RAY GARTON
HINTER SCHWARZEN GARDINEN Roman
Aus dem Englischen von Alfred Walter
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE ...
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RAY GARTON
HINTER SCHWARZEN GARDINEN Roman
Aus dem Englischen von Alfred Walter
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/8756
Titel der Originalausgabe THE NEW NEIGHBOR
Scanned by Doc Gonzo
Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
Redaktion: Werner Heilmann Copyright © 1991 by Ray Garton Copyright © der deutschen Ausgabe 1993 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1993 Umschlagillustration: Michael A. Russ/Tintones Prod. Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Elsnerdruck, Berlin ISBN: 3-453-06.391-0
Aus dem Global Inquisitor: GEISTESKRANKE MUTTER ZERSTÜCKELT EHEMANN UND SOHN MIT MOTORSÄGE Chikago »Eine friedliebende Hausfrau verwandelte sich in eine wilde Furie und ging mit einer Motorsäge auf ihre Familie los, bis der verzweifelte, blutüberströmte Vater sie mit seiner Schrotflinte erschoß! Die fünfunddreißigjährige Marie Prosky, eine Hausfrau aus dem Chikagoer Vorort Arlington Heights, verwandelte sich gestern Nachmittag in eine blutrünstige Schlächterin, warf die Motorsäge ihres Ehemannes an und zersägte damit den Schädel ihres sechzehnjähriges Sohnes Gordon. Der schrecklich zugerichtete Junge war auf der Stelle tot, nicht so sein Vater, der sich dem furchtbaren Schlachtwerkzeug tapfer entgegenstellte. Der siebenunddreißigjährige Ronald Prosky, Journalist bei einer angesehenen Chikagoer Zeitung, wurde schwer verletzt. Die Ehefrau zerschnitt ihm mit der Motorsäge das Gesicht und trennte ihm eine Hand ab. Trotz der Verletzungen und des Blutverlust gelang es Prosky, seine Schrotflinte aus dem Schrank zu holen und seine Ehefrau ins Jenseits zu befördern. Noch während der tapfere Mann in einem nahegelegenen Krankenhaus mit dem Tode rang, machten Beamte der örtlichen Polizei sich daran, den Fall zu untersuchen, um Antworten zu finden, aber bis jetzt gibt es noch keine Erklärungen für Mrs. Proskys blutrünstige Schreckenstat … «
3
EIN JAHR SPÄTER In einer windstillen Sommernacht, im Licht des fetten, leuchtenden Mondes – ihr Ehemann Mitch schlief eine halbe Flasche billigen Whisky aus – schlich sich Connie Padgett mit einem kleinen Koffer voller Sachen, die sie einfach nicht zurücklassen wollte, aus ihrem kompakten, stromlinienförmigen Wohnanhänger. Ihre Schuhe klapperten, die drei losen Metallstufen unterhalb der Tür des Anhängers hinunter, dann knirschte der Kies unter ihren Sohlen, als sie vorsichtig und leise die Tür schloß. Sie hinkte schwerfällig, denn vor ein paar Tagen erst hatte Mitch sie gegen den Nachttisch geschleudert. Dabei hatte sie sich auch die Lippe aufgeschlagen. Durch das Fenster konnte Connie das Flimmern des kleinen Schwarzweiß-Fernsehers erkennen, der vor einem besinnungslosen Zuschauer spielte. Mitch lag ausgestreckt auf dem Sofa und schnarchte geräuschvoll durch den offenen Mund. Als sie sich umdrehte und den Blick in die Runde schweifen ließ, flimmerte dasselbe Leuchten – manchmal bläulich, manchmal als verschwommenes Farbgemisch – aus nahezu jedem Anhänger auf dem Platz, als würden verängstigte Geister verzweifelt versuchen, aus ihren winzigen, schachtelförmigen Gefängnissen zu entkommen. Connie ging an Mitchs rostigem, verbeultem ChevroletPritschenwagen vorbei zum Rand der schmalen, gekiesten Straße, die mitten durch den Cherry-Tree-Wohnanhängerpark führte; dort schaute sie sich noch ein letztes Mal um. Sie war dreiundzwanzig; die letzten beiden Jahre hatte sie damit verbracht, dem weiten Flachland von Kansas dabei zuzuschauen, wie es immer flacher und immer weiter zu werden schien, während Mitch einen Job nach dem anderen verlor. Die Abstände zwischen zwei Jobs waren mit der Zeit größer geworden, und jedesmal hatte er sie mit mehr Alkohol 4
und noch eisigerem Schweigen ausgefüllt. So weit hatte Connie es also gebracht in den zwei kurzen Jahren, die ihr jetzt wie ein ganzes Leben vorkamen: daß sie sich mit einem einzigen Koffer davonschleichen mußte, in dem sie ihre Habseligkeiten verstaut hatte. Wieder fragte sie sich, warum sie diesen Mann jemals geheiratet hatte. Er war anders gewesen, vor zwei Jahren; charmant und warmherzig war er gewesen und voller Begeisterung. Er wollte arbeiten und so viel Geld zusammenbringen, daß sie wieder auf die Schule gehen konnte, um ihre Ausbildung zu beenden und hinterher zu unterrichten. Aber dazu war es nicht gekommen. Ein Job nach dem anderen war als Fehlschlag geendet; er hatte zu trinken angefangen, hatte bald schon aufgehört, sich nach Jobs umzusehen, und schließlich waren sie so am Ende, daß er nicht mehr wußte, wie er den Schnaps finanzieren sollte, den er jeden Abend mit nach Hause brachte, vom Sprit für die Fahrt in den Supermarkt ganz zu schweigen. Natürlich kamen zusammen mit dem Schnaps die lautstarken Auseinandersetzungen; immer öfter flogen die Fäuste. Das war ihr ganz unvermeidlich erschienen und hatte sie nicht weiter verwundert. Aber vor sechs Monaten war etwas passiert, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie hatten eine neue Nachbarin bekommen. Eine wunderschöne Frau, die allen Männern in dem Caravan-Park den Kopf verdrehte. Einschließlich Mitch – und ihm wohl ganz besonders. Am Tag erwies er ihr Gefälligkeiten, erledigte kleinere Arbeiten an ihrem Auto, reparierte Elektrogeräte und lackierte ihr sogar einen Wandschrank – mit seinem eigenen Lack. Und natürlich trank er an den Abenden wie gewöhnlich, hockte mit einer Flasche und einem Glas vor dem Fernseher, warf Connie wütende Blicke und bissige Bemerkungen zu, sagte schreckliche, verletzende Dinge zu ihr – und schlug sie manchmal auch oder schleuderte sie durch den Anhänger. Das 5
alles war schon schlimm genug, aber später am Abend tat er etwas, das für Connie noch schlimmer war. Er ging sich draußen die Füße vertreten. Obwohl er sich kaum noch gerade halten konnte, erhob er sich jeden Abend so gegen elf schwerfällig von seiner Couch, lallte etwas von Luftschnappen und torkelte hinaus. Und dann blieb er stundenlang fort. Ihre Vermutungen entsprachen der Wahrheit, aber ganz sicher wußte sie das erst, nachdem sie ihm eines Abends gefolgt war. Er ging hinüber zu ihrem Anhänger. Connie wartete so lange, bis der ganze Anhänger unter dem Gerammel der beiden zu schaukeln anfing. Schlimm genug, daß er fremdging, aber die Tatsache, daß er sie seit Monaten nicht mehr angerührt hatte, machte es noch viel schlimmer. In diesem Augenblick beschloß sie, ihn zu verlassen. Jetzt ging sie die schmale Straße entlang, die durch den Caravan-Park führte, und versuchte, nicht zu dem Anhänger zu schauen, in dem die Geliebte ihres Mannes wohnte. Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, einen Blick hinüber zu werfen, auf die Kerze, die im Fenster des Anhängers brannte. Sie brannte dort jede Nacht, ihre Flamme blinzelte hinaus in die Dunkelheit. Auch wenn Connie sich des Gedankens schämte, oft hatte sie sich gewünscht, die Kerze würde den ganzen Anhänger in Schutt und Asche legen. Connie schaute auf die Uhr. Sie war früh dran. Vor zwei Stunden hatte sie das Taxi bestellt, und es würde noch zehn Minuten dauern, bis es zur Stelle wäre, also entfernte sie sich gemächlich von ihrem Heim. Hin und wieder warf sie einen Blick über die Schulter nach hinten. Beinahe hoffte sie, Mitch möge den Kopf zur Tür herausstrecken ihr nachrufen und sie fragen, wohin sie gehe, sie möglicherweise sogar bitten, zu ihm zurückzukommen, ihr versichern, daß er sie immer noch liebe und ihr versprechen, daß alles besser werden würde. Sie wußte nicht, was sie in diesem Fall tun sollte … aber sie konnte sich nicht gegen den Wunsch, gegen die verzweifelte Hoffnung 6
wehren, daß die vergangenen zwei Jahre doch nicht ganz und gar umsonst gewesen sein mochten. Sie ging langsam, den Blick auf die Kerze im Fenster dieser Frau gerichtet. Auf der kleinen Veranda vor der Eingangstür lag ein dunkler Schatten, einer ihrer beiden Dobermänner; den anderen behielt sie immer drinnen bei sich. Zweimal täglich ging sie mit den beiden Hunden spazieren und behandelte sie dabei wie Königskinder. Kain und Abel hießen die beiden, und Connie konnte sich nicht gegen das seltsame Gefühl wehren, daß diese Hunde etwas Unheimliches an sich hatten. Wenn sie so jeden Tag an beiden Seiten dieser Frau dahintrotteten, dann fühlte sich Connie an all die Märchen von niederträchtigen Königinnen und bösen Zauberinnen erinnert, die sie als Kind gelesen hatte. Etwas bewegte sich. Connie blieb stehen. Der Hund auf der Veranda der Frau hob den Kopf, stellte die Ohren auf und meldete sich mit einem tiefen, kehligen Knurren. Connie sah, wie sich auf der anderen Seite des Anhängers etwas bewegte, hörte Gebüsch rascheln und Schritte über den Kies knirschen. Eine kleine, gedrungene Gestalt löste sich aus der Dunkelheit am Rand der Straße; sie erschien Connie wie ein Zwerg … oder, schlimmer noch, wie ein böser Kobold. Hastig trat sie einen Schritt zurück in die Dunkelheit, preßte sich den kleinen Koffer vor den Bauch und hielt den Atem an, als die Gestalt um den Anhänger der Frau herumschlich, auf die kleine Veranda mit dem Dobermann zu. Der Lichtschein aus einem benachbarten Fenster traf den Mann, und sie erkannte, daß er hinkte. Connie ließ ihren Koffer fallen, als er sich plötzlich so zu ihr umdrehte, daß sie ihn ganz genau sehen konnte. Sie brach fast zusammen, von Entsetzen geschüttelt. Der Dobermann war aufgestanden und knurrte; sofort bewegte sich der Mann blitzschnell. Mit einem metallischen 7
Geräusch erschien eine lange, schimmernde Klinge in seiner Hand. Er verscheuchte Connie mit einer Handbewegung und krächzte: »Weg! Verschwinden Sie hier. Los!« Dann ging er um den Anhänger herum und stürzte sich in dem Moment auf den Hund, als das Verandalicht anging und die Tür sich öffnete. »Oh, mein Gott«, flüsterte Connie und bückte sich nach ihrem Koffer. Während sie ihn an sich riß, warf sie noch einen Blick hinüber zu dem Anhänger auf der anderen Straßenseite, wo gerade die funkelnde Klinge nach unten fuhr und der Hund ein langgezogenes, kehliges Röcheln ausstieß, bei dem sich Connie der Magen umdrehte. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Der Mann schrie auf, als der Hund von der Veranda plumpste und die Frau – Mitchs Geliebte – in der Türöffnung erschien. »Du?« fauchte sie verwundert, und … … Connie rannte auf die Einfahrt zum Caravan-Park zu, in der flehentlichen Hoffnung, das Taxi möge dort schon auf sie warten, auch wenn sie deutlich genug sah, daß es noch nicht da war. Sie rannte trotzdem weiter, wild entschlossen, auf der Landstraße das erste beste Auto anzuhalten, als … … ein weiterer Schrei des Mannes die Dunkelheit zerschnitt: »Nein! Stirb! Sterben sollst du!« Die Frau lachte, und dann war da noch ein anderes Geräusch … ein Geräusch, wie Connie es noch nie zuvor gehört hatte, aber ihr war augenblicklich klar, daß es nicht von einem Menschen stammen konnte. Auf halbem Weg zur Landstraße versuchte sie noch schneller zu laufen, ohne dabei ins Stolpern zu geraten, denn jetzt hörte sie hinter sich hastige Schritte, und der Mann schrie: »Nein, ich habe es getötet! Ich habe es getötet!« Der Schotter prasselte unter den Reifen wie Speck in der Pfanne, als das Taxi vor dem Caravan-Park auf das Bankett fuhr, und Connie keuchte erleichtert, als sie außer Atem dem Fahrer zuwinkte und dabei schrie: »Machen Sie die Tür auf! 8
Tür aufmachen!« »Haben Sie mich bestellt?« fragte er Fahrer durch das offene Fenster. »Ja! Bitte! Machen Sie die Tür auf … « Sie stürzte vornüber, und die Koffer schlitterten von ihr weg über den Schotter, aber sie hatte sich sogleich wieder hochgerappelt und kümmerte sich nicht um den Koffer, als sie auf das Taxi zustürzte, die Tür aufriß und sich auf den Rücksitz fallen ließ. Sie stieß einen Schrei aus, als sie die Tür zuziehen wollte und den Mann erblickte, der ihr gefolgt war. Er zwängte sich in das Taxi, schlug die Tür zu und brüllte: »Losfahren! Fahren Sie sofort los!« Aber der Mann war nicht das Schlimmste. Der wirkliche Grund für ihren Schrei war das Ding, das ihm folgte. Es schoß auf das Taxi zu, einen halben bis einen Meter über dem Boden, schlug wie wild mit seinen Hügeln, die aus toter Haut zu sein schienen, und das Geräusch, das es dabei von sich gab, drehte einem … Connie wollte sich übergeben. Unter leisem Fluchen legte der Fahrer den Gang ein, und hinter ihnen spritzte der Schotter in die Höhe, als das Taxi davonstob. »Schneller!« sagte der Mann. »Schneller!« Connie fühlte sich wie betäubt. Mit offenem Mund starrte sie dem Mann ins Gesicht, als wollte sie nicht wahr haben, was sie dort sah. Dann schaute sie nach unten, sah die Klinge und, was noch schlimmer war, die Hand, die diese Klinge hielt. Die Hand war eigentlich keine … »Keine Angst«, keuchte der Mann, schwer hob und senkte sich seine Brust. »Ich tu Ihnen nichts. Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen.« Er berührte ihren Arm, und sie zog sich zurück, preßte sich gegen die andere Tür. Er legte seine Hand wieder in den Schoß und flüsterte »Sie können nie mehr dorthin zurückgehen. Nie mehr … «
9
LETZTES WOCHENENDE Ein leises Raunen ging durch die Versammlung, als Pfarrer Jeremy Quillerman die Kanzel erklomm. Er war Mitte fünfzig, sein kugelrunder Bauch preßte sich gegen das taubenblaue Hemd unter der Jacke seines dunkelgrauen Anzugs. Er humpelte, aber der Ursprung dieser Gehbehinderung war jedem Gemeindemitglied der nicht konfessionsgebundenen Glaubensbrüderschaft ein Rätsel. An der Stelle der rechten Hand, wo einmal die letzten drei Finger gesessen hatten, waren ihm nur noch ein paar entstellte Stummel geblieben. Der Daumen und der verbliebene Zeigefinger klinkten sich wie fleischige Haken um seine Bibel, als er sie auf das kleine Pult legte und zu seiner Gemeinde hinunterlächelte. Er hatte ein weiches, freundliches Gesicht, in das sich tausend kleine Lachfalten gegraben hatten. Das Haar mit den silbernen Strähnen war kurzgeschnitten und sorgfältig gekämmt, oben wurde es bereits etwas schütter. Sein buschiger Schnauzbart war dunkel, bis auf einen hellen Streifen unter jedem Nasenloch. Die Freundlichkeit seines Gesichts endete jedoch an den Augen. Das linke Auge war aus Glas, und deshalb war es weiter geöffnet als das andere und quoll etwas hervor. Vom inneren Augenwinkel zog sich eine bleiche, glatte, leicht glänzende Narbe über die Nasenwurzel hinweg bis hinauf auf die Mitte der Stirn, wo sie erst kurz vor dem zurückweichenden Haaransatz endete. Das rechte Auge blickte sowohl hart als auch ein wenig traurig, als hätte es zu viele schreckliche und gleichzeitig herzzerreißende Dinge mitansehen müssen. Pastor Quillerman begann seine Predigt wie immer – als befinde er sich im leisen Gespräch mit einem lieben Freund. »Was ist das Böse?« fragte er. »Und was glaubt ihr, wo es sich versteckt? Meint ihr, daß es leicht zu finden ist? Werden wir es immer erkennen, wenn wir es sehen, so daß es uns nicht 10
vom rechten Weg abbringen kann? Oder hat der Herr der Täuschung uns mit einer perfekt inszenierten Illusion davon überzeugt, daß wir es längst überwunden haben … wo es sich doch in Wirklichkeit direkt vor unserer Nase befindet?« Die Pritchards saßen auf halber Höhe in einer der linken Bänke; George hatte seinen Arm um Jen gelegt, die gestern erst sechzehn geworden war und nervös neben ihrem siebzehnjährigen älteren Bruder Robby herumzappelte. Pastor Quillerman fuhr fort: »Im ersten Brief des Petrus heißt es: ›Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, was er verschlingen kann.‹« Ein paar Nachbarn der Pritchards waren ebenfalls in der Kirche. Mr. und Mrs. LaBianco saßen auf ihrem angestammten Platz: Vordere Bankreihe, rechte Seite direkt am Mittelgang. Hinter ihnen saßen die Weylands. Paul, seine Frau Denise und ihre Teenager-Töchter Caryl und Stephanie. »Was, werdet ihr jetzt fragen«, fuhr der Pastor fort, »hat Nüchternheit mit der Wachsamkeit dem Teufel gegenüber zu tun? Reicht es denn nicht, einfach nach dem Bösen Ausschau zu halten? Sollte es uns nicht genug sein, auf Satans Fallen zu achten? Nun, meine Freunde, wer so denkt, ist ihm bereits in die Falle gegangen.« Sheri MacNeil saß mit ihrem Sohn Christopher in der allerletzten Reihe. Sie saß immer dort, für den Fall, daß der Kleine das Quengeln anfing oder plötzlich mal mußte. »So, wie ein Kinderschänder oder ein Mörder niemals aussieht wie ein Kinderschänder oder Mörder, so ist auch das Böse selten oder nie offensichtlich. Wir dürfen nicht erwarten, daß wir es an Blitz und Donner oder an seinen Drudenfüßen erkennen können. Ich weiß, daß wir dazu neigen. Ich selber erwische mich immer wieder dabei. Wenn wir nach etwas Ausschau halten, dann soll es etwas möglichst Handfestes, etwas Erkennbares sein. Aber wenn wir uns die ganze Zeit mit 11
Dingen abgeben, die fragwürdig aussehen, dann entgehen uns manchmal die hinterhältigsten Formen des Bösen, welche direkt vor unserer Nase vorbeispazieren, oder – meine lieben Freunde – welche in uns selber heranwachsen.« Robbys bester Freund Dylan Garry saß zusammen mit seiner Mutter in der gegenüberliegenden Bankreihe – Mr. Garry ging nie in die Kirche –, und die beiden Jungen schnitten sich über den Mittelgang hinweg Grimassen. »Wir alle tragen den Samen des Bösen in uns, meine Freunde«, sagte Pastor Quillerman. »Und alles, was diese Samen brauchen, ist ein wenig Nahrung, etwas Pflege – mag sie nun von uns selber kommen oder vom großen Verführer persönlich –, und schon bringen sie Pflanzen hervor und treiben Blüten. Aber wenn diese Samen die Nahrung bekommen, die sie benötigen, dann nur, weil wir es zulassen. Wir wissen nie genau, woraus diese Nahrung besteht, also müssen wir wachsam sein. Und das ist es, was Petrus meinte, als er sagte, wir müßten nüchtern sein, wir brauchten Selbstkontrolle, um dem brüllenden Löwen standhalten zu können.« Jen spielte Himmel und Hölle auf einem kleinen Blatt Papier, und George war der Kopf auf die Brust gesunken. Karen stieß ihm ihren Ellbogen in die Rippen. Sein Kopf hüpfte nach oben, aber nach einer Weile sackte er – wenn auch zuerst ganz langsam – wieder herunter. Der Pastor donnerte: »Dieser Löwe hat viele Verbündete. Sie sind nicht sichtbar. Sie verstecken sich an Orten, wo wir sie nicht vermuten, und sie locken uns in Fallen, die uns leicht erkennbar erscheinen, oder, wenn auch vielleicht nicht leicht erkennbar, so doch völlig harmlos. Aufgabe seiner Verbündeten ist es, den Samen in uns die Nahrung zu geben, die sie zu ihrem Wachstum benötigen. Falls wir das zulassen, und nur dann. Mit Gottes Hilfe werden wir die Kontrolle über uns selbst erlangen, um ihnen zu widerstehen. Ohne diese Hilfe 12
… Nun, meine Freunde, das ist es, worüber ich heute mich euch reden möchte … «
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l DIE ANKUNFT Robby Pritchard onanierte gerade, als er sie zum erstenmal sah. Eigentlich sollte er seine Hausaufgaben machen, und das hatte er auch vorgehabt, als er vorhin in sein Zimmer gekommen war. Aber seine Gedanken hatten nicht lange gezögert, von der Sammlung literarischer Texte zu seiner Englischlehrerin Miss Weiss zu wandern. Miss Weiss war noch jung; es war ihr erstes Jahr als Lehrerin. Sie war die jüngste Lehrerin, die Robby jemals gehabt hatte, und das verwirrte ihn. Nicht nur, weil sie so jung war – sie sah obendrein noch sehr gut aus. Sie war groß, hatte dunkelbraunes Haar, lange Beine und ein paar Titten, die … nun, sie stellte Debbie Petievich weit in den Schatten, und Debbie Petievich – Kapitän der Cheerleader-Truppe, Vorsitzende des Komitees für Unterhaltung und begehrteste Rendezvous-Partnerin an der Enterprise High School – war ganz sicher kein alter Gartenschlauch. Vielleicht war es einfach die Tatsache, daß Miss Weiss älter und eine Autoritätsperson war, die sie eindeutig begehrenswerter machte; oder es lag daran, daß Debbie Petievich, abgesehen von ihrer »Sexbesessenheit und atemberaubenden Erscheinung«, wie Dylan Garry es ausdrückte, eine ziemliche Schlampe war. Was auch immer der Grund sein mochte, Robby wußte, daß er nicht alleine so fühlte. Neben Miss Weiss verblaßte Debbie Petievich in den Gedanken der meisten Jungen an der Enterprise High School. Und am Abend der Ankunft der neuen Nachbarin war neben Miss Weiss auch der Gedanke an die Hausaufgabe in Englischer Literatur verblaßt. Nachdem seine ersten Versuche, sich auf die Hausarbeit zu konzentrieren, fehlgeschlagen waren, gab er auf und klappte das Buch auf seinem 14
Schreibtisch zu. Je intensiver er sie sich vorstellte – sich ausmalte, wie ihr Körper aussah, um genau zu sein, denn er hatte sie ja nicht wirklich nackt gesehen –, desto erregter wurde er, und desto schwerer wurde es, ruhig am Schreibtisch sitzenzubleiben. Ganz unten in seinem Wandschrank, unter einem Stapel Sport Illustrated, hatte Robby ein paar Nummern des Penthouse versteckt, die er sich im Hilltop-Spirituosenladen gekauft hatte, als Gordy Merlette dort an der Kasse saß. Er wußte genau, daß sich in einem der Hefte das Foto einer Frau befand, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Miss Weiss hatte. Nachdem er seine Zimmertür leise verschlossen, Schuhe und Jeans ausgezogen und das Heft unter dem Stapel hervorgezogen hatte, streckte er sich auf seinem Bett aus. Seine Mutter räumte gerade das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine, und sein Vater half Jen bei den Hausaufgaben, also würde sich wenigstens eine Zeitlang niemand um ihn kümmern. Er schlug das Magazin auf und achtete nicht auf das langsam ausrollende Auto unten auf der Straße, als er die richtige Seite gefunden hatte. »Michelle. Süß und aufregend … und ein bißchen lasterhaft.« Ja, da gab es eine entfernte Ähnlichkeit, und sie war nicht einmal so weit hergeholt, daß Robby seine Vorstellungskraft nicht davon hätte überzeugen können, daß es Miss Weiss war und nicht Michelle, die sich da vor seinen Augen nackt auf dem Bärenfell vor einem Kamin räkelte, an sich herumfummelte, ihre weichen Brüsten streichelte und die harten rosa Nippel zwischen den Fingern rieb … Ganz langsam fing er an; es sollte dauern. Draußen schlug eine Autotür, und ein leises Geklapper war zu hören, aber was Robby anging, war das alles so weit weg wie das andere Ende der Stadt. Seine Blicke bewegten sich langsam über die Hochglanzfotos, während er sich streichelte, mit jeder Bewegung der Hand ging sein Atem etwas schneller, die 15
andere Hand blätterte die Seiten um, auf denen das Surrogat von Miss Weiss mit immer mehr Hingabe an sich herumspielte, bis sie schließlich einen naturgetreuen, fleischfarbenen Gummipenis hervorholte, der auf den letzten Fotos von ihrer Feuchtigkeit glänzte. Draußen waren immer noch Geräusche zu hören, und Robbys Neugier begann sich zu regen, während seine Hand sich immer schneller bewegte. Ein paar lange Minuten vergingen wie im Fluge. Es gab nur die Fotos, das Gefühl zwischen seinen Fingern und die Phantasien, die ihm durch den Kopf zuckten … … und die Geräusche vor seinem Fenster. Nach einer Weile ertönte ein lautes Krachen. Robby hörte nicht auf, aber er sah von dem Magazin hoch zum geschlossenen Rouleau vor dem Fenster gleich hinter dem Kopfbrett seines Bettes, und um seine Neugier ohne große Unterbrechung befriedigen zu können, langte er nach oben, zog das Rouleau zur Seite und warf einen Blick hinaus in den Abend. Im Haus gegenüber brannten Lichter. Es hatte beinahe ein halbes Jahr lang leer und zum Verkauf gestanden, nachdem die Huitts an die Ostküste gezogen waren, aber jetzt parkte ein Auto mit einem Anhänger in der Auffahrt, und auf dem Boden standen ein paar Kisten herum. Die Türen des Anhängers waren gerade zugeschlagen worden – das war das Krachen, das er gehört hatte –, und eine Frau stand daneben, klatschte ein paarmal in die Hände und beugte sich dann vor, um sich den Staub von den Hosen zu klopfen. Robbys rechte Hand arbeitete weiter, und er spürte, daß er gleich soweit war. Er wollte das Rouleau schon wieder fallen lassen, wollte sich den Fotos zuwenden, um Michelle/Miss Weiss zu sehen und sich in ihr zu spüren – wenigstens in seinen Augen, in seiner Vorstellung –, wenn der Orgasmus kam, aber … 16
… die Frau auf der anderen Straßenseite blieb stehen, drehte sich um, eine Hand in die Hüfte gestützt, während die andere eine widerspenstige Haarsträhne beiseite schob, und … … sie schaute ihn an. Durch die Dunkelheit der klaren, kalten Nacht, von der anderen Straßenseite aus, schaute sie durch sein Fenster direkt in seine Augen. Es war ihm peinlich, und er schämte sich so sehr, daß er zusammenzuckte, obwohl er bereits keuchte, kurz vor einem heftigen Orgasmus. Mit der freien Hand riß er das Rouleau zurück an seinen Platz, aber die Bewegung war zu abrupt, zu heftig, und das Rouleau glitt ihm aus der Hand und schoß nach oben, wo es sich zusammenrollte, über dem Fenster, das allen Blicken jetzt zugänglich war, und … … sie beobachtete ihn noch immer, starrte ihn an, nicht etwa geistesabwesend, sondern voller Interesse, als gäbe es in diesem Haus auf der anderen Straßenseite etwas Interessantes zu sehen, einen Einbruch oder einen Ehekrach im Vorgarten, und … … Robby wollte schon hinter sein Fenster abtauchen, weil er gegen alle Vernunft zu spüren glaubte, daß sie wußte, was er gerade tat, aber er konnte den Blick nicht von ihr wenden; auch als seine Hand sich immer schneller bewegte, seine Brust sich hob und ihm ein leises Stöhnen in die Kehle stieg, konnte er den Blick nicht von ihrem blassen Gesicht wenden, von ihren Augen, denn es kam ihm seltsam vor, daß er sie auf diese Entfernung so deutlich erkennen konnte, und sie war so bleich, beinahe so weiß wie ein Geist, und … … im Schein der Straßenlaterne erkannte er, wie ihre Augen schmaler wurden und Falten sich in ihren Winkeln bildeten, als ihr Interesse sich in Belustigung verwandelte. Sie verzog den Mund, und dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das nur ihm galt und … … in diesem Moment wurde Robby von einem heftigen 17
Orgasmus geschüttelt. »So ist es richtig«, ermutigte George Pritchard seine sechzehnjährige Tochter nach einem Blick auf das mathematische Problem, das sie auf einem Blatt ihres Ringheftes gelöst hatte. »Ich glaube, jetzt hast du’s kapiert, Jen.« Sie biß sich auf die Unterlippe und blickte finster auf die Zahlen hinunter. »Es ist verdammt schwer«, murmelte sie. »Ich weiß, aber du holst langsam auf. Es wird dir immer leichter fallen, ich versprech’s dir.« »Und dann mache ich meinen Abschluß und werde das ganze Zeug nie wieder brauchen, stimmt’s?« fragte sie mit einem Grinsen. »So ungefähr.« Er lachte, als er sich vom Eßzimmertisch erhob und in die Küche hinüberging, wo die Geschirrspülmaschine rumpelte und seine Frau Karen an dem kleinen Tisch in der Ecke saß und Umschläge zuklebte. »Was tust du da, Liebling?« »Ich will die Rechnungen morgen rausschicken«, antwortete sie. Er holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, riß den Deckel auf und nahm einen Schluck, dann lehnte er sich gegen die Küchentheke und schaute seiner Frau zu. Sie sah müde aus, als sie einen weiteren Umschlag adressierte, zuklebte, auf den Stapel legte und sich den nächsten vornahm. Ihre Schultern fielen herunter, und das blonde Haar war zerwühlt. Sie arbeitete mit mechanischen Bewegungen, während ihre Gedanken ganz woanders zu sein schienen. Karen war seine zweite Frau. Die erste – Robbys Mutter – war vor fünfzehn Jahren von einem betrunkenen Autofahrer getötet worden, als sie die Straße überquerte, und damals hatte er sich geschworen, nie wieder zu heiraten. Es war in jeder 18
Beziehung ein wunderbare Ehe gewesen. Sicher, sie hatte nur vier Jahre gedauert, und vielleicht wäre sie mit der Zeit auch in die Brüche gegangen, aber diese vier Jahre mit Laura waren glückliche Jahre gewesen – übermäßig glückliche –, keine Auseinandersetzungen, keine bösen Worte, eine Offenheit, wie George sie nie zuvor erlebt hatte, und ein Sexualleben, das im Ehealltag kein bißchen an Intensität verlor, sondern im Laufe der Zeit sogar noch aufregender und phantasievoller wurde. Er redete wenig über seine erste Ehe, wenn überhaupt, denn er hatte die Erfahrung machen müssen, daß ihm niemand so recht glauben wollte, daß eine Ehe so vollkommen sein konnte, selbst eine so kurze nicht. Aber nachdem er Robby drei Jahre allein erzogen und keinerlei gesellschaftliche Kontakte außerhalb seiner Tätigkeit als Geschäftsführer einer privaten Rundfunkstation gepflegt hatte, begann George sich einsam zu fühlen. Seit Lauras Tod schlief er nachts schlecht; eine Zeitlang, weil er sie neben sich vermißte, aber im Laufe der Zeit hatte er diese Schlafstörungen einfach deshalb, weil er sich im Bett einsam fühlte. Und dann, als Robby die Mandeln herausgenommen werden mußten, war er Karen begegnet. Sie war Krankenschwester in der pädiatrischen Station des Redding Medical Center, und sie schien zu spüren, daß George sich Sorgen machte, obwohl die Tonsillektomie ein harmloser Routineeingriff war. Und er machte sich tatsächlich Sorgen. Ein Verlust reichte ihm, und er hatte Angst vor möglichen Komplikationen. Karen war freundlich und machte ihm Mut, aber sie sträubte sich, als George versuchte, sie in ein persönlicheres Gespräch zu verwickeln, und eine Einladung zum Abendessen lehnte sie ab. Aber er ließ sich dadurch nicht entmutigen. Nachdem Robby entlassen war, konnte George nicht aufhören, an sie zu denken. Sie war körperlich anziehend, hatte ein weiches Gesicht mit einer leicht nach oben gerichteten Nase und hübsche blaue Augen, die voller Wärme 19
waren und gleichzeitig verletzlich wirkten, vorsichtig, als hätten sie bereits mehr als genug Enttäuschungen erleben müssen. Vor allem aber strahlte sie eine Ruhe aus, ein Selbstbewußtsein und eine Kraft, die den Schatten des Schmerzes in ihren Augen wettmachten, und das zog George noch stärker an als ihre körperlichen Vorzüge. Er schaute während ihrer Mittagspause bei ihr im Krankenhaus vorbei und versuchte, ihre Telefonnummer zu bekommen. Als dieser Versuch fehlschlug, schickte er ihr Blumen mit einer erneuten Einladung zum Abendessen und seiner Telefonnummer. Vier Tage später rief sie ihn an und erklärte sich mit spürbarem Widerstreben bereit, mit ihm auszugehen. Bei ihrem ersten Rendezvous erzählte Karen ihm von Jen, die damals sechs Jahre alt war, und erklärte ihm, daß sie sich so widerwillig verabredet habe, weil sie ihrer Tochter alle Zeit widmen wollte, die ihr blieb; es sei eben schwer, ein Kind alleine aufzuziehen, und Karen wollte sicher sein, daß sie genügend Zeit zur Verfügung hatte, um die Fehler, die ihr vielleicht unterliefen, wiedergutzumachen, bevor es zu spät war. George versicherte ihr, daß er das vollkommen verstehen könne und daß er nicht die Absicht habe, sich zwischen Karen und ihre Tochter zu schieben. Und das tat er auch nicht, wie sich herausstellen sollte. Er schloß sich ihnen einfach an, zusammen mit Robby. Ihre Beziehung entwickelte sich langsam. Es gab kein Feuerwerk der Leidenschaften, aber George war gerne mit ihr zusammen, taute schnell auf in ihrer Gegenwart, und mit der Zeit bedeutete sie ihm immer mehr, lernte er sogar, sie zu lieben. Jen schien ihn zu mögen, und wenn sie und Robby sich begegneten, verstanden sie sich gut. Es dauerte einige Zeit, bis Karen und George miteinander schliefen, aber als sie es taten, geschah es vorsichtig und langsam, nicht besonders leidenschaftlich, aber – nachdem 20
Karen ihre anfängliche Scheu einmal überwunden hatte – voller Wärme und aus tiefstem Herzen. Nachdem sie geheiratet hatten, mußte George sich häufig dazu ermahnen, seine Beziehung zu Karen nicht mit seiner ersten Ehe zu vergleichen. Im Bett hatten er und Laura so ziemlich jede Position ausprobiert, hatten alle ihre Phantasien ausgelebt und sich der verschiedensten sexuellen Hilfsmittel bedient; er konnte sich daran erinnern, daß sie ihn am Ende eines langen Arbeitstages immer wieder mal mit einem neuen Stück Reizwäsche an der Haustür überrascht hatte – Strumpfhaltern oder einer Corsage oder einem winzigen BH und Höschen, die im Schritt offen waren –, und manchmal hatten sie sich dann gleich auf dem Teppich des Wohnzimmers geliebt. Sex war für sie das gewesen, was die Ferien für ein Schulkind sind – sie wollten Spaß daran haben. Karen schien keine Variationen zu brauchen; sie war nicht uninteressiert an Sex, aber er hatte auch keine große Bedeutung für sie. In der Regel blieben sie bei einer Position, und sie schliefen nicht besonders häufig, wenn auch ziemlich regelmäßig miteinander. Bei der Erwähnung von Sexspielzeug pflegte sie die Stirn zu runzeln, und als er ihr einmal Reizwäsche mitbrachte – er war den ganzen Tag von Boutique zu Boutique gerannt, um für sie die aufregendsten Höschen und Negligees herauszusuchen –, weigerte sie sich, die Sachen anzuziehen. »Es ist nicht warm genug für dieses luftige Zeug«, sagte sie, und: »Ich habe nicht die Figur für solche Sachen.« Jedesmal, wenn er wieder von diesem Thema anfing, fand sie einen neuen Grund, die Dessous nicht anzuziehen. Aber sie war eine gute Frau, intelligent und offen, warmherzig und großzügig, und George fand heraus, daß er damit leben konnte. Nach den Wunden, die ihre erste Ehe ihr zugefügt hatte, war es für Karen nicht leicht gewesen, wieder zu heiraten. Neben den üblichen potentiellen Fallstricken hatte es noch etwas 21
anderes gegeben, weshalb sie sich Sorgen machte: Georges verstorbene Frau. Er hatte sehr viel von ihr gesprochen, und Karen hatte Angst, nicht in Lauras Schuhe zu passen, weder als Georges Ehefrau noch als Robbys Mutter. Auf seine ruhige Art hatte ihr George jedoch versichert, daß es keinen Grund für sie gäbe, sich Sorgen zu machen. Sie vermutete, daß sie sich genau deshalb so stark zu ihm hingezogen fühlte: Er besaß die beruhigende Fähigkeit, die Angst von einem zu nehmen. Inzwischen waren sie seit zehn Jahren verheiratet. George war nicht unglücklich, aber er schwebte auch nicht auf Wolken der Glückseligkeit. Er bemühte sich sehr, nicht zu oft an Laura zu denken. Statt dessen beschwichtigte er sich mit dem Gedanken, daß er vier Jahre lang etwas gehabt hatte, das die meisten Menschen in einem ganzen Leben nicht erreichen. Er war zufrieden. Und er liebte Karen. In den zehn Jahren war diese Liebe zwar ein wenig abgenutzt und durchgesessen wie ein alter Ohrensessel, aber sie war immer noch der bequemste Platz im ganzen Haus. George hatte sein Bier auf der Küchentheke abgestellt und war zu Karen hinübergegangen. Er legte ihr eine Hand auf den Nacken und drückte sie sanft, dann beugte er sich herunter, zerzauste ihr Haar und küßte ihren Kopf. Sie schaute mit einem schwachen Lächeln zu ihm hoch. »Du siehst müde aus«, sagte er. »Schlechter Tag. Uns ist heute morgen ein kleines Mädchen gestorben.« Vor ein paar Jahren hätte George sie noch gefragt, warum sie ihm das nicht eher gesagt hatte, warum sie nicht mit ihm darüber geredet hatte, wenn es ihr so auf der Seele lag. Aber inzwischen war er dessen müde geworden; er hatte sich damit abgefunden, daß Karen nicht offen über die Dinge redete, die sie beschäftigten – auch dann nicht, wenn etwas sie glücklich machte –, und daß sie, wenn überhaupt, selbst den Zeitpunkt bestimmte, wann sie ihm davon erzählen wollte. 22
»Aids«, fügte sie hinzu. »Sie hatte vor etwas mehr als zwei Jahren eine Bluttransfusion bekommen … und sie war so ein liebes Mädchen. Es hat uns alle schwer getroffen.« »Das tut mir leid«, sagte er und beugte sich herunter, um sie auf den Mund zu küssen. Sie schenkte ihm noch ein Lächeln, eines, das wärmer war als das erste, und dann gab sie ihm den Stapel mit Umschlägen. »Legst du sie bitte neben die Tür? Sie müssen gleich morgen früh zum Briefkasten.« Als George mit den Umschlägen die Küche verließ, klingelte es an der Tür. Er rechnete mit AI oder Linda Crane, ihren Nachbarn, legte die Umschläge auf den kleinen Tisch neben dem Eingang, öffnete die Tür und … … das halbe Lächeln erstarrte auf seinem Gesicht zu einem seltsamen Ausdruck des Erstaunens. Dann kniff er kurz die Augen zusammen, räusperte sich, vollendete das Lächeln und sagte: »Ja?« Auch sie lächelte, entschuldigend. »Tut mir leid, daß ich Sie störe«, sagte sie, und ihr Atem erschien als kleine Wolke vor ihrem Gesicht. »Ich ziehe gerade in das Haus gegenüber ein, und es ist lausig kalt. Ihr Haus hat einen Kamin, und da wollte ich Sie fragen, ob Sie mir vielleicht mit etwas Feuerholz aushelfen könnten. Nur für heute abend. Ich würde es Ihnen gleich morgen früh zurückbringen.« George kniff noch ein paarmal die Augen zu, es war ein hastiges Blinzeln, denn vor seinen Augen war ganz plötzlich ein unerwartetes – ein ungewolltes – Bild von Laura entstanden… … sie beugt sich über ihn und schiebt ihm sanft die Beine auseinander, während er auf dem Rücken im Bett liegt; sie sind beide nackt, und sie lächelt, hält einen weißen Plastikvibrator mit einem schalenförmigen Saugnapf aus Gummi in die Höhe, sagt zu ihm: »Überraschung! Hab ich heute gekauft«, stellt das Ding an, legt die Saugvorrichtung vorsichtig gegen die 23
Unterseite seines Penis, und sein Kopf rollt hin und her, während er vor Vergnügen zu stöhnen anfängt … … und dann räusperte George sich nochmals und wandte den Blick von der Frau an der Tür ab, weil er die Röte, die ihm in die Wangen gestiegen war, vor ihr verbergen wollte. Er war verlegen, denn es war ein lächerlicher Gedanke gewesen, absolut absurd, und trotzdem fühlte er sich schuldig, als hätte er jemanden betrogen – Karen oder Laura, er war sich nicht sicher –, denn die Stimme der wunderschönen Frau an der Tür hatte ein ähnliches Gefühl in ihm ausgelöst wie damals der Vibrator, den Laura ihm an sein Glied gelegt hatte … »Sicher, wir haben reichlich Feuerholz«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Wieviel brauchen Sie?« »Oh, nur für heute abend, mehr nicht.« Sie trug enge Jeans und ein dickes, schwarz und rot kariertes Hemd. Mit leicht gebeugten Schultern stand sie vor ihm, die Arme unterhalb der Brüste verschränkt, als wollte sie sich gegen die Kälte schützen. »Kommen Sie doch rein«, sagte George und trat einen Schritt zurück, um ihr den Weg freizumachen und dann die Tür hinter ihr zu schließen. »Ich könnte Ihnen auch ein elektrisches Heizgerät leihen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Vielen Dank, aber ich habe noch keinen Strom im Haus. Ich bin früher gekommen als ich gedacht hatte.« »Ich verstehe. Nun … « George steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner dunkelbraunen Hose. Seit der Zeit auf der High School war er nicht mehr so verlegen gewesen. »Äh, mein Name ist George Pritchard.« Sie lächelte und streckte ihre Hand aus. »Lorelle Dupree.« George nahm ihre Hand, und sie drückte fest zu; trotz der Kälte draußen fühlte ihre Hand sich warm an – wahrscheinlich, dachte er, weil sie sie unter den Arm gesteckt hatte. Ihr Haar, das in vollen Locken auf beide Schultern fiel, war vom tiefen Rot der Redwood-Bäume, und sie hatte so 24
dunkelbraune Augen – leicht mandelförmige Augen, auch wenn sie ganz offensichtlich keine Ausländerin war –, daß sie beinahe schwarz wirkten. Trotz der gesunden Fülle ihres Haars sah ihr Gesicht blaß und abgespannt aus, als sei sie nicht ganz gesund. Vielleicht lag es daran, daß sie kein Make-up trug, aber sie hatte auch dunkle, halbmondförmige Ringe unter den Augen, und die Wangen wirkten eingefallen. Trotz dieses Eindrucks von Krankheit war sie wunderschön. Ihre Lippen waren glatt und weich wie Rosenblätter, und der lange Hals verschwand in elegantem Bogen unter dem Kragen ihres Hemdes. George bemerkte, daß er ihre Hand noch immer hielt und ihr bereits ein paar Sekunden zu lange in die Augen geschaut hatte. Etwas abrupt zog er jetzt die Hand zurück. »Gut«, sagte er, »das Feuerholz ist in der Garage. Ich hole Ihnen einen Korb voll.« Zuerst wollte er ihr anbieten, den Korb rüber in ihr Haus zu tragen, aber dann überlegte er es sich anders; auch wenn sie sehr freundlich zu sein schien, er hatte keine Freude an dem Unbehagen, das sie in ihm weckte, an dieser Verlegenheit … … diesem Verlangen, dachte er plötzlich und wunderte sich über sich selbst, ich mag dieses Verlangen nicht … … und deshalb sagte er zu ihr: »Mein Sohn wird Ihnen das Holz rüberbringen.« Hinter sich hörte er Karens Schritte, und als er sich umdrehte, lächelte sie der fremden Frau bereits entgegen. »Hi«, sagte sie und wandte sich mit einer wortlosen Frage im Blick an George. »Das ist unsere neue Nachbarin. Lorelle Dupree. Sie hat keinen Strom im Haus und braucht etwas Feuerholz für die Nacht.« Karen schüttelte Lorelle die Hand und sagte: »Dann haben Sie das Huitt-Haus gegenüber gekauft?« »Nicht ganz. Ich hab’s nur gemietet. Eigentlich wollte ich 25
erst nächste Woche einziehen, aber dann mußte ich meine Pläne ändern, und jetzt sitze ich da drüben im Dunkeln und in der Kälte.« Karen wandte sich an George. »Warum schickst du Robby nicht rüber, damit er unserer Nachbarin etwas Holz bringt?« Zu Lorelle gewandt fuhr sie fort: »Wir haben auch Kerosinlampen. Dann müssen Sie nicht im Dunkeln sitzen.« »Oh, das wäre großartig.« Für einen kurzen Moment – er währte immerhin lang genug, daß George zweimal den Blick zwischen ihnen hin und her wandern lassen konnte – lächelten Lorelle und Karen sich schweigend an, als wären sie sich schon einmal begegnet und versuchten jetzt sich zu erinnern, wo und wann das gewesen sein könnte. George wollte sich auf den Weg zu Robbys Zimmer machen und sagte: »Ich gehe zu Rob … «, blieb aber stehen, als er Robby sah, der hinter der Ecke stand und etwas ängstlich in den Flur spähte. »Oh, da ist er ja«, sagte George. »Robby, das ist Lorelle Dupree. Sie ist in das Haus der Huitts gezogen.« Robby rührte sich nicht; er blieb in seinem Versteck, nur ein Teil seines Gesichts schaute hinter der Ecke hervor. George runzelte die Stirn. Robby sah aus, als erwarte er eine Strafe. »Nett, dich kennenzulernen, Robby«, sagte Lorelle und streckte ihm ihre Hand entgegen. Es dauerte noch einen Moment, aber schließlich erwiderte er den Gruß und nickte schweigend. Die Spannung im Raum war so groß, daß George am liebsten weggelaufen wäre. Er schaute erst Karen an, dann Robby, und dabei fühlte er sich schuldig, weil er sich von dieser Fremden so außerordentlich angezogen fühlte; dabei fragte er sich, ob sie es wohl spürte, ob es auf seinem Gesicht abzulesen war. Schließlich gab er Robby einen Klaps auf den Rücken. »Komm, Rob, wir gehen in die Garage und holen 26
etwas Holz für Miss Dupree. Sie braucht Wärme.« Während er und Robby durch die Küche zum Eingang und von dort zur Garage gingen und Karen zu Lorelle sagte: »Ich werde die Laternen holen«, dachte George über seine Worte nach und meinte bei sich mit einem innerlichen Grinsen: »Was rede ich da. An Wärme mangelt’s ihr bestimmt nicht.« George war froh, mit Robby in die kalte Garage entfliehen zu können und seufzte erleichtert auf, als er die Tür hinter sich schloß. »Gehst du auf die High School, Robby?« »Ja.« »In welchem Jahr?« »Im letzten.« »Ah. Und wie geht’s? Kommst du zurecht?« »Ja.« Robby drückte den Korb mit dem Holz gegen seine Brust, als sie die Straße überquerten. Das Kerosin schwappte in den beiden Lampen, die Miss Dupree vor sich hertrug, eine in jeder Hand. Er fühlte sich wie eine wandelnde Rosine, zusammengeschrumpelt vor Scham; am liebsten hätte er seinen Vater angebrüllt, weil er ihm diesen Botengang angetragen hatte – für eine Frau, die ihn durchs Fenster dabei beobachtet hatte, wie er sich in die Hand hinein onanierte. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als den Auftrag so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und wieder nach Hause gehen zu dürfen. Nein … nein, das war nicht ganz richtig; als sein Arm die Frau neben ihm streifte, stellte er fest, daß es etwas gab, das er sich noch sehnlicher wünschte … aber das war ungefähr so utopisch wie die Vorstellung, zusammen mit Miss Weiss nackt vor einem Kaminfeuer zu liegen. Außerdem sah Miss Dupree nicht ganz gesund aus, und selbst wenn sie – durch eine verrückte Gottesfügung – etwas von ihm gewollt hätte; jetzt 27
wäre ihr bestimmt nicht danach zumute gewesen. Seine Unterhose war feucht, und sein Glied fühlte sich schlaff, aber nicht erschöpft an; noch vibrierte in ihm die Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet worden war, und es drohte bereits wieder hart zu werden, nach mehr zu verlangen. Obwohl zwischen ihnen mindestens ein halber Meter Abstand war, konnte Robby Miss Duprees Nähe spüren, als stünde er mitten in der Hitze eines lodernden Kaminfeuers; je näher sie dem Haus gegenüber kamen, umso unbehaglicher wurde ihm. Als sie das Haus erreicht hatten, ging sie voran und schloß die Tür hinter ihm, dann führte sie ihn in die Finsternis, auf einen schwachen Lichtschein zu, der aus dem Wohnzimmer kam. Obwohl Robby schon in dem Haus gewesen war und sich dort auskannte, hatte er das Gefühl, in eine fremde Umgebung eingedrungen zu sein. »Kanntest du die Leute, die hier gewohnt haben?« wollte sie von ihm wissen. »Hmm-hmm.« »Dann bist du wohl schon mal hier gewesen?« »Hmm-hmm.« »Setz das einfach da ab«, sagte sie und deutete auf den Kamin, nachdem sie die beiden Laternen abgestellt hatte. »Mein Gott, ist das kalt hier drin.« Er stellte den Korb auf den Kaminsims, gleich neben die Taschenlampe, die dort eingeschaltet lag, und trat einen Schritt zurück, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Sein Bein stieß gegen etwas Warmes, weiches, und als er sich umdrehte, starrten zwei goldene Augen zu ihm hoch. Dünne, schwarze Lippen zitterten einen Moment über langen Fangzähnen. Robby stolperte rückwärts und stieß hervor: »Mein Gott!« Miss Dupree bückte sich gerade, um ein paar Holzscheite auf die zerknüllten Zeitungsblätter zu stapeln, die sie bereits in den Kamin gelegt hatte. »Oh, das ist Gomorrha. Sag schön guten 28
Tag, Gomorrha.« Der Hund kam heran und stupste Robby seine kalte Nase gegen die Hand. »Wo ist Sodom?« fragte sie ihr Haustier. »Lauf und such Sodom.« Gomorrha bellte einmal kurz und heiser auf, und ein anderer Hund tauchte aus der Dunkelheit auf, ganz langsam trottete er näher, die schmalen Raubtieraugen schauten Robby direkt an. Die Hunde waren riesengroß und glichen sich beinahe aufs Haar, sie unterschieden sich nur in der schwarzgrauen Zeichnung ihres dichten Fells. »Wölfe?« fragte Robby mit nervöser Stimme. »Eskimohunde. Phantastisch, findest du nicht?« »Haben sie genug zu fressen gekriegt?« »Oh, sie sehen ziemlich böse aus, aber es sind die reinsten Schoßhündchen.« Sie richtete sich auf, rieb die Handflächen gegeneinander und fügte hinzu: »Es sei denn, ich gebe ihnen andere Befehle.« Das Licht der Taschenlampe ließ ihre ohnehin schon bleiche Haut so weiß wie Elfenbein schimmern. Sie nahm die Lampe und verschwand für einen Augenblick im Dunkeln. Der Lichtstrahl tanzte über Wände und Decken, bevor sie mit einem Feuerzeug zurückkam, die Zeitungen im Kamin entzündete und die Flamme des Feuerzeugs an die Dochte der beiden Laternen hielt. Sie hockte sich Robby gegenüber auf den Kaminsims und lächelte. Die obersten drei Knöpfe ihres Hemds waren offen, und der heller werdende Schein des Feuers kroch herunter auf ihren Oberkörper, warf einen Vförmigen Schatten zwischen ihre Brüste, die bei jeder ihrer Armbewegungen sanft zitterten und den Schatten wie eine Flüssigkeit hin und her schoben. »Also, in was für eine Stadt bin ich hier gekommen?« wollte sie von Robby wissen. »Nun, woher kommen Sie, Miss Dupree?« 29
»Aus der Gegend der Bay. Und nenn mich doch bitte Lorelle.« »Ja, das ist hier so ‘ne Art … ein Provinznest würden Sie es wohl nennen.« »Ist Redding so?« »Ja. Kann man sagen. Jede Menge Country-MusikStationen. Kaum Nachtleben, es sei denn, es gefällt Ihnen, nach Mitternacht oder an den Wochenenden auf dem Parkplatz des Taco Bell herumzulungern. Ja, und die Büchereien sind geschlossen. Sie haben vielleicht davon gehört.« Robby stand neben dem Kamin und trat nervös von einem Bein aufs andere, während er sprach. Sie klopfte auf den Kamin und sagte: »Setz dich doch. Du bist mein erster Gast in diesem Haus, da will ich dir wenigstens ein bißchen Gemütlichkeit bieten.« Robby ließ sich auf den Kaminsockel nieder. Sodom und Gomorrha rollten sich vor ihren Füßen zusammen. »Möchtest du was zu trinken? Ich hab ein paar Pepsis in einer Kühltasche. Nicht gerade das Getränk für einen kalten Abend, aber … « »Nein, danke.« »Was tust du, wenn du dich vergnügen willst, Robby?« Er zuckte mit den Schultern und schaute ins Feuer. Robby hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, daß er nicht in der Lage war, sich in ihrer Gegenwart etwas lockerer zu geben, aber … er schaffte es einfach nicht. »Hast du ‘ne Freundin?« Sein Gesicht wurde so heiß, daß er schon befürchtete, es könnte in Flammen stehn. »N-nein.« »Ehrlich nicht? Das erstaunt mich aber. Hast du denn keine… « »Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt, Miss Dupree?« wechselte er plötzlich das Thema, und endlich schaffte er es, ihr in die Augen zu schauen. 30
»Lorelle.« »Okay. Lorelle. Was arbeiten Sie?« »Ich bin Künstlerin. Hauptsächlich mache ich Schmuck, aber dieses Jahr hab ich noch nicht viel produziert. Letztes Jahr hab ich ein paar größere Sachen verkauft, und davon zehre ich jetzt noch.« Sie stand auf und trug eine Laterne in die Ecke des Zimmers, brachte von dort ein dunkles Bündel mit und warf es direkt vor den Kamin. Nachdem sie ein paar Klammern geöffnet hatte, entrollte sich das Bündel mit einem leisen Rascheln auf dem Boden. Ein Schlafsack. »Siehst du?« Sie beugte sich herunter zu Robby, nahm seine linke Hand, drehte die Handfläche nach oben und legte ihre freie Hand darüber. An jedem Finger trug sie einen Ring, und als ihre Hände sich berührten, krümmte sie die Finger und streichelte mit den Spitzen ihrer Fingernägel ganz sanft über Robbys Handfläche. Sein Rücken wurde steif. Ganz fest preßte er die Lippen aufeinander und versuchte, sich gegen den kribbelnden Schauer der Lust zu wehren, der durch seinen Körper lief als wäre ein ganzer Schwarm von Motten auf seiner nackten Haut gelandet. Obwohl er die Details der Ringe nicht erkennen konnte, schimmerten ihre Steine im Feuerschein, während sie ihre Finger in seiner Handfläche bewegte, sie wieder öffnete und ihm dabei mit den Nägeln ganz sanft über das Handgelenk strich. »Sie sind sehr schön«, sagte er, aber es war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Er hob die Augenlider, um sie anzuschauen, aber auf halbem Weg hielt er inne. Das aufgeknöpfte V ihres Hemds klaffte jetzt offen im Schein des Feuers, der ihrer Brust einen tiefen Bronzeton verlieh; winzige Lichtflecken, Reflexionen der Ringe, tanzten über die glatte Haut ihres Halses. Und ihrer Brüste … Robbys Zunge verwandelte sich in Schmirgelpapier. Er 31
glaubte, ein kratzendes Geräusch zu hören, als er sie über die Unterlippe gleiten ließ. »Warst du das vorhin hinter dem Fenster, Robby?« flüsterte Lorelle. Er schluckte Baumwolle, als er zu ihr hochblickte. »Das warst du, stimmt’s?« sie legte den Kopf auf die Seite und hob eine Augenbraue. »Was hast du da gemacht?« »Ich … ich … «, er ließ ihre Hand fallen, wandte den Blick zur Seite und erhob sich ungeschickt, » … sollte jetzt besser gehen.« Die Hunde erhoben sich ebenfalls, und zwar so plötzlich, daß Robby eine verrückte Sekunde lang glaubte, sie würden ihn anfallen. Lorelle stieß ein leises Geräusch aus, als er sich an ihr vorbeizwängte. Ein Lachen? Oder was war es?« »Morgen nachmittag kommen meine Möbel«, sagte sie, als sie ihm mit einer Laterne durch die Dunkelheit folgte. »Ich könnte ein Paar kräftige Arme gebrauchen. Um die Sachen aufzustellen, sie an den richtigen Platz zu schieben, verstehst du? Würde es dir was ausmachen?« »I-ich weiß nicht. Ich muß Hausaufgaben machen.« »Ich würde dich natürlich bezahlen. Mit einem Abendessen. Wie hört sich das an? Ich würde etwas ganz Besonderes kochen. Was ißt du gerne?« An der Tür verstellte sie ihm den Weg. »Oder noch besser«, sagte sie leise, »ich mache etwas für dich, ein Schmuckstück. Du kannst dir auch etwas aus den Sachen aussuchen, die schon fertig sind. Vielleicht einen Anhänger für den Hals?« Sie strich ihm mit dem Finger über den Kehlkopf bis hinunter zum Hemdkragen und … … Robby hätte beinahe geseufzt, beinahe gewinselt, aber ihm steckte ein Kloß im Hals, als … … sie ihm für einen Augenblick, einen langen, stillen Augenblick die warme Hand auf die Brust legte, und … … Robby preßte den Rücken gegen den Türstock, als die 32
Hose sich im Schritt um sein anschwellendes Glied spannte, und … … ihre Hand fiel vom ihm ab, und sie lächelte freundlich und unbefangen, als sie zu ihm sagte: »Jeder Mensch sollte wenigstens ein kostbares Schmuckstück besitzen, findest du nicht auch?« Robby räusperte sich, nickte und langte nach dem Türknopf. »Kommst du? Gleich nach der Schule?« »Möglich«, sagte er und trat ins Freie. Die beißende Kälte war eine Wohltat. »Sag deinen Eltern nochmal, daß ich ihnen für alles danke.« »Ja, sicher.« Er war schon am Ende der Zufahrt angekommen und vergrub die Hände in den Hosentaschen, als er die Straße überquerte. An seiner Eingangstür drehte er sich um. Sie stand noch in ihrer Tür, die leuchtende Laterne in der Hand, und lächelte. Die von der flackernden Flamme verursachten Schatten schnitten sich tief in ihr bleiches Gesicht, rissen schwarze, unblutige Wunden auf, um sie gleich wieder zu schließen und an anderen Stellen neue aufklaffen zu lassen. Aus der Dunkelheit hinter ihr schimmerten dunkelgelb zwei schmale Augenpaare. Lorelle winkte ihm noch einmal zu, und Robby verschwand im Haus. Er hastete eilig durch den Flur zu seinem Zimmer, bevor jemand ihn sah, bevor jemand den feuchten Heck auf der Auswölbung in seiner Hose erkennen konnte.
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2 DUNKLE GEDANKEN Karen Pritchard lag auf der Seite. Sie drehte George den Rücken zu, schlief aber nicht; sie konnte nicht schlafen. Unruhig schaute sie auf die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch, beobachtete, wie die Zeit in eckigen roten Zahlen dahintickte und fragte sich, was es gewesen sein mochte, das sie an Lorelle Dupree so beunruhigt hatte. Nein, beunruhigt war das falsche Wort – verwirrt traf es genauer. Nachdem die Frau wieder gegangen war, hatte Karen in der Küche die Geschirrspülmaschine ausgeräumt und dabei drei Gläser und eine Untertasse fallen lassen, anschließend hatte sie versucht, eine Bratpfanne im Schrank für die Teller und Schüsseln unterzubringen. Gerade als sie sich bei dieser dummen Fehlleistung ertappte, war George in die Küche gekommen, um sich noch ein Bier zu holen, und sie fürchtete schon, er würde sie fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei, aber er nahm keinerlei Notiz von ihr, holte sich das Bier aus dem Kühlschrank und ging wieder hinaus. War die Frau ihr bekannt vorgekommen? War es das? Oder lag es daran, daß sie George dabei erwischt hatte, wie er sie anstarrte? Das bezweifelte sie. Wegen Untreue hatte sie sich noch nie Sorgen gemacht, nicht bei George. Er war so … anhänglich. Manchmal kam es ihr geradezu unglaublich vor. Sie hatten ein schönes Heim und waren eine einigermaßen glückliche – oder zumindest zufriedene – Familie, aber was den Sex betraf, wußte sie, daß George eigentlich mehr erwartete. Er hätte allen Grund gehabt, sich außerhalb ihrer Ehe nach einer Geliebten umzuschauen, und manchmal – wenn auch nicht oft – kam es Karen zum Bewußtsein, daß sie ihm deshalb nicht einmal einen Vorwurf machen würde; manchmal – wenn auch noch seltener 34
– wünschte sie sich sogar, er würde es tun, denn es hätte vielleicht etwas von dem Druck von ihr genommen, solange es ihm dabei nur um Sex und nicht um etwas anderes gegangen wäre. Zu Anfang ihrer Ehe hatte sie es sogar von ihm erwartet, aber soviel sie wußte, hatte er es niemals getan, und deshalb nahm sie an, daß er es auch jetzt nicht tun würde. »Sex ist etwas«, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, als sie noch auf der High School war, »das man macht, um Kinder zu kriegen und den eigenen Mann festzuhalten. Wenn’s dir auch noch selber Spaß macht, umso besser. Und wenn nicht, dann mußt du lernen, damit zu leben. Das ist der einzige Aufklärungsunterricht, den eine Frau für ihr Leben braucht.« Sie hatte das gesagt, während sie sich eines abends die Nachrichten im Fernsehen anschauten. Es kam gerade ein Bericht über eine Kontroverse, bei der es um die Bedeutung – oder die Gefahr, je nach Standpunkt – des SexualkundeUnterrichts in den Schulen ging. Als sie Denise Hubert, ihrer Zimmergenossin auf dem College, ein paar Jahre später von diesem mütterlichen Rat erzählte, hielt Denise das zuerst für einen Scherz, und erst als sie merkte, daß Karen es ganz ernst gemeint hatte, war sie entsetzt. »Aber du hast es ihr doch wohl nicht geglaubt?« fragte Denise. »Warum nicht? Ist es denn nicht wahr?« »Natürlich nicht! Jeder hat seinen Spaß daran?« Auch wenn sie es damals nicht laut sagte, so hatte Karen doch bei sich gedacht: Nicht jeder. Gegen den Rat ihrer Mutter hatte Karen auf der High School immerhin einen einzigen Freund. (Wäre sie dem Rat ihrer Mutter gefolgt, hätte sie gar keinen gehabt.) Karen war nicht unattraktiv, und sie war auch nicht unbeliebt; sie war fleißig, hatte annehmbare Noten und engagierte sich für die Schulpolitik. Aber sie war keine gute Tänzerin, ging nur selten 35
auf Partys – und wenn, dann nur in der Gruppe – und verabredete sich niemals mit Jungen. Jedenfalls nicht, bis Michael ihr über den Weg lief. Karen mochte Michael nicht besonders, aber er mochte sie; er lud sie oft ein mit ihm auszugehen und setzte sich in der Klasse bei jeder sich bietenden Gelegenheit neben sie. Er war ein beliebter Junge, eine Sportkanone, der Typ, bei dessen Anblick die Mädchen seufzten und schwärmerisch die Augen verdrehten. Alle Mädchen, die Karen kannte, waren entsetzt über ihre Gleichgültigkeit, und nachdem man ihr oft genug zugeredet hatte, die Chance ›beim Schopf zu packen‹, entschloß sie sich, es zu tun, und auf den Rat ihrer Mutter zu pfeifen. Nach dem Kinobesuch und Hamburgern mit Pommes im Pac-Out – beides hatte Karen so gut gefallen, daß sie sich wünschte, sie hätte sich früher darauf eingelassen –, fuhr er sie hinauf auf den Hügel zum Wasserturm – einem bevorzugten ›Parkplatz‹ der örtlichen Jugend – und hielt am Rand der Steilfelsen, von denen man einen wunderschönen Blick über Redding hatte. Karen war noch nie auf dem Felsen gewesen, obwohl man sie schon ein paarmal eingeladen hatte. Sie wußte, daß es nur einen Grund gab, hierher zu kommen, aber sie war noch nie von jemandem eingeladen worden, mit dem sie gerne geschmust hätte; eigentlich war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt schmusen wollte. Sie war auch nicht besonders begeistert, mit Michael auf den Felsen zu fahren, aber sie wußte, daß er es von ihr erwartete, also protestierte sie nicht. Er hatte einen Joint dabei und eine Flasche Jack Daniels. Zuerst lehnte sie beides ab, aber schließlich, als er wütend zu werden drohte, gab sie nach. Andere Autos kamen herauf und parkten neben ihnen, und unter ihnen flimmerten die Lichter von Redding. Michael brauchte nicht lange, um zur Sache zu kommen, und sie machte mit; zuerst hatte sie sogar Spaß an 36
seinen Küssen und an der Art, wie seine Hände sie abtasteten. Aber das dauerte nur ein paar Minuten. Danach faßte er gröber zu, betatschte sie überall an ihrem Körper und fing an zu stöhnen, während er sich heftig gegen sie preßte und versuchte, ihr den Mund mit seiner Zunge zu öffnen. Zuerst stieß sie ihn zurück, aber dann dachte sie daran, wie schnell er böse geworden war, als sie sich geweigert hatte, den Joint zu rauchen und seinen Whisky zu trinken, und wollte nicht das Risiko eingehen, ihn schon wieder zu verärgern. Nach einer Weile ließ er sie los und schien einen Moment lang heftig etwas zu überlegen, bevor er ihre Hand packte und sie … … in seinen Schoß drückte, nachdem er sich vorher die Hose geöffnet hatte. Er legte ihre Finger um etwas, das sich dick, hart und klebrig anfühlte, und Karen hielt den Atem an und riß ihre Hand zurück. »Streichel ihn«, sagte er, legte wieder seinen Arm um sie und zog sie fest an sich heran. Sie entzog sich ihm ein zweites Mal und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf sein steifes Glied. »Komm«, stöhnte er. »Streichel ihn.« »N-n-nein.« »Was?« Sie schüttelte nur noch den Kopf, den Blick immer noch auf seinen Penis gerichtet, der hin und wieder zuckte, beinahe so, als wolle er sich vom Körper des Jungen befreien und sich auf eigene Faust bewegen. »Okay« – Michael legte ihre Hand hinter ihren Kopf und zog ihr Gesicht herunter zu seinem Schoß –, »dann lutsch ihn.« Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem Penis entfernt. Karen keuchte und mußte diesen feuchten, muffigen Geruch in sich aufnehmen, bevor sie ihre Lippen aufeinander preßte, die Augen öffnete, und ihn eine Weile lang nur anstarrte. Noch niemals zuvor hatte sie so ein Ding gesehen, einmal 37
abgesehen von den gezeichneten Illustrationen im medizinischen Ratgeber auf dem Bücherregal ihrer Mutter. Sie hatte während ihrer Kindheit überhaupt wenig mit Männern zu tun gehabt. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch sehr klein war – später erfuhr sie, daß er mit der Frau von der Getränkebar im Woolworth’s durchgebrannt war und daß ihre Mutter in all den Jahren bis zu ihrem Tod deshalb mit so viel Verbitterung von ihm sprach. Brüder hatte sie keine. Auf der Grundschule schien sich keine einzige ihrer Kameradinnen für Männer zu interessieren, und erst auf der High School wurde das anders. Aber für Karen hatte es sich eigentlich nie geändert. Jedenfalls nicht sehr. Sie fühlte sich nicht unwohl in männlicher Gesellschaft; ein paar von den besonders intelligenten und interessanten Jungen auf dem Campus mochte sie sogar ganz gern. Aber das hier … … das war häßlich. Dick und stummelig und knollig, mit Adern und einer Pilzkappe oben drauf, die in der Mitte einen glitzernden Schlitz hatte, eine Öffnung, die von einem kurzen Schnitt mit einer Rasierklinge zu stammen schien und aus der ein heller Saft quoll. Und immer weiter zappelte das Ding, ruhelos und ungeduldig. »Komm endlich!« zischelte Michael. »Streichel ihn! Oder lutsch ihn! Tu endlich was!« Aber sie starrte ihn nur an. Nicht einmal berühren mochte sie das Ding. Sein Atem war ganz heiß, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Wir gehen fest miteinander. Würde dir das nicht gefallen? Einen festen Freund zu haben? Na?« Während er mit einer Hand nach ihrer Brust langte und anfing, sie zu kneten, wiederholte er: »Ich geh fest mit dir … wenn du mir den Schwanz lutschst.« Ich geh fest mit dir. Karen dachte darüber nach, während sie auf Michaels Penis starrte. Sie war ihm so nahe, daß ihre Nasenspitze die feuchte Eichel beinahe berührte, die auf obszöne Weise riesig wirkte, 38
wie ein Türknauf aus Fleisch und Blut. Es würde zweifellos gewisse Vorteile haben, fest mit Michael zu gehen, und nicht der unwesentlichste von ihnen wäre der Neid aller anderen Mädchen auf dem Campus. Aber war es das hier tatsächlich wert? Sie berührte ihn, ganz vorsichtig zuerst, dann legte sie ihre Finger um den harten Schaft. Michael wand sich unter ihrer Berührung; sein Atem ging schneller, als sie anfing, ihre Hand auf und ab zu bewegen. Behutsam, nur um zu sehen, was das für ein Gefühl wäre, öffnete sie den Mund, streckte die Zunge heraus und berührte die Spitze seines Penis, und … … Michael preßte ihr die Hand in den Nacken und stieß ihren Kopf nach unten. Nach ein paar Minuten gab sie die Gegenwehr auf und erlaubte Michael, ihren Kopf auf und ab zu bewegen, auf und ab, als wäre sie eine Puppe, solange, bis sein Glied in ihrem Mund zu explodieren schien. Sie wirbelte herum, riß die Wagentür auf und erbrach den halb verdauten Hamburger und die Pommes frites nach draußen auf den Boden. »Mein Gott«, murmelte er, nachdem er sich die Hose zugeknöpft und den Wagen angelassen hatte. »Mußtest du unbedingt kotzen?« Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich den Mund ab. Ihr Magen revoltierte noch immer, als sie flüsterte: »Tut nur leid. Ich … werd’s … nicht … wieder tun.« Michael und Karen gingen beinahe vier Monate miteinander, und während dieser Zeit wurde Karen tatsächlich von jedem Mädchen auf dem Campus beneidet. Und sie übergab sich auch nie wieder, obwohl sie noch viele Ausflüge auf den Felsen machten. Manchmal war sie nahe dran, aber sie konnte sich jedesmal beherrschen. Natürlich machten die Dinge, die da oben passierten, ihr keinen sonderlichen Spaß – auch wenn es ein paar Augenblicke der Lust gab, wenn Michael sie auf die 39
richtige Weise an der richtigen Stelle berührte; aber diese Momente waren viel zu kurz und flüchtig. Sie tat es bloß, weil sie das Gefühl genoß, mit Michael zu gehen. Und zu dieser Zeit begann sie zu glauben, daß ihre Mutter recht gehabt hatte. Es hatte seit Michael andere Männer in ihrem Leben gegeben, aber nicht viele, und keiner von ihnen war lange geblieben. Sie wurden ihrer Gleichgültigkeit im Bett bald überdrüssig, ihrer Weigerung, bei jedem außergewöhnlichen sexuellen Spielchen mitzumachen. George war anders. Er war viel freundlicher als die anderen, großzügiger, und genauso um ihr Vergnügen bemüht wie um sein eigenes. Nach ihrem dritten Geschlechtsverkehr war er ernst geworden und hatte gesagt: »Sag mir ehrlich, Karen – mache ich etwas falsch? Bist du … hast du Spaß daran, mit mir zusammenzusein?« »Ja«, flüsterte sie und kuschelte sich eng an ihr. »Warum?« »Weil, nun, weil es manchmal … nicht den Eindruck macht.« »Tut mir leid. Es ist nicht so, daß es mir keinen Spaß macht. Ich … kann’s nur nicht so gut zeigen, glaub ich.« Er schien nicht ganz überzeugt zu sein. Karen fügte hinzu: »Ich hab noch nie so viel Spaß an der Liebe gehabt. Noch nie.« Das war keine Lüge. Die Liebe war mit George schöner als sie mit irgendeinem Mann zuvor gewesen war. Aber das hieß andererseits auch nicht viel. Sie hatte kein großes Bedürfnis, mit einem Mann zu schlafen, und wenn sie es tat, dann hatte sie nicht die Ausbrüche der Ekstase, von denen sie immer gelesen hatte und von denen es hieß, daß man sie haben müsse. Es gab keine Explosionen des Lichts in ihrem Kopf, und auch keine Schreie der Lust. Das hatte natürlich nichts mit George zu tun. Sie wußte nicht genau, was ihr Problem war. Aber das männliche Glied war ein 40
Teil davon. Geädert und klobig, und mit diesem Geruch – einem Geruch nach einem alten Kartoffelkeller, der lange nicht mehr gelüftet worden war. Und alle hatte sie diesen seltsamen sabbernden Schlitz in der Spitze – und alle zitterten sie vor Ungeduld, selbstsüchtig, steif vor Zorn, viel eher in der Lage, sich selbst Vergnügen zu verschaffen als anderen welches zu bereiten. Am Ende der ganzen Zeremonie, bei der Vollendung ihres unwiderstehlicher Drangs nach Erleichterung, taten sie dann das, was Karen bei ihrem ersten Mal mit Michael getan hatte: Sie erbrachen sich. Fünfundvierzig Minuten waren auf der Digitaluhr vorübergetickt, als Karen bemerkte, daß ihre Gedanken sich selbständig gemacht hatten und daß sie jetzt endlich einschlafen sollte. Sie rollte sich auf die Seite, um sich an George kuscheln zu können, aber etwas hielt sie davon ab, etwas, das sich nicht vertreiben ließ. Etwas, das sie nachdenklich machte: Was war nur dran an dieser … … Lorelle Dupree, dachte George, der wach neben Karen lag. Immer wieder war ihm diese Begegnung an der Haustür durch den Kopf gegangen, hatte er sie noch einmal durchlebt, ihrer Stimme zugehört. Es gespürt. Er dachte über die Erinnerung nach, die sie wiederbelebt hatte, diese geheime, samtweiche Erinnerung, die er so sicher verwahrt hatte wie das Geschenk eines lange verlorenen Freundes. Er überprüfte diese Erinnerung noch einmal, schaute sie sich von allen Seiten an und mußte feststellen, daß sie sich verändert hatte. Etwas war anders geworden, etwas, das sich ganz offensichtlich nicht mehr zurückverwandeln lassen wollte. Jetzt, während er im Bett lag und sich erinnerte, überwältigt von den Gefühlen, die durch seinen Körper zuckten, war es nicht seine verstorbene Frau, die den Vibrator an sein Glied 41
drückte, sondern es war … … »Lorelle Dupree«, stöhnte Robby in der Finsternis seines Zimmers. Seine Erektion wollte nicht wieder weichen, so sehr er auch versuchte sich abzulenken oder sich zu erleichtern. Und auch der körperliche Nachhall von Lorelle Duprees Fingern auf seiner Kehle, von ihrer Hand auf seiner Brust, gleich über dem hämmernden Herzen, wollte sich nicht vertreiben lassen. Er lag fast die ganze Nacht da, starrte an die Decke und murmelte von Zeit zu Zeit ihren Namen vor sich hin, bevor er endlich einschlief.
