und zu einem leisen Dröhnen wurde. »Jetzt werden gleich noch mehr Plattfüße hier erscheinen. Man wird sich hier bald nicht mehr rühren können, so viele werden es sein. Bleiben wir in Verbindung, Inspector, später, meine ich?« »Aber ja. Warum nicht?« »Hurra! Sobald wir den alten Doc Havant wiederhaben, muß die Vereinigung alljährlich ein Treffen veranstalten. Kommen Sie dann auch?« »Nun ja, ich nehme an, es ist meine Pflicht, weil ich nun einmal Mitglied bin«, stimmte Bony zu. Er nahm den kleinen, flachen Stein aus der Tasche, in den Brennan die Mitgliedschaft eingraviert hatte. Easter kam und schaute ihm über die Schulter und wollte wissen, was die Buchstaben bedeuteten. »Die Ehrenmitgliedschaft der Vereinigung entlassener Mörder«, sagte Bony. »Die habe ich mir wirklich verdient, Easter.«
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