Nr. 156
Zonen des Schweigens Der Kristallprinz in der Zeitstation unter lebenden Toten von H. G. Ewers
Im Großen Impe...
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Nr. 156
Zonen des Schweigens Der Kristallprinz in der Zeitstation unter lebenden Toten von H. G. Ewers
Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Arkon steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III, ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII töten ließ, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können. Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Gegner hat der Imperator von Arkon besonders zu fürchten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben und Kristallprinzen des Reiches, der nach der Aktivierung seines Extrahirns den Kampf gegen die Macht Orbanaschols aufgenommen hat und den Sturz des Usurpators anstrebt. Im Zuge dieser gegen Orbanaschol gerichteten Unternehmungen gelang Atlan und seinen verschworenen Gefährten erst jüngst ein großer Coup. Sie kaperten die KARRETON und befreiten Ra, den mysteriösen Barbaren vom grünen Planeten. Jetzt sind Atlan und seine Getreuen erneut im Weltraum unterwegs – auf der Jagd nach dem legendären Stein der Weisen, hinter dem auch Orbanaschols Leute her sind. Die Spur dieses Kleinods der Macht hat Atlan zum 30-Planeten-Wall geführt, zum »Ring des Schreckens«. Von Planet zu Planet und von Abenteuer zu Abenteuer hetzend, gelangt der Kristallprinz schließlich in die Zeitstation – und in die ZONEN DES SCHWEIGENS …
Zonen des Schweigens
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Kristallprinz wagt sich in die Zonen des Schweigens. Fartuloon und Ra - Atlans Begleiter. Dovreen - Hüter des 30-Planeten-Walls. Riik - Anführer der Arphas. Torrelion - Beherrscher einer Zeitstation. Vorry - Ein Eisenfresser.
1. Aus dem bleifarbenen Nebel hallten die Schreie Verzweifelter. Fartuloon, Ra und ich standen auf einem unsichtbaren Boden und verfolgten mit den Augen eine nur schemenhaft erkennbare Gestalt, die durch die Nebelschwaden tappte. Die Gestalt hatte ungefähr das Aussehen eines Naats, aber der Schädel war, soweit wir das erkennen konnten, nicht der eines Zyklopen, sondern glich eher dem eines riesigen Insektenabkömmlings. Außerdem befanden sich nicht nur an der Stirnseite zwei Augen, sondern auch an der Rückseite des Kopfes. Bevor wir weitere Einzelheiten ausmachen konnten, war das seltsame Wesen wieder in den treibenden Nebelschwaden untergetaucht. Ich wandte mich an Fartuloon. Mein Pflegevater war weit in der Galaxis herumgekommen, und hatte die Vertreter zahlloser intelligenter Völker kennengelernt. »Hast du erkannt, aus welchem Volk das Wesen stammt?« erkundigte ich mich. Fartuloon blickte mit gerunzelter Stirn in das bleigraue Wogen und Wallen, das das seltsame Wesen verschlungen hatte. Seine rechte Hand legte sich um den Griff des Skargs, während seine linke Hand ein mir unbekanntes Zeichen in die Luft schlug. »Nein, Atlan«, antwortete er zögernd. »Aber hast du bemerkt, daß seine Bewegungen ungewöhnlich langsam waren und es offenbar Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren?« Das war mir ebenfalls aufgefallen, doch ich hatte es nur am Rande registriert, ohne
zu versuchen, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. »Hm!« machte ich deshalb nur. Mein Blick fiel auf Ra. Der Barbar von der dritten Welt einer gelbweißen Sonne stand leicht geduckt da und starrte mit verkniffenem Gesicht in die Richtung, in der das seltsame Wesen verschwunden war. Ich gewann den Eindruck, als hätte er so etwas nicht zum ersten Mal gesehen, doch als ich ihn danach fragte, schüttelte er nur stumm den Kopf. Das konnte bedeuten, daß mein Eindruck falsch gewesen war; es konnte aber auch bedeuten, daß Ra nicht über das Thema sprechen wollte. Er sprach überhaupt äußerst wenig, unser Steinzeitwilder. Da ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihn zu einer Aussage zu drängen, ließ ich das Thema fallen. Wir hatten außerdem andere Sorgen am Hals. Wieder einmal befanden wir uns im Innern jener geheimnisvollen Silberkugel, die sich im Besitz des Weisen Dovreen befand, und wie beim erstenmal, so wußten wir auch diesmal nicht, was diese Silberkugel eigentlich war, ein Raumschiff oder eine Energieblase, die außerhalb von Raum und Zeit existierte. Fartuloon seufzte, schlug Ra leicht auf den Rücken und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber was immer er hatte sagen wollen, er sprach es nicht aus, denn in diesem Augenblick riß über uns der Nebel auf. Wieder einmal bildete sich eine Art Fenster oder auch Bildschirm. Wir sahen Dunkelheit und darin eingebettet einige helle Lichtpunkte: Sterne. Aus dem Nebel ertönten Entsetzensschreie. Wir hatten das alles schon erlebt, deshalb wußten wir, daß das »Fenster« die baldige Ankunft auf einem weiteren Planeten des
4 Dreißig-Planeten-Walls ankündigte – auf einer weiteren Station der endlosen Reise durch den Ring der tausend Schrecken. Für kurze Zeit waren schemenhafte Gestalten erkennbar, die durch den Nebel flüchteten. Fartuloon, Ra und ich wurden wieder von dem Hauch des Grauens angeweht, aber wir beherrschten uns und verzichteten auf eine kopflose Flucht. Sie wäre auch sinnlos gewesen, da nach all unseren Erfahrungen niemand, der sich in der Silberkugel befand, seinem Schicksal entgehen konnte, wenn es den unbekannten Mächten gefiel, ihn auf einem anderen Planeten auszusetzen. Wir beobachteten aufmerksam. Bald wanderte ein großer Sonnenball in das Fenster. Auch dieser Anblick war inzwischen vertraut. Es handelte sich um das Zentralgestirn des Dreißig-Planeten-Walls. Der Name »Muttergestirn« wäre nicht zutreffend gewesen, da dieses System zweifellos nach dem Plan intelligenter Lebewesen in seiner heutigen Art entstanden war. Wie erwartet, wanderte der Sonnenball schon nach wenigen Minuten wieder aus dem Fenster und wurde durch einen Planeten ersetzt. Der Planet schwoll rasch an, was wiederum den Eindruck erweckte, als befänden wir uns an Bord eines schnellen Raumschiffs, das den Planeten anflog. Wir zogen unwillkürlich unsere Köpfe ein, als ein riesiges Flugtier mit heftig schlagenden Hautflügeln dicht über uns hinwegflog und dabei schrille Schreie ausstieß. Ein starker Luftzug durchwühlte mein Haar. Der Planet im Fenster drehte sich wie in Zeitlupe, während er immer weiter anschwoll und bald das ganze Fenster ausfüllte. Plötzlich wanderte ein Streifen Dunkelheit von oben nach unten und verschlang die Seite des Planeten, die uns zugewandt war. Es wurde finster. Dort unten herrschte Nacht. Das bedeutete, daß wir diesmal auf einem Planeten landen würden, der sich zur Zeit auf der dem galaktischen Zentrumskern abgewandten Seite seiner Sonne befand. An-
H. G. Ewers dernfalls wäre die eine Hälfte von der Sonne und die andere vom Zentrumsleuchten erhellt worden. Die Nacht, auf die wir zurasten, verhinderte, daß wir die Entfernung abschätzten und damit die Zeit bis zur Landung, die erfahrungsgemäß mit einem heftigen Ruck erfolgen würde. Als der Ruck kam, waren wir darauf vorbereitet. Keiner von uns fiel um. Sekunden später formte sich in dem bleigrauen Nebel vor uns ein bläulich leuchtender Ring von etwa zehn Metern Durchmesser. Der Nebel innerhalb des Ringes verflüchtigte sich – dahinter loderten Feuer in einer nächtlichen Landschaft. Die Feuer waren stark genug, um uns erkennen zu lassen, daß wir abermals in einer Parklandschaft gelandet waren. Sogar der offenbar obligatorische Pavillon war zu sehen, und um die Feuer bewegten sich halbnackte, bronzehäutige Gestalten. Doch etwas war eigenartig daran. Die Flammen der Feuer bewegten sich nicht wie normale Flammen. Sie flackerten nicht, sondern stiegen unendlich langsam hoch – und auch die Lebewesen, die um die Feuer tanzten, bewegten sich so langsam, als wateten sie durch Sirup. »Eigenzeitverlangsamung!« entfuhr es mir. Fartuloon grunzte. »Ein Vorteil für uns«, kommentierte er. »Wesen mit verlangsamter Eigenzeit können uns nicht gefährlich werden. Gehen wir!«
* Niemand ist gegen einen Irrtum gefeit. Wir merkten es wenig später, nachdem wir das »Tor« durchschritten hatten und unsere Füße sich über das weiche Gras des Parks bewegten. Fartuloon stieß einen Fluch aus, der geeignet gewesen wäre, unreife Paradiesfrüchte augenblicklich erröten zu lassen. Ich fluchte nicht, obwohl ich ebenfalls alles andere als erfreut war, als ich merkte,
Zonen des Schweigens daß die Flammen plötzlich ganz normal emporloderten und die Bewegungen der Eingeborenen ebenfalls mit normaler Geschwindigkeit abliefen. Wie mein Pflegevater glaubte ich nämlich nicht daran, daß der Eigenzeitablauf vor uns sich plötzlich normalisiert hatte. Es war wahrscheinlicher, daß das, was bei den Eingeborenen eine Verlangsamung des Zeitablaufs bewirkte, auch unseren Zeitablauf verlangsamt hatte. Allerdings fehlte noch der Beweis dafür. Er ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Aus dem von den Flammen angestrahlten Pavillon eilten zwei Personen. Sie eilten, obwohl sie sich so bewegten, als gingen sie ganz normal. Aber ihre ganz normalen Schritte erfolgten mit mindestens doppelter Geschwindigkeit – relativ zu uns. Das war der Beweis dafür, daß wir drei dem langsamen Zeitablauf dieser Welt angepaßt worden waren, während die beiden Gestalten aus dem Pavillon ihre normale Eigenzeit behalten hatten. Als die beiden Personen näher kamen, erkannte ich in einer von ihnen den Weisen Dovreen. Das Dunkeln in Fartuloons Augen verriet mir, daß der Bauchaufschneider ihn ebenfalls identifiziert hatte. Die zweite Person war eine Frau – eine sehr schöne Frau übrigens, die hochmütig über uns hinwegsah. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als Ra einen Schritt vortrat und schrie: »Ischtar!« Seine Augen hefteten sich auf die Frau neben Dovreen. Doch im nächsten Augenblick senkte er enttäuscht den Kopf. Es war wohl doch nicht Ischtar, die den Weisen begleitete. Aber Ras Aufschrei hatte auch auf Dovreen gewirkt. Der Weise stockte mitten in einem schnellen – für uns zu schnellen – Schritt, wandte den Kopf und blickte zu uns herüber. Ich sah, daß sich in dem Gesicht, das der Doppelgesichtige uns zuwandte, eine Veränderung vorging. Die überhebliche, ja ver-
5 ächtliche Miene, mit der er uns bisher entgegengetreten war, bröckelte förmlich ab. Darunter kam ein beinahe devoter Zug zum Vorschein. Als Dovreen sich uns näherte, bewegte er sich absichtlich langsam, so daß es den Anschein erweckte, als hätte er sich unserem verlangsamten Zeitablauf angeglichen. Wenige Schritte vor dem Barbaren blieb Dovreen stehen und fragte: »Du kennst den Namen der letzten Königin der Varganen?« Ich musterte Ra eindringlich, hoffte, daß er antworten würde. Er kannte Ischtar ja tatsächlich, hatte sie geliebt, und sie hatte ihn zumindest sehr gern gehabt. Wenn er das aussagte, konnte das für uns nur zum Vorteil sein. Aber Ra hatte seinen Anflug von Beredsamkeit schon wieder überwunden. Sein Gesicht wirkte verschlossen, und er blickte stumm über den Weisen hinweg. »Er kannte Ischtar sehr gut«, sagte ich, bemüht, wenigstens etwas zu retten. Doch Dovreen beachtete mich überhaupt nicht. Lange blickte er den Wilden schweigend an, als könnte er aus seinem verschlossenen Gesicht etwas herauslesen, dann wandte er sich wieder um, kehrte zu der Frau zurück, und beide verschwanden wieder im Pavillon. Fartuloon warf Ra einen finsteren Blick zu und sagte grillend: »Du hast wahrscheinlich eine gute Chance verspielt, Ra. Warum konntest du dem Doppelgesichtigen nicht antworten?« Ra erwiderte nichts darauf. Um seine Mundwinkel bildete sich ein versonnener Zug. Wahrscheinlich dachte er an seine schönen Stunden mit Ischtar zurück. Ich konnte es ihm in gewisser Weise nachfühlen, aber das hieß nicht, daß ich froh über seine Schweigsamkeit gewesen wäre. Erinnerungen mochten noch so schön sein, aber in erster Linie mußte man doch den Realitäten gerecht werden. Ich musterte wieder die Gestalten, die um das nächste Feuer tanzten. Es handelte sich
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um Männer und Frauen, deren Körperbau absolut humanoid war, wenn auch gedrungener als der Körperbau von Arkoniden. Sie beachtete uns nicht, sondern schienen sich ganz ihrem Tanz hinzugeben. Mir war es nur recht. Ich war froh, wenn wir einmal nicht gegen andere intelligente Wesen kämpfen mußten. Meiner Meinung gab es nichts Sinnloseres als den Kampf intelligenter Wesen gegen intelligente Wesen. Das Universum stellte eine so große und bedrohliche Herausforderung dar, daß sich eigentlich alle Intelligenzen verbrüdern sollten, um diese Herausforderung annehmen zu können. Diese Einsicht mußte sich eines Tages durchsetzen, wenn der Sinn intelligenten Lebens nicht völlig verfehlt sein sollte. Meine Überlegungen wurden unterbrochen, als Dovreen abermals den Pavillon verließ. Wieder bewegte er sich normal – relativ zu uns. Entweder war der Zeitablauf auf diesem Planeten allgemein wieder normalisiert worden, oder der Weise hatte sich dem verlangsamten Ablauf vorübergehend angepaßt. Dovreen trug einen ovalen Behälter in den Händen, dessen Oberfläche aussah, als bestünde sie aus grauem Stahl. Doch das war nicht das Wesentliche daran. Wesentlich erschien mir die funkelnde Aura, die diesen Behälter umgab – und der feierliche Gang, mit dem Dovreen sich uns nahte. Ich ahnte, daß er uns etwas überreichen wollte, das uns weiterhelfen konnte auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Und meine Ahnung betrog mich nicht. Drei Schritte vor mir blieb der Weise Dovreen stehen. Er blickte mich ernst an, dann klappte er den Deckel des Behälters zurück und hielt den Behälter schräg, so daß ich sehen konnte, was sich darin befand. Es war die Silberkugel, aus der Fartuloon, Ra und ich erst vor kurzem gekommen waren, jene nebelerfüllte Schreckenswelt, in der die verschiedenartigsten Lebewesen umherirrten.
*
Dovreen trat näher an mich heran. »Diese Kugel birgt Leben und Tod, Schrecken und Freude, Sieg und Niederlage«, sagte er dumpf. »Dem Würdigen aber kann sie den Weg zum Stein der Weisen zeigen. Sie wird euch auf ihre besondere Art leiten, und der Stein der Weisen wird euch das ewige Leben schenken, wenn ihr alle eure Handlungen von Weisheit lenken laßt. Aber der Weg zum Stein der Weisen ist noch lang und führt über einen schmalen Grat, neben dem die Abgründe der Finsternis lauern.« Er streckte mir den Behälter entgegen, und ich griff zu. Wie in Trance starrte ich auf die Silberkugel, die im Innern des Behälters frei schwebte. War was wirklich die Kugel, die uns mehr als einmal verschlungen hatte? Jenes rätselhafte Transportmittel, das uns von Planet zu Planet getragen hatte? Ich wußte es nicht, und ich sah auch keine Möglichkeit, das herauszufinden. Aber ich erschauerte, wenn ich an die Möglichkeit dachte, daß in diesem Augenblick zahllose intelligente Wesen in dieser Kugel durch eine geheimnisvolle und bedrohliche Nebelwelt irrten. Gleichzeitig aber durchströmte mich ein bisher nie gekanntes Gefühl von Stärke und Zuversicht. Es war eine Kraft, die von der Silberkugel ausging, und es war die Gewißheit, daß ich auf der Suche nach dem Stein der Weisen einen unschätzbaren Vorteil gegenüber Orbanaschol III errungen hatte. Doch gleich darauf überfielen mich wieder bohrende Zweifel. Diese Silberkugel, konnte sie nicht in mehrfacher Ausfertigung existieren? Mußte es nicht sogar so sein, weil von zahllosen Suchern nur einer den Stein der Weisen finden und behalten konnte und weil demgemäß zu jeder Zeit mehrere Sucher unterwegs sein mußten? So betrachtet, erschien es mir nicht mehr unmöglich, daß auch Orbanaschol eine solche Silberkugel in seinen Besitz gebracht hatte. Andererseits hatte bei uns Ra den Aus-
Zonen des Schweigens schlag gegeben. Weil er Ischtar kannte, hatte sich Dovreens Einstellung zu uns grundlegend gewandelt. Orbanaschol aber verfügte nicht über diesen Trumpf, denn wir hatten ihm den Barbaren abgejagt. Ich reckte mich, schüttelte den quälenden Zweifel ab und besann mich auf meine Erziehung. Ich mußte Dovreen danken. Aber der Doppelgesichtige war schon wieder gegangen. »Er ist wieder im Pavillon verschwunden«, erklärte Fartuloon, als hätte er meine Gedanken gelesen. Seine Augen funkelten unternehmungslustig. »Jetzt sind wir ein ganzes Stück weiter, Atlan«, sagte er frohlockend. Ich klappte den Deckel des Behälters zu. Erst jetzt merkte ich, daß der Kasten federleicht war, obwohl das Material so aussah und sich auch so anfühlte, als wäre es bester Stahl. »Das denke ich auch«, erwiderte ich. »Unser Problem ist nur noch, wie wir auf die KARRETON zurückkehren können. Oder hast du etwas von unserem Beiboot gesehen?« »Es kann nicht hier sein«, sagte der Bauchaufschneider. »Das ist nicht Frokan, auf dem wir landeten. Frokan steht zur Zeit auf der gegenüberliegenden Seite der gelben Sonne.« Wir blickten uns an. Beide dachten wir das gleiche. Was nützte uns die Silberkugel, wenn wir keine Möglichkeit besaßen, zu unserem Schiff zurückzukehren? Ra schien keine Gedanken daran zu verschwenden. Er gab sich plötzlich einen Ruck und schritt auf eines der Feuer zu. Die Eingeborenen, die bisher um die Flammen getanzt hatten, hockten sich nieder und säbelten mit blitzenden Messern große Stücke von einem Braten ab, der am Feuer geröstet worden war. Mein Pflegevater grinste. »Unser Wilder denkt praktisch, mein Junge. Folgen wir ihm. Vielleicht geben die Eingeborenen uns etwas von ihrem Braten
7 ab.« Ich dachte an den Planeten, auf dem wir von einem sturen Roboter und mordlüsternen Eingeborenen gejagt worden waren und hatte so meine Bedenken. Doch Ra scherte sich nicht darum. Er hockte sich einfach zwischen die Eingeborenen, nahm sein Messer und schnitt sich ein saftiges Bratenstück ab. Nun waren auch Fartuloon und ich nicht mehr zu halten. Wir hatten schon lange nichts Kräftiges mehr zwischen den Zähnen gehabt. Konzentrate enthalten zwar alle Nähr- und Vitalstoffe, die wir benötigten, aber auf die Dauer konnten sie das Verlangen nach natürlicher Nahrung nicht befriedigen. Wir folgten Ras Beispiel und ließen uns einfach zwischen den Eingeborenen nieder. Zwar wurden wir nicht gerade begeistert begrüßt, aber die Frauen und Männer legten auch keine ablehnende oder gar feindselige Haltung an den Tag. Sie akzeptierten uns stillschweigend. Fartuloon und ich warteten nicht erst eine Aufforderung ab, sondern wir zogen unsere Vibratormesser und säbelten uns große Stücke von dem Braten, der inzwischen schon viel Substanz verloren hatte. Das Fleisch schmeckte gut, war allerdings ungesalzen. Aber daran störten wir uns nicht. Wir aßen, bis wir satt waren. Als einige Mädchen später Kalebassen mit schweren Wein herumreichten, sprachen wir auch ihm herzhaft zu. Nach und nach zogen sich die Eingeborenen einzeln oder paarweise vom Feuer in die Schatten von Bäumen und Büschen zurück. Auch wir merkten bald, daß volle Bäuche müde machten. Fartuloon, Ra und ich erhoben uns, schlenderten zu einem riesigen Baum, bei dem wir ungestört waren, und streckten uns im kühlen Gras aus. Vielleicht hätten wir eine Wache aufstellen sollen, aber unsere Müdigkeit und das friedfertige Verhalten der Eingeborenen ließen den Gedanken daran gar nicht erst auf-
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kommen. Ich umschlang den Behälter mit beiden Armen, preßte ihn gegen meine Brust – und folgte wenige Augenblicke später meinen beiden Gefährten ins Reich der Träume.
