Linda Budinger
Stadt des Verderbens Version: v1.0
Carmen stockte der Atem, als der Reifen unter ihr k...
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Linda Budinger
Stadt des Verderbens Version: v1.0
Carmen stockte der Atem, als der Reifen unter ihr kurz den Kontakt zum Boden verlor. Die Fahrt über die regennasse Landstraße war bei diesem Tempo die reinste Rutschpartie. Spurrillen und Lehmbrocken auf dem rissigen Asphalt zwangen Daniel immer wieder zu hektischen Ausweichmanövern. Der Wagen schleuderte auf der schmalen Straße wie ein Schlitten auf einer Eispiste. Das grüne Duftbäumchen pendelte wild zwischen Daniel und ihr hin und her. »Musst du wirklich so rasen?«, fragte Carmen ihren Freund und prüfte den Sicherheitsgurt, ohne zu ahnen, dass …
»Ach, komm schon, das ist doch der halbe Spaß!«, rief Daniel lachend und wirbelte das Lenkrad des BMW Z3 herum. Die Dunkelheit zog bereits über den Himmel und von Mond oder Sternen war an diesem wolkenverhangenen Abend nichts zu sehen. Nur die Lichter der Stadt im Tal schienen müde zu zwinkern. »Immerhin ist sonst kein Mensch unterwegs.« Carmen überlegte mit Schrecken, was geschehen würde, wenn ihnen in der engen Kurve jemand entgegenkam. Weit und breit gab es nur Felder und einige Bäume. Da konnte keiner Hilfe holen. Aber Carmen bereitete die rasante Fahrt trotz aller Bedenken Vergnügen. Es war eine aufregende Erfahrung, im warmen und trockenen Auto den Unbilden des Wetters zu trotzen. Außerdem bewies Daniel seine Fahrkünste nicht zum ersten Mal. Die junge Frau sank in den Sitz und passte ihren Körper den Bewegungen des Wagens an, statt dagegenzuhalten. So ging es besser. Durch ein Wäldchen führte die Straße aufwärts und Daniel beschleunigte noch mehr. Die Hügelkuppe war der einsame Herrscher der Gegend. Dahinter kamen nur noch Viehweiden und Felder. Bodennebel wehte über die Felder wie die triste Essenz des verregneten Abends. Zwischen den Bäumen am Straßenrand löste sich ein verwaschener Schatten aus dem Nebel und sprang auf die Straße. Die Scheinwerfer schnitten die Silhouette aus dem Dunst und Carmen erhielt einen vagen Eindruck der Gestalt: kaum kniehoch, vierbeinig. Im nächsten Augenblick war der Wagen schon darüber weg. Daniel bremste scharf und Carmen stürzte in den Gurt. Die Reifen blockierten, das Heck brach aus, aber Daniel fing den Wagen noch rechtzeitig ab. Augenblicke dehnten sich zu Stunden, als das Fahrzeug nahe der Leitplanke zum Stillstand kam.
Einige Sekunden unwirkliche Stille folgten, in denen Carmen begriff, dass alles glimpflich ausgegangen war. Schließlich fragte sie: »Was war das?« »Irgendein Tier, ich glaube, eine Katze«, antwortete Daniel erstickt. »Ich seh lieber mal nach.« Er kramte im Handschuhfach nach der Taschenlampe. Aber Carmen drückte sich schon zwischen halb geöffneter Beifahrertür und Leitplanke hindurch und lief als Erste in den Regen hinaus. Es war in den letzten Minuten deutlich dunkler geworden. Carmen konnte kaum etwas erkennen. »Hier ist etwas auf der Straße«, rief sie. »Bring schnell die Lampe her!« Daniel fluchte, sprang aus dem Wagen und leuchtete die Straße entlang. Durch die Wasserfäden war seine Freundin trotz der starken Handlampe fast unsichtbar. Daniel lief ein Stück, tat einen gewaltigen Schritt über eine Pfütze hinweg und war an ihrer Seite. Carmen wartete bei einem nassen Fellbündel mitten auf der Fahrbahn. Der kleine Körper sah im Lampenstrahl ziemlich intakt aus. »Der Reifen kann die Katze nicht erwischt haben. Sonst läge da bloß noch ein Pfannkuchen aus Haaren, Fleisch und Knochen«, sagte Carmen unverblümt. »Andererseits hätte die Stoßstange das Tier weiter fort geschleudert.« »Vielleicht sind wir einfach darüber hinweggerollt«, meinte Daniel. Es hatte nicht einmal einen Ruck am Lenkrand gegeben, das war ein gutes Zeichen. Das Tier lag auf der Seite, als schliefe es. Unerwartet zuckten die Lider der Katze und öffneten sich. Sie miaute leise. »Sie lebt noch!«, murmelte Carmen erleichtert, während sie in die reflektierenden Katzenaugen blickte. »Wir müssen sie zum Tierarzt
bringen.« Daniel nickte. »Wir sagen einfach, wir haben sie verletzt am Straßenrand gefunden! Ich habe gehört, die Gemeinde übernimmt die Tierarztkosten bei Fundtieren!« Typisch Daniel!, dachte Carmen. Nur keine Verantwortung übernehmen. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich hole eben die Decke aus dem Wagen«. Gemeinsam schafften sie die verletzte Katze auf die Decke und ins Auto. Carmen nahm das Tier auf den Schoß, damit es bei der Fahrt nicht noch herumgeschleudert wurde. Die Katze blieb brav, hob nur den Kopf und bewegte zaghaft die Beine. »Ich drehe schnell eine Runde ums Auto, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist«, sagte Daniel und verschwand im Regen …
* Carmen kraulte die Katze hinter den Ohren. Sie fand dort keine Tätowierung, also war das Tier nicht registriert. Der getigerte Streuner war vollkommen ausgekühlt. Carmen spürte die Kälte durch die dünne Decke. Helle Augen blickten sie unverwandt an. Die Katze schnurrte. Wo blieb denn Daniel? Die Nacht brach herein und zwischen den Regenschleiern konnte Carmen ihn nirgendwo entdecken. Jetzt war er schon mindestens fünf Minuten fort. Carmen wurde ärgerlich. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Die verletzte Katze musste zum Arzt. Regen trommelte auf das Verdeck. War der BMW beschädigt?, überlegte Carmen. Vielleicht saßen sie wirklich fest. Sie glaubte, Daniel am Kofferraum gehört zu haben, wo das Unfall‐Set lagerte. Carmen fröstelte und nun erwachte leise Sorge in ihr. Daniel war alleine da draußen. Und wenn er ausrutschte und mit dem Kopf
irgendwo aufschlug? Wenn er sich beim Unfall nun eine Gehirnerschütterung geholt hatte und einfach umgekippt war? Oder …? Carmen fielen lauter Schauergeschichten ein, die netten Leuten auf einsamen Landstraßen widerfahren waren. Wie sollte sie ihn suchen, ohne das verletzte Tier zu bewegen? Außerdem hatte er die Lampe mitgenommen und ihr blieben nur die abgezirkelten Lichter der Scheinwerfer und der Warnblinker. Sie schaltete kurz das Fernlicht an und spähte durch den Vorhang aus fallenden Tropfen. Endlich kam Daniels Gestalt in Sicht.
* Durchnässt kehrte er zurück und stieg ein. »Nur ein paar Kratzer im Lack.« »Wo warst du denn so lange?«, wollte Carmen wissen. »Ich musste das Warndreieck aufstellen! Weiter die Straße runter ist ein Feld …« »Ja und?« Carmen streichelte die Schnurrhaare der Katze. »Du wirst es nicht glauben …« Daniel startete den Motor und der Wagen rollte langsam vorwärts. Er deutete nach vorn. »Siehst du diesen Traktor da?«, fragte er ernst. Ein Schemen nahm im Kegel des Scheinwerfers Kontur an. »Das Ding ist im lockeren Boden ein Stück die Böschung runter auf die Straße gerutscht. Wenn uns die Katze nicht gestoppt hätte, wären wir da ungebremst draufgeknallt.« Carmen lief ein Schauder den Rücken hinab. So einen Unfall überlebte wohl keiner. »Wir müssen der Polizei Bescheid geben«, sagte sie. Deutlich langsamer als zuvor fuhren sie weiter.
