Ulf Miehe Ich hab noch einen Toten in Berlin
Roman
s & c by Doc Gonzo Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimm...
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Ulf Miehe Ich hab noch einen Toten in Berlin
Roman
s & c by Doc Gonzo Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt
Lizenzausgabe mit Genehmigung des R. Piper & Co. Verlages, München, für Bertelsmann Reinhard Mohn OHG, Gütersloh, die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland, Kremayr & Scheriau, Wien. Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch's Verlag Nachf, Berlin – Darmstadt – Wien. Schutzumschlag- und Einbandgestaltung K. Hartig Umschlagbild mit Genehmigung des Filmverlags, der Autoren München (aus dem Film »Output«) Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany • Buch-Nr. 1383MO8O
Forget the dead you've left They will not follow you Bob Dylan
1 Sie waren zu dritt, und allen dreien war gemeinsam, daß sie viel Sorgfalt auf ihr Äußeres verwendeten. Alle drei trugen Anzüge, die bestimmt nicht von der Stange waren, und vielleicht wirkten sie ein bißchen zu elegant. Einer von ihnen hatte ein schmales, olivfarbenes Raubvogelgesicht mit dunklen, melancholischen Augen. Seine Haare waren ölig und schwarz, korrekt mit einem Scheitel geteilt und um die Ohren herum und im Nacken sorgfältig ausrasiert. Er drehte sich um, preßte die Lippen zusammen, und sein schwarzes Oberlippenbärtchen zog sich in die Länge zu einem bleistiftdünnen Strich. Der Mann, der vor ihm her den mit Marmorplatten ausgelegten Weg zum Eingang des Gebäudes ging, war groß, sehr groß. Sein Kopf wirkte etwas zu klein im Verhältnis zu den Ausmaßen seiner Glieder, aber dieser Eindruck verlor sich sofort wieder, wenn man ihm in die Augen unter den dunklen, buschigen Brauen sah. Sie waren von einem verwaschenen Blau. Diesen Augen war keine Regung abzulesen. Seine Haare waren weißblond und so kurzgeschoren auf seinem Schädel, daß man sie kaum wahrnahm. Er hatte ungewöhnlich lange Arme und Beine, und sein Rumpf war schmal bis zur Magerkeit, aber das seltsamste an ihm war sein Gesicht. Irgendwann muß er erheblichen Ärger mit seiner Nase gehabt haben, denn sie war breitgequetscht und schien mehrfach gebrochen zu sein. Seine Wangen- und Nasenfalten waren tief eingegraben, und seine Gesichtshaut hatte einen blassen,
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fast gelblichen Ton. Er ging etwas vornübergeneigt, mit hochgezogenen Schultern. Der dritte Mann hatte Angst. Der Große trat als erster durch die Tür, und die Tür führte in eine Bank. Der Große blieb kurz im Eingang der Bank stehen und sah sich nach dem Schwarzhaarigen um, der Sizilianer sein mochte. Der Ängstliche lief fast auf ihn auf. Er war eine Ratte. Als der Große ihn mit einem kleinen bösen Blick festnagelte, wandte er hastig den Kopf ab; noch Sekunden vorher war sein Kopf aggressiv vorgezuckt, als wolle er den Großen angreifen. Er verkroch sich förmlich in seinen Anzug und zog eine Beretta aus der Jackentasche. Er hatte ein frisches, rundes Gesicht mit auffallend gesunder Gesichtshaut. Sie war gerötet, als wenn er aus dem offenen Fenster eines fahrenden Wagens sein Gesicht in den Fahrtwind gehalten hätte. Sein Gesicht war naß von Schweiß, der ihm über die Haut lief und vom Kinn tropfte. Er fuhr sich mit dem linken Handrücken über das Gesicht und nickte kurz. Der Große zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Der Schwarzhaarige trat näher zu den beiden im Flur heran und schob einen Schalldämpfer über den Lauf seiner Pistole. Er blickte kaum hin dabei. Dann gab ihm der Große zwei zusammengefaltete Plastikbeutel, wie man sie an den Kassen von Supermärkten erhält. Als der Große die Tür zum Schalterraum aufstieß, schüttelte der Schwarzhaarige die Platikbeutel auf. Die elektrische Uhr, die im Schalterraum von der Decke hing, zeigte Punkt elf Uhr an. Die Kunden und Bankangestellten bemerkten die drei Gangster zunächst gar
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nicht. Als der Schwarzhaarige über den Tresen sprang, standen die Angestellten langsam hinter ihren Schreibtischen auf. Der Schwarzhaarige stieß den Kassierer beiseite und stopfte die beiden Platikbeutel mit Geldscheinen voll. Die Bankangestellten standen schon mit erhobenen Armen da, als erst die letzten Kunden begriffen, was los war. Der Große blieb mitten im Schalterraum stehen, und der Ängstliche mit dem Bauerngesicht drängte die Kunden in eine Ecke der Schalterhalle zusammen. Einem alten Mann ging die Kraft aus, die Arme oben zu halten; langsam sanken sie herunter. Der Ängstliche zuckte herum, doch der Große bremste ihn mit einem Blick. Mit der Pistole bedeutete er dem alten Mann, sich ein paar Meter abseits von den anderen zu stellen. Als der alte Mann mit unsicheren Schritten von der Gruppe wegschwankte, begann eine dicke Frau hysterisch zu lachen. An der hocherhobenen linken Hand baumelte eine Einkaufstasche. Der mit dem Bauerngesicht schrie: »Ruhe!«, und bevor er weiterreden konnte, sagte der Große: »Verhalten Sie sich ruhig! Sprechen Sie nicht, und bewegen Sie sich nicht! Es ist gleich vorbei. Es ist nicht Ihr Geld. Bleiben sie ruhig.« Der Große machte zwei Schritte auf die Frau zu, nahm ihr die Einkaufstasche aus der Hand und stellte sie auf den Boden. Der Mann mit dem Bauerngesicht hielt die Angestellten hinter dem Tresen mit seiner Pistole in Schach. Als der Schwarzhaarige beide Plastikbeutel mit Scheinen vollgestopft hatte, versuchte ein jüngerer Bank-
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angestellter, der halbversteckt mit erhobenen Armen hinter zwei Frauen stand, sich in Richtung auf die Hintertür des Raums zu bewegen. Die Tür führte zum Nebenausgang. Sie war höchstens einen Meter von ihm entfernt, aber das war viel zu weit für ihn. Der Ängstliche hatte die Bewegung im Ansatz wahrgenommen. Zuerst war nur ein Zucken in seinem Bauerngesicht, ein Muskel unter seinem linken Auge, aber das mochte auch ein Tick sein. Der Schwarzhaarige sprang zurück über den Tresen in die Schalterhalle. Der junge Angestellte hatte kaum die Hälfte des einen einzigen Meters zur Tür hinter sich gebracht, da drückte der mit dem Bauerngesicht das erste Mal ab. Der junge Mann wurde mitten in einem unendlich anstrengenden letzten Schritt auf die Tür zu abgefangen und gegen die kalkweiße Wand geschleudert. Der Ängstliche feuerte mit ausgestrecktem Arm. Dreimal schoß er, und der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Augen und Mund weit aufgerissen, blieb der Angestellte noch eine Weile wie an die Wand genagelt stehen. Er hatte den Ausdruck blöden Erstaunens im Gesicht, als sein Körper langsam die Tapete hinunterrutschte. Die Blutspur zog sich breit die Wand hinunter bis zum Boden. Fast im selben Augenblick zuckte der Große herum zum Eingang, aber es war schon zu spät. Ein vierter Schuß detonierte bei der Tür. Die Kugel traf den Großen mit voller Wucht in die Brust. Sie richtete den Mann, der sich im Herumdrehen ein wenig abgeduckt hatte, noch einmal zu seiner vollen Größe auf. Sein Kopf wurde zurückgerissen,
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und als er langsam nach vorn sackte, starb er. Ein Schatten lief über sein Gesicht, und ganz plötzlich verschwammen seine Augen. Sekundenlang lag auf seinem Gesicht die Zartheit und die Fassungslosigkeit eines böswillig verletzten Kindes. »Mein Gott, Sie machen ja alles dreckig!« Es war die entrüstete Stimme des Bankdirektors, der auf den roten Streifen an der Wand deutete. »Ist das etwa Blut? Das geht doch nie wieder weg!« Der Bankangestellte, den der Ängstliche dreimal getroffen hatte, stand jetzt langsam vom Boden auf und klopfte sich die Hose ab. Der Große, der im Kundenraum gestorben war, zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte den Rauch mit gierigen Zügen und blickte zur Kamera. Gorski stand neben dem Kameramann und starrte angestrengt auf den Boden, um nicht zu explodieren. Er murmelte etwas vor sich hin. Ich konnte es nicht genau verstehen, aber es klang wie: »Das geht nie wieder weg. Das ist mein Blut.« Der Bankdirektor war höchstens fünfunddreißig; er trug einen akkuraten Anzug mit Weste. Wir waren schon mehrere Stunden in seiner Bank, und wenn er nicht ständig nervös um uns herumgetänzelt wäre, dann hätten wir die letzte Aufnahme wahrscheinlich schon längst im Kasten gehabt. »Herr Gorski wollte damit nur sagen, daß er es durchaus verstehen kann, wenn Bankdirektoren kein Blut sehen können«, sagte ich. »Ist Ihnen schon einmal aufgefallen,
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daß gebrauchtes Geld und frisches Blut einen ähnlichen Geruch haben?« Als er wieder den Mund öffnete zu einem großen A wie Aber, drehte ich mich einfach um. Auch der schwarzhaarige Gangster zündete sich eine Zigarette an. »Na«, sagte er, »war ich eben nicht wieder unheimlich scharf, wie ich mit der Hocke über den Tresen bin? Bloß dieser Scheißanzug sitzt nicht richtig. Du sagst ja gar nichts, Benjamin.« »Mann«, sagte ich, »du bist überhaupt ein unheimlich heißer Typ.« Seine Augen rutschten noch enger zusammen. »Du abgewichster alter Straßenköter«, sagte er und lachte mich dabei urplötzlich an, »wie, verdammt noch mal, meinst du das jetzt wieder?« »Er sagt immer, was er meint, und er meint immer, was er sagt«, murmelte der Große. »Das Drehbuch kenn ich auch.« Der Schwarzhaarige wirkte gelangweilt. Der Große trat ans Fenster und sah hinaus. Er hatte die Pistole noch in der Hand. »Guck dir das an«, sagte er zu mir. »Die Leute da draußen haben nichts von der Kamera gesehen. Die halten uns für echte Bankräuber. Und da stehn sie nun und glotzen. Unsere Polizei haben sie jedenfalls nicht gesehen, die war nur im Flur.« »Gehst du noch mit nachher?« fragte ich den Großen. »Ausgeschlossen. Solche Feiern, das halte ich nicht mehr aus.«
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»Zu sensibel, unser Gangsterboß«, sagte der mit dem Bauerngesicht. Er grinste breit und sah gar nicht mehr ängstlich aus. »Wieso eigentlich? Sind doch alles nette Leute.« »Geh doch hin, du Biertyp.« Der Mund in dem Bauerngesicht verzog sich leicht. »Ich könnte ja mal tief durchatmen, aber ich tue es nicht, denn dann wärst du nicht mehr da. Ist ein alter Fehler von mir, das Mitleid.« »Ein richtig guter Schauspieler bist du«, sagte der Große, »kannst deine ganzen alten Texte noch auswendig.« Er und der Schwarzhaarige ließen sich im Stehen abschminken, und einen Augenblick später waren beide aus der Bank verschwunden. Die Bühnenarbeiter bauten den Kram ab, Gorski saß auf einer Kiste, und der Kameramann und von Westrum, unser Produktionsleiter, standen um ihn herum. Alle drei schwiegen. »Ärgere dich doch nicht«, sagte ich zu Gorski. »Die vorige Aufnahme war sowieso besser.« »Hier entscheide immer noch ich, wie was ist«, schnappte Gorski. »Ihr seid mir nicht böse«, sagte der Kameramann, »ich muß schnell weg. Meine Frau hat mich seit sechs Wochen nicht gesehen. « »Ist gut.« Gorski stand auf und gab ihm die Hand. »Danke.« Von Westrum nahm die kalte Zigarre aus dem Mund. »Ihr macht euch das schön einfach«, sagte er, »abgedreht und fertig. Affe tot. Den Rest überlaßt ihr großzügig mir
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zum Ausbaden. Erschlagen könnte ich euch alle. Was gibt es denn bei dieser Katastrophe noch zu feiern? Daß du einschließlich dieser Nachaufnahmen hier um hundertfünfzigtausend Mark überzogen hast. Prott hat dir schon geschrieben. Deine Festivaltrophäen zählen nicht ewig, Gorski. Nerven hast du, das kann einen ganz krank machen. Und bei dem Bankdirektor entschuldigst du dich noch. Ich will hier vielleicht noch mal drehen.« »Aber doch nicht mit mir«, sagte Gorski. »Ich kann Prott jede einzelne Mark vorrechnen, wenn dich das beruhigt. Wenn man's genau nimmt, habe ich sogar noch gespart.« »Und der komische Bankdirektor soll den Ketchup selber runterkratzen …«, sagte ich. Aber von Westrum ließ mich nicht ausreden. »Du kannst morgen auch gleich in den Briefkasten sehen, du kriegst nämlich denselben Brief, im Durchschlag.« Er versuchte, sich seine kalte Zigarre anzuzünden. »Morgen früh fahr ich mit Benjamin weg«, sagte Gorski. »Und zwar nach Berlin.« Ich sah ihn erstaunt an. »Vielleicht«, sagte ich. Ich holte mein Drehbuch vom Fensterbrett. Zwei Bühnenarbeiter unterhielten sich angelegentlich über Gorski. »Früher hat's so was nicht gegeben. Wenn der Regisseur etwas gesagt hat, dann war das eben so und basta«, sagte der eine, und der andere ergänzte: »Er hört auf zu viele, der Pole. Auch daß immer der Autor dabei ist! Womöglich redet der noch mit, wo gibts denn so was.« »Bloß auf dich hört er nicht, was?« sagte der erste. »Es
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ist wirklich ein Jammer.« Draußen auf der Straße wurden die Requisiten in die Produktionswagen verladen. Ein Dunst aus Staub und Benzin hing dick über der Straße. Jetzt am Spätnachmittag konnte man den Dreck kauen. Ich wartete vor dem Eingang der Bank auf Gorski. Bis auf die Crew der Bühnenarbeiter hatte sich das Team schon aufgelöst. Die meisten Menschen, die in sechs oder sieben Wochen Drehzeit ausschließlich und jeden Tag zusammen gearbeitet und gelebt haben, wollen möglichst schnell weg und andere oder gar keine Gesichter mehr sehen. Gorski kam raus, und wir zogen mit dem Rest der Crew los zu einem miesen Plüsch- und Glitzerneppladen zum Feiern. Ich lief neben Gorski her: »Hör zu, wegen Berlin …« Aber Gorski hörte nicht zu, und ich hatte keine Lust, mich zu ärgern. Ein Zeitungsverkäufer im grünen Kittel kam uns entgegen. Er hatte einen Packen mit der lila Nachmittagsausgabe der »Abendzeitung« im Arm. Es war ein indischer Student mit blauschwarzem Haar und braunem Gesicht. »Der Spuk ist vorbei!« hieß die Schlagzeile. Darunter stand: »Die Kölner Bankräuber gefaßt, Vicenik von Polizei niedergeschossen.« Ich weiß nicht, warum der Inder so traurig blickte – weil wir keine Zeitung kauften oder weil Vicenik sterben würde. Aber vielleicht sah er immer so aus.
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2 Ich heiße Günter Quitt, aber mein Name tut wenig zur Sache. Was Sie eben gelesen haben, sind die ersten Seiten des Benjamin-Protokolls, das sich in meinen Händen befindet und das ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege. Ich habe nichts zu tun mit der ganzen Geschichte, auch wenn ich die beiden Hauptbeteiligten, den Regisseur Alexander Gorski und den Schriftsteller Benjamin, der sich lieber Filmemacher nannte, gut kannte. Natürlich setzte die Ermittlungsarbeit der Polizei unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat ein. Zeugen wurden verhört, Vermutungen angestellt, Personen verdächtigt. Dazu gehört es wohl auch, daß die Kriminalpolizei unangemeldet und zu durchaus unpassender Stunde in meiner Wohnung auftauchte. Einer der beiden Herren in Zivil verfocht hartnäckig die abenteuerliche These meiner persönlichen Mitwisserschaft, ja gar Beteiligung an den Gorski und Benjamin zur Last gelegten Handlungen. Es gelang mir aber doch, die Herren von der Wahrheit zu überzeugen. Vielleicht aber dürfen sie sich von Dienst wegen gar nicht »überzeugen« lassen; möglicherweise hab ich mich aus ihrer Sicht nur geschickt verteidigt, und die Sache war damals noch längst nicht erledigt für sie. Sie nahmen meine Aussage zur Kenntnis und empfahlen sich. Auch deswegen habe ich mich entschlossen, die Chronik der Ereignisse zu veröffentlichen. Insofern hat mich Benjamin allerdings beteiligt – wenn auch ungefragt. Er
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hat mir seine eigene Darstellung zugespielt. Dieses Protokoll, zum Teil von Benjamin auf Tonbandkassette gesprochen, zum Teil auch mit der Hand in seinem Notizbuch festgehalten, ergibt, zusammen mit meinen persönlichen Recherchen und gesammelten Zeugenaussagen, die wohl zutreffende Rekonstruktion einer Geschichte, die trotz aller polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen bis heute nicht vollständig aufgeklärt werden konnte. Benjamins Text ist unverändert. Wo er Ereignisse überspringt, die zum Verständnis der Vorgänge wichtig sind, habe ich die Ergebnisse meiner eigenen Ermittlungen in Form von Zeugenaussagen über den jeweils fraglichen Zeitraum eingefügt und sie ausdrücklich als solche gekennzeichnet. Selbstverständlich werden auch nach der Veröffentlichung dieses Protokolls noch einige Fragen offenbleiben, Fragen, die nur Alexander Gorski oder Benjamin selbst beantworten können. Aber wie jeder weiß, haben sie es vorgezogen zu verschwinden. Benjamins Aufzeichnungen hat mir die Stewardeß einer Fluggesellschaft überbracht. Die Polizei hat sie dutzendmal vernommen. Viel ist dabei nicht herausgekommen. Ich empfinde es als Ironie, daß Benjamin mir sein Material ausgerechnet von einem Flugzeug aus zuspielte; ein wirklich artistischer Akt hoch aus der Luft, denn ich habe Benjamin vor etwa drei Jahren im Linienflugzeug von Berlin nach München kennengelernt. Wir hatten uns zwar früher schon gelegentlich gesehen, und auch einmal ein paar Worte miteinander gewechselt, aber dabei war es geblieben, obwohl wir vier Jahre lang in derselben Stadt,
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Berlin, lebten. Zum erstenmal aber nahmen wir uns wirklich wahr, als ich ihm mein Eisdessert des spärlichen PANAM-Imbisses anbot, weil mir das nicht bekommt. Diese einfache Geste verblüffte ihn so, daß er das Eis sofort annahm. Aber der nächsten Stewardeß, die Tabletts und Essensreste einsammelte, gab er das Eis mit zu dem Abfall, denn er mußte aus ganz ähnlichen Erwägungen verzichten. Heute spricht man ja über ihn wie über einen Mann, der durch Mauern gehen kann. Diesen Eindruck machte er mir bei unserer ersten Begegnung durchaus nicht. Rein äußerlich war wenig Bemerkenswertes an ihm, außer daß er tagaus, tagein ein und dieselbe Fliegerjacke trug und Cowboystiefel. Er ist weder groß noch klein, eher mittelgroß und dünn mit einem Gesicht, das nach Schädel- und Knochenstruktur eigentlich rund sein müßte, aber dazu ist er zu mager. Straff gepolstert hätte sein Gesicht wahrscheinlich zufrieden ausgesehen. Er trug eine Brille mit großen getönten Gläsern und dünnem Gestell. Sie schien mir sorgfältig ausgesucht. Auf den ersten Blick machte er einen eher schüchternen Eindruck; auch bewegte er sich wohl ein wenig linkisch. Ich glaube nicht, daß dieses Verhalten kalkuliert war. Die Version vom berechnenden Theoretiker und eiskalten Macher Benjamin kann mir jedenfalls niemand erzählen, denn ein Schauspieler war er nun sicher nicht, obwohl er in seinen Filmen mit Gorski gelegentlich als Statist auftrat. Das war wohl mehr auf seine Neugierde an allem, was mit Kino zu tun hatte, zurückzuführen.
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Nachdem sich Benjamin des Erdbeereises entledigt hatte, kamen wir ins Gespräch. Ich sei auf dem Weg nach München, sagte ich, um mit dem Regisseur Alexander Gorski ein Drehbuch für einen Film zu besprechen, das ich nach Motiven einer meiner Erzählungen für ihn geschrieben hatte. Es war unser zweiter gemeinsamer Film. Unser Produzent und Dramaturg beim Fernsehen dafür war Dr. Walter Prott, der später auch der Produzent des Gorski-Benjamin-Teams wurde. Es muß ein Donnerstag gewesen sein, denn ich zeigte Benjamin ein Foto von Gorski in der »Zeit«. Das Foto stand über einer Kritik unseres ersten Films. Benjamin las den Artikel sehr aufmerksam. Ich spürte, daß ihn die Sache interessierte, und da ich nie Arbeitsgeheimnisse vor Kollegen gehabt habe, berichtete ich ihm ausführlich von meiner Arbeit mit Gorski. Alexander Gorski ist auf den ersten Blick das genaue Gegenteil von Benjamin. Er wirkt gedrungen und deshalb neben Benjamin vielleicht etwas kleiner, ohne daß er es wirklich ist. Er ist achtunddreißig Jahre alt. Er kam aus der DDR, wo er das Abitur gemacht und studiert hatte. In Westdeutschland wiederholte er das Abitur, dann studierte er an einer Film- und Fernsehakademie. Er hatte bereits einige Jahre Praxis von der untersten Pike auf hinter sich, als er seinen ersten Spielfilm nach meinem Drehbuch machte. Gorski ist ein hartnäckiger Mensch, und das ist sicher nicht nur auf seine polnischen Vorfahren zurückzuführen, deren Erbmasse er sonst gern seine Eigenheiten zuschreibt. Es war immer ein tröstlicher Gedanke für ihn, daß er den Lebensunterhalt
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für sich und seine Familie notfalls auch mit körperlicher Arbeit verdienen konnte. Benjamin hörte aufmerksam und höflich zu. Er werde ihn ja kennenlernen, sagte ich, Gorski hole mich am Flughafen Riem ab. Als die STOP-SMOKiNG-Schilder aufleuchteten, drückte Benjamin gehorsam seine Zigarette aus. Im Warteraum des Flughafens machte ich Gorski und Benjamin miteinander bekannt. Benjamin wirkte fast kühl vor Zurückhaltung. Gorski nahm ihn wie beiläufig zur Kenntnis und erzählte mir während der Fahrt in die Stadt von einer neuen Filmidee. Lange Zeit sah ich Benjamin nicht. Ich dachte erst später wieder an ihn, als Gorski mich für einen neuen Film haben wollte. Da ich aber die Arbeit an einem größeren Roman nicht unterbrechen wollte, fragte ich Benjamin, ob ihn die Sache interessiere. Gorski und Benjamin kamen zum zweitenmal zusammen. Der Rest ist bekannt. Sie machten zwei Filme, die ihr Echo hatten, wenngleich sie anfangs auch bei weitem nicht die kommerziellen Erfolge waren, als die sie sich heutzutage bei ihrer Wiederaufführung herausstellen – wahrscheinlich als Folgeerscheinung der neuen, ganz anderen Publizität von Gorski und Benjamin. Gorski hatte einen neuen Partner und Benjamin seinen ersten. Ihre Vorliebe galt dem Genrefilm, und ihr drittes Projekt, von dem ich hörte, daß es ein Kriminalfilm in Berlin werden sollte, beschäftigte sie schon, als sie noch an ihrem zweiten gemeinsamen Film arbeiteten.
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Nun ist es wohl noch meine Pflicht mitzuteilen, daß von offizieller Seite Zweifel an der Echtheit von Benjamins Aufzeichnungen laut wurden. Das ist das gute Recht der Behörden. Ich hatte mich selbst schon gefragt, mit welchen Schlenkern man höheren Orts wohl auf das Benjamin-Protokoll reagieren würde. Der vorliegende Text stammt, abgesehen von den ausdrücklich gekennzeichneten Zeugenaussagen meiner Kronzeugin Anna Przygodda, ganz ohne Zweifel von niemand anderem als Benjamin. Seine Stimme auf den Tonbandkassetten und seine Handschrift in dem Notizbuch sind einwandfrei identifiziert worden, und das nicht nur von mir. Das Gerücht, der ganze Bericht sei eine Mystifikation von meiner Hand, ist darum besonders töricht. Aber wo, wie in dieser Affäre, Wahrheit und Lüge, Traum und Wirklichkeit ineinander verschwimmen, blüht derlei krauser Unsinn gern. München 1972/73 Günter Quitt
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3 Gorski saß mir im Zug gegenüber. Das war so eine seiner Ideen, im Interzonenzug zu fahren; es entsprach der Bedächtigkeit, mit der er sich Problemen nähert. Er bringt mehr als nur geographisch meßbaren Abstand hinter sich während der Zugreise nach Westberlin. Fahren erleichtert ihm das Umschalten auf eine neue Geschichte. Er hatte eine leere Bierdose auf dem Klappbrett stehen, rauchte und starrte aus dem Fenster. Draußen zog Landschaft vorbei. Flache, wohlangeordnete und gleichmäßig bearbeitete Felder mit Feldwegen und Zäunen dazwischen. Es sah alles so ordentlich aus, als würden die Feldwege wöchentlich gefegt. Das Licht war trübe wie an einem Wintermorgen ohne Schnee, und die reinliche, übersichtlich eingeteilte Landschaft wirkte nicht gerade erheiternd. Ich hätte jetzt schon auf dem Weg nach Barcelona sein können. Mondo, der Große, hatte die halbe Nacht am Telefon auf mich eingeredet in diesem gräßlichen Plüsch- und Glitzerschuppen, wo fünf Lamettafritzen tapfer ihren Beat häkelten, der nach Marsch klang, ein paar Mädchen mit Namen wie Yvonne und Denise la Rue sich widerwillig von ihren Dessous trennten und der Sekt teuer war wie Champagner, aber Kopfschmerzen machte wie deutscher Schaumwein. Dann war da noch eine, die sang ein Lied. Die fand ich schön. Mondo hatte einen VW-Bus umgebaut zum Schlafen, einen Tag hätten wir für Burgund gebraucht, dann die Rhone, die Provence, die Pyrenäen, Spanien. Schon lange hatte ich vorgehabt, einmal eine
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Geschichte für einen Film ganz auf ihn zu schreiben, denn er ist mehr als nur ein Gesicht oder ein Typ. Fast wäre ich mitgefahren, aber ich tat es nicht. Da war noch der Plan mit Gorski, und angerufen hatte ich auch schon deswegen in Berlin. Gorski machte nicht den geringsten Versuch, meine Entscheidung zu beeinflussen. Er redete mit den anderen, als hätte er schon eine überzeugende realistische Geschichte für den nächsten Film in Berlin in der Tasche – und zwar etwas, was wir nicht schon in amerikanischen und französischen Gangsterfilmen gesehen hatten. Einen Coup, der nach allen Regeln der Logik und der Verhältnisse möglich sein sollte, aber nach den gleichen Regeln dann doch wieder unmöglich – nur »ein wenig unmöglich« allerdings, damit es eine wirklich gute Geschichte wird. Gorski redete laut genug, daß ich trotz des Lärms von der Bühne ein paar Satzfetzen hören konnte. Den Rest reimte ich mir zusammen. Wir hatten oft genug darüber gesprochen. Später, als alle weg waren, standen wir noch einen Augenblick lang vor dem REGINA. Gorski schnippte seine Zigarette weg. »Die Sache ist klar?« fragte er. Vielleicht fünfzig Meter von uns entfernt tauchte ein Mann aus einer Toreinfahrt auf und taumelte auf die Straße. Ein paar Sekunden lang blieb er stehen, dann überquerte er die Straße und lief an uns vorbei. Dabei lamentierte er vor sich hin. Seine Sprache kannte ich nicht. Er preßte sich eine Handfläche auf die linke Gesichtshälfte, und durch seine eng zusammengedrückten
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Finger quoll Blut. »Die Sache ist klar«, sagte ich. Gorski stieg in seinen Wagen und fuhr los. Auf dem Nachhauseweg geriet ich in eine Polizeistreife. Es war eine etwas merkwürdige Streife, denn die Polizisten waren in Zivil. Es sah aus, als ob sie sich stritten, als der eine Mann mit der Polizeikelle mich stoppte. Dann kam der andere Mann auf meinen Wagen zu. Sein Kollege hatte das Rotlicht an der Kelle ausgeschaltet und war zum Wagen zurückgegangen. Das Blaulicht auf dem Polizeiwagen war ausgeschaltet. Ich drehte die Scheibe herunter, und der Mann beugte sich herein. Er war modisch angezogen, ganz anders als man sich einen Polizisten in Zivil vorstellt, und er starrte mich eine Weile stumm an, bis ich ganz sicher war, daß er eine mächtige Fahne hatte. Er sah nicht aus, als ob er Lust zum Reden hatte, und ich sagte: »Sie riechen nach Alkohol.« »Ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen, und Sie vergessen das sofort wieder, wetten?« Er hatte nicht das geringste Lächeln im Gesicht versteckt. »Ich wette nie. Was wollen Sie von mir?« Er blickte im Wagen herum und registrierte die herumliegenden Sachen. Ein Walkie-Talkie, Gorski hat das Gegenstück; ein paar Zeitschriften auf der Rückfensterablage; Fotos von Schauspielern; Standfotos vom letzten Film. »Vielleicht rieche ich etwas«, sagte der Mann. Er selber hatte ganz unbezweifelbar eine Fahne. »Hier ist nichts weiter als das, was Sie sehen.« Sein Blick kehrte zu dem Walkie-Talkie zurück. »Sie sind wohl ein ganz Schlauer, was?« Er blickte mich stur an
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und atmete mir dabei Tabak- und Alkoholdunst ins Gesicht. »Gangster sind Sie wohl nicht zufällig, was? Oder Terrorist, was?« Er versuchte zu grinsen, aber es wurde ein Zähnefletschen draus. »Das Walkie-Talkie gehört zu einer Filmausrüstung. Ich hab's nur vergessen zurückzugeben. Wir sind gerade erst fertiggeworden.« »Film«, sagte der Mann. »Verstehe. Wissen Sie, mein Kollege und ich, wir wären auch lieber bei der Kripo, und was machen wir?« Er schraubte sich aus dem Fenster und rief seinen Kollegen. Dann ging er wieder auf Tauchstation und starrte mich weiter an. »Sie werden verstehen, daß das nicht mein Problem ist«, sagte ich. »Nein«, sagte er, »das verstehe ich nicht. Ihre Papiere, bitte.« »Sie sind nicht in Uniform. Woher soll ich wissen, daß Sie die Berechtigung haben, meine Papiere zu verlangen?« »Ich hab's ja gewußt«, sagte er, »ein Oberschlauer.« Er klappte die Brieftasche auf, klappte sie wieder zu und streckte mir seine Hand entgegen. Am linken Zeigefinger trug er ein fleischfarbenes Heftpflaster. Ich gab ihm die Papiere. Die Legitimation in seiner Brieftasche hatte ich nicht erkennen können. Seine schnelle, routinierte Bewegung genügte nur dem Buchstaben der Vorschrift – lesen konnte man nichts. »Benjamin«, murmelte er, während er in meinem Paß blätterte. Währenddessen war sein Kollege herangekommen. Auch er trug einen Trenchcoat und
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dazu eine Art Schiffermütze, und er führte sich ebenfalls etwas seltsam auf. Er trat nämlich seitlich an den Wagen kurz hinter der zweiten Tür, denn es ist ein etwas langes Auto. Er hielt den Kopf gesenkt und die Arme nach unten; das war alles, was ich von ihm sehen konnte, aber seine entspannte Haltung und selbstvergessene Hingabe an das, was er gerade tat, ließ keinen Zweifel daran, daß er sich am Kotflügel meines Autos das Wasser abschlug. Der andere stellte sich neben ihn, sie redeten, aber ich konnte nicht hören, was. Schließlich wippte der Mann am Heckflügel ein paarmal kurz in den Knien, und mir war, als hörte ich das Zippen eines Reißverschlusses. Ich kann verstehen, daß es einem Polizisten gelegentlich Erleichterung verschafft, einen Cadillac anzupinkeln. Es war der Spielwagen der Filmgangster, den ich am Morgen dem Vermieter zurückbringen mußte. Der erste Mann kam zurück und beugte sich wieder zu mir herunter. Er hielt mir die Papiere hin, und als ich danach griff, hielt er sie noch einen Augenblick lang fest. »Haben Sie vielleicht auch irgendwo noch ein Blindfluggerät, wenn Sie schon ein Walkie-Talkie haben, Herr Benjamin?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Na, dann würde ich an Ihrer Stelle doch das Licht einschalten, wenn ich nachts fahre«, sagte er. »Da haben Sie recht«, sagte ich, »vielen Dank.« »Keine Ursache«, sagte er, »ich wußte, daß Sie die kleine Fahne vergessen würden. Auf Wiedersehen.« Ein leiser Nieselregen schlug gegen das Abteilfenster. Die ordentliche Geometrie der Felder draußen war inzwi-
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schen von hügeliger Waldlandschaft abgelöst worden. »Sparta, Sparta, Sparta!« sagte Gorski, »es ist richtig auffällig, wie wenig du von deiner Berliner Zeit erzählst. Immer nur dieser Sparta. Ist der da denn so was wie ein kleiner König, dein Freund?« »Ein Fürst ist er. Neuerdings macht er in Beteiligungen. Genaues weiß ich auch nicht. Aber ich tippe auf Spielcasinos und solche Sachen. Jedenfalls ist er bei nichts mehr erwischt worden.« »Merkwürdig, was du so für Leute kennst«, sagte Gorski. Ich hatte einen Packen Zeitungen und Zeitschriften gekauft und blätterte darin herum. Dabei stieß ich auf einen kurzen Bericht über eine Fahndungsaktion der Frankfurter Polizei nach einer Gruppe, die sich selbst als politisch versteht, von den Behörden aber ausschließlich kriminell definiert und also verfolgt wird. Die Aktion schlug fehl, die Gesuchten wurden nicht gefaßt. Wieder nicht. Der letzte Absatz des Artikels schilderte ein Randereignis. »Hör mal zu«, sagte ich. »Ebenfalls in die jüngste Fahndungsaktion gerieten zwei zweiundvierzig und einundsechzig Jahre alte Männer, die mit gezogener Pistole auf der Frankfurter Zeil standen. Wie sich später herausstellte, hatten sie nach einem Gaststättenbesuch Streit miteinander bekommen.« Gorski schlug die Augen wieder auf. »Das sind mal keine vom Film und Fernsehen fehlgeleiteten Jugendlichen«, sagte er, »vor allem nicht von Gorski verführt …«
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»Wieso?« fragte ich, »hast du denn die Kritik im ›Spiegel‹ schon gelesen?« Ich wollte Gorski die Zeitschrift geben, aber er winkte ab. »Ich kann jetzt nicht lesen.« »Hier steht, daß unsere Filme immer grausamer werden«, sagte ich. »Dieser Mensch hier zitiert einfach den Maskenbildner. Ich meine, er kann den doch nicht einfach gefragt haben, wieviel rote Farbe du verbrauchst. Aber weiß mans? Der Maskenbildner soll gesagt haben: Der Pole will immer mehr Blut sehen.« Gorski schnaubte und rauchte stumm weiter. »Ob wir diesen Sparta wirklich treffen?« Seine Stimme klang mißtrauisch. »Ich bin jetzt vier Jahre weg aus Berlin. Inzwischen hat er sich vergrößert. Da hat er sicher seine Möglichkeiten. Und vor allem, er hat gesagt, daß er uns sehen will.« »Aber nicht dir.« »So gut wie«, sagte ich, »diesmal ging's um drei Ecken besser als gradeaus. Die langen Wege sind meistens sicherer.« Ich hatte Gorski schon vor Monaten von Horst Sparta erzählt. Sparta ist ein seltsamer Name für einen Ganoven, aber weder ist Sparta sein Geburtsname noch wird ihm die Bezeichnung Ganove gerecht. Er selbst nennt sich Geschäftsmann mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er seinen ursprünglichen Namen abhanden kommen ließ und sich den Namen Sparta zulegte. Ich weiß nicht, warum er gerade auf diesen Namen gekommen ist; er hat es mir auch nie gesagt, denn er redete immer nur über Dinge, über die er reden wollte. Als wir uns kennenlernten, war ich neu in Berlin. Ich
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weiß nicht, warum er mich mochte, wo er doch nichts ohne Grund tut. Ich konnte in keiner Weise nützlich für ihn sein. Es war auch nicht so, daß wir plötzlich ständig zusammengewesen wären, dazu waren unsere Tätigkeiten doch zu verschieden. Sparta rief mich an, wenn er mich sehen wollte, und dann sahen wir uns auch. Für mich war es schwieriger, ihn zu erreichen; telefonisch war es ganz und gar unmöglich, da immer mehrere Nummern von Sparta in Umlauf waren, und wenn ich sie durchprobierte, war entweder ständig besetzt, oder es meldete sich jemand, der absolut nichts verstehen wollte. Meine Besuche bei ihm hatten eines gemeinsam: Sie fanden alle jedesmal in einer anderen Wohnung statt, aber immer wimmelte es nur so von Spiegeln und Teppichen und nachgemachten Möbeln. Einmal ließ er mich zu einem Spaziergang am Grunewald mit dem Wagen abholen. Den Wagen mit Chauffeur und Leibwächter in einer Person ließ er auf dem Parkplatz stehen, und dann liefen wir stundenlang im Grunewald herum. Es war einer jener seltenen Tage, an denen er redete. Sparta ist in einem Gewerbe tätig, wo einen Mann Geschwätzigkeit Kopf und Kragen kosten kann, aber irgendwann braucht jeder einen, der ihm einfach zuhört. Zuerst redete er langsam und brockenweise, aber dann machte es ihm nichts mehr aus. Er kam von irgendwo aus dem Ruhrgebiet. Aufgewachsen war er in einer jener Siedlungen, die man noch viele Jahre nach dem Krieg KleinMoskau nannte – Holz- und Wellblechbaracken. In der
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Schule gab es dann Kinder, deren Eltern ihnen verboten hatten, mit Kindern aus Klein-Moskau zu spielen. Darum dachte der Junge, es würde alles besser, wenn sie in die Sozialsiedlung zögen. Aber da hießen sie dann plötzlich »die aus der Siedlung«. Und es war nicht besser, obwohl sie sich inzwischen für mehr hielten als die in Klein-Moskau. Sparta wollte nur eins: weg. Er hat gleich mit Brüchen angefangen noch während seiner Schulzeit. Er lächelte, als er sagte, daß man ihm nicht mal seine Anfängerarbeiten habe nachweisen können. Ich hab auch mal ein Mädchen gehabt, sagte er, die ist für mich gegangen. Aber ich hab das nicht ausgehalten. Zuhälter, sagte er, das sei eine besondere Sorte, nicht einfach irgendein Job. Das wird man nicht, das ist man. Sparta versprach sich mehr von der Hehlerei. Damit behielt er auch recht, aber den Ärger hatte er nicht miteinkalkuliert. Man kann in einer Stadt wie Westberlin nicht einfach so mit Hehlerei größeren Stils anfangen. Da gibt es eingesessene Hehler mit besten Verbindungen zu sehr entschlossenen Leuten, deren sich einflußreiche Gangster gern zum Erledigen kleinerer Gangster bedienen. Denn das war Sparta inzwischen geworden. Ein kleiner Gangster, der spürte, daß er das Zeug zu einem großen hatte. Das spürten auch andere, und irgendein größeres Tier, dem Sparta nicht mehr klein genug war, schickte ihm drei Schläger auf den Hals, und anschließend zog sich Sparta selber ein paar Wochen aus dem Gefecht. Aber die Zeit reichte ihm noch immer nicht zur rechten Einsicht in die Dinge.
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Er hatte sich in eine kleine Kneipe am Stadtrand verzogen, und nun saß er jeden Abend da und spielte Chikagoscharf. Seine einzige Freude war die Gastwirtin. Sie kam aus demselben Klein-Moskau wie er, und sie hatten sich schon als Kinder gekannt. Sie war nach Berlin gegangen und hatte nach ein paar einschlägigen Erfahrungen einen rüstigen Sechziger geheiratet, der in Spandau eine gutgehende Eckkneipe betrieb. Es handelte sich, wie sie sich ausdrückte, um eine Vernunftehe, aber der alte Typ sei schon in Ordnung, und eigentlich vermissen würde sie die Männer genaugenommen nicht. Nur Sparta, der war die Ausnahme. Sie hatte ihn ihrem Ehemann kurzentschlossen als Bruder angedreht, und der hatte das gefressen. Anfangs, sagte Sparta, sei es ziemlich wild hergegangen zwischen ihnen, aber nach einiger Zeit habe sie einen ganz zufriedenen Eindruck gemacht mit ihrem Kneipier. Nicht nur, weil sie frühmorgens seltener zu ihm kam – das war die einzige Möglichkeit für sie, denn nachts arbeitete sie durch, seit sie die Kneipe renoviert hatten und die Leute länger blieben –, er vermutete eher, daß die Männer für sie tatsächlich irgendwie erledigt waren. Es könnte ja wohl auch mehr an einem Menschen kaputtgehen als das, was man sehen könne an ihm. Sparta fühlte sich nach vierzehn Tagen, als es ihm etwas besser ging, nicht mehr wohl dort. Er habe immer noch die Wut im Bauch gehabt, sagte er, und das sei ein Fehler gewesen. Er wollte sich rächen. Dabei kam es ihm nicht etwa darauf an, den Helden zu spielen. Ich war kurz davor,
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etwas zu begreifen, sagte er, aber eben nicht alles. Das Begreifen war für ihn damit getan, daß er nicht die bestellten Schläger verprügeln wollte, sondern den Besteller selbst. Die richtige Adresse sei das schon gewesen, doch er hätte die Prügel vergessen und den Besteller im Geschäft schlagen müssen. Er knobelte genau aus, wann der größere Gangster mit seinem Fahrer in die Sauna ging, sperrte den Fahrer in eine Umkleidekabine und vermöbelte den Big Boy bei voll aufgedrehtem Ofen mit dessen schweißnassem Badetuch. Als der rote Kloß auf dem Holzrost stumm wurde, hatte Sparta keine Wut mehr im Bauch. Aber Mitleid spürte er auch nicht. Sparta ging nicht wieder nach Spandau, obwohl klar war, daß er sich nun verstecken mußte, denn das läßt sich niemand gern gefallen, und so einer, der am liebsten im Frack herumläuft und noch weiter nach oben will, schon gar nicht. Big Boy hatte nämlich Ambitionen, und die wollte er sich nicht von einer Kellerassel in Frage stellen lassen. Er zeigte Sparta einfach an. Und so kam der clevere Sparta aus Klein-Moskau zum erstenmal hinter Gitter – und zwar wegen vorsätzlicher grober Körperverletzung. Dort lernte er von Leuten, die meist einen Ast mehr abzusitzen hatten, eine Menge nützlicher Dinge. Einer war ein Betrüger mit eleganten Manieren. Sparta lachte wieder, als er von ihm erzählte. Ein großer, flachsblonder Mann, der erst richtig lebendig wurde, wenn es ums Geld ging. Er liebte das Geld so sehr, daß er es anfangs mit einer Banklehre versuchte. Aber was seine Bosse in jahrzehntelanger Übung erlernt hatten, das unauffällige Jonglieren mit
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Konten und Effekten – das versuchte er schon nach drei Monaten, und zwar auf eigene Faust. Im Jugendgefängnis traf er dann einen, der mehrere Zahlenketten gleichzeitig im Kopf addieren konnte, und der wies ihm sehr schnell nach, daß man auf ehrliche Weise kaum zu der Menge Geld kommen könne, mit der es sich wirklich lohnend hantieren ließ. Er hieß Michael, mein Freund, sagte Sparta, ein sanfter Name für einen sanften Mann, aber sowie es um Geld ging, wurde er so zickenschnell wie andre Leute, wenn sie fünf Captagon eingeworfen haben. Der hat mir überhaupt erst mal erklärt, wie Geld arbeitet, was man damit alles machen kann und wie mächtig es dich macht. Bis dahin war Geld für mich Fressen, Weiber, Dach über dem Kopf, aus. Also besorgte sich Sparta planmäßig Geld. Wie, das sagte er nicht, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß »die Bande« tatsächlich all die Banken ausgeräumt hat, die ihr die Staatsanwaltschaft nun in die Schuhe schieben will. Sparta arbeitete nicht für Geld, bis das Geld für ihn arbeitete. Er nahm es sich nach seinem eigenen Rezept. Als sein Kumpel Michael auch aus dem Gefängnis kam, taten sie sich sogleich zusammen. Heute ist er Spartas Buchhalter und arbeitet nur für ihn. Sparta meinte, sein Kumpel sei angemessen beteiligt, habe auch kleinere eigene Anlagen und sei im übrigen noch nie so glücklich gewesen wie jetzt. Noch etwas anderes spricht für die Vermutung, daß Sparta sein Startkapital aus den Banken holte – und das hängt damit zusammen, wie ich ihn kennengelernt habe.
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Ich hatte eine kleine Satire geschrieben mit dem Titel »Die Alarmanlage der Alarmanlage der Alarmanlage«. Sie schilderte eine Sicherheitsanlage von Tresorräumen, die so perfekt war, daß nicht einmal mehr die Bankdirektoren an das Geld kamen. Ein Warnsystem schützte das andere, und dieses wieder ein anderes, und so wimmelte der Text dann auch von Begriffen wie Lichtschranke, Unterbrecher, Induktionsströmen und Schaltkreisen. Die Sache endete damit, daß eine Berliner Großbank einen professionellen Tresorknacker aus San Francisco einfliegen ließ, einen lächelnden, händereibenden Chinesen in korrekter amerikanischer Geschäftskleidung, der den elektronischen Knoten entwirren sollte, denn alles war hoffnungslos miteinander verkabelt: die Bankräume, das Polizeipräsidium, diverse Reviere, das Schlafzimmer des Bankdirektors. Der Mann ließ sich von Tempelhof unverzüglich zur Charlottenburger Schaltzentrale fahren und legte dort in Anwesenheit der Repäsentanten von Stadt und Wirtschaft schlicht den Haupthebel der öffentlichen Stromversorgung auf Null. Während man ihm feierlich sein Honorar zahlte, räumten Unbekannte die Tresorräume der Filialen aus. Noch am Nachmittag des Tages, an dem die Zeitschrift mit meiner Satire erschien, wurde ich von zwei freundlichen Männern mit hartem, männlichen Händedruck in die Mitte genommen. Sie hörten mit ihrer herzlichen Begrüßung erst auf, als ich zwischen ihnen im Fond eines Opel Kapitän saß. Wer mir das mit dem Strom erzählt hätte, fragte einer mit heiserer Stimme. Jetzt erst fiel mir ein, daß es einige Tage vorher in Berlin wirklich
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einen etwa halbstündigen Black-out gegeben hatte. Von einem Bankeinbruch zum gleichen Zeitpunkt hatte ich allerdings nichts gelesen. Daß ich meinen Text bei der Redaktion schon vorher abgegeben hatte, fiel mir erst eine Viertelstunde später ein, als ich zum erstenmal Sparta gegenüberstand. Mein Argument schien seine Leute nicht zu beeindrucken, Sparta selbst sagte nichts. »Entweder hat einer gesungen, oder er hat eine zu gute Nase – was sollen wir mit ihm machen?« fragte einer meiner Begleiter. Nach einer Weile sprach Sparta zum erstenmal. »Oder der Hut ist zu alt. Alles abblasen!« sagte er und winkte seine Leute zur Tür hinaus. »Los, verschwindet, den Elektriker laßt ihr mir da.« Gorski hatte mir diese Geschichte nie richtig abgenommen, und er war immer skeptisch gewesen, wenn ich sagte, daß Sparta mir noch einen Filmstoff schuldet. Das hatten wir bei unserer ersten Begegnung abgemacht. Ich hatte über Dritte von München aus bei Sparta anfragen lassen, und Gorski wurde erst hellhörig, als er kurz darauf erfuhr, daß man versucht hatte, Sparta die Beteiligung an einer Kaufhausgeschichte anzuhängen. Anscheinend war das nicht gelungen, denn Sparta ließ mir telefonisch nach München bestellen, daß er uns treffen wollte, wenn wir kämen, und daß er vielleicht schon eine Idee für uns hätte. »Wir müssen uns mit Spartas Wirklichkeit einlassen, wenn unsere Filme nicht nur immer schöner und leerer werden sollen«, hatte ich zu Gorski gesagt. Das war nahezu alles, was wir von unserem neuen Film wußten.
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Gorski döste melancholisch vor sich hin. Irgendwann, längst hinter der deutsch-deutschen Grenze, stand er auf und ging zur Toilette. Gorski verläßt seine Familie ungern und eigentlich auch nur, um einen Film zu machen. Die Vorbereitungszeit miteingeschlossen, sind das manchmal mehrere Monate. Gorski ist immer traurig, wenn er von zu Hause weggeht, um einen Film zu machen. Aber er geht immer wieder weg. Das Geld ist rasch aufgebraucht, wenn einer eine Familie hat, und wenn Gorski vom Drehort abends seine Frau anruft, sagt sie, er soll vorsichtig sein und nicht das ganze Geld vertelefonieren. »Heiliger Strohsack«, sagte Gorski, als er nach einer Weile zurückkam. Er schloß die Abteiltür und zog die Vorhänge zum Gang zu. »Wenn wir nicht aufpassen, gehen wir hoch, bevor wir in Berlin sind. Noch hat er mich nicht erkannt.« »Wer denn bloß, Mann?« »Eigentlich ist er ein netter, gutartiger Mensch«, sagte Gorski und setzte sich, »aber nach einiger Zeit wird er unerträglich. Der treibt mich bis zu physischen Reaktionen. Bei dem bricht mir der Schweiß aus. Ein richtiger Filmjournalist aus der goldenen Zeit des deutschen Films. Es gibt keinen deutschen Film, dessen Stab-Liste er nicht gekannt hat, keinen Regisseur, dem er nicht auf die Nerven gegangen wäre. Er kann Stab-Listen von Filmen vor 1945 noch genauso auswendig herbeten wie Besetzungslisten ausländischer Stummfilme. Der riecht es förmlich, wenn was am Kochen ist. Kennst du ihn?«
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»Mac Froehlich. Ende fünfzig. Trägt großkarierte Zweireiher mit Fliege. Melancholische schwarze Säuferaugen und Halbglatze. Dazu eine Stimme, deren Skala von spukkesprühender Euphorie bis zu weinerlichem Selbstmitleid reicht.« »Du kennst ihn wirklich«, sagte Gorski. Er starrte wieder aus dem Fenster. Draußen war es nicht heller geworden. »Hast du Protts Brief schon gelesen?« fragte ich. »Nein«, sagte Gorski betont einsilbig. Ein Armeelastwagen der DDR-Volksarmee fuhr eine Zeitlang parallel zur Bahnlinie eine Landstraße entlang. Einmal war der Lastwagen einen Moment lang schneller als der Zug. Er rutschte fast aus unserm Fensterausschnitt, und ich konnte sehen, daß hinten im Lastwagen vielleicht zehn Volksarmisten Rücken an Rücken auf Holzbänken saßen. Sie dösten schaukelnd vor sich hin und kümmerten sich nicht um den Zug. Hinten am Lastwagen flatterte eine blaue Fahne. »Das ist eine Manöverfahne«, sagte Gorski. Hinter dem Fenster wölbte sich ein langgestreckter, schwarz abgebrannter Bahndamm auf, der Zug fuhr über einen Bahnübergang, und der Lastwagen blieb auf einer Seite der Schranke stehen. »Was du wohl machen würdest, wenn du in der DDR geblieben wärst«, sagte ich. »Filme bestimmt nicht. Auf die Idee wäre ich da gar nicht gekommen. Wahrscheinlich wär ich Brigadeführer und Funktionär – ein guter.« »Und?«
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»Ach, ich weiß nicht. Wenn der Hund nicht geschissen hätte, hätte er den Hasen gekriegt.« Er stand auf. »Komm laß uns einen Kaffee trinken gehen.« Auf dem Weg zum Speisewagen sah ich ihn in einem Abteil sitzen. Mac Froehlich führte eine riesige Bockwurst zwischen seine Lippen und hielt die Augen geschlossen, als genieße er den ersten Zug aus einer fetten Havanna. »In der Zeitung stand übrigens noch, nach dem Gesetz der Serie müßtest du jetzt eigentlich wieder den Drehbuchautor wechseln. Hat Prott mit dir nie darüber gesprochen?« fragte ich. »Prott. Prott. Der ist auch nicht Herr seiner Entschlüsse«, sagte Gorski wütend. »Ich werde noch ganz sauer, wenn du so redest.« Die Kellnerin stellte ihm einen Schnaps hin. Gorski trank ihn halb aus und schüttete den Rest in den kalten Kaffee. Als die Kellnerin wieder vorbeikam, zahlte er mit einem Hundertmarkschein, was sie sichtlich verdroß. Er kramte eine Geldscheinrolle aus der Hosentasche, flippte das Gummiband zurück, zählte mit Daumen und Zeigefinger drei Hundertmarkscheine ab und hielt sie mir hin. »Nimm, sind Schulden.« »Stecks wieder ein. Dir nimmts schon keiner weg.« Gorski trank seinen Schnapskaffee aus. »Wo hast du denn auf einmal Geld her?« fragte ich. »Meine Frau«, sagte Gorski. »Und jetzt kann sie die Monatsmiete nicht bezahlen, oder was?« Gorski winkte ab.
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»Die ist schon bezahlt. Aber irgendwo stimmt das schon. Jetzt kann sie eben nicht verreisen. Was fragst du, du weißt doch Bescheid.« »Abgesehen davon, daß das Geld da nicht reicht«, sagte ich, »wovon wollen wir leben in Berlin? In einer Woche werden wir kaum fertig sein mit Recherchieren. Und wer soll den Film überhaupt bezahlen? Ja, Mann, wer bezahlt eigentlich unsere nächste Geschichte?« Gorski lehnte sich zurück, und pfiff durch die Zähne das Motiv aus dem »Dritten Mann«. »Aha.« »Wer sonst?« fragte Gorski. »Du mußt Prott aus Berlin anrufen wegen Vorschuß.« »Wieso das? Hast du etwa Angst vor ihm? Bisher war das doch immer dein Job.« »Manchmal verschlägts mir vor Wut die Sprache, daß ich um das Geld für meine Arbeit auch noch betteln gehen muß … los, erzähl mir eine lustige Geschichte.« »Erzähl mir eine lustige Geschichte, sprach der König zu seinem Narren, denn in meinem Herzen wohnt eine Traurigkeit, und das Leben erdrückt mich. Sollte mich deine Geschichte aber nicht zum Lachen bringen, so lasse ich dir auf der Stelle den Kopf abschlagen.« Gorski verzog keine Miene. »Es ist schon lange her, sprach der Hofnarr, und ich habe so viel darüber nachgedacht, daß ich nicht mehr weiß, ob es eine traurige Geschichte ist oder eine lustige. Aber immer, mein König, wenn der Himmel dieses gelblichgraue Kleid trägt, geht sie mir im Kopf herum und drängt sich auf meine Zunge. So höre denn.«
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Der Himmel hing schwer und diesig über den weitgestreckten flachen Feldern. »Was hat er erzählt, der Hofnarr?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich erzähl dir lieber von meinem Großvater, wie er beschloß zu sterben. Eines Tages weigerte er sich einfach, sein Bett zu verlassen. Seit die Großmutter gestorben war, hatte er sich verändert. Er mäkelte an allen und allem herum, seine Angeln standen unbeachtet im Schrank, das Kartenspiel blieb in der Schublade, und seine Zigarren von Weihnachten vor einem Jahr trockneten langsam aus. Im Haus mit ihm waren seine Schwiegertochter, deren beide Kinder und seine Tochter. Die Frauen huschten geduckt durchs Haus, und er erklärte jedem, der es hören wollte oder nicht, er hätte keine Lust mehr. Aber der Tod wollte nicht kommen. Seine Frau hatte er sich schon längst geholt, auch seinen ältesten Sohn und seinen Jüngsten, dessen Frau mit ihren Kindern bei ihm lebte. Er hatte ihn hassen gelernt. Er hatte vorher nicht nachgedacht über den Tod, wie ein gesunder Mensch nicht über Krankheiten nachdenkt. Er wußte nur, nach einiger Zeit kommt er, und man wußte nie vorher, wann. Manchmal kündigt er sich an durch Krankheit. Der alte Mann hatte eine Verletzung am Bein; eine Wunde aus dem Ersten Weltkrieg, die nie wieder richtig zuwuchs, so daß er das Bein ständig bandagierte, aber Todesangst hatte er seit dem Krieg nicht mehr gehabt. Das war nun auch schon lange her, und seine Erinnerung war nicht mehr verläßlich. Nach fast zwei Monaten endlich bekam er eine Lungenentzündung; da-
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rüber soll er fast befriedigt gewesen sein, und er wurde stiller. Die Frauen gewöhnten sich an den neuen Zustand. Einige Tage später, mitten in der Nacht, wachten sie plötzlich gemeinsam auf. Es war ihnen, als hätten sie etwas gehört, aber es war still und dunkel im Haus, als sie oben an der Treppe standen und hinunterhorchten zum Zimmer des Alten. Die Schwiegertochter stieg hinunter. Sie fragte etwas und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Sie öffnete und ging hinein. Der alte Mann lag auf dem Oberbett auf dem Rücken, und er trug seine Husarenuniform. »Was fällt dir denn ein? Raus!« knurrte er. Sie wandte sich hastig ab und verließ das Zimmer. Die Frauen lagen schon wieder oben in ihren Betten, da zitterten die Fensterscheiben unter seiner Stimme. Der alte Mann brüllte. Die Frauen hasteten wieder zur Treppe und hinunter zu seinem Zimmer. Er brüllte mit mächtiger Stimme den Namen seines Enkels, dann brach seine Stimme ab, und er beschimpfte die Frauen, daß sie ihm den Jungen vorenthielten. Als sie mich heranschafften, war er still. Sie öffneten die Tür, und er war tot und abgefahren in seinen Zigarrenbauchbindenhimmel.« »Man sollte dir den Kopf abschlagen«, sagte Gorski. »Los, komm, wir gehen arbeiten.« In unserem Abteil roch es wie in einer Würstchenbude. Gorski schnüffelte. »Hol mal was zum Schreiben raus«, sagte er. »Du willst doch nicht etwa so aus dem Handgelenk was erfinden?« »Erfinden nicht unbedingt. Wir schreiben ihm, was wir
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von der Geschichte wissen, dann hat er also meinetwegen was in Händen, und dieser Brief wird abschließen mit der nunmehr begründeten Bitte um Vorschuß.« »Wie immer.« »Genau«, sagte Gorski. »Also schreib: Lieber Prott, nee, Lieber Herr Dr. Prott, um Sie zunächst einmal zu interessieren, erzählen wir Ihnen, wer der Mann ist, den wir in Berlin treffen werden. Er heißt Horst Sparta. Früher war er ein kleiner Gangster, in den letzten vier Jahren ist er zum Formatriesen geworden. Er bricht nicht mehr, er läßt brechen, wenn überhaupt. Wahrscheinlich kontrolliert er nur noch sein umlaufendes Geld. Ich habe ihn kennengelernt in meiner Berliner Zeit. Er hatte was von mir gelesen und rief mich einfach an …« Ich sah Gorski zweifelnd an. »So einfach ist das doch alles gar nicht.« »Na und? Wenn du Prott all deine Zweifel schreiben willst, kriegen wir keinen Pfennig. Prott muß das Ding ja seinen Bossen zeigen und die wieder ihren Bossen. Also weiter: Ich habe nichts mehr gehört von ihm, seit ich aus Berlin weg war. Er soll eine Rolle gespielt haben bei dem Bandenkrieg zwischen den Persern und den Deutschen. Die Sache wurde damals in der Straße vorm Lokal BUKAREST ausgetragen. Mit Maschinenpistolen. Was mir damals schon an ihm aufgefallen ist, das war sein Bildungshunger. Sie müssen das jetzt nicht mißverstehen, lieber Dr. Prott, aber Sparta faßte Vertrauen zu mir, als ich ihm erklärt hatte, ich besäße auch kein Abitur und hätte auch nicht studiert. Seine Biographie liest sich wie ein
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Wildwechsel. Volksschule, Stahlwerkarbeiter und Feierabendmotorradrennfahrer. Danach zwei Jahre lang Speedwayfahrer. Das ist kein leichter Job, man lernt den Umgang mit dem Risiko. Dann tauchte er in Berlin unter. Ein persönlicher Racheakt gegen einen Hai, dessen Kreise er gestört hatte, verhinderte die geplante Erweiterung seiner Jagdgründe. Der Mann hatte Sparta verprügeln lassen. Sparta verprügelte daraufhin den Auftraggeber selbst, und der Mann zeigte Sparta einfach bei der Polizei an. Ergebnis: Sparta wurde zunächst aus dem Verkehr gezogen. Als er nach einem Jahr aus dem Knast kam, war er eine Nummer größer. Manche sagen, inzwischen gehöre ihm der größte Teil des Berliner Nachtlebens. Seine ehemaligen Gegner sitzen längst nicht mehr im Sattel. Fast geniert es mich, das zu sagen, weil Sie dann vielleicht annehmen, wir planen einen Ritualfilm a la Melville. Ihre Bemerkung am Telefon vor drei Wochen hängt mir noch deutlich im Ohr. Nicht, daß Sparta etabliert wäre, aber er legt nicht mehr selber Hand an. Er denkt. Auf meine Nachricht hin hat er mir bestellt, er habe eine Geschichte für uns, die so gut ist, daß sie leider nur ein Film werden kann. Ich höre ihn sagen: ›Was ist schon ein Film?‹, und doch wird er gleichzeitig alles unternehmen, um uns einen guten Stoff zu verschaffen. Er hat mir ausrichten lassen, er wüßte einen Coup, der wäre in Berlin das größte überhaupt, und es wäre noch allerhand mehr drin als ein paar Millionen. In Wahrheit – und seine Wahrheit ist die Wirklichkeit, lieber Dr. Prott – sei der Coup nicht durchzuführen, weil zu kompliziert. Hauptfiguren sind zwei Männer verschiede-
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ner Herkunft. Freunde. Sie wollen ihrer augenblicklichen Situation entfliehen. Sie sind entschlossen, nach sorgfältigen Recherchen, versteht sich, alles aufs Spiel zu setzen. Sie wollen auf einen Schlag raus aus allem. Spartas Coup und die beiden, die ihn machen – das wird unser Film sein …« »Genug«, sagte Gorski. »Jetzt das Geld.« Ich ärgerte mich, daß ich an genau der Stelle immer Schwierigkeiten hatte, und ich ärgerte mich auch, daß Gorski das wußte, deshalb ließ ich kurzentschlossen alle Schnörkel weg. »Natürlich brauchen wir Geld für unsere Recherchen«, schrieb ich, »Gorski meint: 2000,- für jeden. Leider hab ich keine Veranlassung, ihn zu bremsen.« »Na also«, sagte Gorski, »und das schicken wir ihm jetzt.« Der Zug fuhr schon durch Berliner Stadtgebiet und schob sich langsam vorbei an großen, bröckelnden Reklameschildern und Schriften von Firmen für Produkte, die es beide seit dreißig Jahren nicht mehr gibt. Die Vorderfront einer Fabrik rutschte in unsern Fensterausschnitt. Von den Fenstersimsen der Fabrikfenster hingen schmale rote Fahnen. Über den beiden großen Fabriktoren war ein langes Transparent angebracht, auf dem in weißen Großbuchstaben auf rotem Grund stand: DIESER BETRIEB GEHÖRT DEN ARBEITERN. Es sah sehr schön aus.