2. Im Traum erschien mir der blauhäutige Zwerg, der in der Nebelwelt aus einem winzigen Ei geschlüpft und später von der gigantischen Hand seiner Mutter oder seines Vaters entführt worden war. Er stand auf einem Felsblock inmitten einer märchenhaften Landschaft, in der bunte Vögel durch die Luft flatterten oder auf Zweigen von bizarren Bäumen saßen. »Warum suchst du nach dem Stein der Weisen, Atlan?« fragte er mich mit dünner Stimme. »Er soll mir helfen, den Diktator und Mörder Orbanaschol zu stürzen und dem Volk von Arkon eine bessere Zukunft zu ermöglichen«, antwortete ich. »Ich glaube nicht, daß das dein wahres Motiv ist«, erwiderte der Zwerg. »In Wirklichkeit jagst du diesem Stein der Weisen nur so verbissen nach, damit Orbanaschol ihn nicht bekommt.« »Das ist einer meiner Gründe«, gab ich zu. »In der Hand eines Verbrechers würde dieses kosmische Kleinod zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werden. Das darf ich nicht zulassen.« »Du jagst einem Phantom nach, Atlan«, erklärte der blauhäutige Zwerg. »Meinst du damit, es gäbe gar keinen Stein der Weisen?« erkundigte ich mich erschrocken. »Das habe ich nicht behauptet«, erwiderte der Zwerg. »Ich meine nur, daß es kein Wunderding gibt, das alle Probleme löst. Ich habe das Synthapar befragt, Atlan. Es konnte mir nicht sagen, ob du den Stein der Weisen jemals finden und besitzen wirst, aber es verriet mir, daß dein Weg immer von Gefahren umgeben sein wird und daß du mehr sehen wirst, als je das Auge eines Arkoniden
erblickte. Und deine Probleme werden sich nicht von selbst lösen.« »Wie meinst du das?« fragte ich. Aber der Zwerg kam nicht mehr dazu, mir zu antworten. Wie schon einmal, senkte sich eine riesige blaue Hand herab. Der Zwerg hüpfte darauf und wurde meinen Blicken entzogen. Ich wachte auf, blickte in helles Sonnenlicht und erkannte erleichtert, daß ich den Behälter mit der Silberkugel noch immer fest an meine Brust preßte. Neben mir schliefen Fartuloon und Ra ziemlich geräuschvoll. Als ich meinen Blick schweifen ließ, erkannte ich, daß die Eingeborenen verschwunden waren. An mehreren Stellen sah ich am niedergedrückten Gras, wo sie die Nacht verbracht hatten. Außerdem waren dort, wo die Feuer gebrannt hatten, grauweiße Aschehaufen. Knochen lagen daneben. Ich setzte den Behälter neben mich und stieß Fartuloon an. »Aufwachen, alter Bauchaufschneider!« sagte ich. Mein Pflegevater brach mitten in einem Schnarchlaut ab, riß die Augen auf und starrte mich an. Ra hatte mich ebenfalls gehört, aber er reagierte anders als Fartuloon. Er sprang mit einem Satz auf die Füße, zückte sein Messer und blickte sich mit wild rollenden Augen um. Wahrscheinlich hatte er einen Überfall erwartet. Als er sah, daß wir allein waren, schob er sein Messer in den Gürtel zurück, lächelte flüchtig und marschierte hinter das nächste Gebüsch. »Alles klar, Atlan?« erkundigte sich Fartuloon. »Alles klar, Dicker«, gab ich zurück. »Bist du dir eigentlich klar darüber, daß wir durchaus als Leichen hätten erwachen können?« Fartuloon verzog das Gesicht. »Leichen pflegen nur in den seltensten Fällen zu erwachen«, gab er zurück. Er richtete sich auf. »Jetzt rede ich schon das glei-
Zonen des Schweigens che unsinnige Zeug wie du. Deine makabren Scherze können einen alten Mann ganz schön durcheinanderbringen.« Ich sah, daß Ra zurückkehrte und im Gehen seine Raumfahrerkombination wieder verschloß. Er war bester Laune. Ich übergab meinem Pflegevater den Behälter mit der Silberkugel zu treuen Händen und vertrat mir ein wenig die Füße, um es dezent auszudrücken. Später folgte Fartuloon unserem Beispiel, dann schlenderten wir zum nahen See, um uns zu waschen. Wir hatten das Ufer noch nicht erreicht, da sahen wir schon den raketenförmigen Flugkörper mit den Deltatragflächen, mit dem wir auf Frokan gelandet waren. Unser Beiboot …! Wir blieben stehen. »Aber das hier ist nicht Frokan I«, bemerkte Fartuloon. »Vielleicht hat es jemand hierhergebracht«, meinte ich. »Es sei denn, auf den Planten des Dreißig-Planeten-Walls gibt es jetzt dreißig gleichartige Beiboote, wie es auch dreißig gleichartige Pavillons – und Dovreens – gibt.« Fartuloon machte eine Geste, die Ratlosigkeit ausdrückte, dann hieb er mit der Faust durch die Luft. »Ganz egal«, erklärte er. »Wichtig ist nur, daß wir endlich wieder ein raumtüchtiges Fahrzeug haben.« Ra wandte sich uns zu und gab uns durch Zeichensprache zu verstehen, daß uns noch Schwierigkeiten erwarteten. Ich begriff, daß er mit den Schwierigkeiten die zirka fünfzig Eingeborenen meinte, die unser Beiboot umstanden. »Sie waren gestern friedlich«, erwiderte ich. »Warum sollten sie heute plötzlich aggressiv werden. Natürlich sind sie neugierig. Möglicherweise haben sie noch nie ein solches Fahrzeug gesehen.« Ich gab mir einen Ruck. Wir waren noch etwa hundert Meter von den Eingeborenen entfernt, als sie sich plötzlich zu einer geschlossenen Gruppe formierten, die mit dem Rücken zum Beiboot
9 stand und mit den Gesichtern zu uns. Abermals blieb ich stehen. Mein Extrasinn sagte mir, daß die Haltung der Eingeborenen sich geändert hatte. Sie war nicht ausgesprochen feindselig, aber doch irgendwie entschlossen. »Keine Unsicherheit zeigen«, sagte Fartuloon und ging an mir vorbei. Ich wollte ihm gerade folgen, da hob einer der Eingeborenen plötzlich etwas, das wie ein Handscheinwerfer aussah. Ein greller Lichtstrahl fuhr herüber und traf Fartuloons Oberarm. Mein Pflegevater taumelte, stieß eine Verwünschung aus und warf sich zu Boden. Ich warf mich ebenfalls hin, zog im Fallen meinen Handstrahler und richtete ihn auf die Eingeborenen. Sie standen jedoch wiederum nur passiv zwischen uns und dem Beiboot. »Bist du schwer verletzt?« fragte ich meinen Pflegevater. »Nein«, antwortete Fartuloon zu meiner Erleichterung. Er hatte den Magnetverschluß des linken Ärmels geöffnet und betrachtete die Stelle seines Oberarms, die von dem Lichtstrahl getroffen worden war. »Die Haut wirkt wie ausgetrocknet«, erklärte er. »Eine Art kalter Verbrennung, würde ich sagen. Wahrscheinlich kann sie nicht mehr atmen. Wenn größere Teile der Haut von diesen Strahlen getroffen werden, dürfte es kritisch werden.« Ich spähte zu den Eingeborenen hinüber. Sie trugen alle diese scheinwerferähnlichen Waffen und schienen entschlossen, jede weitere Annäherung an das Beiboot zu verhindern. Warum sie das taten, war mir unerklärlich. Nachdenklich blickte ich meinen Handstrahler an. Ich hielt es für möglich, daß wir die Eingeborenen besiegen konnten, wenn wir sie aus größerer Distanz mit unseren Energiewaffen beschossen. Aber dann würden wir mit stark gebündelten Strahlen und hoher Abgabeleistung schießen müssen, was bedeutete, daß die Getroffenen ums Leben ka-
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men. Es widerstrebte mir, intelligente Lebewesen zu töten. Das wäre keine Notwehr gewesen, denn die Eingeborenen wollten uns offenbar nicht ans Leben, sondern nur verhindern, daß wir unser Beiboot bestiegen. »Wir ziehen uns erst einmal zurück«, meinte ich. »Einverstanden«, erwiderte Fartuloon. Er stemmte sich hoch und ging langsam an mir vorbei. Ra blickte uns verwundert an. Er zog sich erst zurück, als ich mich ebenfalls erhob und meinem Pflegevater folgte.
* Wir zogen uns zirka fünfzig Meter zurück, dann blieben wir stehen. Die Eingeborenen standen noch beisammen. Sie trafen keine Anstalten, uns zu verfolgen, aber sie schienen auch nicht gewillt zu sein, die Bewachung unseres Beiboots aufgeben zu wollen. Ich untersuchte Fartuloons Oberarm. Die getroffene Stelle wirkte wie abgestorben. Die Haut war hart, spröde und leichenblaß. Allerdings betraf das nur die Haut. Ich sah, daß mein Pflegevater die Muskeln darunter bewegen konnte, und bereitete ihm offenbar keine Schmerzen. Energisch schloß Fartuloon seinen Ärmel und sagte: »Das kann mich nicht davon abhalten, unser Boot zurückzuerobern, mein Junge.« »Wie willst du das anstellen, ohne einige Eingeborene zu töten?« fragte ich. Mein Pflegevater biß sich auf die Unterlippe. Er stand vor dem gleichen Dilemma wie ich. Mit unseren Strahlwaffen waren wir den Lichtwerfern der Eingeborenen überlegen, aber eben nur dann, wenn wir fest entschlossen waren, so viele unserer Gegner zu töten, bis die anderen flohen. Eben dazu aber konnten wir uns nicht überwinden. Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Ich werde zu Dovreen gehen«, erklärte ich. »Er hat uns die Silberkugel gegeben, folglich sympathisiert er mit uns. Eigentlich
sollte es ihm möglich sein, zwischen uns und den Eingeborenen zu vermitteln. Er kennt sie, und sie kennen ihn.« Fartuloon wiegte nachdenklich den Kopf. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Geh zu Dovreen, mein Junge. Ra und ich werden inzwischen die Eingeborenen im Auge behalten. Falls sich eine Gelegenheit ergibt, unser Beiboot wieder in unseren Besitz zu bringen, greifen wir natürlich zu.« Ich winkte ihm zu, dann ging ich zum Pavillon, der sich weiß und unschuldig von der Parklandschaft abhob. Unterwegs sah ich mich aufmerksam um, konnte jedoch keine Eingeborenen entdecken, die mich beobachteten. Vor dem Pavillon angekommen, rief ich nach Dovreen. Es dauerte eine Weile, bis der Weise sich zeigte. Fragend blickte er mir mit dem mir zugewandten Teil des Januskopfes entgegen. »Was willst du?« fragte er. »Du hast uns die Silberkugel geschenkt«, erklärte ich. »Aber wir können nichts mit ihr anfangen, wenn wir diese Welt nicht verlassen. Und gerade das ist uns unmöglich, denn die Eingeborenen lassen uns nicht an unser Beiboot heran. Wir könnten sie töten, doch das widerstrebt uns. Kannst du nicht zwischen ihnen und uns vermitteln?« Dovreen hatte mir aufmerksam zugehört. Als ich geendet hatte, verzog sich das mit zugewandte Gesicht zu einem undurchsichtigen Lächeln. »Ich habe euch die Silberkugel gegeben, das stimmt«, sagte er bedächtig. »Was ihr damit anfangt, ist aber nicht mehr mein Problem, sondern ausschließlich eures. Ich kann dir nicht helfen, Atlan.« Er wandte sich um und verschwand wieder in seinem Pavillon. Am liebsten hätte ich ihn gewaltsam zurückgehalten, denn ich war davon überzeugt, daß er uns helfen konnte, wenn er nur wollte. Statt dessen überließ er uns einfach unserem Dilemma. Doch ich beherrschte mich. Es wäre sicher nicht nur zwecklos gewesen, Gewalt gegen den Weisen Dovreen an-
Zonen des Schweigens wenden zu wollen, sondern auch unklug. Ich nahm an, daß er über die Mittel verfügte, jeden Feind zu verderben. Immerhin war er der Hüter des Dreißig-Planeten-Walls, und entsprechende Machtinstrumente mußten ihm einfach zur Verfügung stehen. Ich drehte mich um und kehrte zu meinen Gefährten zurück. Die Lage war unverändert. Noch immer warteten die Eingeborenen mit schußbereiten Lichtwerfern darauf, daß wir uns unserm Beiboot zu nähern versuchten. »Ich sehe deinem Gesicht an, daß du keinen Erfolg bei Dovreen hattest«, sagte Fartuloon. »Ich hätte große Lust, seinen Pavillon anzuzünden.« »Er besteht aus nicht entflammbarem Material«, entgegnete ich. »Wir müssen eben versuchen, die Eingeborenen zu überlisten.« »Wie stellst du dir das vor, mein Junge?« erkundigte sich mein Pflegevater. »Wir könnten uns so weit zurückziehen, daß die Eingeborenen uns nicht mehr sehen können«, antwortete ich. »Danach trennen wir uns. Während du dich von rechts an das Beiboot anzuschleichen versuchst und dabei Lärm für drei machst, steigen Ra und ich links vom Ziel in den See und schwimmen zum Schiff.« Fartuloon schmunzelte. »Der Plan ist nicht schlecht, Atlan; er könnte direkt von mir stammen. Gut, einverstanden.« »Und du?« wandte ich mich an Ra. »Bist du ebenfalls einverstanden?« Der Barbar nickte eifrig. Einen Gegner zu überlisten, das schien nach seinem Geschmack zu sein. Ich wünschte mir, das Volk kennenzulernen, das seinen Heimatplaneten bewohnte. Wir zogen uns so weit zurück, daß wir sicher sein durften, von den Eingeborenen am Seeufer nicht mehr gesehen zu werden. Wie es mit eventuellen verborgenen Spähern aussah, das war allerdings eine andere Frage. Das Gelände war so unübersichtlich, daß sich im Umkreis von tausend Metern eine ganze Hundertschaft verbergen konnte. Da wir nicht das ganze Gelände durch-
11 kämmen konnten, kletterten wir auf einen Baum mit weitausladenden Ästen und beobachteten von dort aus über eine Stunde lang unsere Umgebung. Wir hofften, daß eventuelle Späher ungeduldig werden würden und sich durch Bewegungen verrieten. Doch nichts dergleichen geschah. »Wahrscheinlich gibt es keine Beobachter«, meinte Fartuloon. »Die Eingeborenen halten es offenbar für ausreichend, wenn sie beim Beiboot Wache halten.« Er blickte mich an. »Können wir?« »Wir können!« gab ich zurück. Ra und ich waren ungefähr siebenhundert Meter von unserem Beiboot entfernt, als wir das Ufer des Sees erreichten. Wir legten unsere Kleidung ab, da sie uns nur behindert hätte. Nur die Gürtel schnallten wir wieder um. Ra, weil er sein Messer in die Gürtelscheide stecken wollte, und ich, weil der beste Platz für einen Handstrahler eben ein Gürtelhalter war. Den Behälter mit der Silberkugel hatte ich in Fartuloons Obhut zurückgelassen. Dort war er besser aufgehoben als irgendwo im Ufergebüsch. Unsere Kombinationen konnten wir uns holen, sobald wir uns wieder im Besitz des Beiboots befanden. Notfalls konnten wir aber auch darauf verzichten. Als wir fertig waren, nickte ich dem Barbaren zu, dann stiegen wir durch die Schilfzone, erreichten das freie Wasser und schwammen mit kraftvollen Stößen voran. Wir hielten uns dicht am Schilfgürtel, da wir weiter draußen keine Sichtdeckung gehabt hätten und außerdem in die Strömung geraten wären, die uns abgetrieben hätte. Als wir nur noch ungefähr hundert Meter vom Beiboot entfernt waren, schwammen wir langsamer. Wir wollten uns nicht durch Geräusche verraten. Wieder verständigten wir uns durch Blicke. Sobald wir das Beiboot erreichten, mußte alles sehr schnell gehen. Ich mußte den kleinen Kodeimpulsgeber betätigen, den ich in einer Gürteltasche bei mir trug, und wenn
12 das Einstiegluk aufglitt, mußten wir innerhalb weniger Sekunden eingestiegen sein. Danach konnten wir starten und Fartuloon und unsere Kleidung unterwegs mit einem Traktorstrahl aufnehmen. Noch zwanzig Meter …! Ich hob ganz kurz den Kopf aus dem Wasser, konnte aber die Eingeborenen nicht sehen, weil der Schilfgürtel zwischen ihnen und uns lag. Dafür entdeckte ich das Beiboot. Etwa ein Drittel mit dem Bug lag auf einem flachen Sandstrand; die restlichen beiden Drittel schwammen im Wasser. Es war genauso, wie wir es auf Frokan I zurückgelassen hatten, obwohl wir uns nicht mehr auf dem Planeten befanden. In dieser Beziehung funktionierten demnach die robotischen Anlagen des DreißigPlaneten-Walls noch einwandfrei, während sie in anderer Hinsicht fehlerhaft arbeiteten. Einige Anzeichen deuteten sogar darauf hin, daß das gesamte phantastische System bereits dem Untergang geweiht war. Noch zehn Meter …! Ich nickte Ra zu, dann tauchten wir. Den Rest der Strecke wollten wir unter Wasser zurücklegen, um dann überraschend aufzutauchen. Leider waren es nicht die Eingeborenen, die eine Überraschung erlebten, sondern wir. Ich hatte etwa fünf Meter unter Wasser zurückgelegt, als sich meine Füße in etwas verfingen. Im ersten Moment dachte ich an Schlingpflanzen, aber als sich dann auch mein rechter Arm in etwas verfing, ahnte ich, daß wir in eine Falle geschwommen waren. Heftige Bewegungen links von mir bewiesen, daß auch Ra festsaß. Ich hütete mich vor heftigen Bewegungen. Im Gegenteil, ich machte mich so schlaff wie möglich, während ich mit der freien linken Hand mein Vibratormesser zog und mit aktivierter Klinge einen Halbkreis um mich beschrieb. Plötzlich war mein linker Fuß frei. Dafür verfing sich die linke Hand in einer
H. G. Ewers Schlinge. Beinahe wäre mir das Vibratormesser entglitten. Ich krümmte mich zusammen, um das Messer mit dem Mund zu erreichen. Einmal surrte die Klinge so dicht an meinem Gesicht vorbei, daß ich schon fürchtete, sie würde mir tief ins Fleisch fahren, doch dann bekam ich doch noch den Griff mit den Zähnen zu fassen. Mit einer verzweifelten Anstrengung versuchte ich, die Schlingen zu durchtrennen, die meine Hände nahezu unbeweglich machten. Aber ich schaffte es nicht mehr. Der Sauerstoffmangel ließ rote Kreise vor meinen Augen wirbeln und verwandelte das Schlagen meines Herzens in ein schmerzhaftes Hämmern. Gib auf! raunte mir der Logiksektor meines Extrahirns zu. Du kannst bestenfalls eine Schlinge durchtrennen, dann wirst du nach Luft schnappen und Wasser schlucken. Die Folge wäre ein Stimmritzenkrampf und die Blockierung der Atemwege – und der Erstickungstod. Versuche, aufzutauchen! Wenn es geht! dachte ich zurück. Ich ruderte vorsichtig mit Händen und Füßen – und tatsächlich stieg ich höher. Die Wasseroberfläche über mir glich einem zitternden Spiegel. Plötzlich wurde der Spiegel zerstört. Vier Arme erschienen, langten nach unten. Vier Hände packten mich und rissen mich aus dem nassen Element. Eine andere Hand zog mir das Vibratormesser aus dem Mund. Ich schnappte verzweifelt nach Luft und war dankbar, als ich kein Wasser einatmete. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, daß ich von zwei Eingeborenen festgehalten wurde. Ihre Hände drückten mich auf den Boden eines Bootes. Plötzlich tauchte ein dritter Eingeborener auf. Er flog mit ausgestreckten Armen und Beinen über unser Boot hinweg und fiel klatschend ins Wasser. Das war offenbar die Arbeit von Ra, der sich mit Händen und Füßen gegen die Gefangennahme wehrte. Doch er hatte ebensowenig Chancen wie ich angesichts der großen Übermacht. Wir
Zonen des Schweigens waren den Eingeborenen in die Falle geschwommen, die sie für uns aufgebaut hatten. Das ärgerte mich am meisten, denn es bewies, daß sowohl Fartuloon als auch ich die Nachkommen der alten Varganen unterschätzt hatten. Aber noch war nichts verloren, denn Fartuloon befand sich in Freiheit. Er würde einen Weg finden, uns zu befreien. Jedenfalls dachte ich das, bis man uns an Land brachte und ich meinen Pflegevater sah, der gefesselt an einem Baum stand. Sein beinahe ganz zugeschwollenes Auge verriet mir, daß die Eingeborenen nicht gerade sanft mir ihm umgegangen waren. Dennoch verzog er das Gesicht zu einem Grinsen, als er mich sah und rief: »Bin ich froh, daß ich mich nicht allein so dumm angestellt habe, mein Junge!« »Schweigen Sie!« herrschte ihn einer der Eingeborenen in gebrochenem Arkonidisch an. Wahrscheinlich der Anführer. Vier Mann hoben Ra aus einem Boot und zogen und stießen ihn unsanft an Land. Die Gesichter der Eingeborenen sahen ziemlich zerschlagen aus, aber auch Ras Gesicht wies unverkennbare Spuren des Kampfes auf. Seine Augen funkelten zornig. Als Ra sich erneut gegen die Griffe seiner Bewacher aufbäumte, sagte ich: »Widerstand ist sinnlos, Ra – jedenfalls vorläufig.« Der Anführer der Eingeborenen wandte sich mir zu, musterte mich prüfend und sagte dann: »Ich bin froh, daß Sie das einsehen, Fremder.« »Ich heiße Atlan«, erklärte ich. »Und ich heiße Riik«, sagte der Eingeborene. Ich lächelte ihn offen an. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Riik«, sagte ich. »Nur schade, daß wir uns nicht unter besseren Umständen kennenlernten. Was haben Sie eigentlich gegen uns?« Riik erwiderte das Lächeln. Doch das war wohl nur eine unbewußte Reaktion. Als er sich dessen bewußt wurde, verfinsterte sich sein
13 Gesicht. »Wir haben nichts gegen Sie«, erklärte er. »Aber wir brauchen Gefangene, wenn Torrelion nicht unsere eigenen Leute nehmen soll.« Er wandte sich ab und winkte seinen Männern. »Bringt sie in die Stadt!« befahl er.
