Gohar Kordi
Ich will leben wie ihr
scanned by ab corrected by ut
Die Iranerin Gohar Kordi erzählt von der Mißachtung,...
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Gohar Kordi
Ich will leben wie ihr
scanned by ab corrected by ut
Die Iranerin Gohar Kordi erzählt von der Mißachtung, die sie als blindes Mädchen in ihrem kurdischen Dorf erfuhr. Sie überlebt die Versuche der Familie, sie zu beseitigen und wendet ihre Kraft darauf, mit den seelischen Wunden fertig zu werden, die man ihr schlug. Verzweifelt unternimmt sie jede Anstrengung, um eine Ausbildung zu erhalten, die sie aus ihrer Abhängigkeit befreit. Mit dem Eintritt in die staatliche Blindenschule öffnet sich für das junge Mädchen das Tor zum Leben. ISBN: 3-404-61226-4 Original: AN IRANIAN ODYSSEY Aus dem Englischen übersetzt von Hans Sommer Verlag: Gustav Lübbe Erscheinungsjahr: 1991 Umschlaggestaltung: Manfred Peters Titelfoto: Grüner + Jahr (J. Schnitt)
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Ich widme dieses Buch meinem Onkel Ezatollah Rahimifar.
Das Schreiben dieses Buches wäre ohne die Hilfe und Unterstützung meines Mannes David nicht möglich gewesen.
Gohar Kordi hat in diesem Buch den Namen Monir angenommen und auch die Namen von vielen der handelnden Personen geändert.
KAPITEL EINS Ich muß etwa vier Jahre alt gewesen sein und spielte draußen auf der Straße, als ein älterer Junge, der etwa sieben gewesen sein dürfte, zu mir sagte: »Du kannst nicht sehen. Du bist blind.« »Nein, das bin ich nicht«, sagte ich zuversichtlich und entschieden. »Doch, das bist du.« »Nein, das bin ich nicht«, wiederholte ich. »Wenn du es nicht bist«, sagte er, »dann laß diese Münze, die du da in der Hand hast, fallen und heb sie wieder auf.« Ich ließ die Münze fallen und hob sie gleich wieder auf. Der Junge ging weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich stand da mit der Münze in der Hand, stolz und triumphierend. Ich hatte bewiesen … Ich frage mich, wie lange ich mit dieser Illusion lebte. Vielleicht weiß ich noch immer nicht, daß ich blind bin. Was ist während dieses Abschnitts meines Lebens passiert? Es war so, als wäre die Welt zum Stillstand gekommen. Ich war ausgeschlossen. Verloren. Vergessen. Ich vegetierte dahin und lebte doch. Ich war ausgeschlossen von Licht und Liebe und in einen Mantel aus Dunkelheit eingehüllt, der mich von allen Seiten umgab und berührte, der mich beengte, verletzte und erstickte. Furcht erfüllt mein Herz, verkrüppelt mich. Ich verliere alle Antriebskraft, alle Energie, um mich zu wehren, um 4
zu protestieren. Ich spüre die Binden vor meinen Augen, auf meinem Körper, auf meiner Seele. Ich wage nicht, mich zu wehren, zu schreien, zu protestieren – zu gefährlich. Ich habe meine Stimme verloren. Wenn ich auch nur den leichtesten Protest erhebe, werden die Binden noch fester gezogen, und das wird mein Ende sein. Kein Laut. »Sie schlief die ganze Zeit«, sagte Mutter. Wenn ich meine Mutter jetzt wiedersehen würde – was würde ich ihr dann sagen? Ich habe dir viel zu sagen, Mutter, sehr viel! Ich möchte dir einiges von dem zeigen, was ich erreicht habe. Dies ist mein Sohn, du solltest ihn kennenlernen. Ist er nicht schön? Und das ist mein Mann. Ist er nicht ansehnlich? Und er liebt mich. Ich liebe ihn. Es ist ganz anders als bei dir und deinem Mann. Ihr habt euch gehaßt, nicht wahr? Und dies ist mein Haus. Ist es nicht wunderschön? Sieh mal, wir haben es ganz allein hergerichtet, mein Mann und ich. Als wir einzogen, war es ein völlig heruntergekommenes Haus. Und jetzt sieh dir an, was wir daraus gemacht haben. Das Zimmer meines Sohns – wir sind gerade damit fertig geworden, siehst du? Wir haben es renoviert, nein, ganz neu gestaltet. Ich habe die Wände mit meinen eigenen Händen geschmirgelt und abgekratzt. Ist es nicht wunderschön gestrichen? Die Farben – alle sagen, wie wunderschön sie sind. Ich kann sie nicht sehen. Aber ich möchte, daß du sie siehst, Mutter. Du sollst mir sagen, wie hübsch sie sind. Die Leute sagen, daß dieses Zimmer ein Kinderparadies 5
ist. Sieh dir mal diese handgemachten Spielzeuge aus Holz an. Ist es nicht schön, sie zu berühren? Ich kann sie nicht sehen. Und ein Globus. Er findet darauf den Iran, wo ich geboren wurde. Ich kann ihn nicht sehen. Sieh dir die Teppiche an. Sind sie nicht schön? Alle bewundern sie. Sie halten sie für orientalisch. Sie haben nicht viel gekostet, und wir hatten viel Glück, sie gefunden zu haben. Alles ist wunderschön. Jeder sagt das. Und ich spüre es, obgleich ich es nicht in seinem ganzen Ausmaß wahrnehmen kann. Ich kann es nicht sehen. Sieh es dir an, Mutter. Ich möchte, daß du alles siehst. Erkennst du, wie gut ich zurechtgekommen bin? Ich habe dieses schöne Kind zur Welt gebracht, und es ist so wundervoll. So ein makelloser kleiner Junge. Manchmal sind die Leute überrascht. »Ist er Ihr Kind?« fragen sie bestürzt, genauso wie die Leute über mich zu reden pflegten, als ich ein kleines Mädchen war. »Ist das Ihre Tochter? Aber sie ist schön!« Du hast mich angezogen wie eine Puppe, sagtest du. Jetzt verstehe ich, wie stolz du gewesen sein mußt. Das war natürlich, bevor ich mein Augenlicht verlor. Mit ihm verlor ich in deinen Augen meine Schönheit. Trotzdem bin ich gut zurechtgekommen, Mutter. Ich bin eine gute Mutter, Mutter. Eine gute Mutter, im Gegensatz zu dir. Und ich bin eine gute Ehefrau und auch eine gute Freundin. Freunde sagen das. Letzten Endes habe ich dir keine Schande bereitet, Mutter. Ich sagte, daß ich mein Augenlicht verloren habe. Nein, ich habe es nicht verloren. Andere haben dafür gesorgt, daß ich es verlor. Hast du es getan, Mutter? Du hast mich vernachlässigt, weil ich ein Mädchen war, nicht wahr? Du 6
hast auch meine Schwester vernachlässigt, und sie ist gestorben. Ich habe überlebt. Es gibt Wunder, Mutter. Wie kommt es, daß deinen Söhnen nichts passiert ist? Für sie wurde gut gesorgt, weil sie männlich waren. Ist es nicht so, Mutter? Gib es zu. Befreie dich dadurch von der schrecklichen Schuld und mich von meinem Zorn. Ich bin wütend auf dich, Mutter. Ein schrecklicher Zorn hat sich während all dieser Jahre in mir festgesetzt und an mir genagt. Es ist jetzt an der Zeit, davon frei zu werden. Ich weiß, ich weiß, du hattest eine schwere Zeit. Aber ich war dafür nicht verantwortlich. Du hast meine Existenz geleugnet, weil ich ein Mädchen war. Du hast mich mit einem Todeswunsch belegt, als ich blind wurde, das hast du viele Male gesagt. »Ich wünschte, sie wäre tot und hätte sich nicht von ihrer Krankheit erholt!« Und jetzt sieh, was ich aus meinem Leben gemacht habe. Wer gab dir das Recht, vorschnell über meine Zukunft zu urteilen? »Was kann ihr das Leben schon noch bringen?« pflegtest du zu sagen. Ich habe dir keine Schande bereitet, Mutter. Sieh dich gut in meinem Haus um. O nein, nicht in den Schubladen, noch nicht. Sie sind unordentlich, ich muß sie noch aufräumen. Ich möchte dir endlich einmal etwas Gutes von mir zeigen. Sieh dir meine Küche an. Ich bin eine gute Köchin. Das sagen alle, selbst meine Schwiegermutter. Sie haben diese Weihnachten zum ersten Mal bei uns gegessen, meine Schwiegermutter, mein Schwiegervater, meine Schwägerin, mein Schwager, sie alle. Ich habe ihnen ein gutes Essen gekocht, und sie waren sehr beeindruckt. Der Besuch war ein Vergnügen für sie. Sie haben nichts kritisiert, obwohl wir dies befürchtet hatten. Ich habe mich bewährt. Aber weißt du, ich möchte wissen, was du denkst, Mutter. Was würdest du sagen – habe ich es gut gemacht? Sieh dir meine Vorhänge an. Möchtest du gern wissen, 7
wie ich sie bekommen habe? Wir hatten kein Geld, um neue zu kaufen. Deshalb rief ich die örtliche Bücherei an und bat darum, mir die Anzeigen der Trödelläden in der Lokalzeitung vorzulesen. Dann rief ich diese an, um nachzuhören, ob sie Vorhänge anzubieten hatten, und ging hin. Schließlich fand ich ein großes Stück Vorhangstoff. Dann fand ich jemanden, der ihn zurechtschneiden konnte. Die Vorhänge passen, nicht wahr? Die Leute dachten, daß wir ein paar hundert Pfund dafür ausgegeben hätten. Siehst du, wie ich mich anstelle, wie ich Dinge erledige und etwas erreiche? Ich kann nicht sehen, aber ich habe einen Verstand und benutze ihn, und so habe ich auch überlebt – trotz allem, was ich wegen dir durchmachen mußte, Mutter. Ich habe es noch nie jemandem gesagt, aber ich sage es dir jetzt: Du hast mich tief verletzt, du hast Narben bei mir hinterlassen, die ein Leben lang nicht heilen, du hast mich gebrochen, aber wie du siehst, habe ich überlebt. Ich habe keine Erinnerungen an die Ereignisse in meinem frühen Leben, an meine Krankheit beispielsweise und an die Zeit davor, als ich noch sehen konnte, keine visuellen Eindrücke, abgesehen von vagen Farberinnerungen – blau insbesondere, Himmel vielleicht. Ich habe alles abgeblockt, tief unten in meinem Gedächtnis verborgen. Ich habe meine Erinnerungen verloren, kann sie nicht finden, selbst wenn ich nach ihnen suche. Welche Gedanken sind mir während dieser dreimonatigen Krankheit und der anschließenden Genesung durch den Kopf gegangen? Wie habe ich mich gefühlt? Wann habe ich festgestellt, daß ich nicht mehr sehen konnte? Zu welchem Zeitpunkt ist das gewesen? Wie habe ich mich gefühlt? 8
KAPITEL ZWEI Ich wurde am Neujahrstag im Iran geboren, am Norooz, dem einundzwanzigsten März, dem ersten Tag des Frühlings. Im Iran ist der Norooz ein großer Festtag. Die Menschen bereiten sich monatelang darauf vor. Sie machen gründlich sauber, kaufen neue Kleider, schmücken alles und bereiten Köstlichkeiten zu. Nachdem sie den harten Winter überlebt haben, feiern sie. Alles wird gereinigt und aufgefrischt, und die Leute tragen ihre neuen Kleider, besonders die Kinder. Die Kinder müssen neue Kleider haben. Wenn sich die Erwachsenen selbst keine leisten können, schaffen sie es trotzdem, den Kindern welche zu besorgen. Das müssen sie. Jeder versucht, etwas Neues zu tragen. Die Menschen besuchen sich, um sich gegenseitig ein frohes Neujahr zu wünschen, zuerst die älteren Familienmitglieder, Großeltern, Großonkel und -tanten, ältere Familienangehörige, die den jungen Geschenke bringen. Kinder bekommen Münzen von Onkeln und Tanten, bunte Eier und Süßigkeiten von Freunden. Junge verheiratete Frauen bekommen einen Korb voll von ihren Eltern und Brüdern – Süßigkeiten, Kuchen, bunte Eier, ein Halstuch, vielleicht sogar Schmuck und üblicherweise ein Stück Stoff für ein Kleid oder einen Senador. Dies wird Pi genannt und ist ein Anteil, der bedeutet, daß die Frauen in ihrem Leben noch immer eine Rolle spielen, daß sie nicht vergessen worden sind. Frauen, die weit entfernt wohnen, bekommen ihre Geschenke ein paar Tage früher. Ich wurde am frühen Morgen etwa gegen fünf Uhr geboren. Die Nachricht von meiner Geburt wurde meinem Vater überbracht, der sich, wie es im Dorf Sitte war, in 9
einem nahe gelegenen Haus aufhielt. Glückwunsch, es ist ein Mädchen, rief die Überbringerin. »Glückwunsch zu einem Mädchen?« fragte mein Vater. Die Frau hatte diese Antwort erwartet. Sie war nicht entsetzt. Die Nachricht mußte überbracht werden. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt. Es wäre besser gewesen, wenn ein Kind die Nachricht überbracht hätte, dachte sie, aber dazu war es zu spät. Wäre es ein Junge gewesen, hätte es völlig anders ausgesehen. Die Frauen hätten sich darum gestritten, die Nachricht übermitteln zu dürfen, und sie wäre atemlos vom Laufen angekommen. »Sie haben einen Jungen!« – »Wunderbar«, hätte er gelacht. »Hier.« Und er hätte ihr eine Münze in die Hand gedrückt. Er wäre nach draußen gegangen und hätte alle Nachbarn mit Früchten oder Süßigkeiten beschenkt. Jedem im Dorf wäre erzählt worden, daß er einen Jungen bekommen hatte. Er hätte den Kopf voller Stolz ganz hoch getragen. In einigen Fällen pflegten die Väter von Töchtern eine Weile nicht nach Hause zurückzukehren oder eine ganze Zeitlang nicht mit ihren Frauen zu sprechen. Was erwartete denn eine Frau, die ein Mädchen zur Welt brachte? In meinem Fall war es nicht allzu schlimm, da mein Vater glücklicherweise schon einen Sohn hatte. Er hieß Ali. Ich bekam den Namen Monir. Und dann wurde Akbar, mein zweiter Bruder, geboren. Ihr letztes Kind war meine Schwester Khanomtaj. Ali, der älteste, der erste Junge, wurde immer bevorzugt behandelt. Er bekam das Beste von der Suppe, das Beste von allem. Er war die Hoffnung der Familie, weil er ein Junge war, der erste Sohn, der älteste. Der erste Sohn wurde immer als Zukunftssicherung der Familie angesehen. Er würde die Familienbürde tragen, würde für seine Eltern im Alter sorgen. Er war die Lebenslinie der Generationen. Töchter verließen das Haus, wenn sie 10
heirateten, aber Söhne blieben, selbst nachdem sie geheiratet hatten. Der älteste Sohn blieb immer bei den Eltern und übernahm schließlich die Führung des Haushalts. Die Erstgeburt eines männlichen Kindes brachte großes Prestige mit sich. Und es war noch schöner, wenn das zweite und dritte Kind ebenfalls männlich waren, nur für den Fall, daß dem ersten Sohn etwas zustieß. Die Eltern pflegten die Geburt eines Sohns verspätet anzumelden, so daß ihr Alter in der Geburtsurkunde als ein paar Jahre jünger angegeben wurde und die Eltern den Vorteil hatten, ihren Sohn länger bei sich behalten zu können, bevor er seinen Wehrdienst ableisten mußte. Andererseits wurden Töchter als ein paar Jahre älter registriert, als sie tatsächlich waren, so daß man sie früher verheiraten konnte. Das gesetzliche Heiratsalter lag bei fünfzehn Jahren, aber in Wirklichkeit wurden Mädchen oft schon mit zwölf verheiratet. Das Wehrpflichtalter für Jungen lag bei achtzehn Jahren, aber sie gingen oft erst mit einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Ich weiß nicht viel über die ersten Jahre meines Lebens, abgesehen davon, daß meine Mutter zu sagen pflegte: »Sie war ein wunderschönes Mädchen, bevor sie ihr Augenlicht verlor. Sie war so hübsch, so klug, so voller Leben. Ich zog sie immer an wie eine Puppe. Sie konnte sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. ›Wessen Tochter ist das?‹ pflegten Fremde zu fragen. ›Sie gehört mir‹, sagte ich dann stolz. ›Ihnen? Was für eine wunderschöne Tochter Sie haben.‹« »Wissen Sie«, fuhr Mutter dann fort, »all diese Bewunderung wurde ihr am Ende zum Verhängnis. Ja, einer dieser Leute belegte sie mit einem bösen Blick. Deshalb verlor sie ihr Augenlicht. Sehen Sie sie an, was ist sie jetzt?« 11
Die Worte »Sehen Sie sie an« – und sie sagte sie oft genug – gaben mir das Gefühl, minderwertig und nutzlos zu sein. Und doch sagte ich mir im stillen, daß mit mir nichts falsch war. Letzten Endes gab es mich. »Sie ist nicht das Mädchen, das sie war«, pflegte Mutter weiterzureden. »Sie hat sich vollkommen verändert, sie ist nicht mehr die Tochter, die ich einmal hatte.« Die einzige Zeit, in der ich Anerkennung, Bewunderung und Akzeptanz fand, war damals, als ich noch mein Augenlicht besaß. Vielleicht gab mir das die Kraft, später um mein Überleben zu kämpfen. Im Alter von etwa drei Jahren erkrankte ich an Pocken. »Das Unheil schlug zu«, wie meine Mutter oft sagte. »Sie war drei Monate lang krank. Sie machte ihre Augen nicht auf.« Sie verbanden sie mir. »Sie weinte nicht, sie schlief nur.« Ich schlief drei Monate lang. Ich muß versteinert gewesen sein. Es war zu gefährlich für mich, wach zu sein, etwas zu verlangen oder zu protestieren. Ich spürte die Gefahr bis ins Mark. Ich verlangte gerade genug, um am Leben zu bleiben, nicht mehr, nicht weniger. Ein Mädchen – ich war ohnehin unerwünscht. Wie konnte ich es jetzt wagen, um Aufmerksamkeit zu bitten? »Als sie nach drei Monaten die Augen öffnete«, redete meine Mutter weiter, »konnte sie auf beiden nicht mehr sehen. Ich wünschte, sie wäre gestorben. Sehen Sie sie jetzt an.« Diese vier Worte »Sehen Sie sie an« kamen immer zur Sprache, wenn sie von mir redete. Ich fragte mich dann immer, ob die andere Person mich in diesem Augenblick betrachtete. Ich hatte stets das Gefühl, mich verstecken, vielleicht wieder schlafen zu müssen, so wie ich es während jener drei Monate getan hatte. Ich kann sie mir vorstellen, kann ihre Stimme hören, als sie meine Augen öffnete und erkannte, wie geschädigt ich war. Ich kann das 12
Entsetzen in ihrem Gesicht spüren und ihre Stimme sagen hören: »Als ob ein Mädchen nicht schon schlimm genug wäre, und jetzt auch noch ein blindes Mädchen.« Sie wiederholte diese Worte oft. »Was für ein Unglück. Was habe ich nur getan, um so bestraft zu werden? Was für eine lebenslange Bürde für die Familie. Ein zusätzlicher Mund, der gefüttert werden muß.« Ich mußte das oft hören – ein zusätzlicher Mund, der gefüttert werden muß –, denn blind zu sein bedeutete, daß ich die Chance verloren hatte, verheiratet zu werden. Mutter wußte noch eine weitere Geschichte über meine Geburt zu erzählen, was sie oft tat. »Sie ist babghadam«, sagte sie über mich. Sie glaubte, daß meine Ankunft der Familie Unglück gebracht hatte. »Alles, was wir nach ihrer Geburt angefaßt haben, wurde zu Stein, alles ging für uns daneben.« Ich erfuhr nie mit Bestimmtheit, was danebenging, obgleich ich begriff, daß ich über böse Kräfte verfügte und gemieden und weggebracht werden sollte, vielleicht um für immer zu schlafen. Dieses Gefühl, daß ich über böse Kräfte verfügte, sollte gewaltige Auswirkungen auf mein Leben haben. Als ich etwa vier oder fünf war, sprach Mutter mit einer Frau über mich und sagte wie üblich, daß ich Unglück gebracht hatte. Die andere Frau sagte: »Sag das nicht vor ihren Ohren.« »Oh, sie versteht nichts«, erwiderte Mutter.
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KAPITEL DREI Meine Mutter hieß Mahi. Sie wurde in einem kleinen kurdischen Dorf namens Khorbendeh geboren. Es gab fünf Kinder in der Familie, drei Jungs und zwei Mädchen, und sie war das vierte Kind. Sie hatte sich in dem Dorf als kleines Mädchen unter ihren eigenen Leuten glücklich gefühlt, bis sie im Alter von zwölf Jahren, wie es den Gebräuchen entsprach, gegen ihren Willen mit einem anderen Kurden aus dem Nachbardorf verheiratet wurde. Aus der Ehe war nichts geworden – das heißt, sie hatte nicht zugelassen, daß sie vollzogen wurde. Sie war schließlich geschieden und nach einer Weile mit meinem Vater, einem Türken aus einem fernen türkischen Dorf namens Kahleh, verheiratet worden, wiederum gegen ihren Willen. Vater hieß Reza. Er war ein guter und sanfter Mann, aber Mutter liebte ihn nicht. Tatsächlich haßte sie ihn, weil sie sich schon vor längerer Zeit in einen jungen Kurden aus ihrem eigenen Dorf verliebt hatte. Es war Juli, der Höhepunkt der Sommerhitze. Die Menschen schliefen wegen der Kühle nachts auf dem Dach. Manchmal nahmen sie auch das Abendessen auf dem Dach zu sich. Eines Nachts nach dem Abendessen, während dessen Mahi und Reza, ihr Ehemann, nicht ein einziges Wort gesprochen hatten, begann sie damit, das Bettzeug auszubreiten. Das Bettzeug wurde normalerweise im Sommer auf dem Dach aufbewahrt, zusammengefaltet zu einem Bündel und mit einem großen Tuch zugedeckt. Sie legte zwei kleine Matratzen nebeneinander, die gerade lang und breit genug waren, um ihnen allen dreien Platz zu bieten. Der kleine Junge würde in der Mitte liegen, Mahi auf der einen und ihr Mann auf der anderen Seite. Dann 14
legte sie die Kopfkissen aus, die sie als Teil ihrer Aussteuer mitgebracht hatte, ein kleines in der Mitte für den Jungen und zwei lange, runde an beiden Seiten, die wie Würste aussahen. Ihre Mutter hatte die Kissen gemacht, so wie Mütter es immer für ihre Töchter lange vor deren Heirat taten, und mit allerlei Sachen ausgestopft, mit Wollknäueln, übriggebliebenen Stoffetzen, Haarbüscheln, darunter auch einige von ihr selbst, und verschiedenen Federn. Manchmal pflegte Mahi ihren Finger in die Kissen zu bohren, um festzustellen, welche interessanten Sachen sich darin finden ließen. Die Matratzen waren mit alten Kleidern, Lumpen, Woll- und Baumwollfetzen gefüllt. Dann legte sie für den Fall, daß es in der Nacht kühler wurde, ein paar zusammengefaltete Steppdecken aus. Die Steppdecken waren aus Baumwolle gemacht. Sie gehörten ebenfalls zu ihrer Aussteuer und waren von ihrer Mutter genäht worden. Mahi hatte das ganze Bettzeug mitgebracht, als sie heiratete. Dann bettete sie den kleinen Jungen in die Mitte und deckte ihn mit ihrem alten Schador zu, um ihn vor den Moskitos zu schützen. Sie tat dies sehr sorgsam, hob den Schador über seinem Gesicht leicht an, so daß er mühelos atmen konnte. Sie hielt einen Augenblick lang inne und betrachtete ihren Sohn. Es war schlau von ihr gewesen, dieses erste Kind zur Welt zu bringen, einen Jungen. Sie war bereit, ihren alten Schador mit ihrem Sohn zu teilen, aber sie würde nichts mit ihrem Ehemann teilen. Es wäre ihr lieber, wenn er am anderen Ende des Dachs schlafen würde – oder sogar unten. Wenn sie sein Bett nur unten aufschlagen könnte, so weit wie möglich von ihr entfernt! Das wäre ideal. Aber derartige Hoffnungen waren reine Phantasie und gingen nie über bloßes Wunschdenken hinaus. Sie ging mit dem Kind sehr sorgsam um. Jedesmal wenn sie es berührte, sagte sie: »Besmella he rohmanehnahim – im 15
Namen Gottes.« Der Junge war ein Geschenk Gottes und sollte mit großer Fürsorge und Respekt behandelt werden. Jedes Kind war gottgegeben, aber dieses war für sie etwas ganz Besonderes, ein Junge, ihr erstes Kind. Die Hoffnungen der Familie konzentrierten sich auf ihn. Er mußte geschützt und gut versorgt werden. Ihre zweite Schwangerschaft war gescheitert, sie hatte im vergangenen Jahr eine Fehlgeburt gehabt. Es machte ihr nichts aus. Sie hatte bereits einen Jungen. Viele zweite Schwangerschaften nahmen ein schlechtes Ende. Sie war sehr jung und hatte noch Zeit. Ihr Erstgeborener war jetzt drei, ein weiteres Kind sollte kommen. Die Leute fragten sie immer wieder, ob sie schwanger war, ihre Mutter, ihre Schwester. »Es ist Gottes Wille. Die Zeit wird kommen.« Sie warf einen letzten Blick auf das Kind, das tief und friedlich schlief. Vor dem Zubettgehen gab es noch viel zu tun. Sie sammelte alles ein, was sie nach unten bringen mußte, den Topf, Schüsseln, Löffel, das Sofreh, das Tuch, in dem das Brot eingewickelt war. Sie legte alles auf ein Tablett, hob es auf ihren Kopf und begann, die Leiter hinunterzusteigen. So pflegte sie Dinge zu tragen, auf dem Kopf. Sie stützte das Tablett mit der einen Hand und hielt sich mit der anderen an der Leiter fest. Die Stufen quietschten, als sie nach unten kletterte. Sie mußte das Geschirr spülen, den Brotteig für den nächsten Morgen zubereiten, sich um die Milch kümmern, den Käse machen und dann die Hose ihres Mannes flicken. Sie haßte es, dies zu tun. Es war nicht das Flicken, das sie haßte. Flicken machte ihr Spaß, aber sie haßte es, irgend etwas für ihn zu tun. Sie hatte es tagelang hinausgezögert, während er brummelte und seinen Freunden erzählte, daß sie nichts für ihn tat, nicht einmal seine Hosen flickte. »Ich habe das Gefühl, gar keine Frau zu besitzen«, scherzte er. »Seht 16
euch meine Hose an, sie ist noch immer nicht geflickt.« Sie arbeitete still und mit leichter Hand. Manchmal sang sie vor sich hin, während sie in der kühlen, frischen Abendluft ihre Arbeit verrichtete. Sie erfreute sich an der Friedlichkeit und Ruhe des Abends, genoß das Alleinsein und ging die Dinge leicht und entspannt an. Sie liebte es, Dinge beim Mondschein im Garten zu verrichten. Die Arbeit schien wie im Fluge zu vergehen. Bevor sie oben zu Bett ging, mußte sie ihre Gebete sprechen. Sie betete dreimal am Tag, einmal am Morgen vor Sonnenaufgang, einmal am Nachmittag und einmal am Abend nach Sonnenuntergang. Wenn sie ihre Regel oder Geschlechtsverkehr gehabt hatte, mußte sie sich vor dem Gebet dem Reinigungsritual unterziehen. Es lief in drei Phasen ab und wurde Ghusl haze genannt. Zuerst hielt sie den Kopf unter fließendes Wasser, dann den rechten Arm und schließlich den linken Arm. Sie begleitete diese Gebärden mit den Worten: »Im Ghusl haze reinige ich mich, auf daß ich dem Herrn nahe komme.« Anderenfalls nahm sie einen Aftabeh, einen Krug Wasser, mit in die Toilette und wusch sich zwischen den Beinen, dann hockte sie sich im Garten hin und spritzte dreimal Wasser ins Gesicht und auf die Arme. Anschließend berührte sie mit zwei Fingern der rechten Hand Kopf und Füße und sagte Verse aus dem Koran auf. Danach war sie gereinigt und bereit, ihre Gebete zu sprechen. Wenn sie während des Gebets Blähungen hatte, mußte sie die Reinigungsprozedur wiederholen. Nach der Reinigung legte sie ihren Schador an und holte die Gebetsmatten. Sie wählte einen Platz in der Mitte des Zimmers und stellte sich dort hin, das Gesicht in Richtung Norden nach Mekka gewandt. Es gab eine große Matte, eine mittelgroße und eine kleinere. Sie rollte alle drei auf. In ihrem Inneren bewahrte sie einen Mohr auf, einen kleinen, rechteckigen 17
Lehmblock aus Mekka, der dazu diente, mit der Stirn berührt zu werden, sowie einen Koran, einen Tasbeh mit vielen Perlen, der gleichfalls aus Mekka stammte, und noch einige weitere Utensilien. Sie hatte die Gebetsmatten als Teil ihrer Aussteuer mit in die Ehe gebracht. Sie waren wunderschön bestickt. Der Stoff kam aus Mekka. Sie breitete sie alle aus und begann zu beten. Sie mußte sich siebenmal verneigen und dabei die Stirn jedesmal auf dem Mohr ruhen lassen. Manchmal mußte sie zusätzliche Gebete für die Tage, die sie wegen ihrer Periode versäumt hatte, sprechen, aber an diesem Abend war ihr nicht danach, mehr als die erforderliche Anzahl von sieben aufzusagen. Sie wollte so schnell, wie sie konnte, hoch aufs Dach, um Sterne und Mond betrachten und die kühle, frische Abendluft genießen zu können. Als sie mit dem Beten fertig war, faltete sie alle Matten zusammen und legte sie weg. Bevor sie das Zimmer verließ, hielt sie einen Augenblick lang inne und fragte sich, ob sie die Hose mit nach oben nehmen sollte. Nein, ihr war nicht danach, sie hatte keine Lust dazu. Sie würde es morgen in der Frühe tun, bei Tageslicht. Jetzt wollte sie nur nach oben, sich an der Kühle des Abends erfreuen und die Sterne betrachten. Sie liebte es, die Sterne zu betrachten, vor sich hin zu träumen und die Gedanken umherschweifen zu lassen. Sie freute sich jeden Abend darauf. Sie sehnte sich danach. Wie gewohnt fühlte sie sich nach dem Aufsagen ihrer Gebete leichter, neu belebt, glücklich, zufrieden und im Frieden mit sich selbst. Sie hatte das Gefühl, daß ihr zugehört worden war, daß sie Akzeptanz gefunden und Kraft gewonnen hatte. Nein, sie würde die Hose unten lasen, sie würde sich morgen, bei Tageslicht damit beschäftigen. Sie gelobte, sich mit ihr zu beschäftigen. Nach dem Sprechen ihrer Gebete war sie nicht einmal besonders wütend auf 18
ihren Ehemann. Mehr noch, sie empfand sogar ein leichtes Schamgefühl, weil sie seine Hose noch nicht geflickt hatte. Letzten Endes war sie seine Frau. Es war das mindeste, was sie für ihn tun konnte. Eine Ehefrau hatte die Pflicht, ihrem Mann zu dienen. Sie blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um. Es war ratsam, etwas Trinkwasser mit nach oben zu nehmen. Sie machte das Fenster zu und verschloß die Tür. Sie nahm eine Kupferschüssel aus dem großen Korb, in dem sie das Geschirr zum Trocknen abgestellt hatte, füllte sie mit frischem Wasser und stieg die Leiter hinauf. Die Sprossen quietschten beim Hochgehen. Sie stellte die Wasserschüssel neben ihrem Mann ab und legte den Schlüssel dahinter. Er würde später nach unten gehen, um seine Gebete zu sprechen, und wissen, wo sich der Schlüssel befand. Sie brauchten überhaupt nicht miteinander zu reden. Während des Tages tauschte der kleine Junge Botschaften zwischen ihnen aus, gelegentlich mit katastrophalen Ergebnissen. »Geh und sag deinem Vater, daß wir heute abend bei Tante essen.« Oder: »Geh und sag Mutter, daß wir heute zwei Gäste beim Abendessen haben.« »Mutter, Vater läßt dir sagen, daß wir heute zwei Gäste beim Abendessen haben.« »Dein Vater soll verdammt sein«, erwiderte Mutter. Und der kleine Junge lief aufgeregt die Straße hinunter und sagte im Angesicht der Gäste mit klarer und lauter Stimme: »Mutter sagt, Vater soll verdammt sein.« Dies bedeutete später Ärger für sie. Sie sah nach dem Jungen. Es ging ihm gut, er schlief friedlich. Sie war stolz auf ihn. Sie legte sich zu Bett, rückte ihr Kopfkissen zurecht und deckte sich und den 19
Jungen mit dem Schador zu. Sie lag auf dem Rücken, blickte zu den Sternen empor und zählte sie. Wie viele konnte sie sehen? Früher am Abend hatte sie den Mond gesehen. Jedesmal, wenn sie den Mond zum erstenmal sah, bemühte sie sich, gleich danach in Wasser oder in einen Spiegel zu blicken, weil das Glück bedeutete. Sie vermied es, einem Menschen, der kein Freund war, ins Gesicht zu blicken, denn das konnte Unglück bringen. Immer achtete sie darauf, nicht ihrem Mann ins Gesicht zu blicken. Sie haßte ihn. Sie sah in die weite Ferne, auf die Sterne. Sie versuchte, bis zu den winzigsten, am weitesten entfernten Sternen durchzudrängen, trennte dabei ihr Bewußtsein weiter und weiter von ihrem Körper. Es war wie Fliegen. Sie fühlte sich so schwerelos. Der Himmel war wunderschön, voller Sterne. Gelegentlich streifte ein leichter Windhauch ihre Wangen und brachte die frischen, puren Gerüche von Land, Blumen und Blättern mit sich. Es war wie Magie. Alles fühlte sich so wundervoll an, so perfekt, so einzigartig, so vollständig. Sie ließ ihr Bewußtsein dahintreiben. Sie hatte die Empfindung, emporgehoben zu werden und sich von der Erde zu entfernen, fühlte sich erregt, befreit und bereichert. Sie fühlte sich wie ein Teil des Ganzen und kontrollierte doch alles. Sie schwebte über allem, was sie jemals kennengelernt und erfahren hatte. Tief in ihrem Innersten verspürte sie Freude und Glück, die sie nährten, erhielten und erfüllten. Dies war die absolute Schönheit und Perfektion, und sie sah sich als Teil des Ganzen. Sie war jung, schön, gesund, voller Energie. Sie war schöpferisch, klug, zu allem fähig. Sie fühlte sich mächtig. Nichts konnte sie einengen, beschränken oder behindern, nicht einmal ihr Ehemann, der Grundbesitzer oder ihre Mutter. Niemand konnte ihr befehlen, was sie tun oder wie 20
sie sein sollte. Sie würde entscheiden, was zu tun war, wie oder was sie sein würde. Sie bestimmte, war Herr ihrer selbst. Sie war wie die Natur ringsum, ein Teil dieser Natur und doch getrennt von ihr, mächtig. Sie fühlte sich wundervoll. Ihre Träume trugen sie in die Nacht hinaus. Sie war glücklich, im Freien auf dem Dach schlafen zu können. Hier war sie sicher. Alle Nachbarn schliefen auf ihren Dächern. Er wagte nicht, sie anzurühren. Sie würde Protest erheben. Die Nachbarn würden es hören. Er wußte dies, und deshalb rührte er sie niemals an. Die Leute schliefen überall ringsum. Sie schlief mit ihnen in ihrem Bewußtsein. Ihre Gegenwart gab ihr das Gefühl von Sicherheit, von Geborgenheit, von Frieden. Sie schlief mit ihrer Familie zusammen und doch getrennt von ihr, schlief getrennt von den Nachbarn und doch zusammen mit ihnen. Sie freute sich, zu Bett zu gehen, und seufzte vor Erleichterung – der Tag war vorbei, und nun konnte sie sie selbst sein. Sie konnte träumen, schlafen, entfliehen. In einem Augenblick würden ihre Anspannung, ihre Erschöpfung, ihre Besorgnis vorüber sein. Sie flog und flog, sah alles und alle. All die Dörfer, in denen sie gewesen war, all die Hochzeiten, die Zusammenkünfte, die Feiern, an denen sie teilgenommen hatte – sie sah sie alle. Aber sie hielt nach jemandem Ausschau. Nach jemandem, den sie kannte, nach jemandem, den sie liebte, der ihr entgegenblickte, auf sie wartete, sich nach ihr sehnte. Sie wußte es gut – sie mußte suchen. Sie mußte ihn unter all diesen Menschen und all diesen Dingen finden. Er mußte irgendwo sein. Sie würde ihn auch finden, dessen war sie sich sicher. Er wartete auf sie, und sie würde ihn finden. Sie hielt weiter Ausschau und suchte nach ihm mit ihrem ganzen Körper, ihrem ganzen Verstand, ihrer ganzen Seele. Ihr ganzes Selbst brauchte sein ganzes Selbst, brauchte Assim, den 21
Geliebten ihrer Kindheit. Sie hatte Assim vor langer Zeit kennengelernt, als sie ein kleines Mädchen gewesen war und auf den Feldern außerhalb des Dorfes an einem Fest teilgenommen hatte, dem Fest, das am dreizehnten Tag des neuen Jahrs abgehalten wurde, um das Böse aus dem Leben zu vertreiben und das Gute willkommen zu heißen. Sie hatte in ihrem kurdischen Stammeskostüm mit ihm getanzt. Sie hatten gemeinsam zur Musik gesungen und getanzt, umgeben von Blumen. Wie es Sitte war, hatte sie Büschel aus frischem Gras über ihre Schulter geworfen und ein Gedicht aufgesagt, das den Wunsch ausdrückte, zur gleichen Zeit im nächsten Jahr verheiratet zu sein und mit einem Kind auf den Armen im Haus ihres Ehemannes zu leben. Sie hatte es wie jedes junge Mädchen aufgesagt, ohne seine wahre Bedeutung zu kennen. Sie wußte damals noch nicht, wer ihr Ehemann sein würde. Der Mann, den man für sie ausgesucht hatte, war eine Katastrophe. In ihrem Traum suchte sie jetzt nach dem Richtigen, nach demjenigen, den sie vor langer Zeit gewählt hatte, nach Assim. Assim hatte im selben Dorf gelebt. Er war Kurde wie sie selbst, aber das Schicksal hatte sie getrennt. Sie träumte ständig von ihm. Seit jenem ersten Zusammentreffen in ihrer Kindheit wohnte er in ihrem Bewußtsein und in ihrem Herzen. Sie waren füreinander bestimmt. Sie wußten das. Sie hatten sich geschworen, für immer zusammenzusein. Wegen dieses Versprechens hatte sie nicht zugelassen, daß ihre erste Ehe vollzogen wurde, und sie war geschieden und später mit einem anderen Mann verheiratet worden, mit meinem Vater, einem Türken aus einem fernen Dorf. Ihr erster Mann gehörte nicht ihrem Stamm an. Er war ein völlig Fremder. Assim gehörte zu den Ihren. Sie hatte ihn gewählt. Er hatte sie gewählt. Sie gehörten zusammen. Sie 22
sehnten sich nacheinander. Sie hatten zusammen getanzt. Sie hatten zusammen gesungen. Sie hatten zusammen gelacht. Sie hatten zusammen gespielt. Sie hatten einander umarmt. Sie hatten einander berührt, durch ihre Sprache, ihren Tanz, ihre Sitten. Sie hatten sich angesehen und die Hände nacheinander ausgestreckt. Sie hatten einen Vertrag geschlossen, auf den anderen zu warten, nur auf den anderen. Seit jenem ersten Treffen hatte sie bei jeder Hochzeit, bei jedem Fest, bei jedem Besuch nach ihm Ausschau gehalten und gehofft, ihn zu sehen. Sie hatte sich für ihn angezogen, hatte für ihn getanzt, hatte für ihn gelacht, hatte sich nach ihm gesehnt. Sie hatten sich viele Male getroffen. Diese Zeiten waren die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Sie hatte mit all ihrer Kraft, mit all ihrer Macht, mit all ihrem Sehnen für ihn getanzt. Er hatte auf sie aufgepaßt, unmittelbar in ihrem Innersten. Sie erinnerte sich an eine Hochzeit, bei der sie ihr strahlend buntes Kurdenkostüm angezogen und ruhelos auf ihn gewartet hatte. Wo ist er? Warum kommt er so spät? Sie konnte ihren Herzschlag und das Erröten ihrer Wangen spüren, und plötzlich war er erschienen, gekleidet in sein eigenes kurdisches Kostüm. Sie erinnerte sich daran, wie sie den Wunsch gehabt hatte, sich in seine Arme zu werfen, wie sie sein Begehren erkannt hatte, sie an sich zu ziehen und ganz fest zu halten. Statt dessen aber hatte sie die Tränen in ihren Augen gespürt und über die Hitze geklagt. Seine späte Ankunft schien plötzlich in Ordnung zu sein, sie hatte ihm vergeben, denn er konnte nichts Falsches tun. Alles, was er sagte, war vollkommen. Die Vollkommenheit war in ihm, sie waren eins, sie waren vollkommen. In ihrem mit Gold- und Silbermünzen besetzten Kostüm, einer Weste aus Satin, einer hübschen Bluse und einem kurzen, an der Taille stark gerafften Rock und mit den farbigen Bändern in ihrem Haar sah sie 23