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4 Im Fernsehen macht sich das ja immer ganz fabelhaft, wenn ein unheimlich schneidiger, schneller Zug durch Nebel und Winternachtschneetreiben jagt und eine tadellos ondulierte Blondine in ein Schlafwagenbett steigt und so tut, als ob sie in einem Buch liest. Aber als wir im Bahnhof Zoo ausstiegen, fühlte ich mich schmierig und ausgelaugt. Der Bahnsteig war überfüllt. Wir stellten unsere Sachen neben einer Sitzbank ab und sahen uns um. Gorski stieß mich an. Fünf Bahnpolizisten zerrten zwei kleine, zierliche schwarzhaarige Männer in dunklen, zu weiten Anzügen und klobigen Schuhen aus dem Zug. Einer trug einen Koffer, der mit Bindfaden umwickelt war, der andere einen zusammengeschnürten riesigen Pappkarton. An den Ecken war er eingerissen. Die Bahnpolizisten stießen die beiden Männer vor sich her vom Bahnsteig weg, die Treppe hinunter. Sie benahmen sich, als hätten die beiden kleinen Männer verborgene Kräfte, mit deren Hilfe sie sich fürchterlich gegen die Fünf zu Wehr setzen könnten, oder als fürchteten sie, es könnten ihnen plötzlich Flügel wachsen, und sie entwichen durch die Luft. Wahrscheinlich fehlte ihnen irgendein Stempel in irgendeinem Papier, und sie wurden postwendend wieder dahin abgeschoben, wo sie hergekommen waren. »Ich war ewig nicht mehr hier, aber die Begrüßung stimmt«, sagte Gorski. »Kennst du denn niemanden hier außer Mac Froeh-
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lich?« Gorski sah sich so hastig um, als läge Mac schon hinter ihm auf der Lauer. »Doch«, sagte er, »aber die sind alle hinter der Mauer.« Wir sahen zu, wie sich der Bahnsteig langsam leerte. Ein junger Mann mit Hund und Blumenstrauß rief nach einer Margit. »Ich kenn schon noch welche. Mein Professor zum Beispiel. Jetzt könnte ich ihn ja mal besuchen.« Mir ging alles zu langsam. Ich hatte keine Geduld mehr. Gorski schwieg und sah mich an. »Ist wohl nichts mit deinem Sparta.« »Ich glaube nicht, daß er uns abholt.« »Und wie sollen wir ihn dann finden?« »Der findet uns, verlaß dich drauf. Hier funktioniert alles um ein paar Ecken.« »Dann sollten wir uns besser nicht zu schnell bewegen«, sagte Gorski ironisch. »Der läßt uns schon nicht hängen.« Gorski warf seine Zigarettenkippe zu einer zertretenen Milchtüte auf den Boden. »Am liebsten würde ich gleich wieder verschwinden von hier«, sagte er. »Das könnte dir so passen«, sagte ich. »Du willst einen ganz anderen Film machen, also streng dich gefälligst an. Ich werde dich zwingen, dich mit dieser Stadt einzulassen. Sparta, das ist die hiesige Gangsterspielart – hier ist unsere Wirklichkeit.« »Unsere Wirklichkeit?« Gorski setzte sich auf eine Bank und sah mißmutig vor sich hin. Ein Bahnpolizist drehte sich nach uns um. Ich stellte mich vor Gorski hin und
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redete auf ihn ein. »Unser Film, das ist ein Riesencoup, der hier läuft. Sparta wird uns eine Geschichte liefern, die mit keinem Kinostück etwas zu tun hat. Und die Tat findet hier statt. Aber erst mußt du begreifen, daß Berlin für dich nur eine Erinnerung und ein Wort ist. Du bist noch nicht mal richtig angekommen und willst schon wieder weg. Dabei ist immer noch was los hier – das ganz große Kreditgeschäft, das ganz große Meinungsgeschäft, und das ganz große Drogengeschäft. Und vergiß nicht: Berlin ist durchgehend geöffnet.« »Na schön«, sagte er, »erst muß mal der Brief an Prott weg.« Er nahm seine Tasche auf und sah sich im Kreis um. Der Bahnsteig war leerer geworden. »Jetzt habe ich doch das Gefühl, als ob uns jemand beobachtet«, sagte Gorski. Mac Froehlich war es nicht, denn der trollte sich bereits unten in der Bahnhofshalle davon. Also war Gorskis Instinkt vielleicht doch ernstzunehmen. In der Bahnhofspost versuchte ich, Sparta anzurufen. Durch die Türscheibe der Telefonzelle blickte ich in den Raum. Gorski stand da und beobachtete die Leute um sich herum. Hausfrauen, Ausländer, Rentner, Wermutbrüder. Ich verließ die Telefonzelle. Gorski sah mich an. »Der Brief an Prott ist weg«, sagte er. »Und du?« »Eine Nummer war besetzt, bei der nächsten meldete sich eine Immobilienfirma, und die dritte Leitung war tot.«
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»Na klasse«, sagte Gorski, »und jetzt?« »Jetzt gehn wir erst mal in eine Pension.« Gorski spuckte aus. »Sparta«, sagte er, »das ist vielleicht ein Name. Hast du Markstücke? Ich will mal kurz zu Hause anrufen.« Ich hab sie auch nicht kommen sehen. Sie waren plötzlich da, und von dem Augenblick an konnte niemand mehr die Post verlassen, ohne von ihnen kontrolliert zu werden. Es waren uniformierte Polizisten, die sich von jedem den Ausweis zeigen ließen. Sie kamen auch zu uns. Ein Polizist verstellte Gorski, der in eine Telefonzelle wollte, höflich aber bestimmt den Weg. Er wartete geduldig, bis Gorski seinen Ausweis herausgefummelt hatte, und blätterte aufmerksam darin herum. Ein zweiter Polizist kam dazu; er sah seinem Kollegen über die Schulter und verglich unsere Namen mit denen in seinem Fahndungsbuch. Besonders redselig war keiner von beiden. »Sag mal, wo sind wir hier eigentlich«, sagte Gorski. »Westberlin, Bahnhof Zoo«, sagte ich. Der Polizist, der im Fahndungsbuch blätterte, sah mich an. Wir bekamen unsere Ausweise zurück, und die Polizisten führten drei Mann ab. Gorski ging in eine Telefonzelle. Ich setzte mich auf die Bank und sah ihm zu. Nach ein paar Sekunden setzte sich ein Mann neben mich. Er trug Hut und Mantel, und er war nicht sehr groß. Er saß quer zu mir, und ich konnte sein Gesicht unter der breiten Hutkrempe kaum sehen. Wenn ich ihn sofort von vorn gesehen hätte, wäre mir sein dreieckig geschnittener
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Schädel gleich aufgefallen. Ein Fuchsgesicht mit einem spitzen Kinn. Als er anfing zu reden, erkannte ich ihn sofort, und ich war nur froh, daß er mir nicht wieder seine knochenharte Pranke hinhielt. »Um 14 Uhr zum Essen im KEMPINSKI«, sagte er. Als ich schwieg, fügte er hinzu: »Er wartet dort auf euch.« »Was?« sagte ich, »meinen Sie etwa mich?« »Du bist doch Benjamin, der Elektriker.« »Ja«, sagte ich. »Dann weißt du jetzt Bescheid.« Er stand auf und blieb einen Augenblick vor mir stehen. Das blasse, schmale Gesicht, die schnellen Augen – er hatte sich rausgemacht mit den Jahren. Er war der Typ, den man als Aufpasser postiert, weil er die Polizei riecht, wenn sie noch gar nicht zu sehen ist. Es gibt Leute, die wachsen damit auf, und schließlich haben sie's im Blut. »Roland«, sagte ich. »Mehr gibt es nicht zu besprechen«, sagte Roland, und wenn er überhaupt lächelte, dann höchstens andeutungsweise und vielleicht auch gar nicht ironisch, aber das konnte ich nicht genau feststellen, denn er stand mitten in einem staubigen Sonnenstrahl aus dem Oberlicht, und sein Gesicht war nur ein diffuser Fleck unter der Hutkrempe. Ich blinzelte, und als ich die Augen wieder aufschlug, war er schon wieder weg. »War er das etwa«? fragte Gorski. »Wer?« »Na der Typ eben. Du hast doch mit ihm geredet, oder nicht?«
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»Das war Roland. Einer aus Spartas Truppe. Er war früher schon bei ihm.« »Ich hätte ihn ganz gern kennengelernt«, sagte Gorski. »Stell dir vor, daran war er nicht interessiert.« »Werd bloß nicht witzig«, sagte Gorski. »Er hat nur eine Nachricht bestellt, und: zack, weg war er wieder. Ich hab ihn kaum erkannt, so schnell ging das.« »Und?« »Um 14 Uhr zum Essen im KEMPINSKI«, sagte ich. »KEMPINSKI?« fragte Gorski, »muß das sein?« »Komm«, sagte ich, »du hast doch öfter in solchen Läden gegessen als ich.« »Wir haben so schon nicht genug Geld.« »Ich glaub nicht, daß er uns auf der Rechnung sitzen läßt, wenn er uns da hinbestellt.« »Du glaubst«, sagte Gorski. »Was ärgert dich denn?« »Alles«, sagte Gorski. »Hör zu, Pole«, sagte ich, »du brauchst nur in die Geschichte einzusteigen, weiter nichts.« Der Ober, der uns in den separaten Raum des KEMPINSKI vorausging, war so vornehm, daß er kaum ein Wort herausbrachte. Kaum waren wir durch die Drehtür, da stürzte er sich auf uns und fing uns rechtzeitig ab, bevor wir etwa irgendwelchen Schaden anrichten konnten. Vielleicht fürchtete er, wir könnten die anderen Gäste erschrecken in unserm Aufzug, und selbst der uralte Liftboy, der in einer Art Schlaf auf einem Standbein neben dem Aufzug lehnte,
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zog die Augenbrauen hoch, als wir an ihm vorbeigingen. Gorski bewegte sich betont unbekümmert, und gelegentlich legte der Ober einen ganz unvornehm flotten Zwischenschritt ein, als fürchte er, Gorski könnte ihm auf die Hacken treten. Zwei imposante Gummibäume säumten die Tür zu dem separaten Raum; sie standen da mit der Aufdringlichkeit von Wachtposten. Am Tisch saß Sparta. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ihm die Veränderungen der letzten vier Jahre auch äußerlich anzusehen waren. Er war kein Dandy geworden; seine Kleidung war nur ausgesuchter. Er stand auf, breitete die Arme aus und schlug mir von beiden Seiten gleichzeitig seitlich mit flachen Händen gegen die Oberarme. Er lächelte, und wenn Sparta lächelte, dann leuchtet die Welt, und keiner sieht den winzigen Rest von Traurigkeit in seinen Augen. Gorski beachtete er zuerst gar nicht. Sparta hatte noch kein Wort gesagt; wortlos wies er auf die Stühle, und wir setzten uns an den Tisch. Der Ober stand ebenfalls stumm am Eingang und tat so, als sei er nicht da. Gorski setzte sich Sparta gegenüber, und ich saß seitlich am Tisch zwischen den beiden. Wenn das auf eine Vermittlerrolle hinauslaufen sollte, würde ich mich rechtzeitig zur Wehr zu setzen wissen. Sparta blickte den Ober an, und der Ober trat zwei Schritte näher an den Tisch heran und blieb hinter Sparta stehen. »Herr Kulick berät mich immer«, sagte Sparta, und seine Stimme war auch noch dieselbe; tief, fast guttural und ein bißchen heiser. Vielleicht mußte man genauer aufpassen als früher, um Reste eines Dialekts heraus-
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zuhören. Der Ober stellte Sparta ein Gericht aus der Speisekarte zusammen: »Als Entree Forellenfilet mit Meerrettich und Toast. Dann ein Täßchen Schildkrötensuppe, wenn's recht ist. Mein Vorschlag für den Hauptgang; Tournedos mit Haricots verts und Pommes frites. Grüne Bohnen, sehr zart. Käse nach Wahl und ein Dessert aus Vanille-Eis mit flambierten Kirschen.« Sparta nickte, und Herr Kulick verbeugte sich. Gorski bestellte eine Bouillon mit Ei und ein Rumpsteak. Ich hatte keine Lust, etwas zu essen, und bat um Tee und Kekse. Herr Kulick notierte schweigend. Er war schon halb wieder raus, da wandte er sich noch einmal um und fragte: »Verzeihen Sie, wenn ich Rückfrage halten muß, aber die Auswahl der in unserem Hause vorrätigen Teesorten ist mir im Augenblick leider nicht geläufig. Könnten Sie Ihren Wunsch nach Tee vielleicht präzisieren?« »Am liebsten grünen Tee mit einer Prise Lapsang Souchong«, sagte ich, »wenn Sie den nicht haben, einen einfachen Darjeeling. Drei Minuten ziehen lassen, bitte nicht länger. Wenn möglich filtern. Dazu in beiden Fällen Kondensmilch. Auf keinen Fall weißen Zucker. Kandis, wenn Sie keinen braunen Zucker haben.« »Vielen Dank, mein Herr«, sagte der Ober und verschwand lautlos. Sparta lachte und tätschelte meinen Arm. »Unser Dichter. Immer stilecht«, sagte er. »Gut siehst du aus.« Gorski starrte Sparta weiter an. Der warf ihm einen schnellen, abschätzenden Blick zu, dann wandte er sich an
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mich. »Das also ist Gorski, der berühmte Action-Regisseur?« Ich nickte und grinste zu Gorski rüber. Sparta nahm Gorskis Blick wieder auf und sagte: »Wenn du fertig bist mit Gucken, sag mir, was du gesehen hast, ja?« Gorski grinste etwas gequält. »Sagen Sie, warum treffen wir uns gerade hier? Ich kann solche Läden einfach nicht ausstehen.« »Und du bist jetzt beim Film?« sagte Sparta und sah mich wieder an. »Keine Abenteuergeschichten mehr? Das ist wirklich schade. Ich hab sie gern gelesen. Da war alles dran, mit Gangstern, Überfall und Schießen. Und Polizei.« Sparta lehnte sich zurück. »Hat er dir mal erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?« fragte er Gorski. »Nein.« »Das ist lange her«, sagte ich. »Ich meine, wir haben uns lange nicht gesehen. Du bist ein bißchen anders geworden, und ich auch.« Der Ober und ein Pikkolo kamen, uns das Essen zu servieren. Mein grüner Tee war vorzüglich. »Du warst ja ziemlich plötzlich weg von hier«, sagte Sparta. »Als ob was gewesen wäre. Ich glaub, ich hab auch mal was gelesen.« Er lächelte. »Oder was über ihn? Aber jetzt geht's dir gut, ja? Verdienst du auch endlich anständig? Wieviel Geld habt ihr denn für so einen Film?« »Eine Million«, sagte Gorski. Das war reichlich übertrieben. Sparta pfiff durch die Zähne. »Nicht schlecht.« Er lachte wieder. »Eine Million. Wißt ihr, wie ihr mir
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vorkommt? Wie der Mann, der in ein Uhrengeschäft ging und den Verkäufer fragte, wie spät es ist.« »Von dir hab ich aber auch was gehört inzwischen«, sagte ich. »Man hat sich erzählt, du wärst der vierte Mann gewesen beim großen Kaufhauseinbruch.« Sparta sah mich einen Augenblick fast belustigt an. Dann legte er mir seine Hand auf den Arm, beugte sich ein bißchen zu mir rüber und sagte ganz ernst: »Du, so was mach ich eigentlich gar nicht mehr. Ich brauch das nicht mehr. Langweilig, was? Also, wenn überhaupt, dann hätte ich die Stadt vorher dunkel gemacht.« Ich sah, daß Gorski langsam unruhig wurde. Er wollte endlich zur Sache kommen. »Darf ich auch mal was fragen«, sagte er, »um was geht es hier eigentlich? Warum sind wir hier?« »Weil wir zusammen essen wollen«, sagte Sparta. »Du solltest Verständnis haben dafür, denn ich hab mal was im Fernsehen gesehen von dir, jawohl, da haben die Leute unheimlich lange gegessen. Mehrfach! Und dann haben wir uns ewig nicht gesehen, der Benjamin und ich. Wir sind alte Freunde, und dich hab ich jetzt eben erst kennengelernt.« »Weißt du denn, warum wir hier sind?« fragte Gorski. »Ja doch, ja doch«, sagte Sparta. »Ist ja in Ordnung, kommt alles noch. Nur die Ruhe, Mann, was Benjamin?« Bevor ich irgend etwas sagen konnte, kam ein Mädchen herein. Ihre Haut war dunkel, ganz dunkel, und als ich ihre Augen sah, fing bei mir irgend etwas an zu kribbeln. Sparta, der offenbar damit gerechnet hatte, daß wir alle
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zur Begrüßung aufstanden, stand nun plötzlich da und schob dem Mädchen einen Stuhl zurecht. »Ich kenn das. Bin selber Arbeiterjunge.« Gorski grinste. »Laß das doch«, sagte ich. Sparta stellte das Mädchen mit einer Handbewegung vor. »Das ist Anna«, sagte er. »Da sitzt Gorski, Regisseur, und der hier ist mein Freund Benjamin. Von dem hab ich dir ja schon erzählt.« Er wandte sich an mich: »Sie hat auch schon was gelesen von dir.« Er tätschelte ihr die Wange. Hinter ihm tauchte wieder der Ober auf, und er sagte: »Für die Dame dasselbe wie für mich.« Eine Weile herrschte Schweigen, und ich betrachtete Anna, die mir gegenüber saß. Sie blickte zwischen Gorski und mir hin und her. »Also schön, zur Sache«, sagte Sparta. »Deiner Nachricht nach hab ich mir zusammengereimt, daß ihr hier einen Film machen wollt und nicht wißt, worüber. Ist das richtig?« Ich nickte. »Na, paß auf, ich glaub, ich hab sogar was für euch. Ein Ding mit allem Drum und Dran. Es geht um gute amerikanische Dollars. Lauter schöne, fette Scheine. Eine Million von der Sorte.« Wir sahen ihn schweigend an. »Das Ding ist ganz heiß. Und da wollt ihr eine Million reinstecken und habt dann am Ende bloß eine Geschichte?« »Einen Film«, sagte ich. »Die Geschichte ist die Voraussetzung dafür.« »Und wo, und wer, und wie?« fragte Gorski. »Das Zeug kommt irgendwo an, und von da wird es dann woanders hingebracht«, sagte Sparta.
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Gorski verzog die Mundwinkel. »Na prima, ein Transport«, sagte er sarkastisch. »Genau. Ein Transport.« »Eine Frage hätte ich schon mal vorweg«, sagte Gorski. Sparta sah ihn an. »Wenn der Coup wirklich so riesig ist«, sagte Gorski, »warum willst du ihn uns dann überhaupt erzählen? Warum machst du ihn zum Beispiel nicht einfach selber?« Sparta nickte. »Eine gute Frage. Ich kenn sie alle hier, und ich weiß keine Deutschen, die bei uns auf so was spezialisiert sind. Richtig organisiert sind hier eigentlich nur die Perser. Die machen das Heroingeschäft. Da ballerts öfter mal.« Er lachte. »Mit denen will ich nicht.« »Aha«, sagte Gorski. »Nix aha«, antwortete Sparta sofort. »Die verstehen meine Sprache, aber ich ihre nicht, capito? Ich müßte mir Fachleute aus dem Ausland holen. Das wären Vorkosten, um die hunderttausend Mark. Und dadurch würde das Risiko auch nicht kleiner. Mir ist das Ding einfach ein paar Nummern zu groß. Ich hab das nicht nötig, Meister. Aber für einen Film – wie gemacht.« »Na wunderbar«, sagte Gorski. »Jetzt reden wir ja richtig miteinander. Da kannst du uns ja auch gleich sagen, was du dafür haben willst. Was ist der Preis?« »Fünfzigtausend«, sagte Sparta. »Bei einer Million muß das ja wohl drin sein, oder?« Gorski fing stumm wieder an zu essen. »Also erst mal große Lippe und keine Mark auf der
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Tasche«, sagte Sparta, »hab's mir doch gleich gedacht.« Er schwieg einen Augenblick und sah Anna an. »Sie ist der Preis.« »Versteh ich nicht«, sagte Gorski. »Sie kriegt eine Rolle – bezahlt mir zehntausend Mark. Ich hab mich nämlich erkundigt beim Fernsehen, was Schauspieler so kriegen.« »Dann haben sie dir sicher auch gesagt, daß das nur für eine Hauptrolle gilt, und das ist auch nicht so ganz einfach«, sagte ich. »Laß doch«, sagte Gorski. »Sie ist jung, sie ist schön, und sie denkt an später. Ein kluges Mädchen. Sie hat was davon.« Ich weiß gar nicht, wie sie es geschafft hat, ihre Suppe auszulöffeln, weil wir uns ständig anstarrten. Irgendwie brachte sie es trotzdem fertig, und zum Schluß nahm sie einen von meinen Keksen, tunkte ihn in ihren Rest Suppe und aß ihn langsam auf. »Erzähl doch mal«, sagte Gorski zu Sparta. Sparta lächelte breit. »Da gibt's nicht viel zu reden«, sagte er. »Sehen muß man's. Freitag ist der Tag des Herrn. Zu dritt können wir da nicht aufkreuzen, also ich und einer von euch.« Gorski sah mich an. Ich sah Anna an. »Geh du, Massah«, sagte ich. Gorski blickte von Anna zu mir. »Aha?« Plötzlich surrte etwas. Sparta schob seine linke Manschette zurück, drückte einen Knopf an seiner Armbanduhr, und das Surren hörte auf. Er legte seine Serviette auf den Tisch und stand unvermittelt auf.
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»Meine Zeit ist um, Leute. Ich muß weiter. Die Arbeit wartet nicht. Also dann bis dann, Massah Gorski. Um neun. Ich hol dich mit dem Wagen ab.« Er blieb neben Anna stehen und strich ihr zärtlich über das Haar. Es knisterte fast. Anna war schön. »Anna laß ich euch bis morgen«, sagte Sparta, und sie lächelte. Dann war er weg. Gorski aß schweigend und etwas angesäuert zu Ende. Nach einer Weile sagte er: »Ich denke, wir waren eingeladen?« Anna stellte ihre Handtasche auf den Tisch. Sie sprach akzentfrei deutsch. »Sparta hat mir Geld dafür gegeben«, sagte sie, und ich hörte jetzt zum erstenmal ihre Stimme. Es überraschte mich, daß sie so hell war. Ihr erstes Wort war Sparta, und ihr zweites Wort war Geld.
5 Tonbandprotokoll Aussage Anna Przygodda (1): Ich hab ihn zum erstenmal getroffen, als Sparta Gorski die Sache mit den amerikanischen Lohngeldern für ihren Film erzählte. Ich hab's gleich gemerkt, daß er mich haben wollte, der Benjamin. So was seh ich gleich. Da hat einer noch nicht seinen Mund aufgemacht, und ich weiß schon Bescheid. Der Benjamin, wie er so reagiert hat, das ist einer, der sich schwertut, der für alles eine Erklärung finden muß. Ich hab ihn gleich gemocht. Angestarrt hat er mich, als ob er mich hypnotisieren wollte. Ich hab erst gar 57
nicht gewußt, was ich mit ihm reden sollte. Gleich am Anfang, als wir allein waren, hat er gesagt, die Love-Story ist ein Scheiß. Eigentlich hat er ja nicht viel geredet. Aber wenn, dann hat er gar nicht wieder aufgehört. Ein Verrückter, hat Sparta gesagt. Oft, wenn ich ihm in die Augen sah, hab ich gedacht: der ist doch ganz woanders. Und dann immer diese Brille. Nach dem KEMPINSKI sind wir gleich auf ein Zimmer gegangen. Danach hab ich dann gesagt, wir müßten unbedingt noch was Schönes machen heute. Logisch, hat er gesagt, und wir sind da wieder weg. Ich hab nicht zu bezahlen brauchen für das Zimmer, Sparta hat da Prozente. Auf der Straße mußte ich dann plötzlich weinen. Es war so unheimlich schön, und das führte natürlich auch wieder nirgends hin. Er hat sofort gemerkt, daß es mit ihm zu tun hat, und gar nichts weiter dazu gesagt. Das fand ich gut. Ziellos und planlos sind wir losgelaufen, bis wir auf die Idee mit der Dampferfahrt kamen. Der Tag war schön, und ich hatte sowieso noch keine Lust, nach Haus zu gehen. Und dann machten wir eine richtige Haveldampferfahrt mit Kaffee und Kuchen. Benjamin kriegte die erste halbe Stunde lang auf dem Dampfer den Mund nicht auf. Dann sagte er plötzlich: »Wir sind die einzigen unter sechzig auf dem Kahn hier.« »Warum? Ich bin ja nicht alt«, sagte ich. Wir saßen auf dem Oberdeck des Haveldampfers MS UNTER DEN LINDEN, und es war wie ein Sonntag auf dem Land, wenn die Kinder ihre Großeltern besuchen; die Sonne hat geschienen, und der Himmel war so blau, daß
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ich immerzu hochgucken mußte, und außerdem hab ich den Benjamin wirklich unheimlich gern gehabt. »Und wenn du dir's vorstellst, wie bist du dann?« »Ich hoffe, ich werde nie alt«, sagte ich. »Nein«, antwortete Benjamin, »das wirst du auch nicht.« Und dann hat er mir die Zigarette aus dem Mund genommen, an der ich grad ziehen wollte, und mir einen Kuß gegeben, und um uns herum haben lauter alte Ehepaare gesessen, die hatten jetzt endlich was zum Gucken. Wenn ich nicht genau weiß, wie ich eine Antwort von jemand verstehen soll auf eine Frage von mir, dann stell ich mir immer vor, was Sparta darauf antwortet, denn bei Sparta, da weiß man immer, woran man ist. Und Sparta hätte geantwortet: Ein jeder Mensch wird alt, zwar sind wir alle anders, aber Menschen sind wir trotzdem allesamt. Gorski, der hätte gar nichts gesagt, der war nur deprimiert gewesen. Benjamin guckte stumm durch seine schwarze Brille und machte wieder ein Gesicht, als ob er stundenlang nichts sagen wollte, dabei war er überhaupt nicht angesäuert oder so wegen der vielen alten Leute, die uns alle anglotzten. »Machst du gern Spiele?« fragte er nach einer Weile, gerade als eine stattliche Dame wie von der Oper den alten Leuten zum xten Male erklärte, bei welchen Kuchen- und Kaffeemengen sie aus eigener Tasche was zuzahlen mußten und daß sie nur noch eine halbe Stunde unterwegs seien, weswegen sie sich jetzt nicht noch hastig die Bäuche vollschlagen sollten. Benjamin merkte, daß ich zu ihr hinsah. »Stell dir vor, sie ist ganz in Leder und hat eine Peitsche
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in der Hand, und die alten Leute sitzen alle nackt an Ruderbänken«, sagte Benjamin. »Das ist aber ein Film für die Spätvorstellung«, hab ich gesagt. Benjamin hat gelacht, und ich hab ihn gefragt: »Was für Spiele meinst du denn?« »Kein bestimmtes. Überhaupt.« »Nein«, sagte ich, »nicht so gern. Ich find's nicht gut, wenn man erst hinterher merkt, ob man gewonnen oder verloren hat.« »Ich meine bloß eins mit Worten«, sagte er. »Es ist ganz einfach. Du brauchst mir nur nachzusprechen. Ich fange an und sage meinetwegen: Ich liebe dich.« Er sagte das alles so nebenbei, und ich wußte wirklich nicht, ob's noch ein Spiel war oder nicht mehr. Seine Augen konnte ich durch die dunklen Brillengläser auch nicht sehen. Ich hatte schon Angst, er fängt an, mir sein Innenleben zu erklären. Das wär schade gewesen, denn bis jetzt fand ich ihn nicht langweilig. Ich hab ihm einfach nachgesprochen: »Ich liebe dich«, und ich glaube, meine Stimme hat ganz normal geklungen. »Ich will zärtlich sein zu dir«, sagte Benjamin. Ich wollte ihm auch diesen Satz nachsprechen, denn das Spiel gefiel mir, aber ich kam nicht mehr dazu. Plötzlich sprach jemand durch den Lautsprecher, stockend und mit der verbissenen Zähigkeit eines Betrunkenen. Ich erkannte die Stimme. Es war der Kellner, der uns vorhin bedient hatte. Seine Fahne und sein schwankender Gang war mir aufgefallen. »Ich wiederhole, meine Damen und Herren, noch
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einmal ganz langsam und zum Mitschreiben: Es besteht überhaupt kein Grund zur Panik. Also, meine Herrschaften: Die alten Herren springen links, also links über Bord, und die alten Damen entsprechend Adam Riese auf der rechten Seite. In Fahrtrichtung natürlich. Und Frauen und Kinder selbstverständlich zuerst. Zum Abschied intoniert unser Bordorchester für Sie …« Dann krachte und rauschte es nur noch in dem Lautsprecher, und als Benjamin sich hochreckte, um hinzublicken, war etwas schwächer eine andere Stimme zu hören, die aber nicht über den Lautsprecher kam. »Gustav!« schrie die Stimme, »hör sofort auf damit«, und dazu hämmerte jemand gegen eine Kajütentür. Offenbar hatte sich der durchgedrehte Kellner in die Kapitänskajüte eingeschlossen. Durch den Mittelgang hangelte sich eine hochgewachsene, knochige alte Dame an den Banklehnen entlang, und plötzlich sagte der Kellner aus dem Lautsprecher: »Armes Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen.« Danach war Ruhe. Vielleicht hatte der Kapitän einen zweiten Schlüssel für seine Kajüte, oder er hat die Tür einfach aufgebrochen. Benjamin nahm die Brille ab und lachte. In diesem Augenblick war die knochige alte Dame vor mir stehengeblieben. Sie sah mich an und fragte: »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie spät es ist?« Benjamin betrachtete sie von oben bis unten, so, wie sie mich angesehen hatte, und bevor ich irgend etwas antworten konnte, sagte er todernst: »Zu spät, fürchte ich, gnädige Frau«, und setzte seine
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Brille wieder auf. Die entrüstete alte Dame ging vor sich hin murmelnd weiter. »Geht das Spiel denn nicht weiter?« fragte ich. »Ich will zärtlich sein zu dir.« Ich rede nicht jeden Tag so, deshalb hab ich mir das auch gemerkt. Benjamin hob den Kopf und blickte auf die Brücke, die über die Havel hinweg führt. Wir waren jetzt auf dem schmalen Havelstück, wo's nach Spandau weitergeht und, hinter den Schleusen, weiter rauf zum Tegeler See. Der Dampfer tuckerte gleichmäßig auf die Brücke zu. Solche Brücken gibt es alle naselang hier. Der Dampfer war vielleicht noch fünzig Meter vor der Brücke, da fuhr ein Jeep der US-Armee die Straße entlang über die Brücke, dahinter ein gepanzerter Wagen, dem folgte noch ein Jeep und dahinter Spartas Ford-Mustang. Ich hab nicht sehen können, ob Sparta und Gorski wirklich drin saßen, aber den Wagen hab ich auch ohne das Nummernschild sofort erkannt. Benjamin schwieg, bis wir unter der Brücke durch waren. »Was für einen Wagen hat Sparta jetzt eigentlich?« fragte Benjamin, und da hätte ich ihn natürlich anlügen können, aber ich sah keinen Grund dazu. »Es war Spartas Wagen«, sagte ich. »Dann waren die drei Wagen davor also der Transport«, sagte Benjamin. »So sieht das also aus.« Was er mit dem letzten Satz gemeint hat, weiß ich nicht, ich hab ihn nicht weiter wichtig genommen. Wie er es gesagt hat, daraus war auch rein gar nichts zu entnehmen, vielleicht konnte er die Amerikaner nicht leiden, was weiß ich.
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Seine gute Laune war irgendwie weg, mehr hat er aber nicht gesagt über den Geldtransport. »Meine erste Frau war pechschwarz«, sagte er auf einmal. »Mein erster Mann war weiß«, sagte ich und lachte und: »Mein Vater war ein Watussi«, weil man sehen kann, daß das nicht stimmt. »Dein Vater ist aus Harlem«, antwortet Benjamin. »Er ist arbeitslos und heroinsüchtig. Meiner war Buchhalter.« Er hat das nicht böse gesagt, um mich zu verletzen. Nein, einfach so. Und wahrscheinlich hat er sogar recht damit. Mein Vater ist in Amerika. Mama meint, in New York, aber das weiß niemand so genau. Eine Weile hieß es, er wäre abkommandiert nach Vietnam, was weiß ich. Ich hab nie rausgekriegt, wo Mama das plötzlich herhatte, und es war mir auch egal. Ich hab meinen Vater nie gesehen und nie vermißt. Warum auch, wo er meiner Mama doch nur schnell ein Kind gemacht hat und dann gleich wieder weg war? Ich hab noch einen Bruder, der ist auch schwarz, aber Blackys Vater ist Onkel Ernie. Das ist eigentlich komisch, Onkel Ernie hab ich immer ganz gern gehabt, auch als er nicht mehr so oft gekommen ist wie früher und Bonbons mitgebracht hat und einmal auch eine Puppe, die von selber laufen konnte. So genau kann ich mich an Onkel Ernie auch nicht mehr erinnern, schließlich war ich damals ja noch ganz klein. Nur, daß Mama und ich und auch Blacky immer Onkel Ernie zu ihm sagten, obwohl wir doch alle zusammen wußten, daß er der Vater von Blacky war. Wahrscheinlich, weil er so
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groß und so dick war. Damals kam er mir vor wie ein Berg, der irgendwo ganz oben, nach einem riesigen Bauch und einem kleinen Gesicht, eine winzige schwarze Hornbrille mit grünen Gläsern trug. Onkel Ernie war natürlich auch Soldat, und von Zeit zu Zeit werden Soldaten eben versetzt, und eines Tages war Onkel Ernie auch weg. Er hat ein bißchen ausgesehen wie Fats Domino, nur hatte er nicht so ein kantiges Gesicht, und ob er ein guter Rock'n'Roll-Sänger war, das weiß ich natürlich auch nicht. Im Unterschied zu meinem Papa schickte uns Onkel Ernie noch von Zeit zu Zeit Päckchen, und obwohl fast immer ein Haufen sinnloser Sachen drin war, hab ich mich doch immer irrsinnig darüber gefreut. Als Onkel Ernie weg war, hat Mama aufgehört mit den Soldaten. Sie hat eingesehen, daß sie einen Mann braucht, der da bleibt; einen, den sie der Nachbarschaft als Ehemann präsentieren konnte. Was Solides. Und da bot sich natürlich der Erich an. Ich war schon fast sieben Jahre, als Mama ihn heiratete. Eigentlich kann ich gar nichts Schlechtes sagen über den Erich, schließlich sorgt er ja für sie, und der ewige Krach zu Hause ist auch weniger geworden, seit Blacky und ich nicht mehr da sind. Ich weiß bis heute nicht genau, ob Mama nun eigentlich noch ein Kind wollte oder nicht. So oder so, jetzt ist Ernstchen jedenfalls da, und Mama ist mit Erich und dem Spätzünder Ernstchen jetzt eine richtige Familie für die Nachbarn. Damit sag ich nichts gegen Ernstchen, das ist ein netter kleiner Junge. Es ist nur ein bißchen komisch gewesen für mich am Anfang, einen ganz weißen Halbbruder zu haben. Mir macht es heute
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gar nichts mehr aus, daß ich nicht weiß bin. Das war nicht immer so. Früher, in der Schule, da war das was anderes. Blacky, der Lothar heißt, aber so nennt ihn außer Mama keiner mehr, hatte seinen Spitznamen schnell weg. Er ist drei Jahre jünger als ich und arbeitet heute für Sparta. Da man uns beiden nicht gut denselben Spitznamen andrehen konnte, behielt Mama schließlich recht, die immer behauptet hatte, wenn das Kind auf gut deutsch Anna heißt, dann kann das keiner verhohnepiepeln. Darauf immerhin hat sie geachtet. Das Dumme war nur, daß sie wohl tatsächlich damit auch irgendwie die schwarze Farbe von mir abwaschen wollte, und ich glaub, sie hat auch besonders heftig und ausdauernd an mir rumgeschrubbt, als ich klein war, und immer mußte ich besonders nett und adrett angezogen sein, natürlich mit den rosa Schleifchen und Lackschuhen. Klar, daß manche Männer und auch Frauen unnatürlich auf mich reagieren, übertrieben aufmerksam und manchmal auch offen ablehnend, deswegen war ich ganz froh, daß Benjamin sich völlig normal verhalten hat. Benjamin hatte vor Unzeiten Tee bestellt, und jetzt kam er. Der Ober war noch nicht wieder nüchtern. Als er den Tee abstellte, sahen wir, daß er eine schmale Blutspur auf der Wange hatte. »Sie bluten ja«, sagte Benjamin. Der Kellner sah Benjamin an und nickte feierlich. Er wedelte mit dem leeren Tablett zur Kajüte nach oben und sagte: »Jawohl, ich blute. Und wie ich blute, mein Herr.
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Seit sechs Jahren will ich von hier verschwinden. Aber was mache ich? Seit sechs Jahren fahre ich mit diesem verdammten Kerl diese verdammte Tour.« Wahrscheinlich redete er vom Kapitän. Benjamin gab ihm ein Zweimark-Stück. Er wehrte ab, als der Kellner rausgeben wollte. »Alles Fanatiker hier«, sagte der Kellner. »Das sage ich Ihnen, denn ich kenne mich aus, mein Herr. Sone, solche und andere«. Er war noch kein bißchen nüchtern. Er war so wenig nüchtern, daß er anscheinend immer noch glaubte, Benjamin warte auf sein Wechselgeld, deswegen setzte er auch gleich wieder zu einer neuen Rede an, aber Benjamin fing ihn rechtzeitig ab: »Schon gut, Mann. Alles in Ordnung.« Der Kellner verbeugte sich schwankend und ging. Wenig später legte der Dampfer an, und wir liefen noch ein bißchen in einem Park herum. Benjamin war wieder schweigsam. Ich merkte, daß er an den Geldtransport dachte. »Ein Transport, der von Tempelhof ins USHauptquartier in der Clay-Allee fährt, karrt doch nicht in Spandau herum.« »Dann kommt er eben vom Flughafen Tegel«, sagte ich. »Aber den fliegen doch die Franzosen an. Was hat denn der Vogel mit den Ami-Dollars da verloren …« Ich konnte es ihm nicht erklären. Hab mich nie darum gekümmert. »Wenn du jetzt das Drehbuch schreibst«, fragte ich, »redet dein Filmheld dann so wie du?« »Wieso fragst du das?« »Ich möchte mal wissen. Irgendwo muß es ja herkom-
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men. Denkt er wie du?« »Manchmal vielleicht ein bißchen«, sagte Benjamin. »Da kommt viel zusammen. Ich schreib ja nicht, wie er redet, bevor ich nicht genau weiß, wie er ist.« Er schwieg. Und als ich ihn ansah, lächelte er. Ich hab ziemlich lange gebraucht, bis es mir dämmerte.
6 Ich kam zurück in unser Pensionszimmer, da saß Gorski im Unterhemd am Fenster und starrte hinaus. »Ich hab über unsere zwei Figuren nachgedacht«, sagte Gorski. »Und ich bin auch auf was gekommen.« »Ich denke, du hast was gesehen?« »Das auch«, sagte er. »Interessanter Typ übrigens, dein Sparta. Alles was recht ist.« »Und er fährt einen dunkelblauen Ford-Mustang. Wie fährt sich's denn da drin?« Gorski sah mich an. »Nicht schlecht«, sagte er und starrte wieder vor sich hin. »Du glaubst mir also endlich, daß es ihn gibt, den Sparta?« »Doch, doch«, sagte Gorski. »Seltsam, was manchmal so rauskommt aus einem Menschen. Da sind ein paar ganz klare Sachen über den Tisch gegangen heute. Du hättest deinen Spaß dran gehabt.« »Nicht alles durcheinander«, sagte ich, »der Reihe nach, sonst finde ich nicht durch. Er holte dich ab, du stiegst in 67
seinen Wagen, und dann?« »Dann war erst mal Funkstille«, sagte Gorski. Er zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und spielte damit. »Wenn ich's mir recht überlege, war's eigentlich ein Tag für einen Ausflug, richtig schön.« »Ja«, sagte ich. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ihm gegenüber. »Du hast ja auch einen Ausflug gemacht. Warum landet die Maschine eigentlich in Tegel?« »Hab mich auch gewundert. Sparta meint, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Um Tempelhof nicht zu überlasten. Es gehen auch andere amerikanische Transportflüge nach Tegel.« »Und was hat er sonst noch gewußt?« »Auf dem Weg zum Flughafen hat er zunächst überhaupt nicht geredet, und ich auch nicht. Wer nicht will, der hat schon, außerdem hab ich mir so meine Gedanken gemacht.« »Über Sparta?« »Über unsere Jungs. Die beiden Macher. Sparta parkte den Wagen beim Flughafen an einer Stelle nahe an der Umzäunung, von wo aus wir das Rollfeld überblicken konnten. Wir waren gerade zur rechten Zeit gekommen. Auf dem Flugfeld war gerade eine Militärmaschine mit Propellern gelandet, und in einem Halbkreis aufgebaut standen da zehn Mann Militärpolizei, alle bewaffnet mit Maschinenpistolen. Innerhalb ihres Halbkreises stand ein Jeep. Soweit ich es erkennen konnte, saßen zwei Mann drin, ebenfalls MPs. Die Militärmaschine kam zum Stehen, eine Metalltreppe wurde von zwei Soldaten an die
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Ladeluke geschoben, die Luke öffnete sich, ein Offizier kam raus und die Treppe runter, wo er stehenblieb und wartete. Daraufhin trat ein Offizier aus dem Halbkreis der MPs, ging zu dem Offizier aus der Maschine, begrüßte ihn und redete eine Weile mit ihm. Wir waren ganz schön weit weg, aber man konnte alles prima sehen.« »Alles?« Gorski nickte. »Auch das Geld?« »Jedenfalls die Säcke, wo's drin ist. Leder oder Leinensäcke. Einer der beiden Soldaten, die die Metalleiter an die Luke geschoben hatten, stand oben in der Luke und reichte den ersten Sack runter zum zweiten Soldaten, und der hielt den beiden Offizieren den Sack zum Prüfen der Plombierung hin. Derselbe Vorgang wiederholte sich noch einmal. Danach wurden beide Säcke von MPs eskortiert zu dem gepanzerten Transportwagen gebracht und verladen.« »Eine Million in zwei Säcken?« Gorski sah mich an und drückte seine halbgerauchte Zigarette aus. »Und sie sind nicht mal besonders groß«, sagte er. »Sparta meint, es sind alles kleine Scheine. Übrigens hat er bei der Geldübergabe auch zum erstenmal den Mund aufgemacht. Das spielt sich hier am ersten Freitag eines jeden Monats ab, immer um die gleiche Zeit, sagte er, seit Jahren. Eine Million Dollar. Alle vierzehn Tage. Und nie ist was passiert.« »Und was hast du gesagt?« »Nichts«, sagte Gorski. »Ich wollte erst mal sehen, wie's weitergeht.«
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»Ihr seid also dem Konvoi nachgefahren«, sagte ich. »So ist es. Wir konnten eigentlich immer nur den letzten Jeep sehen und manchmal, in Kurven, den Geldwagen davor. Aber wir wußten, daß der Transporter von zwei Jeeps begleitet wurde. Einer war vom Rollfeld gekommen, den hatte ich da schon stehen sehen. Der zweite hatte sich vor dem Flughafengebäude angeschlossen, das heißt, er hatte sich, als der Transporter gefolgt von dem Jeep aus dem Gebäude herauskam, an die Spitze des Konvois, also vor den Transporter gesetzt. Diesen zweiten Jeep, der den Konvoi anführte, den hab ich zuerst übersehen, weil da eine Menge Wagen herumstanden vorm Flughafengebäude.« »Seid ihr ihnen nachgefahren bis zu den Kasernen?« »Das war gar nicht nötig«, sagte Gorski. »Die entscheidende Stelle liegt lange vor der Endstation. Ein Bahnübergang.« »Ein Bahnübergang mit Schranke?« fragte ich. »Ein Bahnübergang mit Schranke«, sagte Gorski. »Aber was noch schöner ist: Von der Straße, die über den Bahnübergang geht, zweigt vor dem Übergang links eine andere Straße ab, die in eine Unterführung unter die Gleise führt. Diese Straße durch den Tunnel führt dann über ein paar Seitenstraßen nach Charlottenburg und damit in die Innenstadt.« »Das klingt wie erfunden«, sagte ich. »Ich geb's ja zu, daß es sich so anhört«, sagte Gorski, »aber es ist auch erst die halbe Geschichte. Ein gutes Stück vor der Stelle, wo die Tunnelstraße abzweigt, ist eine Kreu-
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zung. Wenn der Konvoi die Kreuzung in Richtung Bahnübergang passiert hat, könnte man den nachfolgenden Verkehr durch ein Umleitungsschild in die falsche Richtung schicken.« »Und?« »Ein Bahnübergang hat Schranken!« »Damit können wir schon etwas anfangen«, sagte ich. »Das hab ich mir auch gedacht.« Gorski steckte die Zigarettenschachtel endgültig wieder ein. »Die ganze Sache kam mir so einfach vor, da bin ich ja immer mißtrauisch. Ich hab natürlich sofort nach dem wunden Punkt gesucht.« »Hat Sparta nichts dazu gesagt?« »Er hat gemeint, am Bahnübergang müßte man's machen.« »Klingt doch ganz plausibel«, sagte ich. Gorski ging zum Waschbecken und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Während er sich das Gesicht abtrocknete, sagte er: »Das ist noch nicht alles. Sparta sagte so ungefähr: Wenn unsere Kinoidee für den Überfall wirklich überzeugend wäre, dann würde er's vielleicht selber machen, wirklich. Er meinte, es fehle ihm eigentlich nur die Idee dazu, der zündende Funke – Phantasie.« »Na, und du?« fragte ich. »Nichts. Ich hab ihn reden lassen. Er sagte noch, ich sei wohl auch ein Macher oder so ähnlich, und daß ihn die Sache ganz nervös mache. Er konnte das Geld gar nicht wieder aus dem Kopf kriegen.« »Es ist ja auch 'ne ganze Menge«, sagte ich. »Aber er hat
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uns noch im KEMPINSKI gesagt, daß der Coup in Wahrheit nicht auszuführen sei?« »Ja schon«, sagte Gorski. »Aber die Herausforderung ist einfach zu groß für ihn. Ich versteh das ganz gut.« Er nahm ein sauberes Hemd aus einem Koffer und zog es über. »Ich hab ihn übrigens gefragt, wie er wirklich heißt.« »Hat er's dir gesagt?« »Er sagte, er hätte es vergessen. Dann wollte er mir unbedingt seinen Paß zeigen, wo Sparta drinsteht. Er hat ihn sich selber ausgedacht, seinen Namen, und er ist sehr stolz darauf.« »Hat er dir vielleicht auch noch erzählt, wie er darauf gekommen ist?« Gorski nickte und knöpfte sein Hemd zu. »Ihr habt ja das volle Programm gehabt«, sagte ich. »Wie gesagt«, sagte Gorski, »es war nicht uninteressant.« »Und wie ist er drauf gekommen?« »Auf den Namen? Der käme von einer Geschichte aus seiner Kindheit, meinte er. Sie hätte ihm damals so gut gefallen, weil er sie wohl nicht verstanden habe. Sie handelt von einem Jungen in Sparta. Er war der ärmste in seiner Schulklasse. Und da er sonst nichts besaß, wollte er wenigstens ein Tier für sich haben. Also stahl er einen kleinen Fuchs. Auf dem Weg nach Hause aber begegnete ihm sein Lehrer. Der Junge versteckte den Fuchs unter seiner Toga, und der Lehrer, der ihn in ein Gespräch verwickelte, merkte nichts davon. In Sparta stahl man nämlich nicht. Als der Lehrer gegangen war, hatte sich der Fuchs durch
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das Brustfleisch des Jungen durchgefressen. Bis auf die Rippen. Aber der Junge hatte sich die ganze Zeit über nichts anmerken lassen.« »Das hat er dir erzählt?« »Ja«, sagte Gorski. »Und ich hab ihn gefragt, ob er wüßte, wo Sparta läge. Er wußte es nicht. Früher hätte er ja dich immer nach so was fragen können, meinte er.« »Und dann hat er dich wieder hier abgeliefert?« »Noch nicht. Ich hab ihn noch was gefragt.« »Was?« »Ich hab ihn zum Spaß gefragt, was er sagen würde, wenn ich den Coup selber machen würde.« »Red keinen Scheiß.« »Doch«, sagte Gorski. »Ich wollte ihn testen.« »Und?« »Er hat überhaupt nicht gelacht. Ich glaube, er fand das gar nicht komisch. Er hat mich gefragt, ob ich das vielleicht mit dir vorhätte.« »Das war alles?« »Immer noch nicht. Er hat die Risiken aufgezählt, und genau das wollte ich von ihm hören. Das erste Risiko, sagte er, sei er selbst; das zweite sei, ob ich es schaffen würde, und er meinte, ich würde es nicht schaffen. Aber selbst wenn ich es schaffte, wäre er dann da, um bei uns abzukassieren. Er sagte auch noch, daß wir ohnehin keinen Schritt hier machten, von dem er nichts wüßte, und das ist ja auch mal ganz interessant zu erfahren, oder?« Klar, daß ich dabei auch an Anna dachte. Aber Gorski erwähnte sie mit keinem Wort.
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»Er hat noch ein paar Sprüche geklopft«, sagte Gorski. »Von der Sorte, wie ich sie gar nicht so gern habe. Sonst hätte ich ihn wohl auch nicht gefragt, ob er schon mal einen umgelegt hat, und das hatte er nun wieder nicht so gern. Ich hab ihm dann was von meiner Partisanenzeit in Polen erzählt.« Gorski grinste. »Damit er nicht auf die Idee kommt, ich bin bloß ein paar Jahre älter als er und weiter nichts. Fünfzehn, sechzehn war ich damals, und das Schießen hat mir Spaß gemacht. Und wenn ich mir's genau überlege, tut's das auch heute noch.« Ich machte mich daran, aufzuschreiben, was wir nun an reinen Fakten über den Transport wußten, um möglichst schnell ein Expose für Dr. Prott fertig zu haben. Der Überfall auf den Transport konnte nur auf dem Weg vom Flughafen zur Kaserne geschehen. Das war fast schon ein Plot. Aber wir hatten noch kein bißchen mehr für unsere Geschichte als die bekannten Filmmuster: Zwei Männer kundschaften einen Coup aus, und die weiterführenden Varianten lauteten: Eine Frau kommt dazwischen, die beiden Typen zerstreiten sich, und der Coup mißglückt; die Frau verrät den Coup womöglich Minuten vor der Tat an die Polizei, und die Typen werden noch am Tatort geschnappt; ohne Frau: der Coup glückt, die beiden werden wegen der Beute uneins und bringen sich vielleicht auch noch gegenseitig um; oder: der Coup gelingt, sie entkommen auch vom Tatort, werden aber, als sie sich endgültig absetzen wollen, von der Polizei erschossen. »Alles bekannt«, sagte Gorski, »alles langweilig.« »Wir fassen die Sache immer noch falsch an«, sagte ich.
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»Wir sehen sie falsch.« »Sie müssen das Ding drehn, unsere Typen«, sagte Gorski, »und dann abhauen mit dem Geld. Ab. Weg. Aus.« »Ich lese dir mal was aus der Zeitung vor«, sagte ich. »Paß auf: Es gilt zu gewinnen, nicht nur über die großen Verbrechen, sondern mehr noch über die kleinen, ohne die die großen nicht möglich wären. Es gilt zu gewinnen, weil sonst unmerklich, aber auf schreckliche Weise der Punkt erreicht wird, wo die Brutalität, die Vernachlässigung und Schändung des Denkens, des Herzens und der Imagination, Feinde alles Menschlichen werden.« »Amen«, sagte Gorski. »Von wem ist das? Hermann Hesse?« »Sam Fuller.« »Vielleicht wird auch Sam Fuller langsam alt«, sagte Gorski. »Nein, nein. Ich meine das ernst. Stell dir vor: ein Kriminalfilm ohne Leiche. Die Tat: als Verbrechen lediglich nach dem Strafgesetzbuch definiert. Ein moralisches Verbrechen meinetwegen. Die Faszination erwächst aus der kühlen, genauen Planung und der Reinheit der Tat. Die Täter schießen nicht und werden nicht erschossen. Sie entkommen. Mit einem Flugzeug. Es geht endlich aufwärts mit ihnen, verstehst du? Ich habe keine Lust zu einem Film nach den üblichen Schlagetotmustern. Ich hab keine Lust mir auszudenken, wie zwei Typen bei der Abwicklung eines Überfalls mit möglichst ausgeklügelter Raffinesse zu Tode kommen. Nicht mehr. Ich bin kein Zyniker. Ich will keiner werden. Ich hab's satt. Ich hab was
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gelernt. Ich will einen anderen Film machen. Einen Anfang. Eine Hoffnung.« »Du hast Angst vorm Töten«, sagte Gorski, »deshalb redest du auch soviel.« »Ich rede, weil ich was begriffen habe.« »Gib's zu, daß du Angst hast.« »Ach Gott«, sagte ich, »wollen wir uns jetzt gegenseitig was aufrechnen, Mann?« »Warum nicht? Das reinigt.« »Na schön. Dann bist du ein Studierter, ein Intellektueller mit dem klassischen Drang zum Proletariat, aber du bist einfach zu gebildet, um da hinzupassen. Arbeiterjunge, ein Romantizismus, Mann. Am liebsten würdest du mir die Rolle zuschieben, stimmts? Aber das geht schlecht, weil mir die höhere akademische Vergangenheit fehlt. Du spielst, Massah. Wir sind beide dasselbe; aufgewachsen als Kleinbürger, die sich seit einiger Zeit unwohl fühlen in ihrer Haut.« Gorski ging zum Waschbecken, goß sich ein Glas Wasser ein und trank es in hastigen Zügen aus. »Man kann seine Klasse verraten, aber man kann sie nicht verlassen«, murmelte er. »Ja, ja«, sagte ich. »Wir wollen hier einen Film machen, das ist alles.« »Ich weiß nicht, ich hab mir nun alles angesehen, und trotzdem fällt mir nichts ein«, sagte Gorski. »Ich hab vorhin noch eine Möglichkeit ausgelassen«, sagte ich. Gorski sah mich mit schräg gehaltenem Kopf an. »Die Frau verrät nur einen von beiden.« Ich kann nichts
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dafür, daß es in diesem Augenblick klopfte und Anna hereinkam. Es hatte sich wirklich nur so ergeben. »Was guckt ihr mich denn so an?« fragte Anna, »ist vielleicht was?« Sie sah mich an, und es gab mir einen ärgerlichen kleinen Stich, als Gorski sie nach der Begrüßung noch einen Augenblick festhielt. Sie schloß die Augen, als sie dann ihre Wange an mein Gesicht legte, und ihr Haar roch nach Sonne und Gras. »Stör ich euch?« fragte sie. Gorski schwieg und trat wieder ans Fenster. Ich schüttelte den Kopf. Anna legte sich längs auf das Bett und sah uns zu. »Du kannst uns beiden ein bißchen helfen«, sagte ich zu Anna. Und zu Gorski: »Bevor wir unsere Geschichte formulieren, sollten wir uns anhören, was Prott zu sagen hat.« Ich gab Anna den Brief, den Gorski bis jetzt nicht zur Kenntnis genommen hatte. »Lies einfach ein bißchen vor.« Anna strich das Papier glatt. »Heute nachmittag hab ich mir die Freiheit genommen und mir den Rohschnitt Ihres und Benjamins letzten Film für mich angesehen. Und wissen Sie, was ich an Ihren letzten Arbeiten so beunruhigend finde, Alex, das ist die wirklich völlig uneinsichtige Eskalation von Gewalt.« Anna schwieg und sah Gorski an, aber der blickte weiter aus dem Fenster. »Du willst mich erpressen«, sagte Gorski, »du willst mich mit Protts Meinung erpressen.« »Ich will was ändern«, sagte ich, »und ich weiß außerdem, daß wir bisher keinen Grund hatten, uns nicht mit seinen Einwänden zu beschäftigen. Das kannst du nicht bestreiten.«
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»Ihre Geschichten und die Bilder dazu, die Sie beide machen, haben sich – abgesehen von formalen Einwänden – immer mehr brutalisiert. In Ihren Filmen ist eine immerwährende Katastrophenstimmung – eine ständige Mobilmachung – Panik. – Wie soll das weitergehen, lieber Alex?« Anna hörte wieder auf zu lesen, und ich sagte: »Noch einen Absatz.« »Ich meine, die Leute haben doch ein Recht darauf, etwas zu sehen, was mit ihrer Wirklichkeit zu tun hat.« Anna legte den Brief weg. »Ich stör euch wohl doch bloß«, sagte sie. »Ja«, sagte Gorski. »Na dann bis später«, sagte Anna. Sie stand vom Bett auf, warf beim Rausgehen einen schnellen Seitenblick in den Spiegel überm Waschbecken und machte die Tür hinter sich zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Das war das falsche Objekt«, sagte ich, »auf mich mußt du wütend sein.« »Wir wollten den Brief zusammen aufmachen«, sagte Gorski. »Ja«, sagte ich, »nächstes Jahr.« »Deine Freundlichkeit ist pure Maske«, sagte Gorski. »In Wirklichkeit bist du nämlich bösartig.« »Ich muß wissen, woran ich bin. Ohne Geld können wir hier nicht einfach so einen Film anfangen.« »Na und? Was ist mit dem Geld?« »Prott läßt es ziemlich in der Schwebe, ob er das nächste Projekt finanzieren will oder nicht. Und ich sage dir, daß ihn nur eine wirkliche Veränderung überzeugen kann. Eine andere Geschichte als die bisherigen. Und mich auch.
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Worüber ich vorhin geredet hab. Protts Vortrag über deinen Haß – oder ich muß wohl sagen, unseren –, über Brutalität, das hat mich schon wo erwischt.« »Benjamin«, sagte er, »ich werd jetzt mal ein paar Stunden spazieren gehen und mir alles durch den Kopf gehen lassen. Von unterwegs irgendwo ruf ich dann mal Prott an, okay?« Er nahm seine Lederjacke vom Bett und wandte sich zur Tür. »Mann«, sagte ich, »und die Geschichte?« »Die denken wir uns ganz neu aus«, sagte Gorski, »schreib nur über den Coup, die mögliche Abwicklung. Nichts über die beiden Typen. Keine Handlungsmuster, jetzt hast du mich rumgekriegt. Paß mal auf, jetzt machen wir unheimlich was aus dem Leben.« »Mit oder ohne Mädchen?« fragte ich. »Ohne«, sagte Gorski. »Ich mag sowieso keine Frauen in solchen Geschichten. Wenn eine Frau auftaucht, weiß man immer gleich Bescheid.« Vor der Tür drehte sich Gorski noch einmal um. »Benjamin?« Ich sah von der Schreibmaschine auf. Gorski sah ernst aus. »Wir machen die Geschichte zusammen«, sagte er, »und du stehst zu mir?« »Leider«, sagte ich. »Und versuch nicht, in Sparta so eine Art Revolutionär zu sehen, das ist er nicht, Massah, er hat sich eingerichtet und fühlt sich wohl.« »Geschenkt«, sagte Gorski.