3. Als die Eingeborenen uns forttrieben, warf ich noch einen Blick auf unser Beiboot, das für uns weiter denn je entfernt war, obwohl es räumlich so nahe stand. Dennoch war mein Mut nicht gesunken. Die Antwort Riiks ließ mich hoffen, daß wir doch noch zu einer Verständigung mit den Eingeborenen kommen könnten. Sie hatten nichts gegen uns, das war schon viel wert. Ich mußte aber herausfinden, wer Torrelion war. Wahrscheinlich ein Sklavenhalter, der in regelmäßigen Abständen neue Sklaven von den Eingeborenen fordert! meldete sich mein Extrahirn. Das leuchtete mir ein, obwohl es nicht unbedingt stimmen mußte. Wenn die Eingeborenen einem Mächtigen Tribut in Form von Sklaven zahlen mußten, erschien es nur natürlich, daß sie versuchten, diesen Tribut nicht aus den eigenen Reihen zu entrichten, sondern statt dessen Fremde einzufangen und abzuliefern. Doch so verständlich mir dieses Verhalten auch war, so wenig war ich willens, in die Sklaverei zu gehen. Vorläufig konnten wir aber nichts dagegen unternehmen. Wir waren gefesselt, und die Eingeborenen besaßen unsere Waffen und den Behälter mit der Silberkugel. Wir mußten uns nicht nur befreien, sondern auch die Silberkugel mitnehmen. Ich war festentschlossen, diesen Planeten nicht ohne den Schlüssel zum Stein der Weisen zu verlassen. Mehrmals versuchte ich, mit Riik wieder ins Gespräch zu kommen. Aber der Anfüh-
14 rer der Eingeborenen hielt sich offensichtlich fern von mir, um nicht in ein neues Gespräch verwickelt zu werden. Das sprach für ihn, denn es bedeutete, daß er einsah, welches Unrecht er uns zufügte, aber wegen der Zwangslage, in der er sich befand, nicht weich werden wollte. Wir mußten fast drei Stunden marschieren, bevor wir in ein fruchtbares grünes Tal kamen, durch das ein glasklarer Bach floß. Zu beiden Seiten des Baches standen seltsame Bauwerke, kleine Häuser, die gleich Edelsteinen funkelten und glitzerten. Beim Anblick der Häuser stieß Ra einen Ruf der Überraschung aus. Ich warf einen Blick auf Riiks Gesicht und bemerkte, daß es Zufriedenheit ausdrückte. Wer empfände schon nicht Befriedigung darüber, daß Fremde seine Heimatstadt bewunderten! Ich musterte die Häuser genauer. Sie waren, wie schon gesagt, nicht sehr groß. Die durchschnittliche Grundfläche mochte neunzig Quadratmeter betragen, die durchschnittliche Höhe vier Meter. Am meisten aber faszinierte mich das Material, aus dem die Häuser gebaut waren. Es schien sich um jeweils Tausende von unterschiedlich großen Glasbrocken zu handeln, aus denen sie zusammengefügt waren, und jeder Glasbrocken warf das Sonnenlicht vielfältig zurück, so daß der Eindruck entstand, als hätte ein Riese einen Beutel voller Juwelen in diesem Tal verstreut. Als wir näher gekommen waren, entdeckte ich, daß die Oberfläche der Glasbrocken die Umgebung vielfältig widerspiegelten. Riik stieß einen Pfiff aus. Sekunden später füllten sich die Räume zwischen den Häusern mit Eingeborenen. Männern, Frauen und Kindern. Sie stießen Jubelrufe aus, als sie uns erblickten. Doch nicht alle jubelten. Manche erschienen gedrückter Stimmung zu sein, und in den Augen mehrerer junger Frauen entdeckte ich sogar Bedauern und Mitgefühl. Riik bemerkte es wohl auch, denn plötzlich trieb er seine Männer zu größerer Eile
H. G. Ewers an. Wir wurden zum größten Haus der Stadt geführt und durch den Eingang geschoben, nachdem man uns die Fesseln abgenommen hatte. Wir mußten in eine weiträumige Halle gekommen sein, obwohl ich davon nichts sah. Alles, was ich sah, waren Tausende von verkleinerten Abbildungen von mir, meinen Gefährten und den drei Eingeborenen, die uns ins Haus begleitet hatten. Diese nicht ständig bewegenden Abbildungen versetzten mir einen regelrechten Schreck. Ich mußte mich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Von der Stelle, wo Fartuloon stand, kam eine Verwünschung. Ra! teilte mir mein Extrasinn mit. Er wird das nicht so schnell verkraften, denn er ist ein Wilder. Ich bemühte mich, den Schock zu überwinden, um Ra beistehen zu können. Aber ich schaffte es nicht schnell genug. Plötzlich brüllte der Barbar gleich einem verwundeten Tier auf und stürzte sich auf die Eingeborenen. Im Handumdrehen hatte er sie niedergeschlagen. Doch dann stürzte er sich auf die Wände und schlug mit den Fäusten auf die Glasbrocken ein. Fartuloon und ich verständigten uns mit einem kurzen Blick, dann packten wir Ras Arme und versuchten, den Tobenden festzuhalten. Ra gab jedoch erst Ruhe, nachdem mein Pflegevater ihm die Augen mit einem schwarzen Schal verbunden hatte, den er aus seiner Kombination holte. »Es ist alles in Ordnung, Ra«, redete ich dem Barbaren zu. »Du hast einen Spiegelschock erlitten. Fartuloon und ich übrigens auch, aber bei uns wirkte er nicht so stark wie bei dir. Behalt die Augenbinde auf, solange du nicht sicher bist, den Anblick der Spiegelbilder zu ertragen.« Ra atmete schwer, dann sagte er rauh: »Es tut mir leid, Atlan.« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, erwiderte ich. »Bei dieser Gelegenheit hast du unsere Bewacher überwältigt. Wir werden zusehen, daß wir diesen Vorteil nicht wieder
Zonen des Schweigens verlieren.« »Was wollen Sie schon unternehmen?« ertönte eine Stimme aus der Wand. »Sie sind unbewaffnet und können das Haus nicht verlassen.« »Riik?« fragte ich. »Ich bin es, Atlan«, tönte es aus der Wand. »Warum verhandeln wir nicht, Riik?« fragte ich den Anführer der Eingeborenen. »Wir sind nicht verfeindet.« »Aber Sie sind auch nicht unsere Brüder«, erklärte Riik. »Wenn wir nicht Sie in eine der Schweigenden Zonen bringen, müssen wir drei unserer Brüder und Schwestern opfern.« »Wer ist Torrelion?« fragte ich. »Er wohnt in den Bergen«, antwortete Riik. »Wenn wir ihm nicht regelmäßig Opfer bringen, kann er uns schweren Schaden zufügen. Er kann sich auch so viele Opfer holen, wie er will, ohne daß wir etwas dagegen unternehmen können.« »Hat denn jemand von Ihnen Torrelion schon einmal gesehen?« forschte ich weiter. »Niemand, der ihn sieht, kann darüber berichten«, erklärte Riik. »Er muß für immer in einer der Schweigenden Zonen bleiben.« »Was ist das, eine Schweigende Zone?« erkundigte ich mich. »In ihr herrscht ewiges Schweigen«, antwortete Riik. »Dort singt kein Vogel, nichts bewegt sich, nicht einmal der Wind weht dort.« Ein Stasisfeld! raunte mein Logiksektor mir zu. In den Schweigenden Zonen scheint der Zeitablauf zu stocken. Torrelion muß jemand sein, der über immense technische Mittel verfügt. »Ich verstehe«, sagte ich. »Riik, es wird Ihnen nicht viel helfen, wenn Sie uns Torrelion ausliefern. Er wird immer wieder Opfer verlangen, und nicht immer werden zufällig Fremde da sein, die Sie ihm ausliefern können. Es wäre besser, seine Macht zu brechen.« »Einige mutige Männer haben es vor langer Zeit versucht«, erwiderte Riik. »Sie
15 kehrten nicht zurück. Gegen Torrelion gibt es keine Gegenwehr.« »Meine Gefährten und ich haben schon schlimmere Gefahren überstanden«, gab ich zurück. »Ich bin sicher, daß wir auch Torrelion besiegen können, wenn Sie uns unsere Ausrüstung zurückgeben.« Eine ganze Weile blieb es still, dann sagte Riik leise: »Wenn Sie Torrelion besiegen, können Sie von uns alles fordern, was Sie nur wollen, Atlan. Aber darüber kann ich nicht allein entscheiden. Ich muß eine Versammlung einberufen.« »Wir werden warten«, erklärte ich.
* Während der Wartezeit unterhielten wir uns mit den drei Eingeborenen, die Ra niedergeschlagen hatte. Sie waren nach zirka zehn Minuten wieder zu sich gekommen. Wir erfuhren bei dieser Gelegenheit, daß die Eingeborenen sich Arphas nannten, und daß sie Torrelion mehr als alles andere fürchteten. »Torrelion scheint jemand zu sein, der einen Teil des technischen Erbes der Varganen entdeckte und für seine verbrecherischen Zwecke mißbraucht«, erklärte Fartuloon grimmig. »Ich habe große Lust, ihn mein Schwert kosten zu lassen, Atlan.« »Es wird nicht leicht sein, an ihn heranzukommen«, erwiderte ich. »Dennoch bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ihn zu besiegen. Ich verspüre wenig Lust, für immer in einem Stasisfeld eingesperrt zu bleiben.« »Für immer wohl kaum«, meinte mein Pflegevater. »Auch Torrelion kann nicht ewig leben, und in einem Stasisfeld altert man nicht. Wir würden, wenn wir in tausend Jahren daraus befreit würden, biologisch nicht eine Sekunde gealtert sein.« Ich lachte grimmig. »In tausend Jahren …! Wir dürfen nicht ein einziges Jahr in einem Stasisfeld verbringen. Wenn ich mir vorzustellen versuche, was Orbanaschol in dieser Zeit aus dem
16 Großen Imperium machen würde …!« »Du hast recht, mein Junge«, sagte Fartuloon. »Wir müssen diesen Torrelion besiegen, und zwar um jeden Preis. Wie denkst du darüber, Ra?« Ra machte eine zustimmende Geste, dann nahm er vorsichtig die Augenbinde ab. Unter gesenkten Lidern hervor blickte er auf die spiegelnden Glasbrocken, danach atmete er einmal tief durch und lächelte erleichtert. »Na also!« sagte ich. »Nur, wer nicht auf den Anblick gefaßt ist, erleidet einen Spiegelschock.« »Atlan?« meldete sich Riiks Stimme wieder aus der Wand. »Ja, Riik!« rief ich. »Wie haben Sie sich entschieden, Riik?« »Wir nehmen Ihr Angebot an, Atlan«, antwortete der Eingeborene. »Sie erhalten gleich Ihre Kleidung zurück, die von einigen unserer Leute am Ufer des Sees gefunden wurde. Die Waffen bekommen Sie allerdings erst morgen, wenn Sie aufbrechen. Bis dahin dürfen Sie unsere Stadt nicht verlassen.« »Einverstanden«, erwiderte ich. Ich sah ein, daß Riik nichts riskieren wollte. Schließlich hatte er keine Garantie dafür, daß wir tatsächlich gegen Torrelion kämpfen würden, wenn man uns schon jetzt unsere Waffen zurückgab. Etwas später öffnete sich die Tür. Zwei Arphas brachten Ras und meine Kleidung. Wir zogen sie an und durften danach das Haus verlassen. Unterdessen war es Nachmittag geworden. Die westliche Hälfte des Tales lag im Schatten der hohen Felswände, die das gesamte Tal umgaben. Es gab nur den Zugang, durch den wir gekommen waren. Ich sah, daß dort dreißig Arphas standen. Sie trugen Lichtwerfer und sollten offenbar verhindern, daß wir das Tal verließen. Riik empfing uns freundlich, und auch die anderen Arphas sahen uns freundlicher an. Mancher hoffnungsvolle Blick wurde uns zugeworfen. Der Anführer brachte uns zu einem aus
H. G. Ewers Stein gehauenen Tisch, um den sich sechs Arphas versammelt hatten. Mein Herz schlug höher, als ich auf dem Tisch den stahlgrauen Behälter sah, den mir Dovreen überreicht hatte. Riik deutete auf den Behälter und sagte: »Wir haben versucht, ihn zu öffnen, aber es gelang uns nicht. Was birgt dieser Behälter, Atlan?« Ich sah keinen Grund, ihm die Wahrheit zu verschweigen. Die Arphas erweckten nicht den Eindruck, als würden sie ihren Planeten verlassen und zahllose unbekannte Gefahren auf sich nehmen, um nach dem Stein der Weisen zu suchen. Folglich konnten sie auch nicht an der Silberkugel interessiert sein. »Er enthält eine silberne Kugel«, antwortete ich. »Dovreen schenkte sie mir. Sie soll mir helfen, den Stein der Weisen zu finden.« »Den Stein der Weisen«, wiederholte Riik. »Wir hörten schon davon. Viele Fremde, die nach dem Stein der Weisen suchten, wurden vom Ring des Wahnsinns ausgespien und gerieten in Schweigende Zonen. Was versprechen Sie sich vom Stein der Weisen, Atlan?« »In erster Linie die Kraft und die Macht, mein Volk von einem Mörder und Unterdrücker zu befreien«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Wenn ich durch ihn außerdem noch das ewige Leben erhalte, solle es mir nur recht sein.« Riik sah mich lange nachdenklich an, dann sagte er: »Das ewige Leben! Ich weiß nicht, ob das erstrebenswert ist. Sie sind Arkonide, Atlan?« »Ja, und außerdem der Kristallprinz des Großen Imperiums«, antwortete ich nicht ohne Stolz. »Sobald ich den Mörder meines Vaters vom Thron gefegt habe, werde ich als Imperator das Große Imperium verwalten und dafür sorgen, daß der Methankrieg ein Ende findet.« »Ein rühmlicher Vorsatz«, meinte Riik. »Ich hoffe sehr, es gelingt Ihnen und Ihren Freunden, Torrelion zu besiegen und die Su-
Zonen des Schweigens che nach dem Stein der Weisen fortzusetzen. Bitte, verstehen Sie, daß wir Sie nur dann gehen lassen, wenn Sie uns von Torrelion befreit haben. Es ist kein böser Wille von uns, daß wir Sie nur unter dieser Bedingung freilassen.« »Ich verstehe Sie vollkommen, Riik«, erwiderte ich. »Und ich verrate Ihnen, daß ich auch dann Torrelion bekämpfen würde, wenn ich völlig frei wäre. Meine Freunde und ich haben uns dem Kampf gegen alles Böse verschrieben. Wir werden Ihnen helfen.« Riik schien gerührt. »Danke, Atlan«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen Erfolg.« Er winkte einigen Mädchen, die in etwa fünfzig Metern Entfernung in respektvoller Haltung gewartet hatten. Die Mädchen trugen Speisen und Getränke auf. Die sechs Arphas, Riik, meine Gefährten und ich setzten uns an den Steintisch und ließen es uns schmecken, so gut das beim Gedanken an die bevorstehende Auseinandersetzung ging. Anschließend bekamen wir ein Haus als Nachtquartier zugewiesen. Am nächsten Morgen sollten wir aufbrechen.
* Mitten in der Nacht weckten uns gellende Schreie. Ich fuhr hoch und tastete unwillkürlich nach meinen Waffen, bis ich mich daran erinnerte, daß wir unsere Waffen noch nicht zurückerhalten hatten. »Was ist los?« fragte Fartuloon verschlafen. »Keine Ahnung!« sagte ich und schwang mich von der niedrigen Lagerstatt, die mir als Bett diente. Fartuloon und Ra standen ebenfalls auf. Wir liefen zur Tür, öffneten sie und spähten hinaus, konnten aber nichts Auffälliges entdecken. Nur die Schreie waren noch zahlreicher geworden. Als ein Arpha dicht an uns vorbeilief, er-
17 griff ich ihn am Arm, hielt ihn fest und fragte, was vorgefallen war. »Eine Zauberwolke!« flüsterte er, am ganzen Körper zitternd. Da aus ihm nicht mehr herauszubringen war, ließ ich ihn wieder laufen. Fartuloon, Ra und ich verließen unser Haus und sahen Arphas, die erregt und anscheinend ziellos umherliefen. Dann entdeckten wir die Wolke! Es war ein schwach gelblich leuchtendes Gebilde, das sich langsam über die Nordflanke des Talkessels herabsenkte. Die Ränder der Wolke befanden sich in ständiger Bewegung. Ra sank plötzlich in die Knie, berührte mit der Stirn den Boden und murmelte unverständliche Worte, wahrscheinlich eine Geisterbeschwörung. Als die Wolke sich über die ersten Häuser senkte und sie einhüllte, verstummte das Geschrei der Eingeborenen. Sie standen wie erstarrt. Ich erstarrte ebenfalls, als ich sah, wie das Glitzern der Glasbrocken, die bisher das Sternenlicht widergespielt hatten, dort erlosch, wo die gelblich leuchtende Wolke ein Haus berührte. Es kehrte auch nicht zurück, als die Wolke die betreffenden Häuser wieder freigab. »Jetzt müßte ich mein Skarg haben!« preßte Fartuloon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ein Zauberschwert nützt nur etwas gegen Zauberei«, entgegnete ich. »Diese Wolke aber ist bestimmt nicht das Werk eines Zauberers. Wahrscheinlich enthält sie chemische Verbindungen, die das spiegelnde Glas beschlagen lassen.« Deine Argumentation ist unlogisch! raunte mein Extrahirn. Es gibt keine Zauberei. Als Zauberei werden lediglich von Primitiven Phänomene bezeichnet, die sich rational noch nicht erklären lassen. Ich lächelte, denn ich war mir völlig klar darüber, daß mein Sprachschatz durch die Ausdrücke Primitiver infiltriert war. Allerdings glaubte ich nicht an Zauberei; wenn
18 ich diesen Begriff verwandte, dann wußte ich, daß ich damit lediglich Phänomene meinte, die sich vorerst noch wissenschaftlichen Deutungen entzogen. Mein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Die Eingeborenen stießen einen gemeinsamen schrillen Schrei aus und hasteten auf den Talausgang zu, als die gelbe Wolke sich wabbernd ausbreitete und immer mehr Häuser verschlang. Ra blickte mich fragend an. Er hatte aufgehört, Beschwörungen zu murmeln. »Wir gehen der Wolke ebenfalls besser aus dem Weg«, entschied ich. »Es könnte sein, daß sie nicht nur Glas angreift, sondern auch die Haut.« Wir wandten uns um und schritten dem Talausgang zu. Dabei achteten wir zwar darauf, daß die Wolke uns nicht einholte, aber wir ließen uns nicht von der Panik anstecken, die die Eingeborenen ergriffen hatte. Als wir den Talausgang erreichten, waren die meisten Eingeborenen bereits auf der anderen Seite. Dicht zusammengedrängt blickten sie zurück zu der Wolke. Riik trat auf mich zu. Er schien sich zwar zu fürchten, konnte aber offensichtlich noch klar denken. »Das ist das Werk Torrelions«, flüsterte er, als fürchtete er, die Wolke könnte ihn hören. »Er verfügt über einen starken Zauber, Atlan. Wollen Sie immer noch gegen ihn kämpfen?« Ich zwang mich zu einem zuversichtlichen Lächeln, obwohl das Erscheinen der Wolke mir bewiesen hatte, daß es nicht leicht sein würde, ein Wesen zu besiegen, das über ein vielfältiges technisches Repertoire verfügte. »Wir werden gegen ihm kämpfen und wir werden ihn besiegen!« erklärte ich mit fester Stimme. »Jemand, der Zauberei gegen andere kämpfen läßt, ist im Grunde genommen schwach und furchtsam. Es kommt nur darauf an, ihn daran zu hindern, sich seines Zaubers zu bedienen.«
H. G. Ewers »Sie sind sehr tapfer«, erwiderte Riik. »Auch die Varganen waren einst tapfer«, entgegnete ich. »Ihre Vorfahren haben wahrscheinlich einmal die Galaxis beherrscht. Von ihnen stammt das technische Erbe das von Torrelion mißbraucht wird und das wie Zauberei wirkt. Warum versucht Ihr Volk nicht, seinen Planeten zu verlassen und Kontakt mit den anderen Sternenvölkern aufzunehmen, Riik?« Der Eingeborene lächelte verloren. »Die große Zeit unseres Volkes ist vorbei, Atlan«, antwortete er. »Mein Volk wird hier leben und sterben, weitab von den Kriegen der Sternenvölker. Unser Untergang würde sich nur beschleunigen, wenn wir Kontakt mit anderen Völkern aufnähmen.« Abermals schrien die Arphas laut. Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder voll der gelben Wolke und sah, daß sie den diesseitigen Rand des Ortes erreicht hatte. Hinter sich ließ sie Häuser aus erblindeten Glasbrocken zurück. Langsam stieg sie empor. Ihre Ränder flatterten stärker und stärker – und plötzlich löste sich die Wolke auf. Wind kam auf, trug für kurze Zeit einen stechenden Geruch zu uns herüber und brachte Kühle hinter sich. Die Eingeborenen beruhigten sich etwas. Sie kehrten zögernd in ihre Stadt zurück. Ich fing Gesprächsfetzen auf, aus denen hervorging, daß sie den Durchzug der Wolke als schlechtes Vorzeichen für unsere Expedition ansahen. »Vielleicht sollten Sie noch einen Tag warten, bevor Sie aufbrechen«, sagte Riik zu uns. Mein Pflegevater winkte ab. »Ganz im Gegenteil!« erklärte er. »Das Erscheinen der Wolke hat bewiesen, daß es höchste Zeit wird, Torrelion den Hals umzudrehen. Was meinst du, Atlan?« »Ich bin deiner Meinung, Dicker«, antwortete ich.
* Am nächsten Morgen gaben uns die Ar-
Zonen des Schweigens phas unsere Waffen zurück. Ich fühlte mich gleich viel wohler, als ich den Thermostrahler wieder in meinem Gürtelhalfter trug. Zehn Eingeborene, von Riik angeführt, begleiteten uns ein Stück. Es ging einen schmalen Pfad entlang, der höher ins Gebirge führte. Die fernen Gipfel waren eisfrei, ohne jede Vegetation und schroff. Dort irgendwo sollte Torrelion leben. Nach ungefähr fünf Kilometern blieb Riik stehen und hob die Hand. Seine Begleiter hielten ebenfalls an. Ihre Gesichter verrieten, daß sie froh darüber waren. »Von hier aus müssen Sie allein gehen, Atlan«, erklärte Riik. »Halten Sie sich nur immer in diese Richtung.« Er deutete nach Norden. »Möchten Sie uns nicht begleiten?« erkundigte sich Fartuloon. Riik erschrak. »Nein, niemals!« entfuhr es ihm. Er wurde verlegen. »Nach Ihrer Meinung bin ich vielleicht ein Feigling«, flüsterte er. »Aber ich kann nicht anders. Alles Gute für Sie. Besiegen Sie Torrelion, sonst sind wir alle verloren. Er würde sich grausam an uns rächen.« »Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Wir sind zum Sieg verurteilt, Riik. Wir schulden das nicht nur Ihnen, sondern vor allem dem Großen Imperium, das bald von Orbanaschol befreit werden muß, wenn es nicht zugrunde gehen soll.« In den Augen von Riik und seinen Begleitern las ich aufkeimende Hoffnung, aber auch Furcht. Diese Leute hatten wohl schon oft die Grausamkeit Torrelions zu spüren bekommen. Ihnen war aller Mut genommen worden. Fartuloon schlug mit der flachen Hand gegen den Griff seines Skargs und sagte fast fröhlich: »Wir sehen uns bald wieder, Riik. Dann werde ich Ihnen den Kopf Torrelions bringen.« »Wenn er einen Kopf hat«, warf ich ein. Mein Pflegevater sah mich argwöhnisch an.
19 »Warum sollte Torrelion keinen Kopf haben? Willst du mich veralbern?« »Keineswegs«, erwiderte ich. »Aber bist du noch nicht auf den Gedanken gekommen, daß es sich bei Torrelion, den noch niemand gesehen hat, um ein absolut fremdartiges Wesen handeln könnte, das keinerlei Ähnlichkeit mit uns hat? Oder daß es sich um einen verrückt gewordenen Computer handeln könnte?« »Hm!« machte Fartuloon und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Möglich ist natürlich alles, mein Junge.« »Es gibt nichts, was es nicht gibt«, erklärte ich. Fartuloon grinste. »Dein letzter Ausspruch dürfte in die Geschichte eingehen, Atlan. Er klingt wirklich gut. Es gibt nichts, was es nicht gibt – außer dem Nichts selbst.« Riik hatte uns aufmerksam zugehört. Aber diese Aufmerksamkeit hielt nicht lange an. Unser Gespräch irritierte ihn offenbar. »Können wir uns jetzt entfernen?« fragte er. »Selbstverständlich«, antwortete ich. »Wir sehen uns hoffentlich bald wieder, Riik.« »Hoffentlich, Atlan«, sagte er, wandte sich seinen Begleitern zu und erteilte ihnen den Befehl zum Rückmarsch. Wir blickten den Arphas nach, bis sie hinter einer Felsnase verschwunden waren, dann setzten wir unseren Weg fort. Plötzlich stieß Ra einen unartikulierten Ruf aus und deutete nach Osten, wo sich ein sanft abfallendes Geröllfeld erstreckte. Ich mußte erst genauer hinschauen, bevor meine Augen das sahen, was die scharfen Augen des Barbaren mühelos erspäht hatten; die Gestalt eines Mannes, der unbeweglich auf dem Geröllfeld stand und anscheinend zu uns herüberblickte. »Er sieht aus wie ein Arpha«, sagte Fartuloon. Er winkte, doch der Mann reagierte nicht. Ra lief plötzlich los, auf den Arpha zu, der immer noch unbeweglich verharrte.