Die Katze maunzte. »Armes Tier«, gurrte Carmen in einem Tonfall, den sie sonst für Daniel reserviert hatte, wenn er krank war. Sie strich dem Kätzchen über den Kopf. »Uns hast du ja richtig Glück gebracht, kleiner Streuner. Bald sind wir beim Arzt, der dich durchcheckt. Und wenn du okay bist und kein Zuhause hast, dann kommst du erst mal mit zu uns.« »In Ordnung«, meinte Daniel. Im Moment würde er allem zustimmen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. »Ich kenne da eine Abkürzung«, erklärte er, während er den Wagen wendete. Sie bogen in einen schmalen Feldweg ein, der zum Zubringer Richtung Stadt führte. Auf diesem Weg kamen sie zügig voran. Minutenlang sagte keiner etwas. »Wie geht es ihr?«, brach Daniel das Schweigen. Carmen legte den Kopf schief und musterte das Tier von allen Seiten. Die Augen der Katze folgten dem Schaukeln des Lufterfrischers. Sie war von der grünen Kunststofftanne mit Kiefernduft wie hypnotisiert. »Sie atmet gleichmäßig und liegt ansonsten ganz still. Ich glaube, Schmerzen hat sie nicht«, erwiderte Carmen. »Gut! Wir sind gleich da.« Daniel nahm die Kurve etwas zu schnittig und wieder rutschte ihm der Wagen weg. Als aus einer Nebenstraße ein voll besetzter Kombi schoss, wollte Daniel das Lenkrad noch herumreißen. Doch ein Fellbündel stob neben ihm in die Höhe und auf seinen Kopf zu. Carmen schrie, Daniel fluchte und schlug um sich. Er ließ das Lenkrad los. Für Sekunden fuhr der Wagen ohne Kontrolle. Das Letzte, was Daniel sah, waren leuchtende Katzenaugen, ehe sich Krallen in sein Gesicht bohrten und die Welt in Lärm und splitterndem Glas versank.
* Carmens Zähne schlugen aufeinander und das Klacken war das erste Geräusch, das sie bewusst hörte. Langsam öffnete sie die Augen. Kein Wunder, dass sie fror. Der Wind pfiff über die einsame Heide, über die Carmen ziellos taumelte. Wie war sie bloß hierher gekommen? Sie horchte in sich hinein, aber da fand sie nur Leere. Carmen erinnerte sich an ihren Namen, aber sie wusste nicht mehr, wer sie eigentlich war oder wie sie hierher gekommen sein mochte. Sie blickte über die Schulter zurück. Im Zwielicht des bleifarbenen Himmels sah ihre Umgebung in jede Richtung gleich aus. Was machte sie hier? Wo kam sie her? Carmen blickte an sich hinunter. Braune Lederschuhe, eine graue Flanellhose und eine rote Jacke alles Kleidungsstücke, die ihr nichts verrieten. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren und nur noch ihr Name bildete ihren Anker in einem Meer des Vergessens. Ihr wurden die Knie weich und sie sank zu Boden. Gras und Heidekraut, so weit das Auge reichte. Sie tastete ihre Jacke nach Papieren ab, nach ihrem Handy, aber da war nichts. Kein Schlüssel, kein Ausweis, nicht einmal ein Adressbuch. Ihre Uhr war stehen geblieben. Die Pflanzen ringsum waren eigentümlich grau, nicht verdorrt, aber auch nicht saftig. Sie wirkten wie gefriergetrocknet. Carmen riss ein Büschel Heidekraut aus und zerbröselte die Fasern zwischen den Fingern. Wenn sie der Spur niedergetretener Kräuter folgte, würde sie dahin gelangen, von wo sie gekommen war. Und dort gab es sicher jemanden, der sich um sie kümmern konnte. Polizei, Ärzte,
Angehörige. Sie stand auf und lief die eigenen Fußstapfen einige Meter zurück, bis die Abdrücke zwischen den Heidekrautbüscheln verschwanden. »Hallo?«, rief Carmen. »Ist hier jemand?« Es blieb still. Wieder musterte sie den Himmel. Entweder brach gerade der Morgen an oder die Abenddämmerung setzte ein, denn das ungewisse Zwielicht verriet ihr keine Tageszeit. Carmen beschloss loszugehen, bis sie auf jemanden traf. In der Zwischenzeit zeigte sich hoffentlich Sonne oder Mond, damit sie einen Orientierungspunkt hatte. Außerdem würde ihr beim Laufen bestimmt wärmer werden.
* Die Zeit verstrich. Die Dämmerung musste in einen diesigen Tag übergegangen sein, denn obwohl es nicht dunkler geworden war, sah der Himmel gleichmäßig grau aus. Ein Gutes hatte die Wanderung: Carmens Zähne klapperten nicht mehr, auch wenn sie immer noch fröstelte. Und trotz des strammen Tempos geriet sie nicht außer Atem. Immer wieder spähte sie nach vorne und als Carmen dort irgendwann – sie versuchte die Zeit nicht einmal zu schätzen – einen lang gezogenen Schatten sah, beschleunigte sie ihre Schritte. Der Schatten entpuppte sich als ausgedehnter Kiefernwald. Das Grün der Nadeln tat ihren Augen gut, nachdem sie so lange nur Grau gesehen hatte. Carmen atmete befreit auf, in Erwartung des würzigen Kiefernduftes. Sie schlug den Weg zwischen den Bäumen ein. Federnd schlossen sich die Äste hinter ihr, als Carmen in den Wald eindrang. Voller Vorfreude sog sie tief die Luft ein. Unvermittelt wie ein
Blitz in dunkler Nacht zuckte in ihrem Gedächtnis plötzlich die Erinnerung an Kiefernadelduft auf. Da war etwas gewesen, kurz bevor … Vor ihrem geistigen Auge erschien der Umriss einer leuchtend grünen Tanne. Das Bäumchen kam ihr entgegen, wurde größer, riesig und hüllte sie in Ekel erregend penetranten Geruch ein. Er war so intensiv, dass sich ihr Magen zusammenzog. Im nächsten Augenblick verschwand das Bild. Carmen keuchte. Sie stützte sich an einem Stamm ab und befreite sich langsam aus dem Bann der Vision. Doch das das flaue Gefühl im Bauch blieb bestehen. Aufgeregt eilte Carmen weiter. Sie war ihrer Vergangenheit auf der Spur. Der Geruch des Waldes hatte etwas ausgelöst. Vielleicht fielen ihr weitere Einzelheiten ein. In ihrem Eifer übersah Carmen die gebogene Wurzel, die ihren rechten Fuß wie eine Schlinge einfing. Sie stolperte und stürzte auf den nadelbedeckten Waldboden zu. Während sie fiel, flammte die Erinnerung an einen anderen Sturz auf und füllte ihr Gesichtsfeld vollkommen aus. Die Zeit verlangsamte sich. Sie flog wie in Zeitlupe aus einem Auto und landete auf der Straße. Etwas zerrte an ihr – aber in diesem Augenblick landete sie hart auf dem Waldboden und die Vision zerstob wie ein Regentropfen auf Stein. Während sich Carmen langsam in die Realität zurücktastete, beherrschte sie nur ein Gedanke. Ich hatte einen Unfall! Erleichterung rieselte durch ihren Körper, denn endlich gab es einen Anhaltspunkt. Sie richtete sich auf und … In diesem Moment trat eine finstere Gestalt hinter einer Kiefer hervor. Carmen schrie erschreckt auf und kippte zurück. Sie hatte den
Alten weder gesehen noch gehört. Der alte Mann stand einfach nur da und starrte sie an. Sein Bart wucherte ungeschnitten und war mit dem langen, grauen Haupthaar zu einer undurchdringlichen Masse verwoben. Der Kerl trug einen weiten Mantel und sah wie ein Schäfer aus. »Helfen Sie mir. Bitte!«, stotterte Carmen, immer noch atemlos vor Schreck. »Ich hatte einen Autounfall und weiß überhaupt nicht mehr, wie ich …« Weil der Alte keinerlei Reaktion zeigte, stockte Carmen. Unter seinen mitleidlosen Blicken kam sie mühevoll auf die Füße. »Verschwinde von hier, schnell!«, brummte er und hob drohend die Faust. »Zurück, wo du hergekommen bist!« Seine Stimme und sein Verhalten jagten ihr Angst ein. Wer wusste schon, was einem verschrobenen Schäfer in dieser Einöde alles im Kopf herumging? »Schon gut, ich bin sofort weg«, sagte Carmen. »Aber können Sie mir bitte sagen, wo die nächste Stadt liegt, oder wenigstens ein Telefon? Ich hatte einen Unfall.« »Geh weg von hier!«, antwortete der Alte nur. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen. Wieder schüttelte er die Faust. »Ist gefährlich für solche wie dich.« Wenn es ihm mit diesen Worten darauf angekommen war, Carmen einzuschüchtern, so war ihm das gelungen. Sie machte kehrt und stapfte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. »Was für ein grober Kerl«, murmelte sie vor sich hin, nachdem sie sich etwas gefangen hatte. »Den zeige ich wegen unterlassener Hilfeleistung an, wenn ich erst mal wieder zu Hause bin.« Carmen war so in Gedanken versunken, dass sie einen tief hängenden Ast übersah und einfach hineinlief. Ein Zweig strich über ihr Gesicht. Die langen, weichen Nadeln kratzten kaum und
unwillkürlich fühlte sich Katzenschwanz erinnert.