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3 ANGST Am nächsten Tag ging Robby zu Fuß von der Schule nach Hause; er war noch müde, weil er zu wenig geschlafen hatte, und hoffte, die Bewegung und die kühle Luft der späten Oktobertage würden ihn etwas beleben. Als er von der Mistletoe Lane in seine eigene Straße einbog, sah er Jessie – den riesigen Golden Retriever der Garrys – auf sich zustürzen, die rosarote Zunge baumelte aus dem entblößten gelben Gebiß. Sebastian, der gescheckte Kater der Weylands, der sich am Straßenrand gerade zufrieden die Pfoten leckte, rettete sich mit einem Satz aus der Bahn des Hundes, bevor er von dessen breiten Pfoten zertrampelt wurde. »Hey, Jess!« rief Robby halbherzig aus, als Jessie um ihn herumtanzte. Er hörte, wie eine Tür zuschlug, und als er zur anderen Straßenseite schaute, sah er, wie Mrs. LaBianco die Eingangsstufen ihres Hauses herunter zu ihrem Wagen watschelte; ein Schlüsselbund klingelte in ihrer Hand, als sie ihm zuwinkte. Lächelnd erwiderte er ihren Gruß; er fühlte ein wenig Mitleid mit ihr. Noch vor ein paar Jahren war sie eine freundliche, attraktive Frau in mittleren Jahren gewesen, schlank und wohlgeformt, und nur ein paar graue Strähnen in ihrem Haar hatten auf ihr Alter hingewiesen. Aber dann war sie plötzlich aus der Form gegangen, hatte in kürzester Zeit unglaublich zugenommen, und war zu einer beleibten Frau geworden, die jetzt nur noch bunte Hawaii-Gewänder trug und ihr dünner werdendes Haar zu einem unordentlichen Knoten gebunden hatte. Zwei kleine Kinder – ein Junge und ein Mädchen – kamen auf ihren Dreirädern aus Sheri MacNeils Zufahrt geschossen, kichernd und mit ihren hohen Stimmchen das Kreischen von Autoreifen imitierend. Der Junge, Sheri MacNeils Sohn 43
Christopher, grinste Robby an und rief: »Wir machen ein Rennen!« Vor anderthalb Jahren war Sheri von ihrem Mann verlassen worden und mußte den vier Jahre alten Christopher ganz alleine aufziehen; ein wenig hatten die Nachbarn sie unter ihre Fittiche genommen. Die Kinder aus der Nachbarschaft verbrachten einen Großteil ihrer Zeit in Sheris Haus und spielten mit Christopher; es schien Sheri Spaß zu machen, auf sie aufzupassen. Als er an ihrem Haus vorbeikam, sah er sie durch das Küchenfenster und winkte ihr zu, während er seinen Weg nach Hause fortsetzte. Ein Stückchen weiter, auf der anderen Straßenseite, erblickte er Paul Weyland, einen untersetzten, kugelrunden Mann mit kurzgeschnittenem, rostrotem Haar. Er öffnete gerade die Tür seiner Garage, als er Robby bemerkte; mit seiner fleischigen Hand winkte er dem Jungen zu, aber dabei lockerte kein Lächeln seine strengen, seine harten Gesichtszüge auf. Robby hatte bisher nur wenige Worte mit Weylands Töchtern Carly und Stephanie gewechselt. Es waren hübsche Mädchen, aber wie ihre Mutter – die Robby fast nie ohne Mr. Weyland gesehen hatte – waren sie schüchtern und ängstlich, als lebten sie in der ständigen Furcht, jeden Moment könnte ihr Vater auftauchen, und sie anbrüllen. Paul Weyland ließ keinerlei Zweifel daran aufkommen, daß er in seinem Haus der Boß war. Die Pritchards wohnten am nördlichen Ende der Deerfield Avenue, die hier in ein kleines Stückchen Wald mündete, hinter dem der Highway 44 verlief. Es war eine kleine, freundliche Straße, aber sie war nicht mehr ganz so freundlich wie früher einmal. Als Robby ein kleiner Junge war, hatte es hier noch keine Fremden gegeben. Jeder kannte jeden in dieser Straße, man kümmerte sich um die Kinder und die Haustiere der Nachbarn, und wenn eine Familie mal in die Ferien verreiste, dann wußte sie, daß ihr Hab und Gut in guten Händen war. Jeden Frühling einmal wurden alle Garagen und Wandschränke ausgemistet, und es fand ein kleiner Flohmarkt 44
statt. Aber im Lauf der Jahre zogen Leute aus, und neue Leute kamen, die lieber für sich blieben; der Gemeinsinn blieb auf der Strecke. Jetzt lebten Menschen in seiner Straße, mit denen Robby kaum mehr als ein paar Worte gewechselt hatte und die ihm einfach nicht mehr so freundlich erschienen. Mit Ausnahme von Lorelle Dupree. Die wohl sehr freundlich war. Dylan hatte am Morgen im Schulbus von nichts anderem geredet. Auf seinem Weg zur Haltestelle hatte er sie durch das Wohnzimmerfenster gesehen, vor dem noch keine Gardinen hingen. Sie hatte einen kurzen Kimono getragen, und Dylan schwor Stein und Bein, daß er vorne offen gewesen sei. »Ich hab ihre Titten gesehen!« flüsterte er. »Ich hab sie gesehen Sie waren … sie waren … Weißt du, ich glaube, der liebe Gott hat sie höchstpersönlich geformt. Ehrlich, mit seinen eigenen Händen. Die ist nicht vom Fließband gelaufen, sag ich dir. Meinst du, daß sie auf jüngere Männer steht?« Normalerweise hätte Robby seinem Freund Dylan von der Begegnung mit Lorelle am Abend zuvor erzählt – Gespräche über Mädchen gehörten zu ihren liebsten Zeitvertreiben, obwohl Robby sehr zu seinem Leidwesen nur wenig Erfahrung auf diesem Gebiet hatte sammeln können, und Dylan (ein Junge mit schiefen Zähnen, einer Brille, die ihm ständig von der Nase rutschte und einem weichen, rundlichen Gesicht, das bereits auf Gewichtsprobleme im späteren Leben hinwies) noch viel weniger –, aber irgendwie war er nicht in der Laune dazu. Jetzt, wenn er alles bei Tageslicht betrachtete, wußte er, daß in Lorelles Haus, abgesehen von seiner Phantasie nichts Weltbewegendes passiert war. Gut, er hatte einen Blick in ihre Bluse werfen dürfen, und sie hatte ihn ein paarmal berührt, aber das waren harmlose Gesten der Freundlichkeit gewesen und keine große Sache. Und trotzdem hatte sein Besuch bei Lorelle etwas Privates, Geheimes an sich, und das wurde noch verstärkt durch das, was er gefühlt und getan hatte, als er 45
wieder zu Hause war. Also sagte er nichts auf der Busfahrt. Aber für den Rest des Tages ließ ihn der Gedanke an das nicht mehr los, was Dylan erzählt, was er gesehen hatte. Und Robby mußte feststellen, daß er Dylan beneidete … Vor ihrem Haus stand ein Umzugswagen, und zwei stämmige Männer in grünen Overalls trugen gerade ein Sofa über den Rasen. Von Lorelle war nichts zu sehen. Robby blieb am Briefkasten stehen, um nach der Post zu schauen – seine Mutter vergaß es meistens, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam –, und ging dann mit einer Handvoll Werbeprospekte den Weg hinauf. »Robby!« Er blieb stehen, wartete einen Herzschlag, bevor er sich umdrehte, und sah Lorelle, die ihm von der vorderen Veranda zuwinkte. Sie trug ein schwarzes Sweatshirt mit einer sackartigen Vordertasche und dazu Jeans mit einem ausgefransten Loch auf dem linken Oberschenkel, unter dem das nackte Fleisch sichtbar wurde. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Hilfst du mir heute nachmittag?« fragte sie. »Äh, nun … « »Der Strom ist da, und ich habe fürs Abendessen Steaks gekauft. Wie war’s?« »Hm, ja … « Er hatte jede Menge Hausaufgaben. Du hast doch deine Hausaufgaben schon wegen viel nichtigerer Anlässe sausen lassen, dachte er … … und dabei wußte er, daß er mit ihr alleine ein nervöses Bündel sein würde, aber er wußte auch, daß wahrscheinlich gar nichts passieren würde … also konnte er doch eigentlich Dylan mitnehmen … … Du willst mit ihr allein sein, das weißt du ganz genau. »Ja!« rief er schließlich zu ihr hinüber, und im selben Moment rutschten ihm die Prospekte aus der Hand und lagen überall auf dem Weg herum. »Ich komme so … in einer 46
Stunde.« Er sammelte die Post wieder ein, dann wandte er sich dem Haus zu. Jen beobachtete ihn aus ihrem Zimmer, ihr Gesicht war nur eine vage, schemenhafte Maske hinter dem Fliegengitter. Oben am Himmel zog gerade eine fette, rauchfarbene Wolke vorbei und verdeckte für einen Augenblick die Sonne. Robby ging auf die Eingangstür zu und zwang sich, beim Klang von Lorelles Stimme nicht noch einmal herumzufahren. »Bis nachher also!« rief sie ihm nach, als er das Haus betrat. Jen spähte von ihrer Zimmertür aus den Flur entlang, als Robby hereinkam. Mit seinem gesenkten Kopf und den tief in den Jackentasche vergrabenen Händen wirkte er nachdenklich und besorgt, vielleicht sogar ein bißchen traurig. Er kam den Flur entlang. Jen zog ihren Kopf zurück, um nicht von ihm gesehen zu werden, und schloß dann leise ihre Tür. Robbys Zimmer war gleich neben ihrem. Sie hörte, wie er seine Tür schloß, seine Jacke auszog und sich dann mit einem Seufzer auf sein quietschendes Bett fallen ließ. Jen setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und nahm den Füller zur Hand. Sie schrieb gerade einen Brief an Diana Strait, ihre beste Freundin. Diana war vor sieben Monaten nach Seattle gezogen, und die beiden Mädchen schrieben sich regelmäßig. Alles war anders, seit Diana nicht mehr da war. O ja, Jen hatte auch noch andere Freundinnen. Sie verbrachte viel Zeit mit den Zwillingen am anderen Ende der Straße, und dann gab es ja auch noch Dianas frühere Freundinnen. Aber die schienen nur an Diana zu hängen, auch jetzt, wo sie nicht mehr da war. Jen und Diana hatten sich vor etwa zwei Jahren zufällig kennengelernt, als sie beide zusammen nachsitzen mußten – Jen, weil sie sich für die Turnstunde nicht umziehen wollte, und Diana, weil sie dem Lehrer eine patzige Antwort gegeben hatte – und waren auf der Stelle Freundinnen geworden. Auf 47
diese Weise war Jen ganz automatisch zum Mitglied einer Clique von ungefähr einem halbem Dutzend Mädchen avanciert, zu der Diana gehörte, einer Gruppe, die so beliebt war, daß auch Jens Ansehen in den Augen ihrer Altersgenossinnen stieg … aber auch einer Gruppe, in der sie niemals akzeptiert worden wäre, wenn Diana nicht darauf bestanden hätte. Die Mädchen in Dianas Clique waren sehr lernbegierig und hatten gute Noten. Auch Jens Noten waren ganz gut, und trotzdem war es bei ihr anders. Für ein B mußte sie sich sehr anstrengen, und ein A erforderte eine Großoffensive mit Büchern und Übungen, ein zähes Ringen um den Unterrichtsstoff, der sich ihr immer wieder verweigerte. Deshalb konnte sie auch nicht jeden Tag nach der Schule mit den Mädchen ausgehen, oder sich abends zu den kollektiven Treffen – Diana nannte sie »Rendezvous-Orgien« – mit einem halben Dutzend Jungen einfinden. Dianas Freundinnen wurden nicht müde darauf hinzuweisen, daß Jen eine langweilige Nudel sei, aber Diana fand Spaß daran, ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, und so mußte sie wenigstens nicht immer zu Hause bleiben. Zu keinem dieser Mädchen hatte sie eine so enge Beziehung wie zu Diana, und als diese wegzog, erntete Jen von deren Freundinnen allenfalls noch ein gelegentliches Hallo, aber selten mehr. Und so war Jen mit den Zwillingen von nebenan zurückgeblieben. Und mit einer Menge ungestörter Zeit, sich ihren Hausaufgaben zu widmen. Aber Hausaufgaben machen fiel Jen genauso schwer wie Freundschaften schließen. So manches Mal brach sie über ihren Büchern in Schweiß aus, vor allem dann, wenn am nächsten Tag ein Test anstand. Dabei fehlte es ihr nicht an Intelligenz oder an Lernfähigkeit; sie litt weniger unter Unvermögen als unter einem Zustand, der etwas mit Angst zu tun hatte. So, wie andere Leute in Panik geraten, wenn sie Spinnen oder Schlangen sehen oder in tiefe Abgründe 48
schauen, so erstarrte Jen beim Anblick eines aufgeschlagenen Schulbuchs. Einen Brief konnte sie leicht und problemlos schreiben, weil sie wußte, daß er nicht perfekt sein mußte, aber beim Anblick von Zahlen zog sich ihr vor Angst der Magen zusammen, und die Aufgabe, aus Worten sinnvolle Sätze und aus Sätzen Aufsätze bilden zu müssen, ließ sie ihn kalter Lähmung erstarren. Sie kämpfte tapfer dagegen an und schaffte es immer wieder, annehmbare Noten zu bekommen, aber sie brauchte mehrere Stunden für eine Aufgabe, die andere Schüler nur dreißig Minuten gekostet hätte … … einem Schüler wie Robby zum Beispiel. Jen beneidete ihren Bruder um die scheinbare Leichtigkeit, mit der er seine vielen A’s einheimste. Und dabei mußte er auf die Aufgaben auch noch weniger Zeit verwenden als die meisten anderen. Er hatte jede Menge freie Zeit zur Verfügung … Zeit, die er auch darauf hätte verwenden können, Jen bei ihren Hausaufgaben zu helfen. Aber das tat er nie. Es gab viele Dinge, die er nicht tat … Als ihre Mama George heiratete … Jen nannte ihn Dad, weil er sie gleich nach der Hochzeit adoptiert hatte –, gefiel Jen die Vorstellung recht gut, einen großen Bruder zu haben. Sie freute sich drauf, ihn kennenzulernen, mit ihm zusammen aufzuwachsen, ihm so nah zu sein, wie Bruder und Schwester sich ihrer Meinung nach nah zu sein hatten. Aber es war ganz anders gekommen. Jen kannte viele Mädchen, die von ihren Brüdern mit gnadenloser Grausamkeit behandelt wurden, und sie war froh daß Robby nicht einer von dieser Sorte war. Aber sie kannte auch Mädchen, die ihre Brüder Freunde und Vertraute nannten, und sie wünschte sich so sehr, Robby wäre einer von ihnen. Leider stand er irgendwo dazwischen. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie eigentlich nicht mit Robby zusammen aufwuchs, sondern im Haus nebenan. Seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, versuchte sie ihn 49
nahezukommen, richtig nahezukommen, so wie es bei Nachbarskindern und Schulkameraden niemals möglich gewesen wäre. Aber langsam begann sie zu glauben, daß es aussichtslos war. Er war nicht ausgesprochen kalt ihr gegenüber, eher erschien er ihr abwesend, oder … nein, es war wohl Gleichgültigkeit. Dabei war diese Distanz vielleicht nicht einmal beabsichtigt, er war eben einfach … Robby. Immer wieder versuchte Jen, eine Brücke zu ihm zu schlagen. Sie sprach oft mit Tara – einem der Zwillinge – darüber, aber die sagte immer nur: »Du bist doch bloß verknallt in ihn.« »Bin ich nicht!« antwortete Jen. »Hört sich aber ganz so an.« Sowohl Tara als auch ihr Bruder hänselten sie damit, aber natürlich stimmte es nicht. Jedenfalls nicht … direkt. Vielleicht war sie ein ganz kleines bißchen in ihn verknallt gewesen, als sie noch klein war, aber darüber war sie längst hinweg. Meistens … jedenfalls. Ganz und gar, dachte sie, während die Spitze ihrer Feder über einem unvollendeten Satz des Briefes an Diana schwebte. Damals, als Jen noch ein bißchen in ihn verknallt gewesen war, hatte sie ihn heimlich so gesehen, wie ihn wohl noch niemand gesehen hatte. Es war ganz zufällig passiert, und sie hatte es nie mehr vergessen können. Es war an einem Sommernachmittag vor sechs Jahren, als sich Jen an Robbys Zimmerfenster geschlichen hatte. Robby hatte an seinem Schreibtisch gegenüber dem halb geöffneten Fenster an einem Modell gebastelt. Sie wollte plötzlich mit einem lauten Schrei aufspringen, um ihn zu erschrecken, aber… … während sie durch die Büsche kroch und sich unter seinem Fenster zusammenkauerte, hörte sie die Federn seines 50
Betts leise quietschen und beschloß, noch einen Moment zu lauschen, bevor sie plötzlich hochsprang. Als sie sein Stöhnen hörte, wußte sie jedoch, daß er nicht mehr an dem Modell arbeitete. Anstatt hochzuspringen, spähte sie vorsichtig über den Fenstersims, und ihre Augen wurden riesengroß, denn … … Robby lag auf seinem Bett, die Beine baumelten über die Kante, die Knie hatte er gespreizt, die Hosen waren bis auf die Fußgelenke gerutscht, und sein … sein Ding – so jedenfalls hatte sie es damals in ihren Gedanken genannt – ragte kerzengerade in die Höhe! Robby hatte die Finger darum geschlossen, und seine Hand bewegte sich auf und ab, auf und ab, schneller und immer schneller. Jen schaute ihm zu, erstaunt, und eine seltsame Erregung wurde in ihr wach, die Erregung, ihm bei etwas so Geheimen zusehen zu dürfen. Nie zuvor hatte sie das Ding eines Jungen gesehen, und ganz sicher hatte sie noch niemals einen Jungen so etwas mit seinem Ding machen sehen; sie hatte nicht einmal gewußt, daß Jungs so etwas tun, was auch immer es sein mochte. Robby wand sich auf seinem Bett, während er weiter an sich herumspielte, und dann passierte etwas Faszinierendes: Milch quoll aus seinem Ding heraus. Zumindest sah es aus wie Milch; inzwischen wußte sie es besser. Robby stöhnte, keuchte, bewegte seine Hand noch schneller, und dann entspannte er sich langsam und atmete ruhiger. Jen konnte wochenlang an nichts anderes denken. Was immer das gewesen sein mochte, es hatte sie in seinen Bann geschlagen, und sie verspürte die schreckliche Versuchung, Robby danach auszufragen, ihn zu fragen, warum er es tat, was das für ein Gefühl war, und – ihn vielleicht – ganz vielleicht – zu fragen, ob sie ihm einmal ganz aus der Nähe dabei zusehen dürfte. Natürlich tat sie es nicht, und wenn sie heute auch nur daran dachte, daß ihr ein solcher Gedanke einmal gekommen war, dann schlug sie sich die Hand vor die Stirn und stöhnte 51
auf, so peinlich war es ihr. Aber immer noch spukte die Erinnerung daran ihr hin und wieder durch den Kopf, das Bild fügte sich im Geiste zusammen und begann hinter ihren Augen zu tanzen. Der Gedanke löste ein Prickeln der Erregung aus, aber inzwischen war dieses Gefühl tiefer, dunkler und … ein bißchen unheimlich … In ihrem Zimmer hörte Jen, wie Robby seine Tür öffnete Sie trat schnell auf den Flur hinaus, und er blieb stehen und drehte sich nach ihr um. »Ich hab gesehen, wie du mit der Nachbarin geredet hast« sagte sie. »Wie ist sie?« Robby zog die Augenbrauen hoch, zuckte mit einer Schulter und antwortete: »Sie ist … nett.« Dann hob er eine Hand und fügte hinzu: »Bis später.« Sie sah ihm nach, wie er den Flur entlangging, dann kehrte sie mit einem Seufzer in ihr Zimmer zurück. George nahm eine Dusche, als er von der Arbeit nach Haus kam. Er hatte in der Nacht zuvor lange wachgelegen, hart am Morgen verschlafen und nur wenig Zeit gehabt, sich zu waschen, bevor er das Haus verließ. Den ganzen Tag über hatte er sich schmutzig gefühlt. Nach dem Abtrocknen war er einen Blick aus dem Badezimmerfenster. Robby überquerte gerade die Straße. Eingewickelt in seinen Frotteebademantel ging George in sein Schlafzimmer, warf den Bademantel aufs Bett und … … verspürte einen stechenden Schmerz auf seinem nackten Fuß. Unter dem Bett hörte er ein langgezogenes Fauchen. »Du Mistvieh!« bellte George und hüpfte auf einem Fuß weiter, während auf dem anderen vier dünne, lange Streifen vom äußeren Knöchel bis hin zum großen Zeh zu bluten anfingen. Karens Kater, Monroe, glotzte aus der staubigen Dunkelheit 52
unter dem Bett hervor; der pure Haß funkelte George aus den schwarzgelben Augen des Tiers entgegen, das die messerscharfen Krallen ausgefahren hatte und schon wieder angriffslustig fauchte, bevor es sich weiter in die Dunkelheit zurückzog. George kniete sich hin, packte einen seiner Pantoffel und schlug damit unter das Bett: »Du verfluchter, gottverdammter … « Aber der Kater war auf der anderen Seite bereits unter dem Bett hervorgeschlüpft, und George hörte das Trippeln seiner Pfoten, als das Tier in Richtung Tür flüchtete. Er schaute gerade noch rechtzeitig hoch, um Monroes wackelnden, schwanzlosen Hintern und, was noch schlimmer war, ein nacktes, schmutziges Arschloch durch die Tür verschwinden zu sehen. George stieß noch einen leisen Fluch aus, schleuderte den Pantoffel wütend auf den Boden und setzte sich auf das Bett, um sich den malträtierten Fuß zu reiben. »Neun Jahre«, murmelte er, »schon neun verfluchte Jahre …!« So lange hielt er es jetzt schon mit dem einzigen Tier aus, mit dem er es jemals zu tun gehabt hatte, und das er – auch wenn er es nicht zugeben wollte – haßte. Aber er haßte den Kater nur, weil der Kater ihn zuerst gehaßt hatte. Monroe war noch ein winziges Kätzchen gewesen, als George und Karen geheiratet hatten. Der Kater hatte ihn schon damals nicht gemocht, und diese Abneigung steigerte sich von Jahr zu Jahr. George konnte nie sicher sein, wo das Tier ihm wieder auflauerte oder wann es seinen nächsten Angriff starten würde. Jedesmal war die Versuchung groß, Monroe einen kräftigen Tritt zu versetzen, aber George widerstand ihr, denn er wußte, daß Karen fuchsteufelswild und wahrscheinlich sogar hysterisch geworden wäre, wenn er dem Tier eine Verletzung zugefügt hätte. Manchmal glaubte er, daß sie für dieses neurotische, bösartige Tier mehr übrig hatte als für ihn. Nachdem er sich angezogen und rasiert hatte, ging er hinunter in die Küche und fragte Karen: »Wo ist Robby 53
hingegangen?« »Über die Straße, um Miss Dupree beim Auspacken und mit ihren Möbeln zu helfen.« »Ach. Und Jen?« »Bei Al und Linda.« Al und Linda Crane hatten Zwillinge in Jens Alter – einen Jungen und ein Mädchen –, und wenn Jen nicht im Nachbarhaus war, um mit ihnen zu spielen oder zu essen, dann waren die Zwillinge bei ihnen. »Essen die Kinder heute nichts?« »Jen ißt bei den Zwillingen, und ich nehme an, die neue Nachbarin lädt Robby zum Abendessen ein.« Sie nahm zwei Teller aus dem Schrank und stellte sie vor dem riesigen weißen Mikrowellenherd ab. »Ach?« George trat hinter sie und legte seine Arme und ihre Hüften. »Dann haben wir ja den ganzen Abend für uns.« Nach den Gedanken der schlaflosen Nacht hatte er den ganzen Tag über Lust gehabt. Die Mikrowelle piepste, und Karen befreite sich aus seiner Umarmung, um das Essen herauszunehmen. Typisch, dachte George. Er war selber ein bißchen erschrecken über die Verbitterung, die er plötzlich verspürte. »Was gibt’s zum Essen?« »Hühnchen.« Er schaute ihr dabei zu, wie sie das Hühnchen und das Gemüse auf den Tisch stellte. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, als sei sie über etwas verärgert. »Du guckst so komisch«, sagte sie. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Weil du so’n wütendes Gesicht machst.« »Ich? Nun, ich dachte gerade … Findest du das nicht auch komisch, George?« »Was?« »Daß diese Frau … « 54
»Sie hat einen Namen, Karen.« » … unseren Robby einfach so zu sich rüber bittet? Und ihm ein Abendessen kocht?« »Was ist daran so komisch? Sie braucht Hilfe, und als Gegenleistung will sie ihm etwas Gutes tun. Das ist alles.« Sie runzelte noch immer die Stirn, während sie den Kopf schüttelte. »Ich weiß nicht … « »Glaubst du etwa, sie will ihn verführen?« »Ich finde es nur … ziemlich seltsam«, murmelte sie. »Mehr nicht.« George nahm sein Essen mit ins Wohnzimmer und stellte die Nachrichten an. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen konnte er die Lichter in Lorelle Duprees Fenster auf der anderen Straßenseite sehen. Zwei Schatten bewegten sich ständig hin und her. Ein blödes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als ihm der Gedanke kam, daß Karen – möglicherweise – recht haben könnte. Robby war ein ganz hübscher Knabe, nicht gerade ein Modellathlet, aber er war auch keine Memme. Wer konnte das schon wissen – vielleicht war diese Lorelle Dupree die Sorte Frau, die gerne blutjunge Männer verführte? Er schloß die Augen und stellte sie sich mit seinem Sohn vor, beide nackt; er stellte sich vor, wie Robby stöhnen würde, wenn Lorelle ihm die Dinge zeigte, die es bis dahin nur in seiner Phantasie gegeben hatte, und er fragte sich, ob Robby wohl ebenso überwältigt wäre, wie er es bei seinem ersten Mal gewesen war. Während diese Vorstellung immer festere Formen annahm, immer lebhafter wurde, löste Georges Lächeln sich langsam auf. Als Karen mit ihrem Abendessen das Zimmer betrat und sich ihm gegenüber auf das Sofa setzte, wandte er sich wieder dem Fernseher zu. Sie trug ein schlichtes blaues Hemdkleid ohne Strümpfe und hatte sich das Make-up vom Gesicht gewaschen. Und trotzdem sah sie nicht weniger attraktiv aus als am Morgen, bevor sie 55
frisch geschminkt zur Arbeit gegangen war. Sie schaute den Nachrichten zu, ohne auf ihn zu achten, aber er beobachtete sie und versuchte, sich zu entspannen, versuchte wieder jenes Gefühl der … Ausgeglichenheit zu empfinden. Eigentlich wollte er seinen Teller abstellen und zu ihr gehen, ihren Nacken liebkosen und sich mit ihr auf dem Sofa zusammenrollen. Aber dann überlegte er es sich anders. Monroe erschien auf der Bildfläche. Der Kater kroch unter dem Beistelltisch hervor, wuchtete seinen massigen Leib auf das Sofa und legte die Vorderpfoten so auf ihren Oberschenkel, daß er über den Tellerrand schauen konnte. Sie lächelte, während Monroe jeden Bissen mit seiner Nase anzustupsen versuchte. George, wandte sich ab und verzog angewidert das Gesicht. Als er wieder hinschaute, ließ Karen gerade ihre Hand über das orangefarbene Rückenfell des Katers gleiten, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. George dachte daran, wie er früher mit Karen zu Abend gegessen hatte. So eng wie möglich hatten sie nebeneinander gesessen und sich bei jeder Gelegenheit berührt und angelächelt. Jetzt hatte dieser Kater seinen Platz eingenommen. Manchmal hatten sie sich auch zusammen zum Fernsehen auf den Fußboden gelegt, eng umschlungen auf den Kissen. Jetzt schmuste sie mit Monroe, und George wagte es nicht, dem Kater zu nahe zu kommen, weil er Angst vor dessen scharfen Krallen hatte. Dieser Zustand war etwas, das er bisher toleriert hatte, aber im Laufe der Jahre war es ihm zunehmend schwerer gefallen … Während Monroe neben Karens Teller zu schnurren begann, wandte George den Blick wieder dem Spalt zwischen den Vorhängen zu, den Schattenrissen im Fenster auf der anderen Straßenseite, und seine Augenbrauen zogen sich ganz automatisch zusammen, und er legte die Stirn in Falten. Wenn nun Karen tatsächlich recht hatte … wenn Lorelle Dupree tatsächlich versuchte, Robby zu verführen …? George 56
mußte zugeben, daß er dann neidisch auf seinen Sohn wäre. Nein, dachte er, während sein Essen auf dem Teller kalt wurde, nicht neidisch. Eifersüchtig. »Was dagegen, wenn ich Cosby anstelle?« fragte Karen. George wandte den Blick langsam vom Fenster ab. Sein Gesicht hellte sich wieder ein wenig auf, er seufzte leise und zwang sich zu dem freundlichsten Lächeln, das er produzieren konnte, ohne dabei den Kater anzuschauen. Bevor er in sein Hähnchen biß, sagte er: »Nein, Schatz. Wenn du gerne möchtest.«
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4 DAS ERSTE MAL Während Sodom und Gomorrha an den Möbeln herumschnüffelten und ihre neue Umgebung inspizierten, trat Lorelle zurück an die Wand, legte die Hände auf die Hüften und ließ den Blick vorsichtig durch den Raum schweifen. »Was meinst du, Robby?« »Ja«, sagte er und nickte mit dem Kopf. »Ich glaube, so ist es gut.« Viermal hatten sie die Möbel im Wohnzimmer und vom Schlafzimmer bereits umgestellt – gar nicht zu reden vom Eßzimmer und vom Schlafzimmer und von der Suche nach einem geeigneten Platz für den riesigen Schreibtisch, nachdem sie ihn aus der Garage gewuchtet hatten. Robby wurde langsam müde. Nach ihrem Aussehen und ihrem Tonfall zu urteilen, erging es Lorelle nicht viel besser; sie sah noch immer blaß aus und machte einen erschöpften Eindruck. Lorelle trat an seine Seite und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Finde ich auch. Jetzt fehlen nur noch die Vorhänge und ein paar Zimmerpflanzen, und das Ganze ist ein richtiges Zuhause.« Während der letzten anderthalb Stunden waren sie so beschäftigt gewesen, daß Robby gar keine Zeit gehabt hatte, sich nervös oder unsicher zu fühlen. Jetzt mußte er sich zusammennehmen, um unter dem sanften Gewicht ihres Arms, der warmen Berührung ihrer Hand auf seiner Schulter nicht zusammenzuzucken. Eine Strähne ihres Haars streifte seine Wange, und er fing einen leichten Hauch ihres schweren, nach Moschus duftenden Parfüms auf. »Oh!« Sie schnipste mit den Fingern. »Das hätte ich beinahe vergessen. Etwas fehlt noch.« Sie deutete auf die große Holzkiste, die mitten im Zimmer stand, und sagte: »Ich bin gleich wieder da.« Dann eilte sie hinaus. 58
Sie hatten den ganzen Abend um diese Kiste herum gearbeitet, aber Lorelle hatte sich geweigert, ihm zu verraten, was sie enthielt. Es sollte eine Überraschung bleiben. Die Kiste war zwei Meter lang und etwa anderthalb Meter hoch, und als er einmal versucht hatte, sie aus dem Weg zu rücken, weil er das Sofa verschieben mußte, hatte er gemerkt, wie verflucht schwer sie war. Robby ließ sich mit einem Seufzer auf das Sofa plumpsen und schaute den Flammen im Kamin zu. Die Hunde rollten sich vor seinen Füßen zusammen, und er kraulte Sodom müßig, während er genußvoll den Duft nach Steaks und Knoblauchbrot in sich einsog, der aus der Küche herüberwehte. Ein paar Minuten später spitzten die Hunde die Ohren und sprangen auf, als Lorelle mit einem Hammer zurückkehrte. Mit dem Nagelauszieher am Hammerkopf öffnete sie eine Seite der Kiste, und ein Schwall von zerfetztem Zeitungspapier und feiner Holzwolle ergoß sich wie getrocknetes Gekröse auf dem Fußboden und gab den Blick frei auf eine rabenschwarze Hand mit fest geschlossenen Fingern, deren Oberfläche so glatt war, daß sie den Schein des Feuers reflektierte. Die Hunde wedelten begeistert mit den Schwänzen, während sie Lorelle dabei zuschauten, wie sie den Rest der Holzlatten entfernte. »Was ist das?« fragte Robby, der sich erhoben hatte. »Du wirst es schon sehen.« Sie zog noch mehr Zeitungspapier heraus, stapelte die Seitenwände der Kiste aufeinander und … … Robby klappte der Unterkiefer herunter, als er auf die Plastik aus schwarzem Onyx starrte – anscheinend stellte sie zwei Menschen dar – die sich langsam aus dem Haufen zerfetzten Papiers erhob. Das Prickeln der Erregung, das sich in ihm regte, war ihm beinahe ein bißchen peinlich. Er ging halb um die Plastik herum, dann wandte er sich Lorelle zu. »Haben Sie das gemacht?« fragte er sie. Ganz unbeabsichtigt 59
gerieten die Worte ihm zu einem Flüstern. Ihr Mund kräuselte sich zum Anflug eines Lächelns, und dazu nickte sie. »Gefällt es dir?« Robby warf noch einen Blick auf die Plastik, dann nickte er langsam. »Ich … ja, es ist … es ist … « »Es ist das einzige Objekt, bei dem ich es nicht übers Herz brachte, es zu verkaufen.« Ganz steif, wie zwei Wachposten, saßen die Hunde vor der Plastik, als erwarteten sie, daß gleich etwas geschehen würde. Gomorrha leckte sich mit der Zunge über die schwarzen Lefzen. Diesmal ging Robby ganz um die Plastik herum und schüttelte dabei leise den Kopf; er bewunderte jede Einzelheit der Skulptur und versuchte, nicht rot zu werden, was ihm jedoch nicht gelang. Er war heilfroh, als Lorelle das Deckenlicht ausschaltete. Jetzt gab es nur noch den Schein des Feuers und das sanfte Licht, das aus dem Eßzimmer hereinfiel. »Ich glaube, so kommt sie besser zur Wirkung«, sagte sie leise. »Findest du nicht auch?« Er konnte nur nicken. Jetzt, wo sie im Schatten lagen, erwartete Robby von den beiden Onyxfiguren beinahe, daß sie sich bewegen, zu atmen anfangen würden. Er schaute von der einen zur anderen, starrte sie eine ganze Weile lang schweigend an. »Du darfst sie ruhig anfassen, Robby. Dafür hab ich sie ja gemacht.« Ihre Stimme klang weich wie eine Feder. Aber er tat es nicht. Noch nicht. Er schaute sie nur an. Schaute ihnen zu. Es waren ein Mann und eine Frau, beide nackt, die auf einem zwanzig Zentimeter hohen, rechteckigen Sockel lagen, und auch wenn sie nicht in voller Lebensgröße dargestellt waren, wirkten sie doch so echt, so lebendig, daß das gar nichts ausmachte. Der Mann hatte einen Körper, für den jeder andere Mann – 60
Robby eingeschlossen – seine Seele verkaufen würde. Kein Gramm Fett war daran, aber er war auch nicht massig, mit Muskeln bepackt, wie der eines professionellen Bodybuilders. Der Körper erinnerte Robby an die Illustration der idealen männlichen Muskulatur, die er in seinem medizinischen Lehrbuch gefunden hatte; er war einfach vollkommen proportioniert, als wäre es die Darstellung eines Mannes, der nie als Baby auf die Welt gekommen, sondern gleich als Erwachsener geformt worden war. Von der Frau hatte man genau denselben Eindruck, aber sie war noch interessanter. Robby hatte sich daran gewöhnt, von schlanken Frauen angezogen zu werden, die große, ein wenig nach oben stehende Brüste, kleine, feste Hintern und schlanke Beine hatten, die sich nach unten zu zarten Fesseln verjüngten. Filme, das Fernsehen und Illustrierte, und natürlich die Magazine, die in seinem Schrank aufgestapelt lagen, hatten seine Phantasie mit Frauen bevölkert, die diesen Standards in idealer Weise entsprachen. Die Frau in Lorelles Plastik tat das nicht, aber das schadete nichts. Tatsächlich war sie sogar noch aufregender als alle die windschnittigen Fotomodelle auf den Hochglanzseiten von Penthouse, mit denen er es in seiner Phantasie trieb. Ihre Brüste waren schwer, aber wohlgeformt; sie hingen nicht schlaff, sondern voll und reif herunter und wirkten so echt, daß er nicht erstaunt gewesen wäre, wenn sie auf einmal zu schaukeln angefangen hätten. Den Hintern hatte sie achtlos in die Höhe gestreckt. Er war nicht fest und muskulös; er schien aus zwei sanft gerundeten Dreiviertelmonden geformt zu sein, voneinander getrennt durch eine Spalte, die sich zwischen ihren angewinkelten Beinen hindurch zu einem fleischigen Hügel zog. Und sie hatte Flügel … Der Mann lag auf dem Rücken, und sein erigierter Penis, lang und dick und glatt, richtete sich schräg nach oben. Der muskulöse Körper war angespannt in Erregung, seine linke 61
Hand hatte die Schulter der Frau gepackt, während die rechte nach oben in die Luft krallte. Das schulterlange Haar verteilte sich gleichmäßig um den Kopf herum, und sein Gesicht war verzerrt zu einer Maske gequälter Lust: die Augen waren fest geschlossen, die Lippen spannten sich über zusammengebissenen Zähnen, Muskelstränge traten unter der Haut am Hals hervor. Die Frau saß rittlings auf seinen Beinen und beugte sich vor, ihre harten Brustwarzen berührten beinahe seine Schenkel, die Finger der rechten Hand hatte sie fest um den Schaft seines Glieds geschlossen, der linke Arm war ganz ausgestreckt, die Fingernägel krallten sich in die Haut um seine rechte Brustwarze herum. Die fledermausförmigen Flügel, die gleich unterhalb ihrer Schulterblätter entsprangen, erinnerten an die eines Engels, aber statt mit Federn war sie mit Schuppen bedeckt, und jede Schuppe endete in einer nadelfeinen Spitze; die Flügel schienen sich eben in diesem Moment zu öffnen, als wollten sie sich auf den Flug vorbereiten. Den Kopf hatte sie leicht auf die Seite geneigt, und feine, sorgfältig herausgearbeitete Strähnen ihres Haars – das bis zu den Hüften reichte – fielen um ihr Gesicht herum. Ihre Augen waren schmal und standen schräg nach oben, was ihrem Gesicht das Aussehen eines Reptils verlieh; den geöffneten Mund hatte sie an den Mundwinkeln etwas hochgezogen; die Lippen lächelten beinahe – wenn auch nicht ganz –, während die Spitze ihrer leicht gekrümmten Zunge das Glied des Mannes gleich unterhalb seiner knolligen Eichel berührte, die sie gegen ihre Schneidezähne gepreßt hatte. Ihre Augen blickten nach oben in das aufgewühlte Gesicht. »Nur zu«, flüsterte Lorelle und streichelte dabei mit den Fingerspitzen über einen der geschuppten Flügel, »du darfst es ruhig anfassen.« Robby hob langsam die Hand, bis sie nur noch ein paar Zentimeter von der fließenden Haarpracht der Frau entfernt war, und dann … 62
… ertönte irgendwo im Haus ein scharfer Summton. Robby ließ die Hand fallen, während er sich umdrehte. Lorelle berührte seine Schulter und sagte: »Das ist nur die Zeituhr. Das Essen ist fertig.« Sie ging hinüber in die Küche. Robby wollte ihr folgen und ihr vielleicht ein bißchen zur Hand gehen, aber er konnte den Blick nicht von der Plastik wenden. Es gab keinen Zweifel daran, was der Mann und die Frau gerade taten, aber sie schienen keine Freude dabei zu empfinden. Das ganze wirkte eher wie ein Kampf als wie ein Liebesakt. Er schaute hinunter auf die Hunde. Sie beobachteten nicht mehr die Plastik, sie hatten ihre Blicke auf ihn gerichtet. »Es gefällt dir doch, oder?« fragte Lorelle ein paar Minuten später, als sie auf einem kleinen Tablett das Abendessen hereintrug, das sie vor dem Kamin auf dem Fußboden absetzte. Sie hatte die Jeans ausgezogen und trug einen langen schwarzen Baumwollrock, der ihr um die Beine flog, als sie zu ihm trat. »Und du findest es nicht zu stark?« »Zu stark?« »Zu direkt, verstehst du? Es ist nicht gerade etwas, was sich die meisten Leute gerne ins Wohnzimmer stellen würden.« »Ich bezweifle, daß man in unserem Wohnzimmer jemals so etwas finden könnte, aber … nein, es ist mir nicht zu direkt.« »Ist deine Familie konservativ? Religiös vielleicht?« »Wir gehen in eine nicht konfessionsgebundene Kirche, aber wir sind nicht gerade das, was man als religiös bezeichnen würde.« »Du schaust so nachdenklich.« Jetzt wurde ihm bewußt, daß er tatsächlich die Stirn gerunzelt hatte, während er die Plastik betrachtete. Er versuchte, sich zu entspannen. »Tut mir leid.« »Ist es dir unangenehm?« »Nein. Nein, ich frage mich bloß … Warum hat sie Flügel?« »Hast du schon mal von Lilith gehört?« 63
Er schüttelte den Kopf. Lorelle streichelte voller Stolz über einen der Flügel, während sie um die Plastik herumging. »Nach der hebräischen Legende war Lilith Adams erste Gefährtin.« »Adams? Dem Mann von Eva?« Sie nickte. »Nachdem der Herr Adam aus dem Staub der Erde geformt hatte, machte er Lilith aus dem Schlamm. Aber Lilith und Adam … «, mit einem leisen Kichern tätschelte Lorelle ihre Schöpfung, während sie langsam um sie herumging, » … kamen nicht besonders gut miteinander aus. Sie hatten ein paar … unterschiedliche Ansichten. Als erstes … «, Lorelle beugte sich herunter und schaute Robby hinter dem Gesicht der Frau hervor an, » … betrachtete sich Lilith als gleichberechtigt mit Adam.« Lorelle legte ihre Hand auf den glatten schwarzen Brustkorb des Mannes und ließ die Fingerspitzen über die Wölbung des oberen Brustmuskels gleiten … »Sie wollte Dinge tun … « … und weiter, den flachen, geriffelten Unterleib hinunter … » … die Adam nicht tun wollte.« … über das detailliert herausgearbeitete Schamhaar … »Man könnte sagen … « … führte sie einen Fingernagel an seinem Glied entlang, bevor sie eine Augenbraue in die Höhe zog und sagte: » … sie wollte obenauf sein.« Robby hörte sein eigenes trockenes Schlucken, während seine Blicke dem Weg des Fingernagels folgten, hinauf und herunter an diesem Schwanz aus Onyx. Er spürte, wie sein eigenes Glied heiß und steif wurde. »Als Adam sie zum Gehorsam zwingen wollte«, fuhr Lorelle fort, »versuchte Lilith zuerst, sich ihm zu widersetzen, und dann suchte sie das Weite und ließ ihn allein im Garten Eden zurück. Adam beschwerte sich bei Gott.« Sie richtete sich wieder auf und kam um die Plastik herum, immer noch mit 64
sehr langsamen Bewegungen. Leise sprach sie weiter, bis sie neben Robby stand, mit einem amüsierten Lächeln um die Lippen. »Gott versuchte Lilith zur Rückkehr zu bewegen, aber sie weigerte sich. Also kehrte Gott nach Eden zurück und erschuf Eva.« Sie lehnte sich auf den einen Flügel. »Das war die Inspiration für diese Plastik. Sie stellt Lilith und Adam in ihrem letzten Kampf dar, kurz bevor sie floh. So jedenfalls habe ich mir das vorgestellt.« Sie lehnte sich so weit zu Robby hinüber, daß er ihren Atem spüren konnte, und fügte in theatralischem Flüsterton hinzu: »Was die lieben Nachbarn wohl denken werden?« Robby starrte auf die Plastik, unfähig, Lorelle anzuschauen und dankbar für die Dunkelheit, die den Mantel über seine Erektion deckte … hoffte er jedenfalls. Lorelle verwirrte ihn, indem sie seine Hand nahm. »Nur zu, du darfst sie anfassen«, sagte sie. »Ich mag es, wenn die Leute meine Arbeiten berühren. Deshalb mache ich auch so gern Schmuck.« Sie legte seine Hand auf die Wölbung von Liliths Hüfte. Sobald Lorelle seine Hand losließ, schob Robby sie hinauf zu dem einen Flügel, aber … … die Haut seines Handrückens blieb an einer der nadelfeinen Spitzen hängen und als sie zu bluten anfing, riß er die Hand zurück vor seine Brust. »Oh, Robby!« Lorelle kam ganz nah zu ihm und nahm seine Hand. »Das tut mir leid. Hat’s sehr wehgetan?« Er zuckte die Schultern. Es tat weh, aber das war schon in Ordnung; er brauchte diesen Schmerz sogar, um sich abzulenken. Lorelle kniete neben dem Tablett nieder und zog ihn zu sich herunter. »Ich hab leider kein Verbandszeug«, sagte sie und tupfte den Riß mit einer Baumwollserviette ab. »Ist schon okay.« Sie hielt sich seine Hand dicht vor die Augen. »Sieht nicht so 65
schlimm aus. Aber wahrscheinlich tut’s weh.« Und wieder erwischte sie ihn, als er nicht auf der Hut war; sie senkte den Kopf und legte ihren Mund auf den Schnitt, teilte die Lippen und leckte ihn mit der Zungenspitze. Robby sog einen zitternden Atemzug in sich hinein und wollte die Hand schon zurückziehen, aber sie schloß die Finger fester um sein Handgelenk und er verharrte unbeweglich und schaute ihr zu, bis sie den Kopf hob und flüsterte: »Ist es jetzt besser?« Er hielt den Atem an, während ihm panikartig verschiedene Gedanken durch den Kopf schossen. Ich muß nach Hause gehen. Ich muß … … hierbleiben und sehen, wie weit sie es treibt, was weiter passiert. Aber was ist … … wenn Dad herüberkommt um zu fragen, ob wir seine Hilfe brauchen, oder wenn Mom unter irgendeinem dummen Vorwand hereinschaut, zum Beispiel um der neuen Nachbarin ein paar Kekse zu bringen, weil sie ja gleich gegenüber wohnt. Was ist, wenn … … die Frau hier zur Sache kommt, wenn sie es tatsächlich mit mir treiben will? Lorelle legte ihre Lippen wieder auf Robbys Hand, aber er zog sie zurück, blieb unbeholfen stehen und sagte mit heiserer Stimme. »Ich glaube, ich muß jetzt nach Hause gehen.« »Und was ist mit unserem Abendessen? Es wird kalt.« Sie blieb vor ihm knien, seelenruhig, die dunklen Augen spiegelten einen Anflug von Enttäuschung wieder. »Ich, hmm, ich hab wirklich keinen großen Hunger.« Er versuchte sich zu erinnern, wo er seine Jacke hingelegt hatte. »Wenn du keinen Hunger hast … « »Und ich sollte etwas auf diesen Sch-schnitt tun.« »Aber ich kann dich doch nicht einfach so gehen lassen. Nicht nach der ganzen Arbeit, die du für mich getan hast.« Sie hob einen Arm, und Robby glaubte schon, er solle ihr 66
aufhelfen, also bot er ihr seine Hand, aber … … sie krümmte einen Finger über dem Bund seiner Jeans, schob den Daumen über den Hosenknopf und öffnete ihn. Robby stammelte: »Ich m-muß … ich muß eigentlich … « Sein Reißverschluß machte ein flüsterndes Geräusch, als sie ihn nach unten zog. »Ich glaube nicht, daß du gehen willst, Robby.« Sie zog an seinen Jeans und an den Unterhosen, bis sein steifes Glied, von allen Zwängen befreit, in die Höhe ragte. Er schloß einen Moment lang die Augen und konzentrierte sich darauf, nicht umzufallen, denn die Knie wurden ihm weich und fingen an zu zittern. »Doch nicht wirklich, Robby«, flüsterte sie, drückte seinen Schwanz und leckte ihn, ohne dabei den Blick von seinen Augen zu wenden. »Oder?« Sie ließ die Zunge über die Spitze seiner Eichel gleiten und sog ganz fest daran, aber nur einen Augenblick lang. »Willst du wirklich gehen?« Seine einzige Antwort bestand darin, daß er vor ihr auf die Knie sank. Sie ließ nicht von ihm ab, und als Robby erst einmal vor ihr kniete, begann sie, seinen Schwanz zu streicheln. »Das hast du gestern abend gemacht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Als ich dich am Fenster gesehen hab. Du hast dich gestreichelt. Stimmt’s?« Er konnte nur nicken, dann verbarg er sein Gesicht in ihrem Haar und holte tief Luft. Lorelle zog ihre Fingernägel sanft über seine Hoden, dann schloß sie ihre Finger darum, nahm seinen Schwanz in den Mund und begann, hart daran zu saugen. Sie drückte seine Eier ein bißchen fester … … und noch ein bißchen fester … Robby stöhnte, als sie ihm die Schuhe auszog, die Jeans von den Beinen schälte und die Socken von den Füßen streifte. Während der ganzen Zeit bearbeitete sie mit der anderen Hand seinen Schwanz. Seine Hände grabschten blind nach ihrem 67
Körper, bis sie unter ihrem Sweatshirt die festen Brüste ertasteten, und die harten Nippel ihrer Brustwarzen spürten, die sich gegen den Stoff preßten und dann … … stützte er seine Hüften auf dem Fußboden ab und stieß einen lauten Schrei aus, als der Orgasmus kam, während Lorelle nicht aufhörte, ihre Hand hoch und runter zu stoßen, hoch und runter, immer wieder. Er stöhnte vor Enttäuschung, als es vorbei war, aber … … Lorelle hörte nicht auf, »Ist doch gut«, flüsterte sie. »Ist doch alles gut.« Ganz plötzlich setzte Lorelle sich auf, zog sich das Sweatshirt über den Kopf und preßte seine Hand gegen ihre nackte Brust, während sie mit der anderen Hand sein Hemd aufzuknöpfen begann. Als das Hemd ausgezogen war, zerriß etwas, und Robby öffnete die Augen. Lorelles zerknautschter Rock lag auf dem Boden. Jetzt waren sie beide nackt. Lorelle schwang ein Bein über ihn, setzte sich rittlings auf seine Brust und hob mit beiden Händen seinen Kopf. Robbys Gesicht war nur ein paar Zentimeter von dem Dreieck ihrer Scham entfernt. »Schau’s dir an, Robby«, sagte sie mit rauher Stimme. »Hast du schon mal so etwas gesehen? Von so nah?« Er starrte mit offenem Mund, leckte sich über die trockenen Lippen und atmete schwer. »Gefällt’s dir?« Er nahm die Hand von ihrer Brust und ließ die Finger durch die feinen Locken gleiten. »Küß mich dort, Robby. Küß mich!« Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, zog sein Gesicht zwischen ihre Beine und schloß lachend ihre Schenkel. Robby atmete ihren dunklen Geruch tief in sich hinein, leckte mit der Zunge, und Lorelle vergrub ihre Fingernägel in seiner Kopfhaut, während sie ihren Unterleib gegen sein Gesicht stemmte. Ein tiefes Knurren löste sich tief unten in ihrer Brust und steigerte sich zu einem atemlosen Lachen. Sie 68
bewegte sich auf seiner Zunge wie auf einem Penis, langte nach hinten, schloß ihre Finger um sein steifes Glied, seine Hoden, bis sie sich ganz plötzlich von seinem Gesicht zurückzog und an seinem Körper entlangglitt. Über ihn gebeugt verschlang Lorelle Robbys Schwanz wie eine hungernde Frau, der man eine dampfende Mahlzeit vorsetzt, und Robby konnte nicht einfach ruhig liegenbleiben. Er zitterte an Armen und Beinen und hob ihr seine Hüften entgegen; sein Kopf rollte hin und her, während sich ihre beiden Hände in seinem Haar verkrallt hatten und er Schreie ausstieß, als müßte er Höllenqualen erleiden. Sein zweiter Orgasmus traf ihn wie eine Explosion. Während er sich mit heftigen Zuckungen dem Höhepunkt unterwarf, begann sein Schädel zu schrumpfen, das Gehirn wurde mit eisernen Klammern zusammengepreßt; er schlug sich mit einer Hand vor die Stirn, und mit der anderen erstickte er den rauhen Schrei, der sich seiner Kehle entringen wollte. Sie könnten es hören, dachte er, und die Scham stieg in ihm hoch, als er sich vorstellte, wie sein Vater und seine Mutter ins Haus gestürmt kamen, um zu sehen, was los war. Bitte, lieber Gott, mach, daß sie es nicht hören. Das Knistern des niedergebrannten Feuers wurde vom Lachen Lorelles durchbrochen. Robby wand sich auf dem Fußboden, bis er sich völlig ausgeleert glaubte, dann wurden seine Bewegungen langsamer; er streckte die Hand aus, um sie zu berühren, ihre Arme zu streicheln, ihr Haar, ihr Gesicht; sein Körper entspannte sich, und er seufzte leise. Sie wälzte sich lächelnd auf ihn. »Nein«, flüsterte sie, »du darfst jetzt nicht aufhören. Der beste Teil kommt ja noch.« Er öffnete die Augen und brauchte einen Moment, bis er die Stimme wiedergefunden hatte, dann krächzte er: »Was?« »Der beste Teil«, hauchte Lorelle und preßte ihre Brüste gegen seinen Oberkörper. »Möchtest du nicht in mir sein? 69
Möchtest du mich nicht ficken? Du hast es doch noch nie gemacht.« Robby runzelte zaghaft die Stirn. »Doch, es ist schon okay. Es gefällt mir, daß du es noch nie gemacht hast. Ich will dein erstes Mal sein.« »Aber ich … Robby brach mitten im Satz ab. Ich kann nicht, hatte er sagen wollen, doch Lorelle hatte bereits begonnen, sich auf ihm hin und her zu bewegen; er spürte das Kratzen ihres Schamhaars, spürte, wie Feuchtigkeit sein steifes Glied berührte, in dem noch immer das Blut pulsierte. Lorelle legte seine beiden Hände auf ihre Brüste, dann beugte sie sich vor und preßte sie direkt über seinem Gesicht gegeneinander. Er küßte sie, nahm die steifen Nippel in den Mund und ließ seine Zunge darübergleiten, sein Atem bahnte sich einen Weg durch die Nase, während er an ihnen leckte, sog, knabberte bis sie sie ihm entzog und … … ihren Mund auf seinen preßte, ihm die Zunge zwischen die Lippen stieß und zu stöhnen anfing. Er legte seine Arme um sie und hielt sie fest, klammerte sich an ihren Rücken, während sie seinen Schwanz in die Hand nahm und in sich hineingleiten ließ. Robby keuchte, riß die Augen weit auf. Lorelles langes Haar fiel auf ihn herunter, kitzelte seine Brust und sein Gesicht, und durch diesen Vorhang sah er, wie durch einen Nebel, die Plastik hinter ihr. Lilith beugte sich zu ihnen herüber, zog Adams Glied an ihren Mund heran, aber gleichzeitig schien sie Robby und Lorelle zu beobachten, und dabei lächelte sie sanft, als wollte sie ihre Zustimmung ausdrücken. Sodom und Gomorrha saßen auf dem Kaminsims, zu beiden Seiten des Feuers, und schauten ihnen schweigend zu. Robby stöhnte, als Lorelles Vagina sich wie eine Faust schloß, sein Glied zusammenquetschte, daß es beinahe schmerzte, um es dann so weit wieder zu entlassen, daß es ein 70
Stückchen heraus und wieder hineingleiten konnte, bevor sie sich wieder schloß, und dieser Kreislauf ging weiter und weiter, bis … … Robby wieder diesen Sog verspürte, dieses Gefühl, ausgesogen zu werden, während er unter ihrem Körper zu zucken begann und seinen Penis nach oben stieß, so hart er konnte, immer wieder, bis … … der Orgasmus über ihn fiel wie eine Decke aus dünn gewalztem Blei und … … er das Bewußtsein verlor … Als er ein paar Minuten später erwachte, benommen und ohne Orientierung, hatte Lorelle bereits wieder von vorne angefangen …
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5 BESUCH AM NACHMITTAG Karen hatte gerade die Schwesterntracht ausgezogen, als es an der Tür klingelte. Normalerweise war sie verärgert, wenn sie jemand so kurz nach dem Heimkommen vom Dienst störte, aber es war ein Freitag, und Freitags war sie immer besser gelaunt als an anderen Wochentagen, denn sie wußte, daß sie jetzt zwei Tage lang nicht zu arbeiten brauchte. Es war Lorelle Dupree. »Ich hoffe, ich störe nicht.« »Ganz und gar nicht«, antwortete Karen. »Ich komme gerade von der Arbeit. Kommen Sie doch herein.« »Danke. Wo arbeiten Sie?« »Redding Medical Center. Ich bin Krankenschwester.« Karen führte sie in die Küche, und Lorelle nahm am Frühstückstisch Platz. »Ich mache gerade Kaffee. Möchten Sie einen?« »Gerne.« Als Karen die Kaffeemaschine füllte, dachte sie daran, wie Lorelle Dupree ihr in den beiden letzten Nächten den Schlaf geraubt hatte und fragte sich, was sie an dieser Frau so beunruhigt haben mochte. Es konnten die verschiedensten Gründe gewesen sein – die Tatsache, daß sie sehr gut aussah, daß sie eine Fremde war, oder daß es, trotz Georges Beschwichtigungen, doch ziemlich merkwürdig war (zumindest dachte Karen noch immer so), daß sie Robby gebeten hatte, ihr mit den Möbeln zu helfen … und ihn zu einem intimen kleinen Abendessen für zwei eingeladen hatte. Vielleicht lag es auch bloß an der Tatsache, daß Lorelle Dupree ihre neue Nachbarin war. Natürlich war Karen einer neuen, ihr nicht vertrauten Person gegenüber vorsichtig, vielleicht umso mehr, weil sie ja wußte, daß diese Person von nun an 72
gegenüber wohnen würde. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, er kümmerte sie jetzt nicht. Im Gegenteil, es war sogar ganz angenehm, für eine Weile Besuch von einer anderen Frau zu haben; abgesehen von Linda hatte Karen keine Freundinnen, und Linda war ebenso in die Familie eingespannt wie Karen. Als der Kaffee langsam zu brodeln anfing, zog sie sich einen Stuhl an den Tisch. Die Frau sah jetzt viel besser aus als am Abend ihrer Ankunft, viel gesünder, sie hatte sogar etwas Farbe im Gesicht. Karen fragte: »Und Sie? Was haben Sie für eine Arbeit?« »Ich bin Künstlerin.« »Tatsächlich? Künstlerin? Und was hat Sie nach Redding verschlagen?« Lorelle lachte. »Das fragt mich jeder. Ich wußte gar nicht, daß Redding so weit hinterm Mond liegt.« »Oh, das, tut es nicht. Es scheint nur manchmal so. Es ist wirklich ein schöner Platz zum Leben, wenn es einem nichts ausmacht, ein wenig Langeweile zu genießen.« Sie unterhielten sich eine Zeitlang über Redding, und Karen erzählte die üblichen Provinzstadtwitze, um dann den ebenso üblichen Rückzieher zu machen und zu sagen, daß alles gar nicht so schlimm sei. Sie erzählte Lorelle von lokalen Sehenswürdigkeiten wie dem Damm und den Shasta-Höhlen. Während sie so miteinander redeten und lachten, fühlte sich Karen immer besser in der Gesellschaft Lorelles, bis sie ihr anfängliches Unbehagen ganz vergessen hatte. »Also, Lorelle, was machen Sie? Malen?« »Ich male und modelliere. Aber meinen Lebensunterhalt verdiene ich mit Schmuck.« »Sie machen Schmuck? Oh, ich würde gerne ein paar von Ihren Arbeiten sehen.« Lorelle streckte ihre Hände aus, und Karen war beeindruckt, 73
als sie sich die Ringe aus der Nähe anschaute. »Sie sind wunderschön«, sagte sie leise. »Und Sie machen so etwas? Ich habe in einem Laden noch nie so schöne Sachen gesehen. Sie nahm Lorelles Hand in ihre und berührte der Reihe nach jeden einzelnen Ring. »Gefallen Sie Ihnen?« »Sie sind märchenhaft.« »Wissen Sie was, Sie stellen jetzt ganz einfach die Kaffeemaschine ab und kommen mit zu mir. Ich war gerade dabei, meine Arbeiten auszupacken, und ich möchte wetten, wir finden etwas, das Ihnen gefällt.« »Oh, Sie sollen doch nicht … « »Nein, wirklich. Deshalb bin ich doch rübergekommen. Ich möchte meine Nachbarin kennenlernen, und ich wollte sie zu einem Becher Glühwein einladen, damit wir uns miteinander bekanntmachen können.« »Mmmh, hört sich verlockend an. Aber wirklich, mein Mann kommt in ein paar Stunden nach Hause, und ich habe noch nicht einmal mit dem Abendessen angefangen.« »Lassen Sie sich eine Pizza kommen. Oder, noch besser … «, Lorelle erhob sich und zwinkerte Karen verschwörerisch zu, » … lassen Sie ihn kochen. Vergessen Sie nicht, daß Sie auch berufstätig sind.« Karen ging lachend zu ihrer Kaffeemaschine und schaltete sie aus. »Wir werden uns gut verstehen, Sie und ich«, sagte sie und schnappte sich auf dem Weg zur Haustür ihren Mantel. »Mir gefällt Ihre Art zu denken.« Robby saß über sein Pult gebeugt und starrte auf den Test in Englischer Literatur, aber er sah die Buchstaben nicht und hörte weder die gelegentlichen Seufzer der anderen Schüler, die über den Fragen schwitzten, noch das rascheln des Papiers und das Tippen der Bleistifte, von dem die Stille unterbrochen wurde. Statt dessen ging er im Geiste immer wieder die 74
Ereignisse des vergangenen Abends durch … Er konnte sich nur schwach daran erinnern, wie er in Lorelles Armen erwacht war, vor dem Kamin. Schwach und hilflos wie ein neugeborenes Kind hatte er sich gefühlt. Sie lächelte, streichelte ihm übers Gesicht und sagte zu ihm, er müsse sich jetzt anziehen und nach Hause gehen. Aber bevor er ging, bekam er noch ein Geschenk von ihr: eine silberne Halskette mit einem Wolfskopf als Anhänger, in dem zwei winzige Rubine als Augen funkelten. An der Tür gab sie ihm noch einen Kuß – einen langen, hungrigen Kuß, bei dem sie seine Zunge so heftig in ihren Mund sog, daß es beinahe schmerzte –, und dann stolperte er über die Straße davon, ohne jedes Zeitgefühl, aber er hoffte, daß es noch nicht zu spät war. Leise schloß er die Haustür, und als er im Wohnzimmer den Fernseher hörte, schlich er sich in sein Zimmer und ging gleich ins Bett. Das Aufstehen am nächsten Morgen war eine Plage, und seine Mutter wollte ihn zu Hause lassen, weil er so krank und müde aussah. Aber er wollte den Test in Literatur nicht versäumen, also versicherte er ihr, daß alles in Ordnung sei, duschte, zog sich an und erreichte rechtzeitig den Bus. Aber er sah tatsächlich krank aus: Bleich und erschöpft, mit grauen Ringen unter den Augen. Brust, Schultern und Hals waren mit Stellen übersät, an denen Lorelle ihn gebissen hatte, und die Rubine im Kopf des knurrenden Wolfes funkelten vor der blassen, aschfarbenen Haut in einem noch tieferen Rot als am Abend zuvor. Während er blind auf den fotokopierten Text starrte, fragte er sich, wie es wohl dazu gekommen war, womit er sie angezogen haben mochte, wo er doch so eindeutig unter ihrem Niveau lag. Sie war – wie alt? Dreißig? Fünfunddreißig? Es war schwer zu sagen – und er war nur ein schüchterner Teenager, der weder trinken noch autofahren noch wählen durfte und dessen Erfahrung mit Frauen nicht über das Erlebnis mit Janine Flügel 75
hinausreichte, bei der er an einer Brustwarze nuckeln und zwei Finger unters Höschen schieben durfte, während sie ihm durch die Unterhosen einen runterholte, vor ein paar Wochen hinter der Turnhalle, während des Herbsttanzes. Er verstand es nicht, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr schien ihm, daß es gar nicht so wichtig war, es zu verstehen. » … bby?Robby?« Er kniff die Augen zusammen, als er sich umschaute, und rollte den Kopf des silbernen Wolfs zwischen den Fingern. Zu seiner Überraschung mußte er erkennen, daß alle anderen die Bücher zuklappten, von ihren Pulten aufstanden und über den Test fluchten. Miss Weiss beugte sich über ihren Schreibtisch. »Alles in Ordnung, Robby?« fragte sie. »Was? Ja, ja. Alles in Ordnung. Hat … es schon geklingelt?« »Ja. Und du bist noch nicht fertig, stimmt’s?« »Nun, äh … « Er schaute auf seinen Test. Er war nicht nur nicht fertig, er hatte noch nicht einmal richtig angefangen; die erste Frage war halb beantwortet, und der Rest des Papieres war schneeweiß, einmal abgesehen von dem Gekritzel am Rand. Das Gekritzel … Robby schlug die Hand auf eine der Zeichnungen, aber er wußte, es war zu spät. Miss Weiss hatte schon einen Blick auf seine grobe Skizze von Lorelles Plastik geworfen. Sie kam langsam auf ihn zu, und er wußte nicht genau, ob sie jetzt lächeln oder ein finsteres Gesicht machen würde. »Du siehst nicht gut aus, Robby«, sagte sie, und beugte sich dicht über ihn. Er konnte sehen, wie das Licht über die Sommersprossen auf ihrem Busen fiel, aber das brachte ihn diesmal nicht zum Erröten, nicht einmal in Verbindung mit dem Duft ihres Parfüms, denn er hatte einfach nicht die Energie, sie anziehend zu finden. »Ich glaube, ich … hab mich heute … nicht besonders gut gefühlt. Aber ich wollte den Test nicht verpassen.« »Nun, es hat dir offensichtlich nicht besonders gut getan, 76
heute in die Schule zu kommen.« Sie nahm das Blatt Papier und trat von seinem Pult zurück »Geh nach Hause und ruh dich aus.« »Ich hab noch zwei Stunden«, antwortete er. »Dafür ist nächste Woche noch Zeit. Laß dich von der Krankenschwester beurlauben. Den Test kannst du am Montag wiederholen.« In aller Eile packte er seine Sachen zusammen. »Danke, Miss Weiss.« »Und daß du mir das nächste Mal zuhause bleibst, wenn du krank bist. Okay?« Er drehte sich nicht nach ihr um, als er aus dem Klassenzimmer lief. Dylan wartete im Korridor auf ihn. »Was ist mit dir los, Mann? Du siehst aus, als wärst du vom Pferd gefallen.« »Vielleicht ‘ne Grippe«, sagte Robby, ohne die Schritte zu verlangsamen, während er zu seinem Spind ging. »Wie ist es dir mit dem Test gegangen?« Er antwortete nicht. »Bist du zurechtgekommen? Ich weiß nicht, ob ich die Frage mit dem … « »Ich hab keine Lust über den Test zu reden, okay?« Er wollte über gar nichts reden. »Das muß die Schweinegrippe sein, die du dir eingefangen hast, denn du benimmst dich den ganzen Tag schon wie’n Schweinearsch. Was ist mit dir los? Hast du deine Tage?« »Tut mir leid, Dylan. Ich fühle mich einfach nicht gut.« Eigentlich fühlte er sich nicht krank, nur erschöpft; er wollte nur nach Hause gehen und schlafen. In der Nacht davor hatte er wie im Koma geschlafen, und trotzdem fühlte er sich, als könnte kein Schlaf für ihn lang genug sein. Verschiedene Schmuckstücke aus Lorelles Kollektion lagen 77
verteilt auf einer Unterlage aus schwarzem Samt, die sie auf dem Kaffeetisch ausgebreitet hatte. Karen nahm ein Stück nach dem anderen in die Hand, um es genau zu betrachten und zwischen den einzelnen Schlucken heißen Glühweins ihrer Bewunderung Ausdruck zu geben. Eine dreiviertel Stunde lang hatten sie in Lorelles Küche beisammen gesessen, hatten geredet, gelacht, Glühwein getrunken, sich kennengelernt wie zwei Mädchen, die auf dem College das Zimmer teilen wollen. Als Lorelle im Schlafzimmer verschwunden war, um den Schmuck zu holen, hatte Karen auf dem Sofa Platz genommen. Dabei fiel ihr Blick auf die Plastik, und die Kinnlade klappte ihr herunter. Sie starrte ein paar Minuten lang fassungslos darauf, und als sie Lorelle kommen hörte, wandte sie sich davon ab und tat so, als habe sie die Skulptur noch nicht einmal bemerkt. Aber jedesmal, wenn Lorelle sich umdrehte, um eine neue Schmuckschachtel zu öffnen, warf Karen einen verstohlenen Blick darauf, und fragte sich, ob es wohl eine von Lorelles Arbeiten sei. Sie nahm keinen Anstoß daran. Nein, eigentlich nicht … Sie fand die Skulptur sogar sehr gut, und wenn sie tatsächlich von Lorelle war, dann hatte sie vorhin ganz schön untertrieben, als sie sagte: »Ach, meine Kunst ist eigentlich nicht mehr als ein Hobby, nein wirklich, es ist reiner Zufall, daß ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene.« Und doch gab es etwas an der Plastik, das Karen zurückschrecken ließ. Es war nicht der herrlich hintergründige Ausdruck auf dem Gesicht der Frau oder der gequälte Ausdruck des Mannes, und es waren auch nicht die lederartigen Flügel, die der Frau aus dem Rücken wuchsen. Es war … … der Penis. Er sah so lebensecht aus; er war schwarz wie Kohle, aber er schimmerte, als sei er feucht, als könne er jederzeit diese helle, häßliche Flüssigkeit heraussickern lassen, die Penisse im Überfluß zu enthalten schienen. Jedesmal, wenn Karen auf die Plastik schaute, wurden ihre Blicke wie magisch 78
von dem steifen männlichen Glied angezogen. Sie bewunderte gerade ein Paar silberne HalbmondOhrringe, als Lorelle sich abwandte, um die vierte Schachtel zu öffnen, und Karen warf wieder einen Blick auf die Plastik, auf den dicken Penis, der in der Faust der geflügelten Frau eingeklemmt war … »Ist es Ihnen unangenehm?« Karen riß ihren Kopf herum zu Lorelle. »Bitte?« »Meine Plastik. Ist Sie Ihnen unangenehm?« »Oh, nein. Sie ist … wunderschön. Ich habe mich gefragt, ob Sie sie gemacht haben. Ich finde sie … phantastisch.« »Ach. Nun, manche Leute nehmen Anstoß daran. Und Sie haben sie mit solch einem … angewiderten Gesicht angesehen.« »Wirklich? Das tut mir leid. Es hat nichts mit … Ich meine, ich finde sie wirklich wunderschön. Es ist nur … nun … « Sie lachte. Es war ihr peinlich, daß sie auch nur in Erwägung gezogen hatte, Lorelle zu erzählen, was ihr daran unangenehm war. Sie trank ihren Glühwein aus. Du mußt aufpassen, dachte sie. Du hast schon ein paar Gläser davon getrunken. »Ich hole Ihnen noch etwas.« Bevor sie protestieren konnte, war Lorelle mit ihrem Becher verschwunden. Sie schaute sich die Plastik noch einmal genau an. Lorelle kam mit einem frischen Becher Glühwein zurück und fragte: »Was wollten Sie noch sagen?« »Ach, nichts.« »Kommen Sie. Es ist nicht fair, Geheimnisse zu haben.« Karen lachte wieder. »Nein, es ist nichts. Wirklich. Ich glaube, ich bin’s nicht gewöhnt, so viel Wein zu trinken.« »Ist es die Frau? Ich weiß, daß sie nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht.« »Nein.« »Ihre Flügel?« 79
»Nein, wirklich, ich bin bloß … « »Der Mann?« »Nein, nein, es ist bloß … sein Penis«, flüsterte sie plötzlich und zwinkerte erschrocken über sich selbst mit den Augenlidern. Lorelle zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sein Penis?« »Mein Gott, das klingt schrecklich, nicht?« »Ganz und gar nicht. Was ist mit seinem Penis?« »Nun, er sieht so echt aus.« »Und das stört Sie?« »Eigentlich nicht. Ich meine, er ist gut gemacht, und … ich finde bloß … nun, ich weiß, es hört sich verrückt an, und wahrscheinlich denken Sie, mit mir stimmt was nicht, aber … ich finde ihn so häßlich.« Lorelle schlug sich auf den Schenkel, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich denke nicht, daß mit Ihnen was nicht stimmt, Karen. Ich kenne viele Frauen, die die Dinger häßlich finden. Und … «, sie drehte sich zu ihrer Plastik um, » … in gewisser Weise stimme ich Ihnen ja zu. Ästhetisch ist nicht viel dran an ihnen, wie?« Karen kicherte in die Handflächen und schüttelte den Kopf. »Was hält dein Mann von Ihrer Ansicht über das männliche Geschlechtsorgan?« »Er kennt sie nicht«, lachte sie. »Sie haben ihm nicht davon erzählt?« »Hätte ich es tun sollen? Ich glaube, die meisten Männer wären erschüttert. Sie kommen mir alle so … «, sie kicherte wieder, » … schrecklich verliebt in diesen Teil ihres Körpers vor, so empfindlich, was ihn betrifft.« »Ja. Wenn man in ihrer Gegenwart etwas anderes als ein Loblied darauf singt, dann schauen sie so enttäuscht, wie … wie ein Kind, das man fragt ›Was soll das denn sein?‹, wenn es einem seine neueste Buntstiftkritzelei vorführt.« »Ja, genau!« 80
Sie schütteten sich beide vor Lachen, nickten sich zu und schlugen vor Vergnügen auf die Sofakissen. Als das Gelächter langsam abebbte, sagte Lorelle: »Aber irgendwie entschädigen sie einen doch für ihre unappetitlichen körperlichen Attribute, finden Sie nicht? Die Penisse, meine ich.« Karen wand sich vor Scham, das Lachen erlosch auf ihrem Gesicht. Sie nippte an ihrem Glühwein und starrte in den Becher. »Ja, das … das tun sie wohl.« »Sie scheinen nicht überzeugt zu sein.« »Nun, ich … ja, doch, das tun sie.« Lorelle runzelte die Stirn und berührte liebevoll besorgt Karens Arm. »Stimmt etwas nicht? Haben Sie Probleme in Ihrer Ehe?« »Oh, nein, das ist es nicht. George ist ein wunderbarer Mann. Er ist ganz anders als die Männer, mit denen ich zusammen war. Sonst hätte ich ihn auch nicht geheiratet. Ich meine, wir reden nicht viel darüber, aber er … nun, ich fürchte, wir haben noch nie darüber geredet … aber er scheint mich zu verstehen.« »Was versteht er?« »Daß ich … daß ich eigentlich nicht … « Sie seufzte und rieb sich das Gesicht mit der Hand. »Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, daß mit mir tatsächlich etwas nicht stimmt. Daß ich verrückt bin oder so ähnlich. Ich würde ja zu einem Therapeuten gehen, wenn ich mir davon etwas versprechen würde. Aber ich gehöre nun mal zu den Leuten, die glauben, daß die Psychotherapie von jemandem erfunden wurde, der darin die Chance gesehen hat, ‘ne Menge Kohle zu machen, ohne wirklich etwas tun zu müssen.« Sie lachte, aber ohne jede Fröhlichkeit. »Was ist es denn, Karen?« Lorelle beugte sich zu ihr hinüber, die Augen verengt und aufrichtig besorgt. »Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht wollen, aber wenn Sie es wollen, dann höre ich Ihnen gerne zu.« Sie überlegte lange, bevor sie den Versuch machte zu 81
antworten; solche Gedanken hatte sie noch nie mit einem anderen Menschen geteilt, nicht einmal mit Lynda. Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, begann sie sehr langsam: »Ich finde sie nicht bloß unattraktiv. Penisse … meine ich. Ich finde sie … ekelhaft. Alle. Ich habe noch nie einen gesehen, den ich gerne angefaßt hätte. Nicht einmal bei George … Dabei liebe ich meinen Mann, das tue ich wirklich. Er war immer gut zu mir. Er ist verständnisvoll und tolerant, und er verlangt nicht viel von mir … kaum etwas, ehrlich …, und was er verlangt, kommt mir ganz vernünftig vor. Ich weiß, daß er Spaß am Sex hat, und … er ist ganz anders als die Männer, mit denen ich zusammen war … Er ist sehr gut als Liebhaber, gar nicht egoistisch, und ich … liebe ihn, ich liebe ihn wirklich, aber … trotzdem kann ich … nun … fällt es mir schwer, es zu … machen. Ich dachte, es würde mit der Zeit anders werden, aber es ist … wie bei all den anderen. Ein großer, runzliger, einäugiger Wurm. Und er will ihn … in mich hineinstecken. Ich lasse ihn natürlich, weil ich ihn liebe und weil ich ihn glücklich machen will. Ich will ihn nicht verlieren. Aber … ich habe kein Vergnügen daran. Auch heute noch nicht, nach all den Jahren. Es erregt mich nicht. Und ich weiß, daß ihn das stört, auch wenn er nichts sagt. Ich weiß, daß er es gern hätte, wenn Sex mir Spaß machen würde. Wie seiner ersten Frau. Aber es geht nicht. Wegen … « Karen warf einen Blick auf die Erektion aus Onyx, … dem Ding. Es hat nichts mit ihm zu tun … damit, was er für ein Mensch ist. Es ist einfach nur sein … Ding.« Sie lächelte Lorelle an, als sie hinzufügte: »Ich glaube, das ist es, was mich an Ihrer Plastik gestört hat. Sie ist sehr schön, aber … sie lachte wieder – sie hat einen Schwanz.« Lorelle lachte auch, dann nahm sie Karens Hand und drückte sie. »Mit Ihnen ist alles in Ordnung, Kleines«, flüsterte sie. »Sie brauchen keinen Therapeuten. Es ist einfach die Art und Weise, wie Sie empfinden, das ist alles. Jeder Mensch fühlt 82
anders, wenn es um bestimmte Dinge geht.« »Aber wenn ich keinen Therapeuten brauche, was brauche ich dann?« »Sie brauchen ein schönes Schmuckstück.« Sie leerte den Inhalt der Schachtel auf den Tisch. »Und wenn Sie hier keines finden, dann mache ich Ihnen eins.« Sie schlürften weiter ihren Glühwein – und füllten sich nach –,während sie die vielen Schmuckstücke inspizierten, die Lorelle aus den Schachteln holte, die sie neben dem Sofa auf dem Boden aufgestapelt hatte. Jedesmal, wenn Karen etwas besonders gut gefiel, legte sie es an die Seite, bis sie etwas entdeckte, dem sie nicht widerstehen konnte und das sie anprobieren mußte: zwei pyramidenförmige Ohrringe aus Onyx, in deren vier Seitenflächen jeweils Saphire in der Form von Augen eingelegt waren. »Gefallen sie Ihnen?« fragte Lorelle und lächelte. »Sehr!« Sie legte sie an und strich mit den Fingern darüber als sie an ihren Ohrläppchen baumelten. »Ich habe noch irgendwo eine Halskette herumliegen, die perfekt zu diesen Ohrringen paßt. Lassen Sie mich Ihnen noch etwas Glühwein einschenken, und dann gehe ich sie suchen.« Einen Augenblick später kam sie mit einem gefüllten Becher zurück, dann führte sie Karen den Flur entlang ins Schlafzimmer, wo vor der Wand noch ein paar ausgepackte Schachteln aufgestapelt waren. Sie wühlte in einer von ihnen herum, brachte eine kleinere Schachtel zum Vorschein und holte daraus eine Halskette aus Onyxwürfeln hervor – auf jedem von ihnen funkelte ein Saphir … , die untereinander durch silberne Perlen verbunden waren. Sie setzte Karen vor den Spiegel der Frisierkommode, legte ihr die Würfel auf die Brust und schloß die Kette hinter ihrem Nacken. Karen zog den Kragen ihrer karierten Bluse zurück, aber er war widerspenstig, also öffnete sie die beiden obersten Knöpfe, um die Halskette auf der nackten Haut betrachten zu können. 83
Lorelle langte Karen über die Schulter und rückte die Kette vorsichtig zurecht, dann legte sie ihr beide Hände flach auf die Brüste. Sie fühlten sich auf Karens Haut warm und glatt an. »Was meinen Sie?« fragte Lorelle und legte ihr Kinn auf Karens Schulter. »Wunderschön.« »Sie haben eine gute Haut«, sagte sie und begann damit, die Handflächen zärtlich über Karens Brust zu reiben. »Eine perfekte Haut für Halsketten, denn sie haben weder Sommersprossen noch Leberflecken, die den Blick ablenken könnten.« Karen schloß einen Moment lang die Augen und sagte sich, daß es wohl der Glühwein sein müsse, der sie so leicht im Kopf machte. Sie hatte einfach zu viel davon getrunken, das war alles. »Laß uns noch eine probieren.« Lorelle nahm ihr die Kette ab und zog eine andere aus der Schachtel, diesmal eine aus Silber mit kleinen Onyx- und Opalstückchen. Trotz der Möglichkeit, daß sie schon zuviel Wein getrunken hatte, nahm Karen noch einen kräftigen Schluck, während Lorelle ihr die zweite Halskette umlegte. Ihre Fingernägel strichen über Karens Haut, als sie das blonde Haar zärtlich um die Schultern drapierte. Karens Hand zuckte zum Knopf ihrer Bluse, um ihn zu schließen, denn sie fühlte, wie ihre Brustwarzen unter dem Stoff hart wurden, und sie fürchtete, Lorelle könnte es sehen. Lorelle stellte eine Schachtel mit Ohrgehängen auf die Kommode, nahm Karen die Onyxpyramiden ab und suchte in der Schachtel nach einem anderen Paar. »Ah«, sagte sie und hielt einen Ohrring in die Höhe, »der könnte zu der … oh, nein, das geht nicht. Davon ist nur einer da.« Sie legte ihn zur Seite und suchte weiter. Karen starrte auf das winzige, zarte Stückchen Silber auf der Kommode und versuchte, sich von der sehnsuchtsvollen 84
Spannung in ihren Brüsten abzulenken. Sie nahm den Bügel des Ohrrings zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ ihn vor ihrem Gesicht hin und her baumeln. »Hier, das ist es!« Lorelle trat hinter Karen, hängte ihr ganz vorsichtig zwei Opalanhänger an die Ohrläppchen und lächelte in den Spiegel. »Die passen perfekt dazu«, sagte sie, während sie mit den Fingerspitzen am Rand der Kette entlangfuhr, bis hinauf zu Karens Hals, wo ihre Hände eine Rast einlegten und die Finger sich ganz sanft gegen die Haut krümmten. Karen blieb die Atemluft in der Kehle stecken wie Sägemehl. »Findest du nicht auch, Karen?« »Ja, es ist … sie sind sehr … ja, ich mag sie. Sie sind sehr schön.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das winzige Stück Silber. Zunächst schienen seine Umrisse sehr verwirrend: Anmutige Kurven, die sich ganz sachte ineinander fügten … »Gefällt es dir?« fragte Lorelle. »Oh«, flüsterte Karen, als sie endlich erkannt hatte, was das für Kurven waren. »Ja, es ist wirklich … außergewöhnlich.« Zwei nackte Frauenkörper baumelten vom Bügel, die Beine waren ineinander verschlungen, während sie ihre Scham fest aufeinander preßten. Als Karen das Stück näher vor die Augen hielt, taten sich erstaunliche Einzelheiten auf: Steife Brustwarzen, blumige Schamlippen, Finger, Zehen und Gesichtszüge. »Und davon gibt es nur einen?« fragte sie. »Mmh-hmm. Ich hab’s für mich selbst gemacht, nachdem ich mir die Brustwarze durchstechen ließ.« »Die Brustwarze?« »In dem Stück steckt ‘ne Menge Arbeit. So viele Einzelheiten auf so kleinem Raum, das ist nicht leicht.« »Aber … warum haben Sie sich die Brustwarze durchstechen lassen?« Karen schaute Lorelles Spiegelbild 85
fragend an. »Ich liebe Schmuck. Und ich bin immer auf der Suche nach neuen Stellen, an denen man welchen tragen kann.« Lorelle stellte sich vor Karen hin, nahm das silberne Schmuckstück und knöpfte ihr Kleid auf. Es fiel vorne herunter wie ein Badeanzug, und darunter war sie nackt. Karens Gesicht brannte. Sie biß die Zähne aufeinander, wütend auf sich selbst. Warum? dachte sie. Ich habe schon tausend nackte Frauen gesehen. Warum hab ich jetzt solche Gefühle, um Himmels willen? Lorelle legte eine Hand unter die linke Brust, zog die Brustwarze nach oben – die ohnehin schon sehr steif war – und schob den Bügel des Ohrgehänges durch ein winziges Loch in dem harten, bräunlich-rosafarbenen Fleisch. Karen berührte vorsichtig ihre eigene linke Brust, es war wohl mehr eine schützende Geste. Ihre Brustwarzen schrumpften unter der Bluse zu kleinen, harten Kieselsteinen. »Hat es wehgetan?« flüsterte sie. »Nein, eigentlich nicht. Wenn es richtig gemacht wird, tut es überhaupt nicht weh.« Karen riß die Augen weit auf, als Lorelles Hand unter ihre Bluse schlüpfte, ihre Brust ganz sanft berührte und … … dann zu ihr sagte: »Es ist nicht vielmehr als ein Zwicken.« Sie klemmte Karens Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte einen Wimpernschlag lang fest zu, und … … Karen keuchte laut, als das Zwicken die feinen, glühenden Ranken eines heißen Schmerzes durch ihre Brust, hinauf in die Kehle und hinunter in den Unterleib schickte. Ihr Blick klammerte sich an die beiden winzigen silbernen Frauen, die von Lorelles Brustwarze baumelten und auf denen helle Blitze aufflammten, wenn das Licht der Deckenlampe sie traf. »Siehst du?« flüsterte Lorelle. »Ist gar nicht so schlimm.« Karen wollte etwas sagen, sie wollte sagen, daß sie jetzt nach 86
Hause gehen müsse, daß sie wahrscheinlich nicht wiederkommen werde, schließlich habe sie einen Ehemann und zwei Kinder, aber … … Lorelle zwickte sie noch einmal, ein wenig fester jetzt, und Karens Rücken versteifte sich gegen den Sessel, als sie stöhnte: »Oohh-oh.« Lorelle kniete neben ihrem Sessel: »Das gefällt dir, stimmt’s?« »B-bitte, ich kann … ich kann wirklich … « Beim dritten Mal ließ Lorelle nicht wieder los, statt dessen rollte sie Karens Nippel hin und her. Karen wurde einen Moment lang schwach, ließ sich in den Sessel sinken, umklammerte seine Armlehnen und stöhnte: »M-mm-mm-mmmm … « Lorelle riß ihre Bluse auf und berührte ihre andere Brust. Sie drückte sie sanft, spielte an der Warze herum, bis … … Karen dachte: Was tu ich hier eigentlich? und die Füße fest auf den Boden setzte. Der Sessel rutschte nach hinten, Karen zog ihre Bluse zusammen, fummelte sinnlos an den Knöpfen herum und stammelte: »Hören Sie, ich k-kann … ich bin doch nicht … wirklich, ich kann nicht … « »Doch, du kannst«, flüsterte Lorelle, die vor ihr stand und sich wieder über sie beugte, so nah, daß Karen unmöglich aufstehen konnte. »Natürlich kannst du. Es ist nichts Schlimmes dabei. Sieh mal, es ist doch ganz einfach … « Sie nahm Karens zitternde Hand und legte sie an ihre Brust, gleich unterhalb der durchbohrten Brustwarze mit dem silbern funkelnden Liebespaar. »Siehst du? Das ist alles. Nichts weiter … « … schob die Hand langsam über ihren leicht gerundeten Bauch … » … nichts als weiche Haut, das ist alles, weiche, glatte Haut … und das hier … « … dann schob sie Karens Finger zwischen ihre leicht 87
geöffneten Schenkel, hinein in den Büschel aus Haaren, drückte die Hand fest auf ihren Hügel … » … die Lippen … kannst du sie fühlen? Weiche, warme Lippen. Nur du und ich, das ist alles. Nichts anderes, niemand sonst. Keine Penisse, keine steifen, tropfenden Erektionen, keine Hoden, die in verschrumpelten Säcken baumeln … nur dies hier.« »Oh, mein Gott«, stöhnte Karen. Sie fühlte, wie erregt sie war und schloß die Augen, als Lorelle sich zwischen ihre Beine kniete, ihr die Bluse bis unten aufknöpfte, ihre Brüste küßte, ableckte und so … wunderbar an ihren Nippeln lutschte. Ihre Zähne übten beim Knabbern genau den richtigen Druck aus – nicht zu fest, aber auch nicht zu sanft –, und dann nahm sie Karens Hand und zog sie aus dem Sessel hoch. Auf ihrem Weg quer durch das Schlafzimmer rutschte Lorelles Kleid auf den Boden. Karen streifte das Hemd ab und setzte sich auf das Bett. Lorelle zog ihr die Jeans aus. In dem Moment, als Lorelles Zunge ihre Klitoris berührte, begann Karen sich auf dem Bett zu krümmen und zu winden; sie krallte ihre Hände in die dunkelblaue Decke, atmete in abgehackten Stößen, und als in ihr der Orgasmus explodierte – heftiger als jeder andere zuvor, beinahe verheerend in seiner Gewalt – stieß Karen einen langgezogenen Schrei aus und … … Jens Bücher klatschten mit einem deutlich vernehmbaren Knall auf den Asphalt des Gehsteigs. Sie blieb wie erstarrt stehen, während die anderen Schüler, die gerade aus dem Bus gestiegen waren, um sie herum und weiter die Deerfield Avenue entlang gingen. Nur Tara und Dana Crane blieben neben ihr stehen, und Tara fragte: »Was ist los, Jen?« »Habt ihr das gehört?« Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, und den eisigen Luftzug spürte sie gar nicht mehr. Eine Sekunde bevor sie den Schrei gehört hatte, waren sie aus dem 88
Bus gestiegen, sie hatte den Schrei über dem Dröhnen des Motors nur ganz schwach vernommen, aber, um alles in der Welt, es hatte geklungen wie ihre Mutter. »Was sollen wir gehört haben?« fragte Dana und rümpfte die Nase wegen der Kälte. »Ich dachte, ich hätte meine Mutter schreien hören.« Dana kicherte. »Du hast gestern abend den Alptraum in der Elm Street in der Glotze gesehen, stimmt’s?« »Nein, wirklich, ich dachte, ich hätte sie schreien hören.« »Ich hab nichts gehört.« Tara schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Vielleicht war’s ‘ne Katze.« Jen wandte das Gesicht nach oben und lauschte angestrengt, aber sie hörte nichts mehr. »Du gehst besser nach Hause, Jen«, sagte Dana. »Vielleicht hat das Monster sie erwischt!« Er formte eine Hand zu einer Kralle, riß die Augen weit auf und schielte auf diese häßliche Weise, von der er wußte, daß sie sich davor fürchtete. »Hör auf«, raunzte Tara ihn an, aber Jen hatte bereits ihre Bücher aufgeklaubt und trottete davon. Dann drehte sie sich noch einmal um, kam ein paar Schritte zurück und brüllte: »Manchmal bist du ein richtiges Arschloch, Dana, weißt du das eigentlich?« Schnell lief sie nach Hause. Das Auto ihrer Mutter stand vor der Garage, und die Tür war nicht verschlossen, also mußte Mom da sein. Jen ging langsam hinein, schloß die Tür und rief nach ihrer Mutter, aber sie erhielt keine Antwort. Im Wohnzimmer war niemand, ebenso in der Küche. Die Autoschlüssel ihrer Mutter lagen auf dem Tresen, wo sie sie immer hinlegte, wenn sie von der Arbeit kam. Während Monroe durch die Küche schlich und mißtrauisch nach rechts und links äugte, rief Jen noch einmal, aber sie bekam keine Antwort. Besorgt ging sie in ihr Zimmer und warf die Bücher auf das 89
Bett. Irgend etwas bewegte sich. Aber wo? Sie lauschte an der Zimmertür. Es kam aus dem Nebenzimmer. Robbys Zimmer. So früh ist er doch nie zuhause, dachte sie. Sie stand im Flur, vor Robbys Zimmertür, und rief leise: »Mom?« Immer noch schwache Geräusche. »Mom?« rief sie ein bißchen lauter. Und dann mit lauter Stimme, die vor Angst erfüllt war: »Mutter?« Eine verärgerte Stimme … Das Quietschen von Bettfedern … Jen preßte den Rücken gegen die Flurwand und hielt den Atem an. »Was ist?« bellte Robby, als er die Tür aufriß. Sie starrte ihn an, während sie erleichtert durchatmete. »Was machst du denn zuhause?« platzte sie heraus. »Ich war krank.« »Du siehst auch krank aus.« Ja, er sah krank aus; er war blaß, die Schultern hingen herunter und die Rippen schienen noch etwas weiter hervorzustehen als sonst. »Wo ist Mom?« fragte sie. »Keine Ahnung. Sie war nicht hier, als ich nach Hause kam.« »Ich dachte, ich hätte sie schreien gehört.« »Was? Du bist bekifft.« »Bin ich nicht! Ich hab sie gehört! Es hat jedenfalls so geklungen.« »Wahrscheinlich ist sie bei den Cranes. Und jetzt halt die Klappe.« Er schlug die Tür zu, und Jen hörte die Federn quietschen, als er sich wieder auf sein Bett warf. Sie war noch immer nicht beruhigt, ging zum Telefon in der Küche und rief die Cranes an. Ihre Mutter war nicht dort. Auch 90
bei den LaBiancos war sie nicht, wo sie manchmal hinging, um bei Mrs. LaBianco neue Naturkostprodukte zu bestellen. Mrs. LaBianco handelte damit. Jen stellte den Fernseher im Wohnzimmer an und versuchte, sich mit dem Musiksender MTV abzulenken, wie sie es jeden Nachmittag tat, aber heute wollte ihr das nicht gelingen. Vielleicht hatte sie ihre Mutter gar nicht schreien hören, aber sie wurde das Gefühl nicht los, daß etwas nicht stimmte, daß heute nachmittag etwas anders war als sonst. Sie saß im Schneidersitz vorm Fernseher auf dem Fußboden und kaute an ihren Fingernägeln, als die Eingangstür sich öffnete. Sie hörte das vertraute Seufzen ihrer Mutter und rannte hinaus, um sie zu begrüßen. In der Küche hatte Jen sie eingeholt und wollte sie gleich fragen, wo sie gewesen sei, aber statt dessen schaute sie ihr nur dabei zu, wie sie sich ein Glas Orangensaft einschenkte. Mom sah nicht gut aus. Ihr schönes blondes Haar war stumpf und zerzaust, und ihr Gesicht war schmal und traurig und beinahe so blaß wie das Robbys. »Mommy?« fragte Jen und war über sich selbst erstaunt, denn normalerweise nannte sie ihre Mutter nicht so; Mommy, das klang so … kindisch. »Was ist, Liebes?« Sie schaute Jen nicht an, sondern spülte das Glas unterm Wasserhahn aus und stellte den Orangensaft zurück in den Kühlschrank. »Wo bist du gewesen?« »Was? Oh, ich … hab bloß Miss Dupree besucht. Unsere neue Nachbarin. Sie hat mich eingeladen, mir ihren Schmuck anzuschauen. Sie ist Künstlerin.« Die Erklärung kam Jen nicht besonders plausibel vor, und sie legte besorgt die Stirn in Falten. »Ich … ich dachte, ich … nun, als ich aus dem Bus stieg, dachte ich, ich hätte dich schreien gehört.« Der Kopf ihrer Mutter fuhr herum zu Jen, und einen 91
Augenblick lang hatte es den Anschein, als wollte sie wütend werden. Dann zwang sie sich jedoch zu einem Lächeln und sagte: »Nein, mir geht’s gut, Kleines. Wirklich. Da war nichts. Vielleicht eine Katze.« »Das hat Tara auch gesagt.« »Nun, dann wird’s wohl so gewesen sein.« Sie ging zu Jen hinüber und nahm sie in die Arme. Jen fühlte, daß die Hände ihrer Mutter zitterten, als sie sich auf ihren Rücken legten, und ihr Atem schien hastiger zu gehen als gewöhnlich. »Es geht mir gut«, sagte Karen. »Ganz bestimmt.« »Du siehst … krank aus.« Dir Lächeln fiel zusammen. »Wirklich?« »Mm-hmm. Genau wie Robby. Er ist heute früher aus der Schule zurückgekommen.« »Ich weiß, er hätte gar nicht gehen dürfen«, murmelte Karen abwesend und strich sich über die Stirn. »Wahrscheinlich die Grippe. Sie geht mal wieder um. Du solltest Vitamin C nehmen, Kleines. Schau ein bißchen fern, okay? Ich werde … ein heißes Bad nehmen.« Jen schaute ihrer Mutter nach, die langsam aus der Küche ging und im Flur verschwand. Sie schüttelte den Kopf und murmelte dabei etwas vor sich hin. Die Badezimmertür klappte zu, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und dann lief das Wasser in die Wanne. Jen ging zurück ins Wohnzimmer und legte sich wieder vor den Fernseher, aber sie schenkte den Rockvideos wenig Beachtung. Etwas ist anders als sonst, dachte sie und kaute auf dem nächsten Fingernagel herum – kaute ihn herunter bis zum rosafarbenen, blutigen Nagelbett. Etwas ist anders als sonst.