20 Gefahr! signalisierte mir mein Extrasinn! Halte den Barbaren zurück, du Narr! Ra hatte inzwischen das Geröllfeld erreicht. Ich öffnete den Mund, um ihn zurückzurufen, als der Barbar plötzlich langsamer wurde. Im nächsten Augenblick erstarrte er, den Kopf halb zurückgewandt. »Er ist in eine Schweigende Zone geraten«, sagte Fartuloon. »Wir müssen ihn herausholen«, erklärte ich. »Ich habe genau gesehen, an welcher Stelle sich seine Bewegungen verlangsamten. Dort befindet sich die Streuzone des Stasisfeldes. Bis dorthin dürfen wir uns also wagen.« Schweigend kletterten wir zum Geröllfeld hinab. Vor der Stelle, an der Ra langsamer geworden war, hielten wir an. Wenn ihr weitergeht, seid ihr verloren! warnte mein Extrasinn. Mein Pflegevater hob einen Stein auf, holte aus und warf ihn. Der Stein hätte eigentlich mindestens vierzig Meter weit fliegen müssen. Aber sein Flug wurde schon nach wenigen Metern verlangsamt. Dicht vor Ra sank er weich zu Boden. Fartuloon stieß eine Verwünschung aus. »Wahrscheinlich klappt es nicht«, meinte er. »Wir werden es dennoch versuchen.« Er knüpfte das Seil, das uns die Arphas mitgegeben hatten, von seinem Gürtel. Es sollte uns beim Klettern helfen. Jetzt mußten wir versuchen, Ra damit aus seiner grauenhaften Lage zu befreien. Der Barbar war sich seines Zustandes sicher nicht bewußt geworden. Wenn sich der individuelle Zeitablauf verlangsamt, braucht man einen Bezugspunkt, um das zu erkennen. Da Ra vor sich aber nur das Geröllfeld mit dem erstarrten Arpha sah – falls er überhaupt noch einer Wahrnehmung fähig war –, mußte er seinen Zustand für völlig normal halten. Vielleicht schaffte er es in den nächsten tausend Jahren, seinen Kopf so weit zurückzudrehen, daß er die Welt außerhalb des Stasisfeldes sah. Dann würde ihm bewußt wer-
H. G. Ewers den, was mit ihm passiert war. Fartuloon legte das Seil in große Schleifen, knotete an einem Ende eine Schlinge hinein und schwang es dann über seinem Kopf. Als er es losließ, flog es auf Ra zu. Aber einen halben Meter vor dem Barbaren sank es wie in Zeitlupe zu Boden. »So geht es also nicht«, stellte mein Pflegevater fest. »Du solltest die Schlinge mit einem Stein beschweren«, sagte ich. »Daran habe ich auch schon gedacht«, gab Fartuloon zurück. »Aber dann wird sich die Schlinge zuziehen, bevor sie Ra erreicht.« »Versuchen solltest du es trotzdem«, erwiderte ich. Fartuloon hob einen faustgroßen Stein auf und befestigte ihn nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen an der Seilschlinge. Danach schwang er das Seil abermals über seinem Kopf. Als er es losließ, flog es immer langsamer werdend, bis auf etwa zehn Zentimeter an Ra heran. Dann schwebte es sanft zu Boden. »Wenn Torrelion uns zusieht, lacht er sich schief und krumm!« schimpfte mein Pflegevater. Er warf mir einen giftigen Blick zu. »Ich weiß schon, was du sagen willst. Wir wissen nicht, ob Torrelion überhaupt Augen zum Sehen hat und ob er ein Organ besitzt, mit dem er lachen kann. Du brauchst mir gar nichts zu sagen, mein Junge.« »Du hast etwas vergessen«, entgegnete ich. »Wir wissen außerdem nicht, ob es Torrelion möglich ist, sich schief und krumm zu lachen.« Wütend warf mir Fartuloon das Seil vor die Füße, nachdem er es zurückgezogen hatte. »Wenn du so schlau bist, dann versuche du es doch einmal!« rief er mir zu.
* Ich rührte das Seil nicht an, sondern setzte mich auf einen großen Steinbrocken.
Zonen des Schweigens Fartuloon betrachtete mich eine Weile, dann runzelte er die Stirn und fragte: »Glaubst du, daß du durch Nichtstun etwas erreichst?« »Nein«, erwiderte ich ruhig. »Dann tu endlich etwas!« schimpfte mein Pflegevater. »Ich tue ja schon etwas«, erklärte ich. »Ich denke nämlich nach. Aber wenn du mich störst, komme ich zu keinem brauchbaren Ergebnis. Also sei bitte schön leise und strenge dein Zerebralsystem an.« Fartuloon zog ein Gesicht, als wollte er im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Das Ganze war natürlich nur Theater. Unsere ganze Flachserei diente nur dazu, die nervliche Anspannung aufzulockern, in die wir geraten waren. Ich dachte allerdings wirklich nach. Fartuloons Versuche hatten mir bewiesen, daß wir mit direkten Methoden nichts erreichen würden. Folglich mußten wir uns etwas Anderes einfallen lassen. Natürlich gab es noch die Möglichkeit, Ra einfach zurückzulassen und darauf zu hoffen, daß wir ihn befreien konnten, nachdem wir Torrelion besiegt hatten. Aber noch wollte ich nicht aufgeben. Vielleicht fehlte uns Ra während der entscheidenden Auseinandersetzung, dann waren wir alle drei verloren. Ich zermarterte mir mein Gehirn, ohne eine Möglichkeit zu finden, an Ra heranzukommen, geschweige denn, ihn aus dem Stasisfeld zu befreien. Als ich einen Blick auf Fartuloon warf, sah ich, daß mein Pflegevater sein Skarg gezogen hatte und mit der Klinge im Geröll stocherte. Ab und zu löste sich ein Geröllbrocken und rollte den Hang hinab. Der Hang! signalisierte mein Extrahirn. Denke nach! Wenn hangabwärts Steine entfernt werden, gerät das Geröll darüber in Bewegung. »Das könnte gehen«, sagte ich. »Wovon sprichst du?« erkundigte sich Fartuloon. »Hat sich dein siebter Sinn wieder einmal gemeldet?«
21 Ich lächelte flüchtig. »Ra steht auf einem Geröllhang«, erklärte ich. »Das ist keine Neuigkeit für mich«, meinte Fartuloon. »Wo hast du bisher nur deine Augen gehabt, daß dir das nicht früher aufgefallen ist?« Ich seufzte. »Leg mal eine Schweigeminute ein, alter Bauchaufschneider«, erklärte ich. »Ich denke, ich habe die Lösung gefunden. Wenn wir unterhalb von Ra genug Geröll forträumen, wird sich der Hang mitsamt unserem Freund in Bewegung setzen und ihn aus dem Stasisfeld spülen.« Fartuloon rieb sich den Nasenrücken. »Das kling nicht schlecht«, meinte er nachdenklich. »Die Frage ist nur, ob sich das Geröll im Stasisfeld tatsächlich bewegen kann.« »Die Frage ist, wie schnell es sich bewegen kann«, entgegnete ich. »Bewegen muß es sich auf jeden Fall, dem entsprechenden physikalischen Gesetz gehorchend. Nur, ob es sich in wenigen Minuten oder erst in tausend Jahren so weit bewegt, daß Ra freikommt, das ist die Frage.« Ich stand auf und hob einen Stein hoch. »Eine weitere Frage ist, wie weit wir den Hang hinabsteigen müssen, um außerhalb des Stasisfeldes zu bleiben.« Ich warf den Stein hangabwärts. Er flog nur wenige Meter, dann geriet er in den Wirkungsbereich des Stasisfeldes und schwebte sanft zu Boden. »Du mußt es von weiter unten versuchen«, sagte Fartuloon. Das war mir ebenfalls klar geworden. Ein Stein, der von hier oben geworfen wurde, mußte das Stasisfeld zwangsläufig durchqueren und dabei aufgehalten werden. Ich kletterte tiefer und versuchte, es mit einem anderen Stein. Diesmal klappte es. Der Stein flog ungehindert etwa dreißig Meter weit und bewies uns damit, daß wir uns hier unten außerhalb des Stasisfeldes bewegen konnten. Wir zogen unsere Strahlwaffen und
22 schmolzen einen Graben in das Geröll. Die weiter oben liegenden Steine rollten sofort nach und füllten den Graben auf. Leider rollte das Geröll, auf dem Ra stand, nicht mit. Jedenfalls nicht erkennbar für unsere Sinne. »Schade!« sagte ich. »Da Ra sich schließlich bis zu seinem jetzigen Standort aus eigener Kraft bewegt hat, hatte ich gehofft, das Stasisfeld wäre doch nicht stark genug, um die gesamte überhängende Geröllmasse aufzuhalten.« »Vielleicht fehlt nur noch der Stein des Anstoßes«, erwiderte mein Pflegevater. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Überhang. Im nächsten Moment brach das überhängende Geröll blitzartig zusammen. Ras Körper knickte ein. Ich fürchtete schon das Schlimmste für unseren Freund, da handelte Fartuloon. Das Seil wirbelte durch die Luft. Die Schlinge glitt über Ras Kopf und Schultern – und straffte sich, als mein Pflegevater nach oben stürmte. Zwar stürzte Ra dennoch, aber er geriet wenigstens nicht unter die Geröllawine, die den Hang hinabschoß. Sein Körper wirbelte einige Male herum, dann hatte Fartuloon ihn aus der Gefahrenzone gezogen. »Bist du verletzt?« fragte ich. Ra blickte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Er hatte offenbar noch immer nicht begriffen, daß er in ein Stasisfeld geraten war. Ich erklärte es ihm. »Künftig läufst du nicht einfach los!« sagte Fartuloon. »Es war gar nicht leicht, dich wieder zurückzuholen.« Ra nickte. Der Barbar erholte sich relativ schnell von seinem Schreck. Bis auf ein paar Prellungen und Hautabschürfungen war er unverletzt geblieben. Und wir hatten die erste direkte Kostprobe von der Macht Torrelions erhalten. Dennoch zögerten wir nicht, den Aufstieg fortzusetzen. Im Gegenteil, wir brannten nun erst recht darauf, ihn unschädlich zu ma-
H. G. Ewers chen.
* Etwa zwei Stunden später erreichten wir die nächste Schweigende Zone. Es handelte sich um ein Hochplateau, auf dem statuengleich vier Arphas und drei andere Lebewesen standen. Eines der anderen Opfer Torrelions war ein Arkonide, die beiden anderen waren Maahks in ihren unförmig wirkenden Raumanzügen. »Maahks und Arkoniden friedlich vereint«, sagte Fartuloon mit bitterer Ironie. »Ob der Arkonide ein Beauftragter Orbanaschols ist?« überlegte ich laut. Fartuloon musterte ihn genauer, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Atlan«, erklärte er. »Der Mann trägt eine total veraltete Raumfahrerkombination. Wenn ich mich nicht irre, stellt das Symbol auf seinem Brustschild das Wappen der Camoth-Dynastie dar, die bis vor rund zweitausend Jahren das Imperium regierte.« Ich erschauderte. »Bis vor rund zweitausend Jahren?« sagte ich entsetzt. »Das bedeutet, daß der arme Kerl seit mindestens zweitausend Jahren hier steht.« »So muß es wohl sein«, meinte mein Pflegevater. »Für ihn dürften allerdings höchstens einige Sekunden vergangen sein.« »Er kann die Maahks sehen«, sagte ich leise. »Was mag er wohl bei ihrem Anblick empfinden? Zu seiner Zeit wußte man auf Arkon bestimmt noch nichts davon, daß es die Wasserstoffatmer überhaupt gibt. Ob er erschrak, als sie auftauchten?« »Wahrscheinlich ist er noch dabei, zu erschrecken«, sagte Fartuloon. »Die Maahks sind jedenfalls mit schußbereiten Waffen in seine Richtung gestürmt. Sie kamen demnach zu einer Zeit, als zwischen ihnen und dem großen Imperium bereits Krieg herrschte.« Ich war erschüttert. Wieder einmal ging mir auf, wie unsinnig alle Kriege waren, auch der Krieg zwischen
Zonen des Schweigens den Maahks und dem Großen Imperium. Dort drüben stand ein Arkonide, der beim Anblick von Maahks noch keine Feindschaft und keinen Haß empfunden haben konnte. Die beiden Maahks dagegen stammten aus einer Zeit, die es ihnen zur Pflicht machte, jedes intelligente humanoide Lebewesen auf die eine oder andere Art und Weise unschädlich zu machen. Das Stasisfeld hatte ihre Absichten ad absurdum geführt. Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, dann hätte man das Bild als grotesk empfinden können. Mein Pflegevater legte mir seine derbe Hand auf die Schulter. »Ich weiß, was du denkst, mein Junge«, sagte er. »Man kann nie genug Abscheu vor Kriegen empfinden. Aber vergiß nicht, daß es die Maahks waren, die diesen Krieg anfingen.« »Weißt du das genau?« fragte ich. Er zuckte die Schultern. »Was heißt schon genau, Atlan! Vielleicht haben auch einige Arkoniden Fehler begangen, damals, als es zur bewaffneten Konfrontation kam. Das Große Imperium hat schließlich eine großangelegte Expansionspolitik betrieben und war niemals zimperlich, wenn es darauf ankam, einen Konkurrenten in die Schranken zu weisen. Aber Tatsache ist, daß die Maahks den ursprünglichen Schlagaustausch zwischen ihren und unseren Flotten zu einem mörderischen Vernichtungskrieg gesteigert haben. Sie löschen alles humanoide Leben aus, das sie finden. Es ist verdammt bitter, aber einem solchen Vernichtungswillen kann man nur mit Haß begegnen.« Ich senkte den Kopf. Was Fartuloon mir erzählte, wußte ich alles selbst. Ich wußte, daß wir Arkoniden die Maahks hassen mußten. Und da der Krieg viele Opfer forderte, mußte der Haß so weit gehen, daß Arkoniden bereit waren zu sterben, wenn sie dabei nur einige Wasserstoffatmer mitnehmen konnten. Das alles sah ich ein. Dennoch verabscheute ich diesen Krieg. Irgendwo mußte
23 ein Grund für den blindwütigen Vernichtungswillen der Maahks liegen. Vielleicht fanden wir ihn eines Tages heraus – wenn die Maahks uns Zeit genug ließen, um zwischen den mörderischen Raumschlachten Atem zu holen und nachzudenken. Nur, solange Orbanaschol III. regierte, bestand keine Chance, die tieferen Ursachen des maahkschen Vernichtungswillen herauszufinden. Der Diktator stellte seine persönlichen Interessen vor die des Imperiums und hatte bestimmt noch keinen Augenblick darüber verschwendet, sich Gedanken über den Irrsinn des gegenseitigen Abschlachtens zu machen. Ich seufzte. »Gehen wir weiter!« sagte ich. »Am liebsten möchte ich alle großen Probleme gleichzeitig lösen, aber ich sehe ein, daß man den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun kann.« »So ist es«, erwiderte mein Pflegevater. Er schien erleichtert darüber zu sein, daß ich mich wieder gefangen hatte. Wir marschierten weiter. Teilweise mußten wir wahrhaft halsbrecherische Kletterstrecken überwinden. Es wurde Abend, bis wir den zerklüfteten Felshang erreichten, über den etwa acht Gebäude unterschiedlicher Größe verstreut waren. Wir blieben stehen. »Das Reich Torrelions!« sagte Fartuloon schwer. »Wahrscheinlich handelt es sich um ehemalige Experimentierstationen der Varganen. Ich schlage vor, wir verstecken uns in der Nähe und beobachten.«
5. Wir hatten uns zwischen einigen großen Felsblöcken einigermaßen eingerichtet und warteten. Die Abendsonne warf ihren rötlichen Schein auf den Felshang und die Gebäude und vergoldete die höheren zinnenartigen Gipfel im Osten. Ich konnte mir keinen Anblick vorstellen, der friedlicher war. Dennoch fühlte ich mich nicht wohl. Tief in
24 meinem Innern lastete ein Gefühl dumpfer Drohung. Bis jetzt hatten wir noch kein lebendes Wesen gesehen. Nicht einmal ein Insekt. Die Gegend schien völlig ausgestorben zu sein. Vielleicht wurde die Rolle Torrelions tatsächlich nur von einem verrückt gewordenen Computer gespielt, von einer Positronik, die an Ausfallerscheinungen litt und deshalb irregulär arbeitete. »Ich denke, wir sollten nicht länger warten, sondern das nächste Bauwerk aufsuchen«, sagte ich ungeduldig. »Ich weiß nicht …« erwiderte Fartuloon zögernd. »Vielleicht hat Torrelion uns noch nicht bemerkt. Wenn wir aber in ein Gebäude eindringen …« Plötzlich packte Ra meinen Arm. Ich sah an seinem Gesicht, daß er aufgeregt war und folgte seinem ausgestreckten rechten Arm mit den Augen. Was ich sah, verschlug mir im ersten Moment die Sprache. Auf einem schmalen Pfad, der die nächsten beiden Gebäude miteinander verband, und der teilweise durch große Felsblöcke verborgen war, waren zwei humanoide Lebewesen aufgetaucht. Keine Männer, keine waffenstarrenden Kämpfer, sondern zwei Kinder. Sorglos schlenderten sie den Pfad entlang, hüpften ab und zu, wie es ausgelassene Kinder zu tun pflegen, und sangen. »Was ist das?« fragte Fartuloon verblüfft. »Es sind Kinder«, sagte ich. »Höchstens sechs Jahre alt, und sie sehen aus wie eineiige Zwillinge.« »Ich will meine Stiefel essen!« entfuhr es Fartuloon. »Wie kommen Kinder hierher – ausgerechnet hierher?« Das fragte ich mich auch. Ich fragte mich außerdem, ob die Kinder eine Sinnestäuschung waren, eine Spiegelfeldprojektion etwa, die Torrelion erzeugt hatte, um uns zum Narren zu halten. Aber sie benahmen sich so natürlich, daß ich es einfach nicht glauben konnte. Wir hatten uns hinter unserer Deckung
H. G. Ewers aufgerichtet, deshalb war es unvermeidlich, daß auch die Kinder uns entdeckten. Sie blieben stehen, blickten zu uns herüber, dann kamen sie zutraulich auf uns zu. »Merkst du etwas, Atlan?« flüsterte Fartuloon, als die Kinder nur noch etwa zehn Schritt von uns entfernt waren. Erst jetzt fiel mir die Ähnlichkeit beider Kinder mit Dovreen und der Frau auf, die wir bei dem Weisen gesehen hatten. Jedenfalls die Ähnlichkeit der Gesichtszüge. Allerdings waren sie nicht doppelgesichtig wie Dovreen. »Ob sie die Kinder der beiden sind?« überlegte ich laut. »Aber wie kommen sie hierher?« »Vielleicht hat Torrelion sie in seine Gewalt gebracht und hält sie als Geiseln gefangen, um Dovreen daran zu hindern, etwas gegen ihn zu unternehmen«, meinte mein Pflegevater. »Dann müssen wir sie befreien«, sagte ich eifrig. Ich winkte den Kindern. »Kommt hierher, schnell!« rief ich mit gedämpfter Stimme. »Wir werden euch zu euren Eltern zurückbringen.« Die Kinder blieben stehen. Sie waren nur noch fünf Schritt von uns entfernt. Plötzlich lächelten sie beide, und im nächsten Moment zogen sie metallisch schimmernde Stäbe aus ihrer Kleidung hervor und richteten sie auf uns. Deckung! raunte mein Extrasinn mir zu. Zu spät. Ich spürte, wie sich die paralysierende Energie in meinem Körper ausbreitete und mich lähmte. Steif wie ein Stück Holz kippte ich um und fiel hart auf den Boden. Ich spürte den Aufprall nicht, denn auch meine Schmerzempfindung war ausgeschaltet. Ich konnte nur noch sehen, hören und riechen – und natürlich denken. Allerdings wußte ich nicht, was ich denken sollte. Ich konnte mir einfach keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Es erschien mir undenklich, daß die beiden Kinder Torrelion freiwillig in diese Einöde
Zonen des Schweigens gefolgt sein sollten. Dennoch hatten sie uns paralysiert und damit verhindert, daß wir sie befreiten. Aber vielleicht standen sie unter einem hypnosuggestiven Bann und handelten deshalb im Sinne Torrelions. Wenn es so war, dann hatte er unsere Ankunft längst bemerkt und uns die beiden Kinder entgegengeschickt, weil er als sicher annahm, daß wir sie als harmlos betrachten würden. Meine Überlegungen wurden unterbrochen, als ein Flugroboter in meinem Blickfeld auftauchte, mich packte und in die Höhe zog. Sekunden später schwebte er mit mir auf das größte Gebäude zu, einen Kuppelbau, dessen oberes Drittel im Schein der untergehenden Sonne wie flüssiges Kupfer leuchtete.