Carmen
an
einen
gesträubten
Die Katze!, fiel ihr plötzlich ein. Da war eine Katze in den Unfall verwickelt gewesen. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie empfand etwas, das die Angst vor dem alten Schäfer bei weitem übertraf. Es war ein Grauen, das sie tief innen berührte. Für einen Augenblick wurde Carmen schwindelig und die Bäume drehten sich um sie. Jetzt wollten die Äste nach ihr greifen, sie festhalten und hinabziehen. »Nein!«, keuchte Carmen und stolperte vorwärts, zwischen den peitschenden Armen und den knorrigen Wurzeln hindurch. Endlich sah sie Licht vor sich und sie rannte schluchzend die letzten Schritte auf die Heide hinaus …
* Carmen wischte sich erst einmal die feuchten Augen. »Was für ein Hinterwäldler!«, murmelte sie. Wahrscheinlich war der Schäfer einfach ein boshafter, alter Mann! Von dem hatte sie gewiss keine Hilfe zu erwarten. Und auf der Heide, die sich nun wieder vor ihr erstreckte, war Carmen bislang keiner Menschenseele begegnet. Dann musste sie eben versuchen, den Wald zu umrunden. Irgendwann musste sie ja mal auf eine Siedlung stoßen. Entschlossen lief sie den Waldrand entlang nach rechts. Dabei hielt Carmen deutlichen Abstand zu den Bäumen und warf immer wieder ängstliche Blicke zwischen die Kiefern. Die Begegnung mit dem Alten steckte ihr noch in den Knochen und nach den visionsartigen Erlebnissen war ihr der Wald unheimlich geworden. Was war nur bei dem Unfall geschehen? Wieso fühlte sie sich
umso sicherer, je weiter weg sie rannte? War sie etwa auf der Flucht? Das Bild der Katze mit aufgerissenem Maul und gesträubtem Fell spukte immer noch in Carmens Kopf herum und jagte ihr trotz der Eile einen Schauder nach dem anderen über den Rücken. Nein, daran wollte sie nicht denken! Carmen versuchte, dieses Bild zu verdrängen, doch stattdessen wurde die beängstigende Vision noch deutlicher. Mehr und mehr Einzelheiten tauchten aus ihrem Unterbewusstsein auf. Das nasse Fell der Katze war pechschwarz und sie lag auf Carmens Schoß. Carmen hatte wegen des Tieres vergessen, den Sicherheitsgurt anzulegen. »Was?«, fragte sie laut und blieb stehen. »Ich war nicht einmal angeschnallt?« Carmen atmete tief ein und blickte noch einmal an sich herunter. Sie sah kein Blut und an den Händen hatte sie nicht einmal einen Kratzer. Auch als sie ihr Gesicht abtastete, war die Haut weich und unverletzt. Ein Wunder, dachte Carmen, dass ich den Unfall so gut überstanden habe. Sie musste durch die Windschutzscheibe katapultiert worden sein, ohne sich auch nur zu schneiden. Außerdem war sie auf der Straße gelandet und hatte sich dabei nicht einmal eine Prellung geholt. Das war kaum möglich! Carmen schüttelte den Kopf. War das heutige Autoglas so ausgeklügelt? Sie wusste, dass Autoscheiben anders brachen als Fensterglas. Aber dass die Technik so weit entwickelt war, hatte sie nicht erwartet. Etwas bewegte sich am Rande ihres Gesichtsfeldes. Carmen zuckte zusammen, ihr Kopf ruckte nach links. Ihr Herz raste. Nicht einmal zehn Meter entfernt, kam ihr wie aus dem Nichts
eine Frau entgegen. Eigentlich hätte Carmen die Gestalt im Tweedmantel längst auffallen müssen, aber sie hatte wohl wieder mehr auf ihre Erinnerungen geachtet, als auf die Landschaft ringsum. Carmen ging entschlossen auf die Frau zu. Die Fremde bemerkte sie nicht, ihre Augen waren zu Boden gerichtet. Carmen schluckte und sprach sie an. »Entschuldigen Sie, haben Sie zufällig ein Handy dabei? Ich bin bei einem Unfall aus dem Wagen geschleudert worden und …« Die Erkenntnis traf Carmen wie ein Hammerschlag. Sie war durch die Frontscheibe geflogen, aber sie erinnerte sich an kein Lenkrad. Also musste es einen Fahrer gegeben haben, der das Auto gesteuert hatte. Die Frau hob langsam den Kopf. Aber sie schien durch Carmen hindurchzublicken. O Gott, dachte diese, bin ich hier unter Verrückten gelandet? Sie redete einfach weiter, versuchte, den stumpfen Blick der Frau auf sich zu fixieren und deren Interesse zu wecken – oder ihr Mitgefühl. »Bitte«, sagte Carmen, »ich habe die Orientierung verloren und es war noch jemand im Wagen, der verletzt sein könnte.« Als sei sie im Drogenrausch, irrte der Blick der Fremden hin und her, dann ging sie achselzuckend weiter. »Nein!«, rief Carmen und wollte sie am Arm festhalten. »Gehen Sie nicht! Bitte helfen Sie mir! Wo finde ich die Polizei? Ein Telefon?« Carmens Finger fanden keinen Halt. Sie griffen einfach durch den Arm der Frau hindurch. Die Fremde blieb stehen, sah über die Heide und lief dann weiter, als wäre nichts geschehen. Carmen starrte schockiert auf ihre Hand, beugte und streckte die
Finger, als würde sie ihre Beweglichkeit prüfen. Das musste die Nachwirkung des Unfallschocks sein. Carmen wünschte sich so sehr Hilfe herbei, dass sie in ihrer Fantasie schon Menschen erschuf, die in Wirklichkeit gar nicht da waren. Der Gedanke mit seinen ganzen Bedeutungen nahm Carmen den Atem. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste endlich zu einem Arzt. Carmen nahm die Wanderung wieder auf. Es vergingen weitere Stunden. Sie wurde nicht müde, obwohl das bleigraue Licht ihr auf die Stimmung schlug. Irgendwie schien sie mit jedem Schritt matter und mutloser zu werden. Sie wünschte sich sehnlichst einen Irish Coffee herbei. Nicht weil sie durstig war, sondern mehr als Muntermacher. Doch endlich erblickte Carmen die Umrisse einer Hütte, kaum hundert Meter entfernt und ihre Schritte wurden ausholender. Hoffentlich bekomme ich endlich Hilfe, dachte sie.
* Vor der Hütte stand jemand und hackte Holz. Carmen sah von weitem, wie die Axt krachend in den Baumstumpf fuhr und auf ihrem Weg einen groben Holzscheit in zwei handliche Stücke teilte. Zu Carmens großer Erleichterung wandte sich die vierschrötige Gestalt in ihre Richtung und hob grüßend die Hand. »Hallo!«, rief er. »Heute sind aber viele Wanderer unterwegs.« Das konnte Carmen nicht gerade bestätigen, aber der freundliche Empfang machte ihr das Herz gleich leichter. »Entschuldigung, haben Sie hier Telefon? Ich hatte einen Verkehrsunfall und muss dringend die Polizei benachrichtigen.« »Das tut mir Leid. Aber ich kann Ihnen beim besten Willen nicht
weiterhelfen. Mein Telefon funktioniert schon länger nicht mehr.« Der Holzfäller legte sich einen weiteren Holzklotz zurecht und spaltete das Stück. Rinde splitterte ab und landete zusammen mit dem geteilten Holz auf dem Boden. Als die Axt herausgezogen wurde, knirschte der Holzblock wie ein lebendes Wesen, das gequält aufschrie. Bei dem Geräusch zuckte Carmen zusammen. Sie krampfte die Hände ineinander. Immerhin weist der Mann mich nicht sofort ab, dachte sie und wurde mutiger. »Bitte! Können Sie denn gar nichts für mich tun? Haben Sie vielleicht ein Auto, mit dem Sie mich zur nächsten Stadt bringen könnten?« Irgendwie wurde Carmen bei dem Gedanken ans Autofahren mulmig, aber sie schob die Angst fort, so gut es ging. Sie musste doch Hilfe holen für Daniel. Daniel? Wieder flimmerte es Carmen vor Augen und die Erinnerungen überwältigten sie. Sie lag auf dem nassen Asphalt vor dem Wagen, das Geräusch von zerreißendem Metall noch im Ohr. Vielfach gesplitterte Stücke Sicherheitsglas waren rings um sie verteilt, vom Aufprall wie mit Spinnweben gemustert. Ungläubig betrachtete Carmen das Durcheinander. Der Kombi, mit dem sie zusammengestoßen waren, hatte sich wie eine Dampframme in die Seite des BMWs gebohrt. Beide Fahrzeuge schienen ineinander verkeilt weitergerutscht zu sein, ehe sie an einem Telefon zum Stehen kamen. Die Telefonsäule lag geknickt neben Carmen, der Hörer war auf dem Boden in tausend Stücke zerschellt. Daniel nannte diese Edelstahlsäulen mit der rosa Schrift immer ›Marterpfähle‹, weil man beim Telefonieren dort Wind und Wetter ausgesetzt war. Daniel!