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6 EIN FREMDER George war erschöpft, als er an diesem Abend den Wagen in die Garage fuhr. Der Sender war vor kurzem an einen neuen Besitzer übergegangen, und auch wenn er sehr erleichtert war, daß er seinen eigenen Job behalten durfte, war ihm doch die unangenehme Aufgabe zugefallen, ein paar der Nachwuchsleute auf Geheiß seines neuen Chefs zu feuern. Er hatte die drei Discjockeys heute nachmittag über ihre Kündigung informiert, ebenso wie den Verkaufsleiter, und es war ihm nicht leichtgefallen. Sie waren das beste Team, in dem er jemals gearbeitet hatte, kein einziger fauler Apfel im ganzen Korb, und es war schon schlimm genug, daß diese Mannschaft jetzt auseinanderfiel. Warum mußte auch noch ausgerechnet er der Unglücksbote sein? Er fühlte sich ausgelaugt und müde und hatte nichts anderes mehr im Sinn, als sich mit einem Bier vor den Fernseher zu setzen – oder vielleicht auch mit einem Wodka-Orange oder gar einem Scotch pur – und sich einlullen zu lassen. In dem Moment, als er die Waschküche betrat und im Haus kein Geräusch hörte, wußte er, daß etwas anders war. Selbst die Waschmaschine und der Trockner waren nicht zu hören und in denen bumperte eigentlich jeden Abend eine frische Ladung herum; schmutzige Wäsche war etwas, das Karen überhaupt nicht leiden konnte, und sie hatte beinahe immer etwas zu waschen. Und selbst wenn einmal nichts in der Waschmaschine war, dann klapperte normalerweise jemand in der Küche herum oder telefonierte oder hatte den Fernseher auf volle Lautstärke gedreht. Heute abend war alles still. Er schlüpfte aus seiner Jacke, während er durch die Küche ging, und hängte sie an die Garderobe im Flur. Im 93
Wohnzimmer konnte er den Fernseher hören, der Ton war ungewöhnlich leise gestellt, und als er eintrat, fand er Jen ausgestreckt auf dem Teppich, eingeschlafen vor der Wiederholung einer Folge der Cosby-Serie. Er kniete sich neben sie und weckte sie vorsichtig auf. Sie lächelte ihn an. »Hi, Dad.« »Hallo, Kleines. Wo sind die anderen?« »Krank.« »Was?« »Mom und Robby. Ich glaube, sie haben die Grippe. Sie liegen beide im Bett und schlafen.« »Hast du schon gegessen?« »Ich hab mir’n Sandwich gemacht. Wie war dein Tag?« »Nicht so besonders. Zur Zeit herrscht ‘ne ganz schöne Spannung im Betrieb. Und wie war’s bei dir?« »Ach … «, sie zuckte mit den Schultern, » … eigentlich wie immer.« »Hast du Hausaufgaben bekommen?« »Ich bekomme immer Hausaufgaben.« »Also, wenn du Hilfe brauchst, laß es mich wissen.« Er begann Feuer im Kamin zu machen. »Willst du wirklich nichts mehr essen, Jen?« »Nein. Ich hab keinen Hunger.« Es war nicht Karens Art, einfach zu Bett zu gehen, ohne den Kindern Essen zu machen. Sie mußte sich ziemlich schlecht gefühlt haben. Als das Feuer brannte, ging George hinauf ins Schlafzimmer, um nach Karen zu sehen. Sie lag zusammengerollt im Bett. Das Licht im Wandschrank brannte, aber die Tür stand nur einen Spaltbreit offen. Der Schein fiel auf ihr geschwollenes Gesicht und ließ ihre Haut bleich erscheinen. Nein, sie sah wirklich nicht gut aus. George schaltete das licht aus, zog die Tür leise hinter sich zu, und ging hinüber in Robbys Zimmer. 94
»Hey, Dad«, krächzte Robby. Er war gerade aufgewacht und saß auf der Bettkante, das Gesicht in die Hände gelegt. »Wie fühlst du dich?« George setzte sich neben ihn und legte seinen Arm um den Jungen. »Besser. Glaube ich.« »Du siehst besser aus. Heute morgen warst du ganz schön mitgenommen. Meinst du, es ist die Grippe?« »Wahrscheinlich.« »Oder hast du dich gestern abend bei Miss Dupree übernommen?« Er lachte und drückte Robbys Schulter. Einen Augenblick lang erschien ein Ausdruck auf Robbys Gesicht, der sogleich wieder verschwand: Der Ausdruck eines Entsetzens, das so stark war, daß George, auch wenn der Eindruck noch so kurz war, seinen Arm von Robbys Rücken fallen ließ. Robbys Schultern zuckten, als hätte er zu weinen angefangen, aber es war nur ein Lachen, ein kaltes Lachen zuerst, freudlos, aber dann gesellte sich der Spaß hinzu, den George eigentlich hatte machen wollen. Doch auch dieser Moment war gleich wieder verflogen. »Wir haben Sachen hin und her geschoben, weißt du, Möbel und so’n Zeug«, sagte Robby. »Und dann hat sie Abendessen gemacht. Aber ich hatte keinen Hunger. Das war wahrscheinlich schon die Grippe.« »Ja. Wahrscheinlich.« George beobachtete ihn, wartete auf eine Rückkehr des verschreckten Ausdrucks … … Schuldbewußtsein, dachte er, das war es … … aber er kam nicht zurück. »Muß wohl tatsächlich die Grippe gewesen sein«, sagte er, »denn deine Mutter hat’s auch erwischt. Ich glaube, sie hat den ganzen Nachmittag im Bett gelegen.« Robby rieb sich den Bauch und sagte: »Ich hab Hunger. Gibt’s was zum Abendessen?« »Ich wollte eigentlich zu Carls rüber und mir ‘nen Hamburger holen. Soll ich dir was mitbringen?« 95
Robby zuckte die Schultern. »Auch ‘nen Hamburger. Und ‘n paar Pommes.« »Bist du sicher, daß du das schon verträgst? Du siehst noch immer nicht besonders aus.« »Doch. Ich glaub schon.« »Okay, einen Hamburger mit Pommes. Ich bin bald zurück.« Auf dem Weg fragte er Jen, ob sie nicht Lust hätte mitzukommen, aber sie interessierte sich mehr für den langhaarigen, in Leder gekleideten, mit Lippenstift geschminkten Mann, der auf der Mattscheibe gerade seinen Unterleib in die Kamera reckte … Robby fühlte sich, als sei er aus einem langen, düsteren Traum erwacht, einem lebhaften und doch ganz sinnlosen Traum. Er mußte erst einmal eine Weile auf der Bettkante sitzenbleiben, bevor er die Orientierung wiedergefunden hatte und wußte, welcher Monat war, welcher Tag, woher die stumpfen Schmerzen kamen, die seinen Körper peinigten, und, was am wichtigsten war, bevor er die nebelhaften Ereignisse des Vorabends wieder vor Augen hatte. Draußen vor seinem Fenster war es dunkel, und das machte die Orientierung nicht gerade leichter, aber bald fiel ihm alles wieder ein. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, durchlebte den vorigen Abend noch einmal im Geiste. Er verstand es immer noch nicht, aber die Hauptsache war, daß er es hinter sich und überstanden hatte; es würde ihm nicht noch einmal passieren. Wenn es solch eine überwältige Wirkung auf ihn hatte, konnte er es sich nicht leisten, es noch einmal zu tun. Machte es ihn jedesmal so fertig, mit Lorelle Dupree zusammen zu sein, dann zog er es doch vor, mit Janine Flügel hinter der Turnhalle zu verschwinden und ein bißchen an ihr herumzufummeln. Wenn es auch ziemlich unbefriedigend war, so würde wenigstens die Schule nicht so sehr darunter leiden, und er würde sich nicht so … so schuldig fühlen. So schmutzig. 96
Er zog seine Unterwäsche und den Bademantel an und ging ins Wohnzimmer, um ein bißchen fernzusehen. Jen schaute gerade einem Video von Whitesnake zu. »Schalt um auf den zweiten Kanal«, sagte er und ließ sich auf das Sofa plumpsen. »Warum?« »Dort läuft Cheers.« »Na und?« »Nichts na und. Das will ich sehen.« »Ich wollte gerade auf Wer ist der Boß umschalten.« »Wer ist der Boß ist Scheiße. Schalt endlich auf den Zweiten.« »Ach, komm, Robby, immer willst du Cheers sehen. Du schaust dir jede einzelne Folge zweimal an, und ich komme nie dazu, Wer ist der Boß zu sehen.« »Also gut«, brummte er, »dann laß dir das Hirn aufweichen. Mal sehen, ob ich’s aushalte.« Jen schaltete um, sagte »Danke« und gab ihm einen Kuß auf die Wange, bevor sie aus dem Wohnzimmer lief. Er hatte den Kopf weggedreht. Als Wer ist der Boß anfing, kam sie mit einer Pepsi zurück. Während des Vorspanns sagte sie zu Robby, ohne ihn dabei anzuschauen: »Mom ist krank, weißt du?« »Ja, ich weiß.« »Dasselbe wie du.« »Ich weiß.« Immer noch auf den Bildschirm starrend, fuhr sie fort: »Sie ist heute bei Miss Dupree gewesen. Zu Besuch.« »Hör mal, du wolltest dir unbedingt diese dämliche Serie angucken, also guck sie dir auch an. Oder schalt um aufs Zweite.« Robby zog die Wolldecke hinter dem Sofa hervor und rollte sich darunter zusammen; noch immer fühlte er sich zerschlagen. Jen sagte nichts mehr … 97
… statt dessen saß sie im Schneidersitz vor dem Fernseher und schaute sich Wer ist der Boß an, während Robby immer langsamer und regelmäßiger atmete, aber heute fand sie die Sendung nicht lustig, und sie konnte auch nicht mit dem Publikum im Studio zusammen lachen. Obwohl sie den Bildschirm nicht aus den Augen ließ, gab sie kaum acht auf die Handlung, und war erstaunt, als sie plötzlich zu Ende war. Eine volle halbe Stunde war vergangen, während sie mit leerem Blick auf den Bildschirm gestarrt und versucht hatte, an gar nichts zu denken. Jen hatte das Auto ihres Vaters in die Auffahrt biegen hören und stand jetzt auf, um ihn an der Tür zu begrüßen, aber dann hörte sie draußen Stimmen. Dad unterhielt sich mit jemand, mit einer Frau. Ein paar Minuten später kam er herein, drückte ihr eine Papiertüte mit dem Aufdruck Carl’s, Jr. in die Hand, die nach Cheeseburger und Pommes roch, und sagte: »Hier, Kleines, gib das Robby. Ich bin gleich wieder da.« »Wo gehst du hin?« »Mit dem Auto von Miss Dupree stimmt etwas nicht, und es fängt an zu regnen. Ich will sehen, ob ich ihr helfen kann, bevor sie völlig durchnäßt ist. In der Tüte ist auch was für dich, falls du doch noch Hunger kriegst.« Damit eilte er zur Tür hinaus. Jen ging zurück ins Wohnzimmer und stellte die Tüte auf den Kaffeetisch. Robby war auf dem Sofa fest eingeschlafen, und sie fand, daß ein Hamburger kein ausreichender Grund war, ihn zu wecken. Sie kroch um das Sofa herum zum Wohnzimmerfenster und spähte durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen. Dad lief, gerade Miss Duprees Zufahrt hinauf. Sie stand oben und leuchtete mit einer Taschenlampe unter die Motorhaube ihres Wagens. Der Wind blies winzige Regentropfen gegen die Fensterscheibe, während Jen ihnen 98
zuschaute, eine kleine Ewigkeit lang, wie es ihr vorkam, bis Miss Dupree schließlich hinter das Lenkrad des Wagens kletterte und den Anlasser betätigte. Als Dad die Motorhaube zuschlug, stellte sie den Motor wieder ab und stieg aus, um mit ihm zu reden. Er schüttelte den Kopf, dann berührte sie aber seinen Arm und versuchte wohl ihn zu überreden, mit ins Haus zu kommen. Er überlegte kurz, zuckte mit den Schultern und folgte schließlich dem hüpfenden Lichtstrahl ihrer Taschenlampe. Das Verandalicht verlöschte und zurück blieb nur der Schein, der aus den Fenstern fiel. Jen ließ den Vorhang wieder fallen und ging hinüber zu der Tüte auf dem Kaffeetisch. Sie nahm an, daß der kleine Cheeseburger für sie gedacht war, also holte sie ihn aus der Tüte und wickelte ihn auf dem Fußboden aus. Sie biß hinein und versuchte, sich auf Cosby zu konzentrieren, aber der Hamburger schmeckte wie Pappe, die Show war albern, und … … sie fragte sich, warum jeder in der Familie so freundlich mit dieser Miss Dupree tat, die Jen noch nicht einmal kennengelernt hatte. Sie wickelte den Hamburger wieder in die Serviette, stopfte ihn in die Tüte und ging zurück zum Fenster. Von Dad war nichts zu sehen. Sie dachte an den Schrei, den sie am Nachmittag gehört hatte, nachdem sie aus dem Bus gestiegen war, und war immer noch davon überzeugt, daß es die Stimme ihrer Mutter war … … ich hab bloß Miss Dupree besucht … unsere neue Nachbarin … … und sie erinnerte sich an die plötzliche Veränderung in Moms Gesicht, als sie ihr erzählte, was sie gehört hatte … … es war nichts … vielleicht eine Katze … Jen verließ ihren Ausguck, überzeugte sich davon, daß Robby fest schlief und ging dann eilig den Flur entlang, um dasselbe bei ihrer Mutter zu tun. Sie schlüpfte in ihren Mantel und schlich sich zum vorderen Eingang hinaus. Das 99
Fliegengitter öffnete sie ganz vorsichtig, damit es nicht quietschte, und die Haustür ließ sie mit einem leisen Klicken ins Schloß fallen. Während sie den Rasen hinunter zur Straße überquerte, behielt sie Miss Duprees Eingangstür aufmerksam im Auge; wenn ihr Dad herauskäme, würde sie schnell wieder im Haus verschwinden. Er sollte auf keinen Fall glauben, daß sie ihm nachspionierte. Sie wußte ja selbst nicht so genau, was sie eigentlich vorhatte. Aber er kam nicht heraus. Als sie auf der anderen Straßenseite die Grenze von Miss Duprees Vorgarten erreicht hatte, gab es keinerlei Anzeichen dafür, daß jemand aus dem Haus kommen würde. Der Regen sprühte ihr eisige Nadelspitzen ins Gesicht. Jen rieb sich die Oberarme gegen die Kälte und überlegte, was sie als nächstes machen sollte. Wenn sie sich dem Haus zu weit näherte, könnte sie nicht mehr zurücklaufen, wenn Dad herauskäme. Aber was wäre daran so schlimm? Sie konnte jederzeit behaupten, sie sei ihm nachgekommen, um die neue Nachbarin kennenzulernen. Das war doch nichts Schlimmes. Sie betrat die Rasenfläche und ging langsam auf das Haus zu, das Fenster und die Tür im Auge behaltend. Durch das Flüstern des Regens hörte sie Gelächter. Es war nicht die Art Gelächter, wie man es hört, wenn jemand einen Witz erzählt oder einen lustigen Trick vorgeführt hat; es klang anders … dunkler und … intimer. Jen ging noch ein paar Schritte weiter, und beinahe wäre sie gestolpert, als sie hinter sich die Männerstimme hörte. »Was tust du da?« Sie fuhr herum und erblickte die schattenhaften Umrisse von jemandem neben der Straßenlaterne, der sich auf einen Gehstock in seiner rechten Hand stützte. »Wohnst du dort?« fragte er. Seine Stimme war tief, aber klar. »Ich … nein, ich wohne … gegenüber.« 100
»Ach.« Sie wartete, aber er betrachtete sie nur stumm; sein Gesicht blieb unter der Hutkrempe unsichtbar, die linke Hand hatte er in die Tasche seines langen Mantels vergraben. »Warum schleichst du da herum?« fragte er sie schließlich. »Das tue ich nicht.« »So? Hat aber ganz so ausgesehen. Und junge Damen, die so aussehen, als würden sie herumschleichen, die tun normalerweise etwas, das sie nicht tun sollten.« Es klang ganz freundlich, ja, es hörte sich sogar an, als würde der Mann dabei lächeln. Aber Jen hatte schon zu viele Geschichten über Fremde gehört – besonders über fremde Männer –, die so tun, als wären sie freundlich. »Wenn du gegenüber wohnst, was hast du dann hier im Dunklen und im strömenden Regen zu suchen?« »Mein Dad ist in dem Haus. Er hat unserer neuen Nachbarin bei ihrem Auto geholfen.« »Neue Nachbarin?« Er trat einen Schritt vor und lehnte sich schwer auf seinen Stock »Mhh-hm.« Jen stand regungslos, aber ihr ganzer Körper war gespannt, bereit wegzulaufen. »Wie heißt sie denn, eure neue Nachbarin?« Jetzt hatte seine Stimme sich verändert; sie klang nervös, als sei das eine wichtige Frage, als müsse er die Antwort darauf fürchten. »Miss … Miss … « Jen ballte die Fäuste; sie fragte sich, ob sie ihm eine Antwort geben durfte. Vielleicht kannte er Miss Dupree und durfte nicht wissen, daß sie dort wohnt. »Wie heißt du?« fragte der Mann, kam noch einen Schritt auf sie zu und zog die Hand aus der Manteltasche. Jen wich einen Schritt zurück. »Ich will dir nichts tun«, flüsterte er. »Wirklich nicht. Ich muß es nur wissen – es ist sehr wichtig –, ich muß über eure neue Nachbarin Bescheid wissen. Wie heißt sie?« »Ich … ich werde jetzt meinen Dad holen.« 101
Er hinkte mit ein paar hastigen Schritten auf sie zu. »Nein, bitte glaub mir, ich will dir wirklich nichts tun. Ich will dir helfen. Aber du mußt mir Auskunft über eure neue Nachbarin geben. Wie lautet ihr Name? Wie sieht sie aus?« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging Jen rückwärts die Rasenfläche hinauf, bis … … sie das Gleichgewicht verlor und mit einem Stöhnen auf dem Hintern landete. »Oh«, ächzte der Mann, streckte seine linke Hand aus und eilte auf sie zu, wobei er den Gehstock bei jedem Schritt tief in den weichen Rasen drückte. »Ist alles in Ordnung? Hast du dir wehgetan?« Das Licht auf Miss Duprees Veranda ging an, warf seinen Schein über den Rasen und … … Jens Fäuste krallten sich in das nasse Gras und ihre Kehle zog sich vor Schreck zusammen, als das Licht den Mann beleuchtete, der sich ihr näherte. Sein Gesicht schien dahinzuschmelzen, während er vorwärts eilte, es tropfte von der einen Hälfte seines Schädels herunter wie warmes Wachs. Er kam näher gehumpelt, die eine Hand mit dem Handschuh ausgestreckt, und … … Jen wollte vor Entsetzen schreien, aber sie brachte nur ein heiseres Krächzen hervor, während sie nach oben langte und ihre Finger in die Hand verkrallte, ihre Nägel gruben sich in das Material des Handschuhs, und … … der Mann richtete sich in dem unerwarteten Lichtschein auf, dann zog er die Hand zurück, sie glitt aus dem Handschuh heraus, und der Schein der Verandalampe warf einen stumpfen Glanz auf knochige, silberne Finger, an denen entlang dünne Drähte liefen, die im Ärmel des Mantels verschwanden. Er starrte einen Moment lang auf den Handschuh, der sich in Jens Fingern verfangen hatte, dann schnappte er ihn sich, stopfte ihn in seine Manteltasche, richtete sich auf und wich eilig zurück, als der Riegel von Miss Duprees Haustür klickte. 102
Jen rollte sich auf die Seite, sprang auf und rannte auf die Tür zu, die sich gerade öffnete. Stimmen drangen aus dem Inneren des Hauses. Sie blieb auf der Veranda stehen und drehte sich um. Der Mann war verschwunden. Ihre Gedanken rasten. Wenn sie ihrem Dad von dem Mann erzählte, würde er sie womöglich fragen, was sie vor Miss Duprees Haus herumzuschleichen hatte und vielleicht sogar wütend werden; wenn sie es nicht tat, könnte sie einfach behaupten, sie sei gekommen, um ihn und Miss Dupree zu besuchen, und würde den Mann gar nicht zu erwähnen brauchen. Aber ihre Hände zitterten, und das Herz hämmerte ihr in der Brust. Mußte sie ihrem Dad nicht davon erzählen, daß so jemand – ein so abscheulicher Kerl – in der Gegend herumschlich? Doch würde er ihr überhaupt glauben, wenn sie ihm von diesem Mann erzählte, ihn beschrieb? Wahrscheinlich nicht. Jen entschied sich, auf Nummer sicher zu gehen. »Sie dürfen es auf keinen Fall vergessen«, sagte Miss Dupree, als sie die Tür ganz öffnete. »Jennifer! Was machst du denn hier?« George stand in der Tür, zusammen mit Miss Dupree. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. Jen blinzelte hinauf zu ihrem Vater. Sie hatte Angst, daß er böse sein könnte. Er hatte sie noch nie Jennifer gerufen. »Alle haben geschlafen«, sagte sie und strengte sich an, nicht so verängstigst zu klingen, wie sie tatsächlich war. »Da dachte ich, ich komme herüber zu dir und … kann dann auch Miss Dupree kennenlernen.« Die Frau ließ die Hand von Georges Schulter fallen und trat lächelnd heraus auf die Veranda. »Ich freue mich, daß du gekommen bist, Jen«, sagte sie. »Ich hab schon viel von dir gehört.« Sie streckte ihre Hand aus. Jenny ergriff sie zögernd. 103
Ein riesiger Hund schaute zur Tür heraus. Jen schreckte zurück. »Er tut dir nichts«, sagte Miss Dupree. »Das ist mein Hund. Sodom. Du darfst ihn ruhig streicheln.« Jen streckte eine Hand aus, und der Hund schnüffelte neugierig daran; dann leckte er ihr die Finger, und sie streichelte ihm den Kopf. »Wir sollten jetzt heimgehen, Jen«, sagte ihr Dad. »Es regnet, und ich will nicht, daß du dir auch noch den Virus holst, der in der Luft liegt.« »War nett, dich mal zu sehen, Jen. Du bist hier jederzeit willkommen. Wenn du magst, kannst du mit meinen Hunden spazierengehen. Sie würden sich sehr freuen.« Jen drehte sich noch einmal um und winkte Miss Dupree zu, als ihr Dad sie über den Rasen hinunter zur Straße zurück führte. »Du solltest wissen, daß du bei dem Wetter draußen nichts verloren hast«, sagte er mit ärgerlicher Stimme. »Aber … « »Aber was … « »Sie haben alle geschlafen.« »Und? Was hat das damit zu tun?« Auch wenn sie gar nicht wußte, wofür sie sich entschuldigte – sie sah keinerlei Grund für seinen Ärger –, sagte Jen: »Tut mir leid.« »Ist schon in Ordnung«, murmelte er, als sie das Haus betraten. Im Wohnzimmer zog Jen ihren Mantel aus und sah, daß Robby nicht mehr da war – wahrscheinlich hatte er sich wieder ins Bett gelegt. Sie hockte sich zurück vor den Fernseher. Als sie hörte, daß ihr Dad sich in der Küche eine Dose Bier aufriß, fragte sie sich, ob er wohl wirklich wütend sei, so wütend, daß es eine Weile vorhalten würde. Sie zitterte immer noch am ganzen Leib und schaffte es 104
nicht, ruhig zu atmen. Wenn Dad jetzt zurück ins Wohnzimmer käme, würde sie ihm wahrscheinlich noch schuldiger vorkommen als vorher, also beschloß sie, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Als sie den Flur entlangging, hörte sie noch, wie er in der Küche vor sich hinmurmelte: »Was bist du doch … für ein verdammter Idiot … « Robby erwachte nicht so leicht; seine Augen fühlten sich an wie zugeleimt, und sein Körper war schwer wie Blei. Er dachte, er läge im Wohnzimmer auf dem Sofa, aber als er die Augendeckel endlich aufgeklappt hatte, um zu sehen, wer ihn schüttelte, starrte er direkt auf das Poster an der Wand seines Zimmers. »Robby?« flüsterte Jen. Er rollte sich auf den Rücken und blinzelte hinauf zu seiner kleinen Schwester. »Was?« »Tut mir leid, daß ich dich geweckt hab.« »Was iss’en los?« »Bist du auch richtig wach?« Er rieb sich die Augen und rappelte sich hoch. »Ja, ich bin wach. Stimmt was nicht?« Sie setzte sich auf die Bettkante und warf einen vorsichtigen Blick auf die geschlossene Zimmertür. »Da draußen war ein Mann.« »Wann? Wie spät isses denn?« Er fand seinen Wecker. »Es ist doch erst acht.« »Vor einer Weile. Draußen auf dem Gehsteig.« »Und? Was wollte er da?« »Er hat mit mir gesprochen. Er wollte wissen, wer unsere neue Nachbarin ist.« »Er hat mit dir gesprochen? Was hattest du da draußen zu suchen?« »Dad war drüben bei Miss Dupree, um ihr am Wagen zu 105
helfen, und da … bin ich ihm etwas später gefolgt. Dann war da dieser Mann … « Robby vergrub sein Gesicht in den Handflächen und stöhnte; sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Sand gefüllt. »Warum hast du Dad nichts davon erzählt?« »Jetzt hör mir einfach mal zu, okay? Er hatte einen langen Mantel an, so’ne Art Regenmantel, weißt du? Und er trug auch einen Hut, so einen, wie ihn die Detektive in den alten Filmen aufhaben. Er ging an einem Stock, und er war grauenhaft häßlich, so, als wäre ein Teil seines Gesichts geschmolzen. Wie dieser Kerl in dem Film über das alte Wachsmuseum, den wir letzte Woche gesehen haben. Erinnerst du dich? Du weißt schon, dieser unheimliche Film. Wachshaus, oder … « »Haus des Wachses.« »Genau der. Und er hatte eine silberne Hand, wie ein Roboter. Darüber trug er einen Handschuh, aber der Handschuh blieb an meinem Finger hängen, und die Hand war silbern. Aus Metall, weißt du. Wie beim Terminator, als seine Haut abging!« »Mein Gott, Jen, du solltest lieber ins Bett gehen, und mich in Ruhe lassen. Vielleicht mußt du mal ‘ne Weile mit dem Fernsehen aussetzen.« Er rollte sich wieder auf die Seite. »Aber er war wirklich da! Er hat mit mir geredet. Er wollte wissen, wer unsere neue Nachbarin ist. Er sagte, es sei wichtig. Ich glaube … nun, vielleicht hat er sie gesucht oder so ähnlich.« »Und was soll ich jetzt machen?« brummte er in sein Kopfkissen. Jen erhob sich vom Bett. »Weiß ich nicht«, seufzte sie. »Ich glaube, ich mußte nur mit jemandem darüber reden. Mom schläft, und Dad … ich glaube er ist wegen irgendwas sauer auf mich.« Robby konnte die Traurigkeit in ihrer zittrigen Stimme nicht überhören. Er rollte sich wieder auf den Rücken und schaute 106
ihr ins Gesicht. Ihre Lippen zitterten, und in den Augen funkelten bereits die ersten Tränen. »Wahrscheinlich hatte er bloß einen schlechten Tag«, sagte Robby mit leiser Stimme. »Wenn du vielleicht bis morgen wartest … « »Aber der Mann war heute abend da draußen!« Robby setzte sich auf. »Es ist dir ernst damit, stimmt’s?« »Ja, es ist mir ernst damit! Er hat mit mir gesprochen!« Sie schien zu spüren, daß sie jetzt seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte und wagte sich vor. »Und sein Gesicht, Robby … Du hättest sein Gesicht sehen sollen! Er war so grauenhaft.« Er wußte, daß es ihr ernst war, denn Jen haßte es zu weinen, und jetzt stand sie kurz vor einem Tränenausbruch; wenn sie nicht wirklich jemanden gesehen hatte, dann glaubte sie das zumindest. »Aber ich kann nicht viel tun, Jen, oder? Ich meine, was meinst du, was ich jetzt machen soll?« Sie senkte den Kopf. »Nichts, wahrscheinlich. Ich wollte nur … mit jemandem darüber reden.« »Ich bin froh, daß du es getan hast. Aber er ist wahrscheinlich nur dort spazieren gegangen.« »Aber sein Gesicht … « »Hast du ihn denn so genau sehen können? Ich meine, da draußen ist es doch stockdunkel. Und es regnet.« Sie nickte langsam und drehte sich zur Tür um. »Sonst bist du okay?« wollte Robby wissen. »Ja. Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe.« »Ist halb so schlimm.« Sie schloß leise die Tür hinter sich. Robby rollte sich wieder unter der Decke zusammen, aber er fand keine Ruhe mehr. Er warf sich eine Weile lang von einer Seite auf die andere, dann erhob er sich, schob das Rouleau zur Seite und schaute aus dem Fenster. Draußen regnete es jetzt kräftig, und der Wind zerrte an den 107
Ästen der Bäume. Es war niemand auf der Straße, nicht einmal ein Auto war zu sehen. Nur eine Katze hutschte über die Fahrbahn, den Kopf gegen den Regen gesenkt. Es dauerte eine ganze Weile, bis Robby wieder einschlafen konnte …
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7 EIN MITTERNÄCHTLICHER GAST Das dunkle Schlafzimmer kam ihm muffig vor und weckte in George einen Anflug von Klaustrophobie; er stieg aus dem Bett, ganz vorsichtig, um Karen nicht zu stören, und schob das Fenster einen Spaltbreit auf. Kalte, frische Nachtluft wehte herein, und er beugte sich herunter, hielt sein Gesicht in die Zugluft und atmete ein paarmal tief durch, bevor er wieder ins Bett schlüpfte. Splitternackt lag er unter den Laken, gewärmt von einer elektrischen Heizdecke, und versuchte, nicht an Lorelle Dupree zu denken. Es gelang ihm nicht. Er war noch immer wie vor den Kopf gestoßen von ihrem Angebot. Es war so unerwartet gekommen – mitten in einem harmlosen Gespräch –, daß er davon völlig überrumpelt worden war. Sie hatte ihn auf ein Bier hereingebeten, und als er erwähnte, daß Karen mit Grippe im Bett liege, hatte sie gesagt: »Dann haben Sie noch gar nichts gegessen?« »Noch nicht, aber ich wollte gerade etwas holen … « »Darf ich Ihnen schnell etwas machen? Ich habe einen Eintopf auf dem Herd stehen und könnte ein paar Brötchen in die Mikrowelle schieben.« »Nein, nein, vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen, aber mein Sohn und meine Frau schlafen, und meine Tochter sitzt drüben vorm Fernseher … « »Dann haben Sie doch gar keine Eile. Wissen Sie, Kinder kommen ganz gut allein zurecht.« Er lachte. »Nein, wirklich. Ich danke Ihnen für das Bier, aber …« Plötzlich war sie auf ihn zugekommen, hatte sich an ihn gepreßt, und ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Als ihre 109
Lippen ganz dicht vor seinem Mund waren, hatte sie geflüstert: »Wenn du bleibst, darfst du mit mir schlafen. Sie werden dich nicht einmal vermissen.« Beinahe wäre ihm das halbvolle Glas Bier aus der Hand gefallen. »Alles, was du willst, George«, hatte sie gesagt und ihre Brüste gegen seinen Oberkörper gepreßt. »Magst du mich von hinten ficken? Oder zwischen die Titten? Oder … wie lange ist es her, daß dir jemand so richtig einen geblasen hat?« Und in einem leisen Singsang hatte sie lächelnd hinzugefügt: »Du darfst es dir sogar in meinem Muuhuund kommen lassen … « Er riß die Augen weit auf und drehte sich um, als wollte er sich vergewissern, daß sie ihn gemeint hatte, aber als sie ihn küßte, da wußte er, daß es ihr ernst war. Es war ein langer, nasser, geräuschvoller Kuß, und als sie ihre Lippen von den seinen löste, war er ganz außer Atem. Wenn er sich nicht gezwungen hätte, sie wegzustoßen und in die Küche zu gehen, um sich mit beiden Händen das Gesicht zu waschen, dann hätte er wahrscheinlich ihren Kuß erwidert. Aber er dachte an Karen und Robby und Jen, und er war sich im klaren darüber, daß sie alle im Haus gegenüber auf ihn warteten. Ja, es wäre ein riesiger Spaß, ja, er würde sich gut dabei fühlen, aber er fragte sich, ob es den unvermeidlichen Preis wert wäre. »Tut mir sehr leid«, sagt er, unfähig, ihr in die Augen zu blicken. Er versuchte, mit fester, aber nicht unfreundlicher Stimme zu sprechen. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt. Wirklich. Aber … meine Frau … meine Familie … ich kann doch nicht. Tut mir wirklich leid.« Lächelnd trat sie zu ihm und legte ihm ihre Hand aufs Gesicht. »Ist schon okay.« Dann brachte sie ihn an die Tür. »Ich hoffe, das wird unsere Beziehung als Nachbarn nicht beeinträchtigen.« »Aber nein«, lachte er und betete, daß seine Erektion endlich zurückgehen möge. »Überhaupt nicht. Sie sind in unserem 110
Haus jederzeit willkommen.« »Wirklich?« »Wirklich. Es ist schon so gut wie vergessen.« »Ich will gar nicht, daß Sie es vergessen«, sagte sie, öffnete die Tür und … … sah Jen vor sich stehen. George seufzte in sein Kopfkissen und warf sich auf die Seite. Sein erigiertes Glied streifte Karens Schenkel. Sie reagierte nicht; nicht einmal der Rhythmus ihrer kehligen Atemzüge veränderte sich. Er preßte seinen Schwanz noch einmal gegen sie, ganz vorsichtig, und lauerte auf eine Reaktion; in dem Fall hätte er sich gleich zurückgezogen. Er dachte an Lorelles Angebot – Willst du mich von hinten ficken?« –, und stellte es sich vor, während er seinen Schwanz gegen Karens Bein rieb. Seit Jahren hatte er nicht mehr daran gedacht; es war etwas, was Laura nicht mochte, etwas, was sie nicht tun wollte, obwohl er durchaus scharf darauf gewesen wäre. Karen zuckte nicht einmal zusammen, während er sich an ihr rieb, schneller jetzt, und … … plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter, und George fuhr herum, trat die Laken zur Seite, bereit, sich auf den zu stürzen, der sich hier nachts in seinem Schlafzimmer herumschlich, aber … … es war Lorelle. George erstarrte, die Arme erhoben, die Knie angezogen. »W-w-was … « Sie legte den Zeigefinger über ihre lächelnden Lippen und kniete in dem sanften Licht der kleinen Nachtlampe nieder, die auf Georges Nachtisch stand. Dann setzte sie sich auf den Fußboden, die Beine gespreizt, die Arme über die Knie gelegt. Sie war nackt. Tonlos formten ihre Lippen zwei Worte: »Fick mich.« Georges Herzschlag war das lauteste Geräusch im Zimmer. 111
Er schaute über die Schulter hinweg zu Karen. Wenn nicht diese leise Atemzüge durch ihren offenen Mund gekommen wären, hätte man sie für tot halten können. Er schob sich langsam vom Bett herunter. Seine harte Erektion war ihm unangenehm. »Wie … wie sind Sie hier reingekommen?« flüsterte er. Sie lehnte sich zu ihm herüber und begann, seinen Schwanz zu streicheln, während sie ihm ins Ohr flüsterte: »Du hast gesagt, ich sei jederzeit willkommen.« Und gerade als sie sich nach vorne beugte und seinen Schwanz in ihrem Mund sog … … wurde Robby durch dröhnendes Gebell langsam aus dem Treibsand eines morastigen Schlafes gezogen. Es machte ihm Mühe, sich im Bett aufzurichten, die bleischweren Schultern von der Matratze zu heben und sich langsam hochzurappeln, während er sich die verklebten Augen rieb. Bellen. Das Geräusch, das er hörte, war das Bellen eines Hundes … zweier Hunde … und es kam von der anderen Straßenseite. Er murmelte die Worte Sodom und Gomorrha, aber sie quälten sich über seine teigigen Lippen wie zäher Speichel, der an einer Mauer herunterläuft. Unter großer Anstrengung – er bekam die Augen immer noch nicht weiter als einen Spaltbreit auf – drehte Robby sich um und schaute aus seinem Fenster; beinahe hätte er mit seinen ungeschickten, vom Schlaf gelähmten Händen das Rouleau heruntergerissen. Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln und versuchte, den Blick zu konzentrieren. Es bewegte sich etwas unten auf der Straße, aber diesmal war es keine Katze. Ein Mann mit einem Hut und einem langen Mantel stolperte aus Lorelle Duprees Vorgarten; er stützte sich dabei schwer auf einen Gehstock und schaute immer wieder über die Schulter 112
nach hinten. Unvermittelt wandte er sich nach rechts, in Richtung Mistletoe Street, und als er durch eine Pfütze schlurfte, spritzte das Wasser auf. Die Hunde in Lorelles Haus bellten jetzt noch lauter. Der Mann blieb stehen, drehte sich um, ging ein paar Schritte zurück und schaute zu Robbys Haus hinüber. Dann verschwand er in der Finsternis. Das war der Mann, den Jen gesehen hatte. Nein, dachte Robby. Ich habe bloß geträumt, das ist alles. Aber wenn es nun tatsächlich der Mann war, von dem Jen ihm erzählt hatte? Außer ihm und Jen sollte noch jemand wissen, daß hier jemand in der Gegend herumschlich. Robby beschloß, seinen Vater zu wecken, aber … … er drohte bereits wieder einzuschlafen, wollte schnell zurücksinken in die morastigen Tiefen des Schlafes, aus denen er noch nicht einmal richtig aufgetaucht war. Robby schüttelte kräftig den Kopf, schob sich hoch und versuchte aufzustehen, was ihm erst beim dritten Versuch gelang. Er stolperte auf die Tür zu, mußte sich dabei aber an seinem Schreibtisch und einem Stuhl abstützen … Im Flur war es dunkel, still, beinahe tröstlich still, und als Robby sich endlich gegen die Wand lehnte, fiel ihm das Kinn gleich wieder herunter auf die Brust und sein Atem wurde ruhig, gleichmäßig … »Nein«, krächzte er und riß den Kopf in den Nacken. Er schwankte wie ein Betrunkener, holte tief Luft und konzentrierte den trüben Blick auf die Schlafzimmertür seiner Eltern. Dann schleppte er sich vorwärts, torkelte von einer Wand gegen die andere, bis … … seine Beine unter ihm nachgaben, unfähig, sein Gewicht weiter zu tragen, und er auf dem Fußboden zusammenbrach, weniger als zwei Meter von der Schlafzimmertür seiner Eltern entfernt. Durch den schwarzen Rauch seiner Müdigkeit spürte Robby das Erwachen der Angst. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er war 113
krank. Auf einmal war der Mann, den er draußen gesehen hatte – oder zu sehen geglaubt hatte – nicht mehr wichtig, und er dachte nur noch daran, daß er Hilfe brauchte. Er holte tief Luft und versuchte, nach seinen Eltern zu rufen, aber seine Stimme war kaum mehr als ein Gurgeln eines verstopften Abflusses, und die Augenlider fielen ganz herunter, versenkten ihn in tiefe Finsternis. »Da … da … Daahad … « Das Wort war nur ein Hauch, kaum hörbar für Robby selbst. Er zog sich über den Fußboden. In seinen Ohren klang noch das entfernte Bellen der Hunde, aber … … da war noch etwas anderes. Robby hörte seinen Vater … stöhnen. Auch wenn er seinen Dad solche Töne noch nie hatte ausstoßen hören, so waren sie doch unmißverständlich. Sie vögeln miteinander? war sein diffuser Gedanke. Dann ist Mom wohl doch nicht so krank. Es entstand eine Pause, ein Augenblick der Verlegenheit, aber dann setzte die Angst wieder ein, und Robby wurde klar, daß er sie stören mußte. Er krallte seine Finger in den Flurläufer und kroch auf die Schlafzimmertür zu, hinter der … … George auf Lorelle lag und versuchte, seine Schreie zurückzuhalten, während er in sie hineinstieß, immer wieder, und in Erwartung seines zweiten Orgasmus auf ihr lächelndes Gesicht hinunterschaute. Ganz plötzlich stieß sie ihn weg, und George mußte den Protestschrei herunterschlucken, der sich in seiner Kehle bildete. Lorelle setzte sich auf, langte zwischen ihre Beine und ließ langsam drei Finger durchgleiten. Dann rollte sie sich zur Seite, kniete sich hin und streckte den Hintern in die Luft. Georges Atem ging schneller, während er ihr zuschaute, und dann hielt er ihn ganz an, als sie ihre Finger um seinen 114
Schwanz schloß, ihn zu sich heranzog und sich gleichzeitig mit dem Hintern auf ihn zu bewegte, um ihn in Empfang zu nehmen. Er drang mit einem beinahe gequälten Stöhnen in sie ein und umklammerte ihre Hüften, während er sein Glied in sie hineinstieß, fester und fester und immer fester, bis … … Robby hörte ein langgezogenes, kehliges Stöhnen aus dem Schlafzimmer und dann ein lautes Plumpsen, als sei jemand aus dem Bett gefallen. Ausgestreckt auf dem Fußboden lauschte er mit offenem Mund, und als er nichts mehr hörte, wurde seine Angst noch größer. Was ist da drinnen passiert? dachte er, holte noch einmal Luft und brachte schließlich ein schwaches: »Was ist da los?« hervor. »Was …?« Die Luft selber veränderte sich. Die Dunkelheit schien sich zu verflüssigen, und Robby hatte das Gefühl, als würde ihm die Atemluft, nicht nur aus dem Mund, sondern auch aus den Augenhöhlen gesogen. Es wurde eisig kalt im Haus, so kalt, daß Robby glaubte, gleich müßte ihm der Atem als weiße Fahne aus dem Mund wehen. Etwas bewegte sich hinter der geschlossenen Tür, und dann… … Stille. Kein Stöhnen, kein Seufzen. Sogar die Hunde hatten zu bellen aufgehört. Nur … Draußen brach etwas los, wie eine plötzliche Orkanbö. Wieder … und immer wieder … Wie das Schlagen riesiger Flügel. Robby zwinkerte ein paarmal ganz schnell mit den Augen, er war verwirrt und schaute sich in dem dunklen Flur um. Jetzt konnte er plötzlich ohne weiteres aufstehen, die tödliche 115
Müdigkeit war von ihm gefallen. Er ging zur Zimmertür seiner Eltern, lauschte … Nichts außer dem regelmäßigen Schnarchen seines Vaters. Robby rieb sich die Augen und ging zurück in sein Zimmer. Als er wieder im Bett lag, versuchte er, sich Mom und Dad beim Liebesakt vorzustellen. Er hatte das schon öfter versucht, ohne Erfolg, aber diesmal sah er ein klares, deutliches Bild vor Augen, als wäre er im Zimmer und sähe ihnen zu. Dabei entspannte er sich in seinem Bett, seltsam erwärmt von dieser Vision: Seine Eltern, nackt und ineinander verschlungen. Vor seinem Zimmerfenster seufzte der Regensturm, und Robby setzte sich wieder einmal auf und schaute hinaus. In Lorelles Haus brannte ein Licht. Ein Schatten bewegte sich hinter den neu angebrachten Vorhängen, die sich plötzlich teilten, und … … Robby tauchte blitzschnell ab und zog die Decke bis zum Kinn. Er wollte sie nicht sehen. Er wollte nicht einmal an sie denken. Ein paar Minuten später, als ein roter und blauer Lichtschein durch die Spalten an den Rändern des Rouleaus flackerte, war er noch wach. Er zog das Rouleau zur Seite und sah, wie Lorelle herauskam und einem Polizeibeamten entgegenging, der aus seinem Streifenwagen ausgestiegen war. Robby öffnete das Fenster ein paar Zentimeter weit und lauschte. Durch das Knacken des Funkgeräts konnte er ihre Stimme hören, verstand aber nur Bruchstücke. » … vor einer Weile ein Stadtstreicher«, sagte Lorelle. » … ihn gut erkennen können, oder … « » … ging an einem Stock und trug einen Filzhut … dunkler Mantel … vernarbtes Gesicht, schrecklich vernarbt … Armprothese mit einer Metallhand … « Robby schloß das Fenster und schob das Rouleau wieder an seinen Platz. 116
Konnte sie den Mann tatsächlich gesehen haben? Außer den bellenden Hunden hatte es in ihrem Haus kein Lebenszeichen gegeben. Und selbst wenn, wie konnte sie die Metallhand erkennen, wenn er einen Handschuh darüber trug? Draußen schlug eine Autotür; der Polizist fuhr davon. Robby versuchte wieder einzuschlafen, aber er fand keine Ruhe. Irgend etwas stimmte da nicht …
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8 ES LIEGT WAS IN DER LUFT Es war kein typisches Wochenende für die Pritchards. Am Samstagmorgen ging die Sonne hinter bleigrauen Wolken auf und näherte sich bereits ihrem höchsten Punkt, als endlich alle im Haus wach waren. Jen kroch aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel an und schlurfte durch das ganze Haus, die meiste Zeit mit geschlossenen Augen. Nach einer Weile hatte sie erkannt, daß außer ihr noch niemand aufgestanden war. Sie machte sich einen Toast, stellte den Fernseher an und starrte dumpf auf irgendeinen blöden Zeichentrickfilm. Als sie sich wacher zu fühlen begann, kehrten ihre Gedanken zu dem unheimlichen Mann zurück, dem sie am Abend zuvor begegnet war, und zu den Alpträumen, durch die er sie während der Nacht gejagt hatte. Jen beschloß, ihrem Vater von diesem Mann zu erzählen, wenn er aufgewacht wäre, weil sie fürchtete, daß dieser unheimliche Kerl, wenn sie es nicht täte, sie noch in vielen Nächten durch den Schlaf hetzen würde – mit seinem verzerrten Grinsen und der metallenen Hand, die sich in ihre Haare krallte. Aber als ihr Vater schließlich ins Wohnzimmer kann, im Bademantel, mit Haaren, die aussahen wie ein Gewirr von Stacheldraht, das ihm jemand in die Kopfhaut gedrückt hatte, überlegte sie es sich anders. »Guten Morgen, Dad«, sagte sie vorsichtig. Er ging zum Fernsehsessel, auf dem Monroe sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte, und versetzte dem Kater einen kräftigen Schlag mit den Knöcheln. Monroe sprang fauchend vom Sessel und schoß pfeilschnell aus dem Zimmer. Jen wunderte sich. Normalerweise pflegte Dad den Kater vorsichtig aus dem Sessel zu heben; sie hatte ihn das Tier noch 118
nie schlagen sehen. »Alles in Ordnung, Dad?« Er gab einen kehligen Laut von sich und bewegte den Kopf, aber das war auch alles. Ich warte lieber noch ein bißchen, dachte Jen und wandte sich wieder dem Fernseher zu … … Jeder Zentimeter von Georges Körper schmerzte. Er konnte sich nicht erinnern, gestern abend mehr als ein Bier getrunken zu haben, aber er fühlte sich, als sei er vom Katzenjammer eines ganzen Lebens befallen worden. Seine Hände zitterten, die Knie waren weich, und es kam ihm vor, als hätte ihm jemand einen Strohhalm in den Bauch gesteckt und ihm die Eingeweide herausgesogen. Als er an diesem Morgen zum erstenmal die Augen geöffnet hatte, war ihm sofort ein Traum eingefallen, ein lebhafter, sexueller Traum, der zweifellos durch das Angebot ausgelöst worden war, das Lorelle Dupree ihm am Vorabend gemacht hatte. Erst als er merkte, daß er nicht im Bett, sondern daneben auf dem Fußboden lag, bekam dieser Traum eine andere Bedeutung. Er setzte sich auf und entdeckte die roten Flecken gereizter Haut an seinen Knien, so als hätte er sie kräftig über den Teppich gescheuert. Dann berührte er seinen ungewöhnlich schlaffen Schwanz und erkannte an seinen Fingern diesen ganz bestimmten Geruch aus seinem Traum wieder – moschusartig und seltsam. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Karen noch fest schlief, suchte er das Schlafzimmer nach irgendeinem Anzeichen dafür ab, daß Lorelle hier gewesen war. Als er keines fand, zog er den Morgenmantel über und überprüfte alle Eingangstüren zum Haus. Sie waren verschlossen. Während er im Sessel saß und das Geplärre aus dem Fernseher über sich ergehen ließ, erinnerte George sich daran, daß das Schlafzimmerfenster die ganze Nacht über einen Spalt 119
offengestanden hatte. Aber in dem Traum … … Es war kein Traum, dachte er, es war Wirklichkeit … … hatte er wachgelegen, als Lorelle hereinkam. Er war sicher, daß er das Öffnen des Fensters gehört hätte, selbst im Tiefschlaf. George lehnte sich weit zurück in den Fernsehsessel, als er sich durch die Haare strich, und mußte feststellen, daß ihm bei der Bewegung der Rücken brannte. Als das Gefühl sich nicht wieder vertreiben ließ, ging er ins Badezimmer, streifte den Morgenmantel ab, drehte seinen Rücken dem Spiegel über dem Waschbecken zu und schaute ihn sich über die Schulter hinweg an. Dünne, rote Kratzer zeichneten die Haut auf dem Rücken. Er wusch sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und beschloß, sich erst einmal eine Kanne Kaffee zu machen. Und dann würde er das alles ganz schnell vergessen, egal, wie schwer es ihm fiel. Nachdem er sich das Gesicht mit einem Handtuch abgetrocknet hatte, schaute er in den Spiegel und murmelte mit heiserer Stimme: »Nur ein Traum. Nichts weiter.« Im Flur hörte er, daß Karen sich im Schlafzimmer rührte und machte sich mit hastigen Schritten davon, bevor sie herauskam… Karen wachte ganz plötzlich auf, setzte sich im Bett auf und schlug die Hände vors Gesicht. Das schlechte Gewissen machte sie krank. Sie ließ die ganze Geschichte noch einmal Revue passieren und konnte kaum glauben, was sie getan hatte … und das alles im Haus gegenüber! Langsam hob sie den Kopf und warf einen Blick auf die Schmuckschatulle, die auf ihrer Frisierkommode stand. Dort hatte sie das winzige Frauenpaar aus Silber versteckt, das Lorelle ihr geschenkt hatte; sie dachte daran, wie die beiden ihre Beine ineinander verschränkten; sie dachte an das, was sie und Lorelle getan 120
hatten … Draußen war es immer noch hell, also blieb ihr wohl noch genug Zeit, ein schnelles Abendessen zu bereiten. Das wollte sie tun. Vielleicht würde sie ein chinesisches Fertiggericht herausholen – ein absoluter Renner in ihrem Haushalt – und ihren Mann und die Kinder wie Könige behandeln, sie mit ihrer Zuneigung überschütten, jedem von ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit widmen … etwas, das sie nur zu oft versäumte. Sie fühlte sich völlig erledigt, so, als stünde sie unter Drogen, und wenn sie sich jetzt wieder zurückgelegt hätte, wäre sie ganz sicher wieder eingeschlafen. Aber das durfte sie nicht tun. George würde bald nach Hause kommen, und die Kinder waren bestimmt hungrig. Als sie aus dem Bett kletterte, fiel ihr Blick auf den Digitalwecker: 10:41 am Vormittag. Jetzt erst wurde ihr klar – das alles hatte sich gestern ereignet, und inzwischen war eine ganze Nacht vergangen. Karen schlug die Hand vor den Mund und stöhnte: »Oh, mein Gott!« Der Magen drehte sich ihr um. Und ihr Hals fühlte sich geschwollen an, als stecke er voller Schleim. Noch nie hatte sie so lange geschlafen, jedenfalls nicht, ohne zwischendurch mal aufzuwachen, ins Bad oder auf die Toilette zu gehen. Sie zog ihren Slip und ihr Kleid an, spähte hinaus in den Flur, und als sie dort niemanden sah, huschte sie schnell ins Badezimmer. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, sah furchterregend aus: Fettiges Haar, bleiche, fleckige Haut mit dunklen Ringen unter den Augen – und Hände, die stark geädert und alt ausschauten. Karen wandte sich vom Spiegel ab, ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder, krallte eine Faust in ihr stumpfes, glanzloses Haar und dachte noch einmal über das alles nach. Dieses Lecken und Saugen … all diese nassen, schmatzenden Geräusche, die sie dabei gemacht hatten … 121
Und was das Schlimmste war: So sehr Karen sich auch anstrengte, von dieser Erinnerung abgestoßen zu sein – es erregte sie nur und ließ sie nach mehr verlangen. Plötzlich klopfte es an die Tür. Karen zuckte zusammen. »Mom?« rief Jen. Sie atmete tief durch, bemühte sich um eine einigermaßen feste Stimme und antwortete: »Was ist, Kleines?« »Haben wir noch irgendwo Kakao? Ich kann keinen finden.« »Vielleicht nicht. Ich komme gleich und sehe nach. Okay?« »Okay.« Und nach einer kleinen Pause: »Fühlst du dich besser?« »Ja. Ja, ich glaube schon.« »Das ist gut.« Ihre Schritte entfernten sich schnell den Flur entlang. Besser als wann? dachte Karen. Hatte Jen gestern bemerkt, daß etwas nicht stimmte? Hatte sie schon gestern so schlecht ausgesehen? Sie warf noch einen Blick in den Spiegel und war davon überzeugt, daß es ihr noch nie in ihrem Leben so schlecht gegangen war. Mühsam stand sie auf, strich sich ein paarmal mit der Bürste durch ihr Haar, blieb dann sekundenlang unschlüssig an der Badezimmertür stehen und fragte sich, ob sie ihrer Familie in diesem Zustand unter die Augen treten durfte … … Robby fühlte sich besser, als er an diesem Morgen erwachte, obwohl er, genau wie Jen, nicht gut geschlafen hatte; durch seine Träume war nicht nur Lorelle, sondern auch immer wieder diese finstere, hinkende Gestalt gegeistert, die er in der Nacht von seinem Fenster aus gesehen hatte. Er zog seine Jeans und ein Hemd an und trat in den Flur hinaus. Seine Mutter kam gerade aus dem Badezimmer. Sie wandte hastig den Blick ab und huschte vorbei, bevor er ihr einen guten Morgen wünschen konnte. 122
Im Haus war es ungewöhnlich still; selbst der Ton des Fernsehers war leise gestellt. Jen hockte nicht auf ihrem angestammten Platz auf dem Teppich, und statt irgendwelcher Zeichentrickfilme liefen die Nachrichten. Die Tüte von Carl’s, Jr. stand noch immer auf dem Kaffeetisch, und Dad hatte sich im Fernsehsessel ausgestreckt und glotzte auf den Bildschirm. »Guten Morgen, Dad.« »Was is’?« Er schaute Robby verständnislos an; seine Augen waren tief versteckt unter den Augenbrauen, die so zerwühlt waren, daß sie aussahen wie ein Gewirr schwarzer Borsten. »Guten Morgen … nichts weiter.« Dad wandte sich wieder den Nachrichten zu. In der Küche war seine Mutter an der Arbeitsplatte beschäftigt, während Jen am Tisch saß, ein Magazin durchblätterte und ihrem Walkman zuhörte. »Dad scheint nicht gerade bester Laune zu sein, was?« fragte Robby laut, während er sich zu ihr setzte. Jen nahm den Kopfhörer ab, rollte mit den Augen und sagte: »Er ist komisch heute morgen.« Dann warf sie einen schnellen Blick auf ihre Mutter und fügte flüsternd hinzu: »Und sie auch. Meinst du, sie haben Streit?« Robby erinnerte sich an die Geräusche, die er in der Nacht aus ihrem Schlafzimmer gehört hatte. Da hatten sie jedenfalls nicht gestritten. Etwas fiel scheppernd auf den Küchenboden, und als Robby sich umdrehte, starrte seine Mutter auf die Kaffeedose, die ihr aus der Hand gefallen war; das Pulver lag wie eine braune Pfütze zu ihren Füßen auf dem Boden verteilt. Sie sagte nichts, starrte nur herunter auf die Bescherung und preßte die Lippen aufeinander, als wollte sie im nächsten Moment losheulen. Dann ging sie wortlos hinaus. Robby ging hinüber, hob die Dose auf und hatte sie schon auf die Küchentheke gestellt, als Karen mit einem Besen zurückkam. 123
»Ich mach das schon«, sagte sie. Ihre Stimme klang zittrig und unsicher. »Laß die Finger davon, okay? Laß einfach die Finger davon.« Robby wich zurück zum Küchentisch und schaute ihr dabei zu, wie sie das Pulver zusammenfegte. Sie würdigte ihn keines Blickes, schien seine Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen. Jen schaute hoch zu ihm und zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Ich weiß nicht, was hier los ist. Er wußte es auch nicht, aber irgend etwas hatte das ganze Haus mit Hochspannung aufgeladen, und das gefiel Robby nicht. Er verließ die Küche, und als er dabei an seiner Mom vorbeiging, flüsterte sie ihm zu: »Tut mir leid.« Die morgendliche Hochspannung im Hause Pritchard ließ nicht nach. Der Tag ging leise dahin, abgesehen vom Ton des Fernsehers und einem gelegentlichen Türklappen. Oder auch mal einem Türknallen. Robby machte ein paar Hausaufgaben, Jen besuchte die Crane-Zwillinge am anderen Ende der Straße, Karen kochte einen Riesentopf Kartoffelsuppe, backte ein paar Bananen-Nuß-Brote und schrieb mehrere Briefe, und George reparierte in der Garage den kaputten Rasenmäher, säuberte den Kamin und schaute sich einen Film im Fernsehen an. Sie taten das, was sie an allen anderen Samstagen auch taten, aber es gab keine Unterhaltungen, kein Gelächter, nicht einmal eine laute Auseinandersetzung. Und bei den wenigen Worten, die man austauschte, wurde jeglicher Blickkontakt vermieden. Am späten Nachmittag rief Dylan an und fragte Robby, ob er nicht Lust habe, mit ihm ins Wherehouse zu kommen und sich die neuesten Platten und Videotapes reinzuziehen. Robby konnte es gar nicht erwarten, endlich aus dem Haus zu flüchten. Er schnappte sich eine Jacke und lief vor die Tür, wo Dylan ihn abholen wollte. Er hatte angenommen, daß sie zu Fuß gehen würden – das Wherehouse war nicht weit weg –, 124
aber statt dessen fuhr Mrs. Garry mit dem Wagen vor, und Dylan winkte schon vom Rücksitz. Es fiel ein leichter Regen, und Robby stopfte die Hände in die Jackentaschen, als er um den Wagen herumging. Während er auf den Rücksitz kletterte, sah er Lorelle ihre Auffahrt herunterkommen, links und rechts neben ihr Sodom und Gomorrha, die sie an der Leine führte. Er wandte sich schnell ab und tat so, als hätte er sie nicht gesehen. Dylan dagegen schaute sie sich genau an, und als sie losfuhren, drehte er sich um, damit er sie durch das Heckfenster sehen konnte. Er pfiff leise durch die Zähne und flüsterte Robby zu: »Großer Gott, die sind ja phantastisch!« Und dann fügte er kichernd hinzu: »Die Hunde sind auch ganz nett.« Robby achtete nicht auf ihn. Er schaute zum Fenster hinaus, und als sie in die Mistletoe Street einbogen, fesselte etwas seine Aufmerksamkeit. Ein brauner Ford Escort parkte auf der anderen Straßenseite. Hinterm Lenkrad saß ein Mann mit Hut, den Ellbogen hatte er gegen die geschlossene Scheibe gestützt, und das Gesicht lag auf der behandschuhten Hand. Plötzlich hob er den Kopf; Robbys und seine Blicke begegneten sich, und der Mann setzte sich aufrecht hin, ließ die Hand fallen, und… … durch die regennasse Scheibe konnte Robby das entstellte Gesicht des Mannes erkennen, das nach unten gezogene Auge, der schräge Schwung der unteren Mundhälfte, deren Grinsen sich das halbe Gesicht hinaufzog. Der Mann schaute dem vorbeifahrenden Wagen nach. Robby drehte sich um und klammerte sich an der Rückenlehne fest. Der Escort fuhr vom Randstein weg und wendete auf der Straße. »Mein Gott«, sagte Robby mit atemloser Stimme. »Wer ist das?« fragte Dylan und schaute ebenfalls nach hinten. »Jemand, den du kennst?« 125
Robby stammelte etwas Unverständliches, dann schwieg er. Was hätte er auch sagen sollen? Das war der Mann mit dem verunstalteten Gesicht und der stählernen Hand, den meine Schwester gestern abend gesehen hat? Das hätte sich nicht gut angehört. Aber der Mann folgte ihnen ganz zweifellos. »Stimmt was nicht, Robby?« wollte Mrs. Garry wissen. Er bemühte sich um eine entspannte Haltung auf dem Rücksitz und dachte über eine passende Antwort nach, war aber viel zu aufgeregt – zu verängstigst – um Worte zu einem Satz aneinanderreihen zu können, also zwang er sich bloß zu einem schwachen Lächeln, sagte »Nein« und widerstand dem Drang, sich noch einmal umzuschauen. »Ich wollte mir die neue LP von Metal Church anhören«, sagte Dylan. »Das Cover soll wahnsinnig böse sein. Tipper Gore ist von der Platte angewidert, und Jerry Falwell will sogar dafür sorgen, daß sie auf den Index kommt, und wenn die beiden sich so aufregen, dann muß sie verdammt heiß sein. Scary Jerry hält sie für geeignet, Familien zu zerstören, Teenager in jungfrauenjagende Monster zu verwandeln, Haushalte zu dämonisieren und so weiter. Nur eine einzige Platte! Kannst du dir das vorstellen?« Er warf den Kopf in den Nacken und ließ ein kurzes, trockenes Lachen hören. Dylans Stimme kam für Robby aus weiter Ferne. Er starrte schweigend auf Mrs. Garrys Hinterkopf, während Dylan weiterplapperte. Sie bogen in die Churn Creek Road ein. Die Scheibenwischer klangen wie ein schmatzender Herzschlag, während sie von rechts nach links und wieder zurückwischten, und dann … … warf Robby erneut einen verstohlenen Blick nach hinten. Der Escort folgte ihnen immer noch. Robbys Hand auf seinem Schoß begann zu zittern. Er überlegte, ob er Mrs. Garry bitten sollte, ihn wieder nach Hause zu bringen … 126
… ich könnte behaupten, mir sei eingefallen, daß ich noch etwas zu tun habe oder daß ich ein Ferngespräch erwarte oder… … aber sie bogen bereits auf den Parkplatz ein. »Ich muß kurz ins Pay Less und dann zu Albertson’s. Es wird nicht lange dauern, und wenn ich fertig bin, hol ich euch ab«, sagte Mrs. Garry und stellte den Motor ab. »Daß ihr mich auch hier erwartet. Ich hab keine Lust, das ganze Einkaufszentrum nach euch abzusuchen. »Wir werden hier sein«, stöhnte Dylan pflichtbewußt, als hätte er diesen Satz schon tausendmal gesagt. Sie kletterten aus dem Wagen, und Robby schaute sich nach dem Escort um. Es war ein beliebtes Einkaufszentrum, und der Parkplatz war immer gut besetzt. Heute war es nicht anders. Der Platz war voll, und die Autos fuhren langsam im Kreis herum, auf der Suche nach freien Lücken; immer wieder mußten sie anhalten, wenn Käufer schwer bepackt mit Taschen und Plastiktüten oder Einkaufswagen vor sich herschiebend die Straßen überquerten. Er konnte den Escort nirgends entdecken. »Was ist los?« fragte Dylan. »Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen.« »Ach, nichts. Laß uns gehen.« Nach einem weiteren verstohlenen Blick über die Schulter folgte Robby seinem Freund in das Wherehouse. Ich bin hundemüde, das ist alles, dachte er. Ich hab nicht gut geschlafen, und das macht mich nervös. Verfolgungswahn. Mehr nicht. Dylan entdeckte das Album von Metal Church und verkündete lauthals die obszönsten Spekulationen bezüglich der sexuellen Praktiken – oraler und auch anderer – von Jerry Falwell und Tipper Gore, während er und Robby sich das Plattencover anschauten. Robby war nicht besonders interessiert – das Cover zeigte die üblichen Drudenfüße, 127
Ziegenköpfe und Frauen in Ketten. Er schaute quer durch den Laden zum Schaufenster … … hinter dem ein Mann draußen auf dem Gehsteig stand, ein Mann, der sich auf seinen Stock stützte und dessen Atem das Glas vor seinem unheimlichen Gesicht hatte beschlagen lassen. »Du heilige Scheiße«, flüsterte Robby und drehte dem Fenster den Rücken zu. »Was?« »Komm, wir müssen gehen. Gibt’s hier einen Hinterausgang?« »Was, zum Teufel, ist bloß los mit dir?« »Der Mann dort folgt mir.« »Welcher Mann?« »Der … « Er war verschwunden. »Du bist immer noch krank, ja?« fragte Dylan mit gerunzelter Stirn. »Hast du Fieber?« Robby antwortete nicht. Er starrte hinüber zum Fenster, und das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. »Ich geh noch rüber zu den ClXs.« Dylan drückte ihm das Metal-Church-Album in die Hand und ließ ihn stehen. Robby starrte einen Moment lang ausdruckslos auf die Hülle, dann steckte er sie zurück an ihren Platz und ging die anderen Platten durch, als würde er nach einem ganz bestimmten Album suchen. Er versuchte sich einzureden, daß es lächerlich war, sich wegen eines fremden Mannes es so aufzuregen. Nur weil sein Gesicht entstellt war, mußte er noch lange kein geisteskranker Messerstecher sein. Außerdem war es absolut nicht sicher, daß es derselbe Mann war, den Lorelle gestern nacht der Polizei beschrieben hatte. Vielleicht bin ich wirklich krank, dachte er und legte die Handfläche gegen die Stirn, um Anzeichen von Fieber zu 128
entdecken. »Bitte, hör mir zu und lauf nicht weg.« Robby hielt den Atem an, als er sich zu dem Mann umdrehte, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war. »Ich will dir nichts tun. Ich will dich bloß warnen. Du mußt mir zuhören.« Er schaute hinunter auf die Schallplatten und wandte Robby lediglich die rechte Gesichtshälfte zu. »Wer s-sind Sie?« »Das spielt keine Rolle. Du mußt nur wissen, daß du in Gefahr bist. Deine ganze Familie ist in Gefahr. Ja, sogar deine gesamte Nachbar … « Plötzlicher Zorn durchfuhr Robby, und es brach aus ihm heraus: »Hören Sie, Mister, ich muß Ihnen überhaupt nicht zuhören, kapiert? Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber wenn Sie weiterhin in unserer Straße herumschleichen und meine kleine Schwester belästigen, dann melde ich das … « Jetzt schaute der Mann ihm frontal ins Gesicht, und Robby blieben die Worte im Hals stecken. Die linke Seite seines Mundes war aufgeschnitten, hinauf bis zum Wangenknochen, der aussah, als wäre er in zwei Hälften zerbrochen und später wieder zusammengeflickt worden. Die zurückgebliebene Narbe hatte den äußersten Winkel seines linken Auges nach unten gezogen und die Wange mit einer Kräuselung wie eine überdimensionale, farblose Rosine überzogen. »Schau mich an«, flüsterte der Mann. »Schau mich genau an. Möchtest du, daß dir solches widerfährt? Dir oder deiner Familie?« Robby, dem flau im Magen wurde, wich langsam zurück, stolperte und suchte Halt am Schallplattenständer. »Und jetzt hör mir zu. Du mußt mir zuhören. Ihr seid alle in Gefahr. Du weißt doch, daß etwas nicht stimmt. Ich glaube, ganz tief drinnen weißt du es. Stimmt’s nicht?« Robby stolperte weiter rückwärts und stieß gegen den 129
Tresen. Als er sich umdrehte, sah er, daß die Kassiererin, eine selbstbewußte Blondine, die einen Telefonhörer am Ohr hatte, ihn finster anschaute, als wäre er ein betrunkener Randalierer. Dann wandte sie sich ab und setzte ihr Gespräch fort. »Ach, nichts«, murmelte sie in die Sprechmuschel. »Da ist nur so ein Kerl … « Als Robby sich umdrehte, kam der Mann auf ihn zu; obwohl er sich auf einen Gehstock stützte, schwankte er hin und her und … … Robby hielt nach Dylan Ausschau und entdeckte ihn in einer anderen Ecke des Ladens, wo er die CD-Regale durchforstete, und … … der Mann sagte leise: »Sie ist böse.« Robby versuchte, Dylans Namen zu rufen, aber seine Kehle war ausgetrocknet, und er brachte nur ein unverständliches Flüstern hervor. Seine Hände brannten, als seien sie erfroren, und während der Mann näherkam, versuchte Robby, die verkrampften Finger zu bewegen. »Du weißt, daß sie böse ist«, flüsterte er. »Du weißt es doch.« Robby drehte sich hastig um und lief auf den Ausgang zu, dabei stieß er einen Ständer mit Postkarten um. Draußen sog er die frische Luft tief in sich hinein, bevor er weiterhastete, den Gehsteig entlang. Über die Schulter zurückschauend, sah er, wie der Mann aus der Ladentür trat. »Du wirst schon sehen!« rief der Mann ihm nach. »Sie schläft niemals! Dazu bleibt ihr gar keine Zeit, so viele Seelen muß sie fressen!« Robby fiel in einen Dauerlauf, drängelte sich an den Leuten vorbei, die vor ihm gingen, stieß die aus dem Weg, die ihm entgegenkamen, schaute jede Frau an, die vorüberging, und hielt verzweifelt Ausschau nach Mrs. Garry. Die Leute blickten nur kurz auf, und im nächsten Moment waren sie mit den Gedanken wieder bei ihren Einkäufen. 130
Robby wollte nur nach Hause. Vor Albertson’s fand er Mrs. Garry. Obwohl ihm das Herz gegen die Rippen hämmerte, schien ihr nichts weiter aufzufallen, also gelang es ihm ganz offensichtlich, äußerlich einigermaßen ruhig zu erscheinen. Er hielt nach dem Mann Ausschau, während sie zum Wherehouse hinübergingen. Robby konnte ihn nirgends entdecken, aber er suchte weiter nach ihm. Mrs. Garry steckte den Kopf durch die Ladentür und winkte Dylan zu sich. »Wo bist du gewesen?« fragte er Robby auf dem Weg zum Auto. »Draußen. Die Platten haben mich nicht mehr interessiert.« »Ist dir klar, daß du da drinnen den Postkartenständer umgeworfen hast? Die Kleine hinter der Kasse hat dich für einen Betrunkenen gehalten.« »Ehrlich?« kicherte Robby. Sein Hals war noch immer trocken. »Na, so was.« Als er zu Hause ankam, war ihm danach, sich zu betrinken, und er fragte sich, ob die Eltern es wohl merken würden, wenn er sich über den Wodka hermachte. Sein Dad hatte sich im Fernsehsessel im Wohnzimmer ausgestreckt und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen einer Illustrierten und einem alten Film, der über den Bildschirm flimmerte. »Hey, Dad.« Er nickte, ohne auch nur hochzuschauen. »Wo ist Mom?« »Drüben.« »Was?« »Sie ist zu Lor … Miss Dupree hinübergegangen. Ich glaube, sie wollte ihr etwas von dem Bananen-Nuß-Brot bringen.« »Ah, ja«, murmelte Robby. Er lief eilig in die Küche, öffnete den Schrank und nahm ein paar lange, ausgiebige Schlucke aus 131
der Wodkaflasche.