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7 Der Brief an Prott war noch längst nicht fertig, da klopfte die kleine Türkin an die Tür. Ihren Staubsauger hatte ich schon seit mindestens einer Stunde im Ohr, und ich dachte zuerst, sie wollte hier jetzt vielleicht saubermachen, weil sie nur einfach so im Türrahmen stand und langsam rot wurde. Sie sah mich aus pechschwarzen Knopfaugen an und sagte: »Telefon. Flur.« Auf dem Flur stand ein kleiner runder Tisch mit Spitzendeckchen und einem Stuhl davor, und auf dem Deckchen lag eine quadratische Gummiunterlage, und auf der Gummiunterlage stand das Telefon. Der Hörer lag auf dem Deckchen. Ich nahm ihn schnell auf. Das Deckchen sah schon etwas mitgenommen aus. »Benjamin.« »Ja«, sagte Sparta. »Wie gehts, wie kommst du voran?« »Es geht.« Ich wollte abwarten. Er rief bestimmt nicht an, um was über unsere Zusammenarbeit zu erfahren. Nach einer Pause sagte Sparta: »Ist Anna bei euch?« »Sie war mal kurz hier«, sagte ich, und als er darauf nicht antwortete: »Suchst du sie?« »Nein, nein«, sagte Sparta. »Sie hatte nur noch was zu erledigen, vielleicht macht sie es jetzt.« »Ja«, sagte ich, »ich weiß nicht, wo sie hin ist.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Sparta. »Kann ich Gorski mal sprechen?« »Der ist grade weg. Er ist spazierengegangen, zum
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Nachdenken. Das macht er immer so. Kann ich ihm was bestellen?« »Es ist nichts Wichtiges«, sagte Sparta. »Hat auch Zeit bis später.« Sparta legte auf. Die kleine Türkin hantierte vor unserer Zimmertür mit ihrem Staubsauger. Sie blickte auf, als ich an ihr vorbei ins Zimmer wollte, und hielt mich am Arm fest. Ihr Gesicht war dunkelrot. Sie senkte schnell wieder den Blick, und während sie auf die Staubsaugerdüse starrte, sagte sie: »Freund in anderen Zimmer. Er hat schwarzes Mädchen.« Und sie schlug sich mit der flachen Hand auf den Mund, um das Kichern zurückzuhalten. Ich machte die Tür zu und setzte mich wieder hinter die Schreibmaschine. Ich mußte den Brief noch zu Ende bringen. »Ihren Brief«, schrieb ich, »haben wir gelesen und beschäftigen uns damit. Es wird Ihnen recht sein, wenn unsere Antwort aus einer neuen Geschichte besteht. Angedeutet ist eingangs der Coup, um den es geht. Wir befassen uns jetzt mit den Personen, die auf diesen Coup stoßen. Wir melden uns wieder, wenn wir mehr von ihnen wissen. Grüße, auch von Alexander Gorski, Ihr B.« Als ich den Brief zusammenfaltete und in den Umschlag steckte, war der Gedanke wieder da. Hatte Sparta Anna vielleicht mit voller Absicht auf Gorski angesetzt? Aber warum? Mir fiel das Gespräch zwischen Sparta und Gorski wieder ein, von dem Gorski erzählt hatte. Sie hatten sich gegenseitig imponieren wollen, das war doch weiter nicht ernst zu nehmen. Ich zwang mich, den Gang zur
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Post zu machen, ohne weiter nachzudenken. Als ich die Einschreibequittung in der Tasche hatte, verließ ich die Post. Nun war ich es, der anstelle von Gorski »nachdenken ging«, aber das einzige, was ich klar sah, war, daß Gorski jetzt gerade vielleicht mit Anna schlief. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Gegend herumgelaufen bin. Schließlich stand ich auf dem Wittenbergplatz und versuchte, mich an die Teestube in der Nähe zu erinnern. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis ich sie fand. Sie hieß zwar anders inzwischen, aber die Szene war ähnlich. Ich ging rein, und es war, als tauche ich ein in einen langen, halbdunklen, warmen Schlauch. Die Tische waren niedrig, und auf Untertassen brannten Kerzen. Gleich neben dem Eingang war so etwas ähnliches wie ein kleines Podium, wo ein paar Typen im Schneidersitz herumsaßen und vor sich hin starrten. Um sie herum lagen eine Gitarre, eine Querflöte und etwas, das aussah wie ein indisches Zupfinstrument. Es war nicht mal halb voll, und ich dachte, ich trinke vielleicht einen Tee und gehe dann wieder. Die Typen auf dem Podium neben dem Eingang spielten ein bißchen mit ihren Instrumenten herum. Es war mehr ein Stimmen, Klimpern, aber es war angenehm. Es gab auch tatsächlich noch Tee, und das Mädchen, das ihn brachte, nahm die Bestellung so sachlich auf wie anderswo 'ne Molle mit Korn. Auf dem Tisch stand eine Untertasse mit Kandiszucker. Als ich die Tasse wieder hinstellte, sah mich ein Typ vom Nebentisch an. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob er mich schon eine ganze Weile beobachtete. Er hatte große, verwunderte Augen. Ein Mädchen reichte ihm
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einen Shilom, und er zog daran und reichte ihn mir wortlos herüber. Ich behielt den Rauch so lange in den Lungen, bis mir das Blut in den Kopf schoß. Nach dem viertenmal rutschte der Typ zu mir heran. »Verdammt gutes Zeug«, sagte er, »wirklich sauber. Gibts heute kaum noch.« Er hatte eine angenehme Stimme und strich sich mit beiden Händen die langen Haare aus dem Gesicht. Er sah mir genau in die Augen. »Was bist du denn für einer?« sagte er. Die Typen am Eingang spielten wieder, aber mir war, als seien die Gespräche und Geräusche überhaupt lauter geworden und die Musik irgendwo versandet. Der Typ sah mich mit ruhiger Aufmerksamkeit an, und mir war, als ob wir uns schon lange kannten. Auf keinen Fall hatte er mich eben erst angeredet. Das dauerte alles schon viel länger. »Ich bin Verwandlungskünstler«, sagte ich. »Du meinst, du bist Schauspieler?« »Findest du?« »Mann«, sagte er, »was ist los mit dir?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Das geht vielen so.« »Ja«, sagte ich, »wahrscheinlich. Geht gar nicht anders.« »Ganz sicher. Mann, ich hab das schon gesehen, wie du reingekommen bist, als ob du nicht wüßtest, wo oben und unten ist. Du mußt mal einen Trip nehmen, das klärt den Kopf, bläst mal ordentlich durch.« »Hast du heute einen genommen?« fragte ich. »Ja.« »Warum?«
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»Langsam, langsam. Bist du Square, Mann, oder was ist mit dir los? Willst du mich auf den Horror bringen mit deinen Fragen?« »Einfache Frage, einfache Antwort«, sagte ich. »Es ist reines, pures Acid. Garantiert astrein. Du hast keine Ahnung, Mann, wirklich. Hast du überhaupt schon mal einen Trip genommen?« Seine Zähne zerknackten ein Stück Kandiszucker. Ein Strahl von einer blaugefärbten Lampe fiel auf die Untertasse mit den braunen Zuckerstücken, und ich versuchte plötzlich, die einzelnen Lichtstrukturen auf den Kandiszuckerstücken zu sortieren. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht zu fassen«, sagte er. »Hast du Angst?« »Also Angst hab ich bestimmt auch«, sagte ich. »Aber das heißt nix, weil jeder Angst hat. Manche sagens, manche sagens nicht.« »Ich kann nicht verstehen, daß du über etwas urteilst, was du nicht kennst. Da staune ich, Mann«, sagte er. Ich rührte weiter in der Teeschale. Er sah mir dabei zu. Brauner Kandis löst sich in kaltem Tee schlecht auf, schmeckt aber besser als Zucker. »Alles tot, verkommen, kaputt, verrottet«, sagte einer vom Nebentisch. »Überall wo du hinguckst.« Mein Typ sagte: »Früher ist es ihm ganz gut gegangen als Travelagent, dem da. Ich kenn ihn noch von damals, der hat immer seinen Deal gemacht, Mann. Aber wie das so geht. Bis er jeden Tag die Hühner vorm Haus hatte, und da warn die
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ganzen Lardos Neese. Gestern hat er sogar seine Muschel verscheuert. Mehr ist ihm nicht geblieben.« »Was war das?« fragte ich. »Wieso?« »Ich hab kein Wort verstanden.« »Ich dachte, du wärst aus der Szene hier.« »Wohl doch nicht.« »Mach dir nichts draus, bist trotzdem ein Mensch«, sagte er und kicherte verhalten. »Hühner sagen wir für Polizei, Lardos sind Dollars. Muschel ist sein Wagen. Wo kommst du her, Mann?« »Ich war lange nicht hier«, sagte ich. »Und ich war lange nicht weg«, sagte er und lachte. Lardos, dachte ich, als ich wieder draußen auf der Straße stand. Eine Million Lardos. Und ich machte die Entdeckung, daß sie mir mindestens so hartnäckig im Kopf herumspukten wie Anna und ihre Beziehungen zu Sparta oder auch zu Gorski.
8 Tonbandprotokoll Aussage Anna Przygodda (2): Mit Gorski war es ganz anders. Erst hab ich ja so ein unangenehmes Gefühl gehabt bei der Sache, so hinter Benjamins Rücken. Aber das verschwand dann. Schließlich gehörte ich Benjamin nicht, nur weil er mal mit mir geschlafen hat, die Zeiten sind ja wohl endgültig vorbei. 85
Gorski ist eben ein interessanter Mann, und ich kann tun und lassen, was ich will. Ich hab's auch nicht etwa getan, weil ich unbedingt eine Rolle in Gorskis Film haben wollte. Nein, er gefiel mir, das war wirklich alles. Und Gorski ist ein Mann, dem die Mädchen gefallen. Ich war schon vorgegangen in Gorskis Zimmer, und es dauerte noch eine halbe Stunde, bis er nachkam. »Hat er was gemerkt?« fragte ich. »Ach wo«, sagte Gorski, »der doch nicht.« Ich dachte, er wäre vielleicht sauer auf mich, weil ich den Brief vorhin vorgelesen hatte, aber Gorski war ganz anders als in Benjamins Zimmer. Er war auch nicht so schroff wie bei unserer ersten Begegnung im KEMPINSKI, und wenn ich vielleicht damit gerechnet hatte, er habe sich nur mit mir getroffen, um ohne Umwege mit mir zu schlafen, dann hatte ich mich getäuscht. »Was hast du eigentlich früher gemacht?« fragte er. Und ich dachte mir, was will er wissen, was ich wirklich gemacht hab, oder eine schöne Geschichte zum Erzählen für später? »Was ist früher? Früher war ich auf der Volksschule, und noch früher war ich in Mamas Bauch.« Ich lachte ihn an, und er sagte: »Du weißt schon, was ich meine. Bevor du Sparta kennengelernt hast.« »Gearbeitet hab ich. Am Fließband. Was sonst?« »Es gibt eine Menge anderer Möglichkeiten.« »Nicht, wenn du da herkommst, wo ich herkomme«, sagte ich. »Du bist nicht da geblieben«, sagte Gorski. »Du bist hübsch, du bist intelligent. Und du kennst Sparta.« »Eben hast du geredet wie er.«
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»Wie wer?« »Na wie Sparta. Er sagt das immer, wenn ich niedergeschlagen bin und mich nicht gut fühle. Du bist hübsch, du bist jung, und du hast Sparta.« »So ist das.« Gorski hatte sich aufgesetzt. »Ich sagte: Du bist intelligent. Jung bist du natürlich auch.« Er lächelte. »Aber das bleibt nicht. Das andre bleibt dir. Deine Intelligenz wird dir aus Situationen heraushelfen, in die dich dein gutes Aussehen gebracht hat.« »Redest du immer so mit Mädchen, mit denen du ins Bett gehen willst?« Gorski lachte. »Nicht immer. Kommt ganz drauf an.« »Du bist Filmregisseur, und du weißt es, und du schläfst gern mit Mädchen, die das auch wissen.« »Nein«, sagte Gorski, »nein. Das ist er.« Er machte eine Handbewegung zu Benjamins Zimmer. »Ich hab's lieber, wenn Mädchen gar nichts von mir wissen, ehrlich.« »Red nicht über ihn, wenn er sich nicht wehren kann«, sagte sie. »Vielleicht kenne ich ihn in dieser Beziehung sogar besser als du.« »Ich hab keine Lust, jetzt über ihn zu reden.« »Was möchtest du denn sein für deine Mädchen?« Gorski zuckte die Schultern. »Komm«, sagte ich, »jeder hat doch seine Vorstellung. Ehrlich mußt du schon sein, sonst machts keinen Spaß.« »Rate«, sagte er. »Ich tippe auf Arbeiter«, sagte ich. »Bestimmt bist du unheimlich links und romantisch dazu.«
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»Falsch«, sagte Gorski, »romantisch ist ganz falsch.« Er langte nach seiner Lederjacke und zog mit großer Geste eine Flasche Sekt raus. Während er den Zahnputzbecher vom Waschbecken holte, drehte ich mir eine Zigarette. Gorski setzte sich neben mich aufs Bett und hielt mir das volle Zahnputzglas hin. Ich nahm einen Schluck, und er zog einmal an meiner Zigarette. »Du machst das auch?« fragte er. »Manchmal ist es schön, öfter wirds weniger, und immer ist es Scheiße«, antwortete ich. »Wenn man über dreißig ist, ändert man seine Suchtgewohnheiten wohl kaum noch«, sagte Gorski und trank den Zahnputzbecher in einem Zug leer. »Und was hast du früher gemacht?« fragte ich Gorski. »Oder fängt man gleich als Regisseur an?« »Keine Spur«, sagte Gorski. »Alles mögliche. Testfahrer war ich.« »Du sollst mich nicht anlügen, ihr lügt alle beide.« »Doch«, sagte Gorski. »Ich war Testfahrer für Lastwagen.« Da mußte ich lachen. »Erzähl mir mehr!« »Gut«, sagte Gorski. »Es sind sechs Hirten, und sie hüten gemeinsam sechs Schafe, einem jeden gehört eins. Eines Nachts kommt ein Wolfshund und will ein Schaf reißen, weil er Hunger hat. Aber die sechs Hirten entdekken ihn noch rechtzeitig und verfolgen den Wolfshund, weil er ja wiederkommen könnte, während sie im Schlaf liegen. Sie jagen ihn die ganze Nacht lang, und sie schlagen ihn endlich tot und tragen ihn dann an einer Stange ange-
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bunden in ihr Lager, wie die Amerikaner einen toten Vietkong. Stolz zeigen sie ihn den Schafen. Und weil es ein großer Sieg war, schlachten sie die sechs Schafe, laden vorbeiziehende Zigeuner zu ihrem Festmahl ein, und es wurde ein rauschendes Fest.« »Das ist aber ganz schön traurig«, sagte ich. »Das ist eine Geschichte aus meiner Heimat«, sagte Gorski, »da erzählt man sich einen ganzen Haufen von der Sorte.« Man kann schön reden mit ihm, und das Gute daran war, daß ich immer dabei wußte, es war unsere erste und einzige Begegnung, und ich dachte gar nicht daran, ihm irgend etwas vorzumachen oder eine bestimmte Rolle zu spielen. Es ergab sich einfach alles so. Er saß stumm auf dem Stuhl vorm Bett und sah mich an. »Und jetzt?« fragte er. »Jetzt, Gorski«, sagte ich, »ohne Geschichten.« Er stand auf, und in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Gorski ließ es ein paarmal klingeln, aber es hörte nicht auf. Gorski nahm das Telefon vom Tisch und setzte sich damit neben mich aufs Bett. Er nahm den Hörer ab und sagte unfreundlich: »Wer ist denn da?« Dann hörte er zu und sagte: »Was, wer? Kenn ich nicht. Herr Gorski ist nicht da.« Er hörte wieder zu. »Mac Froehlich«, sagte er, »du liebe Zeit. Woher wissen Sie denn, wo ich wohne? Mensch, hier weiß wirklich jeder alles über jeden.« Gorski legte sich neben mich aufs Bett und hielt den Hörer so zwischen unsere beiden Köpfe, daß ich das
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Gespräch mithören konnte. Er zwinkerte mir zu und sagte: »Sie sind auf der falschen Fährte, Mac. Ich mache Ferien.« »Ferien?«, antwortete die Stimme, »mit Herrn Benjamin? Lieber Herr Gorski, das können Sie mir doch nicht erzählen.« »Doch«, antwortete Gorski, »glauben Sie mir. Hab ich Ihnen schon jemals irgendwelche Informationen vorenthalten?« »Ach, Herr Gorski«, sagte die Stimme, »ich habe doch aber auch meine Informationen. Und eine davon ist, daß Sie mit Herrn Horst Sparta zusammen mit Herrn Benjamin im KEMPINSKI gespeist haben. Separat, wie ich betonen möchte. Und später ist noch eine Dame dazugekommen. Und soll ich Ihnen was sagen? Sie war kaffeebraun. Das können Sie doch nicht einfach so ableugnen, Herr Gorski.« »Wer ist Sparta?« fragte Gorski. Alles Unsinn, Mac, es will Sie einer reinlegen.« »Aber nein doch«, antwortete die Stimme, »alles eigene Recherchen, schwere, körperliche und geistige Arbeit. Das ist noch längst nicht alles. Ich bitte Sie, mit so wenig in der Hand würde ich Sie doch niemals belästigen. Sie kennen mich doch! Mac Froehlich. So was mach ich doch nicht. Das mag heute üblich sein, aber ich habe mein Handwerk noch ehrlich gelernt. Mich leiten andere Maximen. Ja, Herr Gorski, ich bin so zuversichtlich, daß Sie mir doch noch etwas zu sagen haben werden, weil ich mit dem Fernsehen telefoniert habe. Da hab ich zweierlei erfahren,
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obwohl ich den Chef selber natürlich nicht gesprochen habe. Aber seinen Adlatus, Herrn Wetter. Nämlich, daß Sie einen Film vorhaben, und daß seitens des Fernsehens noch kein fester Auftrag dafür vorliegt.« »Sie haun ja ganz schön auf den Putz«, sagte Gorski. »Aber doch nur in Ihrem Sinne«, sagte der Mann, der Mac Froehlich hieß. »Ich habe Ihnen nämlich einen Vorschlag zu machen.« »Sagen Sie mir lieber, was Sie von mir wollen«, sagte Gorski. »Das ist es ja eben«, sagte Mac Froehlich. »Ich will Ihnen helfen, einen Produzenten zu finden, und dafür kriege ich Ihre Story exklusiv.« Gorski grinste mich über den Hörer hinweg an. »Ich habe Verbindungen«, sagte Mac Froehlich, »immer noch. Sie kennen längst nicht alle finanziellen Möglichkeiten hier in der Stadt.« »Halten Sie mir ruhig einen Vortrag über die Wirtschaftssituation von Westberlin«, antwortete Gorski, »so was interessiert mich immer.« »Ich kenne jemanden«, sagte Mac Froehlich, »und ich kenne ihn gut, der hat sein Geld in vielen Medien. Er ist auch am Kassettengeschäft beteiligt, und das ist noch nicht alles.« »Die Filme, die ich mache, kann Ihr Boß sowieso nicht leiden.« »Aber warum, wenn Ihre Geschichte gut ist? Ich könnte doch mal mit ihm reden. Natürlich darf sie nicht anti-Berlin sein, da ist er empfindlich. Sie wissen doch, was ich
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meine? Sie darf nicht gegen die Prinzipien der freien …« »Klar«, sagte Gorski, »das tut sie auch gar nicht. Sie ist unheimlich pro-Berlin. Eine ganz positive Geschichte. Und ein bißchen traurig auch. Aber sehr menschlich, verstehen Sie?« »Es wär schon gut, wenn ich ein bißchen was mehr wüßte«, sagte Mac Froehlich. »Na schön«, sagte Gorski. Er stand auf und ging mit dem Telefon zum Fenster. »Da Sie sich solche Mühe geben, will ich Sie Ihnen erzählen. Also, ein Polizist, ein ganz normaler Polizist, verliebt sich in ein APO-Mädchen und wird im Kampf mit der Baader-Meinhof-Bande erschossen. Ja, und: kurz vor seinem Tod hatte sich das Mädchen für ihn entschieden. Und übrigens ist der Polizist ein Mischling, deutsche Mutter, Besatzungskind. Sie verstehen. Ja, das ist eigentlich alles.« Gorski legte auf und stellte das Telefon weg. Er blickte aus dem Fenster und fragte: »Der Schwarze bei Sparta, das ist doch dein Bruder, nicht?« »Ja«, sagte ich, »aber er hat einen andern Vater. Wie kommst du jetzt darauf?« »Nur so. Ich hab grad über was nachgedacht.« Später haben wir nicht mehr viel geredet. Kurz bevor ich ging, fragte ich ihn, wo er denn nun wirklich das Geld für seinen Film herkriegen wollte, und er meinte, wahrscheinlich doch vom Fernsehen. Ich dachte daran, wie er im KEMPINSKI ZU Sparta gesagt hatte, daß der Film ungefähr eine Million kostete, und ich weiß auch nicht mehr,
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warum, aber plötzlich sagte ich: »Du müßtest das Geld von den Amerikanern haben, dann könntest du deinen Film machen.« Gorski grinste. »Davon könnte ich drei machen«, sagte er, »oder einen ganz großen.« »Und was würdest du machen, wenn du das Geld wirklich hättest, greifbar in der Aktentasche?« »Die Tasche nehmen, und ab ins nächste Flugzeug«, sagte Gorski, »was denn sonst.«
9 Es war Abend, als ich zurückkam in die Pension. Frau Segebrecht, die Pensionswirtin, thronte wie immer hinter ihrem Tresen vor Brieffächern und Schlüsselablage. Sie tat so, als schriebe sie etwas in das Eingangsbuch, aber ich wußte, daß sie mich genau beobachtete. Ich nahm meinen Zimmerschlüssel vom Haken, und sie blickte auf, sah mich kurz an und sagte dann mit gesenktem Blick: »Herr Benjamin? Es tut mir leid, aber da ich Herrn Gorski nicht habe sprechen können, wende ich mich an Sie. Ich kann natürlich warten mit dem Geld, aber natürlich nicht ewig. Ich hab selber Kosten, tägliche Auslagen. Allein die Angestellten. Sie verstehen doch, Herr Benjamin?« »Ja«, sagte ich, »natürlich verstehe ich das.« »Nicht, daß Sie glauben, ich sage das, weil Sie vielleicht keiner geregelten Arbeit nachgehen. Ich habe nichts gegen Künstler.« 93
»Nein«, sagte ich, »das glaub ich Ihnen.« »Aber länger warten kann ich nicht. Würden Sie das vielleicht mit Herrn Gorski besprechen?« »Natürlich«, sagte ich, »das verstehe ich vollkommen.« »Und eigentlich«, sagte Frau Segebrecht, »sind Damenbesuche ja nicht gestattet.« Da ich Anna schlecht als meine Schwester oder Cousine ausgeben konnte, fiel mir darauf keine Antwort ein. »Wir bereiten einen Fernsehfilm vor«, sagte ich. »Das erste Honorar müßte eigentlich schon da sein. Jedenfalls erwarten wir es jeden Tag.« Frau Segebrecht war vielleicht Ende Vierzig, und zu einer anderen Zeit und in einer anderen Sprache hätte man sie wahrscheinlich junonisch genannt. Ihr Mann war ein farbloser Endfünfziger; er war sicher nicht so klapperdürr, wie er neben seiner Frau wirkte, aber sah seltsam eingetrocknet aus. Ich hab ihn nur in ein und demselben Pfeffer-und-Salz-Anzug gesehen und immer mit derselben randlosen Brille mit vergoldeten Bügeln. Frau Segebrecht mochte früher Kosmetikerin gewesen sein, Friseuse, oder, wer weiß, vielleicht Masseuse. Sie war ein wenig zu blond und trug ihr Haar kunstvoll hochgeschlungen zu einem kompakten Turm. Wo ihr die Augenbrauen gewachsen waren, war nicht mehr auszumachen; sie hatte zwei millimetergenaue gebogene schwarze Striche irgendwo über beiden Augen. Fett war sie nicht, nur ungeheuer fleischig. Sie hatte kaum reagiert, als sie die Eintragung in den Meldezetteln bei unserer Ankunft las: Benjamin, Reisender, und Alexander Gorski, Gesenk-
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schmied. Sie hatte ihn genau angesehen, und als ihr Mann hinter dem Vorhang neben dem Tresen vorkam, hatte sie abgewinkt, und er hatte sich wieder zurückgezogen. Sie hatte gefragt, ob sie unsere Pässe aufbewahren sollte oder Geld, aber Gorski machte einen Witz und sagte, er habe so was lieber bei sich, man könne ja nie wissen. Und Frau Segebrecht lachte ein bißchen zu laut, und ich bewunderte ein zahnärztliches Meisterstück. Sie hatte einen vollen, großen Mund, und er zitterte ein wenig, als sie nach dem heftigen Lachen kicherte und wiederholte, daß man ja wirklich nie wissen könne, und ihre Stimme hatte einen Unterton, der rotes Licht und ein stickiges Zimmer signalisierte. Auf der Treppe begegnete ich einem älteren Mann mit einem Schuhputzkasten. Mir war, als fixiere er mich beim Vorbeigehen, aber das hab ich mir wahrscheinlich nur eingebildet. In meinem Zimmer fand ich einen Zettel: U-Bahn Bülowbogen, Eck-Kneipe. Warte auf dich. A. Ich fühlte mich müde und zerschlagen und überlegte, ob ich vielleicht lieber erst eine Stunde schlafen sollte, aber dann ging ich gleich wieder los. Am Wittenbergplatz stieg ich um. Ich weiß nicht, ob er da auf mich gewartet hat oder nicht, jedenfalls saß plötzlich Gorski vor mir in der U-Bahn. »Hier ist doch noch frei?« sagte er, als er schon saß. Wir saßen uns eine Weile stumm gegenüber. »Hast du Prott erreicht?« fragte ich. »Ja«, sagte Gorski. »Der Brief aus dem Zug hat ihn interessiert. Ich hab den Plot angekündigt. Er läßt dich ausdrücklich grüßen.«
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»Dafür kann ich mir auch nichts kaufen. Die in der Pension will Geld sehen.« »Das machen wir schon«, sagte Gorski. »Das müssen wir auch, lange will sie nicht mehr warten. Eigentlich überhaupt nicht mehr.« »Ja«, sagte Gorski. Ich wußte genausogut wie er, daß wir kein Geld mehr zum Leben hatten, wenn wir jetzt die Rechnung bezahlten. Vor der Bülowbrücke an der Hauptstraße stand ein kleiner, schwarzhaariger Mann von einer Polizei-Notrufsäule und sprach aufgeregt und mit erhobener Stimme hinein. Wir sahen ihn, als wir die Straße vorm U-Bahnhof überquerten. Er war Türke oder Grieche, und die Worte »Hilfe, Mörder« gebrauchte er am häufigsten. Da sind Bars und Lokale mit Neonreklamen und beschrifteten Fenstern an beiden Seiten der Straße, und gegenüber, in einem Eingang zur Bar, die mit Striptease zu Kneipenpreisen warb, standen zwei dunkelhaarige Frauen und redeten und blickten rüber zu dem Mann an der Notrufsäule. Sie machten sich offensichtlich lustig über ihn. Ein paar Sekunden lang tauchte ein Mann in dem Eingang zwischen den beiden Frauen auf. Er fragte sie wohl etwas und zog sich sofort wieder zurück. Der Mann an der Rufsäule redete ununterbrochen, und es hörte ihm am andern Ende wohl auch ein Polizist zu, aber es wurde nicht so richtig deutlich, was ihm passiert war. Nur hundert Mark, die erwähnte er auch immer wieder. Die Notrufsäule steht bei einer Verkehrsampel, und immer wenn die Ampel von Rot auf Grün wechselte, die Autos anfuhren, die Motoren-
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geräusche sich verstärkten, dann hob der Mann seine Stimme, wie wenn er Kraft zöge aus dem aufbrechenden Lärm, und stieß mit hoher, heiserer Stimme immer wieder dieselben anklagenden Worte hervor. Vor der WesternBar, die er im Rücken hatte, standen ein paar Männer herum und sahen ihm grinsend zu, und der Mann fuhr fort, in einem hohen, weinerlichen Singsang zu reden. Nach einer Weile drehte der Mann sich resigniert um und fragte einen der Umstehenden nach dem nächsten Polizeirevier, was eine Welle der Heiterkeit bei den Männern verursachte. Schließlich zockelte der Mann traurig ab durch den Bülow-Bogen. Zur großen Belustigung der feixenden Männer weinte er im Laufschritt leise vor sich hin. Gorski nahm mich beim Ellbogen. »Laß uns mal ein bißchen hier langlaufen«, sagte er. »Ich hab mir nämlich was überlegt.« Wir bogen ab in eine Seitenstraße, und ich bugsierte Gorski in einen Flippersalon. Gorski blieb neben mir stehen und sah zu. »Ich hab mal lange in so einem Schwulenlokal verkehrt«, sagte er, »hauptsächlich, weil da was war, wo ich zuerst überhaupt nicht hintergekommen bin. Da war nämlich ein Stammtisch nur mit Taubstummen. Jeden Donnerstag. Weißt du vielleicht auf Anhieb, warum ausgerechnet da?« Ich verpaßte einen Bonus mit zwei Freibällen und schüttelte den Kopf. »Weil da keiner über sie lacht, wenn sie mit Händen reden. Minderheiten tolerieren Minderheiten, ganz einfach.«
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»Wir sollten uns lieber um unsre Geschichte kümmern, findest du nicht?« sagte ich und ging zur Tür. »Wir kümmern uns doch, wir sind doch auf dem besten Weg.« »Und was hast du dir nun eigentlich überlegt?« fragte ich. »Ja«, sagte Gorski, »ich hab darüber nachgedacht, wie unsere beiden Typen den Überfall vorbereiten. Dafür müssen sie sich Waffen besorgen, und das müssen wir auch zeigen.« »Das hab ich auch schon hundertmal gesehen im Kino. Kriegt man Waffen nicht praktisch überall? Was ist der Witz daran?« »Kino zählt nicht. Der Witz ist, daß du zum Beispiel nicht weißt, wo man Waffen herkriegt. Dir fallen dazu vielleicht Kinoszenen ein, aber du weißt es nicht wirklich. Dabei hast du mir doch noch auf dem Bahnhof einen langen Vortrag darüber gehalten, daß wir das alles vergessen sollten. Wir wollten es doch anders machen.« »Richtig. Du meinst also, um schreiben zu können, wie die beiden Typen sich Waffen besorgen …» »… müssen wir es selber tun«, sagte Gorski. »Ganz recht. Und jetzt weißt du auch, warum ich dich hierher bestellt habe.« »Macht man so was nicht besser im Bahnhof?« »Der Bahnhof interessiert mich nicht«, sagte Gorski, »da wird mir im Film zuviel Bedeutungsscheiße eingeschleppt. Außerdem mag ich in Ruhe irgendwo mit dir an der Theke stehen. Laß mich mal machen.«
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Unmittelbar neben dieser Eckkneipe erhob sich ein wilhelminischer mausgrauer Stuckkasten mit einem breiten, schlecht ausgeleuchteten Steinstufenaufgang. Links und rechts am Fuß des Treppenaufganges standen zwei Frauen mit Handtaschen. Sie rauchten beide, und eine trug eine dickblaue selbstgestrickte Wolljacke. Die andre war dick und steckte von Kopf bis Fuß in weißem Plastik. Der Minirock endete knapp unter ihren mächtigen Hinterbacken, und die hochhackigen Lacklederstiefel wuchsen bis weit übers Knie; zwischen Stiefelblende und Rockanfang wölbte sich rundum ein rosiger, praller Wulst. Beide waren übertrieben geschminkt, und überhaupt erinnerte mich die in Weiß entfernt an Frau Segebrecht. Die beiden kannten ihren Job so gut, daß sie die Freier schon rochen, wenn sie noch gar nicht richtig da waren, und es sprach für ihren Instinkt, daß sie uns überhaupt nicht beachteten. Das Lokal bestand aus zwei Räumen, die mit einem Durchgang ohne Tür oder Vorhang verbunden waren. Im hinteren Raum, an der Rückwand, stand eine schöne, leuchtende Wurlitzer-Musik-box, die beiden Lautsprecher im vorderen Raum waren daran angeschlossen, und es lief Vitamin C, die Titelmusik der CAN zu Samuel Fullers Dead Pigeon On Beethoven Street. Der vordere, hellere Raum wirkte auf den ersten Blick kleiner, weil er von einer langgezogenen Theke mit Bierhähnen und einem von Holzrahmen eingefaßten Glaskasten beherrscht war. In dem Glaskasten standen Teller mit eingefrorenen Sülzkoteletts, Buletten, eine offene Porzellanschüssel mit Kartof-
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felsalat und daneben ein kleiner Holzbottich mit Matjesheringen. Der Theke gegenüber standen zwei runde Tische mit Stühlen, links neben dem Durchgang zum hinteren Raum befand sich ein ziemlich ausgeleierter Shangri-La-Flipper mit allerdings fünf Kugeln pro Spiel. Neben der Theke führte eine Tür in einen halbdunklen Flur, in dem zwei nebeneinanderliegende Toilettentüren zu sehen waren. Der Hinterraum mit der Musikbox war leer. Wir stellten uns an einen der beiden einbeinigen runden Stehtische vor die Theke. An den Zapfhähnen stand ein vielleicht vierzig Jahre alter Mann mit einem Dreitagebart und blutunterlaufenen Augen. Über dem linken Wangenknochen verging ein gelber Fleck, der vor ein paar Tagen vielleicht noch blau gewesen war. An der Kaffeemaschine hantierte eine dickliche ältere Frau mit aufgetürmten roten Haaren. Der Zapfer blickte Gorski an, und Gorski bestellte Bier und Schnaps und mir einen Kaffee. Der Zapfer griff nach einem Bierglas, und während er es unter einen laufenden Hahn hielt, blickte er rüber zu der Frau an der Kaffeemaschine. Die Frau nahm wortlos eine Tasse und stellte sie unter die noch tropfende Kaffeedüse. Am Tisch neben dem Flipper zockten drei Frauen Chicago-scharf, und als die Runde zu Ende war, stellte ihnen der Zapfer drei grüne Schnäpse und einen Klaren hin. Den Klaren trank er stehend selber und nahm das Glas gleich wieder mit. Er wurde mit Franz angeredet, und er sah aus wie zwei Biedermänner auf einmal. Gorski kippte seinen Schnaps. Mit zurückgehaltenem
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Kopf und geschlossenen Augen langte er nach dem Bierglas. Nach ein paar Schlucken stellte er es wieder hin, öffnete die Augen, kniff sie wieder zusammen, um sie dann endgültig offenzuhalten. Er sah dem Zapfer zu, der eine Reihe frische, gespülte Biergläser unter den Zapfhähnen aufreihte. Nach einem Erkundungsgang zur Toilette steckte Gorski zwei Groschen in den Goldene-SiebenSpielautomaten und kam zurück an den Stehtisch, ohne abzuwarten, mit welcher Begründung der Apparat den Einsatz behielt. Dann bestellte er zwei Bier. Der Zapfer blickte ihn kurz an und Gorski sagte: »Sie trinken doch einen mit?« »Lieber 'n Kurzen«, sagte der Zapfer, und Gorski machte eine zustimmende Handbewegung. »Weißt du, was gemein wäre«, sagte er zu mir, »das hab ich mir nämlich vorhin beim Spazierengehen überlegt, wie ich mich wohl bei dem Überfall verhalten würde, wenn die MPs Schwarze wären.« »Hältst du mich eigentlich für blöd«, fragte ich Gorski. »Ich halte dich überhaupt nicht für blöd«, sagte er. »Dann hör auf, mir was von deinem Spaziergang zu erzählen, wenn du mit Anna in deinem Zimmer warst.« Gorski sah mich betroffen an. »Mann«, sagte ich, »verstehst du, was ich meine? Nicht, daß du mit Anna – sondern, daß du so tust, als ob du nicht hättest, wenn du jetzt hier stehst, das ist Scheiße. Das meine ich.« »Ich gebs zu«, sagte er und sah mich abwartend an. »Dann tu mir den Gefallen und denk dir weiter nichts
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dabei.« »Da bin ich aber doch ein bißchen platt.« »Wieso? Ich dacht, wir sind uns einig: ein Film ohne Frauen. Was hast du denn gedacht? Daß eine Geschichte noch gut ist, wenn eine Frau zwei Typen gegeneinander aufbringt? Solche Filme kenn ich genug, Mann. Wie die ausgehn, das weiß ich vorher.« Die Frauen am Tisch hörten einen Augenblick auf zu würfeln, um uns zuzusehen, wie wir uns umarmten. Gorski schlug mir auf die Schulter und wandte sich an den Zapfer. »Noch mal dasselbe. Für Sie auch.« Zapfer Franz, der auch kellnerte, winkte ab. »Dann geb ich für die versammelten Damen einen aus«, sagte Gorski und verbeugte sich zu ihrem Tisch hin. »Die Firma dankt«, sagte Franz. Die Musikbox schwieg, und aus einem älteren Holzradio mit Stoffbespannung über den beiden Lautsprechern kam leise klassische Musik, die unterging in dem Klappern der Würfel auf der grobgescheuerten Tischplatte, dem gleichmäßigen Plätschern des Gläserspülwassers, Redefetzen vom Tisch der würfelnden Frauen und dem heftigen Klackern des Flippers, der drei Freispiele anzeigte, als Franz mit gekonnten, beiläufigen Hüftschwüngen die Kugeln ins Ziel brachte. Die Musik brach ab, und ein DDR-Sender brachte Nachrichten und einen ausführlichen Kommentar zum Berlin-Abkommen. Eine der drei Frauen erhob sich vom Tisch und ging mit der Tasche schlenkernd raus. Kurze Zeit später war sie wieder da, und hinter ihr kam ein junger Schwarzer mit Schlips
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und Kragen herein. Er hatte Holzketten über dem linken Unterarm hängen, und mit der Rechten schleppte er einen schmuddeligen Leinensack mit holzgeschnitzten Gazellen, Elefanten, anderen Tierfiguren und Ohrringen. Er breitete alles auf dem Tisch der Frauen aus. »Verkaufen«, sagte er. »Morgen I must go Afrika.« Er hatte schmale Hände mit langen Fingern und verteilte das ganze Sortiment geschickt auf dem Tisch. Er wandte sich mit einer einladenden Geste zu uns und wies auf den vollgestellten Tisch. Die Frau, die eben an uns vorbei rausgegangen war, griff nach einer Holzkette und ließ die kleinen, rundgeschnitzen durchlöcherten Kugeln durch ihre Finger gleiten. »Was kostet das, Bubi?« Der Schwarze grinste sie offen an. »Fünfzehn Mark«, sagte er. Er scheuerte sich mit der Handkante den Nacken unter den kurzgeschorenen Kraushaaren am Hinterkopf. Die Frau griff sich mit gespieltem Entsetzen an die Brust. »Fünfzehn Mark? Du spinnst wohl, Lumumba, wenn du noch 'nen Heiermann drauflegst, darfste ja beinah schon mal hinfassen!« Sie ließ die Kette fallen und hob eine Holzgazelle hoch, sagte: »Ist mir sowieso zu teuer«, stellte sie wieder hin und wickelte sich eine rote Holzkette um den linken Arm: »Und die?« »Auch fünfzehn Mark«, sagte der Schwarze trotzig. »Was du immer mit deinen fünfzehn Mark hast«, sagte sie, »für fünfzehn Mark krieg ich ja schon einen echten Ring in der Pfandleihe, ist doch so.«
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Der Schwarze schwieg, und aus dem Flur, von dem die Toiletten abgehen, trat ein junger Mann in einem knapp sitzenden Blazer mit rotgestreiftem Hemd und breiter rosa Krawatte an den Tisch. Er drückte dem Schwarzen fünfzehn Mark abgezählt in die Hand, und die Frau auf ihrem Stuhl sah auf zu ihm und sagte: »Ich will aber lieber einen Elefanten fürs Vertiko.« »Kette, oder nischt is«, antwortete der Mann, und die Frau schwieg. Der junge Mann nahm einen hellen Staubmantel vom Haken, legte ihn sorgfältig über dem linken Unterarm zusammen und ging raus. Die Frau hielt mit einem Finger die Holzkette hoch, sah die beiden anderen Frauen an und sagte: »Ist doch hübsch, nicht?« und der Schwarze packte seine Sachen wieder in den Seesack. Gorski ließ sich von mir einen Zettel und einen Kugelschreiber geben. Er zeichnete eine Pistole auf und setzte dahinter ein Fragezeichen. Dann legte er den Zettel vor den Zapfer auf die Theke. Franz regulierte mit der rechten Hand den Bierhahn, nahm den Zettel mit der linken, blickte kurz drauf und spießte ihn auf den Bonspieß. Gorski langte in eine Tasche, holte einen Zehnmarkschein heraus und spießte ihn ebenfalls auf. Franz reagierte nicht. Er stellte drei grüne Schnäpse für die Frauen am Tisch auf ein Tablett und trug sie hin. Als er wieder hinter der Theke stand, spießte Gorski den zweiten Zehnmarkschein auf. Franz reagierte nicht. Gorski wartete eine Weile und opferte den dritten. Franz blickte kurz hin, zögerte und griff dann nach einem Bierdeckel. Er schrieb etwas drauf,
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und die nächste Lage Bier und Schnaps für Gorski servierte er auf dem beschriebenen Bierdeckel. Gorski steckte ihn ein, ohne zu lesen, was draufstand. Wir gingen sofort los. Es war alles ganz einfach.
10 Es war ein verlassenes Fabrikgebäude aus rotem Backstein, wie es sie in Kreuzberg zu Hunderten gibt. Die symmetrisch angeordneten verhältnismäßig kleinen Fenster glotzten blind zur Straße hin; mindestens die Hälfte davon war eingeschlagen. Das also war die Adresse auf Franzens Bierdeckel. Wir waren die letzten paar Straßen zu Fuß gegangen und standen nun vor einem geschlossenen eisernen Tor. Ein Namensschild oder ein Klingel gab es nicht. Der Hof vor dem Fabrikgebäude war kopfsteingepflastert und verwahrlost; in den Steinritzen wuchsen Unkraut und Gras, das in unregelmäßigen Flecken den Hof bedeckte. Das eiserne Tor war beidseitig in eine feste Steinmauer eingelassen; oben auf der Mauer steckten Glassplitter im Mörtel. Wir gingen so lange an der Mauer lang, bis sie von einem löchrigen, verrosteten Maschendrahtzaun abgelöst wurde. Ein seitliches Nebengebäude der Fabrik stieß hierbei an die Straße. Über einer kurzen Steintreppe, die in die Kellerräume zu führen schien, brannte ein schwaches Licht. Der Perser kam direkt aus der Dunkelheit, und wir konnten sein Gesicht erst erkennen, als er kurz vor uns stand. Ein kleiner, dicklicher Mann mit krausen Haaren 105
und gelblicher, durchsichtiger Gesichtshaut wie bei einem Süchtigen. Er hielt es ziemlich lange aus, uns stumm anzusehen. »Wir kommen von Franz«, sagte Gorski. Der Perser starrte uns weiter an. Der Name Franz zauberte kein Leuchten der Erinnerung auf sein Gesicht. »Und? Wer ist Franz?« Seine Stimme war hoch und belegt. Gorski wurde wütend. »Jetzt hör mir mal gut zu, du Mufti«, sagte er, »und spiel uns hier nicht den schwarzen Mann vor. Wir haben deine Adresse von Franz. Wir wollen zwei Pistolen kaufen.« Der Perser murmelte etwas von Polizei, drehte sich aber schließlich um und ging auf den erleuchteten Kellereingang zu. Wir gingen einfach hinterher. Plötzlich kam es mir kindisch vor, was wir machten. Dabei war es mir doch eigentlich sinnvoll erschienen – eine Pistole zu besorgen, um aufschreiben zu können, wie man so was macht, um es authentisch zu haben. Keine Lösung mehr aus der Phantasie – wie der weiße Hase aus dem Hut des Zauberers. Sag, wie es ist; aber wie es war, machte es mir keinen Spaß. Hinter der Tür wurde es halbdunkel, und in den Steinritzen wuchs Moos. Von den Innenwänden des Kellergangs troff Feuchtigkeit, und das Knarren der Eisentür, die in einen Seitengang führte, war sehr echt. Gorski hatte die Fäuste in die Taschen seines Trenchcoats gestemmt, als umklammere er eine unsichtbare Waffe. Die Kreppsohlen des Persers quietschten auf dem naßdunklen Steinboden. Er blieb stehen, so daß ich fast auf ihn auflief. »Noch Moment. Gleich da.«
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Sein freundlich gemeintes Grinsen eröffnete den Blick auf Goldzähne, die in schöner Einträchtigkeit neben Zahnlücken blinkten. »Geh weiter, Mustafa«, sagte Gorski. Der Perser entblößte wieder Zahnlücken und Goldzähne. »Ich nix Mustafa. Ich Mamuhd.« »Tu ihm den Gefallen«, sagte ich. Gorski tätschelte dem Perser die Schulter. »Ist ja gut, Mamuhd. Geh schön weiter. Wir machen ein gutes Geschäft, okay?« Der Perser nickte begeistert. Er war froh, daß er Gorski mal verstanden hatte. Andererseits schien ihn Gorskis plötzliche Freundlichkeit auch wieder einzuschüchtern. Wir stiegen noch eine Treppe tiefer, aber merkwürdigerweise war das Licht hier besser. Normale Lampen mit Drahtgestell an der Decke. Das Ende des Gangs war mit Sandsäcken zugestellt. Davor ein Brettergestell mit leeren Bierflaschen. Wir blieben stehen. »Warten Moment«, sagte der Perser und verschwand in einem dunklen Raum. »Am liebsten würde ich hier drehen«, sagte Gorski. Der Perser schleppte eine Holzkiste heran und öffnete sie schwitzend. Schön sortierte, saubere Pistolen verschiedenen Kalibers lagen darin. Sie waren in Tücher gewickelt. Gorski strahlte. Er langte in die Kiste und griff eine Pistole heraus. Er schob prüfend das Magazin hin und her. Der Perser sah ihm grinsend zu. Gorski schoß auf die Flaschen auf dem Brettergestell. Der Krach in dem Tunnel betäubte mich. Ein paar Flaschen zersprangen. Ich spürte, wie mir Schweiß ausbrach. Gorski schoß das ganze Magazin leer. Als ich mich abwandte und die Ohren zuhielt, sah ich aus
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den Augenwinkeln noch das Mündungsfeuer aus dem Lauf sprühen. Nach jedem Schuß ruckte der Lauf hoch. Gorski schoß mit ausgestrecktem Arm. Der Perser schrie: »Gut, ja«, und die Detonationen, die sich an den Wänden brachen, schienen endlos zu dauern. Ich ging noch ein paar Schritte zurück und stand unversehens vor einer angelehnten Holztür. Ich stieß die Tür auf und sah in den Raum dahinter. Es war ein einfacher Kellerraum, der mit einem Tisch, zwei Betten und einem Herd zum Wohnen eingerichtet war. Es roch brackig. Auch hier waren die Wände feucht. Ein paar rostige Rohre führten unter der Decke entlang. Vor dem Herd stand eine junge Frau und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ihre langen, blonden Haare fielen strähnig auf die Schultern. Sie war mindestens im siebten Monat schwanger. Zwei kleine Kinder klammerten sich an ihren Rock. Sie hatte dunkle Augen. »Was wollen Sie hier?« sagte die junge Frau. Ihre Stimme klang heiser. In ihren großen, blaßblauen Augen las ich Mißtrauen und Angst wie in einer aufgeschlagenen Zeitung. Sie sah nicht aus, als ob sie zur Erholung hier wäre. Draußen knallte es wieder. Die Frau zuckte sichtbar zusammen. »Draußen ist es mir zu laut«, sagte ich. »Was glotzen Sie mich denn dauernd so an«, sagte die Frau. »Ich guck immer so«, sagte ich, »das hat gar nichts zu bedeuten.« Sie drehte mir den Rücken zu und hantierte mit einer Herdpfanne. Der kleine Junge ließ ihren Rockzipfel los, tapste durchs Zimmer auf mich zu und stellte
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sich vor mich hin. Er sah mich so direkt an, wie nur Kinder Erwachsene ansehen können. »Komm sofort wieder her«, sagte die Frau, ohne sich umzudrehen. »Heut hab ich noch gar keinen kleinen Jungen gefressen«, sagte ich und lächelte ihn freundlich an. Er verzog keine Miene und sah überhaupt nicht ängstlich aus. »Ich kann dich totschießen«, sagte er. »Du sollst herkommen«, sagte die Frau. Sie drehte sich um. »Was Kinder eben so reden«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Kinder reden meistens über das, was sie so erleben.« Ich versuchte zu lächeln. »Und Sie reden wie einer von der Polizei«, sagte die Frau. »Ich bei der Polizei? Dafür hat mich noch niemand gehalten bisher.« »Mir ist egal, was Sie sind«, sagte die Frau. »Gehen Sie endlich raus.« »Aber wenn ich bei der Polizei wäre, das wäre Ihnen nicht egal«, sagte ich. »Ich habe nichts damit zu tun«, sagte sie schnell. »Womit denn?« fragte ich, »mit dem Mann da draußen?« Sie drehte mir wieder den Rücken zu und hantierte lautstark mit der Pfanne. »Peng, peng!« machte der kleine Junge und schob mir seinen Zeigefinger vor die Brust. Die Knallerei draußen hatte aufgehört. Ich stand auf und ging hinaus. Gorski hatte inzwischen die Kiste ausgeräumt und die
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Pistolen auf den Tisch gepackt. Er sucht mit beiden Händen in dem Pistolenhaufen. Er hatte in jeder Hand eine andere Pistole, als er sich umdrehte und mich angrinste. Er wog die Pistolen mit den Händen ab. »Was wollt ihr machen?« fragte der Perser. »Spaß«, antwortete Gorski. »Spaß mit Pistolen?« Gorski sah ihn mit Wolfsaugen an. »Spaß«, sagte der Perser, »Spaß immer gut! Viel Spaß noch besser!« Gorski drehte sich auf dem Absatz herum und feuerte aus beiden Pistolen gleichzeitig auf die letzte Glasflasche auf dem wackeligen Brett. Das Glas zersplitterte. Grüne Scherben zerplatzten auf dem Steinboden. Dann legte Gorski eine Pistole auf den Berg zu den andern zurück, die andere behielt er in der Hand. »Die hier, die nehm ich«, sagte er. Er zog das Magazin heraus. Offenbar wollte er nun doch nur eine Pistole kaufen. Mir war es recht. Was sollte ich damit. Der Perser hob wie in Verzweiflung beide Hände. »Teuer, teuer, teuer«, sagte er weinerlich. Ich ahnte, was kam. Gorski war drauf und dran, unser letztes Geld für die Pistole auszugeben. »Wieviel?« fragte Gorski ungerührt. Der Perser wand sich. Er verdrehte die Augen. Gestikulierte. »Du mein Freund«, beteuerte er, »du Spaß machen, dreihundertfünfzig.« Gorski steckte wortlos die Pistole in seine Manteltasche. Er griff in seine Jackentasche, holte ein dünnes Bündel Geldscheine heraus, benetzte den Daumen und zählte
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dem Perser drei Hundertmarkscheine in die Hand. »Fehlen fünfzig«, sagte der Perser. Gorski tippte an die Stirn. »Du hast sie wohl nicht alle«, sagte er. Und zu mir: »Komm wir gehen, der Kerl geht mir langsam auf die Nerven.« »Du hast ihn betrogen«, sagte ich. »Laß dich doch von dessen Geseire nicht einwickeln«, sagte Gorski. »Das Ding ist teuer genug bezahlt.« »Ich rede von dir. Manchmal bist du so wie deine Feinde behaupten, Massah.« »So? Wie denn?« fragte Gorski sanft. »Verschlagen und rücksichtslos.« Gorski lachte böse. Wir gingen nebeneinander her zum Ausgang. »Wenn ich wirklich so wäre, dann hätten wir gewisse Probleme längst nicht mehr, die wir haben«, sagte er. Der Perser lief an uns vorbei und riß die Tür zu der Kellerbehausung auf, in der ich vorhin gewesen war. Er versuchte, die Frau weg vom Herd und an die Tür zu zerren, aber die Frau riß sich los. Der Perser machte eine große, dramatische Gebärde und zeterte ununterbrochen. Ich ging rein und gab der Frau einen Fünziger. Gorski ging weiter. »Wie du meinst«, sagte Gorski, als ich ihn wieder eingeholt hatte. Wir verließen den Seitentunnel und bogen in den Haupteingang ein. Der Perser war nicht mehr hinter uns, aber wir gingen noch immer so schnell, als folgte er uns noch. Gelegentlich dachte ich, wir wären in den falschen
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Gang eingebogen, weil er kein Ende zu nehmen schien. Gorski zündete sich beim Laufen eine Zigarette an. Er fluchte auf sein Feuerzeug und ließ sich von mir mit Streichhölzern Feuer geben. »War doch alles ganz einfach, oder?« sagte Gorski. Ich zuckte die Schultern, aber das unangenehme Gefühl im Nacken ging dadurch auch nicht weg. Gorski mußte husten: »Ich habe doch jetzt die Wumme, oder etwa nicht?« Wir erreichten die Biegung vorm Kellerausgang. Nach ein paar Schritten waren wir um den bröckelnden Mauervorsprung herum, und da stand er schon, lässig an die gegenüberliegende Wand gelehnt. Sparta. Durch einen schmalen, offenen Spalt zwischen dem Rahmen und der angelehnten verrosteten Kellertür fiel ein schmaler Lichtstrahl zur Wand hin. Er endete auf Spartas Schuhen. Sein Gesicht war im Dämmerlicht. »Na, wer sagts denn«, sagte ich. Seitlich auf der rechten Seite hörte ich so etwas wie Füßescharren und drehte mich um. Das mußte Blacky sein. Die Pistole in seiner rechten Hand zitterte kein bißchen, und der Lauf zeigte eindeutig auf uns. »Hände hoch«, sagte Blacky. Gorski drehte sich jetzt erst um und musterte Blacky mit einem schnellen Blick, dann wandte er sich an Sparta. »Hör auf mit dem Scheiß«, sagte Gorski. »Ihr habt doch gehört, was er gesagt hat«, antwortete Sparta. Er blickte uns an. Blackys Pistole blieb im Anschlag. Schließlich winkelten wir die Arme an.
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»Sagt mal, was treibt ihr eigentlich so?« fragte Sparta. »Klärt mich doch mal ein bißchen auf.« »Nun laß endlich das Theater«, sagte Gorski. »Ich muß weg hier. Ich hab eine gekauft und eine geklemmt. Der hat das bestimmt schon gemerkt.« Das machte mich wütend. Er konnte es einfach nicht lassen. Nur kaufen, das reichte ihm nicht. Sparta zog auch eine Pistole aus der Tasche. Der Lauf zeigte auf Gorskis Bauch. »Dann bring die, die du geklemmt hast, schön wieder zurück«, sagte Sparta, »in unseren Kreisen wird halb soviel beschissen wie du denkst.« »Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte Gorski. »Aber ja«, sagte Sparta. Gorski schwieg. Er bewegte langsam seine linke Hand zum Mund und pflückte die angeklebte Zigarette von der Unterlippe. »Du hast doch gehört, was er gesagt hat.« Das war Blacky. »Rennst einfach los wie ein Fernsehgangster, Mann«, sagte Sparta, und es war ein deutlicher Vorwurf in seiner Stimme. »Das war Scheiße, und jetzt bringst du die geklaute zurück. Jetzt.« Ich sah Gorski an. Er war jetzt auch wütend. Einen Augenblick lang starrte er vor sich hin, dann warf er seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte den Gang zurück. Ich sah Blacky an. Er hatte die Hand mit der Pistole gesenkt. Spartas Pistole war wieder verschwunden. »Und was sollte das nun?« fragte Sparta. »Ich muß mich
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wirklich wundern über dich, Benjamin.« »Ich hab das nicht mal gemerkt«, sagte ich. Sparta sah mich fragend an. »Daß er eine geklaut hat«, sagte ich. »Das ist ja nun geklärt«, sagte Sparta. »Aber was soll das, bitte, überhaupt?« »Fürs Drehbuch«, sagte ich, »damit man nicht immer wer weiß was Unwahrscheinliches erfindet, verstehst du?« »Nein«, sagte Sparta. »Wir wollten genau wissen, wie man das macht. In Wirklichkeit. Wie, wo, unter welchen Umständen sich jemand eine Waffe besorgen kann. Ich will den wirklichen Vorgang beschreiben.« »Warum?« fragte Sparta. »Weil ich mir nichts ausdenken will, was ich doch nicht kenne.« »Fürs Drehbuch«, sagte Sparta. Er gab sich keine Mühe, die Ironie zu unterdrücken. »Soso. Wollt ihr wirklich noch, was ihr am Anfang gewollt habt?« »Wie meinst du das?« »Ach, Benjamin. Ich sag dir nur, daß die Wirklichkeit anders ist als deine Geschichten. Wäre es nicht das einfachste gewesen, du hättest mich angerufen?« »Ich wußte nicht, wie ich dich auftreiben sollte. Deine Telefonnummer hat jedenfalls nicht funktioniert.« »Du denkst zuviel, Benjamin«, sagte er. »Für eine Geschichte oder einen Film mag das ja gut und richtig sein. Aber mit eurer Methode stolpert ihr noch in Sachen rein und wißt es gar nicht. Eure Methode hat nämlich
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einen Fehler. Die Wirklichkeit ist ganz anders. Da ist eine Sache so oder so. Ganz eindeutig. Nichts dazwischen, verstehst du das?« »Nicht ganz.« »Es ist aber so«, sagte Sparta, »du denkst dir was aus und meinst, du machst alles richtig, und bevor du dich versiehst, da bist du schon reingerutscht in eine Sache, wo du dich nicht mehr zurechtfinden kannst – bei allem Nachdenken.« »Versteh ich nicht, in was für eine Sache ich reinrutschen soll.« »Eben«, sagte Sparta, »das kann schon sein. Genau deswegen hab ich ja recht. Weil ich glaube, daß du ehrlich bist zu mir.« »Das bin ich.« »Und was ist mit ihm«, fragte Sparta. »Hat er wirklich nur dieses Drehbuch im Kopf, oder spukt ihm da vielleicht nicht noch was anderes herum? Etwas, was ihm keine Ruhe mehr läßt?« »Ich glaube, jetzt machst du dir zuviel Gedanken«, sagte ich. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir hatten eine ganz interessante Unterhaltung, als ich ihm den Transport vorgeführt habe. Hat er dir davon erzählt?« Ich nickte. »Das würde ich nicht so ernst nehmen«, sagte ich. »Du nicht, aber ich schon. Ich seh nicht gern den Zug abfahren«, sagte Sparta. »Ich hab's einfach nicht gern, wenn man mir die rote Laterne vor die Nase hängt. Egal,
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worum es geht. Das ist alles.« »Okay. Ich hab's gefressen.« »Gut«, sagte Sparta. »Geklärt. Da ist noch was. In der Pension haben sie euch an die Luft gesetzt. Eure Sachen hab ich gleich mitgebracht. Damit hat sich dann wenigstens die Rechnung da erledigt.« »Vielen Dank«, sagte ich. »Keine Ursache«, antwortete Sparta grinsend. »Ihr seid wohl ein bißchen in Druck, was?« Ich nickte. Er zog einen Brief aus der Jackentasche, gab ihn mir und sagte: »Der steckte oben in der Reisetasche.« Es war ein Brief von Dr. Prott. Ich riß ihn auf und überflog ihn. »Ein sehr fröhliches Gesicht machst du ja nicht gerade«, sagte Sparta. »Dazu hab ich auch keinen Grund.« Dabei war Dr. Protts Brief durchaus nicht eindeutig ablehnend. Er drückte sein Interesse an der Geschichte aus, obwohl er davon offenbar nicht im Sturm eingenommen war. Abgesehen von den noch zu entwickelnden zwei Handlungsfiguren, deren Psychologie oder wenigstens Typisierung er mahnend vermißte, war er fast positiv, was die Überfallgeschichte anging. Ich las Sparta einfach den letzten und entscheidenden Absatz vor: »… und obgleich Ihre Geschichte ganz einleuchtende Spannungsfelder und Möglichkeiten zur dramaturgischen Aufbereitung enthält, muß ich doch anmerken, daß wir uns hier noch nicht so recht vorstellen können, wie zwei Männer allein mit den sechs Leuten von der Militärpolizei (bewaffnet) fertig wer-
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den wollen. Ich glaube, da muß Ihnen beiden noch etwas einfallen; wir halten dies für den springenden Punkt. Dann auch erst, so leid mir das tut, ist es bedauerlicherweise erst möglich, über Geld zu reden. Wir erwarten also Ihr Drehbuch, und wie ich Ihnen gern versichere, mit Anteilnahme und sogar mit Spannung. Mit herzlichen Grüßen, Ihr Walter Prott.« »Da hat er wohl recht, der Mann«, sagte Sparta. »Auch ganz schön mühsam, dein Job, wenn man das so sieht.« »Kannst du uns einen Wagen besorgen?« fragte ich. »Hab ich schon dran gedacht. Vorm Hof steht ein Kapitän, den könnt ihr haben. Eure Sachen sind schon hinten drin.« »Für uns wird's langsam schwierig«, sagte ich, »deshalb vielen Dank für den Wagen.« »Eins wollt ich dir noch sagen, Mann.« »Ja?« »Die Wagenpapiere«, sagte Sparta. »Zeig sie nur vor, wenn es unbedingt sein muß. Es ist besser so. Sie sind zwar einwandfrei gemacht, aber man kann nie wissen.« »Klar«, sagte ich, und ich dachte, das wird Gorski gefallen, einen Wagen mit falschen Papieren zu fahren. Gorski schien zurückzukommen, aber vorerst war nur das Zetern des Persers zu hören. Er redete in einem wahnsinnigen Tempo, wahrscheinlich war es sein Heimatdialekt. Vielleicht wollte die Frau die fünfzig Mark nicht rausrücken, die ich ihr gegeben hatte, und er wollte das Geld noch mal von Gorski haben. Gorski drehte sich um, als er uns schon fast erreicht hatte, zog die gekaufte Pistole aus der Tasche,
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drehte sich ruckartig um und stieß dem Perser den Pistolenlauf in den überquellenden Bauch. Der Perser wurde stumm, und sein Kinn klappte nach unten. Dann drehte er sich um und lief den Gang zurück. Auf dem Hof sagte Sparta: »Blacky bringt euch zum Wagen. Er fährt euch auch zu einer Pension. Ich kenne sie, sie ist in Ordnung. Es ist zwar nicht das HILTON, aber irgendwo müßt ihr ja bleiben.« Er wedelte uns mit der Hand zu und verschwand nach ein paar Schritten in der Dunkelheit. Wir folgten Blacky über den Hof. Die schwere Eisentür stand halb offen. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß die Lichtfunzel über der Kellertreppe nicht mehr brannte. Wir gingen durch das Tor auf die Straße hinaus. Blacky deutete auf einen dunklen Wagen, der vielleicht fünfzig Meter vom Fabriktor weg stand. Gorski begegnete meinem Blick. »Na und?« sagte er. Er hatte wieder eine Zigarette im Mundwinkel, deren glühende Spitze kampflustig nach oben zeigte. Wenn er wütend ist, und er war es immer noch, dann hat er die Stimme eines betrunkenen Seemanns, den man beim Kartenschlagen betrogen hat. Es war einer jener Tage, an denen man in den Spiegel blickt und glaubt, verrückt zu werden.