Er war noch im Auto. Sie musste ihm sofort helfen! Carmen zog sich an den Resten der eingedrückten Wagenfront hoch und äugte durch die gesplitterte Windschutzscheibe ins Innere. Beim Anblick von Daniels blutüberströmtem Körper über dem Lenkrad taumelte sie zurück. »Nein, Nein!« Irgendwo heulten Sirenen. Carmen zitterte wie Espenlaub, als sie allen Mut zusammennahm und sich noch einmal in das verbogene Auto beugte. Vielleicht waren die Verletzungen nicht so furchtbar, wie sie aussahen. »Daniel?«, rief sie. »Bitte, sag was!« Sie hatte Angst, Daniel zu berühren, doch sie kam ihm nah genug, um zu erkennen, was geschehen war. Die Lenkradsäule hatte sich in Daniels Brust gebohrt und trat an seinem Hals wieder aus. Seine toten Augen starrten sie blicklos an – und tiefe, parallele Furchen, wie von Katzenkrallen, liefen durch sein Gesicht. Carmen schrie!
* »Geht es Ihnen gut?«, fragte eine Männerstimme. Der entsetzliche Laut verstummte. Hatte sie etwa geschrieen? Der schwarze Schleier hob sich von Carmens Augen und sie bemerkte den Holzfäller, der sie besorgt musterte. »Nein, ja …«, stammelte sie. »Nun, ich hatte Ihnen gerade lang und breit erklärt, weswegen ich kein Auto habe und mittendrin sind Sie weggetreten«, erklärte der Mann, schon viel weniger freundlich als vorhin. »Jetzt muss ich aber wirklich weiterarbeiten.« Er bückte sich nach den Holzscheiten, warf sie in einen Korb und schwang erneut die Axt, um das nächste Viertel zu teilen.
Carmen schlotterte plötzlich am ganzen Leib. Daniel war tot. Was sollte sie jetzt bloß tun? Der Hieb der Axt krachte auf das Holz. Es kreischte, die letzten Holzfasern rissen und das Blatt der Axt fraß sich tief in den Hauklotz. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges. »Da lang!«, sagte der Holzfäller mit einem Nicken in die gemeinte Richtung. »Bitte?«, fragte Carmen mit einer automatischen Höflichkeit, einem Gefühl, das sie nicht empfand. Im Moment fühlte sie gar nichts mehr. Ihr Inneres war zu Asche geworden. »Na, Sie wollten doch in die Stadt«, erinnerte sie ihr Gegenüber. »Und wenn Sie in diese Richtung gehen, vom Wald fort, dann kommen Sie in den Ort. Mich brächten da aber keine zehn Pferde hin.« Carmen dankte dem Holzfäller mit der gleichen, durch Gewohnheit einstudierten Weise. Sie fühlte sich taub und leer. Doch wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung – schneller und schneller.
* Carmen hetzte vorwärts, auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Sie nahm die Umgebung kaum wahr. Unmöglich!, dachte sie. Das war alles nicht geschehen. Weder der Unfall noch die erschreckenden Begegnungen waren real. Bestimmt wälzte sie sich gerade in einem Albtraum hin und her. Carmen wünschte, all das wäre bloß ein Traum. Dafür sprach vieles: das graue Licht, die menschenleere Landschaft, ihre lange Wanderung ohne Folgen wie Durst oder Erschöpfung.
Aber konnte man in einem Traum Visionen haben? Fragte man sich in einem Traum, ob man träumte? Warum sollte Carmen von etwas so Schrecklichem wie einem tödlichen Unfall träumen? Das ergab keinen Sinn! Sie wünschte, sie hätte sich nie an Daniels Tod erinnert. Es tat einfach zu weh, daran zu denken! Es gab nur eine logische Erklärung: Wenn all das kein Traum war, musste sie nach dem Unfall geschockt davongelaufen sein, verwirrt und ohne Erinnerung. Carmen war hier gestrandet und alle, denen sie begegnete, schienen verrückt zu sein. Dabei hatte sie doch gerade erst ihren toten Freund … Nicht daran denken!, befahl sie sich und setzte einen Fuß vor den anderen, in der Hoffnung, dem inneren Grauen zu entkommen. Ohne, dass sie es bemerkt hatte, war es tatsächlich dunkler geworden. Fand nun dieser lange Tag ein Ende? Carmens Augen schweiften über den Horizont, wie so viele Male zuvor. Sie blieb stehen und riss erstaunt die Augen auf. Am Horizont glühten Lichter – eine ganze Stadt, so hell wie die Sterne in einer Frostnacht. Von den echten Sternen jedoch war immer noch keine Spur zu sehen, der Himmel zeigte sich zunehmend bewölkter. Angezogen wie eine Motte vom Licht, strebte Carmen auf die Stadt zu. Sie hatte ein Ziel und wenn sie erst angekommen war, würde sich alles klären. Da war sie sich ganz sicher. Bestimmt …
* Das letzte Stück legte Carmen so schnell wie möglich zurück, um
noch vor dem Anbruch der Nacht die Stadt zu erreichen. Schon konnte sie die Umrisse der Gebäude ausmachen und sah die Dächer und einige kahle Bäume wie Scherenschnitte gegen den verdunkelten Himmel. Die Ansiedlung glich einer mittelalterlichen Burg. Rings um die Häuser lief eine unbeleuchtete Mauer. Erst hinter der Mauerkrone strahlten Fenster in den höheren Gebäuden mit den Straßenlaternen um die Wette. Deswegen sah es aus, als liefe ein Ring aus Dunkelheit um die Siedlung und würde die Lichter einsperren. Leichter Nebel sammelte sich am Fuß der Mauer und flutete über das Umland. Endlich in Sicherheit … Carmen hielt auf die Stadt zu und sie glaubte schon, die Stimmen der Menschen in den Häusern zu hören – ein undeutliches Geflüster. Wie von selbst fanden ihre Füße einen kleinen, ausgetretenen Pfad, der zu dem Tor in der Mauer führte. Vielleicht noch fünfzig Meter, dann noch zwanzig … »Halt!« Der Klang der Stimme durchfuhr Carmen wie eine stählerne Klinge. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Carmen schluckte, als sich eine Gestalt aus dem Schatten schälte – und schrie auf, als sie das Gesicht des Mannes erkannte. »Daniel!« Aber Daniel war tot, sie hatte in seine leblose Augen geblickt. Doch nun stand er ihr gegenüber, als wäre nichts geschehen. »Carmen, halt. Geh nicht dorthin!« Sie wiegte den Kopf hin und her. Sie sah, wie Daniel blutüberströmt in einem Autowrack lag. Sein zerschmetterter Körper war kalt und tot. Daniel sagte etwas, doch sie achtete nicht auf die Worte, sondern
lauschte nur dem Klang. Seine Stimme hörte sich an wie immer. Doch Carmen erinnerte sich an den scheußlichen Anblick seines zerfetzten Halses. Daniel konnte nicht mehr sprechen, selbst wenn er durch ein Wunder überlebt hätte. Wenn alles mit rechten Dingen zuging! Die Gestalt kam ein paar Schritte näher heran und Carmen wich angstvoll zurück. »Bleib stehen!«, rief sie. »Aber ich will dir doch helfen!«, behauptete Daniel. »Wie kannst du mir helfen? Du bist tot! – Ich … ich habe dich selbst tot im Auto liegen gesehen, bevor ich weggelaufen bin.« Carmen schluckte bei der Erinnerung an diesen Moment. Den Anblick von Daniels zerfetztem Körper im Gedächtnis zu tragen und gleichzeitig sein Ebenbild zu sehen war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Sie schluchzte. In der Stadt würde man ihr helfen. Da gab es sicher Ärzte, die ihren Unfallschock behandeln würden. Und mit ihm die Halluzinationen. »Du bist nur ein Trugbild. Du existierst nicht.« Carmen hob abwehrend die Hand und ging zwei Schritte weiter Richtung Stadtmauer. »Bitte, ich flehe dich an. Bleib stehen und hör mir zu.« Daniel verharrte und eine Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. Er streckte eine Hand nach ihr aus. Diese Geste war Carmen so vertraut, dass sie tatsächlich anhielt. Für einen Sekundenbruchteil blitzte es in Daniels Augen. Er lächelte. »Ich schwöre dir, ich bin Daniel und ich möchte nur dein Bestes.« Unentschlossen schaute Carmen auf die Stadt und zurück zu Daniel. Ein leichter Nebel wehte von der Stadtmauer heran. Aus