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9 SAMSTAGNACHT Karen ging um halb elf ins Bett, aber sie lag noch lange wach und dachte über das nach, was sie am Nachmittag getan hatte. Einmal stand sie kurz auf, ging hinüber zu ihrem Schmuckkästchen und nahm den kleinen silbernen Anhänger heraus, den Lorelle ihr geschenkt hatte. Jetzt, wo es vorbei war, haßte sie sich dafür, aber heute nachmittag hatte sie sich gefühlt wie ein Junkie, der den nächsten Schuß braucht. Es war so still im Haus gewesen, so voller Spannung, und sie wollte sich einfach besser fühlen. Während sie versucht hatte, sich in dieser unangenehm gespannten Atmosphäre zu beschäftigen, war ihr immer wieder eingefallen, wie gut sie sich am Freitagnachmittag bei Lorelle gefühlt hatte – wie … begehrt –, und sie erinnerte sich auch an die Orgasmen, die sie gehabt hatte, einen nach dem anderen; zuerst war sie sanft wie eine Feder von ihnen gestreichelt worden, und später dann überrollt wie von einem Schnellzug. Sie hätte nie zu träumen gewagt, daß jemand solche Gefühle in ihr wecken konnte, daß sie zu derart intensiven, körperlich erschütternden Erlebnissen der Lust fähig wäre. Als sie angefangen hatte, das Bananen-Nuß-Brot zu backen, redete sie sich noch ein, es sei für die Kinder, weil die es so gerne mochten, aber ganz tief drinnen, dort, wo sie nur selten hinschaute, wußte sie, daß sie es aus einem anderen Grund tat… … denn sie brauchte ja einen Grund, um zu Lorelle hinübergehen zu können. Und das hatte sie getan. Sie hatte zugelassen, daß alles noch einmal passierte. Und jetzt lag sie im Bett und haßte sich dafür. Aber sie haßte sich nicht so sehr wie nach dem ersten Mal. 133
Und diesmal mischte sich auch ein bißchen Haß auf George darunter, daß er es nie geschafft hatte, diese Gefühle in ihr hervorzurufen. Während sie so im Bett lag und sich selber zärtlich berührte, fragte sich Karen, ob sie sich beim dritten Mal vielleicht sogar noch weniger dafür hassen würde. Sie ließ ihre Hand zwischen den Beinen liegen, als George das Zimmer betrat, tat aber so, als schliefe sie und hoffte, er würde nicht versuchen, sie anzusprechen … Nur Sekunden nachdem George es sich unter der Decke bequem gemacht hatte, sprang Monroe aufs Bett, schnurrte und scharrte sich auf dem Laken zwischen George und Karen ein behagliches Plätzchen zurecht, auf dem er sich zusammenrollen wollte. Den ganzen Tag über duldete George den Kater, an jedem Ort im Haus, aber er hatte Karen tausendmal gesagt, daß Monroe nichts im Schlafzimmer zu suchen hatte, nachdem sie zu Bett gegangen waren. Es war ein langer Tag gewesen, kalt und ungemütlich, sowohl draußen als auch im Haus. Er wußte genau, daß es zum Teil an dem schlechten Gewissen lag, an der Scham über das, was in der Nacht zuvor in ihrem Schlafzimmer passiert war. Aber er wußte nicht, was mit Karen los war; er hatte gehofft, sie würde versuchen, ihn ein bißchen aufzumuntern, wie sie es sonst immer tat, wenn er sich nicht gut fühlte. Aber diesmal hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen, und das ärgerte ihn. Und als sie dann noch für ein paar Stunden zu Lorelle hinüberging, hatte ihn das ganz schön nervös gemacht. Wenn nun Lorelle eine von denen war, die ihre Klappe nicht halten konnten? Stellen Sie sich mal vor, was ihr Mann letzte Nacht mit mir gemacht hat … auf dem Teppich in Ihrem Schlafzimmer … während Sie fest geschlafen haben … Es dauerte eine Weile, bis er sich klargemacht hatte, daß 134
diese Furcht lächerlich war. Lorelle wohnte jetzt im Haus gegenüber, und sie würde doch, um Himmels willen, nicht gleich das Nest beschmutzen wollen, in dem sie zu leben beabsichtigte. Aber nachdem Karen zurück war, war sie noch kälter und distanzierter gewesen, und das hatte seine Laune nicht gerade verbessert. Der Kater auf dem Bett brachte das Faß zum überlaufen. George pflegte Monroe normalerweise hochzunehmen und vorsichtig in den Flur zu setzen. Diesmal machte er es anders. Er riß den Fuß unter der Decke hervor und versetzte dem Kater einen Tritt, daß er vom Bett flog. Monroe heulte auf, während er durch die Luft segelte, und krallte sich bei der Landung in den Teppich. Karen saß kerzengerade im Bett, als George ihren Kater durch das Zimmer jagte, bis das Tier schließlich unter dem Bett in der Falle saß. Er kümmerte sich nicht um die Kratzer, die er ohne Zweifel davontragen würde, und langte unter das Bett, wo Monroe fauchend und spuckend kauerte. Schließlich bekam er ein Stück Fell zu fassen, zerrte den sich wehrenden Kater hervor, trug ihn zur Tür und schleuderte ihn hinaus in den Flur. »Zum Teufel, George!« schimpfte Karen und sprang aus dem Bett. »Ich hab dir gesagt, daß der Kater hier drinnen nichts zu suchen hat, wenn wir schlafen.« »Aber du mußtest ihn nicht so behandeln!« »Vielleicht war ihm das ein- für allemal eine Lehre.« »Mein Gott!« Sie zog den Morgenmantel über und folgte Monroe nach draußen, während George sich wieder ins Bett legte. Aber er wußte genau, daß er nicht einschlafen konnte. Vielleicht war das brutal gewesen, aber es hatte ihm gut getan, Monroe ein bißchen durch die Gegend zu scheuchen – und jetzt war er vollgepumpt mit Adrenalin. Sogar zwischen den Beinen begann sich etwas zu rühren … 135
Karen kam kurz darauf wieder zurück und schnappte sich ihr Bettzeug. »Was tust du?« fragte George. »Ich schlafe nicht so gerne neben jemand, der wehrlose Tiere mißhandelt.« »Du kannst ruhig hierbleiben«, antwortete er und stieg aus dem Bett. »Ich räume das Feld.« Er schlüpfte in seine Hose, zog sich ein T-Shirt über, holte eine Wolldecke aus dem Schrank und nahm sein Kopfkissen mit. Im Wohnzimmer warf er Kopfkissen und Decke auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Saturday Night Live war gerade zu Ende, und George fiel ein, daß Jen und Robby normalerweise aufblieben, um diese Sendung zu sehen, aber sie waren schon vor ein paar Stunden zu Bett gegangen. Heute benahmen sie sich alle so seltsam. George war überhaupt nicht müde. Er ging in die Küche, um sich ein Cola-Rum zu mixen, aber dann beschloß er, auf das Cola zu verzichten. Zurück im Wohnzimmer, schaute er gelangweilt aus dem Fenster und war äußerst erstaunt, auf der anderen Straßenseite Dylan Garry zu entdecken, der den Gehsteig entlang zu seinem Haus schlurfte. Sein Gang war merkwürdig, beinahe zog er die Füße etwas nach, die Hände hatte er tief in den Jackentaschen vergraben, und sein Kopf hing herunter. Humpelte er? Oder war es ein Torkeln? Vielleicht war er angetrunken. Wahrscheinlich sogar. George fragte sich, ob er zuhause wohl Ärger bekommen würde. Was ihn betraf, so fand er es nicht so schlimm, wenn ein Junge mal einen über den Durst trank, solange er nur die Finger von Koks oder Crack ließ. Hinter Dylan fiel ein sanfter Lichtschein aus Lorelles Schlafzimmer, wo sie hinter der Scheibe stand und die Vorhänge auseinanderhielt. Das Licht schimmerte durch die weiten Ärmel ihres hauchdünnen Morgenrocks. Unter dem Morgenrock schien sie – auch wenn es schwer zu erkennen war 136
– einen … Badeanzug zu tragen. Sie schaute Dylan nach, der den Gehsteig entlangschwankte, dann verschwand sie einen Moment lang und kam mit einer brennenden Kerze zurück, die sie auf der Fensterbank abstellte. Das Kerzenlicht beleuchtete den schwarzroten Bodystocking, den sie trug, und flackerte über ihr Gesicht, als sie George über die Straße hinweg zulächelte. Sie langte nach unten und hob etwas auf … mit dem Zeigefinger der anderen Hand tippte sie darauf herum … Ein Telefon. Sie ruft hier an, dachte George und hastete in die Küche zum Telefon, bereit, den Hörer von der Gabel zu reißen, damit das Klingeln bloß niemanden aufweckte. Noch nicht einmal ein halbes Klingelzeichen war vorüber, da hielt er den Hörer schon an sein Ohr. »Hal-hallo?« »George«, gurrte sie. »Du bist noch auf?« »Ja, ich … ich konnte nicht schlafen.« »Ich kann auch nicht schlafen. Warum probieren wir’s nicht zusammen?« »Hör mal, Lorelle, letzte Nacht … was da passiert ist … Ich weiß nicht, wie du hier reingekommen bist, aber es hat mir großen Spaß gemacht … es war sehr schön, aber ich darf nicht… « »Ich habe einen Vibrator, George, und ich möchte gern, daß du es mir von oben besorgst, während ich mir den Vibrator von hinten dazwischenschiebe.« Es klang, als würde sie mit ihm diskutieren, in welcher Farbe sie ihr Haus streichen sollte. »Meinst du nicht, daß sich das gut anfühlt, George?« Sein Mund bewegte sich, aber er brachte keinen Ton hervor. »Denk drüber nach, George. Aber laß mich nicht zu lange warten. Ich laß die Kerze im Fenster stehen. Wenn sie verlischt, hast du die Gelegenheit verpaßt. Es ist eine sehr kleine Kerze, George.« 137
Sie legte auf. George ging in der Küche auf und ab, schenkte sich noch etwas Rum nach und kippte ihn runter. Es brannte in seinem Bauch und breitete sich wie ein warmer Blitz über seinen ganzen Körper aus, während George sich die Schläfen rieb und überlegte … überlegte … Schließlich drehte er sich um; in der Küchentür stand Monroe und fauchte ihn an. George machte einen Schritt auf ihn zu und stieß einen obszönen Fluch zwischen den Zähnen hervor, während er ausholte, um dem Kater einen Tritt zu verpassen. Er malte sich bereits aus, was das für ein Vergnügen wäre, die Fußspitze gegen den kleinen Kopf des Tiers zu stoßen, da war Monroe schon im Flur verschwunden. George kippte noch einen schnellen Drink hinunter, bevor er zum Wandschrank im Flur ging und sein Jackett herausholte. … so viele Seelen muß sie fressen! So viele Seelen muß sie fressen! So viele Seelen … … Robby wurde bereits zum dritten Mal in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen. Die Bettücher waren ganz klamm von seinem Schweiß. Es war ein paar Minuten nach vier. Am Abend hatte er eine Thermoskanne mit Wodka in sein Zimmer geschmuggelt. Er hatte gehofft, sich mit Alkohol betäuben zu können, aber es hatte nicht so funktioniert, wie er es sich vorstellte. Der Mann war ein Verrückter, weiter nichts. Es mußte einfach so sein. Er hat nicht von Lorelle gesprochen … das war einfach nur … dummes Geplapper. Aber alle diese Überlegungen machten den Mann – und sein Gerede – um keinen Deut weniger beunruhigend. Das ganze Zusammentreffen war so unwirklich gewesen, hatte so sehr einer Sequenz aus einem schlechten Horrorfilm geähnelt, daß Robby es nicht über sich brachte, irgendjemand davon zu erzählen, auch wenn ihm bewußt war, daß er es eigentlich tun 138
müßte. Aber wem? Sein Dad war nicht in der Stimmung, ihm zuzuhören, und seine Mom … Nachdem sie heute abend von Lorelle zurückgekehrt war, hatte sie noch schlechter ausgesehen, und als Robby sie fragte, ob alles in Ordnung sei, hatte sie ihren Zustand auf die Grippe geschoben und gesagt, sie würde ein Aspirin nehmen und früh zu Bett gehen. Robby war auch früh zu Bett gegangen, in der Hoffnung, sich mit Alkohol betäuben zu können. Aber immer war er plötzlich aufgewacht, schweißüberströmt war er von einem Alptraum in den nächsten getrieben. Vorhin hatte er das Fenster geöffnet, weil er sich davon ein wenig Kühlung versprach, aber auch das hatte nichts genützt, denn schon wieder klebte die Decke wie eine zweite Haut an ihm, und seine Brust hob und senkte sich schwer, während er mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit seines Zimmers starrte. Seufzend langte er hinüber, knipste die Nachttischlampe an und … … da beugte sich Lorelle über ihn und flüsterte: »Hallo, Robby.« »Jesus Chrrr … wie sind Sie … wie sind Sie in mein Zimmer… « Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen und zischte: »Pssst«, während sie eines ihrer Knie auf das Bett gleiten ließ. Sie war nackt, und ihre Brüste wogten über ihm hin und her. Mit der Handfläche streichelte sie seine schweißnasse Brust, bewegte sich noch weiter herunter und leckte ihm die Brust und den Bauch ab. »Mmmhh, ich liebe Schweiß«, murmelte sie, bevor sie seinen Schwanz in den Mund nahm und damit alle Fragen erstickte, die Robby noch auf der Zunge lagen. Das konnte doch nicht sein … sie konnte doch nicht einfach so in ihr verschlossenes Haus eingedrungen sein, morgens um vier … es mußte sie doch jemand gehört haben … es sei denn … 139
… ich träume, dachte Robby, das ist alles … ein Traum … Er vergaß den Mann mit dem Gehstock und die seltsamen Dinge, die er gesagt hatte. Ein paar Minuten hatte er sogar vergessen, daß Lorelle eigentlich gar nicht hier sein konnte – er wußte, daß er nicht träumte, denn Träume waren nicht so lebendig, in Träumen fühlte man sich nicht so herrlich … Er gab sich dem hin, was sie mit ihm machte. Robby hatte vier Orgasmen; ein- oder zweimal schrie er sogar, und er war sicher, daß man ihn gehört haben mußte, aber niemand kam an seine Tür. Nach dem vierten Mal fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er erst am Mittag wieder erwachte.
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10 DIE GRIPPE Es war die naßkalte Jahreszeit, die Hochsaison für die Grippe, wie die Werbespots im Fernsehen ihren sich schneuzenden Zuschauern immer wieder versicherten, und deshalb war niemand erstaunt, daß die Grippe auch in der Deerfield Avenue umging. Aber dieses Jahr schien sie alle gleichzeitig erwischt zu haben, und dieser eigenartige Virus rief deprimierendere Beschwernisse hervor als in anderen Jahren. Die Grippe war nicht von den typischen Symptomen wie Gliederschmerzen oder Erbrechen und Durchfall begleitet; statt dessen klagten die Leute über eine einfache, aber überwältigende Müdigkeit. Jen war die einzige im Haus, die noch etwas Energie hatte. Robby und George verbrachten den größten Teil des Sonntags dösend in Sesseln, auf dem Sofa oder im Bett, während Karen – wie die meisten Mütter – versuchte, ihren normalen Beschäftigungen nachzugehen, wenn auch mit wenig Erfolg. Alle schlichen müde, mit bleichen Gesichtern durch das Haus, sahen erschöpft und mißgelaunt aus. George erwachte überhaupt nur ein einziges Mal an diesem Tag zum Leben, als nämlich Monroe, der sich auf der Couch zusammengerollt hatte ihn anfauchte, und versuchte, rechtzeitig aus dem Wohnzimmer zu flüchten. George schubste den Kater gegen die Wand und stieß dabei einen gräßlichen Fluch aus. Monroe floh schreiend in die Küche, wo Karen aus Wut über die Behandlung ihres Schoßtierchens die Kaffeekanne in die Spüle schmetterte und damit den ganzen Kaffee über Wand und Küchentheke verspritzte. Robby war nicht so benebelt, daß ihm die Spannung nicht aufgefallen wäre, die im Haus herrschte, und irgendwann am Nachmittag beschloß er rauszugehen, egal, wie er sich fühlte. Er rief Dylan an, um ihn zu fragen, ob er nicht Lust hätte, mit 141
ihm spazierenzugehen, etwas zu unternehmen. Irgend etwas. »Tut mir leid, Robby«, sagte Mrs. Garry, »aber Dylan liegt im Bett.« Ihre Stimme klang angespannt, als hielte sie ihren Ärger zurück. »Ich glaube, er hat sich bei dir die Grippe geholt. Er hat kein Fieber, und eigentlich ist er auch nicht richtig krank, aber er ist ganz blaß und zittrig und kommt irgendwie nicht auf die Beine.« »Ach?« antwortete Robby. »Ja, das haben wir hier auch im Haus. Wahrscheinlich geht’s gerade um.« »Muß wohl. Ich werde ihm sagen, daß du angerufen hast.« Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Da er keine Lust hatte, alleine auszugehen, legte Robby sich wieder auf die Couch, wo er vor dem Fernseher einschlief. Auch Karen fühlte sich wie eingesperrt und schlenderte durch den Regen die Straße hinauf, um Lynda einen Besuch abzustatten, aber im Haushalt der Cranes sah es auch nicht viel besser aus. Die Zwillinge saßen im Wohnzimmer vorm Fernseher, starrten mit kalten, übellaunigen Gesichtern auf den Bildschirm und schauten nicht einmal hoch, als Karen hereinkam. Die Stimmung im Haus war geladen. Lynda saß kettenrauchend im Eßzimmer und sortierte einen Stapel alter Zeitschriften. »Aus irgendeinem Grund hab ich die ganzen Dinger aufbewahrt«, sagte sie und paffte eine Wolke blauen Qualms in die Luft, »aber jetzt weiß ich nicht, warum.« »Wo ist Al?« »Im Bett. Er … fühlt sich nicht gut.« Verbitterung lag in ihrer Stimme, als sie von Al sprach. »Und die Zwillinge auch nicht. Ich glaube, sie haben sich einen Grippevirus oder sowas eingefangen. Und ich … nun … ich bin selbst nicht gerade in bester Stimmung.« »Was ist los?« Sie schüttelte den Kopf, und einen Augenblick lang schien 142
sie den Tränen nahe zu sein. »Al und ich haben Krach. Glaube ich.« »Was? Warum hast du mich nicht angerufen? Es ist ‘ne Woche her, daß wir miteinander geredet haben. Oder sogar zwei. Was ist los mit euch? Was soll das heißen, du glaubst, daß ihr Krach habt?« »Ich weiß nicht. Bis Freitagabend war alles in schönster Ordnung, und dann … schien er plötzlich mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Er redete nicht mehr mit mir und war schlechter Laune. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, lag er nicht im Bett – sondern hatte sich im Gästezimmer hingelegt. Gestern morgen dann stand er im Vorgarten und redete mit dieser Frau, die ins Haus der Huitts eingezogen ist. Sie führte gerade ihre Hunde spazieren. Zu ihr konnte er auf einmal freundlich sein, erzählte ihr etwas, lachte mit ihr, also ging ich davon aus, daß seine schlechte Laune verflogen wäre, was für einen Grund sie auch immer gehabt haben mochte. Aber als er wieder reinkam, war’s … noch schlimmer als vorher. Er redete kein Wort mit mir. Weißt du, so ist es noch nie gewesen, wir haben uns immer gesagt, wenn etwas nicht stimmte. Also hab ich mich zu ihm gesetzt und ihm vorgeschlagen, wir könnten doch etwas zusammen machen an diesem Tag, nur wir beide. Ich hätte die Zwillinge zu dir geschickt, und dann wären wir auf den Flohmarkt gegangen, wie wir’s früher immer gemacht haben, oder wir wären Essen gegangen, und dann hätte ich mit ihm geredet und versucht herauszufinden, was ihm für eine Laus über die Leber gelaufen ist. Er fühlte sich wohl nicht besonders – ich meine, er sah auch wirklich schlecht aus –, aber er ging auf meinen Vorschlag ein, ohne eigentlich zu wollen, nur, damit ich endlich die Klappe hielt, verstehst du? Und in diesem Moment sahen die Zwillinge diese Frau wieder die Straße entlangkommen, und sie waren so fasziniert von den beiden Hunden, daß Al mit ihnen nach draußen ging, um sie der Frau vorzustellen. Ich ging ebenfalls hinaus, um sie 143
kennenzulernen, und ich fand sie auch ganz nett. Als Al ihr erzählte, daß wir ausgehen wollten, bot sie uns an, die Zwillinge zu nehmen, dann könnten sie mit den Hunden spielen, und Al sagte gleich, sicher, warum nicht, und die Kinder waren begeistert von der Idee. Wir gingen Essen, aber er redete immer noch nicht mit mir. Und als ich herauszufinden versuchte, was mit ihm los sei, raunzte er mich an, das ginge mich einen Scheißdreck an, er würde es mir erzählen, wenn er darüber reden wolle, und so gingen wir wieder nach Hause. Als wir dort ankamen, sahen die Zwillinge auch nicht so besonders aus. Und seitdem fühlen sie sich nicht gut. Ich glaube, bei uns geht die Grippe um, aber … ich komme mir vor, als sei ich ganz allein hier im Haus, und langsam hab ich davon die Nase voll. Er will immer noch nicht mit mir reden, und ich habe keine Ahnung, warum.« Sie war kurz davor loszuheulen, aber dann räusperte sie sich und versuchte, ein munteres Gesicht zu machen. »Je, nun – wir sind schon so lange verheiratet, und das ist das erste Mal, daß wir so eine lange Fehde des Schweigens haben, ohne ersichtlichen Grund. Wahrscheinlich passiert das aber in jeder Ehe, und jetzt waren eben mal wir an der Reihe.« Karen verschwieg, daß sie mit George gerade etwas Ähnliches durchmachte, und versuchte statt dessen, ihre Freundin zu beruhigen und es auf die Grippe zu schieben. »Das ist’n ganz übler Virus dieses Jahr«, sagte sie. »Er macht jeden übellaunig und irgendwie … aggressiv. Weißt du. Wenn Al sich besser fühlt, ist alles wieder in Ordnung.« Aber so sehr Lynda sich auch bemühte, ihre Sorgen zu verbergen, verscheuchen ließen sie sich nicht, und irgendwie war sie nicht die Gesellschaft, die Karen sich gewünscht hatte. Also dachte sie sich eine Entschuldigung aus und zog weiter ins Haus gegenüber, zu Betty LaBianco. Es war eigentlich noch nicht nötig, daß sie etwas bei ihr bestellte, aber so hatte sie wenigstens einen Grund. Ed LaBianco hielt seinen Vorgarten immer in einem 144
tadellosen Zustand, und manchmal dachte Karen bei sich, daß er sich mehr um den Rasen und die Gartengeräte kümmerte als um Betty. Aber als sie jetzt den Weg zur Eingangstür hinaufging, mußte sie feststellen, daß Ed seinen Rasenmäher mitten auf dem Rasen zurückgelassen hatte. Im strömenden Regen. Sie runzelte die Stirn, als sie daran vorbeiging. Das sah Ed nun wirklich nicht ähnlich. Ed öffnete ihr die Tür, und er sah aus, als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Er war ein kleiner, fröhlicher, kahlköpfiger Mann mit einer schnabelförmigen Nase und einem vergnügten Lächeln, aber jetzt lächelte er nicht. Eher sah er so aus, als hätte er geweint. Sein rundliches Gesicht war rot und verquollen. »Betty liegt im Bett«, sagte er mit müder Stimme. »Sie fühlt sich nicht gut. Und ich mich auch nicht, ehrlich gesagt.« »Oh, es tut mir leid, das zu hören. Sagen Sie ihr bitte, daß ich vorbeigeschaut habe?« »Ja, sicher.« »Ach, und Ed, Ihr Rasenmäher steht … « Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Karen blieb einen Moment lang auf dem Treppenabsatz stehen, erstaunt darüber, wie kurz angebunden er war, aber dann machte sie sich auf den Heimweg. Sie hatte das Haus verlassen, weil sie hoffte, auf andere Gedanken zu kommen, aber jetzt war ihre Stimmung nur noch düsterer. Vielleicht weiß jeder in der Nachbarschaft schon Bescheid, dachte Karen. Sie beschloß, sich wieder ins Bett zu legen. Nur ein Haus schien von der Grippe unberührt zu sein. Lorelle Dupree sah aus wie das blühende Leben, als sie ihre Hunde die Auffahrt hinunter und auf die Straße führte. Jen verließ gerade das Haus, als ihre Mutter zurückkam. »Wohin willst du?« fragte Karen. 145
»Ich gehe zu Tara und Dana.« »Mm-mm. Sie sind krank.« »Sind denn hier alle krank?« »Sieht ganz so aus.« Sie ging ins Haus. Jen schaute hinüber zu Miss Dupree, die sich gerade auf ihren Spaziergang mit den Hunden machte. Miss Dupree blieb stehen, lächelte Jen zu und rief: »Hi!« »Hallo.« Jen blieb auf ihrer Straßenseite. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie wurde das merkwürdige Gefühl nicht los, daß mit dieser Miss Dupree etwas nicht stimmte. Miss Dupree schien zu spüren, daß Jen nicht zu ihr kommen wollte, also führte sie ihre Hunde über die Straße. »Möchtest du ein Stückchen mit uns gehen?« fragte sie. Einer der beiden Hunde drückte seine Nase in Jens Hand und schleckte ihr über die Handfläche, während der andere seine Pfote hob und ihr auf den Arm legte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Jen lachte und tätschelte die beiden. »Warum kommst du nicht mit uns? Nur bis zum Ende der Straße und wieder zurück.« »Okay.« Während sie langsam weitergingen und Jen den Hund tätschelte, der neben ihr ging, fragte Miss Dupree sie nach Schule, Freunden und Hobbys aus und was sie in den Sommerferien gemacht habe. Sie kamen an die Kreuzung Deerfield Avenue und Mistletoe Street. Die Hunde blieben stehen und spitzten aufmerksam die Ohren. Plötzlich schossen sie beide nach vorne, legten sich in die Leinen und bellten laut und böse schräg hinüber zur linken Straßenecke. »Ruhig!« befahl Miss Dupree, und die Hunde schwiegen abgesehen von einem leisen, kehligen Knurren. Miss Dupree schaute in die Richtung, für die ihre Hunde sich interessierten, und Jen schaute ebenfalls hinüber. Ein braunes Auto stand an der Ecke, in der Mistletoe Street, 146
mit der Frontseite nach Westen. Es saß jemand hinterm Lenkrad, aber das Licht des stahlgrauen Himmels spiegelte sich in der Frontscheibe und verbarg das Gesicht des Fahrers. Der Motor sprang an, und langsam setzte sich das Auto in Bewegung und fuhr davon. Miss Dupree schaute ihm mit unbeweglichem Gesicht nach. Die Hunde winselten und drehten sich zu ihr um, als wollten sie fragen, was sie als nächstes tun sollten. »Ist schon gut«, flüsterte sie ihnen zu, drehte sich um und ging zurück, die Deerfield Avenue entlang. Nach einer Pause fragte sie Jen: »Wo ist übrigens Robby? Ich hab ihn heute noch gar nicht gesehen.« »Er fühlt sich nicht gut.« »Oh, das tut mir leid.« Jen beobachtete Miss Duprees Gesicht genau – auch wenn sie nicht genau wußte, was sie dort suchte –, während sie sagte: »Er fühlt sich irgendwie nicht wohl, seitdem er Ihnen beim Einzug geholfen hat.« »Wirklich? Das ist ja schlimm.« »Und Mom auch nicht. Seit Freitag.« »Ach?« »Dad geht es in den letzten beiden Tagen auch irgendwie schlecht.« »Dann mußt du dich ja sehr einsam fühlen, wenn dir niemand Gesellschaft leistet. Warum kommst du nicht rüber zu mir?« Jen hob die Schultern. »Bist du nicht sowieso ziemlich einsam zuhause, wo du doch nur einen Bruder hast? Vertragt ihr euch gut?« Noch ein Schulterzucken. »Ganz gut, glaub ich.« »Wirklich? Ich kenne ein paar Mädchen, die können ihre Brüder nicht ausstehen.« »Doch, ich mag ihn ganz gern. Er ist klug.« Sie lächelte. »Er bekommt immer gute Noten. Bessere als ich. Die Schule fällt 147
mir manchmal sehr schwer, aber Robby scheint damit gar keine Probleme zu haben.« »Hilft er dir bei den Hausaufgaben?« »Das macht normalerweise Dad. Manchmal wünsche ich mir, Robby würde es tun, aber … er hat keine Zeit, wissen Sie.« »Aber das ist doch kein Grund, dir nicht bei den Hausaufgaben zu helfen. Kümmert er sich überhaupt um dich?« Jen runzelte die Stirn und dachte über die Frage nach. »Manchmal. Nun … manchmal schon. Wir streiten uns ums Fernsehprogramm. Um so etwas.« »Aber doch auf eine nette Weise. Kümmert er sich auch manchmal auf eine nette Weise um dich?« »Oh, ja, sicher, manch … mal.« Aber nicht besonders oft, dachte sie. Sie blieben vor Jens Haus stehen, und Miss Dupree lächelte ihr vorsichtig zu. »Möchtest du, daß er es öfter tut?« Plötzlich wurde Jen mißtrauisch. »Wie meinen Sie das?« »Nun, ich glaube, ich weiß, wie du dich fühlst. Du bewunderst deinen Bruder. Du schaust auf zu ihm. Du hättest gerne, daß er dich … nun, respektvoller behandelt, mit mehr Aufmerksamkeit. Hab ich recht?« Langsam glättete sich Jens Stirn wieder, und sie nickte, aber das innere Mißtrauen wollte nicht so ganz weichen. Sie begann zu spüren, daß mit Miss Dupree etwas nicht stimmte. Mit ihren hübschen Augen und den schönsten weißen Zähnen, die Jen jemals gesehen hatte, sah sie aus wie eine absolut nette Person. Aber trotzdem nagte in Jen weiterhin das Mißtrauen. Sie studierte Miss Duprees Gesicht, und dann … … antwortete sie schließlich: »Ja.« »Nun, wenn du magst, dann glaube ich schon, daß wir ihn dazu bringen können. Gemeinsam.« »Wie?« 148
Miss Dupree schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und streichelte ganz zart ihre Wange. »Ich denk mir was aus.«
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11 EIN NEUES SPIELZEUG »Wirklich, Miss Weiss, ich muß in die nächste Stunde«, sagte Robby. Er stand vor ihrem Pult. »Das ist mir ganz egal, Robby. Ich muß mit dir reden.« Robby legte eine Hand auf ihr Pult und hoffte, daß es nicht zu offensichtlich war, daß er sich abstützen mußte, um nicht zu schwanken. Er fühlte sich schwach und zittrig und war sich gar nicht sicher, ob er sich noch lange aufrechthalten konnte. »Zieh dir einen Sitz heran«, sagte sie. Widerstrebend drehte er sich zu einer der kleinen Schülerbänke um, zog sie näher an ihr Pult heran und ließ sich auf den Sitz fallen, als wollten seine Knie ihn nicht mehr tragen. »Also, Robby, was ist mit dir los?« »Nichts ist los. Ich bin nur … « »Bitte, Robby«, unterbrach sie ihn. »Du warst am Freitag nicht in der Lage, den Test zu schreiben, und jetzt bist du auch für eine Wiederholung nicht bereit. Das sieht dir nicht ähnlich. Das sieht dir absolut nicht ähnlich.« Sie schwieg einen Moment lang, dann fuhr sie fort: »Ich habe heute über dich gesprochen. Mit einer anderen Lehrerin. Du hast einen verdammt guten Ruf hier an der Schule, Robby. Fast überall hundertprozentige A’s. Du bist ein hervorragender Schüler. Also – was ist mit dir los?« »Mit mir ist nichts los. Ich hab’s einfach nur … vergessen.« »Vergessen?« Er nickte, ohne sie dabei anzuschauen. »Ich glaube dir nicht, Robby. Ich gebe zu, daß du nicht besonders gut aussiehst, aber du gehörst nicht zu der Sorte von Schülern, die einfach einen Test vergessen.« Sein Unterkiefer bewegte sich vor und zurück, während er auf den Fußboden starrte. 150
»Ist es, weil du krank bist?« wollte sie wissen. »Du siehst wirklich nicht gut aus. Aber wenn du krank bist, warum bleibst du dann nicht zuhause?« Er antwortete nicht, in der Hoffnung, sie würde das Thema des Zuhausebleibens schnell wieder fallenlassen. »Stimmt bei dir zuhause etwas nicht? Ist es das? Wenn nämlich … « Plötzlich schüttelte Robby heftig den Kopf. »Bist du sicher?« Er schaute sie an und preßte leise zwischen den Zähnen hervor: »Es ist alles in Ordnung – okay?« Miss Weiss lehnte sich nach vorn auf ihr Pult und sagte mit sanfter Stimme: »Und wenn etwas nicht in Ordnung ist, Robby, dann ist es auch okay. Ich meine, jeder hat das … « »Hören Sie, ich mache den Test morgen«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig. Sein Blick wandte sich von ihr ab und huschte durch das Klassenzimmer. »Ich mache ihn morgen. Okay?« Sie schaute ihn einen Moment lang schweigend an, bevor sie fortfuhr: »Hör mir zu, Robby. Wenn es da … Ich meine, wenn ich irgend etwas tun kann … und selbst wenn nicht, vielleicht kann ich dich an jemanden verweisen, der … « »Morgen, ja? Bitte. Ich schreibe ihn morgen, ich versprech’s Ihnen.« »Okay, okay. Morgen werde ich dir denselben Test noch einmal vorlegen. Und ich möchte, daß du alle Fragen beantwortest! Ja? Alle? Du solltest es wenigstens versuchen. Was du heute nicht getan hast, denn zwei Drittel der Fragen hast du nicht einmal beachtet. Und solltest du nicht … Nun, dann werde ich wohl oder übel mit deinen Eltern reden müssen.« Die Angst weitete seine Augen, und sein Nacken versteifte sich, als er zur ihr hochschaute, um zu protestieren, aber er sagte zuerst einmal gar nichts, während seine Hände auf der 151
kleinen Schreibplatte zu zittern anfingen. »Nein«, flüsterte er schließlich. »Das dürfen Sie nicht tun.« »Warum nicht?« Auf einmal war sein Mund ganz trocken. »Ich … will nicht, daß Sie … weil … sie würden es nicht verstehen. Das ist alles.« Und nach einer längeren Pause: »Bitte.« »Und morgen bist du bereit?« Er nickte schnell. »Okay.« Robby erhob sich so hastig, daß die Bank über den Fußboden schrammte. Er ging schwankend auf die Tür zu, und dabei klemmte er seine Bücher fest unter einen Arm. »Robby?« Er blieb stehen und schaute auf seine Füße hinunter, anstatt sich zu ihr umzudrehen. »Nimmst du … irgendwelche Drogen? Oder … « »Nein«, flüsterte er. »Dir geht es nicht gut. Und ich glaube nicht, daß es bloß die Grippe ist. Bist du sicher, daß du mir nichts erzählen willst?« »Es gibt nichts«, murmelte er und war bereits unterwegs zur Tür. »Es ist alles okay.« Er hatte das Klassenzimmer bereits verlassen, ehe sie noch etwas hinzufügen konnte. Robby schlurfte den Korridor entlang, verließ das Gebäude und bemühte sich, seine Füße nicht allzusehr nachzuziehen, als er die Rasenfläche vor dem Schultrakt überquerte, wo jetzt seine Biologiestunde beginnen sollte. Er rechnete damit, daß Dylan in der Halle auf ihn warten würde, aber dann fiel ihm ein, daß sein Freund heute krank zuhause geblieben war. Auch Robby war versucht gewesen, nicht in die Schule zu gehen, aber eigentlich fehlte ihm nichts, einmal abgesehen von dieser Schwäche, die ihm das Gefühl gab, leicht wie eine Feder zu sein – dabei aber beinahe unfähig, aus einem Sessel aufzustehen, oder seine Bücher zu tragen. Trotzdem haßte er es nun einmal, auch nur einen Tag in der Schule zu verpassen. 152
Leider hatte er den Test in Englischer Literatur vollkommen vergessen. Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, zuhause zu bleiben. Er hörte schleppende Schritte im feuchten Gras hinter sich, achtete aber nicht weiter darauf, bis … … eine Hand seinen Arm berührte und eine bekannte Stimme zu ihm sagte: »Deine Schwester ist in Gefahr.« Als Robby sich zu ihm umdrehte, schienen die zerschundenen Züge des Fremden zu zerfallen, als müßte er in ein noch gräßlicheres Antlitz schauen, als in sein eigenes. »Oh, mein Gott«, flüsterte er und drückte Robbys Arm. »Lassen Sie mich los«, sagte Robby und zog seinen Arm zurück. Er wußte, daß es nicht besonders überzeugend geklungen hatte, aber er versuchte es trotzdem weiter. »Ich lasse Sie vom Campus werfen. Sie wissen ja wohl, daß Sie eine Menge Ärger kriegen können, wenn Sie … « »Nein, nein, bitte … « Der Mann starrte Robby einen Augenblick lang an, dann flüsterte er: »Sie hat schon damit angefangen. Sie verliert keine Zeit.« »Wer?« gab Robby zurück. »Du bist krank. Du siehst schrecklich aus.« »Weil ich die Grippe habe. Und das geht Sie einen Dreck an… « »Ist von deiner Familie sonst noch jemand krank?« »Warum? Was interessiert Sie … « Der Mann stieß seinen Gehstock in das nasse Gras, und während sein Gesicht sich zu einer düsteren Grimasse verzerrte, murmelte er: »Sie beeilt sich. Es wird nicht lange dauern, und sie … « Er schaute Robby wieder an. »Du mußt nur zuhören. Ich habe deine Schwester gestern gesehn. Mit ihr.« »Mit wem?« »Du weißt, mit wem.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Zum Teufel, 153
lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Robby drehte auf dem Absatz um und wollte davonlaufen. »Kommt Sie nachts in euer Haus?« fragte ihn der Mann und stellte sich ihm so plötzlich in den Weg, daß er beinahe gestolpert wäre. »Nachdem ihr alle Türen verschlossen habt? Taucht sie einfach so auf? Wie ein Geist? Sie kann jeden in einen tiefen Schlaf versetzen, weißt du. Selbst jemanden, der direkt neben dir liegt. Deshalb können die anderen auch nicht hören, was sie mit dir treibt. Mit mir hat sie’s auch getrieben. Aber nach einer Weile hat sie’s gar nicht mehr nötig, weil sie alle so schwach sind, so krank, daß sie ohnehin die meiste Zeit verschlafen.« Robby versuchte, ihm noch eine Drohung an den Kopf zu werfen, aber er brachte kein Wort hervor. Sein Hals zog sich eisig zusammen, seine Hände zitterten, und er wollte weglaufen, konnte aber nicht. »Du siehst nicht gut aus«, fuhr der Mann fort. »Die Grippe? Ist es das? Ja, das haben wir auch gedacht. Aber jetzt weiß ich es besser. Denn ich glaube kaum, daß die Grippe meine Frau veranlaßt hätte, mit der Motorsäge auf meinen Sohn loszugehen. Oder auf mich. Aber so weit ist es gekommen. Verstehst du?« Er legte die Fingerspitzen auf seine zerstörte Gesichtshälfte. »Das hat sie mit einer Motorsäge gemacht. Vor fünf Jahren. Und wir hatten nicht die Grippe. Aber dafür hatten wir etwas anderes. Eine neue Nachbarin«, flüsterte er. »Eine wunderschöne Frau. Eine äußerst freundliche Frau. Und besonders freundlich war sie zu uns und der Familie drei Häuser weiter.« Er trat einen Schritt näher an Robby heran. »Willst du wissen, was mit der Familie drei Häuser weiter passiert ist?« Der Mann wartete einen Moment, dann sagte er: »Der Nachbar hat seiner neunjährigen Tochter mit dem Kolben seiner Schrotflinte den Schädel eingeschlagen. Und danach hat er seine Frau nackt an einen Stuhl gefesselt, ihr den Lauf zwischen die Schenkel gesteckt und abgedrückt. Sollten in 154
deiner Nachbarschaft noch keine derartigen Dinge passiert sein, wirst du nicht mehr lange darauf warten müssen. Zuerst dachte ich, es ereignet sich erst im Laufe der kommende Monate, aber jetzt weiß ich, daß es bald geschehen wird. Wahrscheinlich sogar sehr bald. Ich weiß es, weil ich dich gesehen habe. Es wird bald geschehen, und vielleicht sogar in deinem Haus. Weil sie dort gegenüber wohnt. Gegenüber von euch. Und sie hat doch schon angefangen, oder? Sie hat dich … verführt? Und wahrscheinlich auch deinen Vater. Vielleicht sogar deine Mutter … « »Sie sind verrückt«, krächzte Robby. Seine Kehle fühlte sich an, als sei sie aus halbtrockenem Zement, die Kopfhaut kroch ihm über den Schädel, und vor den Augen bildete sich ein Schleier. »Bleiben Sie mir vom Leib. Lassen … Sie mich in Ruhe.« »Es wird nicht lange dauern, und dann wirst du feststellen, daß ich die Wahrheit sage«, erwiderte der Mann. Seine Stimme zitterte jetzt vor Erregung. »Die Menschen in deiner Umgebung werden sich verändern. Du wirst dich verändern … deine Gedanken werden nicht mehr deine eigenen sein. Du wirst mich brauchen«, redete der Mann auf Robby ein. »Und wenn es soweit ist … «, er zog einen Zettel aus der Manteltasche und stopfte ihn Robby in die Jacke, » … dann ruf mich unter dieser Nummer an. Ich kann dir helfen. Ich bin der einzige, der weiß, wie man dir helfen kann.« Er drehte sich um und humpelte eilig davon … Robby schleppte sich wie betäubt in den Biologieraum und schob sich unter so lautem Gepolter in seine Bank, daß Mr. Hinchley Deinen Vortrag unterbrechen mußte. Normalerweise wäre es Robby äußerst peinlich gewesen, aber diesmal bemerkte er Mr. Hinchleys eisigen Blick nicht einmal. Mit steifen, mechanischen Bewegungen schlug er das Kollegheft auf dem Pult auf. Mr. Hinchleys Stimme war nur ein weit 155
entferntes Summen; die einzigen deutlichen Worte waren die, die ihm durch den Kopf schwirrten, die Worte des fremden Mannes, mit dem er gerade gesprochen hatte. … sie hat schon angefangen, stimmt’s? Sie hat dich … verführt? Womit angefangen? Womit nur? Weder von der Biologiestunde noch von der folgende Stunde in Sozialkunde bekam Robby etwas mit. Im Bus, der ihn nach Hause brachte, sprach er mit niemandem, und als er die Deerfield Avenue zu seinem Haus entlangging, sah und hörte er nichts. Drinnen sagte Jen etwas zu ihm – etwas über Mom, die früher von der Arbeit nach Hause gekommen sei und krank im Bett läge –, aber er hörte davon kaum mehr als ein verzerrtes Summen, er nahm Jen nicht einmal richtig wahr, ging direkt in sein Zimmer und warf sich aufs Bett, ohne die Jacke auszuziehen. Schlaf. Robby wollte nichts anderes mehr, als sich bis ganz auf den Boden eines tiefen, dunklen, morastigen Schlafs sinken zu lassen. Die Abwärtsfahrt begann in dem Moment, als er unter sich die Matratze fühlte. Schlamm und Morast zogen ihn langsam hinab, quollen ihm zwischen den Fingern und Beinen hervor, schwappten ihm durch die Haare und um das Gesicht herum … zogen ihn fort von allem … Aber er durfte sich noch keinen Schlaf gönnen. Er kroch wieder vom Bett herunter; er mußte mit ihr reden, mußte ihr erzählen, was der Mann gesagt hatte und sie fragen, ob sie ihn kannte. Robby verließ das Haus – wieder achtete er nicht auf Jen –, überquerte die Straße und klingelte an Lorelles Tür. Irgendwo von drinnen erklang ihre gedämpfte Stimme: »Herein!« Im Haus fiel ihm als erstes die Plastik ins Auge. Beinahe hatte er das Gefühl, als müsse Lilith jeden Moment den Kopf 156
wenden und ihn angrinsen. »Wer ist da?« rief Lorelle aus dem Nebenzimmer. Er hörte ihre Schritte den Flur entlang. Sie erschien in einem langen schwarzen Morgenmantel, der aus hauchdünnem Material bestand; darunter konnte er ihren nackten Körper erkennen, doch sogleich hob er den Blick zu ihrem Gesicht, fest entschlossen, sich nicht durch ihren Morgenmantel – oder ihren Körper – ablenken zu lassen. »Ich muß mit Ihnen reden.« »Ich bin so froh, daß du gekommen bist. Gerade hab ich an dich gedacht.« Sie langte nach seiner Hand, aber Robby wich zurück. »Nein. Ich muß mit Ihnen reden.« »Aber du mußt doch nicht unbedingt hier mit mir reden, oder?« »Doch.« »Robbyyy … « Sie lächelte und schüttelte leise den Kopf, als hätte er sie enttäuscht. »Hier ist ein Mann aufgetaucht. Am Freitag. Er ging an einem Stock. Sie haben die Polizei gerufen. Ich hab’s von meinem Fenster aus beobachtet.« »Ja, da war so ein Herumtreiber. Warum?« »Wer war das?« »Was weiß ich. Irgendein Landstreicher.« Sie nahm wieder seine Hand. »Du siehst müde aus, Robby.« »Ich hab ihn am Samstag wiedergesehen. Und heute. Vor der Schule.« Er sprach mit leiser, etwas atemloser Stimme, und trat einen Schritt zurück, um sich an die Wand zu lehnen; die Kraft schien aus seinen Beinen zu weichen. »Er hat behauptet … Sie zu kennen.« »Wahrscheinlich ist er irgend so ein alter, verrückter Stadtstreicher, der sich aus den Abfalleimern auf der Straße ernährt. Nichts weiter. Komm her. Du siehst so müde aus.« Sie führte ihn langsam den Flur entlang – langsam, weil 157
Robbys Schritte unsicher waren und er zweimal stolperte –, hinein in ihr Schlafzimmer, wo sie ihn auf das Bett setzte, ihm die Jacke auszog und ihn vorsichtig in die Kissen legte. Robby spürte, wie er wieder zurück in diesen Sumpf sinken wollte und kämpfte dagegen an, versuchte, sich aufzusetzen, aber Lorelle stieß ihn sanft zurück. Ihre Hand fühlte sich so kühl auf seiner Brust an, und direkt über seinem Kopf sah er ihre Brustwarzen, die sich durch den dünnen Stoff ihres Morgenrocks drückten. Ihre Gestalt löste sich in einem wäßrigen Schleier auf, als sie anfing, sein Hemd aufzuknöpfen. »Nein«, stöhnte er, »n-nicht jetzt. Bitte … « »Ich weiß doch, daß du das nicht ernst meinst, Robby.« Ihre Stimme schien aus weiter Entfernung zu ihm zu dringen. »Entspann dich.« Nachdem sie das Hemd abgestreift hatte, machte sie sich an seiner Hose zu schaffen, und trotz seiner Erschöpfung konnte Robby ganz deutlich spüren, wie ihre Hand sich um sein Glied legte. Er schloß einen Augenblick lang die Augen, und als er sie wieder öffnete, streifte sie gerade den Morgenrock von den Schultern. Sie beugte sich herunter und quetschte seinen Schwanz zwischen ihre vollen Brüste. Robby stöhnte, wollte sich aufsetzen, schaffte es nicht und fiel zurück in die Kissen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, sich an den Fremden zu erinnern, von dem er ihr erzählen wollte, aber … … sie sog seinen Schwanz tief in ihren Mund hinein, preßte die Eichel zwischen Zunge und Gaumen, und alle Gedanken verflüchtigten sich, als er wieder dieses vertraute Gefühl verspürte, leergesogen … ausgewrungen zu werden … Sekunden vor dem Orgasmus begann eine Abfolge von Bildern in Robbys Kopf aufzublitzen und wieder zu verschwinden wie plötzlich aufflammende Blitzlichter … … ein langer, rostiger Nagel, der sich in weiches Babyfleisch bohrt … 158
… lebendige, beunruhigende Bilder … … eine funkelnde Rasierklinge, die in das rote Fleisch einer Zunge gleitet … … Bilder die das heftige Pochen unterhalb seines Schwanzes verstärkten … … der Lauf einer Schrotflinte, der zwischen Frauenschenkel gleitet und unter ohrenbetäubendem Lärm loskracht … … und ihm einen Schrei des Entsetzens und der gleichzeitigen Ekstase entrissen. Als der erste Orgasmus ihn in Zuckungen versetzte wie einen hilflosen Epileptiker, hatte Robby die Warnung des Fremden und den fremden Mann selbst längst vergessen … Jen lag zusammengerollt auf der Couch, ein aufgeschlagenes Schulbuch neben sich und den Telefonhörer fest ans Ohr gepreßt. Ein erregtes Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie zwischen den Kissen vor- und zurück schaukelte, die Knie fest an den Körper gezogen und eine Hand zur Faust gebaut. Sie war so aufgeregt, weil sie Woody Gibson am Telefon hatte, und weil er am Abend mit ihr ausgehen wollte. Und die eine Hand hatte sie zur Faust geballt, weil sie keine Zeit für Woody hatte. »Ich dachte, wir könnten ins Kino gehen«, fuhr Woody fort. »Und danach essen wir etwas zusammen, wenn du magst, vielleicht in Harry’s Diner?« »Mann o Mann, Woody, das wäre toll. Wirklich toll wäre das«, sagte sie und dachte dabei: Du hast ja keine Ahnung, wie gerne ich dieser Gruft entkommen würde. »Aber ich muß … nun, ich weiß, es hört sich furchtbar blöd an, aber wir schreiben morgen einen Test in Biologie, und wenn ich nicht den ganzen Abend lerne, dann werde ich … « »Biologie?« Ein Lächeln klang in seiner Stimme mit. »Bei Mr. Tsujimura?« »Hhmm-hhmm.« 159
»Ach, da könnte ich dir helfen.« »Ehrlich?« »Sicher. Ich war in … « Jen nahm den Hörer von ihrem Ohr, als sie ein Geräusch hörte. Zuerst dachte sie, ihre Mutter sei aus dem Bett gestiegen und käme den Flur entlang, aber es war niemand im Flur. » … giß nicht, daß ich dir ein Jahr voraus bin. Ich habe alle Tests von Tsujimura geschrieben, und der Kerl ist so berechenbar, daß ich wetten möchte … « Sie hörte es wieder, ließ den Hörer sinken und zog die Stirn in Falten. Es war ein leises, trockenes Kratzgeräusch. »Wartest du bitte eine Sekunde, Woody?« bat sie ihn, legte den Hörer zur Seite und stand auf. Sie war seit einiger Zeit sehr nervös. Hier im Haus war eine seltsame Stimmung, die sie sich nicht erklären konnte; jeder benahm sich anders, alle liefen sie mit langen, bleichen Gesichtern herum, keiner sagte ein Wort, aber jeder wurde sehr schnell wütend und ließ sich viel Zeit mit der Entschuldigung, falls sich überhaupt jemand entschuldigte. Deshalb war sie zunächst sicher, daß sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte. Als sie es jedoch zum dritten Mal hörte, stellte sie fest, daß es von der Haustür kam. Sie ging hin, schob den Riegel vor und fragte: »Wer ist da?« Die einzige Antwort war ein leises Jaulen. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und erblickte einen von Miss Duprees Hunden auf der Veranda. Schnell riß Jen die Tür auf, mit weichen Knien vor Erleichterung, und sagte: »Sodom! Was machst du denn hier?« Der Hund drückte seinen Kopf gegen Jens Oberschenkel. »Hat man dich ausgesperrt?« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich heran. Er leckte ihr über die Wange, dann drehte er sich um und trottete ein Stück den Weg entlang. »Wo willst du hin?« 160
Der Hund blieb stehen, schaute sie an und wartete einen Moment, bevor er zu ihr zurückkam, und ihr die Hand leckte. Dann drehte er sich wieder um und lief bis zum Gehsteig hinunter, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte und einmal kurz bellte. Er will, daß ich mit ihm komme! dachte Jen und lachte. Sie lief ins Haus und schnappte sich den Telefonhörer. »Woody? Kann ich dich gleich zurückrufen? Nur ein paar Minuten, das versprech ich dir. Okay?« »Sicher.« Sie kritzelte seine Nummer in ihr Notizbuch, holte ihren Mantel von der Garderobe und folgte Sodom über die Straße zu Miss Duprees Haus. Der Hund blieb auf der Veranda stehen und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß sie ihm gefolgt war, dann hob er eine Pfote und scharrte an der Haustür. Sie öffnete sich. »Oh, die Tür war ja offen«, sagte Jen und ging hinein. »So bist du also herausgekommen.« Sie schloß die Tür hinter sich und schaute sich nach Miss Dupree um. »Hallo? Miss Dupree?« Niemand antwortete, und Jen ging weiter bis ins Wohnzimmer, wo Gomorrha ihr mit einem strahlenden Hundelächeln entgegenkam. Der Atem stockte ihr in der Kehle, als sie die schwarze Plastik in der Ecke entdeckte. Ein heißer Schauer stieg ihr in die Wangen, und sie starrte das Kunstwerk einen Moment lang mit offenem Mund an, dann wandte sie sich voller Scham ab, räusperte sich und rief: »Miss Dupree? Ich bin’s, Jen! Von gegenüber. Immer noch keine Antwort. Aber da war ein Geräusch. Es kam vom Flur her. Widerstrebend ging Jen den Flur entlang, in die Mitte genommen von Sodom und Gomorrha, immer dem 161
rhythmischen Gepolter folgend. Das Geräusch kam aus einem Zimmer am Ende des Flurs. Die Tür stand ein paar Zentimeter weit offen, und Jen hob eine Hand, um zu klopfen, dann holte sie Luft, um noch einmal zu rufen, aber … … dann hörte sie ein langgezogenes, tief aus der Kehle kommendes Stöhnen und erstarrte. Jen schlug eine Hand vor den Mund und flüsterte: »Oh, Scheiße.« Miss Dupree lag mit jemandem im Bett. Hitze stieg Jen ins Gesicht, und ihr zog sich die Brust zusammen; sie verspürte dieselbe schmutzige, verbotene Erregung wie damals, als sie Robby beim Masturbieren zugeschaut hatte … Plötzlich war es still im Zimmer, abgesehen von den flüsternden Geräuschen langsamer Bewegungen. Sodom und Gomorrha saßen Seite an Seite hinter ihr im Flur. Die Hand noch erhoben, um an die Tür zu klopfen, spähte Jen durch den Spalt in das Zimmer. Die Rouleaus waren herunterzogen, aber in dem schummrigen Licht konnte Jen die Gestalt von Miss Dupree erkennen, die auf dem Bett hockte. Sie war nackt und beugte sich über jemanden, der bewegungslos neben ihr lag. Miss Duprees langes Haar breitete sich über den liegenden Körper aus, und die Hand hatte sie … … hatte sie … Jen preßte die Lippen zusammen, um den Laut des Erschreckens zu unterdrücken. Der Mann auf dem Bett war ebenfalls nackt, und Miss Dupree hatte ihre Hand um seinen … … Ding, dachte sie, sein Ding … … Penis gelegt, und sie machte genau dasselbe damit, was Robby vor sechs Jahren mit seinem gemacht hatte. Ihre Hand und der Penis schimmerten feucht in der Dunkelheit. Jen atmete schneller, als sie sah, wie sanft und vorsichtig 162
Miss Dupree ihre Hand bewegte und wie sie mit den Fingernägeln über den behaarten Unterleib streichelte. Jen schluckte schwer. Sie sagte sich, daß es jetzt Zeit sei zu gehen und wollte sich schon von der Tür zurückziehen, als … … Miss Dupree plötzlich hochschaute und sagte: »Hallo, Jen.« Diesmal gelang es ihr nicht, den Schreckenslaut zu unterdrücken. Oh … oh … es … es tut mir schrecklich leid, Miss Dupree, wirklich, aber ich w-wollte nur … Sodom stand plötzlich vor der Tür … ich habe ihn zurückgebracht, und … « »Ist schon gut«, versicherte Miss Dupree mit einem leisen Lachen. Sie stieg aus dem Bett und zog den schwarzen Morgenmantel an, der sich um ihren Körper schmiegte wie flüssige Dunkelheit. Jen konnte es sich nicht verkneifen, weiter zum Bett zu schauen. Sie sah, wie das steife Glied des Mannes langsam in sich zusammensank und auf die Seite fiel, wo es auf dem Oberschenkel liegenblieb. Miss Dupree kam langsam aus dem Schlafzimmer und schloß die Tür. Sie legte Jen ihre Hände auf die Schultern und flüsterte: »Es muß dir nicht peinlich sein, Jen. Wirklich nicht.« Aber es war ihr peinlich. Sie hätte auf der Stelle tot zu Boden sinken mögen. »Ich wollte mich nicht reinschleichen«, sagte sie. »Sodom stand bei uns vor der Tür, und ich bin ihm hierher gefolgt, und es war niemand zu sehen. Ich habe gerufen, aber … « »Ist doch okay, Kleines. Mach dir keine Sorgen.« »Ich werde jetzt gehen.« »Nein, nein, nein.« Miss Dupree spielte mit Jens Haar, strich ihr eine Strähne davon aus den Augen und schob es zurück hinter die Ohren, während sie sprach. »Erinnerst du dich, daß ich gestern gesagt habe, wir könnten Robby vielleicht dazu bringen, dir mehr Beachtung zu schenken?« Jen nickte. 163
»Nun, ich glaube, das können wir auch. Gleich jetzt.« »Wie?« »Zuerst mußt du mir versprechen, daß du genau das tust, was ich dir sage. Und außerdem mußt du mir versprechen, daß das alles unser Geheimnis bleibt. Nur du und ich wissen davon. Du darfst weder deinen Eltern noch deinen Freunden davon erzählen. Niemandem. Okay?« Sie nickte wieder, aber ihre eine Augenbraue zog sich ein wenig in die Höhe. »Warum?« »Ich glaube, du wirst gleich merken, warum.« Miss Dupree nahm Jen bei der Hand. »Fertig?« »Ich glaube ja.« Miss Dupree führte sie in das dunkle Schlafzimmer und vor das Bett. Es war Robby. Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, und schlief mit offenem Mund. Und er war splitternackt. Jen entzog Miss Dupree ihre Hand und wollte vom Bett zurückweichen, aber die Frau legte ihr einen Arm auf den Rücken und schob sie sanft nach vorne. Jens Blicke wanderten an Robbys Körper entlang, bis sie auf dessen Unterleib verharrten, wo sein Ding schlaff auf der Seite lag, schimmernd vor Feuchtigkeit. Miss Duprees Hände verwirrten sie etwas, als sie jetzt von hinten um sie herum langten und ihr die Jacke auszogen, aber ihr Blick kehrte gleich wieder zurück zu dem schlaffen, fleischigen Glied zwischen den Beinen ihres Bruders. Miss Dupree legte ihren Mund dicht an Jens Ohr und flüsterte ihr zu: »Hast du es schon mal gesehen?« Sie schaute zu Miss Dupree hoch, zögerte einen Moment lang und nickte dann. »Und hast du es auch schon berührt?« Blauweiße Blitze schossen Jen durch den Kopf, und gleichzeitig kroch schwarze, zähe Angst ihr die Kehle herauf. 164
Wenn ihre Eltern dahinterkämen? Wie würde Robby reagieren, wenn er aufwachte und sie hier entdeckte? Sie konnte selbst kaum glauben, daß sie auch nur in Erwägung zog zu bleiben. Jen schüttelte den Kopf und formte ein Nein mit den Lippen. »Nun«, flüsterte Miss Dupree, »wenn du tust, was ich dir sage, wirst du ihn glücklich machen. Sehr glücklich. Und er wird dir Beachtung schenken, das verspreche ich dir. Er wird dich von nun an mit ganz anderen Augen sehen.« Sie nahm Jens Handgelenk und führte ihre Hand hinunter zu Robby. Zuerst wehrte Jen sich ein wenig, schreckte davor zurück, ihn zu berühren, und vor der Vorstellung, was für Folgen das haben könnte, aber … … sie konnte nicht vergessen, wie sie ihrem Bruder dabei zugeschaut hatte, wie er an sich herumspielte, und die Erregung beim Anblick ihrer ausgestreckten, zitternden Finger, die nur noch Zentimeter von ihm entfernt waren, ließ sich einfach nicht ignorieren. Schließlich gab sie Miss Duprees sanftem Druck nach und ließ die Fingerspitze über die Spitze von Robbys Penis gleiten. Er war weich und feucht, und als sie ein wenig fester zudrückte, gab er unter dem Druck nach wie ein trockener Schwamm. »Nur zu«, flüsterte Miss Dupree und schob ihre Hand noch näher heran. Widerwillig legte Jen ihre Finger um sein Glied. Es war groß und warm. Ihre Atemluft entwich mit einem langen, zitternden Seufzer, als Miss Dupree ihren Arm sanft bewegte, so daß ihre Hand an Robbys Penis hinauf und hinunter glitt. Dann ließ Miss Dupree ihr Handgelenk los, kniete sich neben sie und begann, Jens rote Basketballschuhe aufzuknoten. Sie streifte sie ihr ab, dann die Socken, und dazu flüsterte sie »Komm, wir wollen dich ausziehen … «
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Der Schlaf lag wie ein bleiernes Gewicht auf Robbys Brust, aber trotzdem hatte er ein vages Bewußtsein von den Empfindungen, die er verspürte. Eine Hand auf seinem steifen Glied … ein Mund an seinen Hoden … ein anderer an einer Brustwarze … Nein, dachte er, das kann nicht sein … es kann nicht sein … Aber es war so; es waren zwei Münder und zwei flüsternde, stöhnende Stimmen. Was hatte Lorelle getan? Wen hatte sie ins Zimmer geholt? Robby dachte an den Mann auf dem Schul-Campus, den mit dem zerstörten Gesicht. Was hatte er noch über Lorelle gesagt? »Seelen«, flüsterte Robby, und sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere. »So viele … Seelen … zu fressen … so … viele Seelen … « Er versuche, die Augen aufzuschlagen. Hände und Zungen bewegten sich über seinen Körper, heiß und naß glitt es über seinen erigierten Penis. Er versuchte, die Lider zu heben … versuchte es solange, bis … … oh, mein Gott, dachte Robby und verspürte schwache Übelkeit. Er brachte kein Wort hervor, als sein Blick auf Jens schläfriges, halb lächelndes Gesicht fiel. Sie saß rittlings auf ihm, mit geschlossenen Augen, stützte die Handflächen auf seiner Brust ab und bewegte sich ganz langsam. Robby verlor das Bewußtsein … Jen rief Woody Gibson nicht mehr zurück …
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12 NOCH MEHR DUNKLE GEDANKEN Karen wachte kurz auf und hörte, wie es vor ihrer Schlafzimmertür rumorte. Nur Schritte und klappende Türen, keine Stimmen. Soweit war es gekommen, beinahe über Nacht. Sie lag im Bett und fiel von einer Bewußtlosigkeit in die nächste, fragte sich, wie spät es sein mochte, aber es gelang ihr nicht, den Blick auf den Digitalwecker zu konzentrieren, der auf dem Nachttisch stand. Auch wenn sie sich heute bei der Arbeit nicht wohlgefühlt hatte, war das nicht der Grund gewesen, warum sie so früh nach Hause gekommen war. Sicher, sie hatte sich ein bißchen müde gefühlt, aber nicht wirklich krank. Nein, sie hatte nicht aufhören können, an Lorelle Dupree zu denken; das war der wahre Grund. Karen hatte den ganzen Tag damit verbracht, sich ihre Nachbarin vorzustellen, wie sie zu Hause an etwas arbeitete: An einer Plastik, oder vielleicht an einer Halskette oder einem Ring. Nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Schuldgefühls war geblieben. Auch wenn sie versuchte, sich schuldig zu fühlen, sie vermochte es nicht. Das ist etwas, bei dem ich mich gut fühle, dachte sie. Ich verbringe den ganzen Tag mit einer schweren Arbeit, dann gehe ich nach Hause, wo wieder eine schwere Arbeit auf mich wartet, und es gibt so wenig in meinem Leben, bei dem ich mich richtig gut fühle … warum also sollte ich mich nicht darauf einlassen, solange ich damit niemandem wehtue? Aber eine andere innere Stimme entgegnete ihr: Und was ist, wenn du doch jemandem wehtust? Den Kindern? Oder George? Nun … ich muß eben aufpassen, daß es nicht passiert. Aber die andere Stimme fuhr fort: Sicher, es ist nicht gerade so, daß George in letzter Zeit viel dafür getan hätte, dich 167
glücklich zu machen, oder? Nein, Gefühle zeigt er eigentlich nur dann, wenn er will, daß du ihn glücklich machst … wenn sein häßlicher, knorpeliger Schwanz sich unausgelastet fühlt. Ist es nicht so? Karen versuchte wieder einzuschlafen, aber die innere Stimme gab keine Ruhe. Sag, ist es nicht so? George ist ein guter Ehemann, dachte sie und rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Sicher, sicher ist er das. Aber selbst ein guter Ehemann unterwirft sich den Befehlen einer steifen, einäugigen, nackten Schlange. Tut er das nicht? Sie setzte sich im Bett auf und konnte kaum die Augen öffnen, als sie vor der Schlafzimmertür etwas hörte. Ein Schluchzen. Heftigeres Schluchzen, tiefer und von Angst erfüllt. Jen? Es könnte sogar Robby gewesen sein. Aber warum? Karen überlegte, ob sie versuchen sollte aufzustehen, aber dann fiel sie einfach zurück ins Bett und dachte an die beiden Stunden, die sie heute am späten Vormittag mit Lorelle verbracht hatte. Nur deshalb hatte sie ihren Arbeitsplatz früher verlassen. Aber auch wenn sie nur etwas müde gewesen war, als sie von dort wegging – jetzt fühlte sie sich ganz und gar nicht wohl, ganz und gar nicht. Das rhythmische Schluchzen vor ihrer Schlafzimmertür wiegte sie langsam wieder in den Schlaf … Auch George fühlte sich nicht gut. Er war den ganzen Tag über so erschöpft gewesen, daß er kaum etwas zustandegebracht hatte, und die wenigen Dinge, zu denen er sich aufraffen konnte, erledigte er ganz gegen seine Gewohnheit so schlampig, daß seine Sekretärin ihm vorschlug, doch einfach eher nach Hause zu gehen und sich einfach ins Bett zu legen. Um drei Uhr hatte er ihr dann endlich 168
zugestimmt. Aber er hatte ihr nicht einfach deshalb zugestimmt, weil er so müde war. Das lag schließlich nur daran, daß er in der Nacht zuvor so wenig geschlafen hatte; das wußte er. Seit er an diesem Morgen aus dem Bett geklettert war – unter der Last seiner Erschöpfung war das eine gewaltige Aufgabe gewesen –, hatte er nur an eines denken können: Lorelles letzte Worte, bevor er ihr Haus verlassen und sich wieder in sein Bett geschlichen hatte … Beim nächsten Mal darfst du mich fesseln. Oder ich dich … falls dir das lieber ist. Er hatte mehrmals aus dem Büro bei ihr angerufen, aber weil sie sich nicht meldete, hatte er versucht, sich mit Arbeit abzulenken. Wenn es nur etwas gegeben hätte, vor dem die Gedanken an Lorelle Dupree verblaßt wären. Er wußte, daß er sich lächerlich benahm. Er war ja nicht in irgendein Hotel geschlichen, zu einer, die seine Familie gar nicht kannte. Nein, sie wohnte im Haus gegenüber. Noch schlimmer, sie vögelte in seinem eigenen Schlafzimmer mit ihm! Während Karen schlafend im Ehebett lag! Wer hat das noch gesagt, der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht? dachte er, über ein Fast-FoodMittagessen gebeugt, das er nicht essen konnte. Und, wenn nötig, können wir ja in ein Hotel gehen. Er hätte sogar ein gewisses Recht dazu. Schließlich war er jetzt seit zwölf Jahren mit einer Frau verheiratet, die Libido für eine italienische Nachspeise hielt. Wenn Karen wenigstens mal den Versuch gemacht hätte, ihr Desinteresse an Sex zu überwinden … wenn sie ein wenig Phantasie mit ins Schlafzimmer gebracht hätte … vielleicht wäre das alles dann nicht passiert. Wenn sie nur einen Bruchteil des Interesses für dich aufgebracht hätte, das sie für ihren beschissenen Kater hat … vielleicht … Um drei verließ George seinen Arbeitsplatz, und eine 169
Viertelstunde später war er zuhause. Außer Jen war niemand zu sehen. Sie hockte im Bademantel im Fernsehsessel; ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem kreidebleichen Gesicht. Sie starrte auf den Bildschirm, aber ihre Gedanken schienen nicht bei der MTV-Show zu sein. Ihre Augen blickten in finsterer Konzentration unter eng zusammengezogenen Brauen hervor, und gleichzeitig spielte ein versonnenes Lächeln ganz leicht um ihre Mundwinkel. Sie hatte die Beine vor die Brust gezogen, die Knie aber weit gespreizt. Es lag etwas eigenartig Erwachsenes in der Art und Weise, wie sie dort auf dem Sessel saß, als würden zwei gegensätzliche Gefühlsregungen um die Vorherrschaft auf ihrem Gesicht kämpfen. »Wo sind die anderen?« fragte George. »Im Bett. Sie sind krank.« »Du siehst auch nicht gerade kerngesund aus.« »Ich bin nur ‘n bißchen müde.« »Leg dich doch auch hin.« Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzuschauen. »Du mußt morgen wieder zur Schule, Jen. Wenn du dich nicht wohlfühlst, solltest du zu Bett gehen.« »Ich bin doch … bloß … müde«, sagte sie, als spräche sie zu einem zurückgebliebenen Kind. »Ja, und genau das macht ein normaler Mensch, wenn er müde ist, verdammt nochmal, er legt sich ins Bett!« raunzte er sie an. , Sie rührte sich nicht. »Hast du nicht gehört?« »War ja nicht zu überhören«, murmelte sie. »Dann geh jetzt gefälligst!« Er wartete, bis sie sich endlich aus ihrem Sessel erhoben hatte und das Zimmer verließ. Sie ging an ihm vorbei, als wäre er Luft. George begab sich ins Badezimmer, urinierte, wusch sich die Hände und erstarrte, als er über dem Waschbecken sein 170
Spiegelbild sah. Hab ich tatsächlich so wenig geschlafen? fragte er sich. In die äußeren Winkel seiner Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, hatten sich Falten gegraben, und seine Gesichtshaut hing schlaff von den Wangenknochen, wie ein schlechtsitzender Anzug. Er bürstete sich das Haar und putzte sich die Zähne, bevor er in die Küche ging, um sich einen Drink einzuschenken. Eigentlich hätte er einen Kaffee nötig gehabt, aber er wußte, daß ein paar Drinks es ihm erleichtern würden zu tun, was er zu tun beabsichtigte. Zwanzig Minuten später ging er zum Telefon und tippte eine Nummer in die Tastatur. »Hallo?« »Hi«, sagte er. »George! Schon so früh zuhause?« »Ja, ich war … nun, ich hab mich … eigentlich dachte ich, ich könnte … ich könnte vielleicht, weißt du …?« Lorelle lachte. »Sag mal, George, hat dir schon mal jemand heißes Wachs auf die nackte Haut geträufelt?« »N … n-nein … « »Dann komm rüber. Ich werde dich fesseln, und dann schau’n wir mal, ob’s dir gefällt.«
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13 GUTE NACHBARSCHAFT, ADE Robby erwachte mit einem Geschmack nach schmutzigen Socken im Mund und einer lebhaften Erinnerung im Kopf. Ein paar Minuten lang versuchte er sich einzureden, daß diese Erinnerung ein Traum war, hervorgerufen durch die Ereignisse des gestrigen Nachmittags, aber er hatte so ein Gefühl, daß er durchaus nicht geträumt hatte. Irgendwann in der Nacht war er aufgewacht, und ein Geist hatte neben seinem Bett gekniet und ihm unter der Bettdecke zwischen die Beine gelangt. »Laß es mich noch einmal tun«, hatte Jen geflüstert, während ihre Finger an seinem Schwanz herumspielten. Im Schein der Straßenlaterne vor dem Haus hatte ihr Gesicht die Farbe schlechtgeputzter Zähne. »Ich möchte es noch einmal tun, Robby, okay? Bitte!« »Geh wieder ins Bett, Jen«, hatte Robby genuschelt und sich auf die Seite gedreht. »Bitte … geh. Okay?« »Ach, komm, Robby. Ich versprech dir auch, daß ich nie wieder Wer ist der Boß sehen will, okay? Ich versprech’s dir.« Robby hatte sich an diesem Nachmittag in den Schlaf geweint, sein Bett war erzittert unter dem unkontrollierten Schluchzen, gegen das er nichts machen konnte. Es war ja nicht nur das, was er getan hatte, er hatte es obendrein noch genossen … Was hatte es ihm für ein Vergnügen gemacht, als Jen seinen steifen Schwanz streichelte … wie gerne hatte er den zarten Flaum zwischen ihren Beinen berührt … und ihr Kichern gehört, als sie sich über die feuchten Lippen leckte … Das Schluchzen wäre beinahe zurückgekehrt, als sie in der Nacht plötzlich neben seinem Bett kniete und die Hand nach ihm ausstreckte. »Verschwinde endlich!« hatte er sie immer wieder 172
angefaucht und sich die Decke bis unters Kinn gezogen. Als Jen sein Zimmer verließ, splitternackt und schmollend, hatte sie in traurigem Flüsterton etwas gesagt. Was war es, was sie geflüstert hatte? Er setzte sich im Bett auf und versuchte, wach zu werden und sich daran zu erinnern. Es war ihm heute nacht sehr wichtig erschienen … Robby kroch aus dem Bett, zog sich an und nahm seine Bücher. Er wollte sich nicht die Zeit nehmen zu duschen oder zu frühstücken; er mußte machen, daß er aus dem Haus kam, bevor er jemandem begegnete. Vor allem Jen wollte er um nichts in der Welt über den Weg laufen. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern klangen wütende Stimmen. Robby überlegte, ob er an der Tür horchen sollte, um zu erfahren, weshalb sie sich stritten, aber er wollte lieber nicht das Risiko eingehen, dabei erwischt zu werden. Im Badezimmer spritzte er sich etwas kaltes Wasser übers Gesicht, putzte sich die Zähne, kämmte sich das Haar und versuchte, das hohle, ausgemergelte Gesicht zu ignorieren, das ihn aus dem Spiegel anschaute. Jen hatte sich in ihrem Bademantel auf dem Fernsehsessel zusammengerollt, als er am Wohnzimmer vorbeischlich. Sie wandte sich um und schaute ihn an. Ihr Gesicht war einen Moment lang völlig ausdruckslos, dann hellte es sich plötzlich auf, als hätte sie etwas Zeit gebraucht, um ihn zu erkennen. Robby blieb in der Tür stehen. Er wollte mit ihr sprechen, etwas zu ihr sagen, vielleicht um Entschuldigung bitten für das, was er getan hatte, aber die Stimme versagte ihm, denn … … Jens Hand machte sich unter ihrem Bademantel zu schaffen, zwischen den gespreizten Beinen bewegte sie sich hin und her, während sie ihn anlächelte, die Augenbrauen über den schweren Lidern zusammengezogen, und … … plötzlich erinnerte sich Robby wieder an die Worte, die 173
sie in der Nacht geflüstert hatte, bevor sie enttäuscht sein Zimmer verließ: Sie hat mir versprochen, du würdest mir mehr Beachtung schenken. Er lief aus dem Haus, hinein in den feinen kalten Nieselregen; als er über den Rasen ging, wandte er sein Gesicht dem grauen Himmel entgegen, und atmete tief ein, während die eisige Feuchtigkeit ihm die Wangen benetzte. Robbys Fuß stieß gegen etwas. Er blieb stehen und schaute nach unten. Vier Zeitungen lagen über den Rand der Rasenfläche verteilt, dort, wo der Zeitungsjunge sie jeden Tag hinwarf. Wegen des schlechten Wetters steckten sie in einer Plastikhülle, aber zwei der Hüllen waren eingerissen, und die Zeitungen waren ganz aufgeweicht. Die Zeitungen von vier Tagen. Sie wurden immer früh am Morgen ausgeliefert, noch bevor Robby in die Schule ging, deshalb mußte eine von ihnen das Datum von heute, Dienstag, tragen. Normalerweise holte Dad sie herein, um sie beim Frühstück zu lesen. Das hatte er seit Samstag nicht mehr getan. Er hat sich eben nicht gut gefühlt, dachte Robby, während er den Gehsteig überquerte. Und da hat er ganz einfach nicht an die Zeitungen gedacht. Auf der anderen Straßenseite brannte Licht hinter Lorelles Vorhängen. Obwohl sie nachts so lange aufblieb, schien sie eine Frühaufsteherin zu sein. Sie schläft niemals. Die Erinnerung traf Robby so hart, daß er beinahe gestolpert wäre, als er am Briefkasten vorbeiging … … der voll mit Post war. Die Aluminiumklappe stand ein paar Zentimeter weit offen, und die Ecken und Kanten durchnäßter Briefe und Werbeprospekte ragten aus dem Kasten hervor. Robby blieb stehen und starrte auf den Briefkasten, zog die 174
Klappe ganz auf und schaute sich den Stapel klitschnasser Post an. Normalerweise brachte er die Post ins Haus, und wenn er es einmal vergaß, fiel es irgendwann jemand anderem ein. Diesmal war es niemandem eingefallen. Robby ging nachdenklich weiter. Jessie saß mitten auf der Straße, mit hängendem Kopf, den Schwanz hatte sie zwischen die Beine gerollt. »He, Jess!« rief Robby ihr zu, aber seine Stimme klang heiser und flach. Die Hündin senkte den Kopf nur noch tiefer, und ihr Schwanz klopfte ganz vorsichtig ein paarmal auf den Asphalt. Ihr Fell war naß und klebte am Körper. Robby ging hinüber und tätschelte den Kopf der Hündin. »Was machst du hier draußen, Jess? Warum bist du nicht drinnen, wo’s schön warm ist?« Normalerweise ließ Dylan sie in der Garage übernachten, vor allem, wenn es draußen regnete. Aber Dylan war auch krank gewesen. Vielleicht hatte er Jessie einfach vergessen. Aber warum haben seine Eltern sie nicht reingeholt? fragte sich Robby. Jessie kauerte sich jaulend auf den Asphalt und schaute Robby ängstlich an, als erwarte sie Schläge von ihm. Robby bückte sich, um sie zu tätscheln. »Was ist mit dir los, Jessie?« murmelte er. »Hm? Was ist … « Sie legte das Kinn auf den Boden, fing wieder an zu jaulen und kniff die Augen zu. Robby hörte hinter sich jemanden schreien, eine entfernte Stimme, die durch Hausmauern gedämpft wurde. Er stand langsam auf und wandte sich zum Haus der Garrys um, dem letzten Haus auf der linken Seite. Glasscherben klirrten. Eine zweite Stimme kam hinzu, und jetzt brüllten beide gleichzeitig. Die Haustür wurde geöffnet, schlug wieder zu, und dann stakste Mrs. Garry steifbeinig über den nassen Rasen zu ihrem Auto, das in der Auffahrt parkte. Sie stieg ein und knallte die 175