11 Ein mürrischer, windiger Tag war es gewesen, und der Himmel durchtrieben grau. Ich blickte aus dem Rückfenster des Opel Kapitän hinauf in den Nachthimmel; er 118
schimmerte über der Stadt und ihren Lichtern wie eine angestrahlte Benzinlache. Entfernt und gedämpft war das Tatütata einer Polizeistreife zu hören. Gorski saß neben mir auf dem Rücksitz und starrte verbiestert aus dem Fenster. Blacky fuhr den Wagen, und neben ihm saß Anna. Sie beugte sich vor und schob eine Kassette in den Schlitz, und Bob Dylan sang mit erhobener Stimme You must leave now take what you need, you think will last. Annas Haar über der Rücksitzlehne vor mir roch wieder nach Gras. »Kennst du die Adresse?« sagte ich zu Anna, aber ich konnte ihre Augen im Rückspiegel nicht festhalten. »Ich kenn sie«, antwortete sie, und wir verfielen wieder in Schweigen. Gorski paffte vor sich hin. Nach einer Weile sagte er: »Und was soll der hier? Aufpassen?« »Blacky ist mein Bruder«, sagte Anna. »Er fährt für Sparta. Jetzt zum Beispiel fährt er euch in eure Pension.« »Soso«, sagte Gorski. Ich kenne sonst niemanden, der in zwei Silben soviel Mißtrauen legen kann. »Warum seid ihr denn so sauer auf mich«, sagte Anna, »hab ich euch vielleicht was getan?« »Wir bedanken uns auch schön bei Sparta für den Wagen«, sagte Gorski. Anna drehte sich nicht einmal um. Ich gab ihm den Brief von Dr. Prott, und er las. »Na also«, sagte er, »er steht doch drauf.« Anna wandte sich halb um zu ihm. Im Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte ihr Haar blauschwarz wie das Metall von Gorskis Pistole. Gorski blickte sie an.
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»Die Geschichte hat sich verändert«, sagte er, »ich kann mich nicht an die Abmachung mit Sparta halten. Es ist keine Frauenrolle mehr drin in dem Film. Überhaupt keine, verstehst du?« »Ich reiß mich nicht drum«, sagte Anna. »Das ist brav«, sagte Gorski. »Du bist wirklich ein kluges Mädchen.« »Ihr seid schon zwei ungeheuer taffe Typen«, antwortete Anna. »Da hast du recht, Mädchen, und Ideen hab ich! Hör zu, Benjamin!« Er blickte an die Stoffbespannung der Wagendecke: »Während die Dollarsäcke vom Flugzeug umgeladen werden in den Transporter, steht doch vorne vorm Flughafengebäude ein Jeep und wartet auf den Konvoi der beiden Wagen vom Rollfeld. Ich frag mich jetzt, was passieren würde, wenn einer von unsern beiden Typen einen Reifen des wartenden Jeep ansticht? Na? Was passiert dann? Kann man ihn damit ausschalten?« Der Gedanke erregte ihn so, daß er fast aufgeräumt wirkte. Anna sagte, ohne sich umzudrehen: »Hast du schon mal einen umgebracht?« »Ja«, sagte Gorski freundlich. »Und, wie wars«, fragte Anna. Sie gab sich Mühe, ihre Stimme unbeteiligt klingen zu lassen. Gorski lächelte. »Ich hab abgedrückt, die Patrone explodierte, sie traf ihn, und er fiel um, nehme ich an. Aber das konnte ich nicht mehr sehen; ich war zu weit weg. Das sind alles Scharfschützen. Es ist alles ganz weit weg von ihnen. Das ist nichts Besonderes. Dies Erlebnis teile ich
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mit Hunderttausenden.« Anna schwieg. Blacky hörte uns nicht zu, oder er tat nur so. Gorski redete weiter auf mich ein. Er beachtete die andern beiden gar nicht, aber vielleicht legte er es auch darauf an, daß weder Blacky oder Anna, oder vielleicht sogar beide, Sparta Bericht erstatten würden. Es bestand also auch die Möglichkeit, daß er Sparta provozieren und ein paar Nüsse zum Knacken geben wollte. »Zweierlei kann passieren, wenn beim draußen wartenden Jeep ein Reifen angestochen ist und der Wagen so nicht abfahren kann«, sagte Gorski. »Entweder sie fahren den Transporter mit nur einem Jeep zum Hauptquartier. Dafür sprechen zwei Gründe: einmal ist es jahrelang gutgegangen; zum zweiten können sie nicht warten, weil sie einen Zeitplan einhalten müssen. Oder sie warten tatsächlich, bis beim angestochenen Jeep das Rad ausgewechselt ist. Aber das glaube ich nicht. Warum sollten sie?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Woher soll ich wissen, wie die sich verhalten? Ich weiß ja nicht mal, was sie denken.« »Nehmen wir mal die Möglichkeit, daß sie mit nur einem Jeep losfahren. Dann könnten die beiden Typen nämlich ran.« »Und dann?« Gorski stieß den ausgestreckten rechten Zeigefinger in die Luft. »Ratatat an der Bahnschranke, Geld nehmen, und ab nach Chile«, sagte er. Ich schwieg. Blacky fuhr uns an einigen sehr teuren Hotels vorbei.
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Anna blickte weiter durch die Frontscheibe, als sie sagte: »Ratatat, ab nach Chile. Ganz einfach die Sache. Nur eine Frage hätte ich.« »Frag nur«, sagte Gorski freundlich. »Wenn es wirklich so einfach ist – warum macht ihr es dann eigentlich nicht selber?« »Das hab ich alles schon besprochen mit Sparta«, antwortete Gorski. »Na klar«, sagte ich zu Anna. »Guck ihn dir doch mal richtig an. Ist er vielleicht nicht der Typ dafür?« Anna drehte sich um und sah Gorski und mich fragend an. »Mindestens«, sagte sie, »wenn nicht noch mehr. Ihr seid echt gefährlich, ihr beiden. Ich bitte schon vorher um Vergebung, daß ihr nicht in einem Schloß absteigen werdet.«
12 Über der Eingangstür hing ein Schild, und auf dem Schild stand in grüner Schrift und großen Buchstaben auf rotem Grund: KÜNSTLERPENSION VERA KAMINSKY, und in kleiner Schrift darunter: seit 1923. Das Haus stand schon etwas länger an der Stelle; mit Sicherheit seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Unter zwei französischen Fenstern hingen Eisenbalkons wie verrostete Drahtkörbe. Wahrscheinlich waren die Blumentöpfe am Geländer der Balkons deshalb ausgetrocknet, weil man zum Gießen oder Neuanpflanzen den Balkon hätte betreten müssen – ein lebensgefährliches Unterfangen angesichts der fortgeschrittenen Erosion. Auf dem Bürgersteig vor der ausge122
tretenen Steintreppe spielten zwei kleine Mädchen Himmel und Hölle, obwohl es schon lange dunkel war. In der Toreinfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren drei alte Frauen mit Einkaufstaschen stehengeblieben; sie hatten uns zugesehen, wie wir unser Gepäck aus dem Opel Kapitän auf das Trottoir zerrten. Als wir das letzte Stück heraus hatten, langte Anna nach hinten über den Rücksitz, zog die rechte Hintertür von innen zu, und Blacky fuhr im selben Augenblick los. Die kleinen Mädchen blickten den quietschenden Reifen sekundenlang nach und spielten dann weiter. Wir nahmen unsere Sachen auf und stiegen die Treppe hoch. Die Stufen folgten merkwürdig kurz und flach aufeinander; die Hälfte mit üblichem Schrittabstand hätte es auch getan. Da war auch ein Geländer; dem Löwenkopf am Ende fehlte die Nase. Der Klingelknopf neben der Tür war in einen runden Holzrahmen eingelassen. Ich drückte darauf, aber von innen war nichts zu hören. Dafür war die Tür gar nicht abgeschlossen. Meine Vermutung über das Baujahr wurde im Flur zur Gewißheit. Aber das Vorherrschende waren nicht die Stoffetzen an den Wänden, die sich erst nach eingehender Betrachtung als die Reste einer ehemals dunkelgrünen Plüschtapete herausstellten; auch nicht die violett eingefärbten Lampenschirme unter der Decke und an den Wänden, die über die Vierzig-Watt-Birnen gestülpt waren wie gläserne Petticoats; es war auch nicht der Teppich mit seinen zerfransten künstlerischen Motiven. Es waren die Gerüche.
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Eine Katze wäre glatt durchgedreht vor Entzücken oder Entsetzen, einfach zu ignorieren war dieser Geruchskosmos jedenfalls nicht. Gorski schnüffelte. Ich glaubte, er mag Bohnensuppe, aber sie roch nicht ganz astrein, und dies Aroma vermischte sich mit dem Geruch von Männerschweiß, Kreide, und wenn mich meine Nüstern nicht trogen, zog auch irgendwo jemand einen Joint durch. Hinter einer der hohen Zimmertüren, die vom Flur abgingen, mußte die Toilette sein. Wenn man nur dem Geräusch nachging, brauchte man sicher nicht lange zu suchen, denn die Wasserspülung schien nicht abstellbar zu sein. Die erste sichtbare Zimmertür war nur angelehnt. Ich hörte eine Stimme, kurze ächzende Schreie, die immer wieder von einem dumpfen Laut begleitet wurden, so als ob jemand geschlagen würde. Gorski sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wir öffneten die Tür und blickten hinein. Das Zimmer war groß, hell und leer, bis auf einen riesigen Kachelofen in einer Ecke und ein paar Matten auf dem Parkettboden. Auf diesen Matten turnten zwei Artisten mittleren Alters im Turnerdreß. Die beiden hörten auf, als sie uns im Türrahmen stehen sahen. Gorski winkte ihnen zu, und wir traten wieder zurück in den Flur. Eine ältere Frau in einer riesigen violetten Wollstola tauchte im Flur auf. Sie musterte uns und sagte mit überraschend klarer Stimme: »Sie wollen ein Zimmer?« Wir nickten. »Mit zwei Betten?« Wir nickten. »Ist es vielleicht heute morgen schon telefonisch bestellt
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worden?« Gorski sah mich fragend an. »Keine Ahnung«, sagte ich, »aber möglich ist es schon.« Sie musterte unser Gepäck. »Mein Name ist Vera Kaminsky, und dies ist eine Künstlerpension«, sagte sie. »Haben Sie das Zimmer denn nicht selbst bestellt?« Gorski verbeugte sich und grinste. »Benjamin und Gorski, gnädige Frau«, sagte er. »Wir sind Lichtbildner.« »Lichtbildner?« Gorski nickte ernsthaft. »Lichtbildner, was ist das? Sind Sie vielleicht Fotografen?« Gorski schüttelte den Kopf. »Wir sind Filmschaffende.« Er brachte es fertig, das zu sagen, ohne daß seine Gesichtszüge entgleisten. Frau Kaminsky musterte uns streng und zog ihre Wollstola enger um die Schultern zusammen. Sie blickte Gorski an und antwortete: »Sie müssen nicht meinen, daß ich nichts davon verstehe, Herr Gorski. Ich bin sozusagen vom Bau – wenn es auch schon eine Weile her ist. Was ist denn Ihr Beruf?« Gorski machte einen mißglückten Kratzfuß. Er genoß die Situation. »Ich bin Regisseur«, sagte er, »und Herr Benjamin ist mein Autor.« »Ich warne Sie, ich habe einen Fernseher«, sagte Frau Kaminsky, aber um ihren grellroten, großen Mund herum entstand so etwas wie die Andeutung eines Lächelns.
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»Sagen Sie mir jetzt den Titel eines Ihrer Filme.« Gorski sah mich an. »›Der einsame Jäger‹«, sagte ich hoffnungslos. Frau Kaminsky schien nachzudenken. »Und worum ging es da?« fragte sie. »Um einen Tagelöhner in einem bayerischen Dorf, so um 1880. Er wird zum Wilderer, weil er keine Arbeit findet.« »War das der mit diesem langen Kerl? Mit diesem merkwürdigen Gesicht und der Boxernase?« Ich nickte, immer noch mißtrauisch, obwohl sie damit Mondo durchaus gemeint haben könnte. »Der war nicht schlecht«, sagte Frau Kaminsky, »schön bunt, und diese herrliche Landschaft, aber sehr traurig, finden Sie nicht?« »So ist es aber gewesen«, sagte Gorski verblüfft. »Ist es denn immer so wichtig, wie es gewesen ist?« fragte sie. »Als ich noch beim Theater war, da hat man schöne leichte Stücke gespielt, an denen die Menschen noch ihre Freude hatten. Ärger haben sie doch sowieso genug. Ich muß Ihnen gelegentlich mein Album aus meiner aktiven Zeit zeigen.« Jetzt lächelte sie wirklich. »Sie können das Zimmer haben.« Wir nahmen unser Gepäck auf. Ein langhaariger Typ steckte seinen Kopf aus einer der Türen, blickte im Flur umher und rief: »War denn noch immer kein Anruf für mich, Frau Kaminsky?« Seine Stimme verriet außer Ungeduld erhebliches Mißtrauen. »Herr Strunkmann, Sie werdens nicht glauben, nein«,
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sagte Frau Kaminsky, und zu uns gewandt fügte sie hinzu: »Herr Strunkmann ist Maler, Kunstmaler. Die Zeiten sind schwierig. Sein Vater ist Wurstfabrikant im Westfälischen. Er will ihm keinen Scheck schicken. Herr Strunkmann senior hält nichts von der Kunstmalerei. Damit will ich nur sagen, daß meine Gäste bei mir nicht nur Nummern sind. Ich bin fasziniert von Schicksalen. « Gorski war vorgegangen in den Flur hinein. Er öffnete die erstbeste Tür. »Da doch nicht, Herrschaften«, sagte Frau Kaminsky, »das Zimmer weiter hinten ist es. Es ist gerade aufgeräumt.« Wir gingen weiter bis zum Ende des Gangs und öffneten die Tür direkt vor uns. Sie hatte eine geschwungene Messingklinke. Das Zimmer war mittelgroß, und in der Mitte stand ein altmodischer Fernschreiber, der wohl nicht funktionierte, denn um ihn herum war betackertes Papier verstreut. Der Mann, der sich am Apparat zu schaffen machte, kam mir vage bekannt vor, und ich ärgerte mich, weil ich nicht wußte, wo ich ihn unterbringen sollte. Ein höchstens mittelgroßer Mann, der vielleicht doch älter war als er aussah. Scharfe, ledrige Gesichtszüge, eine imponierende Nase, deutliches Kinn. Auffallend war seine gesunde, braune Gesichtshaut. Als ob er viel im Freien wäre und nicht unbedingt in der Stadt. Er trug eine fast klotzige schwarze Hornbrille und blickte auf, als wir in der Tür standen und ihn ansahen. Sehr wache Augen. »Rechts daneben das Zimmer, bitteschön«, rief Frau Kaminsky von hinten, und Gorski machte die Tür wieder zu. Unsere neue Bleibe war einigermaßen sauber. Wir
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stellten das Gepäck ab und sahen uns stumm im Zimmer um. Da standen zwei riesige Betten mit geschnitztem Holzgestell und dicken Federdecken wie auf dem Land. An der Wand darüber ein klassischer Ölschinken: Jesus mit ausgebreiteten Armen und wallender Kutte auf dem Wasser gehend; auf die Schaumkronen hatte der Künstler besonders viel Sorgfalt verwandt. Vielleicht hat er hier mal gewohnt. Der Rest: ein entsprechend voluminöser Kleiderschrank neben einer hohen Kommode mit Spiegel, einer Porzellankanne und einer vollen Wasserschüssel. Ein niedriger runder Tisch mit zwei verkommenen, dickarmigen Kunststoffsesseln, und auf dem Fußboden eine zerschlissene Teppichbrücke mit ausgelatschten Seerosenmotiven auf grauem Linoleum. »Mit einem Wort: ein Palast«, sagte Gorski. »Das war ein Wort zuviel.« Gorski blickte auf zu dem angestaubten Kronleuchter. Er hatte zwanzig Birnen. Gorski ging zur Tür und knipste ihn an. Sechs Vierzig-Watt-Birnen flammten auf. Ich setzte mich probeweise in einen Sessel und rutschte seitlich weg von der Sitzfläche in eine Kuhle. Gorski war an der Tür stehengeblieben. »Den Kerl beim Telex, den kenn ich doch«, sagte er. »Ja«, sagte ich, »aber woher?« »Wenn du ein ordentlicher Mensch wärst, wüßtest du es.« Gorski sah mich triumphierend an. »Du hast deine Schuhe nie rausgestellt zum Putzen, oder?« »Nein«, sagte ich. »Das ist der Schuhputzer aus der Segebrecht-Pension. Da halte ich jede Wette. Fällt dir da eigentlich nichts auf?« »Ein Schuhputzer, der plötzlich einen Telexapparat
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bedient, merkwürdig.« »Merkwürdig ist, daß er es ausgerechnet da tut, wo wir sind.« Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Nach hinten raus war das Hochherrschaftliche noch mehr runtergekommen. Auf dem von einer nackten Birne mit einem weißen Schirm dahinter beleuchteten Hof standen Mülltonnen und Wäschepfähle mit Bespannung. Ein paar Treppen zu tiefergelegenen Fenstern deuteten auf Kellerwohnungen hin. »Meinst du, er ist unseretwegen hier?« fragte ich. »Ich weiß nur, was mir Sparta gesagt hat. Daß wir keinen Schritt tun, ohne daß er davon weiß. Schließlich hat er uns ja hierher verfrachtet, oder?« »Ich glaube nicht, daß er was mit Sparta zu tun hat«, sagte ich, »obwohl einiges darauf hindeutet.« »Und wenn schon«, sagte Gorski. »Vor zehn Jahren hab ich mal in so einem Loch gewohnt.« Ich zeigte runter zu den Kellerwohnungen. Gorski streckte sich auf dem Bett aus. »Da bin ich nachts mal von einer Ratte aufgewacht. Hat aber auch nur dreißig Mark gekostet. Ich hatte einen Freund, der wohnte in Schlachtensee in einem Studentenheim. Tagsüber, wenn er studieren ging, schrieb ich in seinem Zimmer.« »Das Geld vom Fernsehen reicht doch wieder nicht, um wirklich einen guten Film zu machen. Man müßte das Ding selber drehen«, sagte Gorski vom Bett her. »Machen und zack und ab.« »Zack und ab in den Knast, meinst du wohl, Mann.
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Und bei dem Gedanken steig ich so schnell aus, so schnell kannst du gar nicht gucken. Ich hab genug Typen gesehen, die mal im Knast waren. Kürzer und länger. Aus unterschiedlichsten Gründen, und ich sage dir: es ist egal, wie lange du drin gewesen bist, es macht dich kaputt.« »Ja, ja«, sagte Gorski, »ist ja schon gut.« »Daß du die Pistole zurückbringen mußtest, hat dich wohl mächtig geärgert.« »Ich laß mir nicht gern was wegnehmen«, sagte Gorski. »Und eine Pistole schon gar nicht, damit du klar siehst.« Er zog die gekaufte Pistole aus der Manteltasche und hielt sie am Lauf hoch. »Weißt du überhaupt, was das für eine ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ein Luger«, sagte Gorski. »Das ist die Königin unter den Pistolen.« »Ich kenn sie vom Aussehen«, sagte ich, »Lino Ventura hat im ›Zweiten Atem‹ so eine Pistole.« »Ich weiß«, sagte Gorski. »Aber die hier schießt wirklich, weißt du?« Gorski steckte die Pistole wieder weg. Er zog eine Zeitung aus der Tasche. »Schriftsteller überfiel Bank«, sagte er, »hast du's schon gelesen.« »Nein.« »Und starb vor Aufregung an Herzschlag. So geschehen in der S-Bahn nach Hamburg. Mit dem Geld in der Tasche.« »Er war soviel Geld nicht gewöhnt«, sagte ich. Gorski sprang vom Bett auf und öffnete seine Aktenta-
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sche. Er holte eine spitze Schusterahle heraus, kam um das Bett herum und hielt sie mir dicht vor die Augen. »Weißt du, was das ist?« fragte er, »das ist eine Schusterahle!« Er ging zu dem leeren Sessel mir gegenüber und stieß die Ahle mit einem plötzlichen, heftigen Stoß tief in eine der beiden Kunststoffarmlehnen. Der Kunststoff riß mit einem häßlichen Geräusch ein, Groski drückte sie nach unten wie ein Messer, und aus der Lehne quoll graue Holzwolle. Er zog sie mit einem Ruck wieder heraus und wog sie in der flachen Hand. »Na, hat's geklingelt?« fragte er. Er schnaufte, wickelte die Ahle in ein Taschentuch und steckte sie in eine Manteltasche. Dann warf er sich wieder aufs Bett. »Ich werd jetzt mal 'ne Runde schlafen. Und du gib Prott mal gleich unsere schöne neue Adresse per Telex durch. Das wird ihm gefallen.« Gorski schläft, und ich vervollständige meine Notizen. Das meiste hab ich schon auf den Kassetten-Rekorder gesprochen; jetzt schreibe ich weiter im Notizbuch, um ihn durch mein Sprechen nicht zu stören. Den Text mit unserer neuen Adresse für Dr. Prott hab ich Frau Kaminsky gegeben. Der Mann am Fernschreiber heißt, wie sie mir sagte, Müller. Zunächst war mir, als wolle sie meine Frage bewußt nicht verstehen, aber schließlich, als ich nicht lockerließ, erklärte sie, daß er erst heute zu ihr gezogen sei. »Was machen Sie für ein erstauntes Gesicht?« »Mich wundert, daß Sie einen Fernschreiber haben!« »Ach so, ja, da war bis vor kurzem ein Maklerbüro, hat
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Pleite gemacht, ich hab den Anschluß übernommen, vielleicht macht's die Pension attraktiver!« »Seltsam«, sagte ich. »Was ist seltsam, der Herr Müller oder der Fernschreiber?« »Der Makler«, sagte ich, »wie kann so einer pleite machen, heutzutage!« Gorski schläft. Er schnarcht ein bißchen. Ich hab den Tisch ans Fenster gerückt. Oben zwischen den Häuserwänden hängt ein schmaler grauer Streifen Himmel. Der Mond, eine nicht ganz koschere Apfelsine hoch zwischen den Fernsehantennen, hatte sich längst schon verzogen. Ich blickte auf und hatte plötzlich Lust, irgendwo im Park auf einer Bank zu sitzen und auf die Sonne zu warten oder auch einfach nur stumm auf das ganze dunkle Grünzeug zu starren. Ich war müde. Ich mußte schlafen. Ich kann mich bis heute nicht dagegen wehren. Es steckt zu tief drin in mir. Es kommt von selbst. Kaum, daß ich drüber reden kann. Es gehört zu dem, was einer so mit sich rumschleppt, und es macht sich auch nur gelegentlich bemerkbar. Es fängt ganz harmlos an. Ich liege im Bett und will schlafen. Das Dämmerlicht von draußen geht schon in faserige Helligkeit über. Das Licht macht Figuren aus dem Kronleuchterschatten an der Decke. Wann ich das letztemal die Toilettenspülung gehört habe, weiß ich nicht mehr. Das leise, zirpende Geräusch in den Wasserrohren der Mauern zwischen den Stockwerken hat auch aufgehört; es hängt dem Spülgeräusch immer ein wenig
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nach. Es ist da, wenn der wie durch Watte gedämpfte Verkehrslärm unterbrochen ist. Dann bin ich nicht mehr in der Zeit. Es ist wieder Sonntagnachmittag. Ich stehe im Wohnzimmer vorm Fenster und sehe durch die Gardinen hinaus auf die Straße. Manche Häuserdächer leuchten mit Kupfer und Moos in der Sonne; sie sind verwinkelt und verschachtelt bis zur Kirche hin. Die Kirchturmuhr schlug alle Viertelstunde. Es ist sonnig und still. Niemand auf der Straße. Verkehrslärm ist nicht zu hören. Das letzte Autooder Motorradgeräusch ist Stunden her. Ich sah zu, wie sich der große Zeiger auf dem Zifferblatt der Kirchturmuhr auf die Zahl zu bewegte. Dann der Schlag. Stille. Mein eigenes Atmen. Im Haus ist es vollkommen still. Ich stehe da und sehe, daß die Gardine unbeweglich ist; die Häuser draußen sind alt, es ist eine kleine Stadt. Nicht mal die Blätter an den Bäumen bewegen sich. Kein Wind. Nichts mehr bewegt sich hier, und so wird es bleiben. Es steigt von den Füßen her auf und wird Brustkorb, Lungen und das Hirn erreichen. Ich werde nicht mehr atmen können. Es ist nicht mehr abzuschütteln. Ich versuche, die Hände zu heben, um mir die Augen zu reiben, um wenigstens Buntes auf Schwarz zu sehen, um mir die Ohren an den Kopf zu pressen. Es geht nicht mehr. Alles bleibt wie es ist. Ich sehe auf die Zimmerdecke und spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Einmal hab ich mich selbst gesehn. Ich schlief in einem anderen Zimmer mit Ausblick auf einen gepflasterten Platz, auf den drei Straßen mündeten; das Zimmer war in einem Eckhaus. Ich war oft wach nachts, stand auf und ging ans Fenster. Der Platz vor der Kirche
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war spärlich erleuchtet. Die Straße gradeaus fiel vom Platz tiefer ab und verlor sich im Dunkeln. Von der Dunkelheit ausgehend führte die Straße fast steil hoch zum Platz. Die Kirche warf einen unförmigen Schatten. Ich starrte hinaus. Weiter weg in der Dunkelheit löste sich etwas und kam langsam die Straße hinauf auf den Platz zu. Da war nur eine Laterne. Der Mann ging bis zur Laterne, und ich strengte meine Augen an. Er trug einen weiten, dunkelblauen Regenmantel. Der Kragen war hochgestellt. Ich konnte ihn nur von der Seite sehen. Er drehte seinen Kopf herum; er sah zu meinem Fenster hoch. Sein Gesicht war ein scharfumrissener, weißer Fleck. Dann ging er schnell wieder die Straße hinunter. Seine Schritte auf dem Pflaster waren nicht zu hören. Er war schnell wieder in der Dunkelheit verschwunden. Das Licht der Straßenlaterne hatte sich nicht verändert. Der Schatten der Kirche war noch da. Der Platz war leer. Ich hab später nicht ein einziges Mal die Straße hochgehen können, ohne daran zu denken. Ich stand auf und setzte mich wieder an den Tisch beim Fenster, und da blieb ich dann sitzen und wartete, bis Gorski aufwachte. Wir redeten kein Wort, bis wir in einem Cafe gefrühstückt hatten.
13 »Lokaltermin«, sagte Gorski, als wir uns in den Wagen setzten und nach Tegel fuhren. Es war der Tag, an dem ich zum erstenmal mit eigenen Augen den Ablauf des Geld134
transports sah. Die vierzehn Tage seit unserer Ankunft waren schnell vergangen. In den letzten Tagen hatten wir Sparta, Blacky und Anna nicht mehr gesehen. Wir hatten am Drehbuch gearbeitet, Entwürfe gemacht und wieder in den Papierkorb geworfen. Vor allem der Ablauf der Tat war uns immer noch nicht klar, der richtige Dreh fehlte noch. Vielleicht brachte uns die Wirklichkeit auf die richtige Idee. Gorski war merklich entspannter in der letzten Zeit. Ein paar Tage lang hatten wir fast so etwas wie Ferien gemacht. Für mich war es ein Wiedersehen mit vertrauten Typen und Plätzen, und Gorski ließ sich gern mitschleppen. Wir gerieten in ein paar Kneipen, die ich von früher kannte. Es war immer noch derselbe Dunst aus Bier, Zigarettenrauch, Currywurst und Kartoffelsalat, dasselbe Klikkern des uralten Eager-Beaver-Flippers, das beschwörende Flüstern eines Mannes, der den Würfelbecher hochhält, schüttelt und die Würfel schließlich über die Theke kollern läßt. An der Theke vor einem Orangensaft saß eine freundlich lächelnde ältere Dame mit sorgfältig ondulierten Haaren und angemessenem Kostüm. Auf den ersten Blick war nichts Auffälliges an ihr. Beim zweiten aber und nach einiger Zeit, in der ihr Lächeln gleichmäßig unbestimmt und seltsam starr in ihrem Gesicht stehenblieb, wußte man, daß sie sich in einem anderen Zeitrhythmus befand. Ich weiß nicht, wie sie hieß. Man nannte sie Tabletten-Erna, weil sie seit Jahren jeden Tag Tabletten schluckte. Kopfschmerztabletten zuerst, und die letzten
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Jahre Schlafmittel. Entziehungskuren und Krankenhausaufenthalte hatten ihr Verlangen nach Schlafdrogen offenbar nur immer wieder neu hergestellt, und im Laufe der Jahre waren ihre Gelenke mürbe geworden und ihr Hirn mutiert zu einem rosawolkigen Kuchenteig. Da war auch Hans, der Bankräuber, der jetzt mit das Bier austeilte und immer noch bestenfalls aussah wie ein gescheiterter Theologiestudent. Er erzählte Gorski sofort und unaufgefordert die Geschichte seines Bankraubs, wie er mitten durch die Stadt mit dem Fahrrad gehetzt war, und er erregte sich immer noch über die maßlose Dummheit der Leute in der Bank, die auf seine Wasserpistole hereingefallen waren. Ich spürte, wie sich Gorski mit Behagen einsacken ließ in Umgebung und Atmosphäre. Gorski saß neben mir im Wagen und säuberte sich die Fingernägel mit der Schusterahle. Ein heftiger Wind trieb meterhohe Staubwolken durch die Straßen. »Wie findest du Sparta?« fragte ich, »abgesehen davon, daß er dir auf den Schlips getreten ist wegen der geklauten Pistole?« Gorski steckte die Schusterahle ein. Ich sah ihn von der Seite an. Schwer zu sagen, ob der Vorfall ihn noch beschäftigte. »Ein netter Mann«, sagte Gorski, »aber ich glaube, er täuscht sich über sein eigenes Format. Für die ganz große Nummer ist er ein bißchen zu einfach geraten – aber wer will so was schon wahrhaben. Ich glaub, die Zeit für solche Hau-Ruck-Typen ist vorbei. Und White-Collar-Crime ist nichts für ihn, dafür ist er nicht raffiniert genug. Einen großen Coup könnte er nur mit äußerster Brutalität abzie-
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hen, nicht mit Intelligenz und Raffinesse. Aber auch das trau ich ihm nicht richtig zu.« »Er hat von beidem etwas«, sagte ich. Gorski stellte das Radio an. »Das ist nix«, sagte er, »von beidem etwas, ist gar nix!« »Aber er denkt nach«, sagte ich, »er freute sich früher immer wie ein kleiner Junge, wenn er mir nachweisen konnte, daß in einer Kriminalgeschichte etwas nicht stimmte. Er nahm alles beim Wort, und er vertraute den Wörtern, und das tat mir gut.« Wir waren die Otto-SuhrAllee gefahren, dann Tegeler Weg, und fuhren jetzt über den Kurt-Schumacher-Damm an der Jungfernheide entlang. Dann führte die Straße noch eine Weile um den östlichen Teil des Flughafens herum. Im Norden des Geländes liegt das Flughafengebäude. Gorski dirigiert mich zu einem kleinen Platz vor der Frachtabfertigung. Wir kamen weder zu früh noch zu spät an. Der Jeep stand schon draußen vorm Gebäude. Zwei Militärpolizisten saßen drin. Wir waren höchstens hundert Meter hinter ihnen. Es war wenige Minuten nach zehn. Im Autoradio begann eine Schulfunksendung über die Entstehung der Bundesrepublik von Carlo Schmid. Wir stiegen aus und gingen ein Stück die Straße zurück. »Warte«, sagte Gorski, »von hier aus müßte man es am besten sehen können.« Er hatte recht, keine Lagerhallen, Hangars oder Abfertigungshallen störten den Blick. Das Rollfeld um die gelandete Militärmaschine herum war nicht mal abgesperrt. Zwischen uns und der Maschine war nur die Umzäunung und ein wenig Rasen, und ich fragte mich,
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wie oft Sparta hier schon gestanden haben mochte. Ich beobachtete, wie sich die Luke der Militärmaschine öffnete und ein Offizier die herangeschobene Metalleiter herunterkam. Ein anderer Offizier, begleitet von zwei MPs, löste sich aus dem Kreis der Militärpolizei und begrüßte den Offizier aus der Maschine. In dem Jeep auf dem Rollfeld saßen ebenfalls zwei MPs. Alles lief genauso ab, wie Gorski es mir berichtet hatte. Die beiden Geldsäcke wurden aus der Maschine gehoben, und der zweite Offizier prüfte die Plomben. Dann salutierten die beiden Offiziere, und der zweite Offizier ging vor den beiden MPs her, die die Geldsäcke trugen, zum Transportwagen. Der Wind zerrte an seinem Mantel. Ich sah Gorski an. »Da soll soviel Geld drin sein, in den beiden Säcken?« »Das hast du mich schon mal gefragt«, sagte Gorski. Gorski hatte eine Stoppuhr in der Hand. Sie lief. Die beiden MPs verstauten die Geldsäcke hinten in dem Transporter, und der Offizier sah zu. Wir schlenderten zurück zum Wagen und setzten uns hinein. Der Beifahrer in dem wartenden Jeep vorm Flughafengebäude verschwand gerade im Eingang. »Stell bloß nicht zu früh den Motor an«, sagte Gorski. »Wenn wir jetzt dranbleiben, kriegen wir das volle Programm zu sehen.« Ich verrenkte mir fast den Hals, um festzustellen, wohin der Beifahrer ging, aber ich konnte es nicht sehen. »Aufs Klo wird er sein. Der Job drückt auf die Blase.« Gorski legte die Stoppuhr auf den Sitz und stieg aus. Die Tür ließ er angelehnt. Er beugte sich noch einmal durch das Seiten-
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fenster herein. Er hielt den Kopf schief und blickte auf die Stoppuhr. »Jetzt werd ich Sparta mal zeigen, wie man so was macht«, murmelte er. Er sah mich an. »Und du bleibst schön hier sitzen, egal, was passiert, klar?« Ich nickte. Gorski schlenderte langsam und scheinbar ziellos die Straße entlang. Als er etwa auf der Höhe des Jeeps war, blieb er stehen und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Sein Feuerzeug funktionierte wieder nicht, und er steckte es wieder ein. Der Beifahrer war noch immer nicht zurück; ein Blick auf die Stoppuhr belehrte mich, daß kaum eine Minute vergangen war. Die Zeit war wie Kaugummi. Gorski stand inzwischen dicht neben dem Jeep, auf der Höhe des rechten Hinterrads. Der Fahrer schien ihn entweder nicht zu sehen oder nicht zu beachten. Gorski bückte sich, als wolle er einen losen Schnürsenkel wieder festknoten. Ich sah genau hin. Mit einer heftigen Bewegung stach Gorski die Schusterahle in den rechten Hinterreifen des Jeeps. Das Metall der Ahle blitzte auf und war schon wieder in seiner Manteltasche verschwunden. Gorski richtete sich langsam auf und schlenderte zurück zum Opel Kapitän. Als er einstieg, kam der Beifahrer im Laufschritt aus dem Flughafengebäude. Ich war rübergerutscht auf den Beifahrersitz. »Mann, du hast vielleicht Nerven«, sagte ich. Gorski lachte und ließ den Motor an. Der Beifahrer stieg in den Jeep. »Sonst würden wir nie erfahren, was jetzt passiert.« »Fahr schon endlich!« »Du bist ja nervös«, sagte Gorski.
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Er beschleunigte erst, als wir vom Jeep aus nicht mehr gesehen werden konnten. Der Transport mit dem Jeep vom Rollfeld war noch nicht auf der Straße vor dem Flughafengebäude aufgetaucht. Gorski fuhr schnell und konzentriert. Es hätte unangenehm werden können, wenn wir wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten worden wären und uns mit falschen Wagenpapieren hätten ausweisen müssen, aber Gorski schien sich nicht darum zu kümmern. Er fuhr die Strecke, die ihm Sparta gezeigt hatte. Wir fuhren nicht wieder östlich um den Flughafen herum, sondern zunächst ein paar hundert Meter nach Norden. Links, hinter den düsteren Blocks der Strafanstalt Tegel, bogen wir in die Bernauer Straße ein, die kurz vor dem Tegeler See nach Süden biegt und durch die Jungfernheide führt. Dahinter beginnt das ausgedehnte Gebiet, in dem der größte Teil der Berliner Industrie konzentriert ist, ein Gewirr aus Fabrikhallen, Lagergebäuden, Laubenkolonien, durchzogen von Kanälen, Straßen und Eisenbahndämmen. Die Straßen waren so gut wie menschenleer. »Wo sind denn die Leute?« sagte Gorski. »Hinter den Mauern von Siemens-Schuckert-HalskeOsram und Co. Bei Schichtwechsel wimmelts hier nur so. Aber während der Arbeitszeit ist es ruhig.« »Eben«, sagte Gorski. Ich sah ihn von der Seite an. Sein Gesicht hatte eine frische Farbe bekommen. »Und jetzt?« fragte ich. »Erstens«, sagte er, »brauchen wir noch mal die genaue
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Fahrzeit der Kolonne. Zweitens müssen wir unbedingt vor ihnen da sein.« »Und drittens ist das alles nicht übertrieben originell«, erklärte ich. Meine Kehle war immer noch trocken. »Ein Überfall auf einen Geldtransport. Ich seh Lino Ventura auf einer hochgewundenen Bergstraße in praller Mittagssonne sitzen und warten, daß der Geldtransport die Serpentinen hochkommt, und sein Freund, der ihn reingebracht hat in den Job, sieht zu, wie sich Lino Ventura die naßgeschwitzten Hände mit einem blütenweißen Taschentuch abtrocknet.« Gorski stieß die Luft aus. Er lachte, ohne die Augen von der Straße zu wenden. »Und viertens«, sagte er, »interessiert mich deine cineastische Originalität einen Scheißdreck. Ich will jetzt nur wissen, ob sie mit nur einem oder mit zwei Jeeps anrükken. Wenn nämlich tatsächlieh nur ein Jeep mitkommt, sollte sich mein Drehbuchautor bald einfallen lassen, wie der Überfall wirklich läuft.« Wir fuhren jetzt über eine Schotterstraße. Gorski manövrierte mit dem Lenkrad, um Schlaglöchern auszuweichen. Der Opel Kapitän rumpelte mit schlagender Federung über die miserable Strecke. Häufiger konnte man ihm solche Touren sicher nicht zumuten. Dann kam eine Kreuzung, und Gorski fuhr etwas langsamer. »Hier kommt das Umleitungsschild hin«, sagte er. »Mit dem die Täter den Verkehr vom Tatort weglenken?« »So ist es!«
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Gorski beschleunigte wieder. Die Straße wurde nicht besser nach der Kreuzung. Gorski behandelte den Opel Kapitän wie einen Landrover und kümmerte sich nicht um das Ächzen und Rattern der Karosserie. »Wenn du schon immer von den Tätern redest«, sagte Gorski, »weißt du denn inzwischen schon, was für Typen das eigentlich sind?« »Nicht genau. Aber eins weiß ich. Keine Profis und keine Desperados, das haben wir zu oft gesehen. Man muß nicht besonders abgebrüht oder besonders verzweifelt sein, um auf so'n Ding zu verfallen. Einer oder zwei kommen auf den Coup. Ganz zufällig vielleicht. Den möchte ich sehen, der angesichts so einer Möglichkeit nicht ins Grübeln kommt. Wer will denn das wohl nicht: einfach so'n Ding abziehen, zuhauen, abhaun. Sich befreien, verstehst du?« »Und ob«, sagte Gorski. »Die Frage ist nur, ob sie im entscheidenden Augenblick die Nerven dazu haben.« Die Straße bog leicht um einen mit Büschen bewachsenen flachen Schutthügel. »Da«, sagte Gorski und zeigte mit dem Finger nach vorn. Vor uns lag der Bahnübergang. Gorski fuhr langsamer. Die Schotterstraße stieg leicht an bis zur Höhe des Bahndamms. Die Schranken ragten senkrecht in die Luft. Etwa hundert Meter vor dem Bahnübergang zweigte die von Gorski beschriebene Seitenstraße nach links von der Schotterstraße ab; sie führte zu einem Tunnel unter dem Bahndamm. Ungefähr zweihundert Meter weiter rechts vom Bahnübergang stand das Bahnwärterhaus, von wo
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aus die Schranken bedient wurden. Es war klein mit roten Ziegelsteinen. Gorski bog in die schmale Seitenstraße zum Tunnel hin ein. Er mußte im Schrittempo fahren. Der Tunnel selbst war kurz und rund gemauert. Gorski fuhr durch und stellte den Wagen kurz hinter der Unterführung ab. Hier war die Straße auch nicht besser, aber sie hatte weniger Schlaglöcher. Sie führte in einer weiten Linkskurve nach Westen ins Zentrum, Richtung Charlottenburg. Wir hielten uns nicht lange auf und liefen zurück durch den Tunnel. Hinter der Unterführung kletterten wir links zum Bahndamm hinauf. Gorski blickte auf die Stoppuhr. Wir setzten uns in das angesengte, geschwärzte Gras des Bahndamms. »Mit der Zeit haben wir jedenfalls keine Probleme«, sagte Gorski, »das ist doch auch schon was.« Der Konvoi war noch nicht in Sicht. Ich streckte mich der Länge nach auf der Böschung des Bahndamms aus und starrte in den Himmel. Zuerst leise und wie von weit weg und Sekunden später schon deutlicher kam das flappende Geräusch der Rotorflügel eines Helikopters auf. Ich suchte den Himmel ab, konnte aber nichts entdecken. Ich richtete mich auf. Gorski sah mich an. »Zufall?« Ich zuckte die Schultern und blickte die Schotterstraße zurück. Wenn sie jetzt nicht bald auftauchen, dachte ich, dann kommen sie nicht mehr. Dann haben sie Lunte gerochen und sich vielleicht was anderes ausgedacht. Sie hatten sich nichts anderes ausgedacht. Der Transport kündigte sich durch eine hohe Staubfahne an.
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Zunächst war nur der Jeep zu erkennen, dann undeutlich im Staub der Transporter. Der Konvoi fuhr auffallend langsam. Eine dieser Vorschriften vermutlich, wie sie beim Militär üblich sind, keiner weiß mehr den Sinn, aber sie werden stur befolgt, vor allem bei den Amerikanern. Aber zumindest war mir jetzt klar, warum der Transport nicht durch die Innenstadt ging – bei dem Tempo. Für einen Augenblick verschwand der Konvoi hinter dem Schutthügel mit dem Gebüsch. Dann kam der Jeep hervor, hinter ihm der Transporter. Kein drittes Fahrzeug. Gorski stieß mich an. »Die lassens doch tatsächlich drauf ankommen.« »Jahrelang ist es gut gegangen«, murmelte ich, »daran gewöhnt man sich doch.« Der Jeep kroch langsam die leichte Steigung zum Bahndamm hoch. Der Transportwagen folgte im Abstand von etwa vierzig Metern. Als der Jeep kurz vor den Geleisen war, drückte Gorski auf die Stoppuhr. »So, jetzt laß dir mal was einfallen«, sagte er. Ich bekam den Einfall gratis. Der Jeep hatte den Bahndamm erreicht, und als er mitten auf den Geleisen war, fing das Läutwerk der Schranken an zu scheppern. Fast im selben Augenblick, während der Jeepfahrer keine andere Wahl hatte, als vorwärts über die Geleise auf die andere Seite der Schranke zu fahren, senkten sich die Bahnschranken und trennten Jeep und Transportwagen voneinander. Gorski sah mich völlig entgeistert an. Mir war es so vorgekommen, als seien die Schranken schneller herunter-
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gegangen als üblich, aber das lag vermutlich daran, daß ich bis dahin noch nie bewußt beobachtet hatte, in welchem Tempo sich Bahnschranken senken. Der Jeep hielt jenseits der Schranke, der Transportwagen blieb davor stehen. Aus der Entfernung war das Geräusch eines herankommenden Zugs zu hören. Der Beifahrer stieg aus dem Jeep und brüllte über die geschlossene Schranke hinweg etwas zum Transportwagen rüber. Wir waren zu weit weg, um es zu verstehen. Seine MP hatte er über der linken Schulter hängen. Die Lok des Güterzugs tauchte auf. Der Militärpolizist trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich mit dem Rücken an den Wagen. Er zündete sich eine Zigarette an. Der Zug kam heran. Die Lokomotive wuchs groß und schwarz auf uns zu, und wir traten ein wenig von der Böschung des Bahndamms zurück. Gorski schlug sich auf die Schenkel. »Hörst du, wie mein Schwein pfeift?« fragte er. Der Güterzug ließ zischenden weißen Dampf ab. »Jetzt hör ichs auch«, sagte ich. Wagen auf Wagen ratterte hinter der Lok her. Fahrer und Beifahrer des Transportwagens waren bis jetzt nicht ausgestiegen. Sie blieben stur drin sitzen, bis der letzte Güterwagen vorbeigefahren war. Gorski fing fast hysterisch an zu lachen, wollte mir auf die Schultern schlagen, und als ich auswich, kollerten wir beide den Bahndamm hinunter; er von der Wucht seiner eigenen Bewegungen und ich, weil
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ich durch mein Ausweichen die Balance verlor. Wir rappelten uns auf und starrten hoch zur Bahnschranke. Das Läutwerk fing wieder an zu rappeln wie ein besonders hartnäckiger Wecker, die Schranken gingen das erste kurze Stück ruckartig hoch und richteten sich dann langsamer auf, bis sie wieder senkrecht standen. Der Transportwagen fuhr an, überquerte die Geleise und verschwand aus unserer Sicht. »Mann, genauso kann man abkassieren«, sagte Gorski. Er lachte noch immer. Seine Stimme war heiser. Er stand genau vor mir. Plötzlich verengten sich seine Augen, er sah an meinem Kopf vorbei, und auf einmal war nicht mehr der Funke eines Lächelns in seinem Gesicht. »Interessant«, sagte er. »Was?« »Dreh dich mal um.« Auf der Schotterstraße, dort, wo die Seitenstraße zum Tunnel abzweigte, stand ein großer schwarzer Wagen. Er stand da wie hingezaubert! Links und rechts an den Kotflügeln lehnten zwei Männer. Sie standen da und sahen zu uns rüber, und so wie sie da standen, waren sie nicht erst seit einer Minute da. Einen erkannte ich sofort; kein Kunststück, denn es war Blacky. Den andern hatte ich noch nie gesehen. Er war hellblond, mit halblangen Haaren, etwas weniger als mittelgroß, und selbst aus der Entfernung wirkte er nicht sehr gemütlich. »Fragen wir sie, was sie wollen«, sagte Gorski, »dann wissen wir wenigstens, woran wir sind.« Als wir näher kamen, öffnete der Blonde die Fahrertür und setzte sich hinter das Steuer. Blacky öffnete die beiden
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Hintertüren. »Sparta will euch sehen«, sagte er. »Wo treffen wir ihn?« fragte Gorski. Blacky machte eine einladende Handbewegung zu den offenen Türen. »Wir haben selber einen Wagen«, sagte Gorski. »Spartas Kapitän. Es wird ihm nicht recht sein, wenn wir ihn einfach hier stehenlassen.« »Damit ist Roland schon auf dem Weg in die Stadt«, sagte Blacky und wiederholte seine Handbewegung. Wir stiegen ein. Was blieb uns anderes übrig. Der Wagen war ein Cadillac mit weinroten Ledersitzen und dunkelblau getönten Scheiben. Der Blonde fuhr schnell und sicher. Vom Motor war kaum etwas zu hören, und von den Schlaglöchern in der Schotterstraße spürte ich nicht mehr als ein leichtes, sanftes Vibrieren. »Was will er denn schon wieder, euer Sparta?« fragte Gorski. Der Blonde und Blacky schwiegen beharrlich. Gorski holte eine Zigarette aus der Tasche, und ich gab ihm Feuer. »Wo solls denn hingehen?« fragte Gorski weiter. Die beiden schienen überhaupt nicht zuzuhören. »Ach du liebes bißchen«, sagte Gorski. »Nun zieht doch hier nicht so'ne müde Nummer ab.« »Wirst schon sehen, wos hingeht«, sagte Blacky, ohne sich umzudrehen. »Ach, ihr dürft wohl nicht reden«, sagte Gorski. »Das ist natürlich was andres.« Blacky drehte sich mit einem Ruck um. »Vielleicht will ich nicht mit dir reden«, sagte er ohne besondere Betonung. Er wartete keine Antwort ab und drehte sich sofort wieder nach vorne. Gorski trat seine
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Zigarette demonstrativ auf dem Stück Bodenteppich zwischen seinen Füßen und dem Vordersitz aus. Der Blonde langte zum Radio und stellte irgendeine Tanzmusik an. Gorski warf sich im Sitz zurück und starrte vor sich hin. Nach ein paar Minuten unterbrach ein Sprecher die Musik für eine Durchsage. »Aktualität geht vor Unterhaltung, meine Damen und Herren, das war schon von Anfang an das Motto unserer Sendung, und auch diesmal gibt es etwas zu vermelden. Die Polizei bittet um ihre Mithilfe. Gegen Mittag ist die Zweigstelle der Bank für Handel und Industrie in der Friedenauer Rheinstraße überfallen worden; drei mit Nylonstrümpfen maskierte Täter entwendeten nach bisherigen Schätzungen etwa einhundertfünfzigtausend Mark und entkamen unerkannt mit ihrer Beute. Ein Kunde wurde leicht verletzt, ein Wachmann angeschossen. Übereinstimmende Zeugenaussagen wollen einen der Täter als Frau identifiziert haben. Die Polizei schließt die Vermutung nicht aus, daß wiederum eine politisch radikale Gruppe hinter dem Überfall steht. Die Bande entkam mit einem dunkelgrünen Mercedes 220 SE, Baujahr 1967, mit dem Kennzeichen B-SS 7439.« Die Musik wurde eingeblendet und kurz darauf zum zweitenmal unterbrochen: »Und noch eine Durchsage für unsere Autofahrer. Vermeiden Sie nach Möglichkeit die Tauentzienstraße/Ecke Kurfürstendamm bis hinunter zum Olivaer Platz und Lehniner Platz. In diesem Umkreis ist der Verkehr durch eine Protestdemonstration mal wieder zum völligen Erliegen gekommen, vielen Dank.« »Weißt du, wo Anna ist?« fragte ich Blacky.