dem Augenwinkel sah sie, wie ihm ein Nebelstreif übers Gesicht fuhr. Ärgerlich schlug er nach der feinen Wolke. Während der Dunst seine Gestalt berührte, verwandelten sich seine Züge. Carmen stolperte fassungslos rückwärts. Nein, so etwas würde sie sich niemals einbilden. Daniels Gesicht verwandelte sich in eine blutige Fratze. Seine Zähne steckten halb heraus gebrochen zwischen den aufgeplatzten Lippen. Die Hände, mit denen er den Nebel zu vertreiben versuchte, wurden zu behaarten Pranken mit krummen Fingern und langen Fingernägeln. Seine Haut lief dunkel an und der Körper floss an einigen Stellen auseinander wie eine wochenalte Wasserleiche. Carmen lief eine Gänsehaut über den Rücken. Daniel war tatsächlich tot und nun verfolgte er sie als blutrünstiges Gespenst. Plötzlich verstand sie alles. Er wollte sie daran hindern, die Stadt zu erreichen, wo man sie retten konnte. Er wollte sie für sich behalten, auch über den Tod hinaus. In diesem Augenblick trat Daniel aus dem Nebel und der Spuk war vorbei. Er sah aus wie immer. Genau so wie er am letzten Abend ausgesehen hatte, ehe sie ins Auto gestiegen waren … Es kam Carmen vor, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen. Daniel reagierte mit keinem Wort auf den seltsamen Nebel. »Lass uns zusammen von hier fortgehen.« »Nein! Ich habe deine wahre Natur jetzt erkannt!«, sagte Carmen mit fester Stimme. »Du bist ein Geist und willst mich mit ins Totenreich nehmen.« Daniel zuckte zusammen. »Du musst mir vertrauen!« »Ich soll dir vertrauen, nachdem du den BMW zu Schrott gefahren hast? Aber du musstest ja immer so rasen.« Carmen wusste nicht so recht, wieso sie mit einem Gespenst diskutierte. Langsam wich sie weiter vor dem Geist ihres Freundes zurück, auf die schützenden, nebelumwallten Stadtmauern zu.
»Es stimmt. Ich bin zu schnell gefahren. Aber du kannst nicht alle Verantwortung für den Unfall bei mir abladen. Schließlich hättest du genauso gut am Steuer sitzen …« Daniel verzog schmerzhaft das Gesicht und brach ab. Wieder kroch ein Nebelstreif um Daniels Waden und statt seiner Jeans sah Carmen zwei abscheulich zerfressene Beine, in denen sich einige helle Punkte bewegten. Vor Jahren hatte Carmen ein halb verwestes Tier gefunden. Es hatte süß und schwer gerochen, so wie der Nebel, der gerade Daniels Gestalt umspielte und höher kroch. Seine Oberschenkel wurden zu zwei aufgedunsenen Ballons. Halb unter dem faulenden Fleisch verborgen, liefen Käfer auf ihm umher. Weiße Fliegeneier, dicht an dicht, bildeten bizarre Muster. Wimmelnde Maden fraßen sich rasend schnell bis auf den Knochen durch. Carmen presste die Hand auf den Mund, um den Würgereiz zu unterdrücken. Der Nebel zeigte Daniels wahre Gestalt! Er machte eine gequälte Grimasse, als wäre der Nebel kochend heißer Dampf. Sie wich Daniels Blick aus. Sie musste zur Stadt! Die junge Frau zwang sich, rückwärts weiter den Pfad zum Stadttor entlangzugehen. Dabei ließ sie Daniel nicht aus den Augen, obwohl sie sich vor seinem Anblick ekelte. Doch die Angst, er würde ihr folgen oder sich unbemerkt heranschleichen, war stärker. Rings um die Stadt ballten sich die Dunstwolken. Daniel gebärdete sich immer verzweifelter, aber er verharrte an der Nebelgrenze. »Carmen, wenn du mich jemals geliebt hast, dann vertrau mir doch«, rief er. »Du musst umkehren! Für mich wird es hier zu gefährlich. Ich spüre den Einfluss des bösen Ortes. Er versucht, meine Substanz zu zersetzen, damit ich dich nicht aufhalten kann.«
»Dann sag mir, wer du bist!«, verlangte Carmen und hielt widerwillig an, um seine verwehenden Worte zu verstehen. »Du hast Recht, ich bin ein Geist!« Daniel senkte den Kopf. »Aber ich möchte dir nichts tun. Im Gegenteil.« Und für einen Moment lang glaubte Carmen ihm. Sie sah in Daniels gequältes Gesicht. Wie gerne würde sie ihn jetzt umarmen, ihre Wange an die seine schmiegen. Doch er war tot! Entschlossen wandte sie ihm den Rücken zu und ging weiter. »Bitte, rede mit mir! Lauf nicht in dein Unglück«, drang undeutlich seine Stimme zu ihr. Sie schüttelte nur den Kopf. »Carmen, lass uns reden. Komm wenigstens ein bisschen weiter fort von hier.« Wie konnte er nur so egoistisch sein! Sie konnte nichts für seinen Tod. Anstatt sich zu freuen, dass sie überlebt hatte, versuchte Daniel, sie nun mit sich ins Verderben zu reißen. »Carmen, ich muss dir etwas erzählen. Bitte hör mir doch zu.« Jetzt versuchte er also, sie neugierig zu machen. Netter Versuch!, dachte sie, biss die Zähne zusammen und schritt unbeirrt vorwärts. »Du bist nicht recht bei Sinnen, versteh doch. Ich muss dir etwas erklären.« Das ging Carmen zu weit und sie drehte sich um. »Gar nichts musst du mir erklären. Du, ein Gespenst, nennst mich also verrückt. Ist dir eigentlich klar, wie irre das alles klingt?«, fauchte sie böse. »Du bist nur von außen Daniel, aber in Wirklichkeit ein widerlicher, fauliger Kadaver.« Daniel schüttelte den Kopf. Er war von einer feinen Nebelschicht bis zur Brust eingeschlossen und Carmen bemühte sich, nicht zu genau hinzusehen, was in seinem Brustkorb passierte.
»Nein, das verstehst du nicht«, sagte er. »Denk an die Katze. Ich weiß jetzt, was …« Carmen wandte ihm den Rücken zu und seine Stimme verklang. Wie eine Bergwand ragte die solide gefügte Mauer vor ihr empor. Cremefarbene, rundliche und ovale Steinbrocken lagerten in einem Mörtel wie gebrannter Terrakotta. Besonders schmale und lange Steine waren zu einem Muster um den gotisch anmutenden Torbogen arrangiert. Nach drei Metern hatte Carmen das einladend erleuchtete Tor erreicht. Erst jetzt bemerkte sie, wie tief der Eingang wirklich war. Die Mauer musste an dieser Stelle fast zwei Meter dick sein. Gerade wollte Carmen in den Torgang treten, da hörte sie einen Schrei, vor Verzweiflung fast unmenschlich verzerrt. Und im Echo von Daniels Schrei vernahm sie plötzlich weitere Stimmen. Klagendes Weinen, Stöhnen und abgehackte Schmerzenslaute. Unwillkürlich sah sie über die Schulter zurück und lauschte. Daniel stolperte auf sie zu. Der Nebel umspielte seine Gestalt und folgte ihm wie eine Schleppe. Ihr toter Freund sah grauenhaft aus. Beim Anblick der heraus gefaulten Gedärme, die bei jedem seiner Schritte zuckten, keuchte Carmen auf. Wie konnten diese zerfressenen Beine ihn noch tragen, wie konnte er mit den hervorquellenden, blutverkrusteten Augen überhaupt noch etwas erkennen? Daniel sah aus wie ein Zombie und vielleicht war er auch genau das. Gab es noch mehr davon? Es hatte sich angehört, als wäre das Jammern und die Schreie aus der Stadt gedrungen. Aber sicher spielten ihr nur die Ohren einen Streich. Vermutlich lauerten noch mehr von diesen ›Untoten‹ im Schutz der Dunkelheit und warteten nur darauf, dass Daniel seine Freundin zu ihnen führte. Da hatte er sich gehörig verschätzt.