Tür zu. Nachdem sie den Motor angelassen hatte, trat sie das Gaspedal durch und ließ die Kupplung kommen. Der Wagen schoß rückwärts auf die Straße hinaus und wendete so, daß Robby direkt in die Scheinwerfer starrte. »Komm jetzt, Jess«, sagte er, schlug sich mit der Hand ein paarmal auf den Schenkel und wich zurück auf den Gehsteig. Mrs. Garry legte den Vorwärtsgang ein, und der Wagen schoß nach vorne. »Jessie, komm!« Der Hund verharrte in der Mitte der Straße, zusammengeduckt wie ein verängstigtes Kind. Robby pfiff durch die Zähne, machte schmatzende Geräusche mit den Lippen und schlug sich immer wieder auf die Schenkel, während er rief: »Komm her, Jess, Jessie-Girl, komm jetzt endlich!« Das Auto beschleunigte, und Mrs. Garrys Augen starrten geradeaus, als könnten sie kein Hindernis erkennen. Robby ließ seine Bücher fallen, schoß auf die Straße, packte Jessies Fell und zerrte sie auf den Gehsteig. Die Hündin jaulte schrecklich auf und hielt den Kopf von ihm weg, als müsse sie einem Schlag ausweichen. Ihre schwarzen Krallen kratzten über den Asphalt, als Robby sie auf den Gehsteig zog; seine geschwächten Arme zitterten unter der Anstrengung, in seinen Schläfen pochte das Blut. Plötzlich bellte die Hündin scharf und sprang auf den Bordstein, als Mrs. Garry in ihrem Auto vorbeiraste. Sie blickte starr geradeaus, ihre Lippen bewegten sich schnell, wütend; sie fletschte die Zähne, während sie jemanden anbrüllte, der gar nicht da war. Robby schaute ihr nach, wie sie an der nächsten Ecke das Stopschild überfuhr und mit kreischenden Reifen nach links abbog. Er beugte sich hinunter, um Jessie einen beruhigenden Klaps zu geben, aber der Hund wich jaulend vor ihm zurück und trottete allein die Straße entlang. Robby blieb auf dem Gehsteig stehen, konsterniert von dem, was eben geschehen 176
war. Winona Garry war eine der ausgeglichensten, gutmütigsten Frauen, die er kannte. Robby konnte nicht glauben, daß sie um ein Haar ihn und ihren eigenen Hund überfahren hätte. Er starrte kurz zum Haus der Garrys hinüber. Es sah tot aus. Unbewohnt. Offensichtlich war Dylan immer noch krank. Normalerweise hätte er schon draußen sein müssen, um mit Robby zusammen zur Bushaltestelle zu gehen. Noch immer krank, dachte Robby. Wie alle anderen. Langsam, noch zitternd von der plötzlichen Anstrengung, sammelte Robby seine Bücher vom nassen Trottoir auf, trocknete sie mit dem Ärmel ein wenig ab und setzte sich dann in Richtung Bushaltestelle in Bewegung. Er war so durcheinander, daß er leise vor sich hinmurmelte. Verzweifelt versuchte er, sich über das Klarheit zu verschaffen, was gerade passiert war. Beinahe hätte er gar nicht bemerkt, daß … … der Briefkasten der Cranes, wie ihr eigener, mit der Post von mehreren Tagen vollgestopft war. Robby blieb stehen, um einen Blick auf den durchnäßten Stapel zu werfen. Es lagen drei eingeschweißte Zeitungen auf der Zufahrt; eine von ihnen unter dem linken Hinterreifen von Al’s Mazda. Kein großes Interesse an Post oder Zeitungen dieser Tage, dachte Robby mit einem freudlosen Lachen. Die LaBiancos waren auch nicht sonderlich an ihrer Post interessiert. Und aus dem kleinen Haus konnte er hören, wie Mr. LaBiancos normalerweise sehr leise Stimme sich in ein wütendes Gebrüll hineinsteigerte. Bei Shari MacNeil brannte noch das Verandalicht, und die Vorhänge waren zugezogen. Eigentlich hätte sie um diese Zeit am Küchenfenster stehen sollen, um den vorbeigehenden Schulkindern zuzuwinken, während sie das Frühstück machte und in dem kleinen Schwarzweiß-Fernseher auf ihrem Küchentisch Good Morning America anschaute. Aber als er wieder stehenblieb und sich umdrehte, sah 177
Robby, daß keine Schulkinder an ihrem Haus vorübergingen. Ein paar standen an der Kreuzung und warteten auf den Bus, aber das waren nicht einmal halb soviel wie gewöhnlich. Und sie waren so still … Er ging langsam weiter, das Gesicht nach vorne gewendet, aber aus den Augenwinkeln registrierte er all die Merkwürdigkeiten, die nur jemandem auffallen konnten, der schon lange in dieser Straße wohnte: weitere Briefkästen, die mit Post vollgestopft waren, noch mehr nicht beachtete Zeitungen in Vorgärten und auf den Zufahrten, ein kleines, gezacktes Loch im Wohnzimmerfenster der Petries. Und aus Donald Gundys Schlafzimmerfenster brüllte heute keine laute Rockmusik, während er sich für die Schule fertigmachte. Selbst wenn es ein sonniger Morgen gewesen wäre, so kam es ihm vor, als hätte über ihrer Gegend eine Art Finsternis gelegen, wäre die Luft zum Schneiden dick. Robby ging vor bis zur Kreuzung und stellte sich hinter den Crane-Zwillingen und zwei anderen Kindern auf. Die Zwillinge unterhielten sich leise miteinander, die anderen beiden schwiegen. »Ich dachte, ihr seid krank«, sagte Robby. »Sind wir auch«, antwortete Dana. Sie schaute auf die Straße hinaus und machte einen mißgestimmten Eindruck. »Ein bißchen.« Taras Stimme hörte sich sanfter an, beinahe wie ein Flüstern. »Aber uns geht’s schon wieder besser.« »Solltet ihr nicht lieber zuhause bleiben, bis ihr wieder ganz gesund seid?« »Mom will uns tagsüber nicht im Haus haben«, sagte Tara. »Sie hat … schlechte Laune.« »Und Dad auch«, schnauzte Dana. Robby zögerte. Er wollte nicht neugierig erscheinen, aber dann fragte er doch: »Wie kommt’s?« »Ich glaube, sie sind auch krank«, antwortete Tara. »Aber hauptsächlich wollen sie sich wohl streiten.« 178
Er wollte gerade nach dem Grund fragen, als der Bus für die Grundschule um die Ecke der Victor Street rumpelte und am Randstein hielt, damit die Kinder einsteigen konnten. Robby blieb allein an der Ecke zurück und hielt sich an seinen Büchern fest … … Die Grippe? Habt ihr die? … … er spürte eine Kälte, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte … … Ja, wir dachten auch, daß es die Grippe ist. Aber jetzt wird es besser … … und hörte von weiter vorne das Brummen seines eigenen Busses … … ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß die Grippe meine Frau dazu gebracht hätte, mit der Motorsäge auf unseren Sohn loszugehen. Oder auf mich … … der sich der Straßenecke näherte. Gleich würden die Türen aufspringen, der Fahrer würde warten, bis Robby eingestiegen war, und ihn dann zur Schule bringen, wo man von ihm verlangte, daß er dieses tief beunruhigende Gefühl, daß hier etwas nicht in Ordnung war, vergaß und sich auf die sechs Schulstunden konzentrierte. Er drehte sich um, sprang über die niedrige Hecke, die den Vorgarten der Holcombs abtrennte, versteckte sich dahinter und wartete, bis der Bus langsam vorbeigefahren war und wieder beschleunigt hatte. Dann erst verließ er den Vorgarten der Holcombs und ging die Mistletoe Street entlang. Auch wenn er heute unmöglich in die Schule gehen konnte, zurück nach Hause trieb es ihn ebensowenig. Es gab etwas anderes, das er zu erledigen hatte. Als das Telefon klingelte, lag Ronald Prosky in seinem Zimmer im Motel 6 am Hilltop Drive im Bett und dachte an Schlaf. Das war noch das beste, was er zur Zeit tun konnte: An Schlaf denken. Nach dem Verlust seiner Frau und seines 179
Sohnes hatte er etwa ein Jahr lang keine Alpträume gehabt; trotz seines Schmerzes hatte es andere Dinge gegeben, über die er sich den Kopf zerbrechen mußte, die chirurgische Wiederherstellung seines Gesichts, zum Beispiel (so gut die sich eben bewerkstelligen ließ), oder die Gewöhnung an die Armprothese. Dann aber, als er sich wieder einigermaßen in seinem Leben eingerichtet hatte, waren Marie und Gordon zurückgekommen, um durch seine Träume zu geistern. Jedesmal, wenn er auch nur ein bißchen einnickte, sah er sie nackt zusammen im Bett, oder er sah sie blutüberströmt und tot; er hörte die Schreie seines Sohnes und konnte den Benzingestank der knatternden Motorsäge riechen; er fühlte die Wärme seines eigenen Blutes auf seinem Gesicht, schmeckte es im Mund und sah seinen Arm auf dem Fußboden des Schlafzimmers liegen. Aber was am schlimmsten war: Er sah sie, immer und immer wieder. Und jetzt konnte er nicht einmal mehr lange genug schlafen, um einen Alptraum zu haben. Er hatte Angst davor einzuschlafen, nicht nur, weil er sich damit den Tod seiner Familie lebhaft vor Augen führte, sondern auch deshalb, weil er wußte, daß sie in der Nähe war. Sie machte es jetzt anders. Die Leute, die in der Deerfield Avenue lebten, hatten sich innerhalb von wenigen Tagen verändert; normalerweise konnte man die ersten Veränderungen an ihren Opfern erst nach Monaten wahrnehmen, und dann hatte es noch einmal Monate gedauert, bis sie wirklich gewalttätig wurden. In weniger als einer Woche hatte der kleine Pritchard diesen hohlen, blassen Ausdruck angenommen, den ihre Opfer sonst erst nach etwa drei Monaten zärtlicher Verführung und vorsichtiger Vorbereitung aufwiesen. Sie arbeitete jetzt erheblich schneller – als sei sie von etwas getrieben, die Sache hier in Redding zu Ende zu bringen, um in den nächsten Vorort umzuziehen … oder das nächste 180
Mietshaus … den nächsten Wohnwagen-Park … irgendwohin, wo Familien relativ zufrieden und sicher miteinander lebten. Jeden Augenblick konnte es wieder losgehen – das Foltern und das Morden –, und es gab nichts, was Prosky gegen sie hätte tun können. Es sei denn … Das Telefon klingelte. Prosky setzte sich in seinem Bett auf und schloß einen Moment lang die Augen. Er hoffte inständig, daß es der Pritchard-Junge wäre, daß er sich, aus welchem Grund auch immer, entschieden haben möge, ihm zu helfen. »Hallo?« »Äh-mm … hallo. Ich bin’s. Der Junge, mit dem Sie gestern geredet haben. In der Schule. Mein Name ist Robby.« Prosky stand schon neben dem Bett, ein zufriedenes Lächeln schob das vernarbte Fleisch auf seiner Wange nach oben. »Ja, Robby?« »Ich … ich habe Angst.« Seine Stimme schnappte über und erstarb zu einem Flüstern. »Ich habe schreckliche Angst und glaube, daß ich Hilfe brauche.« Es gab nichts, womit Prosky sie hätte aufhalten können, es sei denn, es gelänge ihm, mit einem ihrer Opfer Freundschaft zu schließen …
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14 DIE GESCHICHTE DES FREMDEN Der Mann holte Robby an der Shell-Tankstelle Ecke Mistletoe Street und Hilltop Drive ab. Er stellte sich als Ronald Prosky vor, und auch wenn Robby sich bemühte, seine Nervosität – die eigentlich eher Angst war – zu verbergen und dem Blick des Fremden auszuweichen, merkte er, daß es ihm nicht gelang, denn Prosky versuchte sofort, sie ihm zu nehmen. Sie gingen in das Haus des Internationalen Pfannkuchens, nur ein paar Straßen weiter, und setzten sich in eine Sitzreihe ganz hinten, wohin sie sich beide einen Becher Kaffee bringen ließen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Robby«, sagte Prosky mit ruhiger Stimme. »Ich weiß, daß ich ziemlich furchteinflößend aussehe, und außerdem bin ich für dich ein Fremder, aber wenn wir uns ein wenig Zeit lassen, wirst du dich bald besser fühlen.« Robby konnte sich nicht beruhigen. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht? Woher sollte er wissen, ob der Kerl nicht doch ein herumstreunender Irrer war, der sich aus Abfalleimern ernährte und auf der Straße lebte? Redding war nicht gerade eine Großstadt, aber heutzutage war keine Stadt mehr zu klein, um eine Gemeinde von Obdachlosen zu beherbergen. »Okay«, sagte Robby zögernd, »erzählen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.« »Deine neue Nachbarin.« »Was … ist mit ihr? Ich meine, gestern machten Sie den Eindruck, als wüßten Sie alles über Sie. Also, was soll ich Ihnen von ihr erzählen?« »Was hat sie getan?« »Sie hat gar nichts getan.« Prosky starrte einen Moment lang in seinen Kaffee, dann 182
holte er tief Luft »Okay. Vielleicht ist es einfacher, wenn ich dir erzähle, was ich über sie weiß. Und dann bist du an der Reihe.« Er zog eine Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche, zündete sich eine an und seufzte sich den Qualm aus den Lungen. »Vor fünf Jahren war ich ein einigermaßen erfolgreicher Journalist. Ich hatte eine Frau und einen sechzehn Jahre alten Sohn. Wir lebten in einem Vorort von Chikago, einer netten, freundlichen Wohngegend. Sie war deinem Viertel sehr ähnlich, Robby. Und dann zog Lily ein. So nannte sie sich damals.« Er trank einen kräftigen Schluck Kaffee, bevor er in seiner Erzählung fortfuhr. »Sie war eine wunderschöne Frau, und sie war auch sehr nett. Freundlich und großzügig. Es war eine Wohngegend, in der neue Bewohner immer willkommen waren, also wollte sie jeder kennenlernen. Und ich sollte sie bald gründlich kennenlernen. Meine Frau und ich waren damals seit fast neunzehn Jahren verheiratet. Es war keine schlechte Ehe, aber … nun … « Er wandte sich von Robby ab und zuckte zusammen, als hätte ihn jemand mit einer Nadel gestochen. »Ich glaube, ich fing an, mich … zu langweilen. Und das hatte ich noch nicht einmal gemerkt. Jedenfalls nicht, bevor Lily mich wissen ließ, daß ich …«, er räusperte sich heftig, » … jederzeit in ihrem Bett willkommen sei. Sie war … mein Gott, sie war phantastisch. Männer wie ich erhalten nicht jeden Tag Anträge von solchen Frauen. Also … nahm ich sie beim Wort. Sie versicherte mir, daß es ein absolutes Geheimnis zwischen uns bleiben würde. Ich fing mit ihr also eine Affaire an. Und was für eine Affaire. Sie war die Art Liebhaberin, von der Männer sonst nur zu träumen wagen. Aber im Laufe der Monate passierte etwas. Ich begann, mich zu verändern. Ich bemerkte, daß ich nicht mehr so ausgeglichen war wie früher, nicht mehr so stark. Ständig war ich müde, bekam nicht genug Schlaf. Und wenn 183
ich mal schlief, hatte ich diese Träume … diese unglaublich lebhaften Träume … Ich träumte, daß Lily nachts in mein Schlafzimmer käme und daß wir uns auf dem Fußboden oder gar auf dem Bett liebten, während Marie daneben schlief. Und nie wachte sie auf. Zuerst dachte ich nicht viel darüber nach, aber dann wurde es immer schlimmer – die Müdigkeit und die Träume –, und als ich eines Nachts aufwachte, war sie wirklich da. Sie lag auf mir, in meinem Bett. Es war kein Traum, sie war wirklich da, und ich hatte keine Ahnung, wie sie hereingekommen war. Und ich weiß auch nicht, wie sie wieder herauskam, denn zum Schluß verlor ich das Bewußtsein. Das war mit ihr immer so. Ich hab sie später gefragt, aber natürlich bekam ich keine Antwort.« Robbys Mund fühlte sich so trocken und pelzig an, daß er schnell einen Schluck von seinem Eiswasser hinunterkippte und auf ein wenig zerkleinertem Eis lutschte. Beim Absetzen klapperte das Glas auf der Tischplatte, so sehr zitterte seine Hand. Er war sich keineswegs sicher, ob er noch mehr hören wollte … »Und dann fiel mir etwas auf. Es war allmählich passiert, direkt vor meinen Augen, ohne daß ich es bemerkt hatte. Ich war nicht der einzige, der sich nicht wohl fühlte. Auch mein Sohn und meine Frau waren ständig müde und blaß und … nun, fühlten sich krank. Sie redeten nicht viel. Keiner von uns redete viel. Und wenn wir redeten, dann war es schlimm, weißt du, dann warfen wir uns böse, verletzende Dinge an die Köpfe. Und das hatten wir vorher nicht getan. Unser Leben hatte sich verändert, und es veränderte sich immer weiter. Ich versuchte, nicht mehr so oft zu Lily zu gehen, aber dafür kam sie zu mir. Eines Abends beschloß ich wachzubleiben, um herauszufinden, wie sie ins Haus kam, also trank ich beinahe einen ganzen Eimer Kaffee und nahm ein paar weiße Pillen. Und trotzdem fiel es mir schwer, nicht einzuschlafen. Ich fühlte mich die ganze Zeit so … ausgelaugt. Im dunklen 184
Wohnzimmer hatte ich Posten bezogen und wartete. Als ich draußen ein Geräusch hörte, schaute ich aus dem Fenster und sah meinen Sohn, der gerade an dem Baum herunterkletterte, der vor seinem Zimmer im ersten Stock stand. Er ging hinüber zu Lilys Haus. Jetzt erst kam ich dahinter, daß ich nicht der einzige war, zu dem sie nachbarliche Beziehungen unterhielt. Am nächsten Tag redete ich unter vier Augen mit ihm, ich teilte ihm mit, daß ich Bescheid wüßte und sagte ihm, daß es damit ein Ende haben müsse. Netter Vater, was? Für mich ist es in Ordnung, sie zu ficken, solange deine Mutter nicht dahinterkommt, aber du läßt gefälligst die Finger von ihr. Jedenfalls, als ich es ihm verbot, sah ich … einen solchen Haß in seinen Augen. Noch nie hatte ich einen solchen Haß bei jemandem gespürt, und er war mein eigener Sohn. Er sagte – nein, er schrie es mir entgegen: »›Warum? Fickst du sie etwa auch?‹ Ich befahl ihm, damit Schluß zu machen; er entgegnete, er würde erst damit Schluß machen, wenn er damit fertig sei. Also ließ ich am nächsten Tag den Baum vor seinem Fenster fällen und an seiner Zimmertür ein neues Schloß anbringen, eines, das man nur von außen aufsperren konnte. Verstehst du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, daß ich mich verändert hatte? Ich war eifersüchtig auf meinen eigenen Sohn. Ich sperrte ihn ein. Wie einen … Sträfling. Marie wollte wissen, was los war, also erzählte ich es ihr. Sie ging zu ihm ins Zimmer. Sie redeten miteinander. So nannten sie das jedenfalls. Sie redeten … «, er kicherte eisig, » … beinahe drei Stunden miteinander. Das alles begann jetzt auch meine Arbeit zu beeinträchtigen. Mein Chefredakteur – dessen Posten ich Ende des Jahres übernehmen sollte, weil er ausschied – sagte zu mir, meine Arbeit sei schlechter geworden, ich sei reizbar und oft geistesabwesend, und er vermute, das müsse mit Alkohol oder Drogen zu tun haben. Ich versprach ihm, mein Leben in Ordnung zu bringen, die Probleme zuhause und den ganzen 185
Mist. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Kurz darauf teilte er mir mit, daß es mit der Beförderung nichts werde. Der Posten sei jemand anderem übertragen worden, jemandem mit mehr … Verantwortungsgefühl. Genau an diesem Tag ging ich früher nach Hause und fand meinen Sohn und meine Frau zusammen im Bett. Was sie miteinander machten? Frag mich nicht. Alles brach zusammen. Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben, im selben Haus wohnen zu bleiben. Es war wie … Trinken. Auf dem College hatte ich schlimme Alkoholprobleme, ich weiß also wie das ist. Du bist nicht du selber, du kennst dich nicht einmal mehr. Die Flasche macht etwas mit dir, sie bringt dich dazu, Dinge zu tun und zu sagen, die dir unter normalen Umständen nicht im Traum einfallen würden. Und jetzt war es wieder so. Ich haßte alle für das, was sie taten – und sie hörten nicht auf, es zu tun. Ich haßte sie so sehr, daß ich mir nicht einmal die Zeit ließ, darüber nachzudenken, warum sie es taten oder was da mit uns passierte. Statt dessen beschloß ich, weiter zu Lily zu gehen, sogar noch öfter zu ihr zu gehen. Sollte die beiden doch der Teufel holen. Etwa zu dieser Zeit tötete ein Mann in unserer Straße seine ganze Familie und sich selbst. Ein paar Wochen später überfuhr eine Frau am anderen Ende der Straße ihren eigenen Sohn mit dem Auto. Und das war kein Unglücksfall. Irgendwo im Hinterkopf nahm ich wahr, daß jeder in unserer Straße – oder fast jeder – krank und schwach aussah, als hätten sie alle die Grippe. Und so nannten wir es auch. Aber die Grippe verschwindet irgendwann wieder. Diese Krankheit blieb. Sie wurde sogar noch schlimmer. Nach einer Weile hörten einige von ihnen sogar auf, sich zu waschen; sie liefen in dreckigen Klamotten herum. Ich kann mich erinnern, wie Mrs. Denny, eine stattliche Frau um die Fünfzig, einmal splitternackt zu ihrem Briefkasten watschelte, sich den Unterleib kratzte und dabei hustete; mir fiel dabei auf, daß sie mindestens dreißig, 186
vierzig Pfund verloren haben mußte. Sie sah aus wie eine Leiche. Und wieder meldete sich eine leise Stimme in meinem Unterbewußtsein, die über ein Flüstern nicht hinauskam, und die mir sagen wollte, daß etwas nicht stimmte, daß ich etwas tun müßte, weil bei uns etwas sehr Schlimmes geschah. Aber ich hörte nicht auf sie, denn es gab noch eine andere Stimme, eine lautere, alles übertönende, die mir einredete, daß meine Frau eine alte Votze und mein Sohn ein verdorbenes kleines Arschloch sei und daß ich nur an mich denken dürfte, daran, wie ich mich glücklich machen könne. Und mich machte es glücklich, mit Lily zu schlafen. Also schlief ich weiter mit ihr, während um mich herum alles zusammenbrach.« Prosky unterbrach seine Erzählung, zupfte an seinem Hemdkragen herum, als sei er am Ersticken, und starrte einen Moment lang schweigend aus dem Fenster. »Ich hab seit langer Zeit nicht mehr über diese Dinge gesprochen«, flüsterte er. »Es fällt mir schwer.« Robby wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er konnte kein Mitleid mit dem Mann empfinden. Er war viel zu beschäftigt damit, Angst zu haben … »Meine Frau und mein Sohn stritten sich«, fuhr er mit gebrochener Stimme fort. »Wie Verliebte. Viel leidenschaftlicher, als sie sich jemals mit mir gestritten hatten. Und manchmal konnte ich sie irgendwo im Haus hören, wie sie einander Obszönitäten zuraunten. Als ich entlassen wurde, wußte ich nicht mehr, was ich tun sollte. Meine Frau arbeitete nicht, und ich hatte Angst, wie sie reagieren würde, wenn ich es ihr erzählte. Also betrank ich mich. Zum erstenmal seit Jahren. Ich ging auf eine richtige Sauftour, und erst als ich den letzten Cent versoffen hatte, ging ich nach Hause, oder besser: Ich wankte nach Hause. Ich redete mit mir selber wie ein alter Penner, und ich glaube, ich habe sogar gesungen. Aber nachdem ich in unsere Straße eingebogen war, sah ich etwas, das mich auf der Stelle wieder 187
nüchtern werden ließ. Zuerst sah es aus wie Rauch, und ich dachte an einen Brand. Doch es war mitten im Sommer, und ich wußte, daß niemand seinen Kamin heizte. Aber es war kein Rauch. Rauch wird vom Wind getrieben. Aber das bewegte sich anders. Es war wie eine Wolke und … flüssig. Vielleicht weil es an einer Straßenlaterne vorbeischwebte, ich bin nicht sicher, aber – es schien zu leuchten … jedenfalls ein wenig. Es trieb durch die Zweige eines Baumes vor Lilys Haus und über die Straße, formlos, aber zielgerichtet. Und es bewegte sich direkt auf mein Haus zu. Ich stand mit offenem Mund da und schaute zu, wie es vor meinem Schlafzimmerfenster schwebte. Die Vorhänge waren zugezogen, aber das Fenster selbst stand halb offen. Und dann, wie Milch, die durch einen Strohhalm gesogen wird, floß dieses Etwas durch die Fensteröffnung und war verschwunden. Was immer es sein mochte, es war in meinem Haus! Ich vergaß meinen Rausch, lief über die Straße, öffnete die Haustür und hastete die Treppe hinauf. Auf halbem Weg traf mich etwas, ich weiß nicht was, es war wie eine … Droge, als sei ich betäubt worden. Meine Füße wurden tonnenschwer, und ich konnte die Augen kaum noch offenhalten. Das kam nicht vom Schnaps, da war ich mir sicher und bin es auch heute noch. Es war eine ungeheure Anstrengung, aber ich schaffte es den Flur entlang, ohne bewußtlos zu werden. Ich fiel praktisch ins Schlafzimmer hinein, und dort … sah ich … « Er schüttelte den Kopf und zündete sich noch eine Zigarette an, bevor er weiterredete. »Sie war dort. Nackt. Sie zog die Decke von meinem Bett, während Marie sich aufrichtete und die Hände nach ihr ausstreckte. Als Lily sich nach mir umdrehte, gaben meine Knie nach, und ich stürzte zu Boden, als sie Marie gerade mit der flachen Hand vor die Stirn schlug. Marie fiel wie ein Felsbrocken nach hinten, bewußtlos, und auch ich war kurz 188
davor, das Bewußtsein zu verlieren, aber ich kämpfte dagegen an, beinahe irrsinnig vor Angst. Und dann war da dieser … Sog, als würde alle Luft in die Mitte des Zimmers gesogen, und plötzlich war sie verschwunden. Verschwand in dieser … dieser … dieser Wolke, die sich wieder zum Fenster hinausschängelte. Dann wurde ich ohnmächtig. Nach ein paar Stunden, glaube ich, wachte ich wieder auf. Ich legte mich ins Bett. Marie erwähnte den Vorfall am nächsten Tag mit keinem Wort, aber sie redete ohnehin nicht mehr mit mir. Ich versuchte mir einzureden, daß es der Schnaps gewesen sein müsse, aber es gelang mir nicht. Es ließ sich nicht mehr verleugnen, etwas Schreckliches war im Gange. Mit dieser Lily stimmte etwas nicht. Aber was? Ich wußte nicht, was ich tun, wo ich anfangen sollte. Doch dann fiel mir etwas ein … In ihrer Wohnung stand diese Plastik. Schwarzer Onyx. Sie war … « »Lilith«, unterbrach ihn Robby zu seiner eigenen Überraschung. Prosky nickte langsam. »Genau die. Ich weiß nicht, warum gerade sie mir einfiel. Ich glaube, daß das, was ich in der Nacht zuvor gesehen hatte, mich zur Besinnung brachte. Ich fing an, klarer zu denken – ich fing überhaupt wieder zu denken an –, und ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch in ihrem Haus. Ich hatte noch nie von Lilith gehört, ich wußte nicht, wer das war, und während ich ihre Plastik bewunderte, erzählte sie mir die Geschichte von Lilith. Woran ich mich erinnerte, war die Art und Weise, wie sie mir die Geschichte erzählte: so leidenschaftlich, voller Hingabe, und die ganze Zeit über beobachtete sie mich aus den Augenwinkeln heraus, als warte sie auf eine Antwort, auf eine ganz spezifische Reaktion.« »Dasselbe hat sie mit mir auch gemacht«, sagte Robby. »Und was hast du gedacht?« »Nun … « Robby zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich 189
hab mich gefragt, warum sie solch ein Aufhebens von der Geschichte macht. Warum auf einmal dieses theatralische Getue? Ich hab mich gefragt, ob das vielleicht … etwas zu bedeuten hätte.« »Genau. Das hab ich mich auch gefragt. Und nachdem ich sie in dieser Nacht mit Marie im Schlafzimmer gesehen hatte, wo sie sich vor meinen Augen in Rauch auflöste, fing ich wieder an, darüber nachzudenken. Und über ihren Namen … Lily. Ich hatte da so eine Ahnung. Also ging ich am nächsten Tag in die Bibliothek und schaute in der Kartei nach dieser Lilith. Zehn, zwölf Bücher nahm ich mit nach Hause. Ich erfuhr eine Menge. Zuerst glaubte ich kein Wort davon. Aber ich wußte doch, daß es die Wahrheit war. Tief drinnen wußte ich es. Zunächst einmal erfuhr ich, wie ich es anstellen mußte, daß Lily nicht mehr in mein Haus kam. Ich folgte einfach den Anweisungen in einem dieser Bücher. Und dann wartete ich ab. Ich schlief nicht, ich aß nicht … und ich versuchte, nichts zu trinken, aber da war mein Wille nicht stark genug. Sie kam tatsächlich nicht wieder. Während der nächsten Woche mußte ich jedoch eine Veränderung in unserem Haus feststellen. Das Verhältnis zwischen uns wurde noch schlechter. Marie und Gordon wurden mir vollkommen fremd. Wenn sie nicht gerade miteinander flüsterten, stritten sie sich, und schon bald stritten sie nur noch. Auch mein Zustand verschlimmerte sich. Ich hatte diese plötzlichen Anfälle heftiger, unkontrollierter Wut. Aber ich versuchte, nicht an meine Wut zu denken und vergrub mich in den Büchern. Ich las sie, las sie nochmal, erfuhr Neues über Lilith, versuchte, alles zu verstehen, bis ich schließlich ganz genau wußte, was sie tat.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, dann fragte er: »Bist du religiös, Robby?« »Seltsam. Diese Frage hat sie mir auch gestellt.« »Wirklich? Nun, wahrscheinlich ist religiös das falsche 190
Wort. Gläubig würde es genauer treffen. Glaubst du an Gott, an einen Gott? »Ja, sicher, ich denke schon. Wir gehen hin und wieder in die Kirche, und ich … « »Nein, ich meine, glaubst du tatsächlich an eine höhere Macht? Eine göttliche Macht?« »Nun … « »Du bist unentschieden. Das war ich auch. Ich habe sogar an gar nichts geglaubt. Vor meiner Ehe ging ich zu den Anonymen Alkoholikern, und dort wurde mir beigebracht, ich müsse mich auf eine höhere Macht stützen, aber ich habe niemals wirklich daran geglaubt. Ich hab’s benutzt, wirklich geglaubt hab ich’s nie. Aber als ich die Bücher in die Hand bekam, als ich zu verstehen begann, wer diese Lily war und was sie mit uns machte, wurde das anders. Ich meine, du wirst mich nie in einer Kirche finden – aber ich habe mich verändert.« Robby wurde zunehmend nervös und ungeduldig, er wollte es endlich wissen. »Wer ist sie?« »Tut mir leid, ich bin vom Thema abgekommen. Du wirst es gleich erfahren. Für uns alle wurde es immer schlimmer. Ich hatte diese jähzornigen Ausbrüche, bei denen ich etwas zertrümmern mußte. Die meisten zerbrechlichen Sachen in meinem Arbeitszimmer hab ich zertrümmert. Und auch einen Teil des Kücheninventars. Einfach so, ohne Grund. Mir wurde klar, daß wir uns alle irgendwie auf Entzug befanden. Von Lily. Ich glaube nicht, daß Marie und Gordon wußten, was ich getan hatte, um sie vom Haus fernzuhalten. Es war gut zu erkennen und eigentlich nicht zu übersehen, aber die beiden achteten damals so ziemlich auf gar nichts. Und trotzdem bin ich sicher, daß sie etwas vermuteten, denn Lily ließ sich nachts nicht mehr blicken. Und das war der Auslöser. Sie war uns ins Blut gefahren. Wir waren süchtig nach dem, was sie mit uns angestellt hatte, auch wenn es krank war. Böse. Ich glaube, 191
deshalb drehte Marie durch. Sie und Gordon hatten einen Streit. Sie jagte ihn hinaus in die Garage, und dort nahm sie meine … äh … sie probierte meine Motorsäge aus. An ihm. Und dann an mir. An meinem Gesicht … meinem Arm. Ich erschoß sie. Tötete sie.« Er erschauderte, als er sich seine dritte Zigarette anzündete und den Rauch tief in die Lungen sog. »Ab sie mich zum Krankenwagen hinaustrugen, sah ich sie. Lily. Zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite. Sie stand auf dem Gehsteig. Ich drehte durch, fing an, etwas zu brüllen, von Dämonen und vom Bösen. Sie dachten natürlich, ich sei nicht ganz bei mir, stünde unter Schock oder so. Im Krankenwagen wurde mir dann plötzlich klar, daß ich mich zusammennehmen mußte, wenn ich nicht in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden wollte. Aber ich habe es nie geschafft, dieses Bild aus meinem Kopf zu verbannen: Lily steht lächelnd auf dem Gehsteig, zusammen mit ihren beiden verfluchten Kötern.« »Sodom und Gomorrha?« fragte Robby. »Nein. Es waren nicht die Hunde, die sie jetzt hat. Es waren zwei Dobermänner. Kain und Abel.« »Ebenfalls biblische Namen.« »Ja. Hübsch, nicht? Hat sie nicht einen ausgefallenen Sinn für Humor? Es ist beinahe so, als würde sie immer wieder ein paar kleine Hinweise fallen lassen, weil sie genau weiß, daß ihr doch niemand auf die Schliche kommt. Sodom und Gomorrha. Kain und Abel. Das ist nur eine ihrer Arten, sich über ihre Opfer lustig zu machen. Ich habe versucht, einen der Dobermänner zu töten. Ich weiß nicht genau welchen. Etwa ein Jahr später.« Er lachte auf eine Weise, die Robby Angst machte. »Das, was ich mit ihm gemacht hab, hätte ihn eigentlich umbringen müssen. Und sie auch. Ein normaler Mensch wäre daran gestorben.« Er zog seinen rechten Handschuh aus und entblößte die Hand, die Jen so erschreckt 192
hatte. Das Licht brach sich stumpf in den dünnen stählernen Sehnen und den kugelförmigen Knöcheln, als er die Handfläche nach oben drehte, die Faust unter leisem metallischem Klicken ballte und dann plötzlich wieder öffnete. Robby zuckte erschrocken zusammen. Eine funkelnde, zwanzig Zentimeter lange Messerklinge war aus dem Ballen von Proskys stählerner Hand geschossen. »Damit hab ich ihren Köter aufgeschlitzt«, flüsterte Prosky durch die geschlossenen Zähne. »Und dann hab ich ihr das Ding in den Bauch gerammt, hab es gedreht, hab es nach oben gezogen und nach unten. Ich dachte, im nächsten Moment wäre es aus mit ihr und konnte es kaum erwarten. Aber sie lächelte nur. Sie lachte, während ich mitansehen mußte, wie ihre Wunden sich wieder schlossen. In Sekundenschnelle waren sie verschwunden.« Er setzte die Dolchspitze auf die Tischplatte und schob sie wieder in die Hand, bis sie mit einem leisen Klicken einrastete. Dann zog er den Handschuh an und beugte sich über Robby hinüber. »Seitdem bin ich ihr dicht auf den Fersen, aber jetzt hab ich sie wiedergefunden. Und ich habe Angst, Robby. In weniger als einer Woche hat sie das mit den Leuten in deiner Straße angestellt, wozu sie damals ein halbes Jahr gebraucht hat. Sie ist schneller als jemals zuvor. Ich hoffte, jemanden wie dich zu finden, der mir dabei hilft, sie aufzuhalten. Aber ich weiß nicht, ob es nicht schon zu spät ist. Vielleicht hat sie die Dinge bereits zu weit getrieben.« Tränen brannten Robby in den Augen. Er weinte nicht aus Trauer, sondern weil er so schreckliche Angst hatte; eine Gänsehaut zog sich vom Nacken bis hinauf ins Haar, und er mußte erst einmal tief Luft holen, bevor er sprechen konnte. »Was ist sie?« stöhnte er. »Ich weiß, es hört sich verrückt an. Ich hab’s ja selber nicht geglaubt. Aber dir ist doch auch klar, daß mit ihr was nicht stimmt, oder?« Robby nickte. 193
»Sie ist kein menschliches Wesen. Eure neue Nachbarin ist eine Tochter von Lilith. Gezeugt vor Jahrtausenden, am Strand des Roten Meeres, bei einer Orgie der Dämonen. Sie ist ein sexueller Vampir. Ein Sukkubus. Ganz langsam saugt sie das Leben heraus aus dir, und Gott weiß, aus wem noch. Und wenn sie damit fertig ist, dann wird sie deine Seele geradewegs in die Hölle schicken … « Nachdem er Robby berichtet hatte, was seiner Familie zugestoßen war, erzählte Prosky davon, wie der Bruder seiner Frau, Anthony Scolari – ein sehr wohlhabender und prominenter Chikagoer Geschäftsmann mit vielen Beziehungen, von denen einige recht zweifelhafter Natur waren –, ihn im Krankenhaus besuchte, gleich nachdem er erfahren hatte, was passiert war, und wie er sofort dafür Sorge trug, daß Prosky von einem Chirurgen aus seinem eigenen Bekanntenkreis operiert wurde. Allein mit Prosky in dessen Zimmer auf der Intensivstation sagte Scolari zu seinem Schwager: »Es mag nicht der geeignete Zeitpunkt dafür sein, Ronnie, aber ich muß dir die Frage stellen: Was ist passiert? Ich kenne meine Schwester, und ich weiß, daß sie so etwas unter normalen Umständen niemals getan hätte. Und du weißt, daß ich es weiß. Also, was ist tatsächlich passiert?« »Du … wirst mir … nicht glauben.« »Warum läßt du mich nicht einfach selbst entscheiden, was ich dir glaube und was nicht?« Schwer angeschlagen von den Medikamenten, mit denen man ihn vollgepumpt hatte, dachte Prosky eine Zeitlang nach, bevor er sagte: »Wenn du willst – erkläre ich es dir später in allen Einzelheiten. Fürs erste sage ich dir das: Eine Person ist … verantwortlich für alles, was passiert ist. Aber du mußt mir … schwören, daß du … es für dich behältst. Ich kann’s nicht beweisen … ich werde es nie beweisen können. Geh … nicht zur Polizei.« 194
»Ich hatte nie die Absicht, zur Polizei zu gehen.« »Unsere Nachbarin … Lily Kress … « »Bist du sicher?« »Todsicher.« »Gut. Wir werden uns weiter unterhalten, wenn’s dir besser geht. Du kannst ganz beruhigt sein. Ich werde dafür Sorge tragen, daß du in besten Händen bist.« Beinahe vier Monate lang war Lily mit keinem Wort mehr erwähnt worden. Prosky lag immer noch im Krankenhaus, lernte wieder laufen und gewöhnte sich an seinen neuen Arm, der ihm von seinem Schwager besorgt und finanziert worden war. Prosky hatte noch nie zuvor eine derartige Prothese gesehen und fragte, warum man ihm einen solch ungewöhnlichen Arm verpaßt habe. Der Chirurg antwortete ihm, die Prothese sei nach den speziellen Angaben von Mr. Scolari angefertigt worden. Eine Woche vor seiner Entlassung erhielt Prosky Besuch von seinem Schwager. Eine Weile lang plauderten sie über Belanglosigkeiten, dann fragte ihn Scolari: »Möchtest du mir jetzt erzählen, was passiert ist?« »Eigentlich nicht.« »Und wenn ich darauf bestehe?« »Hör mal, Anthony, ich weiß ja selbst nicht genau, was passiert ist.« Scolari saß auf der Bettkante und sprach leise: »Schau, Ronnie, wir wollen doch offen miteinander reden, okay? Ich nehme an, du weißt ganz genau, daß ich nicht nur mit Aktien handle und eine kleine Firma leite. Du wirst auch wissen, daß ich ein paar Freunde habe, die sich nicht immer an das Gesetz halten, wenn sie etwas tun. Wir haben nie darüber geredet, aber es stand doch immer im Raum, oder? Ich bin sicher, daß Marie dir viel von mir erzählt hat. Also wirst du jetzt nicht gleich aus allen Wolken fallen. Ich habe einen meiner Freunde auf diese Lady aus deiner Nachbarschaft angesetzt. Um ehrlich zu sein, 195
ich wollte sie umlegen lassen. Okay? Ich meine, ich war ganz schön sauer, verstehst du? Sie ist nach Indiana gezogen. Mein Mann ist ihr gefolgt. Eine Woche, nachdem sie sich dort niedergelassen hatte, verloren wir den Kontakt zu ihm. Man fand ihn neben einem kleinen Bach, ein paar Meilen entfernt von ihrer Straße. Außerdem fand man ihn auf einer Müllhalde, noch eine Meile weiter. Und man hat noch immer nicht alles von ihm gefunden. Also – willst du mir immer noch nicht erzählen, was passiert ist?« Prosky war schockiert, aber er erzählte seinem Schwager trotzdem nicht die ganze Geschichte. »Du behauptest, daß diese Frau für das Geschehene verantwortlich ist, aber du kannst es nicht beweisen, also kannst du auch nicht zur Polizei gehen. Und trotzdem lehnst du ein Hilfsangebot von meiner Seite ab? Du gibst ihr an allem die Schuld, und trotzdem sagst du mir ins Gesicht, daß du nicht willst, daß sie für alles bezahlt?« »Möchtest du die Wahrheit wissen, Anthony? Ich würde sie am liebsten selber töten.« Scolari lächelte. Er hob die Prothese an und entfernte ganz vorsichtig einen Stift am Handgelenk. »Mach mal so«, sagte er und streckte einen Arm aus, ballte die Finger zur Faust und öffnete sie wieder. Prosky kam der Aufforderung nach – und die Klinge schnellte heraus. Scolari lächelte immer noch. Während er sprach, säuberte er sich mit der stählernen Spitze die manikürten Fingernägel. »Es liegt an dir. Du kannst es vergessen, wenn du willst. Du kannst auch einen anderen Arm haben. Aber ich habe erneut jemand auf sie angesetzt. Ich weiß, wo sie steckt. Es liegt an dir.« Seitdem war Prosky ihr auf den Fersen gewesen. Dann erzählte Robby ihm alles. Zuerst hatte er gezögert, aber schließlich gingen ihm die Worte leichter über die Lippen. Er 196
war erleichtert, daß er endlich der Tatsache gegenüberstand, daß mit dieser Frau etwas nicht stimmte, und noch mehr erleichterte es ihn, daß er dabei nicht allein war. Als er von Jen erzählte, fing er an zu weinen und konnte nicht weitersprechen. »Ist schon in Ordnung, Robby«, sagte Prosky. »Wenigstens siehst du es jetzt, bevor es zu spät für dich ist. Ich will ehrlich zu dir sein – vielleicht ist es für die anderen zu spät. Vielleicht aber auch nicht. Du könntest ihnen helfen.« »Aber wie?« »Ich hab dir doch erzählt, daß ich nie an eine höhere Macht geglaubt habe und daß sich das alles geändert hat.« Robby nickte. »Nun, ich werde keinem von diesen toupierten TelePredigern mit ihren Privatjets, ihrem Limousinen-Park und ihren protzigen Diamantringen auch nur einen Dollar überweisen. Aber ich glaube an Gott. Ich weiß, das ist ein heikles Diskussionsthema, Gott und die Religion, und wir haben jetzt nicht die Zeit, über unsere verschiedenen Auffassungen von Doktrin und Bibelinterpretation zu debattieren, also … laß uns einfach über Gott reden. Der Quelle alles Guten. Ich glaube wirklich daran, daß in jedem von uns ein Stück von Gott steckt … jener Teil, der es uns erlaubt, zu lieben und zu geben, uns um ein Baby zu kümmern oder um einen alten Menschen. »Aber«, seufzte er, »ich glaube auch an Satan. Oder den Teufel, Beelzebub oder wie immer du ihn nennen willst. Ich glaube an ihn und an seine Streitmacht. Die Quelle alles Bösen. Aber er versteckt sich nicht etwa in der Botschaft auf der Rückseite einer Rattenhülle oder auf den Regalen der Bibliotheken oder der Buchläden. Er ist in uns. Wir tragen ein Stück des Bösen in uns, gleich neben dem, was von Gott ist.« Heftig rieb er sich mit dem Knöchel das gesunde Auge, dann atmete er tief durch, bevor er fortfuhr: »Ich weiß, daß es sich allzu simpel anhört – wie die uralte 197
Vorstellung vom Schutzengel auf unserer einen Seite und dem Dämon auf der anderen, aber ich glaube daran. Es liegt an uns, welche Hand wir ergreifen wollen. Auch an dir. Du kannst erwachsen werden, dich verlieben, heiraten, Kinder bekommen und sie ordentlich aufziehen. Du kannst aber auch einen zynischen Menschen aus dir machen, deine guten Seiten von ein paar schlechten Erfahrungen zerstören lassen, Frauen wie Dreck behandeln, lügen, betrügen, deinen Lebensunterhalt auf unehrliche Weise verdienen. Verstehst du, was ich meine? Auch wenn du dich für die erste Möglichkeit entscheidest, wenn du heiratest und eine Familie gründest, hast du immer noch die Wahl, deine Frau zu betrügen oder deine Kinder zu mißbrauchen. Du kannst sie aber auch lieben. Alles für sie tun. Sogar für sie sterben.« Er schwieg, nippte an seinem Kaffee, der schon längst nicht mehr dampfte, und redete dann weiter: »Du liebst deine Familie doch, oder?« »Natürlich«, krächzte Robby. Eigentlich wollte er sagen: Das ist alles Quatsch! Quatsch aus Horrorfilmen! Aber er konnte es nicht, denn er wußte, daß er seinen eigenen Worten nicht geglaubt hätte. »Nun, Robby, und genau diese Liebe brauchst du jetzt. Sie und Gottes Hilfe. Diese Frau versucht, dir deine Liebe zu nehmen. Du mußt sie dir als Söldnerin in der Streitmacht des Bösen vorstellen, von der ich vorhin gesprochen habe. Und sie ist ein sehr guter Soldat. Nach und nach schneidet sie das aus deinem Leib, was von Gott stammt. Sie nimmt dir deine Fähigkeit, dich um andere zu kümmern. Sie pflanzt dort Haß ein, wo einmal Liebe war. Aber nur, wenn du sie läßt. Nur, wenn du die Hand des Dämonen an deiner Seite ergreifst.« Robbys Mund war ausgetrocknet. »Das ist bereits passiert.« »Ich weiß. Du siehst es ja an deiner Familie. Ihr streitet euch und ihr ignoriert einander … und die Liebe bleibt auf der Strecke. Aber du darfst das nicht weiter geschehen lassen.« »Und w-was kann ich dagegen tun?« 198
»Zuerst einmal beten. Und dann mußt du alles tun, was in deiner Macht steht, um den Prozeß umzukehren, den sie in Gang gebracht hat. Zeige deiner Familie, daß du sie liebst. Erinnere sie daran, wie es noch vor einer Woche war, und mach ihnen klar, was jetzt aus ihnen geworden ist. Hast du ein gutes Verhältnis zu deinem Pastor?« »Pastor Quillerman? So einigermaßen. Wir verkehren nicht gerade privat mit ihm.« »Vielleicht könnte er dir helfen. Ich würde vorschlagen, du rufst ihn an – so schnell wie möglich – und schüttest ihm dein Herz aus. Wenn du gerne möchtest, daß auch ich mit ihm rede, bin ich dazu bereit.« »Aber … was ist mit ihr? Vielleicht kann ich meine Familie retten, aber das wird sie doch nicht aufhalten, oder?« Prosky lächelte – es war ein schiefes, mitleiderregendes Lächeln, aber es war voller Freude – und er legte seine gesunde Hand auf die Robbys. »Wenn du eine solche Frage stellen kannst, dann trägst du jede Menge Kraft in dir, mein Sohn.« Er nippte an seinem Kaffee. Robby zog ungeduldig die Stirn in Falten. Er hatte seine Tränen längst vergessen. »Also? Was soll ich tun? Was werden wir tun? Um sie aufzuhalten, meine ich.« Prosky stellte seinen Becher mit einem Knall auf den Tisch und leckte sich zufrieden die Lippen. »Ich dachte schon, du wärest nicht mehr in der Lage diese Frage zu stellen … «
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15 WENN ICH EINEN HAMMER HÄTTE Alle waren zuhause. Karen und Jen waren an diesem Morgen gar nicht ausgegangen. Karen hatte sich krank gemeldet, und als sie merkte, daß Jen sich nicht für die Schule fertigmachte, fragte sie nach dem Grund. »Ich fühl mich nicht gut«, antwortete Jen. Karen hatte gehofft, allein bleiben zu können, aber Jen sah wirklich schlecht aus. »Okay«, sagte sie. »Wenn du meinst.« Es waren die einzigen Worte, die sie an dem Morgen wechselten. Sie setzten sich schweigend vor den Fernseher. Karen ging immer wieder hinüber zur Kaffeekanne. Es fiel ihr schwer, nicht einzuschlafen. Sie war so unerträglich müde. Drei Stunden nachdem er das Haus verlassen hatte, kam George aus dem Sender zurück. Weder Karen noch Jen wollten von ihm wissen, warum er so früh zurück war, und von sich aus gab er keine Erklärung dazu ab. Lieber wäre er nicht nach Hause gekommen, weil er wußte, daß Karen nicht zum Dienst gegangen war, aber an diesem Tag konnte er nicht arbeiten; Stahlkugeln beschwerten seine Augenlider, die Schuhe waren voller Metallspäne, und auf seinem Hirn lag eine dicke Staubschicht. Es war völlig sinnlos, etwas anzufangen, also gab er auf und ging nach Hause. Karen und Jen saßen im Wohnzimmer, und sie sahen beide gespenstisch aus. Er steckte seinen Kopf eine Sekunde lang hinein, dann drehte er sich um und ging hinaus in den Flur, wo er nachdenklich stehenblieb. Sie sind auch krank. Vielleicht brauchen sie etwas. Aber dann: Ach, hol sie der Teufel! Er ging ins Schlafzimmer und begann sich umzuziehen. Nackt bis auf die Socken blieb er vor dem Spiegel von Karens Frisierkommode stehen und betrachtete sich. 200
»Hol sie der Teufel«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Sie sind krank. Karen kümmert sich um dich, wenn du krank bist. Du kümmerst dich um sie, wenn sie krank ist. Was ist bloß … Monroe kam fauchend unter dem Bett hervorgeschossen und krallte nach Georges Füßen. Er kam ihm dabei so nahe, daß George spürte, wie der Speichel des Katers gegen seine Knöchel spritzte. Wut stieg in George hoch wie die Lava eines Vulkans, als er Monroe mit einem Tritt gegen die Schranktür beförderte. Dann langte er nach unten und packte eine Handvoll des schlaffen Fells. Monroe jaulte laut, als George ihn aus dem Zimmer und durch den Flur nach vorne zur Haustür trug. Karen war bereits aus dem Fernsehsessel gesprungen und stand in der Wohnzimmertür, die Fäuste geballt und die Augen zu Schlitzen verengt. »Nein, George, nein!« brüllte sie. »Alle Leute in dieser Straße halten ihre Katzen draußen! Wieso ist dieser Kater etwas Besonderes?« »Er hat nie draußen gelebt. Er kann nicht auf sich aufpassen. Er wird unter die Räder kommen.« »Leck mich am Arsch!« knurrte George und öffnete die Haustür. »Er ist eine Katze und kein blindes Kind!« In hohem Bogen warf er Monroe durch die Tür. Der Kater überschlug sich ein paarmal in der Luft, bevor er unter jämmerlichem Gekreische über den Rasen schlitterte. Karen lief ihm im Morgenmantel hinterher. »Du Schwein!« brüllte sie. »Du gottverdammtes Ungeheuer!« Sie hob Monroe mit beiden Händen auf, aber George schaute ihr schon nicht mehr zu. Er drehte sich um und blieb vor der Wohnzimmertür stehen, wohl wissend, daß sie den Kater wieder ins Haus bringen würde. Plötzlich wurde ihm klar, daß er splitternackt war, denn … … Jen starrte ihn an. Zuerst war es George ein wenig peinlich; es gehörte nicht gerade zu seinen Gewohnheiten, 201
nackt vor seiner Tochter herumzulaufen. Sein erster Gedanke war, daß es ihr schrecklich unangenehm sein mußte. Aber das war es nicht. Jens Blick war geradewegs auf seinen Unterleib gerichtet. Den linken Zeigefinger hatte sie zwischen die Lippen gesteckt und die Wangen fest unter die Wangenknochen gesogen. Die rechte Hand lag unter dem Morgenrock zwischen ihren Beinen. Ihre Augen waren ganz schmal, so, als würde sie lächeln. Man konnte den Eindruck haben, daß sie … George lief den Flur entlang. Er versuchte, nicht daran zu denken. Im Schlafzimmer zog er Jeans und ein blaues ChambrayHemd an. Er achtete nicht auf das sanfte Kribbeln, das durch seinen Penis lief, als er daran dachte, wie Jen an ihrem Finger genuckelt hatte … Schon bevor er das Haus betrat wußte Robby, daß alle zuhause waren. Beide Autos standen auf der Zufahrt, und am Morgen hatte er Jen noch im Morgenrock gesehen, als er aus dem Haus ging, also konnte sie den Schulbus gar nicht mehr erwischt haben. Um niemandem die Gelegenheit zu geben, ihn anzusprechen, eilte er direkt in sein Zimmer, warf die Bücher auf den Schreibtisch, zog die Jacke aus und setzte sich aufs Bett. Er fühlte sich, als hätte jemand mit einem Fleischklopfer auf seinem Gehirn herumgehämmert. In zu kurzer Zeit war zu viel auf ihn eingeredet worden, und er hatte noch längst nicht alles verdaut. Und obendrein war er immer noch todmüde. Aber es ist nicht die Grippe, dachte er und erschauerte. Prosky hatte Robby noch mehrere Fotokopien von Buchseiten in die Hand gedrückt, bevor er ihn an der Straßenecke absetzte. Die Schrift war undeutlich, aber leserlich. Er hatte die Blätter zu einem kleinen Quadrat zusammengefaltet und in die Gesäßtasche gestopft. 202
»Das mußt du heute noch lesen«, hatte Prosky gesagt. »Und heute abend um neun treffen wir uns wieder hier. Bring einen Beutel verbrannter Holzstückchen aus eurem Kamin mit und ein trockenes Handtuch.« Robby zog die Papiere aus der Tasche und legte sich auf den Rücken, um sie zu lesen. Auf die erste Seite hatte Prosky geschrieben: Aus TEUFEL UND ENGEL von Thelonius Pascali, 1972. Eine Viertelseite weiter unten stand die Überschrift: LILITH UND IHRE TÖCHTER. Zuerst dachte Robby, es handle sich um die Geschichte, die Lorelle ihm an dem Abend erzählt hatte, als er zum ersten Mal ihre Plastik sah. Aber als er weiterlas, stellte er fest, daß sie ganz bewußt ein paar wichtige Einzelheiten weggelassen hatte. Laut Mr. Pascali hatte Gott die drei Engel Sanvi, Sansanvi und Semangelaf geschickt, um Lilith zurückzuholen, nachdem sie aus dem Garten Eden geflohen war und Adam ihm von ihrer Rebellion berichtet hatte. Als sie Lilith schließlich am trostlosen Strand des Roten Meeres entdeckten, trieb sie mit zahllosen Dämonen Unzucht und schenkte einer Brut von kleinen Mädchen das Leben – bis zu hundert am Tag, wie sich herausstellte –, von denen sie einige nach jedem Beischlaf verzehrte, um ihren Hunger zu stillen, der beinahe so unersättlich war wie ihr sexueller Appetit. Als sie die drei Engel erblickte, geriet Lilith in Wut und befahl ihnen, zu verschwinden. Die Engel teilten ihr mit, daß Gott ihnen die Anweisung gegeben habe, sie nach Eden zurückzubringen. Mit dem Blut ihrer Töchter auf den Lippen sagte sie lachend zu ihnen, daß es in Eden nichts gäbe, was sie interessiere, und daß sie hier mit ihren dämonischen Liebhabern vollkommen glücklich sei. Die Engel waren abgestoßen von dem, was sie dort mitansehen mußten. Entsetzt beobachteten sie, wie Liliths Töchter – geflügelte, reptilienartige Kreaturen – durch den Dreck krochen und in einem unglaublichen Tempo 203
heranreiften. Einige von ihnen kopulierten noch schnell mit den unersättlichen Dämonen, bevor sie davonflogen. Noch einmal forderten die Engel Lilith auf, mit ihnen zurückzukehren, und erklärten ihr, wie sehr es ihnen davor graue, Gott zu berichten, was sie hier gesehen hatten. Keinesfalls könnten sie zulassen, daß Lilith es weiter so treibe und daß sie sich von ihren eigenen Kindern ernähre. Lilith weigerte sich immer noch, sagte aber schließlich mit einem falschen Lächeln den Engeln zu, daß sie immer dann ein Neugeborenes verschonen wolle, wenn die Engel ihre Namen neben das Kind in den Sand schrieben. Als Folge dieses Versprechens trafen Eltern noch Jahrhunderte später bestimmte Vorkehrungen, um ihre Babys vor Lilith zu schützen. Bis ein Mädchen zwanzig Tage alt war und ein Junge acht Jahre, malten die Eltern über ihren Betten mit Holzkohle Kreise an die Wand, in denen die Worte standen: »Adam und Eva verbannen Lilith.« Und auf die Türen schrieben sie die Namen: »Sanvi, Sansanvi, Semangelafi.« »Was aber geschah mit den Legionen der anderen Töchter Liliths, den Sukkubi?« schrieb Pascali. »An Kindern waren sie nicht interessiert. Statt dessen frönten auch sie der Lieblingsbeschäftigung ihrer Mutter: der Verführung. Sie stahlen sich nachts in fremde Schlafzimmer und versetzten, wenn nötig, alle anderen Mitglieder des Haushalts in tiefen Schlaf, um die Männer – und manchmal auch die Frauen und sogar die Kinder – im Schlaf zu verführen und ihnen zwar nicht das Blut aus den Körpern zu saugen, dafür aber ihre Vitalität, ihre Energie und jede Form von Güte, die sie besaßen: die Fähigkeiten zu geben, Mitleid zu empfinden oder auch nur ihre Nächsten zu lieben. Der Sukkubus, in seiner menschlichen Form, war unwiderstehlich schön und verfügte über die Macht, in jedem seiner Opfer die geheimsten Wünsche zu wecken. Nacht für Nacht kehrte er zurück, um seine Opfer mit Hilfe seiner 204
Schönheit und seiner Verführungskünste davon zu überzeugen, daß an ihrer düsteren Beziehung nichts Schlechtes sei, und nach und nach beraubte er die ahnungslosen Männer oder Frauen all ihrer Menschlichkeit, erniedrigte sie, bis sie kaum mehr waren als wilde Tiere. Solange, bis er sein eigentliches Ziel erreicht hatte: Die Seelen seiner Opfer der ewigen Verdammnis auszuliefern. Von den unsterblichen Sukkubi geht die Legende, daß sie, im Bund mit Satan und seinen Gehilfen, auch heute noch ihr Unwesen auf der Welt treiben. Wenn das wirklich so sein sollte, dann ist es in der Tat eine gesicherte – wenn auch traurige – Wahrheit, daß ein Sukkubus in der heutigen Gesellschaft mit ihren niedrigen moralischen Werten und ihren egozentrischen Lebensweisen ein relativ normales Dasein führen und seine bösen nächtlichen Taten begehen könnte, ohne auch nur Verdacht zu erregen.« Robby warf die Blätter auf sein Bett und seufzte. Das las sich alles wie ein Märchen. Wahrscheinlich würde es nicht einmal als Märchen akzeptiert werden, so lächerlich hörte sich alles an. Aber es paßte. Es paßte so genau, daß Robby das Blut in den Adern gefror. Er las die restlichen Seiten durch, aber dort stand immer wieder dasselbe, alles Bestätigungen dafür, daß Lorelle einen wichtigen Teil der Überlieferung weggelassen hatte, den Teil, der ihr wahrscheinlich zu verräterisch vorgekommen war (auch wenn Robby wußte, daß er nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, sie für einen Dämon zu halten, auch wenn sie ihm die ganze Geschichte erzählt hätte). Robby setzte sich auf und starrte eine Weile auf seine Schuhe, wohl wissend, daß es noch eine lange Zeit war bis neun Uhr. Im Haus war es still. Robby sehnte sich nach einer menschlichen Stimme. Er mußte mit jemandem reden, vor allem über die verrückten Gedanken, die ihm durch den Kopf 205
gingen. Dylan war nicht zur Schule gegangen, hoffentlich konnte er sich mit ihm unterhalten. Auf jeden Fall mußte Robby raus aus dem Haus. Er wollte nicht allein sein. Er schlüpfte in seine Jacke und ging den Flur entlang. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. »Robby?« flüsterte Jen. Sein Rücken versteifte sich. »Robby? Wo gehst du hin?« Er beschleunigte seinen Schritt und verschwand hinter der Ecke. Die Vorhänge des Wohnzimmers waren zugezogen, und es war dunkel im Zimmer. Seine Mutter saß vor dem Fernseher. Sie sah abgemagert und müde aus, die flimmernde Bildröhre tauchte ihr Gesicht in ein weiches elektrisches Blau. Draußen lief Robby die Straße entlang. Er schaute nicht zu Lorelles Haus hinüber und hoffte, sie würde ihn nicht bemerken und nach ihm rufen. Die Autos von Mr. und Mrs. Garry standen in der Auffahrt. Es war nicht ungewöhnlich, daß Mr. Garry zuhause war – er arbeitete als Zimmermann und hatte unregelmäßige Arbeitszeiten. Aber Mrs. Garry hatte einen Job in einer Telefonzentrale und war fünf Tage in der Woche dort. Sie nahm sich nur selten einen Tag frei. Als er sich dem Haus näherte, hörte Robby die Musik von Ozzy Osborne, und zwar so laut, daß der Baß das vordere Fenster erzittern ließ. Das war noch seltener als die Tatsache, daß Mrs. Garry die Arbeit schwänzte. Dylans Eltern bestanden darauf, daß ihr Sohn seine Rockmusik über Kopfhörer abspielte, damit sie nicht davon belästigt wurden. Robby klopfte kräftig gegen die Tür, aber ihm war klar, daß ihn bei dem Gedröhne niemand hören würde, also öffnete er die Tür einen Spaltbreit und rief hinein: »Hallo?« Irgendwo zwischen der donnernden Musik konnte Robby den Ton des Fernsehers ausmachen. 206
»Hallo? Dylan? Mrs. Garry?« Keine Antwort. Er ging hinein, zog die Tür hinter sich zu und prallte beinahe zurück vor der Lautstärke der Musik. Als er um die Ecke der Vorhalle bog, sah er von hinten Mr. Garrys Füße, die in Pantoffeln steckten und auf dem Polsterhocker vor dem Plüschsessel lagerten. »Mr. Garry?« fragte Robby. »Ist Dylan zuhause?« Die Füße bewegten sich nicht. Ein Luftzug trug ihm einen schwachen Kotgeruch in die Nase, und er fragte sich, ob er auf dem Weg hierher vielleicht in Hundescheiße getreten war. Er ging einen Schritt nach vorne und versuchte es noch einmal: »Mr. Garry? Ich … äh … könnten Sie mir sagen, ob …« Robby blieb stehen. Jemand hatte etwas auf dem Teppich verschüttet, und es war bis auf den Bildschirm des Fernsehers gespritzt. Irgendeine Familienserie lief gerade, und eine dunkle Flüssigkeit besprenkelte das Gesicht einer Schauspielerin. »Mi-Mi-Mister … Garry?« Robbys Stimme verlor sich im Getöse der Musik. In einigem Abstand zum Sessel ging er um ihn herum und sah Mr. Garrys nackte Waden, sah, daß sein Bademantel vorne offen war und daß die rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf der Armlehne lag. Auf der Vorderseite des Frottee-Bademantels klebte etwas, das wie Schokoladenpudding aussah, nur … hatte es nicht unbedingt die Farbe von Schokolade … Mr. Garrys Mund war offen. Auch seine Augen. Und auch seine Stirn. Genaugenommen fehlte die gesamte Oberseite seines Schädels, und eine puddingartige Substanz war herausgequollen und auf den Bademantel getropft. Robby stolperte rückwärts, stieß gegen den Beistelltisch 207
neben der Couch und landete auf dem Hintern. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Er rollte sich auf die Seite und versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sein Magen krampfte sich zusammen, und beißende Gallenflüssigkeit brannte ihm auf der Zunge. »Dylan!« gurgelte er, wischte sich über den Mund und schnappte nach Luft, während er sich an der Sofalehne nach oben zog. »Dylaaan!« Er lief den Flur entlang zu Dylans Zimmer, aus dem die hämmernde Musik dröhnte. Unterwegs stolperte er über einen Schuh und schlug der Länge nach hin. Aber er landete nicht auf dem Boden. Er landete auf etwas, das weich und naß war. Der Geruch von Fäkalien, der ihm bereits im Wohnzimmer in die Nase gestiegen war, mischte sich mit dem rosigen Duft von Mrs. Garrys Parfüm. Robby stützte sich auf die Arme und stellte fest, daß der Schuh, den er kurz gesehen hatte, bevor er stolperte, nicht leer war, Mrs. Garry lag unter ihm, mit dem Gesicht nach oben, beide Arme seitlich ausgestreckt. Ihr linkes Auge hatte sie geschlossen, als würde sie schlafen, und die rechte Gesichtshälfte war nur noch ein Trümmerfeld von zermalmten Knochen und blutigen Fleischfetzen. Robby stammelte etwas, als er versuchte, von ihr herunterzuklettern, und zweimal rutschte er aus, bis sie plötzlich … … ihr linkes Auge öffnete, ihn anblinzelte und eine feuchte Parodie seines Namens herausblubberte »Oowww-iiee? Oowwiiee?« Robby warf sich rückwärts gegen die Wand und versuchte, auf Händen und Knien wegzukriechen, aber … … eine schwache Hand packte sein Hosenbein, während Mrs. Garry weiterstammelte: »Ooww-iiee? Oooowww-iiieee?« Blut gluckerte in ihrer Kehle, und ein erstickter Laut kam aus ihrem Mund, bevor sie losließ. Robby krabbelte unbeholfen den Flur entlang und versuchte 208
dabei sich aufzurichten, bis er den Hammer entdeckte. Er kannte diesen Hammer. Er gehörte Mr. Garry. Das Ende mit der Klaue sah aus, als sei es mit Schlamm überzogen, aber Robby wußte nur zu gut, daß es kein Schlamm war, der den Zwischenraum zwischen den beiden Zehen der Klaue füllte. Er starrte darauf, einen Augenblick lang völlig bewegungslos, dann stand er vorsichtig auf und drückte sich dicht an der Wand entlang, vorbei an dem Hammer. »Dylan?« rief er, nur noch wenige Schritte von Dylans geschlossener Zimmertür entfernt. »Dylan! Bitte! Bist du da?« Dylan antwortete nicht, aber als Robby lauschte, hörte er etwas, das er zunächst für eine Einbildung hielt Dylans Stimme, die in einem hohen, weinerlichen Ton zu der Musik sang. Er schaute zurück auf Mrs. Garry. Ihre Finger krampften sich einen Augenblick lang zusammen wie die Beine einer sterbenden Spinne, dann erschlafften sie. Robby ging die paar Schritte bis zu Dylans Zimmer und legte die Hand auf den Türknopf. Er kniff die Augen zusammen, bevor er die Tür öffnete. Die Musik traf ihn wie eine Wand, und er öffnete die Augen, um … … nicht mehr zu sehen als das übliche Durcheinander in Dylans Zimmer. »Dylan?« rief er, aber er wußte, daß er keine Antwort bekommen würde. Er stolperte rückwärts hinaus, schloß die Tür und hörte wieder diese Stimme, wie das Singen eines kleinen Jungen. Sie kam aus dem Badezimmer. Robby rief noch einmal den Namen seines Freundes, während er zum Badezimmer lief und die angelehnte Tür mit der Handfläche aufstieß. Dylan lag nackt in der Wanne ausgestreckt, bleich wie Schnee, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Augen 209
geschlossen. Seine Lippen bewegten sich ganz leicht, während er zu singen versuchte. Die Arme hingen schlaff in einem Bodensatz von dunkelrotem Wasser. Seine blutbefleckten Kleider lagen zusammengeknüllt auf den Fliesen. Robby sank neben der Wanne auf die Knie und krächzte: »Dylan! Dylan, was ist passiert?« Dylan öffnete langsam die Augen und versuchte, die linke Hand zu heben, aber es wollte ihm nicht gelingen. »Sie … wollten mich nicht … gehen lassen«, brachte er keuchend hervor. »Wohin gehen lassen?« »Zu ihrem Haus.« »Wessen Haus?« fragte Robby, aber er wußte die Antwort bereits. »Looohh … Lorelles Haus.« Dylan lächelte schwach. »Eifersüchtig?« Also hat er sie umgebracht, dachte Robby, und dann hat er sich in die Wanne gesetzt, um das Blut abzuwaschen. Großer Gott, es hat also bereits angefangen … Dylan hob zuerst eine Hand aus dem blutroten Wasser, dann die andere, bevor er anfing wie ein kleiner Junge in seinem Bad herumzuplanschen. Jetzt erst sah Robby die langen vertikalen Schnitte in seinen Handgelenken. Sie klafften auseinander wie kleine Schluchten, und schwarzrotes Blut pulste aus ihnen heraus und verdunkelte das Wasser. »Mein Gott, Dylan!« schrie Robby und schaute sich in der Wanne um, bis er das Rasiermesser auf dem Rand hinter Dylans Kopf entdeckt hatte. »Jesus Christus, warum hast du das getan?« »Will nich … ins … Gefängnis … « Robby sprang auf, suchte verzweifelt nach irgendeiner Art von Bandage im Badezimmer und murmelte vor sich hin: »Oh, mein Gott, oh, mein Gott, oh, mein Gott … Er fand nichts Brauchbares und drehte sich wieder zur Badewanne um. »Jetzt 210
hör mir zu, Dylan, okay? Du mußt wachbleiben! Ich werde einen Krankenwagen rufen. Okay, Dylan?« Dylan hatte die Augen wieder geschlossen und den Kopf von Robby abgewandt. Er sang jetzt nicht mehr …
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16 SUKKUBUS INTERRUPTUS Karen erwachte langsam. Noch glaubte sie, das Gefühl auf Brustwarzen und Lippen sei Teil eines Traums – aber als sie weiter hinauf an die Oberfläche ihres Schlafs tauchte, hörte sie Atemzüge … spürte den heißen Hauch auf ihrer Haut … und das Gewicht eines nackten Körpers, der auf ihrem lag … Sie tastete nach unten und fühlte weiches, warmes Fleisch, seidenweiches Haar; als sie die Augen öffnete, erblickte sie Lorelle, deren Lippen sich zu einem sanften, verheißungsvollen Lächeln gekräuselt hatten. Karen riß den Kopf hoch und drehte sich zu George um, der neben ihr lag, bewegungslos wie die Plastik in Lorelles Haus; sein Atem ging so flach, daß er kaum zu hören war. Lorelle spürte ihre Angst, legte die Fingerspitzen auf Karens Wangen, streichelte ihr ganz sanft über die Lippen, glitt dann an ihrem Körper herunter und schmiegte ihr Gesicht zwischen Karens Schenkel. Ihre Zunge schlängelte sich durch lockiges Haar hindurch, liebkosend und teilend … Karen schaute noch einmal erschrocken zu ihrem Mann hinüber. Erst als er sich immer noch nicht rührte, ließ sie die Spannung von sich abfallen, spürte, wie sich ihr Körper lockerte, bis er sich wand und krümmte unter einer Lust, die sich mit jeder Berührung von Lorelles Zunge steigerte. Sie schlug eine Hand vor den Mund, um die Schreie zu unterdrücken, die tief aus ihrer Brust aufsteigen wollten. Karen krallte ihre Hände in Lorelles dichtes Haar, als der erste Orgasmus kam, und dann noch einer und dann ein dritter, und jeder einzelne übertraf seinen Vorgänger an Wucht, bis … … Karen die Luft wegblieb und sie davon überzeugt war, daß ihr Herz zu schlagen aufhörte, und dann … … war nichts mehr. Nicht einmal mehr Träume. 212
»Ich hab’s in den Nachrichten gesehen«, sagte Prosky, als Robby in den Wagen kletterte, eine braune Papiertüte unterm Arm und ein Handtuch in den Gürtel gesteckt. »Es tut mir leid. Sehr leid. Ist mit dir alles in Ordnung?« Aber schon während er die Frage stellte, kannte Prosky die Antwort. Die dunklen Flecken unter den Augen und die eingefallenen Wangen sprachen für sich. Der Junge bewegte sich mit der Schwerfälligkeit eines Menschen, der tief deprimiert ist, und redete mit so leiser, heiserer Stimme, daß Prosky sich anstrengen mußte, ihn zu verstehen. »Nein«, sagte Robby. »Mit mir ist nicht alles in Ordnung.« »Glaub nur, Robby, ich weiß, wie du dich fühlst, und ich bin sicher, daß du jetzt nicht in der Stimmung dafür bist. Aber wir müssen es tun.« Robby nickte gleichgültig und starrte aus dem Fenster. Dann kicherte er plötzlich. »Worüber lachst du, Robby?« »Über die Nachrichten. Die blöde Kuh in den Nachrichten heute abend. Sie hat gesagt, Dylan hätte Ozzy Osborne gehört, als er es tat. Und … das stimmt auch. Aber dann hat sie so einen Witzbold interviewt – einen Psychologen oder sowas, ich weiß es nicht –, und der sagte, die Musik sei daran schuld. Die geheimen satanischen Botschaften in der Musik. Ist das nicht komisch?« »Ja«, sagte Prosky, aber vor Mitleid mit dem Jungen drehte sich ihm der Magen um, »leider ist es das. Sie suchen alle so eifrig unter den Pentagrammen und Ziegenköpfen auf den Covers der Rockalben nach dem Bösen … « Er lachte einmal kurz auf, ein eisiges Lachen, und dann schüttelte er den Kopf. »Ich war mal vor ein paar Jahren in einer Kunstgalerie in Chikago, wo eine Reihe von Fotografien ausgestellt wurde. Die Fotografien – und der Fotograf – waren sehr umstritten. Es waren ausgesprochen erotische Darstellungen – sowohl hetero – als auch homoerotischer Art –, und einige von ihnen waren 213
sogar obszön. Ich befand mich in der Galerie, um einen Artikel über die Fotos zu schreiben, als diese Horde von … ich weiß nicht … von Tieren, muß man wohl sagen, von Wilden in die Galerie gestürmt kam. Wahrscheinlich hast du davon gehört, es ging damals durch alle Medien. Diese Leute, die Ski-Brillen und HalloweenMasken trugen, kamen hereingerannt, gingen direkt auf die Fotos los und zerstörten die gesamte Ausstellung. Sie hatten Knüppel und Hämmer dabei, also stellte sich ihnen niemand in den Weg oder versuchte, sie an ihrem Tun zu hindern. Und dabei wußten wir alle in dem Moment, als sie hereinkamen, was das für Leute waren.« Prosky mußte tief Luft holen, bevor er weitersprach: »Vielleicht waren diese Bilder wirklich obszön, wie so viele Leute behaupteten. Ich weiß, daß ich sie nicht mochte, aber ich halte nichts von Zensur, und das war brutalste Zensur. Es war sogar noch mehr als Zensur, denn diese Leute begnügten sich keinesfalls mit den Fotografien. Sie gingen durch die gesamte Galerie und zerstörten alles … all diese wunderbaren Gemälde … diese herrlichen Plastiken … wie eine Horde tobsüchtiger Paviane.« Er war eine Zeitlang still, dann drehte er sich zu Robby um und fuhr fort: »Viele Menschen sind so. Sie erblicken in allem das Böse und laufen herum, um ihm den Stempel des Verbotenen aufzudrücken, und dabei merken sie überhaupt nicht, daß das schlimmste Übel gleich nebenan wohnt, daß es ihre Kinder in der Schule beeinflußt oder in einem öffentlichen Amt tätig wird. Und selbst wenn sie einmal etwas wirklich Böses finden, dann nehmen sie keine Rücksicht auf Unschuldige, wenn sie darauf losgehen.« Er schüttelte den Kopf. »Du und ich, Robby, wir beide wissen, daß die Musik nichts mit dem zu tun hat, was deinem Freund und seiner Familie zugestoßen ist. Und das allein ist wichtig.« Beide sagten sie lange nichts. Sie starrten einfach hinaus auf die Deerfield Avenue. 214
»Vor einer halben Stunde sind sie alle zu Bett gegangen«, seufzte Robby schließlich. »Das hätte ich beinahe auch getan. Ich bin vollkommen erledigt.« »Nein. Du darfst es nicht tun, und das weißt du. Laß uns gehen. Wir sollten nicht zu lange warten.« »Wir müssen vorsichtig sein. Möglicherweise lungern noch ein paar Reporter dort herum. Sie kreisen schon den ganzen Tag lang wie die Geier um das Haus.« »Stimmt. Und vergiß die Hunde nicht, Robby. Was auch immer sie sein mögen, Hunde sind es bestimmt nicht. Wenn die uns sehen oder hören, dann weiß auch sie Bescheid.« Sie ließen für den Fall einer eiligen Flucht den Schlüssel im Zündschloß stecken. Prosky öffnete die Tür und stieg aus. Ein paar Augenblicke später folgte ihm Robby. Ein eisiger Schauer überrieselte Prosky, als er die Deerfield Street entlangblickte. Im Schein der beiden Straßenlaternen sah sie wie eine finstere, neblige Seitengasse aus. Es hatte zu regnen aufgehört, aber die Luft war noch feucht. Ein leichter, kalter Wind blies ein paar regenschwere Blätter über die nasse Straße und in den schmutzigen Rinnstein. Eine Katze huschte durch das Strauchwerk am Rand des Gehsteigs und überquerte die Straße. Sie zog das linke Hinterbein etwas nach, als sie in einem unbeleuchteten Vorgarten verschwand. In der ganzen Straße war überhaupt nur ein Haus beleuchtet. Die Verandalampe brannte, und durch die geschlossenen Vorhänge des einen Fensters fiel ein gedämpftes Licht, während in dem anderen eine Kerze leuchtete. Lorelles Haus. »Sie ist wach«, flüsterte Prosky, nahm Robby die Tüte aus der Hand und überprüfte den Inhalt: faustgroße Stücke verkohlten Feuerholzes. Er gab Robby die Tüte zurück und sagte: »Wir müssen vorsichtig sein. Halte dich von der Straßenlaterne fern, okay?« Sie gingen die Straße entlang, Proskys Gehstock traf den 215
nassen Gehsteig mit einem leisen Klicken. Er warf einen Blick auf den Jungen, der langsam neben ihm herschlurfte, die Hände in den Jackentaschen vergraben, und Prosky begann sich Sorgen zu machen. Der Junge war mit den Gedanken offensichtlich woanders, was ja auch verständlich war, und schien nicht in der Lage zu sein, sich auf das zu konzentrieren, was er tat. Prosky blieb stehen, schaute ihm direkt in die Augen und flüsterte mit eindringlicher Stimme: »Hör mir zu, Robby. Ich weiß, wie dir zumute ist, aber was deinem Freund und seiner Familie passiert ist, beweist doch nur, wie schnell die Dinge ihren Lauf nehmen. Also müssen wir das hier tun, und wir können es uns nicht leisten, dabei gestört oder erwischt zu werden. Also müssen wir sehr leise und sehr vorsichtig sein. Du darfst nicht so laut über das Pflaster schlurfen, und du mußt genau auf das achtgeben, was du tust. Sonst müssen noch mehr Menschen sterben.« Robby schien darüber nachzudenken, als er den Blick zu Lorelles Haus schweifen ließ. »Für deine Trauer ist später noch Zeit«, sagte Prosky. »Jetzt mußt du sie vergessen, so gefühllos sich das auch anhört, und du darfst dich nur noch auf zwei Dinge konzentrieren: Wie sehr du deine Familie liebst – und wie sehr du sie haßt.« Robby veränderte sich langsam. Er schob die herunterhängenden Schultern hoch, richtete sich gerade auf, nahm die Hände aus den Taschen, drehte sich zu Prosky um und holte tief Luft. Ungeweinte Tränen hatten sich in seinen Augen gesammelt. »Ja«, flüsterte er, »Sie haben recht. Geh’n wir.« Als George aus einem schweißtreibenden Traum erwachte, kniete Lorelle neben seinem Bett und lutschte an seinem Schwanz. Die rechte Hand hatte sie unter seinen Hintern geschoben. 216