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»Nein«, sagte er, »ich weiß es nicht. Und ich finde es auch gar nicht komisch, wenn grade ihr danach fragt.«
14 Der Wagen brauchte nicht mehr als eine halbe Stunde in die Stadt zurück. Der Blonde hatte den Weg durch die Unterführung genommen. Irgendwo ging es wieder über Geleise, dann über die Spree, und erst als wir auf dem Spandauer Damm waren, wußte ich, wo wir uns befanden. Die eingedunkelten Scheiben waren auch schalldämpfend, und Menschen, Autos, Häuser und Ampeln zogen wie unter einem dunklen Farbfilter stumm am Fenster vorbei. Der Fahrer hielt vor einer Bar mit dem Namen ZUM LACHENDEN KÄNGURUH. Blacky stieg als erster aus und öffnete die Hintertür. Der Fahrer blieb sitzen, bis Gorski auch ausgestiegen war, und Blacky ging uns voraus zum Eingang. Die Tür war aus schwerem, massivem Eichenholz mit breiten Eisenbeschlägen. Blacky drückte eine Klingel, und der Fahrer stellte sich mit dem Rücken vor Blackys ausgestrecktem Arm, so daß ich das Klingelzeichen nicht ausmachen konnte. Von innen war nichts zu hören. Von außen sah das KÄNGURUH aus wie ein hochgestochenes Nepplokal. Schaukästen annoncierten zehn schöne Frauen aus zehn Ländern mit Strip- und Gesangsdarbietungen; sie verzichteten auf Reizfotos und hängten Farbfotos der leeren Innenräume der Bar aus. Signal: Seriosität. Ein riesiger Mensch öffnete die Tür und 149
füllte fast den ganzen Rahmen aus. Er trat zur Seite, als Blacky eintrat. »Ist das Benjamin?« fragte er, als wir alle im Flur standen. Blacky sah ihn an, und er schwieg. Der blonde Fahrer machte eine Kopfbewegung, und Blacky ging voraus den Gang entlang, gefolgt von Gorski und mir. Hinter mir ging der Blonde. Der Große schloß die Tür wieder ab, und ich hörte mehr als nur einen Riegel schnappen. Der Gang führte an einer leeren, unbeleuchteten Garderobe vorbei in einen großen, aufwendig dekorierten Raum. Eine lange, dunkle Theke mit Barhockern davor war in einem Halbkreis um eine rundgezogene Wand gebaut. Direkt an der Wand befand sich ein ebenso langer Spiegelschrank mit Flaschen und Gläsern. Ein Zwischenraum zwischen der Bar, Theke und der grell erleuchteten Bühne war mit dikken Teppichen ausgelegt. Die weißlackierten Stühle und Tische sollten das sein, was man »Stilmöbel« nennt. Auch die Bühne gab sich altmodisch mit violetten, halb zurückgezogenen Samtvorhängen. In einer Ecke der Bühne saß ein Mann am Klavier und klimperte I can't give you anything but love in einer Mischung von Burt Bacharach und Schrägem Otto. Zwei Mädchen in roten Pelzbikinis sangen dazu und schlenkerten ihre Glieder. Sie sangen nicht besonders aufregend, und vielleicht wäre es schöner gewesen, wenn sie wenigstens richtig falsch gesungen hätten. Am Klavier lehnte eine blonde Frau und sah den beiden mißbilligend zu: Sparta war auch da. Er saß allein an einem der weißgelackten winzigen Tische; auf der Tisch-
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platte lag aufgeschlagen so etwas wie ein Geschäftsbuch. Blacky, der blonde Fahrer und der große Mann setzten sich ein paar Tische von ihm entfernt zu dem Mann, der den Kempinski-Treff mit mir im Bahnhof vereinbart hatte. Das war Roland. Uns ließen sie einfach stehen, und wir sahen den Mädchen auf der Bühne zu. Sparta drehte sich um und forderte uns mit einer Handbewegung zum Sitzen auf. »Er geht mir allmählich auf die Nerven«, murmelte Gorski. Die blonde Frau stoppte den Klavierspieler mit einer wütenden Geste, und die Mädchen schwiegen und stellten sich gerade vor das Mikrophon. Keine von beiden blickte zum Klavier. Sparta sah von seinen Papieren. »Diese Bauerntrampel kann ich meinen Gästen nicht zumuten«, rief die blonde Frau. »Diesen Krampf kann ich nicht mehr mitansehen. Das ist ja finsterste Operettenprovinz ist das ja.« Ihr Tonfall war geziert und gleichzeitig ordinär. Sie scheuchte die beiden Mädchen vom Mikrophon weg und forderte den Mann am Klavier auf weiterzuspielen. Sparta drehte sich zu dem Tisch mit seinen Leuten um und sagte, ohne einen Namen zu nennen oder irgendeinen genauer anzusehen, halblaut: »Ihr seid ja immer noch da.« Roland und der blonde Fahrer standen auf. Sie gingen auf den Flur zu. »Du auch, Petchen«, sagte Sparta, ohne sich noch einmal umzudrehen, und der Große, der uns hereingelassen hatte, folgte den beiden. Die blonde Frau auf der Bühne tanzte und steppte den Song der beiden Mädchen. Dazu sang sie. Es
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klang ein wenig atemlos. Das Tanzen hatte sie offenbar gelernt, aber ich fand die angestrengte Unbeholfenheit der beiden Bikinimädchen reizvoller als ihre Routine. Sparta hörte und sah ihr einen Augenblick lang zu, dann gab er dem Klavierspieler ein Zeichen aufzuhören. Die Frau blies sich eine blonde Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht, schürzte die Röcke und machte Anstalten, von der Bühne zu steigen. »Also gut«, sagte Sparta zur Bühne hin, »vergiß es. Du bist engagiert. Es war ja nur so eine Idee.« »Hoffentlich siehst du endlich ein, daß ich auf diesem Gebiet die besseren Ideen habe«, sagte die Frau. Gorski sah den beiden interessiert zu. »Endlich ist er mal übersichtlich«, murmelte er. Sparta wandte sich zu uns um. Er wirkte ganz aufgeräumt. »Darf ich vorstellen«, sagte er, »Virginia Orlowsky. Meine Frau.« »Du bist verheiratet«, sagte ich, »das wußte ich gar nicht.« »Doch«, sagte Sparta, »schon lange. Sie macht bei mir die Kunst, davon versteht sie was. Sie hält die Konzession, weil sie nicht vorbestraft ist, verstehst du? Sie will richtige Nummernshows aufziehen.« »Swing kommt wieder«, sagte Virginia. »Und Stepp.« Er stellte uns vor, und sie sah Gorski an. »Der berühmte Alex Gorski«, sagte sie. Ihre Ironie hätte man auch für Bewunderung halten können. Gorski revanchierte sich mit einem Handkuß, und ich setzte mich wieder hin, um ihnen in Ruhe zuzusehen. »Wie ich sehe, sind wir Kollegen, gnädige Frau«, sagte
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Gorski, »nur daß Unterhaltung ungleich schwerer zu machen ist. Es ist ein alter Wunschtraum von mir, einmal einen Musikfilm zu inszenieren. Leider ist Herr Benjamin musikalisch vollkommen eingleisig auf diese moderne Gitarrenmusik fixiert.« Sie sah mich fragend an und machte ein schelmisches Zeigefingergesicht. »Wie schade«, sagte sie. »Bei den Möglichkeiten, die das Genre bietet. Ein Jammer, nicht wahr, Herr Gorski?« »Das finde ich auch.« Gorski wirkte völlig ernsthaft. »Wir sollten uns bei Gelegenheit einmal eingehender darüber unterhalten«, sagte Virginia Orlowsky zu Gorski. »Ich habe einige Couplets geschrieben. Vorzutragen in jeweils dazu passenden Kostümen.« »Das würd ich mir zu gern einmal ansehen, gnädige Frau«, sagte Gorski. Sparta stand auf und sagte zur Bühne hin: »Du kannst weitermachen, Rudi«, und zu uns: »Sehr schön geplaudert, Herrschaften, aber die Zeit bleibt ja nicht stehn. Blacky.« »Wir fahren«, sagte Sparta. Seine Frau stemmte wortlos die Hände in die Hüften. »Mach schön weiter«, sagte Sparta. »Und an deiner Stelle würde ich Rudi die Flasche wegnehmen, sonst fällt er dir in der nächsten halben Stunde vom Hocker.« Blacky fuhr uns in wieder einem anderen Wagen. Es war ein besonders langer Mercedes, in dem man sich hinten drin gegenübersitzen konnte. Sparta saß mit dem Rücken
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in Fahrtrichtung uns beiden gegenüber. Über unseren Köpfen war ein Spiegel, durch den er Blickkontakt mit dem Fahrer hielt. Er blickte uns an. Gorski machte ein Pokergesicht. Eine ganze Weile sagte keiner von uns etwas. Ich versuchte dahinterzukommen, was Sparta uns zeigen wollte oder wo er mit uns hinwollte, aber ich gab es bald auf. »Komisch«, sagte ich, »ich hab mir gar nicht vorstellen können, daß du verheiratet bist. Dabei, warum eigentlich nicht?« Sparta grinste. »Mein Freund, der die Buchhaltung für mich macht. Der hat mir das empfohlen. Sonst hätte ich mir irgendeinen Typ als Pächter mit Konzession suchen müssen, und so einen finde erst mal. Ich meine einen, der dich nicht bescheißt, verstehst du?« Seine Augenfältchen verzogen sich. »Früher war sie mal richtig gut.« Blacky schwieg während der ganzen Fahrt und hielt nach vielleicht fünfzehn Minuten vor einem Lokal am Stuttgarter Platz. Es hieß BLUE MOON und befand sich im Erdgeschoß eines Altbauhauses neben einem Sex & Action-Kino und einer Reihe von Stehbierkneipen und Imbißbuden. Mit den Jahren werden die Kneipen immer weniger hier; die alte Bierschwemme ist abgerissen, und wahrscheinlich wird an der freigelegten Stelle ein Bürohochhaus gebaut. Die Szene der Huren und Zuhälter, der großen und kleinen Ganoven verschwindet. Ein paar lizenzierte, offizielle Neppläden, ähnlich wie in der Augsburger Straße, werden für die Touristen übrigbleiben. Wir stiegen aus. Der Opel Kapitän stand an der Bord-
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steinkante neben einer Litfaßsäule. Sparta ging voraus, und Blacky blieb im Wagen hinter dem Steuer sitzen. Roland öffnete die Tür. Das Garderobenmädchen las ein Perry-Rhodan-Heft und lächelte, als sie Sparta sah. Sie schielte ein bißchen und konnte eigentlich kaum richtig Luft kriegen in ihrem Ringelpullover. Sparta blieb stehen und sah sie nachdenklich an. Sie legte das Heft weg, und während ihr linkes Auge seinen direkten Blick erwiderte, irrte ihr rechtes Auge ab zu mir über seine Schulter. Ich schloß unwillkürlich die Augen. »Molly?« fragte Sparta. Das Mädchen schüttelte den Kopf, und ihre feuerroten Locken flogen. Sparta legte den Finger an die Nase und tat so, als überlegte er weiter. »Brigitte?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Roswitha.« Das Mädchen nickte. Sparta zog sie an den Ellenbogen heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie wurde rot und schlug eine Hand vor den Mund. Ich glaube, sie hatte Sommersprossen. Die Bar war schummrig und gut besucht. An den Wänden glühten rote Birnen unter rosa Stofflampenschirmen. Die Lampen über der Theke hatten die Form von Frauenkörpern von der Größe einer Bierflasche; in den verschiedenfarbigen gläsernen Formen brannten die Birnen. Vielleicht ein Dutzend Gäste saß an Tischen und starrte auf eine kleine Leinwand. Die meisten hatten Bier und Schnaps vor sich stehen. Wo Sektflaschen auf dem Tisch standen, saßen Animiermädchen bei den Gästen. Sie trugen ausgeschnittene grellbunte Rüschenblusen, enge Pullover, hochhackige Schuhe. Ihre Kostü-
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mierung war unterschiedlich, aber alle hatten einen ähnlichen gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Auf der Leinwand lief ein pornographischer Film in Zeitlupe. Wer weiß, wie oft sie ihn schon gesehen hatten. Ein stark behaarter nackter Mann in knöchellanger grauer Unterhose, er rang mit zwei fetten, nackten Frauen. Er trug einen gewaltigen Moustache; die Haare auf seinem eckigen Schädel waren kurz, gescheitelt und mit Öl dicht an die Kopfhaut geklatscht. Eigentlich passierte nicht mehr, als daß der Mann abwechselnd eine der beiden Frauen zu besteigen versuchte, was die jeweils unbeschäftigte vereitelte. Interessanter als die Speckwälzerei war das Zimmer, wo die drei gefilmt worden waren. Es mußte ein ziemlich alter Film sein. Das Zimmer war eingerichtet wie die klassische kleinbürgerliche deutsche gute Stube der zwanziger Jahre mit Sofa, Vertiko, Sammeltassenschrank mit Glasfenster, und in einer Zimmerecke stand tatsächlich eine etwas kümmerliche Topfpalme. Das Material war rissig und braunstichig. Auffallend waren die riesigen, glänzend schwarzen Augen des Mannes. Einmal lief ein Dackel durchs Bild. An der Bar saßen Spartas Leute. Sie waren nicht allein da. Eingeklemmt zwischen dem Großen, der uns beim LACHENDEN KÄNGURUH geöffnet hatte, und Roland saß ein trauriger, dicker Mann. Er hatte einen Mund wie Victor Mature, der mal den Doc Holliday gespielt hat, so voll und sinnlich, und trug einen dicken, schwarzen Haarkranz um seine kahl glänzende Schädelplatte. Melancholische Augen versteckten sich hinter schweren, fleischigen Lidern. Seine Wangen hingen faltig
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und hoffnungslos nach unten. Die schweren Hände an den kurzen Armen hielt er vor dem Bauch gefaltet. Auf seiner Stirn und Halbglatze hatte sich eine Heerschar von Schweißperlen angesammelt, die im bunten Licht der Thekenbeleuchtung glitzerten. Sparta nahm den Mann kaum zur Kenntnis. Er deutete eine Verbeugung zu den Gästen an und wünschte freundlich einen Guten Tag. Kaum jemand reagierte. Gorski zog sich einen Stuhl heran und setzte sich grinsend hin. Die meisten Männer waren anscheinend gleich nach Büroschluß hergekommen; ihre Aktentaschen standen neben den Tischen auf dem Teppich. Sparta klatschte in die Hände und sagte etwas lauter: »Meine sehr verehrten Herrschaften, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß wir für heute schließen. Aufgrund außergewöhnlicher Umstände, für die der Chef Sie alle um Verständnis bittet. Selbstverständlich sind Sie alle seine Gäste. Sie brauchen nicht zu bezahlen.« Einige verstanden und gingen sofort. Da aber der Film noch weiterlief, der Schnurrbartmann wuchtete immer noch abwechselnd mit beiden Frauen herum, ohne seinem Ziel nähergekommen zu sein, blieben einige auch einfach sitzen und taten zum Teil wohl auch nur so, als ob sie nichts gehört hätten. Sparta drehte sich um zur Theke. »Stell den Film ab, und mach das Licht an, Petchen.« Petchen war der Große. »Leider ist die Vorführung jetzt zu Ende, Herrschaften«, fuhr Sparta lauter fort. Er wandte sich lächelnd und demonstrativ an den dicken Mann an der Theke: »Der Chef zahlt, meine Herrschaften.«
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Über der Theke hing ein schräg gekippter Spiegel; die Männer, die mit dem Rücken zur Leinwand an der Theke saßen, konnten ihre Blicke von den Filmbildern zum Ausschnitt der Bardame und zurück wandern lassen. Roland ließ keinen Blick vom Spiegel, ohne dabei den Körperkontakt zu dem Dicken zu verlieren; er würde jede Bewegung des dicken Mannes im Ansatz spüren. Im Spiegel bei dem Mann mit den zwei Frauen war jetzt ein Schäferhund aufgetaucht; er wedelte verlegen mit dem Schwanz und wußte nicht so recht, warum man ihn ins Zimmer kommandiert hatte. Dann wurde der Spiegel grau. Die Leinwand auch. Das Licht ging an, und ich sah, daß die Troddelplüschsessel verstaubt und durchgesessen waren und die Bardame mit dem großen Ausschnitt eine Alkoholikerin.Vor fünfzehn Jahren muß sie sehr reizvoll gewesen sein, mit der Fülle ihrer roten Haare, dem kantigen Schädel, der schmalen Nase und dem großzügigen Mund. Schlank war sie wohl nie gewesen. Ihr weißes Fleisch sah stumpf aus, und die Masse ihrer stark gepuderten, geäderten Brüste wurde von einem massiven Korsett zusammengequetscht und hochgestemmt. Sie war betrunken. Die Stimme war ihr wohl schon vor Jahren in irgendeiner Kneipe abhanden gekommen, denn sie sprach mit einem heiseren, gutturalen Flüstern. »Was ist denn, Jungs, was hat er denn getan, der Mendelson«, flüsterte sie. Niemand antwortete. Sparta muß sie gehört haben, aber er drehte sich nicht um. Gorski schlug die Beine übereinander und langte nach einer Zigarette. Mendelson an der Theke blickte von Roland zu Petchen und auf Spartas Rücken; er bekam vor lauter
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Angst den Mund nicht auf. Bis auf einen Mann, der an seinem Tisch sitzen geblieben war, hatten alle Gäste die Bar verlassen. Die vier Animiermädchen bauten sich vor Sparta auf und sahen ihn wütend an. »Geht in die Garderobe, zieht euch euren Mantel an und verschwindet«, sagte Sparta nicht unfreundlich. »Morgen früh ab elf in meinem Büro. Da können wir über einen Job reden. Aber Tempo jetzt, wenn ich bitten darf. Nehmt das Garderobenmädchen mit.« Er sah mich an. »Wie heißt sie doch gleich?« »Roswitha«, sagte ich. »Richtig«, sagte Sparta, »viel wert, ein gutes Gedächtnis.« Er wandte sich an die rothaarige Barfrau: »Geh nach Hause, Mädchen, die Show ist zu Ende.« »Aber wieso denn, was ist denn«, flüsterte sie, aber Sparta sah Gorski an. »Fragen ist ganz schlecht«, sagte Petchen halblaut. »Mach schnell und sei schön leise.« Der Mann saß immer noch allein an seinem Tisch. Vor ihm standen drei leere Sektflaschen und mehrere Bierflaschen. Sparta sah Petchen an. Petchen war mit zwei Schritten neben dem Mann, und der kleine Fahrer nahm seinen Platz an der Theke neben dem dicken Mann ein. Petchen umfaßte behutsam den Stuhl des Mannes und hob ihn herum, so daß der Mann Sparta gegenübersaß. Sparta machte eine knappe Kopfbewegung, und Petchen kehrte stumm an die Theke zurück. »Wenn ich denn mal bitten dürfte«, sagte Sparta höflich. Der Mann rappelte sich auf und griff nach seiner
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Aktentasche. Beim zweitenmal erwischte er sie. Er blinzelte durch eine schwarze Hornbrille. »Ich hab's schon bezahlt«, sagte der Mann, »ich zahle immer sofort nach Erhalt der Getränke, ein Relikt aus meinem Beruf, nehme ich an. Ich kann gar nicht anders.« Er machte eine Verbeugung. »Gestatten, Kießlich mein Name. Und ich bin dennoch versucht zu sagen: angenehm.« Sparta nickte Petchen zu. »Dieser Herr hier wird Ihnen den Weg zeigen.« Niemand sprach, als Petchen Herrn Kießlich hinausbegleitete. Ich hörte die Tür klacken, und kurz darauf war Petchen zurück. Als er wieder im Türrahmen auftauchte, machte der dicke Mann an der Theke einen Schritt seitlich von seinem Hocker weg. Da war eine Tür mit der Aufschrift: PRIVAT. »Mendelson, nicht doch, tun Sie das nicht«, sagte Sparta schnell. Der Mann blieb stehen. »Wie unüberlegt Sie manchmal sind«, sagte Sparta. »Das ist ganz verwirrend für mich. Sie. Ein gebildeter Mensch. Mendelson, das nützt Ihnen alles nichts, Ihre Bildung, Sie haben mich ja immer noch nicht begriffen, ich sehs Ihnen an.« Mendelson hob die Hände. Sparta winkte ab. »Nein«, sagte er. »Nicht schon wieder. Das kenn ich schon. Das haben Sie mir alles schon mal erzählt. Sie brauchen keine Angst zu haben. Solange ich rede, geht die Sonne noch nicht unter. Aber ich mag nicht mehr reden, Mendelson, weil das Reden meine kostbare Zeit kostet. Als gebildeter Mann kannst du doch sicher Klavier spielen, und diese wunderschöne Orgel erst recht?«
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Mendelson nickte stumm. Sparta betrachtete seine Fingernägel. »Na, dann spielen Sie uns doch mal was, Meister. Aber ein bißchen was Lustiges, das Leben ist traurig genug.« Mendelson ging zur Hammondorgel bei der Leinwand und setzte sich dahinter. Er fing an zu spielen. Petchen, Roland und der kleine Fahrer verwandelten die Bar mit gekonnten Handgriffen in einen Trümmerhaufen. Petchen riß mit bloßen Händen einen Barhocker auseinander und gab dem blonden Fahrer ein Hockerbein. Der zerschlug damit nacheinander die Lampen samt Schirm. Die roten, grünen und gelben Lichter zerschellten und zerpufften. Ein bunter Glasregen ging über die glitzernde Theke nieder. Der kleine Fahrer sprang mit einem Satz auf die Theke und zertrümmerte die Spiegelregale mit den Flaschen und Gläsern. Er zertrat die herabregnenden Glasscherben sorgfältig mit seinen Stiefelabsätzen. Roland hatte sich dicke Handschuhe angezogen und ließ mit ausgestrecktem Arm Salzsäure über den Teppich laufen. Petchen machte die aufwendigen Sachen allein. Er zerschlug die Stühle auf den Tischen und knickte die Tische auf ausgestelltem Knie durch. Jeder Griff saß wie bei einer Kunstturnerriege. Einmal hörte Mendelson auf zu spielen, und ein paar Sekunden lang war nur das Knirschen, Splittern und Krachen des Inventars zu hören. Petchen blickte Sparta an. Sparta schüttelte den Kopf. »Hör auf, Mendelson«, sagte Sparta. Mendelson stand von seinem Hocker auf und blickte sich um. Die Leinwand hing in mehrere gleich breite Strei-
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fen geschnitten vom Ständer. Reste der Plüschtapete hingen von Salzsäure zerfressen von den Wänden. Der Teppich sah nicht besser aus, und es gab keinen einzigen benutzbaren Stuhl mehr. Sparta streckte wortlos die Hand aus. Mendelson griff nach seiner Brieftasche und zählte schwitzend und schnüffelnd fünf Tausendmarkscheine in Spartas Handteller. Sparta faltete die Scheine mit einer Hand zusammen und steckte sie achtlos ein. Er wandte sich um zu uns. »Jetzt wißt ihr Bescheid. Auch bei uns gibt es Spielregeln. Was passiert, wenn sich einer nicht dran hält, das habt ihr jetzt gesehen. Wer's ist, das macht keinen Unterschied. Ich hab euch das schon mal gesagt: Ich weiß immer ganz gern, was läuft, klar? Und wenn ich das mal nicht weiß, dann ist das ganz schlecht. Dann muß ich mich nämlich kümmern. Ich glaube, ich hab mich deutlich genug ausgedrückt. Euer Wagen steht draußen vor der Tür.«
15 Spartas Mercedes stand nicht mehr an der Straße, aber der Opel war noch da. Die Leuchtreklamen der Bars und Geschäfte sahen verwaschen und schmutzig aus im Dämmerlicht. Eine Funkstreife fuhr langsam die Straße entlang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Kino in eine Filiale von Kaiser's Kaffeegeschäft umgewandelt. Das Kino hatte ROXY geheißen; man konnte den Namen an den weißen Stellen der Wand ablesen, wo die Buchstaben gesessen hatten. Ich ging zum Opel und 162
blickte hinein. Die Zündschlüssel steckten. Gorski war stehengeblieben. »Ich muß was trinken«, sagte er. Wir gingen in die nächstbeste Kneipe. Da war nur Platz für eine lange Theke und Hocker davor. Gleich neben dem Eingang eine Musikbox in einer Wandnische, und rechts neben der gekurvten Theke ein abgestellter Flipper mit eingeschlagener Scheibe. Am Ende der Theke saß die Barfrau aus dem BLUE MOON. Sie war viel zu betrunken, um uns wiederzuerkennen. Gorski setzte sich stumm auf einen Hocker, und ich schob einen daneben. »Bier und Schnaps«, sagte Gorski. »Was fürn Schnaps?« fragte der Mann hinter der Theke. Seine Augenbrauen waren an der Nasenwurzel zusammengewachsen. Ein schmuddeliges Handtuch trug er als Schürze um den Bauch. Sein Gesicht sah aus, als ob er was am Magen hätte. »Slibowitz«, sagte Gorski. »Den haben wir nun gerade nicht«, sagte der Zapfer. Er schien es nicht sonderlich zu bedauern. »Apfelschnaps?« »Richtigen Apfelschnaps?« fragte Gorski. »Klar«, sagte der Zapfer, »Apfelschnaps hab ich immer da.« »Her damit«, sagte Gorski. Der Zapfer sah mich an. Er verzog das Gesicht wie in Erwartung eines unvermeidlichen Schmerzes; als wisse er schon vorher, daß ich ihm nur Ungelegenheiten bereiten würde mit meiner Bestellung. »Kaffee«, sagte ich. Der Zapfer schüttelte resigniert den Kopf. »Kaffee gibt's hier erst später«, sagte er, »das hier ist 'ne Kneipe und
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keine Konditorei.« »Erich, komm sofort her«, sagte die Barfrau vom Ende der Theke. Ihre Stimme klang undeutlich. Der Zapfer beachtete sie gar nicht. »Ist doch klar«, sagte Gorski zu mir. »Oder weißt du immer noch nicht, wo du bist?« »Doch, doch«, sagte ich. Der Zapfer sah mich mißtrauisch an. »Hören Sie«, sagte er, »ich hab einen anstrengenden Job hier, und wenn Sie mich auf den Arm nehmen wollen, sind Sie an der falschen Adresse.« »Wie kommen Sie denn darauf?« fragte ich. »Keine Spur, Chef«, sagte Gorski. »Mein Freund trinkt keinen Alkohol, so ist das.« Der Zapfer blickte mich wieder an. Seine Augäpfel hatten eine gelbliche Färbung. »Was am Magen vielleicht?« fragte er. »Dann ist Kaffee aber auch nicht grade gut, glauben Sie mir, ich hab meine Erfahrungen.« »Also ein Bier.« »Wenn Sie wollen, mach ich's Ihnen ein bißchen warm. Ich hab einen Bierwärmer«, sagte er. »Ich müßte ihn allerdings erst suchen.« »Nicht nötig«, sagte ich. »Geben Sie mir einfach ein Bier.« »Einfach«, sagte der Zapfer. »Sie sind gut. Ich hab zwanzig Sorten.« Ich sah Gorski an. Er sah teilnahmslos aus.
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»Erich, komm sofort her«, rief die Barfrau wieder. »Ich geb Ihnen erst mal eins vom Hahn, dann können Sie sich immer noch ein andres aussuchen, wenn Sie wollen.« Gorski hockte stumm wie ein Maulwurf auf seinem Hocker. Er trank sich durch das halbe Flaschenregal, und die Barfrau rückte näher an ihn heran. In der Musikbox war Mr. Tambourine Man, die Aufnahme der Byrds, und als die Musik anfing, kletterte die Barfrau vom Hocker, hielt sich mit einer Hand an der Theke fest und wiegte sich im Takt hin und her. Der Zapfer trocknete sich die Hände ab und sah ihr zu. »Komisch«, sagte er, »sie macht das immer, wenn sie soweit ist, aber ich kann es immer wieder sehen.« Die Byrds waren grade wieder bei I'm ready to anywhere, und die Frau summte an dieser Stelle mit. Ich stieß Gorski an. »Laß uns gehen, Mann.« Gorski sah mich spöttisch an. »Merkwürdig«, sagte er, »hast du nicht das Bedürfnis, dich zu betrinken.« »Nein«, sagte ich, »das habe ich nicht.« Wir fuhren zum Savignyplatz und stellten den Wagen ab. In der langen, schmalen Kneipe hatte sich kaum etwas verändert. Die Wand hinter der Theke war bis unter die Decke mit Pin-up-Postkarten aus den letzten drei Jahrzehnten vollgeklebt. An der Theke stritten sich zwei Frauen. Hinten zockten zwei piekfeine Zuhälter mit dem Zapfer Chicago-scharf. Ab und zu kam kurz eine Frau
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rein, um einen Kaffee zu trinken oder einen Schnaps zu kippen. Wir saßen an einem kleinen Tisch in der Nähe der Musikbox. Eine der beiden Frauen, die sich an der Theke stritten, haute der andern eine runter. Das Mädchen, das die Biergläser austeilte, hieß Margot und wog wenigstens zwei Zentner. Sie versuchte vergebens, die beiden zu beschwichtigen. Der Zapfer blickte gelegentlich rüber, um zu zeigen, daß ihm nichts entging, aber er mischte sich nicht ein. Die Betrunkenere von beiden, die eben eine Ohrfeige bekommen hatte, schlug mit ihrer Handtasche zurück. Es war überhaupt nicht komisch, als die Handtasche aufging nach dem Schlag und der Inhalt über den Boden kollerte. Gorski verzog keine Miene. Es war, als sei er versunken in ein anderes Bild hinter dem, was er hier sah, und das war ein dreckiger Fußboden, auf dem eine Puderdose, Papiertaschentücher, eine Streichholzschachtel und ein Päckchen Präservative verstreut lagen. Margot, das Mädchen hinter der Theke, warf beide hinaus, und man hörte sie noch eine Weile vor der Eingangstür weiter zanken. Nach wie vor blieb völlig unklar, worum es eigentlich ging, wenn auch gelegentlich der Name eines Mannes namens Karl zu hören war. Dann kam eine wieder rein. Es war die mit der Handtasche. Draußen mußte es regnen, denn die Haare hingen ihr in nassen Strähnen vom Kopf. Raus, sagte Margot. Wieso denn?!, die mit der Handtasche. Margot: Raus. Die andre: Hör mal, ich will einen Kaffee. Raus. Das ist eine Bestellung! Margot mochte nicht. Einmal raus, immer raus. Sie hatte Prinzi-
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pien. Wo käm sie denn auch hin, ohne welche. Die Frau mit der Handtasche verlangte Karl zu sprechen. Margot zögerte. Karl schien ein heikles Thema zu sein. Der Zapfer hob den Kopf von seinen Karten, ließ Gorski noch ein Bier ein, blickte zu Margot und schwieg. Margot ging in die Verteidigung. Karl sei nicht da. Einer der kartenspielenden Zuhälter schüttelte den Kopf. Ruf ihn halt an, meinte er, aber frag ihn halt erst, ob er sie sprechen will, sonst ist er gleich sauer. Margot langte zum Telefon, wählte, redete leise und legte kurz darauf wieder auf. Karl wolle nicht telefonieren, er sei so sauer, daß er gleich selber runterkomme. Die andere fing von den vergangenen zehn Jahren an zu reden, die sie allesamt mehr oder weniger hier verbracht habe, und das sei nun der Dank dafür. Bevor Margot ihr Telefongespräch mit Karl noch weiter ausschmücken konnte, war Karl selber da. Er hatte ein blasses, nichtssagendes Gesicht und kurzgeschnittene flachsblonde Haare. Er trug Slipper, eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, das über der Brust offenstand. Er stellte sich einfach neben die lamentierende Frau und zog ihren Kopf an seine Brust. Sein Gesicht über ihrer Schulter zeigte einen gewissen Überdruß, war aber ansonsten ausdruckslos. Die Frau lamentierte an seiner Brust weiter und besabberte sein blütenweißes Oberhemd. Er ergriff sie am Genick, hielt sie ein Stück von sich weg und schüttelte sie. Sie wollte nicht leiser werden. Ach Scheiße, sagte Karl und schlug sie zu Boden. Dann winkte er einem von der Kartenrunde, und beide trugen die Frau nach nebenan.
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Gorski hockte verbissen maulfaul vor seinem Bier. Wir blieben nicht lange. In unserem Pensionszimmer legte sich Gorski sofort angezogen ins Bett. Ich machte die Fenster auf. Es war stockdunkel draußen. Der Verkehr rauschte irgendwo weit weg vorbei. Die Luft war nicht mehr staubig trocken, sondern kühl und frisch, und es roch wie nach Wasser und Grün. Auf dem Hof unten schrie ein Kind, und Gorski zog sich protestierend die Decke über den Kopf. »Die Wirklichkeit kann ganz schön verletzen, hast du das nicht gewußt?« Gorski antwortete nicht. Ich setzte mich an den Tisch. »Tu doch nicht so, als ob du schläfst«, sagte ich. »Ich will aber schlafen«, sagte Gorski. »Ich will nichts mehr sehen und nichts mehr hören.« »Ach, komm«, sagte ich, »so besoffen bist du doch gar nicht, und schließlich, was ist dir denn schon passiert?« »Er ist ein Faschist«, sagte Gorski, »ich hab dir immer gesagt: Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Es kommt darauf an, was damit erreicht werden soll.« »Ach, ja? Bei so einem Satz könntest du dich wenigstens grade hinsetzen, findest du nicht?« Er stieß mit einem wütenden Ruck die Decke weg und sah mich an. »Ich bin krank, ich will nach Hause«, sagte er. »Ich hör wohl nicht richtig? Und wovon willst du leben, wenn du jetzt klein beigibst? Zier dich doch nicht – du kannst bloß nicht sehen, wie man einem alten Mann wehtut.« Gorski stapfte zum Waschbecken. Er ließ sich kaltes
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Wasser über den Nacken laufen, bis sein Gesicht rot anlief. Er griff gebückt nach einem Handtuch und rieb sich trokken. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. »Hör mal zu«, sagte er. »Nein«, sagte ich, »du bringst mich nicht ab von dem Film.« Gorski sah mich nachdenklich an. »Na schön, Benjamin«, sagte er, »und was sollen wir jetzt deiner Meinung nach tun?« »Wir gehen jetzt auch mal einen alten Mann besuchen«, sagte ich. »Ich möchte mal wissen, wie so eine Schranke bedient wird. Wann und wie oft. Bei der Gelegenheit können wir noch mal in aller Ruhe die Strecke abfahren und einen Zeitplan für die Handlungen aufstellen.« Gorski langte nach seinem Trenchcoat. Im Flur dominierte wieder das kräftige Rauschen der Toilettenspülung, und Frau Kaminsky spielte eine zerkratzte Mario-LanzaPlatte. Wie blieben stehen und drehten uns wie auf Kommando um zum Telexzimmer, deren Tür sich knarrend geöffnet hatte. Der seltsame Herr Friedrich Müller stand auf der Schwelle und rülpste; er führte die Hand mit einer vergeblichen, langsamen Geste zum Mund und sagte: »Verzeihung, ist jemand verletzt?« Wir sahen uns an und blickten wieder zu Herrn Friedrich Müller. »Berlin ist doch ein Dorf, was?« sagte ich. »Wie meinen Sie das?« fragte er. Der Alkohol stand ihm bis dicht unter die Augen. Wir ließen ihn stehen. Frau Kaminsky drehte die Platte um. Als ich gerade losfahren wollte, sagte Gorski: »Moment«, und stieg noch mal aus
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und blickte unter die Kühlerhaube. Er drückte sie wieder runter und setzte sich in den Wagen. »Fahr los«, sagte er. »Du spinnst«, sagte ich, »was hast du denn gedacht, daß uns einer 'ne Bombe drunter klebt?« »Ich weiß nicht«, sagte Gorski, »dieser Müller ist nicht ganz astrein, und er hat gesagt: Ist jemand verletzt, nachdem er wer weiß was gehört zu haben glaubte.« Ich gebe zu, daß ich auch an so was gedacht habe.
16 Eine gute halbe Stunde später waren wir wieder an dem Bahnübergang, wo uns Spartas Leute am Tag abgefangen hatten. Natürlich verfuhr ich mich erst mal im Dunkeln. Gorski rauchte und drehte am Radio herum. Schließlich kamen wir auf die Schotterstraße. Sie war so gut wie unbeleuchtet. Die Schlaglöcher schüttelten uns im Wagen hin und her. Nach der Kreuzung fuhr ich auf Gorskis Wunsch ohne Licht im Schrittempo weiter. Am Himmel trieben dunkelgraue Wolken, und es ging ein unangenehmer, scharfer Wind. Wir bogen vor dem Bahnübergang ab auf dem Seitenweg und fuhren durch den Tunnel. Wir parkten den Wagen wieder an derselben Stelle. Ich zog den Zündschlüssel ab. »Ja«, sagte Gorski, »steck ihn lieber ein.« Draußen stieß uns der Wind ins Gesicht. Gorski trat seine Zigarette aus und sah zu, wie die Funken davonstoben. »Woher weißt du eigentlich, daß der Schrankenwärter ein alter Mann ist?« fragte er. 170
»Ich nehm's an.« »Wir sollten darauf achten, daß er uns nicht irgendwelchen Ärger macht«, sagte Gorski. »Laß uns gehen, ich friere schon.« Wir gingen zurück durch den Tunnel, auf der kleinen Seitenstraße bis auf die Schotterstraße, von dort zu den Schranken und dann am Bahndamm entlang auf das Bahnwärterhäuschen zu. Ich trat mit beiden Füßen in eine Pfütze, und die Kälte kroch mir die Beine hoch. Ich sah mich um. Die beiden Schranken standen wie mit Kettchen behängte schwarze Zeigefinger in den Himmel, der von den nächtlichen Lichtern der Stadt angeleuchtet war, eine helle Glocke aus Dunst. Weit weg rumorte ein Lastwagen. Dann ging ich weiter. Die den Geleisen zugewandte Seite des Bahnwärterhauses war schwarz vom Ruß der Lokomotiven. Der Efeu sah aus wie eine Zeichnung auf der verstaubten Wand. »Also los, Mann«, sagte Gorski. »Ich komm etwas später dazu.« Ich sah durch ein Fenster. Der Schrankenwärter war tatsächlich ein alter Mann. Er saß an einem Holztisch und schien zu lesen. Jetzt trat ich in den Lichtschein. Er muß aus den Augenwinkeln wahrgenommen haben, daß sich draußen etwas bewegte, denn er blickte erschrocken auf und stand auf. Ich ging zur Tür und klopfte. »Wer ist denn da?« rief er. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich, als sich die Tür öffnete, »darf ich Sie kurz sprechen?« »Was ist denn? Sie können doch nicht einfach …« »Ich weiß, es ist spät, aber ich werde es Ihnen erklären,
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ich habe nur ein paar Fragen.« Der Mann sah mich mißtrauisch an. »Was wollen Sie wissen?« »Wir schreiben ein Drehbuch für einen Spielfilm, der soll hier gemacht werden. Und darin spielt ein Güterzug und ein Bahnübergang mit Schranken eine Rolle. Damit alles stimmt in dem Film, erkundige ich mich nach den Einzelheiten – und das tut man bekanntlich am besten beim Fachmann …« »Auskünfte gibt die Bahndirektion, ich bin nicht befugt …« »Bitte verstehen Sie mich richtig«, sagte ich, »wir wollen keine amtlichen Informationen. Wir wollen wissen, wie Ihre Arbeit aussieht, was Sie so zu tun haben, wie Sie mit Ihrer verantwortungsvollen Aufgabe …« Der Mann sah mich immer noch mißtrauisch an, schien aber doch ein wenig zugänglicher zu werden. »Da gibt es nicht viel zu erklären«, sagte er, »ich bekomme die Streckendurchsage vom Fahrdienstleiter des Güterbahnhofes und kurbel dann die Schranken runter. Außerdem habe ich den Plan – aber Sie können auf bahneigenem Gelände nicht ohne Genehmigung der Direktion filmen.« Die Tür ging auf, und Gorski kam herein. Der Schrankenwärter schrak wieder zusammen. »Das ist unser Regisseur«, sagte ich, und Gorski streckte ihm die Hand hin. Der alte Mann nahm sie mechanisch und verzog keine Miene. »Der Herr hat mir eben gesagt, daß wir eine Genehmi-
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gung von der Direktion brauchen, wenn wir hier drehen wollen«, sagte ich. »Natürlich«, sagte Gorski, »darum kümmert sich Herr Westrum, unser Produktionsleiter.« Ein Wasserkessel fing an zu pfeifen. Gorski fragte: »Wann kommt eigentlich der letzte Zug?« »In einer Stunde, dann hab ich Schluß.« Er goß sich eine Tasse Pulverkaffee auf. »Er bringt mich um, dieser Kaffee«, sagte er, »aber bei meinem Dienstplan brauch ich ihn.« »Was sagt denn Ihre Frau zu so viel Nachtdienst?« fragte Gorski. »Ich bin allein«, sagte der Alte mißbilligend. »Im übrigen hab ich ab nächste Woche vierzehn Tage lang Morgendienst.« Gorski hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, aber der Alte schüttelte den Kopf. »Eins würde mich vor allem interessieren«, sagte Gorski. »Die Güterzüge, fahren die genauso pünktlich nach Fahrplan wie die Personenzüge?« »Was denken Sie denn«, sagte der Alte. »Die Güterzüge werden auf dem Güterbahnhof zusammengestellt. Da laufen die ganzen Werksanschlüsse zusammen. Und von dort geht's pünktlich ab. Über diese Strecken fahren sie Richtung Westkreuz, wo die meisten Züge dann über den Rangierbahnhof Grunewald ohne Aufenthalt in das Reichsbahnnetz geschleust werden. Das geht alles auf die Minute. Muß ja neben dem fahrplanmäßigen Personenverkehr und S-Bahn-Verkehr abgewickelt werden. Der
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Schrankenwärter schlürfte den heißen Kaffee. »Und wie lang sind die Züge?« fragte Gorski. »Zum Beispiel der um 11 Uhr 10.« »Hundert Achsen zirka.« »Das wären wieviel Wagen?« »Vierzig bis fünfzig, kommt auf die Größe an.« »Und die Geschwindigkeit?« »Maximal vierzig Stundenkilometer auf dieser Strecke. Aber meistens ist es weniger.« Gorski blickte aufmerksam im Zimmer herum. Das Telefon mit den Klingeln war an der Wand befestigt. Ein Gerät aus der Frühzeit des Fernsprechwesens. Die Kurbelanlage für die Schranken befand sich im Raum, auch sie war nicht allerjüngsten Datums; ein Emailschild mit einer römischen Ziffer war daran angebracht, wohl die Nummer des Übergangs. – »Das war's, was wir erst mal für das Drehbuch wissen mußten«, sagte Gorski. »Den Rest handelt die Produktion mit der Bahndirektion aus. Haben Sie vielen Dank, und einen schönen guten Morgen.« »Guten Morgen«, sagte der alte Mann und schloß hinter uns die Tür. Er drehte den Schlüssel um. Draußen sagte Gorski: »Es ist ziemlich dunkel, aber laß uns doch mal zurück zur Straße und zum Wagen rennen und auf die Uhr sehen dabei. Wenn das nicht zu lange dauert, hab ich eine Idee.« Wir liefen los, parallel zu den Geleisen die Böschung entlang, stolperten über die Schotterstraße, dann weiter am Bahndamm entlang bis zum Tunnel. Dort lehnten wir uns erschöpft und nach Atem ringend an die Wand. Gor-
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ski stellte hustend fest, daß wir nicht zu lange gebraucht hatten. Als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, sagte er: »Vorm Flughafen wird ein Jeepreifen angestochen, der Geldtransport fährt mit nur einem Jeep los; die zwei Typen fahren zum Bahndamm, einer steigt aus, geht ins Bahnwärterhaus, um die Streckenmeldung für den Güterzug anzunehmen und die Schranke zu betätigen; der andre fährt mit dem Wagen zurück zur Kreuzung, wartet dort, bis Jeep und Transporter die Kreuzung passiert haben, und leitet den nachfolgenden Verkehr mit einem Schild von der Schotterstraße ab; er fährt hinter den Konvoi, zweigt aber zum Tunnel ab und parkt dahinter den Wagen. Der andre im Bahnwärterhaus trennt mit der Schranke Jeep und Transporter voneinander; in dem Moment, wo die Schranke unten ist und der Zug kommt, kann er loslaufen zum Transporter auf der Schotterstraße und dort seinen Kumpel treffen. Sie müssen sich beide über die Zeitabläufe einig sein und sie einhalten. Die Schranke bleibt unten. Wenn der Zug vorbei ist, müssen sie schon längst in ihrem Wagen sitzen, verstehst du?« »Da hängt aber ein Wenn am andern«, sagte ich. »Vor allem: wer garantiert, daß Zug und Transporter zur gleichen Zeit eintreffen?« »Ungefähr kommt es hin. Die Maschine ist beide Male zur gleichen Zeit gelandet. Die Abläufe sind immer dieselben. Wenn der Transporter ein wenig früher kommt als der Zug, kann man ihn mit der Schranke aufhalten. Selbst ein paar Minuten Differenz kann man so ausgleichen.«
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»Und wenn er später kommt als der Zug?« »Dann haben unsere Jungs eben Pech gehabt. Dann geht's nicht!« »Kann man den Zug nicht mit einem Signal aufhalten?« »Ich habe hier keins gesehen, und man könnte es auch nicht vom Schrankenwärterhäuschen aus bedienen. Da müßte man schon einen dritten Mann im Güterbahnhof haben, der mitmacht, und dazu Sprechfunk. Nein, nein, viel zu kompliziert. Ein wenig müssen sie es schon drauf ankommen lassen.« »Der dritte Mann heißt Glück, was?« »Ja!« »Vielleicht ist es das, was Sparta davon abhält?« »Vielleicht!« »Wenn der Transporter zu spät kommt, können sie ja unauffällig verschwinden und es das nächstemal wieder versuchen!« »Das geht nicht!« »Warum?« »Wir können doch nicht alle vierzehn Tage den alten Mann da hinten knebeln.« Wir setzten uns in den Wagen. Ich dachte, daß es natürlich besser wäre, die Zündschlüssel steckenzulassen, um schneller wegzukommen; wenn ausgerechnet in den paar Minuten einer den Wagen klauen sollte – aber nein, das war zu abwegig. »Hast du Anna eigentlich noch mal gesehen?« fragte Gorski nach einer Weile. »Nein«, sagte ich. »So war das auch wieder nicht gemeint«, sagte Gorski.
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»Warum willst du mich beschwichtigen?« »Du bist verliebt«, sagte Gorski. »Nein«, sagte ich, »das bin ich nicht. Aber wenn es dir weiterhilft, ich war es. So was geht wieder weg.« »Ich will bloß nicht, daß du denkst, ich …« »Das denke ich nicht«, sagte ich. Der Wagen lärmte und polterte wie ein alter Trecker. Der Motor wurde unerträglich laut, und ich hatte keine Ahnung, was da alles schepperte und pfiff und ächzte. Aber schnell war er trotz allem noch, wenn man ihn erst mal auf Schwung gebracht hatte. Gorski kurbelte das Seitenfenster herunter, und plötzlich ballerte er mit seiner Pistole in die Dunkelheit. Sein Mantelärmel flatterte im Fahrtwind. Ich trat vor Schreck sofort auf die Bremsen, und der Opel wollte ausbrechen. »Bist du wahnsinnig geworden, Mann, oder was ist los mit dir?« »Fahr weiter«, sagte Gorski, »oder willst du uns die Polizei auf den Hals holen?« Ich fuhr weiter, und Gorski zog das Magazin aus der Pistole und sah nach, wieviel Schuß noch drin waren. »Die Luger hat eine sehr schnelle Automatik«, erklärte er. »Ehrlich«, sagte ich, »manchmal denke ich wirklich, du hast den kompletten Hammer, Mann. Was sollte das denn, was willst du?« Gorski schob das Magazin mit einem satten Klacken zurück in die Luger. »Was ich will?« sagte er, »was ich will? Ich will, was alle
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wollen, ich will weg, wie du gesagt hast, und jetzt will ich zwei Pässe, ich will nämlich genauso wissen, wie man an so was rankommt, und weißt du auch warum?« Er hielt atemlos inne und lachte wie verrückt und redete mit heiserer Stimme weiter: »Ab nach Chile will ich, wie du's gesagt hat, was denn sonst, Mann?« »Steck die Pistole weg«, sagte ich, »du machst mich nervös.« Gorski packte die Luger ins Handschuhfach. Der Motor hatte sich ein besonders faules Klingeln zugelegt. »Ab nach Chile«, sagte Gorski. »Wir beide. Ist das vielleicht komisch? Du brauchst keine Angst zu haben, wenn ich eine Waffe hab«, sagte Gorski. »Damit kann ich umgehen. Immer noch. Das gehört zu den Sachen, die man nicht verlernt. Das kannst du mir glauben.« »Wie spät ist es?« »Zwei Uhr?« »Gut, kümmern wir uns morgen früh um die Pässe«, sagte Gorski. »Und wie willst du das anfangen?« »Mal sehen.« »Es wäre ein gewaltiger Fehler, so was ohne Sparta zu machen. Er weiß doch bestimmt, wie und wo man sich falsche Pässe machen lassen kann. Ohne ihn dauert's länger, und wenn er's hinterher rauskriegt, und davon dürfen wir ja wohl ausgehen, sieht die Sache ein bißchen dumm aus für uns. Erst Pistolen ohne ihn; jetzt Pässe.« »Da sitzt dir wohl noch was in den Knochen«, sagte Gorski. »Warum sollen wir einen Haufen Risiken eingehen,
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wenn wir's einfach und schneller haben können?« »Weil es langweilig ist«, sagte Gorski. »Aber meinetwegen. Ruf ihn morgen früh an. Hinterherschnüffeln tut er uns wahrscheinlich so und so. Er spürt, daß es mich in den Fingern juckt, und ich sag, mich juckt's wirklich.« Mir war mehr nach Tief stapeln zumute. Keine Ahnung, wo er den plötzlichen Aufschwung hernahm. Ich hatte das Gefühl, daß unsere Probleme noch gar nicht richtig angefangen hatten, und am nächsten Morgen erklärte mir Gorski, er wolle den Film nicht mehr machen, und das ganz ernst und in aller Ruhe. Ich erwachte von einem leisen Klopfen. Es war so leise gewesen, daß ich nicht sicher war, ob ich es wirklich gehört hatte. Aber es hörte nicht auf. Ich angelte nach meiner Hose. »Herr Gorski, Herr Gorski«, sagte jemand gedämpft vor der Tür, aber Herr Gorski war entschlossen, noch nichts zur Kenntnis zu nehmen. Auf dem Flur stand Herr Müller. Er hatte einen Dreitagebart und lief aufgeregt vor mir her in das Telexzimmer. »Herr Gorski. Sind Sie Herr Gorski?« fragte er keuchend. »Jaja«, sagte ich. »Was ist denn?« »Ein Telex aus Köln für Sie«, sagte er. »Es kommt gerade an.« Das Zimmer war in der Zwischenzeit aufgeräumt worden; es roch nach Knoblauch, Debreziner-Würstchen und billigem Schnaps. Der Apparat tickerte eine Papierschlange aus. Wir sahen einen Augenblick lang zu. Dann riß Herr Müller den Papierstreifen ab. »Sie müssen aber vorher den Empfang quittieren«, sagte
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er und hielt mir ein Eingangsheft hin. Wir waren die einzigen hier, die den Apparat bisher beschäftigt hatten; einmal mit der Adresse für Dr. Prott und jetzt mit seiner Antwort. Ich hielt Müller das Eingangsheft hin und nahm ihm die Papierschlange aus der Hand. »Moment«, sagte er, »Sie sind ja gar nicht Herr Gorski.« Ich ging hinaus, und er lief hinter mir her. »Hallo, Sie! So geht das nicht! Ich kann ihre Unterschrift nicht lesen, wie heißen Sie denn?« Ich sagte es ihm und machte die Tür hinter mir zu. Gorski saß auf der Bettkante und rauchte. Auf dem Fußboden, neben Socken und Schuhen, stand eine halbleere, offene Mineralflasche. Gorski sah mich stumm an. Ich setzte mich in einen Sessel und las den Telextext vor: »film akzeptiert stop etat 700000 stop solide arbeit stop gute wuensche fuer drehbuch stop zweimal je zweitausend mark angewiesen stop gutes gelingen ihr walter prott stop.« Ich ließ das Papier fallen und sah Gorski an. »Und was machen wir jetzt?« fragte er. »Jetzt machen wir das genaueste Drehbuch, das wir je hatten.« »Drehbuch«, sagte Gorski, »Scheiße. Film. Nicht besser. Von dem Etat muß ich ja wohl wieder kleine Brötchen backen.« »Wenn du schlecht geschlafen hast«, sagte ich, »dann wende dich mal langsam dem Tag zu und komm mir nicht schon am frühen Morgen mit dieser abgefackten Tour.« »Worauf wartest du noch?« fragte Gorski. »Geh ihn schon anrufen.«
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Ich war schon an der Tür, da sagte er noch etwas. »Glaubst du, Sparta hat uns den Coup wirklich zugetraut?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, daß er sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen lassen wird. Auch nicht von uns.« Im Flur war es schummrig wie immer, die Wasserspülung rauschte, es roch nach Erbsensuppe, und Friedhelm Strunkmann telefonierte mit seinem Vater. Es konnte nur seine Freundin oder sein Vater sein, denn er kam kaum zu Wort. Friedhelm Strunkmann sah mich hilflos über den Telefonhörer hinweg an. Er verdrehte die Augen und zuckte gleich anschließend die Achseln, während seine rechte Hand zur linken Achselhöhle fuhr und kratzte. Er war überhaupt immer in Bewegung. »Ja, Vater«, sagte er in den Telefonhörer, »Vater, ich muß jetzt wirklich aufhören, hier wartet schon jemand auf das Telefon, und die Rechnung …« Er hörte wieder zu und drehte mir den Rücken zu. Frau Kaminsky kam durch den Flur und flüsterte mir zu: »An Ihrer Stelle würde ich gar nicht warten, Herr Benjamin. Wenn Herr Strunkmann mit seinem Vater spricht, das dauert seine Zeit.« Ich dachte, das beste ist wohl, ich gehe erst mal wieder ins Zimmer, dann ist er bestimmt gleich fertig. So war es dann auch. Kaum hatte ich die Türklinke in der Hand, da hängte Herr Strunkmann ein. Sein Gesicht war immer noch rot angelaufen. »Hast du noch'n Vater?« fragte er.
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»Nein«, sagte ich. »Dann kannste aber froh sein«, sagte er. »Wieso?« »Was?« »Ach nichts«, sagte ich. »Ich muß jetzt telefonieren.« Friedhelm Strunkmann zog ab in die Küche, wahrscheinlich, um Frau Kaminsky zu berichten. Ich suchte die Telefonnummer aus meinem Notizbuch und wählte Sparta an. Beim sechsten Klingeln wurde abgenommen. »Ja?« Es war eine Mädchenstimme. »Ich möchte Sparta sprechen«, sagte ich. »Wer ist denn da?« »Benjamin.« »Benjamin?« Sie kicherte. »Was zum Teufel ist daran komisch?« »Ach nichts«, sagte sie, »ich mußte grad an was denken. Sind Sie überall so klein wie Sie heißen?« »Kommen Sie doch nachsehen.« »Oui«, meinte sie abfällig und dann wurde der Hörer zugehalten. Als nächstes sagte eine Männerstimme: »Ja?« »Sparta?« fragte ich. »Langsam«, sagte die Männerstimme. Da er seinen Namen nicht sagte, wußte ich nicht, wer er war. »Wer ist denn dran?« fragte er. »Das hab ich doch eben schon mal gesagt. Benjamin.« Darauf trat eine Pause ein, und ich befürchtete schon, er hängt ein. Aber dann redete er doch weiter. Seine Stimme war aufmerksam geworden. »Benjamin heißen viele.« »Mein Gott«, sagte ich, »ich will doch nur mit ihm sprechen, weiter nichts.«
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»Erst müssen sie mir Ihren vollständigen Namen sagen, dann geht die Sache klar.« »Sparta kennt mich. Nun sagen Sie ihm schon Bescheid.« Wieder Pause. »Hallo«, sagte ich. »Sind Sie noch da?« »Tatsächlich«, sagte der Mann plötzlich. Seine Stimme war völlig verändert. Sie war freundlich. »Wir haben uns schon mal gesehen im KÄNGURUH. Sie nennen mich Petchen.« »Oh«, sagte ich, »ja, ich erinnere mich. Wissen Sie, ich habe nur angerufen, weil ich Sparta sprechen muß, und zwar wirklich dringend.« »Der Mörder kam am dritten Tag«, sagte er. »Ich hab sie alle gelesen. Sparta gibt sie mir immer, wenn er sie aus hat. Bei anderen Schriftstellern muß ich immer zuerst lesen und ihm dann sagen, ob es gut ist oder nicht. Nur Ihre Bücher, die liest er immer zuerst. Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Haben Sie ein neues Buch geschrieben?« »Nein«, sagte ich. »Warum nicht.« »Ich hab nicht genug Geld verdient damit, und im Augenblick fehlt mir ausgesprochen die Zeit dafür, verstehen Sie?« »Verstehe«, sagte Petchen. »Einen Moment.« Und dann hatte ich Sparta am Telefon. Seine Stimme war wie immer, nur nicht ganz so freundlich. »Hallo«, sagte er, »du willst mich sprechen?« »Ja«, sagte ich. »Mann, ich weiß gar nicht, wie ich's dir
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erklären soll, damit du nichts Falsches dabei denkst.« »Das überlaß nur mir. Sag mir, worum es geht.« »Ich bin nämlich beim Drehbuch in einer entscheidenden Phase der Vorbereitung des Coups. Die beiden Typen haben sich Waffen besorgt …« »… eine Waffe«, sagte Sparta. »Sie haben sich eine Waffe besorgt«, sagte ich weiter, »und sie haben sich einen Zeitplan für den Hergang der Tat ausbaldowert. Jetzt überlegen sie sich, ob sie auch nichts vergessen haben. Dabei kommen sie auf einen Punkt, den sie bisher völlig außer acht gelassen haben. Sie hatten es tatsächlich vergessen.« »Die Flucht«, sagt Sparta. »Mann, so ist es«, sagte ich. »Pässe«, sagte Sparta. »Ich bin platt«, sagte ich. Das war bewußt übertrieben. »Ihr wollt wieder mal wissen, wie es wirklich geht.« »Ja«, sagte ich. »Ich versteh das ehrlich gesagt nicht«, sagte Sparta. »Du erfindest doch sonst gute Geschichten. Warum mußt du auf einmal wie ein Amateurganove durch die Gegend laufen?« »Wie was?« »So sieht's doch aus«, sagte Sparta. »Wir haben heute eine Zusage vom Fernsehen bekommen. Jetzt muß ich schnellstens das Drehbuch machen.« Pause. »Oder glaubst du etwa, es geht um was andres?« »Glauben tu ich gar nichts«, sagte Sparta. »Für mich zählt nur, was ich sehe oder höre.«
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»Drum wende ich mich ja gleich an dich.« Pause. »Hast du was zum Schreiben?« fragte Sparta. Ich hielt den Kassetten-Rekorder an die Muschel. »Ja«, sagte ich. »Das hab ich mir gedacht. Dann leg das Schreibzeug mal schön wieder weg und merk dir die Adresse so, das wirst du ja wohl noch schaffen: Potrafke, Kohlfurter Straße 3, Kellergeschoß.« »Vielen Dank«, sagte ich. »Können wir da jetzt gleich hingehen?« »Nein. Nicht vor heute abend sieben Uhr. Und dann vergeßt ihr die Adresse sofort wieder, klar?« »Klar«, sagte ich. Er legte auf. »Potrafke, Kohlfurter Straße 3, Kellergeschoß«, murmelte ich vor mich hin. Ich ging in die Küche, um mir von Frau Kaminsky den Hausschlüssel zu holen. Frau Kaminsky hielt gerade einen längeren Monolog über die Bedeutung des Geldes und besonders über die Schwierigkeit, mit selbstgemalten Bildern welches zu verdienen. »Schröder-Sonnenstern ist auch erst als Greis berühmt geworden«, erklärte sie. »Und für verrückt erklärt haben sie ihn auch vorsichtshalber, damit er nur ja nichts hat von dem ganzen Geld.« Herr Strunkmann ist fünfundzwanzig. Er löffelte einen Joghurtbecher leer. »Ach, Ihr Schlüssel«, sagte Frau Kaminsky zu mir. »Ich hab ihn vorn auf den Briefkasten gelegt.« Gorski stand schon im Mantel im Flur und wartete. »Na, wie war's?« fragte er.
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»Ich bin mit vielen nützlichen Erfahrungen fürs Leben ausgerüstet«, sagte ich. »Und das heißt?« »Potrafke, Kohlfurter Straße 3, Kellergeschoß«, sagte ich, »aber nicht vor heute abend.« Draußen auf dem Bürgersteig waren die kleinen Mädchen wieder bei einem Hüpfspiel. Gorski blieb stehen und sah ihnen zu. »Ich weiß jetzt, was wir falsch gemacht haben, als wir uns die Pistole besorgten. Man muß die Regeln gut kennen, wenn man sich darüber hinwegsetzen will. Wir sind einfach so drauflos marschiert, das war unser Fehler.« »Gut, daß wir bei der Paßgeschichte Sparta im Rücken haben«, sagte ich. »Ganz recht, wir haben ihn im Rücken«, sagte Gorski. »Jedes Ding hat eben seine zwei Seiten.« Wir stiegen in den Opel, und ich ließ den Motor an. »Hunger«, sagte ich. »Seltsam.« Gorski sah mich nachdenklich von der Seite an. »Sowie du weg bist aus deinen eigenen vier Wänden, hast du Hunger.« »Ich verbrauch eben viel.« »Ja«, sagte Gorski. »Ich auch. Ich werde den Film machen, aber zu meinen Bedingungen. Ich verbrauch eben viel. Das Gejammere von wegen Überziehen kann mich nicht mehr beeindrucken. Ein guter Film kostet eben was, sonst kann er nichts werden. Schluß mit finanziellen Kompromissen. Was ist mein Etat im Vergleich zu den Berufsgenies Visconti und Fellini oder Hitchcock. Glaub ja nicht, daß die nicht überziehen. Und schadet das viel-
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leicht ihrem Ruf? Haben sie deswegen vielleicht mehr Schwierigkeiten, den Etat für den nächsten Film zu bekommen? Große Künstler sind große Fanatiker. Man muß sie nehmen wie sie sind. Meine scheinbare Vernunft, wenn sie mir den Arm um die Schultern legen und mir erklären, warum nun doch weniger als geplant da ist für den Film und daß ich damit eben auskommen müsse, schließlich sei das immerhin noch besser, als den Film überhaupt nicht zu machen! Mit dem guten Gorski kann man ja reden. Konnte man! Arm um die Schultern und so!« Die Stimme unterdrückt, vertraulich, wir beiden, war Gorski, an meinem Ohr. »Jetzt, Benjamin, geh ich anders lang. Wir werden einen großen, schönen Film machen. Ich werde den Rasen betreten!« Er strahlte mich an. »Na, was sagst du?« »Ich bin ergriffen.« »Gut«, sagte Gorski, »jetzt werde ich Prott anrufen und ihn mit den neuen Tatsachen vertraut machen.« Er war beängstigend in Form. Dabei hatte der Tag grade erst angefangen.
17 Gorski behielt seine neugewonnene Aggressivität über das Frühstück hinaus. Er liebt die unterdrückte Raschel- und Räusperatmosphäre in Cafes. Ich sah mich um in dem Raum. »Schnupper nicht so in deinen Erinnerungen herum«, sagte er. »Erzähl's lieber gleich, weil anschließend ernsthaft gearbeitet wird.« 187
Er kaute Brötchen mit Ei, und sein Blick irrte teilnahmslos über das satinbespannte Hinterteil der Kellnerin. »Fernfahrer«, sagte ich, »für mich war das früher so was wie Cowboy. So bin ich in den Schulferien nach Berlin gekommen. Morgens um drei ab Herford mit einem Milch-LKW. Die Fahrer nahmen gelegentlich Kinder für zwanzig oder fünfundzwanzig Mark mit, mehr war es bestimmt nicht. Abends kam ich in Berlin an und saß in so einem Cafe. Ich erinnere mich an einen Fahrer, der war freundlich und redete mit mir während der ganzen Fahrt. Der andere war stumm; wenn er nicht fuhr, schlief er hinten in der Koje des Führerhauses. Der mit mir redete, war jung, und einmal, beim Tanken an der DDR-Grenze, hob er zum Spaß ein LKW-Reserverad hoch, nur um mir zu zeigen, wie stark er war. Ich hab nie wieder einen Menschen mit ähnlich dichtem Haarwuchs getroffen; er hatte schwarze Haare, und sie wuchsen ihm in Büscheln bis zu den Fingernägeln. Ich war grade fünfzehn und rauchte englische Zigaretten, Players Navy Cut oder Senior Service, die ich bei englischen Soldaten eingetauscht hatte für deutsche Bikinimagazine.« »Und wo hattest du die her?« »Die hab ich geklaut.« »Du hast natürlich heute noch ein schlechtes Gewissen, wenn du daran denkst«, sagte Gorski. Er winkte die Kellnerin heran und zahlte. Im Wagen ging es weiter. Gorski konnte kaum stillsitzen. »Machen wir erst mal die Paßfotos«, sagte er. Wie willst du heißen?«
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Ich sah ihn ratlos an. »Na, was ist«, sagte Gorski, »wie willst du heißen? Hast du nie ein Pseudonym gehabt?« »Nichts von früher«, sagte ich. »Es muß ein ganz neuer Name sein, sonst ist es kein richtiger Anfang.« »Hauser. Nikolaus.« »Für wen?« »Für dich.« »Ausgeschlossen«, sagte ich. »Viel zu hochgestochen. Unglaubwürdig.« Gorski rieb sich das Kinn. »Warte mal. Ich hab eine bessere Idee, wie wir auf was kommen.« Er zog einen Autoatlas aus der Türtasche, schlug ihn auf und vertiefte sich in den Kartenausschnitt der Mark Brandenburg. »Die besten Namen gibt's in der DDR. Wie wär's mit Bantikow. Klaus Bantikow. Das ist doch schon seriöser.« »Kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Warum nicht?« »Ich kannte mal einen, der hieß so.« »Und?« »Ich konnte ihn nicht leiden.« Gorski sah mich mißtrauisch an. »Ein Name muß doch genau sein«, sagte ich, »ich kann mich doch schlecht Goliath nennen, verstehst du?« Gorski klappte den Autoatlas zu und starrte aus dem Fenster. »Ich hab's«, sagte er. »Du heißt Trantow. Mit W hinten; ein kleines Extra muß schon sein.« »Robert Trantow. Nicht schlecht.«
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»Fahr mal Richtung Norden«, sagte Gorski. »Warum?« »Wirst schon sehen.« »Paßbilder machen wir am besten im Bahnhofsfotomaton.« »Das geht auch woanders«, sagte er. »Tu mir den Gefallen.« »Wolfgang Viola«, sagte ich. »Du heißt Dr. Wolfgang Viola.« »Meinerwegen«, sagte Gorski. Die Gegend wurde ländlicher. Die Straße war aus Kopfsteinpflaster, und die Häuser, bis auf die klobigen Neubauten, verwinkelt, alt, mit Schindeldächern. Kleine Ladengeschäfte; Drogerien, ein Fischladen, ein Kolonialwarenhändler, ein Milchladen, Schuhmacher, eine Gemüsegeschäft mit einer Kastanie davor. Nur in der Nähe der Neubauten Supermärkte und chemische Reinigungen. »Hier halt an«, sagte Gorski, und wir stellten den Wagen vor einer kleinen Drogerie ab. Das Schaufenster war vollgepackt mit lauter billigen Fotoapparaten. Neben der Drogerie, eingelassen in dem Zwischenraum zum nächsten Haus mit der Gemüsehandlung im Kellergeschoß, war eine der üblichen Fotomatenbuden mit schwarzem Vorhang. Gegenüber auf der anderen Straßenseite zog sich eine Reihe von zehn aneinandergeklatschten Mietshäusern hin; die Fassaden waren grau und abgeblättert. Sogar die Toreingänge zu den Hinterhöfen und Kellerwohnungen sahen gleich aus. Das Kopfsteinpflaster der breiten Hauptstraße, die kleinen Einzelhandelsgeschäfte, die
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bepflanzten Eisenbalkons der Mietshäuser zur Straße hin, eine fast geometrische Reihe von Blumenkästen, Schnittlauch und Eigenbaupetersilie, machten eine geruhsame träge Stimmung wie auf dem Land. Wo die Mietshäuser endeten, fingen ein paar unkrautbewachsene Ruinen an. Weiter weg hörte die Straße einfach auf; eine große unbebaute Fläche war schon mit Zäunen abgeteilt, und mehrere hohe Schilder wiesen auf Bauvorhaben hin. Kaum fünfzig Meter vom Fotomaten entfernt, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, fand ein Nachmittagsstrich statt; vielleicht war in der Nähe eine größere Firma, die jetzt Mittagspause machte. Es waren acht oder neun Frauen. Zwei waren auffallend jung. Sie standen in einem Abstand von ein paar Metern auf dem Bürgersteig. Eine lehnte an einem Treppenaufgang. Ein älterer blauer Volkswagen schlich die Straße entlang und hielt mit laufendem Motor. Eine Frau schaukelte auf den Wagen zu und blickte hinein. »Geh rein«, sagte Gorski, »ich warte hier.« Während ich mich innen anblitzen ließ, hörte ich von draußen seine nervösen Schritte. Gorski hatte keine Mark und mußte erst eine suchen. Dann verschwand er hinter dem Vorhang. Ein paar Sekunden später riß ich den Vorhang auf. »Triffst du dich eigentlich heimlich mit Anna?« fragte ich. Er wandte den Kopf zu mir und sah mich mit erstaunten Kinderaugen an. Die Automatik blitzte. »Nein«, sagte Gorski und blickte wieder vorschriftsmäßig in die Linse. »Sag die Wahrheit, Pole.«
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Wieder ruckte sein Kopf herum. »Du bist eifersüchtig«, sagte Gorski. »Du hast Probleme. Mir kannst du alles erzählen, ich bin dein Freund.« Er versuchte, rechtzeitig den Kopf zurückzudrehen, aber der Blitz erwischte ihn mitten in der Bewegung. »Du lügst«, sagte ich. »Du hast dich schon so dran gewöhnt, es macht keinen Unterschied mehr. Auch wenn du die Wahrheit sagst, klingt es wie eine Lüge. Möglich, daß du sie wirklich nicht gesehen hast. Dein Ja oder Nein beantwortet die Frage nicht mehr. »Das ist nicht wahr«, sagte Gorski. »Außerdem hast du mir die ganzen Fotos vermasselt.« »Wenn sie verwackelt sind, hab ich recht.« »Ach, lies doch deinen Kaffeesatz allein.« Gorski drehte sich um. »Guck mal, wer da kommt«, sagte er übergangslos. Zwei Polizeiwagen, grüne Minnas, angeführt von einem Funkstreifenwagen, krochen wie mechanische grüne Käfer die Straße entlang. Ich hab immer gedacht, die kommen mit quietschenden Bremsen, Sirenen und dem Klackern schneller Stiefelabsätze auf dem Pflaster, aber die hier krochen so lautlos und langsam heran, als wollten sie gerade damit Unentrinnbarkeit demonstrieren. Wohin sollte man ihnen von hier aus auch entkommen. Gorskis Bilder rutschten in den Schlitz des Automaten. Natürlich waren alle verwackelt. Die Polizeiwagen hatten angehalten. Ein Polizist war im Funkstreifenwagen sitzengeblieben. Sein Beifahrer lehnte draußen am Wagen und sah zu, wie seine Kollegen die Frauen in die grünen Minnas verfrachteten. Die meisten
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stiegen widerstandslos ein. Ein paar Omas lehnten auf Kissen in den Fenstern und sahen unbeteiligt zu. Zwei Polizisten führten eine Frau ab, die sich in einem Toreingang versteckt hatte, und als sie sich umgedreht und von der Einfahrt abgewandt hatten, lief eine andere Frau mit Stöckelschuhen über die Straße auf den Automaten zu. Als sie den Bürgersteig erreicht hatte, wußte sie nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte. Ich winkte sie heran. Sie schüttelte den Kopf und deutete zu den Polizisten rüber, aber ich nahm sie beim Arm und schob sie hinter den Vorhang. »Besuch für dich«, sagte ich zu Gorski und stellte mich vor den geschlossenen Vorhang. Einer der beiden Polizisten, die eben die Frau aus der Toreinfahrt abgeführt hatten, kam über die Straße auf mich zu. Er hatte ein frisches, rotes Gesicht und trug dunkelblonde, lange Koteletten, die auf den Wangen sorgfältig ausrasiert waren. »Hier war eben eine Frau«, sagte der Polizist. Ich sah ihn höflich an. »Ja?« »Ohne Zweifel«, sagte der Polizist, »und Sie haben sie da reingeschoben.« Er deutete auf den Vorhang. »Sagen Sie ihr, sie soll rauskommen.« Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Das geht leider nicht.« »Hören Sie«, sagte der Polizist. »Sie machen sich strafbar, wenn Sie eine polizeiliche Maßnahme behindern.« »Ich behindere Sie nicht, Sie irren sich. Die Dame, die eben tatsächlich zu uns gestoßen ist, hatte sich verspätet. Sie war mit ihrem Verlobten verabredet, der sich bereits in
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der Kabine befindet, um ein gemeinsames Foto herzustellen für die Schwiegermutter der Dame, der Mutter des Verlobten also, deren Besuch für die Kaffee- und KuchenZeit erwartet wird. Sie sehen sich zum erstenmal, und das Paar will sie mit einem Foto überraschen, verstehen Sie?« Ich glaub, er hat gar nicht richtig zugehört. Er sah mich von oben bis unten an und blickte sich ständig um nach seinen Kameraden. Die andern Polizisten verteilten sich bereits wieder auf die beiden Wagen, und da keine Frau mehr auf der Straße zu sehen war, fragten sie sich vielleicht schon, was ihr Kollege denn da mit wem zu reden hatte, und kurz darauf, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschierte er zurück über die Straße zu den anderen. Die Kolonne rückte ab. Ich wartete, bis sie völlig verschwunden war. »Ihr könnt rauskommen.« Gorski schob die Frau raus und blieb sitzen. »Ich Versuchs jetzt zum drittenmal«, sagte er. »Gib mir mal 'ne Mark dafür, daß ich dich gerettet hab.« Er bekam sie wortlos. »Nun unterhalte dich doch mal ein bißchen mit der Dame«, sagte Gorski und zog den Vorhang wieder zu. »Haben Sie vielleicht eine Zigarette?« fragte die Frau. Ich hielt ihr die Schachtel hin, und sie ließ sich mit schräggestelltem Kopf Feuer geben. Die Bewegung ihrer rechten Hand, mit der sie sich die Haare aus dem Gesicht hielt, geschah wie von selbst. Mit den Fingern der linken Hand hielt sie die Zigarette. Sie ließ die Haare los, warf sie mit einer Kopfbewegung über die Schultern zurück und blies über mich hinweg den Rauch in die Luft.