Immer noch rief Daniel irgendetwas, doch sie verstand seine Worte nicht mehr. Carmen schauderte. In diesem Moment tat sie den entscheidenden Schritt in das Tor.
* Schlagartig verstummten Daniels Rufe. Carmen spürte, wie eine ungeheure Kraft sie durch das Tor saugte. Wind riss an ihren Haaren und Kleidern und zwang sie zu einem weiteren Schritt und noch einem. Am Ende des Torwegs wurde ein Ausschnitt der Stadt sichtbar. Sie stemmte sich gegen den Luftstrom. Der Anblick der Stadt war erschreckend. Eine unheilvolle rote Aura pulsierte über den Gebäuden – und auf der Straße lagen Menschenleiber. Zuerst hielt Carmen sie für tot, doch im nächsten Moment erkannte sie, dass diese Menschen lebten, jedoch von Schmerz und Trauer gefällt waren. Grauen überkam die junge Frau. Tausend Stimmen, schmerzerfüllt und Mitleid erregend, drangen an ihr Ohr, bohrten sich in ihr Gehirn. Carmen kämpfte gegen den Sturm an. Sie krallte eine Hand zwischen die Steine der Mauer und behauptete so ihre Position. Diesen Ort würde sie nicht freiwillig betreten. Die Haare peitschten ihr ums Gesicht und schlugen ihr in die Augen. Sie duckte sich, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten, doch unerbittlich – Zentimeter für Zentimeter – zog er sie tiefer hinein. Sie presste die Finger mit aller Kraft in die Mauerfuge. Muskeln und Sehnen ihrer verkrampften Hand taten vor Anspannung weh. Da rutschte Carmens Fuß weg und sie schlitterte haltlos weiter. Sie fühlte sich wie ein verdorrtes Blatt, das im Herbst vom Sturm entführt wurde.
Ihre Finger verloren den Halt, doch Carmen drehte sich in der Bewegung und griff mit der Rechten nach einem vorspringenden Stein. Sie schrie vor Schmerz auf, als sie sich beinahe die Schulter ausrenkte. Endlich fanden ihre Füße eine Mulde im Boden. Sie beugte sich ein wenig weiter vor, um sich auch mit der zweiten Hand festzuklammern. Plötzlich bröckelte der vorstehende Stein unter ihren Fingerspitzen wie faules Holz. »Verdammt!«, fluchte Carmen verzweifelt, sah genauer hin – und ließ augenblicklich los. Die Mauer bestand aus Leichenteilen. Was Carmen für Steine gehalten hatte, waren in Wirklichkeit abgeschnittene Köpfe und Torsi. Säuberlich eingepasste Arme und einzelne Finger füllten die Zwischenräume der Mauer aus. Der Mörtel war nur eine blutige Masse aus zerstampftem Fleisch. Und aus diesem Brei schoben sich blutige Hände heraus, die nach ihr griffen. Während Carmen unerbittlich über den Boden in Richtung Stadt gezogen wurde, überwältigten sie Ekel und Angst. Sie konnte ihr Entsetzen nicht einmal in einem Schrei artikulieren. Es war aus! Durch den Torausschnitt, der immer größer wurde, erkannte sie jetzt, dass die ganze Stadt auf die gleiche Weise erbaut war wie die Mauer. Eine Stadt voller Sterbender, erbaut aus Toten. Eine Hand packte sie an der Schulter. Carmen knickte ein, wollte sie abschütteln. Sie schlug blindlings danach. Aber schon kam eine zweite Hand hinzu und zerrte an ihrem Arm. Carmens Vorwärtsbewegung stockte. Jemand zog sie zurück, gegen den Widerstand des höllischen Windes. Sie hörte auf, sich gegen den Griff zu wehren und schob sich in die
gleiche Richtung. So gut es ging, stützte sie sich dabei an der widerlichen Wand ab. Die zupackenden blutigen Hände von der Seite schlug sie fort wie Fliegen. Sie war Spielball zweier Gewalten, aber sie war weder willenlos noch zur Untätigkeit verdammt. Mit dem letzten Rest verbliebener Kraft ertrotzte sich Carmen den Weg rückwärts. Der Griff um ihren Oberkörper wurde fester. Zwei Arme schlangen sich um sie und drehten sie herum, hielten sie eisern. Carmen riss die Augen auf. Das rote Licht der Mauer überzog Daniels Züge mit einem gespenstischen Leuchten. Sie sah in sein verzerrtes Gesicht und wäre bei den Erinnerungen an vorhin fast zurückgeschreckt. Doch in seinen Augen las sie nur Sorge und Qual. Würde sich eine üble Kreatur für ihre Rettung selbst in Gefahr bringen? Daniel war nicht der Erste, der sie vor diesem Ort gewarnt hatte. Nachdem sie die Stadt gesehen hatte, wurde ihr einiges klar. Carmen dachte an den mürrischen Schäfer, der sie vertreiben wollte, weil es für sie gefährlich war. Sie hatte es für eine Drohung gehalten! Und auch der Einsiedler ohne Auto wollte die Stadt nicht betreten. Carmen war blind für diese Warnungen gewesen und hatte nicht nachgefragt. Aber Daniel würde ihr bestimmt die Wahrheit sagen. Er war gekommen, um ihr zu helfen. Entschlossen hakte sich Carmen bei ihm unter. Der Wind riss an den beiden wie ein Raubtier, dem man die Beute streitig machen wollte. Daniel sah völlig normal aus, nichts erinnerte mehr an die verfaulende Leiche von vorhin. Carmen starrte in seine vertrauten Züge, denn sie wollte die leblosen Gesichter im Torweg nicht sehen. Sie stapfte vornüber gebeugt stur weiter. Immer größer wurde der äußere Torbogen und endlich hatte Carmen ihn erreicht. Mit Schwung zog Daniel sie das
letzte Stück heraus. Kaum waren die beiden dem Torbogen entronnen, erstarb der Wind, als habe eine Laune der Natur sie für Sekunden genarrt. Doch beim Blick auf die von Leichenteilen gebildete Stadtmauer wusste Carmen, dass der Begriff natürlich hier fehl am Platze war. »Was ist geschehen?«, fragte sie und deutete auf die Mauer. »Wieso habe ich das vorher nicht gesehen?« »Der Nebel«, stieß Daniel erschöpft hervor. »Er hat dich geblendet und dir etwas vorgegaukelt.« Carmen blickte sich um, doch der dichte Nebel hatte sich verflüchtigt. Vielleicht hatte der geheimnisvolle Wind ihn zerstreut? Inzwischen war es Nacht geworden und Carmen konnte Daniels Gestalt in der Dunkelheit kaum noch erkennen. Nur sein Gesicht hob sich hell gegen die Umgebung ab. »Ich habe Angst vor dir gehabt«, flüsterte sie und fühlte die Tränen aufsteigen. Sie streichelte ihm über die Wangen. »Du hast vorhin ausgesehen wie ein Zombie.« »Das lag auch am Nebel«, sagte Daniel und blickte sich unruhig um. »Wir sollten besser hier verschwinden, Carmen. Komm, ich bringe dich … heim!« Seine Worte verwirrten Carmen nur noch mehr. Doch sie war mehr als froh, diesem Ort zu entfliehen und eilte vorwärts, so schnell sie ihre Füße trugen. Daniel fiel ein Stück zurück, aber Carmen hörte ihn noch immer hinter sich. Sein Laufrhythmus war ihr vertraut wie der eigene Herzschlag. Sie war froh, ihm letztlich doch vertraut zu haben. Jetzt würde alles gut werden. Daniels Schrei ließ Carmen herumfahren. Unter der Mauer quoll gelber Nebel hervor. Am Fuß der Stadtmauer brodelte es wie in einem Hexenkessel. Daniel wollte zu Carmen aufschließen, doch der Nebel war schneller. Wie eine
Schlingpflanze wickelte er sich um die Beine seines Opfers und brachte Daniel so zu Fall. Dieser trat nach dem Nebel, verwirbelte seine Form. Dann rappelte er sich mühsam auf und hinkte auf Carmen zu. Sie hatte den Eindruck, als sei er an den Stellen, wo ihn der Nebel berührt hatte, verletzt worden. »Was machst du denn?«, rief sie. Dann fiel ihr ein, dass Daniel vorhin erwähnt hatte, dass der Nebel seine Substanz angriff. Das hörte sich irgendwie nach ätzenden Säurewolken an. Carmen tat zwei Schritte auf Daniel zu, um ihm zu helfen. Der Nebel rings um den Stadtrand wurde dichter und dichter, er war gelb und dickflüssig wie Eiter. Als hätte jemand in der Stadt nasses Holz verbrannt, stieg plötzlich Rauch auf und wallte über die Mauerkrone. Rauch und Nebel verdichteten sich zu einem unheilvollen Gebräu. »Pass auf!«, rief Carmen. Doch zu spät. Daniel wurde rasend schnell von den Wolken eingeschlossen. Er trat und schlug nach dem flüchtigen Nebel, doch die graugelben Dünste hüllten ihn immer mehr ein. Langsam bewegte sich die Nebelfront und Daniel, darin gefangen, mit ihr. Geisterhaft leuchtete der Nebel, wie von eigenem Licht erfüllt. Carmen sah Daniels Gestalt durch das brodelnde Nebel‐Rauch‐ Gemisch kaum. Irgendwie musste sie ihm helfen! Doch sie zögerte, den unheimlichen Nebel zu betreten. Als sie eine leichte Berührung am Bein spürte, sprang Carmen mit einem panischen Schrei zur Seite. Ein Nebelstreif hatte sich wie ein tastender Tentakel um sie herum geschlichen. Die dunklen Rauchspuren daran wirkten wie Pestbeulen auf einem bleichen Körper. Und plötzlich öffneten sich die Geschwüre und etwas sprang heraus. Ratten!