Ihre Blicke begegneten sich. Lorelles Augen glitzerten in dem schwachen Licht, das durch die Vorhänge fiel, als sie den Kopf hob und kurz auflachte. »Hallo«, sagte sie. Bis zu diesen Worten hatte George immer noch geglaubt, er träume, aber jetzt durchbrach ihre Stimme die Stille im Schlafzimmer wie ein Stein, der durch eine Fensterscheibe schlägt. Er setzte sich abrupt auf, immer noch schwer vom Schlaf. »Pssst!« Sie lachte nur noch einmal. »Du mußt damit aufhören«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie du hier immer reinkommst, aber das muß aufhören. Mit meiner Frau ist es so schon schlimm genug, und wenn sie jetzt noch aufwacht und dich hier findet … « »Sie wird nicht aufwachen. Sie schläft wie ein Stein.« George drehte sich zu Karen um und schaute sie an. Sie lag absolut ruhig, George hörte nicht einmal ihre Atemzüge. Lorelle schloß ihre Finger wieder um seinen Schwanz und zog George mit sanftem Druck vom Bett herunter, bis er vor ihr kniete. Sie kauerte sich hin und fing wieder an zu lutschen. Schon bald fühlte George nichts mehr von seinem Unbehagen und vergaß, daß noch eine dritte Person im Raum war. Er spürte ihren heißen Atem, als sie flüsterte: »Nimm mich von hinten, George. Hart.« Sie drehte sich um, rammte ihm den Hintern heftig gegen den Unterleib, ergriff seine Handgelenke, legte seine Arme um ihren Leib und preßte seine Handflächen gegen ihre Brüste. »Ahhh«, stöhnte George und begann, sich in ihr zu bewegen, während er in das Dunkel lächelte. Aber schon einen Augenblick später verschwand das Lächeln von seinem Gesicht, und er zuckte zusammen, als schmerzvolle Bilder über die Innenseiten seiner geschlossenen Augendeckel blitzten … … ein Stein, der Zähne aus einem blutigem Mund schlug … … und mit jedem Stoß seiner Hüften wechselten … … steife Brustwarzen, die von einer Gartenschere 217
abgeschnitten wurden … … er begann, sich schneller zu bewegen … … Angelhaken, die sich in schlafende Augen bohrten … … und immer schneller, bis das Lächeln langsam auf sein Gesicht zurückkehrte … Als sie auf der Veranda vor Robbys Haus standen, zog Prosky dem Jungen das Handtuch aus dem Gürtel und wischte damit sorgfältig die Haustür trocken. »Hoffentlich fängt’s nicht wieder an zu regnen«, flüsterte er. »Dad kriegt ‘ne Scheißwut, wenn er das sieht«, sagte Robby und holte eines der verkohlten Holzstücke aus der Tüte. »Er wird’s wahrscheinlich gar nicht merken. Vielleicht benutzt er die Vordertür nicht mal.« Robby gab ihm ein Stück Holz und fragte: »Aber was ist, wenn er’s doch bemerkt?« Prosky zögerte einen Moment. »Dann … erklärst du es ihm.« »Meinen Sie das im Ernst?« Prosky hob das Stück Holz und begann auf die Tür zu schreiben. »Ja. Erzähl’s ihm. Alles. Und erklär ihm den Grund.« »Er wird mich für verrückt halten. Und bei der schlechten Laune, die er in letzter Zeit … « »Erzähl’s ihm einfach.« Er war mit dem Namen Sanvi fertig. »Vielleicht glaubt er dir zuerst nicht, aber wenn er ihre Reaktion darauf sieht, wird er anfangen, anders darüber zu denken.« Sansanvi, der zweite Name. »Wenn du ihn überzeugen kannst, wird er vielleicht mit anderen darüber reden.« Semangalaf, der dritte Name. »Das wäre vielleicht sogar das Beste, was uns passieren kann.« Und dann zog Prosky einen Kreis um die drei Namen herum und …
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… nur noch Sekunden trennten George von einem explosiven Orgasmus. Er krallte seine Finger gerade in Lorelles Hüften, als sie den Kopf in den Nacken warf und einen Schrei ausstieß, der seinen Hodensack zusammenschrumpeln ließ wie eine Rosine. Plötzlich war der Raum erfüllt mit einem Gestank nach verwesendem Fleisch und Kot und … … die nackte Haut auf ihrem Rücken platzte auf, enthüllte glitzernde Schwärze. Etwas schoß nach oben, schlug George ins Gesicht, stieß ihm den Kopf nach hinten, und … … schlug gegen die Bettkante, rutschte auf den Boden und wußte von nichts mehr … Prosky ließ das verkohlte Holzstück fallen, ohne den Kreis ganz geschlossen zu haben, als der Schrei die Nacht in zwei Hälften zerriß. Er schien nicht bloß von einer Person zu stammen: Es waren Schreie, wie sie aus den Gaskammern der Nazis hätten dringen können; der vereinte Schrei der sterbenden Kultanhänger in den Dschungeln Guayanas; die Schreie der Ahnungslosen in der Zone um Tschernobyl, als die Luft, die sie atmeten, sich in Feuer verwandelte und das Fleisch begann, sich von ihren Knochen zu schälen. Es bildete sich ein brausender Sog in der Luft, und … … Robby ließ die Tüte fallen; die verkohlten Holzstücke kullerten die Verandastufen hinunter auf den Gehweg, und … … die Hunde in Lorelles Haus fingen an zu bellen, und … … Glasscheiben klirrten und Holz splitterte mit einem durchdringenden Krachen, als ein Fenster zu ihrer Linken zerbarst und etwas Schwarzes sich in die Luft aufschwang, dessen entsetzlicher Schrei noch lauter wurde, als es auf die Straßenlaterne zuschoß, die zwischen Lorelles Haus und dem Haus der Pritchards stand, und … … die Hunde in ihrem Haus bellten, warfen sich gegen die Eingangstür, kratzten mit ihren Krallen das Holz auf, und … 219
… die Straßenlaterne explodierte und die Funken regneten auf die Straße, wo sie zischend auf dem nassen Asphalt verglühten. Während tiefe Finsternis diesen Abschnitt der Straße verschluckte. »Was ist das, was ist das?« schrie Robby und drückte sich dicht an die Haustür. Prosky schaute hinauf in die Finsternis und sagte: »Sie war in eurem Haus.« Ein eisiger Windstoß biß sich in seine Haut, als er die Veranda verließ und den schwarzen Himmel absuchte. Trockene, flatternde Geräusche entfernten sich über ihren Köpfen, das Geräusch riesiger Flügel schnitt sich in die Nachtluft, während der Schrei leiser und dann ganz plötzlich wieder lauter wurde, als … … eine schwarze Gestalt mit zwei glühendroten Augen auf die Veranda zuraste und dabei so niedrig flog, daß der Luftzug Prosky den Hut vom Kopf riß. Er ließ den Stock fallen, sank auf die Knie, den Kopf zwischen beide Arme geklemmt, und fing an zu flennen wie ein Kind, daß sich vor Angst in die Hosen gemacht hat. Der Gestank, den die Kreatur hinterließ, beschwor Bilder von zahllosen, sich bis an den Horizont erstreckenden Haufen gefledderter Leichen herauf, die in einer dürren, glühendheißen Wüste verrotteten. Prosky erhob sich und zeichnete den Kreis an der Haustür fertig. »Geh ins Haus!« rief er Robby zu, nachdem die Kreatur sich zurückgezogen hatte. »Drinnen kann sie dir nichts anhaben.« »Nein!« »Geh rein!« »Da gehe ich nie wieder rein!« »Robby, ich bin derjenige, den sie haben will! Und jetzt geh!« Er stopfte sich das Stück Holz in die Tasche und tastete nach seinem Gehstock. Robby wich ihm nicht von der Seite. »Zum Teufel, Robby, wirst du jetzt endlich … « 220
»Ich komme mit Ihnen.« Sie hatten keine Zeit zum Streiten. Der Hauch verwester Luft näherte sich bereits wieder. Robby lief voraus. Prosky, mit seinem Hinketrott, konnte ihm nicht so schnell folgen, und … … plötzlich packten zwei starke Hände Proskys Schultern, stahlharte Klauen gruben sich durch Mantel und Hemd, schnitten ihm wie Messerklingen in die Haut. Er schrie laut auf, als er vom Gehsteig gehoben wurde und über die Straße schwebte wie ein Herbstblatt im Wind. Robbys Stimme wurde immer leiser in seinem Ohr. »Neeiiin!« Prosky strampelte hilflos mit den Beinen, während er höher stieg. Er schwebte direkt auf Lorelles Haus zu. Der Gestank nach Verwesung füllte seine Nasenlöcher wie Schlamm, und er würgte. Immer noch umklammerte die Hand mit dem Handschuh das verkohlte Holzstück. Er schwang den anderen Arm hoch, bis er spürte, daß der Gehstock gegen etwas Hartes, Krustiges stieß. Die Kreatur stieß ein schleimiges Grollen hervor, und Prosky schlug härter mit dem Stock zu. Aus dem Grollen wurde ein Schreien, und als er seinen Stock zum dritten Mal nach oben stieß, versank die Spitze in weichem Gewebe und die Kreatur lockerte ihren Griff. Prosky zappelte und kämpfte, er schwang immer wieder den Gehstock, bis die Klauen sich öffneten, begleitet von einem schrillen Kreischen, und Prosky den Boden auf sein Gesicht zurasen sah wie die Faust eines gegnerischen Boxers. Er prallte auf dem Rasen in Lorelles Vorgarten auf und überschlug sich. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt, und er spürte, daß er sich mindestens eine Rippe gebrochen hatte, aber das Rauschen der mächtigen Flügel über seinem Kopf machte es ihm leicht, den Schmerz zu ignorieren. Prosky öffnete die Augen und erblickte Robbys Turnschuhe nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. »Kommen Sie«, krächzte der Junge und packte Proskys 221
Arm. »Wir müssen hier weg!« Jede Bewegung schmerzte, aber er wußte, daß ihm keine Wahl blieb. Immer noch seinen Gehstock umklammernd, kroch Prosky zunächst auf Knien und Ellbogen weiter, dann rappelte er sich mühsam hoch und hastete zusammen mit Robby die Straße entlang zu seinem Wagen. Das Rauschen der Flügel hatte aufgehört, und mit ihm der Gestank. Sogar die Hunde bellten nicht mehr. Sie hörten nur noch das sibyllinische Flüstern des Windes und ihre hastigen Schritte und keuchenden Atemzüge. Und dann zersplitterte Glas. Ein wildes, böses Gebell hallte durch die Nacht. Sie konnten hinter sich die Hunde hören, das Aufschlagen ihrer Klauen auf dem Pflaster, das Aufspritzen der Pfützen, das schlabbernde Hecheln zwischen den einzelnen Ausbrüchen des Gebells. Prosky versuchte, schneller zu laufen und den stechenden Schmerz in seiner Brust zu vergessen, aber er fiel hinter Robby zurück. Und dann war sie wieder da, mit einem Kreischen, das an das Geräusch von abgebrochener Kreide auf einer Wandtafel erinnerte. Robbys Vorsprung wurde größer. Er warf einen Blick zurück über die Schulter, das Weiß in seinen verdrehten Augen leuchtete. Je näher sie dem Auto kamen, das am Ende der Deerfield Avenue stand, desto mehr wurde Prosky durch den Schmerz in der Brust geschwächt; er bekam nicht mehr genug Luft beim Laufen. Und jetzt senkte sich auch wieder dieser Gestank über ihn und machte das Atmen noch schwerer. Er betete, daß jemand sie hören und ihnen zu Hilfe kommen möge, denn er wußte, daß sie nicht gesehen werden wollte, 222
nicht hier, wo sie wohnte und ihre Nachbarn aussaugte. Aber Prosky war klar, daß niemand kommen würde. Sie lagen alle in tiefem Schlaf … Robby erreichte das Auto, riß die Fahrertür auf, warf sich hinein und rutschte hinüber auf den Beifahrersitz. Während er Ausschau nach Prosky hielt, fing er zu schreien an: »Schnell, schnell, mein Gott, machen Sie schnell!« Prosky hechtete in den Wagen, warf den Gehstock auf den Rücksitz und wollte die Tür schließen, aber … … einer der Hunde war bereits über ihn hergefallen, zerrte an seinem linken Bein und versuchte, ihn wieder aus dem Wagen zu ziehen. Der zweite Hund kam schnell näher, und Prosky wußte, daß er keine Chance mehr hätte, wenn er auch noch über ihn herfiel. Er schloß die linke Faust, die Klinge schnellte hervor, und er stach zu. Der Hund warf mit einem jämmerlichen Jaulen den Kopf zurück, als die Klinge ihm in die Schnauze fuhr und einen tiefen Schnitt über Nase und Lefzen hinterließ, aber gleich darauf stürzte er sich wieder nach vorne, und … … seine Augen funkelten dunkelrot, als der klaffende Schnitt sich öffnete wie eine blühende Blume auf schwarzem, runzligem Fleisch, das jetzt auf groteske Weise schlaff herabhing von einem Affengesicht mit einem Maul voller schartiger gelber Fangzähne, auf denen eine klare Flüssigkeit glänzte. Als das Tier sein linkes Vorderbein anhob, wuchsen aus der Pfote knochige, gekrümmte Finger, die nach Proskys Unterleib schlugen. Die Kreatur – die jetzt weder einem Eskimohund noch irgendeinem anderen Hund ähnelte – warf sich nach vorne, und Prosky stieß ihr die Klinge in die Kehle. Mit aller Kraft stieß er wieder und wieder zu, bis das Teufelsgeschöpf rückwärts aus dem Wagen taumelte. Prosky zog seinen Arm zurück, knallte die Tür zu und verriegelte sie. Als er den Motor anließ, warf 223
die Kreatur sich wieder gegen den Wagen, rüttelte ihn durch wie ein Boot im aufgewühlten Wasser und kletterte auf die Motorhaube. »Mein Gott, oh, mein Gott«, stammelte Prosky, legte den Gang ein und stieß einen Schrei des Entsetzens aus, denn … … das andere Ungeheuer war jetzt auf den Wagen gesprungen und trampelte so heftig auf dem Dach herum, daß es sich nach innen bog wie Pappe. Robby war tief in den Sitz gesunken und klammerte sich mit beiden Händen an dem Polster fest, während er wimmernde, angstvolle Töne von sich gab. Prosky drückte das Gaspedal durch, der Wagen schoß dröhnend vom Randsteig weg und raste, nachdem die Reifen Halt auf dem nassen Asphalt gefunden hatten, auf die Mistletoe Street hinaus. Die Kreatur über ihren Köpfen rollte polternd über das Dach. Prosky schaute gerade rechtzeitig in den Rückspiegel, um zu sehen, wie sie vom Kofferraum rutschte und mit gespenstischer Anmut auf dem Asphalt landete – und dann sah er das Wesen, das Lorelle war, um die Ecke biegen, nicht mehr als sechs Fuß über dem Boden schwebend. »Verdammter Mist, das ist sie!« schrie Robby und schaute ebenfalls über die Schulter nach hinten. »Fahren Sie schneller! Fahren Sie doch!« Die Kreatur, die vom Wagen gerutscht war, zog die Schultern zusammen, breitete zwei zerbrechlich wirkende Flügel aus, nahm einen kurzen Anlauf und schwang sich in die Luft. »O Jesus, lieber Herr Jeh-hesus – sei bei uns, beschütze uns, laß sie nicht … « Immer noch klammerte sich das andere Ungeheuer vorne an die Motorhaube wie die steinernen Wasserspeier an die Ecken der alten Kirchen. Es verzog sein Maul zu einem schleimigen Grinsen, während auch bei ihm Flügel hervorbrachen, sich 224
ausbreiteten und Prosky die Sicht auf die Straße versperrten. Das Ungeheuer hob die Hände – jede von ihnen hatte drei Finger und einen Daumenstummel – und kratzte mit schwarzen Krallen über die Windschutzscheibe, dabei tiefe Kerben hinterlassend, bevor es die flachen Handflächen auf das Glas legte und drückte. Auf der Windschutzscheibe breitete sich ein silbern funkelndes Spinnennetz aus, bevor sie in kleine Stücke zerbrach, die auf das Armaturenbrett und auf ihre Beine rieselten. Schwarze Arme, in denen sehnige Muskeln spielten, langten in das Wageninnere, als wollten sie Prosky umarmen, aber … … er trat mit aller Kraft das Bremspedal durch. Die roten Augen weiteten sich, als die Kreatur abrutschte und auf den Asphalt klatschte. Robby prallte gegen das Armaturenbrett, um sich dann verängstigt im Fußraum zusammenzurollen. Prosky stieg wieder auf das Gaspedal, und alle vier Räder rumpelten über den Körper auf der Straße. Der Schrei der Kreatur war so laut, daß Prosky ihn als Vibration im Bodenblech des Wagens spürte. Es drehte ihm den Magen um. Er schaute in den Rückspiegel; sie war nur noch wenige Meter hinter ihnen, und die kleine Kreatur folgte ihr auf dem Fuß, während die andere als zuckender Haufen auf dem Asphalt zurückblieb. Prosky beschleunigte. Sie näherten sich der Kreuzung Mistletoe Street und Churn Creek Road. Eisige Luft schlug ihm ins Gesicht. Die Ampel stand auf Rot. Er kümmerte sich nicht darum. Ein Kleinlaster, der sich von rechts der Kreuzung genähert hatte, bremste mit quietschenden Reifen. Sie verfehlten sich nur um Haaresbreite, als Prosky seinen Wagen um die Ecke riß und in Richtung Hilltop weiterfuhr. 225
»Wo ist denn bloß ein Polizeiwagen?« brüllte er hinter seinem Lenkrad. »Lieber Gott, schick uns einen Polizeiwagen!« Er verlangsamte das Tempo und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß das erleuchtete Schild des Motel 6, das er durch den Tränenschleier in seinen Augen erkennen konnte, weniger als einen Block entfernt war. Mit dem rechten Handballen wischte er sich die Augen – aus der linken, künstlichen Hand ragte noch immer die Messerklinge hervor –, schaute in den Rückspiegel und sah … … nichts. Sie waren nicht mehr da. Aber er wußte, daß sie noch nicht aufgegeben hatten. »Ich glaube, wir sind für einen Moment in Sicherheit«, sagte er. Mit tonloser, tauber Stimme wiederholte Robby: »F-Für einen … Moment.« Seine Stirn war blutig, und eine Beule zeigte sich an der Stelle, wo er gegen das Armaturenbrett geprallt war. Prosky bog auf den Parkplatz des Motels ein und nahm auch vor den Rüttelschwellen das Tempo nicht zurück, als er zu seinem Zimmer auf der Rückseite des Gebäudes fuhr. Direkt vor seiner Tür bremste er an einem Randstein mit der Aufschrift PARKEN VERBOTEN, stellte den Motor ab, zog den Schlüssel aus dem Zündschloß und stolperte ohne Gehstock um den Wagen herum. Die Fahrertür ließ er offenstehen. Robby stieg aus und folgte ihm. Er bewegte sich zögernd, schaute sich immer wieder ängstlich in alle Richtungen um. Nachdem Prosky den Schlüssel aus seiner Manteltasche geangelt hatte, drehte er ihn im Türschloß, stieß die Tür mit dem Fuß auf, setzte die Spitze der Messerklinge auf den Türpfosten und drückte sie hinein, bis sie mit einem Klicken in der Prothese eingerastet war. Mit lautem Knall schlug die Tür gegen die Wand. Er trat über die Schwelle, 226
lehnte sich gegen die Tür, während er das angekohlte Holzstück aus der Manteltasche zog, und schrieb mit schnellen Handbewegungen. Robby schaute ihm zu. Zuerst malte er einen Kreis. Draußen wurde der Verkehrslärm von der Interstate 5, die direkt hinter dem Motel verlief, durch das Schlagen riesiger Flügel übertönt, als … … Prosky gerade in aller Eile den ersten Namen, Sanvi, hinschrieb, und dann … … gesellte sich dem ersten Geräusch ein zweites hinzu, als sich zwei Hügelpaare rasch näherten, und … … Robby flüsterte: »Sie kommen«, als … … Prosky gerade den zweiten Namen, Sansanvi, hinschrieb, und … … ein drittes Geräusch dazukam, und sich nun drei Flügelpaare näherten, als … … Prosky den dritten Namen, Semangdaf, hinschrieb und die Tür ins Schloß warf, beide Riegel vorschob und das Holzstück auf den Boden fallen ließ. Mit einem leisen Poltern schlug es auf dem Teppich auf. Langsam bewegte Prosky sich weg von der Tür, lehnte sich Halt suchend gegen die Mauer und stöhnte jämmerlich bei jedem seiner schmerzhaften Atemzüge. Robby starrte auf die Tür, während er sich rückwärts von ihr entfernte, bis er mit den Waden gegen die Bettkante stieß und mit offenem Mund auf der Kante niedersank. »G-Glauben SSie, d-daß … daß … « Ein Kratzen an der Tür. Krallen. Scharren auf den Steinplatten. Tiefes, schlabberndes Knurren. Prosky erstarrte, gegen die Wand gelehnt. Schwere, drückende Stille, bis … … der Schrei ertönte. 227
Es war derselbe Schrei, den sie im Haus der Pritchards gehört hatten, als Prosky die Namen der drei Engel auf die Haustür geschrieben hatte. Schritte, und dann etwa drei Sekunden lang Stille, bis … … die Holzsplitter wie Schrapnellsplitter aus der Eingangstür flogen, als sich zwei schwarze, dreifingrige Hände ohne die geringste Mühe durch das Türblatt bohrten, ihre gekrümmten Klauen wie Haken in das Holz schlugen und daran zerrten. Die Tür wurde aus ihrem Rahmen gerissen, als seien die Angeln aus Pappe. Prosky löste sich von der Wand, aber der stechende Schmerz in der Brust und sein schwaches Bein spielten ihm einen Streich. Er schlug hart auf dem Boden auf und stöhnte: »Das Kopfbrett … « Die Hände schleuderten die Tür nach hinten; sie schlug gegen die Seite des Autos und zertrümmerte das Beifahrerfenster. » … Robby, auf dem Kopfbrett des Betts … « Robby kroch über das Bett, preßte seinen Rücken gegen die Wand und rollte sich zusammen wie eine Kugel. » … das Stück Holz auf dem Kopfbrett, Robby.« Prosky krabbelte zum Bett hinüber, flache Atemzüge pfiffen durch seine Lungen. Die leere Tür war mit schweigender Finsternis gefüllt, die sich wie verschüttete schwarze Farbe zu bewegen schien. »Nimm das … nimm das Stück Holz vom … Kopfbrett, Robby!« keuchte Prosky. Die Finsternis in der Tür formte sich zu Umrissen. Robby schaute auf das Kopfbrett, entdeckte ein quadratisches Stück Holz, das flach darauf lag, beugte sich hinüber und richtete es auf. In schwarzen Buchstaben stand auf das Holzstück geschrieben:
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ADAM UND EVA SPERREN LILITH AUS Die Umrisse formten sich zu einer Gestalt, die sich langsam vorwärts bewegte, als würde Finsternis sich aus Dunkelheit lösen. »Stell es … an die W-Wand, Rob … « Sie platzte in das Zimmer herein, ihr schwarzer, schuppiger Körper glänzte im Licht. Sich über Prosky beugend spreizte sie die Hügel, die den Raum verdunkelten und mit ihrem Schatten ausfüllten. Als sie sprach, klang ihre Stimme wie Galle, die aus tiefsten Tiefen heraufgewürgt wurde. »Sie sind nicht wie ich, Prosky. Das sind bloß Dämonen. Und die scheißen auf deine drei Engel«, spuckte sie aus einem schleimigen Grinsen hervor, während sie sich zu ihm herunterbeugte, ihn packte und zu sich herumdrehte. Einen Moment lang hielt sie ihn an den Schultern fest, dann hob sie ihn ohne Anstrengung hoch, nahm ihn zwischen ihre beiden riesigen Pranken und … … brach ihn entzwei wie einen trockenen Zweig. Das Knacken der Wirbelsäule hallte wie ein Flintenschuß durch den kleinen Raum. Robby wurde übel. Er versuchte nicht mehr, gegen die krampfartigen Zuckungen anzukämpfen, die in seinem Körper wüteten. Zitternd stellte er das kleine Holzbrett auf, lehnte es gegen die Wand und rollte sich wieder auf dem Bett zusammen wie ein verängstigtes Kind. Er fühlte sich viel schlimmer als ein verängstigtes Kind. Die Lorelle-Kreatur stieg über Proskys Leiche weg und kam auf das Bett zu. Ihr glühender Blick war fest auf Robby gerichtet. Er fühlte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Warum blieb sie nicht stehen? Warum funktionierte der Bann nicht? Dann sah sie das Stück Holz und hielt inne. Ihre schwarzen Lippen gaben die Fangzähne frei, und sie stieß einen langen, 229
feuchten, fauchenden Laut aus, während ihre Flügel sich auf dem Rücken zusammenfalteten. Noch einmal wandte sie sich ihm zu und starrte ihn lange an, während sie zurückzuweichen begann. Ihre Lippen kräuselten sich zur grauenvollen Mutation eines Grinsens. Erst als sie die Tür erreicht hatte, fing sie an zu sprechen. »Komm später zu mir rüber, Robby«, sagte sie mit ihrer gluckernden Stimme, und dann fügte sie mit einem Kichern hinzu: »Ich will dir den Schwanz lutschen.« Damit war sie verschwunden. Robby blieb noch eine Zeit lang auf dem Bett liegen. Sein ganzer Körper zitterte so heftig, daß das Kopfbrett an der Wand ratterte. Bald würden Leute kommen. Sie würden Antworten auf ihre Fragen haben wollen, und diese Antworten würden sie von niemand anderem als Robby erwarten. Aber dem fühlte er sich nicht gewachsen. Noch nicht. Er brauchte Hilfe. Er brauchte jemanden … Robby stieg aus dem Bett und ging zu Proskys verrenktem Körper hinüber. Es war überflüssig, nach einem Lebenszeichen zu suchen. Das Rückgrat war in einem schrecklichen Winkel nach hinten abgeknickt, Augen und Mund waren starr geöffnet. Robby verspürte einen Schmerz in der Brust. Es war kein körperlicher Schmerz – es war seine Angst und das plötzliche Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit. Prosky war sein einziger Verbündeter gewesen, der einzige, der die Wahrheit über Lorelle Dupree gekannt hatte, der einzige, der ihm hätte helfen können, seine Familie vor ihr zu retten. Für Robby kam Proskys Tod seinem eigenen gleich. Was konnte er jetzt noch tun? Mit Sicherheit würde jeder ihn auslachen, dem er von einer Frau erzählte, die in Wirklichkeit ein Sukkubus war und die zwei fliegende Eskimohunde hatte. Im besten Fall würden sie ihn auslachen, und im schlimmsten Fall einsperren. Er wußte nicht genau, was er tun sollte, aber er 230
mußte etwas tun, und deshalb mußte er weg von hier. Er kniete neben Prosky nieder, und ein Schauer durchlief ihn, als er mit zitternder Hand Proskys Mantel anhob, bis er eine Tasche gefunden hatte. Er zögerte, dann kniff er die Augen zusammen und schob seine Hand in die Tasche. Er zog die Autoschlüssel daraus hervor und machte, daß er von der Leiche wegkam. In der Tür blieb er kurz stehen und spähte hinaus, um zu sehen, ob Lorelle oder ihre Gehilfen noch auf ihn warteten, konnte aber nichts entdecken. Nach einem letzten Blick auf Prosky lief er hinüber zum Wagen. Das Klicken von Krallen auf dem Asphalt. Robby schluckte einen Schrei herunter und lief schneller. Die Tür auf der Fahrerseite stand noch immer weit offen. Robby warf sich auf den Sitz, knallte die Tür zu und verriegelte sie. Das wird mir nicht viel nützen, dachte er mit einem Blick auf die fehlende Windschutzscheibe und das glaslose Fenster an der Beifahrerseite. Die Schlüssel klirrten in seiner Hand, als er nach dem richtigen suchte, und sein Atem ging hart und stoßweise, als … … Klauen an seiner Tür kratzten, und … … Robby sich einen Schlüssel aussuchte und – mit Erfolg ... versuchte, ihn ins Zündschloß zu stecken. Ein leiser, wimmernder Ton löste sich aus seiner Kehle, als … ein Kopf neben ihm hinter der Fensterscheibe auftauchte, und … … Robby stieß einen Schrei aus, warf sich seitlich auf den Sitz und hielt schützend die Arme über den Kopf. Nichts geschah. Er hörte ein hastiges Hecheln und ließ die Arme ganz vorsichtig wieder sinken. Als er sich aufrichtete, um hinauszuschauen, sah er das schmutzige Gesicht eines zottigen Köters, das ihn angrinste, die rosa Zunge hüpfte beim Hecheln fröhlich hin und her. 231
Robby hörte sein eigenes eisiges Kichern, als er den Wagen anließ. Der seltsame Hund tauchte vom Fenster weg, und Robby fuhr los. Das Lenken war gar nicht einfach, denn seine Hände und Arme zitterten wie Espenlaub, und der Wagen ruckelte anfangs, weil er den Fuß auf dem Gaspedal nicht ruhighalten konnte. Was war, wenn die Polizei ihn auf die Seite winkte? Bei all dem zerbrochenen Glas hätte er sich nicht wundern müssen. Führerschein und Zulassung, bitte. Äh, hier ist mein Führerschein, Officer, aber … ich weiß nicht, wo die Zulassung ist. Das ist nicht mein Wagen. Wessen Wagen ist es denn? Er gehört einem Freund. Aha. Und wo ist Ihr Freund jetzt? Er liegt tot auf dem Fußboden seines Zimmers im Motel 6. Er wurde von einem Sukkubus getötet, Sir. »Würde sich nicht besonders gut anhören«, kicherte Robby. »Überhaupt nicht gut.« Aus seinem Kichern wurde lautes Lachen, und er stammelte: »N-n-nein, S-Sir, oh, n-nein, Sir!« Auf der Fahrt durch die nächtlichen Straßen verwandelte sein Gelächter sich dann in tiefe, bebende Schluchzer. Tränen trübten seinen Blick, und er begann sich schwindelig und leicht im Kopf zu fühlen; ihm war, als würde er auf dem Sitz nach hinten rutschen, weiter und immer weiter, bis … … er sein Ziel endlich erreicht hatte. Der rechte Vorderreifen des Wagens holperte über den Bordstein und blieb auf einem Grasstreifen stehen, der neben dem Gehsteig verlief. Er stellte den Motor ab, stieg aus und stolperte über die Rasenfläche vor dem kleinen, bescheidenen Haus. Weder drinnen noch draußen brannten Lichter. Robby ließ sich schwer gegen die Wand neben der Tür fallen und drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf. Er drückte noch einmal und noch einmal, klopfte gegen die Tür, und dann 232
ließ er den Daumen einfach auf dem Klingelknopf, daß es gar nicht mehr aufhörte zu klingeln. »Ja!« rief eine Stimme von drinnen. »Ich komme! Ich komme ja schon!« Schritte stampften über den Holzboden der Diele. Das Verandalicht ging an. Schlösser klickten, und die Tür öffnete sich. Robby stieß sich von der Wand ab und stand schwankend vor der offenen Haustür. »Robby? Robby Pritchard?« »Pas … tor … Quiller … man … « Robby fiel dem Pastor in die Arme und verlor das Bewußtsein …
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17 HÄUSLICHER KRACH Nur Augenblicke nach einem sinnlosen und ärgerlichen Traum, in dem Karen eine Rolle spielte, erwachte George und biß zornig die Zähne aufeinander, während heiße Messer sich ihm in die Augenhöhlen zu bohren schienen. Im Geiste hörte er sich schreien: Ah, am liebsten würde ich ihr jetzt gleich ihren verdammten Hals brechen, dann hätte ich es hinter mir, bevor sie aufwacht! Er setzte sich auf, klapperte mit den verklebten Augenlidern, versuchte, sich die pochenden Schläfen zu massieren und dachte dabei: Mein Gott, was ist nur mit mir los, was habe ich für Gedanken, was geht in mir … Und dann: Ein Traum … es war doch nur ein Traum … Schmerz pulsierte durch seinen steifen Körper, als er versuchte, aus diesem Schlaf zu erwachen, der ihn so hartnäckig festgehalten hatte. Er war bis auf die Knochen durchgefroren, und es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, daß er neben seinem Bett auf dem Fußboden saß. Langsam erhob er sich und ließ sich auf die Bettkante nieder. Immer noch war er wütend und einem Zornausbruch nahe. Er warf einen Blick durch das Schlafzimmer und murmelte: »Was … zum … Teufel … «, als er sah, daß das Fenster nicht mehr da war. Es war nicht zerbrochen, es war einfach nicht mehr da. George stöhnte und rieb sich das Gesicht. Er suchte nach irgendeiner Erinnerung, die das Loch in der Schlafzimmerwand hätte erklären können, aber er erinnerte sich an gar nichts. Außer an … Lorelle … weiches Fleisch und anmutige Schultern … feste Rückenmuskeln in heftiger … rhythmischer Bewegung … Seufzen und Stöhnen und … … George nahm die Hände vom Gesicht. Bei dieser 234
Erinnerung blieb ihm die Luft weg. Explodierende Bewegungen … etwas Schwarzes, das auf ihn zuschoß, heraus aus zwei unblutigen Schlitzen in Lorelles Rücken, die sich plötzlich aufgetan hatten, und dann … … nichts mehr. Nicht einmal Träume. Er ging splitternackt zu dem herausgerissenen Fenster, erstaunt darüber, daß keine einzige Glasscherbe auf dem Boden lag, bis er das Fenster entdeckte, das in Einzelteilen auf dem Rasen im Vorgarten lag. Es war nach außen geschleudert worden, nicht nach innen. »Verzeihen Sie, Sir!« rief eine aufregend gekleidete blonde Frau zu ihm herauf, die gerade vom Gehsteig aus über die Rasenfläche auf ihn zugelaufen kam. Sie hielt ein Mikrofon in der Hand, an dem ein Kabel befestigt war, das in der klobigen schwarzen Ledertasche verschwand, die sie über der Schulter hängen hatte. »Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Hinter ihr kamen andere, noch eine Frau und drei Männer und außerdem noch zwei Kameramänner. Sie näherten sich im Laufschritt über den Rasen, Mikrofone in den Händen oder laufende Kameras an die Schultern gedrückt. George wich zurück und atmete tief durch, überwältigt von einer Bewußtseinstrübung, die seine schlimmsten KiffErfahrungen auf dem College noch weit in den Schatten stellte. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die Morde … Reporter … natürlich … Sie fingen an zu fragen: »Kennen Sie Ronald Prosky?« »Was ist mit Ihrem Fenster passiert, Mr. Pritchard?« »Können Sie uns das Symbol an ihrer Haustür erklären?« »Ist etwas Wahres an den Gerüchten, nach denen Dylan Garry seine Eltern bei einem satanischen Ritual getötet haben soll?« Prosky? Symbol? Satanisches Ritual? Wovon redeten die? George fühlte sich schwindlig, desorientiert, als sei er in einem 235
fremden Haus aufgewacht. »Mr. Pritchard?« rief die blonde Frau. »Sir? Wären Sie so freundlich, Ihren Kommentar zu den Verbindungen abzugeben, die es zwischen … « »Bitte«, rief George mit heiserer Stimme, »bitte, ich habe doch gestern schon so viele Fragen beantwortet! Ich möchte lieber nicht … « »Wissen Sie, ob Ihr Sohn Interesse am Satanismus hat, Mr. Pritchard?« Heißer Zorn begann in Georges Magen zu brodeln. Er ballte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten. »Hört Ihr Sohn Heavy-Metal-Rock? Ozzy Osborne oder Metal … « »Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Ronald Prosky und … « »Hat das Symbol an Ihrer Tür eine satanische … « »Waren Sie schockiert von dem Mord an … « »Runter von meinem Rasen«, sagte George gerade laut genug, um die Stimmen seiner Belagerer zu übertönen. Die blonde Frau trat einen Schritt nach vorn. »Mr. Pritchard, wenn Sie bitte mal eben … « »Verschwinden Sie aus meinem Vorgarten, Lady!« rief er, und seine Arme zitterten dabei. Sie kam noch näher. »Ich bin von der Sendung A Current Affair, und … « George blieb vor dem Fenster stehen. Das Weiße in seinen Knöcheln trat hervor, als er sich an der abgebröckelten Mauer festklammerte, sich hinauslehnte und noch lauter rief: »Und wenn Sie vom Mars wären, Lady, es würde mich einen Scheißdreck interessieren! Machen Sie, daß Sie aus meinem Vorgarten verschwinden, kapiert? Alle! Verschwindet aus meinem Vorgarten!« Das Maschinengewehrfeuer ihrer Fragen kam ins Stocken, und sie starrten ihn an, mit offenen Mäulern, die mitten im Satz 236
stehengeblieben waren. Das Innere von Georges Schädel fühlte sich … rot … an, wie ein helles, flammendes Rot Er entdeckte andere Gestalten. Zwei Männer, der eine von ihnen hielt ein Mikrofon in der Hand, der andere trug eine Fernsehkamera. Sie kletterten aus einem Lieferwagen, auf dessen Seite die Buchstaben KPCM-24 gemalt waren, und er brüllte sie an: »Alle! Schert euch verdammt nochmal weg von meinem Haus!« Die beiden Männer blieben stehen und starrten ihn an, dann wichen sie zurück. George hätte am liebsten eine Fensterscheibe zerschlagen, und die Tatsache, daß das nun nicht mehr ging, machte ihn nur noch wütender. Statt dessen trat er zurück und riß die Vorhänge zu. Dann drehte er sich um, durchquerte das Schlafzimmer, um seinen Morgenmantel zu holen, schaute an sich herunter und stellte fest, daß sein Penis steif nach oben stand. Er langte hinunter, um ihn zu berühren, hielt aber inne, als er die Holzsplitter entdeckte, die in seinen Fingern und in der Handfläche steckten und deren Spitzen sich tief unter die Haut gebohrt hatten. Reporter, um Himmels willen, dachte er, starrte auf seine Hände und biß die Zähne aufeinander. Ich wache auf, und mein verfluchtes Fenster ist weg – einfach weg –, und dann muß ich mich auch noch mit Reportern herumschlagen, die wie die verdammten Aasfresser hier einfallen, habe beide Hände voller Splitter und bin obendrein noch krank, wahrscheinlich diese verfluchte Grippe, die ich mir von den anderen eingehandelt habe! Und sie schlief wie ein Stein! Wie ein verdammtes Baby! George starrte auf seine Frau, die den Kopf in ihrem Kissen vergraben hatte. Dann schaute er wieder seine Hände an. Er biß sich auf die Lippen, um dem Drang zu widerstehen, die Hände einfach zu Fäusten zu ballen, um die Splitter noch tiefer hineinzutreiben, den Schmerz zu fühlen, um endlich einen Grund zu haben, den Schrei auszustoßen, der sich in ihm 237
rührte, diesen hellen, flammenden Schrei, der sich ihm in die Kehle pressen wollte. Gerade öffnete er den Mund, um ihn herauszulassen, als … … Karen sich in ihrem Bett aufsetzte und krächzte: »Was … was is’ passiert? Was is’ … warum isses so kalt hier … das Fenster … Monroe … ist Monroe rausgesprungen? »Das will ich doch hoffen«, grollte er, und seine Stimme klang wie zwei nasse Felsbrocken, die gegeneinander gerieben wurden. »Und ich hoffe auch, daß sein Fell sich um die Reifen von irgendeinem Auto der Arschlöcher da draußen gewickelt hat.« Er stürmte aus dem Zimmer, ohne sich erst den Morgenmantel überzuziehen. Seine Erektion pochte noch immer unangenehm, beinahe schmerzhaft. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte viertel vor eins. Im Badezimmer fand George die Pinzette und begann, sich die Splitter herauszuziehen, einen nach dem anderen. Er hielt sich die Hand dicht vors! Gesicht, fluchte und zuckte bei jedem schmerzhaften Zwicken zusammen. Sein Penis blieb hart wie ein Stein. Als er mit der rechten Hand fertig war, nahm er sich die linke vor; seine Finger zitterten, seine Lippen bewegten sich schnell, als er tonlose Obszönitäten ausstieß. » … verfluchte Splitter … als würde man einer Raupe die Haare ausrupfen … diese Dreckfresser von Journalisten mit ihren Scheißlieferwagen und ihren verwixten Mikrofonen … gottverfluchtes Fenster, was, zum Teufel, ist mit diesem gottverfluchten Fenster passiert … « Von Sekunde zu Sekunde wurde er wütender, bewegte sich hastiger, als stünde er unter Zeitdruck. Und irgendwie tat er das auch. George wußte genau, daß er gleich seinen Frust in den Spiegel des Medizinschranks rammen würde, wenn er nicht bald mit dieser trostlosen Zupferei fertig wäre. Das müßte diesen verfluchten Splittern doch den Garaus machen, damit müßte diesen kleinen Scheißdingern doch beizukommen sein, 238
weiß Gott, und dann müßte er auch nicht … »Soll ich das für dich machen?« Die Stimme klang so leise, daß sie es beinahe nicht geschafft hätte, durch Georges angespannte Konzentration zu dringen, und erst als er merkte, daß er nicht mehr allein im Raum war, wurde ihm klar, daß er diese Stimme gehört hatte, aber er war sich immer noch nicht sicher, was sie gesagt hatte, also schaute er mit gerunzelter Stirn hoch. Jen stand mit anzüglichem Lächeln in der Badezimmertür. Sie trug ein enges blaues Oberteil mit Trägern und einen Slip. Die Augen hatte sie halb geschlossen, und ihre Haare hingen ihr in blonden, medusenartigen Strähnen um das Gesicht. »Was?« bellte George. »Oh, äh, ja, ich hab bloß … ein paar Splitter … das ist alles.« »Soll ich sie dir rausziehen?« Sie schaute dabei nicht auf seine Hand. Plötzlich, mit einem Schlag, wurde George sich wieder seiner Nacktheit bewußt. Er ließ die Pinzette ins Waschbecken fallen, um nach einem Handtuch zu greifen, aber Jen trat vor ihn und nahm seine Hand. »Ich versprecht dir, daß ich dir nicht wehtun werde.« Ihre Blicke schnellten hin und her zwischen seiner Hand und seinem Schwanz, und bei jedem Mal verweilten sie etwas länger auf seinem Unterleib. »Mach einfach weiter, ja? Ich kümmere mich um dich, okay?« Mach einfach … Scheinbar beiläufig langte sie nach unten und legte ihre Finger um sein erigiertes Glied. »Es ist viel härter und größer als das Robbys«, flüsterte sie. George wurde kreidebleich. Er schlug ihre Hand weg, trat einen Schritt zurück und platzte heraus: »Robbys? Du hast … du willst sagen, du hast … Robby ist … was hast du … « Seine Finger krümmten sich zu Klauen, und die Kiefer arbeiteten, mahlten die Zahnreihen gegeneinander. »Oh, ja«, zischte er 239
und dachte dabei: Ja, es grassiert eine Krankheit in diesem Haus, aber das ist bestimmt nicht die Grippe!« »Raus hier!« brüllte er. »Mach, daß du rauskommst!« Dir steig ich nachher noch aufs Dach. Und Robby auch. Wo ist Robby? Wo, zum Teufel, steckt Robby?« Er stolperte rückwärts. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. »Er ist … in seinem Zimmer.« »Dann sag ihm, daß er dort bleiben soll, weil ich ihn mir in ein paar Minuten vorknöpfen will. Kapiert? Und jetzt beweg deinen Arsch hier raus!« Jen verließ rückwärtsgehend das Badezimmer und zog die Tür hinter sich zu. »Dieser Dreckskerl!« stieß George hervor und ging im Badezimmer auf und ab. »Ich habe einen siebzehnjährigen Sohn, der … Mein Gott, was ist bloß passiert? Was, zum Teufel, ist bloß … « Er blieb vorm Spiegel stehen. Seine Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Er betrachtete eine Weile lang sein Gesicht. Es war blaß, sah ungewöhnlich abgezehrt aus, und die Furchen in seiner Stirn kamen ihm tiefer als gewöhnlich vor. Und sein Schwanz pochte … … juckte … … spürte noch immer die Berührung der kühlen Hand seiner Tochter … »Scheiße«, stöhnte er und ließ sich auf der Klobrille nieder. Er verspürte ein Brennen in der rechten Hand. Und dieses Jucken. Es wollte nicht mehr aufhören. Er berührte seinen Schwanz, rieb ihn, als ließ sich das Gefühl damit auswischen. »Mein Gott«, flüsterte er, und es klang ein bißchen wie ein Schluchzen, ein trockenes, jämmerliches Schluchzen, »oh, mein Gott … « Beim Orgasmus stöhnte George hinter geschlossenen 240
Lippen, ließ sich gegen das Waschbecken sinken, preßte seine Wange an das kühle Porzellan und sog ein paar lange, tiefe Atemzüge in sich hinein. Robby saß im Bademantel auf seinem Bett, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände fest ineinander verkrallt. Im Radio lief der lokale Nachrichtensender. Robby schaukelte nervös vor und zurück und stupste die Knöchel der Daumen auf seine geschürzten Lippen, während er ungeduldig auf den Bericht wartete. Er hatte bis jetzt nur eine kurze Nachricht gehört, nicht mehr. Aber bald würde der Bericht kommen, er war ganz sicher. Pastor Quillerman hatte ihm gesagt, er solle Proskys Auto vor seinem Haus am Randstein parken … »es wäre nicht das erste herrenlose Auto in dieser Straße«, hatte er gemeint –, und dann hatte er Robby nach Hause gebracht und ihm geraten, sich ein wenig hinzulegen. Aber er konnte nicht einschlafen, also hatte er im Bett gelegen und bis zum Morgengrauen an die Decke gestarrt. Eigentlich wollte er ja gar nicht zuhause bleiben. »Du solltest dort sein«, hatte der Pastor zu ihm gesagt. »Ihr müßt alle zusammenbleiben. Jetzt braucht ihr einander.« Robby war über Pastor Quillermans Reaktion auf seine Geschichte erstaunt gewesen, darüber, daß der Pastor keinen einzigen Moment lang an ihrem Wahrheitsgehalt gezweifelt hatte. Nach seinem Zusammenbruch auf Quillermans Türschwelle war Robby ein paar Minuten später auf der Couch im Wohnzimmer wieder zu sich gekommen. Quillerman hatte neben ihm gekniet und mit einer Tasse heißen Tees und einem aufmunternden Lächeln gewartet. »Ich glaube, du bist gleich wieder auf dem Damm, Robby«, sagte der Pastor. »Aber du siehst aus, als hättest du etwas sehr Unerfreuliches hinter dir. Möchtest du darüber reden?« 241
Robby setzte sich kerzengerade auf und lehnte sich zu Pastor Quillerman vor. »Pastor, Sie müssen mir helfen, Sie müssen meiner Familie helfen, uns allen, der ganzen Nachbarschaft, s-sie, s-sie, … etwas stimmt nicht mit ihnen.« Quillerman zog die Stirn in Falten, reichte Robby den Becher Tee und setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Erzähl mir genau, was mit ihnen nicht stimmt.« Robby wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. »Ich weiß nicht, sie sind alle so … zornig. Alle streiten und brüllen sie die ganze Zeit herum und … nun … « Robby schloß kurz die Augen. Er schämte sich. »Es gibt zur Zeit … äh … eine Menge Sex – in unserer Straße.« Pastor Quillerman richtete sich auf, und die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Weißt du … den Grund für das alles?« Robby nickte. »Unsere neue Nachbarin.« »Oh, heiliger Vater«, stöhnte Quillerman und schaute auf seine verkrüppelte Hand. »Erzähl mir alles, Robby. Alles.« Also erzählte Robby es ihm, alles, auch wenn er sich an dem Wort Sukkubus beinahe verschluckte und davon überzeugt war, daß der Pastor glauben mußte, er sei auf einem Drogentrip. Aber Quillerman nickte schweigend beim Zuhören, und als Robby fertig war, schwieg er lange Zeit. Dann schaute er dem Jungen ins Gesicht und sagte: »Es war richtig, daß du zu mir gekommen bist. Du hättest eher kommen sollen. Bist du sicher, daß dein Freund tot ist?« Robby nickte. »Das ist schlimm. Es hört sich so an, als sei er während der letzten Jahre auf einem langen Kreuzzug gewesen.« »Sie meinen … nun, Sie … Sie glauben mir?« Der Pastor schaute Robby einen Moment lang nachdenklich an, dann hielt er seine verkrüppelte Hand in die Höhe und sagte: »Dies« – er deutete auf sein Glasauge – »und dies« – und auf sein Bein – »und dies, das alles habe ich mir 242
eingehandelt, als ich ein kleiner Junge war. Ich war … «, er schwieg einen Moment lang, als müßte er erst abwägen, ob es klug wäre weiterzureden, » … ich war von meinen Eltern weggelaufen, die es beide darauf abgesehen hatten, mich zu töten.« Seine Stimme zitterte, als er davon sprach. Robby hatte ihn noch nie mit unsicherer Stimme sprechen hören. »Wir hatten damals auch eine neue Nachbarin bekommen. Gleich nebenan. Ja, deshalb glaube ich dir. Ich weiß ganz genau, von was du redest, da kannst du dir sicher sein. Und ich glaube, ich weiß auch, was man tun kann.« Robby hatte sich noch kurz den ungefähren Plan Quillermans angehört, dann war er der Aufforderung des Pastors nachgekommen und nach Hause gegangen. »Und morgen früh redest du mit ihnen«, hatte der Pastor noch gesagt. »Erzähle ihnen alles, egal, ob sie dir glauben oder nicht. Und wenn es sein muß, erzähl es ihnen immer wieder. Vielleicht halten sie dich für verrückt, aber tief drinnen werden sie wissen, daß du recht hast. Sobald ich kann, komme ich zu euch rüber. Und, Robby … mach es nicht alleine. Bitte Gott um Hilfe.« Robby hörte, wie in der Küche die Küchenmaschine zum Leben erwachte. Im Radio zählte ein Chiropraktiker gerade die Vorteile auf, die es einem bringen würde, wenn man noch heute einen Termin mit ihm machte. Plötzlich platzte die Zimmertür auf, Robby wäre vor Schreck beinahe aus dem Bett gefallen, als sein Vater hereinstürmte und die Tür hinter sich zuknallte. »Was hast du mit deiner Schwester gemacht, Robby?« fragte er mit Donnergrollen in der Stimme.« »Was?« »Mit deiner Schwester!« George kam auf ihn zu, und Robby zuckte zusammen. »Was hast du mit ihr gemacht? Hast du sie angemacht? Es womöglich mit ihr getrieben? Schaffst du es 243
nicht, dir draußen eine richtige Freundin zu suchen?« Robby erhob sich, wich vor seinem Vater zurück und drückte sich eng an das Fenster, daß auf den Vorgarten hinausging. Sein Gesicht verkrampfte sich vor Angst. »Dad, du darfst nicht … ich hab doch nichts … laß mich erklären, was … « »Das will ich dir, zum Teufel, auch geraten haben, daß du’s mir erklärst!« brüllte George und näherte sich ihm, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Es klingelte an der Haustür. »Nun? Ich warte, Robby. Es ist mir todernst damit, mein Lieber, ich will wissen, was … « Es klingelte nochmal. Die Küchenmaschine lief weiter. »Zum Teufel«, zischte George. Er wirbelte herum, riß die Tür auf und lehnte sich in den Flur hinaus. »Karen! Mach auf!« Keine Antwort. Wieder klingelte es. Er murmelte: »Alles hier im Haus muß ich machen.« Noch einmal wandte er sich zu Robby um und richtete seinen Zeigefinger auf den Jungen. »Ich bin gleich wieder da. Darüber reden wir noch!« Beim Hinausgehen warf er die Tür ins Schloß. Robby hörte, wie er auf steifen Beinen den Flur entlangstelzte. Er wartete ein paar Sekunden, dann folgte er ihm leise. Am Ende des Flurs spähte er vorsichtig um die Ecke und schaute zu, wie sein Vater zur Tür ging. Als George die Haustür öffnete, lächelte ihm der Briefträger entgegen. Er war ein kleiner, bärtiger Mann mit dicken Brillengläsern. Ein Zahnstocher baumelte zwischen seinen Lippen. Hinter ihm warteten die Reporter und Kameraleute, die George bereits vor seinem Schlafzimmer gesehen hatte. Sie stürmten vor, als wollten sie alle gleichzeitig auf George losgehen, ihm ihre Mikrofone vors Gesicht halten und ihre 244
Fragen auskotzen. »Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt von meinem Haus wegbleiben!« bellte George und wedelte mit dem Arm in Richtung Straße. »Und jetzt raus hier, aber schnell! Ich hab gestern schon genug Fragen beantwortet, und ich denke nicht daran … Die blonde Frau trat vor und fragte schnell: »Können Sie uns die Schrift auf Ihrer Haustür erklären, Mr. Pritchard?« »Was für eine Schrift auf meiner …?« Er warf einen Blick auf den schwarzen Kreis und die merkwürdigen Namen, die jemand hineingeschrieben hatte. »Ich hab keine Ahnung, was… « »Kannten Sie Ronald Prosky?« wollte ein anderer Reporter wissen. »Wen?« Robby hielt bei der Erwähnung des Namens den Atem an. Wie auf Kommando traten die anderen Reporter vor. »Handelt es sich um ein religiöses Symbol, Mr. Pritchard?« »Was ist mit Ihrem Fenster passiert, Mr. Pritchard?« »Glauben Sie, daß die Morde etwas mit einem Kult zu tun haben?« Der Briefträger drängelte sich durch die Traube von Journalisten und fragte: »Ah, Mr. Pritchard? Sie haben seit ein paar Tagen Ihre Post nicht mehr reingeholt. Sie ist klitschnaß geworden.« George starrte auf den Stapel durchweichter Briefe, den der Mann in der Hand hielt. »Puh«, machte er beim Ausatmen, warf die Arme in die Höhe und rief: »Moment mal, okay? Halten Sie mal die Luft an und lassen Sie mich meine Post holen.« Die Reporter waren still, aber sie wichen nicht von der Stelle. George runzelte die Stirn, als er seine durchweichte Post in Empfang nahm. »Warum haben Sie die Post immer weiter 245
ausgeliefert, obwohl Sie gesehen haben, daß sie naß wird?« fuhr er den Briefträger an. Der Mann zuckte die Schultern und hob abwehrend die Handflächen. »He, wenn Sie verreisen oder sowas, dann müssen sie selbst die Post abbestellen. Und sonst müssen Sie eben rausgehen und sie reinholen, okay? George deutete auf den Kreis an der Tür und fragte: »Haben Sie das gemacht?« »Jesus, natürlich nicht. Hör’n Sie, ich muß weiter.« Verärgert ging er zu seinem blau-weiß-roten Jeep zurück, der am Randstein wartete. Kaum war er gegangen, fingen die Reporter wieder an, ihre Fragen abzufeuern. George unterbrach sie mit lauter Stimme. »Okay! Hört mal zu, ich hab keine Ahnung, was dieses Zeug zu bedeuten hat … «, er wies mit dem Daumen über die Schulter nach hinten, » … und ich weiß auch nicht, wer es da hingemalt hat. Wahrscheinlich ‘n Junge aus der Nachbarschaft, okay? Ich weiß nicht, wer dieser Ronald Wieauchimmer ist, ich hab noch nie von ihm gehört, und ich will auch keine weiteren Fragen mehr beantworten. Ich bin sicher, daß es hier in der Straße Leute gibt, die die Garrys besser gekannt haben als wir, also, warum geht ihr denen nicht auf den Wecker!« Er knallte die Tür zu, und dann stand er da, starrte von innen dagegen und ballte und öffnete abwechselnd die Fäuste. »Wer hat das auf die Tür gemalt?« brummte er schließlich und drehte sich um. »Wer, zum Henker, hat das auf unsere Haus … « »Ich war’s.« Robby sah krank aus, als er auf ihn zuging. »Du warst das? Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« Robby drehte sich vorsichtig um, dann machte er seinem Vater ein Zeichen, ihm in sein Zimmer zu folgen. Und dort erzählte er ihm die ganze Geschichte … Karen kochte einen Eintopf. 246
Schon vor einer halben Stunde war sie aufgestanden, aber noch immer nicht ganz aufgewacht. Sie war sich nicht sicher, ob der erste Anblick nach dem Erwachen – das Loch und die flatternden Vorhänge, wo einmal ihr Schlafzimmerfenster gewesen war – der Wirklichkeit entsprachen oder nur der Nachwirkung eines Traums, den sie geträumt hatte. Im Grunde genommen war ihr das auch egal. Es kümmerte sie nicht, daß ihre Familie noch kein Frühstück gehabt hatte, daß sie schon wieder einen Tag ihrer Arbeit fernblieb und daß Jen und Robby nicht in die Schule gingen. Es war ihr nicht nur egal, daß eine ganze Familie in ihrer Straße jetzt nicht mehr lebte, nein, diese Leute waren auch kaum mehr als eine vage Erinnerung in ihrem konfusen Geist. Im Augenblick kreisten ihre Gedanken nur um den Eintopf, den sie gerade zubereitete und der für eine Weile reichen sollte, so daß sie sich um die Kocherei in den nächsten Tagen keine Sorgen zu machen brauchte, und um … … Lorelle. Seitdem sie aufgewacht war, hatte Karen nicht einen einzigen Gedanken fassen können, der sich nicht um Lorelle drehte … um die Berührung ihrer Hand … ihrer Zunge … um den feuchten Hauch ihres Atems auf ihrer Haut und ihren Brüsten … Was sie letzte Nacht neben George im Bett getrieben hatten, war ihr noch so lebhaft in Erinnerung, als hätten sie erst vor zehn Minuten damit aufgehört. Sie stopfte eine lange Karotte in den Deckel der Küchenmaschine, schaute zu, wie die herumwirbelnden Klingen das Gemüse in orangefarbene Scheiben zerkleinerten und spürte eine gewisse Befriedigung beim Anblick dieser wirbelnden Klingen-Polka, die dafür sorgte, daß die Karotte zerlegt in kleine Teile gegen die transparente Plastikhaube klatschte. Das Fenster über dem Waschbecken ging auf den langen, rechteckigen Garten hinaus, wo die Bäume in einem eisigen 247
Wind schwankten und stahlgraue Wolken über den Himmel getrieben wurden. Über dem Surren der Küchenmaschine klingelte das Telefon, aber das war ein nichtssagendes, völlig uninteressantes Geräusch für sie. Nach dem dritten Klingeln brüllte George: »Karen, geh an das verdammte Telefon!« Sie stellte die Küchenmaschine ab und blinzelte das Telefon an, als hätte sie so etwas noch nie zuvor gesehen. Die sechs Schritte durch die Küche kamen ihr vor wie eine lange Wanderung mit Backsteinen an den Füßen, und der Hörer war schwer wie Blei, als sie ihn anhob. »Hallo?« »Karen.« Die Stimme lief ihr wie warmer Honig in die Ohrmuschel. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. »Hallo, Lorelle.« »Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen.« »Nein.« »Ich habe gerade gesehen, daß dein Auto vorm Haus steht. Bist du krank?« »Nun … ich bin nicht besonders gut in Form.« Sie versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, aber Lorelles Anruf rief die Erinnerung an die vergangene Nacht wach, als Lorelle sie mit einem sanften Kuß geweckt hatte. Ganz langsam und gründlich hatten sie sich geliebt, während George neben ihnen schlief, und Karen war so oft gekommen, daß sie schließlich das Bewußtsein verloren hatte, wie bei jedem Zusammensein mit Lorelle. Die Empfindungen und Gerüche und der Geschmack kamen zurück, als hätten sie nur darauf gewartet. »Fühlst du dich zu schwach, um einen Moment zu mir zu kommen?« fragte Lorelle. »Nicht lange. Nur auf einen kurzen Besuch.« Es schwang ein Lächeln in ihrer Stimme. »Weißt du, ich koche gerade Eintopf, aber um den könnte ich mich auch … später kümmern. Oder ich mach ihn ganz 248
schnell fertig und komm dann rüber zu dir, es sei denn, du willst … « »Das ist völlig in Ordnung. Ich warte auf dich.« Karen leckte sich über die trockenen Lippen, legte den Hörer auf die Gabel, ging langsam zurück zu ihrer Küchentheke und fütterte die wirbelnden Klingen der Küchenmaschine hastig mit weiterem Gemüse. Sie warf den zerkleinerten Mischmasch in einen Topf, schnetzelte eilig das Fleisch, das sie in der Mikrowelle aufgetaut hatte – bei dieser Arbeit schnitt sie sich in den Daumen –, und stellte alles zusammen auf den Herd. Es war zwanzig vor vier. Karen ließ den ganzen Abfall liegen, kümmerte sich nicht weiter um den blutenden Daumen, zerrte den Mantel aus dem Wandschrank im Flur, warf ihn sich über das lange Sweatshirt und schlüpfte, zitternd vor erregter Vorfreude, in ein Paar Tennisschuhe. Als sie an der Wohnzimmertür vorbeikam, sah sie Jen auf dem Sofa liegen, die Knie bis vor die Brust gezogen. Die Hände steckten unter ihrem Nachthemd und bewegten sich in einem sanften Rhythmus. Karen wollte ihr schon zurufen, daß sie nur mal schnell über die Straße gehe, aber dann ließ sie es bleiben. Das Mädchen hatte ohnehin die Augen geschlossen; sogar den Fernseher hatte sie längst vergessen. Als Karen die Haustür öffnete, sah sie es. Sie blieb eine Weile davor stehen, wußte nicht, was sie dort sah, aber dann fiel ihr ein, daß es ihr ja eigentlich völlig gleichgültig sein konnte. Irgendjemand hatte die Haustür beschmiert. Sie beschloß, die Schmiererei zu entfernen, wenn sie wieder zu Hause wäre – jetzt wollte sie sich durch nichts mehr aufhalten lassen –, trat auf die Veranda hinaus und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als sie ihr aus der Hand gerissen wurde. »Wo gehst du hin?« fragte Robby mit eindringlicher Stimme. Er stand mit weit aufgerissenen Augen in der Tür und beugte sich zu ihr heraus, als hätte er ihr etwas Schreckliches 249
mitzuteilen. »Nur … ich wollte nur … « Denk nach, sagte Karen zu sich selbst. »Ich wollte nur schnell zu Lorelle und mir ein paar Gewürze holen. Ich mache einen Eintopf.« George tauchte hinter ihm auf. Er sah erregt und verärgert aus. »Und was jetzt, Robby?« brummte er. »Geh nicht, Mom.« »Warum nicht?« »Geh bitte nicht. Du kannst sie doch auch im Laden holen, oder? Wahrscheinlich brauchst du doch noch andere Sachen. Ich geh nachher mit dir.« Karen seufzte ärgerlich und sagte: »Ich will nicht in den Laden gehen, Robby. Und deshalb hole ich mir die Gewürze bei ihr.« »Tu’s nicht.« »Was ist denn los mit dir?« George packte Robby bei den Schultern und drehte ihn zu sich um. »Das möchte ich auch mal wissen. Was ist mit dir? Auf was für’nem Trip bist du? Drogen? Hast du Drogen genommen?« »Nein, Dad, wirklich nicht. Ich hab dir doch gerade erzählt, was … « »Okay, jetzt reicht’s«, sagte George in dem Tonfall, den seine Stimme immer dann bekam, wenn er vorhatte, einem seiner Kinder Disziplin beizubringen. »Wisch den Scheißdreck von der Tür. Sofort. Und dann habe ich dir was zu sagen, und du wirst mir zuhören.« »Nein, Dad, bitte … « »Du wischst das Zeug auf der Stelle weg, oder ich mache dir so die Hölle heiß, daß du dir wünschst, du wärst … « »Nein.« »Was?« Georges Stimme klang leise, gefährlich leise. »Was hast du gesagt?« Robby schaute ihn an. Er schien den Tränen nahe und seine 250
Lippen zitterten, als er antwortete: »Ich werde es nicht abwischen.« Karen konnte förmlich sehen, wie Georges Gesicht von einem Zorn überflutet wurde, der seine Züge bis zur Unkenntlichkeit verzerrte. Er begann Robby anzubrüllen – ganz gegen seine Gewohnheit schreckte er dabei auch nicht vor Obszönitäten zurück –, bis Karen schließlich dazwischen fuhr und sagte: »Was ist hier eigentlich los?« »Halt’s Maul!« bellte George. »Halt einfach dein Maul und besorg dir deine verfluchten Gewürze, okay?« Damit wandte er sich wieder Robby zu und brüllte weiter. Karen stellte sich vor, was sie auf die Nachbarn für einen Andruck machen mußten; alle drei standen sie an einem regnerischen Tag auf ihrer Veranda herum und brüllten sich gegenseitig an, Robby und George in ihren Bademänteln, sie selbst mit nichts als einem Sweatshirt unter dem Mantel; alle sahen sie kreidebleich und erschöpft aus. Zum erstenmal an diesem Tag vergaß sie Lorelle, wollte sie nur weinen, wollte nur schreien. »Hör auf«, sagte sie mit bebender Stimme, zuerst ganz leise, dann lauter. »Hör auf.« Und dann noch lauter: »Hörst du jetzt bitte auf!« George hielt inne, starrte sie an und wollte gerade etwas erwidern, da kam ihm jemand auf der anderen Straßenseite zuvor. »Macht eure Angelegenheiten gefälligst drinnen ab!« schrie eine Stimme aus einem der gegenüberliegenden Häuser. »Andere Leute wollen ihre Ruhe haben!« George schaute hinüber zum Haus der Weylands. Paul Weylands Gesicht war hinter dem Fliegengitter seines Schlafzimmerfensters zu erkennen. »Das hier ist mein Vorgarten, Weyland!« brüllte er. »Und in dem schreie ich herum, solange es mir gefällt! Sehen Sie lieber zu, daß Ihr gottverdammter Köter nicht immer auf meinen 251
Rasen scheißt. Vielleicht bin ich dann leise! Soll ich vielleicht mal rüberkommen und Ihnen in den Vorgarten scheißen?« Das Fenster wurde zugeknallt. Karen wurde übel, und Tränen brannten ihr in den Augen. »Bitte, George«, flüsterte sie, »laß ihn in Ruhe und geh hinein, okay? Laß uns hineingehen.« »Was? Jetzt gehst du doch nicht zu Lorelle?« fuhr George sie an. Seine Lippen kräuselten sich zu einem boshaften Grinsen. »Unser lieber Robby meint, du würdest zu ihr gehen, um es mit ihr zu treiben. Du willst, daß ich ihn in Ruhe lasse? Gut. Werde ich tun. Soll er doch weiter glauben, daß du und ich die neue Nachbarin ficken. Okay? Ist dir das lieber?« Ein Eisklumpen bildete sich in Karens Magen, ein Eisklumpen, der plötzlich zersprang und dessen Splitter ihr durch die Adern rauschten. Sie blieben für eine kleine Ewigkeit dort draußen stehen und durchbohrten sich beinahe mit ihren Blicken. Dann fing George wieder an zu grinsen und schubste Karen ins Haus. »Nuuun«, sagte er und zog das Wort wie einen Kaugummi in die Länge, wobei er den Kopf langsam auf und ab bewegte. »Vielleicht ist Robby gar nicht auf Drogentrip. Tust du’s vielleicht wirklich? Treibst du es mit ihr?« Karen versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, aber sie purzelten alle in ihrem Kopf durcheinander, bis sie auf einem Haufen zusammenhangloser Worte liegenblieben. Wie ist das passiert? Wie? Wie konnte das passieren, mein Gott, wie konnte das bloß passieren, Jesus Christus, wie konnte das passieren, mein Gott, Jesus Christus, WIE KONNTE DAS PASSIEREN? Tränen flossen ihr aus den Augen, und ein Kloß steckte ihr im Hals. Sie wußte, daß es ganz egal war, was sie jetzt sagte. In Georges Augen flackerte ein Zorn, der so gewaltig war, daß sogar tröstlich gemeinte Worte ihn nur noch mehr reizen würden. Sie hatte diesen Blick schon gesehen – nur wenige 252
Male, denn George wurde selten zornig –, aber noch nie so wie jetzt, so lodernd und gefährlich. »Dann ist es also wahr?« spottete er, und sie konnte seiner Stimme die kalte Wut anhören. Karen antwortete nicht. Sie steuerte auf das Badezimmer zu. »Antworte mir!« Als sie die Badezimmertür öffnete, packte er ihren Ellbogen und riß sie herum. Sie machte sich steif und starrte auf den Boden. »Was, zum Teufel, ist bloß hier los?« preßte er zwischen geschlossenen Zähnen hervor. »Robby erzählt mir irgend ‘nen Scheißdreck über Dämonen, und Jen benimmt sich wie … wie … wie weiß der Henker was, und jetzt kommst du nur so. Was ist los? Bist du … ist etwas … zwi … zwischen uns passiert…?« Sie hob den Blick und sah in sein Gesicht. Es sah schlaff und eingefallen aus, wie das Gesicht eines Trinkers, und er wußte es. »Du alte Schlampe«, fauchte er, und dann lachte er ein kaltes, haßerfülltes Lachen. »Na … woher weiß Robby das alles? Was meinst du? Na? Vielleicht … «, noch ein Lachen, lauter diesmal, » … vielleicht fickt er sie auch.« Sein Lachen wurde noch lauter und abgehackter, wie Maschinengewehrfeuer. Ein Streifen Schweiß glänzte auf seiner Oberlippe, und ganz langsam rollte eine Perle davon an seinem Kinn herunter. »Wäre das nicht ein Hammer? Na? Wär’s das nicht?« Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schüttelte heftig den Kopf, während sein Lachen in kleinen Schluckaufs versickerte. Dann holte er tief Luft, ließ noch eine Serie von Lachern folgen und versuchte, gleichzeitig zu sprechen. »Ich … ich hab nicht … gut geschlafen. Ich gglaube, ich b-brauch noch etwas Schlaf.« Verängstigt wich Karen einen Schritt ins Badezimmer zurück. Auf Georges Gesicht verwandelte sich die ungesunde 253
Blässe in ein rosiges Rot, und seine Wangen schienen anzuschwellen, während er lachte und lachte und lachte … bis er sich nach vorne lehnte, das Gesicht zwischen die Hände nahm und still war. Seine Schultern zuckten noch etwas, aber das laute Lachen hatte aufgehört. Er krümmte die Finger und bohrte ihre Spitzen in die Haut seiner Wangen. Karen runzelte die Stirn, während sie sich mit den Knöcheln die Tränen aus den Augen wischte und einen Schritt auf ihn zu tat. Sie preßte sich eine Faust in den Unterleib, dorthin, wo sie eine heftige, brennende Übelkeit verspürte – eine Mischung aus Angst und Schuld und Mitleid –, und gleichzeitig hob sie die andere Hand und legte sie ihm auf die Schulter. »Laß das«, murmelte George in seine Handflächen, dann streckte er die Hände aus und ließ sie sinken. Sein Gesicht war jetzt aufgedunsen und von einem tiefen Rot, keine Spur mehr von einem Lachen. »Laß das … rühr mich … «, er hob seine Faust, bis sie hochragte wie der Kopf einer Schlange in Angriffsstellung, zerschnitt damit die Luft zwischen ihnen und rammte sie mit einem dröhnenden Donnerschlag gegen die Wand, so kräftig, daß der Rahmen eines Spiegels sich von seinem Haken löste und auf den Fußboden krachte, » … nicht an!« Plötzlich kam er auf sie zu, schob die Unterlippe von den Zähnen und beugte die Schultern nach vorne wie ein melodramatischer Schurke. Mit einem spitzen Schrei stürzte Karen rückwärts ins Badezimmer, knallte die Tür hinter sich ins Schloß und fummelte am Riegel herum, bis er mit einem Klicken einrastete. Mit beiden Fäusten hämmerte George gegen die Tür und brüllte: »Mach die verdammte Tür auf, und zwar sofort, hörst du mich? Hörst du mich, du verfluchte Lesbe!« Er hielt einen Moment lang inne, wartete auf eine Antwort, und dann begann er, sich mit seinem ganzen Körper gegen die Tür zu werfen, als … 254
… Robby zurück ins Haus gestürmt kam. Er hatte auf der Veranda gestanden, hatte die Kälte und die Stille genossen und die Namen der drei Engel angestarrt. Ganz tief drinnen hatte er gebetet, wie Pastor Quillerman es ihm gesagt hatte, und während er das tat, spürte er, wie sich in seinem Inneren ein paar Knoten zu lösen begannen. Und dann hatte er seinen Vater gegen die Tür hämmern hören und war hineingelaufen. Der Lärm war bereite vorbei, als Robby den Flur erreichte. Es war niemand zu sehen. Ganz vom anderen Ende hörte er jetzt die Stimme seines Vaters: »Kitty-Kitty … hier, mein Kitty-Kitty-Kätzchen … komm doch, Pussikätzchen, Kitty-Kitty-Katerchen … « Aus dem Badezimmer kam die Stimme seiner Mutter: »George, wenn du es wagst, den Kater anzurühren!« »Komm doch raus und hindere mich dran.« Er trat aus dem großen Schlafzimmer und ging hinüber ins Gästezimmer. »Hierher, Kitty-Kitty-Kitty … « »Mom?« sagte Robby leise an der Badezimmertür. »Robby? Robby, bitte tu mir einen Gefallen. Nimm deine Schwester und … geht ein bißchen raus, ja? Willst du das für mich tun?« »Nein, Mom.« » … Puss-Puss-Puss … Kitty-Kitty-Kitty … « »Geht ins Kino, okay? Geld findet ihr im Keramik-Elefanten in der Küche. Du kannst das Auto nehmen.« »Nein, Mom, ich lasse dich nicht allein, während er so ist.« »Ach, er ist nur ein bißchen verärgert.« Ihre Stimme klang tränenschwer. »Es wird ihm bald besser gehen.« »Komm doch, Monroe … wo bist du denn, alter Junge … Kitty-Kitty … « »Er ist nicht bloß ein bißchen verärgert, und es wird ihm nicht besser gehen«, zischte Robby. »Niemandem wird es besser gehen. Mom, ich glaube, daß es überall in unserer 255
Straße so ist. Wahrscheinlich ist es auch genau das, was den Ganys passiert ist.« »Robby.« Was er da gesagt hatte, verschlug ihr beinahe die Sprache. »Dein Vater ist bloß ein bißchen … « »Sie ist daran Schuld, Mutter, und du weißt es.« »Ich … Robby, du bist … ich weiß gar nicht, wovon du redest.« »Würdest du rauskommen, damit wir reden können?« »Nein.« »Weil du Angst vor ihm hast. Verstehst du nicht? Sie ist es, Mutter, sie saugt das Leben aus uns heraus, sie saugt alles heraus, was gut und … « Ein durchdringendes Fauchen tönte aus dem Gästezimmer herüber. »Hab ich dich endlich«, sagte George. »Laß ihn in Ruhe!« schrie Karen aus dem Badezimmer. George trat aus dem Gästezimmer, Monroe hatte er beim Nackenfell gepackt. Er grinste, und seine Zungenspitze stocherte dabei im Mundwinkel herum. »Dad?« sagte Robby. Er stieß Robby einfach zur Seite und ging mit energischen Schritten an ihm vorbei. »Der Teufel soll dich holen, George … «, der Riegel ratterte, die Tür öffnete sich, und Karen trat hinaus in den Flur, » … wenn du den Kater nicht in Ruhe läßt!« Sein Lachen verstummte, als er um den Küchentisch herumging. Sie folgte ihm. Jens Zimmertür öffnete sich, und sie spähte vorsichtig heraus. »Was ist … « »Bleib bitte ‘ne Weile in deinem Zimmer, okay?« sagte Robby zu ihr, und dann folgte er seinen Eltern. Auf halbem Weg zur Küche hörte er, wie die Küchenmaschine eingeschaltet wurde. 256
Karen stieß einen Schrei aus. Robby blieb taumelnd in der Küche stehen, als George mit dem Handrücken Karen so heftig ins Gesicht schlug, daß sie gegen den Kühlschrank prallte und an der Tür entlang zu Boden glitt. George nahm den Plastikdeckel von der Küchenmaschine und hielt den zappelnden Kater über die Öffnung. »Dad, hör auf damit!« brüllte Robby, stürzte sich auf seinen Vater, warf ihm seine Arme um die Hüften und wollte ihn wegzerren. George stieß den Ellbogen hart nach hinten und erwischte Robby am Kinn. Der Junge schlug auf den Boden und rutschte rückwärts über die Fliesen. Er hatte sich auf die Lippe gebissen und konnte das Blut bereits schmecken. George stopfte das Hinterteil des Katers in das durchsichtige Plastikgehäuse. Monroe war jedoch zu fett und blieb ein paar Zentimeter oberhalb der rotierenden Klingen stecken. Karen schrie etwas Unverständliches und streckte flehend die Arme nach George aus. »Du brauchst ihn doch nicht mehr!« brüllte er. »Du hast doch ‘ne andere Pussi gefunden!« Robby sprang wieder auf die Füße, als Jen hereinkam, immer noch in Oberteil und Höschen, und schrill und anhaltend zu schreien begann. Robby stürzte sich auf George, packte ihn an den Schultern und brüllte seinem Vater ins Ohr: »Dad, hör auf! Schau dir an, was du da tust! Denk doch mal drüber … « George schüttelte Robby ab, drehte sich um und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Die Knöchel trafen Robby direkt unterhalb des rechten Auges und schickten ihn wieder auf den Küchenboden. George wandte sich von den anderen ab und versuchte mit beiden Händen, den Kater in die Maschine zu stopfen. Das Tier wehrte sich, krallte und spuckte und brach 257
schließlich in ein langgezogenes, durchdringendes Gejaule aus. Karen und Jen schrien immer noch. Keiner von ihnen bemerkte, wie die Haustür sich öffnete, aber die donnernde Stimme überhörten sie nicht. »George Pritchard!« Das Geschrei verstummte augenblicklich. Vier Köpfe fuhren herum zu Pastor Quillerman, der sich in der Küchentür aufgebaut hatte. Niemand rührte sich. Pastor Quillerman ging quer durch den Raum, stellte die Küchenmaschine aus und funkelte George wütend an. »Ich glaube«, sagte er, und seine Stimme klang wie ein entferntes Donnergrollen, »wir müssen miteinander reden.«
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18 IN VERSUCHUNG Seit einer Weile schon war es vereinzelten Sonnenstrahlen an diesem Morgen gelungen, sich einen Weg durch die Wolkendecke zu bahnen. Einen Moment lang hatte es sogar den Anschein gehabt, als wollten die Wolken aufbrechen und einem blauen Himmel Platz machen, aber schon bald wurde das Sonnenlicht verschluckt und der Himmel nahm wieder die Gestalt einer niedrigen Zimmerdecke aus verwittertem, schmutzigem Stahl an. Die Straße wimmelte von Reportern aller lokalen Fernsehstationen und Zeitungen. Auch aus Sacramento und San Francisco waren Leute gekommen, und sogar die Fernsehshow A Current Affair hatte einen Reporter geschickt. Obwohl sie sich alle wegen der Garrys in dieser Gegend aufhielten, spielte sich vor deren Haus nicht viel ab. Ein Polizeibeamter war früh am Morgen mit einem Mann und einer Frau eingetroffen – wahrscheinlich Angehörige, denn sie sahen gramgebeugt aus, wollten aber mit keinem der Reporter sprechen – und hatte sie durch das Anwesen geführt. Dann waren sie wieder gegangen und hatten das Haus leer und dunkel zurückgelassen. Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich dagegen auf das Haus der Pritchards gerichtet. Jeder wußte, daß es das Heim von Robby Pritchard war, der das Gemetzel am Ende der Straße entdeckt hatte und der außerdem der beste Freund des Mörders war. Aber es gab noch einen anderen Grund … Da gab es das klaffende Loch in der Hauswand, das Mr. Pritchard an jenem Morgen ebenso unerklärlich vorgekommen war wie allen anderen. Und die drei Worte, die in dem Kreis auf der Haustür standen. Das war doch wenigstens ein Hinweis. Was für eine Sprache mochte das sein? Oder waren 259