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»Vielen Dank«, sagte sie und sah mich abwartend an. »Das war eine gute Idee.« »Kommen die öfter hierher?« »Manchmal weiß man's vorher, manchmal nicht. Gefalle ich Ihnen nicht?« »Mach nur«, rief Gorski hinterm Vorhang, »ich hab Zeit.« »Wer nicht will, der hat schon«, sagte sie. »Trotzdem vielen Dank.« Damit ging sie über die Straße zur Toreinfahrt. Mitten auf der Straße blieb sie stehen, um einen verrutschten Schuh abzustreifen und wieder anzuziehen, und das sah nun wirklich unheimlich gut aus. Gorski betrachtete kritisch seine neuen Bilder. »Wie aus der Fahndungskartei«, sagte er, »aber vielleicht müssen die so sein. Hör zu, ich muß jetzt mal ein paar Stunden allein sein. Weiterdenken. Vielleicht willst du auch mal ohne mich was machen. Wir können uns ja dann bei dem Paßkünstler treffen, um sieben. Wo war das doch gleich?« »Potrafke, Kohlfurter Straße 3, Kellergeschoß.« Gorski schrieb sich die Adresse ins Notizbuch. »Soll ich dich irgendwo hinbringen?« fragte ich. »Ja. Fahr mich irgendwo ins Zentrum. Da kann ich mich dann auch mal in eine Kneipe stellen.« Während der Fahrt legte Gorski unsere beiden Fotostreifen ins Handschuhfach. Die Pistole lag noch drin. Ich machte das Radio an; irgendein Tanzorchester war gerade dabei, Something von George Harrison den Garaus zu machen.
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Ich machte das Radio gleich wieder aus, weil es ein so schönes Lied ist. »Ich laß dir den Wagen«, sagte ich irgendwo unterwegs und hielt an. Es war die typische Stadtrandgegend mit dem Duft nach Sand und Harz. »Ich will ein bißchen laufen.« »Vielleicht treffen wir uns vorher«, sagte Gorski und rutschte auf den Fahrersitz, »um halb sieben. In der Kneipe, wo der Franz ist. Falls ich nicht da bin, gehst du gleich in die Kohlfurter Straße, okay?« Meine Erinnerung, das waren lange Zeit ausschließlich Bilder von Orten, wo ich als Kind gewesen bin. Bilder mit Gegenden wie dieser hier am Rand von Berlin. Bilder aus der Umgebung von Brandenburg, Neuruppin, Kyritz, Neustadt und Wusterhausen an der Dosse. Flache, sandige Landschaften mit Kiefern, Nadelgehölz, Wasser. Ich erinnere mich an breite, gewölbte Kopfsteinstraßen, gelegentlich mit einem Brunnen in der Mitte, vorm Rathaus, aber vielleicht war es doch nur eine Pumpe, die wegen des Wassermangels nur in den letzten Kriegsjahren benutzt wurde. Diese Rumpelstraßen mit ihrem schüchternen, nicht ausrottbaren Unkraut in den Steinritzen und tief getretenen Bürgersteigen. Steinig, staubig, schläfrig. In dieser Gegend kommt es vor, daß Männer fortgeschrittenen Alters, statt sich zur Ruhe zu setzen, mit dem Schreiben dickleibiger Romane und Novellen beginnen. Mein Großvater behauptete, der Blick über die weiten, flachen Ebenen der Mark Brandenburg eröffne den Blick in sich
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selbst; das mag ein alter Mann sagen, für junge Dichter muß es schlimm gewesen sein. Da hat mal einer gewohnt in Kost und Logis bei meinem Großvater. Referendar bei der Stadtverwaltung war er. Student der Jurisprudenz, zu Zwecken der Praxis in ein Nest der Mark Brandenburg kommandiert. Denen kam er grade richtig, ein Studierter. Aber es war nicht nur das. Der junge Mann war ein Kerl wie ein Baum mit einem runden Bauernschädel. Nur seine Augen, die waren wohl nicht bäuerisch – aber was soll man sich schon unter bäuerischen Augen vorstellen? Bald waren seine nächtlichen Sauftouren berüchtigt, und die jungen Mädchen umklammerten wohl auch schamhaft hoffend ihre Rocksäume, wenn er ihnen in der Mittagspause begegnete, unter sehr gepflegten immergrünen Bäumen an der buckligen Hauptstraße, und nicht etwa heimlich. Seinen nächtlichen Eskapaden waren natürliche Grenzen gesetzt; die Zahl der Lokale konnte ohnehin nicht mit der von Brandenburg konkurrieren oder der von Groß-Berlin, und schließlich hatte man auch seine preußisch-pünktlichen Polizeistunden, welche die abendlichen Bürgervergnügen in Grenzen hielten. Dennoch soll er abends nicht selten durch sein Gerumpel und Gemurmel auf der Treppe das neunjährige Mädchen aufgeweckt und erschreckt haben, das später meine Mutter war. Der Weg vom Flur über die Treppe bis hinauf in seine Dachbodenkammer sei so lang gewesen wie zwei Vaterunser. Er war ein baumlanger Kerl, der junge Herr Referendar, und bärenstark; sogar Amateurboxkämpfe werden ihm nachgesagt. Es war nicht viel zu machen mit den Mädchen im
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Ort; da war alles wohlbehütet, selbstgestrickt und früh versprochen bis auf die paar, die sich nicht fügen mochten, aber die gingen in die nächstgrößere Stadt in die Lehre oder in die Fabrik. In seinen wenigen und kurzen Ferien fuhr er weg. Er explodierte anderswo und verliebte sich jedesmal mit selbstzerstörerischer Endgültigkeit. Geschlagen, ohne das Ziel seiner Wünsche je wirklich erreicht zu haben, mußte er wieder zurück zu den Akten, zurück in Standesdünkel und Ordentlichkeit. Diese Welt hatte er längst so durchschaut, daß es ihn peinigte. Für ihn muß der friedliche, verschlafene Ort die Hölle gewesen sein. Seine wirklichen Entladungen waren einsam. Sie geschahen in seinem Dachbodenzimmer oder auf langen Spaziergängen um den See. Es waren Gedichte. Im Rathaus, wo er arbeitete, wußte niemand etwas davon. Nun soll Gedichteschreiben für junge Männer seines Alters nichts Außergewöhnliches sein – seine Gedichte aber hatten mit den Gedichten seiner Zeit nichts zu tun. Sie waren mit nichts zu vergleichen. Er war eine pure Begabung. Er hatte von niemandem etwas. Mit seinem ersten veröffentlichten Gedicht war er schon ein Beeinflusser, ein neuer Maßstab. In seinem ersten Gedichtband redet er von Unheil, Feuer, Krieg, von allgegenwärtiger Bedrohung und von Schönheit und Reinheit, die immer verloren oder unerreichbar sind. Er hätte eine Stimme werden können für andere in seiner Zeit; sein zweiter Band trug schon den Untertitel: nachgelassene Gedichte. Dieser junge Mann lebte in einer Zeit, in der es selbstverständlich war, daß ein Sohn sich dem Willen des Vaters fügte; er begann Studium
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und Juristenlaufbahn wider seinen eigenen Willen. Er führte es nicht zu Ende. Er ertrank mit einem Freund beim Schlittschuhlaufen auf einem der winterlich zugefrorenen Seen. Das Eis war zu dünn gewesen. Womöglich sind die beiden ertrunken bei dem Versuch, sich gegenseitig zu retten. Ein Verlag hat später sein Tagebuch herausgegeben, und ich habe seine Beschreibung des Ortes verglichen mit Familienfotos (der Motorradclub in voller Montur vorm Ausflug auf dem Rathausplatz, der ältere Onkel mütterlicherseits auf der Horex; das Tanzstundenkränzchen an der Seepromenade, Hintergrund Tennisplatz, Forsthaus) und mit meiner eigenen nachlassenden Erinnerung.
18 Der Fünfuhrverkehr war in vollem Gange, als ich aus der U-Bahn Bülowstraße kam. Der Himmel war noch einigermaßen hell, und das verblassende Tageslicht vermischte sich mit dem Schein der Straßenlampen und den glänzenden Neonschriften und den Ampeln zu einem synthetischen Leuchten. Die Ampeln schalteten auf grün, die Wagen fuhren an und verschwanden unter dem Bülowbogen. Ich blickte hoch zu den Eisenstäben der U-BahnBrücke, und das Bild rastete ein: Ich spürte wieder die Naßkälte um vier Uhr morgens, ich saß auf einem Holzkoffer und sah die Gleise entlang, wie sie aus der Bahnhofshalle herausführten. An den Seiten waren die Eisenstreben der Brücke, die sich im Nebel verloren, und 199
der Zug wollte nicht kommen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gewartet hatte, irgendwann muß der Zug dann doch eingelaufen sein, geblieben ist nur das Warten und das Frieren und die Brücke. Ich erinnere mich, wie ich mir als Kind bei einem bestimmten Ereignis oder Erlebnis irgendwelche Nebensächlichkeit einprägte, als ob ich sie über die Zeit hinweg bewahren wollte, um an ihnen das Wichtigere festzumachen. Der Verkehr war sehr laut. Ich wollte wissen, wie spät es war, und blieb vor dem Schaufenster des Uhrengeschäfts auf der anderen Straßenseite stehen. Aber die Uhren gingen alle anders und die meisten überhaupt nicht. Ich ging am ATLANTIK vorbei und sah wieder die Einbeinige auf dem steinernen Fenstervorsprung, und die Krücken lehnten daneben an der Wand. Sie war allein. Sollte ich das Bild ins Drehbuch nehmen. Nein, es war aufdringlich und falsch. Nichts stimmte hier. Ich ging weiter und schämte mich, daß ich stehengeblieben war und das, was ich gesehen hatte, zu etwas anderem hatte benutzen wollen, und ich schämte mich auch meiner Scham. Die altmodische Wanduhr über dem Gläserregal zeigte zehn nach sechs. Gorski war nicht da. Franz stellte das Bier mit seinen sparsamen Bewegungen hin, und er verriet mit keiner Regung, daß er etwa eine Nachricht für mich hätte, also fragte ich ihn erst gar nicht danach. Die Frauen saßen wieder an ihrem Stammtisch. Kellner Franz brachte ihnen abwechselnd Kaffee, Stoni und belegte Brote. Hinter der Theke machte sich eine dicke, aufgetürmte Blonde zu schaffen?
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Ein Radio plärrte. Kellner Franz blickte mich gelegentlich im Vorbeigehen an, und obwohl er tat, als interessiere ihn lediglich das Inventar hinter mir, wußte ich, daß er Gorski vermißte, doch er dachte nicht daran, sich nach ihm zu erkundigen. Er hatte uns den Tip mit der Pistole gegeben, aber es gehörte nicht mehr zu den Spielregeln, sich zu erkundigen, ob wir sie auch tatsächlich bekommen hatten. Hier kriegt man notfalls eine Auskunft, und das kostet Geld. Wer eine Auskunft braucht, der weiß etwas nicht, und wer etwas nicht weiß, der ist nicht im Bilde, und wer nicht im Bilde ist, der ist meistens nicht von hier. Und Fremde sind immer gefährlich, weil man nicht weiß, wer sie sind, wo sie herkommen und was sie vorhaben. Ähnlich wie Amateure. Ich dachte an Sparta, und daß er uns deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, wofür er uns hielt. Das Bier war eiskalt, und die Kälte breitete sich im Magen aus als ein dumpfer Schmerz. Franz lehnte neben der Theke und checkte mich mit herunterhängenden Augenlidern. Mußte ihm merkwürdig vorkommen – tauchen da zwei auf und sind scharf auf eine Waffe, und nach ein paar Tagen kommt nur noch der eine. Seine Augenfältchen, dünn wie geriffeltes Leder, die wurschtig verzogenen Lippen, die angeklatschten, ausgedünnten Haare – das war mir zu bieder. Das Telefon klingelte. Die Blonde nahm den Hörer ab und hörte zu; mit dem Daumen der linken Hand drehte sie das Radio leiser. Inzwischen war Franz neben ihr, und sie gab ihm den Hörer wortlos weiter. Franz hielt den
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Hörer zu und ans Ohr und legte dann auf. »Das war Ihr Freund eben«, sagte er. »Sie möchten doch an die Verabredung denken.« Ich sah zur Uhr. Es war Viertel nach acht. »Es hat sich angehört, als ob er sich Sorgen macht, Ihr Freund.« »Um mich? Sehe ich vielleicht so aus, als ob es mir schlecht ginge?« fragte ich. Franz zuckte die Schultern. »Ich weiß ja nicht, wie Sie sonst aussehen, mein Herr.« Das Haus Nummer drei in der Kohlfurter Straße sah nicht anders aus als die andern Häuser in der Straße. Groß, grau und verkommen. An der Kellertür war eine Klingel mit einem einfachen P auf dem Schild. Ich läutete, und kurz darauf hörte ich, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Petchen öffnete die Tür. Der Flur war so groß wie eine Besenkammer. Der Raum dahinter war nicht sehr hell. Eine tiefhängende Deckenlampe beleuchtete einen grell abgezirkelten Ausschnitt auf dem Schreibtisch. Dahinter saß ein älterer Mann mit grünem Augenschutzschirm. Die Rückseite des Zimmers war eine Holzwand mit einem Fenster in halber Höhe. In dem schwachen Lichtschein, der in den Raum dahinter fiel, war eine schwarzlackierte Druckmaschine zu erkennen. Gorski lehnte gleich neben der Tür an der Wand. Petchen saß in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl. »Die Paßfotos«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. Gorski legte ihm die Fotostreifen unter den Lichtkegel auf die Schreibtischplatte. Der Mann hob sie mit einer Pinzette
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auf und betrachtete sie sorgfältig nacheinander. Dann sah er Gorski an. »Die Namen.« »Dr. Wolfgang Viola und Robert Trantow«, sagte Gorski. »Ich schreib's Ihnen auf.« »Nicht nötig. Viola sicherlich mit V, und Trantow am Schluß mit W.« Gorski nickte. Der Mann schnitt je ein Paßbild aus unsern Bildstreifen und nietete sie in die Pässe. »Wollen Sie Ihre Geburtsdaten übernehmen? Dann brauchen Sie sich keine neuen zu merken. Denken Sie sich inzwischen Berufe aus.« Gorski dachte nicht eine Sekunde lang nach. »Segelflugbauer.« »Zu langes Wort«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Schlagen Sie uns was vor.« »Ingenieur«, sagte der Mann. Er gab dem Lampenschirm einen Schubs; der Lichtkegel erfaßte kurz mein Gesicht, und der Mann hielt die Lampe mit einer Hand wieder. »Und Buchhändler.« Gorski blickte auf. »Hast du das nicht mal gelernt?« »Ja. Das geht auch nie wieder weg. Wie dein Filmblut.« »Schreiben Sie Fachbuchhändler, er ist schon was Spezielles«, sagte Gorski. Ich sah zu, wie der Mann am Schreibtisch die persönlichen Daten aus unsern Personalausweisen in die Falschpässe übertrug. »Wo kriegen Sie denn das Papier her«, fragte ich, »das hat doch sicher ein bestimmtes Wasserzeichen.«
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»Wir haben Freunde in der Stadtverwaltung.« Er redete, ohne aufzublicken. »Und die Stempel?« Er hob den Kopf, hielt sorgfältig die Schreibfeder vom Papier weg und sah zu Petchen. »Sind die auch sauber? Sie fragen soviel. Erst der eine, jetzt der andre.« Petchen schwieg. »Wir brauchen nur Informationen für ein Filmdrehbuch«, sagte ich. »Ist gut, mach weiter«, sagte Petchen. »Stellen Sie jetzt keine weiteren Fragen, Herr Benjamin.« Gorski wippte von den Zehen auf die Fersen. Petchen saß wieder da wie in sich versunken. Mir fiel auf, daß er sich häufig die Nase schneuzte. Der Mann am Schreibtisch hielt die ausgefüllten Pässe gegen das Licht; er wechselte die Brille und sah sich bestimmte Stellen aufmerksam an. »Ist das was Politisches?« fragte er. »Sie zahlen schon«, antwortete Petchen. Der Mann legte die beiden Pässe aufgeschlagen auf die Schreibtischplatte. Er deutete mit der Pinzette auf die Linie. »Hier müssen Sie unterschreiben.« Gorski zupfte meinen Kugelschreiber aus der Jackentasche. »Warten Sie«, sagte der Mann. »Verstellen Sie ihre Handschrift nicht. Sie müssen die Unterschrift später beibehalten können.« Er schob uns ein paar leere Blätter hin. »Schreiben Sie den Namen ein paarmal in Ihrer gewohnten Handschrift. Und setzen Sie sich dabei.« Robert Trantow. Fachbuchhändler. Ich nahm den Paß
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in die Hand. Der Einband, imitiertes Leinen, fühlte sich kalt und glatt an, und mein Gesicht auf dem Paßfoto kam mir fern und fremd vor. So also sah Trantow aus. Es ist alles ganz einfach, dachte ich. Die neue Unterschrift ging mir leicht von der Hand. Der Mann sah sich kommentarlos unsere Unterschriften an, drückte die Stempel auf und leistete die restlichen Unterschriften selbst. »Ihr könnt ruhig wissen, das ist erstklassige Arbeit. Damit könnt ihr euch überall sehen lassen.« Er hielt uns die Pässe mit beiden Händen hin. Gorski nahm sie ihm ab und steckte sie ein. »Danke schön kostet was«, sagte der Mann. »Den normalen Preis könnt ihr sowieso nicht bezahlen. Sagen wir fünfhundert, zweihundertfünfzig für jeden, und ich hab damit noch jemand einen Gefallen getan. Das ist geschenkt, Herrschaften, das könnt ihr mir glauben.« Gorski blätterte ihm die Scheine von unserem Drehbuchvorschuß hin. »Laß uns gehn«, sagte er. »Ihre alten Ausweise!« rief der Mann hinter uns her. Ich drehte mich um und nahm sie vom Tisch. Die grauen, mitgenommenen Dinger kamen mir vor wie ein altes Paar Schuhe, zerlatscht und verfallen und längst aus der Mode. Kurz bevor Petchen die Tür hinter uns schloß, sah ich den Mann am Tisch zum letztenmal. Er hatte die Brille abgesetzt, den grünen Schirm hochgeschoben und rieb sich müde die Augen. Ich glaube nicht, daß er wirklich Potrafke hieß, wie das P an seiner Tür behauptete.
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Noch auf der Treppe vom Kellergeschoß hoch zum Bürgersteig sagte Gorski: »Nichts wie weg, Mann, ich dachte, du kommst nicht mehr.« »Es tut mir leid. Es hat sich so ergeben.« Wir sahen uns nach einem Taxi um, denn Gorski hatte den Opel Kapitän bei der Pension stehengelassen. Ich meinte, wir könnten doch bis zum U-Bahnhof Kottbusser Tor laufen, aber Gorski war nervös und bestand darauf, schnell wegzukommen. Wir liefen vor zur Ecke Kohlfurter Straße, und ein Taxi war immer noch nicht zu sehen. Gorski schwitzte, als neben uns ein schwarzer Mercedes-Diesel hielt. Er war von vorgestern, und im ersten Moment hielt ich ihn für eins der alten Taxis, weil er rechts heranfuhr und die rechte Hintertür aufgestoßen wurde. Ich beugte mich hinunter und blickte hinein. »Steigen Sie ein, meine Herren«, sagte Mac Froehlich, »ich habe auf Sie gewartet.« Gorski schubste mich rein und zog die Tür hinter sich zu. »Und heute schreibt wieder Mac Froehlich für Sie«, sagte Mac Froehlich. »Reden Sie nicht soviel, fahren Sie«, sagte Gorski, »sonst steigen wir gleich wieder aus.« Mac Froehlich legte den Gang ein und fuhr los. Auf der Ablage vorm Rückfenster lagen Kontaktabzüge und ein paar vergrößerte Aufnahmen. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um zu erkennen, daß ich selbst auf einem der Bilder war. Mit Anna. Auf dem Haveldampfer.
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Am Landungssteg, wo die Fahrt anfing, und wie wir den Dampfer verließen. Da war die Belichtung nicht ganz so gelungen, weil es schon spät war und das Licht schwächer. Auf einem anderen Foto war Gorski am Zeitschriftenstand im Kempinski. »Mac, was soll das heißen?« fragte ich, »warum haben Sie das gemacht? Gibt es etwa noch mehr Fotos?« »Ich schäme mich ja«, sagt Mac Froehlich. »Aber ich will doch eine Story über Alexander Gorski machen. Da gehören Sie nun mal dazu, seien Sie doch stolz darauf, Herr Benjamin.« »Heimlich bin ich's ja«, sagte ich, »aber Mac, das ist doch ein Märchen aus anderen, goldenen Tagen. Das läuft nicht mehr heute.« »Hätten Sie denn damals den Fotos zugestimmt – und einer Geschichte?« »Wozu, denn Sie hätten sie sowieso gebracht, damals!« »Eben. Nehmen Sie's nicht tragisch, Herr Benjamin. Und meinen Job versteh ich schon. Vierzig Jahre, Herr Benjamin. Sie wissen, wie lange es den Film gibt. Ich war von Anfang an dabei.« »Fahren Sie zum Bahnhof Zoo, Mac«, sagte Gorski. Und zu mir: »Vergiß die Fotos.« »Ich hab mit meinem Boß gesprochen«, sagte Mac Froehlich. Er sah erwartungsvoll in den Rückspiegel. Seit ich ihn zum erstenmal gesehen hab, und das ist sieben Jahre her, frage ich mich, wo er seine Begeisterungsfähigkeit hernimmt. Er spricht die Namen befreundeter Regisseure, Sänger, Boxer, Karikaturisten, Schauspieler und
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Politiker aus, als füllten ihn die Namen bei ihrer bloßen Nennung mit Bedeutung an. Mac Froehlich ist mit jedem befreundet, den er einmal gesehen hat, und die vom Film kennt er alle. »Sie können ein Foto haben«, sagte Froehlich. »Für die junge Dame vielleicht.« »Mac, keine langen Vorträge jetzt«, sagte Gorski. »Fahren Sie so schnell wie möglich zum Bahnhof.« »Aber ich muß mit Ihnen reden. Ich hab mit dem Boß gesprochen. Er ist interessiert, aber ich muß ein paar Voraussetzungen mit Ihnen klären. Verstehen Sie, was das heißt? Mac Froehlich besorgt Ihnen einen Produzenten für den platonischen Lohn einer Exklusivstory von den Dreharbeiten und der Vorgeschichte. Na, wie finden Sie das, meine Herren. Das hätten Sie wohl doch nicht gedacht von Mac Froehlich, was?« »Nein«, sagte ich. »Ein junger Fuchs kann immer was lernen von einem alten«, sagte Mac Froehlich. »Das ist sogar eine Eigenschaft, die kluge junge Füchse von den dümmeren unter ihnen unterscheidet. Jeder große Regisseur ist ein alter Fuchs. Auch ein Graf wie Visconti, glauben Sie mir, Herr Benjamin. Er muß das Geld für seinen Film aufspüren in den Tresorhöhlen der Kapitalisten. Gegen eine Leibgarde scharfer Hunde von Dramaturgen, Juristen, Geldverwaltern. Leider gibt es kaum noch echte Produzenten heute, nur noch Spekulanten. Aber das muß nicht so bleiben.« »Sie und Ihr Boß werden den Karren schon aus dem Dreck holen. Hat er Ihnen auch schon gesagt, wie der Film
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aussehen soll, den wir für ihn machen sollen? Er hat doch bestimmt schon eine Vorstellung. « »Ich weiß nicht, Herr Benjamin. Ich bin nicht sicher, ob Sie das ganz ernst genommen haben, was ich eben sagte, aber es ist durchaus ernst gemeint: Darüber muß ich ja gerade mit Ihnen reden.« »Fahren Sie schneller«, sagte Gorski, »ich habe dringend etwas zu erledigen. Es ist sehr wichtig. Das können Sie alles Herrn Benjamin erzählen!« Vorm ZWIEBELFISCH am Savignyplatz standen ein paar Tische und Stühle, und wir setzten uns draußen hin. Ich wurde traurig, wie ich ihn so sitzen sah vor einem großen Glas Bier und dem Aschenbecher, seinen Mantel über der Stuhllehne und dem Samsonite-Koffer daneben. Was sollte sein Boß noch mit Spielfilmen anfangen! Der war längst im Kassettengeschäft, das ist die Zukunft, da springt mehr bei raus. »Also um bei der Geschichte anzufangen«, sagte Mac Froehlich, »sie hat ihm durchaus zugesagt.« »Wir haben sie geändert.« »Nun ja, das ist kein Beinbruch. Grad über Änderungen …« »… wollten Sie eigentlich mit Gorski reden«, sagte ich, »ich weiß.« Ich stand auf. »Jetzt geh ich telefonieren, und dann muß ich weg.« Wir schüttelten uns die Hand, und Mac Froehlich eilte mit flatterndem Mantel davon.
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Gorski war schon in der Pension Kaminsky. »Interessant, wie sich meine Annahmen bestätigen«, sagte er. »Leider bin ich ein bißchen zu spät gekommen. Ich hätte doch gern gewußt, wer's war. Obwohl das im Grunde klar ist.« »Wovon redest du?« fragte ich. »Komm her«, sagte Gorski, »dann siehst du's selber.«
19 »War Mac nett?« fragte Gorski. »Mac war nett wie immer. Ich hatte richtig ein schlechtes Gewissen, so nett war er. Sein Chef meint, einige Kleinigkeiten müßten noch geändert werden.« »Sicherlich weiß er auch schon welche«, sagte Gorski. »Warum wolltest du unbedingt zum Bahnhof?« »Wart's doch ab«, sagte Gorski. »Ich will die Pässe behalten. Ich bin sicher, daß Sparta sie wiederhaben will, wenn sie wirklich so gut sind, wie der Fälscher behauptet hat. Ich denke, ein Profi trägt einen falschen Paß bei sich, weil er ihn braucht. Täten wir das, wären wir die Pässe auf dem einfachsten und schnellsten Weg wieder los. Wie die eine Pistole vom Perser. Und ich lasse mir nicht gern was wegnehmen. Drum hab ich mir diesmal gedacht, die Pässe müssen an einen Ort, den nur wir kennen, zu dem nur wir einen Schlüssel besitzen.« »Die Pistole war geklaut.« »Das ist nicht wichtig. Wichtig war nur die Tatsache, 210
daß ich sie mir hab abnehmen lassen müssen. Und warum soll es uns mit den Pässen genauso gehen, wo wir sie außerdem bezahlt haben?« »Bahnhof. Schließfach«, sagte ich. »So ist es«, sagte Gorski. »Und da liegen sie genau richtig, Benjamin, ich stelle fest, daß ich gute Laune kriege. Übrigens sind die Pässe tatsächlich erstklassig. Ich hab sie nämlich getestet.« »Bitte?« »Ich hab einen Polizisten angemacht«, sagte Gorski. »Vorm Bahnhof. Ich hab ihm eine ganz blöde Geschichte von irgendeiner Wette erzählt. So unglaubwürdig, daß ich ihn dazu brachte, sich meinen Paß anzusehen.Ich hab aus Versehen erst deinen gegriffen in meiner Tasche, aber ich hab's noch rechtzeitig gemerkt. Ich war ihm lästig und aufdringlich; möglich, daß er mir kein einziges Wort glaubte von meiner Geschichte. Der hat meinen Paß bestimmt genau unter die Lupe genommen. Und weißt du, was er gesagt hat? Er sagte: ›Schon gut, Herr Dr. Viola, ich kann Ihnen auch nicht helfen.‹ Wie findest du das?« »Deine Ideen«, sagte ich, »können auch leicht ins Auge gehen, findest du nicht?« »Ach was«, sagte Gorski, »man muß auch handeln können, wenn es so weit ist.« »Und wieso war es nun soweit? Weil wir die Pässe haben?« Gorski nickte. »Ich hab dir das früher schon mal gesagt, der nächste Zug in diesem Spiel wird fällig, wenn wir die Pässe haben.
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Ich hab den nächsten Zug gemacht und die Pässe nur für uns erreichbar aus dem Verkehr gezogen. Jetzt konnten wir in aller Ruhe abwarten.« »Konnten?« Gorski nickte. »Weil der Gegenzug schon stattgefunden hat. Verstehst du, was das heißt? Jetzt muß er sich was Neues ausdenken.« Ich sah ihn an. »Als ich zurückkam«, sagte Gorski, »wollte ich ein neues Hemd anziehen. Und dabei hab ich gemerkt, daß der Koffer durcheinander war.« »Hältst du dich etwa für ordentlich?« »Nein, nein. Das war noch nicht alles. Die Schranktür war offen, und ein paar Schubladen hingen noch halb heraus. Sogar die Matratze am Kopfende hochgehoben. All die Stellen, wo sie hätten sein können, die Pässe. Denn die hat nämlich jemand hier gesucht, jemand, der es unheimlich eilig hatte. Offenbar ist er dabei gestört worden und mußte wieder verschwinden, ohne die Schubladen zu schließen und die Schranktür zuzumachen. Ich hab's nicht nur vorausgesehen, ich weiß auch, wer es war.« »Du weißt es?« »Ja«, sagte Gorski und schnupperte in der Luft. »Anna hat eben ein ganz besonderes Parfüm, kennst du es nicht?« »Und was passiert jetzt?« fragte ich. »Abwarten. Drehbuch weitermachen. Sparta wird sich schon noch was ausdenken. Wenn wir uns jetzt nicht rühren, hier einfach nur weiterschreiben, und dann muß er etwas unternehmen, sonst bleiben die Pässe bei uns; denn
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er wird wohl kaum denken, wir liefern ihm die Pässe freiwillig ab: Vielen Dank, Sparta, wir wissen jetzt, wie das geht!« »Ja«, sagte ich. »Es sieht wirklich so aus, als ob du ihn diesmal reingelegt hast. Warum eigentlich?« Gorski sah mich an. »Weil es doch mal was andres ist, abwarten zu können, bis einem andern was einfällt. Sonst ist es immer umgekehrt, verstehst du?« »Ja. Aber ich darf nicht länger darüber nachdenken …« »Brauchst du auch nicht«, sagte Gorski. »Schreib du nur weiter. Ich lege mich solange aufs Ohr und werde im Schlaf über dich wachen.« Ich ging Friedhelm Strunkmann besuchen, bevor ich anfing zu schreiben. Eine Zeitung lag auf seinem Bett, und die Schlagzeile wußte von einem Mann zu berichten, der am Samstagnachmittag seine Frau mit einer Bierflasche erschlagen hatte, weil sie ihn bei der Sportschau störte. Ja, meinte Strunkmann, das Unergründliche in Herr Müller. Müller? sagte ich, ob er den Namen aus einem bestimmten Grund genannt habe. Nein, er hätte auch Meier sagen können, aber apropos – dieser Herr Friedrich Müller sei mit Sicherheit und bei weitem nicht so betrunken, wie er sich immer den Anschein gebe. Er habe ihn mal gesehen, wie er aus dem Telexzimmer gekommen sei, und Müller habe ihn, Strunkmann, auch gesehen und aufgestoßen und gerülpst wie auf Kommando, wie er das eben so macht, und Strunkmann habe sich in die Küche zurück-
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gezogen. Müller habe im Flur telefoniert, und Strunkmann kam so leise aus der Küche zurück, daß Müller ihn nicht hörte, und außerdem kehrte er ihm wohl auch den Rücken zu, so lange jedenfalls, wie Strunkmann barfuß von der Küche zu seinem Zimmer brauchte. Er habe nicht genau gehört, was Müller am Telefon geredet habe; und mit wem er gesprochen habe, das wisse er natürlich auch nicht. Fest stehe nur, daß er kein bißchen betrunken war; seine Stimme habe leise und sorgfältig artikuliert geklungen, und er habe lange geredet, als berichte er wem etwas. Strunkmann hielt es nicht für ausgeschlossen, daß Müller ein Spitzel ist. Er meinte, die meisten Wohngruppen, Kommunen, Großfamilien, Pensionen würden durch Senatsspitzel oder Angestellte der politischen Polizei im Außendienst überwacht. Angenehm war der Gedanke nicht, aber andererseits, was sollten solche Stellen für eine Interesse daran haben, über uns Bescheid zu wissen, dachte ich. Die meisten, die hier wohnen, meinte Strunkmann, seien ziemlich abgefackte Typen, kaum einer hätte was mit den andern gemeinsam, aber alle hätten eine ganz besondere Vorstellung von dem, was sie sein wollten. Eine Vision der vollkommenen Entfaltung ihrer Möglichkeiten. Ich hab manchmal Bilder im Kopf, sagte er, oder sie sind im Traum da, von denen weiß ich, daß ich sie erreichen muß. Nur die Zeit dazwischen, weißt du. Er lächelte. Wie soll man die überstehen? Ich bin drauf gekommen, wie ich die Artisten gemalt hab. Ein gemeinsames Porträt von beiden, stehend vor einer weißen Wand, neben jedem ein Turngerät. Ich hab sie bequem hingesetzt. Ich hab ihnen
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lange gegenüber gesessen, und nach einiger Zeit sind alle ihre Geschichten aus ihnen herausgetreten; das Bild, das doch nur die Gesichter zeigte und zwei Turngeräte, erzählte vom Casino in Paris, von ihrem Auftritt in einem amerikanischen Wanderzirkus und von ihrem Traum, unter einer großen Kuppel über den Köpfen von Tausenden von Leuten hin und her zu schwingen. Ich glaube, es war auch in dem Bild zu sehen, daß das nicht sein wird. Strunkmann stand auf und ging zum Tisch und öffnete eine Schublade. »Ich hab hier was angebaut vorm Fenster. Im Blumenkasten. Den Samen hat mir einer aus Mexiko mitgebracht, der fährt ständig in der Weltgeschichte umher. Da ist auch was gewachsen, und ich hab's natürlich gleich probiert. Magst du auch mal?« Er holte das zerstampfte Zeug aus der Schublade, klebte zwei Zigarettenpapiere zusammen und bröselte das Zeug auf das Papier. Gorski schlief nicht mehr. Er hatte sich einen Sessel ans geöffnete Fenster gezogen und sah hinaus auf den Hof. Der Regen hatte schon wieder aufgehört und den Staub in der Luft vorübergehend niedergeschlagen. Es roch nach frischem Grün. Gorski schwieg, und ich setzte mich an den Tisch und ergänzte die Notizen. Nach eine Weile sagte Gorski: »Ich glaub, der Maler baut sein Stinkekraut selber an. Im Blumenkasten.« Seine Stimme klang ruhig; er wirkte ausgeruht und etwas träge. »Es taugt nichts. Die Sonne fehlt.« Gorski
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lächelte: »Törnt nicht an?« »Bißchen dumpf, das Zeug.« »Man müßte überhaupt immer nur da sein, wo die Sonne scheint«, sagte Gorski. »Was schreibst du denn da?« »Notizen.« »Was steht denn da drin?« »Was wir so machen«, sagte ich. Gorski schüttelte den Kopf. »Laß es wenigstens nicht so herumliegen«, sagte er. »Das hab ich immer bei mir.« »Benjamin, wieviel amerikansiche Soldaten sind hier stationiert?« »Wenigstens eine Division, sicher zehntausend Mann.« »Und was kriegen die pro Woche?« »Kommt drauf an, die Offiziere mehr als die Mannschaften.« »Lassen wir mal die Offiziere weg.« »Ich schätze, 100 bis 150 Dollar die Woche.« »Wieviel kommt da also raus pro Transport?« »Bei 8000 Mann und 125 Dollar macht das genau eine Million.« »Das ist das Mindeste.« »Eine Million Dollar. Dann stimmt es doch, was Sparta gesagt hat.« »Der kann ja auch rechnen«, sagte Gorski, »und hat einen cleveren Buchhalter.« »Eine Million Dollar. Selbst von Westrum hat die noch nicht auf einem Haufen gesehen. Weißt du einen, der den Anblick kennt?«
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»Nein«, sagte Gorski. »Aber ich würde es mir selbst gern mal ansehen.« »Wir könnten unsern Film selber finanzieren.« Ich lachte. »Wie dieser Franzose. Sieben Banküberfälle. Ob er jedesmal die ganze Beute in denselben Film gesteckt hat?« »Das ist mir egal. Außerdem sind es nur fünfhunderttausend Dollar.« »Wieso?« »Na, wir sind doch zwei«, sagte Gorski, »oder willst du etwa einen kleineren Anteil haben als ich?« »Du solltest dir lieber einen Schluß für unsere Geschichte überlegen, damit wir mit dem Drehbuch zu Ende kommen. Du solltest über die Besetzung nachdenken. Ich finde, du solltest überhaupt mehr an unseren Film denken.« »Ich weiß schon wieder viel zuviel von der Geschichte«, sagte Gorski. »Warum soll ich den Film überhaupt noch machen?« »Das höre ich auch nicht zum erstenmal von dir«, sagte ich. »Mag sein. Aber es regt mich auf, daß du einfach immer weiterschreibst. Schreibst du eigentlich gern Worte?« »Mann«, sagte ich, »ich schreib auf, was die Leute reden, damit man sehen kann, was für ein Film das wird. Und was darin passiert.« »Und was passiert denn? Sag mir deinen Schluß. Was geschieht mit den Typen, wo gehen sie hin?« »Ich weiß noch nicht, aber Hoffnung soll der Schluß haben, sie sollen nicht draufgehen. Am besten haun sie ab
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mit dem ganzen Geld.« »Was du alles verlangst«, sagte Gorski. »Aber gut. Die Frage ist nur, wo sie hingehen. Was würdest du denn machen?« »Chile«, sagte ich. Gorski sah mich mitleidig an. »Chile ist ein sozialistisches Land, und die Revolution braucht immer Geld. Das wäre das erste, was sie sofort los wären, glaub mir.« »Du hast mich gefragt«, sagte ich. »Du oder einer von den beiden, das Problem bleibt doch gleich. Vergiß nicht, es sind keine Typen vom Rummelplatz mehr, wie wir am Anfang dachten. Weder organisierte Verbrecher noch Desperados. Gutverdienende Techniker. Angestellte mit Verlangen nach mehr. Träume, uneingestanden bis dahin, und ein Zufall bringt sie auf die Tat. Sie arbeiten im selben Betrieb. Tüchtige Männer ohne Familie. Wenig Kontakte zu andern Kollegen. Nur die beiden stecken zusammen, und das ist nicht zufällig. Sie haben dieselbe Sehnsucht und denselben Überdruß. Und plötzlich sind sie ganz überrascht, als sie feststellen, daß sie längst entschlossen sind, das Ding zu drehen, daß sie einfach keine Hemmungen haben. Gut, Nerven, schön, aber das ist eine Frage der Disziplin. Sie planen genau die Vorbereitungen, die Tat und die Zeit danach.« »Was bleibt ihnen aber anderes übrig, als von einem Land zum andern zu hetzen?« »Wieso, Reisen ist doch schön«, sagte Gorski. »Oder warst du schon oft verreist in deinem Leben? Hast du vielleicht schon alles gesehen, was du sehen wolltest?«
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»Nein. Ich hab einen Schulfreund in Hongkong«, sagte ich, »den würde ich gern mal besuchen. Aber mein Schluß sieht anders aus.« »Welcher Schluß?« »Den ich gestern abend geschrieben habe.« Gorski hob die Brauen. »Gib her!« Ich reichte ihm ein paar Seiten. Gorski warf einen flüchtigen Blick drauf. »Interessiert dich eigentlich nichts anderes?« fragte er. »Wie meinst du das?« »Na ja, nichts andres als Film«, sagte Gorski. »Im Augenblick nicht.« »Ach, Mann«, sagte Gorski. »Wie soll ich dir das nur erklären?« Ich warf ihm eine Zigarette zu. Sie prallte gegen die Scheibe und kollerte vom Fensterbrett runter auf den Boden. Gorski hob sie auf, steckte sie in den Mund und sah sich nach seinem Feuerzeug um. Er stand auf und klopfte seine Hosentaschen ab, aber es warf nicht da. Er setzte sich wieder in den Sessel mit der kalten Zigarette im Mund. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Gorski sah mich an, und Sparta kam herein, bevor wir etwas gesagt hatten. »Gib mir doch mal Feuer«, sagte Gorski. Natürlich meinte er mich damit, aber Sparta war schneller. Er war mit ein paar Schritten bei Gorski und ließ ein goldenes Dunhill-Feuerzeug aufklicken. Es brannte beim erstenmal. Gorski zog den Rauch ein und sah Sparta an. »Setz dich irgendwo hin«, sagte ich. Sparta ging langsam durch das Zimmer auf das Bett zu. Mir war,
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als präge er sich das Zimmer ein für allemal ein. Er hockte sich auf die Bettkante und sah zu uns rüber. Er lächelte, als die Matratze quietschte, und überhaupt wirkte er so freundlich und neugierig wie am Anfang im KEMPINSKI. »Ich wollte mal sehen, was ihr beiden so macht«, sagte Sparta, und das Lächeln blieb in seinem Gesicht stehen. »Aha«, machte Gorski. »Immer mißtrauisch, der Pole, was! Dabei mach ich euch doch nur einen Besuch.« »Klar«, sagte Gorski. Sparta stand auf und trat zu mir an den Tisch. Er entzifferte einen Satz auf einem Zettel: »Ich kenne einen Mann, der mal ein Riesenrad stahl.« »Machst du Gedichte?« fragte er. »Nein. Das ist ein Satz von Dashiell Hammett.« »Aha, und euer Film? Seid ihr weitergekommen?« Er setzte sich wieder aufs Bett. »Also ich sag immer gleich, was ich will, wenn ich irgendwo! hingehe«, sagte Gorski. »Du willst mir doch wohl nicht erzählen, du bist hergekommen, weil du dich für unseren Film interessierst.« »Aber ja«, sagte Sparta. »Die Geschichte steht bis auf den Schluß, den haben wir noch nicht.« Sparta sah mich nachdenklich an. »Der Schluß«, sagte er. »Im Film geht das doch meistens schief, oder?« Ich nickte und spürte förmlich, wie Gorski plötzlich aufmerksam wurde.
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»Verlaß dich drauf, Benjamin«, sagte Sparta, »in Wirklichkeit geht es auch schief.« Er schwieg, und als wir beide nichts sagten, redete er weiter. »Ihr habt es doch richtig gut, ist euch das eigentlich klar? Ihr könnt euch was ausdenken – eine schöne Geschichte oder eine dreckige –, und dabei könnt ihr eure eigenen Sachen noch reinpakken. Haß, Schiß und so. Und obendrein werdet ihr noch bezahlt dafür. Ich brauch mir den Dreck nicht auszudenken. Ich steck bis zum Hals drin. Es macht mir nichts aus, ich komme zurecht, aber ich weiß, wie es ist.« »Mir kommen die Tränen«, sagte Gorski. Sparta seufzte. »Also gut.« Er wandte sich an mich, und seine Stimme klang nicht mehr so freundlich. »Gib mir die Pistole. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß ihr hier damit durch die Gegend lauft. Außerdem, es ging für euch ja wohl nur darum, wie man sie kriegt, wenn ich das richtig verstanden habe. Oder braucht ihr sie am Ende doch? Für den Schluß vielleicht? Vielleicht habt ihr euch inzwischen überlegt, den Schluß auch selber auszuprobieren, nur um zu wissen, wie das geht.« Gorski schwieg. Er drückte seine Zigarette auf dem Fensterbrett aus. »Wenn ihr mir die Pistole gebt, kann ich beruhigt sein«, sagte Sparta. »Das leuchtet doch ein, oder?« »Ich kann sie dir nicht geben, weil wir sie nicht mehr haben«, sagte ich. »Ich hab sie in den Kanal geworfen.« »Wo?« fragte Sparta ohne zu zögern. »In den Landwehrkanal«, sagte ich, »von der HobrechtBrücke bei der Ohlauer Straße.« Es log sich ganz einfach.
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Meine Stimme klang wie immer. »Warum ausgerechnet da?« fragte Sparta. Gorski sah mich nicht an. »Weil es zufällig da war und nicht woanders«, sagte ich, »oder glaubst du mir nicht?« Sparta blickte mich genau an. Er glaubte mir. Ich war darüber so verwundert, daß ich fürchtete, es mir anmerken zu lassen. »Na schön«, sagte er. »Aber die Pässe. Die braucht ihr ja genausowenig. Oder habt ihr sie vielleicht gleich hinterher geworfen?« »Da hatten wir sie noch gar nicht«, sagte ich. »Die Pässe sind auf Nummer sicher«, sagte Gorski. »Die sind so gut aufgehoben, daß sie keiner stehlen kann.« »Stehlen?« Sparta lachte. »Ich muß euch was gestehen. Die Pässe sind nichts wert. Sie taugen nichts. Bei der ersten Straßenkontrolle seid ihr dran. Die durchschaut ein blinder Dorfschupo. Ich hab die Sache für euch arrangiert, damit ihr sehen könnt, wie das geht. Aber die Pässe sind nix.« »Merkwürdig«, sagte Gorski, »daß du sie dann so dringend wiederhaben willst, wenn sie so wenig wert sind. Ich will dir sagen, was gewesen ist: Anna hat sie hier nicht gefunden, und jetzt kommst du selber.« »Wo sind sie?« fragte Sparta. »Sag mir Benjamin, warum ihr sie versteckt habt.« »Sie sind absolut sicher«, sagte Gorski, »verlaß dich drauf. Ich hab sie bezahlt und will sie behalten.« »So«, sagte Sparta. »Dann bist du wohl zum Bahnhof und hast sie in ein Schließfach gelegt. Laß mich raten, wo
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der Schlüssel ist. Ich hab's. In dem Ledertäschchen, das du um den Hals trägst, stimmt's?« »Stimmt«, sagte Gorski, »und wenn du ihn haben willst, mußt du ihn dir holen. Führ uns doch mal was vor. Du kannst das doch. Hol deine Jungs. Zeig uns, was 'ne Harke ist.« Sparta stand auf. Er zog seine Manschetten grade und sah erst Gorski und dann mich scheinbar ungerührt an. »In den Büchern heißt es doch ständig, daß der Täter irgendwann nach der Tat geschnappt wird, stimmt's, Benjamin?« Er wartete meine Antwort nicht ab und redete weiter: »Aber du und ich, Benjamin, wir beide wissen, daß die Wirklichkeit anders ist. Wenigstens solltest du das inzwischen wissen. In Wirklichkeit kommt der Täter nämlich erst gar nicht dazu, seine Tat auszuführen. Oder er wird einfach abkassiert. Das passiert natürlich nur, wenn er nicht ganz allein von seiner Tat weiß – und wann und unter welchen Umständen ist das schon so. Verstehst du, was ich meine, Benjamin?« Er wandte sich an Gorski: »Ich hab dich gewarnt, Alex Gorski. Am zweiten Tag schon. Ich tu's jetzt nicht mehr.« Danach ging er. Spartas Schritte hallten noch im Flur. Gorski wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren, dann ging er zur Tür, riß sie mit einem Ruck auf und trat in den Flur. »Na, Herr Müller, alles klar? Haben sie alles schön mitgekriegt?« Herr Friedrich Müller hörte sich nicht an, als ob er den Betrunkenen spielte, aber ich kann mir vorstellen, daß sich bei jahrelangem Training die Grenzen verwischen.
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»Aber ich kenn Sie doch kaum, Herr Benjamin«, sagte Friedrich Müller zu Gorski. Herr Benjamin! Wahrscheinlich war das ein ganz fauler Trick. Gorski ließ die Tür hinter sich in Schloß fallen. Er schob den andern Sessel auch noch ans Fenster, und wir setzten uns gegenüber. »Du hast gelogen«, sagte Gorski. »Das hast du gut gemacht. So haben wir jetzt die Pistole noch.« »Ist sie immer noch unten im Handschuhfach?« Gorski nickte. »Er braucht nur nachzusehen«, sagte ich. Selbst wenn du den Wagen abgeschlossen hast, dürfte das kein Problem für ihn sein. Vermutlich hat er sogar einen Zweitschlüssel.« »Glaub ich nicht«, sagte Gorski. »Aber gut. Du oder ich?« »Was?« »Na, nachsehen.« Ich stand auf. »Gib mir die Schlüssel.« Die Pistole war noch im Handschuhfach des Opels, und ich erwischte mich dabei, wie ich meine Beobachtung laut kommentierte, als überkäme mich Erleichterung, und ich wunderte mich über mich selbst und die Schmetterlinge in meinem Bauch, die trotz der Erleichterung nicht aufhören wollten zu flattern. Sie hörten auch nicht auf, als ich Gorski wieder gegenübersaß. »Er hat sich ja richtig Mühe gegeben, uns etwas auszureden«, sagte Gorski. Er saß ganz nah vor mir, und durch das geöffnete Fenster hörte ich die Mülleimer auf dem Hof klappern. Im Flur stritt Frau Kaminsky mit Friedhelm
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Strunkmann. Er hatte offenbar eine Katze auf dem Arm und wollte sie nicht hergeben, und Frau Kaminsky sagte, es sei verboten, Haustiere zu halten, und Strunkmann begann die Vorzüge der Haltung einer Katze anstelle eines Hundes zu erläutern. »Es hat mir einfach nicht gepaßt«, sagte ich. »Das ist nicht alles. Du weißt genausogut wie ich, daß sich Sparta in einem entscheidenden Punkt geirrt hat.« Er wartete ab und sah mich an. Plötzlich hatte ich ein trockenes Gefühl im Mund. Meine Zunge war wie ein Stück Holz, und ich spürte das Klopfen meiner Halsschlagader. Ich ging zum Waschbecken, drehte das kalte Wasser auf und ließ es über meine Hände laufen. Ich trocknete sie mir ab und sah im Spiegel, daß Gorski zu mir blickte. Er sagte nichts, bis ich mich wieder hingesetzt hatte. »Weißt du es nicht, oder warum fragst du mich nicht, wovon ich rede?« »Sag's mir.« »Wir sind die einzigen, die den Kniff rausgefunden haben, wie man den Überfall doch machen könnte«, sagte Gorski. »Einen Jeep ausschalten und den andern mit der Schranke vom Transportwagen trennen. Das ist so einfach, und Sparta hat sich das Ganze doch immer so kompliziert vorgestellt. Du bist dabeigewesen. Du weißt, daß es geht.« »Ja. Es könnte gehen.« »Gut«, sagte Gorski. Jetzt weißt du, wovon ich rede.« »Gorski, hör mal gut zu und mach jetzt keine Witze. Weißt du wirklich, wovon du redest?«
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»Ja, darum ist es auch so wichtig, daß wir uns in jedem Punkt verstehen. Nächste Woche geht der Transport wieder. Ich rede von einer Million Dollar und davon, daß ich sie haben will.« »Wer wollte das nicht, Mann.« Ich versuchte zu grinsen. »Aber wenn überhaupt, dann rede gefälligst von fünfhunderttausend Dollar.« »Ich mach keinen Spaß, und ich mach auch kein Spiel mit dir, Benjamin, so wahr ich hier vor dir sitze. Ich will es machen«, sagte Gorski, »oder hast du den Gedanken noch nie gehabt?« »Doch, schon. Aber das war so ein Gedankenspiel, als hätte ich selbst damit nichts zu tun. Auf der einen Seite hab ich gedacht, es könnte gehen. Auf der andern Seite ist es bewaffneter Raubüberfall, und darauf bin ich nicht trainiert. Und ich bin auch nicht auf jahrelangen Knast trainiert, wenn's schiefgeht.« »Du brauchst nicht zu schießen«, sagte Gorski. »Es braucht überhaupt nicht geschossen zu werden.« »Angenommen, die beiden Militärpolizisten aus dem Jeep auf der anderen Seite der Schranke fangen doch an zu schießen.« »Wie denn?« fragte Gorski. »Durch den fahrenden Güterzug durch, oder unten durch, oder oben drüber, oder wie?« »Gorski, hör zu, ich weiß nicht wie. Aber ich sehe tausend Möglichkeiten, wie's doch danebengehen kann. Es ist gelogen, was ich eben gesagt habe. Ich habe oft darüber nachgedacht. Es war mehr als eine Gedankenspielerei. Am
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Tag, wenn du redest, hört es sich schön an, aber nachts ist alles anders. Da hab ich Angst, aber ich werd den Gedanken nicht los, daß wir's doch tun werden. Wir sind schon zu weit; wenn wir's nicht tun, wird es nie mehr sein wie früher. Ich werd nie mehr einen Film schreiben können, jedes Drehbuch wird mir vorkommen wie Kasperletheater. Aber auf der anderen Seite, Gorski, hab ich Schiß, nachts, wenn du schläfst. Ich hör im Traum das Rasseln meines Atems, Lungensteckschuß, ein fürchterliches Geräusch. Wenn ich dann aufwache, weiß ich, es war dein Schnarchen, aber ich finde es gar nicht lächerlich.« »Ich finde es auch nicht lächerlich«, sagte Gorski, »aber was soll denn danebengehen?« »Tausend Dinge – eine Möglichkeit habe ich aufgeschrieben letzte Nacht. Meinen Schluß der Geschichte, du hast ihn noch nicht gelesen.« Gorski sah sich suchend um. »Du hast die Seiten in die Tasche gesteckt, als Sparta kam«, sagte ich. Gorski griff in sein Jackett, faltete die Seiten auseinander und las: Szene vor dem Flughafen. Ein Jeep und der Geldtransporter sind auf das Rollfeld gefahren, wo sich die Übergabe des Geldes vollzieht. Der zweite Jeep, der hinter dem Transporter herfährt, wartet vor dem Empfangsgebäude. Der Opel Kapitän nähert sich und hält. Ein Mann aus dem Opel steigt aus und schlendert zum Jeep. Einer der beiden Soldaten aus dem Jeep ist in der Flughafenhalle verschwunden. Der Mann aus dem
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Opel sticht, ohne daß es der Soldat im Jeep merkt, mit der Ahle in den Reifen und kehrt zum Opel zurück. Der Opel verschwindet aus dem Bild. Der Transporter und der erste Jeep kehren vom Rollfeld zurück. Sie fahren durch das Tor der Frachtabfertigung und kommen auf den Vorplatz. Von dort biegen sie in die Straße, die vom Flughafen fortführt, ein. Der zweite Jeep folgt ihnen. Nach einigen hundert Metern merkt der Fahrer, daß etwas nicht stimmt. Er hält, steigt aus und geht nach hinten. Die Luft ist inzwischen aus dem Reifen gewichen. Er geht wieder nach vorn, nimmt das Funktelefon und ruft den ersten Jeep, der inzwischen mit dem Transporter weitergefahren ist: »Sergeant, wir haben eine Panne. Der rechte Hinterreifen. Bitte halten Sie.« »Wie lange brauchen Sie zum Wechseln?« »Zehn Minuten, Sergeant.« »Können Sie das nicht schneller machen? Das ist zu lang.« »Ich weiß, aber wir haben die neuen Felgen mit acht Schrauben. Das dauert doppelt so lange wie früher mit vier.« »Wir können nicht zehn Minuten warten. Sie wissen, daß die Auszahlung um 12.30 Uhr beginnt. Das Geld muß vorher im Hauptquartier in die verschiedenen Kontingente aufgeteilt werden, die dann noch jeweils zu den einzelnen Kasernen transportiert werden müssen. Die Zahlmeister verlassen sich darauf. Wir haben noch nie eine Verspätung gehabt.« »Aber der Befehl lautet doch …«
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»Ich weiß. Aber wenn wir jetzt warten und zu spät kommen, werde ich mit Sicherheit angeschissen. Wenn wir allein kommen und Sie ein paar Minuten später, merkt das keiner. Es ist besser so für Sie und mich.« »In Ordnung, Sergeant.« Der erste Jeep und der Transporter fahren ab, der zweite Jeep bleibt stehen, die beiden Soldaten machen sich an das Auswechseln des Reifens. Der Opel ist inzwischen mit den beiden Männern zum Bahnübergang gefahren. Es ist noch nicht der Tag der Tat. Es ist der Tag, an dem sie die Wirkung der Panne testen wollen. Szene in dem Hauptquartier. Auf dem Hof biegt der erste Jeep mit dem Transporter ein. Zwei Offiziere verlassen das Portal. Der Fahrer des Jeeps sieht sie, wendet sich zu seinem Begleiter und sagt: »Verdammt, ausgerechnet in diesem Moment.« Die beiden Offiziere bleiben stehen. Der eine, es ist der verantwortliche Sicherheitsoffizier, stutzt und geht auf den ersten Jeep zu. »Wo bleibt die zweite Eskorte?« »Eine Reifenpanne, Sir.« »Sergeant, Sie wissen ganz genau, daß der Transport nur mit zwei Jeeps gefahren werden darf.« »Ich weiß, Sir, aber ich dachte, daß das Geld pünktlich …« »Sie sind mir nicht für die Pünktlichkeit, sondern für die Sicherheit verantwortlich, Sergeant. Sie werden sich bei mir melden. Zusammen mit dem Fahrer des zweiten
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Jeeps.« »Ja, Sir.« Szene im Büro des Sicherheitsoffiziers. Vor ihm die beiden Fahrer der Jeeps. »Wann hatten Sie die Panne?« »Unmittelbar nachdem wir vom Flughafen abgefahren waren.« »Ursache?« »Ich weiß nicht, Sir.« »Was vermuten Sie?« »Es sah nicht nach einer Glasscherbe aus, sondern eher wie der Einstich eines Nagels. Aber es befand sich kein Nagel im Reifen. Der hätte ja auch das Entweichen der Luft verhindert. Vielleicht sind wir über ein Brett gefahren, in dem ein Nagel steckte.« »Wo ist der Reifen jetzt?« »Noch auf dem Jeep, wo sich vorher das Reserverad befand.« »Bringen Sie den Reifen zur Militärpolizei. Ich wünsche eine Laboruntersuchung.« Die beiden Jeepfahrer sehen sich fragend an. Szene im Labor der Militärpolizei. Ein Mann hält ein Stück Gummi mit einer Pinzette unter ein Mikroskop. Die Tür geht auf, der Sicherheitsoffizier tritt ein. »Konnten Sie etwas feststellen?« »Nein, leider nichts. Wenn es eine Glasscherbe gewesen wäre, müßten wir auf der Innenseite der Einstichstelle kleine Reste von Glasspuren entdecken. Es gibt keine Bruchstellen von Glas, an denen nicht Reste winzigen Glasstaubs hingen. Wenn es ein Nagel gewesen wäre, der
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auch nur ein paar Tage auf der Straße gelegen hat, dann müßten sich Rostspuren nachweisen lassen. Da es sich hier nicht um eine Verschleißerscheinung handelt und auch nicht um eine Platzwunde, um es einmal so zu nennen, bleibt nur der Schluß übrig, daß der Einstich mit einem sauberen spitzen Gegenstand erfolgte.« »Ein Messer?« »Vielleicht. Aber es sieht eher nach einem runden Stichwerkzeug aus.« »Danke. Ich erwarte Ihren schriftlichen Bericht.« Der Sicherheitsoffizier wendet sich zur Tür, der andere zögert einen Moment und fragt dann: »Darf ich wissen, worum es geht?« »Ja, warum nicht? Es handelt sich um den Reifen eines der beiden Jeeps, die den Transport mit den Soldgeldern begleiten.« »Also haben Sie einen Verdacht auf Sabotage?« »Ja, so kann man es nennen. Sabotage. Aber wer diesen Transport sabotiert, der will an das Geld. Das kann natürlich alles ein Zufall sein. Aber es kann auch etwas dahinterstecken.« »Haben Sie noch andere Verdachtsmomente?« »Nein, nicht die geringsten. Aber wissen Sie, jahrzehntelang ist das nun gut gegangen, und daraus kann man zwei Schlüsse ziehen. Der eine lautet, es wird auch weiterhin alles gut gehen. Und der andere lautet, gerade weil es so lange gut gegangen ist, muß jetzt etwas passieren. Und ich werde dafür bezahlt, daß ich das Zweite annehme.« Szene im Büro des Sicherheitsoffiziers.