Erschrocken trat Carmen aus der Reichweite des Nebelarmes und der Ratten. Sie schluckte. Die Tiere sahen widerlich aus. Ihre räudigen Felle zeigten offene Stellen in der Haut, die Schwänze waren abgenagt und blutig. Starr vor Angst blieb Carmen einen Moment stehen und wappnete sich gegen den Anblick. Die Tiere sind klein und schwach, beruhigte sie sich. Wenn sie mir zu nahe kommen, zertrete ich sie einfach. Dieser Gedanke allein ließ Carmen vor Widerwillen schaudern. Doch jetzt erkannte sie noch ein anderes Problem. Die Nebelwolke um ihren Freund war bereits so dicht, dass Carmen darin nur noch schattenhafte Bewegungen erahnen konnte. Und was noch schlimmer war: Die Nebelbank flutete auf die Stadtmauer zu! Was immer Daniel da im Nebel angriff, es trieb ihn in Richtung der Stadt. Sie musste ihn warnen. »Daniel, hierher!«, schrie sie. »Du gerätst in die Nähe der Stadt. Komm zurück!« Sie hörte Daniels Antwort kaum, er sprach gedämpft, wie durch Watte. »Wo bist …? Kann nichts sehen.« »Orientier dich an meiner Stimme«, rief Carmen. Vor ihr wurde der Nebel immer dichter. Dunstige Arme streckten sich auf sie zu – Arme übersäht mit rauchgrauen Pusteln, die zusehends anschwollen. Bloß nicht auf die Viecher treten, ermahnte sich Carmen. Noch waren die Ratten friedlich. Sie hockten träge dort, scheinbar von der Kälte betäubt. Aber sobald ein einzelnes Tier um Hilfe schrie, konnte sich das ändern. Ratten waren sehr sozial, hatte sie gelesen und halfen einander wie eine Familie. Carmen schob die Tiere vorsichtig mit dem Fuß beiseite und kam
Daniel einen Schritt näher. Beständig spie der Nebel ihr neue Ratten entgegen und sie tänzelte unsicher über das Heidekraut, um keines der Tiere zu erwischen. Wie sollte Carmen nur gleichzeitig auf Daniel und auf sich selbst aufpassen? Sie hörte leises Trippeln hinter sich, als würden die Ratten ihr folgen. »Daniel, ich bin unterwegs«, rief sie und schwenkte die Arme über dem Kopf, um mehr aufzufallen. Daniel schrie gepeinigt auf und dieser Laut gab den Ausschlag. Carmen machte zwei hastige Schritte mitten in den Dunst hinein, fort von dem Getier. Der Nebel war kalt und feucht auf ihrer Haut, aber nicht anders als gewöhnlicher Nebel. Er enthielt keine Säure. Allerdings versperrte er Carmen die Sicht. Wenn sie schnell genug war, konnte sie die Ratten vielleicht abhängen. »Daniel, sag was!«, schrie sie, wütend über die eigene Hilflosigkeit. »Bist du in Ordnung?« Sie tastete sich weiter durch den Dunst in Daniels Richtung. Endlich hatte sie die Nebelwand durchquert. Sofort entdeckte sie Daniel, der bei seinem Kampf gegen den unheimlichen Dunst die Mauer beinahe erreicht hatte. »Achtung!«, rief sie. »Carmen? Bist du noch da?«, fragte er keuchend. »Hilf mir! Verdammt, das brennt!« »Die Mauer ist zu deiner Linken«, erklärte sie. »Halt dich rechts. Folge meiner Stimme.« Sie konnte sich nicht überwinden, näher an die fürchterliche Mauer zu gehen. Die toten Gesichter, die Leichenteile … Die Rauchwolke trieb Daniel geradewegs auf die Mauer zu. Bis zum Torbogen waren nur noch wenige Meter. In der Finsternis konnte Carmen die Lücke in der Stadtmauer nur erkennen, weil
dort rötliches Licht heraussickerte wie Blut aus einer Wunde. Jetzt war Daniel direkt vor der Mauer. Er durfte den Torbogen nicht erreichen. »Pass auf! Zwei Meter weiter ist das Tor«, brüllte sie. »Halt, nein …« Carmen brach ab und stürzte vorwärts. An der Stelle, wo Daniel mit dem Nebel rang, erschien zwischen den Leichenteilen ein feiner, roter Bogen in der Mauer. Die leuchtenden Stellen wurden immer größer, drückten das schaurige Baumaterial beiseite. In dem Wall tat sich ein Spalt auf, als hätte eine riesige Axt hineingeschlagen. Die klaffende Wunde weitete sich zu einem Torbogen. Und Daniel stand direkt davor. Der tückische Dunst blendete ihn und ihr Freund ahnte nichts von der neuerlichen Gefahr. Er krümmte sich unter den tastenden Nebelschwaden, wich aus und kam der frischen Öffnung in der Stadtmauer dabei näher und näher. Carmen erreichte Daniel, noch ehe das pulsierende Licht die Bogenform ausgemalt hatte. »Komm schon!« Carmen packte Daniels Arm und zerrte ihn von der Mauer fort. Daniel vertraute sich ihrer Führung an. Sie musste ihn stützen, aus eigener Kraft wäre er dem Nebel nicht entkommen. Nach wenigen Schritten stolperte Daniel. »Warte, lass mich einen Moment zu Atem … zur Ruhe kommen.« »Nur noch ein kleines Stück«, versuchte Carmen ihn weiterzulocken. »Ich will aus dem Nebel raus.« Doch Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht mehr.« Er sank entkräftet in die Knie. »Dieser verdammte Nebel. Ich hätte nicht gedacht, dass das jetzt noch eine Rolle spielt.« Er lachte, doch es war das trostloseste Lachen, das Carmen je von ihm gehört hatte. »Was ist hier eigentlich los?«, fragte Carmen. »Diese Stadt ist aus
Leichen erbaut. Und die Stadtmauer hat ein zweites Tor gebildet, um dich hineinzuziehen. Wie ist so etwas überhaupt möglich?« Daniel sah sie von unten an. Seine Augen glänzten, doch seine Miene war ernst. »Diese Stadt ist ein Ort der Verdammnis. Niemand ist je daraus zurückgekehrt«, erklärte er matt. »Was?« Carmen konnte sich nicht stoppen, die Worte brachen einfach aus ihr heraus. »Was erzählst du da? Ich bin den ganzen Tag nur komischen Leuten begegnet, Daniel und jetzt fängst du auch noch an! Erst hat mich dieser alte Mann im Wald fortgejagt. Eine Frau ist mir unterwegs begegnet, aber …« Carmen stockte. »Und zuletzt hat mir dieser holzhackende Einsiedler den Weg in die Stadt gezeigt. Warum hat mich von denen keiner gewarnt?« Sie fühlte sich jämmerlich. Eigentlich wollte sie Daniel in seinem geschwächten Zustand nicht mit ihren Erlebnissen belästigen. Sie beide hatten vorhin etwas Grauenhaftes durchgestanden. Die Stadt war … Nein! Ihr Gehirn weigerte sich, noch länger darüber nachzudenken. »Diese Leute, die du getroffen hast«, setzte Daniel an. »Sie verstecken sich vor ihm. Sie hatten Angst, du würdest ihn zu ihnen führen …« »Ich will jetzt nur noch an uns denken!«, sagte Carmen und winkte ab. »Los, wir müssen weiter«. Daniel kämpfte sich auf die Füße. »Du hast Recht. Ich erkläre dir alles unterwegs«, sagte er niedergeschlagen.