* Der Flugroboter brachte mich in einen großen Saal und verfrachtete mich dort in einen Sessel, der auf einem hohen Podest stand. Ich saß so, daß ich den größten Teil der Halle übersehen konnte. Deshalb konnte ich auch genau verfolgen, wie Ra und Fartuloon hereingebracht wurden. Sie waren genauso stocksteif wie ich. Ihre Flugroboter brachten sie irgendwo links und rechts neben mir unter und damit aus meinem Blickfeld. Ich nahm aber an, daß sie ebenfalls in Sessel gesetzt wurden. Wenig später trafen die beiden Knaben ein. Sie hatten ihre Waffen wieder in den Falten ihrer Gewänder verschwinden lassen und wurden von vier Kampfrobotern begleitet. Diese vier Roboter faszinierten mich. Sie waren zwar humanoid geformt, aber genauso breit wie lang, hatten kuppelförmige Ortungsköpfe und je sechs tentakelförmige Waffenarme sowie zusätzlich zwei Greifarme. Sicher stellten sie eine Hinterlassenschaft aus einem Waffenarsenal der Varganen dar. In der Mitte des Saales blieben die beiden
25 Knaben stehen. Auch die vier Kampfroboter hielten an. »Willkommen im Reich Torrelions!« rief einer der Knaben. »Wir freuen uns über jeden Besucher«, sagte der andere. »Es ist sonst so langweilig hier«, meinte der erste. »Deshalb haben wir für ausreichend Material zur Zerstreuung gesorgt«, warf der zweite ein. Ich wollte die Stirn runzeln und merkte, daß es nicht ging. Die Worte der Zwillinge gaben mir ein weiteres Rätsel auf. Ich tröstete mich damit, daß irgendwann und irgendwie Torrelion persönlich in Erscheinung treten mußte, ob es sich um eine Person oder um eine Maschine handelte. Zwar hatte ich mir die Konfrontation ganz anders ausgemalt, aber irgendwie hoffte ich immer noch, mit heiler Haut davonzukommen. Beide Knaben klatschten gleichzeitig in ihre Hände. Kurz darauf tauchten zwei Arphas in meinem Blickfeld auf. Sie trugen außer kurzen Lendenschurzen je einen kleinen runden Buckelschild und eine lange dünne Lanze. Das Gesicht des einen war mit grüner Farbe bemalt, das des anderen mit roter. Wenig später sah ich, daß die Arphas nicht aus freien Stücken in die Halle gekommen waren. Zwei Flugroboter tauchten hinter ihnen auf. »Ihr kennt die Spielregeln!« rief der erste Knabe. »Der Sieger wird freigelassen«, warf der Zweite ein. »Und nun – kämpft!« Die beiden Eingeborenen zögerten. Plötzlich ertönte ein sirrendes Geräusch. Im nächsten Augenblick schrien die Arphas laut. »Das war die Strafe für euren Ungehorsam!« rief der erste Knabe mit schriller Stimme. »Ihr habt zu gehorchen, wenn wir befehlen!« Sein letzter Satz machte mich stutzig. Wie hatte der Knabe gesagt: Ihr habt zu
26 gehorchen, wenn wir befehlen. Wäre er nur der Sprecher Torrelions gewesen, hätte er seinen Satz eigentlich anders formulieren müssen, etwa: Ihr habt Torrelion zu gehorchen. Oder so ähnlich. So aber hatte sich das Kind mit Torrelion identifiziert. Wie sollte ich das verstehen? Ein krankes Gehirn, das Fremde hypnosuggestiv beeinflußt, sorgt erfahrungsgemäß dafür, daß seine Oberherrschaft nicht aus dem Gedächtnis der Beherrschten verschwindet. Im Gegenteil: es sorgt dafür, daß sie immer an es erinnert werden. Nichts aber ist dazu besser geeignet, als die Beeinflußten den Namen des Herrn so oft wie möglich im Munde führen zu lassen. Es gibt eine mögliche Erklärung! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mit. Die beiden Kinder sind Torrelion. Unsinn! dachte ich im ersten Augenblick. Doch als ich gründlicher darüber nachdachte, erschien es mir nicht mehr so absurd. Ich mußte nur voraussetzen, daß sie entweder früh gereifte Gehirne hatten – mit allen negativen Folgen, die sich daraus ergaben – oder daß sie viel älter waren als ihr Aussehen vermuten ließ. Vorerst aber wurde ich abgelenkt, als das grausame Schauspiel begann. Die beiden Arphas stellten sich gegenüber auf und kämpften. Sie gingen relativ ungeschickt mit den Waffen um, aber das betraf nicht nur ihre Angriffsaktionen, sondern auch ihre Verteidigung. So blieb es nicht aus, daß beide Männer bald aus mehreren Wunden bluteten. Abermals blieben sie stehen, und abermals ertönte das sirrende Geräusch. Diesmal hatte ich gesehen, daß bei den beiden Robotern, die die Arphas bewachten, im Augenblick des Sirrens je ein schwaches Licht aufgeleuchtet hatte. Wahrscheinlich arbeiteten die Maschinen mit Strahlen, die Schmerzempfindungen hervorriefen. Die Eingeborenen schrien erneut auf. Zitternd stellten sie sich wieder zum Kampf. Der mit dem grünbemalten Gesicht war nicht so stark gebaut wie der Rote, dafür war
H. G. Ewers er gewandter. Er schien auch der Entschlossenere zu sein, denn in der zweiten Runde zögerte er nicht mehr. Der Rotgesichtige erhielt einen Lanzenstich in die linke Seite und taumelte. Der Grüngesichtige ließ sein Schild fallen, packte seine Lanze mit beiden Händen und stieß sie dem anderen tief in die Brust. »Bravo!« rief der zweite Knabe, als der Rote zusammenbrach. Er deutete auf den Grünen. »Du bist der Sieger!« Der Eingeborene wandte sich an die Knaben. »Ich bin frei?« fragte er ungläubig. Knabe Nummer eins lachte zynisch. »Du bist nicht nur frei, sondern du wirst auch bald das ewige Leben bekommen.« Ich ahnte, was der Knabe meinte. Wahrscheinlich würde der Sieger dieses grausamen Kampfes irgendwo von einem Stasisfeld eingefangen werden, und solange er sich im Wirkungsbereich dieses Feldes befand, würde er nur unmerklich altern. Theoretisch konnte er mehrere Millionen Jahre alt werden – aber auch nur für den außenstehenden Beobachter, der dem normalen Zeitablauf unterlag. Als der Arpha gegangen war, wandten sich die Knaben wieder an uns. »Wie hat es euch gefallen?« fragte der Zweite. »Bald werdet ihr zeigen können, was ihr wert seid«, meinte der erste. »Es war wirklich nett von euch, uns zu besuchen«, erklärte der zweite höhnisch. »Dafür werden wir eine Überraschung für euch vorbereiten«, versprach der erste. Ich bedauerte, daß ich ihnen nicht sagen konnte, was ich von ihrem Treiben hielt, obwohl das wohl wenig gefruchtet hätte. Diese beiden Knaben waren geistige Mißgeburten, Scheusale, die kein Mitgefühl kannten, außer vielleicht für sich selbst. »Wir lassen euch jetzt für eine Weile allein«, sagte der zweite. »Ruht euch inzwischen aus«, erklärte der erste. »Wenn wir wiederkommen, werden wir ein Spielchen spielen, bei dem ihr alle
Zonen des Schweigens eure Kräfte brauchen werdet.« Damit verließen sie die Halle. Die vier varganischen Roboter folgten ihnen, furchterregend wirkende Kampfmaschinen, die aber dennoch viel harmloser waren als die beiden schrecklichen Kinder.
* Da es in der Halle immer gleichmäßig hell blieb und nichts sich bewegte, verlor ich fast den Sinn für den Ablauf der Zeit. Ich wußte nicht einmal, ob unsere Eigenzeit überhaupt noch normal ablief oder ob die Knaben uns in ein Stasisfeld gehüllt hatten. Dennoch resignierte ich nicht. Verbissen kämpfte ich darum, die Herrschaft über meinen paralysierten Körper zurückzuerlangen. Bald merkte ich, daß mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, und auch unter den Achseln bildete sich Schweiß. Meine rechte Fußsohle juckte beinahe unerträglich. Doch ich versuchte es weiter. Als es mir gelang, die Lippen zu verziehen, war dieser erste Erfolg mir nur Ansporn zu noch größerer Anstrengung. Wenig später konnte ich beide Daumen bewegen. Unermüdlich schickte mein Gehirn Befehle über die Nerven zu den anderen Muskelgruppen meines Körpers. Bald darauf konnte ich die Zehen bewegen. Von da an ging es schnell. Als ich glaubte, meinen Körper wieder einigermaßen zu beherrschen, schob ich mich aus dem Sessel, gab mir einen letzten Ruck – und stand plötzlich wieder auf eigenen Füßen. Ich schwankte ein wenig, und mir wurde schwarz vor Augen. Doch auch das ging schnell vorüber. Etwas unsicher noch, drehte ich mich nach rechts. Das Jucken meiner Fußsohle ignorierte ich. Ich sah Fartuloon vor mir. Mein Pflegevater saß noch immer unbeweglich in dem Sessel, in dem ihn die Flugroboter gesetzt hatten. »Fartuloon!« sagte ich mit schwerer Zunge.
27 Ich konnte nicht erkennen, ob er mich gehört hatte, denn er reagierte nicht. Langsam tappte ich zu ihm, etwas mühsam das Gleichgewicht haltend. Als ich vor seinem Sessel stand, blickte ich in seine geöffneten Augen. Ich glaubte ein Glitzern darin zu bemerken, aber das war auch die einzige Reaktion. Bei meinem Pflegevater wirkte die Paralyse noch voll. Ich drehte mich um und blickte zu Ra hinüber. Auch der Barbar saß reglos in seinem Sessel. Allmählich dämmerte mir, daß ich von uns dreien der einzige war, der seine Lähmung überwunden hatte. Dabei kämpfte Fartuloon garantiert nicht weniger dagegen an, als ich es getan hatte. Folglich mußte die Dosis an Paralysestrahlung, die ich erhalten hatte, geringer gewesen sein als die, von der Fartuloon und Ra getroffen worden waren. Du mußt handeln! raunte mein Logiksektor mir zu. Die Knaben können nicht ahnen, daß du vorzeitig die Paralyse abgeschüttelt hast. Das gibt dir einen unschätzbaren Vorteil. Ich räusperte mich und sagte eindringlich: »Hör zu, Fartuloon. Es hätte keinen Sinn, bei euch zu warten, bis auch eure Paralyse schwindet. Folglich werde ich allein etwas unternehmen. Ich hoffe, daß ich in dieser Station Schaltanlagen finde. Vielleicht gelingt es mir, sie unbrauchbar zu machen und die Knaben damit ihrer technischen Überlegenheit zu berauben.« Natürlich konnte mein Pflegevater mir nicht antworten. Aber ich wußte, daß er mich gehört hatte. Da Ra nicht weit entfernt saß, würde er meine Worte ebenfalls verstanden haben. Es wäre sinnlos gewesen, mich noch länger aufzuhalten. Ich sah mich genauer in der Halle um. Ein großes verschlossenes Tor führte nach draußen. Das wußte ich, denn von dort waren wir gekommen. Außerdem gab es noch zwei Türen, die eine links von mir, die andere rechts. Nach rechts waren die Zwillinge gegangen. Aber
28 auch die beiden Gefangenen waren von dort hereingebracht worden. Den Toten hatten Flugroboter weggeräumt und nach draußen gebracht. Ich entschloß mich, die rechte Tür zu nehmen. Sie führte wahrscheinlich ins Herz der Anlage. Als ich vor ihr stand, zögerte ich etwas. Man hatte uns alle Waffen genommen, folglich durfte ich mich auf keine offene Auseinandersetzung einlassen – jedenfalls vorläufig nicht. Wenn hinter der Tür Roboter Wache hielten … Ich unterdrückte meine Bedenken und suchte nach dem Öffnungsmechanismus. Wie ich schnell herausfand, mußte man die Hand auf ein fremdartiges Muster aus Strichen, Punkten und Kreisen legen, das sich in der Mitte der Tür befand. Die Tür glitt nach links weg. Dahinter lag ein in rötliches Licht gehüllter Gang – und er war leer. Die erste Hürde war überwunden. Vorsichtig, damit ich kein Geräusch erzeugte, schlich ich durch den Gang, wobei ich aufmerksam die Wände betrachtete. Aber meine Hoffnung, darin eine Tür zu finden, erfüllte sich nicht. Es gab nur eine weitere Tür: die am Ende des Ganges. Sie ließ sich auf die gleiche Weise öffnen wie die erste Tür. Meine Anspannung stieg, als sie zur Seite glitt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die beiden Knaben sich nicht vor unliebsamen Überraschungen geschützt hatten. Hinter der Tür lag ein kleiner dreieckiger Raum mit einem Loch im Fußboden: die Öffnung eines Antigravschachtes. Ich schob den Fuß ein Stück über die Öffnung und spürte sofort das vertraute Gefühl aufgehobener Schwerkraft. Der Antigravschacht war also in Betrieb. Es hätte keinen Sinn gehabt, länger zu zögern. Im Gegenteil, mit jeder Minute, die ungenutzt verstrich, verkürzte sich meine Frist. In absehbarer Zeit mußten sich die Zwillinge wieder um uns kümmern, da keine
H. G. Ewers Paralyse ewig anhielt. Da ich nicht wußte, wann dieser Zeitpunkt kommen würde, mußte ich mich beeilen. Ich vertraute mich dem Kraftfeld des Schachtes an. Auch er war in rötliches Licht getaucht. An seiner Wandung befanden sich fremdartige Markierungen, wohl noch die Zeichen der ursprünglichen Benutzer der Anlage. Etwa zehn Meter tiefer kam der erste Ausstieg. Ich ließ mich an ihm vorübergleiten. Fünf Meter weiter unten befand sich die nächste Öffnung. Dahinter erspähte ich wieder einen Gang. Bevor ich mich entschieden hatte, ob ich dort aussteigen wollte, war ich tiefer geschwebt. Ich beschloß, die nächste Öffnung zu benutzen. Als sie kam, ergriff ich die beiden Haltestangen und schwang mich hinaus. Auch hier lag ein Gang vor mir. Er war nur kurz, und an seinem Ende befand sich wiederum eine Tür. Ich blieb vor der Tür stehen und lauschte. Dahinter war es still. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen, daß jemand hinter der Tür war, und sie ebenfalls zu öffnen. Als sie zur Seite glitt, erblickte ich vor mir einen halbrunden Raum, dessen Wände mit kleinen Bildschirmen versehen waren. Die Bildschirme waren schwarz, aber an den schmalen Konsolen darunter befanden sich fremdartige Schaltungen. Als die Tür sich hinter mir automatisch schloß, ging ich auf die nächste Schaltkonsole zu. Ich nahm an, daß es sich bei den Bildschirmen um Monitorschirme handelte. Wenn die Schaltungen noch funktionierten, würde ich bald mehr über die alte Station der Varganen wissen.
6. Die Schaltungen funktionierten noch. Die erste Reihe der Monitorschirme wurde hell und zeigte nach kurzem Flimmern ein Abbild der Landschaft. Deutlich erkannte ich die übrigen Gebäude der Station.
Zonen des Schweigens Wahrscheinlich arbeiteten die Aufnahmegeräte des Monitorsystems nach dem Bildtasterprinzip, denn meiner Schätzung nach mußte es draußen noch Nacht sein. Dennoch waren die Bilder so klar wie an einem wolkenlosen Tag. Ich fragte mich, ob die Zwillinge meine Flucht inzwischen entdeckt hatten und was sie unternehmen würden, um mich wieder einzufangen. Wahrscheinlich würden sie ihre Roboter losschicken. Eigentlich, sagte ich mir, war es verwunderlich, daß ich überhaupt so weit gekommen war, ohne entdeckt zu werden. Die Knaben schienen Sicherheitsmaßnahmen innerhalb der Station für überflüssig zu halten. Sie waren bisher überflüssig! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mit. Die Furcht vor Torrelion schützte die Knaben besser als alle Sicherheitssysteme. Ich betätigte die Schaltungen der nächsten Konsole. Es handelte sich um ganz normale Sensortasten, wie sie auch von der arkonidischen Technik verwendet wurden. Das war verständlich, wenn man bedachte, daß die Varganen ebenfalls humanoid waren. Eine weitere Reihe von Monitorschirmen leuchteten auf. Diesmal erblickte ich auf den Bildschirmen allerdings nicht die Umgebung der Station, sondern mehrere Räume. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als ich in einem Raum die beiden Zwillinge sah. Sie standen, wieder begleitet von den vier Kampfrobotern, die offenbar ihre Leibwächter waren, vor einer Apparatur, deren Sinn ich nicht sofort begriff. Als ich ihn begriff, drehte sich mir beinahe der Magen um. Eingespannt in eine komplizierte elektronische Apparatur, entdeckte ich sechs glockenförmige transparente Behälter, in denen grauweiße klumpige Gebilde in einer rötlichen Flüssigkeit schwammen. Die Gehirne intelligenter Lebewesen! Auf einem Bildschirm über der Apparatur sah ich ein undefinierbares gelbliches Wallen. Das änderte sich, nachdem die Zwillin-
29 ge sich silbrig glänzende Helme, an denen zahlreiche bunte Kabel hingen, über die Köpfe gestülpt hatten. Das gelbliche Wallen wurde zu einem grünen Lichtermeer, aus dem sich allmählich das Gesicht eines alten Mannes formte. Eines Mannes? Einer Mumie! Das Gesicht war eingefallen, runzlig, braun. Die Augen waren geschlossen, die Lider so tief eingesunken, als befänden sich keine Augäpfel darunter. Der Mund wirkte wie eine dünne Wachsschicht, durch die gelbliche Zähne schimmerten. Das weiße Haar hing wirr über die Stirn, so dünn wie Spinnweben. Plötzlich wabberte bläuliches Licht auf, zuckte um die halbtransparenten Ohren des Gesichts. Blaue Flammenzungen zuckten aus den Nasenlöchern. Das weiße Haar stellte sich auf. Funken stoben heraus. Unendlich langsam hob sich ein Lid. Darunter kam ein Auge zum Vorschein, mit nicht mehr Leben als die Linse einer defekten Kamera. Das Lid des anderen Auges hob sich. Gleichzeitig zogen sich die wachsartigen Lippen zurück, entblößten ein schadhaftes Gebiß. Der Unterkiefer sank herab, und zwischen den beiden Zahnreihen flatterten grauhäutige kleine Tiere hervor, füllten den Bildschirm aus und verdeckten das Gesicht. Die beiden Knaben nahmen die Helme ab und lachten. Sofort zeigte der Bildschirm wieder nur das undefinierbare gelbliche Wallen. Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Die Zwillinge hatten ihre krankhaft entartete Phantasie spielen lassen und die dabei entstehenden grauenhaften Vorstellungen über die Transmitterhelme auf die sechs wehrlosen Gehirne überspielt. Die Gehirne mußten, von jeder anderen Wahrnehmung abgeschnitten, völlig in der krankhaften Vorstellungswelt der Knaben versunken sein. Die Qualen, die sie dabei erlitten hatten, waren für mich als Außenstehenden wahrscheinlich gar nicht vorstellbar.
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Und die beiden schrecklichen Kinder hatten sich daran geweidet. Sie sahen zwar humanoid aus, aber in Wirklichkeit waren sie Ungeheuer. Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Nein, ich durfte mich nicht zum Haß auf die Kinder hinreißen lassen. Ihre Gehirne waren krank und wahrscheinlich voller Qual, deshalb wurden sie immer wieder dazu getrieben, andere Lebewesen zu quälen. Rache war nicht die richtige Antwort darauf. Ich mußte dafür sorgen, daß die Kinder ihre grausamen Spiele nicht länger treiben konnten, aber ich war nicht berechtigt, sie für die unverschuldete Monstrosität ihres Geistes zu bestrafen. Die Frage war nur, wie ich ihrem Treiben ein Ende setzen konnte. Ein direktes Vorgehen verbot sich angesichts der vier robotischen Leibwächter von selbst. Du mußt Verwirrung stiften! teilte mir mein Extrasinn mit. Versuche, die Gefangenen der Kinder zu befreien. Danach hast du vielleicht eine Chance, an die wichtigen Schaltanlagen heranzukommen. Das war leichter gedacht als getan. Wie sollte ich die Gefangenen befreien, wenn ich nicht einmal wußte, wo sie untergebracht waren? Mein Blick fiel auf die letzte Reihe der Monitorschirme, die noch nicht aktiviert war. Vielleicht half es mir weiter, wenn ich sie einschaltete. Ich trat vor die entsprechende Konsole und ließ meine Finger über die Sensortasten gleiten.
* Als sich die letzte Reihe der Bildschirme erhellte, erblickte ich Ausschnitte aus einem typischen Zellentrakt. Hinter einer Reihe von Gittertüren saßen und standen gefangene Arphas. Ihre Gesichter zeugten von langer Haft und von Hoffnungslosigkeit und Furcht.
Ich hatte gefunden, was ich suchte. Das nützte mir allerdings noch nicht viel, denn bisher konnte ich die Zellen mit den Gefangenen nur auf Monitorschirmen sehen. Ich wußte nicht, wo sie sich befanden. Mir wurde klar, daß ich zu Fuß weitersuchen mußte – und ich durfte nicht länger zögern, denn entdeckten die Zwillinge erst einmal, daß ich mich von meinem Platz in der Halle entfernt hatte, ließen sie bestimmt von ihren Robotern auf mich Jagd machen. Ich schaltete die Monitoren aus, um keine Spuren zu hinterlassen, und verließ den Raum wieder auf dem gleichen Weg, auf dem ich gekommen war. Vor dem Einstieg zum Liftschacht zögerte ich, aber nur einen Herzschlag lang. Dann schwang ich mich in den Schacht und schwebte weiter nach unten. Ich kam noch an drei Öffnungen vorbei, bevor ich den Grund des Schachtes erreichte. Auf dem Boden schimmerte ein buntes Mosaik. Ich wunderte mich darüber, daß die Varganen in der nüchternen technischen Anlage ein Mosaik installiert hatten, das doch nur der ästhetischen Befriedigung dienen konnte. Im nächsten Augenblick änderte ich meine Meinung. Das Mosaik leuchtete plötzlich stärker. Seine Strahlung hüllte mich ein – und gleich darauf fand ich mich auf einem ähnlichen Mosaik wieder, das sich jedoch auf dem Boden eines dreieckigen Raumes befand. Das, was ich für ein Kunstwerk gehalten hatte, erfüllte demnach die Funktion eines Transmitters. Höchstwahrscheinlich war ich in ein anderes Gebäude der Station befördert worden. Mir konnte das nur recht sein, denn dadurch dürfte es den Kindern schwerer fallen, meine Spur aufzunehmen, sobald sie meine Abwesenheit in der Halle des ersten Gebäudes entdeckt hatten. Ich trat schnell von dem Mosaik herunter, denn ich wollte nicht schon wieder abgestrahlt werden. Erst gedachte ich, mich genau in diesem Gebäude umzusehen.
Zonen des Schweigens Der dreieckige Raum besaß nur eine Tür, so daß mir die Qual der Wahl erspart blieb. Als ich sie geöffnet hatte, atmete ich auf. Vor mir lag der Zellentrakt, den ich auf den Monitorschirmen gesehen hatte. Einige gefangene Arphas, die direkt an den Gitterstäben standen, wandten den Kopf, als ich den Gang vor ihren Zellen betrat. Ich sah, wie es in ihren Gesichtern arbeitete. Sie hatten mich noch nie zuvor gesehen, also mußten sie mich entweder für einen Freund der schrecklichen Zwillinge halten oder für einen Fremden, der heimlich in die Bergstation eingedrungen war. Letzteres konnte günstig für sie sein. Ich ging bis zur Mitte des Ganges, wobei ich die Gittertüren genau musterte und feststellte, daß ich sie ohne Hilfsmittel nicht öffnen konnte. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich überhaupt berechtigt war, die Gefangenen zu befreien und dadurch zu riskieren, daß einige von ihnen von den Zwillingen und ihren Robotern getötet wurden, wenn sie zu fliehen versuchten. Ich sagte mir jedoch, daß jedes Lebewesen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatte, selbst um seine Freiheit zu kämpfen. In der Mitte des Ganges blieb ich stehen. »Freunde!« sagte ich und ließ das Wort eine Weile auf die Gefangenen einwirken, damit sie begriffen, daß ich nicht ihr Feind war. Ich wußte ja, daß die Arphas die arkonidische Sprache beherrschten. Alle Gefangenen traten an die Gittertüren. Ihre Augen richteten sich auf mich. »Freunde!« wiederholte ich. »Ich bin Atlan, ein Freund Riiks, und ich will euch helfen. Torrelion ist auch mein Feind. Aber wenn ich euch helfen soll, müßt ihr auch mir helfen. Es muß irgendwo einen Impulsschlüssel für die Zellentüren geben …« »Dort!« unterbrach mich einer der Gefangenen. Er streckte seinen Arm durch die Gitterstäbe und deutete auf einen gelben Kasten
31 neben der zweiten Tür des Zellentrakts. Es war ein kleiner Kunststoffkasten. Ich eilte hin und konnte den Kasten mühelos öffnen. Wie ich erwartet hatte, hing darin ein klobiger Impulskodeschlüssel, der wahrscheinlich für alle Zellentüren paßte. Ohne zu zögern, nahm ich ihn an mich und ging zur rechten Zellentür. Ich preßte das eine Ende des Impulskodeschlüssels auf das runde elektronische Kodeschloß und drückte gleichzeitig den Sensorknopf des Schlüssels nieder. Ein schwaches Summen ertönte, dann sprang die Gittertür auf. Die drei Arphas, die sich in dieser Zelle befanden, warfen sich vor mir auf den Boden und umklammerten meine Knie. »Dafür ist keine Zeit«, sagte ich absichtlich grob. »Ich muß auch die anderen Zellen öffnen. Danach müßt ihr das Gebäude verlassen und versuchen, so schnell wie möglich zu eurer Stadt zu kommen. Sagt Riik Bescheid, daß meine Freunde von Torrelion gefangengehalten werden. Ich werde versuchen, allein mit den Knaben fertig zu werden, aber ich würde es begrüßen, wenn Riik mir einige bewaffnete Männer zu Hilfe schickte.« Schnell öffnete ich die übrigen Zellentüren. Die Gefangenen strömten heraus. Einige hatten verkrustete und teilweise auch eiternde Wunden. Alle aber waren unterernährt. Die Kinder schienen sich nur unzureichend um das leibliche Wohl ihrer Gefangenen gekümmert zu haben. Die ersten Gefangenen öffneten die Tür, die der gegenüber lag, durch die ich gekommen war. Sie drängten hinaus, gefolgt von ihren Leidensgefährten. Ich folgte ihnen ebenfalls und gelangte in einen kleinen runden Raum mit zwei weiteren Türen. Die eine Tür leuchtete bläulich, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich, daß sie von einem Energieschirm wie von einem enganliegenden Film überzogen war. Die Schalttaste neben der Tür diente offenbar dazu, den Energieschirm an- und auszu-
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schalten. Einige Gefangene schrien entsetzt auf, als ich meine Hand der Schalttaste näherte. Die anderen Arphas drängten sich vor der zweiten Tür zusammen und öffneten sie. Kühle Nachtluft wehte herein. Innerhalb einer halben Minute waren die Gefangenen ins Freie gestürmt. Ich stand allein da, ein wenig enttäuscht, denn insgeheim hatte ich darauf gehofft, wenigstens ein paar der Eingeborenen würden mir ihre Hilfe anbieten. Doch ihre Furcht vor den schrecklichen Kindern schien stärker zu sein als ihre Dankbarkeit. Ich mußte eben allein sehen, wie ich zurechtkam.