es Namen? Und was für eine Bedeutung hatte es, daß sie auf der Haustür standen? Wer war dieser Mann, der vorhin in das Haus gehumpelt war, ohne anzuklopfen? Und was hatte es mit dem Geschrei auf sich, das sie vor einer Weile gehört hatten? Auch wenn es keiner von ihnen laut sagte, sie alle vermuteten einen Zusammenhang zwischen den Pritchards und den Morden. Vielleicht hatten diese Morde mit einem Kult zu tun, oder die beiden Jungen waren Teufelsanbeter? Was auch immer es sein mochte, irgend etwas gab es da, das war mal sicher, und keiner von ihnen würde hier wieder weggehen, bevor nicht alle Fragen beantwortet waren. Sie hatten ihre Autos und Lieferwagen ein Stück die Straße hinaufgefahren und vorm Haus der Pritchards geparkt, wo sie jetzt darauf warteten, daß jemand herauskommen und mit ihnen reden würde, darauf warteten, daß sich endlich etwas tat, irgend etwas. Als die Haustür sich öffnete, stürzten sie alle nach vorn. Es war wieder dieser Mann. Er kam herunter auf den Gehsteig und winkte ihnen zu, lächelte sogar, als sie auf ihn zuliefen. Noch bevor das Gewitter der Fragen auf ihn herunterprasseln konnte, begann er zu sprechen: »Ich würde Ihnen allen gerne etwas sagen, wenn ich darf. Es dauert nicht lange. Aber ich kann Ihnen versichern, daß es nicht für die Nachrichten taugt, deshalb können sie die Mikrofone und Kameras ruhig abschalten.« Sie sagten nichts, warteten einfach darauf, daß er weiterreden würde. »Ich bin Jeremy Quillerman, der Gemeindepastor der Pritchards. Und ich brauche wohl nicht zu betonen, daß sie sehr erregt über das sind, was ihren Freunden zugestoßen ist. Die ganze Nachbarschaft trauert heute. Ich möchte Sie bitten, daran zu denken. Ich weiß, daß es Ihr Job ist, über sensationelle Ereignisse zu berichten, aber … ich fürchte, hier handelt es sich nicht um sensationelle Ereignisse. Mit dem Geschmiere an 260
der Haustür hat es nichts weiter auf sich, und das häßliche Loch in der Wand ist bei einem Zimmermann sicher in besseren Händen als bei Zeitungsreportern. Also bitte, liebe Leute … solange es hier nichts zu sehen gibt, solltet ihr euch an eure Schreibtische zurückziehen und eure Reportagen schreiben. Die Leute hier haben einen großen Verlust und einen Schock erlitten. Sie sind momentan nicht in der Lage, eure Fragen zu beantworten.« Er lächelte wieder, nickte noch einmal entschlossen und fügte hinzu: »Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Damit drehte er sich um und ging zurück zum Haus. Die Reporter folgten ihm und schossen ihre Fragen wie Gewehrkugeln ab, jede Frage noch lauter als die vorhergehende, damit sie auch nicht überhört werden konnte. Er verlangsamte seinen hinkenden Schritt nicht einmal, ging wieder ins Haus, zog die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Sie murmelten verärgert miteinander, während sie sich umdrehten und zu ihren Autos und Lieferwagen zurückgingen… Während Pastor Quillerman draußen mit den Leuten redete, hatte sich niemand von seinem Platz bewegt. George saß am Tisch im Eßzimmer, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen abgeschirmt gegen das Licht, das trübe durch die gläserne Schiebetür neben ihm fiel. Karen lehnte gegen die Stirnseite der Küchentheke. Sie hatte Monroe auf dem Arm, streichelte den verstörten Kater und murmelte dabei leise Trostworte. Robby und Jen standen schweigend im Wohnzimmer und starrten hinaus zu den Presseleuten. Kurz zuvor hatte Pastor Quillerman der Familie alles erklärt, was Robby bereits über Lorelle Dupree wußte, und noch einmal hatte es Robby erstaunt, daß dem Pastor all das klar war, was Ronald Prosky ihm erzählt hatte. Quillerman schien 261
das Ganze völlig gelassen hinzunehmen, als würde so etwas jeden Tag passieren … aber das war natürlich nicht so … das konnte nicht so sein … und trotzdem wurde Robby das Gefühl nicht los, daß es häufiger passierte, als er sich vorstellen konnte, daß mehr Menschen von Lorelle Dupree wußten, als ihm das möglich schien … vielleicht sogar Menschen, die er kannte, Freunde, Verwandte … Menschen wie Pastor Quillerman. Was hatte Robby noch in einem dieser Bücher gelesen? Etwas über den moralischen Verfall dieser Welt, der es einem Sukkubus erlaubte, ein relativ normales, unauffälliges Leben zu führen … und die Legende wollte wissen, daß Lilith seit damals bis zu hundert Kindern pro Stunde das Leben schenkte … und wieviele Stunden waren seither vergangen? Plötzlich hatte Robby das Gefühl, einem gewaltigen, schrecklichen Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein, einem Geheimnis, das ihm bisher verschlossen war, wie so vielen anderen Menschen, einem Geheimnis, das niemals durch die Nachrichten gegangen war. Und im Angesicht dessen fühlte er sich auf einmal sehr klein und sehr verletzlich. Als Quillerman den Weg heraufkam, flüsterte Robby seiner Schwester zu: »Ich hab ihm alles erzählt, weißt du.« Jens Kopf fuhr zu ihm herum. »Du meinst … über uns? Al … les?« »Alles.« Quillerman kam herein und drängte Jen und Robby, ihm in die Küche zu folgen. »Ich hab mit ihnen gesprochen«, sagte er, »aber ich bezweifle, daß es etwas nützt. Wenn diese Presseleute erst einmal eine Geschichte gerochen haben, dann sind sie schlimmer als Kakerlaken. Man wird sie nicht wieder los. Wenn einer geht, sind gleich drei da, die ihn ersetzen. Also werden wir es wohl vor ihren Augen machen müssen.« Bis zu dem Moment hatte Quillerman praktisch keine 262
Reaktionen von der Familie erhalten. Es gab ein paar einsilbige Bemerkungen, ein paar merkwürdige verzogene Mienen, aber die meiste Zeit über waren sie seinem Blick ausgewichen und hatte geschwiegen. Doch jetzt: »Was … was müssen wir vor ihren Augen machen?« fragte George vom Tisch herüber und hob den Kopf ein wenig. Sein Gesicht wirkte bleiern; zwischen den Augen und entlang der Wangenknochen hing die Haut schlaff herunter. »Uns mit dem Problem auseinandersetzen, über das wir vorhin geredet haben«, erwiderte Pastor Quillerman. George erhob sich von seinem Stuhl. »Nun, wir haben eigentlich nicht geredet. Sie haben geredet. Und wir haben dieser, ahm … Ihrer Geschichte zugehört. Und jetzt sollten Sie vielleicht besser gehen.« Quillerman ließ den Blick von George über Jen, Karen und Robby wieder zu George zurückschweifen. »Wißt ihr«, sagte er leise, »ihr seid während all der Jahre zu mir in die Kirche gekommen, und nie bin ich hier in eurem Haus gewesen. Und auch in mein Haus hab ich euch nie eingeladen. Ich kenne Pfarrer in anderen Gemeinden, die kennen jedes einzelne ihrer Gemeindemitglieder ganz genau. Sie treffen regelmäßig mit ihnen zusammen. Sie behandeln sie als Mitglieder einer großen Familie. Leider bin ich nicht aus diesem Holz geschnitzt. Von allen meinen Fehlern ist es wahrscheinlich der größte, daß ich zu großen Abstand zu den Mitgliedern meiner Gemeinde halte. Ich bin ein introvertierter Mensch. Das war ich schon immer. Ich bete um Besserung, aber es fällt mir schwer, meinen Teil zu dieser Besserung beizutragen, und das macht mich sehr traurig. Denn wenn ich meiner Gemeinde näher gestanden hätte, dann hätte ich das alles vielleicht rechtzeitig kommen sehen und wäre in der Lage gewesen, euch da rauszuhalten. Ich hätte es gesehen, das kann ich euch versichern. Denn ich habe es früher schon gesehen. Und das, was hier passiert, Mr. Pritchard, das kann man nicht einfach verdrängen, Es wird 263
euch alle mit Haut und Haaren verschlingen, wenn ihr es zulaßt. Ihr habt es bereits in eure Häuser gelassen, und dann in eure Köpfe, und der nächste Schritt ist … « »Pastor«, sagte Karen, die immer noch Monroe in ihren Armen wiegte, »wir wissen Ihre Sorge um uns zu schätzen, aber die Vorstellung, daß Lorelle Dupree ein … ein Dämon sein könnte, ist … « »Absurd? Verrückt? Nun denn, wenn diese Idee so verrückt ist, warum beten wir dann nicht einfach? Wir alle? Zusammen? Ihr seid doch Christen. Ihr kommt beinahe jede Woche in die Kirche. Und dort betet ihr auch. Warum beugen wir jetzt nicht alle in Demut unsere Häupter und … « »Verschwinden Sie endlich aus meinem Haus!« brüllte George und trat ein paar Schritte auf Pastor Quillerman zu. Tödliche Stille. Der Pastor starrte ihn an, ein Ausdruck der Befriedigung legte sich auf sein Gesicht, und dann flüsterte er: »Sehen Sie? Allein der Gedanke an ein Gebet stößt Sie ab. Stimmt’s nicht?« Georges geballte Fäuste zitterten vor Erregung. Er öffnete den Mund, um wieder loszubrüllen, aber Robby kam ihm zuvor: »Dad, du weißt doch genau, daß er recht hat! Sie hat ein Loch in die Wand deines Schlafzimmers gerissen. Sie kam durch die Außenmauer geflogen, ich hab’s gesehen! Und sie hat mich gejagt! Sie ist kein Mensch, Dad, und das weißt du.« Er schaute jetzt auch Karen und Jen an. »Wir alle wissen es. Also, warum gestehen wir es uns nicht ein und verbieten ihr, weiter so mit uns umzuspringen?« George starrte seinen Sohn lange an, dann ging er langsam zurück, ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und stützte sich auf den Eßtisch. Seine Arme begannen zu zittern, langsam zuerst, aber als er zu sprechen versuchte, wurde das Zittern heftiger. »N-nun, w-waha-was soll’n w-wir, äh … w-was müssen w264
wir … Ich meine, w-was … « Er schwieg ganz plötzlich; der Schüttelfrost in seinen Armen ließ den ganzen Tisch erzittern. Mit einer Hand schlug er sich auf den Mund, schloß fest die Augen und preßte die Hände kräftig auf die Tischplatte, damit sie endlich zu zittern aufhörten. So blieb er eine Weile sitzen, und die anderen starrten ihn an. Schließlich zog er die Hand zurück und murmelte: »Was haben wir getan?« Um dann schnell hinzuzufügen: »I-ich meine, nein, nein, ich meine, was sollen wir tun?« Pastor Quillerman wandte sich an Karen, und mit einer leichten Neigung des Kopfes und einem Blick aus seinen Augen fragte er sie, ob sie zustimme. Sie wich seinem Blick aus, rieb ihre Wange gegen Monroes Kopf und machte dann eine Bewegung, die man als billigendes Schulterzucken auffassen konnte. Jen zog die Stirn in Falten und nickte langsam. Quillerman wußte ja, wie Robby sich fühlte, deshalb ersparte er sich die Mühe, ihn zu fragen. »Also gut«, sagte der Pastor. »Ihr braucht zwei Dinge, wenn ihr dagegen ankämpfen wollt. Ihr braucht Gottes Hilfe, und ihr braucht einander. Deshalb ist es wichtig, daß ihr sofort alle Feindseligkeit vergeßt, die unter euch geherrscht haben mag. Werft sie über Bord. Das alte Sprichwort Vergeben und vergessen funktioniert unter allen möglichen Umständen, aber hier ist es nicht nur empfehlenswert, jetzt ist es absolut unerläßlich, es zu beherzigen, wenn ihr diese Gefahr besiegen wollt. Sie wird alle Register ziehen, um euch wieder auseinander zu bringen. Ihr habt euch ihr geöffnet, und jetzt weiß sie von euch alles, was sie braucht, um ihre Arbeit in diesem Haus zu vollenden.« George fragte mit heiserer Stimme: »Und was ist das für eine Arbeit?« »Nun, ganz offensichtlich ist sie bei den Garrys damit fertig geworden. Und so, wie es hier heute morgen aussah, als ich 265
eintraf, hätte es auch hier nicht mehr lange gedauert. Mord und Selbstmord, das ist die Handschrift eines Sukkubus. Wenn man aufmerksam die Nachrichten verfolgt, dann stellt man fest, daß sie dieser Tage außerordentlich fleißig sind. Sie wollen dafür Sorge tragen, daß sich die Menschen am Jüngsten Tag auf ihrer Seite des Gerichtssaals drängeln.« »Also, was müssen wir tun?« fragte Robby. »Zuerst einmal sollten wir uns der Unterstützung jedes Menschen in dieser Straße versichern, der von Lorelle Dupree verführt worden ist. Das wird nicht leicht, vor allem nicht bei den vielen Reportern da draußen, aber wir werden unser Bestes hin.« Er wandte sich an Robby. »Oder?« Robby nickte. »Ich muß in die Kirche hinüber, um etwas von dort zu holen«, sagte Quillerman. »Es wird nicht lange dauern, aber solltet ihr mich trotzdem in der Zwischenzeit brauchen, dann könnt ihr versuchen, mich telefonisch zu erreichen. Wenn ich mich nicht melde, bin ich bereits wieder auf dem Weg hierher.« »Was wollen Sie holen?« fragte Robby. »Etwas, das es euch erleichtern wird, mit euren Nachbarn zu reden. So, und von jetzt an … habt ihr nur noch eure Gebete und euch. Vergeßt das nicht. Und auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall dürft ihr diese Kreatur noch einmal in euer Haus lassen. Und was weitaus wichtiger ist: Laßt sie nicht mehr in eure Seelen.« Robby brachte Pastor Quillerman zur Tür, wo der Mann sich zu ihm umdrehte und ihm zuflüsterte: »Du scheinst von euch allen am besten gewappnet zu sein. Hilf ihnen. Sie werden es brauchen. Ich bin bald zurück.« Er verließ das Haus. Robby drehte sich um und ging zurück zur Küche. Je näher er kam, desto schlimmer wurde seine Angst. Was sollte er jetzt tun? Was konnte er ihnen sagen?« 266
Karen war nicht mehr da. George saß immer noch am Tisch. Als Robby die Küche betrat, wollte Jen hinausgehen. »Wo willst du hin?« flüsterte Robby ihr zu. »In mein Zimmer. Ich … äh … ich glaube, ich lege mich ein bißchen hin.« Sie sah müde aus und völlig verwirrt, als sie die Küche verließ. Robby ging zum Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben seinen Vater. »Geht’s dir besser?« fragte er. George ließ sich lange Zeit mit seiner Antwort. »Ja. Ja, mein Sohn, es geht mir besser.« »Wo ist Mom hingegangen?« »Weiß ich nicht.« Robby richtete sich gerade auf, bevor er weitersprach; er nahm sich zusammen, weil er wußte, daß er in Gefahr war, einen Fehler zu machen. »Meinst du nicht, daß du … Ich meine, daß du mit ihr reden solltest?« George rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, massierte sich langsam die Augen und stand dann auf. »Vielleicht. Vielleicht tu ich’s auch. Aber jetzt werde ich erstmal was gegen das Loch in der Schlafzimmerwand machen.« Während er langsam wegging, murmelte er vor sich hin. »Muß einen Zimmermann anrufen … Vielleicht sollte ich die Persenning aus der Garage holen … und es erstmal damit abdecken … Robby war allein … Draußen waren alle Reporter wieder abgezogen, bis auf die Leute von A Current Affair und Kanal 24, und die mußten langsam Deckung nehmen, weil der Himmel noch dunkler geworden war und es immer mehr nach Regen aussah. Ein dünner, niedriger Nebel war zwischen die Häuser des Viertels gekrochen. Eigentlich war er gar nicht gekrochen, er war plötzlich da; in Sekundenschnelle aufgetaucht wie aus dem Nichts, schwebte er über dem Boden, sickerte in die niedrigen 267
Büsche, schmiegte sich um die Hausecken und leckte zärtlich an den Mauern. Gleich als der Nebel hereinschwebte, bellten entlang der Straße ein paar Hunde, und eine Katze versuchte ziellos zu fliehen – von einem Vorgarten in den anderen, von einer Straßenseite auf die andere –, bevor sie sich auf einen Baum flüchtete, als könnte der Nebel ihr gefährlich werden. Im Gegensatz zu den Tieren schenkten die Menschen ihm keinerlei Beachtung; er kam ihnen unter diesem dunklen, kalten Himmel absolut normal vor. Und weil keiner auf den Nebel achtete, fiel es auch niemandem auf, daß er sich direkt unter Jen Pritchards Fenster zu einem rotierenden Strudel sammelte … Jen zog den Stuhl von ihrem Frisiertisch, drehte ihn um, setzte sich rittlings darauf und legte das Kinn auf ihre Handgelenke. Sie hatte ein Paket Pop-Rocks aufgerissen, kleine, kieselartige Bonbons, die in ihrem Mund pufften und knallten. Es war ein Gefühl, als hätte sie den ganzen Kopf voller Pop-Rocks; ihre Gedanken explodierten, bevor sie fertig gedacht waren, und schon hatte sich ein neuer gebildet, der ebenso schnell wieder verpuffte, während bereits der nächste Konturen anzunehmen begann. In was waren sie da geraten? War es bereits zu spät, um wieder auszusteigen? Wenn sie an die Dinge dachte, die sie getan hatte, wurde sie fast krank vor Selbsthaß, als sei das plötzliche Erscheinen Pastor Quillermans ein Glas Eiswasser mitten ins Gesicht gewesen, das es ihr ermöglichte, die Dinge jetzt aus erstaunten, wacheren Augen zu betrachten. Sie wäre am liebsten zu dem Tag vor Lorelle Duprees Ankunft zurückgekehrt und hätte etwas getan, um das alles ungeschehen zu machen, was seither passiert war. Aber was hätte sie tun können? Es mußte doch etwas geben, das dazu 268
beitrug, die Verbindung zwischen ihr, ihrem Bruder und ihren Eltern zu verstärken, etwas, das sie in die Lage versetzen würde, sich von Lorelle abzuwenden … etwas … Sie warf die halbleere Tüte Pop-Rocks auf den Frisiertisch, stieß beim Aufstehen beinahe den Stuhl um, und … … stolperte mit einem erstickten Laut rückwärts. Beinahe hätte sie ein paar der kleinen Bonbons unzerkaut verschluckt, als sie sich langsam wieder in den Stuhl sinken ließ, denn … … Lorelle spähte durch das Schlafzimmerfenster zu ihr herüber. Sie lächelte Jen an, hob sogar eine Hand und winkte ihr freundlich zu. »Hallo, Jen«, sagte sie, wobei ihre Stimme durch das Glas des Fensters gedämpft blieb. »Ist etwas nicht in Ordnung? Ich hab die vielen Presseleute gesehen, die sich für euer Haus interessieren.« Jen warf die Arme um ihren Oberkörper. Auf einmal fror es sie erbärmlich. »S-Sie w-wissen doch genau, was nicht in Ordnung ist«, stammelte sie. Lorelle legte die Stirn in Falten. »O-der etw-wa … nicht?« »Ich fürchte, nein. Außer dem, was am anderen Ende der Straße passiert ist – diese armen Menschen, ist das nicht schrecklich? –, nein, ich weiß nicht, was nicht in Ordnung sein sollte.« Jen runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Könnte es sein, daß Robby sich getäuscht hatte? Vielleicht sogar Pastor Quillerman? Könnte es sein, daß sie es doch bloß mit einer etwas verrückten Frau zu tun hatten, die in das Haus gegenüber eingezogen war? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam ihr das, was sie mit Robby gemacht hatte, nur noch wie ein dunkler, langsam verblassender Traum vor. War sie wirklich halbnackt durch das Haus gelaufen? Hatte sie heute morgen das steife Glied ihres Vaters tatsächlich berührt? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weiter weg schien ihr das 269
alles zu sein, desto größer wurden ihre Zweifel an des Pastors und Robbys Behauptungen, daß Lorelle so eine Art Dämon sei. Aber sie war sich noch immer nicht ganz sicher. »Ich habe an die Tür geklopft«, sagte Lorelle, »aber mir hat niemand aufgemacht. Ich habe mich schon gefragt, ob etwas nicht stimmt. Übrigens, dieses Ding da an eurer Tür, dieser Kreis mit den drei Namen, was hat der zu bedeuten?« »Das … wissen Sie nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Es sieht nicht besonders schön aus, wenn du meine Meinung hören willst. Dir solltest es wieder abwaschen.« Vielleicht wäre ihr das recht, dachte Jen. »Warum kommst du nicht an die Haustür, Jen? Dort könnten wir uns besser unterhalten.« »Nein … ich hab zu tun.« »Den Eindruck machst du aber gar nicht. Komm schon, ich hol dich an der Haustür ab. Dann können wir mit meinen Hunden spazierengehen.« »Ich kann nicht.« »Aber sicher kannst du.« Sie lächelte. »I-ich glaube nicht.« Ihr Lächeln schmolz zusammen. »Warum nicht, Jen? Ist es dir vielleicht … peinlich? Ist es dir peinlich, was zwischen Robby und dir passiert ist?« Jen schnappte nach Luft. Wirklich … es ist passiert … es ist wirklich passiert … »Das muß dir nicht peinlich sein, Jen. Dir hat es doch ganz sicher Spaß gemacht … oder? Du wirst wieder Spaß dran haben, weißt du? Es wird wieder passieren, wenn du mich an der Haustür abholst. Wir wischen einfach diese dummen Namen ab, und dann kommst du zusammen mit Robby zu mir herüber … «, das Lächeln kehrte zurück, » … und dort spielt ihr ein bißchen.« Jen erschauerte. Sie erhob sich, trat hinter den Stuhl und 270
umklammerte seine Rückenlehne so fest, daß das Weiße an ihren Knöcheln hervortrat. »Würde dir das nicht gefallen, Jen?« fragte Lorelle und schob ihr Gesicht dichter an das Fenster. Zitternd schloß Jen die Augen und begann zu beten, wie Pastor Quillerman es ihr gesagt hatte … Die Heftklammer-Pistole gab laute, knallende Geräusche von sich, als George das Loch in seiner Wand mit einer dunkelgrünen Persenning verschloß. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt und arbeitete langsam; vor jedem Schuß aus der Pistole zog er die Plane straff. Bevor er mit der Arbeit anfing, hatte er gegen die Tür des Gästezimmers geklopft, weil er annahm, daß Karen sich dorthin zurückgezogen hatte. Erst beim zweiten Klopfen hatte er eine Antwort erhalten. »Ja?« »Äh … ist alles in Ordnung mit dir, Karen?« hatte er sie gefragt. Ein langes Schweigen, dann: »Ja. Ich möchte ein bißchen allein sein.« Er hatte noch eine Zeitlang dort gestanden und auf den Türknopf gestarrt, immer in der Versuchung, einfach hineinzugehen und mit ihr zu reden, aber es hatte sich nicht so angehört, als wenn ihr nach Reden zumute wäre. Für einen kurzen Augenblick machte ihn das wütend. Er preßte die Kiefer aufeinander und hätte am liebsten die Tür eingeschlagen, ja, er war sehr wütend und fühlte sich stark genug, die Tür einzuschlagen als wäre sie aus Pappe, in dieses Zimmer zu gehen und Karen seine Faust ins Gesicht zu schlagen, aber … … er hatte sich noch einmal beherrschen können, war einen Schritt vor der Tür zurückgetreten, hatte die Fäuste geballt und ein paarmal tief durchgeatmet. Dann war er ins Schlafzimmer 271
gegangen und hatte sich an die Arbeit gemacht. Beim nächsten Schuß gab die Pistole nur ein hohles Klacken von sich. Sie war leer. Er ließ die Plane los, bückte sich nach der Schachtel mit Heftklammern auf dem Boden und nahm einen frischen Riegel heraus. Nachdem er die Pistole wieder geladen hatte, richtete er sich auf, langte nach der schlaff herunterhängenden Plane, aber … … dann riß er seine Hand zurück, als hätte jemand hineingebissen, ließ die Heftklammer-Pistole fallen und stieß einen heiseren Schreckenslaut aus, denn … … Lorelle schaute ihn durch die Öffnung an, die von der Plane noch freigelassen wurde, und säuselte ihm zu: »George, ich könnte einen kräftigen Mann gebrauchen.« Sie trug ein schwarzes, hautenges Lederoberteil mit kugelrunden Löchern über den Brüsten, aus denen ihre steifen, dunklen Nippel hervorragten. Über den schwarzen Netzstrümpfen hatte sie kein Höschen an, und zwischen den Strumpfhaltern kräuselte sich ein Büschel rötlicher Haare. »Möchtest du nicht für eine Weile mein starker Mann sein, George?« Auf einmal war sein Mund mit feuchter Baumwolle vollgestopft. »Laß mich in Ruhe«, keuchte er. »Das ist aber gar nicht nett, George. Nach all den schönen Stunden, die wir zusammen verbracht haben. Was hältst du davon, wenn wir dein Lieblingsspielchen spielen? Du nimmst mich von hinten, während ich meine Muschi mit dem Vibrator bediene. Wie hört sich das an? Na?« »N-n-nein … nein. Nein.« »Nein? Ich bin schockiert, George. Und verletzt. Warum so plötzlich dieses Nein? Hast du …? Ah, ja, ich wette, du hast eine andere gefunden, die all die schönen Sachen mit dir macht. Wer könnte das sein? Hmmm … Karen? Nein, nicht Karen. Die mag keine Schwänze. Das hat sie mir erzählt, George. Sie findet Schwänze häßlich. Sogar deinen. Klobig, steif und stummelig findet sie ihn.« Sie rümpfte die Nase und 272
tat so, als müsse sie sich schütteln. »Oh, nein. Karen mag das überhaupt nicht. Sie hat’s mir selbst gesagt. Nein, Karen bevorzugt … andere Dinge.« George begann sich unwohl zu fühlen, teils wegen dem, was Lorelle zu ihm sagte, teils aber auch deshalb, weil er, trotz ihrer Worte und trotz allem, was er über sie wußte – oder wenigstens zu wissen glaubte –, eine Erektion bekam. »Also, wenn es nicht Karen ist, wen hast du dann als Ersatz für mich gefunden? Ist es vielleicht … Jen? Sie ist jung, aber sie hat … viel Phantasie. Vielleicht reichte ihr Robby nicht mehr. Vater ist schließlich immer noch der Beste, oder?« Sie lachte, während sie sich eine Fingerspitze mit der Zunge befeuchtete, damit eine ihrer Brustwarzen umkreiste und sie dann zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. »Aber irgendwie kann ich es nicht glauben, George. Ich glaube, daß du immer noch mich willst. Du weißt, daß es dir niemand so besorgt wie ich. Du weißt es. Und der da unten, der so wacker und aufrecht unter deinem Bademantel steht, der weiß es auch.« Sie lachte wieder, leckte sich nochmal den Finger und begrub ihn für einen Augenblick in dem rötlichen Büschel zwischen ihren Beinen. Dann hob sie die Hand zum Gesicht und rieb sich den feucht schimmernden Finger unter der Nase hin und her. »Mmmhh, George«, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Magst du mal probieren? Das ist Nektar, George … Nektar … sauge an meinem Finger, George … « Seine Lungen waren leer, und er fühlte sich weich in den Knien. Das Pochen zwischen den Beinen wurde immer beharrlicher, bis es sogar seinen Herzschlag übertönte und er drauf und dran war, einen Schritt nach vorne zu tun, um diesen Finger in den Mund zu saugen, aber … … dann knurrte er hinter zusammengebissenen Zähnen: »Nein, ich tu’s nicht, nicht noch einmal, nein!« Er klaubte die Heftklammer-Pistole vom Boden auf, klatschte den losen Teil der Plane gegen die Wand und machte sich entschlossen und 273
schnell daran, die Heftklammern in die Wand zu schießen, während … … Lorelle, direkt davor, ihn weiter mit sanfter Stimme lockte: »Leck ihn doch ab, George … « »Oh, mein Gott, nein«, krächzte George, während er weiterarbeitete, »nein, befreie mich von ihr, wer immer sie sein mag, wer immer es sein mag, bitte … « » … komm heraus und besorg es mir, George, komm … « »Jesus, befreie mich von ihr, laß alles wieder so sein wie früher, bitte, laß uns wieder eine Familie sein, bitte … « » … steck deinen Schwanz hinein, George, laß ihn einfach hineingleiten … « »Oh, Herr«, schluchzte er, »laß sie verschwinden, damit alles wieder gut werden kann … bitte … bitte … « Lorelle begann zu kichern, als sie ihre Fingernägel ganz sanft und langsam über die Rückseite der Plastikplane zog … Karen lag im Gästezimmer auf dem Bett und streichelte Monroe. Die Tür war geschlossen und verriegelt. Der Kater hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt und schnurrte wie ein Motor im Leerlauf, als wäre er nicht vor einer Weile erst mit knapper Not dem Tod entgangen. »Was soll ich nur tun, Monroe?« flüsterte Karen. Der Kater rührte sich nicht. »Was … soll ich bloß … « Es klopfte dreimal kurz an die Fensterscheibe. Karen riß den Kopf zur Seite und starrte auf das rechteckige Fenster. Das weiße Rouleau war heruntergezogen und die hellblauen Vorhänge waren halb geschlossen. Nochmals drei kurze, harte Schläge. Sie spürte ihr Herz bis in die Fingerspitzen. Monroe protestierte mit einem halbherzigen Miauen, als Karen sich aufsetzte und ihn von ihrem Schoß hob. Sie schwang die Beine vom Bett, stand auf und starrte das Fenster 274
an. Noch ein Klopfen, etwas leiser diesmal. Undeutlich konnte Karen durch das weiße Rouleau eine dunkle Silhouette erkennen. Sie trat einen Schritt vor, streckte ihre zitternde Hand aus – beinahe hätte sie sie zurückgerissen und wäre aus dem Zimmer gelaufen – und zog an dem Rouleau. Mit lautem Geklapper schoß es nach oben, und … … Karen stolperte nach hinten und keuchte atemlos: »Lorelle!« Bis auf einen hauchdünnen schwarzen Umhang, den ein leichter Wind anmutig um ihre Gestalt flattern ließ, war sie nackt. Ihre Hände lagen zwischen ihren Brüsten, wo sie den Umhang zusammenhielten. Sie muß doch frieren da draußen, dachte Karen. Lorelles Stimme wurde durch die Fensterscheibe gedämpft, aber Karen konnte sie trotzdem verstehen. »Ich dachte, du wolltest rüberkommen, Karen«, sagte sie. »Nun, ich … ich … « »Ich habe auf dich gewartet.« Karen holte tief Luft und schloß die Augen, dann sagte sie mit zitternder Stimme: »Es tut mir leid, aber ich m-mußte, ahm, ich mußte bei m-meiner Familie b-bleiben.« »Warum?« Karen riß erschrocken die Augen auf. »W-wie?« »Was hält dich bei deiner Familie, Karen? Die Kinder sind alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Robby ist ja nicht einmal dein Kind. Und dein Ehemann … nun, mit ihm wird es doch nicht mehr so sein wie früher, oder? Und das, was ich mit dir mache, wird er nie mit dir machen.« »Bitte, hör auf«, sagte Karen, drehte dem Fenster den Rücken zu und entfernte sich quer durch das Zimmer. »Niemals wird er dich so glücklich machen, wie du dich bei mir gefühlt hast.« »Hör auf!« Karen legte das Gesicht in die Handflächen und 275
widerstand dem Verlangen, sich umzudrehen und Lorelle anzuschauen, sie mit den Augen in sich hineinzutrinken. »Bitte, mach das nicht mit mir«, flüsterte sie. »Aber ich mache doch gar nichts mit dir, Karen … Ich möchte es nur gerne. Schau mal her.« Karen rührte sich nicht. »Bitte, Karen, schau mal her.« Sie drehte sich vorsichtig um. Lorelle hatte den Umhang von ihrer linken Brust gezogen und fingerte an dem kleinen silbernen Ohrring herum, der von ihrer durchstochenen Brustwarze hing. »Ich habe ihn für dich angelegt«, sagte sie, legte die Hand auf das Glas und kam näher heran, immer näher, bis der Ohrring mit einem silberhellen Geräusch gegen die Scheibe stieß und ihre Brüste sich flach gegen das Glas preßten. »Bitte … geh weg«, flehte Karen. »Du willst doch gar nicht, daß ich gehe. Du willst, daß ich dich berühre … « »Nein, bitte … « » … und daß ich dich lecke … « » … geh … weg … « » … aber ich kann das alles nicht tun, wenn du nicht zu mir kommst, Karen. Verstehst du mich?« Karen schloß die Augen. »Komm rüber zu mir, Karen … komm zu mir … « Karen begrub das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen … Robby hatte den Tisch im Eßzimmer noch nicht verlassen. Er saß dort, den Rücken der gläsernen Schiebetür zugewandt, und merkte nichts von dem Nebel, der sich über den Rasen hinterm Haus legte. Er hatte an diesem Morgen noch nichts gegessen und spürte bereits das erste Stechen des beginnenden Hungers, aber er konnte sich nicht aufraffen, etwas zu holen. Noch nicht. 276
Irgendwie erschien es ihm unter den gegebenen Umständen nicht angebracht. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit Pastor Quillerman das Haus verlassen hatte, aber er wünschte, der Kirchenmann möge bald zurückkehren. Wie lange würde es noch dauern, bis Lorelle wieder versuchte, sie – und andere – in ihr Haus zu locken? Wie weit würde sie gehen bei diesem Versuch? Und was würde sie mit ihm machen? Robby hatte sie so gesehen, wie sie wirklich war; er wußte die Wahrheit über sie, und er war – im Gegensatz zu Ronald Prosky – noch am Leben und konnte diese Wahrheit an andere weitergeben. Was würde sie … »Robby?« Er sprang so plötzlich auf, daß er beinahe nach vorne auf den Tisch gekippt wäre. Als er sich umdrehte, erblickte er Lorelle vor der Glastür. Sie stand nackt inmitten eines Nebels, der um ihre Füße schwebte und sich an ihrem Körper nach oben kräuselte, wobei er seine zarten Fühler nach ihren Waden, ihren Hüften und ihrem Rücken ausstreckte. Sie lächelte und sagte: »Bist du froh, mich zu sehen?« Ihre Blicke wanderten langsam an seinem Körper herunter. »Oder ist das eine Wüstenmaus da in deiner Hose?« Er schaute an sich herunter und war ganz erstaunt zu sehen, daß er tatsächlich eine Erektion hatte; wegen seiner Angst war es ihm gar nicht aufgefallen, wie sie gewachsen war. Als er wieder einen Blick auf Lorelle warf, schlängelte sich ihr Zeigefinger gerade durch das Büschel zwischen ihren Beinen. »Komm rüber zu mir, Robby«, sagte sie. »Wir wollen ein bißchen Spaß haben.« Er wollte etwas sagen, aber da er kein Wort hervorbrachte, schüttelte er nur den Kopf. »Warum nicht?« »Sie wissen, warum nicht.« 277
»Ach, komm.« Sie klapperte mit den Fingernägeln gegen die Scheibe. Ihre Haut sah so weich aus. Der bloße Anblick erweckte Erinnerungen – nein, es waren eher körperliche Empfindungen – an all jene Dinge zum Leben, die sie gemacht hatten, füreinander, miteinander … Ihre Fingernägel klapperten, und die Zunge lugte aus dem einen Mundwinkel hervor, während ihre Hand sich noch immer bewegte und sie langsam ein Bein abspreizte. »Komm rüber, Robby. Komm rüber und laß uns zusammen spielen … « Die Augen weit aufgerissen, fuhr Robby herum, legte beide Handflächen auf den Tisch und keuchte: »Lieber Gott, schaff dies hier fort, laß es nicht herein, mach, daß es verschwindet, ich bereue, ich bereue, daß ich ihm zuerst erlegen bin, aber ich werde es nie wieder tun, bitte, bitte schaff es uns vom … « Das Leuchten des bewölkten Himmels über dem Haus wurde plötzlich verschluckt von einem Schatten, der hinter Lorelle aufstieg. Das Klappern ihrer Fingernägel auf der Glasscheibe verlor seinen zärtlichen Charakter, wurde lauter und schärfer, hörte sich jetzt so an, als müßte das Glas jeden Moment darunter zerbersten. Eine bekannte Stimme – schwer, schleimig und unmenschlich – rief ihn: »Robb-iieee!« » … Leib«, fuhr Robby fort, »halte es von meiner Familie und aus unserer Straße fern, laß es verschwinden, mach, daß es …« »Komm zu mir, Robbb-iiieee.« Die Nägel kratzten mit einem schrecklichen, kreischenden Geräusch über das Glas … einem kratzenden Geräusch … » … verschwindet, laß es nicht herein, bitte, lieber Gott, laß es nicht … « »Ich lutsche deinen Schwanz, Robbb-iiee.« » … in unser Haus, bitte, laß es nicht … « 278
»Du kannst doch nicht ewig da drinnen hocken … und wenn du rauskommst … lutsche ich dir den Schwanz bis hinunter zur Wurzel, Roobbb-iiieee.« » … herein, lieber Gott, bitte, laß es nicht … « Robby schwieg, denn plötzlich war das Leuchten von draußen zurückgekehrt. Der Schatten war verschwunden. Und mit ihm das entsetzliche Kratzen gegen die Scheibe. Er drehte sich um. Lorelle war verschwunden. Robby holte tief und zitternd Luft, bevor er auf wackligen Knien den Flur entlangging, um seinem Vater dabei zu helfen, das große Loch in der Schlafzimmerwand zu schließen.
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19 EINE LAUTE STIMME Im trüben Licht des Nachmittags kam ein verbeulter weißer Pritschenwagen mit einem silberfarbenen Camping-Aufbau auf der Ladefläche im Schneckentempo die Deerfield Avenue heraufgetuckert. Auf der Fahrertür stand die Aufschrift: BRÜDERSCHAFT NICHT KONFESSIONSGEBUNDENER CHRISTEN, und oben auf das Führerhaus war ein großer, grauer, glockenförmiger Lautsprecher montiert. Trotz der Tatsache, daß der Wagen sich ungewöhnlich langsam vorwärtsbewegte, fand er keinerlei Beachtung, nicht einmal von George und Robby, die gerade damit beschäftigt waren, den Rasen im Vorgarten von Steinbrocken, Holzstückchen und Glassplittern zu reinigen, die überall verteilt lagen. An manchen Stellen schwebte immer noch dieser Nebel über dem Boden, auch wenn er inzwischen weiter aufgerissen war und ziellos in diese und jene Richtung zu treiben schien. Beide, George und Robby, fanden es seltsam, weil sie noch nie einen solchen Nebel in ihrer Gegend gesehen hatten, aber keiner von ihnen verlor ein Wort darüber; beide hatten sie andere Dinge im Kopf. Sie hatten ohnehin wenig geredet, seit sie herausgekommen waren, um eine zweite Persenning an der Außenwand über dem Fenster anzubringen, aber wenigstens hatten sie hier und da ein Lächeln ausgetauscht und waren mit wesentlich leichterem Herzen herumgelaufen als während der vergangenen Tage. Vor ein paar Minuten war Jen in Jeans und Pullover fröstelnd auf der Veranda erschienen. »Äh, wenn ihr Männer Hunger habt«, hatte sie mit zaghafter Stimme gefragt und war dabei ihren Blicken ausgewichen, »dann könnte ich etwas zum Frühstück machen. Ich meine … ich glaube, es ist schon Mittagszeit, oder? Jedenfalls, Mom liegt, glaub ich, immer 280
noch im Gästezimmer und schläft, und … nun, ich hab Hunger, also … « »Sicher«, hatte George geantwortet. »Mach nur. Das hört sich gut an.« »Irgendwelche besonderen Wünsche?« »Ach, warum überraschst du uns nicht einfach?« hatte George erwidert und ihr mit einer behandschuhten Hand zugewinkt. Und dann hatten er und Robby sich wieder an die Arbeit gemacht und den ganzen Schutt in einen großen grünen Abfalleimer geschaufelt. Keiner von beiden hörte den Motor des Pritschenwagens, zu sehr waren sie mit ihren Gedanken beschäftigt – mit den Gedanken an ihre Familie und daran, was aus ihnen allen werden würde, wie lange es dauern mochte, bis die Wunden wieder geheilt wären und die alte Vertrautheit sich wieder hergestellt hätte … falls überhaupt. Plötzlich ertönte eine tiefe, nachhallende Stimme, die aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien: »Ladies und Gentlemen, hier spricht Pastor Jeremy Quillerman, und ich möchte Sie bitten, mir einen Augenblick zuzuhören.« Jetzt erst bemerkten George und Robby den kleinen Laster. »Was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Ihre ureigensten Interessen.« Nachdem sie verwirrte Blicke ausgetauscht hatten, streiften Robby und George ihre schweren Arbeitshandschuhe ab und gingen quer über den Rasen auf den Pritschenwagen zu. »Meine Freunde«, sagte Pastor Quillerman, und seine Stimme hallte durch die ganze Straße, »ihr seid in großer Gefahr … « Er stoppte seinen Kleinlastwagen und kurbelte das Fenster herunter, als George und Robby sich näherten. »Was tun Sie da?« fragte George mit einer Mischung aus Verblüffung und Ärger. »Ich spreche mit Ihren Nachbarn«, antwortete der Pastor lächelnd. »Ich glaube nicht, daß es klug wäre, von Tür zu Tür 281
zu gehen, denn erstens würde das zu lange dauern, und zweitens wäre es nicht sicher. Denken Sie nur an die Gemütslage in Ihrem eigenen Haus. Die Leute hier sind bis zum Äußersten gereizt. Aber sie müssen hören, was wir wissen. Nur so haben sie eine Chance, ihr zu widerstehen.« George zuckte kurz zusammen, so unangenehm war ihm diese Vorstellung. »Vor all den Presseleuten?« fragte er. Der Pastor schloß die Augen und nickte. »Vor den Presseleuten.« »Aber was ist … wenn jemand die Polizei ruft? Ich meine, Sie stören doch hier die Ruhe und … « »Das ist mir klar, und es kann sein, daß Sie recht haben, aber noch ist die Polizei nicht da, und die Sache muß erledigt werden.« »Woher haben Sie das?« fragte Robby und deutete mit dem Kopf auf das Megaphon auf dem Wagendach. »Es gehört der Kirche. Normalerweise benützen wir es zur Weihnachtszeit. Wir fahren damit durch die Straßen und spielen Weihnachtslieder, während Gemeindemitglieder von Haus zu Haus gehen und um Lebensmittel für die Bedürftigen bitten. Aber dann hat die Stadt ein Gesetz gegen die Benutzung von Lautsprechern verabschiedet, und wir haben den Wagen abgestellt. Bis heute.« »Es ist also illegal«, sagte George. »Lassen Sie das meine Sorge sein. Sorgen Sie sich lieber um Ihre Familie.« Pastor Quillerman kurbelte das Fenster hoch, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. »Nun«, sagte George mit leiser Stimme, während er dem Gefährt mit langem, blassem Gesicht nachschaute, »das soll deine Mutter eigentlich geweckt haben … « Der Nachmittag begann bereite seinen traurigen Abstieg in den Abend, während der Kleinlastwagen die Deerfield Avenue auf 282
und ab fuhr und Pastor Quillerman den Leuten von Lorelle Dupree erzählte, ohne ihren Namen direkt zu nennen. Er sprach mit deutlicher Stimme und drückte sich so präzise wie möglich aus. »Ich glaube, daß ihr alle in großer Gefahr seid«, sagte er, »und ich glaube auch, daß ihr es wißt. Viele von euch haben in letzter Zeit mit einer Frau zu tun gehabt, die in eurer Straße wohnt … « Die Reporter liefen auf Quillermans Gefährt zu, die Kameraleute – die laufenden Kameras an die Schultern gepreßt – in ihrem Schlepptau, aber der Pastor gab ein bißchen mehr Gas und fuhr an ihnen vorbei. Er ließ sich allerhöchstens zu einem kleinen Lächeln hinreißen, während er im Rückspiegel beobachtete, wie sie ihm mit fragenden, enttäuschten Gesichtern nachschauten. Dann hob er wieder das Mikrofon zum Mund und redete weiter. Während er fuhr, huschten seine Blicke in alle Richtungen. Ihm war der Nebel sofort aufgefallen, als er eintraf, aber er hatte nicht die Zeit gehabt, lange darüber nachzudenken. Auch wenn er ihm nicht gefiel. Zum einen verhielt er sich anders als jeder Nebel, den er bisher im Raum Redding gesehen hatte; er schwebte auf seltsame Weise umher, und wenn er sich nicht täuschte, bewegte er sich sogar unabhängig vom Wind. Zum zweiten war er eben durch die halbe Stadt gefahren und hatte nirgendwo auch nur irgendwelchen Dunst gesehen, von solch einem Bodennebel ganz zu schweigen. Der nicht über die Deerfield Avenue hinausreichte. » … vielleicht sind Ihnen ein paar Veränderungen in Ihren Haushalten aufgefallen, seitdem Sie und wohl auch andere Mitglieder Ihrer Familie mit dieser Frau zu tun bekamen«, fuhr er fort. »Sie beginnen, feindselige Gefühle zu entwickeln … Sie geraten schneller in Wut … vielleicht hat Ihre ganze Familie schon sehr heftig und sogar gewalttätig gestritten … « Während seiner Rede erschienen immer mehr bleiche 283
Gesichter in den Fenstern. Eine Haustür öffnete sich, und ein kleiner Junge erschien und betrachtete den Pritschenwagen mit dem gleichen Interesse, mit dem er den Wagen eines Eisverkäufers beobachtet hätte, aber ohne das erwartungsfrohe Lächeln. »Diese Veränderungen«, sagte Quillerman, »diese Gefühle, das alles hat etwas mit eurer Beziehung zu dieser Frau zu tun. Sie fügt euch großen Schaden zu, und sie ist kein – ich wiederhole, sie ist kein – menschliches Wesen. Ich weiß, das hört sich widersinnig an, aber Sie sollten einen Moment darüber nachdenken. Ich bin davon überzeugt, daß Sie ganz tief drinnen, dort, wo alle Gedanken und Wünsche versteckt sind, vor denen Sie sich schützen wollen, daß Sie dort wissen, daß es die Wahrheit ist … « Quillerman fuhr auf und ab, und Augenpaare beobachteten ihn. Der Himmel verdunkelte sich, und der Nebel kroch leise durch die Straße …
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20 WIEDER IN VERSUCHUNG Der Küchenboden knarrte unter Betty LaBiancos beträchtlichem Gewicht, als sie nach dem Becher mit Skippy Erdnußbutter suchte. Wahrscheinlich hatte Ed ihn wieder versteckt. Solche albernen Sachen machte er in letzter Zeit. Normalerweise hätte sie ihn ja gefragt, aber seit einer Weile redeten sie nicht miteinander. Ed schien andere Dinge im Kopf zu haben, aber das war Betty ganz recht so. Schließlich hatte auch sie andere Dinge im Kopf. Dinge wie Lorelle Dupree zum Beispiel. Betty war nicht mehr dieselbe, seitdem Lorelle ihr zum erstenmal ins Ohr gehaucht hatte, sie berührt hatte, wie sie von Ed noch nie berührt worden war. Ed. Was war er doch für ein Idiot. Sie hatte lange genug gebraucht, um es zu kapieren, aber besser zu spät als nie. Seit beinahe dreißig Jahren war sie jetzt mit diesem Hornochsen verheiratet, und da mußte erst eine neue Nachbarin einziehen, um ihr die Augen darüber zu öffnen, daß es verschwendete Jahre gewesen waren. Manchmal – ja, sie mußte es sich eingestehen –, manchmal würde sie ihn am liebsten umbringen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ed hatte sich vor das Sofa gelümmelt und schimpfte fortwährend über die Lautsprecherstimme, die draußen durch den kalten Nachmittag hallte. Betty kauerte sich vor den Küchenschrank und schaute in den untersten Schubladen nach. Wieder kein Glück. Von der hinteren Tür kam ein kühler Luftzug, den sie an ihren nackten Füßen spürte. Der unbestimmte Gedanke, daß man mal was dagegen machen müßte, ging ihr durch den Kopf, während sie einen anderen Schrank öffnete. Sie hatte der Tür den Rücken zugewandt, deshalb sah sie den 285
Nebel nicht, der über die Schwelle kroch, und sie sah auch nicht, wie er aufzusteigen begann und Gestalt annahm. Kein Skippy. Sie schlug die Schranktür zu, richtete sich auf und drehte sich um. »Hallo, Betty«, flüsterte Lorelle. Sie war nackt. Betty schlug sich eine Hand auf ihren enormen Busen und lehnte sich rückwärts gegen den Schrank. »Mein Gott, hast du mich erschreckt. Du … du bist … « Betty schaute sich verwirrt um. »Wie bist du reingekommen … so?« Lorelle ignorierte die Frage, trat einen Schritt vor und legte eine Hand auf Bettys rundliche Wange. »Hörst du die Stimme da draußen?« Betty nickte. »Das ist die Stimme eines Mannes, der mir wehtun will. Er behauptet Dinge über mich, die nicht stimmen … schreckliche Dinge … « Betty riß die Augen weit auf und ihr Mund kräuselte sich zu einem kleinen O, während sie Lorelle traumverloren anstarrte. »Warum?« fragte sie nach einiger Zeit. »Weil er eifersüchtig ist.« Ihre Hand glitt an Bettys fleischigem Nacken herunter … »Er ist eifersüchtig auf das, was wir haben, auf das, was ich dir geben kann.« … zu einer ihrer gewaltigen, schwabbeligen Brüste, die sie jetzt mit den Fingern umspannte, liebkoste, deren Brustwarze sie sanft rieb. »Er will uns das nehmen, was wir haben. Er hält es für böse. Er glaubt, daß es schlecht ist. Aber wir wissen es besser, Betty, wie?« Betty nickte langsam, ihre Augenlider fielen schwer herunter, als Lorelle ihre Hände an Bettys Seiten entlanggleiten ließ, hinweg über die Fettwülste auf ihren Hüften zu den Hinterbacken, die sie jetzt zärtlich, ganz zärtlich mit ihren Fingern massierte. 286
»Er ist jemand, den du kennst, Betty. Du mußt ihm widerstehen, wenn du weiterhin mit mir zusammensein willst. Du mußt allen zeigen, wie sehr er sich irrt. Du mußt dafür sorgen, daß er verschwindet, Betty. Er und die vielen Reporter, Betty. Alle. Hast du verstanden? Du mußt dafür sorgen, daß sie verschwinden.« Betty nickte, während Lorelles Gesicht immer näher kam, bis ihre Lippen sich berührten. Lorelles Zunge schlüpfte in Bettys Mund, glitt über ihre Lippen. Der Kuß war zu viel für sie. Betty spürte, wie die Kräfte sie verließen, wie die Knie ihr weich wurden, und als sie das Bewußtsein verlor … … legte Lorelle ihren widerstandslosen Körper auf dem Küchenboden ab, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer, wo sie vor den Fernseher trat und lächelnd sagte: »Hallo, Ed …« Der Nebel kroch weiter durch die Vorgärten, wechselte hier und da die Richtung. Ein einziger Wirbel bewegte sich über seine Oberfläche, wie ein kleiner, phlegmatischer Tornado. Er bewegte sich vom Haus der LaBiancos hinüber zu Sheri MacNeils Haus, in dem er für eine Weile verschwand … … dann wechselte er hinüber zu den Weylands … … und später zu den Parkers … … und weiter von Haus zu Haus …
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21 BEOBACHTUNGEN Die beiden verbliebenen Reporter und ihre Teams standen da, beobachteten den weißen, immerzu auf und ab fahrenden Pritschenwagen und hörten den bizarren Warnungen zu, die aus dem Lautsprecher schallten. Schließlich ließ Alana Carson, die Journalistin von A Current Affair, ihren Kameramann und seinen Assistenten am Übertragungswagen zurück und näherte sich dem Lieferwagen mit der Aufschrift KCPM 24. »Na, passiert so etwas oft hier?« fragte sie, während sie an einem der Reporter vorbeiging. Er war etwa Ende zwanzig, groß und schlank, hatte blondes Haar und einen Schnurrbart. Der typische Lokalreporter. »Ich glaube nicht«, antwortete er. »Aber ich bin noch neu in dieser Gegend. Verstehen Sie, was er sagt?« »Ich bin nicht ganz sicher. Wissen Sie, wer er ist? Kennen Sie seine Kirche?« »Nein. Aber ich werde sie kennenlernen.« »Irgend ‘ne Vorstellung von der Frau, die er ständig erwähnt?« Er schüttelte den Kopf, dann lächelte er sie an und sagte: »Übrigens, ich heiße Steve Lang.« Sie stellte sich ebenfalls vor und gab ihm die Hand, aber bald schon wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pritschenwagen zu, der eben in nördlicher Richtung an ihnen vorbeifuhr. »Ihr müßt euch an all das klammern, was ihr Gutes in euch tragt«, sagte Quillerman gerade. »Wendet euch Gott zu, wendet euch euren Familien zu, betet um die Kraft, den Versuchungen zu widerstehen, in die diese Kreatur euch führen will.« »Hört sich ziemlich verrückt an«, sagte Steve. »Ist es wohl auch«, murmelte Alana. 288
»Im Brief des Jakobus lesen wir: ›Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.‹«* Der Pritschenwagen fuhr wieder an ihnen vorbei, diesmal in südlicher Richtung. Der Pastor schien sie nicht einmal zu bemerken. »Aber wir brauchen uns vor der Versuchung nicht zu fürchten«, fuhr er fort, »denn Petrus sagt uns, daß ›der Herr dich und mich von … ‹« Die Stimme des Pastors im Lautsprecher stockte, und der Wagen hielt mit quietschenden Bremsen, denn … … eine unglaublich fette Frau in einem taubengrauen und purpurroten Sarong sprang mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die Straße, bei jedem ihrer Schritte war der ganze Körper in Bewegung, fleischige Brüste hüpften auf und ab, die Fettwülste schwabbelten ihr um den Nacken und die Hüfte. Sie blieb direkt vor dem Pritschenwagen stehen. »Was ist das?« stieß Alana abrupt hervor und lief zurück zu ihrem Wagen, während Steve und sein Kameramann Malcolm sich dem Pritschenwagen näherten, wo … … die dicke Frau gerade auf Pastor Quillerman zuging, der sein Fenster herunterkurbelte und sie mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. »Ich weiß nicht, was sie mit dem Theater hier bezwecken, Pastor«, sagte sie mit näselnder Stimme, »aber ich würde es begrüßen, wenn Sie jetzt Schluß damit machen. Sonst könnte noch jemand auf die Idee kommen, die Polizei anzurufen, weil sie ständig durch dieses Ding da brüllen.« »Hallo, Betty«, erwiderte der Pastor vergnügt und legte den Ellbogen auf den Rand der heruntergekurbelten Scheibe. »Ich freue mich, daß Sie herausgekommen sind. Ich würde mich *
Nach dem Text der Luther-Bibel. Anm. d. Verlages 289
gerne mit Ihnen über eine … « »Was machen Sie hier eigentlich?« fragte sie, ohne sich um seine Begrüßung zu kümmern. »Ich meine, Sie fahren hier einfach auf und ab und brüllen durch diesen albernen Lautsprecher wie ein … « »Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte Steve, der sich ihr mit einem Mikrofon in der Hand näherte. Malcolm stand direkt hinter ihm, seine Kamera lief. »Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen … « Betty wirbelte herum und richtete ihren Zeigefinger wie den Lauf eines Revolvers auf Steve. »Bleiben Sie mir mit Ihren Mikrofonen und Ihren Kameras vom Leib, junger Mann. Ich werde keine einzige Ihrer Fragen beantworten, und wenn Sie noch einen Rest von Anstand haben, dann verschwinden Sie jetzt. Es hat in dieser Straße eine Tragödie gegeben, und keinem Menschen hier ist nach euch blutrünstigen Presseleuten zumute.« Hinter Steve entdeckte sie Alana, richtete ihren Zeigefinger auf sie und fuhr fort: »Das gilt auch für Sie. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, ich weiß, wie Sie Ihre Fragen stellen und die Antworten verdrehen. Bleiben Sie mir vom Leib!« Sie ließ den Arm sinken. »Alle beide!« Und dann, als wären die beiden ihrer Aufforderung bereits nachgekommen, wandte sie sich wieder Pastor Quillerman zu. Er runzelte besorgt die Stirn. Dir Zorn bekümmerte ihn … und ihr blasses Gesicht nicht minder. »Ist alles in Ordnung, Betty? Sie … sie sehen nicht gut aus.« »Mir geht’s gut. Um Sie muß man sich Sorgen machen. Sie fahren hier auf und ab und reden über etwas … diesen … wie nannten Sie es? Sie sagten etwas von einem … einem Dämon.« Der Wagen lief im Leerlauf. Pastor Quillerman schaute Betty lange in die Augen, bevor er zu ihr sagte: »Kennen Sie eine Frau namens Lorelle Dupree?« »Ja, ich dachte mir schon, daß sie es ist, über die Sie hier schimpfen.« 290
»Warum dachten Sie sich das?« »Nun, weil sie anders ist. Sie ist eine Künstlerin. Die Künstler sind alle etwas anders. Aber sie ist kein Dämon, und ich finde, Sie sollten sich schämen, daß Sie so etwas behaupten.« »Kennen Sie Miss Dupree gut?« Sie zog ihren Kopf zurück, klimperte ein paarmal mit den Augendeckeln und schürzte für einen langen Augenblick die Lippen, bevor sie antwortete: »Sie kommt mich hin und wieder besuchen. Und manchmal gehe ich zu ihr. Sie ist so nett zu mir… « »Wer ist nett zu dir?« fragte Ed LaBianco, der plötzlich neben seiner Frau stand. Betty war verwirrt und stolperte über ihre Worte, bis sie endlich hervorbrachte: »Lorelle Dupree. Der Pastor behauptet, sie sei eine Art Dämon.« Quillerman ließ den Blick zu Ed hinüberschweifen, und die Furchen gruben sich noch tiefer in seine Stirn. »Fühlen Sie sich gut, Ed?« fragte er. »Äh, ich ahm … « Er rieb sich mit einer Hand über das schmale, bleiche Gesicht und glättete für einen Moment die tiefen Runzeln, die er noch nicht gehabt hatte, als er das letzte Mal in der Kirche war. »Ich glaube, ich habe in letzter Zeit nicht besonders viel Schlaf bekommen.« »Hat das einen bestimmten Grund?« fragte Quillerman. Er war ziemlich sicher, daß er die Antwort bereits kannte, aber er betete zu Gott, daß er sich täuschte. »Ach, das ist wirklich nicht so wichtig«, murmelte Ed und winkte ab. Dann rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die geschwollenen Augen. »Also. Was führt Sie her, Pastor?« Bevor Quillerman antworten konnte, fuhr Betty dazwischen: »Er fährt hier die Straße auf und ab und verbreitet irgendwelchen Unsinn über Lorelle. Er behauptet, daß sie ein Dämon sei, so eine Art … ich weiß nicht, ein Vampir oder 291
sowas.« Ed runzelte müde die Stirn, schaute den Pastor an und sagte: »Das hört sich aber nicht sehr christlich an.« Eds Stimme klang eher flehend als tadelnd, und aus seinen Augen sprach mehr Verzweiflung als Protest. »Betty, darf ich ein paar Worte mit Ihrem Mann sprechen?« fragte Quillerman. »Tun Sie sich keinen Zwang an.« Unter großer Anstrengung gelang es ihr, die schwabbelnden Arme vor den Brüsten zu verschränken. »Ich meine unter vier Augen.« Pastor Quillerman zuckte zusammen vor der Feindseligkeit, die plötzlich aus Bettys Augen funkelte. Ihre Oberlippe kräuselte sich ein wenig, gerade noch konnte sie ein haßerfülltes Grinsen zurückhalten. Dann drehte sie sich um und ging zum Haus zurück, wobei sie die Reporter anschnauzte, die nur ein paar Meter entfernt mit ausgestreckten Mikrofonen standen, zweifellos Teile der Unterhaltung aufgeschnappt hatten. Betty fuchtelte wütend mit den Armen, während sie den Anstand der Leute in Zweifel zog, Fragen nach ihrer Herkunft stellte und sie mit obszönen Namen bedachte. »Ed, so ist sie doch sonst nicht«, sagte Quillerman mit leiser Stimme. »Das ist doch nicht die alte Betty.« »Nun … wir haben beide die Grippe gehabt, glaube ich. Sie ist wahrscheinlich … ahm … « Er wich dem Blick des Pastors aus, während er sich mit dem Fingernagel über die Unterlippe strich. »Sie fühlt sich eben nicht gut, verstehen Sie?« Quillerman dachte sorgfältig über seine nächsten Worte nach, bevor er sie aussprach. »Sagen Sie mir, Ed, wie gut kennen Sie Lorelle Dupree?« Ed wandte sich noch weiter ab und wurde zusehends nervöser. Er zupfte an seinem Gesicht herum und strich sich ein um das andere Mal durch das, was ihm an Haaren noch geblieben war. »Ach, sie ist eben eine Nachbarin, wissen Sie? 292
Eigentlich wohnt sie ja noch nicht lange genug hier, um … « »Sie wissen, daß es stimmt, was ich gesagt habe, nicht wahr, Ed?« Noch mehr nervöse Erregung. Er räusperte sich mehrere Male und schaute hierhin und dorthin, nur nicht in Pastor Quillermans Augen. »Hören Sie, Pastor, ich glaube, äh, nun, ich halte es für keine gute Idee von Ihnen … nun, hier die Straße auf und ab zu fahren und … « »Sie wissen, daß es die Wahrheit ist, stimmt’s?« Ed schloß einen Moment lang die Augen und leckte sich mehrmals über die Lippen, bevor er die Augen wieder öffnete und Pastor Quillerman direkt anschaute. »Bitte, gehen Sie, okay? Gehen Sie einfach, und wir werden … « »Ich bin hier, um euch zu helfen, Ed«, flüsterte Quillerman. »Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen.« Eds Mund arbeitete, aber es kam nichts heraus. Er holte ein paarmal tief Luft und wollte etwas sagen, aber Quillerman kam ihm zuvor. »Sie ist böse, Ed«, knurrte er. »Sie ist böse, und Sie wissen es. Ich weiß nicht, was sie mit Ihnen gemacht hat, aber Sie wissen es, und Sie wissen auch, daß es nicht richtig ist. Sie wissen, daß diese Frau Sie verändert, Sie in Ihrem Innersten verdorben hat, und Sie wissen auch, daß Sie verloren sind, wenn das so weitergeht.« Eds Mund arbeitete immer noch, aber sagte nichts. Tränen glitzerten in seinen Augen, und seine Hände zitterten, als er sie auf die Kante des Autofensters legte. »Pastor«, flüsterte er mit bebender Stimme, »ich … ich weiß nicht … ich weiß nicht, was mit uns geschieht.« »Mit Ihnen und Betty?« Er nickte. Quillerman beugte sich weiter zu ihm hinaus. »Daran ist sie schuld. Ihre Nachbarin. Lorelle Dupree. Und Sie wissen genau, daß ich recht habe, Ed. Oder?« 293
»Ich … ja, ich … glaube ja.« »Gottseidank«, stöhnte der Pastor, und dann sagte er: »Was Sie jetzt tun müssen, ist … « Etwas zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er schaute nach vorne durch die Windschutzscheibe und entdeckte Sheri MacNeil, die vor ihrem Haus auf dem Gehsteig stand. Sie trug Turnschuhe, eine Turnhose und einen dicken blauen Frottee Bademantel. Lange starrte sie auf den Pritschenwagen, dann machte sie ein paar zögernde Schritte auf die Straße, blieb stehen und starrte wieder. Schließlich vergrub sie die Hände in den bauschigen Taschen ihres Bademantels und steuerte entschlossen auf den Pritschenwagen zu, als Ed LaBianco gerade den Kopf sinken ließ und leise zu weinen anfing. »Pastor Quillerman?« fragte Sheri und schaute Ed dabei über die Schulter. Sie war eine hochgewachsene Frau und sah mit ihrem blonden, kurzgeschnittenen Haar recht hübsch aus. »Pastor, was machen Sie hier?« »Haben Sie nicht zugehört, meine Liebe?« Sie nickte. »Und Chris hat auch zugehört. Er … er hat Angst. Und ich denke, Sie sollten ihn nicht weiter … ich meine, vielleicht wäre es besser, wenn Sie ihn … « »Haben Sie auch Angst, Sheri?« fragte er. Sie stand Zeitlang bewegungslos da, dann nickte sie langsam. Quillerman war erleichtert und gleichzeitig erstaunt, daß er so schnell zu ihnen durchgedrungen war. Doch vergaß er nicht, daß das alles Leute waren, die er kannte, die zu ihm in die Kirche kamen. Was war mit den anderen in diesem Viertel, mit denen, die ihn nicht kannten, die ihn für verrückt halten würden und die, unter dem Einfluß der Kreatur, die sich Lorelle Dupree nannte, vielleicht gewalttätig auf seine Bemühungen reagieren würden? Er wandte sich an Ed und Sheri. Still betete er, daß er die rechten Worte finden möge, und dann sprach er mit leiser 294
Stimme zu ihnen, während … … die Reporter ihn beobachteten. Alana lehnte sich zu Steve hinüber und sagte: »Sie scheinen ihn zu kennen.« »Schlimmer noch, sie scheinen ihn sogar ernstzunehmen«, antwortete Steve. Sie schauten zu, wie die blonde Frau sich schließlich von dem Pritschenwagen abwandte, die Arme gegen die Kälte vor der Brust verschränkte und die Straße entlangging. Ohne zu zögern liefen Alana und Steve ihr nach, gefolgt von ihren Kameramännern. »Entschuldigen Sie, Miss, dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« sagte Steve, während Alana rief: »Miss, was können Sie uns über Pastor Quillerman sagen? In welcher Verbindung stand er zu den Garrys? Miss?« Die Frau hob abwehrend eine Hand und rief über die Schulter zurück: »Nicht jetzt, bitte, ich möchte jetzt nicht reden.« Sie ging zurück in ihr Haus, wo ein kleines, blasses Gesicht aus dem großen Wohnzimmerfenster schaute und winzige Händchen sich gegen die Scheibe preßten. Alana und Steve und die beiden Kameramänner blieben mitten auf der Deerfield Avenue zurück, einfach stehengelassen. Noch bevor sie wieder umgekehrt waren, ertönte erneut die schrille, näselnde Stimme der dicken Frau in dem Sarong, und als sie sich umdrehten, sahen sie sie den Gehweg herunter auf ihren Mann zulaufen. Alana schlug ihrem Kameramann auf den Arm und sagte: »Nimm das auf, Will, nimm das auf!« Alana und Steve gingen um den Pritschenwagen herum, zurück auf den Gehsteig, wo Will und Malcolm bereits standen und die dicke Frau dabei filmten, wie sie ihren Ehemann zur Seite stieß und in den Wagen schrie: »Nun? Hören Sie jetzt endlich mit diesem Unsinn auf oder nicht?« Ihr Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter und sprach mit 295
leiser Stimme zu ihr, aber sie stieß ihn verärgert weg, stemmte die Fäuste in ihre gewaltigen Hüften und beugte sich in das Fenster des Pritschenwagens, Nase an Nase mit Pastor Quillerman. »Die Leute könnten auf die Idee kommen, die Polizei zu rufen, verstehen Sie! Die Leute mögen es nicht, wenn jemand direkt vor ihren Haustüren einen solchen Quatsch in die Welt hinausposaunt!« Ihr Mann trat wieder einen Schritt vor, griff nach ihrem Arm und sagte: »Hör mir zu, Betty, er ist … « »Nimm deine Pfoten weg und laß mich reden!« Mit einer Stimme, die nicht zu seiner jämmerlichen Erscheinung paßte, brüllte er sie an: »Verdammt, Betty, du weißt, daß er recht hat!« Sie starrte ihn entgeistert an, ihr Unterkiefer klappte herunter, die Arme hingen schlaff an ihren Seiten. »Was hast du gesagt?« »Er hat recht. Wir wissen doch beide, daß er recht hat.« Einen Moment lang standen sie beide regungslos. Der Dunst ihres Atems hüllte ihre beiden Gesichter in eine weiße Wolke. »Warum geht ihr jetzt nicht ins Haus«, sagte Pastor Quillerman leise. »Redet über die Sache. Betet zusammen.« Als sie sich zu ihm umdrehten, lächelte er und nickte ihnen ermutigend zu. »Bitte. Geht doch hinein. Wir reden später wieder miteinander.« »Danke«, sagte der Mann und nahm seine Frau bei der Hand. Sie drehten sich um und taten, was der Pastor ihnen geraten hatte. Alana und Steve und die Kameras ignorierten sie, als sie an ihnen vorbeigingen. Der Mann sah krank aus vor Betrübnis, während die Frau kaum in der Lage zu sein schien, ihren Zorn zurückzuhalten. Die Reporter stürzten auf den Pritschenwagen und Quillermans offenes Fenster zu, aber er war bereits dabei, es hochzukurbeln. Er legte den ersten Gang ein und fuhr langsam weiter. Seine Stimme schallte wieder aus dem Lautsprecher. 296
»Verdammt«, murmelte Steve und schaute auf seine Uhr. »Wir müssen los. Ich hab bald Redaktionsschluß.« »Sie hauen ab?« fragte Alana erstaunt. »Ich fürchte, die einzige Story, die es hier gibt, ist bereits gelaufen«, sagte er und nickte hinüber zum Haus der Garrys. »Haben Sie nicht zugehört? Diese Leute haben ihm tatsächlich geglaubt. Sie halten ihre Nachbarin für einen bösen Geist.« Steve grinste. »Hört sich nach ‘ner Story für euren Laden an, aber nicht für unseren. Nein, ich glaube nicht mal, daß es eine Story ist.« Er drehte sich zu Malcolm um und sagte: »Wir müssen los.« Dann fügte er an Alana gewandt hinzu: »War nett, Sie kennenzulernen.« Die beiden gingen zu ihrem Lieferwagen, stiegen ein und waren nach ein paar Augenblicken verschwunden. »Laß uns noch ‘ne Weile hierbleiben, Will«, sagte Alana zu ihrem Kameramann. »Ich glaube, der Junge vom Lokalsender täuscht sich.« Und damit sollte sie recht haben …
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22 DER NEBEL George und Robby Pritchard standen an ihrem Wohnzimmerfenster und schauten Pastor Quillermans Pritschenwagen zu, der immer noch die Straße auf und ab fuhr. Jen saß hinter ihnen im Fernsehsessel ihres Vaters. Sie hatte ihnen vorhin ein Mittagessen zubereitet. Auf dem Kaffeetisch standen noch immer die Teller, auf denen halb aufgegessene Sandwiches und ein paar Kartoffelchips lagen. Schon seit einer ganzen Weile hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Sie hatten Mr. und Mrs. LaBianco zugeschaut, und Sheri MacNeal, als sie zu dem Pritschenwagen gegangen war. Und auch die Reporter hatten sie gesehen, die dabeigestanden und geduldig gewartet hatten, daß ein paar Brosamen für sie abfallen würden. Hin und wieder hörte man eine Stimme von einer der Veranden zu Pastor Quillerman hinüberbrüllen. Man bedachte ihn mit häßlichen Namen, forderte ihn auf, seine Meinung und seine religiösen Ansichten für sich zu behalten. Aber Quillerman kümmerte sich nicht darum und fuhr fort, sie vor der Gefahr zu warnen, in der sie sich befanden, und an ihre Menschlichkeit zu appellieren, an den Rest von Menschlichkeit, der ihnen noch nicht von der neuen Nachbarin geraubt worden sei. Ein Haus weiter in nördlicher Richtung, auf der anderen Straßenseite, hatte sie auch Mr. und Mrs. Weyland gesehen, die auf den Gehsteig herausgekommen waren, beide in ihren Bademänteln. Mrs. Weyland hatte eine schmutzige braune Papiertüte in der Hand getragen, und ihr Ehemann eine grüne Abfalltüte aus Plastik. Als Pastor Quillerman an ihnen vorüberfuhr, hatten sie beide in ihre Tüten gelangt und ihn beworfen – mit Konservendosen, Kartons und Schachteln, 298
fauligem Obst und Gemüse und weiterem nicht identifizierbarem Abfall, der Windschutzscheibe und Motorhaube des Pritschenwagens beschmutzte. Dazu hatten sie gebrüllt, er solle so schnell wie möglich verschwinden, bevor sie damit anfangen würden, auf seine Reifen zu schießen und ihn unter Anwendung von körperlicher Gewalt höchstpersönlich aus dem Viertel zu entfernen. Pastor Quillerman sprach über den Lautsprecher ganz ruhig und geduldig mit ihnen, forderte sie auf, einmal einen Blick auf sich selbst zu werfen, darüber nachzudenken, was sie da taten und warum sie es taten, und auch darüber nachzudenken, was sie vor ein paar Tagen noch für Menschen gewesen seien, bevor die neue Nachbarin in ihre Straße gezogen war. Und während der ganzen Zeit hatte sich dieser merkwürdige Nebel nicht verzogen. Nachdem die Dinge sich ein bißchen beruhigt hatten und draußen nur noch Pastor Quillerman hin und her fuhr, wandte Robby seine Aufmerksamkeit diesem Nebel zu. Er bewegte sich langsam, manchmal änderte er die Richtung, und hin und wieder kroch aus seinem ruhelosen Wabern ein seltsam geformter Fetzen nach oben, der Robby an Lorelle erinnerte, wie sie nackt vor der gläsernen Schiebetür gestanden hatte, während dieser Nebel an ihrem Körper hochgekrochen war. Er schloß einen Moment lang die Augen und schüttelte heftig den Kopf hin und her. Besser, er dachte nicht an sie. Je näher der Abend kam, desto dunkler wurde der Nachmittag. In der Deerfield Avenue gingen die Straßenlaternen an, als die Wolken ihre Farbe von einem schmutzigen Grau in ein marmoriertes Kohlrabenschwarz verwandelten. Quillerman schaltete die Scheinwerfer seines Wagens ein, und in ihrem Lichtschein sah der Nebel noch unheimlicher aus. Robby schaute ihm zu. So, wie er sich bewegte, schien er ein Eigenleben zu haben … eine Art Ziel. Sein Blick konnte sich nicht davon lösen, bis er am Fuß eines 299
Strommastes auf der anderen Straßenseite, zwischen den Häusern der LaBiancos und der Parkers, etwas Seltsames beobachtete. Robby kniff die Augen zusammen und beugte sich etwas vor; er konnte das, was er sah, nicht genau erkennen. Ein Fühler schien sich aus dem Nebel zu lösen und sich langsam an dem Mast hinaufzuschlängeln. Robby zog die Stirn in Falten, streckte die Hand aus und tippte seinem Vater auf den Arm. »Dad? Hast du schon mal solch einen Nebel gesehen?« George schaute mit sorgenvollen Augen zum Fenster hinaus. »Nicht hier in dieser Gegend«, brachte er mit flacher Stimme hervor. »Findest du das nicht ziemlich merkwürdig?« »Ich weiß nicht.« George zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht.« »Ich meine das da.« Robby deutete auf den Strommast. Der Nebel, der sich jetzt wie eine Schlange in gleichmäßigen Tempo den Mast hinaufwand, hatte dessen Spitze beinahe schon erreicht. Als es soweit war, bewegte er sich blitzschnell und hüllte den Verteiler aus grauem Metall in eine kleine Wolke. »Was, zum Teufel, ist … «, sagte George. Doch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, gab es eine kleine Explosion, und ein Funkenregen sprühte hinunter auf den Boden, und … … die Straßenbeleuchtung erlosch in dem Moment, als auch… … die Lichter in den Häusern an der Deerfield Avenue ausgingen, und … … es im Haus der Pritchards stockfinster wurde, das Summen des Kühlschranks verstummte, und … … der Nebel, der am Mast hochgekrochen war, sich so schnell auflöste wie die Funken, die auf den Boden fielen. »Was, zum Teufel, war das?« fragte Jen. Ihre Stimme hörte 300
sich zaghaft und verängstigt an. »Ich … ich weiß nicht genau«, sagte George und legte ihr eine Hand auf die Schulter, »aber warum holst du nicht schnell die Taschenlampen aus der Werkzeugschublade in der Küche. Vielleicht kommt das Licht nicht so bald wieder.« Sie nickte und verließ das Wohnzimmer. George ging hinüber zum Telefon, hob den Hörer ans Ohr, lauschte einen Moment lang, legte ihn wieder auf die Gabel und sagte: »Tot.« Robby schaute der Reporterin draußen auf der Straße zu. Sie hatte neben ihrem Kameramann auf der Motorhaube ihres Wagens gehockt, als es den Kurzschluß in dem Verteiler gegeben hatte. Die Frau war vom Wagen gesprungen und hatte sich schützend zusammengekauert, während der Mann herumwirbelte, sich in das offene Wagenfenster beugte und seine Kamera hervorholte. Aber Robby wußte, daß sie nicht so wie er beobachtet hatten, wie der Nebel den Strommast hinaufgekrochen war. »Mr. Prosky hat mir erzählt, daß sie sich in Gestalt von Nebel bewegen kann«, sagte er sehr leise. »Du meinst Lorelle?« Robby nickte. »Er sagte, er hätte es mit eigenen Augen gesehen.« George brauchte einen Moment, bis er diese Information verdaut hatte, dann legte er sein Gesicht in beide Handflächen und rieb es verzweifelt. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott«, seufzte er dabei. Pastor Quillermans Pritschenwagen fuhr gerade wieder vorbei, in südlicher Richtung diesmal, aber er fuhr jetzt ein ganzes Stück schneller als beim letztenmal, und dann … … hielt er mit quietschenden Reifen am Randstein. Pastor Quillerman stieg aus, humpelte um seinen Wagen herum und blieb stehen, um sich hektisch nach dem Nebel umzuschauen, denn … 301