schön und begehrenswert aus. Ihr Glück, ihre Freude, ihr Vergnügen strahlten nach allen Seiten. Sie flog umher und suchte nach ihm, die Haare zu Zöpfen zusammengebunden, zu vielen Zöpfen. Sie flog durch all diese Dörfer und fand schließlich sein Dorf. Dort. Er stand an dem Scheideweg, der die Grenze zum Dorf ihrer Eltern bildete. Er wartete, sah sich nach allen Seiten um, ein bißchen besorgt, müde vielleicht. Sie rief: »Hier bin ich, Assim, ich bin es, ich bin zu dir gekommen, du hast auf mich gewartet, ich weiß, und hier bin ich.« Er blickte nach oben. Nach all diesen Jahren sah sie ihn jetzt wie an jenem Hochzeitstag. Er stand da und blickte in die eine, dann in die andere Richtung. Er schien nicht ungeduldig zu sein, nur müde. Sein Kostüm war staubig, sein Gesicht müde. Er schien auf jemanden zu warten, der etwas Besonderes, etwas Kostbares für ihn war. Es war so, als würde er für immer warten. Plötzlich hörte er mit der Suche auf und konzentrierte sich. Er lauschte. Er hatte ihre Gegenwart gespürt. »Assim, ich bin zu dir gekommen, ich habe dich gefunden, du hast auf mich gewartet, ich weiß das, und jetzt sind wir zusammen.« Er blickte in die Höhe und sah sie gleich über sich am Himmel. »Aber wie komme ich zu dir?« fragte er bange. Sein Gesicht hellte sich auf. Ihrer beider Augen blitzten. Ihre Stimme gewann an Kraft. »Ich werde meine Zöpfe nach unten lassen, du bindest sie dir um die Hüfte, und ich ziehe dich hoch«, sagte sie zuversichtlich. Dann ließ sie ihre vielen Zöpfe nach unten. Er band sie sich um die Hüfte, und sie zog ihn hoch. Ihre Heirat mit Reza war schnell anberaumt worden. Sie hatte resigniert, wohl wissend, daß nichts den Sinn ihrer 24
Eltern ändern konnte. Sie hatte ihnen bereits Schande bereitet. Diesmal mußte sie es durchstehen. Als sie mit ihrem Mann zum ersten Mal schlief, leistete sie keinen Widerstand und kämpfte nicht dagegen an. Sie stellte sich vor, daß sie mit Assim zusammen war, um Schmerz und Unbehagen leichter zu machen. Eine Frau stand draußen vor dem Zimmer und wartete auf die Vollziehung ihrer Ehe. Sie würde das befleckte Handtuch, das Zeichen ihrer Jungfernschaft, den ältesten Frauen beider Familien bringen. Danach waren beide Familien erleichtert, insbesondere ihre eigene. Endlich hatte ihre Tochter ein bißchen Verstand gezeigt, hatte getan, was getan werden mußte, hatte gehorcht wie eine gute Frau. Von da an stellte sie sich jedesmal vor, daß es Assim wäre, wenn sie von ihrem Mann geliebt wurde. Anderenfalls hätte sie es nicht ertragen können. Dies war ihre Methode, um zu überleben. Danach träumte sie immer von Assim, und in ihrem Traum erfuhr sie Befriedigung durch ihn, durch ihren wahren Geliebten. So ging es weiter. Sie erfuhr ein Gefühl von Liebe, von Befriedigung, von Erfüllung aus ihrem Traum. Ihre Träume wurden zum wichtigsten Teil ihres Lebens – sie gaben ihr Leben, hielten sie aufrecht, verliehen ihr Energie. Sie lebte mit Assim in ihren Träumen. Dies war ihr wahres Leben, ihre wahre Liebe, ihre wahre Existenz. Sie trug ein Gedankenbild von ihm überall bei sich. Sie hatte zu jeder Zeit Tagträume, ob sie nun Wasser aus dem Bach holte oder die Wäsche im Fluß wusch. Wenn sie am frühen Morgen die Ziegen molk, dachte sie an ihn, hörte sie ihn, spürte sie ihn. Sie phantasierte davon, daß Assim sie eines Tages von ihrem Ehemann, vom Grundbesitzer, von allen ihren Sorgen wegholen würde. Oder sie träumte, daß sie weglaufen würde, um nach ihm zu suchen, und daß sie dann gemeinsam irgendwohin gehen würden, wo es schön, 25
ruhig und friedlich war. Sie würden sich ein hübsches Haus bauen und viele Kinder haben. Sie würden glücklich sein, die glücklichste Familie auf Erden. Sie lebte mit diesem Traum. Dies war ihr Geheimnis. »Du bist nicht hier, Mahi«, pflegten ihre Freundinnen manchmal lachend zu sagen. Sie hieß Mahi, weil sie schön und voller Magie war wie die Fische in den Flüssen, die man bewunderte, aber niemals fing. »Du träumst immer, Mahi. Wovon träumst du? Du sagst uns nie, was du denkst.« »Oh, ich habe nur an meine Mutter gedacht«, sagte sie dann mit einem tiefen Seufzer. »Das stimmt nicht. Bestimmt verbirgst du irgend etwas vor uns.« »Ihr versteht das nicht«, sagte sie dann manchmal. »Eure Mütter leben nicht so weit von euch entfernt. Von meiner Familie ist niemand in der Nähe. Man braucht einen ganzen Tag, um mit einem Esel das Dorf meiner Mutter zu erreichen. Ihr könnt eure Mütter viele Male am Tag sehen, ich kann es nur einmal oder zweimal alle paar Monate. Deshalb träume ich von ihr.« Es war eine gute Gelegenheit für sie, Dampf abzulassen, ihre Bedürfnisse und Wünsche auszudrücken, den Verlust ihrer Mutter und ihrer Familie auf der einen, den Verlust Assims auf der anderen Ebene zu beklagen. Die Vögel begannen zu singen. Sie kam zu Bewußtsein, erwachte zu den Realitäten der Welt. Sie lauschte den Atemzügen ihres Jungen, wie sie es immer tat. Es ging ihm gut. Die Leiter quietschte. Ihr Ehemann stieg zum Morgengebet nach unten. Ihr graute vor den täglichen Begegnungen mit ihm. Sie haßte ihn. Ein weiterer Tag mit ihm lag vor ihr. Sie versuchte, in ihre Welt des Unterbewußtseins zurückzukehren, schloß die Augen, um 26
für einige weitere Augenblicke in die Traumwelt hinüberzuwechseln. Sie gewann das Bewußtsein zurück, verlor es wieder, wachte auf, schlief abermals ein. Der Mann, ihr Gatte, versuchte, sie aufzuwecken. »Es ist Gebetszeit«, flüsterte er und schob das Tuch von ihrem Gesicht. Sie stieß ihn zurück und bedeckte ihr Gesicht wieder. Sie war wütend. »Die Sonne wird gleich aufgehen, du mußt aufstehen.« »Laß mich in Ruhe«, sagte sie. »Alle sind schon auf den Beinen«, flüsterte er. Ich muß wohl aufstehen, sagte sie sich im stillen. Was sollen die Nachbarn denken? Sie wartete noch ein paar Minuten darauf, daß er wegging. Dies tat er dann auch. Sie mußte sich erheben. Sie warf einen Blick auf den Jungen. Es ging ihm gut, und sie deckte sein Gesicht wieder zu, nahm die Wasserschüssel und das Licht und stieg die quietschende Leiter hinunter. Sie war schlecht gelaunt, von einem bangen Gefühl erfüllt und auf der Hut. Sie füllte den Krug mit Wasser, ging auf die Toilette und wusch sich. Dann trat sie wieder ins Zimmer, benetzte dreimal Gesicht und Arme, legte ihren Schador an, breitete die Gebetsmatten aus und wandte sich nach Norden. Sie wollte so schnell wie möglich aus dem Zimmer herauskommen. Ihr Mann trat ein und schloß die Tür hinter sich. Ihr Herz sank. Was hatte er vor? Sollte sie nach draußen rennen? Oder das Gebet verlängern? Sie faltete schnell die Gebetsmatten zusammen, legte sie auf den Kamin und mied dabei seinen Blick. Sie ging zur Tür, aber er packte sie. »Komm her, mein Liebling.« Er zog sie an sich. »Laß mich in Frieden!« schrie sie wütend. 27
»Verschwinde, laß mich gehen!« »Psst, die Nachbarn werden dich hören.« Sie fing an, sich zu wehren, trat nach ihm und biß ihn in die Hand. Er hielt sie fest, zog sie näher an sich und küßte sie, wenn er Gelegenheit dazu fand. Einen Augenblick lang preßte er sie an sich. »Ich hasse dich.« »Ich weiß. Aber du hast mir nicht gesagt, warum. Was habe ich getan, hm?« Sie schwieg, wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nichts zu sagen. Er küßte sie erneut und legte sie sanft, aber bestimmt auf den Boden. »Laß mich gehen, laß mich in Ruhe, geh weg.« »Das werde ich in einer Minute.« Er hielt sie fester. »Psst, die Nachbarn werden dich hören. Was sollen sie nur denken?« »Hahaha«, lachte er, »das kümmert mich nicht.« »Ich hasse dich.« »Ich weiß. Ich liebe dich, meine Schöne, und du hast mir nicht gesagt, warum du mich haßt. Hm? Sag mir, was ich getan habe.« »Ich weiß nicht, ich hasse dich einfach. Du tust mir weh.« Er küßte sie wieder. »Komm her, mein Liebling, ich bin dein Mann, und du bist meine Frau. Weißt du, was das bedeutet?« Sie verhielt sich ruhig, denn sie wußte, was es bedeutete. Als ihr Ehemann hatte er das Recht, sie so oft zu lieben, wie er wollte. Sie war verpflichtet, ihm diesen Dienst zu erweisen. Sie hatte ihrem Mann zu dienen. »Das Kind, das Kind ist auf dem Dach.« 28
»Dem Kind geht es gut«, flüsterte er. Er drückte sie enger an sich, ließ seine Hand ihr Bein hinaufgleiten und zog ihre Hose aus. Sie strampelte, trat nach ihm. Sie war klein, aber stark und entschlossen. Er war jedoch stärker. »Ich habe meine Periode.« »Du hattest deine Periode vor drei Wochen, hahaha«, lachte er. »Also noch eine Woche hin. Meinst du, ich habe die Tage nicht im Kopf? Du sagst das jedesmal, nicht wahr?« Er legte sie in die richtige Position für sich. Sie versuchte zu schreien, aber er hielt ihr den Mund zu. »Psst, Liebling, die Nachbarn.« Sie biß ihm in die Hand und schaffte es, ihren Mund zu befreien. »Dein Vater sei verdammt«, stieß sie hervor, als er in sie eindrang, und mit diesen Worten traf sie ihn mitten ins Herz. Er machte weiter. Da, sie hatte es getan. Es war das Schlimmste, was sie zu ihm sagen konnte, das Schlimmste, was irgendeine Frau einem Mann sagen konnte. Heraus damit – mitten in sein Herz, wo es am meisten schmerzt! Als ob es dadurch leichter für sie geworden wäre, war der Akt innerhalb weniger Augenblicke vorüber. Sie fühlte sich schmutzig, mißbraucht, besudelt. Er fühlte sich beleidigt, tief verletzt. Wie konnte sie es wagen, so etwas über meinen Vater zu sagen? Ich werde ihr zeigen, was das bedeutet. Sie kommt damit nicht durch. Ich werde ihr eine Lektion erteilen. Warte nur ab, du Schlange. Sie waren beide wütend. Ihr erster Gedanke war, sich zu reinigen. Sie mußte heute zum Bad gehen und sich von oben bis unten reinigen. Dies war das letzte Mal, daß er sie jemals angerührt hatte. Sie würde nicht zulassen, daß es noch einmal passierte. Das Hamam, das öffentliche Bad, lag im Zentrum des Dorfs. An bestimmten Tagen der Woche war es für 29
Männer geöffnet, an anderen für Frauen. An diesem Tag war es für Frauen geöffnet. Später am Morgen bereitete sie sich auf den Gang zum Bad vor. In einem großen bestickten Tuch bündelte sie all die Dinge zusammen, die sie mitnehmen wollte. Kleider zum Wechseln für sich und den Jungen. Sie versah ihre Haare alle drei Monate mit Henna, und jetzt war der Zeitpunkt dafür wieder gekommen. Henna nährte das Haar, machte es gesund und seiden. Wenn es nicht regelmäßig angewandt wurde, klagten die Frauen über Kopfschmerzen. Sie würde es im Bad auflegen und dann ein paar Stunden dasitzen und darauf warten, daß die Wirkung einsetzte. Sie fing an, das Bündel zu packen. Sie nahm einen Speziallehm mit, um die Haare zu waschen (Gellsar). Dann nahm sie eine Scheuerbürste, einen Bimsstein zum Schrubben der Füße, einen Lehmball für die Haut, um tote Zellen zu entfernen, einen Kamm, einige Waschlappen aus Baumwolle und eine Kräutercreme zum Entfernen von Haaren. Sie packte eine Longue ein, ein großes rechteckiges Tuch, in das sie sich von der Hüfte abwärts einhüllen konnte, ein großes Handtuch als Badematte, eine Schüssel, etwas Seife und das Henna. Zum Schluß nahm sie noch einen Fladen Brot, um das Bad zu bezahlen. Sie griff nach ihrem großen Bündel und ging hinaus, um zu sehen, ob auch die Nachbarinnen zum Bad gingen. Eine Nachbarin erklärte sich bereit, die Kinder am Bad abzuholen, so daß sie länger Zeit für sich selbst haben würde. Was würde sie zum Abendessen machen? Sie gab sich nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Sie würde am Abend irgend etwas Schnelles zubereiten. Der Besuch des Bads war ein großes Ereignis, das drei bis vier Stunden in Anspruch nahm. Frauen gingen üblicherweise mit einer Freundin oder Nachbarin hin und führten in dieser Gesellschaft ein gutes Gespräch. 30
Frauen hockten immer schwatzend zusammen. Sie schütteten einander ihre Probleme aus. Nichts war geheim oder privat, alles wurde besprochen und diskutiert – ihr Unglück, ihre Freuden, die Grausamkeiten, die Ungerechtigkeiten. Sie teilten sie miteinander, hörten sich zu, fühlten miteinander, trösteten und beruhigten sich gegenseitig und weinten miteinander und füreinander. Sie teilten ihre Gefühle, die negativen und die positiven, ihre Freuden, ihre Vergnügen und ihre Sorgen. Frauen konnten ihr Unglück nicht mit ihren Männern teilen, aber sie konnten es untereinander tun. Sie konnten ihren Zorn nicht an ihren Männern auslassen, aber sie sprachen unter sich darüber. Sie konnten keinen Einfluß auf Männer ausüben oder mit ihnen argumentieren, konnten nicht auf gleicher Ebene mit ihnen umgehen, aber unter sich wurden ihr Zorn und ihre Frustration in Worte gefaßt, geäußert und verstanden. Dies ermöglichte es ihnen, weiterzumachen. Sie besuchten ihre Verwandten so oft wie möglich, und Frauen, die weit entfernt wohnten, blieben dann alle paar Monate eine oder zwei Wochen bei ihren Eltern. Und während dieser Besuche redeten und redeten sie. Sie redeten sich alles von der Seele. Dann fühlten sie sich erholt, neu belebt und wieder dazu in der Lage, weiterzumachen. Nichts blieb privat oder wurde zurückgehalten. Während einer Geburt war das Haus voller Frauen aller Altersstufen, und die Kinder sahen alles, bekamen alles mit. Alle größeren Ereignisse, Geburten, Krankheiten, Todesfälle, Brutalitäten und Grausamkeiten, zu denen es kam, wurden viele Male besprochen. Als mein Vater starb, war ich noch ein Kind, und die Frauen schlugen sich an der Seite Mutters vor den Kopf und weinten laut. Die ganze Nachbarschaft war da. Mutter wurde nicht allein gelassen. Sie wechselten sich ab, um zu gewährleisten, 31
daß immer jemand bei ihr war. Trauer war keine private, einsame Angelegenheit. Sie wurde geteilt. Sie war öffentlich. Sie hielt sieben Tage an. Dasselbe galt für eine Geburt. Sieben Tage lang kamen und gingen die Menschen und stellten sicher, daß ständig ein paar Frauen zugegen waren. Die Mutter der Frau blieb einen ganzen Monat. Am siebten Tag führte man die Frau ins Bad, und danach klang es langsam ab. Es gab immer Zusammenkünfte. Frauen verrichteten ihre Arbeit in Gruppen, und während sie arbeiteten, redeten sie. Sie wuschen ihre Wäsche gemeinsam am Fluß, sie holten abends gemeinsam das Wasser vom Brunnen, sie gingen gemeinsam zum öffentlichen Bad, sie webten ihre Teppiche gemeinsam. Ihre Näh-, Strick- und Flickarbeiten verrichteten sie gemeinsam in Gruppen. Es war ein Zusammensein, das ihnen Kraft gab, besonders im Bad, wo sie miteinander redeten und sich reinigten. An diesem Tag ging Mahi nach dem Bad zu ihren Freundinnen, die den Jungen abgeholt hatten. Sie tranken Tee, und dabei erholte sie sich von der langwierigen Reinigungsprozedur. Gegen Abend machte sie sich erfrischt auf den Weg nach Hause. Sie kam erst sehr spät dazu, das Abendessen zuzubereiten, weil sie mit ihren anderen Aufgaben beschäftigt war. Sie mußte sich um die Ziege kümmern, sie melken, die Hühner versorgen und anderes mehr erledigen. Ihr Ehemann kam und verlangte nach dem Abendessen. Als er hörte, daß es nicht fertig war, nahm er seine Rache. Es war der Vorwand, auf den er gewartet hatte. Er verabreichte ihr eine Tracht Prügel, eine schwere. Du hast es gewagt, meinen Vater zu verfluchen, sagte er im stillen zu sich, während er sie auf den Rücken und den ganzen Körper schlug, besonders auf die Hinterbacken, wo die blauen Flecken verborgen bleiben würden. Er schlug sie 32
so hart, wie er nur konnte, und verließ das Haus. Ihre Schreie hatten die Nachbarn alarmiert, die herüberkamen und sie mit dem Jungen in ihr Haus holten. Sie war einige Tage lang krank, und man schickte ihrer Mutter eine Nachricht, daß sie kommen und Mahi abholen sollte. Sie verbrachte einen Monat bei ihrer Mutter. Alles tat ihr weh, besonders der Rücken. Sie bekam regelmäßig Massagen mit Spezialölen, wurde heiß gebadet und mit Kräutern behandelt. Einmal kam ihr Mann, um sie wieder abzuholen, aber sie fühlte sich noch nicht gut genug für die Reise, und so bestand ihre Familie darauf, daß sie noch ein Weilchen länger blieb, bis es schließlich Zeit für sie wurde, nach Hause zurückzukehren. Wie es Sitte war, brachte ihr Mann sie zurück – die Mutter holt die Frau ab, und der Ehemann kommt und bringt sie wieder zurück. So wurde es gemacht. Bei ihrer Rückkehr stellte sie fest, daß sie schwanger war.
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KAPITEL VIER Wir sind in Khorbendeh, dem Dorf meiner Mutter, und ich bin etwa vier Jahre alt. Ich spiele mit einem älteren Jungen, der ungefähr sieben ist, draußen auf der Straße und habe eine Münze in der Hand. »Du kannst nicht sehen«, sagt der Junge. »Doch, ich kann«, erwidere ich. »Nein, du kannst nicht.« »Doch, ich kann«, beharre ich. »Wenn du es kannst, dann laß diese Münze, die du da in der Hand hast, fallen und heb sie wieder auf«, sagte er. Ich lasse die Münze fallen und hebe sie gleich wieder auf. Der Junge geht weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ich stehe triumphierend da. Die Tatsache, daß ich nicht sehen konnte, wurde von mir nicht akzeptiert. Ich führte die Aufgabe, die man mir stellte, hervorragend aus. Auf einer anderen Ebene war dies der Augenblick, in dem ich verstand, daß ich nicht sehen konnte. Ich erinnere mich nicht an Dinge, die vor oder lange nach diesem Ereignis passierten. Es hat sich in meinem Gedächtnis so deutlich festgesetzt, als wäre es gestern geschehen – die staubige Straße, die Stille, die Stimme des Jungen, sein Alter. Ich habe keine Erinnerung an meine Krankheit oder meine Genesung, ebensowenig wie ich eine Erinnerung an die Zeit habe, in der ich noch sehen konnte, wie eine Puppe angezogen war und bewundert wurde. Ich glaube, das Ereignis fand nach unserem Umzug nach Khorbendeh statt, wo wir bei der Familie meiner Mutter lebten. Der Grund für unseren Umzug war der Umstand, daß die 34
russischen Soldaten, die das Land nach dem Zweiten Weltkrieg besetzten, meinen Vater verhaftet und der Spionage beschuldigt hatten. Der Iran wurde sowohl von den Russen als auch von den Briten besetzt. Ich weiß nicht, ob mein Vater beschuldigt wurde, für die Briten oder für die iranische Regierung spioniert zu haben, obgleich ich den Verdacht habe, daß es für die Briten war. Er wurde fünfundvierzig Tage gefangengehalten und war dreimal nahe dran, erschossen zu werden. Zweimal änderten die Soldaten ihren Sinn in letzter Minute. Bei der dritten Gelegenheit sprach mein Vater sein Gebet und stellte sich befehlsmäßig mit dem Gesicht zur Wand, aber das Gewehr ging nicht los, und man schenkte ihm sein Leben. Er war beim Verhör gefoltert worden. Ich konnte die Spuren und Narben der Folter, die Löcher und Beulen an seinem Kopf fühlen. Er hatte danach schwere Kopfschmerzen. Ich glaube, meine Mutter hatte ihn schon als tot abgeschrieben, und so zogen wir zu ihren Eltern. Nach seiner Freilassung war er einige Zeit krank. Er sprach nicht viel über seine Erfahrungen in den Händen der Russen, aber er drückte eine tiefe Verachtung für sie aus. Er glaubte, daß Gott sein Leben gerettet hatte und daß seine Freilassung ein Werk Gottes war. Er war ein melancholischer Mann, zerbrechlich, sensibel und schwach. Folter und Gefangenschaft hatten lang anhaltende Nachwirkungen. Er war oft krank und deprimiert, besonders gegen Ende seines Lebens. Sie hatten seinen Geist gebrochen und ihn demoralisiert. Manchmal wirkte er pathetisch. Meine früheste Erinnerung an ihn – ich muß etwa zwei Jahre alt gewesen sein – ist die, daß ich auf seinem Schoß sitze. Er füttert mich mit einer Karotte. Mein Engel, mein süßes Mädchen, mein Liebling, sagt er zu mir. Ich erinnere 35
mich nicht an sein Gesicht, aber ich erinnere mich an seine Stimme, an die Wärme seines Körpers und an den Geschmack der Karotte. An das Berühren der Karotte, an ihre Form erinnere ich mich – und an das Gefühl von Zufriedenheit. Seine Berührung, seine Stimme, sein Geruch, seine Worte, seine Wärme sind unmittelbar bei mir. Ich bin eins mit ihm. Er ist glücklich, stolz, lebendig. Dies ist die glücklichste Erinnerung, die ich sowohl an ihn als auch an mich selbst habe. Hat er mich damals geliebt, weil ich mein Augenlicht besaß? frage ich mich. Ansonsten erinnere ich mich nicht daran, Vater glücklich erlebt zu haben. Er war viel unterwegs, um Arbeit zu suchen. Er war monatelang weg gewesen und mit leeren Händen zurückgekehrt, wie Mutter es ausdrückte. Er ist einfach ein hoffnungsloser Fall, pflegte Mutter zu sagen, er kann aus nichts etwas machen. Er ging in andere Dörfer, um Waren zu verkaufen, aber er war zu großzügig, gab die Sachen weg und verdiente deshalb nichts. »Gott ist groß«, sagte er. »Was ich heute gebe, werde ich morgen zurückbekommen.« Aber nach den Worten meiner Mutter bekam er niemals etwas zurück. Sie sah ihn als einen Nichtsnutz an. Sie pflegte zu wiederholen, was er sagte, und lachte dann sarkastisch. »Er hält sich für schlau. Er sagt, daß etwas für ihn dabei herauskommt, wenn er zwei Steine aneinander schlägt, oder daß er Gold zwischen ihnen findet, wenn er einen Stein von einem anderen hebt. Dummkopf! Wenn ihm jemand Geld in Hülle und Fülle schenkt, wird er es in den Wind streuen. Er ist unzulänglich, unfähig und hoffnungslos. Was für ein Pech ich hatte. Ihn zu heiraten, war das Schlimmste, was mir passieren konnte. Es ist mein Schicksal. Er erkennt nicht, was ich tue. Ich habe 36
mich abgemüht, ihm ein Heim zu schaffen, aber er läßt mich monatelang mit nichts allein. Ich muß mich schrecklich anstrengen, um den Wolf von der Tür fernzuhalten.« Und sie hatte recht. Ich weiß nichts über Vaters Eltern, habe sie nie kennengelernt. Er hatte einen jüngeren Bruder, Norooz Gholi, in einem nahe gelegenen Dorf, der uns oft besuchte und uns immer Süßigkeiten und Geschenke mitbrachte. Onkel Gholi war ein ruhiger, sanfter Mensch, liebevoll und fürsorglich. Mutter hatte ihn gern. Er hatte auch noch zwei Schwestern, Zolikha, die ältere, und Asli, die jüngere, die beide in unserem Dorf lebten. Tante Zolikha hatte mich besonders gern. Vielleicht war sie die einzige Frau, die mir in meinem frühen Leben bedingungslose Liebe schenkte. Mir brach das Herz, als wir aus unserem Dorf nach Teheran zogen und sie zurückließen. Sie war gütig und fürsorglich. Ich tat ihr leid. Ich erinnere mich an ihre Stimme, die sanft, freundlich und tröstend war. Sie schenkte mir immer besondere Aufmerksamkeit. Ich schien ihr Liebling gewesen zu sein. Ich fühlte mich in einer Weise wohl und glücklich bei ihr, wie es bei meiner Mutter niemals der Fall war. Bei meiner Mutter fühlte ich mich unbehaglich und verlegen und kam mir vor wie fehl am Platz. In Kahleh, dem kleinen Dorf meines Vaters, in dem ich geboren wurde, sprachen alle Leute Türkisch. In Mutters Dorf wurde Kurdisch gesprochen. Kahleh war ein etwas primitives, karges und rauhes Gebirgsdorf. Wir mußten Kahleh wegen eines grausamen Grundbesitzers verlassen und nach Teheran ziehen. Geschichten über die Grausamkeit von Grundbesitzern waren schrecklich. Bräute wurden in ihrer Hochzeitsnacht von Grundbesitzern vergewaltigt, und es hieß, daß junge 37
Frauen, die von Grundbesitzern vergewaltigt worden waren, von deren Frauen geholt, in Säcke gesteckt und mit langen Nadeln gequält wurden, bis sie das Bewußtsein verloren. Eine Geschichte, die besonderen Eindruck auf mich machte, handelte von einem Mann mit schlechtem Augenlicht, der einen herannahenden Grundbesitzer nicht erkannte und deshalb nicht aufstand. Er wurde öffentlich ausgepeitscht. Diese Geschichte ließ mich erstarren. Das Haus in Kahleh, an das ich mich erinnere, bestand aus einem fünf mal zehn Meter großen Zimmer, lang und schmal und mit dicken Wänden. Wir saßen immer an einer sehr breiten Fensterbank – sie war etwa einen halben Meter breit. Es gab noch ein kleines Fenster mit einem Holzrahmen, aber ohne Glas, und dazu sieben oder acht ganz schmale Fenster mit einem Durchmesser von vielleicht fünfundzwanzig Zentimetern, die wie Löcher im Dach waren und nachts mit Ziegelsteinen verschlossen wurden. Morgens nahm Mutter einen langen Stock und stieß sie auf. Am Fensterende des Zimmers befand sich der Thnoor, der in den Boden eingelassene Ofen. Der Thnoor wurde aus Lehm gemacht und in eine Grube im Boden eingesetzt. Der Ofen war der zentrale Punkt des Hauses. Er wurde zum Heizen des Hauses benutzt, zum Kochen und zum Backen. Im Winter wurde sein Feuer vierundzwanzig Stunden in Gang gehalten. Mutter machte ihn jeden Morgen sauber, entzündete dann ein neues Feuer, um ihr Brot zu backen, und baute danach wieder den Korsi auf. Der Korsi war ein sehr großer Bock, der über den Ofen gestellt wurde. Dann legte sie eine große Steppdecke auf den Korsi und darauf ein breites Bettuch. Kleine Matratzen wurden als Sitze an den Seiten des Ofens ausgebreitet, größere Kissen an die Wände gelehnt, so daß wir um den Korsi herumsitzen und die Steppdecke über unsere Beine ziehen konnten, um uns zu wärmen. Die 38
Mahlzeiten wurden auf dem Korsi serviert, der vorher mit einem Sofreh, einem Tischtuch, bedeckt wurde, in dem das Brot eingewickelt war. Nachts schliefen wir auf den Matratzen rund um den Korsi und zogen die Steppdecke über uns. Im Sommer wurde der Korsi entfernt und der Ofen mit einem passenden Stück Holz zugedeckt. Das Bettzeug wurde zu großen Kissen gebündelt und an die Wände gestellt. Ich half Mutter jeden Morgen beim Zurechtmachen dieser Bündel, an die man sich anschließend anlehnen konnte. Am anderen Ende des Zimmers standen Behälter aus Lehm, die bemalt waren und der Aufbewahrung dienten. Sie waren einen knappen halben Meter breit und besaßen verschiedene Höhen. Es gab einen großen für Weizen, einen weiteren großen für Gerste, einen für Mehl, einen anderen für Brot und einen kleinen für Salz. Ihre Beine standen in einem Loch auf dem Boden, und sie hatten einen Stöpsel, den man herausziehen konnte. Man nahm sich die Menge, die man haben wollte, und setzte den Stöpsel wieder ein. Die Behälter standen in der Nähe der Wand, noch vor anderen Artikeln, und es gab gerade genug Raum, um sich zwischen ihnen hindurchbewegen zu können. In der Mitte des Zimmers gab es einen großen rechteckigen Platz für Tätigkeiten wie beispielsweise das Buttermachen. Dazu nahmen wir einen großen Beutel aus Tierhaut, Tulwgh genannt, in den Magerjoghurt gegossen wurde. Die beiden Enden des Tulwgh wurden an der Decke aufgehängt. Dann schwangen zwei Personen, jede an einem Ende, den Tulwgh mit aller Kraft vor und zurück. Nach einer halben Stunde öffnete Mutter den Tulwgh und holte die Butterklumpen heraus. Um den Tulwgh in Gang zu bringen, brauchte sie Unterstützung. Eine Nachbarin kam und half ihr, ihn zu füllen, 39
aufzuhängen und zu schwenken. Nachdem die Butter entfernt war, wurde die verbleibende Flüssigkeit geschlagen, bis sie dick war. Sie formte sie zu Kugeln, die Kashk genannt und in der Sonne getrocknet wurden, um dann aufbewahrt zu werden. Im Winter wurden die Kashk aufgeweicht und aufgelöst, bis sie puddingartig waren und zum Kochen verwandt werden konnten. Die Butter wurde gesalzen aufbewahrt, bis genug da war und sie erhitzt und in Öl verwandelt werden konnte, das ganz wundervoll roch. Wenn ein bißchen heißes Öl über den Reis gegossen wurde, konnten es alle noch häuserweit riechen. In unserem Fall wurde das Öl gesammelt und dem Grundbesitzer übergeben, genauso wie der Käse und die Wolle der Schafe, die Eier der Hühner und all die anderen Tierprodukte. Die Tiere gehörten dem Grundbesitzer. Meine Mutter kümmerte sich nur um sie. Sie versorgte in jedem Sommer sieben oder acht Lämmer und Ziegen und bekam als Gegenleistung einen winzigen Prozentsatz der Produkte, so wenig, daß es kaum erwähnenswert war. Grundbesitzer waren für ihre Unbarmherzigkeit bekannt. Unbarmherzigkeit war die Norm. Wenn ein Grundbesitzer einmal Milde oder Güte zeigte, wurde noch monatelang darüber geredet. Das Gestell für die Teppichfertigung stand in der Zimmerseite am Fenster. Im Winter stellte der Grundbesitzer Mutter alle Materialien zur Verfügung, und sie fertigte den Teppich an. Es dauerte Monate. Während der langen Winternächte saß Mutter da und webte vor sich hin, Stich um Stich. Manchmal sang sie beim Weben. Gelegentlich kamen ihre Freundinnen und Nachbarinnen und gingen ihr eine oder zwei Stunden zur Hand. Mutter tat dasselbe für sie. Sie machte wunderschöne Teppiche. Die Grundbesitzer waren sehr zufrieden mit ihnen. Ihre Muster waren exquisit. Sie war künstlerisch veranlagt, 40
phantasievoll, kreativ. Bei einer Gelegenheit brachte sie nach der Fertigstellung einen Teppich zum Grundbesitzer und kehrte tief enttäuscht zurück. »Der Arbab – der Grundbesitzer – konnte gar nicht damit aufhören, ihn zu bewundern«, erzählte sie uns. »Er ging immer darauf auf und ab und sagte, was für eine wunderbare Arbeit es wäre. ›Dies ist der beste, den ich seit langer Zeit gesehen habe. Wer hat ihn gemacht?‹ Diese Frau hier, wurde er informiert. Er sah mich an. ›In Ordnung, gebt ihr acht Pfund Gerste.‹ Gerste! Hätte er mir nicht wenigstens Weizen geben können? Er konnte nicht aufhören, ihn zu bewundern, und doch gibt er mir Gerste, ganze acht Pfund. Grausamer Mann. Er hat kein Herz, oder? Meine Finger tun noch immer weh, und meine Augen brennen noch immer von den schlaflosen Nächten, die ich verbracht habe, um ihn zu machen. Hätte er mir nicht Weizen geben können? Er konnte nicht aufhören, ihn zu bewundern, und doch gibt er nur Gerste.« Sie konnte nicht aufhören, darüber zu reden, und wiederholte die Geschichte wieder und immer wieder. Sie war verletzt. Ihre Arbeit war würdig, aber nicht belohnt worden. Sie fühlte die Ungerechtigkeit bis ins Mark. Machte sie diese Art von Behandlung bitter? Und ließ sie diese Verbitterung an Vater aus? Am Tag führte ein Schäfer immer die Tiere aus dem Dorf auf die Felder und kehrte abends mit ihnen ins Zentrum des Dorfs zurück. Von da aus fanden die Schafe allein den Weg zu ihren Häusern. Manchmal kam diese Ziege oder jenes Lamm nicht oder verspätete sich, und so machte sich Mutter auf die Suche und rief in offene Türen hinein: »Ist das unsere schwarzweiße Ziege? Ah, sie ist es! Komm her, komm nach Hause.« Und sie brachte das Tier nach Hause in seinen Stall, der den Durchmesser eines großen Zimmers hatte und über dem Keller lag. Hier stand 41
auch der Esel. Es gab einen kleinen Bereich für die jungen Ziegen und Lämmer, der von einer kleinen Mauer umgeben war. Wenn sie einmal im Stall waren, ließ Mutter die Jungen eine oder zwei Minuten lang säugen, bevor sie die Ziegen oder Schafe molk. Ich half ihr dabei, die Jungtiere in ihre ummauerte Behausung zu bringen. Sie schrien, wenn ich sie von den Zitzen wegzog. Warum lassen wir sie nicht noch etwas länger säugen? fragte ich mich. Ich hatte das Gefühl, daß es ungerecht war, aber ich mußte es tun. Wenn wir alle Jungen aus dem Weg geschafft hatten, war Melkzeit. Ich hielt den Kopf der Tiere fest, und Mutter molk sie. Sie stellte eine große Kupferschüssel unter sie, und nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, rief sie: »Besmella he rohmanehnahim – im Namen Gottes.« Sie sagte das immer, wenn sie mit Nahrungsmitteln und Babys oder kleinen Kindern umging, besonders wenn es diesen nicht gutging. Dann begann sie mit dem Melken. »O wie schön«, bemerkte sie gelegentlich, »diese hat heute abend so viel Milch gegeben.« Wenn die Schüssel voll war, leerte sie sie in einen Eimer und begann von vorne. Wir gingen von einem zum anderen, bis alle sieben oder acht Schafe gemolken waren. »Schön, gut gemacht, das ist wunderbar«, pflegte sie die Tiere zu loben. Mir taten immer noch die Jungen leid, weil sie nicht genug Milch bekommen hatten. Auch ich bekam nicht genug zu essen. Das Beste der Suppe war für die Jungs bestimmt. Zuerst für meinen älteren Bruder, dem immer das meiste und beste von allem gegeben wurde. Er war ein Junge, der schnell wuchs und gut ernährt werden mußte, so gut, wie wir es uns leisten konnten. Und dann für meinen Vater, der viel essen mußte, weil er arbeitete. Dann kam mein jüngerer Bruder Akbar. Alles, was dann noch übrig war, bekamen meine 42
Mutter und ich. Ich muß immer hungrig ausgesehen haben. Einmal, als wir einige Gäste hatten und meine Mutter das Essen zubereitete, schalt sie mich für die Art und Weise, in der ich mit dem Kopf auf der Schulter dasaß. Ich sah aus, »als ob ich noch nie etwas zu essen bekommen hätte«, sagte sie. Und das machte sie so verlegen, daß sie mir etwas von dem Essen gab, das sie gerade zubereitet hatte, und zu mir sagte: »Tu das nie, nie wieder.« Ich hatte keine Freude an dem Essen. Es war eine Offenbarung für mich, daß ich mein Bedürfnis durch die Art und Weise ausgedrückt hatte, in der ich dasaß. Ich war überrascht. Wie hatten sie das verstanden? Mutter hatte ein Abkommen mit drei oder vier anderen Haushalten. Die Frauen brachten die Milch im wöchentlichen Wechsel in ein Haus, jeden Morgen und jeden Abend. Ich konnte hören, wie die Frauen die Menge maßen. Sie merkten sich, wie viele Schüsseln jede von ihnen an einem Tag beigesteuert hatte, und zählten sie im Laufe der Tage zusammen. Durch das gemeinschaftliche Teilen war es einfacher, die Produktivität zu erhöhen. Ich erinnere mich daran, daß ich einmal von dieser Milch profitierte. Ich war noch sehr klein, vielleicht vier Jahre alt, und spielte draußen auf den Feldern mit Akbar. Wir aßen einige giftige Beeren und wurden krank. Die Arznei, die uns Mutter gab, war viel Milch. Drei Tage lang waren wir krank und tranken kannenweise Milch. Ich hatte das Gefühl, etwas wert zu sein, weil ich soviel Milch bekam. Ich wurde genauso versorgt wie mein jüngerer Bruder, mit derselben Menge Milch. Dies war einer der beiden Anlässe in meinem Leben, bei dem Mutter sich meiner Erinnerung nach Sorgen um mich machte und mich umhegte. Beim anderen Mal hatten wir ein schweres Gewitter. Es donnerte und blitzte furchterregend. Akbar und ich waren unten im Zimmer. Mutter kam, setzte sich 43
vor uns auf den Fußboden, nahm uns beide in die Arme und fing an, Gebete zu sprechen. Ich fühlte mich mit meinem Bruder auf gleicher Ebene. Sie sorgte sich um mich genauso, wie sie sich um ihn sorgte. Sie betete für mich genauso, wie sie für ihn betete. Niemals vergesse ich diese beiden Anlässe, bei denen ich das Gefühl hatte, etwas wert zu sein. Vater ließ uns monatelang allein, wenn er in anderen Dörfern Arbeit suchte, aber Mutter schaffte es irgendwie, uns durch ihre Käse- und Teppichherstellung zu ernähren. Nach dem Sommer gab es im Dorf nicht viel zu tun. Wenn die Ernte eingebracht war, zog Vater in andere Dörfer, um zu kaufen und zu verkaufen, um Tauschhandel zu betreiben – beispielsweise wechselten ein Beutel Weizen für etwas Tee oder Kartoffeln für eine Stange Seife den Besitzer. Meine Tante Zolikha, die mich sehr gerne hatte, trug immer ein paar Süßigkeiten, Rosinen, Nüsse oder getrocknete Datteln in ihrer Tasche bei sich und holte eine Handvoll hervor, um sie mir in den Schoß zu legen. Es war Sitte, daß Tanten, Onkel und Großeltern immer etwas für die Kinder zu naschen hatten. Wir warteten schon darauf. Asli, meine jüngere Tante, war fröhlich, heiter und offenherzig und machte ständig Scherze. Ich erinnere mich an ihre Stimme. Sie hatte zwei oder drei Kinder. Beide Tanten wohnten einen etwa zehnminütigen Fußmarsch von uns entfernt. Der Weg war voller Dornen, Löcher und Hügel, und manchmal, wenn ich ihn entlangging, verlief ich mich oder verletzte meine nackten Füße an den Steinen und Dornen. Ich hatte die Phantasievorstellung, daß es eines Tages eine gerade Linie, einen erhöhten, glatten Weg zu ihrem Haus geben würde, der mich geradewegs zu ihnen brachte, ohne daß ich umherirren mußte. Dieses Bild hatte sich fest in mein Bewußtsein 44
eingeprägt. Als ich später im Leben zum erstenmal mit Eisenbahnschienen in Berührung kam, waren sie wie mein Gedankenbild. Die Bahnschienen würden auf geradem Weg zum Ziel führen, gerade breit genug für mich, um darauf gehen zu können. Ich war mir in Gedanken ganz sicher, daß dieser Weg eines Tages gebaut würde. Ich träumte viel. Und natürlich ging ich barfuß. Wir alle taten es. Im Sommer und im Winter, so daß meine Füße ständig von scharfen Steinen und Dornen zerschunden waren. Ich erinnere mich daran, wie ich das erstemal über Eisenbahnschienen ging. Es war mir so vertraut, genau wie ich es mir als kleines Mädchen immer vorgestellt hatte. Akbar und ich spielten immer im Fluß neben unserem Haus. Wir versuchten, mit den großen Flußsteinen eine Art Insel im Fluß zu bauen – und eine Brücke, die zu ihr hinüberführte. Wir gingen in den Fluß hinein und spielten stundenlang darin herum. Einmal nahmen wir unser Tablett, ein großes, rundes und schweres Kupfertablett, das vielleicht das wertvollste Utensil unseres Hauses war, mit in den Fluß, und irgendwie ging es uns in der Strömung verloren, trieb unter die Brücke und blieb an einer Stelle stecken, an die wir nicht herankamen. Wir sagten es Mutter, und ich erinnere mich daran, daß sie und eine Nachbarin kamen und es irgendwie herausholten. Wir wurden nicht ausgeschimpft, was mich überraschte. Mutter legte meinem Forschungsdrang niemals Beschränkungen auf, weil ich nicht sehen konnte, und dafür bin ich ihr dankbar. Sie hinderte mich nie daran, irgendwohin zu gehen oder mit irgendwelchen Gegenständen zu spielen oder zu hantieren, und das war für mich sehr viel wert – es wagen zu können, Dinge zu tun, Wege zu gehen, bevor ich überlegen mußte, ob ich es schaffen würde oder nicht. Ich frage mich, ob sie es tat, 45