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Wieder die beiden Jeepfahrer. »Sergeant, Sie machten das letzte Mal den Fehler, allein mit Ihrem Jeep den Transport fortzusetzen. « »Ich versichere Ihnen, Sir, wenn wir noch einmal eine Panne haben sollten, dann werde ich warten, bis der Schaden behoben ist.« »Nein, Sergeant, das werden Sie nicht tun.« Die beiden Jeepfahrer sehen den Sicherheitsoffizier erstaunt an. »Denn wir haben Grund zu der Vermutung, daß ein Überfall auf den Transport geplant ist. Die Beschädigung des zweiten Jeeps kann, falls sie von dritter Seite absichtlich herbeigeführt wurde –, was nicht auszuschließen ist –, nur den Zweck haben, diesen Jeep und damit seine Besatzung von dem Transport zu trennen. Wir wissen nicht, für wann der Überfall geplant ist. Wir könnten natürlich von jetzt an mit verschärfter Bewachung fahren und diese Maßnahme deutlich zeigen. Ich habe aber keine Lust, auf Monate oder Jahre hinaus mit einem Überfall zu rechnen. Wer auch immer ihn plant, soll es jetzt versuchen. Und dazu muß er provoziert werden, damit wir ihn schnappen können. Also werden wir so tun, als hätten wir nichts bemerkt. Der oder die Täter werden sich sicherer fühlen. Ich werde allerdings dafür sorgen, daß dem Transport, falls er wirklich überfallen wird, sofortige Hilfe zuteil wird. Sollte irgend jemand Sie unterwegs aufhalten und mit der Waffe bedrohen, so leisten Sie nicht den geringsten Widerstand. Lassen Sie Ihnen die Beute. Wir bekommen sie schon. Haben Sie das verstanden?« »Ja, Sir.«
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»Dann können Sie jetzt gehen, über die weiteren Einzelheiten werden Sie noch informiert.« Neue Szene. Zwei Wochen später. Der Überfall verläuft so, wie die beiden Männer ihn sich vorstellen. Die Schranken haben den ersten Jeep vom Transporter getrennt, der zweite Jeep ist in der Nähe des Flughafens stehengeblieben. Totale von oben. Luftaufnahme. Die Kamera befindet sich in einem Hubschrauber der amerikanischen Militärpolizei. Unten sieht man den Güterzug fahren, zu beiden Seiten der Schranke die Fahrzeuge. Auf der einen Seite des Güterzugs zwei Männer in Uniform. Sie liegen im Staub der Schotterstraße. Am Bahndamm entlang rennen die beiden Männer. Sie laufen in Richtung Unterführung und haben jeder einen Sack in der Hand. Einer der beiden Soldaten erhebt sich, geht zum Transporter und greift in das Innere der Führerkabine. Der Pilot des Helikopters spricht in das Funkmikrophon: »Ja, Sergeant, ich verstehe Sie. Sind Sie verletzt?« Pause. »Gut. Wir nehmen die Verfolgung auf. Sie bleiben, wo Sie sind.« Der Hubschrauber dreht seitlich weg und folgt etwa hundert Meter dem Bahndamm. Auf der anderen Seite des Tunnels steht der Opel Kapitän. Die zwei Männer werfen sich in den Wagen, der Kapitän fährt los, in Richtung Stadtmitte. Der Pilot spricht in das Funkmikrophon: »Ich rufe Zentrale. Bitte Einsatzwagen in Richtung Spandauer Damm. Schwarzer Opel Kapitän mit zwei bewaffneten Männern fährt in Richtung Charlottenburg. «
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Die Kamera schwenkt in den Mannschaftsteil des Hubschraubers. Dort sitzen sechs schwerbewaffnete Militärpolizisten. Schnitt. Das Innere des Opels. »Gorski, die sind genau über uns.« Man hört das Geräusch des Hubschraubermotors. Es wird lauter. »Gorski, werden sie schießen?« »Wir müssen ins Zentrum, Gorski, so schnell es geht, dort untertauchen im Verkehrsgewühl. Sie werden nicht aus dem Hubschrauber in die Passanten schießen.« »So weit kommen wir nicht. Die schicken jetzt die Einsatzwagen auf unsere Fährte. In spätestens fünf bis zehn Minuten sind wir eingekesselt.« »Dann müssen wir vorher raus. Mein Gott, Gorski, ich hab's gewußt.« Vor ihnen taucht ein leeres Fabrikgebäude auf. Gorski reißt das Steuer herum, biegt durch ein halbgeöffnetes Tor auf den Vorplatz ein, fährt an zwei Seiten des Gebäudes entlang, findet auch dort eine offene Einfahrt und lenkt den Wagen in das Innere der Montagehalle. Gorski und Benjamin springen aus dem Wagen. Auf dem Vorplatz des Fabrikgebäudes geht der Hubschrauber nieder. Er landet, und die Militärpolizisten springen heraus, sie laufen um das Gebäude herum, um von verschiedenen Seiten einzudringen. Rufe mit dem Megaphon, das Übliche. Gorski und Benjamin hinter alten Maschinen. Benjamin zu Gorski: »Gorski, du wirst nicht schießen.«
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»Doch, Benjamin, bis das Magazin leer ist.« »Du kannst es nicht mehr, Gorski.« »Das werden wir sehen, das verlernt man nicht.« Die Militärpolizisten kommen von allen Seiten. Gorski ruft: »Halt, gehen Sie zurück, wir sind bewaffnet.« Das Megaphon: »Werfen Sie die Waffen weg und ergeben Sie sich, Sie haben keine Chance.« Gorski und Benjamin hinter der Maschine geduckt. Gorski nimmt einen der Militärpolizisten ins Visier. Benjamin: »Nein, Gorski, es hat keinen Zweck.« Mit einer raschen Bewegung greift er nach Gorskis Handgelenk und versucht, ihm die Pistole zu entwinden. Ein Schuß löst sich und trifft Benjamin ins Bein. Auf den Knall des Schusses hin feuern die Militärpolizisten. Gorski wird getroffen, noch ehe er sein Magazin leergefeuert hat. Gorski und Benjamin liegen am Boden. Fünf MPs stehen um sie herum. Einer kommt aus dem Hintergrund, von dort, wo der Opel steht. Er hat zwei Säcke in der Hand und stellt sie vor Gorski und Benjamin. Aus seiner Hosentasche holt er ein Taschenmesser, öffnet es und schneidet die plombierte Verschnürung durch, dreht die Säcke um und kippt sie aus. Einige Dutzend Pakken Zeitungsschnitzel fallen auf den Boden, sorgfältig gebündelt und verschnürt …
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So ungefähr lautete mein Text. Genau kriege ich es nicht mehr zusammen, denn das erste, was Gorski tat, war, daß er die Seiten langsam zerriß. Dann stand er auf, und ich schob mich in meinem Sessel hoch. Ich hatte sein Gesicht noch nie so nah gesehen. Mir fiel nur auf, wie alt seine Augen waren und daß dieser Mann schon eine Weile länger lebte als ich. »Nein, Benjamin«, sagte er leise, »nein, Benjamin, so nicht. Du kennst nicht das Militär und weißt nicht, wie scheißegal denen alles ist. Die andern sind die Trottel, begreif das endlich, denen kannst du hundertmal in die Reifen stechen, und sie kümmern sich einen Dreck darum!« Er packte mich vorne an der Jacke, und jetzt schrie er. »Einen Dreck, du Idiot, einen Dreck! Aber du staunst immer die anderen an, du verpaßt alles mit offenem Mund. Von dir lasse ich mir meine Chance nicht kaputtmachen, von dir nicht!« Er griff mein Jackett fester, als wollte er mich schütteln, und dabei muß er sie gespürt haben. Mit einem raschen Griff zog er die Pistole aus meiner Brusttasche. »Richtig, Landwehrkanal!« sagte er müde. Der Schlag, der mich mitten ins Gesicht traf, war seine Rückhand. Bevor ich mit dem Hinterkopf an der Waschbeckenkante aufschlug und alles dunkel wurde, dachte ich: Er meint es ernst, und er glaubt, daß wir es schaffen!
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20 »Wir schaffen es, Benjamin!« »Ich weiß, Gorski!« Was ich nicht mehr weiß ist, wie oft wir diese Worte gewechselt haben in den letzten Tagen. Wir haben versucht, uns zu entspannen, waren viel im Grünen, und ich ertappte Gorski gelegentlich dabei, wie er eine Zigarette wieder in die Packung steckte. Als wenn wir in ein paar Tagen den jahrelangen ruinösen Konsum von Giften wieder wettmachen könnten. Immer wieder gingen wir die einzelnen Schritte des Überfalls durch. Wir saßen in den Sesseln am Fenster. Draußen war es dunkel. Es war Donnerstagabend. Noch eine Nacht blieb uns und ein Stückchen Freitagmorgen. »Ich hab mir das mit dem Reifen durch den Kopf gehen lassen, Benjamin. Du hast recht. Wir haben es probiert und es hat geklappt. Aber man soll so was nicht wiederholen.« »Und?« »Auf der gleichen Seite befindet sich der Füllstutzen des Tanks. Eine Prise Saccharose reicht. Ich hab das Zeug schon in Benzin suspendiert, damit es sich im Tank schneller auflöst. Der Motor macht noch ein paar Umdrehungen mit dem, was an Sprit in der Leitung ist, und dann – pft! Sense! Saccharose im Benzin – derselbe Effekt, wie wenn du reinpinkelst.« »Na fabelhaft – dafür nimmst du dir eine Viertelstunde
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Zeit – und Fahrer und Beifahrer sind taub und blind!« »Benjamin, hab ich dir aus dem Krieg erzählt, vom Polen Gorski? Von Haftladungen und Wehrmachtslastwagen?« »Ja, aber der Partisan Gorski war noch ein halbes Kind, diese Tarnung hast du heute nicht mehr.« »Richtig, aber ich hab immer noch das todsichere Gefühl für den toten Winkel des Rückspiegels. Du hast gesehen, wie ich das mit der Ahle gemacht habe. Mehr Zeit brauche ich auch nicht für den Füllstutzen. Die haben heute einen Klappverschluß. Klick-klack!« »Klick-klack!« wiederholte ich, richtete den Zeigefinger auf ihn und bewegte ihn wie am Trigger. Gorski machte eine Handbewegung, als verscheuche er eine Fliege. »Die fahren im Turnus. Wissen nie, wer drankommt. Das ist immer so bei solchen Unternehmen. Damit niemand von denen auf dumme Gedanken kommt. Das erstemal, als ich mit Sparta da war, saßen zwei Schwarze drin. Dann, als wir beide die Route abfuhren, zwei Weiße. Wenn jetzt wieder die Schwarzen drin sein sollten, dann wissen die vermutlich nichts von der Panne beim letztenmal.« »Gut! Und an der Schranke? Wenn Sie schießen?« »Die im Transporter schießen nicht, die sind überrumpelt.« »Und die auf der andern Seite?« »Nur, wenn der Zug hält – und das tut er nicht.« »Und wenn sie aus dem Hubschrauber feuern?« »Da war einmal ein Hubschrauber«, sagte Gorski, »und
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du weißt genausogut wie ich, daß es höchst zweifelhaft ist, ob er überhaupt etwas mit dem Transport zu tun hatte.« »Und wenn doch ein zweiter Wagen mitkommt, wenn sie mißtrauisch werden und per Funk eine MP-Streife hinbeordern.« »Reine Hypothese.« »Wenn schon. Was dann?« »Wir sehen sie rechtzeitig kommen«, sagte Gorski. »Sehr fraglich. Höchstens einer sieht sie kommen, weil der andere inzwischen im Bahnwärterhaus sein muß.« »In diesem unwahrscheinlichen Fall ist auch nur einer gefährdet; der andere kann sich auf jeden Fall rechtzeitig zurückziehen.« Er stutzte. »Ach was. Selbst der vom Bahnwärterhaus könnte rechtzeitig umkehren und die Schranke wieder hochgehen lassen nach dem Güterzug. Es kann ja sowieso nur stattfinden, während der Güterzug noch vorbeifährt. Mann, und der war jedesmal ganz schön lang. Ein bis zwei Minuten. Es geht, und es geht ohne Schießen.« »Die Schranke. Wie wissen wir, daß dem Bahnwärter nichts Ernstes passiert?« »Das ist mein Job«, sagte Gorski. »Dem Alten wird nichts geschehen, verlaß dich drauf. Ich warte, bis er die Streckenmeldung entgegengenommen hat. Dann geh ich rein und binde ihn an seinen Stuhl fest, weiter nichts. Ich werd schon fertig mit ihm, ohne ihn zu verletzen. Dann kann ich die Schranke genau im richtigen Moment runtergehen lassen. Und wenn es nicht klappen sollte mit der Trennung des Jeeps vom Transportwagen, weil ich viel-
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leicht doch was falsch gemacht hab oder weiß der Kukkuck warum, dann kann ich das vom Bahnwärterhaus immer noch rechtzeitig sehen. Ich brauch ja erst loszulaufen, wenn der Güterzug da ist. Und du läufst vom Tunnel aus auch erst los, wenn die Güterlok über den Tunnel weg ist. Die Zeiten haben wir alle genommen, und es hat genau hingehaun. Sollte es aus irgendeinem verrückten Grund nicht klappen, bleibt jeder, wo er ist. Und noch etwas: Wenn ich im Bahnwärterhaus bin, leitest du ja zunächst den nachfolgenden Verkehr von der Schotterstraße weg. Du siehst also schon an der Kreuzung, mit wie vielen Wagen sie kommen. Und zwar rechtzeitig, mit einem Fernglas. Und wenn es mehr als zwei Wagen sind, dann läßt du die Umleitungsschilder im Graben neben der Schotterstraße liegen und fährst, bevor die Kolonne die Kreuzung überhaupt passieren kann, mit dem Opel voraus auf dem Bahndamm, denn da kann ich ihn vom Bahnwärterhaus gut sehen. Na und? Dann lassen wir es eben sein, du fährst weiter, und ich geh weg aus dem Bahnwärterhaus, wenn die Kolonne vorbei ist. Du könntest mich sogar später da abholen.« »Okay, soweit! Aber lassen wir mal alles klappen. Wir sind am Transportwagen, und einer der beiden Soldaten schießt doch. Es muß nicht an uns liegen, daß er das tut. Was weiß ich. Vielleicht dreht er einfach durch. Würdest du versuchen, schneller zu sein?« »Sie werden nicht schießen. Keiner von beiden. Die wollen auch nur leben, weiter nichts.« »Würdest du schießen, oder würdest du nicht?«
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»Ich würde es tun«, antwortete Gorski. Ich glaubte es ihm nicht. »Mit andern Worten, du brächtest es fertig, einen oder beide einfach abzuknallen.« »Nein, nein. Du verlangst Antworten auf völlig sinnlose Fragen. Es geht ohne Schießen ab, aber wir könnten es nicht machen, wenn nicht einer von uns beiden sicher mit einer Waffe umgehen könnte, und das kann ich. Das wollte ich damit sagen. Ich hab doch keinen Spaß dran, einen abzuknallen. Hör jetzt auf damit. Ich hab's satt. Ich will was machen. Ich will was machen, was bleibt. Was Greifbares. Etwas, was ich anfassen kann! Verstehst du?« »Ja.« »Gut«, sagte Gorski. »Das ist also geklärt. Ich stelle dir jetzt eine einfache Frage, und du brauchst nur mit Ja oder Nein zu antworten. Kein Wenn und Aber mehr. Keine Geschichten.« Er sah mich ganz ernst an, als er fragte: »Machst du mit oder nicht?« Spätestens an dieser Stelle hätte ich noch einmal die Chance gehabt, ihn sitzen zu lassen in seinem Sessel mit seiner Idee. Ich hätte gehen können. In jenem Augenblick hab ich nicht daran gedacht, daß seine Entscheidung von meiner abhängig war, denn allein konnte er es auf keinen Fall tun. Ich gebe zu, ich hab nur an mich gedacht, und das auch nicht in klaren Gedanken. Ich hab nicht dran gedacht, wie es wäre, wenn der Überfall gelingt, was danach wäre, und auch nicht an das Geld. Nicht einen Augenblick lang. Es war das andre. Undeutliche, bedrükkende Bilder in kurzen Schüben. Einmal war ein Bild dabei, das ich im Kopf gehabt hatte, als Sparta mir vom
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Zuchthaus erzählte. Ich spürte eine einsetzende Panik, wehrte mich dagegen und wollte mich nicht überschwemmen lassen. Es war eine Angst tief unten, die mir die Entscheidung abnehmen würde, wenn ich jetzt nicht redete, wenn ich nicht entschlossen oben blieb. Und ich fühlte wieder, was ich schon einmal gespürt hatte. Wenn wir jetzt aufhörten, würde es nie wieder sein wie früher. Die Arbeit, die Filme und wir selbst – das würde alles traurig sein, man könnte genausogut darauf verzichten. »Ja«, sagte ich. »Ich mach mit.« Seltsamerweise spürte ich, wie die Panik zurückflutete. Fast fühlte ich mich erleichtert. Als hätte ich mich befreit. Ich kam nicht mehr dazu, mich zu wundern. Lärm kam im Flur auf; es hörte sich an, als stürmten mehrere Leute herein. Es war schon spät, aber sie gaben sich keine besondere Mühe, leise zu sein. Sie hatten auch keinen Grund dazu. Das Haus war längst von allen Seiten umstellt.
21 Zwei uniformierte Polizisten mit Pistolen in den Händen standen links und rechts im Türrahmen und in der Mitte ein älterer Mann in Hut und Mantel. Bevor der Mann etwas sagen konnte, fing Gorski an zu lachen. Sein Gesicht lief rot an, seine Augen tränten, kreischend vor Lachen schlug er sich auf die Schenkel, und weil er immer noch 242
zuviel rauchte, ging sein Lachen in einen krächzenden Husten über. Er verschnaufte, rang nach Luft und sah mich fast erwartungsvoll an mit einem Gesicht, das jeden Augenblick wieder zu entgleisen drohte. Durch die offene Flurtür sah ich weitere Polizisten. »Na los«, sagte der Mann in Zivil, »Sie dürfen ruhig die Hände hochheben, der Spaß ist vorbei. Gehen Sie raus auf den Flur. Lassen Sie hier alles stehen und liegen.« Gorski klopfte sich auf die nackte Brust. »Sie gehen vor«, sagte der Mann zu mir. Er verzog keine Miene. Mir fiel auf, daß er spitze, schwarze Schuhe trug. Die beiden uniformierten Polizisten neben ihm waren jünger. Sie hatten Pistolen. Einer der beiden ging hinter mir her auf den Flur. Beim Rausgehen hörte ich Gorski noch sagen: »Und was soll das Ganze, wenn's fertig ist, Herr Kommissar?« Die Antwort bekam ich nicht mehr mit. Strunkmann stand schon mit erhobenen Händen an der Wand, neben ihm seine Freundin und zwei Typen, die ich zum erstenmal sah. Dann waren noch die beiden Artisten da. Zwei Polizisten mit Maschinenpistolen standen beim Eingang, zwei beim Ausgang zum Hinterhof. Ein jüngerer Mann von vielleicht dreißig und in Zivil war noch bei. Er schien die unmittelbaren Befehle zu erteilen. Ich stellte mich zwischen Strunkmann und den beiden Artisten an die Wand. Das Mädchen neben Strunkmann ließ die Arme herunter. Einer der Polizisten sah es sofort. »Nehmen Sie die Hände hoch.« »Erschieß mich doch«, sagte das Mädchen. Der Polizist drehte sich um zu dem älteren Mann in Zivil, der mit Gorski aus unserm Zimmer kam. Ein paar Polizisten
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fingen bei uns an der Wand mit der Leibesvisitation an. Ich fragte mich, wo Frau Kaminsky war, Gorski drängelte sich zwischen mich und die Artisten. Als die Reihe an mir war, sagte Gorski: »Ich kann das gar nicht mitansehen, wie die Leute hier rumstehen. Der Durchsuchte muß sich mit gespreizten Armen an der Wand abstützen, mit den Füßen von der Wand weg. So, Herr Wachtmeister.« Er machte es vor. »Halten Sie den Mund und stellen Sie sich hin wie die anderen auch«, sagte der jüngere Mann in Zivil, »hier läuft nicht Ihre Sorte Film, Herr.« »Ich will den Durchsuchungsbefehl sehen«, sagte Gorski. »Den haben Ihre Freunde schon studiert, da werden Sie auch nichts Neues mehr drin finden«, und zu dem älteren Mann in Zivil sagte er: »Das sind anscheinend alle, die hier sind, Herr Tischler.« Die Polizisten klopften uns ab, und wir mußten unsere Pässe abgeben. Einer der Polizisten übergab sie gestapelt dem jüngeren in Zivil, und der reichte sie weiter an Herrn Tischler, der sofort anfing, in den Pässen zu blättern. »Sehen Sie sich mal ein bißchen mit in den Räumen um«, sagte Herr Tischler zu dem Jüngeren in Zivil. Bei Strunkmann fanden sie etwas mit Stanniol Umwickeltes in der Brusttasche. Ein Polizist reichte es an Herrn Tischler weiter. Der riß das Stanniolpapier an einem Ende auf und roch daran. »Sie können sich jetzt umdrehen und die Hände herunterlassen« sagte Herr Tischler. Er wandte sich wieder den Ausweisen zu, blätterte, suchte einen bestim-
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mten Paß heraus, schlug ihn auf und sah Gorski an. »Da sehen Sie mal, was man hier alles finden kann, Herr Gorski«, sagte er. »Haschisch. Rauschgift.« Er roch wieder daran. »Inzwischen kann ich schon die verschiedenen Sorten unterscheiden.« »Rauschgift«, sagte Strunkmann, »da lachen ja die Hühner.« »Lachen Sie doch, wenn Ihnen danach zumute ist.« »Mit Ihnen reden wir überhaupt nicht«, sagte das Mädchen. »Haben Sie's nie probiert?« fragte Gorski Herrn Tischler. »Ist gut, Herr Gorski«, sagte Tischler. »Sie und Herr Benjamin können gehen. Hier sind Ihre Pässe.« Ich nahm die beiden Pässe. Der Jüngere in Zivil kam mit einem Schnellhefter in der Hand aus unserem Zimmer. »Herr Tischler«, sagte er, »einen Augenblick noch. Das hab ich im Zimmer gefunden. Es ist eine Zusammenstellung von Aufzeichnungen, und was für welche. Hören Sie doch mal: Seit einem halben Jahr verkehrt der Güterzug dort immer zur gleichen Zeit, um elf Uhr zehn. Er fährt relativ langsam, solange er die Schranke passiert, und er hat etwa vierzig Wagen. Der Überfall findet statt, während der Güterzug die Schranken passiert. Die Zeit reicht aus. Sie reicht sogar zum Entkommen.« »Interessant«, sagte Herr Tischler, »sammeln Sie mal alles schön ein.« Er wandte sich an micht. »Geben Sie die Ausweise wieder her.« Der Polizist nahm sie mir wieder ab, und Gorski sagte:
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»Damit schießen Sie einen Bock, Herr Kommissar, das war der Drehbuchschluß eines Films. Auftrag einer öffentlich-rechtlichen Anstalt. Damit kriegen Sie nichts wie Ärger, das versprech ich Ihnen.« »Ich bin kein Kommissar«, sagte Herr Tischler, »es gibt auch noch andere Ränge bei der deutschen Polizei.« Ich dachte an die Kopie, die hinten im Opel lag, weil ich immer eine zur Hand haben wollte. Und dann kam Frau Kaminsky und mit ihr auch Herr Friedrich Müller, der Vielseitige. »Herr Tischler, das sind nicht alle«, sagte er. Weiter kam er nicht, denn Frau Kaminsky mochte nicht hinnehmen, daß in ihrem eigenen Haus ein anderer den Ton angab als sie selbst. »Rühren Sie mich nicht an«, sagte sie mit eisiger Stimme zu einem jungen Polizisten, der mit seiner Maschinenpistole neben dem Eingang stand und nicht die geringste Bewegung gemacht hatte. »So ein Unsinn, was soll das heißen, Herr Tischler«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »ich hab Ihnen hoch und heilig versichert, bei mir sind keine Politischen, und Sie haben gesagt, dann kommen Sie auch nicht mehr wieder. Ich verlange eine Erklärung.« »Es tut mir leid«, sagte Herr Tischler, »aber Sie hatten mir fest versprochen, Ihren Laden sauber zu halten.« »Laden sauberhalten!« Frau Kaminsky griff in ihre kunstvoll angeordneten Haare. »Was soll denn das heißen?« »Das will ich Ihnen gerne sagen. Was wir hier schon gefunden haben, das reicht vollkommen aus.«
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Frau Kaminsky stellte Ihre Einkaufstasche und den bunten Regenschirm ab. Sie trat ein paar Schritte vor und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Na und? Was wollen Sie denn hier gefunden haben?« fragte sie. »Rauschgift«, antwortete Herr Tischler, und der Jüngere in Zivil fügte hinzu: »Einer hat es sogar im Blumenkasten angebaut. Davon wußten Sie natürlich nichts. Und Pläne für einen bewaffneten Überfall. Davon haben Sie natürlich erst recht nichts gewußt.« »Die beiden sind vom Film«, sagte Friedrich Müller zu Herrn Tischler, »das soll ein Film werden, dieser Überfall. Die sind harmlos.« Weder rülpste er zur Einleitung, noch spielte er sonstwie den Betrunkenen. Herr Tischler blätterte in unseren Pässen, und Frau Kaminsky verschwand in Richtung Küche. »Herr Benjamin«, sagte er. »Sie sind viel unterwegs?« Ich schwieg. Warum fragte er mich nach etwas, was er schwarz auf weiß in Händen hatte. »Was haben Sie zum Beispiel in Israel gemacht?« »Bei mir sind dieselben Stempel«, sagte Gorski. »Warum fragen Sie mich nicht?« Herr Tischler schlug Gorskis Paß auf. »Was haben Sie also beide dort gemacht?« »Wir waren auf Motivsuche«, sagte Gorski. »Drehortbesichtigung!« Herr Tischler klappte den Paß zu und blickte ihn an.
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»Wie heißt denn der Film?« »Er ist nicht gemacht worden.« »Ach nein. Und warum nicht?« »Ich weiß zwar wirklich nicht, was Sie das angeht«, sagte Gorski, »aber das Geld hat nicht gereicht, die Produktion kam nicht zustande.« »So«, sagte Herr Tischler, »das Geld hat nicht gereicht. Ich habe nie verstanden, was eigentlich so teuer ist an einem Film. Können Sie mir das nicht mal verraten?« »Wir«, antwortete Gorski. »Wie Sie sehen, kampieren wir nur in den feinsten Etablissements. Wir stecken alles in die eigene Tasche. Riechen Sie nicht, daß wir stinken vor Geld?« »Sie können gehen«, sagte Herr Tischler. »Beide. Morgen früh ab elf Uhr können Sie sich die Pässe bei mir im Präsidium abholen. Sicher haben wir dann noch Gelegenheit zu einem Gespräch. Ich möchte sicher sein, daß Sie die Stadt nicht verlassen, solange diese Ermittlungen laufen.« »Was sind denn das für Ermittlungen?« fragte Gorski. Herr Tischler gab unsere Pässe an seinen Kollegen weiter. »Sehen Sie, das ist der Unterschied. Das geht Sie nun wieder nichts an, Herr Gorski. Und jetzt muß ich wirklich arbeiten, meine Herren.« Frau Kaminsky kam aufgeregt aus der Küche zurück. Ein Polizist trat aus ihrem Erinnerungszimmer, und ihre Stimme wurde schrill. »Nein! Das lasse ich nicht zu. Da haben Sie nichts zu suchen!«
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»Kommen Sie, wir sehen es uns zusammen an«, sagte Herr Tischler und nahm Frau Kaminsky beim Arm. »Auf Wiedersehen«, sagte ich, aber ich glaube, sie hat mich gar nicht gehört. Gorski wartete schon draußen.
22 Tonbandprotokoll Aussage Anna Przygodda (3): So hab ich's mir nicht vorgestellt, wie's dann gekommen ist. Der Mann mit den Pässen war Sparta noch einen Gefallen schuldig, ich weiß nicht wofür und warum. Ich hatte ihn noch nie gesehen und kenne ihn bis heute nicht. Spartas Geschäfte gingen mich nichts an, und ich wollte auch gar nichts davon wissen. In diesem Fall bekam ich damit zu tun, weil der Mann Sparta einen besonderen Gefallen tun wollte, und deshalb hat er Gorski und Benjamin die Pässe auf echtem Papier und mit richtigen amtlichen Stempeln gemacht. Das war natürlich genau das Verkehrte, und Sparta hat deswegen hinterher auch gleich mit mir geredet. Ob ich etwas für ihn tun wollte, fragte er mich, und ich hatte keinen Grund, das abzulehnen. Natürlich wollte ich wissen, warum er die Pässe sofort wiederhaben wollte. Wegen dem Amitransport. Ich hab ihn wohl blöd angesehen, denn er sagte: »Du warst doch im KEMPINSKI dabei.« Da hab ich ihn einfach gefragt, ob er glaubt, die beiden wollen den Überfall machen. Sparta lächelte und fragte mich, was ich denn meine. 249
»Du traust ihnen nicht mehr«, sagte ich, »auch nicht dem Benjamin?« Sparta lächelte, als wolle er mich beruhigen. »Dem Benjamin eigentlich schon«, antwortete er, »aber die beiden hängen zusammen. Das stimmt doch.« Er sah mich an. »Ja«, sagte ich. Er wußte es sowieso, auch wenn wir noch nicht darüber geredet hatten. So was spürt er. Das braucht man ihm gar nicht erst zu erzählen. »Nur für den Fall, daß sie auf dumme Gedanken kommen, weil sie jetzt eine Pistole und Zweitpässe haben. Gorski hat manchmal Ideen. Sie könnten in eine Situation kommen, mit der sie nicht fertig werden.« »Glaubst du, Gorski könnte Benjamin überreden, den Überfall mitzumachen?« »Darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen«, sagte Sparta, »weil es nämlich gar nicht erst soweit kommen wird. Deswegen geh jetzt hin, guck in ihrem Zimmer nach den Pässen und bring sie mir. Ich geb ihnen das Geld zurück, das sie für die Pässe bezahlt haben. Zufrieden?« »Kannst du Gorski eigentlich nicht leiden?« Sparta lachte. »Aber ja. Grad weil ich ihn leiden kann. Ich will nicht, daß ihnen was passiert.« »Sagst du das jetzt, weil du nicht willst, daß sie es tun, oder kann es auf keinen Fall klappen mit dem Überfall?« Sparta sah mich wieder an. Er war ganz ernst. »Es geht auf keinen Fall, Anna, glaub mir. Sie würden beide dabei draufgehen. Los, geh jetzt, Petchen fährt dich.«
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Es war nicht schwer, ungesehen in die Pension und in ihr Zimmer zu kommen. Ich hab nicht lange gebraucht, um festzustellen, daß die Pässe nicht da waren. Roland hat mir mal gezeigt, wie man systematisch ein Zimmer durchsucht und worauf man achten muß. Die Pässe waren nicht da. Beim Rausgehen hatte ich das Gefühl, als hätte mich jemand gesehen, aber ich bin nicht sicher. Als ich mich umdrehte, war keiner da. Petchen fuhr mich gleich danach wieder zu Sparta. Er meinte, ich solle mir weiter keine Sorgen machen, er würde am nächsten Tag selbst hingehen. Vielleicht sei es überhaupt noch zu früh gewesen, die beiden wären möglicherweise noch gar nicht in die Pension zurückgekehrt, nachdem sie bei dem Mann mit den Pässen gewesen waren. Am nächsten Tag sah ich Sparta nicht, Blacky sagte mir, er sei für eine Woche verreist wegen Verhandlungen mit einem Makler über Konzessionen in Bremen und Hamburg. Ein paar Tage passierte nichts. Bis mich Benjamin am Sonntagnachmittag besuchte. Mama stand am Herd und bosselte sinnlos mit Töpfen herum. Ernstchen hockte am Boden vor seiner Sammlung von Fix-und-Foxi-Heften. Die Küche sieht nicht aus wie eine aus der »BRIGITTE«, nur mit Schubläden, glänzenden Maschinen, Knopfdruck und so. Wenn man genau hinguckt, sieht man, daß der ewige Kochdunst langsam die Wände zerfrißt, und ich hab in dieser Küche noch keine Jahreszeit ohne Fliegen erlebt, ob mit geöffnetem oder geschlossenem Fenster. Wir hockten
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stumm herum. Mama bemühte sich, möglichst leise zu sein, und Erich blätterte in der Zeitung. Es war so richtig friedlich. Bis der Krach losging. Es kam aus dem Treppenhaus, und es ging los wie ein riesiger Lautsprecher, und ich hätte nie geglaubt, daß es nur ein Kofferradio war. Ich schoß ab durch die Küchentür, als ob ich schon was geahnt hätte. Im Flur stand Benjamin. Als er mich sah, stellte er das Kofferradio ab. »Na also«, sagte er, »es hat geklappt. Da bist du.« »Spinnst du«, sagte ich, weil ich dachte, mich trifft der Hammer. »Was soll denn das? Warum machst du so'n Krach? Wie kommst du überhaupt hierher, Mann?« »Rock'n'Roll«, sagte Benjamin, »das ist eine Musik, die dich weglockt von zu Hause, oder willst du mich vielleicht deinen Eltern vorstellen?« »Das hätt noch gefehlt«, sagte ich, »laß uns bloß schnell abhauen, ich muß nur noch Bescheid sagen.« Benjamin stand schon unten an der Treppe, als ich zurückkam. Er kam mir irgendwie komisch vor, nicht so ruhig wie sonst. Wir fuhren mit dem Taxi zu so einem Gartenlokal in Schlachtensee; das war zwar kaum mehr als eine Imbißstube mit Tischen und Stühlen im Grünen, aber man kann da ruhig sitzen. Da saßen einige Leute, und ein paar kleine Kinder liefen herum und pusteten Seifenblasen in die Luft. Benjamin saß auf einem Gartenstuhl und sah durch die Leute durch. Merkwürdig war er heute. Schon im Taxi auf dem Weg hierher. »Was ist los?« hab ich ihn gefragt. »Weiß nicht«, antwortete er. »Ist was mit Gorski?«
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»Gorski ist okay«, sagte er. »Gorski ist richtig.« »Wer was von ihm will, kriegt's mit dir zu tun?« »So ist es«, sagte Benjamin. »Ich will ihm ja gar nichts.« »Weiß ich.« »Vielleicht solltest du dir mehr Gedanken über dich selber machen als über Gorski.« Benjamin schwieg, bis uns eine dicke Frau den Kaffee hingestellt hatte. Er blinzelte in die Sonne, die alle zehn Minuten oder so durch die Wolken kam. »Du bist enttäuscht«, sagte Benjamin. »Wovon sollte ich enttäuscht sein. Warum?« »Von mir natürlich. Sei ehrlich, Anna.« »So was hab ich mir abgewöhnt«, sagte ich. »Was hab ich denn davon, wenn ich hier mit dir sitze und sauer bin?« »Würdest du lieber woanders hingehen?« fragte Benjamin. »Möglich. Wenn du vielleicht Musik hören willst?« »Nein«, sagte Benjamin, »ich mag keine Diskotheken mehr.« Er rührte in seiner Tasse und blickte vor sich hin auf den Tisch. Die Platte war schmutzig und rissig; die grüne Farbe blätterte ab, und in einer Bierpfütze zappelte eine Fliege. »Ich geh manchmal ganz gern wegen der Musik hin«, sagte ich. Kannst du mir nicht sagen, was los ist?« Benjamin sagte: »The man in me will hide sometimes to keep from bein' seen. But that's just because he doesn't want to turn into some machine. Wie spät ist es?«
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»Fünf.« »Dann lohnt's nicht mehr. Oder ist dir kalt?« Ich schüttelte den Kopf. Ich glaube nicht, daß er annahm, ich fragte ihn, was mit ihm los wäre, um es Sparta zu berichten. Ich weiß ja bis heute nicht, wie weit sie damals schon waren. Ob sie's schon beschlossen hatten. Und solange ich mit Benjamin zusammen war, wollte ich's vielleicht auch gar nicht wissen. Und so hab ich ihn nicht gefragt. Auch nicht nach den Pässen. »Was gefällt dir so an Dylans Platten?« »Ich mag seine Lieder. Einfache Lieder mit einfachen Wörtern … Er redet von Erfahrungen, erzählt Geschichten, auch wenn sie sich nur in seinem Kopf abgespielt haben. Der guckt durch, der Typ.« Er lächelte und rief: »But I would not feel so all alone, ev'rybody must get stoned.« Ich betrachtete ihn, wie er mir gegenüber am Tisch saß, stumm jetzt, und ich wünschte mir, ich könnte nur einen Moment mit seinen Augen sehen: unter anderem auch mich selber. Zum Schluß hab ich dann noch einen ganz kleinen, dünnen Joint gewickelt, und kein Mensch hat was gemerkt an der frischen Luft. Dann telefonierte er nach einem Taxi. Während der Fahrt saßen wir wieder nebeneinander, und es war wieder so wie an dem Tag auf der Havel. Als ich ihn das nächstemal sah, das letztemal, da war dann alles ganz anders. Sparta hatte mit mir nicht mehr über die Sache geredet, also fragte ich ihn auch nicht danach.
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Ich konnte die beiden ja selbst danach fragen. Am besten, wenn ich nicht mit Benjamin allein war. Es war der Donnerstagabend. Als ich aus dem Taxi steigen wollte, sah ich grad noch rechtzeitig, wie die Polizei anrückte und die Pension umstellte. Der Taxifahrer hat sich bestimmt auch seinen Teil gedacht, denn ich hatte ihm ja vorher die Adresse angegeben und sagte ihm nun, er solle noch ein Stück weiterfahren. Ich hatte den Opel Kapitän weiter weg in der Straße gesehen, und ich wollte abwarten. Ich stieg in den Wagen, ohne daß die Polizisten etwas davon merkten. Sie waren schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen, so viel hatte ich vom Taxi aus trotz der Dunkelheit sehen können. Ich wußte, daß ein Seitenfenster des Opel nicht richtig schloß, so brauchte ich es nur einzudrücken und reinzulangen zum Türgriff. Ob die Polizei wegen Gorski und Benjamin da war? Dann konnte ich hier lange warten. Aber warum sollten sie? Ich sah auf meine Uhr. Es war gegen Mitternacht. Sparta war unterwegs wie fast jeden Abend. Hoffentlich hatte er sich um die Pässe gekümmert. Nicht ein Wort hatte ich mehr von ihm darüber gehört. Das letzte, was ich im Ohr hatte, war: Sie gehen drauf dabei. Und dann kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich hatte die falschen Pässe gesucht und nicht gefunden. Aber nur in ihrem Zimmer. Ich beugte mich vor und klappte das Handschuhfach auf und bekam einen Schreck. Die Pässe waren nicht drin, dafür Pfefferminzbonbons und eine Pistole. Ich machte das Fach wieder zu und sah hinten aus dem
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Rückfenster. Sie gingen an den bewaffneten Polizisten vorbei die Steintreppe runter und kamen auf den Opel zu. Ich machte mich ganz klein zwischen den Sitzen. Sie stiegen ein und fuhren los, ohne mich zu bemerken. Als sie aus der Straße raus waren, setzte ich mich auf. Benjamin sah mich sofort im Rückspiegel. »Was soll das heißen«, sagte er. Er war angespannt und nervös. Gorski sah mich nur kurz an und drehte sich dann wieder um. »Hat Sparta mit euch gesprochen?« fragte ich. Benjamin hielt an. »Warum willst du das wissen? Er war da, und im Gegensatz zu dir hat er vorher angeklopft. Aber das ist schon lange her. Du weißt das, was fragst du also?« Natürlich hätte ich sagen können, weil ich Angst um ihn hab, aber ich tat es nicht. Weil er so abweisend war, als ob wir uns nicht kannten, wie wir uns kannten, und als ob wir uns nicht vor ein paar Tagen gesehen hätten. »Das weißt du ganz genau«, sagte ich, »es ist wegen der Pässe, und Sparta will euch ja auch das Geld dafür wiedergeben.« »Die Sache ist längst erledigt«, antwortete Benjamin. »Sparta war da, und wir haben die Sache besprochen. Und jetzt haben Gorski und ich eine Verabredung. Entschuldige uns.« »Ja«, sagte ich, »ich geh ja schon.« Benjamin sah mich nicht an. »Tu's nicht«, sagte ich, »es geht nicht, Sparta hat gesagt, es geht nicht.«
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Benjamin drehte sich um. »Ich kann es nicht mehr hören. Und ich will es nicht mehr hören. Verstehst du?« »Ich hab Angst«, sagte ich. »Ich hab solange Angst, bis ihr mir sagt, daß ihr Sparta die Pässe gegeben habt.« »Das haben wir nicht. Weil er sie gar nicht mehr haben wollte. Reicht das?« »Die Pistole«, sagte ich, aber er ließ mich nicht weiterreden. »Die Pistole ist längst weg. Ich hab sie weggeworfen. Das weiß auch Sparta. Da drüben ist ein Taxistand.« Und ich konnte wieder nichts sagen als: »Tu's nicht!«, und Gorski schwieg die ganze Zeit über mit wachsamen Augen. Ich sah zu, wie sie wegfuhren. Jetzt war ich überzeugt davon, daß sie mit dem Überfall ernst machen wollten. Nach Hause und ans Telefon. In meinem Notizbuch habe ich die Nummern von allen Lokalen, wo Sparta sein könnte. Im Büro war er um diese Zeit selten. Ich versuchte es trotzdem und ließ es sechsmal klingeln. Nichts. Im Rentnercasino kannte ich Gustav, den Geschäftsführer. »Sparta war heute gar nicht selber da«, sagte er, »er hat Blacky geschickt.« »Wann?« »Vor drei Stunden schon«, sagte Gustav, »weißt du das nicht?« »Nein«, sagte ich, »vielen Dank.« Vor drei Stunden. Jetzt war es halb zwei. Ich mußte im KÄNGURUH anrufen, was ich nicht gern machte, denn da war Virginia. Mit der komme ich nicht aus. Sie hatte kaum
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meine Stimme am Telefon erkannt, da legte sie auch schon los. Es ist mir wirklich zu blöd, das alles hier zu wiederholen, sie hat ja auch mit der ganzen Sache nichts zu tun. Ich hab einfach aufgelegt. Sparta war nicht da, was sollte ich mir ihr Geschrei also anhören. Dann fiel mir das BLUE MOON ein, Mendelson. Das ist eine kleine Bar mit Filmvorführungen, glaub ich. Ich bin noch nie dagewesen. Beim dritten Klingeln ging einer ans Telefon. Durchs Telefon hörte ich Krach wie von Brettern und einer Säge und Stimmen. »Ja«, sagte eine Männerstimme, »wer ist denn da?« »Das ist doch ganz egal. Ich will nur wissen, ob Sparta bei Ihnen ist.« »Wer?« fragte er erschrocken. »Sprechen Sie diesen Namen nicht so laut aus. Nein, er ist nicht hier. Gott der Gerechte, ich bin froh, daß ich nicht weiß, wo er ist.« Es war nichts zu machen. Ich saß da und starrte das Telefon an. Ich sah auf die Uhr. Es war drei. Ich blieb die ganze Nacht auf. Und einmal fragte ich mich auch ganz ernsthaft, ob ich mir nicht was einredete. Ich war vollkommen durchgedreht. Es war schon vier Uhr morgens, da rief ich bei Virginia zu Hause an, aber Sparta war noch immer nicht da. Natürlich hab ich sie geweckt, oder sie war betrunken, ich weiß es nicht. Geredet hab ich, wie wenn ich was zu verkaufen hätte, bloß damit sie mich anhörte und sich merkte, was ich ihr zu sagen hatte. Sparta sollte mich gleich anrufen, wenn er nach Hause kam, es sei sehr wichtig; Sie versprach mir tatsächlich, es ihm auszurichten,
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und ich legte wieder auf. Aber die Nacht war noch lange nicht vorbei, und von Sparta wußte ich noch immer nichts.
23 Es ist ein langer Weg vom Eingang mit der hydraulischen Glastür, den Korridor entlang und die breite Treppe hinunter bis zu den Buchungsschaltern der verschiedenen Fluggesellschaften in der Halle des Flughafens Tempelhof. Wir gingen dicht nebeneinander, als wenn wir uns gegenseitig bewachten. Eine weiche, weibliche Stimme kündigte die Landung einer Maschine aus New York an. Ich sah Gorski an. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Wir hatten eine Maschine herausgefunden, die zum richtigen Zeitpunkt startete. Wir konnten sie erreichen, wenn alles nach unserm Zeitplan ging. Ich dachte an Anna und spürte mein schlechtes Gewissen, weil ich sie so hatte abfahren lassen. Blieben nicht einige Leute stehen und sahen sich um nach uns? Ich bemerkte, wie ich unwillkürlich langsamer ging. Die Passagiere aus New York warteten an den Laufbändern auf ihr Gepäck. Gorski schob mich am Ellenbogen weiter. Der Buchungsschalter war leer. Ich dachte zum erstenmal daran, daß die Maschine ausgebucht sein könnte. Ich starrte noch immer mein Gesicht in dem Spiegel hinter dem Tresen an, als das Mädchen schon vor mir stand und mich müde lächelnd ansah. Im selben Raum schrieb irgend jemand auf einer Schreibmaschine. Wieder 259
stieß mich Gorski an. An der Wand hing eine große elektrische Uhr. Es war nach Mitternacht. Ich fragte nach der Maschine, die wir für den Mittag des nächsten Tages herausgesucht hatten. Das Mädchen sah in einer Liste nach. Unser Flugziel hatten wir während der Fahrt zum Flughafen festgelegt, und ich will es nur meinem Gedächtnis anvertrauen. Sie blickte auf. »Zwei Plätze? Das geht.« Sie lächelte. »Es sind die letzten. Sonst hätte ich Sie auf die Warteliste setzen müssen.« Sie hatte einen großen, vollen Mund. Ich bildete mir ein, daß sie mich wirklich anlächelte. Es gibt Situationen, da vergißt man, daß sie das immer tun, und dies war so eine. »Ihre Namen bitte.« »Dr. Viola«, sagte ich, »und Trantow, mit W hinten.« »Ich warte draußen auf dich«, sagte Gorski. Er ging. »Und sie schreiben sich mit V, Herr Dr. Viola?« fragte das Mädchen. Sie trug eine weiße Bluse mit einer dunkelblauen Wollkrawatte. »Ich bin Trantow«, sagte ich, »Robert Trantow. Viola schreibt sich trotzdem mit V.« »Verzeihung«, sagte sie und lächelte wieder. »Es ist nur, weil Sie den Namen zuerst genannt hatten. Hin- und Rückflug?« »Den Rückflug lassen wir offen«, sagte ich. »Cash?« »Ja, Cash«, sagte ich. Sie nickte und schrieb. Dann schob sie mir die ausgefüllten Tickets hin. »Beachten Sie bitte die Gepäckbeschränkungen.«
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»Ja«, sagte ich, »wir denken dran.« Ich bezahlte. Es blieben noch hundert Mark übrig. Das war unser letztes Geld. Das Mädchen sagte auf Wiedersehen und sah wieder müde aus. In der Halle war es leerer geworden, und Gorski war nicht zu sehen. Ich ging raus zum Wagen, und da war er auch nicht. Ich holte tief Luft und ging wieder in die Halle. Er kam aus einer Telefonzelle. »Mann«, sagte ich, »was machst du?« »Ich hab zu Hause angerufen«, sagte Gorski, »jeder verabschiedet sich eben auf seine Art.« »Na klar«, sagte ich, »mit Anna hast du ja auch weiter nichts zu tun gehabt.« Wir gingen hinaus zum Wagen. Die Luft roch nach Regen. »Ob sie die Pistole gesehen hat?« »Wenn schon«, sagte Gorski. »Fahr jetzt zum Bahnhof. Oder soll ich fahren?« »Nein«, sagte ich, »warum?« »Ich dachte.« »Nicht nötig. Es geht schon.« Gorski sah mich an. »Wie fühlst du dich sonst?« »Like a complete unknown.« »Du sollst nicht amerikanisch reden mit mir.« »Vielleicht wirst du das auch bald tun müssen«, sagte ich. »Vielleicht?« fragte Gorski mit schmalen Augen. »Verlaß dich drauf. Aber hör auf mit deinen Sprüchen!«
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»Du hast gefragt, wie ich mich fühle, und so fühle ich mich.« Das Steuer wurde unangenehm glitschig unter meinen Händen. Ich wischte die Handflächen an der Hose ab. Gorski klappte das Handschuhfach auf und nahm die Pistole raus. Er sah nach, ob sie geladen war, dann legte er sie wieder zurück. »Und jetzt paß mal schön auf.« Gorski zog einen kurzläufigen Revolver aus der Manteltasche. Er klappte die Trommel seitlich heraus. In jeder Kammer schimmerte die abgeplattete Rückseite einer Patrone. Die Trommel klickte wieder ein. »Wo kommt das her?« Gorski grinste. »Rat mal.« Ich merkte plötzlich, daß ich zu schnell fuhr, und ging herunter auf fünfzig. Alles, was wir an Ausweisen bei uns hatten, waren die gefälschten Opel-Papiere. Und nachts sind Verkehrskontrollen in Berlin nicht grade selten. »Ich hab ihn geklaut«, sagte Gorski. »Scharf geladen wie er ist. Ich brauchte mich nur zu bedienen. So haben die in der Pension weniger Ärger.« »Was?« »Ja«, sagte Gorski, »ich war doch noch mal auf dem Klo in der Pension. Er lag oben auf dem Deckel der Spülkiste in der Toilette. Der Trick hat schon einen Bart bis in den Keller, aber er lag trotzdem da.« »Und wer hat ihn da hingelegt? Müller?«
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Gorski schüttelte den Kopf. »Warum sollte er? Ich tippe eher auf deinen westfälischen Malerfreund.« »Wenn dieser Herr Tischler von der Kripo clever ist«, sagte ich, »dann kommt er auf was.« »Ach was«, sagte Gorski. »Angenommen, er liest das Drehbuch noch in dieser Nacht, dann kann er sich immer noch sagen, er hat unsere Pässe.« »Aber es steht im Drehbuch, daß die beiden sich falsche Pässe besorgt haben.« »Ja«, sagte Gorski, »aber nicht, wo die Zweitpässe sind. Da läuft gar nichts. Eins zu Tausend.« Ich schwieg. »Hast du Angst?« fragte Gorski. »Das ist vielleicht eine Frage.« Wir stellten den Wagen auf dem Parkplatz beim Theater des Westens ab. »Laß mich allein gehen«, sagte Gorski. »Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, fährst du einfach zurück in die Pension.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dann geht's eben nicht. Falls irgendwas los ist bei den Schließfächern!« »Sparta?« »Sparta oder Tischler«, sagte Gorski. »Also doch!« »Nein, nein! Nur um ganz sicher zu gehen. Vergiß es. Ich bin gleich wieder da. Du kannst ja solange AFN hören.« Ich blieb sitzen und sah ihm nach, wie er über den Parkplatz ging und die Straße überquerte. Es war ganz still im Wagen. Irgendwas im Motor zischte und tropfte. Ich zün-
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dete mir eine Zigarette an und machte sie nach zwei Zügen wieder aus. Noch immer war nichts geschehen. Noch immer konnte ich Gorski erklären, ich wollte nicht, ich könnte nicht. Ich schaltete das Radio an. Es war eine jener seltenen Nächte, in denen man Radio Luxemburg fast störungsfrei empfangen konnte. Ein leichter, gleichbleibender Nieselregen machte die Frontscheibe schlierig. Ich stellte auch den Scheibenwischer an. Er ruckte und quietschte über die Scheibe, und ich stellte ihn wieder ab. Der Ansager kündigte mit sich überschlagender Stimme Leon Russels Song for you an. Das Radio war das einzig Gute an diesem Wagen. Ich dachte an die Schotterstraße. Gorski war noch nicht zu sehen. Der Parkplatz stand voller Wagen. Ich klappte das Handschuhfach auf und steckte die Luger in die Jackentasche. Die Drehbuchkopie nahm ich von der Hinterbank. Sonst war nichts mehr von uns im Wagen. Ich zog den Zündschlüssel ab und steckte ihn ein. Vorsichtshalber schloß ich den Opel nicht ab. Zwei Wagen weiter stand ein 280er Mercedes vom vorigen Jahr. Er hatte eine Krefelder Nummer. Das dreieckige Ausstellfenster war fest verschlossen, da war nichts zu machen. Ich stand im Regen. Ein Ziegelstein, dachte ich. Das Ausstellfenster mit einem Ziegelstein einschlagen und dann hineinlangen. Aber hier war nirgends ein Ziegelstein. Ich sah mich um. Wahrscheinlich war hier doch ein Parkwächter, aber warum sollte der draußen im Regen stehen. Ich winkelte den linken Ellenbogen an und stieß mit aller Kraft gegen das Ausstellfenster. Außer einem brennenden, sirrenden Schmerz, der mir vom Ellenbogen
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ins Hirn schoß, ereignete sich nichts. Das Fenster hielt. Ich trat einen Schritt zurück, und versuchte, den Schmerz wegzuatmen. Die ausgeatmete Luft hing wie Rauch vor meinem Gesicht. »Mann, was machst du denn da?« Es war Gorski. »Mit dem Opel krieg ich Zustände auf der Schotterstraße. Wir müssen einen anderen Wagen haben, unbedingt. Sonst fühl ich mich nicht sicher, wenn ich fahren muß.« »Das dachte ich«, sagte Gorski, »daß du fährst.« Jetzt erst sah ich, daß er zwei leere Reisetaschen in der Hand trug. »Hatte ich auch im Schließfach«, sagte er, »für die Geldsäcke.« Er ging einmal um den Wagen herum, bückte sich und sah darunter. Ich konnte keinen Parkwächter entdekken. »Den nehmen wir«, sagte Gorski. »Leg die falschen Papiere und die Schlüssel in den Opel. Wir wollen doch Ordnung halten. Und vergiß die Umleitungsschilder aus dem Kofferraum nicht.« Als ich mit den Schildern kam, saß Gorski schon hinterm Steuer und fummelte zwei Drähte für die Zündung zusammen. Er stieß die Seitentür auf, und ich warf die Schilder auf den Rücksitz. »Nehmen Sie Platz, Herr Trantow«, sagte Gorski. »Ihren Paß stecken Sie am besten auch gleich selbst ein.« Die Drähte funkten, der Motor sprang an, und Gorski lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Kantstraße. »Wie hast du das gemacht?« fragte ich. »Mit Geschicklichkeit und einem Taschenmesser«, ant-
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wortete Gorski. »Bei Gelegenheit zeig ich's dir mal. Es ist ganz einfach.« »Natürlich«, sagte ich, »was sonst.« Gorski lachte und schüttelte den Kopf. Sein durchnäßter Mantel färbte das Sitzpolster dunkel. Ich schlug den Paß auf. Robert Trantow stand da, in meiner eigenen Handschrift. Ich konnte ihn beim besten Willen nicht von einem echten Paß unterscheiden. Aber ich verstehe weder was vom Autoknacken noch von Paßfälschungen. »Fahren wir auf keinen Fall noch mal in die Pension?« »Nein«, sagte Gorski, »was willst du denn da, deinen Koffer packen?« Man braucht mehr als eine Nacht, um auch nur ein Zehntel aller Westberliner Kneipen von innen gesehen zu haben. Gorski meinte, wir sollten lieber nicht dahin gehen, wo wir vorher öfter gewesen waren. Andererseits war es auch nicht ungefährlich, die ganze Nacht lang mit dem Mercedes herumzufahren, in dem wir keine Papiere gefunden hatten. Schließlich fuhren wir in die Holsteinische Straße in die WANNE. Ein alter kahlgeschorener Mann mit einer silberglitzernden Jacke stellte tänzelnd ein Bier und den Kaffee hin. Gorski sah auf, und der Mann zwinkerte ihm freundlich zu. »Bitte sehr, Towaritsch«, sagte er. Gorski antwortete irgendwas auf Russisch, und der Mann ließ sich von Gorski einen Schnaps spendieren. Er kehrte zurück zur Theke und zog mehrere bunte, durchsichtige Tücher aus der Tasche. »Musik«, rief er und wedelte die bunten Tücher durch
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den dicken Zigarettenqualm. Ich kannte ihn von früher, und er sah keinen Deut anders aus als vor ein paar Jahren. Irgend jemand ging zur Musikbox und drückte Like a Rolling Stone, und der alte Mann fing tücherwedelnd an zu tanzen. Er tanzte zu jeder Musik und allein, wenn ihm danach zumute war. Er wurde von allen nur Herr Clemens genannt; seinen Nachnamen kannte niemand. Herr Clemens war als Russe geboren, erzählte man sich, aber in jungen Jahren habe es ihn in ein Jesuitenkloster verschlagen aus Gründen, die dunkel blieben, doch daher, hieß es, rührten auch seine Sprachkenntnisse des Griechischen und Lateinischen. Hitler übersah ihn nicht. Er mußte als Dolmetscher, da er nebenbei noch perfekt Russisch sprach, mit den deutschen Soldaten nach Rußland. Mit den Soldaten soll er auch wieder in seinen Heimatort gekommen sein, und da sei es geschehen. Irgend etwas in seinem Kopf klinkte aus und wollte nicht mehr zurückspringen ins Scharnier, auch nicht als der Krieg aus war und Herr Clemens wieder in Deutschland. Niemand weiß genau, was damals geschehen ist. Nur eben, daß Herr Clemens seinerzeit einen hohen Rang bekleidet habe auf Grund seiner umfassenden Bildung und überragenden Intelligenz. Herr Clemens hielt sich ständig in Kneipen auf, trank, half Getränke austragen, tanzte, rauchte Zigaretten mit gespitztem Mund und gespreizten Fingern, und man fragte sich, wie der alte Mann das aushielt. Er lebte irgendwo in sich selbst, wohin er sich vor Jahren zurückgezogen hatte. Er bewegte sich langsam und gleitend zu Bob Dylans Musik und ließ seine blauen, roten
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und violetten Tücher flattern und summte den Refrain mit, how does it feel, und die andern an der Theke vor ihren Gläsern blickten gar nicht mehr hin zu ihm, der Falschspieler ließ seine Würfel klackern, nur TablettenErna sah mit leeren Augen zu und wiegte ihren Kopf. Gorski nippte an seinem Schnaps. Den Rest schüttete er in den Kaffee. »Und wie fühlst du dich? «fragte ich. – Er sah mich über den Tassenrand an. Seine Augen waren nicht müde. Am Tisch neben uns redete ein Mann auf einen andern ein. »Wer hat dafür gesorgt, daß du immer was zu saufen hast?« Der andere wiegte bedenklich den Kopf und schwieg. »Wer hat die Nasenoperation für deine Frau bezahlt?« Der andre bat sich eine Zigarette aus. »Wer hat deine Familie unterstützt, wenn du im Knast warst?« Gorski setzte die leere Tasse ab. »Laß uns gehen«, sagte ich. »Warum, wir haben doch noch Zeit.« »Scheiße«, sagte ich, »wozu willst du noch wissen, was die beiden vorhaben?« »Weil es mich interessiert. Was ist denn los mit dir?« »Mir ist eingefallen, was wir vergessen haben.« Gorski hob die Augenbrauen. »Vergessen? Was?« »Sag ich dir draußen.« Den Wagen hatten wir um die Ecke in der Nassauischen Straße geparkt. Der Regen hatte aufgehört, und die Straße
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glänzte. Die Luft roch nach Ahornbäumen, die ihre dunklen Kronen in den Himmel reckten. Die Dunkelheit wurde schon blasser. Ein Funkstreifenwagen fuhr langsam die Straße hoch, und wir stiegen erst ein, als er verschwunden war. Gorski knüllte seinen Mantel zusammen und warf ihn auf den Rücksitz. »Was haben wir vergessen?« fragte er. »Ein Fernglas«, sagte ich. »Wenn ich an der Kreuzung stehe und die Kolonne abwarte, brauch ich unbedingt ein Fernglas, um feststellen zu können, ob der Transport mit einem oder mit zwei Jeeps kommt.« »Verdammt«, sagte Gorski. »Du hast recht. Wir müssen eins besorgen.« »Wo willst du denn jetzt ein Fernglas herkriegen?« »Unser letztes Geld brauchen wir für Benzin und Öl. Der Tank ist fast leer. Klauen müssen wir es. In der Uhlandstraße weiß ich ein Optikergeschäft.« »Nicht in einer Hauptstraße. Zu hell. Zu gefährlich. Wenn du in so einem Laden die Fensterscheibe einschlägst, geht sofort die Alarmanlage los. Soll'n wir's nicht lieber mal bei Franz versuchen?« »Nein«, sagte Gorski. »Auf keinen Fall.« Ich stieg aus und holte einen Ziegelstein von einer Baustelle. »Alex, mir ist ganz übel«, sagte ich. »Mein Magen ist wie eins Stein. Ich frag mich andauernd, was wir noch alles vergessen haben.« »Erst das eine, dann das andre«, sagte Gorski. »Du fährst.« In dieser Nacht fiel uns auf, wie viele Optikerläden Git-
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ter vor dem Schaufenster haben und wie viele ihre Auslagen über Nacht wegräumen. Aber wir fanden einen Laden. Wir hatten uns für ihn entschieden, nachdem ich die Umgebung abgefahren hatte, um festzustellen, wo das nächste Polizeirevier war. Ich hielt mit laufendem Motor direkt vor dem Laden. Beim erstenmal schien es, als ginge der Stein kaputt und nicht die Schaufensterscheibe. Gorski schlug den Stein mit aller Kraft gegen die Scheibe. Ich spürte beißenden Schweiß in den Augen. Die Scheibe brach, und ein unglaublich penetrantes, lautes Klingeln fing an, wie ein schrilles, hohes Kreischen. Gorski griff in die Schaufensterauslage, und ich legte den ersten Gang ein und hielt ihn mit der Kupplung fest. Auf dem Rückweg stolperte Gorski über irgendwas und wäre fast hingefallen. Er schmiß sich neben mich. Zwar ruckte der Wagen bedenklich nach vorn, als ich Gas gab, aber ich würgte den Motor nicht ab. Als wir schon längst in einem andern Stadtteil waren, auf einem Parkplatz im unbeleuchteten Wagen, besah Gorski seine linke Hand, die er sich an der Schaufensterscheibe verletzt hatte. Er nahm eine mit einem Taschentuch umwickelte Spritzpistole aus der Manteltasche, wickelte das Taschentuch ab und steckte die Spritzpistole wieder ein. »Die Saccharose?« »Ja«, sagte er und ließ es in seiner rechten Jackentasche verschwinden. Dann verband er sich mit dem Taschentuch die Hand. Er hatte aus dem Schaufenster ein Fernglas genommen und zwei Armbanduhren. Ich hatte noch nie eine besessen. Die Uhren standen, und ich stellte das
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Autoradio an, wartete die Zeitansage vor den Nachrichten ab und stellte beide Uhren. Es war vier Uhr zwanzig. Wir saßen so lange in dem dunklen Wagen, bis wir Hunger bekamen, und das nahmen wir zum Anlaß, wieder loszufahren. Wir kauften in einer Frühkneipe zwei halbe Hähnchen in Silberpapier und kauten angewidert und stumm unsere Tütenmahlzeit. Das Fleisch schmeckte nach Talg und löste sich wie präpariert von den Knochen, als sei es nie daran festgewachsen gewesen. Gorski sah mich an, als er fertig war. »Benjamin.« »Ja.« »Daß du mir bloß nicht bekifft bist, Mann. Auch keine Schnellmacher oder so was, damit drehst du bloß durch. Es muß haargenau laufen, und du mußt ganz klar sein, nicht mal besonders schnell. Du hast für alles genügend Zeit, wenn du dich von Anfang an an unseren Plan hältst. Wollen wir's noch mal machen?« »Okay, Gorski. Bis zum Bahnübergang weiß ich alles. Die Kreuzung, die Schilder, die Schranken. Du übernimmst den Bahnwärter, ich stelle den Wagen mit laufendem Motor ab. Ich warte im Tunnel auf den Güterzug, denn die Schranken sind schon runtergegangen. Wenn die Güterlok heran ist, laufe ich los. Wir treffen uns beim Transportwagen.« »Wir entwaffnen sie und lassen sie aussteigen«, sagte Gorski. »Der Beifahrer wird mir die Hintertür öffnen, und du hältst den Fahrer in Schach. Er muß sich mit dem Gesicht auf den Boden legen. Er ist waffenlos und wird gehorchen. Der Beifahrer muß sich danebenlegen, wenn
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der die Hintertür aufgemacht hat. Ich schmeiße die beiden Geldtaschen auf die Straße. Und weißt du was? Wenn der Güterzug tatsächlich jedesmal dieselbe Länge hat, dann könnten wir die beiden noch hinten in den Laderaum einschließen, bevor wir zu unserm Wagen laufen. Sie werden erst gar nicht wissen, was los ist, wenn der Güterzug vorbei ist. Denn die Schranke bleibt ja unten. Sie müssen also erst rüberspringen, nach beiden sehen, sie rauslassen und wer und wie und wo. Bis sie wieder auf der andern Seite in ihrem Jeep sind und über Funk ihre Zentrale verständigen, sind wir auf und davon. Sie können nicht sehen, in welcher Richtung wir entkommen sind. Wir fahren ganz normal durch die Stadt nach Tempelhof. Das Geld ist in den Reisetaschen. Wenn wir bei den Kontrollen durchleuchtet werden, passiert gar nichts, denn die Impulse schlagen auf Metall an. Sie suchen Schußwaffen, Metall, weil sie Anschläge befürchten oder Kidnapping, aber das haben wir gar nicht nötig. Die Pistolen haben wir unterwegs weggeschmissen. Wir brauchen sie nicht mehr. Zwei Herren mit etwas Handgepäck. Ganz normal. Nichts Besonderes. Und dann ab nach …« »… sprich's nicht aus«, sagte ich. »Ich will da wirklich hin. Und was ist, wenn wir dort, wo wir hin wollen, durch den Zoll müssen?« »Dort, wo wir hin wollen, geht das so. Du reichst dem Beamten deinen Paß und legst vorher einen schönen Schein hinein. Wenn du den Paß wiederbekommst, ist der Schein nicht mehr drin.« »Und das Gepäck bleibt zu?«
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»Ja. Wie spät ist es?« »Halb fünf.« »Laß uns tanken fahren«, sagte Gorski. Ich fror, weil ich nicht geschlafen hatte. Die Morgendämmerung war naßkalt nach dem Regen in der Nacht. Ich hatte meine Mütze in der Pension liegen lassen. Wir waren beide ausgestiegen und warteten auf den Tankwart. Gorski rauchte. Der Rauch kam in einem dünnen Strahl aus einem Nasenloch. Die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben. »Auftanken, Öl, Luft, alles«, sagte Gorski zum Tankwart. Er warf die Zigarette weg auf die Straße. Der Tankwart war ein zerknitterter Fünfzigjähriger, dem man ansah, daß er seit Jahren zuwenig schlief. Aus einem Transistorradio im Büro neben der Registrierkasse kam die Morgenmusik vom SFB. Michael Holm sang: Ein verrückter Tag. Das fand ich auch. »Keine Geschichten mehr?« Gorski sah mich an und schüttelte stumm den Kopf. »Keine Filme?« Er sah mich ausdruckslos und wie abwartend an. »Ich hab mal einen Film gesehen«, sagte ich, »der handelte davon, wie zwei Typen abhauen wollen. Einer von beiden hatte eine Pistole. Ich weiß nicht mehr, welcher, aber sie halten in der Morgendämmerung an einer Tankstelle einer Ausfallstraße, und sie reden nicht, und der Tankwart macht seine Handgriffe, und die Polizei ist hinter ihnen her, und sie können nicht mal mehr das Benzin bezahlen. Man hat immer drauf gewartet, daß der Tankwart eins über den Kopf kriegt und sie mit der Kasse
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abhauen, aber das passiert nicht. Am Schluß hat sich einer erschossen. Das ärgerte mich. Die Typen waren dämlich. Das will ich nicht sein.« Gorski rieb sich die Nase; und eine Stimme hinter mir sagte: »Was wollen Sie denn sein, Herr Benjamin?« Der Schreck zuckte wie ein Schmerz durch meinen Kopf. Ich nahm mich zusammen, drehte mich nicht zu schnell um und sagte: »Alles, was Sie hassen.« Mac Froehlich führte die Hand zur Stirn. Er stand dicht vor mir, roch nach Schnaps und einem ungelüfteten Kleiderschrank. »Warten Sie«, antwortete er, »das sagt Charles Foster Kane zu seinem Vormund, einem Bankier, dessen Name mir entfallen ist. Ja, ›Citizen Kane‹. Lieber Herr Benjamin, ich kenne Orson Welles persönlich, und das seit über zwanzig Jahren.« »Mac, hat Ihnen schon mal einer gesagt, daß Sie nicht zum Aushalten sind, ein Untyp?« Mac Froehlich winkte ab. »Ich bin dankbar für jeden Tag, an dem ich das höre. Sie unterschätzen mich leider immer noch. Eine gewisse Hartnäckigkeit gehört zu meinem Beruf. Im übrigen wünsche ich einen schönen guten Morgen.« Er blickte Gorski freundlich lächelnd an. »Dieser Herr Benjamin, was soll man sagen, die Jugend und ihre Vorstellungen, Sie kennen ihn ja auch gut, nicht wahr? Es ist, nebenbei bemerkt, wirklich ein guter Morgen, denn ich habe wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen, Herr …« Er schlug sich wie im Spaß vor die Stirn und fuhr mit einem hilflosen Lacher fort: »Herr …. mein Gott, ich
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werde alt.« »Guten Morgen«, sagte Gorski. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Mac Froehlich, »also meinem Boß hat Ihre Geschichte gut gefallen, und man könnte ins Geschäft kommen, aber dann hat mich Herr Benjamin wieder verwirrt, weil er von Umarbeitungen sprach, und Sie haben mich ja gar nicht ausreden lassen.« Gorski stieß die Luft aus und sah mich an. »Wer hat den eigentlich erfunden?« fragte er mich. Ich hob die Schultern. »Ich jedenfalls nicht.« »Kommen Sie«, sagte Gorski, »hier können wir nicht reden, und einmal müssen wir's ja hinter uns bringen. Kommen Sie, ich weiß, wo wir ungestört reden können!« Er legte Mac Froehlich den Arm um die Schultern, und sie verschwanden gemeinsam in Richtung Toilette. Fünf Minuten später kam Gorski allein zurück.