* Ein tiefes, drohendes Knurren unterbrach meine Überlegungen, welchen Schritt ich als nächstes tun sollte. Ich fuhr herum, vermochte aber kein Lebewesen zu entdecken, das dieses Knurren ausgestoßen haben konnte. Abermals erscholl das Knurren. Es klang gefährlich, wie von einem mordlüsternen wilden Tier, das dazu ansetzt, sich auf seine Beute zu stürzen. Unwillkürlich erschauderte ich. Dann fiel mein Blick auf die bläulich leuchtende Tür. Es mußte einen besonderen Grund haben, daß diese Tür durch einen Energieschirm gesichert worden war. Die Tür selbst sah eigentlich stabil genug aus, um sogar dem Ansturm eines Kampfroboters standzuhalten. Ich musterte die Schalttaste neben der Tür. Einige der Gefangenen hatten entsetzt geschrien, als ich meine Hand dieser Taste näherte. Sie hatten sich also offensichtlich davor gefürchtet, daß ich die Tür öffnen könnte. Ich sah mich noch genauer in dem Raum um und bald hatte ich die beiden kleinen Gitter entdeckt, die wahrscheinlich die Mün-
dungen von Lüftungsrohren abdeckten. Als das Knurren zum drittenmal ertönte, war es mir, als käme es aus diesen Rohren. Gleichzeitig nahm ich einen schwachen Ozongeruch wahr. Mein Blick wanderte wieder zu der Tür mit dem bläulich leuchtenden Energieschirm. Ich wußte nicht, was sich dahinter befand. Aber das Knurren war offenbar aus einem Raum hinter dieser Tür gekommen – und die Eingeborenen hatten sich vor dem gefürchtet, was sich hinter der Tür befand. Langsam näherte ich wieder die Hand der Schalttaste. Halt! raunte mein Extrasinn mir zu. Was immer hinter dieser Tür lauert, es ist gefährlich, sonst hätten die Kinder die Tür nicht zusätzlich durch einen Energieschirm abgesichert. Laß die Finger davon! Beinahe hätte ich dem Logiksektor meines Extrahirns gehorcht. Doch in diesem Moment dröhnten dumpfe Gongschläge durch das ganze Gebäude. Ihre Bedeutung konnte ich natürlich nur erraten, aber mir erschien die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um Alarmsignale handelte, sehr groß. Entweder hatten die Zwillinge die flüchtenden Arphas entdeckt – oder sie hatten bemerkt, daß ich aus dem Saal verschwunden war. Es spielte kaum noch eine Rolle für mich, welche Möglichkeit zutraf. Auf jeden Fall würden die Zwillinge ihre robotischen Helfer mobilisieren, und damit stieg auch die Gefahr für mich. Alles, was zur Verwirrung beitrug, konnte mir eigentlich nur helfen. Wenn hinter der Tür mit dem Energieschirm ein Ungeheuer gefangengehalten wurde, so bewies die zusätzliche Absicherung, daß die Zwillinge es trotz ihrer robotischen Leibwächter fürchteten. Ich entschloß mich, das Wagnis einzugehen und den Energieschirm abzuschalten und die Tür zu öffnen. Das Risiko ist zu groß! warnte mein Extrasinn eindringlich. Du bist unbewaffnet.
Zonen des Schweigens Mit bloßen Händen kannst du nicht einmal was gegen ein gewöhnliches Raubtier ausrichten, geschweige denn gegen ein Untier, dessen Gefängnis zusätzlich durch einen Energieschirm abgesichert werden mußte, weil es zu gefährlich ist. Mein Daumen drückte die Schalttaste nieder. Lieber wollte ich es mit einem Untier aufnehmen, als mit den schrecklichen Zwillingen. Der bläuliche Energieschirm flackerte, dann brach er zusammen. Erneut ertönte das tiefe Knurren. Diesmal glaubte ich, es durch die massive Tür aus Metallplastik zu hören. Ich legte die Hand auf das Muster, das auch diese Tür zierte. Zischend glitt die Tür nach links zurück. Im nächsten Augenblick flog etwas an mir vorbei, das einer schwarzen Tonne ähnelte. Es krachte an die gegenüberliegende Wand und drückte sie ein. Kreischend zerriß das Metall. Das schwarze Monstrum zerfetzte die Wandung mühelos mit den Krallen und stopfte handtellergroße Metallteile in sein riesiges Maul. Ich wich vorsichtshalber in die Türöffnung zurück, damit sich die Tür nicht schließen konnte. Falls das Untier mich angriff, erhoffte ich mir eine kleine Chance, wenn ich hinter die Tür zurück floh, so daß sie sich zwischen mir und dem tobenden Wesen schloß. Beinahe wäre ich erschrocken und frühzeitig durch die Tür geprellt, als das Untier ein fürchterliches Gebrüll ausstieß. Ich beherrschte mich unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft und konzentrierte mich darauf, das Untier genau zu beobachten. Trotz seiner schnellen Bewegungen sah ich, daß die tonnenförmige schwarze Körperfülle des Monstrums ein natürlicher Panzer war. Vier Schuppenbeine und zwei kräftige Arme ragten ebenso aus diesem Panzer wie ein breiter knochiger Schädel mit faustdicken Augenwülsten. Die Augen waren gelb und strahlten ein intensives Leuchten aus. Von einer Nase
33 konnte ich nichts entdecken, dafür aber eine handgroße Öffnung, durch die das Wesen die abgerissenen Metallfetzen schob und mit zwei Knochenplatten zermalmte. Das Wesen stand aufrecht auf seinen vier Beinen, die ebenso schwarz Waren wie der Panzer und die beiden Arme. Es mochte in dieser Stellung etwa einen dreiviertel Meter hoch sein und annähernd ebenso breit. Und von ihm ging der Ozongeruch aus, den ich vorher wahrgenommen hatte. Dieses Wesen besaß zweifellos einen Metabolismus, der sich von meinem ebenso unterschied wie der Metabolismus einer Blume von der einer Sonne. Bisher hatte es mich allerdings kaum beachtet. Allmählich entspannte ich mich. Das Monstrum hatte mindestens fünfzig Kilogramm Stahl in sich hineingestopft. Demnach ernährte es sich nicht von proteinhaltigen Substanzen. Ich durfte also wenigstens sicher sein, daß es mich nicht als eßbar einstufte. Die Gongschläge hatten unterdessen aufgehört. Ich wandte mich um, als ich das Zischen einer auf gleitenden Tür vernahm. Durch die noch offene Tür zum Zellentrakt sah ich, daß sich die Tür am jenseitigen Ende geöffnet hatte. Und in der Öffnung erschienen die beiden Zwillinge. Sie entdeckten mich im gleichen Augenblick wie ich. Grinsend zogen sie ihre Paralysewaffen. Aber plötzlich erstarrten sie. Ihre Blicke gingen an mir vorbei. Offenbar hatten sie entdeckt, daß die Tür hinter mir geöffnet war. Bevor sie diese Entdeckung verdauen konnten, schnellte das Monstrum sich in den Gang des Zellentrakts. Es riß dabei die Hälfte der stählernen Türfüllung mit der rechten Schulter heraus. Die Münder der beiden Kinder öffneten sich weit. »Vorry!« schrien sie gleichzeitig in höchstem Entsetzen. Wie von Furien gejagt, warfen sie sich
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herum und verschwanden durch die Tür, die sich hinter ihnen automatisch schloß. Doch das war für Vorry, wie sie das Monstrum genannt hatten, kein Hindernis. Er warf sich gegen die Tür und drückte sie ein. Seine Füße zerstampften die Trümmer zu einer dünnen Blechplatte. Brüllend eilte er weiter, aus meinem Blickfeld hinaus. Die Anspannung der letzten Minuten löste sich bei mir. Ich lehnte mich an eine unversehrte Wand und lachte. Dann folgte ich Vorry, dem Eisenfresser.
7. Das Monstrum hatte eine Spur der Verwüstung hinter sich gelassen. Überall kennzeichneten niedergetrampelte Stahlwände seinen Weg. Aber das, wonach ich halb unbewußt suchte, fand ich nicht. Nirgends lagen die Überreste humanoider Körper herum. Demnach waren die Zwillinge dem Wesen entkommen, wahrscheinlich mit Hilfe des Mosaiktransmitters, mit dem ich angekommen war. Ich wußte, was das bedeutete. Die Kinder würden alles unternehmen, um ihre Herrschaft über das technische Erbe der Varganen zu erhalten. Sie würden ihre Kampfroboter einsetzen und ihnen den Befehl geben, jeden Gegner gnadenlos zu töten. Meine einzige Hoffnung war die, daß kein Kampfroboter dem Eisenfresser etwas anhaben konnte. Deshalb entschloß ich mich, ihm weiter zu folgen und in seiner Nähe zu bleiben. Vielleicht fand ich unterwegs eine Waffe, mit der ich mich notfalls verteidigen konnte. Die Spur des schwarzen Monstrums führte quer durch das Gebäude. Da Vorry nicht auf Türen und Gänge angewiesen war, konnte er Sektionen betreten, die ihm und mir sonst wahrscheinlich verschlossen gewesen wären. Ich war nicht überrascht, als ich durch ein weiteres Loch in einer weiteren Wand trat
und plötzlich im Freien stand. Die kalte Luft ließ mich frösteln. Aber der neue Tag war schon dabei, die Schatten der Nacht zu vertreiben. Die westlichen Berggipfel glühten in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Der Himmel war von einem dunklen Blau und völlig wolkenlos. In etwa hundert Metern Entfernung sah ich Vorry über den Hang jagen. Er lief aufrecht auf seinen vier kurzen schuppenbedeckten Beinen, was ihm etwas Menschenähnliches verlieh. Es gab viele Tiere, die zeitweilig aufrecht gingen, aber eben doch nur zeitweilig und dementsprechend unbeholfen. Vorry dagegen bewegte sich so sicher, als wäre bei ihm der aufrechte Gang die Regel. Ich bemühte mein Gedächtnis, um mich an eine Lektion in Evolutionstheorie zu erinnern, die Fartuloon mir einst erteilt hatte. Das fiel mir nicht schwer, denn durch die Aktivierung meines Extrahirns hatte ich ein photographisches Gedächtnis erhalten. Ich konnte nichts mehr vergessen, was ich einmal optisch aufgenommen hatte – so beispielsweise bei der Vorführung der Mikrofilme über Evolutionstheorie. Der dominierende aufrechte Gang, so erinnerte ich mich, stellte eines der äußeren Merkmale jener Intelligenz dar, die sich im bewußten Denken äußert. Es ist eines der Zeichen dafür, daß das betreffende Wesen sich aus seiner Umwelt gelöst, sich über sie erhoben und sich angeschickt hat, sie zu erobern und entsprechend seinen Bedürfnissen umzugestalten. Auf Vorry angewandt, bedeutete das nichts anderes, als daß ich dem Eisenfresser eine Intelligenz zubilligen mußte, die qualitativ über der Intelligenz von Tieren lag. Vorry – ein intelligentes, bewußt denkendes Lebewesen …? Ich vermochte es mir nur schwer vorzustellen. Vorurteile! teilte mir der Logiksektor meines Extrahirns mir. Niemand ist völlig frei von Vorurteilen, auch du bist es nicht.
Zonen des Schweigens Nur, weil Vorry Wände niedertrampelt und Eisen ißt, zweifelst du daran, daß er intelligent sein könnte. Dabei richten die Zwillinge erheblich größere Schäden an, und bei ihnen zweifelst du nicht an ihrer Zugehörigkeit an einer intelligenten Art. Ich mußte unwillkürlich lächeln. Selbstverständlich hatte mein Logiksektor recht. Ich durfte die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Vorry ein intelligentes Lebewesen war. Immerhin hatte er mich nicht angefallen. Wieder ertönte das Knirschen, Krachen und Kreischen von zerreißendem Metall. Ich sah, daß Vorry in das gegenüberliegende Gebäude eindrang, unbekümmert darum, ob es dort eine Tür gab oder nicht. Von den beiden Knaben und von Robotern war weit und breit nichts zu sehen. Langsam folgte ich dem Eisenfresser. Der Gang über den Hang war nicht ungefährlich. Überall gab es Spalten, die ich in der Dämmerung leicht übersehen und in denen ich mit den Füßen hängenbleiben konnte. Außerdem mußte ich immer damit rechnen, im offenen Gelände von einem Energiestrahl getroffen zu werden. Nach etwa zwanzig Schritten stolperte ich fast über eine reglose Gestalt, die ich zuerst für einen Schatten gehalten hatte. Ich bückte mich und sah, daß es sich um einen Arpha handelte, wahrscheinlich um einen der von mir befreiten Gefangenen. Ein Energiestrahl hatte seinen Körper zur Hälfte aufgelöst. Also lauerten doch irgendwo die Roboter der Knaben. Geduckt huschte ich weiter, suchte die Deckung vor Felsblöcken, verharrte jedesmal sichernd in ihrem fragwürdigen Schutz, bevor ich weiterlief. Aber keine Energiebahn zuckte über den Hang, kein Roboter eilte hinter mir her, keine Stimme forderte mich auf, mich zu ergeben. Die Stille wirkte unheimlich; sie wurde nur durchbrochen durch das Rumoren Vorrys, der sich inzwischen in das Bauwerk gearbeitet hatte.
35 Ich atmete erst auf, als ich durch die Öffnung stieg, die der Eisenfresser in die Außenwand gerissen hatte. Dennoch wußte ich, daß der Kampf noch lange nicht entschieden war. Immer noch verfügten die Zwillinge über die besseren Mittel. Ich ahnte, daß sie nicht aus Furcht vor Vorry abwarteten, sondern, weil sie etwas Bestimmtes vorhatten. Irgendwann in der nächsten Zeit würden sie zuschlagen.
* Ich folgte der unverkennbaren Spur des Eisenfressers. Trotz der Verwüstungen funktionierte aber die Beleuchtung noch, deshalb war ich sofort alarmiert, als sie plötzlich erlosch. Meine erste Reaktion war, mich augenblicklich von dem Platz zu entfernen, an dem ich mich vor dem Erlöschen des Lichts befunden hatte. Ich tastete mich an zerknüllten Stahlkonstruktionen entlang, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, und stand plötzlich vor einer Öffnung aus der warme Luft blies. Ich ging auf ein Knie nieder und lauschte. Vorrys Rumoren war verstummt. Vielleicht hatte das Erlöschen des Lichts den Eisenfresser irritiert. Aber ich vernahm auch keine Geräusche von nahenden Gegnern. Natürlich würden Flugroboter sich nicht durch Geräusche verraten. Sie schwebten lautlos heran und wichen jedem Hindernis aus. Aber wenn sie nahe genug waren, konnte man, vor allem in dieser Stille, das schwache Summen ihrer Antigravaggregate hören. Ich konnte nichts dergleichen feststellen. Dennoch fühlte ich mich nicht erleichtert. Ich tastete behutsam den Rand der Öffnung ab, aus der unvermindert warme Luft blies. Sie hatten einen Durchmesser von ungefähr einem Meter, was für den Teil eines Abluftsystems relativ groß war. Ich überlegte, ob ich durch die Öffnung kriechen sollte, verzichtete jedoch darauf. Ohne Licht konnte ich mich in einem Rohrsystem unter Umständen hoffnungslos verir-
36 ren. Meine Gedanken schweiften zu Fartuloon und Ra ab. Sie mußten eigentlich inzwischen aus der Paralyse erwacht sein. »Erwacht« war natürlich nicht der richtige Ausdruck, denn ein Paralysierter ist ja bei vollem Bewußtsein, braucht also nicht erst zu erwachen. Aber die Lähmung mußte abgeklungen sein. Ob die Zwillinge sie erneut paralysiert hatten? Oder hatten sie sie woanders hingebracht? Ich wagte nicht, an das Schlimmste zu denken, obwohl es im Bereich des Möglichen lag. Erstmals wurde mir klar, daß ich mir ein Leben ohne Fartuloon nicht vorzustellen vermochte. Ich mußte etwas unternehmen, mußte dafür sorgen, daß die Zwillinge keine Zeit hatten, sich um Fartuloon und Ra zu kümmern. Langsam schlich ich weiter, stolperte über einen Stahlträger und blieb lauschend stehen. Aber nichts rührte sich. Ich fühlte mich versucht, laut zu schreien, um die unheimliche Stille zu durchbrechen, doch ich konnte diesem Drang widerstehen. Vielleicht wollten die Zwillinge gerade das provozieren, indem sie mich in Dunkelheit und Schweigen allein ließen. Nach einer Weile setzte ich meinen Weg fort. Als ich an eine Schachtöffnung kam, streckte ich die Hand aus und spürte die von einem Kraftfeld verursachte Schwerelosigkeit. Ein Antigravschacht! Nach kurzem Überlegen entschloß ich mich dazu, mich nicht dem Kraftfeld anzuvertrauen. Ohne Flugaggregat wäre ich in dem Antigravschacht verloren, wenn die Zwillinge auf den Gedanken kamen, das Kraftfeld auszuschalten. Aber ich hielt es für sicher, daß auch die Varganen neben ihren Antigravschächten Nottreppen oder Notleitern angebracht hatten. Die beste Technik konnte versagen, und wenn es nur durch das Ausfallen der Stromzufuhr war. Für solche Fälle pflegten intelligente Wesen vorzusorgen.
H. G. Ewers Tatsächlich entdeckte ich den schmalen Einstieg zu einer stark gewendelten Treppe wenige Sekunden später neben der Öffnung des Antigravschachtes. Diesmal zögerte ich nicht, sondern stieg so schnell wie möglich die Stufen hinab. Dabei zählte ich die einzelnen Stufen, getreu dem Grundsatz, den Fartuloon mir immer wieder eingetrichtert hatte, nämlich, überall vorhandene Orientierungshilfen zu benutzen. Auf der hundertsiebzigsten Stufe legte ich eine Pause ein. Der Treppenschacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Wieder lauschte ich. Aber außer meinem eigenen Atmen konnte ich keinen Laut vernehmen. Nach einiger Zeit setzte ich meinen Weg fort, und nach der zweihundertachtundneunzigsten Stufe war die Treppe endlich zu Ende. Ich blieb stehen und tastete die Wände ab. Plötzlich bewegte sich ein Stück Wand unter meinen Händen, glitt zischend zurück. Trübrote Helligkeit fiel durch eine rechteckige Öffnung in den Treppenschacht. Ich war einen Schritt zurückgetreten. Als das Zischen der Tür – oder des Schotts – verstummte, lag vor mir ein schmaler Gang, dessen Boden glitzerte, als hätte jemand Glasstaub auf ihn gestreut. Ich fühlte mich erleichtert. Bei Licht sah die Welt völlig anders aus. Arkoniden waren eben, wie die meisten Humanoiden, typische Taglebewesen, die sich in völliger Dunkelheit nur mangelhaft orientieren konnten. Hinzu kam, daß unsere fernen Vorfahren zweifellos Tiere zu Gegnern gehabt hatten, die nachts jagten. Das machte die Dunkelheit automatisch zu etwas Bedrohlichem, in dem Gefahren lauerten. Entschlossen und von neuer Zuversicht beseelt, trat ich in den Gang. Hinter mir schloß sich die Tür wieder. Das störte mich allerdings nicht, denn alle modernen Türen schlossen sich automatisch wieder. Meine Zuversicht schwand jedoch wieder, als ich etwa zehn Meter zurückgelegt hatte und die Wände des Ganges plötzlich halb-
Zonen des Schweigens transparent wurden. Gleichzeitig flackerte die rötliche Beleuchtung, und von dem glitzernden Boden war nichts mehr zu sehen. Offenbar war ich in eine Falle gelaufen – ich wußte nur noch nicht, wie sie funktionierte …
* Eine Weile verharrte ich unschlüssig auf einem Fleck. Noch wußte ich nicht, ob ich stehenbleiben, vorwärtsgehen oder umkehren sollte. Doch dann sagte ich mir, daß diese Falle – falls es sich tatsächlich um eine handelte – nicht von den Zwillingen konstruiert und erbaut worden sein konnte. Das dazu erforderliche Spezialwissen vieler Fachgebiete traute ich ihnen denn doch nicht zu. Vielmehr mußte auch dieser Teil der Station aus der Zeit der alten Varganen stammen. Das gab mir neue Hoffnung, denn nirgends im Dreißig-Planeten-Wall hatten wir Anlagen entdeckt, die zur Abwehr von Angriffen aus dem Weltraum nötig gewesen wären. Alles hatte darauf hingedeutet, daß der Dreißig-Planeten-Wall niemals in einen Krieg verwickelt worden war. Folglich hatte es für die Erbauer der Station keine Notwendigkeit gegeben, sich gegen Feinde zu schützen. Fartuloon und ich hatten denn auch die Gebäude gleich als Teile einer ehemaligen Experimentierstation der Varganen angesehen. Wo mit dimensional übergeordneten Kräften experimentiert wurde, da gab es natürlich auch Sektionen, die man lieber nicht ohne Schutzmaßnahmen aufsuchte. In eine solche Sektion der Gesamtanlage schien ich hineingeraten zu sein. Ob die Zwillinge das beabsichtigt hatten oder nicht, war eine andere Frage. Als sicher erschien mir, daß sie die grundlegenden Funktionen der Anlage nicht verändern konnten. Ich entschloß mich dazu, weiterzugehen. Der Boden des Ganges trug jedenfalls noch immer, obwohl er nicht mehr zu sehen war. Aufmerksam beobachtete ich die halb-
37 transparenten Wände. Hinter ihnen glaubte ich schemenhaft Bewegungen zu erkennen. Aber das rötliche Licht flackerte inzwischen so stark, daß es sich durchaus um Sinnestäuschungen handeln konnte. Als ich ungefähr fünfzig Meter zurückgelegt hatte, erklang ein dumpfer Heulton, der immer höher wurde, je weiter ich kam. Er fiel mir so auf die Nerven, daß ich noch schneller ausschritt, in der Hoffnung, er würde dann wieder aufhören. Ich hatte mich getäuscht. Das Heulen wurde immer schriller und verursachte mir starke Kopfschmerzen. Benommen taumelte ich weiter. Schließlich blieb ich stehen und blickte zurück. Ich erschrak. Der Gang, durch den ich gekommen war, existierte nicht mehr. Hinter mir lag nachtschwarze Finsternis – und sonst nichts. Ich preßte die Lippen zusammen und versuchte, sowohl gegen die rasenden Kopfschmerzen als auch gegen die aufkeimende Panik anzukämpfen. Wie sollte ich je den Rückweg wiederfinden, wenn er in Dunkelheit gehüllt war. Ich versuchte einen Schritt zurück und hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Ein Schrei löste sich von meinen Lippen. Ich taumelte vorwärts und atmete auf, als ich mich wieder in dem trübroten Flackerlicht des Ganges befand. Doch ich wußte, daß ich nicht mehr lange durchhalten würde. Die Kopfschmerzen steigerten sich von Sekunde zu Sekunde. Schon tanzten rote Kreise vor meinen Augen. Ich wankte weiter, entschlossen, das Ende des Ganges zu erreichen, ganz egal, was mich dort erwartete. Als ich mich nicht mehr halten konnte, stützte ich mich an der rechten Seite des Korridors ab. Jedenfalls wollte ich mich abstützen, aber meine Hände fanden keinen Halt. Wieder hatte ich das Gefühl des Fallens. Die schemenhaften Bewegungen hinter der offenbar immateriellen halbtransparenten Wand nahmen deutlichere Konturen an. Ich strauchelte und fiel. Feuchtigkeit
38 schlug über mir zusammen. Meine Finger suchten nach einem Halt und krallten sich in etwas Feuchtwarmes, von dem Modergeruch aufstieg. Schreiend sprang ich auf – und starrte fassungslos auf eine Mauer aus trüber, vor Feuchtigkeit dampfender Vegetation, die mich von allen Seiten umgab. Zahlreiche undefinierbare Geräusche drangen an meine Ohren und verwirrten mich noch mehr. Wo war ich? Das ist ein anderer Planet oder eine andere Zeit! raunte der Logiksektor meines Extrahirns mir zu. Ich schloß stöhnend die Augen, als die Erkenntnis der Wahrheit mich blitzartig erleuchtete. Die Schweigenden Zonen konnten nichts anderes bedeuten, als daß die alten Varganen mit der Zeit experimentiert hatten. Wenn es ihnen aber gelungen war, Stasisfelder zu schaffen, in denen der Zeitablauf bis fast auf Null verlangsamt wurde, warum sollte es ihnen dann nicht auch möglich gewesen sein, mit der Zeitreise zu experimentieren. So, wie meine Umgebung jetzt aussah, so hatte möglicherweise früher ein großer Teil der Festlandfläche dieses Planeten ausgesehen. So sieht er jetzt aus, du Narr! gab mein Extrasinn durch. Du befindest dich weit in der Vergangenheit. Meine Knie drohten nachzugeben. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach dem Korridor, durch den ich gekommen war. Du kannst ihn nicht sehen, denn er existiert nur in der Relativzukunft! erklärte mein Logiksektor. Es handelt sich bei dem Gang um eine Art Zeittunnel. Aber wenn der Tunnel hierher führt, dann muß er hier auch irgendwo existieren! dachte ich. Es muß doch eine Möglichkeit geben, durch ihn in meine eigene Zeit zurückzukehren. Nicht, wenn er einpolig geschaltet wurde! erwiderte mein Logiksektor. Ich unterdrückte eine Verwünschung.