weil sie wollte, daß ich alles lernte und Spaß haben konnte wie mein Bruder Akbar, oder ob es sie nicht kümmerte, was mit mir passierte. In der Nachbarschaft wohnten ein Bruder und eine Schwester, Ende Zwanzig. Beide waren nicht verheiratet. Die Schwester war immer da, aber ihr Bruder war oft unterwegs. Nachdem er einmal wieder nach Hause gekommen war, brachte sie uns etwas Brot. Das war so Sitte. Wenn ein Ehemann von einer Reise zurückkehrte, wurde erwartet, daß er einem Nachbarn etwas schenkte. Meistens wurde Brot gegeben. Sie brachte uns einige Fladen und sagte: »Mein Bruder ist gerade nach Hause gekommen. Ich habe euch das hier gebracht. Er weiß es nicht. Ich bin sicher, er wird mir sagen, daß ich euch später noch mehr bringen soll.« Meine Mutter freute sich, und einen Tag später bekamen wir weiteres Brot, das zu bringen er sie gebeten hatte. Dann luden sie uns zum Abendessen ein. Wir gingen in ihr Haus und aßen. Der Bruder war nicht anwesend, nur die Schwester. Dazu Mutter und wir Kinder. Es gab Abgusht, eine Art Suppe mit Lamm, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, Tomatenpüree und Zwiebeln, langsam im Ofen fünf oder sechs Stunden lang gekocht. Zuerst wurde die Suppe in einer Schüssel serviert, dazu viele Brotstücke, die in die Suppe getunkt wurden. Dann wurde der Rest zerquetscht, aufgeteilt und auf einer Scheibe Brot serviert. Wir klappten das Brot darüber und aßen es als Sandwich. Es schmeckte köstlich. Dies war oftmals die tägliche Hauptmahlzeit für uns, manchmal an mehreren Tagen hintereinander. Wir aßen mit unseren Händen. Wir wuschen uns die Hände und setzten uns rund um den Korsi, auf dem das Essen serviert wurde, und aßen zu zweit oder zu dritt aus einer Schüssel. Danach wurde eine Schüssel mit warmem Wasser 46
gebracht, damit wir uns die Hände waschen konnten. Die Schüsseln waren alle aus Kupfer. Die Platten und Töpfe für langsam kochende Gerichte waren aus Steingut oder Keramik gemacht. Bei besonderen Anlässen gab es Reis mit Nudeln und einen Tropfen Butteröl zum Eintopf – einmal alle vier oder sechs Wochen, wenn wir es uns leisten konnten. Mutter machte die Nudeln aus Mehl. An den meisten Tagen aßen wir Joghurt mit Brot, Käse mit Brot und Zwiebeln, geschlagenen Joghurt, Suppen – im Winter viele dicke Suppen mit Hülsenfrüchten, Nudeln und vielen getrockneten Kräutern und Gewürzen. Es roch gut und schmeckte gut, vielleicht weil wir sehr hungrig waren. Es wurde sehr viel Brot gegessen. Immer wenn wir Hunger hatten, gab es etwas Brot. Das Brot wurde täglich oder jeden zweiten Tag frisch in großen, dünnen Fladen gebacken. Mutter buk. Es roch wundervoll und schmeckte köstlich. Manchmal gab es etwas Käse oder Joghurt dazu. Im Sommer tranken wir Magerjoghurt, in den wir Brotstücke, Gurken, Frühlingszwiebeln und Knoblauch tauchten. Ich spielte auf der Straße oft mit anderen Kindern. Ich kam gut mit ihnen zurecht und wurde akzeptiert. Nie hatte ich das Gefühl, daß ich anders war als sie. Ich tat mehr oder weniger das, was auch die anderen Kinder taten, Jungs und Mädchen. In einer Sommernacht, in der Vater nicht da war und wir auf dem Dach schliefen, wachte Mutter mitten in der Nacht auf und sah einen fremden Mann, der neben ihr stand. »Oh, hallo!« Dann erkannte sie ihn als einen alten Bekannten, dem Vater Geld schuldete. Die Menschen liehen sich oft etwas voneinander und zahlten es zurück, wenn sie konnten. 47
Dieser Mann wirkte verschlagen und heimlichtuerisch. Sein Aussehen gefiel Mutter nicht. »Oh, bist du wegen des Geldes gekommen?« fragte sie schnell und erhob sich sofort. Aber als sie sich ihm zuwandte, verschwand er. Sie weckte uns und die Nachbarn auf, und vier oder fünf Männer nahmen Stöcke und Steine zur Hand und gingen in den nahen Wald, um den Mann zu suchen. Aber sie fanden niemanden und kamen nach einer Weile zurück. Mutter war wütend auf Vater, weil er Umgang mit einem solchen Mann hatte und sie und die Familie in Gefahr brachte. Von dem Eindringling war nie wieder etwas zu hören oder zu sehen. Mutter fühlte sich in der Nachbarschaft normalerweise sicher. Die Menschen paßten aufeinander auf, und die Frauen schwatzten zu jeder Tageszeit miteinander. So wurden sie unter den gegebenen Umständen mit dem Leben fertig. Sie besuchten sich ständig gegenseitig in ihren Häusern. Sie leisteten einander praktische Hilfe. Wenn sich Mutter nicht gut fühlte, wurde immer für uns gesorgt. Unser Essen wurde gekocht, unsere Kleidung gewaschen, unser Haus saubergemacht. Auch die Männer halfen sich gegenseitig. Wenn Vater nicht da war und ein strenger Wintertag kam, fegte ein Mann den Schnee von Dach und Hof. Die Menschen mochten hungrig sein, aber es gab keine Isolation oder Unsicherheit. Die Grundbesitzer waren ungerecht, aber die Menschen kümmerten sich umeinander und halfen sich. Sie waren oft zusammen. Das Zusammensein war charakteristisch für diese Gemeinde. Die Frauen wuschen ihre Wäsche zusammen. Sie einigten sich auf einen Tag und brachten ihre Wäsche zum nahen Fluß. Dort wuschen sie sie auf den großen Steinen und plauderten während des Arbeitens miteinander. Einsamkeit war unbekannt. Sie holten 48
zusammen Wasser. An jedem Morgen nahm Mutter den Kwzeh, einen großen Steingutkrug mit schmalem Hals und Henkel, und holte Wasser aus dem Brunnen im Zentrum des Dorfs oder aus der Quelle, wo das Wasser klar, frisch und kühl war. Die jungen Mädchen in ihren bunten Kleidern sangen beim Wasserholen an den kühlen Sommerabenden, sagten Gedichte auf und erzählten sich Geschichten. In Winternächten besuchten sie sich gegenseitig nach dem Abendessen. Familien verbrachten mehrere Stunden in den Häusern von anderen. Sie unterhielten sich, die Frauen halfen einander beim Teppichweben, und sie aßen einige Trockenfrüchte, Melonen oder Kürbiskerne, die getrocknet und geröstet worden waren. Wir spannen Wolle. Nach dem Scheren der Schafe wurde die Wolle gewaschen und in der Sonne getrocknet. Ich hatte eine kleine Spindel, einen schmalen Stock, der in ein Rad eingesetzt war, an dem ich die Wolle aufhängte. Ich nahm immer ein bißchen Wolle, bis sie wie ein Faden war, drehte sie dann mit Hilfe der Spindel, wand die Wolle um den Stock und begann von neuem. Wenn der Stock voll war, nahm ich ihn heraus und fing von vorne an. Unter Verwendung unserer Knie oder der ausgestreckten Arme eines anderen wickelten wir die fertige Wolle zu Schlingen zusammen. Die Schlingen wogen jeweils zwei oder drei Pfund und wurden dann von Mutter gefärbt. Danach wickelten wir die Schlingen auf und machten Ballen daraus. Die ganze Wolle ging an den Grundbesitzer, weil die Schafe ihm gehörten. Ich konnte nicht verstehen, wie es anging, daß Mutter immer molk, aber wir nie Milch bekamen. Dasselbe galt für den in unserem Haus hergestellten Käse, für den Joghurt, für das Öl und ebenso für die Wolle, die geschnitten, verarbeitet, gefärbt und zu Teppichen gewebt wurde, auf denen wir 49
niemals saßen. Ich verstand das nicht. Alles ging an den Grundbesitzer. Mutter und Vater beteten dreimal am Tag, morgens vor Sonnenaufgang, nachmittags vor Sonnenuntergang und abends nach dem Sonnenuntergang. Beim Abendgebet kamen die Familienprobleme zur Sprache. Mutter bat Gott immer, ihre Kinder zu segnen (für die Jungs wurde zuerst gebetet), ihren Lebensunterhalt zu sichern, ihr Kraft zum Weitermachen zu geben und ihre Gesundheit und die der Kinder zu erhalten. Sie betete für jeden von uns gesondert. Ich hielt immer den Atem an und lauschte gespannt, um mitzubekommen, ob mein Name genannt wurde. Dann, obwohl mitunter halbherzig und zögernd ausgesprochen, hörte ich meinen Namen. Gott … Monir. Dann schwieg sie eine oder zwei Minuten lang oder murmelte irgend etwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Ich verstand nie, was Mutter bei ihrem Gebet für mich erbat. Ich schien nicht zu zählen. Ich war immer enttäuscht, wenn Mutter betete. Die Abendgebete dauerten fünfzehn bis zwanzig Minuten. Für Mutter war das Gebet Meditation, eine Befreiung von den täglichen Sorgen, Ängsten und Mühen, von ihrer Furcht vor dem Grundbesitzer und vor ihrem Ehemann.
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KAPITEL FÜNF Es war so weit gekommen, daß wir nicht länger im Dorf bleiben konnten. Wir waren verschuldet. Vater hat Getreide geborgt, damit wir Brot backen konnten, und die Schulden wuchsen an. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Wir hatten nichts, was wir verkaufen konnten, um an Geld zu kommen, und deshalb mußten wir wegziehen. Nach Teheran. Es gab Geschichten über Teheran, die Landeshauptstadt. Wir würden dort ein leichtes Leben haben, hörten wir. Jeder konnte Arbeit finden, sogar ich. Ja, es würde Arbeit für ein kleines Mädchen wie mich geben. Selbst ein blindes Mädchen konnte Arbeit finden, konnte ihren Lebensunterhalt verdienen. Ich konnte ein Baby in den Schlaf wiegen und mir auf diese Weise ganz leicht den Lebensunterhalt verdienen. Vater sagte, daß wir keine Zeit verlieren sollten. Wir sollten uns auf den Umzug vorbereiten, aber nicht darüber reden. Kein Wort zu irgend jemandem, abgesehen von den nächsten Angehörigen. Mein Onkel wurde unterrichtet, meine Tanten Zolikha und Asli und deren Männer. Kein Wort zu sonst jemandem. Niemand im Dorf sollte wissen, daß wir wegzogen, denn dann würde der Grundbesitzer davon erfahren, und wir wären in Schwierigkeiten. Vater suchte den Ladenbesitzer des Dorfs auf, der ihm vertraute und ihn respektierte. Er erklärte sich einverstanden, unsere Habe in seine Obhut zu nehmen und uns etwas Geld für die Reise zu geben. Der Gedanke war, daß wir nach Teheran gehen, uns ein Haus und Arbeit suchen und genug Geld sparen würden, um unsere Habe auslösen und den Grundbesitzer bezahlen zu können. Alle unsere 51
Wertsachen – die Kupferschüsseln, das Aftabeh, das große Kupfertablett, das Akbar und ich einmal im Fluß verloren hatten, die schwere Kupferpfanne, in der Mutter zu besonderen Anlässen den Reis zubereitete, die große Steppdecke, die wir über den Korsi legten, damit im Winter alle darunter schlafen konnten, einen alten Teppich, den Messingsamowar und einige andere Utensilien – wurden in Mutters große Truhe gelegt, verschlossen und als Pfand zum Haus des Ladenbesitzers gebracht. Er gab uns 1875 Rial, die wir für die Reise verwenden konnten. Vater hatte zwei Esel gemietet. Sie würden uns nach Dameh bringen, in die nächste Stadt. Dort konnten wir zwei andere Esel mieten, um nach Ghazvin zu kommen, eine größere Stadt, und von da aus würden wir mit einem Lastwagen weiterreisen. Es war alles sehr aufregend, aber wir mußten verschwiegen sein und den Mund verschlossen halten. Außerdem mußten wir mitten in der Nacht aufbrechen, wenn das Dorf schlief. Wir wurden mitten in der Nacht aufgeweckt. Meine Tanten waren da, um sich zu verabschieden. Flüsternde Stille. Wir durften die Lampe nicht mit auf den Hof nehmen – jemand mochte das Licht sehen und Verdacht schöpfen. Alles war bereit. Wir brachen auf. Als wir durch das Tor schritten, hielt Tante Zolikha einen Koran über uns und schüttete Wasser hinter uns aus. Dies war eine Sitte, die unsere Rückkehr unter einen guten Stern stellte. Aber wir sollten nicht zurückkehren. Sie weinte leise. Meine Eltern küßten die Tanten und sagten auf Wiedersehen, und sie küßten uns alle. Tante Zolikha sagte immer wieder, daß sie hoffte, uns bald wiedersehen zu können. Auf den beiden Eseln machten wir uns auf den Weg. Wir hatten leichte Kleidung bei uns, und unsere Tanten hatten 52
uns für die Reise etwas Brot, ein paar gekochte Eier und ein bißchen Käse mitgegeben. Vater ging zu Fuß. Meine Brüder, meine Mutter, die meine kleine, acht oder neun Monate alte Schwester im Arm hatte, und ich saßen auf den Eseln, die auch unsere Habe trugen. Wir mußten so schnell wie möglich und mit einem Minimum an Geräuschen aus dem Dorf herauskommen. Mein Vater sagte immer wieder: »In Gottes Namen, im Namen Gottes, daß uns nur niemand sieht, und möge uns Gott schützen und uns helfen, diese Reise zu bestehen.« Meine Mutter war still, und ich bin sicher, daß auch sie betete. Vielleicht war dies einer der wenigen Augenblicke, in denen die beiden übereinstimmten. Es war eine Krise, ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wir fühlten uns geborgen. Sie waren zusammen in schweigender Übereinkunft. Nur Vaters flüsternde Worte waren zu hören. Ich schlief bald ein und bekam bis zum nächsten Morgen nichts mit. Ich wachte auf. Wir waren noch immer unterwegs, Vater weiterhin zu Fuß. »Wir müssen irgendwo haltmachen und eine Pause einlegen«, sagte er. »Und wir müssen den Eseln eine Pause gönnen. Arme Tiere. Das ganze Gewicht und der ganze Weg, und sie haben nichts zu trinken bekommen.« Er fand etwas zu trinken für sie, und wir machten eine Pause, aßen ein bißchen Brot und tranken etwas Wasser. Wir waren auf dem Land. Kein Mensch in der Nähe, kein Mensch, der vorbeikam. Kein Lebenszeichen irgendwo. Bald brachen wir wieder auf. Vater war daran gelegen, daß wir uns so weit wie möglich vom Dorf entfernten. In seiner Nähe waren wir nicht sicher. Wir machten uns auf den Weg. Wir waren den größten Teil des Tages unterwegs und 53
kamen gegen Abend in Damen an. Vater fand ein Gasthaus für die Nacht, und wir nahmen zwei andere Esel, die uns nach Ghazvin bringen sollten. Als wir in Ghazvin eintrafen, konnte ich den dortigen Verkehrslärm hören. Riesige Lastwagen machten auf den staubigen Straßen ungeheuren Krach. Es war furchterregend. So viele Menschen, soviel Lärm. Es verblüffte und verwirrte mich. »Es ist soviel los hier«, sagte Mutter. »So viele Menschen auf der Straße, soviel Lärm.« »Warte nur, bis du Teheran siehst«, sagte Vater lachend. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie Teheran ist.« Vater war schon früher in Teheran gewesen. Er war sogar in Rasht am Kaspischen Meer gewesen, das noch weiter entfernt war als Teheran. Er hatte dort Arbeit gesucht, aber nichts Lohnendes oder Dauerhaftes gefunden. Aber diesmal würde es anders verlaufen. Er würde sein Glück machen. Mit der Familie war es anders. Er würde nicht an sich selbst denken, sagte er, sondern sich die ganze Zeit Gedanken über die Familie machen. Dies war schon lange sein Plan gewesen – die Familie mitnehmen und sein Glück in Teheran machen. Und inzwischen war auch Mutters Familie dorthin gezogen. Ahmad, Mutters mittlerer Bruder, arbeitete in einem Café. In einem Café. Man stelle sich das vor. Es mußte ihm sehr gutgehen. Ahmad würde Vater und Mutter helfen. Wir würden bald Arbeit finden. Gar kein Zweifel. Ich würde gleich anfangen können, ein Baby in einer Nanou, in einer Wiege, in den Schlaf zu schaukeln. Ich konnte das ganz leicht tun. Was gehörte schon dazu? Ich brauchte nur so dazusitzen und das Baby mit einer Hand in den Schlaf zu wiegen. Das war einfach genug. Kinder halfen Müttern immer, ein Baby in den Schlaf zu wiegen. Und das war in Teheran sehr von Wert. Es gab viele reiche Leute, die ein 54
Mädchen brauchten, das ihre Babys in den Schlaf wiegte. Ihre eigenen Kinder würden so etwas nicht tun – es ging ihnen zu gut, sie waren junge Damen und Herren. Wie konnte man von ihnen erwarten, daß sie ein Baby in den Schlaf wiegten? Aber ich konnte es tun. Sie hätten nichts dagegen, wenn ich es tat, Mutter und Vater hätten nichts dagegen, und ich hätte auch nichts dagegen und würde meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Wie war das? Sie brauchten sich also über mich keine Sorgen zu machen – ich würde mich selbst ernähren. Wir mußten warten, um die Esel zurückgeben zu können, und Vater mußte einen Lastwagen finden, der uns nach Teheran brachte. Es würde sehr aufregend werden, auf einem Lastwagen zu sitzen. Es warteten noch viele andere Leute mit ihrer Habe, alle am Straßenrand. Nach einiger Zeit wurde uns gesagt, daß wir die Nacht hier verbringen müßten – der Lastwagen würde erst am nächsten Tag fahren. Jetzt mußten wir uns ein Rasthaus suchen. Wir fanden eins. Es gab einen großen Saal für Frauen und einen für Männer. Diese Nacht drängten wir uns in diesem schlecht riechenden Raum eng aneinander, und neben uns schliefen viele andere Frauen und Kinder. Sie rochen alle, und die Kinder weinten manchmal. Ich spürte, daß Mutter wegen all ihrer Sorgen und des Lärms überhaupt nicht schlief, aber wir Kinder schliefen. Am Morgen mußten wir früh zur Stelle sein, wenn der Lastwagen abfuhr. Wir wurden alle mitgenommen. Ich wurde von Vater hochgenommen und auf den Lastwagen gehoben. Vater mußte mit dem Fahrer handeln, damit wir mitfahren konnten. Wir hatten nicht genug Geld, aber wir mußten nach Teheran, konnten nicht in Ghazvin gestrandet zurückbleiben. Schließlich erklärte sich der Fahrer 55
einverstanden, uns mitzunehmen, und Vater war dankbar. Wir fuhren ab. Es war sehr holprig. Unser Rückgrat tat uns weh. Mutter sagte, daß auch ihr der Rücken weh tat. Der Lastwagen war vollgepackt mit Menschen. Ich konnte kaum die Beine bewegen, um meine Sitzposition zu ändern. Kinder weinten. Es hing ein Hauch von Elend in der Luft, von Unsicherheit, Ängstlichkeit, Entfremdung. Jeder war für jeden ein Fremder. Wir waren es nicht gewohnt, mit Fremden zusammenzusein oder sie zu treffen. Die Menschen gaben sich zurückhaltend. Kinder weinten. Ich weinte nicht. Ich saß nur da. Ich war Schweigen gewohnt, war es gewohnt, still zu sein. Ich saß nur da. Die Leute vergaßen manchmal, daß ich da war, weil ich keinen Lärm machte oder mich beklagte. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Der Lastwagen fuhr immer weiter, rumpelnd und ruckend. Es war staubig und sehr unbequem. Der Wagen schüttelte uns ständig durch, fuhr auf einmal steile Hügel hinunter und wieder hinauf, so daß wir das Gefühl hatten, jeden Augenblick vom Wagen fallen zu können. Und es war heiß, die Sonne brannte uns auf die Köpfe. Schließlich erreichten wir Abgram, wo wir zum Mittagessen haltmachten. Ab hieß Wasser, gram hieß warm – mit anderen Worten, es gab hier heiße unterirdische Quellen. Die Menschen kamen von überall nach Abgram, weil sie glaubten, daß die heißen Bäder alle Arten von Krankheiten heilten. Jetzt hatten wir Gelegenheit, die Bäder zu besuchen. Jeder wollte die Chance wahrnehmen, in diesen Wassern zu baden. Wir gingen in ein Gasthaus. Der Fahrer bestellte Abgusht. Abgusht wurde in kleinen Portionstöpfen serviert, und mein Bruder Ali sah den Fahrer so hungrig 56
an, daß dieser ihm etwas anbot. Mein Vater erzählte uns davon. Der Fahrer war ein so großzügiger Mann, gab diesem Kind etwas zu essen – da konnten wir mal sehen, wie gütig Menschen sein können. Am Nachmittag gingen wir in den unterirdischen Quellen baden. Das Wasser war salzig, warm und angenehm. Wir blieben noch eine Nacht in Abgram, und am nächsten Tag brachte uns derselbe Lastwagen nach Teheran. Ich weiß nicht mehr viel über die Fahrt von Abgram nach Teheran. Vielleicht schlief ich den ganzen Tag. Vielleicht spürte ich, daß wir uns dem Land meiner Leiden näherten. Ich flüchtete in den Schlaf. Wir erreichten Teheran. Wir wurden in einer Wüste abgesetzt. Ich erinnere mich daran, daß noch ein paar andere Familien mit uns auf diesem wüsten Gelände waren, bei dem es sich um den Hinterhof einiger Häuser handelte. Die Menschen, die in den Häusern wohnten, hatten ihren Abfall auf das Gelände geworfen, und meine Mutter und die anderen Frauen sahen sich den Müll an und fanden eine Zahnbürste. Sie sahen diese Zahnbürste und wußten nicht, um was es sich handelte. Wozu war sie gut? Sie sprachen darüber, wie reich die Leute hier waren. Seht euch nur an, was sie alles wegwerfen. Wir können uns glücklich schätzen, hierher gekommen zu sein. Wir werden unser Glück machen. Dies wird das Ende unserer Leiden sein, Gott sei Dank. Gott ist groß, sagten sie immer wieder. Ich berührte die Zahnbürste, über die sie sprachen. Ich wollte alles wissen, alles, worüber sie redeten. Ich wartete immer die Zeit ab, bis ich einen Gegenstand irgendwie in die Hände bekommen und berühren konnte, damit ich wußte, was es war. Ich wartete auf den richtigen Zeitpunkt, um danach zu suchen, um danach zu fragen. Wir mußten die Familie meiner Mutter finden, die 57
wußte, daß wir kamen. Aber das würde dauern. Ich erinnere mich, am Straßenrand gestanden und diese Autos gehört zu haben, die in die eine, dann in die andere Richtung fuhren, in die eine, dann in die andere, hin und her. Ich konnte nicht verstehen, wie es so viele Autos in der Welt geben konnte – all diese verschiedenen Autos, die vorbeikamen, als ich dort stand. Sicherlich konnte es nicht so viele Autos in der Welt geben. Ich kam zu der Überzeugung, daß es nur zwei oder drei waren, die zuerst in die eine Richtung fuhren und dann in die andere zurückkehrten. Das mußte es sein. Aber ich konnte den Sinn dieses Tuns nicht verstehen. Ich stand nur in völliger Verblüffung da. Vielleicht fahren sie nur, um eine Schau zu machen, dachte ich. Wenn früher ein Auto ins Dorf kam, was nur einmal oder zweimal im Jahr passierte, kamen alle herbeigelaufen, um es zu betrachten. Das war es. Sie fuhren nur so herum, damit Leute wie wir sie betrachten konnten, das mußte es sein. Aber sie kommen so schnell, dachte ich, sie sind sehr geschickt. Mein junger Verstand konnte sich nicht vorstellen, daß es so viele Autos in Teheran gab. Es war wie Magie. Und die Straßen, alle glatt und eben. Sie waren nicht hüglig und löchrig und voller scharfkantiger Steine wie im Dorf. Die Fußwege waren wunderbar gerade und eben – ich konnte auf ihnen entlangrennen. Mutter konnte nicht aufhören, über die Dinge zu reden, die sie auf dem wüsten Gelände entdeckte. Leere Büchsen, zerbrochene Kämme. Dieser Kamm, den sie fand, war nicht sehr beschädigt. Es fehlten nur ein paar Zinken, das war alles. Sicher, er war schmutzig, aber sie konnte ihn waschen. Es war ein ungewöhnlicher Kamm. Er war nicht aus Holz wie ihr eigener Holzkamm. Er war aus etwas anderem gemacht. Vater sagte, daß es Plastik wäre. Was das denn bedeutete, wollte Mutter wissen. Wie auch 58
immer, er war ganz anders als die unseren. Er war sehr hübsch. Hübsche Farbe. Sie war aufgeregt. Sie konnte es nicht abwarten, ihre Familie zu treffen. Ich frage mich, was für Dinge sie haben, sagte sie immer wieder. In dieser Wildnis. Die Menschen in den Häusern betrachteten uns aus ihren Fenstern. Wir fanden irgendwo ein paar Stücke trockenes Brot. Sie lachen über uns, sagte Mutter, aber sie war nicht beleidigt. Schließlich fanden wir ein Zimmer in einem Haus. Die Vermieterin arbeitete im Krankenhaus. Sie pflegte morgens, wenn sie das Haus verließ, hochhackige Schuhe zu tragen. Ich hörte gerne zu, wenn sie mit ihren hohen Absätzen kleine, schnelle Schritte machte. Mutter fand ihre Familie und ließ mich immer zu Hause, wenn sie ging und sie besuchte. Ich blieb den ganzen Tag allein zu Hause. Da ist etwas Brot, sagte Mutter, wenn du Hunger hast, iß etwas davon. Ich fühlte mich elend, ausgeschlossen, aufgegeben. Ich war kein Teil der Familie. Meine Brüder und meine kleine Schwester gingen mit ihr, aber ich wurde zurückgelassen. Ich glaubte, es würde mir das Herz brechen. Ich weinte immer in diesem Haus, allein vor mich hin. Vater war natürlich den ganzen Tag unterwegs, um Arbeit zu suchen, und Mutter besuchte meine Onkel sehr oft. Wenn sie zurückkamen, hatten die anderen Kinder, besonders meine Brüder, Geschenke bekommen, und manchmal sagte Mutter: »Diese Münze ist für dich, aber ich bewahre sie für dich auf.« Aber ich wußte, daß sie das nur erfand – sie hatten ihr nichts für mich gegeben. Ich war sehr traurig, zu Tode betrübt. Wenn sie mich gelegentlich mitnahm, fühlte ich mich ausgeschlossen, weil ich die Sprache nicht verstand. Mutter sprach Kurdisch mit ihrer Familie. Ich konnte kein Kurdisch. Ich sprach Türkisch, die Sprache meines Vaters. 59
Deshalb fühlte ich mich vollkommen ausgeschlossen. Ich hörte Mutter immer mit der Nachbarin über alle Arten von Wundern reden. Sie blickten aus dem Fenster. Einmal sahen sie einen Lastwagen, der Steine ablud. Sie sahen, wie sich der Laster hob, höher und höher, und die Steine ganz allein ablud. Sie konnten niemanden sehen, der ihn hochhob. Und dann kam er, abermals ganz von selbst, allmählich wieder nach unten. War das nicht verblüffend? Es war reine Magie. Wie konnte das geschehen? Sie konnten viele Dinge in Teheran mit ihren eigenen Augen sehen, die sie nicht geglaubt hätten, wenn sie ihnen nur beschrieben worden wären. So aber sahen sie mit eigenen Augen derartige Dinge, die in Teheran passierten. »Wir müssen dir dies und das zeigen«, sagten sie und redeten dann immer ganz aufgeregt darüber. »Du mußt es selbst sehen«, sagten sie zur nächsten Freundin. »Es passiert wirklich, und da ist kein Mensch, der das Ding hochhebt. Es könnte nicht von hundert Männern hochgehoben werden, es geht ganz von selbst nach oben und leert das Zeug aus, all diese Steine, Tonnen davon, und dann kommt es wieder von selbst nach unten. Wer hätte gedacht, daß ich solche Dinge in meinem Leben erleben, daß ich solche Dinge sehen könnte.« »Es geht durch das Drücken eines Knopfes oder Hebels irgendwo«, sagte Vater dann. »Der Fahrer macht es.« Selbst dann rief Mutter noch: »Wie kann das sein?« »Nun, warte nur ab, es gibt noch andere, viel verblüffendere Dinge in Teheran«, sagte Vater amüsiert. »Du hast noch gar nichts gesehen.« »Noch verblüffender als dies? Das glaube ich nicht.«
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KAPITEL SECHS Jetzt, da sie in der Nähe ihrer Familie war und so viele verblüffende, neue Dinge sah, war Mutter glücklich, voller Leben und Energie. Alles faszinierte sie, und sie hatte ihre Freude daran. Vater wurde allmählich desillusioniert und entmutigt. Er konnte keine Arbeit finden, keine dauerhafte und gutbezahlte, wie er erwartet und gehofft hatte. Er konnte hier und da, dann und wann kleine Arbeiten erledigen wie beispielsweise das Leeren und Säubern von Bassins in den Gärten der Leute. Er nahm zwei große Eimer, ging die Straßen hinunter und rief Ab hose keshi – Bassinreiniger –, so daß die Leute, die ihr Bassin geleert und gereinigt haben wollten, herauskamen und ihn beschäftigten. Wenn die Arbeit getan war – sie dauerte vielleicht ein paar Stunden –, gaben sie ihm etwas, gelegentlich ein bißchen Geld, und das war es dann. Er ging weiter und bot wieder seine Dienste an. Manchmal bekam er tagelang keine Arbeit, aber er ging trotzdem umher und lernte auf diese Weise Teheran gut kennen. Es waren noch viele andere wie er auf dem Markt. Mitunter überholten ihn zwei oder drei von ihnen in derselben Straße, und so gab es nicht viele Aussichten auf Arbeit. Viele Menschen kamen aus den Dörfern nach Teheran und suchten Arbeit. Einige lebten auf der Straße. Sie hatten kein Dach über dem Kopf. Wir gehörten zu den Glücklichen. Wir hatten Verwandte hier, die uns eine Unterkunft besorgt hatten, und wir aßen besser, als wir es im Dorf getan hatten – durch die Unterstützung der Familie meiner Mutter, meiner Onkel und Großmutter. Großmutter konnte mich von Anfang an nicht leiden. Sie 61
war abscheulich zu mir, redete immer in scharfem Tonfall mit mir. Sie gab mir zu verstehen: Was tust du hier? Wir hätten dich nicht gebraucht. Ich hatte Angst vor ihr. Mutter nahm mich selten mit zu ihr. Ich wurde immer zu Hause allein gelassen, es sei denn, es lag ein besonderer Anlaß vor oder meine Mutter wollte über Nacht bleiben, und Vater wußte nicht, wann er zurückkommen würde. Manchmal schlief ich einfach, wenn ich allein gelassen wurde. Es brach mir das Herz, wenn ich daran dachte, daß ich meine geliebte Tante Zolikha zurückgelassen hatte und zu dieser schrecklichen Großmutter gekommen war. Mutter schämte sich meiner. Sie fühlte sich unzulänglich, wenn ich bei ihr war, besonders in Anwesenheit ihrer Mutter. Ich war eine Peinlichkeit. Sie wünschte, ich würde irgendwie vom Angesicht der Erde verschwinden. Ich war eine Schande. Vielleicht fühlte sie sich schuldig, weil sie meine Erblindung nicht verhindert hatte, weil sie mich geboren hatte. Da ich nun aber einmal da war, wußte sie nicht genau, was sie mit mir anfangen sollte. Wenn ich nur verschwinden würde. Wenn sie Magie wirken, mich mit einem Zauber belegen könnte, dann würde sie es tun. Einmal versuchte sie, mich zu beseitigen. Ich muß fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Wir hatten an diesem Tag einen langen Weg zu gehen. Sie hatte sich um eine Anstellung bemüht, war aber nicht erfolgreich gewesen. Sie war enttäuscht, mürrisch, müde. Es war ein heißer Tag, ein langer Weg. Völlig umsonst. Sie murrte, schimpfte, verfluchte mich unterwegs. Die Straßen waren still. Wir kamen an Gärten vorbei. Ich konnte die Bäume hören, den Wind, der die Blätter zum Rascheln brachte. Die Gärten zogen sich lang hin. Kein Mensch war in der Nähe. Wohin sind die Leute alle gegangen? fragte ich mich. Niemand lebt in diesen 62
Häusern. Wo sind sie? Ich fühlte mich unsicher, weil ich niemanden in der Nähe hörte. Es war der reiche Teil der Stadt, große Häuser, ausgedehnte Gärten, wenige Menschen. Dort, wo wir wohnten, gab es immer viele Menschen. Ich ging an ihrer linken Seite, hielt mich an ihr fest, war ganz still. Ich wagte nicht, etwas zu sagen. Es war zu gefährlich, etwas zu sagen. Ich war besorgt, ängstlich, lauschte nach einem menschlichen Laut. Sie schimpfte weiter auf mich ein, verfluchte mich. »Du bist eine Plage. Du bist ein Ärgernis. Was willst du von mir? Warum läßt du mich nicht in Ruhe? Warum gehst du nicht einfach weg und läßt mich in Frieden?« So drückte sie sich aus. Ich war alarmiert, furchterfüllt. Besonders, weil niemand in der Nähe war. Würde irgend jemand vorbeikommen? Gab es irgendwo irgendein Lebenszeichen? Ich strengte mich an, um etwas zu hören. Sie wollte, daß ich verschwand, einfach verschwand. Aber wohin? dachte ich bei mir. Wie? Aber ich bin hier, ich lebe. Ich kniff mich, um mich zu vergewissern, daß ich es spüren konnte – den Schmerz, meine Existenz. Es war ein Herbsttag. Die Sonne schien, ein angenehmer Wind wehte. Wir kamen an ein Loch im Boden des Gehwegs auf meiner Seite, dicht an der Mauer. Ich spürte es, als wir herankamen. Sie schob mich darauf zu, zog mich, stieß mich in die Richtung dieses Lochs. Sie wollte mich hineinwerfen. Ich hielt mich an ihrem Arm fest, klammerte mich an ihren Schador. Sie stieß meine Hand weg von ihrem Arm. Ich klammerte mich mit beiden Händen an ihren Schador und stand so fest da, wie ich nur konnte, panikerfüllt. Wir waren stehengeblieben. Ich hatte ihren großen Wunsch gespürt, mich loszuwerden. Ich 63
fühlte ihre Bereitschaft, mich loszuwerden. Ich sagte nichts. Es war zu gefährlich. Ich mußte ganz ruhig atmen. Was jetzt? fragte ich mich, als wir dort standen. Sie murmelte weiter, daß sie genug von mir hätte, daß sie wünschte, ich würde nicht existieren. Was wollte ich von ihr? Warum ließ ich sie nicht in Ruhe? Sie gab mir einen Stoß. Ich spürte meinen Herzschlag. Ich hielt die Luft an. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen, als seien diese dort angewachsen. Nichts konnte sie bewegen. Ich war wie angenagelt. Schweigend stand ich da. Ich mußte an Gefahrenstellen schweigen, wenn ich überleben wollte. Das hatte ich schon früh gelernt. Ich durfte nicht zeigen, wie angstvoll und hoffnungslos ich mich fühlte. Ich schrie nicht, schlug sie nicht, belegte sie nicht mit Schimpfnamen. »Was du durchmachst, ist nicht meine Schuld, du unselige Frau.« Allmählich setzte sich Mutter wieder in Bewegung, immer noch murrend und fluchend, und ich bewegte mich mit ihr. Wir gingen an den Gärten der Leute vorbei, die sich meilenweit zu erstrecken schienen. All dieser Raum, all diese Gärten und keine Menschen darin, wunderte ich mich. War die Leere, die ich im Baum spürte, meine eigene Leere an menschlicher Wärme, Anteilnahme und Fürsorge? All diese Gärten existierten ohne Menschen – für was denn? Den ganzen Weg klammerte ich mich an sie und schleppte mich hinter ihr her. Kein Wort der Beschwerde. Ich fühlte mich nicht müde oder durstig. Das konnte ich mir nicht erlauben. Ich hatte ein Gefühl der Dankbarkeit, als wir nach Hause kamen und ich noch lebte. Ich mußte mich ständig schweigend über Wasser halten. Mutter nahm mich mit zur Hochzeit meines Onkels. Es 64
gab ein Zimmer für die weiblichen Gäste und ein anderes für die Männer. Meine Mutter nahm mich mit, weil sie mich nirgendwo lassen konnte, aber sie hätte mich lieber nicht mitgenommen. Aber ich war da. Sie setzte mich in eine Ecke des Zimmers. »Setz dich da hin und rühr dich nicht vom Fleck!« sagte sie. Nach und nach trafen die Gäste ein, und der Raum füllte sich. Ich saß eine lange Zeit in dieser Ecke. Niemand redete mit mir. Ich war klein. Vielleicht bemerkte mich niemand. Das Zimmer war mit Menschen vollgepackt, und die Party war in vollem Gange. Ich kam plötzlich zu der Ansicht, daß es nun reichte. Ich würde nicht bis in alle Ewigkeit in dieser Ecke sitzen, ganz allein und isoliert in diesem vollen Zimmer. Also stand ich auf und bewegte mich Stück um Stück nach vorne. Die Leute saßen Seite an Seite auf dem Fußboden. Frauen in ihren hübschen Kleidern. Das Zimmer war voll, und sie reichten sich Tee und Süßigkeiten. Ich drängte mich weiter vor, stieg über die Beine und Schadors der Menschen und bewegte mich ganz nach vorne. Es war ein sehr großes Zimmer, und es gab Hunderte von Gästen, die dicht aneinander gedrängt in vielen Reihen dasaßen. Nach einer Weile fingen die Leute an, auf mich aufmerksam zu werden und mir weiterzuhelfen. Schließlich war ich ganz vorne und setzte mich dort hin, vor alle anderen. Mutter eilte herbei. Sie war wütend auf mich. »Du bist über alle hinweggestiegen und hierher gekommen!« wies sie mich mit leiser Stimme zurecht. Ihr Ton war scharf, beißend, bösartig. Ich gab keine Antwort. Dann bekam ich einige 65
Süßigkeiten und durfte sitzen bleiben. Ich wurde in Teheran ständig herabgesetzt und beiseite geschoben, und dazu kam noch, daß ich keine Anstellung gefunden hatte. Kein einziges Baby in der Wiege, das ich schaukeln konnte, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben. Ich hatte meine Eltern enttäuscht. Mein Bruder hatte auch nichts gefunden. Sie hatten gehofft, daß er irgendwo eine Art Lehre machen könnte als Schreiner oder als Schneider, daß er irgendeine Fähigkeit erlernen könnte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und hoffentlich in der Zukunft unsere Eltern und die Familie zu unterhalten. Er war gerade acht oder neun Jahre alt. Vater versuchte alles, alles, was man ihm vorschlug oder was er sich selbst ausdachte. Er versuchte es als Bauarbeiter. Er ging jeden Morgen los und stellte sich in eine Schlange an einer bestimmten Stelle am Straßenrand, wo die Arbeiter ausgewählt wurden. Angenommen, ein Arbeitgeber brauchte zehn Leute, und es standen etwa fünfzig in der Schlange, dann wählte er diejenigen aus, die am stärksten wirkten. Mein Vater wurde nie ausgewählt, weil er nicht stark aussah und nicht groß und kräftig gebaut war. Er ließ die Idee wieder fallen. Ich erinnere mich an seine tägliche Rückkehr, nachdem er stundenlang in der heißen Sonne in der Schlange gestanden hatte. Mutter war jedesmal zu Tode betrübt. Ich konnte ihr tiefes Ablehnungsgefühl und ihre Hoffnungslosigkeit spüren. Sein Körper hatte ihn scheitern lassen. Er war nicht zu gebrauchen, weil er ein schwächlich, zerbrechlich wirkender Mann war. Ich hatte das Gefühl, daß er statt seines Körpers lieber seinen Verstand benutzt hätte, wenn ihm Gelegenheit dazu 66