* Seite an Seite machten sie sich auf den Weg. Carmen spähte über den Nebel hinweg, doch in der Finsternis konnte sie nicht erkennen, wohin sie liefen. Egal, dachte sie, Hauptsache hier weg.
»Wir hatten einen schlimmen Autounfall«, begann Daniel und Carmen nickte. »Ich erinnere mich jetzt wieder daran. Irgendwie muss ich dabei mein Gedächtnis verloren haben«, sagte sie. »Den ganzen Tag schon irre ich hier herum und suche jemand, der mir hilft.« Sie drückte Daniels Hand. »Und ich hatte einen furchtbaren Albtraum, dass du tot im Auto lagst.« »Du bist aus dem Wagen geschleudert worden«, fuhr Daniel fort, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Ja, ohne mir einen einzigen Kratzer zu holen«, bestätigte Carmen. »Und danach muss ich orientierungslos fortgelaufen sein. Ich bin erst später richtig zu mir gekommen.« »Erinnerst du dich noch an vorhin?«, fragte Daniel. Seine Aussprache wurde schleppend. »Als du Angst vor mir hattest?« Carmen bejahte. »Ich habe dich für einen Geist gehalten. Ich glaube, ich bin immer noch nicht richtig …« Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Carmen«, sagte er ruhig. »Du hattest Recht. Ich bin ein Geist.« Abrupt blieb Carmen stehen. »Aber ich …« Daniel nahm ihre Hand und blickte sie zärtlich an. »Ich bin bei dem Unfall gestorben.« Seine Worte erreichten Carmens Verstand, doch glauben wollte sie das alles nicht. »Hab keine Angst«, sagte Daniel eindringlich. »Wenn wir von diesem Ort fort sind, ehe du …«, er stockte, »ehe es dir schlechter geht, wird alles gut!« »Was erzählst du da?« Carmen wurde zornig. »Warum redest du um den heißen Brei herum?« Sie wankte ein wenig. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen. »Komm weg hier«, hörte sie Daniel mit einem panischen Unterton sagen. Er zerrte sie vorwärts, doch er konnte das Unglück nicht
verhindern. Etwas stürmte auf Carmen und Daniel ein. Es war, als bewege sich plötzlich der Boden in einer gewaltigen Welle auf sie zu. Carmen riss die Augen auf. Die Ratten! Hunderte von ihnen, vielleicht Tausende, stürzten auf sie zu wie ein einziges Lebewesen. Eine Ratte hockte auf der anderen und darüber liefen die angreifenden Tiere wie über eine Rampe. Das waren keine normalen Ratten, sondern Monster. Carmen riss sich von Daniels Hand los und wich zurück. Sie konnte nicht anders. Die absolute Finsternis in Form von Ratten ergoss sich über sie. Carmen taumelte, drehte um und flüchtete. »Nein!«, brüllte Daniel. Sie sah, wie die glühenden Wälle der Stadt aufloderten, als habe jemand dem blutigen Feuer darin neues Leben eingehaucht. Panisch versuchte Carmen, zur Seite auszubrechen, aber unerbittlich schoben die ekligen, verstümmelten Tierkörper sie vorwärts. Sie zog die Ärmel schützend über die Hände und versuchte, der Plage Herr zu werden. Doch die Ratten bissen durch den Stoff. Carmens Finger bluteten. »Bleib hier«, schrie Daniel. »Du liegst im Sterben. Wenn du die Stadt betrittst, wird deine Seele für immer unter Qualen dort gefangen sein.« Carmen zuckte zusammen. Das war doch Unsinn! Doch gleichzeitig verspürte sie ein Frösteln und die Dunkelheit senkte sich wie ein dunkler Mantel über sie. »Nein!«, wollte sie rufen, doch das Wort ging in einen Schmerzensschrei unter. Die Ratten bissen zu, wieder und wieder und gepeinigt tat Carmen einen weiteren Schritt auf die Stadt zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Daniel ihr folgte. Er wollte sie trotz seiner Schwäche retten. Aber das würde ihn nur selbst ins Verderben stürzen.
Für eine Sekunde blieb Carmen stehen. Doch die Ratten zerfleischten ihre Beine, ihren Leib, einfach alles, drängten sie vorwärts. Im Gegensatz zu der kühlen Berührung des Nebels spürte Carmen die Schmerzen der Bisse überdeutlich. Sie taumelte weiter. Sie registrierte, dass der Nebel langsam wieder an Daniel heran kroch, doch sie fand keine Worte mehr, um ihn zu warnen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Da hörte sie Schreie, Rattenschreie. Daniel hatte das Unmögliche vollbracht und sie eingeholt. Während ihm die Tränen in den Augen standen, riss er die Ratten aus Carmens Fleisch. Mit gezielten Tritten schleuderte er die räudigen Nagetiere fort und zermalmte sie unter seinen Schuhen. »Gib nicht auf! Er ist nah«, stammelte er am Ende seiner Kräfte. Aber Carmens Widerstand erlosch. Daniels Bemühungen waren sinnlos. Es gab einfach zu viele Ratten hier, sie hatten nicht die kleinste Chance. Carmen versuchte, Daniel ein letztes Mal zu berühren und er kämpfte sich seinerseits in ihre Nähe. Sie wünschte sich nur einen Augenblick Ruhe, um Abschied zu nehmen, bevor das Meer der Ratten sie in den gierigen Schlund der verdammten Stadt spülte. Doch wie es aussah, blieb dafür keine Zeit. Carmens Augenlicht schwand. Sie fühlte sich schwach wie ein Neugeborenes und in ihren Ohren donnerte plötzlich der eigene Puls wie eine Trommel. Alles versank in Schatten. Schon fiel die Dämmerung auch auf Daniels Gesicht. Carmen konnte ihn kaum noch ausmachen, ihr Blick trübte sich. Sie streckte die Arme nach ihrem Freund aus. Daniel stolperte über ein Knäuel aus ineinander verschlungenen Ratten und rutschte ihr entgegen. Zu schnell für Abschiedsworte. Wenn sie schon verloren war, sollte wenigstens Daniel gerettet werden.
»Mach’s gut«, murmelte Carmen und schubste ihn mit aller verbliebenen Kraft ein Stück von der Stadt fort. Doch sie war zu schwach und der erschöpfte Daniel konnte sich nicht mehr abfangen. Er stürzte mitten zwischen die Ratten. Die Tiere wimmelten über ihn und die kleine Lücke, die er in ihre Reihen geschlagen hatte, schmolz dahin. Im nächsten Augenblick war er verschwunden und es gab nur noch die Ratten. Carmen seufzte, Dunkelheit umfing ihren Geist. Da ließ eine unerwartete Bewegung sie herumfahren und sie erblickte einen riesigen Schatten, der unter die Ratten fuhr wie ein Blitz. Der Schatten verdichtete sich zu der Gestalt eines riesigen Katzenwesens mit leuchtenden Augen. Die Katze schwang den gebogenen Schwanz durch das Rattenheer und die Tiere flüchteten in blinder Panik. Etliche blieben verkrümmt zu ihren Füßen liegen. Carmen fühlte den Blick der brennenden Katzenaugen bis tief in ihr Innerstes. Diese Katze kannte Carmen und Carmen erkannte sie. Und in diesem Moment wusste Carmen, was genau das Tier gewesen war, das Daniel und sie überrollt und im Auto mitgenommen hatten. Daniel richtete sich an ihrer Seite auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war gelöst und beinahe heiter. Das Schattengeschöpf kam näher. Es schnurrte und helle Funken sprühten ihm über den Buckel. Carmen vernahm das Sausen einer gewaltigen Sense und der Katzenschwanz fuhr messerscharf durch ihren Körper wie eine Klinge aus Eis. In diesem Augenblick fühlte sie nichts. Die Schmerzen der Rattenbisse verebbten. Etwas zerrte an Carmen und ihr schwanden kurz die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, wartete Daniel schon auf sie.
»Er ist rechtzeitig gekommen!«, murmelte er. Das Glühen über der Stadt erlosch. Einen Moment später verließ der Tod, flankiert von zwei Seelen, das Schattenreich – jenes unwirtliche Land zwischen Leben und Tod.
* Menschen erzählen unterschiedliche Geschichten über Gevatter Tod. Ob er nun als kapuzenverhangenes Skelett mit Stundenglas und Sense oder als Katze auf die Seelenjagd geht: Er kann jede Form annehmen, die seiner Aufgabe dienlich ist. ENDE