H. G. Ewers Mit wurde klar, was geschehen war. Die Zwillinge hatten gewartet, bis ich den Zeittunnel betreten hatte, dann hatten sie ihn so gepolt, daß man in ihm zwar in die Vergangenheit gehen konnte, aber nicht wieder zurück. Und ich konnte von hier überhaupt nichts tun. Ich war völlig machtlos, abgeschnitten von meiner eigenen Zeit, vielleicht eine Million Jahre von ihr getrennt. Resigniert ließ ich die Arme sinken. Ich war zum Dreißig-Planeten-Wall gekommen, um eine Spur zum Stein der Weisen zu finden, damit ich Orbanaschol III. stürzen und das Erbe meines Vaters antreten konnte. Das Ergebnis all dieser Anstrengungen war, daß ich in einer Zeit strandete, in der es wahrscheinlich weder Arkoniden noch das Große Imperium gab – und das alles zweier Kinder wegen, die mit dem Erbe der varganischen Übertechnik ihre unmenschlichen Spiele spielten. Ich lachte bitter, als mir ein Gedanke kam, der mir so wahnwitzig erschien, daß seine Durchführung schon wieder in den Bereich des Vorstellbaren rückte. Angenommen, auf dieser Urwelt lebten bereits die primitiven Vorfahren der späteren Varganen und ich traf mit ihnen zusammen, dann konnte es durchaus sein, daß ich mit meinem umfangreichen Wissen der Begründer der Urzivilisation der Varganen wurde, deren technische Hinterlassenschaft mich dann zum Dreißig-Planeten-Wall führte, wo ich in den Zeittunnel meiner Nachkommen geriet und erst die Grundlagen für diesen teuflischen Zeitzirkel legte. Das ist nicht möglich, weil es ein echtes Paradoxon wäre! erklärte der Logiksektor meines Extrahirns. Es hieße, die Kausalbeziehung umzukehren, die Wirkung vor die Ursache zu stellen. Das ernüchterte mich wieder. Erneut schwankte ich zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit. Ich wußte, wenn ich auf dieser Urwelt Eingeborene traf, so würde ich versuchen,
Zonen des Schweigens mit ihnen zusammen die Grundlagen für eine erste varganische Zivilisation zu legen. Da das aber nicht möglich war, weil Paradoxa sich selbst ausschlossen, hatte ich diese Zeit entweder wieder verlassen können oder ich war umgekommen, bevor ich die Grundlagen einer Zivilisation legen konnte. Ich seufzte. Welche von beiden Möglichkeiten sich auch immer erfüllte, ich würde es in absehbarer Zeit erfahren.
8. Zuerst hatte ich noch gehofft, das Tier befände sich auf der Spur eines anderen Wildes, doch nach kurzer Zeit schon war mir klar geworden, daß ich das Wild war, an das es sich heranpirschte. Ich duckte mich hinter einen umgestürzten, halbvermoderten Baumriesen und spähte zurück. Undeutlich nahm ich zwischen Farnwedeln eine Bewegung wahr, dann funkelten mich die glühenden Augen eines Tieres an. Vorhin, als ich es einmal voll zu Gesicht bekommen hatte, erkannte ich, daß es sich um eine große Raubkatze handelte. Sie war ungefähr drei Meter lang, anderthalb Meter hoch und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Jägers, der im Dschungel zu Hause war. Ich sah keine Möglichkeit, das Tier mit bloßen Händen zu töten. Der unvermeidlich scheinende Kampf würde sehr kurz sein – und der Sieger stand schon jetzt fest. Wahrscheinlich würde ich mein Leben in dieser Zeit beenden. So sah es aus. Ich spähte an einem glatten Baumstamm empor. Vielleicht konnte ich mich retten, wenn ich den Stamm hinaufkletterte. Doch er war zu glatt, und seine Äste fingen erst in etwa acht Metern Höhe an. Dennoch würde ich es versuchen, denn so weit ich sehen konnte, boten auch andere Bäume keine günstigere Klettermöglichkeit. Ein dumpfes Grollen ertönte.
39 Wieder blickte ich mich nach dem Tier um. Es hatte sich weiter genähert, war nur noch ungefähr zehn Schritt von mir entfernt. Wenn ich aufsprang und losrannte, würde es mich mit zwei oder drei Sätzen erreichen. Ein Biß seiner starken Zähne in meinen Nacken – und es würde vorbei sein. Nein, das war nicht die Art und Weise, in der ich zu sterben wünschte. Mein Stolz regte sich, obwohl das in dieser Lage ein irrationales Gefühl war. Ich war meinen Gegnern stets Auge in Auge gegenübergetreten. Sollte ich nun, da ich sterben mußte, dem Gegner den Rücken wenden? Mein Blick fiel auf einen abgebrochenen Ast, der in Reichweite meiner Hände lag. Er war nur etwa zwei Finger dick und wahrscheinlich morsch. Er taugte ohnehin nicht als echte Waffe gegen einen Gegner wie diese Raubkatze. Ich konnte nur versuchen, durch ein Verhalten, wie es die Raubkatze von ihren früheren Opfern gewohnt war, seinen Fluchtinstinkt zu wecken. Ich packte den Ast, sprang auf und schrie das Tier an, während ich den Ast wild über dem Kopf schwang. Die Raubkatze schnellte überrascht hoch, sprang zur Seite, duckte sich und fauchte. Ich wußte, daß ich ihr keine Zeit lassen durfte. Also sprang ich über den Baumstamm hinweg, schwang erneut den Ast und schrie aus vollen Lungen. Die Raubkatze riß ihren dampfenden Rachen auf, brüllte laut und zog sich kriechend zurück. Plötzlich schnellte sie wieder einige Meter vor fauchte und duckte sich zum Sprung. Vorbei! dachte ich. Es hat nicht funktioniert! Meine Gedanken rasten durch die Erinnerungen weit in die Vergangenheit zurück, die, von hier und jetzt betrachtet, Zukunft gewesen war. Ich eilte über meine Kindheit, die Jugendzeit, die Zeit mit Fartuloon und Farnathia wieder zurück zum Jetzt, das enden würde, lange bevor ich geboren worden war.
40 Ein lautes Brüllen schreckte mich aus dem tranceartigen Zustand, der die kreatürliche Furcht vor dem Sterben verdrängt hatte. Ich kehrte in die Gegenwart zurück. Mein Blick erfaßte ein gedrungenes schwarzes Wesen, das pfeilschnell durch das Unterholz auf die Raubkatze zuschnellte. Das Raubtier hatte gerade noch Zeit, sich herumzuwerfen, und den neuen Gegner zu sehen, dann starb es. »Vorry!« sagte ich fassungslos und gleichzeitig unendlich erleichtert. »Vorry, wo kommst du her?« Dumme Frage! meldete sich der Logiksektor meines Extrahirns. Natürlich ist er ebenfalls durch den Zeittunnel gekommen. Vorry richtete sich über der toten Raubkatze auf, blickte zu mir herüber. Seine Augen funkelten tatsächlich wie brennende Kerzen. Langsam kam er auf seinen vier Beinen auf mich zu. Er ging aufrecht. Etwa zwei Meter vor mir blieb er stehen. Ich wagte einen Versuch, den ich vor wenigen Stunden vielleicht noch für lächerlich gehalten hätte. Ich legte meine Hände zusammen, drückte und schüttelte sie. Vorry gab einige Grunzlaute von sich, dann wiederholte er die Geste. Nun gab es für mich keinen Zweifel mehr daran, daß der Eisenfresser intelligent war. Er hatte sofort begriffen, daß ich mit meiner Geste eine Verständigung einleiten wollte, und wahrscheinlich wußte er auch, daß diese Geste Freundschaft ausdrücken sollte. Von Fartuloon hatte ich gelernt, zur Verständigung mit anderen Intelligenzen die Zeichensprache zu benutzen, wenn es keine gemeinsame akustische Verständigungsbasis gab. Dieses Wissen wandte ich an, um Vorry klarzumachen, daß wir zusammenbleiben sollten. Der Eisenfresser sah mir interessiert zu, dann hob er die rechte Hand – ich sah erst jetzt, daß sie achtfingrig war – und bildete aus dem gut ausgeprägten Daumen und dem ersten Finger einen Kreis.
H. G. Ewers Die Verständigung mit Vorry war wesentlich leichter, als ich mir vorzustellen gewagt hatte. Und er schien einverstanden zu sein, daß wir zusammenblieben, obwohl ich doch gegen ihn ein kraftloser Schwächling war. Aber vielleicht hielt er zu mir, weil ich ihn aus der Gefangenschaft der Zwillinge befreit hatte. Mit seiner Hilfe, so wußte ich, würde sich das Problem des Überlebens mühelos lösen lassen. Vielleicht wurde ich doch noch der Urvater der varganischen Zivilisation. Es ist unmöglich! teilte mir mein Logiksektor mit. Was nicht sein kann, wird nicht werden. »Es gibt nichts, was es nicht gibt«, sagte ich laut, dann wandte ich mich wieder Vorry zu. »Ich schlage vor, wir sehen uns ein wenig um«, sagte ich und ließ die entsprechenden Gesten folgen. Vorry tat – ebenfalls durch Gesten – sein Einverständnis kund und wandte sich um. Sein massiger, kraftstrotzender Körper walzte das Unterholz nieder wie ein Panzerwagen.
* Während ich hinter dem Eisenfresser herging, fragte ich mich, auf welchem Planeten Vorrys Art beheimatet war. Noch nie hatte ich von Wesen wie ihm gehört, und auch Fartuloon, der viel mehr wußte als ich, hatte noch nie von intelligenten Eisenfressern berichtet. Ich nahm mir vor, entweder Vorry meine Sprache beizubringen oder seine zu lernen, denn allein mit der Zeichensprache war keine differenzierte Kommunikation möglich. Eigentlich seltsam! dachte ich. Warum interessiere ich mich für Dinge, die erst weit in der Zukunft existieren? Aber so war es nun einmal. Meine Wißbegierde erstreckte sich nicht auf Gebiete, die von unmittelbarem praktischen Nutzen waren. Ich wollte alles wissen, oder doch soviel, wie ich in meinem Leben in mich aufnehmen konnte.
Zonen des Schweigens Nachdem wir ungefähr zwei Stunden durch den Dschungel marschiert waren, machte sich bei mir Hunger bemerkbar. Ich hatte seit mindestens fünfzehn Stunden nichts gegessen. Meinen Durst dagegen hatte ich mühelos an dem Wasser stillen können, das sich in zahllosen großen Blättern angesammelt hatte. Vorry schien zu spüren, daß ich dringend Nahrung brauchte. Er gab mir durch Gesten zu verstehen, daß ich auf ihn warten sollte. Danach tauchte er im Unterholz unter. Aber schon wenige Minuten später kehrte er zurück, eine Art Gürteltier unter den rechten Arm geklemmt. Ich bedauerte, daß ich nicht einmal mehr ein Messer besaß, um das Tier zu zerlegen. Vorry enthob mich dieses Problems. Er riß das Tier mühelos auseinander und schälte die besten Fleischstücke von den Knochen. Was hätte ich jetzt um ein Feuer gegeben! Aber wo sollte ich ein Feuer hernehmen? Ich wußte zwar, wie man aus einem Stück trockenem Holz und einem Holzstab Feuer erzeugte, doch in diesem Dschungel gab es nur feuchtes Holz. So nahm ich denn ein Stück rohes Fleisch und kaute daran. Es schmeckte keineswegs widerlich, sondern hatte einen süßlichen Nußgeschmack. Aber es war eben rohes Fleisch, für dessen Verzehr meine Kauwerkzeuge nur schlecht geeignet waren. Ich half mir, indem ich mit den Zähnen kleine Stücke abriß und sie ganz schluckte. Als ich gesättigt war, hob ich den Kopf und sagte: »Danke, Vorry!« Vorry sah mich nur an. Mir fiel auf, daß seine Augen schwächer leuchteten. Auch seine Haltung kam mir verändert vor. Kräfteschwund! kommentierte mein Logiksektor. Vorry ernährt sich von Eisen. Das aber gibt es hier nicht. Da er außerdem einen sehr schnell ablaufenden Stoffwechsel haben dürfte, lassen seine Kräfte rapide nach. Ich erschrak.
41 Mir wurde klar, daß Vorry sterben würde, wenn er nicht bald eisenhaltige Nahrung fand. Dann würde ich wieder ganz auf mich allein gestellt sein. Ganz abgesehen davon, daß ich den Eisenfresser bereits ins Herz geschlossen hatte. Ich erhob mich. »Wir werden schon etwas für dich finden«, sagte ich und ließ die entsprechenden Gesten folgen. Vorry gab ein paar Laute von sich. Kein Knurren und Grunzen wie bisher, sondern Töne, die schon eher an eine differenzierte Sprache erinnerten. Leider beherrschte ich sie nicht – und vielleicht würde ich sie nie erlernen, wenn wir nicht bald brauchbare Nahrung für Vorry fanden. Ruhelos streiften wir durch den Dschungel. Diesmal riß und trampelte Vorry nicht mehr jedes Hindernis nieder wie zuvor, sondern umging die dicken Baumstämme. Meine Sorge stieg. Manchmal blieb Vorry stehen und wühlte den Boden auf. Ich wußte, daß er nach Eisenerz suchte, nach einer erzhaltigen Ader zumindest. Doch die Chance, so etwas im Dschungelboden zu finden, war gering. Der Eisenfresser wurde zusehends schwächer. Er mußte immer wieder Pausen einlegen. Ich verzweifelte fast, als ich sah, wie er sich nach jeder Pause immer mühsamer aufrappelte. Dann kam der Zeitpunkt, wo er nicht mehr weiterkonnte. Er lehnte sich an einen Baumstamm und blickte mich aus beinahe erloschenen Augen traurig an. »Du mußt durchhalten, Vorry«, sagte ich. »Warte hier. Ich werde allein suchen. Vielleicht finde ich etwas für dich.« Ich wußte, daß ich mir nur etwas vormachte. Wenn Vorry, der doch sicher einen ausgeprägten Spürsinn für Eisen hatte, keine Nahrung gefunden hatte, dann würde ich erst recht nichts finden. Aber mir widerstrebte es, aufzugeben. Vorry machte eine müde Geste des Einverständnisses. Er hatte wohl alle Hoffnung aufgegeben.
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Ich wandte mich ab und arbeitete mich durch den Dschungel. Die Sorge um den Freund spornte mich zu Leistungen an, die ich mir vorher selbst nicht zugetraut hätte. Aber auch für mich kam der Punkt, wo es nicht weiterging. Meine Knie gaben zitternd vor Erschöpfung nach. Ich brach zusammen, hielt mich an einem umgestürzten Baumstamm fest und versuchte gegen die Gewichte anzukämpfen, die scheinbar an meinen Lidern hingen und sie herabzuziehen drohten. In diesem Augenblick sah ich es …!
* Vor mir lag eine helle Lichtung, in deren Mitte sich blühende Schlingpflanzen bis zur Höhe von zirka zehn Metern um etwas rankten, das die ungefähre Form eines halbierten Eies haben mußte. Eigentlich verriet es sich nur durch die hohe schlanke Antenne, die rund fünf Meter hoch aus dem Wust von Schlingpflanzen ragte. Doch da niemand lediglich eine Antenne in den Dschungelboden stecken würde, durfte ich annehmen, daß sich unter den Schlingpflanzen die dazugehörige Sendestation verbarg. Und wo eine Sendestation gab, gab es auch Metall und Metallplastik, jedenfalls aber Material, das genügend Eisen enthielt, um Vorry für einige Tage Nahrung zu spenden. Am liebsten wäre ich hinübergerannt, hätte mich durch die Schlingpflanzen gewühlt und versucht, einige Brocken Metallplastik zu bergen, um sie Vorry zu bringen. Ich wußte jedoch, daß ich damit nur Zeit vergeuden würde. Ich konnte weder Metallplastik zerreißen noch eine Last von vielleicht fünfzig Kilogramm durch den Dschungel zu Vorry schleppen. Die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen, war, schnellstens zu ihm zurückzukehren und ihn zu der Nahrungsquelle zu führen. Ich riß mich hoch. Die Freude über meinen Fund verlieh mir neue Kräfte. So schnell ich konnte, arbeitete ich mich durch den
Dschungel zurück. Erst auf halbem Wege kam mir der Gedanke, wie gering eigentlich die Wahrscheinlichkeit gewesen war, ausgerechnet auf einer wilden Urweit die Sendestation intelligenter Wesen zu finden. Da ich nirgends sonst Anzeichen für eine funktionierende Zivilisation entdeckt hatte, mußte die Sendestation das Überbleibsel einer Expedition aus dem Weltraum sein, deren Mitglieder es wohl für zu mühselig gehalten hatten, bei ihrem Abzug die Station zu demontieren und mitzunehmen. Folglich gab es schon zu dieser Zeit intelligente raumfahrttreibende Völker. Ich blieb stehen. Vielleicht funktionierte der Sender noch oder ließ sich reparieren. Wenn es ein Hypersender war, konnte ich möglicherweise Verbindung zu den Wesen aufnehmen, die ihn auf diesem Planeten zurückgelassen hatten. Dann brauchte ich nicht den Rest meines Lebens in einer wilden Umwelt und vielleicht unter Wilden zu verbringen. Ich schüttelte den Kopf. Nein, wichtiger war, daß Vorry erst einmal ausreichend Nahrung bekam, damit er nicht verhungerte. Und wenn ich mir damit die einzige Möglichkeit nahm, jemals wieder in eine zivilisierte Umwelt zu gelangen, ich würde einen Freund nicht umkommen lassen. Ich ging weiter. Als ich Vorry erreichte, taumelte ich nur noch, und als ich sah, daß der Eisenfresser reglos auf dem Boden lag, war ich dem endgültigen Zusammenbruch nahe. War Vorry etwa während meiner Abwesenheit gestorben? Ich atmete auf, als das Wesen den Kopf hob. Seine Augen leuchteten nur noch trübe, und flackerten, als würden sie im nächsten Moment erlöschen. Ich hielt mich an einem Baumstamm fest. »Vorry, ich habe Eisen gefunden!« sagte ich und zeigte in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Zonen des Schweigens Der Eisenfresser schien zu begreifen, was ich meinte. Seine Augen leuchteten heller. Langsam stand er auf, kam auf mich zu. Ich konnte mich nicht mehr halten. Meine letzten Kraftreserven waren verausgabt. Ich glitt langsam am Stamm herab. »Geh allein!« flüsterte ich. »Ich komme nach, sobald ich mich ausgeruht habe.« Vorry blickte mich lange an, dann packte er mich und hob mich trotz seiner eigenen Schwäche anscheinend mühelos hoch. Er legte mich über seine rechte Schulter – wenn man den Rand seines Tonnenpanzers als Schulter bezeichnen durfte – und tappte mit mir durch den Urwald. Ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Lichtung. Ich hörte mahlende, krachende und berstende Geräusche und wandte den Kopf in die Richtung, aus der sie kamen. In der Wand der Schlingpflanzen klaffte ein kreisrundes Loch vom Durchmesser Vorrys. Offenbar hatte sich Vorry gleich nach seiner Ankunft durch die Pflanzen gearbeitet und das Metall oder Metallplastik unter seine Zähne genommen. Ich setzte mich auf. Meine Erschöpfung war abgeklungen, aber auch ich würde bald wieder Nahrung zu mir nehmen müssen. Fürs erste war ich zufrieden damit, daß ich Vorry vor dem Hungertod gerettet hatte. Das Material der Sendestation würde mindestens einige Tage reichen. Inzwischen mußten wir versuchen, weitere Nahrungsquellen für ihn zu erschließen. Als Vorry zurückkehrte, leuchteten seine Augen im alten Glanz. Er kam zu mir und bezeigte mir durch Gesten seine Dankbarkeit. Ich stand auf. »Das war doch selbstverständlich, Vorry«, wehrte ich ab. »Ich werde mir die Station einmal von innen ansehen.« Ich ging hinüber und spähte durch das Loch, das Vorry in die Schlingpflanzen gerissen hatte. Dahinter entdeckte ich eine grau schimmernde Stahlplastikwand, aus der
43 große Teile herausgerissen waren. Aber ich entdeckte noch etwas – und das erregte mich aufs Höchste. Wenn ich durch das Loch in der Stahlplastikwand blickte, sah ich weit hinten im Dunkeln einen trübrot schimmernden Punkt, ein Licht, das nicht auf natürliche Weise hierher gekommen sein konnte. Ohne zu zögern, arbeitete ich mich durch die Öffnung in der Wand, kam auf die Füße und ging langsam auf den trübrot schimmernden Punkt zu. Es war zu dunkel, um im Innern der Sendestation Genaueres zu sehen. Aber rings um den schimmernden Punkt erkannte ich doch etwas, nämlich das Metallplastikrelief eines Gesichts mit hoher Stirn, eine Art Maske, die wohl das Gesicht eines humanoiden Lebewesens darstellen sollte. Das Gesicht eines Varganen? Es wäre denkbar! teilte mir mein Logiksektor mit. Varganen errichteten den Zeittunnel in die Vergangenheit. Warum sollten sie nicht ein Zeugnis ihrer Art zurückgelassen haben? Erregt trat ich näher an das Gesicht heran. Der trübrot schimmernde Punkt befand sich in der Stirn. Behutsam strich ich mit den Fingerspitzen über das Relief. Plötzlich zuckte ich zurück. Unter meinen Fingerspitzen hatte das Material deutlich vibriert! Wer bist du? Meine Haltung versteifte sich. Nicht, weil ich mich fürchtete, sondern weil meine Erregung ihren Höhepunkt erreichte und sekundenlang meine Denkprozesse abschaltete. Wer bist du? Die Lähmung fiel von mir ab. Ich konnte plötzlich mit unwahrscheinlicher Klarheit denken. Und mir wurde klar, daß ich keine akustische Frage gehört hatte, sondern daß die Frage in meinem Bewußtsein entstanden war. »Ich bin Atlan, Kristallprinz von Arkon«, antwortete ich. »Und wer bist du?« Ich bin Ngulh, der überall ist und Unheil verhindert.