gegeben worden wäre. Vielleicht hätte er einen guten Akademiker abgegeben. Er war ehrlich, geradeheraus, sensibel. Er war intelligent und phantasievoll. Er war bereit, Risiken einzugehen. Er versuchte alles. »In dieser Welt muß man ein Schurke sein, um Erfolg zu haben, und das bin ich nicht«, sagte er manchmal in einem Anfall von Wut. Der Niedergang meines Vaters begann zu diesem Zeitpunkt, Stück für Stück. Er wurde immer entmutigter, immer enttäuschter. Manchmal kam er nach Hause mit ein paar trockenen Broten, die er als Gegenleistung für irgendeine Arbeit in einem Haus oder für das Leeren eines Bassins bekommen hatte. Wir weichten das Brot auf, schütteten etwas Suppe oder Ähnliches darüber und aßen es. Ziemlich oft kam er mit leeren Händen nach Hause, und dann schwieg er und wollte mit keinem reden. Ich glaube, er schämte sich. Mitunter verzehrten wir Rosinen oder Erdnüsse, die Mutter für Notfälle aufbewahrt hatte, manchmal einfach nur trockenes Brot, das wir in Wasser tauchten. Mein Vater fühlte sich besonders unzulänglich, wenn er vor Mutters Familie stand. Er hatte ein starkes Versagergefühl. Einer meiner Onkel, Onkel Ahmad, derjenige, der in einem Café arbeitete, besaß ein Haus mit zwei Zimmern. Acht oder neun Personen lebten dort. Ständig kamen und gingen Verwandte, die sie besuchten. Manchmal war das Haus während des Tages voller Menschen. Ständig kamen Leute vom Land, um über Nacht oder für einen Tag zu bleiben. Vater beschloß, daß wir umziehen müßten, um Arbeit für ihn zu finden. Er wollte weg von Mutters Familie, die ihn nicht wirklich mochte. Sie fühlten sich nicht wohl in seiner Gegenwart. Vater fühlte sich unbehaglich bei ihnen und war sehr unglücklich, weil er entwurzelt worden war 67
und seine Familie in Kahleh zurückgelassen hatte. Er sprach kein Farsi, die Sprache, die in Teheran gesprochen wurde, und fühlte sich als Fremder, der fehl am Platz war. Er war ein Türke aus der türkischen Minderheit im Iran, und meine Mutter war Kurdin aus der kurdischen Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung sprach Farsi. Die Türken wurden als einfältige Rasse betrachtet. Viele Witze über sie machten die Runde, die darauf hinausliefen, daß sie dumm wie Esel waren. Deshalb trat man meinem Vater oft feindselig gegenüber. Schließlich fand er für uns eine Wohnung im oberen Teil der Stadt. Es war noch immer eine Arbeitergegend. Er hatte dort jemanden kennengelernt, der eine Garage leitete, ein Depot, in dem auch Reparaturen ausgeführt wurden, und der einen Mann brauchte, der darauf aufpaßte, und so übernahm Vater den Job. Es gab eine Werkstatt mit einem Souterrainzimmer, in dem wir gleich neben der Garage wohnen konnten. Wir zogen ein. Der Garagenmanager hieß Mashhadi Akbar, was darauf hindeutete, daß er Mashad besucht hatte, die heilige Stadt des Iran. Ob er wirklich Mashad besucht hatte oder nicht, war uns unbekannt. Viele Personen- und Lastwagen fuhren in die Garage und parkten für kurze Zeit, und manchmal mußte Vater mitten in der Nacht aufstehen und die Garagentore öffnen, damit die Leute rein- oder rausfahren konnten. In Sommernächten schliefen wir auf dem Vorhof der Garage im Freien. Wir schlossen die Tore, legten das Bettzeug auf dem Boden aus und schliefen. Eines Nachts mußten wir alle aufstehen und unsere Bettrollen zusammenpacken, weil der Garagenbesitzer eingetroffen war. Vater sagte, daß der Garagenbesitzer, ein junger Mann, ein sehr netter Mensch wäre. Er sprach mit Vater und behandelte ihn höflich, und so hatte Vater großen Respekt vor ihm. 68
Manchmal gab der Eigentümer Vater beim Plaudern irgendein Trinkgeld. Er war ein sehr umgänglicher und bescheidener Mann, fand Vater. Vater verdiente in der Garage nicht viel, und so begann Mutter, als Waschfrau zu arbeiten. Sie ging in Häuser, wusch die Kleider der Leute und bekam etwas dafür – manchmal ein paar Kilo Reis, Zucker, ein bißchen Geld oder etwas anderes, das sie mit nach Hause brachte. Sie ging am frühen Morgen los und kehrte gegen ein oder zwei Uhr zum Mittagessen nach Hause zurück. Normalerweise brachte sie irgend etwas mit, das man ihr zum Mittagessen gegeben hatte, und teilte es mit uns. Die Mittelklasse konnte sich einmal oder zweimal in der Woche eine Waschfrau leisten, um ihre Kleider und Bettsachen waschen zu lassen, und so machte sich Mutter am frühen Morgen auf den Weg und kam mitunter auch erst am Abend wieder nach Hause. Sie mußte den ganzen Tag arbeiten. Einige Haushalte hatten auch ein Dienstmädchen, das dort lebte und der Herrin des Hauses behilflich war. Manchmal begleitete ich Mutter, und zwar in die freundlichen Haushalte, in diejenigen, die Mutters Lieblingskunden waren. Mutter benutzte eine große, runde Schüssel aus Gußeisen. Zuerst spülte sie die Kleider in kaltem Wasser, goß dann heißes Wasser in die Schüssel und wusch die Kleidungsstücke eins nach dem anderen, wobei sie ihre Hände und ein Stück Seife benutzte. Sie hockte sich hin, meistens im Garten, und rubbelte eins nach dem anderen durch, bis alles sauber war. Sie wusch die Teile einmal, wechselte das Wasser und wusch sie dann ein zweites Mal. Danach spülte sie die Kleider dreimal in klarem Wasser, wobei sie weiterhin die gußeiserne Schüssel benutzte, und wenn alle Seifenlauge herausgeschwemmt war, nahm sie im Hose – im Gartenbassin – eine letzte 69
Spülung vor. Jeder Haushalt hatte ein Bassin mit einer Fontäne in der Mitte. Diese Bassins waren es, die Vater säuberte. Die Leute wechselten das Bassinwasser einmal in der Woche, und so wurden die Kleider zum Abschluß in diesem Bassin gespült, um sie ganz sauber zu bekommen. Die weißen Teile wurden noch einmal mit einem Aufheller in der Schüssel durchgespült. Dann wurde alles aufgehängt. Es war sehr harte Arbeit, die vier bis sechs Stunden dauern konnte, abhängig von der Menge der Kleidungsstücke, die zu waschen war. Die Leute bevorzugten es, wenn Mutter zweimal in der Woche kam, und so arbeitete sie fünf Stunden lang hintereinander. Auch im Winter erledigte sie die Wäsche draußen im Garten, in der frostigen Kälte. Mutter hockte sich einfach nieder und wusch drauflos. Gelegentlich gestattete ihr die Familie das Waschen im Badezimmer. Dies war ein großer Vorzug. Es herrschten wundervolle Arbeitsbedingungen, wenn ihr erlaubt wurde, soviel heißes Wasser zu benutzen, wie sie wollte, dachte Mutter. Manchmal spülte sie die Kleider in warmem Wasser. Im Winter war das wunderbar. Sie sprach darüber, wie großzügig und gütig diese Leute waren, daß sie es ihr ermöglichten, das Badezimmer zu benutzen und soviel heißes Wasser zu nehmen, wie sie brauchte. Sie brachte immer alte Kleidungsstücke und andere Sachen für sich und uns mit nach Hause, die ihr die Hausherrinnen gegeben hatten. Sie hatte eine Lieblingskundin, die jüdisch war. Das allgemeine Vorurteil zu jener Zeit besagte, daß Juden streng, gemein und schmutzig waren, so daß sich die Menschen üblicherweise von ihnen fernhielten, aber Mutter fand, daß diese Frau das genaue Gegenteil war. »Sie ist sauberer als all diese Muslims, die behaupten, 70
Muslims zu sein«, sagte sie. »Sie ist überhaupt nicht streng oder gemein. Sie gibt mir ein großzügiges Mittagessen. Sie weiß, daß ich es mit meinen Kindern teile. Und mehr noch, wenn sie mir etwas zu essen gibt, deckt sie es zu. Ich verstehe nicht, warum. Wenn ich es nach draußen trage, deckt sie es für mich zu. Ich frage mich, warum.« Sie erkannte nicht, daß ihre Arbeitgeberin vielleicht dachte, Mutter könnte verlegen sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß irgend jemand soviel Mitgefühl mit ihr hatte. Sie war sehr glücklich mit dieser Familie. Die Hausherrin war gütig, behandelte sie mit Anstand und Würde, zeigte Menschlichkeit. »Viel besser als einige dieser muslimischen Frauen«, ließ sich Mutter weiter darüber aus, »als einige dieser sogenannten Muslime. Einige geben mir nur kärgliche Überbleibsel zum Mittagessen, aber nicht so die jüdische Dame. Nein, sie gibt mir einen kräftigen Schlag gleich aus dem Topf.« Sie wußte, daß Mutter das Essen mit uns teilen würde. »Sie teilt mir meine Portion zu«, fuhr Mutter fort. »Sie nimmt das Essen aus dem Topf, eine große Schüssel voll, mehr als sie sich selbst auftischt, und stellt meine Portion zur Seite, bis ich gehe. Dann stellt sie das Essen auf ein Tablett und deckt das Tablett mit einem Tuch zu.« Mutter kam nicht darüber hinweg. Sie deckt das Tablett mit einem Tuch zu! Sie blickte diesem Besuch jede Woche freudig entgegen. Sie ging mit großem Enthusiasmus hin, und wir bekamen einmal in der Woche eine gute Mahlzeit. Normalerweise handelte es sich um Reis mit irgendeinem Eintopf. Wir aßen Brot dazu und teilten die Schüssel unter uns fünf auf – Mutter, Vater, meine beiden Brüder und ich bekamen etwas. Das Baby, 71
meine Schwester, die jetzt ein Jahr alt war, wurde kaum mitgezählt. Sie wurde immer zu Hause gelassen. »Oh, saug nicht so«, hörte ich meine Mutter immer sagen. »Ich habe keine Milch, laß los. Wenn sie saugt, fühle ich mich ganz schrecklich.« So blieb das Baby für längere Zeit hungrig. Nun, was soll sie sonst essen? dachte ich und wurde von einem Gefühl der Verzweiflung überkommen. Sie schrie und weinte auch nicht. Ich kann mich an kein Weinen erinnern. Sie war wie ich, lag einfach nur da. Sie schlief nur. Auf irgendeine Weise, ich weiß nicht wie, hielt sie sich am Leben. Der Tag, an dem mich Vater zum Betteln auf die Straße brachte, war ein Sommertag. Es war früher Morgen, und ich wußte gar nicht, was geschah. Vater forderte mich auf, mit ihm zu kommen. Ich war überrascht. So früh am Morgen? Ich war gerade erst aufgewacht. Wohin brachte er mich? Wir gingen zusammen die Treppe hinunter. Er hielt meine rechte Hand. Am Scheitelpunkt der Straße bogen wir nach rechts. Es war eine geschäftige Straße, der Verkehr lärmte, die Sonne schien. Ich wußte nicht, wohin wir gingen. Wir gingen noch ein Stück weiter, bis wir die Ampel erreichten, wo wir nach links überwechselten. Vater hatte bis hier geschwiegen, genauso wie ich. Ich war immer still. »Komm und setz dich hierhin«, sagte er dann. »Dort.« Er setzte mich an die Ecke dieser geschäftigen Kreuzung, dicht an die Hauswand. »Sitz anständig.« Ich schlug die Beine übereinander. »So ist es besser«, sagte er. Dann nahm Vater meine rechte Hand und legte sie auf mein linkes Bein. »Halte die Hand geöffnet, so. Die Menschen werden Münzen hineinlegen.« Er gab mir einen 72
kleinen Stoffbeutel. »Tu das Geld in diesen Beutel und halte ihn in der anderen Hand. Halte ihn ganz fest, hörst du? Ich komme und sehe bald wieder nach dir.« Er war verlegen. Seine Stimme bebte. Seine Hand zitterte, als er meine Hand in meinem Schoß öffnete, und bevor ich Gelegenheit bekam, etwas zu sagen, war er verschwunden. Er hatte mich verlassen. Ich war aufgegeben, verloren, vergessen. Ich fühlte mich von meiner Familie abgeschlossen, von allen, die ich kannte. Ich saß an dieser fremden, betriebsamen, verwirrenden Straßenecke. Wie kann ich wieder Kontakt mit ihnen aufnehmen? fragte ich mich. Ich konnte es nicht. Ich hatte die Verbindung zu ihnen für immer verloren. Ich hätte schreien können. Komm zurück, Vater, verlaß mich nicht, bleib bei mir, bring mich nach Hause, bleib bei mir, bleib hier, jemand soll bei mir bleiben, jemand, den ich kenne, laßt mich hier nicht zurück. Ich konnte meinen Herzschlag hören. All dies war so plötzlich, auf so dramatische Weise passiert. Für einen Augenblick erschien es wie ein Traum. Es war nur ein böser Traum, dachte ich. Ich würde gleich aufwachen, und alles würde vorüber sein. Ich kniff mich, um aufzuwachen. Immer wieder fielen Münzen in meine Hand, wenn Leute vorübergingen. »Im Namen Gottes«, sagten sie, wenn sie an mir vorbeikamen. Es waren meistens Männer auf dem Weg zur Arbeit. Es war Stoßzeit, die Menschen strömten in alle Richtungen. So eine Menge, so eine Hektik, so ein lärmender Verkehr. Was war, wenn sie auf mich traten? Ich hatte Angst, daß man auf mich trat, daß ich unter ihren Füßen zermalmt und zertrampelt wurde. Furcht, Verwirrung, ein Gefühl der Verlassenheit erfüllten mich, 73
schüttelten mich, zerschmetterten mich wie ein Stück Glas. Schließlich beruhigten sich die Dinge. Es kamen nicht mehr so viele Menschen vorbei, es fielen nicht mehr so viele Münzen in meine Hand. Mein Geldbeutel war gefüllt, meine Hand ebenfalls. Dann plötzlich eine große Überraschung – Vater kam, um das Geld zu holen. Er leerte den Beutel, nahm alles Geld aus meiner Hand und gab mir den leeren Beutel zurück. Er sagte, daß er wiederkommen und mich zum Mittagessen nach Hause bringen würde, und ging gleich wieder. Zur Mittagszeit kam er zurück. Nach dem Essen wurde ich wieder an die Ecke gebracht. Dies wiederholte sich jeden Tag. Ich bekam mehr Geld am Morgen, am frühen Morgen, und am Abend, wenn die Leute zur Arbeit gingen oder von ihr zurückkehrten, in den Stoßzeiten. Ich bekam eine Spardose aus Keramik, eine große. »Die ist für dich«, sagte Mutter. »Du kannst dein Geld hineintun, und es wird alles dir gehören.« Ich war begeistert. Ich nahm die Spardose und steckte alles Geld hinein. Sie war vor Münzen ganz schwer. Das ist großartig, dachte ich. Es gehörte alles mir. Mir allein. Mein Bruder hatte keine Spardose. Dies war wundervoll. Und so ging ich jeden Tag mit großem Enthusiasmus an die Ecke. Ich würde all mein Geld sparen und in die Dose tun, sagte ich mir. Eines Tages, als ich nach Hause kam und mein Geld in die Dose stecken wollte, sagte Mutter zu mir: »Sieh mal, laß mich sie heute halten. Du tust das Geld hinein.« »Aber warum? Ich möchte sie selbst halten.« »Nein, sieh mal, die Leute könnten sie sehen«, sagte Mutter. »Es ist besser, wenn ich sie heute halte.« 74
Ich war nicht überzeugt. Ich war es gewohnt, die Spardose in der Hand zu halten, wenn ich das Geld hineintat. Was war heute anders? Ich gab keine weiteren Widerworte. Unter ihrer Anleitung steckte ich die Münzen hinein, ohne die Spardose dabei zu berühren, und dann nahm Mutter sie weg. »Ich werde sie schnell verstecken, so daß sie niemand sieht«, sagte Mutter. Am nächsten Tag sagte sie dasselbe, aber ich bestand darauf, daß man mir die Spardose gab. Ich wollte sie in der Hand halten. Mutter gab sie mir. Das war eigenartig. Es war ein Stück Stoff darum geschlungen, wie ein Verband. »Was ist das?« fragte ich. »Nun ja, äh, ich wollte nicht, daß die Leute sehen, was darin ist, weißt du?« erklärte Mutter. Sie fühlte sich nicht so schwer an, war überhaupt nicht schwer. All die Münzen, die ich hineingetan habe, sollten viel schwerer sein als das hier, sagte ich mir im stillen. Ich schüttelte die Dose. Dann erfuhr ich die schmerzliche Wahrheit. Sie war zerschlagen und zerbrochen worden, dann hatte man die Scherben wieder zusammengesetzt und für mich mit dem Tuch umhüllt. Mutter hatte das Geld herausgenommen, um Dinge dafür zu kaufen, einen Wasserkessel vielleicht oder eine Pfanne. Ich fühlte mich zerschmettert, geschlagen, zerbrochen, genauso wie die Spardose. Mein Vertrauen war mißbraucht worden. Man hatte mich getäuscht. Mein Schatz war erbrochen und gestohlen worden. Ich weinte bitterlich. Wenn Mutter in der nächsten Zeit mit irgend 75
jemandem über die Spardose sprach, flehte ich sie an, damit aufzuhören. Ich konnte den Schmerz, den ich dabei empfand, nicht ertragen. Er war zu groß. Die Spardose war mein Geheimnis gewesen – mein Schatz, etwas, das mir gehörte, das einzige, was ich jemals ganz allein für mich gehabt hatte. Das Geld sollte für mich verwandt werden, nur für mich. Ich wollte mir hübsche Dinge dafür kaufen, neue Kleider, Puppen vielleicht, etwas Hübsches für mich, für mich allein. Mein Geheimnis war mir gestohlen worden. Mein Schatz. Ich hatte das Gefühl, benutzt und mißbraucht worden zu sein. Man hatte mich zum Betteln veranlaßt, ohne mich vorher zu fragen, ob ich es tun wollte. Ich wurde nicht gefragt. Ich wurde zum Betteln geschickt. Niemand erklärte mir, was passieren würde. Ich wurde gegen meinen Willen an die Ecke gesetzt, wurde benutzt wie ein Objekt. Dann gab man mir diese Sparbüchse und sagte mir, daß es meine eigene wäre und daß alles, was ich beim Betteln einnahm, hineinkommen würde. Es würde mir gehören, allein mir. Ich hatte darauf vertraut, und nun war mein Vertrauen verraten worden. Ich war betrogen worden. Man hatte mir mein Geld weggenommen. Danach kümmerte ich mich nicht mehr um das Geld. Ich gab ihnen alles. Es bedeutete mir nichts mehr. Sie können jetzt alles ausgeben, dachte ich. Es gibt mein Geheimnis nicht mehr, es gibt meinen Schatz nicht mehr. Das Geld gehörte mir. Die Leute hatten mir diese Münzen gegeben, nicht ihnen. Die Gemeinheit und Ungerechtigkeit berührten mich tief. Es tat weh. Die Spardose hatte eine ganz besondere Bedeutung für mich gehabt. Sie war der einzige Reichtum gewesen, den ich jemals besessen hatte, und mein Reichtum hatte mir einen Wert verliehen. Mein Geheimnis hatte eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Ich hatte es hoch geschätzt, und nun waren alle 76
Hoffnungen verflogen. Ich hielt die Spardose in meinen Armen wie ein Baby. Und ich steckte die Münzen sorgfältig eine nach der anderen hinein, dann hob ich sie hoch und fühlte die Schwere. Das brachte mir Freude. Seht, wie schwer sie ist, dachte ich, wieviel Geld ich darin habe. Ich betrachtete sie als ein Baby, mein eigenes Baby. Die Regierung war der Ansicht, daß all diese Bettler an den Straßenecken Teherans einen zu häßlichen Anblick boten. Man sagte uns, daß jeden Nachmittag Polizisten mit einem Lastwagen herumfuhren und sie einkassierten. Die Bettler allerdings, die genug Geld besaßen, um die Obrigkeit zu bestechen, würden bald wieder entlassen und konnten von neuem beginnen. Dies war alles neu für uns. Aber ich nehme an, wir rechneten irgendwie damit, daß es dazu kam. Eines Tages hielt ein Fahrzeug, ein Mann nahm mich hoch und setzte mich auf einen Lastwagen. Auf dem waren noch viele andere Menschen. »Wohin bringt ihr mich?« fragte ich. »Mach dir keine Sorgen, wir bringen dich ins Bettlerhaus«, wurde mir gesagt. Ich saß auf dem Boden und spielte mit den Schnürsenkeln des Polizisten, während andere mit ihm redeten. Ein Mann bot ihm 1250 Rial an. Er handelte um seine Freilassung. Mein Vater würde nicht so viel Geld für mich geben können, dachte ich. Das also war das Ende, ich würde sie nie wiedersehen. Wie sollten sie mich finden? Sie würden mich nicht finden. Ich würde sie nie wiedersehen. Aber ich verhielt mich ruhig und schwieg. Ich weinte nicht. Ich schrie nicht. Ich klagte nicht. Ich spielte weiter mit den Schnürsenkeln des Polizisten. Der Lastwagen fuhr die Straßen entlang. Er fuhr und fuhr und fuhr. Je weiter wir fuhren, desto angstvoller wurde ich. Ich entfernte mich weit von meiner Familie. 77
Die Hoffnung, daß sie mich jemals wiederfanden, schwand dahin. Es war unmöglich, es war zu weit. Niemand konnte diese Strecke zu Fuß gehen, dachte ich. Weder meine Mutter konnte diese ganze Strecke gehen noch mein Vater, also würden sie mich nicht finden können. Sie konnten diese ganze Strecke nicht gehen. Das war es. Ich würde sie nie wiedersehen. Ich fühlte mich genauso wie an jenem ersten Tag, an dem mich mein Vater an diese Ecke, an diese betriebsame Kreuzung gesetzt und dann verlassen hatte. Ich hatte mich aufgegeben gefühlt, und dasselbe Gefühl überkam mich jetzt – aufgegeben, verloren, das war es. Ich bin jetzt verloren, dachte ich. Ich bin jetzt wirklich verloren, aufgegeben, vergessen. Der Lastwagen war voll von Fremden, älteren Männern, hauptsächlich Männern, und alten Frauen. Ich war das einzige Kind. Nach einer Fahrt, die eine Ewigkeit dauerte, kamen wir in Amirabad an, weit außerhalb der Stadt. Danach wurde ich bald krank. Es war eine ziemlich schwere Krankheit. Ich wußte nie, welche Krankheit es war. Eine Zeitlang wußte ich gar nichts. Ich erinnere mich an nichts. Vielleicht vergingen Wochen und Monate. Allmählich kam ich wieder zu Bewußtsein. Ich fühlte mich sehr schwach, lag nur stundenlang hintereinander da. Menschen hoben mich hoch und brachten mich auf die Toilette. Wenn ich selbst ging, hatte ich sehr große Mühe. Ich konnte immer nur ein paar Schritte gehen und mußte mich dann hinsetzen. Als ich mich einmal auf den Weg zur Toilette machte – ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, wohin ich gehen sollte –, kam ich nicht ans Ziel. Ich setzte mich hin. Einer der Wächter, ein junger Mann, fragte mich, wo ich hin wollte. Ich erklärte es ihm, und er sagte: »Komm, nimm das Ende meines Stocks und folge mir.« 78
So hielt ich das Ende des Stocks fest, und er führte mich zur Toilette. Und als ich fertig war und herauskam, hielt ich wieder das Ende des Stocks fest, und er brachte mich dorthin zurück, wo ich sein sollte. Bei einer anderen Gelegenheit setzte mich ein anderer junger Mann auf seine Schulter und plauderte mit mir. Ich glaube, er leistete seinen Wehrdienst ab und freute sich darauf, in ein paar Tagen wieder nach Hause gehen zu können. Er redete mit mir. Ich fand dies überraschend – daß ein Mann von gleich zu gleich mit mir redete und freundlich mit mir umging. Das tat mir so gut. Er war ein heiterer, fröhlicher, guter Mensch und erzählte nur, wie sehr er sich darauf freute, zu seiner Familie zurückkehren zu können. Sein Tonfall und der Ritt auf seiner Schulter – allein daß er mit mir redete, sorgte dafür, daß ich mich gut fühlte. Es war ein sehr volles Haus. Es gab einen großen Saal für Frauen und Mädchen. Ich war dort das jüngste Kind. Die Männer hatten einen weiteren Saal oder zwei weitere Säle. Es war sehr groß. Die Obrigkeit kam dann und wann, um zu prüfen, ob wir unser Geschirr hatten, unsere Schüsseln. Ich stellte meine heraus, damit sie sie sehen konnten, genauso wie es die anderen taten. Ich hatte ein kleines Wandschränkchen, in dem ich meine Sachen aufbewahrte, und wurde aufgefordert, alles zur Inspektion herauszuholen. Eines Tages kamen sie, um mich ins Büro zu bringen. »Deine Mutter ist gekommen, um dich zu sehen«, sagten sie. Mutter? Meine Mutter? Ich konnte es nicht glauben. Sie hatte mich gefunden. Ich ging hinein. Ja, Mutter war da. Ich würde mit Mutter nach Hause zurückkehren, und wir würden zu Fuß gehen. Den ganzen Weg. Sie war 79
unglücklich, müde. Sie war den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Der Gedanke, den ganzen Weg mit mir wieder zurückgehen zu müssen, war zuviel für sie. Wir brachen auf. Wir gingen und gingen und gingen. Konnten wir nicht den Doreshkeh – einen von Pferden gezogenen Wagen – nehmen? fragte ich gelegentlich, wenn ich mich zum Ausruhen hinsetzte. »Nein, ich habe kein Geld«, sagte sie. »Wir müssen zu Fuß gehen.« Manchmal machten wir halt und baten einen Ladenbesitzer um einen Schluck Wasser. Schließlich kamen wir zu Hause an. Ich brach augenblicklich zusammen. Ich schlief ein. Ich schlief eine sehr lange Zeit. Später erzählte Mutter den anderen, daß ich schlief und schlief und schlief. »Ich ließ sie einfach schlafen«, sagte sie. Später wechselte Mutter meine Kleider, wusch mich und schnitt mir die Haare. Ich hatte überall Läuse. Ich lag lange Zeit im Bett. Ich war zu schwach, um aufzustehen, oder vielleicht auch zu niedergeschlagen. Es dauerte lange, bis ich mich erholte. Ich spürte, daß mich Mutter nur geholt hatte, weil die Leute angefangen hatten zu reden. Es war der gesellschaftliche Druck gewesen, kein echtes persönliches Interesse. Was die Leute dachten, war am wichtigsten. Ich fühlte mich mehr denn je wie eine Bürde. Es war so, als ob sie sagen würde: »Ich muß mit dir fertig werden, da du nun einmal da bist. Ich kann die Meinung anderer Leute nicht ignorieren. Ich wäre verfemt. Das kann ich nicht hinnehmen. Ich muß mich mit dir abgeben. Du bist wie ein Mühlstein um meinen Hals. Warum konnte ich dich nicht einfach vergessen und dich da lassen, wo du warst? Du 80
warst ein paar Monate lang nicht hier – das war besser. Warum bist du dort nicht gestorben? Wie du dich ans Leben klammerst.« Das sagte sie oft: »Sie klammert sich so ans Leben.« Während ich weg war, war meine kleine Schwester im Alter von anderthalb Jahren gestorben. »Wo ist Khanomtaj?« fragte ich, als ich wieder zu mir kam. »Sie ist gestorben«, sagte Mutter. »Sie war krank.« Gestorben? War es passiert, weil ich weggegangen war? Ich war nicht da, um nach ihr zu sehen. Ich brachte kein Geld nach Hause. Sie war immer hungrig. Ich erinnere mich an ihre dünne Stimme. »Ah, ah, ah«, machte sie immer. Sie hatte nicht die Energie, es lauter zu sagen, Essen zu verlangen. Sie war an Hunger gestorben. Sie weinte nie. Sie lag nur da, genau wie ich, als ich ein Baby gewesen war. Sie hatte gerade genug verlangt, um am Leben zu bleiben, genauso wie ich es getan hatte. »Es ist eine Erlösung«, sagte Mutter. »Dieses Leiden.« In gewisser Weise fühlte ich mich für ihren Tod verantwortlich. Wenn ich dagewesen wäre, als Mutter zur Arbeit ging, hätte ich nach ihr gesehen. Oder Mutter wäre nicht so besorgt wegen mir gewesen und hätte ihr etwas gegeben, das ihr helfen konnte, weiterzuleben. Es war ganz bestimmt meine Verantwortung. Diese Gedanken gingen mir lange durch den Kopf. Ich war trauriger, niedergeschlagener, aber ich weinte nicht. Ich erinnerte mich an die Momente, in denen ich meine Schwester auf den Arm genommen und herumgetragen hatte. Sie war so fügsam, passiv und problemlos gewesen und war doch an Hunger gestorben. Sie war verhungert, im wahrsten Sinne des Wortes, sie war verhungert, meine arme Schwester. Meine arme, liebe Schwester. 81
Eines Nachts hatte ich die Phantasievorstellung, daß mich Mutter im Schlaf untersuchte, weil sie sich fragte, ob ich im Bettlerhaus sexuell mißbraucht worden war. Ich war unversehrt. Es war ein Wunder. Wunder passierten. Sie passierten bei mir. Es war ein Wunder, daß ich nicht im Bettlerhaus starb, es war ein Wunder, daß ich nicht starb, als ich die Pocken hatte, und es war ein Wunder, daß man mich nicht sexuell mißbraucht hatte. Ich hatte so ein Gefühl, daß irgendeine Macht, irgendeine Kraft, die irgendwo saß, irgendwie auf mich aufgepaßt hatte. Danach wurde ich nicht mehr zum Betteln auf die Straße geschickt.
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KAPITEL SIEBEN Ali verprügelte unseren jüngeren Bruder Akbar oft. Er verbrannte Akbars Füße mit einer langen Eisenstange. Er erhitzte die Stange im Ofen und drängte Akbar dann in eine Ecke des Zimmers. Ich erinnere mich an Akbars Schreie und an seine Qual. Wir hatten Angst vor Ali. Als er mich zum ersten Mal verprügelte, waren Vater und Mutter nicht da. Er verprügelte mich und warf mich über eine Mauer. Es waren einige Nachbarinnen in der Nähe, junge Mädchen. Ich schrie. »Ich kann Blut im Gesicht spüren«, sagte ich dann. »Ich werde Mutter zeigen, daß du mich verletzt hast. Es blutet, im Gesicht und am Arm.« »Es blutet?« sagte er. »Laß mich sehen. Zeig mir das Blut.« Ich zeigte ihm meinen nassen Arm. »Da ist es, da ist Blut.« Er lachte. »Blut! Das ist kein Blut, das ist Speichel. Dummkopf, sie denkt, das ist Blut. Blut ist rot, Dummkopf.« Bis dahin hatte ich nicht gewußt, daß Blut rot war. Ich glaubte, der nasse, klebrige Klecks auf meinem Arm wäre Blut. Ich war blind, konnte die Farbe nicht sehen, wußte nicht, daß Blut rot war. Ich fühlte mich herabgesetzt und unwissend. Ich konnte nicht sehen. Bitter. Die Bitterkeit, die ich empfand. Er schlug mich auch auf den Kopf und zog mich an den Haaren. Ganze Haarbüschel wurden mir ausgerissen. Als wir noch im Dorf lebten, nahm Vater Ali oft mit auf seine Touren. Es war üblich, daß der erste Sohn schon in 83
jungem Alter vom Vater mitgenommen wurde, damit er ein Handwerk lernte und auf die Zukunft, auf das Erwachsensein vorbereitet wurde. Er wurde in eine Schule geschickt, die die Mullahs im Dorf führten, einmal oder zweimal die Woche und später an jedem Morgen. Aber noch später ging er nicht mehr hin. Wir mußten die Mullahs regelmäßig mit etwas Brot oder Feldfrüchten bezahlen und konnten uns das oft nicht leisten. Ich war froh, wenn Ali mit Vater losging und wir ihn nicht in der Nähe hatten. Einige Zeit nach unserem Umzug nach Teheran wurde er Lehrling bei einem Schneider. Er fing damit an, die Werkstatt des Schneiders sauberzumachen, und erlernte dann allmählich das Handwerk. Als Lehrling mußte er jetzt einen weiten Weg zurücklegen, um die Werkstatt zu erreichen. Er mußte täglich vielleicht zwei oder drei Stunden zu Fuß gehen. Das Fahrgeld für den Bus konnten wir uns nicht leisten. Ich glaube, die Mühsal seines Lebens verhärtete ihn noch mehr, während sich Akbar überhaupt nicht verhärtete. Er war fürsorglich und freigebig. Ali versuchte Akbar davon zu überzeugen, daß er Chauffeur werden sollte. »Chauffeur?« sagte Akbar. »Willst du, daß ich Fahrer im Haus eines Offiziers oder eines betrügerischen Geschäftsmanns werde und dessen Frau die Autotür aufund zumache? Nein, vielen Dank. Ich werde das, was ich werden möchte. Ich will Lastwagenfahrer werden, und ich will mein eigener Herr sein.« Als Akbar älter wurde, zeigte er viele Charaktermerkmale meines Vaters: Freigebigkeit, Unternehmungslust, Gutherzigkeit, Risikofreude. Bei einer Gelegenheit hatte Vater eine 84
Auseinandersetzung mit dem Mann in der Werkstatt über unserem Souterrainzimmer. Der Werkstattmann sprach Farsi und hielt sich deshalb für klüger als Vater. Ich erinnere mich an Vaters Wut, Frustration und Hilflosigkeit. Aber der Mann gewann die Oberhand. Vater wurde müde, deprimiert und unglücklich. Wir mußten aus dem Souterrain ausziehen. Wir nahmen ein kleines Zimmer in einem Haus ganz in der Nähe. In diesem Haus gab es drei, vier weitere Haushalte. Jede Familie hatte ein Zimmer. Es gab vier oder fünf Personen in jeder Familie, wie bei uns. Wir waren zu fünft. Im Hof des Hauses wuchsen Pinien, in deren Schatten ich an heißen Sommertagen spielte. Wir hatten ein winziges Zimmer. Und hier kam es dazu, daß Mutters und Vaters Beziehung ganz schlecht wurde. Sie stritten sich oft. Wir weinten, wenn sie sich stritten. Vater bedrohte Mutter. »Wenn du es wagst«, sagte Mutter, »wenn du es wagst, die Hand gegen mich zu erheben, dann bist du kein Mann.« Tagelang sprach sie nicht mehr mit ihm. Vater konnte es nur schwer akzeptieren, daß seine Frau mehr verdiente als er. »Ich brauche dich eigentlich gar nicht, nicht wahr?« sagte Mutter. »Ich kann meine Kinder ganz allein aufziehen.« Sie fühlte sich stärker, weil sie in der Nähe ihrer Verwandten lebte und es fertigbrachte, zu arbeiten und ihre Familie zu ernähren. Sie fühlte sich im Vorteil. Sie hatte die Macht. Bei Vater war das Gegenteil der Fall. Er fühlte sich entwaffnet, entmachtet, seiner Rolle als Ernährer beraubt, nicht als vollwertiger Mann, nicht als vollwertiger Gatte. »Du bist sogar noch nutzloser als eine Frau«, sagte 85
Mutter zu ihm. »Sieh, wie ich zurechtkomme, und sieh dich an. Was tust du?« Diese Worte trafen Vater mitten ins Herz. Meine Mutter war keine Männerhasserin. Sie haßte meinen Vater und ihren ersten Ehemann, weil sie zur Ehe mit ihnen gezwungen worden war. Sie hatte nicht ihre eigene Wahl treffen können. Sie haßte Sex, haßte meinen Vater deswegen. Ich wurde Zeuge einer dieser Sexszenen in unserem Souterrainzimmer. Wir schliefen alle rings um den Korsi. Ich schlief in der Ecke neben ihnen. Mitten in der Nacht wachte ich auf, als Vater Mutter inständig anflehte. Mutter war wütend. Sie verweigerte sich ihm. »Bitte«, flehte er, »nur dieses eine Mal, nur einmal.« »Laß mich in Ruhe, sage ich«, erwiderte Mutter voller Zorn. »Sei verdammt. Möge dein Vater in der Hölle verrotten.« Mutter gab nach. Der Akt begann. »Möge dein Vater in der Hölle verrotten!« Mutters Stimme klang wie Donnerhall. Ein außerordentliches Gefühl überkam mich. Ich spürte einen intensiven Druck in meinem Becken, eine schreckliche Aufgeregtheit und Ruhelosigkeit. »Ich möchte auf die Toilette gehen«, rief ich zu Vater hinüber. Sie waren einen Augenblick lang still. Ich wiederholte meine Bitte. Wenn einer von uns mitten in der Nacht auf die Toilette mußte, war es Vaters Verantwortlichkeit, mit uns auf die Straße zu gehen, wo es eine Toilette gab. »Sei still, du«, sagte Vater, ging aber mit mir nach draußen. Ich konnte das große Unbehagen in seiner Stimme spüren. Er war ungeduldig und ärgerlich. Auf der Toilette 86
konnte ich nicht machen. Ich versuchte, es zu zwingen. Vater stand gleich vor der Tür, hörte zu. Nichts. Ich hatte Vater umsonst gestört. Mutter beschloß, meinen Vater zu verlassen. Sie packte ihre Sachen, und Vater weinte. Ich konnte an seiner Stimme erkennen, daß er weinte. Seine Stimme zitterte, brach. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel, kam herüber. »Bitte, bitte, nimm sie mir nicht weg«, flehte mein Vater ihn an. »Zerstöre nicht mein Heim.« Onkel sagte nichts. Mutter packte alles ein, was wir brauchten – Kleidungsstücke hauptsächlich – holte uns zu sich, und wir gingen. Wir verließen Vater. Bald danach wurde Vater krank. Einmal besuchte ich ihn mit Mutter. Er war im Bett. Er war sehr schwach, seine Stimme war kaum zu hören. Mutter fütterte ihn. Er sagte, daß er nichts haben wollte. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Dies war das letzte Mal, daß ich ihn lebend sah. In der Nacht vor dem Besuch hatte ich einen Traum gehabt. Ich träumte, daß wir ihn besuchen wollten und mir jemand sagte, ich solle nicht gehen, weil mein Vater sonst sterben würde. Als wir am nächsten Tag hingingen, erzählte ich ihm davon. »Vater, ich hatte letzte Nacht einen Traum. Jemand sagte mir, daß ich dich nicht besuchen sollte, weil du sonst sterben würdest.« Einige Augenblicke lang trat Schweigen ein, und dann hörte ich ihn sprechen. Seine Stimme war zittrig, flüsternd. »Und doch bist du gekommen.« Er war sehr aufgebracht. »Mit diesem Traum würde man nicht mal seinen Feind besuchen.« 87
Dies waren seine letzten Worte zu mir. Es war das letzte Mal, daß ich seine Stimme hörte. Das nächste, was ich hörte, war, daß Vater zu uns herübergeholt werden sollte. Wir wohnten im Haus meines Onkels, in einem Hinterzimmer seines Kolonialwarenladens. Wir mußten Vater zum Doktor bringen. Es war ein Sommertag, und sie legten Vater in den Schatten, vor unser Zimmer. Es herrschte Einvernehmen darüber, daß er im Sterben lag, aber trotzdem zum Doktor gebracht werden sollte. Ein junger Mann, ein Cousin Mutters, hob ihn hoch, um ihn zum Haus des Doktors zu tragen, das am Ende der Straße lag. »Nein, nein, leg ihn hin«, rief jemand. Vater hatte sich benäßt. Dann faßten sie ihn wieder an. Er war kalt. »Er ist tot«, sagten sie. Ich fing an zu lachen. Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Mutter und die anderen Frauen begannen zu weinen. Mutter schlug mich, und irgend jemand setzte mich neben Vater, neben seine Leiche. Ich begann zu weinen. Nach Vaters Tod machte Mutter eine sehr gefühlsbetonte Zeit durch. Sie trauerte. Sie weinte oft. »Wir sollten Monir ins Waisenhaus bringen«, sagte Ali. Mutter wiederholte es vor meinen Ohren. »Ali sagt, wir sollten Monir ins Waisenhaus bringen.« Ich spürte, daß Mutter damit übereinstimmte und nur durch den gesellschaftlichen Druck daran gehindert wurde, es zu tun. Wir bekamen alle Geburtsurkunden. Der Beamte nahm die Einzelheiten auf und kam auch zu mir. »Wie alt ist sie?« fragte er. 88
Mutter zögerte einen Augenblick lang. »Oh, sie ist erst zehn«, erwiderte sie. Mutter erwartete nicht, daß ich heiraten würde, aber sie folgte der Tradition und gab ein höheres Alter an. Was hatte sie veranlaßt, das zu sagen? Aus welchen Gründen auch immer, ich wurde jedenfalls vier Jahre älter registriert, als ich tatsächlich war. Mein älterer Bruder Ali war bei seiner Geburt registriert worden, ich und mein jüngerer Bruder Akbar jedoch nicht. Es war jenem freundlichen Mann, dem Manager der Garage, in der Vater gearbeitet hatte, zu verdanken, daß wir registriert wurden. Der Besitz einer Geburtsurkunde würde uns helfen, gelegentliche Unterstützungen und Zuschüsse zu bekommen, meinte er. Der andere Mann in der Garage, der Werkstattleiter, der Vater verabscheut hatte, machte Mutter einen Antrag. Mutter wollte ihn sehr gerne heiraten, sagte aber nein, wahrscheinlich weil sie daran dachte, was andere dazu sagen würden. Manchmal fragte ich mich, ob zwischen den beiden etwas war. Mutter hatte fraglos Gefühle für ihn.