24 Die Zeit tut nur eins. Sie vergeht. Nur braucht sie dazu manchmal länger als sonst. Mir war, als ob meine Kopfhaut brannte, und in den Hüften klopfte ein dumpfer, drängender Schmerz. Die Heizung lief auf vollen Touren, aber meine Hände am Steuerrad waren eiskalt. Ich bewegte die Finger wie im Winter, wenn man die Handschuhe vergessen hat und einem die Finger steif werden. Ich saß allein im Wagen. 275
Ich hatte zuwenig geschlafen, und meine Augen brannten. Diese kleine Änderung, sagte ich mir, hat nichts zu bedeuten. Der Jeep stand vor einem geparkten Lastwagen, ich hatte mit dem Mercedes ein Stück dahinter gehalten. So konnte ich den Jeep nicht mehr sehen, also auch nicht Gorski, der das Zeug in den Tank des Jeeps werfen sollte. Aber immerhin, er hatte im Schutz des Lastwagens ziemlich nahe an den Jeep gehen können, ohne entdeckt zu werden. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich hätte nicht sagen können, wie lange er schon weg war. Ich wußte nur, es war zu lange. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, die gräßlichen Bilder überfielen mich: Ich stelle mir Gorski vor, wie er sich von hinten an den Jeep heranschleicht und das Zeug in den Tank spritzt. Er richtet sich auf und wird im Rückspiegel entdeckt. Mit erhobenen Armen und gespreizten Beinen muß er sich vor den Militärpolizisten aufstellen – wie im Pensionsflur bei der Razzia. Oder: Gorski ist mit dem Tank fertig. Auf halbem Wege zurück schlägt ihm die Angst ins Genick. Er fängt an zu rennen. Einer der beiden Militärpolizisten im Jeep merkt was. Der Mann sieht Gorski weglaufen. Er denkt, da war doch schon mal was. Vielleicht hat er Gorski damals schon gesehen und erinnert sich: das war der Tag mit der Panne. Er ruft Gorski an, aber der bleibt nicht stehen. Gorski dreht sich im Laufen um. Er hat die Luger in der Hand. Der Militärpolizist übersieht sie nicht. Er ist schneller. Gorski wird mitten im Lauf vom MP-Feuer getroffen und stürzt auf das Pflaster. Die Luger fällt ihm aus der Hand
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und klackert ein paar Meter über den Asphalt der Straße. Gorski liegt auf der Seite. Seine Beine bewegen sich noch wie bei einem Hund im Schlaf. Oder: Die Plane des Lastwagens wird zurückgeschlagen, bewaffnete Polizisten springen heraus. Ein getarnter Mannschaftswagen. Aber nichts rührt sich. Den Transporter auf dem Rollfeld konnte ich von meinem Platz aus nicht sehen. Endlich tauchte Gorski neben dem Lastwagen auf. Er kam mit schnellen Schritten, riß die Tür auf und warf sich auf den Sitz. »Fahr los«, sagte er mit flacher Stimme. »Wenden. Aber langsam.« Ich startete den Motor mit den beiden Drähten. »Siehst du«, sagte Gorski. »So unpraktisch bist du gar nicht.« »Ich hab dich schon auf dem Pflaster liegen sehen mit deiner Pistole.« Gorski ließ das Handschuhfach aufklappen. Er griff hinein, holte die Luger heraus und steckte sie wortlos in seine Manteltasche. »Wie hast du's gemacht, daß sie dich nicht gesehen haben?« Gorski zuckte die Schultern. »Sie haben mich gesehen.« »Was?!« »Mich, aber nicht meine Hand am Füllstutzen, wie ich das Zeug reingespritzt hab. Fahr jetzt schneller.« »Und?« »Nichts. Ich habe sie gefragt, wieviel Uhr es ist. Und sie haben es mir gesagt. Meine Uhr stimmte genau mit ihrer überein. Es sind zwei Schwarze.« Wir waren jetzt auf der Höhe vom Zuchthaus Tegel, und ich bog links in die Bernauer Straße ein. »Was hast du
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mit Mac Froehlich gemacht?« »Ins Klo eingeschlossen. Ich hab ihm nichts getan.« Ich sah geradeaus. »Er hat keine Ahnung, was vorgeht«, sagte Gorski. »Natürlich wird ihn nach einiger Zeit jemand herauslassen. Wenn schon. Zur Polizei kann er nicht gehen. Er hat ja nichts zu erzählen. So schnell brauchst du nun auch wieder nicht zu fahren, Mann. Heb dir das für später auf.« Wir fuhren durch die Jungfernheide. Dann kam das Industrieviertel. Die Schotterstraße war nicht schöner geworden in der Zwischenzeit, aber der neue Wagen wurde besser damit fertig. Auch war nur wenig Verkehr auf der Straße. Wir konnten schnell fahren und gewannen Zeit. Ich fuhr über die Kreuzung und nahm erst unmittelbar vor dem Bahnübergang das Gas weg. Gorski griff den Revolver aus dem Handschuhfach und legte ihn neben sich auf den Sitz. »Der ist für dich.« »Ich kann nicht damit umgehen.« »Die brauchst du nur abzudrücken. Aber dazu wird es nicht kommen. Wenn du noch irgendeine Frage hast, frag jetzt.« Ich schüttelte den Kopf. »Dann geh ich jetzt«, sagte Gorski. »Und denk dran: du brauchst nur zu tun, was wir abgesprochen haben, dann packen wir's.« »Geh lieber.« Ich sah ihm nicht nach, wie er zum Bahnwärterhaus ging. Ich wendete und fuhr sofort zurück zur Kreuzung. Ich parkte den Wagen am rechten Straßenrand, hinter mir
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die Schonung. Jetzt begann das Warten. Ich betrachtete die verkrümmten, staubüberschütteten Bäume an der Schotterstraße, bis mir die Augen brannten. Ich werde sie nie wieder vergessen. In der Tiefe der Straße tauchte ein Motorradfahrer auf. Erst jetzt wurde mir klar, daß ich das dünne, knatternde Geräusch schon vorher gehört hatte. Ich setzte das Fernglas an die Augen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich den Fahrer scharf im Glas hatte. Er tanzte im Fadenkreuz auf und ab und sah seltsam flach aus. Was ich erkannte, gab mir sinen heißen Stich in die Brust. Uniform. Wirf das Umleitungsschild aus dem Wagen und warne Gorski, dachte ich. Aber ich zwang mich, noch einmal genauer hinzusehen. Ich mußte neu scharf stellen: Der Motorradfahrer trug die übliche Lederkleidung und hatte einen Kaninchenstall auf dem Gepäckträger. Ich nahm die Hände vom Lenkrad. Der Kunststoff war glitschig. Ich betrachtete meine Handflächen. Sie waren naß. Der Mann knatterte über die Kreuzung an mir vorbei. In dem Kaninchenstall auf dem Rücksitz saß eine verschreckte kleine Katze. Die Schotterstraße war wieder leer. Kein Transport. Vielleicht kommt er gar nicht, dachte ich. Vielleicht warten sie auch, bis ein neuer Jeep eintrifft und kommen dann doch mit zwei Jeeps. Ein Schweißfilm lag über meinem Gesicht. Aus den Achselhöhlen tropfte es und lief zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter zum Hosenbund. Ich nahm das Umleitungsschild vom Rücksitz und stieß es hinaus neben den Wagen. So ging es schneller, wenn es soweit war. Ich sah wieder durchs Fernglas. Von ganz weit hinten in
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der Ferne kam etwas heran. Ich stützte beide Ellenbogen am Steuer auf, um das Fernglas still zu halten. Es war ein grüner Volkswagen. Er schlich heran, als wolle der Fahrer Benzin sparen. Das Blut hämmerte in der Kehle, und der dumpfe Schmerz in den Hüften wollte nicht aufhören. Ich sah auf die Uhr. Die Zeit wurde knapp. Wenn der Konvoi nicht bald kam, war der Zug vorüber. Gorski mußte inzwischen längst beim Bahnwärter sein. Der war ein alter Mann. Gorski mußte ihn an einen Stuhl fesseln. Was war, wenn er schrie und tobte? Dann mußte Gorski ihm einen Knebel anlegen. Das war gefährlich. Zumal bei einem alten Mann. Woher konnte man wissen, ob er genug Atemluft durch die Nase bekam? Ich dachte an meine eigene Nase und hatte Angst vor Toten. Ich drehte das Fenster herunter und versuchte, ruhig aus- und einzuatmen, aber dadurch wurde mir nicht besser. Ich stieg aus. Die Straße war inzwischen wieder trokken geworden. Die Sonne drang noch nicht durch den Smog über der Stadt, dem der leichte Nachtregen nichts hatte anhaben können. Wo die Sonne stehen mußte, hatte der Himmel eine schmutzigrote Färbung. Zuerst war da nur eine Staubfahne über der Schotterstraße. Ganz weit weg schälte sich der Jeep heraus. Er fuhr so langsam wie immer. Dahinter war alles undeutlich. Ich starrte durch das Fernglas. Endlich konnte ich den Transportwagen erkennen. Und was ich dann ausmachte, war ein Schock. Kein zweiter Jeep. Bis jetzt war noch alles offen gewesen. Wäre ein zweiter Jeep gekommen, hätten wir die Sache
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noch abblasen können. Kein zweiter Jeep! Unser Plan lief. Ich warf das Fernglas in den Wagen und wartete. Der Konvoi schob sich langsam heran. Gorski saß im Bahnwärterhaus und wartete auf den richtigen Augenblick für die Schranken. Wenn bei ihm alles nach Plan verlaufen war. Mir fiel die bedrohliche Gleichmäßigkeit auf, mit der die beiden Fahrzeuge näher kamen. Das hatte ich schon einmal erlebt. Die Lastwagenkolonnen im letzten Kriegsjahr, ein Wagen nach dem anderen in gleichbleibendem Abstand, kein Wagen beschleunigt, keiner verlangsamt die Fahrt. Mit sturem Lärm schieben sie sich durch unsern Ort, wie aufgereiht an einem Tau. Ich hatte es nicht gewagt, den Motor des Mercedes während des Wartens laufen zu lassen. Es war unwahrscheinlich, aber immerhin bestand die Möglichkeit, daß sie ihn hörten und etwas faul fanden. Der Revolver lag auf dem Beifahrersitz. Ich steckte ihn in den Gürtel. Der Lauf zeigte nach unten. Keine Ahnung, ob er gesichert war oder nicht; ich wußte nicht, wo der Sicherungshebel saß, falls er einen hatte. Ich wartete, bis der Transportwagen hinter der Biegung vor dem Übergang verschwunden war. Dann packte ich das Umleitungsschild und schleppte es in den Staub, der noch dick über der Straße hing. Ich hatte vergessen, wie schwer der Betonfuß des Schildes war; ich zerrte es hinter mir her. Auf halbem Wege fiel mir plötzlich ein, es könnte kaputtgehen und sich nicht mehr aufstellen lassen. Also blieb ich stehen, hob es hoch auf beide Arme und schleppte es weiter. Auf der Mitte der Kreuzung ver-
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schwammen mir die Bäume am Rande der Schotterstraße vor den Augen. Ich atmete schnell und flach wegen des Staubs und unterdrückte einen Hustenreiz. Dann stellte ich das verdammte Ding ab und schloß einen Augenblick die Lider. Wieder im Wagen zwang ich mich zur Ruhe und zündete den Motor mit beiden Drähten. Immer wieder hatte ich es in der Nacht probiert, aber jetzt passierte es mir. Ich würgte den Motor ab, weil ich die Drähte zu hastig losließ. Die Zündung blubberte und ging aus. Der Schreck schoß mir sofort durch die Blutgefäße hoch bis unter die Haarspitzen. Das linke Augenlid fing an zu zucken. Beim zweitenmal sprang der Motor an. Ich wendete und fuhr hinter dem Konvoi her. Die Staubwolke über der Kurve schlug sich langsam nieder. Der Konvoi der beiden Wagen war in der Kurve verschwunden. Es kam mir so vor, als ob ich ein dünnes Schrillen und Tackern hörte, als ich in der Kurve war und die Sicht nach hinten wie nach vorn abgeschnitten war. Ich wußte, das war die Entscheidung, wenn ich richtig gehört hatte. Nach der Kurve, als ich in die Gerade blickte, die zum Bahnübergang führte, sah ich es. Eine Sekunde lang dachte ich, ich müßte schreien. Aber ich saß da und starrte zum Bahnübergang, stumm, und hatte keine Zeit, mich lange zu wundern. Die Schranke war heruntergegangen, und der Transportwagen stand davor. Der rotweiße Balken wippte noch. Der Transportwagen allein, sonst nichts. Gorski hatte es
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geschafft. Er hatte ihn von dem vorausfahrenden Jeep getrennt. Der Jeep stand tatsächlich auf der anderen Seite der Schranken, etwa dreißig Meter vom Übergang entfernt. Ich fuhr im gleichen Tempo weiter und bog dann links auf die Seitenstraße zur Bahnunterführung ab. Kurz hinter der Unterführung hielt ich. Ich weiß nicht mehr, zum wievielten Mal ich mich fragte, ob ich den Motor laufen lassen sollte oder nicht. Genug Benzin war bestimmt im Tank. Ich stellte ihn trotzdem ab. Ich konnte das Geräusch nicht ertragen beim Warten. Die beiden vorderen Türen ließ ich angelehnt. Ich ging zurück in den Tunnel und lehnte mich an die feuchte Wand. Eine Ader schlug schmerzhaft im Hals. Ich drückte den Hinterkopf an die rauhe Wand, bis es weh tat, und hörte auf mein eigenes Atmen. Ich hielt den Atem an, bis es mir in den Ohren summte, aber der Güterzug war nicht zu hören. Und wenn er überhaupt nicht kam? Wenn die beiden Soldaten ausstiegen, weil ihnen das Warten zu lang wurde? Weil sie sich die Beine vertreten wollten? Genausogut konnten auch die beiden Militärpolizisten aus dem Jeep nach der Schranke auf diese Idee kommen, aussteigen und zu ihren Kameraden auf die andere Seite der Schranke gehen. Gibt es neben den Schranken nicht meistens einen Durchlaß für Fußgänger? Hatte diese Schranke so einen Durchlaß? Ich wußte es nicht. Wir hatten nicht darauf geachtet. Der berühmte einzige Fehler. In Hunderten von Filmen
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hatte ich diesen Satz gehört, zum Schluß, wenn die Kommissare triumphierten. Ein winziger Fehler, eine Nebensächlichkeit, und das Kartenhaus, das sich Plan nennt, stürzt ein. Mit der rechten Hand hielt ich den Revolvergriff umklammert. Das Ding schwamm in meiner Hand wie ein Stück Seife in der Badewanne. Ich steckte den Revolver in die Jackentasche. Wenn die beiden Soldaten aus dem Transportwagen wirklich ausgestiegen waren, würden sie einen von uns beiden, vielleicht auch beide heranlaufen sehen, mit einer Pistole in der Hand. Und diese beiden Soldaten hatten Maschinenpistolen. Und die Militärpolizisten im ersten Jeep auch. Mein Puls beschleunigte sich, und das Atmen wurde wieder flacher. Ich konnte nichts dagegen tun. Knien sie nieder, wenn sie schießen? Oder stehen sie breitbeinig da, um den Rückstoß abzufangen? Es zuckte mir in den Knien, und ich drückte mich fester mit dem Rücken an die Wand. Ich hatte mich eingelassen, ausgerechnet ich. Und Gorski zählte auf mich. Ich versuchte, an das Geld zu denken, aber davon wurde mir kein bißchen besser. Anna, der Dampfer, die Havel. Wenn du so weitermachst, drehst du durch. Ich zwang mich, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Die Luft stockte tief in den Lungen, da hörte ich es, und als ich die Luft wieder ausstieß, war es stimmlos und abgehackt, und es klang fast wie ein Schluchzen. Es war ein dumpfes, fernes Rumpeln wie in einem U-Bahnhof, wenn von fern aus dem Schacht der Zug kommt.
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Ein paar Sekunden später kein Zweifel mehr. Der Güterzug. Er kam wirklich. Meine Beine wurden ganz leicht, und ich mußte mich zwingen, nicht sofort loszulaufen, denn das wäre sinnlos gewesen und viel zu früh. Der Lärm schwoll an. Jetzt mußte die Lok auf der Höhe der Bahnschranken sein. Einen Augenblick später donnerte sie über den Tunnel und mich hinweg. Ein hohles Dröhnen, das den ganzen Tunnel ausfüllte, begleitet von hellen Schlägen, und ich stand mitten in dem Lärm, der mich zudeckte. Ich spürte keinen Schreck, als lautlos in all dem Dröhnen eine Frau auf einem Moped an mir vorüberfuhr. Sie wandte nicht mal den Kopf zu mir, und ich vergaß sie sofort wieder. Ich riß mich aus meiner Betäubung und rannte ins Freie. Es war nicht einen Augenblick zu früh. Der Güterzug ratterte über die Gleise. Wagen für Wagen kam aus der Tiefe und passierte den Übergang. Ein Ende war nicht zu sehen. Die beiden Soldaten hatten den Transportwagen nicht verlassen, und offenbar waren die beiden aus dem Jeep nicht rübergekommen. Ich lief von schräg hinten auf den Transportwagen zu. Im toten Winkel konnten sie mich nicht sehen. Ich stolperte, fing mich wieder und lief im gleichen Winkel weiter. Kurz vor der Schotterstraße sah ich Gorski heranstürzen. Er hatte die Luger in der Hand, und ich zerrte während des Laufens den Revolver heraus. Gorskis Trenchcoat war aufgeknöpft und flatterte um ihn herum. Wir kamen gleichzeitig hinter dem Transportwagen an. Gorskis Mund stand weit offen, und er atmete keuchend. »Alles klar?« Seine Stimme war heiser.
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Ich konnte nur nicken. »Du links den Fahrer, und ich rechts den Beifahrer.« Wieder nickte ich. Aber ich blieb stehen. Zuerst nahm ich es nur aus dem Augenwinkel wahr, denn zu hören war nichts außer dem Donnern des Güterzugs, dem Rattern der Räder auf den Gleisen und Gorskis unterdrückten, fast stimmlosen Worten. Eine winzige, nur angedeutete, kaum wahrnehmbare Bewegung der olivgrünen Plane über der Ladefläche des Transportwagens. Aber so flüchtig diese Bewegung auch gewesen war, ich hatte sie registriert. »Geh nach vorn«, sagte ich zu Gorski, »los, los, geh schon.« Ich riß mit der linken Hand die Plane auf und stieß mit der rechten den Revolverlauf hinein. Diesmal war der Zeigefinger am Abzug. Bevor ich ihn sah, hörte ich etwas poltern. Dann stand da ein Soldat mit erhobenen Armen im Laderaum. Sein Kopf berührte die Decke. Er stand leicht gebückt, und sah gefährlich aus in dieser Haltung. Hinter ihm sah ich vor dem Rostrot des vorbeiziehenden Güterwaggons die Silhouetten von Fahrer und Beifahrer. Zwischen Führerhaus und Laderaum war keine Trennwand. »Get out!« wollte ich sagen, aber ich schrie. Meine Stimme überschlug sich, und Gorski mußte die beiden vorn allein herausholen. Ich trat einen Schritt zurück. Instinktiv fürchtete ich, er würde sich auf mich stürzen beim Raussteigen, aber er dachte gar nicht daran. Als habe er darauf gewartet, stieg der Soldat erst von der Ladefläche als ich zurückgetreten war. Er blieb mit erhobenen Armen vor dem Laderaum stehen. Ein weißer Amerikaner mit einem frischen roten
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Gesicht und kurzgeschorenen blonden Stoppelhaaren. Er sah aus, wie man sich so einen Amerikaner vorstellt. Seine Lippen zitterten, und er versuchte, etwas zu sagen. Ich hörte nicht hin oder verstand ihn nicht. »Get down«, sagte ich laut, »get down on your face. I won't hurt you.« Er legte sich sofort hin. Er wollte nicht sterben. Durch die offene Ladefläche hatte ich Fahrer und Beifahrer auf den Vordersitzen im Auge behalten, und als ich mich in den Laderaum schwang, blieb der Soldat auf der Straße liegen wie er lag, und die beiden auf den Vordersitzen kletterten wie auf eigenen Entschluß auf der Seite des Beifahrers aus dem Wagen. Gorski war nicht zu sehen. Daß auch die beiden vorne Schwarze waren, fiel mir erst auf, als Gorski sie um den Wagen herum dirigierte zu dem, der schon auf der Straße lag. Gorski hatte einen roten Kopf und brüllte: »Hinlegen!« Die beiden Schwarzen blickten ihn hilflos mit weitaufgerissenen Augen an. »Get down!« schrie ich. »Get down, we will not hurt you.« Sie gehorchten, und es kam mir vor, als ob sie zögerten, aber das muß nicht stimmen, nur vor meinen Augen liefen ihre Bewegungen langsam ab wie unter Wasser, und die Zeit, die verging, bis sie auch beide flach auf der Straße lagen, kam mir endlos vor. Und bei all dem hörte ich den Zug und das gleichmäßige Schlagen der Achsen war wie das Ticken einer riesigen Zeitbombe. Wenn es aufhörte, solange wir noch beim Transportwagen waren, dann gingen wir hoch. Das Ende des Zuges war vielleicht schon in Sicht, aber hinter der Plane konnte ich es nicht sehen. Die
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drei lagen mit den Gesichtern flach auf der Schotterstraße. »Eine verdammte Scheiße ist das«, sagte ich. Gorskis Kopf zuckte herum zu mir. Der Lauf der Luger blieb auf die drei Soldaten gerichtet. »Halts Maul«, sagte er scharf, »schmeiß erst die MPs runter, schnell, schnell!« Gorski bückte sich und zerrte dem ersten die Pistole aus dem Halfter, zog das Magazin heraus und schleuderte Magazin und Pistole weit weg in verschiedene Richtungen und ging zum nächsten. Ich achtete nicht weiter auf ihn und nahm die zwei MPs von den Vordersitzen. Als ich mich nach der dritten im Laderaum bückte, sah ich zum erstenmal die beiden Geldsäcke und ließ meine Pistole fallen. Ich stieß die drei MPs von der Ladefläche auf die Schotterstraße und nahm die Pistole hastig wieder auf. »Jetzt die beiden Säcke«, sagte Gorski. »Schneller! Schneller!« Ohne den Blick von den drei Soldaten am Boden zu nehmen, bückte er sich und schleuderte eine MP nach der anderen weit von der Straße weg in die Böschung. Dasselbe mit den Ladestreifen. Die beiden Geldsäcke fielen auf die Straße, und ich sprang hinterher. Ich landete unglücklich auf einem Fuß, stürzte auf die Seite und konnte nichts anders mehr denken, als daß jetzt jeden Augenblick der zweite Jeep um die Kurve kommen mußte. »Wir müssen weg, weg!« schrie Gorski. Er griff einen Geldsack und ging die ersten Schritte rückwärts, die Luger auf die drei Männer am Boden gerichtet, in Richtung Tunnel. Ich war wieder auf den Beinen und griff nach dem zweiten Geldsack. Die drei Solda-
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ten lagen bewegungslos auf der Straße. Ich lief hinter Gorski her, und meine Beine waren ganz leicht. Als ich Gorski einholte, drehte er sich auch um, und wir rannten den Bahndamm entlang auf den Tunnel zu. Gorski sprang die Böschung hinunter auf die Bahnunterführung. Ich blickte einen Augenblick über die Schulter zurück. Drei leuchtend gelbe Tankwaggons überquerten gerade die Straße. Danach folgte der letzte Güterwaggon. Das war das Ende des Zugs. Zwei Männer lagen noch auf dem Bauch, einer stützte sich vorsichtig auf die Ellenbogen und blickte rüber zu mir. Aber von einem zweiten Jeep war noch immer nichts zu sehen. Ich warf den Sack die Böschung hinunter, rutschte hinterher, packte ihn wieder und lief durch den Tunnel. »Kannst du fahren?« Gorski sah mich schnell an, und ich nickte. Er warf den Geldsack in den Wagen, sprang hinein und schlug die Tür zu. »Worauf wartest du denn, Mann«, schrie er. Die Pistole und den Geldsack warf ich auf den Rücksitz. Dann führte ich die beiden Drähte zusammen. Im Wagen roch es nach kaltem Zigarettenrauch und Asche. Der Motor sprang an, und Gorskis rasselnder Atem wurde etwas ruhiger. Überhaupt war es plötzlich sehr still. Das Rattern des Zugs wurde immer gedämpfter und ging schließlich ganz im Geräusch des Motors unter. Diesmal machte der Wagen einen heftigen Satz nach vorn, als ich anfuhr, und Gorski mußte sich festhalten. Er dreht das Seitenfenster herunter und warf die beiden Pistolen nacheinander weit in den Acker. Als ich den Jeep sah, ging ich instinktiv mit der
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Geschwindigkeit herunter und fuhr weiter rechts am Straßenrand, denn die Straße war nicht sehr breit. Wir bewegten uns aufeinander zu. Ich fuhr schneller. Wir kamen auf gleiche Höhe und fuhren aneinander vorbei. Die beiden schwarzen Militärpolizisten sahen so gleichgültig zu mir rüber wie jeder, der auf der Straße an einem entgegenkommenden Wagen vorbeifährt. »Was ist los?« fragte Gorski. »Das war der zweite Jeep«, sagte ich. Im Rückspiegel sah ich, wie er in der Unterführung verschwand. »Gib Gas, Mensch«, sagte Gorski, »drück drauf, hau ab. Worauf wartest du denn?« »Wieso kamen die denn plötzlich hier lang?« »Weiß ich nicht. Muß ein dritter Jeep sein – hat mit uns vielleicht gar nichts zu tun. Red nicht so viel. Fahr.« Der Verkehr wurde dichter, auf dem Spandauer Damm herrschte dann der übliche Vormittagsbetrieb. Gorski sah auf die Uhr. »Fahr langsamer jetzt«, sagte er. »Wir kommen gut nach Tempelhof, wenn du jetzt ganz normal weiterfährst.« »Und wenn der Flughafen schon abgesperrt ist?« Gorski warf den Kopf herum. Sein Gesicht war blaß, und auf den Wangen breiteten sich rote Flecken aus. Er drehte sich nach hinten um und stopfte die beiden Geldsäcke in die Reisetaschen.
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25 Tonbandprotokoll Aussage Anna Przygodda (4): Solln sie doch draufgehen dabei, die Idioten, wenn sie es wirklich versuchen, hab ich zuerst gedacht. Bestimmt wär's für mich das einfachste gewesen, dabei zu bleiben. Nicht weiter drum kümmern, einfach laufen lassen. Was hatte ich damit zu tun. Hätte mir 'ne Menge erspart, und nicht bloß Ärger, wenn ich es durchgehalten hätte. Wenn. Da war mehr mit Benjamin und mir, als ich mir eingestanden hatte. Ich will hier auch nicht so tun, als ob ich mir alles klar überlegt hätte in dieser Nacht, dazu war ich gar nicht in der Lage. Genausowenig wie schlafen. Gar nicht dran zu denken. Die meiste Zeit hab ich dagesessen und die Wand angestarrt, aber in Wirklichkeit hab ich nur das Telefon belauert. Daß es endlich klingelte. Daß Sparta anrief. Und was mir endlos vorkam, war doch nur eine halbe Nacht. Blacky kam und kam nicht nach Hause. Gegen Morgen schlief ich im Sitzen ein. Mir waren einfach die Augen zugefallen. Die Klingel an der Wohnungstür schreckte mich hoch. Mein erster Blick ging auf die Uhr. Zwanzig nach zehn. Und vor der Tür stand Sparta. Er sah blaß aus und hatte tiefe Ringe unter den Augen, und er sagte: »Was ist denn?« und ich redete ohne Punkt und Komma auf ihn ein, bis er alles wußte, bis es keinen Zweifel mehr für ihn gab, daß Benjamin und Gorski nicht auf seine Warnungen gehört hatten. Schon nach meinen
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ersten Sätzen drehte er sich um und wandte sich zur Treppe. »Ich gehe mit«, sagte ich. Sparta drehte sich nicht um. »Kommt nicht in Frage.« Ich lief einfach hinter ihm her, die Treppe hinunter, und stellte mich auf die andere Seite des Mustang. Er ließ erst den Motor an, bevor er mir die Tür aufmachte. Dann fuhr er los, daß es mich in den Sitz zurückwarf. Ich hatte noch nicht mal richtig die Tür zu, da war er schon mitten auf der Straße. Ich hab mal bei ihm im Wagen gesessen, da hat er nur so zum Spaß eine Funkstreife abgehängt. Wenn Sparta was macht, dann macht er es; er sieht sich nicht ständig über die eigene Schulter dabei wie Benjamin. Ich hatte Angst und war zugleich erleichtert, weil Sparta endlich da war, und redete und redete, bis er sagte: »Halt jetzt den Mund, Anna.« Sparta nahm den Stadtring nach Norden, bahnte sich seinen Weg auf der Überholspur mit Hupen und Blinken, wie er es sonst nie tat. Dann bog er in die Siemensallee ein und fuhr über den Nonnendamm Richtung Haselhorst. Irgendwo zwischen den Kanälen und Gleisen bog er wieder links ab. Die Gegend kannte ich nicht. Wir rasten über eine Schotterstraße auf eine Kreuzung zu. Dort stand ein Umleitungsschild, das den Verkehr von der Schotterstraße weglenkte. Sparta fuhr, ohne abzubremsen, über die Kreuzung. Er streifte das Schild, ich blickte zurück, sah wie es schwankte und umfiel. Das weiß ich noch, da ging noch alles der Reihe nach, aber von nun an geht mir alles durcheinander im Kopf, und ich weiß gar nicht, wo ich nun anfangen soll. Weil es
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so entsetzlich dumm war und sinnlos. So hundsgemein und so überflüssig. Und daß die Polizei jetzt noch versucht, ihm was anzuhängen, wo er doch nichts damit zu tun hatte. Fast so wenig wie ich. Er hat's ihnen halt nur gezeigt, das ist alles, was er gemacht hat. Und noch nicht mal, wie es geht. Das haben die alles selber rausgefunden. Gründlich, das waren sie. Das kann man sagen. Wir kamen um die Kurve herum, und es war alles ganz unübersichtlich. Die Schranke war unten, und vor der Schranke stand ein Jeep und so ein kleiner Lastwagen, und amerikanische Soldaten waren da. Zwei waren MPs, die haben eine andere Uniform. Sparta hielt kurz nach einer Abzweigung, die links zu einem Tunnel führte, an und sprang aus dem Wagen. Ich stieg auf der andern Seite aus. Sparta schrie mich an: »Du bleibst hier!« Und dann lief er auf die Soldaten zu. Ich hatte keine Ahnung, ob der Überfall schon passiert war und was überhaupt los war. Sparta rannte, und die Militärpolizisten hoben ihre MPs, als sie ihn herankommen sahen. Es war so nah, daß ich fast alles hören konnte, denn Sparta schrie: »Wo sind sie? Wo sind sie?« Sie hielten ihre Waffen auf ihn gerichtet und antworteten nicht. Zwanzig Meter vielleicht stand er vor ihnen und hatte keine Waffe in der Hand. Das wenigstens konnten sie doch sehen, wenn sie ihn schon nicht verstanden. Ich konnte nichts machen, ich mußte es nur mit anhören, denn plötzlich ging alles unheimlich schnell. Der Kommissar Tischler, dem ich das alles genau erzählt habe, meint auch, sie haben Sparta für den dritten Mann gehalten, und das hat
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später ja eine ganze Zeitlang auch in der Zeitung gestanden. In Wirklichkeit war es nur ein Mißverständnis. Sie haben sich einfach nicht verstanden, das ist alles, denn ich hörte Sparta, der langsamer geworden und schließlich stehengeblieben war: »You want passport?« Ich hab von hinten nur eine kurze Bewegung seines rechten Arms gesehen, und es kann nur so gewesen sein, daß er in die Jacke hatte greifen wollen, um seine Brieftasche mit dem Paß herauszuholen. Was, frag ich, hätte er denn sonst wohl vorhaben sollen? Da jedenfalls ist es passiert. Sein Arm hatte sich kaum bewegt, seine Hand konnte noch gar nicht unter der Jacke sein, da ballerten sie los. Es war nicht nur ein Schuß. Es waren mehrere Geschoßgarben. Eine verfehlte ihn und schlug auf die Motorhaube des Mustang. Das häßliche Geräusch, mit dem das Blech einriß, hab ich heute noch in den Ohren. Sparta wurde im Stand in die Brust getroffen und zurückgeworfen. Es hörte sich unglaublich gemein an, die Schüsse klangen jetzt wie fern und ganz mühelos, und Sparta taumelte zurück, er wollte nicht fallen, es sah fast aus, als liefe er rückwärts, ehe er fiel. Da konnte ich erst loslaufen. Ich weiß nicht, was die Soldaten dann gemacht haben, aber geschossen haben sie nicht mehr. Sparta drehte sich auf die linke Seite, und seine Beine bewegten sich und schabten auf der Straße, als wollten sie immer noch laufen, wie von ganz allein, und seine Schuhe schabten im Staub. Blut hab ich keins gese-
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hen. Seine Lippen bewegten sich noch, als ich bei ihm war, und ich glaube, er sagte: »Es geht nicht. Ich wollte nur sagen, es geht nicht.« Ich sag, ich glaube, weil ich nicht ganz sicher bin. Ich weiß auch nicht mehr, was ich dann gemacht habe, nur daß ich gewußt habe, er ist tot. Die amerikanischen Polizisten standen um ihn herum, und ich las es in ihren Gesichtern, und als ich mit dem Mustang wegfuhr, hat mich keiner festgehalten. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Auch Stunden später, bei Kommissar Tischler im Polizeipräsidium, war ich noch nicht wieder richtig bei mir. Ich konnte es einfach nicht begreifen, und ich wollte es wohl auch nicht. Sparta war tot. Ich habe es schon erwähnt: auch Kommissar Tischler glaubte zunächst, Sparta sei der dritte Mann bei diesem Überfall gewesen. Er nahm nur an, sie hätten ihn ausgebootet, und deswegen sei es zu diesem Ende gekommen. Der angeschmierte Dritte. Aber das war er nicht. Sie sagten, Gorski und Benjamin könnten es doch unmöglich allein gemacht haben, und ich sagte nur immer wieder, was ich wußte. Mit der Zeit verlagerte sich die Ansicht der Polizei. Nun sollte Sparta so etwas wie ein betrogener Hintermann gewesen sein, der gelinkte Tipgeber. Um seinen Anteil betrogen. Weshalb er sich ja auch so aufgeregt hatte. Der Kommissar Tischler hat am Anfang natürlich so getan, als glaube er nicht, daß ich mit der Sache etwas zu tun hatte, aber aus seinem Tonfall hörte ich genau das Gegenteil heraus. Er war ganz vertraulich, sagte, er kenne doch seinen Sparta und daß er mir durchaus glaube, was
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Sparta alles für mich getan hatte. Andererseits sei Sparta doch ein Profi gewesen, das könne ich doch nicht bestreiten, und er kenne sich doch aus, ihm könne man nichts vormachen und so weiter. Das kann ja alles sein, mir ist es egal. Was ich ihm übelgenommen habe, ist die Art, wie er geredet hat über Sparta. Als ich ihn kennenlernte und nicht wußte, was ich machen sollte, da hat er zu mir gesagt: »Du mußt doch eine Zukunft haben«, und ich hab gedacht, vielleicht gehört er dazu, zu meiner Zukunft. Ganz egal, was die Polizei ihm anhängen wollte, als es geschah, und ganz egal, was man heute bei der Polizei darüber denkt, ich allein weiß, daß Sparta nur zur Bahnschranke gefahren ist, um den Überfall zu verhindern. Um sie zu warnen. Aber sie waren schon weg, als wir ankamen. Ich kannte ihn gut, den Sparta, und es war gut, ihn zu kennen. Fragen Sie mich nicht nach Gorski und Benjamin. Ich weiß auch nur, daß man sie noch nicht geschnappt hat. Ich weiß nicht, wo sie sind, und Benjamin hat mir auch nichts gesagt, als er noch einmal anrief. Ich glaube, ich habe gar nicht zugehört. Das wenigstens hat mir sogar die Polizei glauben müssen. Manchmal, ich gebe zu, hab ich mich gefragt, wie es gewesen wäre, wenn ich mitgegangen wäre mit Benjamin, wo auch immer er jetzt ist. Wenn nämlich was anfängt, ist es immer schön, und vor langer Zeit hat etwas angefangen mit ihm und mit mir, und dann hat es eben aufgehört. Ich hab mir die Umstände nicht ausgesucht, und ich konnte auch nichts ändern. Da ist etwas passiert, das hat uns auseinandergebracht, und jetzt
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will ich auch gar nicht wissen, wo er ist. Spartas Tod hat alles anders gemacht. Selbst wenn ich Benjamin irgendwann wiedersehen würde, es wäre nicht mehr so wie früher. Ich müßte immer an Sparta denken, wenn ich bei ihm wäre, und mit einem lebendigen und einem toten Menschen gleichzeitig zusammenleben, das kann kein Mensch. Mit Gorski war es von Anfang an anders. Nicht besser oder schlechter. Einfach anders. Aber wozu noch darüber reden. Mein Protokoll bei der Polizei hab ich noch am selben Tag unterschrieben, aber der Kommissar Tischler meinte, vielleicht holen mich die Amerikaner noch mal zum Verhör. Ich werde mich erkundigen, ob ich da nicht einfach die Aussage verweigern kann. Sollen sie doch das Protokoll der deutschen Polizei lesen. Mehr kann doch kein Mensch fragen, als die mich gefragt haben. Ich hör jetzt auf. Ich werde nicht mehr reden über diese Geschichte. Ich bin fertig damit.
26 In der Flughafenhalle schienen mir nicht mehr Polizisten zu sein als sonst auch. Aber vielleicht stellen sie sich nicht so auffällig hin, wenn sie jemanden suchen, daß man sie gleich sehen kann. »Wir liegen gut in der Zeit!« hatte Gorski unterwegs immer wieder behauptet, um mich zu beruhigen, aber ich sah uns immer wirklich liegen, auf dem Bauch, auf dem Rücken, bequem in einer Kiste für die Ewigkeit und ganz regungslos. Den Wagen hatten wir nicht gerade auf dem Parkplatz am Luftbrückendenkmal, 297
aber doch in der Nähe des Flughafens abgestellt. Wir hätten ihn ganz woanders hinfahren können, um von unserem Fluchtweg abzulenken, und dann mit dem Taxi weiter – aber erstens würde uns so rasch keiner mit dem Wagen in Verbindung bringen, denn die amerikanischen Soldaten hatten ihn nicht gesehen, und zweitens war Schnelligkeit jetzt das Wichtigste. Der Nachrichten- und Befehlsweg von dem überfallenen Transport über die zentralen Stellen der amerikanischen Militärpolizei, von dort an die deutsch-alliierte Koordinationszentrale und von da wieder über das Polizeipräsidium an die Reviere, Einsatzwagen, Bahnhof- und Flughafenpolizei – das war ein langer Weg für unsere Verfolger, aber er war sehr kurz für uns. Und doch war die Bürokratie unsere Chance. Im übrigen hatten wir noch nie davon gehört, daß auch nur wegen eines einzigen Banküberfalls in Berlin eine Maschine später abgeflogen wäre. Wir hatten uns immer gesagt, die gehen davon aus, daß die Täter zunächst in Berlin untertauchen. Vielleicht hätten wir uns das alles auch ersparen können. Die andere Möglichkeit war: erst weg vom Tatort, in der Stadt herumfahren, und danach dann das Übliche; das Geld in ein Schließfach und abwarten, bis sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte. Nach ein paar Tagen dann das Geld in drei, vier Wertpakete packen und irgendwohin postlagernd schicken – und eines Tages, in aller Seelenruhe, fahren zwei Herren vom Film hinterher – wer würde uns schon suchen. Doch, einer würde uns suchen. Und er würde uns wohl auch kriegen. Wir hatten zwar nie darüber gesprochen, aber wir wußten, daß Sparta
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es sich noch weniger leisten konnte als die amerikanische Armee oder der Berliner Polizeisenator, wenn einer seine Kreise störte. Er hatte es deutlich gezeigt. Er hatte nicht die Absicht, sich von diesen Füchsen unter seinem Hemd beißen zu lassen. Er würde ihnen einfach den Hals umdrehen. Wir checkten uns ein. Das Mädchen gab uns die Bordkarten, nannte uns die Nummer des Flugsteigs und fragte nach unserem Gepäck. Gorski hatte bereits die beiden Reisetaschen auf die Waage gestellt. Das Mädchen warf einen Blick auf das runde Zifferblatt der Waage und sagte: »Wollen Sie die beiden Taschen nicht als Handgepäck mit an Bord nehmen. Sie sind leicht genug!« »Nein, danke!« sagte Gorski. Sah der Beamte aufmerksamer in seinem Fahndungsbuch nach als üblich? Dauerte die Prozedur der Paßkontrolle, das Entgegennehmen, Blättern, Aufblicken, Gesichtsvergleich – dauerte das nicht alles viel länger als gewöhnlich? Ich weiß es nicht. Ich stand neben Gorski und konnte nur zusehen und abwarten. Mir wuchs ein Kloß in der Kehle, als Gorski den Paßbeamten mit einem streitsüchtigen Lächeln fragte: »Wissen Sie eigentlich, wann der letzte Fall von HighJacking passiert ist? Ehrlich gesagt, ich hab immer ein bißchen Angst davor.« Der Beamte zögerte nicht, Gorski seinen Paß zurückzugeben. Er lächelte nicht, als er antwortete: »Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind ausreichend. Sie können ganz beruhigt sein. Bitte beeilen Sie sich, Herr Dr. Viola, Sie sind schon einmal aufgerufen worden.«
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Trotzdem blätterte er erst mal wieder in seinem Fahndungsbuch, als er meinen Paß hatte. Jeder weiß, daß es Zufälle gibt, deren Aberwitz man sich nicht im Traum ausdenken kann. Vielleicht stand irgendein Trantow drin in seinem Buch, aus was für Gründen auch immer. Ich bekam den Paß wieder und wurde ebenfalls freundlich ermahnt, mich zu beeilen. Gorski war schon weg. Bei der Leibesvisitation mußte ich mich breitbeinig hinstellen und wurde von oben bis zu den Fußknöcheln nach Waffen abgetastet. Daran hatten wir gedacht. Die Pistolen lagen jetzt neben einem Bahndamm im Nordwesten Berlins. Eine Stewardeß ging mit mir zum Flugzeug. Gorski hatte ich immer noch nicht gesehen. Ihr Lächeln war nach zwei Schritten verschwunden, als sei es nie dagewesen. Ich ging einfach neben ihr her und hoffte, daß Gorski schon in der Maschine war. Unten an der Einstiegluke trat die Stewardeß einen Schritt zur Seite, und ich machte nicht den Versuch, sie vorgehen zu lassen. Ich ging einfach weiter und stieg vor ihr die Treppe hoch. Die Maschine war so gut wie voll, und ich konnte Gorski nirgends sehen. Eine zweite Stewardeß winkte mich zu einem freien Platz neben einem vielleicht dreißigjährigen Mann. Er trug einen grünkarierten Anzug, und seine Krawatte war mit einer Perlennadel festgesteckt. Auf den Knien hatte er einen schwarzen Aktenkoffer mit Sicherheitsschlössern. Ich schob mich höher in meinem Sitz und sah mich wie beiläufig um. Gorski war nicht zu sehen. Die Motoren sprangen an, und danach bewegte sich die Maschine zum Rollfeld. Eine Stewardeß redete ihren Text
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herunter und kündigte eine Zwischenlandung an. Der Mann neben mir machte seinen Aktenkoffer auf und suchte darin herum. Ich zog meine Zigarettenschachtel aus der Tasche und steckte sie wieder ein. Auch als die Maschine auf Geschwindigkeit kam und abhob, wollte sich bei mir nichts wie Erleichterung einstellen. Ich starrte das erleuchtete Fasten-Seatbelts-StopSmoking-Signal an und wartete darauf, daß es ausging. Dann senkte ich den Blick und sah, daß der Fingernagel des linken Mittelfingers tief eingerissen war. Den Schmerz spürte ich noch immer nicht. Durchs Fenster waren nur Wolken zu sehen. Die Stop-Smoking-Zeile ging aus, und ich langte wieder nach Zigaretten. »Sie müssen hier nicht rauchen«, sagte der Mann neben mir mit amerikanischem Akzent. Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Zeichen – eine rot durchkreuzte aufgemalte Zigarette. »I should stop it anyway«, sagte ich und bewegte bei meinem Lächeln doch nur die Lippen auseinander. »Definitely better for your health«, antwortete der Mann. Sein Tonfall war so unverbindlich wie sein Blick. Er klappte den Aktenkoffer wieder zu und ließ die Schlösser einschnappen. Fasten-Seatbelts erlosch. Ich machte sie los und stand auf. Das Flugzeug lag jetzt ruhig über den Wolken und ich ging langsam den Gang zwischen den Sitzreihen entlang. Etwa in der Mitte, als ich schon fast an seinem Platz vorbei war, nahm jemand die Zeitung vom Gesicht und sah mich an. Es war Gorski, und diesmal knirschte sein Grinsen nicht mit den Zähnen. Gorski
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arrangierte die alte Dame neben ihm mit Hilfe der Stewardeß nach vorn auf meinen Platz zu dem amerikanischen Nichtraucher. Nach ein paar Minuten sagte ich; »Mein Revolver, war der überhaupt geladen?« Gorski schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, daß du nicht geschossen hast.« Gorski sah aus dem Fenster in die Wolken, dann wandte er sich zu mir. »Wir hätten eine behalten sollen. Ich hätt sie glatt durch die Kontrolle geschafft.« »Wieso?« »Noch sind wir nicht durch«, sagte Gorski. »Du meinst die Zwischenlandung?« Da war er wieder, der Schmetterling in meinem Bauch. »Ja.« Gorski rutschte bequem in seinem Sitz zurecht. »Wenn wir alle raus müssen bei der Zwischenlandung, heißt das wahrscheinlich Paß- und Gepäckkontrolle. Womöglich läuft dann schon die Fahndung.« Zweierlei müßte die Polizei wissen, wenn sie uns so schnell auf die Spur kommen wollte: Die neuen Namen in den falschen Pässen – und unser Reiseziel. Natürlich sind Trantow und Dr. Viola nicht wirklich die Namen, die in unsern Pässen stehen. Die kennen nur der Paßfälscher, Sparta und Anna. Kennt Anna sie wirklich? Sie hat unser Zimmer nach den Pässen durchsucht, aber das muß noch nicht bedeuten, daß sie wußte, welche Namen in unsern Pässen standen. Sie brauchte nur welche zu finden, mit unsern Bildern drin und andern Namen als Gorski und Benjamin. Es ist durchaus möglich, daß Anna unsere neuen Namen nicht kennt. Daß sie sie nicht bewußt gele-
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sen hat. Daß sie sie vergessen hat. Bleiben Sparta und der Paßfälscher. Gorski stand auf und ging zur Toilette. Als er zurück war, sagte ich: »Die Zwischenlandung. Ich hab die ganze Zeit dran denken müssen.« »Bisher waren die Pässe doch in Ordnung, oder?« »Und wenn sie in Berlin schon wissen, welche Namen wir drinstehen haben?« »Glaub ich nicht«, sagte Gorski. Er winkte eine Stewardeß heran und ließ sich einen Whisky bringen. Er trank ihn mit einem langen, durstigen Zug aus und bestellte sofort einen neuen. Während er trank, hielt er die Stewardeß mit Blicken fest. »Ich würde gern rauchen«, sagte ich. Er hielt mir seine angebrochene Packung Mentholzigaretten hin. »Ich will's mir abgewöhnen«, sagte ich. Erst als die Stewardeß schon wieder weg war, wurde mir klar, daß Gorski mit US-Geld bezahlt hatte. Die Dollars. Ich hatte sie fast vergessen. Gorski sah mich spöttisch an. »Tut's dir leid? Bereust du's?« Ich drehte mich um zu ihm, bis unsere Gesichter nahe voreinander waren, und mein Grinsen wurde immer breiter. »Mit soviel Marie im Koffer? Warum sollte ich?« »Das warst wieder nicht du, Benjamin. Wer hat da geredet aus dir?« »Smokey Robinson.« »Wer?« fragte Gorski. »Ich, Robert Trantow«, sagte ich. »I'm glad, I'm not me.«
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Der zweite Whisky hatte Gorskis Gesicht gerötet. »Vergiß es«, sagte er. Wir wußten beide, wann die Zwischenlandung kam. Ich will es hier nicht vermerken; was trägt eine bloße Zeitangabe schon zur Genauigkeit des Berichts bei. Ich gebe allerdings zu, daß der Gedanke mitspielt, irgend jemand könnte daran unseren Fluchtweg zusammenkombinieren, denn dazu brauchte man dann allerdings nur einen Flugplan. »Woher kennst du eigentlich die Leute, wo wir hinwollen?« fragte Gorski. »Das sollen sie dir lieber selbst erzählen, sonst glaubst du's mir doch wieder nicht.« »Bei deinen Geschichten weiß ich nie, ob sie erfunden sind, oder ob du sie selbst erlebt hast.« »Jeder weiß viele Geschichten von sich, die er nicht erlebt hat. Du hast noch leere Kontinente im Kopf, weiße Flächen, unerforschtes Gebiet.« »Hast du jetzt Angst?« fragte Gorski. »Ja.« »Du wirst sie so schnell nicht verlieren«, sagte Gorski. »Hast du etwa nur Filme und Geschichten im Kopf? Interessiert dich nichts anderes?« »Weiß ich nicht. Ich hab lange an nichts andres gedacht.« »Beschäftige dich lieber damit statt mit deiner Angst.« »Wenn du mir helfen willst, dann hör endlich auf zu reden.« Gorski grinste wie ein Biber, der sich mit gebleckten Zähnen an einen Baumstamm macht. Er winkte wie-
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der die Stewardeß heran. Sie brachte den Whisky unaufgefordert mit, und Gorski sagte mir mit einer Geste: siehste? Aber ich konnte nicht über seine Witzchen lachen, ich dachte nur an die Zeit bis zur Zwischenlandung. Wir saßen stumm nebeneinander, aber ich hielt es nicht lange aus. »Ich weiß einen Schluß für unsern Film.« »Ich will ihn nicht wissen«, sagte Gorski aggressiv. »Scheiß doch auf den Film. Ich will so leben, daß ich mich nach Jahren nicht plötzlich fragen muß: Was ist eigentlich gewesen?« »Kinostrategen«, sagte ich und hätte fast gelacht, aber dann kündigte die Stewardeß die Zwischenlandung an, und das Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Die Ewigkeit fing an, als die Maschine zur Landung ansetzte, und sie nimmt kein Ende, obwohl das Flugzeug jetzt schon eine ganze Weile steht. Gorski raucht eine Zigarette nach der andern. Soweit ich sehen kann, haben alle Passagiere bis auf ein älteres Ehepaar und uns das Flugzeug verlassen. Es fällt mir schwer, einen Satz zu Ende zu schreiben; jeden Augenblick können sie kommen und uns rausholen. Es dauert zu lange. Es dauert zu lange. Gorski hustet mit hochrotem Kopf, als ob er zu ersticken droht. Da kommt jemand in den Passagierraum, und hinter ihm noch jemand. Wo wollen sie hin? Sie setzen sich auf ihre Plätze! Ich muß mal raus! Die Stewardeß am Fuß der Treppe sagt mir, ich hätte noch ein bißchen Zeit. Inzwischen sitze ich wieder. Gorski habe ich nichts davon gesagt. Zuerst war ich auf der Toilette. Auch dort
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dieselbe Musik, nicht leiser und nicht lauter als in der Halle und in den Fluren. Mexican Shuffle – haben die denn nichts anderes in der Konserve? Auf dem Rückweg kam ich an einer Telefonzelle vorbei. Das ist ganz ungefährlich, dachte ich und hatte schon ein paar Groschen und Markstücke in der Hand. Sie kamen mir bereits vor wie fremdes Geld, so seltsam klein wie sonst, wenn man aus den Ferien zurückkommt und die großen Münzen anderer Länder noch gewöhnt ist. Der Hörer wurde nach dem ersten Läuten abgehoben. »Anna«, sagte ich, »wir sind weg. Ich schreibe dir!« Keine Antwort. »Anna«, sagte ich. Nichts. Aber ich hörte deutlich, daß jemand in die Muschel atmete. »Anna, sag was, rede mit mir.« »Ihr Idioten! Ihr gemeinen Idioten, ihr gemeinen Idioten!« »Aber Anna, ich …« Der Hörer wurde aufgelegt. Ich wußte nicht, daß sie es so auffassen würde, aber vielleicht ist sie schon immer ganz anders gewesen, als ich sie mir vorgestellt habe. Es kommen immer mehr Passagiere nach. Gorski sieht mich an. Wir kriegen beide kein Wort raus. Mir ist schwindlig im Kopf und schwer im Magen. Das ist mir noch nie passiert beim Fliegen. Ankommen werden wir, und ich werde irgendwo langgehen, wo ich noch nie gewesen bin. So eine Sehnsucht will ich nicht unterschätzen. Und nichts mehr planen. Das Flugzeug rollt wieder zur Startbahn. Wieder der
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Augenblick, wenn es vom Boden abhebt. Es steigt schnell höher. Gorski blickt auf mein Notizheft. »Du kannst aufhören, die Sache ist gelaufen.« Ich schreibe weiter. »Und was machst du nun damit, mit deinen Notizen?« »Weiß nicht.« »Aber ich«, sagte Gorski. »Schick sie an Quitt. Zum Dank. Damit er weiß, was er mir mit dir eingebrockt hat. Soll er doch damit machen, was er will.« Lieber Quitt, das leuchtet mir ein. Für mich ist diese Geschichte tatsächlich zu Ende. Jetzt fängt etwas Neues an. Ich nehme die braune Tüte zur Magenerleichterung aus der Sitzbespannung, schreib deine Adresse drauf und stecke auch die Tonbandkassetten hinein. Das letzte Notizheft folgt gleich. Ich hab es noch aufgeschlagen auf den Knien und den Kugelschreiber noch in der Hand, lieber Quitt. Gorski sieht mir zu. Ich halte ihm den Kugelschreiber hin. »Willst du einen Satz reinschreiben, den letzten?« Gorski schüttelt stumm den Kopf. Er lächelt und ist schon ein bißchen betrunken. Er langt rüber und nimmt mir den Kugelschreiber … oh, mama / Can this really be the end —
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Nachbemerkung von Günter Quitt Ich war noch mit der Herausgabe dieses Buches beschäftigt, als ich eines Abends unerwarteten Besuch erhielt. Die Druckfahnen für die Korrektur lagen vor mir auf dem Tisch. Es klingelte, ich machte auf, und obwohl ich den Mann, außer vor Jahren einmal im TV, nie gesehen hatte, erkannte ich ihn sofort an den merkwürdig jungen Lippen in dem alten Gesicht. Mac Froehlich hatte seinen Mund, wenn ich da Benjamins Darstellung glauben darf, durch pausenloses Reden feucht und trainiert gehalten – aber jetzt wirkte er ausgesprochen wortkarg. »Herr Quitt«, sagte er, nachdem wir uns vorgestellt hatten, »wie ich einer Ankündigung Ihres Verlages entnehme, geben Sie das Benjamin-Protokoll heraus.« »Ja, zusammen mit eigenen Nachforschungen und Ergänzungen.« »Eben«, sagte Mac Froehlich, »vielleicht interessiert Sie dann ein kleines Erlebnis, das ich kürzlich hatte. Bei einer Vortragstournee auf Einladung verschiedener GoetheInstitute in …« »Aber bitte, setzen Sie sich doch, und legen Sie vor allem ab!« »Nein danke«, sagte er, »das geht auch in Hut und Mantel. Also, in einer südamerikanischen Universitätsstadt hatte ich einen Vortrag über den deutschen Film der zwanziger Jahre gehalten. Zur Eröffnung einer deutschen Filmwoche. Die Leute waren schon weg, als ich mit dem
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Direktor des Instituts und dem dortigen deutschen Kulturattache das kleine Palais verließ. Eine warme, tropische Nacht. Jasmin, der Geruch vom Meer, Zikaden. Draußen, in der Säulenvorhalle, vor dem beleuchteten Schaukasten mit dem Filmprogramm, stand ein mittelgroßer, schlanker Mann, jung und wohl recht kurzsichtig, denn er war sehr nah an die Scheibe getreten, um die Titel zu lesen. Er wandte den Kopf zu uns, als er unsere Schritte hörte. Kein Zweifel, dieselbe getönte, ein wenig zu große Brille für das schmale Gesicht, und diese Nase. Wir starrten uns an. Ich weiß nicht, ob er den Blick eines Betrunkenen hatte oder Rauschgift, ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus, vielleicht war es auch nur eine Art Schreck. Dann lächelte er, und ich war ganz sicher.« »Und dann?« fragte ich ungeduldig. »Nichts«, sagte Mac Froehlich. »Er sagte nichts, und ehe ich den Mund auf tun konnte, war mit schnellen Schritten ein kräftiger Mann mit Chauffeursmütze da. Sie gingen zusammen zu einem großen Wagen. Ich lief die Stufen der Säulenhalle hinunter, aber ich sah nur noch, wie der Mann mit der Mütze vorn und wie der andere hinten einstieg. Die Marke des Wagens weiß ich nicht, er war groß und schwarz. Als der junge Mann im Wagen saß, gingen sofort die Scheiben hoch, und die waren dunkel getönt – verstehen Sie?« »Das Nummernschild?« »Vergessen oder zu dunkel, wie Sie wollen.« »Und Gorski?« »Keine Ahnung. Mehr weiß ich nicht.«
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»Aber eines müssen Sie mir noch sagen: in welcher Stadt war das, in welchem Land?« »Den Teufel werde ich tun«, sagte Mac Froehlich, »guten Abend!«
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