44 Ich runzelte die Stirn. Ein Zeitwächter! teilte mir mein Logiksektor mir. Wahrscheinlich eine Maschine, die Manipulationen in der Vergangenheit verhindern soll. »Bist du ein Vargane?« fragte ich trotz der Definition meines Logiksektors. Ja und Nein. Viele Varganen gaben ihre körperliche Existenz auf, um in Ngulh zu einer Einheit zu verschmelzen, die auf elektronischer Basis arbeitet. Du gehörst nicht in diese Zeit, Atlan. Was suchst du hier? »Ich suche einen Weg zurück in meine Zeit«, antwortete ich. »Ich bin nicht freiwillig hier. Aber der Rückweg ist mir versperrt. Zwei bösartige Kinder haben den Zeittunnel einpolig geschaltet.« Eine Weile vernahm ich nichts mehr, dann regte sich abermals die »Stimme« in meinem Bewußtsein. Atlan, Kristallprinz von Arkon, du würdest dich auf dieser Zeitebene zu einem Störfaktor für die Evolution entwickeln. Es könnte zu einem Präparadoxon kommen. Das darf ich nicht zulassen. Ich biete dir an, entweder mit uns zu verschmelzen oder in deine eigene Zeit zurückzukehren. Entscheide dich! »Kannst du mich denn in meine Zeit zurückschicken?« fragte ich, denn die Verschmelzung meines Bewußtseins mit denen der Varganen in einer Art elektronischem Gehirn erschien mir nicht erstrebenswert. Ich kann! Dazu bin ich da. Mein Herz schlug höher. »Dann schicke mich zurück!« forderte ich. »Aber schicke auch meinen Freund Vorry zurück!« Er stellt keinen Störfaktor dar. Folglich besteht keine Notwendigkeit, ihn aus dieser Zeitebene zu entfernen. »Und ob er einen Störfaktor darstellt!« gab ich zurück. »Vorry ist ein Eisenfresser. Er würde dich auffressen, wenn er hierbleiben müßte.« Es ist gut. Plötzlich vernahm ich ein hohles Brausen, das schnell anschwoll. Um mich herum wogten gelbliche Nebel, dann tat sich vor mir trichterförmig ein anscheinend rotieren-
H. G. Ewers der, trübrot leuchtender Tunnel auf.! Ich spürte, wie ich mit rasender Geschwindigkeit durch diesen Tunnel schwebte – und plötzlich war die Bewegung zu Ende. Ich stand auf dem glitzernden Boden eines von trübrotem Licht erfüllten Tunnels – und vor mir befand sich eine offene Tür. Ein Knurren ließ mich den Kopf wenden. Hinter mir stand Vorry. Ich zögerte nicht länger, sondern trat entschlossen durch die Türöffnung. Vorry folgte mir. Wir waren wieder in unserer Zeit und in dem Stützpunkt der bösartigen Zwillinge.
9. Wir eilten die Wendeltreppe hinauf, nachdem ich Vorry durch Zeichen gebeten hatte, sich unauffällig zu benehmen. Die Zwillinge schienen noch nicht bemerkt zu haben, daß wir zurückgekehrt waren. Ich hoffte, sie überraschen und überwältigen zu können. Schließlich konnten sie nicht ahnen, daß es hinter dem Ende des Zeittunnels einen Wächter gab, der die Möglichkeit besaß, unwillkommene Besucher aus der Zukunft in ihre Zeit zurückzuschicken. Oben angekommen, stellte ich fest, daß das Licht in diesem Gebäude der Station wieder brannte. Das war ein weiterer Beweis dafür, daß die Torrelions von unserer Rückkehr nichts ahnten. Ich war jedoch weit entfernt davon, zu frohlocken. Ich sorgte mich um Fartuloon und Ra. Am Beispiel der beiden Arphas, die gegeneinander hatten kämpfen müssen, hatte ich erkennt, wie grausam die Zwillinge mit ihren Gefangenen umzugehen pflegten. Da ich mir klar darüber war, daß ich ohne Waffen nicht viel gegen die Torrelions und ihre Roboter ausrichten konnte, durchsuchte ich das Gebäude. Ich fand tatsächlich zwei Waffen. Es handelte sich zwar nur um Lichtwerfer, wie sie auch von Riik und seinen Leuten verwendet wurden, aber das war immer noch besser als gar nichts. Außerdem stellte der Eisenfresser eine
Zonen des Schweigens Waffe besonderer Art dar. Ich war überzeugt davon, daß er es mit jedem Kampfroboter aufnehmen konnte. Bevor ich das Gebäude verließ, spähte ich durch die Öffnung, die Vorry bei seinem Eindringen geschaffen hatte, ins Freie. Es war heller Tag, und im erbarmungslosen Schein der Sonne sah ich außer dem einen toten Arpha noch drei andere auf dem Hang liegen. Waren sie vielleicht zurückgekehrt, um mich zu unterstützen? Ich blickte mich nach Vorry um. Die Augen des Eisenfressers leuchteten vor Erregung. Offensichtlich fieberte er dem bevorstehenden Kampf entgegen. Ich überlegte, ob ich mich von ihm über das freie Gelände tragen lassen sollte. Bei seiner Schnelligkeit würden wir gute Aussichten haben, das nächste Gebäude zu erreichen, bevor die Zwillinge oder ihre Roboter uns entdeckten und reagieren konnten. Aber als ich mich wieder umwandte, sah ich zwei Gestalten aus dem kugelförmigen Bauwerk kommen: die eine untersetzt und mit einem Brustharnisch und einem zerbeulten Helm … Fartuloon! Meine Gefährten hatten sich also selbst befreien können. Vielleicht waren die Zwillinge schon überwältigt. Ich sprang ins Freie und winkte mit beiden Armen. »Atlan!« Fartuloons Schrei gellte mir in den Ohren. Wir liefen aufeinander zu und umarmten uns. Plötzlich merkte ich, wie Fartuloons Haltung sich versteifte. Ich konnte mir denken, weshalb, darum sagte ich: »Das schwarze Kraftbündel ist Vorry, mein Freund.« Wir lösten uns voneinander. Argwöhnisch musterte mein Pflegevater den Eisenfresser, dann breitete sich ein befreites Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Hallo, Vorry!« sagte er. Er wandte sich wieder an mich. »Vorry ist intelligent, nicht wahr?«
45 »Ja«, antwortete ich. »Wie hast du das so schnell bemerkt, alter Bauchaufschneider?« »Erfahrung«, gab Fartuloon zurück. »So, dann wollen wir uns mal um die beiden bösen Buben kümmern.« »Einverstanden«, erwiderte ich. »Ihr habt sie also überwältigt?« Narr! gab mein Extrasinn zurück. Wenn sie die Torrelions überwältigt hätten, trügen sie wieder ihre Waffen. Die Gefahr ist noch nicht vorüber. Fartuloon sah mich erstaunt an. »Nein, ich dachte ihr …« Seine Augen weiteten sich schreckhaft. Ich erblickte im gleichen Augenblick das wirbelnde Etwas, das neben uns erschien. Es sah aus wie ein umherrasendes Energiewesen – und es war nicht allein. Zwei Energiewesen bewegten sich so schnell um uns herum, daß sie beinahe unsichtbar waren. Bevor ich den Anblick geistig verarbeitet hatte, kamen die beiden rasenden Leuchtgebilde zum Stillstand. Das Leuchten erlosch, und ich erkannte, was sie darunter verborgen hatte. Die beiden Zwillinge! Ich wollte eine meiner beiden Waffen heben – und ich merkte, daß ich keine Waffe mehr besaß. Ich konnte mich auch nicht bewegen, denn ich war gefesselt. Wie war das nur möglich? Zeitmanipulation! gab mein Logiksektor nüchtern durch. Die Zwillinge haben auf dem Gelände der Station eine Schweigende Zone geschaffen und sind im Schutz von Neutralisierungsfeldern hier eingedrungen. Ihr habt nicht sehen können, was sie taten, weil euer Zeitablauf stark verzögert worden war. Ich blickte mich nach Vorry um und entdeckte, daß er in ein energetisches Fesselfeld gehüllt war. Fartuloon stieß eine Verwünschung aus. Die Zwillinge grinsten. »Wir sind eben besser als ihr«, sagte Nummer eins. »Aber für euren Ungehorsam werdet ihr
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bestraft«, erklärte Nummer zwei. »Für dich haben wir uns eine besondere Strafe ausgedacht«, sagte Nummer eins, an mich gewandt. »Wie heißt du?« Ich schwieg und blickte stolz über die Zwillinge hinweg. Wenn sie schon über mich triumphierten, sollten sie wenigstens nicht die Genugtuung haben, daß ich mich herabließ, mit ihnen auch nur ein Wort zu wechseln. »Er ist stumm wie ein Wurm«, sagte Nummer zwei zu Nummer eins. »Bald wird er wie ein Wurm vor uns kriechen«, erwiderte Nummer eins.
* Ich gab mich keinen Illusionen über unsere Lage hin. Es war alles aus. Wahrscheinlich hatten die Zwillinge meine Gefährten nur freikommen lassen, weil sie wußten, daß sie sie mit Hilfe eines Stasisfeldes jederzeit wieder einfangen konnten. Das hätte zu ihrem Charakter gepaßt. Und daß sie mich fassen konnten, nachdem ich aus ihrer Zeitfalle zurückgekehrt war, bedeutete für sie zweifellos einen besonderen Triumph. Sie lockerten Fartuloons, Ras und meine Fußfesseln so weit, daß wir sehr kurze Schritte machen konnten. Danach trieben sie uns in das kuppelförmige Bauwerk zurück. Vorry ließen sie in seinem Fesselfeld einfach auf dem Hang stehen. Diesmal wurden wir allerdings nicht in die große Halle gebracht, sondern in einen Raum, der mit fremdartigen Geräten ausgestattet war. In der Mitte stand oder lag eine zirka drei Meter große Metallkugel. Keine vollkommene Kugel allerdings, denn dieses Gebilde hatte Ein- und Ausbuchtungen. Aber dominierend an ihr war eine ovale Riesenlinse, die auf einer Metallnase klebte und in allen Farben schillerte. Die Riesenlinse schien mich tückisch anzustarren. Unwillkürlich fröstelte ich, obwohl es in dem Raum nicht kalt war. »Ja, sieh es dir nur genau an!« sagte Zwil-
linge Nummer zwei höhnisch. »Bald wirst du nähere Bekanntschaft mit dem Zerebralmodulator machen«, verkündete Nummer eins. »Er wurde zwar zu einem anderen Zweck konstruiert«, erklärte Nummer zwei, »aber als er defekt wurde, hat ihn ein Roboter repariert und dabei verändert.« »Welchem Zweck diente er ursprünglich?« fragte Fartuloon. Er wollte offenbar Zeit gewinnen. Die Kinder blickten sich bedeutungsvoll an. Sekundenlang glaubte ich, Furcht in ihren Augen aufflackern zu sehen. Möglicherweise hatten sie eine böse Erfahrung mit dem Gerät hinter sich. »Wißt ihr es nicht?« bohrte mein Pflegevater weiter. Er wollte mich so lange wie möglich vor den Quälereien der Torrelions bewahren. Dankbar blickte ich ihn an. Aber mit Verzögerungstaktik war nichts auszurichten. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, was mit einem Zerebralmodulator gemeint war. Das Gerät würde Veränderungen in meinem Gehirn hervorrufen, die unter Qualen zum Tode führten. »Man konnte mit ihm reisen«, sagte Zwilling Nummer eins mit flacher, tonloser Stimme. »In die Zukunft«, erläuterte Nummer zwei und erschauderte. Was mochten die beiden Knaben in der Zukunft gesehen haben? überlegte ich. Es mußte etwas Entsetzliches gewesen sein, wenn sie jetzt noch beim bloßen Gedanken daran Furcht und Grauen empfanden. »Wie weit in die Zukunft seid ihr gekommen?« fragte Fartuloon. Er gab also noch immer nicht auf. »Nicht sehr weit …« antwortete Nummer eins zögernd. »Wir sollten es vergessen«, sagte Nummer zwei. »Fangen wir endlich an.« »Ja, fangen wir an«, sagte Nummer eins. Plötzlich waren sie wieder die alten. Ihr sadistisches Grinsen ging mir unter die Haut.
Zonen des Schweigens Zwilling Nummer eins bewegte sich auf das Gerät zu. »Halt!« sagte eine Stimme. Ich kannte die Stimme, und noch bevor ich den Sprecher zu Gesicht bekam, wußte ich, wem sie gehörte. Dovreen, dem Weisen! Die Knaben drehten sich um. Dovreen war nicht allein gekommen. Bei ihm befand sich die Frau, die wir beim Pavillon an seiner Seite gesehen hatten. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Hört auf!« rief sie unter Schluchzen. »Es ist Unrecht, was ihr tut! Ihr seid doch meine Kinder!« Sie wollte auf die Zwillinge zueilen. »Bleib stehen, Mutter!« sagte Nummer zwei. »Verschwindet von hier!« sagte Nummer eins. »Nimm die Alte und bring sie fort, Vater!« Dovreen ballte die Hände zu Fäusten. Er zitterte vor Erregung und setzte zum Sprechen an. Aber bevor er etwas sagen konnte, lief die Frau weiter auf die Kinder zu. Beide Zwillinge hielten plötzlich Waffen in den Händen. Es waren keine Paralysatoren, sondern tödliche Thermostrahler. Zwei Energiestrahlen zuckten auf, hüllten die Frau ein und verbrannten sie im Bruchteil einer Sekunde. Ich hörte einen unmenschlichen Schrei. Er kam von Dovreen. Der Weise riß ein eiförmiges Gerät aus einer Tasche seines Gewandes und richtete die bläulich leuchtende Spitze auf seine beiden Kinder. Ein dumpfes Grollen ertönte, dann brachen die Zwillinge förmlich auseinander. Es war, als hätte ein schwerer Hammer zwei gläserne Statuen getroffen und zu Scherben geschlagen. Die Bruchstücke lösten sich in gelblich schimmernde Schwaden auf, als sie den Boden berührten. Dovreen ließ die Waffe fallen. Er weinte. Fartuloon, Ra und ich schwiegen angesichts der Tragödie, die sich vor unseren Au-
47 gen abgespielt hatte. Ich würde wohl niemals vergessen, wie die Zwillinge kaltblütig ihre Mutter getötet hatten. Und ihr Vater hatte sie schließlich getötet. Dennoch mußte er sie geliebt haben, denn er hatte ihr grausames Treiben bis zuletzt gedeckt, hatte zugelassen, daß sie die Eingeborenen terrorisierten – bis es ihm zuviel geworden war. Doch auch da hatte er ihnen nichts tun wollen. Erst, als sie ihre Mutter umbrachten, hatte er sie im Affekt getötet.
* Nach einiger Zeit gewann Dovreen seine Fassung zurück. Er befreite uns von den Fesseln und sorgte auch dafür, daß das Fesselfeld, das Vorry zur Unbeweglichkeit verurteilte, abgeschaltet wurde. Von den Robotern ließ sich keiner sehen. »Ich wollte sie schützen«, erklärte Dovreen leise und meinte damit wohl seine Kinder. »Aber ich hätte wissen müssen, daß der, der Böses geschaffen hat, es auch wieder vernichten muß.« Er sah uns aus blicklosen Augen an. »Es war die gerechte Strafe«, sagte er tonlos. »Die Bosheit der Kinder war meine Strafe dafür, daß ich mich mit einer Sterblichen eingelassen hatte.« »Aber das ist doch kein Verbrechen«, meinte Fartuloon. »Wenn sich zwei Menschen lieben, ist es nur natürlich, wenn sie zusammenleben.« »Nicht in meinem Fall«, erwiderte Dovreen. Er warf einen Blick aus tränenverschleierten Augen auf Ra. »Ich war für eine Göttin bestimmt, aber ich verstieß sie, weil ich in fleischlicher Liebe einer Sterblichen zugetan war. Die Götter rächten sich dafür, indem sie die Kinder dieser illegalen Verbindung mit Bosheit schlugen.« Dazu vermochte niemand von uns etwas zu sagen. Um Dovreen ein wenig abzulenken, und auf andere Gedanken zu bringen, fragte ich: »Die Zwillinge hielten ein Wesen gefan-
48 gen, das sie Vorry nannten. Kannst du uns sagen, woher Vorry kommt?« Dovreen warf einen Blick auf den Eisenfresser. Plötzlich lächelte er wieder. Es war zwar nur die Andeutung eines Lächelns, aber ich war schon froh darüber. »Vorry ist ein Magnettier«, berichtete der Weise. »Er schlüpfte aus einem Ei, das auf unbekannten Wegen in diese Galaxis gelangte. Ein varganischer Wissenschaftler fand es. Nach eingehender Untersuchung stellte er fest, daß es ein sehr ungewöhnliches Ei war, das sich nicht durch Wärmeeinwirkung ausbrüten ließ. Er steckte es in einen Magnetbrüter, den er eigens dafür konstruiert und gebaut hatte. Vorry wurde von einem sehr starken Magnetfeld ausgebrütet und schlüpfte innerhalb des Magnetbrüters. Ich weiß nicht, ob seine ungeheuren Körperkräfte auf genetischer Veranlagung beruhen oder auf der Tatsache, daß er in einem starken Magnetfeld ausgebrütet wurde.« So war das also! Vorry war ein Außergalaktischer. Er wurde dadurch nur noch faszinierender für mich. Schade war nur, daß Vorry keinerlei Erinnerungen an seine Heimat haben konnte. Oder doch? »Ich denke, wir kehren zur Stadt der Arphas zurück«, sagte ich. »Nachdem die Gefahr für sie beseitigt ist, werden sie uns wohl nicht mehr daran hindern, unser Beiboot zu besteigen und diesen Planeten zu verlassen.« Ich vermied absichtlich, die Torrelions direkt zu erwähnen. »Ja«, erwiderte Dovreen. »Vorher aber werde ich dafür sorgen, daß das technische Erbe der Varganen nicht noch einmal mißbraucht werden kann. Wartet bitte hier auf mich.« Er verließ den Raum durch eine Tür, die ich vorher nicht gesehen hatte. »Ich hätte große Lust, die Geheimnisse dieser Station zu erforschen«, meinte Fartuloon. »Aber es ist wohl besser, wenn sie für immer vergessen werden.« »Das denke ich auch«, sagte ich und
H. G. Ewers dachte an das Abenteuer in der Vergangenheit zurück. Mein Blick fiel wieder auf die schillernde Linse des kugelförmigen Geräts, und ich erschauderte, als ich daran dachte, daß die Zwillinge mit seiner Hilfe in die Zukunft gereist waren. Was mochten sie dort wohl gesehen haben? Aber was immer es gewesen war, es hatte ihnen einen nachhaltigen Schock versetzt. Bisher hatte ich immer angenommen, es sei gänzlich unmöglich, in die Zukunft zu reisen. Diese Ansicht mußte ich wohl oder übel revidieren. Allerdings glaubte ich nicht, daß jemand weit in die Zukunft reisen konnte, ohne auf Hindernisse zu stoßen. Die Bewohner der Zukunft würden bestimmt Möglichkeiten haben, sich gegen ungebetene Besucher aus der Vergangenheit zu schützen. Vielleicht waren die Zwillinge von einer Art Schockfeld abgeschreckt worden. »Eigentlich müßten Dovreen zurück sein«, meinte Fartuloon nach einer Weile. »Ich werde mal nach ihm sehen. Kommst du mit, Atlan?« Ich nickte. Wir verließen den Raum durch die gleiche Tür, durch die der Weise gegangen war. Systematisch durchsuchten wir die dahinter liegenden Räume. Es dauerte nicht lange, dann hatten wir Dovreen gefunden. Aber der Weise war tot. Er lag schlaff in einem Sessel vor einer Schaltanlage. Fartuloon untersuchte ihn kurz. »Wahrscheinlich hat er Gift genommen«, meinte er. »In seiner rechten Hand liegt ein Speichergerät«, sagte ich. Fartuloon nahm es und schaltete es ein. Es knackte, dann sagte Dovreens konservierte Stimme: »Ich kann und will nicht mehr leben, denn alles, was ich liebte, befindet sich im Reich der Toten. Dorthin will auch ich gehen. Atlan, verlasse mit deinen Gefährten die Station, denn sie wird noch vor Einbruch der
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Dunkelheit vergehen – vergehen wie der Ring des Wahnsinns, der durch meinen Tod zerbrechen wird. Viel Glück bei der Suche nach dem Stein der Weisen.« Das war alles. Uns hielt nun nichts mehr in dieser Station des Grauens. Schweigend kehrten wir in den Raum zurück, in dem Ra und Vorry warteten. Nachdem wir ihnen berichtet hatten, daß Dovreen Selbstmord begangen hatte, verließen wir alle die Station. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die Stadt der Arphas. Riik erwartete uns bereits zusammen mit allen Einwohnern. Einige der befreiten Gefangenen waren zurückgekehrt und hatten berichtet, daß ich sie befreit hatte. In kurzen Worten teilte ich ihm mit, was mit den Torrelions und Dovreen geschehen war. Wie zur Bestätigung flammte es über den Bergen im Norden plötzlich grell auf. Die Glut hielt fast eine Minute an, dann erlosch sie wieder. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Die eingeborenen veranstalteten uns zu Ehren ein Fest, das bis zum Morgen dauerte. Leicht benommen von den vielen Speisen und diversen alkoholischen Getränken brachen wir zum Beiboot auf, begleitet von einigen Eingeborenen und Vorry. Riik ließ es sich nicht nehmen, den Behälter mit der Silberkugel für mich zu tragen.
Als wir das Beiboote erreichten, legte mir Vorry eine Hand auf den linken Unterarm, deutete erst auf mich, dann auf sich und zuletzt auf das Beiboot. »Er möchte mitkommen«, sagte Fartuloon grinsend. »Ich hatte es gehofft«, erwiderte ich. »Obwohl ein Eisenfresser an Bord eines Raumschiffs zur Plage werden kann.« Ich machte Vorry durch Gesten klar, daß ich einverstanden war, dann verabschiedeten wir uns von Riik. Ich nahm den Behälter mit der Silberkugel entgegen. Der Einstieg in unser Beiboot zeigte, welche Probleme wir mit Vorry eingehandelt hatten. Er verbeulte die Luke, so daß wir sie erst provisorisch abdichten mußten, bevor wir endlich starteten. »Er muß erst noch lernen, seine Kräfte zu kontrollieren«, sagte Fartuloon mit einem Blick auf den Eisenfresser. Vorry grunzte zustimmend, lehnte sich zur Seite – und riß den Sessel um, in dem Fartuloon saß. Ich lachte und schob den Beschleunigungshebel bis zum Anschlag vor. Das Boot schoß in den Raum hinaus, der KARRETON entgegen …
ENDE
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