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KAPITEL ACHT Wir wohnten in einem kleinen Zimmer in einem Anbau des Hauses meines Onkels. Unser Zimmer war etwa zehn Quadratmeter groß. Von ihm aus führte ein kleines Fenster in den Kolonialwarenladen, den mein jüngerer Onkel führte, und darunter lagen ein Keller und die Toilette. Das Haupthaus befand sich am Ende des Gartens, der ein großes Bassin in der Mitte besaß. Jede Woche half ich Großmutter, das Bassin zu leeren und zu säubern und das Wasser zu wechseln. Onkel liebte Pflanzen. Es gab Pappeln und viele Geranien und andere Blumen, die rings um das Bassin wuchsen. An jedem Abend half ich Großmutter, die Blumen zu gießen. Der Garten war etwa dreihundert Meter lang. Das Haupthaus hatte vier Zimmer, zwei unten und zwei oben. Mein Onkel Ahmad und seine Frau wohnten oben, ebenso wie der jüngere Onkel, der den Laden führte, meine Großmutter und Aziz, der Sohn eines Großonkels von Mutter. Onkel kümmerte sich um Aziz. Die beiden Zimmer unten waren vermietet, jedes an eine andere Familie. Es müssen etwa achtzehn bis zwanzig Personen gewesen sein, die in diesem Haus mit fünf Zimmern und einem Laden lebten. Viele andere kamen zu Besuch und blieben ein paar Tage – Verwandte Mutters und Onkels und Freunde aus ihrem Dorf. Mutter hatte drei Brüder. Habib, der älteste, lebte noch im Dorf Khorbendeh auf dem Familienbesitz. Eine geschiedene Schwester, die ebenfalls im Dorf lebte, kam gelegentlich zu Besuch. Dann war da Onkel Ahmad, der sich um seinen jüngeren Bruder, denjenigen, der jetzt den Kolonialwarenladen führte, kümmerte. 90
Onkel Ahmad war acht Jahre alt, als er anfing, in dem Café zu arbeiten. Schließlich wurde er Teilhaber. Aufgrund seines Erfolgs war er in der Lage, alle Verwandten zu ernähren und ihre Kinder zur Schule zu schicken. Er war für alle in der Familie wie ein Vater. In seinem Herzen gab es Platz für jeden. Wenn jemand aus der Familie starb oder in Schwierigkeiten geriet, dann war Onkel Ahmad der Beschützer, der Ratgeber, der die Probleme der Menschen teilte und ihnen riet, wie sie mit Krisen und Nöten umgehen sollten. Er half den Menschen, wieder auf die Beine zu kommen. Er war weitgehend Autodidakt, legte aber auf Ausbildung wert und zahlte auch für die Ausbildung der Kinder, darunter die meines Bruders Akbar. Wir sahen ihn nicht oft. Er pflegte abends spät nach Hause zu kommen, und in manchen Nächten kehrte er gar nicht nach Hause zurück. Offenbar blieb er im Café. Das Café lag weit entfernt – es war ein Weg von vielleicht zwei oder drei Stunden, mit der Pferdekutsche und dann per Bus. Morgens stand er spät auf. Im Sommer frühstückte er im Garten am Bassin. Zum Frühstück hatte er gerne Früchte. Während des Frühstücks ließ er sich von Akbar und Azis die Schularbeiten vorlesen und korrigierte sie. Übriggebliebene Früchte teilte er mit uns. Er sprach selten mit mir. Ich war da, existierte für ihn jedoch nur im Hintergrund. Ich hatte nicht das Gefühl, daß er mich nicht mochte oder mich mied. Er hatte nur kein besonderes Interesse an mir. Einmal stand ich auf dem Treppenabsatz und beugte mich vor, um den Kopf durch das offene Fenster zu stecken. »Sie beugt sich vor«, sagte er, als er mich sah. Ich wurde ausgeschimpft und aufgefordert, von dem Fenster wegzugehen. Was gefiel ihm nicht? Lag es daran, daß meine Haare nicht bedeckt waren? Hatte er Angst, daß 91
ich fallen könnte? Eine ganze Zeitlang fragte ich mich, warum er nicht wollte, daß ich mich aus dem Fenster beugte. Dies war das einzige Mal, daß er Notiz von mir nahm. Nach einiger Zeit fühlte sich Mutter sehr unglücklich in diesem Haus. Sie fing an, sich mit Goli, der Frau meines Onkels, zu streiten. Goli war ein lebhaftes junges Mädchen, voller Energie, enthusiastisch und gutmütig. Mutter konnte sie nicht leiden und war eifersüchtig auf sie. Sie sagte, daß Goli Onkel Ahmad nicht verdiente, daß sie einfach nicht gut genug für ihn war. Mutter schlug sich an den Kopf, wenn sie in Wut geriet, und raufte sich die Haare, so wie sie es auch immer getan hatte, wenn sie mit Vater stritt. Manchmal fiel sie auch in Ohnmacht, und dann kam jemand und hielt ihr Riechsalz unter die Nase, damit sie wieder zu sich kam. Bei einer Gelegenheit nahm sie eine Überdosis Opium. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man ihr den Magen auspumpte. Danach beschloß sie, wegzuziehen. Sie wollte unabhängig sein und ihr Leben selbst bestimmen, unser Leben. Sie wollte die Kontrolle haben. In diesem Haushalt hatte sie nicht wirklich ihren Platz. Sie wurde respektiert. Sie wurde zu Rate gezogen beim Kochen und Flicken, beim Herstellen der Konservierungsstoffe und beim Einmachen und Trocknen der Nahrungsmittel für den Winter, aber irgendwie war sie damit nicht zufrieden. Sie wollte mehr, wollte ihr eigenes Leben leben, sich von der Ordnung im Haus befreien, hinaus in die Welt gehen, um neue Menschen kennenzulernen, Herausforderungen annehmen, erfolgreich sein. Deshalb suchte sie sich Arbeit in der Gegend, in der wir vorher gewohnt hatten. Schließlich nahm sie dort ein Zimmer, und wir alle zogen in diesen einen Raum ein, in einem Haus, das noch von zwei anderen Familien bewohnt wurde. 92
Mutter arbeitete für die Familie, die oben wohnte. Die Frau hieß Hamideh Khamnom. Sie war eine kleine, zierliche und freundliche Frau. Sie sprach Türkisch, war in der Tat eine Bekannte des Garagenmanagers, für den Vater früher gearbeitet hatte. Ihr Mann war in einer Fabrik tätig, die Metallbetten herstellte. Sie hatten oben zwei Zimmer, ein größeres und ein kleines. Mutter wusch ihre Wäsche, machte sauber und sah nach ihren Kindern. Gelegentlich verließ sie das Haus, um auch die Wäsche anderer Familien zu waschen. Mutter wurde glücklicher, zufriedener und schien sich wieder zu fangen. Sie war positiv, optimistisch und sehr aktiv, voller Energie. Sie war ständig in Bewegung. Sie war jung, ging von Haus zu Haus und schloß eine Reihe von Freundschaften. Sie konnte jetzt auswählen und behielt nur die Kunden, die sie mochte. Wenn ihr eine Familie nicht gefiel, ging sie nicht mehr hin. Sie war glücklich, so glücklich, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich glaube, diese Tage waren die glücklichsten ihres ganzen Lebens – sie bestimmte, hatte die Kontrolle, war erfolgreich und auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität. Sie war eine ziemlich talentierte Frau. Sie brauchte sich nur das Kleid von irgend jemandem anzusehen, und sie kam nach Hause und kopierte es aus dem Gedächtnis. Es wurde wunderschön. Sie schnitt Schadors und Kleider für die Leute zu und nähte sie und beschäftigte sich mit Patchwork- und Stickarbeiten. Sie war eine exzellente Köchin. Sie schnappte Rezeptideen aller Art in den Häusern auf, in denen sie arbeitete, kam damit nach Hause und experimentierte. Einige der Frauen, für die sie tätig war, wurden ihre Freundinnen. Sie mochten sie. Sie war liebenswert und positiv, übte auch einen positiven Effekt auf die Leute aus, obwohl sie sich jederzeit über ihre Stellung im klaren war. 93
Ihre Verwandten sprachen einige Zeit nicht mit ihr, weil sie sie verlassen hatte, weil sie gegangen war, ohne vorher darüber zu sprechen, und uns alle mitgenommen hatte. Onkel Ahmad war besonders ärgerlich, aber allmählich, als sie sahen, daß sie ihr Leben erfolgreich gestaltete und soviel glücklicher war, beruhigten sie sich wieder. Am Neujahrstag, dem ersten, den wir fern von ihnen waren, kamen wir alle wieder zusammen, und das war wunderbar. Meine Mutter war so froh, sie wiederzusehen. Nachdem sie die Verbindung zu ihnen wiederhergestellt hatte, fühlte sie sich wunschlos glücklich und wurde von ihnen noch mehr respektiert. Der Mann, dem das Haus gehörte, in dem wir wohnten, war geschieden. Er hatte einen kleinen Jungen. Man erzählte sich, daß sich seine Frau von ihm hatte scheiden lassen, weil er impotent war. Mutter hatte kein Interesse an ihm. Sie beschränkte seine Besuche auf ein Minimum. Diese Tage waren sicherlich die besten Tage im Leben meiner Mutter – und auch unsere besten Tage als gemeinsame Familie. Ich war Mutter bei der Hausarbeit behilflich und half ihr auch, auf die Kinder oben aufzupassen. Selbst ich fühlte mich dort glücklich, so glücklich, wie ich es nie zuvor gewesen war. Mutter fing an, Stück für Stück neue Sachen für den Haushalt zu kaufen – eine kleine Soßenschüssel an einem Tag, eine Bratpfanne am nächsten, einen Wasserkessel oder einen Samowar, und jedesmal, wenn sie etwas Neues kaufte, fühlte sie sich wundervoll. Wir alle fühlten uns glücklich und zufrieden und freuten uns darüber, denn jeder neue Gegenstand bereitete uns monatelang Freude und Vergnügen.
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KAPITEL NEUN Der Hauseigentümer, enttäuscht über Mutters Zurückweisung, wollte uns aus dem Haus haben. Er sagte uns, daß er das Haus verkaufen würde und wir deshalb ausziehen müßten. Mutter mußte ein neues Zimmer für uns suchen. Sie ging die Straßen entlang und klopfte, wie es Sitte war, an jede Tür. »Haben Sie freie Zimmer?« »Ja. Wie viele Personen?« »Ich habe drei Kinder. Und ich arbeite. Ich bin Waschfrau.« »Nein, nicht mit drei Kindern. Und schon gar keine Waschfrau.« Sie waren nicht bereit, uns Unterkunft zu gewähren. Und das schon, bevor sie erfuhren, daß Mutter ein blindes Mädchen hatte. Dies machte ihr Sorgen – wie sollte sie den Leuten beibringen, daß sie eine blinde Tochter hatte, wenn sie ein Zimmer fand? Sollte sie Schweigen darüber bewahren, bis wir eingezogen waren? Sie redete nicht über diese Sorge und gab auch nichts davon zu erkennen, aber ich spürte es. Es war schwer, ein Zimmer zu finden. Mutter suchte Monat um Monat und machte sich Sorgen. Schließlich fand sie eins. Eine Frau namens Fatemah Khanom war bereit, uns aufzunehmen. Ihr Mann war auf Montage – als Bauarbeiter –, und sie hatte selbst drei Kinder. Wir zogen ein. Sie war Türkin, und wir kamen gut zurecht. Ich weiß nicht genau, wie Mutter ihr beigebracht hatte, daß ich nicht sehen konnte. Es schien ihr nichts auszumachen. An dem Tag, an dem ihr Mann nach Hause 95
zurückkehrte, war Mutter arbeiten. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich nicht zeigen sollte. Ich machte die Tür zu, blieb im Zimmer und hörte auf alles, was im Haus vor sich ging. Was war, wenn er mich sah und erkannte, daß ich nicht sehen konnte? Wenn er herausfand, daß ich blind war – was würde er dann tun? Würde er uns auffordern, das Haus zu verlassen? Und wohin sollten wir gehen? Konnte er uns rauswerfen, wenn er entdeckte, daß ich blind war? Ich blieb stundenlang im Zimmer, verließ es nicht. Die Toilette befand sich wie üblich am anderen Ende des Gartens. Ich überlegte, wie ich sie erreichen konnte, ohne daß er meine Blindheit bemerkte. Ich würde gehen müssen, ohne mir dabei anmerken zu lassen, daß ich unsicher auf den Beinen war. Ich stellte mir den Weg vor, jeden Schritt, den ich machen müßte, jede Stelle, an der etwas vorsprang. Was war, wenn ich Wasser holen mußte? Nun, ich würde ohne Wasser auskommen müssen. Ich würde beim nächsten Mal waschen. Und dann passierte nichts, nichts wurde gesagt. Er schien keine Einwände gegen meine Blindheit zu haben. Das Haus war das erste auf der rechten Seite in einer schmalen Gasse, die von einer etwas breiteren Gasse abzweigte. Beide waren nicht breit genug, um einen Wagen durchfahren zu lassen. Sie lagen hinter einer Hauptstraße in Sarsabil, im Süden Teherans. Wir hatten das vordere Zimmer unten. Andere Mieter bewohnten das hintere Zimmer, und Fatemah Khanom wohnte mit ihren drei Kindern oben. Üblicherweise war das Vorderzimmer kleiner. Es hatte ein kleines Fenster zur Straße hin und war billiger, weshalb wir es auch genommen hatten. Das Hinterzimmer war normalerweise der hübschere Raum, groß, mit einem breiten Fenster zum Garten hin. Es war nach Süden ausgerichtet und hatte viel Sonnenschein. 96
Aber das konnten wir uns nie leisten. Wir schafften es nie, ein Hinterzimmer zu bewohnen. Das war ein Traum für uns. Fatemah war freundlich und rücksichtsvoll, besonders zu mir. Sie schien meine mißliche Lage zu verstehen. Dann und wann, wenn sie kochte, gab sie mir etwas Gutes. Ich bekam alles zu kosten. Sie gab mir gerne etwas Besonderes, so als ob sie verstand, wie sehr ich litt, wie wenig ich hatte, wie unerwünscht ich war. Sie bemühte sich, mir Nahrung zukommen zu lassen, damit ich durchkommen konnte. »Monir, komm nach oben, komm und spiel mit den Kindern«, sagte sie oft, wenn sie meine Verzweiflung spürte. Sie wußte, daß ich gerne nach oben in ihre Zimmer kam, mit ihren Kindern spielte und vielleicht eine kleine Aufmerksamkeit in Empfang nahm. Schon dort oben zu sein, nicht bei meiner Familie sein zu müssen, wo ich unerwünscht war, bedeutete mir viel. Ich war oft stundenlang dort oben. »Komm runter«, rief Mutter dann, »du bist lästig.« »Lassen Sie sie«, sagte Fatemah. »Sie stört nicht, wirklich.« Fatemah war mein Zufluchtsort, wenn mich mein Bruder verprügelte. Ich lief nach oben, versteckte mich vor ihm und wurde von ihr getröstet. Einmal rannte ich nach oben, aber er verfolgte mich und verprügelte mich in Gegenwart von Fatemah und den Kindern. Er riß mir Haare aus und schlug meinen Kopf gegen die Wand. Sie versuchten, ihn zu stoppen, aber er schlug mich nur noch härter. Ich hatte am ganzen Körper blaue Flecken. In dieser Nacht schlief ich oben bei ihnen. Der nächste 97
Tag war ein Freitag, ein Feiertag, und sie gingen mit mir in den Zoo. Ich war sehr unglücklich und hatte keine Freude an dem Ausflug. Sie kauften mir Süßigkeiten und versuchten, mich aufzuheitern, aber es half nichts. Ich fühlte mich elend, todunglücklich. Ich wurde mir akut der Notwendigkeit bewußt, von dort wegzukommen. Ich mußte einen Weg finden, diese Wohnung verlassen, dieser Qual entrinnen zu können. Jeder andere Ort würde besser sein, besser als mein Zuhause. Die Abneigung meines Bruders hatte sich gesteigert. »Sie ist nur ein zusätzlicher Mund, der gefüttert werden muß«, sagte er. »Welchen Nutzen hat es, daß sie hier ist?« Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich dort rauskommen konnte. Ich mußte etwas tun. Ich wußte nicht, was, aber ich mußte etwas tun. Ich war ruhelos. Ich mußte weg von dort – und von meinem Bruder. Er wurde älter, stärker, aggressiver, anspruchsvoll, überheblich. Er ging arbeiten. Er verdiente Geld. Nur ein paar Pfund in der Woche, aber er brachte etwas mit nach Hause. Mutter begann die Kontrolle über ihn zu verlieren. Er verprügelte meinen Bruder fürchterlich. Auch Mutter bekam langsam Angst vor ihm. Sie konnte ihn nicht stoppen, wenn er in Rage war. Er gewann ständig die Oberhand, und das machte mir große Sorgen. Ich konnte damit nicht weiterleben. Ich mußte etwas für mich tun. Selbst wenn er nicht da war, kam mir das Zimmer wie eine Folterkammer vor. Wenn die Familien, für die meine Mutter arbeitete, in Urlaub fuhren, ließen sie ihr manchmal den Schlüssel da, damit sie herein konnte, um die Blumen zu gießen und nach dem Rechten zu sehen. Ich liebte es, mit ihr zu gehen. Alles war so schön in diesen Häusern. Es war die Freiheit, die ich am meisten liebte. 98
Wir freundeten uns mit unseren Nachbarn an. Unsere Nachbarn zur Linken hatten eine Telefon. Ich ging oft zu ihnen. Sie mochten mich und ließen mich gelegentlich ihr Telefon benutzen. »Komm zu uns, wann du willst«, sagten sie. »Bleib so lange hier, wie du willst.« Sie hatten einen großen Garten mit vielen Blumenbeeten rings um das Bassin und eine Veranda mit kühlen Fliesen, auf denen ich an heißen Sommertagen barfuß umherging. Ich lag auch gerne in der Kühle auf diesen Fliesen. Rechts von uns wohnte eine junge Frau mit ihrem Mann. Sie hatte keine Kinder. Ich freundete mich mit ihr an und ging oft in ihr Haus. Ich liebte es, die Nachbarn zu besuchen, um rauszukommen aus unserem beengten, dunklen Zimmer, in dem die Macht meines Bruders herrschte. In den Häusern anderer Leute wurde ich mit Respekt behandelt. Es war wundervoll. Irgendwie war ich mir bewußt, daß ich die Gastfreundschaft der Nachbarn nicht mißbrauchen durfte. Ich wartete immer, bis ich eingeladen wurde, obwohl ich mich danach sehnte, sie öfter besuchen zu können. Ich freundete mich mit der Tochter der Familie an, die in dem Haus gegenüber von uns wohnte. Sie war ein bißchen älter als ich und ging zur Schule. Ich saß oft in der Gasse mit ihr zusammen oder ging in ihr Haus hinüber. In meine Wohnung kam sie selten. Ich lud sie nicht oft ein, denn ich wagte nicht, irgend jemanden ins Haus einzuladen. Es hatte diese schreckliche Atmosphäre von Furcht, Grausamkeit und Bestrafung und war kein Ort für Freude, Vergnügen, Spiel und Besuche. Außerdem mußte ich bedenken, daß wir Mieter waren. Wir mußten immer sorgsam darauf achten, nicht zuviel Lärm zu machen, keine Tür zu schlagen, jeden Ärger zu vermeiden, damit die Hauswirtin nicht wütend wurde. Aber in den Häusern 99
der Nachbarn fühlte ich mich frei. Sie waren geräumig. Dort fühlte ich mich beschwingt, behaglich, glücklich – wie ein anderer Mensch. Das Schulmädchen, meine Freundin, las mir ihre Hausaufgaben vor, und wir lernten gemeinsam. Manchmal saßen wir in der Gasse. Sie brachte ihre Bücher mit nach draußen und las mir daraus vor, und ich erklärte ihr dann, was sie gelesen hatte. »Woher weißt du das alles, Monir? Du gehst doch gar nicht zur Schule.« »Nein, aber ich verstehe es.« »Aber wieso?« fragte sie überrascht. »Wieso verstehst du es? Ich tue es nicht, und ich gehe zur Schule. Und du gehst nicht und verstehst es doch. Sag mir, wie du das machst.« »Nun, ich höre Radio. Ich höre jedem zu, der etwas sagt, und ich versuche, von jedem zu lernen.« »Ja, aber meine Schule ist nicht im Radio. Wieso verstehst du es?« »Ich weiß nicht, wieso. Ich wünschte, ich könnte zur Schule gehen. Ich würde dort lernen.« Ihre Mutter lud uns manchmal ins Haus ein. »Kommt, Mädchen, kommt rein. Es ist da draußen zu laut für euch, um studieren zu können.« Ich war erfreut, bei ihrem »Mädchen« mit eingeschlossen zu sein – es galt auch für mich. Sie schloß mich ein. »Mädchen.« Eifrig ging ich hinein. Und wir setzten uns in eine ruhige Ecke, um zu lernen. Das Problem war, daß wir nicht gerne drinnen saßen, weil es dort heiß war. Aber draußen war es überall laut. Manchmal hatten wir Mühe, im Garten eine ruhige Stelle 100
zum Lernen zu finden. Wir unterhielten uns über alle möglichen Dinge. Über Perioden, über Kinderkriegen und so weiter. »Ich will nicht heiraten«, sagte sie. »Ich will Lehrerin oder Krankenschwester werden.« Was ist mit mir? fragte ich mich. Was werde ich werden? Ich verhielt mich still, wenn sie über ihre Zukunft sprach. »Was wirst du werden?« fragte sie mich dann. »Ich weiß nicht. Ich weiß, daß ich das Zimmer ausfege und das Geschirr spüle und manchmal koche, wenn Mutter zur Arbeit gegangen ist, aber ich habe das Gefühl, daß ich gar nichts tue. Ich wünschte, ich könnte wie du zur Schule gehen. Aber ich weiß, daß dies nicht möglich ist.« »Wie wäre es, wenn du mit mir in die Klasse kommst?« fragte sie. Und ich lachte. »Das wäre lustig, nicht wahr? Ich würde kein Wort verstehen.« »Warum rede ich nicht mal mit meiner Lehrerin und frage sie, ob du einen Tag mit mir in die Schule kommen kannst, um zu sehen, wie es ist? Ich sage ihr, daß du mir bei meinen Hausaufgaben hilfst. Sie weiß dann schon über dich Bescheid.« »O nein. Sag ihr nie, nie etwas über mich. Es ist unmöglich, daß ich mit in deine Klasse komme.« Ich fühlte mich unwissend. Es wäre Zeitverschwendung, und alle würden über mich lachen, sagte ich mir im stillen. Während die Tage vergingen, wurde ich immer unglücklicher. Die Schreie meines jüngeren Bruders ließen mich erstarren. Es lag ein Gefühl von Terror in der Luft, dem ich mit aller Gewalt entkommen wollte. Ich wußte nicht, wie und wohin. Ich dachte über Selbstmord 101
nach. Ich hatte es schon früher einmal versucht. Ein paar Jahre früher – ich muß etwa fünf oder sechs gewesen sein – wohnten wir in Fezahanungs Haus, in der Nähe des Hauses, das meinem Onkel gehörte. Die Eigentümerin des Hauses rauchte Opium. Es stand immer ein Maghai, ein Feuerbecken, bereit. Sie saß auf einer kleinen Matte und einigen Kissen und rauchte drauflos. Ich konnte es riechen, wenn sie rauchte. Ich wußte, daß sie das Opium irgendwo unter der Wäschemangel aufbewahrte. Eines Tages, als niemand zu Hause war, suchte ich danach. Ich fand es in einer kleinen Schachtel. Darin waren Klümpchen mit klebrigem Opium. Ich holte eins heraus und nahm es mit in unsere Wohnung. Ich verabschiedete mich von allen Dingen, die ich im Zimmer liebte. Kein Mensch war im Haus. Das war gut. Ich konnte es jetzt tun. Ich biß ein Stück ab, schluckte es mit Wasser hinunter und steckte den Rest in einen kleinen Stoffbeutel, den ich mir um den Hals hängte. Auf diese Weise wurden Geheimnisse aufbewahrt. Wenn Mutter etwas Geld oder sonst etwas Wertvolles hatte, hängte sie es sich um den Hals und verbarg es unter ihren Kleidern. Dann küßte ich die Dinge, die ich liebte, legte mich auf den Fußboden und deckte mich mit einem Schador zu. Ich war sicher, daß ich nicht wieder aufwachen würde. Ich schlief ein, aber nach einer Weile wachte ich doch wieder auf. Es ging mir gut. Ich war überrascht. Ich dachte, Opium würde mich umbringen, wenn ich eine Dosis nahm, die groß genug war. Offensichtlich hatte ich nicht genug genommen. Der Gedanke an Selbstmord war beruhigend. Ich hatte da etwas, auf das ich zurückgreifen konnte. Ich dachte daran, wie ich mich gefühlt hatte, bevor ich das Opium nahm, als ich mit dem Schador zugedeckt auf dem Boden lag. Ich würde im Schlaf sterben. Es war tröstlich, 102
beruhigend. Ich trug den Rest des Opiums noch eine Weile um den Hals. Schließlich warf ich es weg.
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KAPITEL ZEHN Ich hörte oft Radio. Tatsächlich war das Radio meine einzige richtige Informationsquelle. Ich hörte immer die Nachrichten. Meinen Bruder ärgerte das. »Wie willst du die Nachrichten verstehen? Was glaubst du zu verstehen?« »Ich höre die Nachrichten gerne«, sagte ich. Eines Tages, als ich verzweifelt war und mich fragte, zu wem ich gehen, an wen ich mich wenden konnte, dachte ich: Wenn ich nur mit jemandem am Telefon sprechen könnte. Ich beschloß, nach nebenan zu gehen, wo ein Telefon stand. Die Familie hatte mir gesagt, daß ich in ihr Haus gehen und das Telefon benutzen konnte, wenn ich wollte. Ich hatte ihren Schlüssel und öffnete mir die Tür. Das Haus war leer. Ich rief eine Radiosendung an, Heim und Familie, die an jedem Morgen lief. Es handelte sich um eine Problemstunde – die Leute teilten mit einem Brief ihre Probleme mit, und diese wurden dann diskutiert, und es wurde eine Lösung angeboten oder ein Vorschlag gemacht. Ich weinte die ganze Zeit und bat darum, mit den Leuten dieser Sendung sprechen zu dürfen. »Du kannst mit mir sprechen«, antwortete ein Mann mit freundlicher, mitfühlender Stimme. »Was ist das Problem?« Ich konnte nicht sprechen. Ich weinte immer. Ich weinte eine ganze Zeitlang, aber er hörte nur zu. »Es tut mir leid«, brachte ich schließlich hervor. »Macht nichts, ich bin hier«, sagte er. »Ich werde dir so 104
lange zuhören, wie du es für nötig hältst.« Ich konnte es nicht glauben. Es veranlaßte mich, noch mehr zu weinen. Jemand wollte mir zuhören. Ich weiß nicht, wie lange das so weiterging, aber schließlich gelang es mir, zu sprechen. Ich erklärte meine Situation, erzählte, daß meine Familie mich nicht wirklich wollte, daß mich mein Bruder verprügelte, ganz schwer manchmal. »Ich besuche die Leute über uns. Ich habe Nachbarn, aber ich kann mit ihnen nicht über dieses Problem reden. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin sicher, mein Bruder wird mich irgendwie beseitigen. Er wird mich loswerden. Er hat gesagt, daß sie mich in ein Waisenhaus stecken sollen. Mutter hat es vor meinen Ohren gesagt. Der einzige Grund, aus dem ich noch hier bin, ist der, daß die Leute reden würden, wenn sie mich ins Waisenhaus stecken. Ich möchte einfach weg. Ich möchte raus aus dieser Wohnung. Bitte helfen Sie mir. Wissen Sie, wohin ich gehen kann? Irgendwohin?« »Hör zu, sag mir, wo du wohnst. Wir kommen und besuchen dich. Ich komme mit einer Dame, mit einer Kollegin von mir.« »Das kann ich nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo ich wohne. Ich weiß nicht, was sie dazu sagen. Meine Familie, meine Mutter, sie würden wütend sein. Was würden sie mir antun, wenn ich es täte?« »Nun, hör zu, laß mich etwas anderes vorschlagen. Warum schreibst du uns nicht einen Brief? Such jemanden, der dir hilft, all die Dinge aufzuschreiben, die du mir erzählt hast, und dann werden wir im Radio darüber sprechen. Ich bin sicher, daß etwas dabei herauskommt. Ich versichere dir, daß etwas herauskommt.« »Oh, das ist eine gute Idee. Ich glaube, das werde ich 105
tun.« »Hast du jemanden, der dir hilft, den Brief zu schreiben?« »Ja. Meine Nachbarin nebenan. Aber ich kann ihr nicht all die Dinge sagen, die ich Ihnen erzählt habe.« »Nein, das mußt du auch nicht. Erzähl ihr einfach das, was du kannst. Ich werde mich an deinen Namen erinnern. Und ich werde dafür sorgen, daß du Hilfe bekommst. Vertraue mir. Ich tue das für dich und kümmere mich darum. Es tut mir leid, daß du unglücklich bist.« »Auf Wiedersehen«, sagte ich und schluchzte und schluchzte. Es war ein großes Haus, und ich brauchte keine Angst zu haben, daß mich jemand hörte. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich in diesem Haus weinte. Meine Kehle platzte. Meine Augen trockneten aus. Mein Kopf zersprang. Aber ich fühlte mich besser. Man hatte mir zugehört. Der Mann vom Radio hatte mit mir am Telefon gesprochen. Er glaubte nicht, daß er seine Zeit verschwendete. Er schimpfte mich nicht aus. Er hörte mir zu. Er verstand mich, machte einen Vorschlag. Das war eine gute Idee. Ich würde schreiben, und er sagte, daß er sich an mich erinnern würde. Der Gedanke an den Brief wurde jeden Tag stärker in mir. Ich dachte ständig darüber nach, wie ich ihn formulieren, wieviel ich schreiben, was ich sagen sollte. Ich arbeitete alles im Kopf aus, jeden Tag, jede Nacht. Ich schlief mit dem Brief ein und wachte mit ihm auf. Ich träumte davon, wie ich ihn schreiben würde. Ich ging zu Aghdas Khanom, die nebenan wohnte. Sie war Anfang Zwanzig, ein freundliches, sanftes und mitfühlendes Mädchen. Ich freute mich immer, wenn ich in ihr Haus ging. Sie war einsam. Sie hatte keine Kinder. 106
Sie war gebildet, konnte lesen und schreiben. Sie war die beste Person, an die ich mich wenden konnte. Ich fühlte, daß sie auf meiner Seite war. »Würden Sie einen Brief für mich schreiben?« fragte ich sie. »Ja. An wen?« Ich erklärte ihr alles. »Ja, natürlich tue ich das. Du sagst nur, was du schreiben willst, und ich schreibe es.« Sie schrieb alles nieder, was ich sagte, las es mir dann vor und fragte, ob ich irgendwelche Änderungen wollte. »Nein, es ist gut so.« Und so gaben wir den Brief auf. Ich sagte keinem etwas davon. Ich hörte die Problemstunde jeden Tag. Nach ungefähr einer Woche kam mein Brief dran. Ein Mann und eine Frau leiteten die Sendung. »Wir haben einen Brief von einem jungen Mädchen«, verkündete einer von ihnen. »Er geht wie folgt: ›Lieber Herr. Ich schreibe Ihnen, weil ich verzweifelt bin. Ich hoffe, Sie können mir helfen. Ich bin dreizehn Jahre alt, und ich bin blind. Ich lebe mit meiner Mutter und zwei Brüdern in einem Zimmer. Meine Mutter geht jeden Tag arbeiten. Sie ist eine Waschfrau. Mein älterer Bruder arbeitet in einer Schneiderwerkstatt, und mein jüngerer Bruder geht zur Schule. Er ist in der vierten Klasse. Ich bleibe den ganzen Tag zu Hause. Ich habe nichts zu tun. Ich langweile mich. Das macht mich deprimiert und unglücklich. Es gibt nichts für mich zu tun. Ich benutze meinen Verstand nicht. Ich tue nichts Nützliches. Ich helfe Mutter bei der Hausarbeit, aber das ist nicht genug für mich. Ich helfe meinem jüngeren Bruder bei seinen 107
Schularbeiten. Er liest mir seine Hausaufgaben vor, und ich helfe ihm, sie zu verstehen. Nachdem er sie mir vorgelesen hat, verstehe ich sie und erkläre sie ihm, seine Mathematik und alles. Ich habe eine Freundin, die zur Schule geht. Sie liest mir aus ihren Schulbüchern vor, und das verstehe ich auch. Und ich erkläre es ihr. Ich lerne von ihnen und dann lehre ich sie, sowohl meine Freundin als auch meinen Bruder. Aber das ist nicht genug. Ich möchte gerne viel mehr lernen. Sehen Sie, ich glaube, daß ich, wenn ich jetzt lerne, später, wenn ich erwachsen bin, lehren kann. Es muß eine Stelle geben, wo ich lernen kann. Ich brauche Hilfe, um sie zu finden. Werden Sie mir helfen? Bitte. Ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, zu Hause zu sitzen und nichts zu tun. Dies ist eine Qual. Ich bin unglücklich. Alle anderen gehen zur Schule und lernen etwas. Es muß irgendwo etwas geben, was ich tun kann. Ich höre Radio und lerne viel aus dem Radio. Ich muß eine Stelle finden, wo ich lernen kann. Ich muß unbedingt lernen. Bitte helfen Sie mir. Sie sind meine einzige Hoffnung. Mit freundlichen Grüßen.‹« Die Stimme des Mannes war vertraut. Er war derjenige, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte. Sie beschäftigten sich eine ziemlich lange Zeit mit meinem Brief. Sie diskutierten mein Problem und sagten, daß sie hofften, irgendein Zuhörer mit irgendwelchen Ideen würde sie anrufen. »Es muß etwas geben«, sagten sie. »Es geht nur darum, es zu finden. Sie ist ein intelligentes Mädchen, sie verdient Hilfe. Ich hoffe, wir werden in der Lage sein, etwas für sie zu tun. Wir warten auf die Vorschläge unserer Hörer. Wir werden dir schreiben, Monir, gib die Hoffnung nicht auf.« Ich war ganz aufgeregt. Ich hatte Freunde gefunden, Leute, die auf meiner Seite standen. Ich glaubte an sie. Ein paar Tage später kam ein Brief. Ich brachte ihn 108
sofort zu Aghdas Khanom, und sie öffnete ihn aufgeregt und las ihn mir vor: »Liebe Monir. Nach der Sendung Deines Briefs hat sich eine Hörerin mit uns in Verbindung gesetzt, jemand namens Dr. Vahidi. Dr. Vahidi möchte Dir helfen. Hier ist ihre Telefonnummer. Wenn Du sie anrufst, wird sie ein Treffen mit Dir vereinbaren. Sie kennt eine Blindenschule in Isfahan, wo Du hingehen kannst. Viel Glück und melde Dich mal wieder. Wenn Du irgendein Problem hast, dann setz Dich mit uns in Verbindung.« Endlich war Licht am Ende des Tunnels. Aghdas Khanom teilte meine Hoffnungen. Wir sagten Mutter Bescheid, und Aghdas Khanom las ihr den Brief vor. Sie konnte es nicht glauben. »Gott ist groß«, murmelte Mutter immer wieder vor sich hin. »Meine Gebete sind erhört worden.« Ich hatte gehört, wie sie in ihren Gebeten um irgendeine Aussicht für mich gebeten hatte. Irgendeine Aussicht – wir wußten nicht, was für eine. Sie bat darum. Ich bat die ganze Zeit darum. Wir hielten Ausschau nach ihr, und nun schien sie da zu sein. Ich mußte telefonieren. Ich eilte zu unserer Nachbarin, um zu fragen, ob ich das Telefon benutzen dürfte. »Natürlich kannst du das«, sagte sie. Ich wählte die Nummer. Eine Frau meldete sich. Ich fragte nach Dr. Vahidi. »Sie ist im Augenblick nicht hier. Ruf sie heute abend an, wenn sie von der Arbeit nach Hause gekommen ist.« »Ich werde heute abend anrufen«, antwortete ich aufgeregt und hoffnungsvoll. Das Telefonat war echt gewesen, die Nummer stimmte. Es war kein böser Scherz. Ich konnte es kaum erwarten. 109
Am Abend hastete ich zum Telefon. Dieselbe Stimme antwortete. »Sie spricht im Augenblick mit Patienten. Ruf in etwa einer Stunde noch mal an. Dann ist sie frei und kann mit dir sprechen.« Ich rief abermals an. Dieselbe Stimme meldete sich. »Ja. Es ist Monir.« Die Frau Doktor kam ans Telefon. Ich wollte meinen eigenen Ohren nicht trauen. Sie existierte. Sie war an mir interessiert. Sie wollte mir helfen. »Komm morgen abend mit deiner Mutter zu mir. Ich gebe dir meine Adresse. Kannst du sie behalten?« Sie sagte mir die Adresse und erklärte, wie ich hinkam. »Ich werde morgen nachmittag da sein.« Ich war aufgeregt, voll banger Erwartung. Mutter war ebenfalls voller Hoffnung, das spürte ich. Die Neuigkeit sprach sich herum. Alle erfuhren davon, die ganze Familie und die Nachbarn, Verwandte und Freunde, alle erfuhren, was geschah, was ich getan hatte. »Monir hat diesen Brief ans Radio geschrieben, und ein Doktor, eine Doktorin, bietet ihr Hilfe an.« Ich wurde plötzlich wichtig. Mein Bruder war überrascht. Wie dachte ich darüber? fragten die Leute. Ich konnte es nicht erklären. Niemand konnte meine Motive erraten, die Intensität meiner Verzweiflung und mein Verlangen, diesem Haus entfliehen zu können.