… der huschte gerade eilig über den Boden, zog sich von den Häusern und den Stämmen der Bäume, aus dem Gebüsch und den Hecken zurück, so schnell, als würde er von etwas eingesogen, und … … Pastor Quillerman taumelte ein paarmal im Kreis herum, sein Atem ging stoßweise, während er dem Nebel nachschaute, mit vor Verwunderung weit geöffnetem Mund. Sein Kopf drehte sich angstvoll wie der eines Vogels auf seinem Hals, und … … als er sah, wohin der Nebel sich verzog, ballte er die Hände an seinen Seiten zu Fäusten und stöhnte: »Oh, mein Gott, sie war es«, denn mit tödlicher Kälte hatte ihn die Erkenntnis getroffen, daß … … der Nebel sich in Lorelle Duprees Haus zurückzog, als sei eben dieses Haus ein riesiger Staubsauger, und … … Pastor Quillerman drehte sich auf dem Absatz um, erkannte die vagen Umrisse von George und Robby, die am Fenster des dunklen Wohnzimmers standen, und lief den Gehweg zur Vordertür der Pritchards hinauf, wobei sein Hinkefuß ihn auf den Treppenstufen zu seltsamen Bewegungen zwang; währenddessen … … lief George zur Haustür und riß sie gerade in dem Moment auf, als Pastor Quillerman über die Schwelle stolperte und atemlos hervorstieß: »Sie war das … der Nebel … da hat sie dringesteckt … sie ist da draußen herumgeschwebt … « Er lehnte sich gegen die Wand und preßte eine Hand auf die Brust, als bekäme er keine Luft mehr. »Alles in Ordnung?« fragte George. »Kann ich Ihnen etwas holen?« erkundigte sich Robby. Jen erschien mit drei großen Maglight-Taschenlampen, gab George und Robby je eine und behielt eine für sich selbst. Als sie alle Lampen angeknipst hatten, faßte George Pastor Quillerman beim Ellbogen und führte ihn ins Wohnzimmer. Der Pastor setzte sich auf das Sofa. Jen nahm neben ihm Platz, 302
George warf sich ihm gegenüber in den Fernsehsessel, und Robby blieb stehen. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte der Pastor. Seine Stimme hörte sich trocken und heiser an. »Ich wußte doch, daß etwas mit diesem Nebel nicht stimmte … Warum ist es mir nicht eingefallen?« »Nein, Pastor Quillerman, ich hätte es wissen müssen«, sagte Robby. »Ronald Prosky hat es mir erzählt. Ich glaube … ich hatte es einfach vergessen. Mir ging so vieles im Kopf herum, daß ich … « »Du mußt dich deshalb nicht mehr grämen, mein Sohn«, sagte Quillerman. »Jetzt ist es zu spät.« »Ja, sie ist die ganze Zeit über da draußen gewesen. Wahrscheinlich ist sie von Haus zu Haus gegangen. Mir ist sie an der Glastür zum Eßzimmer erschienen. Sie stieg einfach aus diesem verdammten Nebel auf. Ich hätte es wissen müssen.« »Sie ist an mein Schlafzimmerfenster gekommen«, sagte Jen mit leiser Stimme. »Und zu mir ist sie gekommen, als ich versuchte, das Loch in der Schlafzimmerwand zu schließen.« »Deshalb haben die Leute so auf Sie reagiert.« »Nun«, sagte Quillerman, »sie mag vielleicht in ein paar von den anderen Häusern gekommen sein, aber hier konnte sie nicht herein, wegen der Namen an der Haustür.« Er schaute schnell von einem zum anderen. »Als erstes müssen wir dafür sorgen, daß sie nirgends mehr herein kann. Wir müssen sie davon abhalten, diese Menschen zu beeinflussen. Wir müssen sie … in die Falle locken, und wenn sie erst einmal aus dem Weg ist, dann gelingt es uns vielleicht, den Leuten in dieser Straße etwas Vernunft einzutrichtern.« »Wie?« wollte George wissen. Quillerman schloß die Augen und stieß einen Seufzer aus, der wenig Hoffnung verhieß. »Was ist mit den Namen?« fragte Robby. Sie drehten sich 303
alle zu ihm um. »Ich meine die Namen der drei Engel draußen auf der Tür. Wenn sie Lorelle von hier fernhalten … Vielleicht können sie auch bewirken, daß sie da drüben eingesperrt ist.« »Aber du hast doch gesagt, sie sei hier herausgekommen, während Prosky die Namen an eure Tür schrieb«, wandte George ein. »Was würde sie davon abhalten, es auch drüben bei sich so zu machen?« Robby biß sich auf die Unterlippe, dann sagte er: »Ich glaube, ich sollte es trotzdem versuchen. Ich müßte es nur sehr schnell machen, möglichst nicht mit Holzkohle.« Er wandte sich an den Pastor. »Ich weiß nicht, ob es auch mit etwas anderem geht«, sagte Quillerman mit einem Schulterzucken. »Ich selbst habe diese Namen noch nie benützt. Beim Kampf gegen Sukkubi habe ich mich immer auf meine Gebete verlassen, und auf die Vernunft.« »Ich könnte … äh … nun … Vielleicht könnte ich einen Magic Marker nehmen«, schlug Robby vor. »Hier müssen irgendwo welche herumliegen.« »In der Werkzeugschublade in der Küche«, sagte Jen, stand auf und steuerte hinter dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf die Küche zu. »Kannst du wirklich so schnell schreiben?« fragte George. »Ich kann’s … versuchen.« »Du mußt mehr als es nur versuchen.« »Das wird er«, sagte Pastor Quillerman mit ruhiger Überzeugung. »Mach dir keine Sorgen, Robby. Du bist nicht allein.« »Doch, ich bin allein. Aber ich muß ja bloß … « Pastor Quillerman unterbrach ihn sanft. »Robby … du wirst nicht allein sein.« In der Straße herrschte Grabesstille, und ohne die Straßenbeleuchtung und das Licht hinter den Fenstern wirkte 304
die Deerfield Avenue finsterer, als Robby sie jemals gesehen hatte. Bevor er das Haus verließ, hatte Robby geübt, die drei Namen mit dem Magic Marker zu schreiben und einen Kreis darum zu ziehen. Er hatte es mehrmals auf einer Unterlage aus Packpapier versucht, bis er Hand und Handgelenk flüssig und wie von selbst bewegen konnte. Pastor Quillerman hatte noch ein Gebet gesprochen, dann war Robby – weil sein Vater darauf bestanden hatte – zur Hintertür hinausgegangen und hatte sich um das Haus geschlichen, für den Fall, daß jemand den Vordereingang beobachtete. Die Taschenlampe unter dem Arm geklemmt und den Magic Marker in die Seitentasche seiner schwarzen Jacke geschoben, ging Robby an dem hohen Holzzaun entlang, der ihren Garten vom Nachbargrundstück trennte. Als er den Gehsteig erreichte, machte er ein paar Schritte in nördlicher Richtung, bevor er die Straße überquerte und sich wieder nach Süden wandte, auf Lorellas Haus zu. Der Wagen der Reporterin war immer noch am Randstein geparkt, nur wenige Meter von Lorelles Haus entfernt, aber er konnte weder die Frau noch ihren Kameramann sehen. Er wollte sie auch gar nicht sehen, und vor allem wollte er nicht von ihnen gesehen werden. Sein Herz klopfte bis hinauf zum Hals, und trotz der Kälte schwitzte er, als er um die sauber geschnittene Hecke herumbog und Lorelles Rasen betrat. Einen Moment blieb er stehen und starrte auf die Eingangstür. Eigentlich konnte er gar keine Tür erkennen. Er sah bloß eine große, rechteckige Öffnung, die noch finsterer als schwarz zu sein schien. Vielleicht stand die Tür offen. Vielleicht stand Lorelle in der Finsternis dahinter und wartete auf ihn … Lorelle oder ihre Hunde … Er merkte, daß er die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte, und jetzt stieß er sie plötzlich in einer wirbelnden Wolke 305
aus, bevor er sich daran machte, den Rasen zu überqueren, während … … Pastor Quillerman sich neben dem Sofa hingekniet hatte und betete und George und Jen am Wohnzimmerfenster standen. Die Taschenlampen hatten sie ausgeschaltet, und das Haus war dunkel. »Ich kann ihn nicht sehen«, sagte Jen. George zeigte hinüber. »Dort ist er. Auf ihrem Rasen.« »Sei jetzt bei Robby, o Herr«, betete Pastor Quillerman mit leiser Stimme. »Führe ihm die Hand, gib ihm die nötige Schnelligkeit, halte schützend deine Hand über ihn. Halte schützend deine Hand über seine ganze Familie, Oh Herr. Gib George Kraft und Jen und … « Pastor Quillerman hielt in seinem Gebet abrupt inne und schwieg einen Moment lang, bis George und Jen sich nach seiner undeutlichen Silhouette in der Dunkelheit umdrehten. »Wo ist Karen?« fragte der Geistliche. »Sie ist im Schlafzim … «, George erstarrte. »O Gott«, stöhnte er, knipste die Taschenlampe an, stürzte aus dem Zimmer und lief den Flur entlang. Jen und Pastor Quillerman folgten ihm. Er hämmerte mehrmals gegen die Tür und rief: Karen! Karen, was tust du? Bist du wach?« Sie lauschten schweigend, aber bekamen keine Antwort. Georg drehte am Türknopf – die Tür war verschlossen –, und dann hämmerte er wieder gegen die Füllung. Nichts. Leise fluchend drehte er sich um und lief in ihr Eheschlafzimmer. Jen und Pastor Quillerman blieben im dunklen Flur zurück, während … … Robby gerade vorsichtig auf den Zehenspitzen die Eingangsstufen zu Lorelle Duprees Haus hinauf schlich und den Magic Marker aus der Jackentasche zog. Er entfernte die Kappe, steckte sie in die Tasche und stand in der undurchdringlichen Finsternis regungslos vor der Tür. 306
Aufmerksam lauschte er auf eventuelle Geräusche, und als er keines hörte, nahm er die Taschenlampe zur Hand, knipste sie an und hob den Schreibstift. Er hielt inne, atmete tief ein und ganz, ganz langsam wieder aus, während er ein Gebet zum Himmel schickte; dann schrieb er, so schnell er konnte, während … … Jen und Pastor Quillerman mit ihren Blicken dem Strahl der Taschenlampe folgten, als Georg eine Schublade der Kommode aufzog, sie durchwühlte, sie wieder zuschob und die nächste öffnete. Schließlich brachte er einen Schlüssel zum Vorschein, den er in die Tür zum Gästezimmer steckte und umdrehte. Er stieß die Tür auf und rief: »Karen? Liebling?« Dann leuchtete er mit der Lampe in das Zimmer. Das Fenster stand offen, und es war niemand im Raum. Karen war fort. »Oh, mein Gott«, flüsterte Quillerman, während … … Robbys Hand über die Buchstaben des Namens des letzten der drei Engel flog, sein Herz immer schneller schlug, und der Kloß in seinem Hals immer höher kletterte. In dem Moment, als er den letzten Buchstaben geschrieben hatte und seine Hand hastig um alle drei Namen flog, um sie in einen Kreis einzuschließen … … stieg aus dem Inneren des Hauses ein Geräusch auf, das schrecklicher war als alles, was Robby je gehört hatte, ein Schrei, ein monströserer und unmenschlicherer Klang, als Robby es je für möglich gehalten hätte, und dieser Schrei wurde lauter und lauter, steigerte sich zu einem schrillen Crescendo, bis … … jedes Fenster in Lorelles Haus zerbarst und Glasscherben über den Rasen und den Gehsteig regneten, während … … George und Jen und Pastor Quillerman in der Tür zum Gästezimmer erstarrten und dem schrecklichen Geräusch lauschten, bis George sich aus ihrer Gruppe löste. »Karen, mein Gott, Karen«, murmelte er vor sich hin und lief den Flur 307
entlang, während … … Robby rückwärts die Verandastufen herunterstolperte und den Lichtstrahl der Taschenlampe über Lorelles markierte Tür wandern ließ, die es so weit herausgedrückt hatte, daß sie in der Mitte gesplittert war, aber nicht weit genug, um sie ganz aus den Angeln zu brechen, und … … das Geräusch wurde noch lauter, so laut, daß Robby spürte, wie es ihm durch die Knochen fuhr, als er über die Rasenfläche flüchtete. Glasscherben knirschten unter seinen Sohlen, bis eine Stimme hinter ihm herrief … … Robby!« Er wurde von der Stimme so überrascht, daß die Beine ihm den Dienst versagten. Zu Boden taumelnd rollte er über zersplittertes Glas, das sich durch seine Kleidung und seine Haut schnitt. Dann setzte er sich auf und hielt den Lichtstrahl seiner Lampe in die Richtung, aus der die Stimme kam, von der er überzeugt war, daß er sie gar nicht wirklich gehört haben konnte. Er irrte sich. Der Lichtstrahl fiel auf seine Mutter, die eingerahmt von einem zerbrochenen Fenster ein paar Meter links von der Eingangstür stand. Sie war nackt, und ihre Haut leuchtete im Strahl der Taschenlampe in einem ungesunden Weiß. Hinter ihr im Dunkeln bewegten sich schattenhafte Umrisse. »Robby!« rief sie. »Was hast du getan, Robby?« »M-m-mutter?« Das ohrenbetäubende Kreischen wollte nicht aufhören. »Der Teufel soll dich holen, Robby! Der Teufel!« brüllte sie und schüttelte ihre Faust so heftig, daß ihre Brüste hin und her schlenkerten. Robby rappelte sich auf. Er kümmerte sich nicht um die Schnittwunden und ging langsam rückwärts, während er zu ihr hinüberschrie: »Was machst du da drinnen?« »Dafür wirst du bezahlen, du kleiner Dreckskerl! Dafür 308
bezahlst du mir!« Das schreckliche Geräusch verstummte. Die schattenhaften Gestalten hinter seiner Mutter verschwanden, und jetzt zog auch sie sich in die Dunkelheit zurück, während Lorelle Duprees belegte, verzerrte Stimme rief: »Das war nicht nett von dir, Robbiiiie.« Er ließ die Taschenlampe sinken, weil er es nicht sehen wollte, nicht noch einmal, aber auch ohne das Licht erkannte er diese Augen, die in der Dunkelheit schimmerten. In panischer Angst drehte er sich um und rannte über den Gehsteig auf die Straße, ließ die Taschenlampe unterwegs fallen und flüchtete, ohne etwas zu sehen, um dem zu entkommen, von dem er wußte, daß es hinter ihm her war. »Ich verschlinge dich, Rooobbbiieee!« brüllte die LorelleKreatur. »Ich fresse dich bei lebendigem Leib!« Er versuchte, nur auf seine Atemzüge zu hören und auf den bedrohlich schnellen Herzschlag, als er über die Straße lief, er versuchte, die Stimme dieser Kreatur zu ignorieren, aber … … es bewegte sich aus dem Dunkel eine andere Gestalt auf ihn zu, und Robby spürte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte, und gerade als er schreien wollte … … richtete sein Vater den Strahl seiner Taschenlampe auf ihn und fragte: »Robby, ist alles in Ordnung?« »J-ja.« Er brauchte einen Augenblick, um wieder Luft zu schöpfen. Sein Vater legte ihm einen Arm um die Schultern, um ihn zu stützen. »M-mom ist da drüben, Dad, s-sie … s-sie ist im Haus … mit d-diesem Ding.« George schaute hinüber zu Lorelles Haus und sagte mit beinahe kindlicher Hilflosigkeit: »Was sollen wir machen, Robby? Was können wir machen, um sie zurückzuholen?« »Ich … ich glaube nicht, daß sie zurückkommen will, Dad.« »Oh, mein Gott, was … was haben wir ihr angetan?« Sie umarmten einander und blieben am Straßenrand stehen, bis Pastor Quillerman aus dem Haus kam und sie 309
hineinbrachte, während … … Alana Carson gerade sagte: »Was war das?« »Ich … ich weiß nicht … «, antwortete Will leise. Sie hatten in ihrem Wagen gesessen und gerade die Frage diskutiert, ob sie sich ein Restaurant mit einer Toilette suchen und einen Happen essen sollten, als es passierte. Und plötzlich waren Blase und Hunger vergessen. »Hör mal«, sagte Will, »wenn du hierbleiben und über die Sache berichten willst – was auch immer das für ein Bericht werden soll – dann kannst du das machen, aber ich will hier weg, okay? Ich ziehe mich ganz leise aus dieser Sache zurück. Du kannst den Wagen behalten, wenn du willst. Ich gehe zu Fuß in die Stadt.« »Ich brauche dich, Will.« »Nein, du brauchst mich nicht. Die Kamera kannst du auch behalten. Sie ist ganz leicht zu bedienen.« »Du wirst deinen Job verlieren.« »Okay, dann sollen sie mich eben feuern. Hier spielt sich eine wirklich seltsame Geschichte ab, und ich bin nicht scharf darauf, sie mir noch genauer anzusehen. Und wenn die Fox davon einen Film haben will, dann soll Rupert Murdoch gefälligst selbst hier rauskommen und ihn drehen, denn was auch immer dieses Geräusch eben verursacht hat, es verfolgt damit keine freundlichen Absichten, und es sitzt in diesem Haus gleich da drüben.« »Ich verstehe nicht, warum niemand die Polizei ruft«, sagte Alana und warf einen Blick hinüber zu den anderen Häusern. »Weil in dieser verfluchten Gegend etwas nicht stimmt. Irgend etwas mit dieser Straße und den Leuten hier stimmt nicht. Und davon abgesehen, werden die Telefone nicht funktionieren.« Alana wandte sich zu ihm um. »Will, ist dir nicht klar, was das für uns bedeuten könnte?« »Den Tod?« 310
»Nein, ich meine für unseren Ruf, unsere Karriere. Sieh dich um. Siehst du außer uns noch einen Reporter? Nein, Nur wir beide. Wir sitzen hier auf einer Goldader! Und jetzt schnapp dir deine Kamera und laß uns einen … « »Nein.« Sie seufzte. »Ich will dir was sagen, Will, wenn du zu mir hältst, dann könnte ich meine eiserne Regel vergessen.« »Was für ‘ne Regel?« »Die Regel, daß ich nie etwas mit Arbeitskollegen anfange« »Ach, die Regel … Nun ich hatte gehofft, daß du das sagst. Ich wollte es nur genau wissen.« »Komm, Will.« Sie nahm seine Hand. »Bitte.« Er dachte kurz darüber nach, dann brummte er: »Scheiße« und öffnete die Wagentür, als … … Pastor Quillerman draußen auf der Veranda stehenblieb, während George und Robby ins Haus gingen und die Tür hinter sich zumachten. Quillerman starrte über die Straße zu Lorelles Haus. Dann langte er in die Hosentasche und klimperte mit seinen Schlüsseln, während er vor sich hinmurmelte: »Jetzt können wir etwas tun.« Er stieg die Stufen hinunter und steuerte auf seinen Pritschenwagen zu …
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23 AUF DER STRASSE Im Haus folgte Jen ihrem Vater und ihrem Bruder ins Wohnzimmer, wo die beiden sich schwer aufs Sofa fallen ließen. Dort blieben sie eine Weile schweigend sitzen. Jen starrte sie ängstlich an. »Was … was ist los?« flüsterte sie schließlich. Als sie nicht antworteten, näherte sie sich ihnen und fragte mit Panik in der Stimme: »Was ist passiert? Wo ist Mom? Dad? Wo ist sie?« George starrte sie mit leeren, angsterfüllten Augen an. Draußen wurde wieder der Pritschenwagen angelassen. George erhob sich vom Sofa, ging zum Fenster und schaute hinaus. Die Scheinwerfer des Wagens schnitten mit ihren Lichtstrahlen wie mit Schwertern durch die Finsternis der Straße. Langsam rollte der Wagen am Haus vorbei, wendete und fuhr wieder zurück. Pastor Quillermans Stimme hallte aus dem Lautsprecher: »Ich weiß, daß die Kreatur, von der ich euch vorhin erzählt habe, euch heute einen Besuch abgestattet hat«, sagte er. »Ich weiß, daß sie versucht hat, euch vor mir zu warnen, wahrscheinlich hat sie euch sogar den Rat gegeben, euch meiner zu entledigen. Aber ich bin noch da, und ich habe meine Absicht nicht geändert. Ich hoffe, ihr hört mir zu und denkt gründlich über das nach, was ich euch zu sagen habe.« Der Pritschenwagen erreichte das Ende der Straße und drehte wieder um, als … … Alana gerade sagte: »Ich werde jetzt hingehen und mich direkt vor der verdammten Karre aufstellen.« »Das hat vorhin schon nichts gebracht«, erwiderte Will. »Ich rühre mich nicht von der Stelle. Wenn’s sein muß, springe ich auf die Motorhaube.« 312
»Ich nehme an, du möchtest, daß ich es filme.« »Aber sicher.« Sie trat vom Gehsteig herunter auf die Straße, als … … Pastor Quillerman den Fuß vorn Gaspedal nahm und der Pritschenwagen langsam ausrollte. Er starrte die Frau an, die sich vor seinem Fahrzeug aufgebaut hatte, aber er redete weiter: »Kommt heraus. Bitte, kommt heraus und sprecht mit mir. Wir wollen alle miteinander reden. Ich glaube, wenn ihr einander zuhört, oder wenn ihr euch einfach nur in die Augen schaut, dann werdet ihr schnell merken, was um euch herum passiert ist. Ihr werdet spüren, was diese Frau – diese Kreatur – euch und euren Nachbarn angetan hat. Also, bitte, kommt heraus zu mir, damit wir miteinander reden können.« Die Journalistin schrie: »Würden Sie vielleicht erst einmal mit uns reden, Pastor?« »Ihr habt mein Wort, daß ich nicht hergekommen bin, um euch zu beschwatzen oder zu bekehren«, fuhr er fort, ohne auf die Frau zu reagieren. »Ich will keine neuen Mitglieder für meine Kirche gewinnen. Ich bin hier, weil ich als Christ die Pflicht habe, denen zu helfen, die in Not sind. Und ihr alle hier seid in Not, und ich flehe euch an, dem ein Ende zu machen. Bitte, kommt jetzt heraus zu mir, alle, damit wir miteinander reden können. Bitte … « Die Journalistin winkte ihren Kameramann näher, der vor dem Pritschenwagen stehenblieb, während sie zum Fenster auf der Fahrerseite ging. Sie klopfte gegen die Scheibe und sagte: »Von was für einer Frau sprechen Sie? Was hat sie getan?« »Es tut mir leid«, antwortete er, »aber ich kann Ihnen jetzt keine Auskunft geben.« Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. Pastor Quillerman hob wieder das Mikrofon an die Lippen, öffnete den Mund, sagte aber nichts, denn … … von links ertönte ein seltsames, polterndes Geräusch. Die 313
Frau hörte es ebenfalls und wandte sich, wie der Pastor, in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Quillerman konnte noch nichts erkennen, aber das Geräusch wurde lauter. Er begann, das Fenster herunterzukurbeln, um besser hören zu können, aber … … der Kameramann, der sich vor dem Pritschenwagen aufgebaut hatte, stieß auf einmal einen Schrei aus und flüchtete nach rechts in die Dunkelheit, die Kamera fest vor die Brust gepreßt, als … … ein riesiger Eskimohund in den Lichtkegel der Scheinwerfer stürzte, direkt auf den Pritschenwagen zu. Die schwarzen Lefzen entblößten lange, weiß schimmernde Reißzähne. Das Tier duckte sich und machte sich zum Sprung bereit. Das Geräusch, welches diese Kreatur dabei von sich gab, hatte nichts mehr mit dem Knurren eines Hundes zu tun, egal, wie groß er auch sein mochte. Es war ein viel lauterer, tieferer Ton, als Quillerman ihn jemals von einem Hund gehört hatte. Und die Augen des Tieres glühten. Er schnappte in die Luft, mit lautem Klacken schlugen die Zähne aufeinander. Die Journalistin neben dem Pritschenwagen schrie jetzt ebenfalls und warf sich Schutz suchend gegen die Fahrertür. Der Hund schob sich langsam näher an den Pritschenwagen heran, sein ganzer Körper begann zu zittern. Zwei lange, schwarze, knochenförmige Gebilde schoben sich plötzlich aus seinen Schultern heraus und spreizten und entfalteten sich zu breiten, fledermausartigen Flügeln. Mit einer einzigen schnellen Bewegung dieser Flügel schwang sich die Kreatur auf die Motorhaube des Pritschenwagens, ihr Maul war keine fünf Zentimeter mehr vom Glas der Windschutzscheibe entfernt. Das röhrende Geknurre wurde lauter, als das Ungeheuer seine Lefzen noch weiter nach hinten zog, so weit, daß schwarze, gekräuselte Haut hinter den Zähnen zum 314
Vorschein kam. Pastor Quillerman hob das Mikrofon an den Mund und sagte mit fester Stimme: »Im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters und seines Sohnes, Jesus Christus, und allem, was uns heilig ist, ich befehle dir, von diesem Ort zu weichen!« Die Kreatur erhob sich auf die Hinterläufe, schlug wie verrückt mit den Flügeln und stieß einen Schrei aus, der sich so schrecklich anhörte, daß der Pastor die Augen weit aufriß und Angst hatte, die Kontrolle über sich zu verlieren. Als das Ungeheuer wieder auf allen Vieren stand, war auch die letzte Ähnlichkeit mit einem Hund verschwunden. Sein ganzer Körper bebte, und dicker weißer Schaum tropfte ihm aus der platten Schnauze. Es schnappte nach der Windschutzscheibe, seine Reißzähne schlugen gegen das Glas, und dann schaute das Biest Pastor Quillerman in die Augen, und seine glitzernden schwarzen Lippen kräuselten sich zur grotesken Mutation eines Grinsens. »Was is’ los, Quillerman?« fragte die Kreatur mit seltsam würgender, weder männlicher noch weiblicher Stimme. »Willst du deinem Weib und deinen Söhnen nicht folgen? Willst du ihnen nicht folgen, deinem Weib, der alten Lesbe, und diesen Schwanzlutschern von Söhnen?« Quillermans Gesicht verzog sich vor Entsetzen. Er kniff die Augen fest zu und versuchte, die Flut der Erinnerungen zurückzudrängen, denen er sich in all den Jahren versagt hatte, der Erinnerungen, die er vollständig aus seinem Gedächtnis radieren wollte, vor allem diesen einen letzten Anblick seiner Familie, in jener Nacht, als er sie alle zusammen gefunden hatte, tot, seine Frau auf dem Bett, und die Jungen, die in einer gräßlichen, blutigen Umarmung daneben lagen, mit offenen Augen und einer Haut wie schmutziger Schnee, und … … Quillerman flüsterte sich selbst zu: »Nein, nein, das ist alles vorbei, das liegt hinter mir, und … «, er hob das Mikrofon wieder an den Mund,» … und ich befehle dir, diesen Ort zu 315
verlassen, im Namen Jesu Christi!« Jetzt passierten zwei Dinge gleichzeitig: Die Kreatur erbrach sich heftig und spie eine dickflüssige schwarze Substanz auf die Windschutzscheibe, während sie schreiend rückwärts flüchtete. Als unförmiger Haufen landete sie auf dem Asphalt, ein bis zwei Meter vor dem Pritschenwagen des Pastors. »Im Namen … «, setzte Quillerman wieder an, aber die Kreatur schlug mit den Flügeln, schwang sich vom Boden auf, schwebte einen Moment lang vor dem Wagen und starrte dem Pastor in die Augen, um dann einen Schrei auszustoßen, der so voller Haß und Abscheu war, daß es Quillerman erneut übel wurde. Die Übelkeit ging in Sekundenschnelle vorüber, aber der Pastor konnte sich eine Zeitlang nicht bewegen. Eine Hand umklammerte das Lenkrad, die andere das Mikrofon, seine Knöchel waren weiß und die Finger taub. Plötzlich, als sei ein Bann gebrochen, entspannten seine Hände und Arme sich und er warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Zuerst bemerkte er, daß die Journalistin nicht mehr da war, aber dann sah er, wie ihr Kopf langsam wieder auftauchte. Mit weit aufgerissenen Augen und bleichem Gesicht starrte sie ihn an, ab wüßte sie nicht mehr, wo sie sich befand. Quillerman stieg aus dem Wagen und fragte: »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Miss?« »Was … war das?« fragte sie, aber in ihrer Stimme schwang mehr Verwunderung als Angst mit. Sie schien sogar kurz davor, in hysterisches Gelächter auszubrechen. Noch bevor Quillerman ihr antworten konnte, kam der Kameramann um den Wagen herumgestolpert. Die Frau packte ihn bei den Jackenaufschlägen, schüttelte ihn und sagte: »Hast du das gesehen? Ich meine, hast du es wirklich gesehen? Hast du’s auf Kassette? Oh, bitte, Will, sag mir, daß du’s auf Kassette hast.« Er starrte sie einen Augenblick lang fassungslos an, dann 316
sagte er mit kaum hörbarer Stimme, die erst während des Sprechens lauter wurde: »Ich hab’s nicht auf Kassette, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, mir in die Hosen zu scheißen! Glaubst du mir jetzt? Willst du etwa immer noch hierbleiben?« »Du kannst ja gehen, wenn du willst, Will, aber nicht einmal mit einem Haken durch die Zunge könntest du mich von dieser Geschichte wegzerren. Laß mir deine Kamera, da.« »Ich glaube, er hat recht«, sagte Quillerman. »Sie sollten besser gehen. Es wäre nicht gut, auch nur eine Minute länger hierzu … « Etwas zog seine Aufmerksamkeit auf sich, und er schaute die Straße entlang. Zu beiden Seiten der Straße durchschnitten plötzlich grelle Lichtstrahlen die Finsternis. Menschen kamen aus ihren Häusern und näherten sich langsam dem Pritschenwagen. Zuerst ein Mann und eine Frau. Dann ein Kind. Zwei Teenager mit einer Frau. Und es kamen noch andere. Ihre Schritte waren unsicher, einige von ihnen schienen sogar zu humpeln, aber sie kamen. Quillerman flüsterte: »Ich danke dir, Herr«, und ging um die Journalistin herum, als … … Jen den Arm ihres Vaters packte und sagte: »Daddy, was ist mit Mom passiert? Warum willst du es mir nicht sagen?« Er hatte wie gebannt aus dem Fenster gestarrt, unfähig, Jens Fragen nach Karen zu beantworten. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Daß Mom sich entschieden hatte, bei der neuen Nachbarin zu bleiben? »Sie ist drüben bei Lorelle«, antwortete Robby schließlich. Jen starrte ihn in stummem Entsetzen an, eine Zeitlang schüttelte sie nur ungläubig den Kopf. Dann sagte sie zu George: »Wir müssen sie holen. Habt ihr nicht gehört? Wir müssen sie holen, Daddy!« George legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Wir werden es versuchen, Kleines.« Und zu Robby gewandt fügte er hinzu: 317
»Ich geh hinaus und rede mit Pastor Quillerman.« »Ich komme mit«, antwortete Robby. »Ich auch«, sagte Jen. George schaute von Robby zu Jen und wieder zurück, dann seufzte er. Sie folgten ihm nach draußen. Als sie den Gehweg hinuntergingen, sahen sie die anderen, die sich aus allen Richtungen näherten. Sie kamen nicht alle auf einmal, sondern tauchten in kleinen Gruppen aus der Dunkelheit auf, einige gingen auch alleine. Ein paar von ihnen trugen Taschenlampen bei sich, andere hielten Kerosinlaternen in den Händen, die ihr Licht über schattige Gesichter flackern ließen. »Hallo, George«, sagte Pastor Quillerman leise, als George sich ihm näherte. »Was ist hier los?« fragte George. »Meine Gebete sind erhört worden. Sie kommen, um mit mir zu reden. Ich glaube, jetzt können wir hoffen.« Schritte verhielten scharrend auf dem Pflaster des Gehsteigs, als die Leute sich auf der Fahrerseite des Pritschenwagens sammelten. Lichtstrahlen von Taschenlampen kreuzten sich in der Dunkelheit, die Menschen dahinter wurden reduziert zu düsteren, gesichtslosen Schatten. George kniff vor der Helligkeit die Augen zusammen und hielt nach einem bekannten Gesicht oder einer vertrauten Silhouette Ausschau, aber in dieser Finsternis konnte er niemanden erkennen. »Mein Mann ist nicht mehr da«, sagte eine Frau mit tränenerstickter Stimme. »Wir vermissen unsere Tochter«, murmelte ein Mann. Die Frau neben ihm fügte hinzu: »Sie war im Haus, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.« Ein anderer Mann stammelte: »Ich hab heute versucht, mmeine Frau zu … erdrosseln … und ich … ich … « Seine Worte lösten sich in Schluchzen auf. 318
»Ist schon gut, Liebling«, flüsterte eine Frau besänftigend. »Jetzt ist es ja vorbei.« Andere erhoben ihre Stimmen, und ihre Worte überschnitten sich: »Ich kann meine Frau nicht finden.« »Was hat diese Frau uns angetan?« »Wir hatten heute einen Streit mit unserem Sohn, und … nun, ich hab ihn geschlagen, und jetzt ist er verschwunden.« »Wir verstehen einander nicht mehr … meine ganze Familie ist dabei, auseinanderzubrechen.« »Mein Mann hat gesagt, er bringt mich um, wenn ich hier rausgehe. Ich mußte mich aus dem Haus schleichen.« Pastor Quillerman hob die Arme, um sie zum Schweigen , zu bringen. »Ich weiß, was ihr gerade durchmacht«, sagte er. »Ich verstehe eure Angst und eure Schuldgefühle. Und mir ist klar, daß diejenigen unter euch besonders aufgebracht sind, die jemanden von ihren Lieben vermissen. Aber zuerst müßt ihr mir ein paar Minuten zuhören.« Auch George hörte zu, als Quillerman ihnen die Wahrheit über Lorelle Dupree sagte. Er erzählte ihnen alles, was Robby bereits an diesem Morgen berichtet hatte, all die Dinge, die George heute morgen nicht hatte hören wollen. Und sie lauschten schweigend dem, was ihnen Quillerman mit seiner besten Kanzelstimme zu sagen hatte. »Unserem jungen Freund Robby haben wir es zu verdanken, daß sie jetzt in ihrem Haus eingesperrt ist«, kam der Pastor schließlich zum Ende, trat hinüber an Robbys Seite und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Unglücklicherweise befinden sich viele eurer Familienmitglieder mit ihr dort drinnen. Sie sind freiwillig dort, so, wie auch viele von euch ihr aus freien Stücken nachgegeben haben. Aber vielleicht könnt ihr jetzt noch etwas daran ändern. Mit Gebeten und Worten der Aufmunterung für eure Söhne und Töchter und Ehegatten könntet ihr es vielleicht schaffen, sie aus dem Haus zu locken. 319
Und dann, wenn wir alle ihr widerstehen, dann wird ihr keine andere Wahl bleiben, als zu gehen.« »Warum können wir sie nicht töten?« fragte Mr. LaBianco. »Weil das nicht unsere Aufgabe ist. Sie wird am Tag des jüngsten Gerichts ihre Strafe bekommen, von demjenigen, den sie am meisten von allen beleidigt hat. Wir dagegen, wir können ihr den Rücken zuwenden, und dann wird sie keinen Grund mehr haben, hierzubleiben.« »Aber sie hat meinen Mann verführt!« rief eine Frau. »Diese Schlampe hat nur ein paar Tage gebraucht, um meine Ehe zu zerstören!« »Bitte!« sagte Pastor Quillerman und hob wieder die Arme. »Ich weiß, daß ihr zornig seid, und ihr habt auch jeden Grund dafür, aber ihr müßt von diesem Zorn lassen. Er würde euch nur schwächen. Er erniedrigt euch, und genau das ist es, was sie will! Das Ziel alles Bösen, angefangen bei Satan selbst, ist es, uns zu erniedrigen, uns herunterzuziehen in seinen schmutzigen Pfuhl. Das kann jedoch nur geschehen, wenn wir es zulassen. Wir alle sind aber nur Menschen, und unser Fleisch ist schwach, und deshalb müssen wir zu Gott beten, daß er uns die Kraft gibt, dem … « »Ich bete nicht«, sagte ein Mann mit gleichgültiger Stimme. »Ja, ja, ich weiß, daß einige von euch – vielleicht sind es sogar viele – ohne religiöse Überzeugung sind. Aber bitte erinnert euch … ihr habt gesehen, wozu diese Frau – diese Kreatur – in der Lage ist. Ihr wißt jetzt, was sie ist. Mit diesem Wissen dürfte es euch nicht schwerfallen, euch das Gute, die Kraft des Guten vorzustellen, als Widerpart zu diesem … « »Ich weiß nicht, ob ich glauben soll, was sie über diese Frau erzählen«, sagte ein anderer Mann. Hilfesuchend wandte Quillerman sich an George. Georges Mund öffnete und schloß sich wieder, während er verzweifelt nach Worten suchte. »Einige von euch kennen sicherlich George Pritchard, der 320
hier neben mir steht«, sagte Quillerman schließlich. »Er hat vieles von dem hinter sich, was ihr auch durchmachen mußtet.« Wieder schaute er George an und nickte ihm aufmunternd zu. Und George begann: »Äh … meine Familie und ich haben, … nun, wie ihr alle … haben wir uns mit Lorelle eingelassen, und … äh, nun, wir wurden sehr, äh … Meine Frau Karen ist … sie ist jetzt da drüben in diesem Haus, und … « »Das interessiert mich einen Dreck, Pritchard«, bellte Mr. Weyland. »Mich interessiert nur, wie ich meine Tochter dort herausbekomme und wie wir diese Fotze loswerden.« Quillerman seufzte und ließ einen Moment lang den Kopf sinken, dann sagte er: »Bitte, achtet auf eure eigenen Worte. Genau so will sie euch haben, das ist ihr Sieg! Ihr sollt Mitleid mit euren Nachbarn haben, an den Schmerz denken, der ihnen zugefügt wurde, und nicht … « »Ich denke im Moment an meinen Mann«, sagte eine Frau. Ein Mann rief: »Und wir denken an unseren Sohn!« »Ich dachte, Sie wollen uns helfen«, knurrte ein anderer Mann. »Sie sind doch ein Mann Gottes. Würde Gott denn nicht wollen, daß wir dieser Nutte das Handwerk legen?« »Jawohl!« brüllte Mr. LaBianco. »Jesus hat die Wucherer aus dem Tempel geworfen, warum sollen wir die Schlampe dann nicht aus unserem Viertel werfen?« »Und wie, zum Teufel, sollen wir das anstellen?« fragte Mr. Parker. »Sie an den Haaren herauszerren, wenn’s sein muß!« antwortete Mr. LaBianco. »Nein, nein, bitte hört mir zu!« rief Pastor Quillerman. »Wir hören Ihnen zu«, brummte Mr. Weyland, »aber Sie haben uns ja nichts zu sagen!« »Ich versuche doch, euch etwas zu sagen«, antwortete Pastor Quillerman jetzt mit leiserer, ruhigerer Stimme. »Ich habe genau das durchmachen müssen, was ihr jetzt durchmacht. Ich hätte mir damals gewünscht, daß jemand gekommen wäre und 321
versucht hätte, mir zu helfen … « Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er räusperte sich und sprach dann weiter: … daß jemand versucht hätte, mir und meiner Familie zu helfen. Es kam aber niemand. Und deshalb habe ich seit vielen Jahren keine Familie mehr, und das verdanke ich einer Kreatur wie der da drinnen.« Er zeigte auf Lorelles Haus. »Aber das darf euch nicht passieren.« »Es ist uns doch schon passiert!« schrie eine Frau. George erkannte Trish Manson an ihrer Stimme; sie und ihr Mann lebten mit ihren drei Kindern am Ende der Straße. »Mein Mann ist weg, und ich will ihn wiederhaben, bevor es zu spät ist. Aber Sie sagen mir nicht, wie ich ihn zurückbekommen kann.« »Diese Entscheidung muß er selbst treffen«, antwortete Quillerman. »Und was ist, wenn wir die Entscheidungen für unsere Angehörigen treffen?« fragte Weyland. »Gut«, sagte Quillerman. »Also, warum stürmt ihr das Haus nicht? Warum rennt ihr nicht einfach hinein und befreit eure Leute? Ich glaube, ihr tut es nicht, weil ihr euch ganz tief drinnen – auch wenn ihr es euch nicht eingestehen wollt – vor Lorelle Dupree fürchtet. Aber ich versuche euch zu erklären, daß ihr euch nicht vor ihr fürchten müßt! Ihr habt eine wesentlich größere Macht zur Verfügung. Eure Liebe nämlich. Die Liebe für eure Söhne und Töchter und Ehegatten könnte bewirken, daß sie zurückkommen. Mit ihr und Gottes Hilfe an eurer Seite könntet ihr eure Angehörigen da rausholen. Aber ihr dürft dem dunklen zornigen Teil in euch nicht nachgeben, den sie doch nur hervorlocken will! Sie will doch nur, daß ihr… »Er ist ein Verrückter!« schrie eine Frauenstimme aus einiger Entfernung. Alle drehten sich um und leuchteten mit ihren Taschenlampen in die Richtung. Lorelle stand in demselben Fenster, in dem Robby vorhin Karen gesehen hatte. Sie trug 322
einen roten Morgenrock, der gerade so weit geöffnet war, daß man einen schmalen Streifen Haut sehen konnte. »Hört nicht auf ihn«, sagte sie. »Er ist ein Lügner, ein verrückter Lügner! Er säße längst in der Klapsmühle, wenn er sich nicht hinter seiner Kanzel verstecken könnte.« »Achtet nicht auf sie!« rief Pastor Quillerman und warf die Hände in die Höhe. »Legt euch die Rüstung der Gerechtigkeit an! Wappnet euch mit dem Schild des Glaubens! Wehrt die Pfeile ab, die das Böse auf euch abschießt!« »Nun hört euch bloß sein heiliges Geplapper an!« rief Lorelle ihnen zu. »Bin ich euch etwa mit sowas gekommen? Habe ich irgendeinem von euch auch nur ein Haar gekrümmt? Ich habe euch nichts getan!« In der Menge war es still geworden. Niemand antwortete, aber Blicke wurden getauscht, Augenbrauen in die Höhe gezogen. »Vergnügen habe ich euch geschenkt, das war’s, was ich euch angetan habe. Ihr wißt, daß es so war, jeder einzelne von euch. In euren Herzen wißt ihr genau, daß dieser Verrückte euch belügt. Und was eure Freunde und Angehörige betrifft, die hier bei mir sind … Sie sind hier, weil sie es so wollen.« Über die Schulter fragte sie: »Ist es nicht so?« Ein Chor der Zustimmung erhob sich hinter ihr aus der Dunkelheit. George legte seine Arme um Robby und Jen und sagte: »Geht jetzt zurück ins Haus.« »Das war Moms Stimme!« rief Jen und riß sich von ihm los. Sie machte ein paar Schritte auf Lorelles Haus zu und brüllte: »Mom! Komm nach Hause! Bitte, komm nach Hause! Mom?« Stille. Alle starrten auf das Fenster, auf Lorelle. »Ich will nicht!« rief Karen. Jen wimmerte leise, als sie sich umdrehte und George anschaute. Er ging zu ihr, nahm sie in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr. »Bitte, Kleines, bitte geh jetzt zurück ins Haus.« 323
Bevor sie seine Bitte befolgen konnte, rief die verängstigte Stimme eines Mannes: »Carl? Carl, deine Mutter und ich möchten, daß du wieder nach Hause kommst. Es tut uns leid, was passiert ist, und wir … « »Leckt mich am Arsch!« brüllte die Stimme eines jungen Mannes zurück. »Marlene?« rief ein Mann. »Marlene? Liebling? Bitte, komm doch aus diesem … « Hinter Lorelle ertönte das betrunkene Kichern einer Frau, und der Mann, der nach Marlene gerufen hatte, flüsterte: »Oh, mein Gott.« Lorelle begann wieder: »Diese Leute haben sich dafür entschieden, hier bei mir zu sein, und sie werden dieses Haus erst dann verlassen, wenn sie es verlassen wollen. Und noch wollen sie nicht zu euch zurückkehren.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Ihr dürft natürlich jederzeit zu ihnen kommen.« »Nein!« brüllte Quillerman und schüttelte eine Faust in der Luft. « Wenn ihr zu ihnen geht, werdet ihr alle verloren sein!« Gelächter klang aus Lorelles Haus. Als sie sich wieder dorthin umdrehten, war sie verschwunden, und das Fenster war dunkel … aber in dieser Dunkelheit bewegten sich undefinierbare Silhouetten, und hin und wieder drang ein Lachen heraus, als sei dort eine Party im Gange, als würden dort Trinksprüche ausgebracht und Witze erzählt … »Wenn sie nicht bei uns sein wollen«, sagte Mr. Weyland, »warum gehen wir dann nicht hinein und holen sie?« Jetzt redeten alle gleichzeitig, und ihre Stimmen vermengten sich zu einem unverständlichen Gemurmel, aber der Grundton zorniger Zustimmung war keinesfalls mißzuverstehen. »Einen Augenblick, bitte!« rief Pastor Quillerman. »Habt ihr denn nicht gehört?« »Wir haben Sie gut gehört!« feixte jemand. »Aber es lohnt sich nicht, Ihnen zuzuhören!« 324
»Wartet! Bitte! Sind denn keine Christen unter euch?« fragte Quillerman. Mehrere bejahende Stimmen erhoben sich. Doch dann sagte Mrs. LaBianco: »Christ sein kann doch nicht bedeuten, daß man vor solch einer Frau stillhalten muß, vor … vor dieser Hure da drinnen! Sie hat niemanden von meiner Familie bei sich, aber ich bin seit einunddreißig Jahren verheiratet, und ich mache kein freundliches Gesicht, wenn irgendeine hergelaufene Schlampe in mein Leben tritt und meine Ehe kaputtmacht!« »Sie haben es ihr doch selbst gestattet!« sagte Quillerman. »Ja«, erwiderte eine Frau wütend, »genauso, wie mein Mann es wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick der Nutte da drinnen gestattet, weiß der Teufel was mit ihm zu machen!« Quillerman breitete die Arme aus und schrie: »Aber die meisten von euch hier haben ihr doch erlaubt, diese Dinge mit euch zu tun! Wie könnt ihr jetzt über die anderen urteilen?« Eine schwere schwarze Taschenlampe kam aus der Dunkelheit geflogen und traf Pastor Quillerman mit einem krachenden Geräusch an der Nasenwurzel. Er fiel rückwärts gegen seinen Wagen und sackte mit einem leisen Wimmern auf den Boden. George und Robby knieten sich neben ihn, und George rief der Menge zu: »Er hat doch nur versucht, euch zu helfen. Warum habt ihr das getan?« Quillerman, der benommen war und aus der Nase blutete, rollte stöhnend den Kopf von einer Seite auf die andere. Niemand antwortete auf Georges Frage. Sie starrten alle nur auf den gestürzten Geistlichen, richteten die Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen auf ihn und flüsterten einander höhnische Bemerkungen zu. »Wahrscheinlich muß das genäht werden«, murmelte George. Robby flüsterte: »Dad, das hört sich nicht gut an. Ich habe 325
Angst. Die Leute werden immer … ich weiß nicht, sie werden … immer bösartiger.« »Ich weiß.« George drehte sich nach ihnen um. Sie raunzten sich gegenseitig an, stritten miteinander. Er versuchte zu verstehen, was sie sagten. » … hätten auf den Pastor hören sollen.« »Ich war mein ganzes Leben lang Christ. Da brauche ich keinen hergelaufen Idioten, der mir erzählt … « » … würde sagen, wir gehen jetzt einfach hinüber und holen sie raus.« »Hey, ich hab ‘nen Kanister Kerosin in der Garage«, knurrte Weyland. »Wir bringen ihn dort rüber, schütten ihn an ihr Haus, und dann … « » … aber was ist mit all den anderen, die noch im Haus sind, mit … « »Der Teufel soll sie holen, wenn sie unbedingt bei ihr bleiben wollen. Was hat der alte Knabe vorhin gefaselt? Irgendwas von ‘ner Rüstung der Gerechtigkeit? Nun, es ist nichts Gerechtes an jemandem, der mit ihr zusammensein will!« »Mein Gott«, stöhnte George und schloß die Augen. »Das ist verrückt, vollkommen verrückt.« »Dad, was sollen wir tun?« flüsterte Robby. »Mom ist da drinnen, und diese Leute reden davon, daß sie das Haus niederbrennen wollen!« George wandte sich dem Pastor zu, der gerade versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Er nahm ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und reichte es Quillerman, dann fragte er ihn: »Geht es wieder, Pastor?« Quillerman nickte und winkte ihn mit der einen zitternden Hand zur Seite, während er mit der anderen das Taschentuch auf die blutende Nase drückte. George stand auf und schaute sich um, bis er Jen entdeckt hatte. Sie stand mitten auf der Straße und starrte auf Lorelles 326
Haus. Leise Schluchzer schüttelten ihren Körper. George packte Robby bei der Schulter und sagte: »Ich möchte, daß du deine Schwester bei der Hand nimmst. Geht ins Haus und wartet dort auf mich, okay?« Robby nickte. »Kommt nicht heraus, bevor ich euch gerufen habe, und laßt vor allem niemanden rein. Verstanden?« Noch ein Kopfnicken. George klopfte Robby auf den Rücken, und der Junge lief zu seiner Schwester, zog sie von der Straße weg und führte sie hinüber zum Haus. Als sie drinnen waren, schaute George sich wieder um. Diesmal suchte er nicht nach etwas Bestimmtem … es sei denn, nach etwas, das er zu ihnen sagen konnte, etwas, mit dem er ihre Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Sein Blick fiel auf Alana, und er hatte eine Idee. Nachdem er auf die Motorhaube des Pritschenwagens geklettert war, rief er: »He, hört mir mal alle zu.« Schweigen. Finstere Gesichter schauten zu ihm hoch. »Was ihr vorhabt, ist falsch«, sagte er. »Ich verstehe eure Gefühle, aber es funktioniert nicht. Seht ihr diese Leute hier?« Er deutete auf Alana und Will. »Nun, das sind Reporter von … von 193« Er schaute sie an, bis sie sagte: »A Current Affair«, dann fuhr er fort: »Ja, sie sind von A Current Affair, und sie haben eine Fernsehkamera dabei. Wenn ihr das Haus da drüben anzündet, samt der Leute, die sich darin befinden, dann wird das auf einer Videokassette festgehalten. Mit euren Gesichtern.« Alana trat nach vorne und fügte hinzu: »Die Videokamera läuft bereits. Wir haben das alles hier aufgenommen. Mochte vielleicht jemand einen Kommentar abgeben?« Plötzliche Unruhe entstand, als Mrs. LaBianco sich durch die Menge pflügte und brüllte: »Sind Siie etwa immer noch hiiieer?« Sie schoß aus der Menge hervor, die beiden enormen, schwabbeligen Arme ausgestreckt, und … 327
… Alana schrie laut auf, als Mrs. LaBianco sich auf sie stürzte, und … … das war der Moment, in dem das Blutvergießen begann…
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24 DIE MEUTE Ohne Mond oder Sterne am dicht bewölkten Himmel war das Viertel in eine Finsternis getaucht, die beinahe künstlich wirkte, als sei diese Straße nichts anderes als der Hintergrund in einem Hollywood-Studio, mit falschen Häuserfassaden, ausgerolltem Kunstrasen, Plastikhecken und leeren Autos, die man auf die Zufahrten gestellt hatte. Die Szene wurde noch unwirklicher durch die kleine Menschenmenge, die auf der Straße stand und einen lauten Chor der Zustimmung gen Himmel schickte, als Betty LaBianco sich auf Alana Carson stürzte, sie auf den Asphalt warf und begann, sie gnadenlos mit ihren pummeligen weißen Fäusten zu bearbeiten. Alanas Schreie übertönte die Stimmen der Anwohner, während sie nach der dicken Frau trat, die rittlings auf ihr hockte und auf ihr Gesicht und ihre Brust eintrommelte. Will ließ auf der Stelle die Kamera sinken, stürzte nach vorn, legte Betty seinen linken Arm um den Hals und versuchte sie nach hinten zu ziehen, herunter von Alana. »Helft mir!« brüllte er dabei. »Will mir denn niemand helfen!« George war bereits unterwegs. Er packte einen von Bettys Armen und zog zusammen mit Will, aber mit der freien Faust, die bereits blutverschmiert war, drosch sie weiter auf Alana ein und stieß zwischen den geschlossenen Zähnen hervor: »Ihr Scheißreporter, kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten und steckt eure Scheißnasen nicht in … « Sie unterbrach ihren Wortschwall lange genug, um die Faust zu schwingen und sie George in den Unterleib zu rammen. George klappte zusammen und schlug hart auf dem Pflaster auf. Ihm blieb die Luft weg, während er über den Asphalt rollte, seine Augen füllten sich mit Tränen und sein Bauch schmerzte, als wäre er aufgerissen worden. 329
»Aufhören, Betty!« brüllte Pastor Quillerman mit heiserer Stimme. »Betty, bitte hören Sie auf!« Er versuchte sich hochzurappeln, aber in seinem Kopf drehte sich alles, und er kippte immer wieder auf die Seite. Verzweifelt, das Gesicht blutverschmiert, sah Quillerman, wie sich vier Männer aus der Menge lösten und auf das Handgemenge zusteuerten. Erleichtert lehnte er sich mit dem Rücken gegen seinen Wagen. Jetzt würde die Journalistin Hilfe bekommen, aber … … die vier Männer packten Will, zogen ihn von Betty weg und schlugen ihn zu Boden. Seine Kamera schepperte und splitterte, als sie über das Pflaster rollte. Die Männer beugten sich über Will und begannen, ihn mit ihren Fäusten und Taschenlampen zu bearbeiten, ihn zu treten und auf ihm herumzutrampeln. Während er auf Will einschlug, kläffte Mr. Weyland: »Diese Scheißjournalisten – das ganze verfluchte Land haben sie ruiniert, kaputtgemacht haben sie es!« George erhob sich mühsam auf Hände und Knie, die Zähne hatte er immer noch so fest aufeinander gepreßt, daß seine Kiefer schmerzten. Er erkannte Weylands Stimme, obwohl sie sich verzerrt und gemein anhörte, und als er den Blick hob, sah er die Männer, die wild auf jemand eintraten und die Fäuste fliegen ließen. Während er ihnen hilflos zuschaute, gesellte sich zu dem brennenden Schmerz, der sich von den Hoden über den gesamten Unterleib ausgebreitet hatte, noch eine furchtbare Angst, die ihm bis hinauf in die Kehle kroch. Irgend etwas passierte um ihn herum. Die Struktur der Nacht begann sich zu verändern. Die Luft war plötzlich mit einer bösen, negativen Energie geladen, unter der sich die Haare in Georges Nacken aufstellten und die seinen ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzog. Vor Schmerzen und Übelkeit stöhnend, richtete George sich auf und versuchte, das Gleichgewicht zu finden, als … … Betty LaBianco sich von Alana Carsons regungslos 330
ausgestrecktem Körper erhob und aufstand. Dir Sarong glänzte jetzt feucht im Schein der Taschenlampen. Sie schlug die blutgetränkten Hände gegeneinander, als müsse sie sich Staub abklopfen, und wandte sich an die vier Männer … … die gerade von ihrem Opfer abließen, dessen Blut überall auf ihre Kleidung gespritzt war und sich jetzt in einer immer größer werdenden Pfütze auf dem Pflaster ausbreitete. Sie tauschten Blicke aus, zuerst untereinander und dann mit Betty, bevor sie sich an die Menge wandten. »Okay«, sagte Weyland, »und jetzt holen wir uns die Fotze, die das alles angezettelt hat!« »Wartet!« rief ein Mann. »Unser Sohn ist in diesem Haus!« »Dann haben Sie ihn bereits verloren«, erwiderte Weyland. »Das ist nicht wahr!« schrie Quillerman. Weyland wandte sich zu Quillerman um und ging langsam auf ihn zu. »Diese Menschen sind noch nicht verloren!« fuhr der Pastor fort. »Aber ihr werdet verloren sein, wenn ihr eure Absicht in die Tat umsetzt! Dir erlaubt ihr, das Schlechteste in euch wachzurufen, das Böse in euch!« Weyland beugte sich mit geballten Fäusten über dem Pastor auf und sagte mit leiser, heiserer Stimme: »Wir tun hier Gottes Werk, Pastor!« Das letzte Wort hatte er beinahe ausgespuckt. Dann holte er mit dem rechten Fuß aus und trat Pastor Quillerman ins Gesicht. Blut lief dem Pastor aus Nase und Mund. Sein Kopf kippte nach hinten und schlug krachend gegen die Seitentür des Wagens. Er glitt seitwärts herunter, bis er bewußtlos auf dem Boden liegenblieb. Weyland drehte sich gerade um, als … … George sich auf unsicheren Beinen vor ihm aufbaute und ihn bei den Schultern packte. »Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht!« schrie George ihm ins Gesicht. »Meine Frau ist in diesem Haus! Und Ihre Tochter ist auch … « 331
»Meine Tochter ist aus freien Stücken dort«, brummte Weyland und stieß George zur Seite. »Und was mich angeht, so bin ich der Meinung, daß meine Tochter deswegen eine ebensolche gottlose Hure ist wie die Schlampe, bei der sie sich verkrochen hat, diese Schlampe, die sogar eine Mörderin sein könnte, wenn sie irgend etwas mit dem zu tun hat, was den Garrys zugestoßen ist – und ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, aber ich glaube, daß sie etwas damit zu tun hat!« »Dann rufen Sie die Polizei.« Weyland lachte, dann wandte er sich zu der Menge um und brüllte: »Sollen wir die Polizei rufen oder sollen wir uns selber um diese Schlampe kümmern?« Ihre Stimmen erhoben sich zu einem unverständlichen, aber zustimmenden Gejohle, das sich zu einem langanhaltenden, wilden Jubelsturm auswuchs. Fäuste schlossen sich fest um die Griffe von Taschenlampen und reckten sich hoch in die Luft. Die Menge setzte sich geschlossen vom Pritschenwagen des Pastors aus in Bewegung, auf Lorelles Haus zu, alle liefen sie dorthin, außer Weyland, der sich umdrehte und zu seinem eigenen Haus rannte. George schaute ihm nach, dann wandte er sich zu Pastor Quillerman um, der immer noch bewußtlos am Boden lag, und schließlich blickte er der vorwärtsrückenden Menge hinterher. Plötzlich fühlte er sich isoliert und einsam, außerdem war er so müde, daß er sich am liebsten hingelegt, die Augen geschlossen und alles um sich herum vergessen hätte, einschließlich seiner Frau und seiner Kinder. Aber er konnte es nicht, wollte es nicht, und deshalb lief er hinter der Menge her. Der Schmerz hatte nur wenig nachgelassen, und er humpelte immer noch, aber das Wissen darum, daß Karen sich in diesem Haus befand und in Gefahr war – wie alle anderen auch, die Lorelle in ihr Haus gelockt hatte –, gab ihm Kraft und half ihm dabei, den Schmerz zu vergessen. Er folgte der Menge in einigem Abstand, bald würde er sie 332
eingeholt haben. Nur war das kein besonders tröstlicher Gedanke, denn … … Georges Nachbarn, jung und alt, hatten sich in eine Meute schreiender, zähnefletschender Wilder verwandelt, mehr Tiere als Menschen, durch deren Adern nur noch der kalte Haß pulsierte. In ihren Augen war statt der Pupillen nur mehr das Weiße zu sehen, und die meisten von ihnen hatten die Zähne zu einem grauenhaften Grinsen entblößt, das an Totenschädel mahnte, als sie jetzt auf Lorelles Haus zuliefen wie eine Horde Schulkinder, die in der Pause den Schulhof stürmt. George, der ihnen nacheilte, betete inbrünstig, während … … Robby am Wohnzimmerfenster stand und die Szene beobachtete. Jen klammerte sich an seinem Arm fest, als hinge ihr Leben davon ab. Er konnte spüren, wie ihr Herz gegen seinen Ellbogen hämmerte. »Was haben Sie vor?« fragte sie mit vor Angst zitternder Stimme. Robby antwortete nicht. Er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. »Sieh nur«, sagte Jen und zeigte mit dem Finger auf eine einzelne Gestalt, die in einigem Abstand zu ihrem Vater die Straße überquerte. »Mr. Weyland.« »Er … trägt etwas bei sich.« Eiseskälte strömte durch Robbys Venen, als er den Gegenstand erkannte, den Mr. Weyland mit sich schleppte; er riß sich von Jen los und hastete an die Haustür. Als sie ihm folgen wollte, drehte er sich um und rief: »Bleib, wo du bist!« »Ich bleibe nicht allein im Haus.« »Aber … wenn Mutter nun heimkommt, und es ist niemand hier.« Ihre Schultern sackten herunter, sie schaute ihn traurig an, schüttelte den Kopf und sagte: »Robby, du weißt doch genau, daß Mom nicht von selbst heimkommt. Lorelle wird sie nicht 333
weglassen. Lorelle hält sie gefangen, sonst wäre Mom doch schon längst wieder hier.« Er konnte nicht mit ihr streiten, denn er wußte nur zu genau, daß sie recht hatte, also protestierte er nicht, als sie ihm zur Haustür hinaus folgte, während … … George den Angriff der Menge auf Lorelles Haus beobachtete. Zerbrochenes Glas knirschte unter stampfenden Füßen. Die Gardenien vor dem Haus wurden niedergetrampelt, und der quaderförmige schwarze Briefkasten an der Wand neben der Haustür wurde herausgerissen und die Verandastufen heruntergeworfen. Während Fäuste und Füße gegen die Haustür traten und trommelten, schrien wütende Stimmen durcheinander und verlangten nach Kindern und Ehegatten. Am lautesten verlangten sie nach Lorelle. Die Lichtstrahlen der Taschenlampen kreuzten sich wie Schwertklingen, während sie sich in dieser und jener Richtung durch die Dunkelheit bohrten. Hin und wieder fiel ein Lichtstrahl durch eines der zerbrochenen Fenster und traf auf blasses, nacktes Fleisch und grinsende Gesichter. Spöttisches Gelächter tönte aus dem Inneren des Hauses nach draußen. George warf sich in die Menge, stieß Leute zur Seite, während er sich dem Fenster näherte, in dem er vorhin Karen gesehen hatte. Schartige Glasscherben standen aus dem Rahmen hervor wie durchsichtige Reißzähne. George richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf das Fenster. Nackte Gestalten bewegten sich in der Dunkelheit, einige von ihnen standen, andere lagen umschlungen auf dem Boden – sie kicherten, keuchten oder stöhnten … »Karen?« brüllte er und beugte sich in das Fenster. »Karen? Wo bist du?« Keine Antwort. Hinter sich hörte George die bellende Stimme Weylands: »Okay, alles aus dem Weg! Zurück! Ich komme!« Als George sich umdrehte, sah er, wie Weyland sich mit 334
einem blauen Dreißig-Liter-Kerosinkanister dem Haus näherte, der Deckel baumelte lose an einer dünnen Kette von dem Einfüllstutzen herunter. »Nein! Stop!« rief George und warf sich Weyland in den Weg, als … … Weyland gerade den Kanister hob und George dagegenprallte. Die Flüssigkeit planschte in dem Behälter umher, schwappte durch den Stutzen und spritzte George gegen die linke Wange und auf die Schulter, lief ihm in den Nacken, brannte ihm auf der Haut. Hustend und spuckend taumelte George nach hinten. Weyland grinste. »Willste noch ‘n Schluck, Pritchard?« »Bitte … bitte nicht … « »Dann versuch mal, mich aufzuhalten!« Er ging um George herum und rief zurück in die Menge: »Okay, wer hat ‘n Feuerzeug dabei?« George zuckte zusammen vor dem stechenden Geruch und dem Brennen des Kerosin, das Weyland über ihn gegossen hatte, aber … … es roch überhaupt nicht nach Kerosin. Er lief hinter Weyland her, packte den rasenden Mann am Arm und riß ihn zu sich herum. »Das ist Benzin!« brüllte er. »Das ist kein Kerosin, du Idiot! Du wirst dich selbst umbring …« Weylands Faust traf George am Unterkiefer, und schickte ihn auf den mit Glasscherben übersäten Rasen. Dann wandte er sich von George ab und wurde sogleich von der Menge verschluckt. George setzte sich langsam auf und rieb sein Kinn. Wußte Weyland wirklich nicht, daß sich in dem Kanister Benzin befand und kein Kerosin? Oder wußte er nicht – daß Benzindämpfe, im Gegensatz zu Kerosindämpfen, entzündbar waren und um ein Feuer herum detonieren konnten? Ihm blieb kein Zeit herauszufinden, warum Weyland sein Leben und all das der anderen Menschen vor Lorelles Haus in Gefahr brachte 335
– er mußte Karen herausholen. Deshalb sprang er auf, lief zurück zu dem Fenster und schrie: »Karen, wo bist du? Karen, komm sofort heraus!« Plötzlich tauchte sie im Rahmen des Fensters vor ihm auf, splitternackt, und rief: »Buuhh!« Ihre Augen waren halbgeschlossen, und sie lachte betrunken über ihren kleinen Scherz, während sie hin und her schwankte. »Karen, komm heraus, und zwar sofort!« »Aber ich hab doch nichts an«, kicherte sie. Dann wedelte sie mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum, rümpfte die Nase und sagte: »Du stinkst.« »Karen, du mußt da heraus! Sie zünden das Haus an, und alle, die drinnen sind … « »Das ist nicht so schlimm«, sagte eine Stimme hinter ihr. George bewegte die Taschenlampe, bis ihr Lichtstrahl auf Lorelle fiel. Sie war nackt … und wunderschön … »Eigentlich ist doch alles nicht so schlimm, oder, George?« fragte sie ihn. Oder hatte sie gar nichts gesagt? Plötzlich war George sich nicht sicher, ob sie die Worte gesprochen hatte oder ob sie ihm einfach durch den Kopf gegangen waren. »Deine Familie gibt es nicht mehr, George«, fuhr Lorelle – und jetzt hatte sie zweifellos selber gesprochen – mit ihrer dunklen, kehligen Stimme fort. »Es ist vorbei. Du hast deine Frau verloren – oder sollte ich sagen: Noch eine Frau verloren? Und deine Kinder werden ihr mit Sicherheit folgen, wenn sie sehen, wie jämmerlich du bei der Rettung ihrer Mutter versagt hast.« Die wütenden Stimmen um ihn herum, das Krachen der Haustür, die unter den Schlägen der aufgebrachten Menge zersplitterte, und das laute Knacken der Bohlen, die aus der Hauswand gebrochen wurden, alles das versank, während er Lorelle zuhörte. Sein Schmerz war vergessen, und er spürte die wachsende Enge in seiner Hose; nach ein paar verschwommenen Augenblicken wurde ihm klar, daß sie auf 336
die Erregung zurückzuführen war, die allein der Klang von Lorelles Stimme in ihm auslöste. »Also, warum kommst du nicht herein, George?« gurrte sie, und diese Stimme schien ihm das einzige Geräusch auf der ganzen Welt zu sein. »Komm herein … entspanne dich … mit deiner Frau … und mit mir … wir alle drei, George … zusammen … « Es wäre nicht schwer gewesen, einfach durch das Fenster zu klettern. Er hätte nur auf die Scherben aufpassen müssen, die noch im Rahmen steckten, und dann wäre er drinnen gewesen … ein Teil dieser angenehmen Dunkelheit, die Lorelle und Karen umgab … All die schrecklichen Dinge, die hier draußen passiert waren, könnte er dann vergessen … all die Verwirrung und die Angst und die Wut und der Schmerz wären vorbei … aber … … er roch wieder das Benzin, schaute von Lorelle zu Karen hin, streckte seine Hände aus und flehte sie an: »Komm mit mir, Karen, bitte, die Kinder brauchen dich, ich brauche dich, um Gottes Willen, Karen, ich liebe dich, und ich werde dich nicht hier zurücklassen – klettere durch dieses Fenster, Karen, jetzt gleich, mach schnell … « Er schwieg, denn er sah, wie sich ihre Augen für einen Moment aufhellten. Sie öffneten sich, der dunkle, trunkene Blick verschwand aus ihnen, sie blickte auf die Glasscherben, die unten im Fensterrahmen steckten und sagte: »Aber ich … ich werde mich schneiden.« Ihre Stimme war schwach, aber klar und deutlich und – auf einmal – voller Angst. Schnell trat George einen Schritt nach vorne und schlug mit dem Schaft der Taschenlampe die Scherben aus dem Fensterrahmen. Dann stützte er einen Arm auf den Sims, wollte sich hochziehen und durch das Fenster klettern, um Karen nach draußen zu bringen, aber … … Lorelle grinste ihn an und flüsterte: »Ja, George, komm herein … komm herein zu uns … « 337
Er erstarrte in der Bewegung, schaute ihr zu, wie sie ein paar Schritte nach vorne kam und sich direkt hinter Karen aufstellte. Sie schlang beide Arme um Karens Körper, legte eine Hand auf ihren Unterleib und die andere auf ihre Brust und lächelte George über Karens Schulter hinweg an. Aber das war nicht das Schlimmste. Karen lächelte jetzt auch, dann warf sie den Kopf in den Nacken und fing laut an zu lachen. Verzweifelt wich George von dem Fenster zurück. Er fühlte sich, als sei er ausgehöhlt, und in der Zeit eines Herzschlags spulten sich alle Ereignisse der Vergangenheit in seinem Gedächtnis ab. Er dachte daran, was er Karen angetan hatte; er dachte an seine Untreue, seine Grausamkeit, an seine haßerfüllten Gedanken ihr gegenüber, und plötzlich fühlte er sich wie gelähmt von Gewissensbissen. Wie gleichgültig es ihm jetzt war, daß auch Karen sich schuldig gemacht hatte – George dachte nicht einmal mehr daran. »Bitte, Karen«, sagte er, und die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, würgten ihn in der Kehle. »Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, und ich … ich verspreche dir, daß ich alles wiedergutmachen werde, wenn du nur mit mir kommst. Alles wird gut werden, ich schwöre es dir. Bitte, wir brauchen dich, Liebling, wir … « »Ich würde es nicht ertragen, nur noch einen einzigen Blick auf deinen häßlichen Schwanz werfen zu müssen«, höhnte sie. Georges Worte zerkrümelten zu einem leisen, jämmerlichen Geräusch, als er entgeistert und mit offenem Mund in das Gesicht seiner Frau starrte. »Dad! Dad!« Er hörte Robbys Stimme, aber er drehte sich nicht um, konnte sich nicht umdrehen. Er wußte, daß er Karen zum letztenmal sah … und sie lachte höhnisch. Der Geruch nach Benzin lag jetzt schwer in der Luft, und als George einen Blick nach rechts warf, entdeckte er Weyland, 338
der sich ihm auf der Vorderseite des Hauses näherte, überall entlang der Hauswand das Benzin verspritzend, das er für Kerosin hielt. »Dad«, rief Robby und packte Georges Arm, »wir müssen machen, daß wir … « »Mom!«, schrie Jen hinter ihm, lief an George vorbei zu dem Fenster, aber … … George streckte blitzschnell einen Arm aus und riß sie zurück. »Laß mich gehen!« schrie sie ihn an. »Mom! Mommy, was tust du denn da drin? Du mußt sofort rauskommen, jetzt gleich …« Jetzt wurden sie alle drei von Armen, die aus der Menschenmenge auf sie zukamen, zur Seite gestoßen. George und Robby stürzten zu Boden, aber Jen stolperte nur, immer noch nach ihrer Mutter rufend. »Alle zurück!« rief Weyland. Lorelle begann zu lachen, und ihr Lachen übertönte die wilden Stimmen. Die Menge wich langsam von dem Haus zurück, und George rappelte sich mit Robby zusammen hoch. »Lauf zum Haus!« brüllte er. Robby zögerte. »Lauf, hab ich gesagt!« Als der Junge losrannte, schaute George sich nach Jen um. Sie war für einen Moment in der Menge verschwunden, doch dann entdeckte er sie, als sie gerade versuchte, sich zum Haus durchzudrängeln. Immer noch rief sie nach Karen, die jetzt nicht mehr zu sehen war. Das Fenster blieb leer und dunkel. »Jen!« Jennifer!« brüllte er. Sie hörte nicht auf ihn. George stürzte vorwärts, stieß die Leute, die ihm im Weg standen, auf die Seite und warf seine Arme von hinten um seine Tochter. Er hob sie vom Boden auf und drehte sich um, weil er sie so schnell wie möglich vom Haus wegbringen 339
wollte, als … … jemand eine brennende Kerosinlampe gegen das Haus Lorelles schleuderte, und … … die Lampe unterhalb des Fensters gegen die Wand schlug, als … … George seine Tochter gerade vom Haus wegzerrte, wobei er wieder die Leute zur Seite stieß, entsetzt über das Grinsen der Vorfreude auf ihren Gesichtern. Jen begann zu kreischen, als … … ein ohrenbetäubendes Krachen die Nacht in einen grellen, orangefarbenen Feuerball verwandelte und um sie herum ein Geschrei anhob, das direkt aus der Hölle zu kommen schien, als … … die Menschenansammlung von einer mächtigen, alles hinwegfegenden Feuerwand beiseitegefegt wurde und eine Anzahl von Körpern in Flammen aufgingen, noch während sie zu Boden stürzten. Auch George brüllte, als er zusammen mit Jen zu Boden geschleudert wurde, weil … … Flammen aus seiner rechten Gesichtshälfte und seiner Schulter schlugen und das Zischen seiner eigenen brennenden Haut die Schreie der brennenden Menschen um ihn herum übertönte. Er preßte sein Gesicht in das feuchte Gras und rollte den Kopf hin und her, immer noch schreiend, aber der brennende Schmerz breitete sich vom Unterkiefer über den Hals bis zur Schulter aus, als das Feuer sich blitzschnell durch seine Jacke fraß; es war nicht zu ertragen, George verlor das Bewußtsein und spürte nichts mehr … Robby war losgelaufen, als sein Dad es ihm befohlen hatte, aber er lief nicht ganz bis zum Haus. Er blieb auf der Straße neben dem weißen Pritschenwagen stehen, wo Pastor Quillerman sich gerade unter großer Mühe und großen Schmerzen am Türgriff hochzog. Robby drehte sich um und schaute zu Lorelles Haus, die letzten paar Schritte ging er 340
rückwärts, während er den Blick nicht von der aufgebrachten Menge wandte. Er entdeckte seinen Vater und Jen und behielt sie im Auge. »W-was … was ist da drüben?« krächzte Pastor Quillerman. Sein Gesicht war dunkel von Blut, der Schnurrbart war ganz verklebt, das Fleisch um das Glasauge herum war aufgequollen und dunkel, aber er schien sich nicht sonderlich für seine eigenen Verletzungen zu interessieren. Robby wußte erst nicht, was er sagen sollte, dann antwortete er so einfach und präzise, wie es ihm möglich war: »Sie sind alle verrückt geworden.« »Ja«, sagte Quillerman. »Das ist es, was sie erreichen wollte.« Robby schaute zu, wie sein Vater Jen vom Haus wegzerrte, aber dann wurde seine Aufmerksamkeit von der durch die Luft wirbelnden Kerosinlampe in Anspruch genommen. Er stieß einen Schrei aus, als die Flammen in die Höhe schossen. Einen kurzen Augenblick lang noch – dann fing die Luft Feuer, und … … Körper flogen mit gespreizten Armen und Beinen durch die Gegend, und … … Robby rannte bereits, bevor er überhaupt gemerkt hatte, daß er losgelaufen war, schrie nach seinem Dad, bevor er merkte, daß er einen Ton ausstieß, denn sein Dad war zu Boden geschleudert worden, und sein Gesicht und seine Schulter standen in Flammen. Jen kniete neben ihm, brüllte, versuchte zu helfen, war aber viel zu durcheinander, um etwas Sinnvolles tun zu können. Robby zog beim Laufen die Jacke aus, und dann stürzte er sich auf seinen Vater, die Jacke vor sich haltend. In Sekundenschnelle hatte er die Flammen erstickt, aber der grauenhafte Gestank nach verbranntem Fleisch ließ sich nicht vertreiben. Er heulte und brüllte, während er die Flammen löschte, und als er fertig war, wagte er es nicht, die Jacke vom 341
Gesicht seines Vaters zu ziehen. Jen schrie immer wieder »Daddy, Daddy, Daddy!« aber sie verstummte auf der Stelle, als Robby die Jacke wegzog und das enthüllte, was vom Gesicht seines Vaters übriggeblieben war. Sein rechtes Auge war weit geöffnet, aber das linke war tief begraben unter verkohltem, schwarzglänzendem Fleisch. Robby hob den Kopf, weil er um Hilfe rufen, jemand bitten wollte, einen Krankenwagen zu holen, aber dann fiel ihm ein, daß die Telefone nicht funktionierten. Schluchzend wandte er sich zu Lorelles Haus um. Ein Inferno. Körper lagen überall auf dem Rasen; einige von ihnen brannten, andere qualmten nur noch, ein paar hatten sich hochgerappelt, wieder andere ruhten regungslos im Gras. Stimmen kreischten hysterisch, Männer brüllten, Frauen schrien. Irgend jemand war in irres Lachen ausgebrochen. Die rasenden Flammen hatten das Haus verschlungen. Robby drehte sich der Magen um, als sein Blick darauf fiel. Seine Mutter war in diesem Haus gewesen. Schlimmer noch: Sie war freiwillig in diesem Haus geblieben. Das Tosen der Flammen wurde plötzlich lauter, und für einen Moment loderte das Feuer heller. Mit einem donnernden Geräusch bündelten sich die Flammen und schossen hoch in die Luft, dann flackerten sie zu beiden Seiten – und formten sich zu der vertrauten Form weit gespreizter Flügel, zu einem glühenden Kopf und den Umrissen eines aus Feuer geformten weiblichen Körpers. Ein dumpfes, rumpelndes Geräusch ließ den Boden unter Robbys Füßen erzittern. Der Kopf aus Feuer hob sich, ein Mund öffnete sich, und dann … … war die Erscheinung in einer Säule aus schwarzem Rauch verschwunden und das Feuer brannte wieder wie zuvor. »Sie geht an einen anderen Ort.« Robby drehte sich um und sah Pastor Quillerman, der hinter ihm stand und auf das Feuer starrte. 342
»Sie wird woanders hingehen und dort von vorne anfangen. So, wie es all die anderen ihrer Sorte tun. Und mit jedem Tag wird es leichter für sie und das Böse, dessen Sendboten sie sind.« Er kniete nieder zwischen Robby und Jen – die weinend das Gesicht in den Handflächen vergraben hatte – und schaute mit zerfurchter Stirn auf George herunter. »Er muß sofort in ein Krankenhaus. Wir nehmen meinen Wagen. Von unterwegs können wir Feuerwehr und Krankenwagen losschicken.« Eindringlich schaute er Robby und Jen an und fragte mit leiser Stimme: »Seid ihr beiden in Ordnung? Ihr seid doch nicht verletzt?« Robby schüttelte den Kopf. Jen schluchzte in ihre Hände: »Ist er tot?« Quillerman legte seinen Arm um sie. »Nein, mein Kleines, er ist nicht tot.« Sie riß die Hände vom Gesicht. »Aber es werden Narben bleiben. Schlimme Narben.« Quillerman zog sie fest an sich heran und sagte: »Auf die eine oder andere Weise bekommt jeder seine Narben – aber George ist am Leben. Nur das zählt.« Er wandte sich an Robby: »Ich hole den Wagen, dann können wir ihn von hier wegbringen.« Er wandte sich ab, während Robby seinen zitternden Vater mit seiner Jacke zudeckte. Die Schreie und das Schluchzen im Schein des tosenden Feuers waren noch lange nicht verstummt … ENDE
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