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KAPITEL ELF Am frühen Nachmittag des nächsten Tages brachen wir auf. Mutter und eine andere Frau, eine Nachbarin, begleiteten mich. Wir mußten zwei Busse nehmen. Wir rechneten viel Zeit ein, um Dr. Vahidis Wohnung zu erreichen, denn sie wohnte im Stadtzentrum. Nach ein paar Stunden kamen wir an, gingen die Treppe zum dritten Stock hinauf und klingelten. Eine Frau ließ uns herein. Wir mußten uns hinsetzen und warten, während Dr. Vahidi die Patienten behandelte. Dies hier war ihre Praxis und ihre Wohnung. Es war eine große Etage mit fünf oder sechs Räumen und einem Flur, der als Wartezimmer diente. Menschen kamen und gingen. Sie war Gynäkologin, und dies war ihre Privatpraxis. Wir nahmen Platz und warteten. Nach einer Weile, als die Sprechstunde beendet war, kam sie heraus. Sie trat geradewegs auf mich zu. »Hallo, Monir«, sagte sie und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich versuchte aus Respekt aufzustehen. »Bleib sitzen.« Sie drückte mit der Hand auf meine Schulter. Einen Augenblick lang schwieg sie. Sie schien sich zu fragen, welche der beiden Frauen meine Mutter war. »Ich bin ihre Mutter«, erklärte Mutter. »Wie heißen Sie?« »Mahi«, erwiderte Mutter. »Mahi, seit wann ist Monir blind?« Mutter erzählte ihr die Geschichte meiner Erblindung. »Ist sie jemals behandelt worden?« 111
Mutter erzählte, daß ich eine Operation gehabt hatte, eine Hornhautverpflanzung durch Professor Sharam im staatlichen Krankenhaus, kurz nach unserem Umzug nach Teheran. Es war nichts dabei herausgekommen. Für mich war es fast so, als ob es gar nicht passiert wäre. Ich muß sechs oder sieben gewesen sein. Ich hatte keine Vorstellung von dem, was passierte, aber ich glaubte nicht daran, daß ich mein Augenlicht zurückgewinnen könnte. Ich erinnere mich daran, daß die Patienten nach Bettpfannen schrien, aber niemand reagierte, und ich die Bettpfannen holte und dann ausleerte. Ich fand Schuhabsätze und Gummistücke im Essen und alle Arten von Abfall im Eintopf. Ich erinnere mich an einen Patienten, der entlassen werden sollte und schrie, daß er nicht wüßte, wohin er gehen konnte. Er wollte das Krankenhaus nicht verlassen, und Professor Sharam warf ihn die Treppe hinunter und verfluchte ihn. Ich hörte die Krankenschwestern sagen: »Armer Mann, was wird aus ihm werden, jetzt, wo er auf der Straße steht?« Dr. Vahidi hörte Mutter geduldig zu, die Hand weiterhin auf meiner Schulter. Sie sagte, daß sie sich meine Augen ansehen wollte, und führte mich nach draußen ans Licht. »Ich möchte dich gerne zuerst zu einem Augenarzt bringen«, sagte sie. »Zu einem Augenspezialisten.« »Professor Sharam?« fragte ich schnell. »Nein, nicht zu ihm«, lachte sie. »Er ist jetzt ein alter Mann. Ich glaube nicht, daß er noch weiß, was er tut. Nein, dieser Arzt heißt Dr. Mehdi. Er ist ein Freund von mir. Ich möchte hören, was er über deine Augen denkt. Er könnte vielleicht etwas für dich tun.« Dann erzählte sie uns, daß sie eine Schule kannte. »Es ist eine Blindenschule in Isfahan. Sie ist für Mädchen. Betrieben von englischen 112
Missionaren. Die Frau, die die Schule leitet, ist wundervoll. Alle Mädchen nennen sie Mama. Du wirst dort sehr glücklich sein und viel lernen. Ich kann es für dich arrangieren, wenn du willst.« »O ja, bitte«, sagte ich. »Sie sind sehr gütig«, sagte Mutter dankbar. »Möchtest du heute nacht hier bei mir bleiben?« Ich schwieg. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Dies war viel zu schnell. »Würden Sie sie heute nacht hier bei mir lassen?« wandte sich Dr. Vahidi an meine Mutter. »Sie kann bei mir bleiben, solange sie will, und ich arrangiere alles. Sie ist ein intelligentes Mädchen, Ihre Tochter. Ich mag sie und möchte ihr gerne helfen.« »Sie sind sehr gütig, Dr. Vahidi. Möge Gott Sie belohnen. Niemand anders kann uns helfen.« »Möchtest du hier bei mir bleiben, Monir?« fragte sie mich wieder. »Ja, das möchte ich gerne, bitte«, sagte ich mit einer Begeisterung, die ich kaum kontrollieren konnte. »Sie können sie morgen besuchen, wenn Sie wollen, oder anrufen«, sagte Dr. Vahidi. »Monir kann bei mir bleiben, solange sie will.« Mutter und ihre Freundin verabschiedeten sich und ließen mich da. Ich machte mir ein Bild über ihre Wohnung. Gegenüber von ihrem Schlafzimmer lag das Badezimmer. Vom Schlafzimmer führte eine Tür in ihr Sprechzimmer und eine andere zum Flur. Es gab ein Wohnzimmer, ein Eßzimmer und ein Gästezimmer, in dem ich schlafen sollte, das Wartezimmer mit vielen Stühlen und die Küche. 113
Dr. Vahidi und ich wurden schnell Freunde. Sie zeigte mir, wie ich die Küche benutzen mußte. Ich fing an, Tee für die Patienten zu machen, ihnen die Tür zu öffnen und das Wartezimmer zu zeigen. Ich bediente das Telefon und übermittelte Nachrichten. Allmählich übernahm ich die Aufgaben ihrer Hilfskraft. Ich wurde zur Sekretärin, Rezeptionistin und Haushälterin. Ihre Teilzeitkraft ging und ich trat an ihre Stelle. Es machte Spaß. Ich hatte jetzt keine Zeit mehr, Radio zu hören. Ich redete mit den Menschen in der Praxis. Ich redete am Telefon. Ich lernte gerne, besonders, auf gebildetere Art und Weise zu sprechen. Mutter kam gelegentlich zu Besuch, und dann fing sie an, einmal in der Woche zu kommen, um sauberzumachen. Sie bekam kein Geld, aber wegen mir tat sie es gerne. Ich war glücklich. Ein paar Wochen später arrangierte Dr. Vahidi meinen Besuch bei Dr. Mehdi, dem Augenspezialisten. Wir gingen in seine Privatpraxis. Dr. Mehdi sagte, daß eine Chance bestand. Er würde eine Hornhautverpflanzung vornehmen. »Es ist die Hornhaut, die beschädigt ist. Ich glaube, der Nerv ist in Ordnung. Sie wird etwas sehen können, diese Hoffnung besteht.« Es würde etwa einen Monat dauern, bis ich ein Bett in der Privatklinik bekam, und Dr. Vahidi erklärte sich bereit, alle Kosten für eine Operation an meinem linken Auge zu übernehmen. Ich hoffte und glaubte nicht, daß ich mein Augenlicht wiedererlangen könnte. Es war nicht möglich. Genauso wie ich keine Hoffnung gehabt hatte, daß die erste Operation erfolgreich sein würde. Dr. Vahidi hingegen war begeistert. Vielleicht schützte ich mich vor einer 114
Enttäuschung. Ich machte mit, aber ohne jede Erwartung. Von meinem Zuhause wegzukommen, von meinem Bruder, ein neues Leben führen zu können, das genügte mir. Es ging mir nicht um mein Augenlicht. Manchmal hörte ich, wie Dr. Vahidi über mich sprach. »Sie ist phantastisch. Sie ist ein intelligentes Mädchen. Wirklich sehr klug. Sie bügelt wunderbar für mich, macht Tee, kümmert sich um die Patienten, übermittelt Nachrichten. Sie hat ein hervorragendes Gedächtnis. Ich wünschte, ich könnte von ihr lernen. Sie verblüfft mich, so schnell ist sie. Sie ist ein so fähiges Mädchen.« Ich war glücklich, daß sie glücklich mit mir war, aber ich glaubte nichts von dem, was sie sagte, konnte es nicht glauben. Ich war diese freundlichen Worte nicht wert. Ich freute mich, daß sie mir vertraute, daß sie mich bügeln ließ, daß sie mich ihre Sachen anfassen ließ, daß ich mit ihren zarten, teuren Sachen umgehen und sie berühren und reinigen durfte. »Ich hoffe, ihr Augenlicht wird wiederhergestellt«, sagte sie. »Sie sollte eine gute Zukunft haben.« Am Tag arbeitete Dr. Vahidi im Krankenhaus und abends in ihrer Privatpraxis. Ich kümmerte mich um die Patienten. Einige merkten gar nicht, daß ich nicht sehen konnte. Ich bewegte mich zuversichtlich und natürlich, meiner selbst ganz sicher. Ich war entschlossen, bei meiner neuen Arbeit, in meinem neuen Leben Erfolg zu haben. An dem Tag, an dem ich ins Krankenhaus ging, fragte ich mich, wie ihre Reaktion ausfallen würde, wenn die Operation mißlang. Würde sie ihr ganzes Interesse an mir verlieren? Würde sie mich nach Hause zurückschicken, so daß ich für immer mit meinem Bruder leben müßte? Würde ich zu Hause lebenslang verdammt sein? 115
Ich wurde in ein Zimmer mit zwei anderen Patienten gelegt. Die Krankenschwestern schwatzten, scherzten und lachten mit mir. Ich lachte ständig. Manchmal kam Dr. Vahidi und besuchte mich. Auch Mutter besuchte mich. Die Hornhautverpflanzung mißlang. Ich hörte nicht auf zu lächeln. Ich zeigte keine Enttäuschung. »Das ganze Geld – für nichts«, hörte ich Dr. Vahidi sagen. »Und das sind nur die Krankenhauskosten.« Nach dem, was ich mitbekam, zahlte sie das Chirurgenhonorar nicht. Es bekümmerte mich, daß das ganze Geld für mich verschwendet worden war. All die Mühen, die ganze Fürsorge, die Krankenschwestern – war ich das wert? Und Dr. Vahidi kam aus Isfahan. Isfahanis, hieß es, waren geizig und kleinlich. Nach zehn Tagen kehrte ich in Dr. Vahidis Wohnung zurück, obwohl die Operation mißlungen und ihr Geld verschwendet worden war. Ich war verlegen, als ich sie sagen hörte, wie enttäuscht sie war. Ich wünschte, die Erde würde sich öffnen und mich verschlingen. Sie sagte, daß ich so lange bei ihr bleiben könnte, wie ich wollte. Dann würde sie alles arrangieren, damit ich in die Blindenschule in Isfahan gehen konnte. Die Zeit verging, und sie vergaß die Blindenschule. Das beunruhigte mich nicht. Ich war mit den Dingen so zufrieden, wie sie waren. Ich hörte Gerüchte, daß sie heiraten wollte – es gab da einen Mann, der sie jeden Tag besuchte. Sie würde ihn heiraten und in sein Haus nördlich von Teheran ziehen, wo die Reichen wohnten. Sie wollte, daß ich mit in ihr neues Heim kam. Sie dachte nicht mehr an meine Schule, die große Veränderung in ihrem Leben stand im Vordergrund. Ich erinnerte sie nicht daran. Ich mußte vorsichtig sein, sie um etwas zu bitten, damit ich sie 116
nicht verärgerte. Ihr zukünftiger Mann war ein reicher Geschäftsmann mit einem geräumigen Haus, einem großen Garten und einem Swimmingpool. Dr. Vahidi brachte immer große Mengen von Medikamenten aus dem Krankenhaus mit nach Hause und verstaute sie unter ihrem Bett. Der Stapel wuchs, bis der Platz unter dem Bett ganz ausgefüllt war. Dann kam ein Mann, der Apotheker von unten, und holte alle ab. Bei einer Gelegenheit kam er aus dem Schlafzimmer und sagte zu Mutter: »Ich habe Dr. Vahidi zehn Pfund gegeben, um Sie für Ihre Arbeit zu bezahlen.« Mutter war begeistert und wartete, aber Dr. Vahidi gab ihr das Geld nie. Mutter erinnerte sie an das, was der Mann gesagt hatte. »Zur Hölle mit ihm«, sagte sie. Sie hätte nichts von ihm bekommen. Und später hörte ich von einer der Krankenschwestern, die in ihrer Freizeit für Dr. Vahidi arbeitete, daß es im Krankenhaus eine Untersuchung gegeben hatte, bei der es um fehlende Medikamente ging. Es war ein staatliches Krankenhaus. Viele Geräte und Medikamente waren verschwunden, und man beschuldigte einige der Ärzte, sie zu stehlen. Ich zählte also zwei und zwei zusammen und wußte jetzt, woher die Medikamente kamen. Ich dachte an das Geld, das sie meiner Mutter vorenthielt. Nach und nach verkaufte Dr. Vahidi ihre Sachen und ihre Wohnung und zog zu ihrem Ehemann. Sie wollten in Urlaub fahren, und ich sollte bei meiner Familie bleiben, bis sie zurückkehrten. Dann sollte ich sie anrufen und bei ihnen wohnen. Das tat ich. Ich suchte sie in ihrem neuen Haus auf, dem weiträumigen Haus mit dem großen Garten und dem Swimmingpool. Sie hatten einen Koch, einen Chauffeur, 117
einen Gärtner und gaben oft Gesellschaften. Sie hatte einen zehnjährigen Neffen aus Isfahan, um den sie sich kümmerte. Er ging zur Schule, und wir schliefen beide in einem Zimmer im ersten Stock. Es war nicht mehr dasselbe für mich. Es gab nicht viel für mich zu tun, weil sie keine Praxis mehr führte. Ich beantwortete nur das Telefon und war ansonsten wieder untätig. Ihr Mann machte mir einmal sexuelle Avancen. Er drängte mich in eine Ecke und küßte mich. »Du kannst mich ruhig küssen«, sagte er. »Irgendwann mußt du ja mal heiraten.« Ich verstand nicht, was passierte, es gefiel mir nicht und überraschte mich. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß sich ein Mann mir gegenüber so verhielt. Er war ganz zittrig. Ich wußte nicht, was vor sich ging. Ein anderes Mal berührte mich ihr Koch an der Brust, und ich erzählte Dr. Vahidi in Gegenwart ihres Mannes davon. Ihr Mann wurde sehr wütend auf den Koch und versetzte ihm einen Schlag. »Wie kannst du es wagen, dieses Mädchen anzufassen?« sagte er zornig. »Ich hätte dieses Mädchen angefaßt?« erwiderte der Koch ärgerlich. »Welches Mädchen?« »Dieses hier«, sagte er. Ich stand neben Dr. Vahidi. »Ist das ein Mädchen?« sagte der Koch. »Ist das ein Mädchen?« wiederholte er. Dieser Vorfall beendete auch die Avancen des Ehemanns. Ich begann mich zu langweilen und benutzte oft das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und wählte irgendeine Nummer. Wenn ein junger Mann antwortete, fing ich eine 118
Unterhaltung an. Mit einem jungen Mann, der in einem Büro arbeitete, schloß ich Freundschaft. Nach einiger Zeit redete ich jeden Tag mit ihm. Er bestand darauf, mich zu sehen. »Sag mir, wo du wohnst. Ich würde dich so gerne sehen, selbst aus der Entfernung. Ich verspreche, daß ich nicht in deine Nähe komme, wenn du es nicht willst. Ich sehe dich nur an, aus der Entfernung.« »Nein.« Ich brachte Entschuldigungen vor. Ich wollte nicht, daß er mich sah. Ich konnte nicht das Risiko eingehen, daß er von meiner Blindheit erfuhr und nicht mehr mit mir sprechen wollte. Eines Tages saß ich draußen im Garten. »Da ist ein junger Mann, der nach dir fragt«, sagte das Hausmädchen. Ich wußte, wer es war. Später rief ich ihn an. »Ich habe dich gesehen«, sagte er. »Ich kenne deine Telefonnummer. Ich weiß, wo du wohnst.« Er war wütend auf mich. Ich hatte ihn enttäuscht. War er der Ansicht gewesen, mit einem schönen, reichen, gebildeten Mädchen zu sprechen? Statt dessen sah er mich. Ich rief ihn nicht wieder an. »Was ist falsch daran, wenn wir uns kennenlernen?« hatte er immer gefragt. »Nichts. Es ist nur so, daß es meine Mutter nicht gerne hat, wenn ich ausgehe.« Im stillen sagte ich zu mir: Es ist etwas falsch daran, schrecklich falsch. Meine Blindheit, mein Aussehen. Ich habe keine Bildung, ich bin nicht das, was du gewohnt bist. Ich stehe völlig außerhalb deines Erfahrungsbereichs. Ich war traurig, als ich aufhörte, mit ihm zu reden. Am 119
liebsten hätte ich gesagt: Bitte, geh nicht weg, verlaß mich bitte nicht. Ich liebe es, mit dir zu reden. Ich habe so große Freude daran, mit dir zu reden, deine Stimme zu hören. Ich lerne von dir. Ich liebte es zu lernen, ich kämpfte verzweifelt darum. Das Radio genügte mir nicht mehr. Einmal saßen Mutter und ich mit Dr. Vahidi in ihrem vom Chauffeur gefahrenen Wagen, als sie unterwegs ihre Putzfrau gehen sah. Sie war auf dem Weg zu Dr. Vahidis Haus, um dort den ganzen Tag zu arbeiten. »Hallo«, sagte Dr. Vahidi zu ihr. »Wir sehen uns im Haus.« Dann wies sie den Chauffeur an, weiterzufahren. Zu uns sagte sie: »Ich wollte sie nicht mitnehmen, denn dann würde sie von mir zuviel erwarten.« Es war ein ziemlich langer Weg bis zum Haus. Es war ein großes Auto mit sehr viel Platz. Die Putzfrau hätte leicht reingepaßt, dachte ich im stillen. Ich erinnerte mich daran, wie Mutter immer nach langen Wegen von der Arbeit nach Hause kam und vor Erschöpfung zusammenbrach. Dr. Vahidis Logik ergab keinen Sinn für mich. Während die Zeit verging, bekam ich das entschiedene Gefühl, daß die Situation nicht richtig war. Ich mußte etwas tun. Ich war untätig, und mein Leben strich so dahin. Dr. Vahidi schien die Blindenschule, von der sie anfänglich gesprochen hatte, völlig vergessen zu haben. Ich ging zurück zu Aghas Khanom und bat sie, einen Brief zu schreiben, diesmal an das Büro des Premierministers. Ich erklärte darin, daß es in Isfahan eine Blindenschule gab, von der ich gehört hatte. »Ich möchte dort hingehen, ich möchte lernen«, schrieb ich. »Bitte helfen Sie mir.« Ich erhielt einen Brief, in dem es hieß, daß sie mich nach 120
Isfahan schicken und die Kosten übernehmen würden. Ich sollte so schnell wie möglich hingehen und den Brief mitbringen – es war alles arrangiert. Dies war wundervoll, dies war genau das, was ich wollte. Ich war traurig, daß ich meine Freunde zurücklassen mußte. Mutter sagte Onkel Bescheid, und er sagte, daß er uns nach Isfahan begleiten würde.
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KAPITEL ZWÖLF Während der Zugreise nach Isfahan fühlte ich mich nicht gut und schlief den größten Teil der fünf- oder sechsstündigen Fahrt, wie ich es in Zeiten banger Erwartung immer tat. Als wir mit dem Brief in Isfahan ankamen, nahmen wir gleich ein Taxi nach Noorain, zur Blindenschule. Sie erwarteten mich. Wir betraten eine große Eingangshalle, die kühl, sauber und geschäftig war. In allen Richtungen herrschte reges Kommen und Gehen. Alle schlurften mit den Füßen und redeten miteinander. Wir wurden zu einigen Sitzen auf der rechten Seite geführt, unter der Treppe. Die Leiterin würde uns gleich empfangen. In der Zwischenzeit traten einige der Mädchen auf uns zu und redeten uns an. »Bist du die Neue? Wie heißt du? Wie alt bist du? Wo kommst du her?« Frage auf Frage. Alle sprachen durcheinander. Sie lachten, sie waren glücklich. Eine oder zwei kamen ganz nahe heran und berührten mich überall, um zu sehen, was ich trug, wie groß ich war, welche Figur ich hatte. »Sie hat lange Haare«, riefen sie sich gegenseitig zu. »Oh, wie schön sie sind.« Dies war ganz komisch für mich. Ich war ein bißchen verlegen. Niemand hatte mich bisher so angefaßt. Tatsächlich hatte ich vorher noch nie andere Blinde kennengelernt. »Hallo, wer ist das?« Ein Mädchen trat an mich heran. »O nein, geh weg, laß sie in Ruhe«, sagten alle mit verlegenem Lachen und versuchten, das Mädchen von mir 122
wegzuziehen. »Monir, sie ist nicht ganz richtig. Sie wird dich überall abtatschen, umarmen und dich nicht in Ruhe lassen. Sie ist, du weißt schon, nicht ganz richtig im Kopf.« Alle lachten wieder. »Ich will Monir sehen«, sagte das Mädchen mit unschuldiger Stimme. »Noch nicht, du kannst sie später sehen. Mama hat sie noch nicht gesehen. Warte, bis du an der Reihe bist.« Mama? Ich erinnerte mich. Die Leiterin wurde von allen Mädchen Mama genannt. In diesem Augenblick erschien Mama, kam direkt auf mich zu und gab mir die Hand. »Du bist Monir?« fragte sie in Farsi. »Willkommen, wir haben dich schon erwartet.« Sie schüttelte auch meiner Mutter und Onkel die Hand. »Sie sind ihre Mutter?« »Ja«, antwortete Mutter scheu. Sie wechselten ein paar Worte. Mutters starker Akzent war mir peinlich. »Oh, sie ist türkisch«, wisperten sich die Mädchen zu. Sie kicherten. Ich hatte ein banges Gefühl, ängstigte mich ein bißchen. Wie würden sie mich behandeln? Sie sprachen alle Farsi. Ich hatte keinen türkischen Akzent, wenn ich Farsi sprach, aber der Akzent meiner Mutter hatte alles verraten. »Kommen Sie mit ins Büro«, sagte Mama. »Mama« war eine Mischung von »Mummy« und »Mamam«, einem Farsi-Wort. Wir gingen ins Büro. Mutter gab ihr den Brief aus dem Büro des Premierministers. Sie betrachtete ihn. »Ja, ich weiß, daß sie gesagt haben, sie würden für sie bezahlen. Wir freuen uns sehr, Monir hier bei uns zu haben. Sie wird hier sehr glücklich werden.« »Ja, wir können erkennen, daß hier alle glücklich sind«, 123
sagte Onkel Ahmad. Mama hatte eine sehr angenehme Art, ich fühlte mich sofort wohl bei ihr. Ihre Stimme war sanft, fürsorglich, sicher. Ich fühlte mich behaglich, entspannt. Sie hatte eine fröhliche Stimme, ruhig und sachlich, und sprach in gebrochenem Farsi. Sie entschuldigte sich bei Mutter und Onkel dafür, daß sie so schlecht Farsi sprach. »Ich bin schon so lange hier«, sagte sie. »Ich schäme mich, daß ich kein besseres Farsi spreche. Monir kann in den Ferien nach Hause kommen, ist das in Ordnung?« Sie wandte sich mir zu. Was mich anging, war das überhaupt nicht in Ordnung. Ich wollte in dieses Haus nie wieder zurückkehren. Ich hoffe, sie schicken mich nicht mit Gewalt, sagte ich im stillen. Ich schwieg, aber mein Gesicht muß meine Gedanken widergespiegelt haben. »Du mußt nicht gehen, wenn du nicht willst«, sagte sie freundlich. »Aber du kannst es tun, wenn du willst. Ich bin sicher, daß du nach einiger Zeit hier gehen möchtest, was meinst du?« Ich schwieg weiterhin. Sie lachte und tätschelte meine Schulter. »Wir werden sehen, nicht wahr? Es ist noch lange hin bis zu den Ferien.« Es war Juli, und die nächsten Ferien kamen erst im folgenden März. »Gibt es noch Fragen, die Sie gerne stellen möchten?« »Können wir sie besuchen?« fragte Onkel. »Natürlich, jederzeit. Wann immer Sie wollen.« »Wir können ihr schreiben.« »Sie können ihr soviel schreiben, wie Sie wollen, und sie wird auch Ihnen schreiben, hoffe ich. Nicht wahr, Monir?« Ich schwieg. 124
»Komm schon, sag etwas«, lachte sie und tätschelte wieder meine Schulter. »Möchtest du nicht etwas sagen?« »Ja«, antwortete ich widerstrebend. »Sie können sich umsehen, bevor Sie gehen. Die Mädchen werden Ihnen alles zeigen. Bleiben Sie über Nacht in Isfahan?« »Ja, wir bleiben«, sagte Onkel. »Wir kommen morgen wieder und verabschieden uns.« »Fein.« »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit«, sagte Mutter mit trauriger Stimme. Sie verlor ihre Tochter. Sie hatte sich das seit Jahren gewünscht, und nun geschah es tatsächlich. Sie verspürte sowohl Traurigkeit als auch Erleichterung. Ungläubigkeit lag in ihrem Tonfall: Geschah es wirklich? Und ein Hauch von Versagen. Sie hatte es nicht geschafft, sich richtig um mich zu kümmern, mit mir zurechtzukommen. Und Sorge. Wird es ihr gutgehen? Sie wollten sich nicht umsehen. Das würden sie morgen tun, wenn sie wiederkamen, um sich richtig zu verabschieden. So wie sie klang, mußte Mutter sehr müde, sehr angespannt aussehen. »Alles Gute, Monir, wir kommen morgen wieder her«, brachte sie hervor und berührte mich. Ich stand bewegungslos da, reagierte nicht. Sie küßte mich, und dann gingen sie. Die Mädchen, die alle draußen in der Halle gewartet hatten, umringten mich. Mehr und mehr von ihnen kamen und stellten sich vor. »Sie ist aus Teheran«, erzählten sie sich. »Du bist die zweite Teherani hier, wir haben schon eine Teherani, wir nennen sie Shari, du wirst sie noch kennenlernen, sie ist gerade in den Ferien bei ihrer Familie in Teheran.« 125
»Komm, wir führen dich herum und zeigen dir alles.« »Ich möchte ihren Arm nehmen.« »O nein, ich war zuerst hier.« »O bitte.« »Nein.« »Ich möchte jetzt ihren Arm nehmen.« »Du bist später dran.« »Na gut.« Zwei von ihnen nahmen meine Arme, jede auf einer Seite, und zwei andere nahmen ihre Arme, so daß wir zu fünft in einer Reihe losgingen und die übrigen vorausgingen oder hinterherkamen. Alle plapperten und redeten über sich, über die Schule, übereinander und über ihre Freundinnen, die in den Ferien waren. »Es gibt vieles, was wir dir zeigen müssen. Das hier ist eine große Eingangshalle. Es gibt zwei Treppen, die nach unten führen, auf beiden Seiten der Vordertür. Jetzt gehen wir besser zuerst nach oben und zeigen du dein Zimmer. Du teilst ein Zimmer mit Zohreh. Wo ist Zohreh? Ah ja, da bist du ja, komm her, Zohreh. Das ist deine Zimmergenossin, das neue Mädchen. Sie heißt Monir.« Und sie redeten weiter über mich, sagten ihr, wie alt ich war, wo ich herkam und so weiter. »Sie hat lange Haare, zwei Zöpfe, auf jeder Seite einen, hübsch und dick und lang, ganz reizend.« »Oh, laß mich ihn anfassen.« »O nein, später, wenn du meinen Platz einnimmst«, sagte Sakineh lachend. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich ihren Arm. »Zoreh ist sechzehn, Amra ist dreizehn.« Sie sagten mir ihr Alter, in welcher Klasse sie waren, 126
wie gut sie zurechtkamen und wie gut sie Englisch sprachen. Ich hörte sie Englisch sprechen. Es war das erste Mal, daß ich eine Fremdsprache hörte. »O nein, ich kann das nicht lernen.« Ich verstand kein einziges Wort. »Wie macht ihr das?« Sie lachten. »Nun, wir lernen es einfach. Du wirst es auch lernen.« »Oh, das kann ich nicht. Nie.« »Oh, du wirst schon sehen. Wir bringen es dir bei. Du wirst es leicht lernen. Wir alle mußten es lernen.« Ich führte nur vor Augen, daß ich bereits eine Fremdsprache gelernt hatte – Farsi. Und ich verstand etwas Kurdisch. Die türkische Sprache, die Muttersprache meines Vaters, hatte ich weitgehend vergessen. Da ich in Teheran gelebt hatte, wo Farsi die Amtssprache war, und bei Dr. Vahidi gewesen war, die ein exzellentes Farsi sprach, redete ich mit dem Akzent der Gebildeten. »Hat sie nicht einen reizenden Akzent? Teherani! Sie spricht wunderschön.« Als ob sie vergaßen, daß ich eine Türkin war! »Du klingst ziemlich gebildet, hast du wirklich keinen Schulunterricht gehabt? Wann hast du dein Augenlicht verloren? Du klingst genau wie Shari. Sie ist in der achten Klasse und kommt aus Teheran. Ihr Vater ist Ingenieur. Ihnen geht es gut. Hast du einen Vater? Was macht er?« »Kommt weiter, Kinder.« »Was ist hier los?« »O Tahereh. Komm her und mach dich mit Monir, dem neuen Mädchen, bekannt.« Ich wurde in mein Zimmer gebracht. Da war mein Bett. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich in einem Bett schlafen. Ich befühlte es von allen Seiten, dann auch 127
meine Garderobe, einen Schrank neben dem Bett. »Wir holen deine Sachen gleich hoch und bringen alles unter.« »Willst du, daß ich dir helfe?« fragte Zohreh. »Ich tue das, wenn du willst.« »O nein, laßt sie in Ruhe, Mädels. Ich meine, sie sollte alleine auspacken. Sie wird nicht wollen, daß jemand sie stört und ihre Sachen anfaßt.« »Oh, ich bin schließlich ihre Zimmerkameradin«, sagte Zohreh. »Ich kann dir helfen, Monir, nicht wahr? Wenn du willst, heißt das.« »Oh, Zohreh ist nur neugierig und will wissen, was du alles hast.« Sie lachten. »Nein, ganz ehrlich, nein. Ich will dir nur helfen.« Das Zimmer hatte eine Tür, die auf den Balkon führte, der an einer Seite des Gebäudes entlanglief. Jedes Zimmer hatte einen Zugang sowohl zum Balkon als auch zum Flur. Im Sommer schliefen die Schülerinnen draußen auf dem Balkon. »Dies ist ein neues Gebäude«, erzählten sie mir. »Es ist erst vor ein paar Jahren eingeweiht worden. Prinzessin Ashraf hat es eingeweiht – sie ist die Zwillingsschwester des Schahs. Sie haben viel Geld zu dem Gebäude beigesteuert, tatsächlich haben sie das ganze Gebäude bezahlt. Es kostet, oh, Hunderttausende von Pfunden. Es ist wundervoll, daß sie soviel Geld geben.« Später erfuhr ich, daß die Schule beträchtliche Zuschüsse von der Regierung bekam und daß die Regierung sämtliche Kosten übernehmen würde, wenn sie die Kontrolle über die Besetzung des Lehrkörpers ausüben könnte. Dies hatten die Missionare jedoch nicht akzeptiert. Sie wollten ihr Personal selbst auswählen – Christen. 128
Ich bekam das ganze Gebäude gezeigt, alle Zimmer und die Badezimmer. Es gab eine Hausapotheke und die Personalquartiere, wo das Personal eine eigene Küche, einen eigenen Speisesaal, eigene Hausmädchen, eine Köchin und so weiter besaß. Dann gab es ein Kleiderzimmer. »Da drin sind ganz reizende Sachen, wunderschöne Kleider. Du wirst welche bekommen, warte nur ab. Sie kommen alle aus dem Ausland. Sie sind natürlich alle aus zweiter Hand, aber man kann wunderhübsche Sachen darunter finden. Das Rote Kreuz schickt viel, meistens aus England.« Es war ein Lagerraum voller Kleider. Die Schülerinnen im Teenageralter teilten sich ein Doppelzimmer. Der Raum der Kinder war ein großer Schlafsaal mit Schlafstellen für zehn bis fünfzehn Kinder im Alter bis zu fünf Jahren. Dann gab es zwei Räume für die Jungs zwischen fünf und acht Jahren – danach wurden sie in die Jungenschule geschickt, die von deutschen Missionaren geführt wurde. Die beiden Schulen arbeiteten eng zusammen. Drei Mädchen Anfang Zwanzig, die die Stars waren und in die höchsten Klassen gingen, besuchten draußen eine staatliche Schule für Sehende. Ihnen wurde von allen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und manchmal wurden sie von sehenden Studenten zum Tee eingeladen. Dann waren da noch die »alten Mädchen«, wie sie genannt wurden. Es gab fünf von ihnen, und sie hatten unten eigene Quartiere. Jedes besaß ein eigenes Zimmer. Sie hatten einen eigenen Speiseraum und ein eigenes Waschzimmer. Sie gingen in einen Handwerksraum am anderen Ende des Gebäudes, wo sie Stoffe webten und Tischtücher und andere Sachen fertigten, die verkauft wurden. Sie machten hübsche Dinge. 129
»Außer Mehir«, erzählten sie mir, als ich jemanden brüllen, schreien und an die Tür hämmern hörte. »Sie arbeitet nicht. Oh, mach dir keine Gedanken, Monir, das ist nur Mehir. Sie ist taubstumm und blind und lahm, das ist alles.« Sie lachten. »Sie langweilt sich und kann nicht sprechen, und darum brüllt sie nur. Wir halten uns von ihr fern. Wenn sie uns zu fassen kriegt, betatscht sie uns überall, auch im Gesicht, und das gefällt uns gar nicht. Mama macht es nichts aus, wenn sie von ihr befummelt wird. Aber sie ist clever, Monir. Weißt du was? Sie kann eine Nadel einfädeln und näht sogar. Wir können das nicht. Manchmal nehmen wir eine Nadel und einen Faden mit zu ihr, und sie fädelt ihn uns ein. Ist das nicht verblüffend?« Sie lachten. »Niemand weiß etwas über ihre Herkunft. Es kommt nie jemand, der sie besucht. Sie muß irgendwo ausgesetzt worden sein, wir wissen nicht, wo sie sie gefunden haben. Du hörst sie kommen. Versuch, dich von ihr fernzuhalten. Du hörst sie, weil sie nicht einmal richtig gehen kann. Sie schleppt sich auf ihren Füßen nur so dahin. Irgend etwas stimmt mit dem einen Bein nicht. Sie braucht eine Ewigkeit, um von A nach B zu kommen. Sie hält sich überall fest, wenn sie sich vorwärtsbewegt, schleppt sich regelrecht vorwärts. Manchmal, wenn Mehir brüllt und schreit, denkt Mama, daß sie jemanden ruft oder uns etwas sagen will. Mama geht dann hin und redet mit ihr. Manchmal geht sie in ihr Zimmer und setzt sich zu ihr – sie denkt, daß sie sich dann besser fühlt. Und tatsächlich ist sie danach oft eine Weile ruhig. Mama sagt, daß sie sehr intelligent ist, aber, hm, wir sind uns da nicht sicher.« Mehir schrie und hämmerte weiter an die Tür. Ihre Stimme kam tief aus der Kehle, war voll und kräftig. »Ich glaube, sie scheint zu wissen, daß Monir hier ist«, sagte eins der Mädchen. »Sie bittet darum, sie 130
kennenzulernen.« »O ja, sie ist erstaunlich. Obwohl sie nicht hören kann, spürt sie die Dinge. Ich weiß nicht, wie. Sie weiß es immer, wenn etwas Neues oder Unterschiedliches passiert. Sie kommt und will daran teilhaben und bleibt am Ball, bis sie herausfindet, was genau passiert ist.« Wir gingen nach unten, über eine der breiten Treppen, die uns zu den Quartieren der alten Mädchen führte, wo sich auch das Büro, das Studierzimmer und der Aufenthaltsraum der Mädchen befanden. Sie zeigten mir alle Räume mit Ausnahme der Schlafzimmer der alten Mädchen. Sie brachten mich in die Speisezimmer, eins für die alten Mädchen, eins für die Kinder, eins für uns Teenager und die Twens und eins für die Bediensteten, wie sie genannt wurden. Dann kamen die Küche und die Waschräume. Wir spülten unser Geschirr selbst. Sie machten mich mit dem Koch bekannt, der Hussein hieß. »Aber wir nennen ihn Onkel«, sagte sie. »Er ist ein ziemlicher Bauer und kann sehr grob sein, aber mach dir nichts draus.« Er hatte eine laute Stimme. Ich erkannte, daß er für Späße nichts übrig hatte und sich nicht an der Nase herumführen ließ. Die Räume unten führten auf eine Veranda unter dem Balkon, der um das ganze Haus lief. Es gab viele Hausmädchen. Einige arbeiteten in der Waschküche, wo sie alles mit der Hand wuschen, einige verrichteten allgemeine Putzarbeiten und einige arbeiteten oben in den Personalquartieren. Ich bekam gesagt, daß sie niemand stören durfte, wenn sie ihre Teepause und ihre Mittagspause hatten. Ich war überrascht. Ein Hausmädchen, das eine Teepause hatte! Meine Mutter hatte nie eine Teepause gehabt. Sie wurden 131
viel besser behandelt, als ich es jemals gesehen hatte, besser noch als in Dr. Vahidis Haus. Die Schule befand sich in einem separaten Gebäude. Dann wurden mir auch noch die Werkstatt und der Ausstellungsraum gezeigt, in dem die Stoffe, Tischtücher, Korbarbeiten und anderen Sachen verkauft wurden. Außerdem gab es einen Swimmingpool. Gegen vier Uhr läutete die Glocke. »Es ist Teezeit«, sagten mir die Mädchen. »Du hörst die Glocke zum Tee, zum Abendessen, zum Mittagessen, zum Frühstück und zu den Gebeten. O ja, die Gebete. Du solltest dich nicht verspäten. Ganz strenge Regel – du darfst nie zu spät zu den Gebeten kommen, und du mußt während der Gebete still sein und schweigen, es sei denn, sie sagen, daß du Fragen stellen kannst oder ein spezielles Gebet aufsagen sollst.« »Du wirst alles sehr schnell lernen«, sagte eine andere von ihnen, die meine Verwirrung und Verwunderung spürte. »Mach dir keine Sorgen, wir werden dir alles sagen, alles zeigen.« Wir gingen zum Tee in den Speiseraum. Die Mädchen brachten ihren eigenen Zucker mit, den sie in den Spinden im Waschraum aufbewahrten. »Du wirst auch bald welchen bekommen.« Sie boten mir etwas von ihrem Zucker an. »Onkel wird dir welchen geben, und du bekommst auch einen Spind, um Dinge darin aufzubewahren.« Wir gingen mit einer Tasse in den Raum, in dem der Tee serviert wurde, und nachdem uns eingeschüttet worden war, trugen wir die Tasse in den Speiseraum, um zu trinken. »Ich möchte neben Monir sitzen.« 132
»O nein, ich möchte.« »Nein, ich setze mich jetzt hier hin.« Wir einigten uns schließlich. Es saßen so viele an meinem Tisch, wie dieser aufnehmen konnte. All diese Aufmerksamkeit! Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. War es wirklich wahr? War ich das? So viele Menschen, die in meiner Nähe sein wollten. Die Unterhaltung setzte sich nach dem Tee fort. Wir redeten und redeten oder vielmehr: Ich hörte zu und beantwortete manchmal ihre Fragen. Ich war eine gute Zuhörerin, sagten sie mir danach viele Male. Die Glocke schlug wieder an. Sechs Uhr, Gebetszeit. Wir hatten uns alle im großen Saal zu versammeln. Es war ein sehr großer Saal mit einem Podium an einem Ende. Es gab acht Türen, die auf den Korridor, und acht Türen, die auf die Veranda führten. Wir versammelten uns zu den Gebeten an einem Ende des Saals. Die Gebete wurden zweimal am Tag abgehalten. Morgens von acht bis neun und abends von sechs bis sieben. Jeder mußte pünktlich da sein, niemand durfte zu spät kommen. Wir sangen Hymnen, lasen aus der Bibel, diskutierten bestimmte Bibelstellen und schlossen mit Gebeten für alle, besonders für die kaiserliche Familie. Dieses Gebet war ziemlich ausführlich und ziemlich lang. Es schloß die gesamte Obrigkeit von Isfahan ein, den Bürgermeister, die Gouverneure, die Polizeikräfte, die Armee, alle anderen. Wir erbaten den Segen Gottes für sie und dankten ihnen für ihre Hilfe und die Sicherheit, die sie uns bescherten. Dies wurde jede Woche mit noch mehr Nachdruck in der Kirche wiederholt. Der Gottesdienst wurde eine Stunde lang morgens und eine Stunde lang abends abgehalten, und wir mußten einmal hingehen. Ob wir nun gläubig waren oder nicht – wir hatten in der 133
Kirche zu sitzen. Der Kirchgang war obligatorisch, wurde uns gesagt, es sei denn, jemand war krank, die einzige Entschuldigung für ein Fernbleiben. Am nächsten Tag kamen Mutter und Onkel, um sich zu verabschieden. Mutter hatte zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Hotel gewohnt. »Ich konnte mich nicht in das Bett legen«, sagte sie. »Ich mußte mich auf dem Boden ausstrecken.« Vor Sorge hatte sie überhaupt nicht geschlafen. »Ich lasse meine Tochter hier, vielleicht für immer, bei Fremden, die nicht einmal Muslims sind. Was wird aus ihr werden? Was wird aus mir ohne sie werden? Was werden die Leute dazu sagen, daß ich meine Tochter aufgegeben habe, daß ich sie so weit entfernt bei Fremden gelassen habe?« Wiederholt sagte sie: »Wenn du eine Christin wirst, wird die Milch, die ich dir gegeben habe, nicht länger gesegnet sein.« Sie machten einen kurzen Rundgang. Mutter war still, sagte kaum etwas. Ich spürte tiefe Traurigkeit in ihr. Ich hoffte, sie würde nichts sagen, so daß die Mädchen ihren Akzent nicht hörten. Ich wußte, daß mir deswegen eine schwere Zeit bevorstehen würde. Es wurde Zeit für den Abschied. Mutter weinte und küßte mich, umarmte mich. »Wir schreiben dir. Und du schreibst uns, wenn du irgend etwas brauchst.« Und sie gingen. Sofort war ich von den Mädchen umringt. Sie führten mich weiter herum, erzählten mir alles mögliche und zeigten mir alles mögliche. Sie sagten, daß sie mir zeigen würden, wie man liest und schreibt. »O ja, bitte«, sagte ich enthusiastisch und voller Begierde. Sie zeigten mir die Blindenschrift. Eins der Mädchen 134
schrieb das Alphabet und die Zahlen nieder. Sie liehen mir einen kleinen Rahmen, mit dem man schrieb. Sehr schnell lernte ich das Alphabet. Sie gaben mir ein kleines Buch mit Wörtern und Sätzen und halfen mir zu lesen. Sie halfen mir zu schreiben. Innerhalb von ein oder zwei Tagen hatte ich das Alphabet gemeistert und begann zu lesen. Sie wollten es nicht glauben. Die Neuigkeit sprach sich herum. Alle erfuhren, daß ich das Alphabet gelernt hatte und bereits lesen und schreiben konnte. »Ist sie nicht klug?« kommentierten sie. »Nun, sie kommt aus Teheran. Teherani sind alle intelligent.« Sie hatten vergessen, daß ich eine Türkin war.
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KAPITEL DREIZEHN Ich war während der Sommerferien angekommen. Noch anderthalb Monate bis zum Schulbeginn. Die Mädchen besorgten mir ein Exemplar von Buch eins. Ich las es, schrieb die Diktate, und sie gaben mir Buch zwei. Ich arbeitete es ziemlich schnell durch. Und dann Buch drei. Ich war damit fertig, bevor die Schule begann. Sie waren verblüfft. Sie sprachen mit den Lehrern. »Monir kann lesen und schreiben«, erzählten sie aufgeregt. »Sie kann Buch eins, zwei und drei lesen und hat alle Diktate geschrieben. Wir haben ihr diktiert.« Die Mädchen, die mir halfen, waren in der fünften und sechsten Klasse und kamen in die siebente. Ich konnte es kaum erwarten, daß die Schule begann. Die Mädchen konnten ein bißchen Englisch, aber sie sprachen alle gebrochenes Farsi, was zu dem gebrochenen Farsi paßte, das vom Personal gesprochen wurde. Ich fand das sehr komisch. Jedesmal wenn sie mit Mama sprachen, taten sie es in gebrochenem Farsi. Ich kicherte. »Sie spricht gebrochenes Farsi, weil sie Farsi nicht gut genug kann. Aber warum sprecht ihr gebrochenes Farsi?« »Ja, weil das das Farsi ist, das sie kann«, machten sie mir klar. »Wenn wir richtig sprechen, würde sie uns nicht verstehen.« »Oh, Pidgin-Farsi.« Bald hatten sie mich als ernsthaft, hart arbeitend und als gute Zuhörerin abgestempelt – sie kamen mit allen ihren Problemen zu mir. Die Schule begann. Ich mußte in der ersten Klasse 136
anfangen. Aber weil ich den Stoff so gut beherrschte, kam ich binnen eines Monats in die zweite Klasse. Einen Monat später war ich in der dritten Klasse, und am Ende des Monats begann ich in der vierten Klasse. Sie konnten es kaum glauben. Ich hatte in den sechs Wochen der Sommerferien so schnell gearbeitet. Ich verbrachte drei Monate in der vierten Klasse und weitere drei Monate in der fünften Klasse. Am Ende des Schuljahrs hatte ich fünf Klassen hinter mich gebracht. Das war ein Rekord. Einige der Mädchen fingen an, sich unbehaglich zu fühlen. Ich hatte ihr Niveau erreicht, aber sie hatten mehrere Jahre dafür lernen müssen. Während der folgenden Sommerferien wollte ich das Pensum der sechsten Klasse absolvieren. Die Lehrer, die meine Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit erkannten, waren einverstanden. Ein Tutor wurde abgestellt, um mir zu helfen. Ich brachte die Klasse erfolgreich hinter mich und bestand die Prüfung beim staatlichen Schulamt. Sofort begann ich mit der siebenten Klasse. Ich mußte draußen zur Schule gehen, da die Blindenschule nur bis zur sechsten Klasse ging. Danach mußten wir eine staatliche Schule mit sehenden Schülern besuchen. Da es eine christliche Schule sein mußte und die einzige christliche Schule in der Stadt eine Schule für Armenier war, kam nur diese in Frage. »Ein ganzes Schuljahr, neun Monate, in einer Klasse?« sagte ich. »Bestimmt schaffe ich das schneller.« Ich mußte es auf diese Weise tun, sagte man mir. Am Ende des Jahres hatte ich die siebente Klasse abgeschlossen, und während des Sommers lernte ich das Pensum der achten Klasse. Erst nach einer langen Diskussion gaben sie ihre Zustimmung dazu. 137
»Es ist zuviel für dich«, sagten sie. »Du hast in den zwei Jahren, die du jetzt hier bist, überhaupt keine Pause gemacht. Es ist nicht gut für dich, wenn du die ganze Zeit lernst, Tag und Nacht.« »Es gibt neben dem Studieren noch andere Dinge in der Welt«, sagte Mama zu mir. Ich habe ihre teilnahmsvolle Stimme noch immer in den Ohren. »Aber ich habe so viel versäumt. Es gibt noch so viel, was ich nachholen muß. Ich muß es tun. Es macht mir Spaß.« Sie waren einverstanden. Am Ende des Sommers bestand ich die Prüfung der achten Klasse. Ich begann sofort mit der neunten Klasse und kehrte in die armenische Schule zurück. Sie schienen so langsam zu vergehen, diese neun Monate. Ich bestand die Abschlußprüfung. Von nun an, sagten sie zu mir, müßte ich ein Jahr in jeder Klasse bleiben – in der zehnten, elften und zwölften, weil sie so schwierig wären. Ich sah das ein. Ich würde in die beste Mädchenschule der Stadt gehen, zusammen mit einem anderen Mädchen, das diese Schule schon jahrelang besuchte, mit Laleh. Laleh war überhaupt nicht glücklich mit mir. Ich hatte ihr Niveau zu schnell erreicht. Ich war ihre Rivalin. Wie konnte ich es wagen? In der zehnten Klasse gab es die Wahl zwischen drei Fächern: Mathematik (hauptsächlich Arithmetik), Medizin (hauptsächlich Physiologie, Biologie und etwas Mathematik) oder Literatur (Geschichte und Literatur). Laleh und ich mußten Literatur studieren. Es war anzunehmen, daß wir mit den beiden anderen Gebieten nicht zurechtkommen konnten, weil sie sehr visuell waren. Ich würde Philosophiegeschichte, Geschichte, FarsiLiteratur, Geographie, ein bißchen Mathematik und Biologie studieren. 138
Es gab für diese Klassen keine Bücher in Blindenschrift. Kein Blinder hatte diese Klassen jemals erreicht. Wir mußten die Bücher im Verlauf des Schuljahrs übertragen. An den Abenden und Wochenenden diktierte jemand ihren Inhalt, und wir übertrugen ihn – eine Verschwendung unserer Zeit und Energie, wie ich fand. Was das Lernen anging, verspürte ich einen unstillbaren Appetit und einen intensiven Drang. »Es gibt so viel zu lernen«, sagte ich mir immer wieder.
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KAPITEL VIERZEHN Brief an Miss D: Ich schreibe Ihnen, um Sie an Ihre bösen Taten in der Vergangenheit zu erinnern. Mit diesem Brief möchte ich das tiefe Schuldgefühl und die Verantwortung, die ich seit fast einem Vierteljahrhundert mit mir herumtrage, auf Sie abladen. Die Zeit ist gekommen, sie an Sie zurückzugeben. Sie gehören Ihnen. Die Schuld und die Verantwortung für Ihre Taten haben mich während der ganzen Zeit erdrückt, erstickt, zerstört und verkrüppelt. Ich erlege sie Ihnen auf. Es ist Zeit für Sie, sie zu übernehmen. Nehmen Sie sie zurück. Werden Sie damit fertig. Tragen Sie sie. Sie gehören Ihnen jetzt wieder. Während dieses Zeitraums machte ich eine schmerzliche Entdeckung, die mich äußerst unglücklich machte. Eine Angehörige des Lehrkörpers – ich werde sie Miss D nennen – hatte eine meiner Ansicht nach besondere Beziehung zu mir. Sie liebte mich, dachte ich. Ich war ihr besonderes Mädchen. Sie war wie eine Mutter zu mir, dachte ich. Sie liebkoste mich ständig. Zu Beginn gefiel es mir, denn ich war nie liebkost worden. Allmählich steigerte es sich und wurde intensiver. Sie küßte mich leidenschaftlich. In manchen Nächten schlüpfte sie in mein Zimmer und blieb eine Weile bei mir. Manchmal holte sie mich während des Tages, wann immer sie Zeit dazu hatte, in ihr Zimmer. Es fühlte sich eigenartig an, wenn sie sich an mir rieb, besonders im Vaginalbereich. Es schien nicht natürlich, nicht richtig zu sein, aber ich protestierte nicht. Mir gefielen die Liebkosungen, und ich glaubte, daß ich ihr besonderes Mädchen wäre. 140
Sie benutzten mich, mißbrauchten mich. Ich war verwundbar, bedürftig. Sie verstanden das und nutzten es aus, um mich zu benutzen. Sie hatten Macht über mich. Ich sah zu Ihnen auf. Ich hatte Zuflucht gefunden, bei Ihnen, in der Blindenschule – meiner einzigen Hoffnung. Sie wußten das. Sie benutzten mich zu Ihren eigenen Zwecken. Sie gaben mir das Gefühl, daß Sie mich liebten. Daß ich etwas Besonderes für Sie war. Ich glaubte das. Ich vertraute darauf. Ich vertraute auf Sie. Ich hungerte danach, geliebt zu werden. Akzeptiert zu werden. Ich hatte mein ganzes Leben lang danach gesucht. Verzweifelt gesucht. Liebe und Akzeptanz – etwas, das ich nie erfahren hatte und für das ich alles in der Welt geben würde. Als Gegenleistung verlangten Sie sexuelle Freuden von mir, und ich gab sie. Es schien ein geringer Preis für meine Bedürfnisse zu sein, für Liebe und Akzeptanz. Ich gab sie vorbehaltlos, uneingeschränkt. Sie benutzten mich, wann auch immer Sie konnten, wo auch immer Sie konnten und wie auch immer Sie wollten. Alles war in Ihrer Macht, unter Ihrer Kontrolle. Sie schlüpften spät in der Nacht in mein Zimmer und berührten mich, streichelten mich, umarmten mich. Ich empfand Wärme, Liebe, Akzeptanz bei diesen Berührungen. Sie küßten mich, küßten mich innig, rieben sich an mir. Ihr altes Gesicht voller unattraktiver Falten rieb sich an dem meinen, das jung, unschuldig und sehnend war. Sie fingen damit an, meine Hände ganz fest zu halten und mich mit Ihren Fingern zu reiben, und nach und nach kamen Sie mit Ihrem Gesicht immer näher und rieben es an dem meinen. Und auch am Tage holten Sie mich in Ihr Zimmer und machten dort weiter. Ich erinnere mich an das Gefühl Ihres abscheulichen 141
Gesichts, an Ihre abscheuliche Stimme, an Ihren abscheulichen großen Körper, an Ihr abscheuliches Gelächter, an Ihre hysterischen Schreie. Ich erinnere mich daran, wie Sie die Geduld mit uns zu verlieren pflegten, was oft geschah, wie Sie mit den Füßen stampften, brüllten, mit Ihrer abscheulichen Stimme Schreie ausstießen, was uns mit Schrecken erfüllte und uns das Gefühl gab, schuld an Ihrem Ausbruch zu sein. Ihre Überlegung, daß Sie sich auf diese Weise benahmen, weil Ihr Vater sie ständig geschlagen hatte, diente nur dazu, uns zu erpressen. Was auch immer geschah, was auch immer Sie taten – wir durften nicht protestieren, Fragen stellen oder Bedenken vorbringen, weil Sie dies provozieren könnte. Wir mußten auf Ihre unvernünftigen Wünsche, Verhaltensweisen und Erwartungen eingehen. Miss D war Ende Vierzig. Sie war sehr reizbar. Sie bekam Wutanfälle, stampfte mit den Füßen, brüllte aus vollster Kehle, stieß hysterische Schreie aus. Dies passierte oft. Alle wußten, daß sie vorsichtig sein mußten, um Miss D nicht aufzuregen. Sie wurde »Tante« genannt. Alle Angehörigen des Lehrkörpers wurden Tanten genannt, mit Ausnahme von Mama, der Leiterin. Der Lehrkörper wechselte gelegentlich und variierte zwischen vier und acht Personen, die gleichzeitig zur Verfügung standen. Wir mußten ständig auf der Hut sein. »Seid vorsichtig«, warnten wir uns selbst und alle Neuankömmlinge, »kein nettes Wort über so und so, das gefällt ihr nicht. Sie wird bald einen Vorwand für einen Tobsuchtsanfall finden.« Wenn eine von uns Sie 142
provozierte, bekam sie von den anderen Mädchen eine Tracht Prügel. Miss D pflegte über ihre Vergangenheit zu reden – daß ihre Mutter früh gestorben war und ihr Vater sie brutal behandelt und geschlagen hatte, was auch der Grund dafür war, daß sie so schnell in Wut geriet, so viel schrie und so zornig war. Die Mädchen hatten Mitleid mit ihr. Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, bei der Sie sagten, es täte Ihnen leid, daß Sie dies mit mir machten. Ich verstand nicht, was Sie meinten, und sagte: »Es macht mir nichts aus.« Sie sagten: »Du weißt, daß es mir nichts ausmacht, aber dir macht es etwas aus.« Ich verstand nicht, was Sie meinten. Dann dachte ich, Sie würden aus religiösen Gründen glauben, daß das, was Sie mit mir machten, nicht richtig wäre. Es war eine Sünde. Alles, was mit Sex zu tun hatte, war eine Sünde. Aber ich hatte keinerlei Gefühle aus religiösen Gründen, und so dachte ich nicht mehr darüber nach. Ich fragte mich, was Sie gemeint haben könnten. Sie benutzten auch Latifeh. Ein bestimmtes Mädchen, Latifeh, galt ebenfalls als ihr »besonderes Mädchen«. Es war wohlbekannt, daß Miss D Stunden mit ihr zu verbringen pflegte. Die Dinge paßten irgendwie nicht zusammen, ergaben keinen Sinn für mich. Irgend etwas war eigenartig, unnatürlich. Latifeh war klein, zierlich und ernst. Sie sprach leise. Sie war etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie war schon seit sehr langer Zeit da, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie ging umher wie betäubt, hatte keine 143
speziellen Interessen und sprach gut Englisch. Sie lernte nicht gerne, machte, genauer gesagt, auch sonst nichts gerne, wie beispielsweise Stricken oder eine andere Handarbeit. Sie gesellte sich nicht viel zu den anderen Mädchen. Wenn wir mit ihr sprachen, hörte sie uns entweder gar nicht oder brauchte sehr lange, um eine Antwort zu geben. Die Mädchen machten sich über sie lustig. »Oh, du bist gar nicht hier, nicht wahr? Wir können alles mögliche über dich sagen, in deiner Gegenwart, und du hörst es nicht einmal.« Sie war einfach abwesend. »In einer Traumwelt bist du«, sagten die Mädchen. »Bei uns bist du nie.« Sie war eine Einzelgängerin, freundete sich nie mit jemandem an, hatte mit niemandem etwas gemeinsam. Bei mir passierte es, als ich ein Teenager war. Latifeh aber haben Sie, wie ich es verstanden habe, benutzt, seit sie ein kleines Mädchen war. Das Resultat: Sie war verwirrt, gestört, seltsam. Sie war dort nie sie selbst. Sie war völlig durcheinander und gestört. Ziemlich oft kam sie zu spät zum Essen oder zu den Gebeten. »Wo bist du gewesen, Latifeh?« wollten sie von ihr wissen. »Nirgendwo. Ich war in meinem Zimmer, auf meinem Bett.« Sie saß oft stundenlang auf ihrem Bett, schweigend. Niemand wußte, über was sie nachdachte. Gelegentlich sprach sie mit sich selbst, ganz leise. Sie lachte oder lächelte oder war unglücklich, ganz allein für sich. Oft sah sie verstört, durcheinander, desorientiert aus, reagierte nicht, erkannte niemanden, befand sich in ihrer eigenen Welt. Sie versank phasenweise in vollkommenes 144
Schweigen, sie war seltsam. In diesen Phasen mieden die Mädchen sie. Sie wurde als »wunderlich« angesehen. Gelegentlich benahm sie sich kindisch, kicherte über irgend etwas, was die anderen gar nicht lustig fanden. Sie hatte keinerlei Wünsche. Manchmal wirkte sie so, als ob kein Leben in ihr wäre, als würde sie keinen Anteil an dem nehmen, was um sie herum vor sich ging. Ich brauchte lange Zeit, bis ich verstand, warum sie so war, wie sie war. Sie war seit sehr langer Zeit mißbraucht, getäuscht, betrogen worden. Soweit bekannt war, hatte sie keine Familie. Wir wußten nicht das Geringste über ihre Vergangenheit. Wie war es dazu gekommen, daß sie hier war? Wir wußten es nicht. Sie war still, leblos. Sie fingen damit an, meine Hand zu halten, streichelten sie mit Ihren Fingern und blickten mir ins Gesicht, um die Reaktion des Behagens und die Wärme darin zu beobachten. Dann gingen Sie weiter, kamen näher an mich heran, legten Ihre Arme um mich, drückten mich, legten Ihr Gesicht gegen das meine, blickten mir ins Gesicht. Sie hielten meine Hand lange fest und erweckten in mir ein Gefühl von Entspannung, von Behagen, von Wärme, während Sie gleichzeitig mein Gesicht beobachteten. Dann gingen Sie noch weiter, rieben Ihr Gesicht an dem meinen, und das setzte sich eine Zeitlang fort. Danach berührten Sie meinen Körper und streichelten ihn, und je mehr Sie dies taten, desto entspannter wurde ich. Dann gingen Sie noch einen Schritt weiter, rieben Ihren Körper an dem meinen, Ihren Unterleib an dem meinen. Sie küßten mich, küßten mich innig und rieben sich an mir. Ich erinnere mich daran, daß Sie mich mit in Ihr Badezimmer nahmen und es dort so lange machten, bis ich erschöpft war. 145
An einem Tag, gleich nach dem Mittagessen, wollten die Hausmädchen etwas von Ihnen und riefen Sie. Sie wußten, daß Sie da waren, und ich glaube, sie wußten, daß ich bei Ihnen war, und vielleicht wußten sie auch, was Sie vorhatten. Sie riefen Sie immer wieder. Sie ignorierten sie und machten weiter mit dem, was Sie taten. Einmal hatte ich das Gefühl, daß eine von ihnen gleich reinkommen würde. Sie ließen immer noch nicht ab von mir, machten trotzdem weiter. Ich war alarmiert. Wußten Sie, wie sie reagieren würden, wie es sich herumsprechen würde, wie die anderen über mich denken würden? Es war alarmierend. Sie überließen das alles mir. Sie luden alle Befürchtungen auf mich ab. Sie glaubten, daß Sie Macht über die Hausmädchen besaßen, so daß sie nicht darüber sprechen oder Sie herausfordern würden. Sie konnten sie unter einem beliebigen Vorwand beschimpfen, Sie konnten mit den Füßen stampfen und aus vollster Kehle schreien, Sie konnten sie sogar entlassen. Das wollten sie nicht, und deshalb würden sie schweigen. Und aus welchem dringenden Grund auch immer sie zu Ihnen wollten – sie gingen, und Sie machten weiter, bis Sie genug hatten und mich gehen ließen. Es ging weiter und weiter und weiter und weiter. Erst wenn Sie genug hatten, erst dann ließen Sie mich gehen, völlig erschöpft. Ihr großer Körper bebte immer, wenn Sie es machten, und ich begriff nie, warum. Ich wunderte mich darüber. Warum bebt sie? fragte ich mich im stillen. Sie zitterten und bebten am ganzen Körper. Ich wußte, daß Sie dasselbe mit Latifeh machten, und vielleicht wußte sie, daß Sie es auch mit mir machten. Sie versuchten es auch bei anderen Mädchen. Manchmal redeten sie über Ihre feuchten Küsse und Ihr langes 146
Händehalten, und sie lachten und kicherten und verspotteten Sie deswegen. Vielleicht versuchten Sie es bei allen, um die Verwundbarste zu finden. Wir fanden Zuflucht bei Ihnen. Ich kam Ihren Begierden in der Hoffnung und Erwartung entgegen, daß ich etwas Besonderes für Sie war, daß Sie mich liebten, daß Sie mich ausgewählt hatten. Nach ein paar Jahren, als Sie meine tiefe Enttäuschung und Desillusionierung über Sie und Ihr Verhalten bemerkten, hörten Sie schließlich bei mir auf. Aber ich bin sicher, daß Sie fortfuhren, es mit Latifeh zu machen. Eine Angehörige des Lehrkörpers brachte vor, daß ich frech gewesen wäre, und verlangte eine öffentliche Entschuldigung. Ich hatte lediglich Widerworte gegeben, aber ich hatte es vor anderen getan, und es ging um ihren Stolz. Miss D sagte, daß ich mich entschuldigen müßte oder von der Schule fliegen würde. Die Glocke wurde geläutet. Alle versammelten sich im Saal, und ich entschuldigte mich. Wenn mich Miss D wirklich liebte, wenn ich wirklich ihr »besonderes Mädchen« war, warum zwang sie mich dann dazu und drohte, mich nach Hause zu schicken? Ich hatte das Gefühl, daß das, was Sie mit mir machten, der stärkste Ausdruck Ihrer Liebe, Ihrer Fürsorge, Ihres Interesses für mich wäre. Ich glaubte, daß Sie es nur mit mir machten, daß Sie nur mich gewählt hatten. Als mir schließlich klar wurde, daß ich nichts Besonderes für Sie war, daß Sie mir keine Liebe entgegenbrachten, war ich am Boden zerstört. Es erschütterte mich. Ich spürte, daß ich benutzt, daß ich mißbraucht wurde. Sie hatten Macht 147
über mich, Sie manipulierten mich. Ich war wütend auf mich, weil ich so naiv gewesen war, in Ihre Falle zu gehen. Ich fühlte mich wie ein Dummkopf, weil ich Ihre Absichten nicht erkannt hatte, Ihre wahren Absichten. Ich glaubte, daß der Fehler bei mir lag. Warum hatte ich Sie nicht gehindert, das zu machen, was Sie mit mir machten? Was reizte Sie an mir? Ich hatte das Gefühl, schlecht zu sein. Bei einer Gelegenheit verlor ich wegen eines nichtigen Anlasses die Kontrolle über mich. Ich fing an zu brüllen und zu schreien und die Türen zu schlagen. Ich zitterte am ganzen Körper. Sie brachten mich nach oben und holten einen Arzt, der mich untersuchte. »Es ist Erschöpfung, sie hat zu hart gearbeitet«, lautete das Urteil. »Wir hätten nicht zulassen dürfen, daß du so intensiv lernst«, sagten sie zu mir. »Du mußt es leichter angehen lassen.« Ich konnte mit niemandem über Miss D reden. Ich schämte mich zu sehr, fühlte mich zu schuldig, zu verwirrt. Ich verschloß es in mir, und es verbrannte mich in meinem tiefsten Inneren. Jetzt verstehe ich, warum ich so todunglücklich war, als Sie das Land verließen, um in England Urlaub zu, machen. Ich hatte das Gefühl, daß Sie mich verlassen, mich im Stich gelassen hatten. Es war so, als hätte eine Mutter ihr Baby im Stich gelassen, mit dem sie tief verbunden war. Ich weinte und weinte. Einmal wurde ich krank. Man brachte mich ins Krankenhaus, wo ich eine Weile blieb. Ich hatte das Gefühl, daß ohne Ihre Gegenwart nichts richtig war. Die Welt war für mich zum Stillstand gekommen. Das Leben 148
war zum Stillstand gekommen. Ich sah um mich herum nichts anderes als Elend und Depression. Ich empfand nichts anderes als Unglück. Ich dachte an nichts, nur an Sie. Ich konnte nicht verstehen, warum Sie mich verlassen hatten. Meine Mutter hatte mich verlassen! Ich verhielt mich wie ein Kind, das keine Trennung wollte und alle Symptome einer traumatischen Trennung von einem anderen Menschen an den Tag legte. Von einer liebenden, fürsorglichen Mutter. Miss D hatte auch Männer als Freunde und nahm sie mit in ihr Schlafzimmer, insbesondere einen, einen jungen Buchhalter, der viel jünger war als sie. Sie war eine ganze Weile mit ihm zusammen und später auch mit einer Frau, einer anderen Angehörigen des Lehrkörpers. Sie wurden ziemlich offensichtlich ein Liebespaar. Sie liebkosten sich im Kerzenschein und blickten sich tief in die Augen. Die Hausmädchen sahen sie und erzählten es uns. Wir konnten es an ihren Stimmen erkennen, an der aufreizenden Weise, in der sie miteinander sprachen. Einmal beklagte ich mich, weil sie nicht zu mir gekommen war, als ich krank im Bett lag. »Ich bin ein paarmal gekommen«, sagte sie. »Du warst nicht in deinem Zimmer.« Ich wäre nicht in meinem Zimmer gewesen? Sie hätte nicht gehen sollen, ohne nach mir zu sehen, ohne sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie hatte hohe Erwartungen in mir geweckt. Sie verstand nicht, auf was sie sich eingelassen hatte. Sie verstand nicht, in welche Klemme sie mich gebracht hatte. Der Gedanke, daß ich etwas Besonderes war, weckte hohe Erwartungen in mir. Ich hatte das Bedürfnis, daß sie auf meine Wünsche, auf mein Verlangen einging. Wenn 149
ich mich nicht wohl fühlte, wollte ich, daß sie zu mir kam und einige Zeit mit mir verbrachte, daß sie mir etwas zu trinken brachte und mir Aufmerksamkeit schenkte, die Aufmerksamkeit, der ich so verzweifelt bedurfte. Und nach all dem, was ich ihr gab, fühlte ich mich gerechtfertigt, dies von ihr zu erwarten. Ich brachte Liebe mit sexuellen Begierden durcheinander. Ich dachte, daß ihr etwas an mir lag und sie dies durch ihr Tun ausdrückte. Ich erkannte nicht, daß dieses nichts mit Gefühlen zu tun hatte. Sie benutzte nur meinen Körper. Diese schmerzliche Erkenntnis kam mir nach und nach. Es war so, als wäre die ganze Welt um mich herum zusammengebrochen. Alles hatte für mich aufgehört. Meine Lebensenergie stockte, konnte nicht länger fließen. Was an mir hatte sie veranlaßt, mich zu wählen? War ich jetzt schmutzig und verabscheuungswürdig? Wie naiv von mir, mich so hereinlegen zu lassen. Wie töricht von mir, ihre Absichten nicht erkannt zu haben. Warum hatte ich nicht protestiert? Wie hatte ich zulassen können, daß dies mit mir geschah? Was hatte ich getan, um es zu verdienen? War ich von Grund auf schlecht? Es mußte etwas in mir sein, das sie, Miss D und meine Mutter, veranlaßte, mir diese Dinge anzutun. Was konnte es sein? War es irgendeine böse Macht in mir, diejenige, die ich über meinen Vater gebracht hatte, diejenige, von der Mutter so oft sprach und die ihnen Unglück bringen sollte? Ich mußte es sein, die alle diese Ereignisse herbeiführte. Ich träumte Mutters Tod. Ich hatte diesen Traum in der Nacht, in der sie starb, morgens um vier Uhr, was genau der Zeitpunkt ihres Todes war. Es war in meinem dritten Jahr in der Blindenschule, in einer Winternacht. 150
In meinem Traum fuhren Mutter, mein älterer Bruder und ich in einem Auto aufs Land. Es war Nacht, es war dunkel. Wir stiegen aus dem Wagen. Mutter wirkte etwas eigenartig. Sie wurde von einem Wolf angegriffen. Der Wolf sprang ihr an die Kehle. Und sie starb an Ihrer Wunde. Später erfuhr ich, daß Mutter als Atemhilfe einen Kehlschnitt bekommen hatte. Die böse Macht in mir und meine Einfalt mußten der Kern von allem sein. Davon war ich überzeugt. Dieselbe böse Kraft in mir hatte mich befähigt, Mutters Tod in eben der Nacht zu träumen, in der sie starb, und den Vaters, kurz bevor er starb. Der böse Aspekt meiner Person war verantwortlich für diese Geschehnisse. Ich hatte als Kind gelernt, daß alle, die zukünftiges Unglück vorhersagten, gemieden werden sollten. Ich sollte gemieden werden. Diese Erfahrung brachte mich dazu, Frauen zu hassen – und mich selbst, weil ich eine Frau war. Sie machten sich meine Unschuld zunutze, meine Verwundbarkeit, meine Bedürftigkeit, mein brennendes Verlangen nach Sicherheit, Liebe und Akzeptanz. Meine eigene Familie hatte mich zurückgewiesen! Meine eigene Mutter hatte mich zurückgewiesen. Die Akzeptanz, nach der ich mein ganzes Leben lang suchte, hatte ich nie gefunden. Sie wußten sehr wohl, wie bedürftig und verwundbar ich war. Unschuldig. Bedürftig. Sie nutzten dieses Wissen für Ihre eigenen niederträchtigen Zwecke, für ihre eigene Befriedigung. Sie ist bedauernswert, Ihre Schändlichkeit. Oder vielleicht auch nicht. Sie verdienen sie. Für das, was Sie mir angetan haben. Sie haben mich die Hölle durchmachen lassen.
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KAPITEL FÜNFZEHN Die Leiterin der staatlichen Schule war eine harte Frau. Widerstrebend hatte sie sich einverstanden erklärt, daß blinde Schülerinnen die Schule besuchen durften. »Na gut, wir werden sehen, wie sie zurechtkommen, nicht wahr?« sagte sie nach einer langwierigen Verhandlung mit den Missionaren. Wir wurden vom Religions- und Sportunterricht ausgeschlossen, und für die Unterrichtung in Mathematik wurden einige Spezialarrangements getroffen. Einmal, während einer Prüfung, bemerkte sie: »Warum bleiben diese Mädchen nicht zu Hause und lernen irgendwelche Korbarbeiten, statt ein solches Ärgernis zu sein?« Dies wurde uns berichtet. Zwischen ihr und uns gab es kaum Berührungspunkte. Sie ignorierte uns vollkommen. Was sie anging, existierten wir nicht in dieser Schule, gehörten wir nicht in sie. In dieser Schule waren die meisten Lehrer desillusioniert, enttäuscht, demoralisiert, verbittert, zornig. Einige waren alt und wandten überholte Unterrichtsmethoden an. Ein Lehrer konnte oft eine Schülerin nicht von der anderen unterscheiden. Seine Augen waren geschlossen, er schien die meiste Zeit zu schlafen. Wenn er jemanden an die Tafel rief, sagten die Mädchen: »Geh du an meiner Stelle.« Eine Lehrerin, eine junge Biologielehrerin, war anders. Sie war enthusiastisch, voller Energie. Obwohl sie Medizin studiert hatte, redete sie die meiste Zeit über Politik. 152
»Je höher jemand bezahlt wird, desto mehr sollte er dem Volk dienen«, sagte sie beispielsweise. Die Mädchen mochten sie. Ihr Unterricht war lebendig. Sie war mutig, ehrlich, freimütig. Alles, was sie sagte, machte Sinn. »Frauen müssen lernen, gemeinsam zu kämpfen, wenn wir befreit werden wollen.« Wir sprachen mehr über Politik als über Biologie. »Was ist, wenn sie gemeldet wird?« fragten sich die Mädchen. »Woher wollen wir wissen, daß sie keine Regierungsspionin ist?« Viele Mädchen schwiegen bei den Diskussionen, aber alle hörten mit großem Interesse zu. »Wenn sie echt wäre, hätte die Geheimpolizei sie längst abgeholt«, wurde spekuliert. »Sie muß eine Spionin sein.« Ein Teil der Unfreundlichkeit und Feindseligkeit, die uns in der staatlichen Schule von seiten der Lehrer entgegengebracht wurden, war darauf zurückzuführen, daß wir von der Missionsschule kamen, und Missionare waren als zuverlässige Stützen der Regierung bekannt. Für die kaiserliche Familie wurden ständig Kirchengebete gesprochen. Der Bischof betete leidenschaftlich für die kaiserliche Familie. Ganz besonders für den Schah und seine Familie. Für den Kronprinzen. Für die Kaiserin. Für die Brüder und Schwestern des Schahs. Für die Eltern und Verwandten der Kaiserin. Für ihre Freunde. Für die Leute in der Armee und in hohen Positionen. Für die Bürgermeister der Städte. Insbesondere Isfahan. Er bat um den Segen Gottes, um seinen Schutz. Er bat um ein langes Leben für sie. Besonders für den Schah. Er wünschte ihnen allen Glück und Segen und dankte dem Herrn für ihre Existenz, für ihren guten Willen und für ihre Fürsorge 153
uns allen gegenüber. Bei besonderen Anlässen wurden Regierungsvertreter in die Kirche eingeladen. Dann steigerte sich die Leidenschaft noch. Prinzessin Ashraf besuchte die Schule gelegentlich, weil sie die Schutzpatronin war, und einmal, als Königin Elisabeth den Iran besuchte, kam selbst der Schah. Sie statteten der Blindenschule einen gemeinsamen Besuch ab. Drei Tage vor dem Besuch kamen Hunderte von Sicherheitsleuten in die Schule und blieben, bis der Besuch vorüber war. Alles mußte beobachtet und bewacht werden. Sie waren überall, auf den Dächern, in den Gebäuden, vor und hinter den Gebäuden, und alle waren bewaffnet. Es war eine Zeit voller Anspannung und Unruhe. Man erzählte sich, daß der Bischof ein Spion war. Er hatte sein Land und sein Volk verraten. Er war ein Verräter, stand auf der Seite des Bösen. Er war die Zielscheibe starker Gefühlsausbrüche, besonders von seiten der jungen Leute, der sehenden Schüler und der jüngeren Lehrer. In der Blindenschule bestimmte ein kollektives Gefühl die Atmosphäre. Wir waren unzivilisierte Wilde, der Abschaum der Erde. Unsere Familien hatten uns aufgegeben. Unser Land hatte uns verstoßen. Die Missionare hatten sich unser mit der Absicht, unsere Seelen zu retten, erbarmt. Hätte es sie nicht gegeben, wären wir längst an Hunger und Krankheit auf der Straße gestorben. Wir hatten dankbar und gehorsam zu sein. Das war das wenigste, was wir tun konnten. Es gab eine Diskrepanz zwischen dem anheimelnden, familiären Bild, das die Blindenschule nach außen hin zeigte, und der Art und Weise, in der wir, die Schüler, als 154
Außenseiter, als Fremdlinge behandelt wurden. Wir durften das Personal und unsere »Tanten« nicht belästigen, wenn sie zu Mittag aßen, ihre Teepause machten oder einen Tag frei hatten. Nach unseren Erfahrungen nahmen sich Mütter und Tanten keinen Tag frei, und sie setzten uns auch nicht die eine Nahrung vor, während sie selbst eine andere zu sich nahmen. Der Lehrkörper aß nicht mit uns. Unser Essen war nicht gut für ihre Mägen, sagten sie. »Iranisches Essen ist eigenartig und ›komisch‹«, erzählten uns die jüngeren. Sie machten Urlaub getrennt von uns, aßen getrennt von uns, aber vor allem waren es ihre Vorwürfe, die am meisten schmerzten. »Eure eigenen Leute kümmern sich nicht um euch. Wenn wir nicht wären, würdet ihr auf der Straße liegen.« Das war wie ein Stich ins Herz. »Aber Sie sind unsere Tanten. Dies ist ein Heim. Wir sind eine Familie. Das erzählen Sie uns doch immer.« Die Angehörigen des Lehrkörpers benutzten nicht unsere sitzlosen Toiletten. Unsere Art war es, zu hocken. Wenn man sich hockte, übte man Druck auf die Muskeln auf und erleichterte dem Körper die Ausscheidung. Medizinisch ist dies als natürlich und gesund anerkannt. Man wischt sich nicht mit Papier ab, sondern säubert sich mit Wasser. In jeder unserer Toilette befanden sich ein Wasserhahn und ein Aftabeh, ein spezieller Behälter mit einer Tülle. Wir hatten keine europäischen Badewannen. Wir hatten Duschen. Sie mochten unsere Musik nicht. Wir liebten Musik. Musik und Poesie waren ein Teil unseres täglichen Lebens. Die Menschen vom Land, die keine Schulbildung hatten, lernten Gedichte auswendig, und unsere ganze Erfahrung und unser Wissen ruhte in diesen Gedichten. Wir zitierten aus ihnen, wenn wir etwas beweisen, 155
bekräftigen oder illustrieren wollten. Es gab einen Jugendclub und eine Sonntagsschule in der Kirche, die wir beide nicht besuchten. Nur für Sehende. Wir waren nicht gut genug, dachten wir. Die Mädchen waren sehr an Jungs interessiert. Einen Freund zu haben brachte großes Prestige, galt als Leistung. Es war uns gestattet, Freundschaften mit Jungen zu schließen, sie zu sehen und mit ihnen zu reden, vorausgesetzt, dies alles geschah in der Öffentlichkeit. Wir sollten mit ihnen dort sitzen, wo uns die Leute sehen konnten, denn sonst würden die Leute reden, und sie wollten nicht, daß die Blindenschule einen schlechten Ruf bekam. In der Vergangenheit war eins der »alten« Mädchen schwanger geworden. Sie wollten nicht, daß sich so etwas wiederholte. Freunde und Sex waren ein heißes Gesprächsthema unter den Mädchen. Mr. M hatte einigen der Mädchen anvertraut, was es damit auf sich hatte. Er war ein junger Lehrer. Er erzählte ihnen von seinen Erfahrungen mit Prostituierten. Es sprach sich herum. Alle redeten darüber und kicherten. Allen wurde es erzählt, mit der Auflage, es niemandem weiterzuerzählen. Den jungen sehenden Mädchen, die in der Schule arbeiteten, entweder iranische oder britische Anlernlinge, war es erlaubt, mit Jungs auszugehen. Dies sorgte für Ressentiments unter den anderen. »Wenn sie ausgehen dürfen, warum dann nicht auch wir? Sie sind im selben Alter wie wir. Das ist nicht fair. Sie wissen Bescheid und wir nicht.« Laleh und ich, die einzigen blinden Mädchen in der staatlichen Schule, mußten zusammen lernen. Dies war eine der Methoden, mit denen wir das Leseproblem überwanden. Laleh war nicht glücklich mit mir. Ich hatte 156
ihr Schulniveau zu schnell erreicht. Sie hatte im Rampenlicht gestanden, und nun nahm ich ihren Platz ein. Sie war seit ihrer Kindheit in der Missionsschule und sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Das Ressentiment, das sich seit einiger Zeit in der Blindenschule aufgebaut hatte, erreichte einen Höhepunkt. Die Mädchen haßten mich. »Sie ist besessen vom Lernen«, sagten sie. »Sie nimmt die ganze Aufmerksamkeit des Personals in Anspruch. Sie arrangieren immer etwas Besonderes für sie. Sie hat vergessen, daß sie nur eine Türkin ist. Sie verabredet Lesestunden mit Leuten, sie bringt Sehende dazu, ihr vorzulesen, allein für sich, privat. Was kommt als nächstes?« Sie wurden angestachelt von Safieh, die Ende Zwanzig war und schon von ihrer Kindheit an in der Missionsschule lebte, aber nicht weiterlernte. Sie hatte Macht über die anderen Mädchen, brachte sie mit Leichtigkeit dazu, das zu tun, was sie wollte. Niemand wagte es, sich ihr zu widersetzen. Alle folgten ihr bedingungslos, und sie war mein Hauptfeind. Sie war sehr an Jungs interessiert, war geradezu von ihnen besessen. Keiner wußte etwas über ihre Herkunft. Viele Mädchen waren allein wie sie. Sie hatte keine Kenntnis über ihre Herkunft. Ein Mädchen kannte ihre Mutter, die eine Prostituierte war, und traf sich gelegentlich heimlich mit ihr. Sie war ein gestörtes Mädchen, mürrisch, bitter, reizbar, und Safieh bediente sich ihrer oft gegen diejenigen, die sie nicht leiden konnte, und gegen mich. Das Leben wurde sehr schwierig für mich. Ich hatte die Befürchtung, daß sie mich allen Ernstes attackieren würden. Ich hielt mich für mich. Aber ich mußte mit den anderen im Speiseraum essen, zu den Gebeten gehen und so weiter. Das Personal merkte es schließlich und gab mir 157
unten ein eigenes Zimmer, abseits von den Zimmern der anderen. Sie fingen an, sich in Gruppen vor meinem Zimmer aufzubauen und mich zu verfluchen und zu beschimpfen. Ich schloß neue Freundschaften mit den sehenden Mädchen in der staatlichen Schule. Sie waren wild darauf zu erfahren, wie ich mit den Alltagsdingen fertig wurde. »Wie schaffst du es zu essen, wenn du nicht sehen kannst?« fragten sie beispielsweise. »Stellt ihr einen Spiegel vor euch auf, wenn ihr eßt?« erwiderte ich. »Woher wißt ihr, wo euer Mund ist?« Wir lernten auch zusammen. Sie lasen mir etwas vor, und ich erklärte es, genauso wie ich es getan hatte, als ich in die Missionsschule ging. Dies machte Laleh noch eifersüchtiger. Ich hatte mehr Freundinnen als sie. Sie war nicht sehr am Lernen um des Lernens willen interessiert. Wenn sie ihre Prüfungen bestand, genügte ihr das. Es gefiel ihr nicht, daß ich so viele andere Freundinnen hatte. Sie wetteiferten um meine Freundschaft. »Sie liest es einmal, und sie versteht es und erklärt es mir«, sagten sie. »Ich verstehe es nicht, und ich habe es viele Male gelesen.« Sie lachten. »Sie ist so clever. Im Vergleich zu ihr komme ich mir dumm vor.« Kommentare wie diese versetzten mich in Verlegenheit. Ich glaubte nicht wirklich, was sie sagten. Ich hatte das Gefühl, daß sie es nur sagten, um mich glücklich zu machen, um mich spüren zu lassen, daß ich ihre Zeit nicht verschwendete und sie auch etwas davon hatten. Mir erschien es immer so, als wären sie die Gebenden – sie opferten mir ihre Zeit – und ich die Nehmende. Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich eine Gegenleistung bot. Meine neuen Freundinnen luden mich nach Hause ein, so daß ich auch ihre Familien kennenlernte. Ich liebte es, 158
mich mit ihren Brüdern zu unterhalten. Es machte mir Freude, mit jungen Männern zu reden. Ich hielt sie für intelligent, weil sie Männer waren. Männer waren intelligent, im Gegensatz zu Frauen. Frauen waren nur an nichtigen Dingen interessiert, dachte ich. Männer sahen mich als intellektuell an und respektierten mich. »Dieses Mädchen hat einen klugen Kopf, deine Freundin da«, bemerkten sie. Ich diskutierte Bücher mit ihnen: Charles Dickens, Victor Hugo, Shakespeare. Ich hatte Shakespeare im Radio gehört. Ich las Charlotte Brontë und Jane Austen in Englisch, aber auch Farsi-Literatur, darunter Molavi, den Sufi-Schriftsteller. Ich rezitierte Gedichte und redete über sie. Manchmal nahm einer von ihnen meine Worte auf. Während ich redete, herrschte Schweigen. So ging es eine ganze Weile. Ihre Faszination ermutigte mich zu mehr. Ich fühlte mich glücklich, befriedigt, zufrieden mit mir selbst. Die Gespräche schienen meine Existenz zu festigen. Die jungen Männer erkannten mich an, gaben mir Bestätigung. Ich liebte die Besuche. Meine Freundinnen waren verblüfft. »Wie kommt es, daß du so viel weißt?« fragten sie. Obgleich ich blind war, schienen ihre Brüder mich mehr zu respektieren als ihre eigenen Schwestern, dachten die Mädchen. Aber als Freundinnen brauchten wir einander. Ich brauchte sie, damit sie mir vorlasen, und sie brauchten mich, damit ich ihnen die Lektionen erklärte. Aber unsere Freundschaften wurden manchmal etwas gespannt.
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KAPITEL SECHZEHN Manchmal, wenn Mama in der Blindenschule in ihrem Büro arbeitete, besuchte ich sie dort, und wir plauderten gelegentlich ein bißchen. Eines Tages bemerkte ich die Schreibmaschine auf ihrem Schreibtisch und spielte daran herum. »Tippt man auf diese Weise? Legt man alle Finger auf diese Tasten?« »Ja«, sagte Mama. »Ich zeige es dir. S, D, F und so weiter.« »Kann ich ein Blatt Papier haben?« »Ja, ich spanne es dir ein.« Sie tat es, und während sie weiterarbeitete, tippte ich. Nach einer Weile kam sie wieder herüber. »Laß mich sehen, wie du vorankommst. Gutes Mädchen, das war nicht schlecht. Es ist alles richtig, das hast du wunderbar gemacht. Du hast einige Wörter geschrieben: ›As‹, ›das‹, ›Glas‹. Soll ich dir die nächste Reihe zeigen?« »Ja, bitte«, bat ich aufgeregt, und sie tat es. »Das ist ein ›R‹. Man drückt es mit dem Zeigefinger nach unten, ohne dabei die anderen Finger zu heben. Und so weiter. Ich muß jetzt oben etwas erledigen, aber du kannst im Büro bleiben und weitertippen, wenn du willst.« Es war großartig. Ich hatte mir alle Buchstaben, die sie mir zeigte, eingeprägt und tippte drauflos, wobei ich Wörter bildete. Ich hoffte, sie würde länger wegbleiben, um mir Gelegenheit zum Üben zu geben. Sie kam zurück. »Laß mich sehen, was du geschafft hast. Das ist glänzend, alles korrekt. Weißt du was? Ich hole 160
jemanden, der dir den Rest beibringt. Du kannst tippen.« »Wann?« wollte ich wissen. »Morgen?« Sie lachte. »Wir werden sehen. Aber ich tue es, das verspreche ich dir. Du bist sehr gut. Ich bin beeindruckt.« In dieser Nacht war ich ganz aufgeregt. Ich prägte mir alle Buchstaben ein, die sie mir gezeigt hatte. Ich konnte gar nicht erwarten, daß meine Schreiblektionen, die für die nächsten Tage angesetzt waren, begannen. Ich meisterte das Tippen schnell. Ich saß da, tippte Seite um Seite – alles mögliche, Geschichten, Anekdoten, Übersetzungen aus dem Farsi, kleine Artikel – und zeigte sie dann jemandem. »Ist das richtig?« Sie lasen es und lachten. »Das ist sehr gut. Du machst das ganz ausgezeichnet.« Sie zeigten meine Tipparbeiten dem Bischof. »Monir hat das in ganz kurzer Zeit gelernt. Es ging alles so schnell, daß wir es kaum glauben können.« Sie baten mich, zu tippen, wenn jemand kam, um die Schule zu besichtigen. Dies passierte oft, wenn Touristen oder andere Leute auf der Durchreise waren. Das Haus war für Besucher jederzeit geöffnet. Die Schule wollte Aufmerksamkeit und Publicity. Ich fragte, ob ich lernen könnte, in Farsi zu tippen. »Ich würde gerne meine eigenen Briefe tippen«, sagte ich. Wir diktierten unsere Briefe immer, was alles andere als befriedigend war. Wenn ich jemandem schrieb, war ich mir stets bewußt, daß ich mich beeilen mußte, weil ich die Schreiberin aufhielt oder ihr die Zeit raubte. So kamen die Worte nicht richtig zum Ausdruck, oder der Brief sagte 161
nicht alles. Jetzt konnte ich meine eigenen Briefe schreiben, mir so viel Zeit lassen, wie ich wollte, und schreiben, was ich wollte, in welcher Form auch immer, ohne mir Gedanken darüber machen zu müssen, ob ich Fehler machte oder ob mich die Schreiberin auslachte, gelangweilt klang oder mir sagte, daß ich mich beeilen sollte. »Nun, wir müssen uns erkundigen«, sagte Mama. »Die Schule besitzt keine Farsi-Schreibmaschine. Aber ich wüßte nicht, warum wir keine kaufen sollten, wenn du interessiert bist. Du müßtest es allerdings außerhalb der Schule lernen. Ich weiß nicht, wo wir jemanden finden können, der es dir beibringt.« »Ich werde es herausfinden«, sagte ich. »Wenn Sie es mich lernen lassen, finde ich heraus, wo und wie.« Ich erkundigte mich in der staatlichen Schule und fand eine Abendklasse. Ich rief an. »Du bist blind und willst doch Schreibmaschine lernen?« fragte der Mann am Telefon überrascht. »Ja. Sehen Sie, ich kann bereits in Englisch tippen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll«, fuhr er fort, so als ob er gar nicht gehört hatte, was ich gerade gesagt hatte. »Hören Sie, ich kann schon in Englisch tippen. Ich kann wirklich Schreibmaschine schreiben. In Englisch.« »In Englisch?« wiederholte er. Er brauchte eine Weile, um es zu begreifen. Schließlich war er einverstanden, es mich versuchen zu lassen, wenn auch widerstrebend. Also ging ich in die Klasse. Der Lehrer wußte, daß ich kam, aber nicht, was er mit mir anfangen sollte. Ich wurde an ein Pult gesetzt, mit einer Schreibmaschine vor mir. 162
»Es sind viele Leute hier«, sagte er. »Ich kann dir nicht viel Aufmerksamkeit widmen, sondern nur überprüfen, was du machst. Jetzt alle: Legen Sie Ihre Finger auf die Typen der zweiten Reihe und lassen Sie zwei Typen in der Mitte frei. Ich komme bei jedem vorbei, um nachzusehen.« Ich wußte, wie ich meine Finger plazieren mußte. Das ist kein Problem, dachte ich. »Nein, das ist nicht richtig, Sie müssen die Finger so legen«, sagte er zu jemandem. »Nein, nein, Sie müssen diese Type frei lassen. Entspannen Sie Ihre Finger.« Er machte die Runde, und es dauerte eine ganze Zeit, bis er zu mir zurückkam. »Das ist richtig, deine Finger liegen richtig. Jetzt werde ich dir zeigen, welche Finger welche Typen bedienen. Laß mich dir ein Blatt Papier einspannen.« Ich hatte die Schreibmaschine vorher erforscht. Als er das Blatt hochhob, nahm ich es ihm aus der Hand und spannte es geradewegs in die Maschine ein. »Das ist wunderbar«, sagte er mit ruhiger Stimme. Er legte seinen Finger auf meinen linken kleinen Finger. »Das ist shin.« Als nächstes berührte er sin, danach yeh und so weiter. »Also, kannst du diese für mich drücken?« Ich drückte sie nacheinander. »Sehr gut. Was ist der erste?« »Shin«, sagte ich. »Der nächste?« »Sin.« »Der nächste?« »Yeh.« »Sehr gut. Und jetzt andersherum. Ja, das ist sehr gut. 163
Übe weiter mit ihnen.« Dann wandte er sich ab und sprach mit den anderen, während ich übte. In wenigen Wochen lernte ich Farsi auf der Schreibmaschine zu schreiben, und die Blindenschule kaufte eine Farsi-Schreibmaschine. Ich wollte es nicht glauben. Niemand wollte es glauben. Ich begann zu schreiben. Ich saß stundenlang da und schrieb lange Briefe an meine Freundinnen in Teheran. Meine Briefe hatten zehn, fünfzehn Seiten, mit engen Zwischenräumen, um Platz zu sparen. Ich fand Brieffreunde in anderen Städten. Eine neue Welt hatte sich mir geöffnet. Ich konnte reden, kommunizieren. Ich war »das erste blinde Mädchen, das gelernt hatte, Farsi auf der Schreibmaschine zu schreiben«. »Sehen Sie, wozu die Schule imstande ist«, sagte die Schule zu allen Besuchern. »Sie tippt beides, Englisch und Farsi.« Ich wurde jetzt öfter zur Schau gestellt. Ich fühlte mich unbehaglich dabei, aber das war ein geringer Preis, den ich zahlen mußte. »Wir hätten nie gedacht, daß du das Tippen in Farsi meisterst«, sagte der Klassenlehrer zu mir. »Englisch ist im Vergleich zu Farsi sehr einfach, weißt du. Wir sind stolz darauf, daß wir es dir beigebracht haben.« Ich hatte in der Tat festgestellt, daß das Tippen in Farsi schwerer war, als ich es mir vorgestellt hatte. Im Farsi gibt es dreiunddreißig Buchstaben, und für einige Buchstaben gibt es drei verschiedene Symbole. Die Schreibmaschine hat also drei Typen für einen Buchstaben, abhängig davon, an welcher Position der Buchstabe im Wort steht, am Anfang, in der Mitte oder am Ende, und ob er mit dem vorangegangenen Buchstaben verbunden ist. Für einige Buchstaben gibt es zwei oder drei Typen, beispielsweise 164
drei S-Typen und zwei H-Typen. Dies ist ein Resultat der Mischung des Farsi mit dem Arabischen. Ich hatte eine große Schwierigkeit beim Tippen in Farsi – zu lernen, welche Buchstaben aneinander anschließen und welche nicht. Dies war schwierig, insbesondere deshalb, weil mir kein visuelles Bild der Schrift zur Verfügung stand. Eine der Familien, für die Mutter in Teheran tätig gewesen war, hatte eine junge Tochter, eine Schulleiterin, die inzwischen eine enge Freundin von mir geworden war. Ich sah sie nicht oft, als ich damals noch in der Stadt wohnte, weil sie ein ganzes Stück älter war als ich und hart arbeitete, aber als ich nach Isfahan zog, in die Schule ging und anfing ihr Briefe zu schreiben, wurden wir Freundinnen. Ich tippte lange, lange Briefe an Oteghe, diese junge Schullehrerin. Immer wenn ich in den Ferien nach Teheran kam, besuchte ich sie. Sie erzählte mir, daß sie meine Briefe in ihrer Klasse vorlas, um den Schülern zu zeigen, wie man sich schreibend ausdrückte. Ich war überrascht und aufgebracht. Ich bat sie inständig, dies niemals wieder zu tun. »Wenn du es wieder tust, werde ich dir keine Briefe mehr schreiben«, sagte ich. »Aber warum?« fragte sie. »Was gefällt dir nicht daran, wenn ich deine Briefe meinen Schülern vorlese? Sie sind sechzehn, siebzehn Jahre alt und alles Mädchen, die du kennst.« »Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich bitte dich, es nicht wieder zu tun. Ich schreibe dir nie wieder, wenn du es doch tust.« »Nein, ich werde es nicht tun, wenn es dich aufregt«, sagte sie. »Ich verspreche es. Aber ich wünschte, du würdest mir sagen, warum.« 165
Ich konnte ihr nicht sagen, warum. Die Wahrheit war, ich hatte nicht das Gefühl, daß es meine Briefe wert waren, in einem Klassenzimmer mit Teenagern vorgelesen zu werden, die so viel gebildeter waren als ich selbst. Ich dachte, daß sie sich vielleicht über meine Briefe lustig machen würden. Ich konnte nicht glauben, daß meine Briefe gut genug waren, um siebzehnjährigen Mädchen mit gebildeten Eltern vorgelesen zu werden, Mädchen der Mittelklasse, die Lehrerin werden oder zur Universität gehen würden. Ich konnte in keiner Weise erkennen, daß meine Briefe gut genug für sie sein würden. Wenn ich nach Teheran kam, übernachtete ich manchmal in Oteghes Zimmer. Oteghe legte eine Matratze für mich auf den Fußboden. »Möchtest du in meinem Bett schlafen?« fragte sie mich manchmal. »Ich schlafe auf dem Boden.« »O nein, unter keinen Umständen«, sagte ich. »Ich schlafe gerne auf dem Boden.« Eine solche Überlegung war zuviel für mich. Bei den Mahlzeiten breiteten sie, wie es Sitte war, ein Tischtuch auf dem Boden aus, auf dem das Essen serviert wurde. Wir alle saßen um das Tuch herum, um zu essen. Ich pflegte bei ihnen zu sitzen, aber Mutter, die für die Familie arbeitete, aß nur in der Küche. Sie wollte sich nicht zu den anderen setzen. Sie hatte nicht das Gefühl, gut genug zu sein, um mit ihnen essen zu können. Sie sagte immer, daß sie gerne allein in der Küche aß, und sie drängten sie nicht, ihnen Gesellschaft zu leisten. Ich war verlegen. Ich hatte das Gefühl, nicht alles richtig zu machen, nicht ganz richtig. Vielleicht hielt ich den Löffel nicht korrekt und benutzte die Gabel nicht ganz so, wie ich sollte. Sie bemühten sich sehr, mir das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein. Sie waren freundliche, unprätentiöse Leute. Da waren Oteghe, meine Freundin, die Lehrerin, ihre Mutter, 166
ihre Schwester, die verheiratet war und zwei Kinder hatte, und der Ehemann, ein Rechtsanwalt, der immer Scherze machte und versuchte, mich zum Lachen zu bringen. Sie bemühten sich sehr, zu mir durchzudringen, es mir zu ermöglichen, mich behaglich, entspannt und wie eine von ihnen zu fühlen, aber die Wirklichkeit war, daß ich keine von ihnen sein konnte. Ich war keine von ihnen. Ich war nicht mit ihren Erfahrungen aufgewachsen. Meine Erfahrungen in der Vergangenheit waren völlig anders, mein Leben war völlig anders gewesen. Wir hatten nur weniges gemeinsam. Wir mochten uns, respektierten und achteten einander. Sie bemühten sich sehr, mir das Gefühl zu geben, eine von ihnen zu sein, mich nicht wie eine Außenseiterin zu fühlen, aber ich war eine Außenseiterin. Ich war nicht auf ihrem Niveau, war nicht aus ihrer Klasse und war angesichts ihres gehobenen Lebensstandards nicht entspannt. Ich wollte eine lange Geschichte schreiben. Ich mußte es in Blindenschrift tun, um Zugang dazu zu haben. Jeden Abend nahm ich meine Blinden-Schreibmaschine mit hinüber ins Schulgebäude und schrieb, bis die Glocke zum Gebet ertönte. Konnte ich nicht weitermachen? Mußte ich zum Beten gehen? Mit den Gedanken war ich ohnehin nicht bei den Gebeten. Ich schrieb, wie mir die Worte in den Kopf kamen. Die Geschichte entwickelte sich, stellte die Reichen und die Armen einander gegenüber, die Mächtigen und die Machtlosen, die Bösen und die Guten. Wenn ich eine Seite beendete, legte ich sie auf einen Stapel. Der Stapel wurde jeden Tag höher. Ich kam voran. Aber es lag noch ein langer Weg vor mir. In vierundzwanzig Stunden blieb nicht genug Zeit, um all die Dinge zu tun, die ich tun wollte. Wie sah es mit meinem Violinspiel aus? Ich hatte nicht 167
die Zeit, um zu üben. Ich hatte das Violinspielen während der letzten beiden Jahre aufgenommen, und ich war gut. Ich war die erste Violine im Schulorchester. Wir gaben Weihnachten, Ostern und am Ende des Schuljahrs Konzerte. Jede Gelegenheit wurde genutzt, um eine Gesellschaft zu geben, zu der die Elite der Stadt eingeladen wurde und bei der gezeigt wurde, zu was die Schule fähig war. Hunderte von Leuten füllten den großen Saal, darunter der Bürgermeister, die Schuldirektoren, die prominenten Armeeoffiziere, die örtlich stationiert waren. Wenn ein Mitglied der kaiserlichen Familie die Stadt besuchte, stand auch immer die Schule auf dem Programm – ein weiterer Anlaß für eine Gesellschaft oder für eine Feier. Als einer der Jungs namens Murad nach sehr langer Krankheit starb und sie seinen Leichnam aus dem Gebäude trugen, hatte ich den Wunsch, darüber zu schreiben. Ich schrieb über seinen Tod, über seine Krankheit und darüber, wie die Schule davon berührt wurde. »Das ist eine sehr gute Geschichte«, sagten die Schuloberen überrascht, als ich sie ihnen vorlas. Nach einigen Diskussionen beschlossen sie, mich dem Bischof vorzustellen, dem iranischen Bischof. An diesem Abend las ich im Haus des Bischofs aus meiner Geschichte. Er war als belesener Mann bekannt, und seine Predigten galten als die besten im Land. »Sie ist sehr gut, ausgezeichnet.« »Sollte ich irgendwelche Änderungen vornehmen?« fragte ich. »Ich glaube nicht. Sie kann so bleiben, wie sie ist.« Es wurde beschlossen, daß ich sie bei der Feier zum Abschluß des Schuljahrs vorlesen sollte. Ich mußte üben. 168
Bedeutende Menschen, Hunderte von Menschen, würden anwesend sein. »Monir wird jetzt eine Geschichte vorlesen, die sie selbst geschrieben hat«, hörte ich die Ankündigung. Ich weiß nicht, was ich las, aber irgendwie tat ich es. Ich hörte den Applaus. Ich schwitzte und zitterte. »Wir sind sehr stolz auf dich«, sagte Mama anschließend zu mir. »Du machst der Schule einen sehr guten Namen.« Immer wieder traten Leute auf sie zu und sagten Sachen wie: »Sie haben sehr begabte Schülerinnen.« Dies brachte mich auf den Gedanken, für die nächste Feier ein Stück zu schreiben. Für die Weihnachtsfeier hatte ich ein Stück fertig. Ich führte Regie und spielte auch darin mit. Es lief gut ab. Der Applaus hielt längere Zeit an. Nach dem Stück mußte ich im Orchester Violine spielen. Ich war erschöpft. Ich zitterte vor Aufregung und Erschöpfung. Die Frau des Bischofs lud mich ein, ein Wochenende bei ihnen zu verbringen. »Ich werde dir eine Möglichkeit geben, dich auszuruhen«, sagte sie. Ich fühlte mich sehr bedeutend. Ich war für ein Wochenende in das Haus des Bischofs eingeladen worden! Ich konnte es kaum glauben. Was tue ich jetzt? fragte ich mich, als ich in einem Gästezimmer allein gelassen wurde. Ich erforschte das Zimmer. Ich hatte ein eigenes Bad, und zum erstenmal benutzte ich eine Farangi – eine europäische Toilette –, die aus dem Ausland kam und mir sehr exotisch erschien. Ich wußte nicht, was ich mit dem Papier anfangen sollte und warf es, zu meiner späteren Verlegenheit, hinter mich – ich hatte Angst, irgend etwas Falsches zu tun. Bestimmt 169
durfte ich es nicht hinunterspülen, weil es die Toilette verstopfen könnte, dachte ich. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen, und schon machte ich es falsch, indem ich das Papier auf den Boden warf, so daß es die Frau des Bischofs sehen würde. Sie hatten einen Koch, Hausmädchen, einen Chauffeur, eine Waschfrau, Kellner, all dies. Sie besaßen ein Sommerhaus auf dem Land. Die Frau des Bischofs war freundlich zu mir, aber ich konnte mit ihnen nicht reden. Ich war ängstlich, mir bewußt, daß dies nicht mein Platz war. Das System war nicht glücklich mit mir, so wie ich mit dem System nicht glücklich war, mit den Leuten. Ich war keiner von ihnen, ich war keine Christin. »Noch nicht«, sagte sie in der Hoffnung, daß ich mich eines Tages taufen, erretten, erlösen lassen würde, wie sie es sahen. Jeden Morgen wurden wir bei den Gebeten gefragt: »Was ist dein höchstes Ziel in der Welt?« Die richtige Antwort lautete: »Eines Tages als Christ getauft zu werden.« Die Person, die das sagte, wurde hoch gelobt, und es wurde auch für sie gebetet. Zu ihrer großen Enttäuschung kam diese Antwort nie von mir. Sie entschieden, einen speziellen Lehrer für mich zu besorgen, der mich in Religion unterweisen sollte. Privatunterricht einmal in der Woche. Es wurde entschieden und festgemacht, ohne mich zu fragen. Ich bekam erst Bescheid, nachdem die Arrangements bereits getroffen waren – mit der besten Lehrerin der Stadt, Miss A, die ein privates Internat für die Mädchen der städtischen Elite führte. Sie sprach gut Farsi und war hochgebildet. Es dauerte zu lange mit mir, man mußte mir auf die Sprünge helfen. Und dazu war Miss A 170
die Richtige. Sie würde meine Zweifel ausräumen. Die Lektionen begannen. Sie las mir einen Text vor, dann sprachen wir darüber, und sie ließ mich Fragen stellen. »Wenn Jesus sagt: ›Wenn dich einer auf die eine Backe schlägt, dann halte ihm die andere hin‹ – was bedeutet das?« »Es bedeutet, daß man seinen Feinden vergeben soll.« »Aber warum? Wenn mich einer auf die eine Backe schlägt, würde ich ihm nicht die andere hinhalten. Ich hätte das Bedürfnis, zurückzuschlagen.« »Aber das ist nicht christlich.« Ich konnte nicht vergessen, wie mir Miss D mit dem Rauswurf gedroht und mich zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen hatte, obwohl ich nicht der Ansicht gewesen war, etwas Falsches getan zu haben. Das war eine unfaire Bestrafung, keine christliche, sagte ich mir im stillen. Sie zogen sich eine ganze Zeit hin, diese Lektionen, aber sie führten zu nichts. Miss A gibt es schließlich auf mit mir. »Wir können nur beten, daß du eines Tages Vernunft annimmst«, sagten sie. Ich mußte mir selbst treu bleiben – dieses Gefühl war sehr stark in mir. Ich konnte nicht einfach darauf eingehen, nur um ihnen zu gefallen, wie es die meisten anderen Mädchen taten. Sohila war die einzige andere Schülerin, die nicht zum Christentum übergetreten war. Sie fand starke Unterstützung von Seiten ihrer Familie. Das Personal glaubte, daß der Tag kommen würde, und betete weiterhin für sie. Nasreen kam aus Tabris, aus dem türkischen Teil des 171
Landes, und war eins von fünf Kindern, alle blind. Sie hatte drei Brüder, die in die von den deutschen Missionaren geführte Jungenschule gingen, ebenfalls in Isfahan, und eine Schwester, die auch in der Blindenschule war. Ihre Familie war gebildet und politisch bewußt. Sie sprach über die Korruption in der kaiserlichen Familie, über die Armut und Ungerechtigkeit im Land, darüber, daß Frauen unterdrückt und die Reichtümer des Landes verschwendet wurden, und so weiter. Nasreen sollte zur Lehrerausbildung nach England geschickt werden, aber ich wollte auf die Universität gehen. Es war undenkbar. Keine blinde Frau war im Iran jemals zur Universität gegangen. »Das bedeutet nicht, daß es nicht getan werden kann«, sagte ich immer wieder. Ich war im letzten Schuljahr und bereitete mich auf die Prüfungen vor. Das war harte Arbeit, aber es war noch härtere Arbeit erforderlich, um die Obrigkeit davon zu überzeugen, daß ich zur Universität gehen konnte. »Bitte, lassen Sie es mich versuchen«, beharrte ich. »Warum solltest du zur Universität gehen wollen?« sagte die stellvertretende Schulleiterin. »Ich bin auch nicht zur Universität gegangen.« Ich weinte bitterlich in dieser Nacht. »Wenn sie nicht gegangen ist, dann bedeutet das doch nicht, daß ich auch nicht gehen kann«, sagte ich mir immer wieder. »Das ist keine gute Begründung.« Eines Nachts konnte ich vor Weinen nicht einschlafen. Tante Irene, eine Schottin, hatte Dienst und kam in mein Zimmer. Sie war eine freundliche, sanfte, mütterliche Frau. Ich sprach mit ihr. »Ich würde liebend gerne zur Universität gehen. Ich 172
möchte Psychologie studieren. Ich liebe es, zu lernen. Warum lassen sie mich nicht?« Sie hörte mitfühlend zu, hielt meine Hände und wischte mir die Tränen weg. Ich wußte, daß sie in schulischen Belangen keinen Einfluß hatte, weil sie für die Führung des Haushalts zuständig war. Mama war im Urlaub, ebenso wie Miss D, die für das Bildungswesen verantwortlich zeichnete, und die neue stellvertretende Leiterin befürwortete meine Bewerbung zur Universität nicht. »Was in aller Welt willst du anschließend tun?« fragte sie. »Du solltest versuchen, etwas Praktisches zu lernen, mit deinen Händen.« Ich dachte an den Bischof und die Frau des Bischofs, die mich bei meinen Schreibbemühungen immer unterstützt hatten, und fragte, ob sie konsultiert worden waren. Die stellvertretende Leiterin schwieg. Ich konnte ihr anmerken, daß sie nicht wußte, was sie tun sollte. »Wir werden darüber nachdenken.« Der Bischof war dafür, daß ich die Aufnahmeprüfung ablegte. Er sagte, daß es der Schule zur Ehre gereichen würde, wenn ich die Prüfung bestand. Die stellvertretende Leiterin lenkte ein. Für sie war die Zustimmung teuer. Sie vertrat entschieden die Ansicht, daß eine Schülerin unter keinen Umständen »gewinnen« durfte. Doch hier war sie die »Verliererin«. Die Universitätsprüfungen wurden auf nationaler Ebene durchgeführt, und die Bewerber hatten zwei Wahlmöglichkeiten. Meine erste Wahl war die Universität Teheran, Fach: Psychologie. Die zweite war die Universität Isfahan, Fach: 173
Psychologie. Die Ergebnisse der Aufnahmeprüfungen wurden in der nationalen Presse veröffentlicht. An dem Tag, an dem die Ergebnisse bekanntgegeben wurden, kam unsere Mathematiklehrerin mit der Zeitung herein und fing an, die Namen vorzulesen. Mein Herz schlug so, als würde es mir jeden Augenblick aus der Brust springen. Mein Blut kochte. Nach einer Weile nannte sie meinen Namen: »Monir, angenommen, Universität Isfahan und Universität Teheran.« »Sind Sie sicher? Ist es mein Name? Sie erfinden es doch nicht, oder? Sehen Sie meinen Namen richtig?« »Ja, das tue ich. Hier steht es, Monir.« Die Nachricht schlug ein wie eine Granate. In diesem Jahr waren auf nationaler Ebene von zwanzigtausend Bewerbern zweitausend Studenten angenommen worden, und ich gehörte dazu. Ich war von beiden Universitäten angenommen worden. Die Angehörigen des Lehrkörpers, diejenigen, die mich unterrichtet hatten, waren aus dem Häuschen. Es war ihr Erfolg, sie hatten mich zur Universität gebracht. Reporter erschienen, um Fotos zu machen und mit der Schulleitung zu sprechen. »Wie haben Sie es geschafft, ein blindes Mädchen durch die Aufnahmeprüfung der Universität Teheran zu bringen? Es ist das erste Mal in der Geschichte unseres Landes. Ein blindes Mädchen, das zur Universität geht?« Es war ihr Erfolg, nicht meiner. Die Angehörigen des Lehrkörpers hatten es fertiggebracht. Die Schulen hatten es erreicht. Die Blindenschule und die staatliche Schule. Es war ihr Erfolg, ihre Leistung. Es war so, als wäre ich nur eine zufällige Begleiterscheinung. 174
Die Schule bekam gewaltige Publicity. Die nationalen Zeitungen machten ihre Titelseiten mit der Nachricht auf, machten eine Sensation daraus. Blindes Mädchen besteht zum erstenmal in der Geschichte des Landes Aufnahmeprüfung zur Universität. Und dieses Mädchen war ein Produkt der Noorain Blindenschule – jeder konnte sehen, was die Kirche für den Iran getan hatte, die Britische Anglikanische Kirche. Was für eine Leistung! Wie es schien, war es nicht meine Leistung, sondern die der Britischen Kirche, der Anglikanischen Kirche, der Noorain Blindenschule. Meine Lebensgeschichte wurde in vielen Versionen veröffentlicht, in vielen Zeitungen. Mädchen der Arbeiterklasse aus Blindenklasse geht zur Universität. Gesamtes Schulpensum in fünf Jahren geschafft und jetzt zur Universität, ein blindes Mädchen der Arbeiterklasse aus Noorain. Ich war verwirrt, erstaunt, verblüfft durch die plötzliche Aufmerksamkeit der Medien – Radio, Fernsehen, Zeitungen, Magazine –, durch die ständigen Interviews und Fototermine. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Vor einer Minute hatte man mir noch gesagt, daß meine Universitätsbewerbung nicht gut wäre, und in der nächsten Minute wurde ich behandelt wie der Stolz der Schule. Für mich war die Zeit gekommen, Noorain, Isfahan zu verlassen, nach Teheran zu ziehen, um die Universität zu besuchen. Und doch war ich keine Christin geworden. Ich hatte sie enttäuscht.
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KAPITEL SIEBZEHN Khadyeh, eine junge Dozentin an der Universität Teheran, kam während der Sommerferien zufällig mit ihrer Familie zu Besuch in die Blindenschule in Isfahan. Als sie von meiner Wahl, Psychologie an der Universität Teheran zu studieren, und der Notwendigkeit einer Unterkunft hörte, versprach sie Hilfe. Bei ihrer Rückkehr setzte sie sich mit Mrs. Nasri, der Leiterin der Wohnungsabteilung in Verbindung, die ihr zusagte, daß für mich ein Zimmer im Studentenheim reserviert würde und ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Als ich ankam, wurde mir gesagt, daß ich noch eine Weile warten müßte, bis meine Unterkunft zur Verfügung stand. Khadyeh, meine gutherzige Freundin, gestattete mir, bei ihr zu wohnen, bis sich die Situation geklärt hatte. Nach zwei Wochen wurde uns gesagt, daß in dem Heim doch kein Platz für mich wäre. »Aber Sie haben ein Zimmer für sie versprochen«, sagte Khadyeh tief enttäuscht zu der Leiterin der Wohnungsabteilung. »Was soll ich ihr jetzt sagen? Ich habe das Gefühl, sie enttäuscht zu haben.« »Was sollte ich Ihrer Meinung nach sagen?« erwiderte die Leiterin. »In letzter Minute ruft ein lokaler Bürgermeister an und sagt: ›Halten Sie ein Zimmer für die Tochter eines Freundes bereit.‹ Erwarten Sie, daß ich nein zu ihm sage und das Zimmer einem blinden Mädchen gebe?« Ich war von dieser Erklärung am Boden zerstört. Nicht nur, weil ich jetzt ohne Zimmer dastand, sondern auch von der Art und Weise, in der ich bewertet und abgeschätzt wurde. Mit »blindem Mädchen« meinte sie auch ein 176
Mädchen, das über keine wichtigen Verbindungen verfügte. Die Missionare hatten ihre Beziehungen zu Prinzessin Ashraf nicht eingesetzt, um mir eine Wohnung zu sichern, weil ich keine Christin geworden war. Sie setzten sich nur bei wichtigen Anlässen mit ihr in Verbindung – wenn es beispielsweise um Spenden oder um eine Gefälligkeit für ihre eigenen Bekannten ging. Korruption war alltäglich im Iran. Es gab sie auf allen Ebenen. Wenn man etwas getan haben wollte, kam es nicht auf das Bedürfnis als solches an, sondern darauf, wen man kannte. Ich wurde zum Tee ins Haus des britischen Botschafters gebeten. Ich wußte nicht, wie ich mich benehmen oder was ich sagen sollte, was angemessen war in der Gesellschaft von Botschafterdamen. Ich zählte im Kopf die Minuten, saß nicht nur blind, sondern auch taubstumm da und lauschte den kultivierten Akzenten und Stimmen um mich herum, die wie bei jedem ihrer vielen Morgenempfänge drauflos plauderten. Als der Botschafter eintrat, wünschte ich, daß sich der Boden unter meinen Füßen auftun und mich verschlingen möge. Ich verstand nicht, warum ich hier war. Ich fühlte mich wie eine Marionette. Es erhöhte und bestätigte meine Erfahrungen als Außenseiter. Ich war verwirrt, nervös, ängstlich, angespannt. Sie waren genauso verwirrt wie ich. Wie konnten sie mit einem blinden Mädchen kommunizieren, das nicht einmal richtig gekleidet war, das nicht aussah und sich benahm wie sie? Über das Ereignis wurde in den Zeitungen berichtet. Das blinde Mädchen beim Tee im Haus des britischen Botschafters. Der Artikel erwähnte nicht, daß ich meine Tasse Tee nicht bekam, weil die Damen nicht wußten, wie sie mit mir kommunizieren und mir sagen sollten, wo mein Tee war, und weil ich nicht die Erfahrung und das 177
Selbstvertrauen hatte, um danach zu fragen. Während jener Zeit schien es so zu sein, daß ich eine Rolle spielen mußte. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben – im Hinblick darauf, wie viele Interviews ich an einem Tag gab oder welche Dinge ich offenbaren oder für mich behalten sollte. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, niemanden, der mir Ratschläge gab und meine Ängste und Sorgen mit mir teilte. Ich war allein. Ich wußte nicht, wie ich mit dem plötzlichen Ruhm umgehen sollte. Die Ironie war, daß diese plötzlich berühmte Person keine Unterkunft besaß, nicht die richtige Studienausrüstung wie beispielsweise eine Schreibmaschine und ein Tonbandgerät hatte und nicht über das Geld verfügte, um ihre Gebühren und ihre Lebenshaltungskosten zu bezahlen. Diese Fragen wurden von den Medien nicht gestellt, während ich ständig darüber brütete. In meiner Verzweiflung nahm ich mir ein Souterrainzimmer im Haus eines Kolonialwarenhändlers gegenüber dem College der Studienanfänger. Der Mann war in den Fünfzigern, ein eigenartiger Charakter. Er war ein harter, geiziger Mann. Er hatte eine attraktive Frau und eine etwa zehnjährige Tochter aus erster Ehe. Ich hörte, daß es fünf oder sechs wunderschön möblierte Zimmer in diesem Haus gab, die immer abgeschlossen waren, mit Ausnahme des einen Zimmers hinter dem Laden, das sie alle drei bewohnten. Mitten in der Nacht ging er von Zimmer zu Zimmer, dann hinunter in den anderen Souterrainraum, wobei er irgendwelche Sachen mitbrachte und mischte. Ich hörte, wie er eine Flüssigkeit anrührte und in verschiedene Eimer goß. Es erschien mir mysteriös und bedrohlich. 178
Er hatte absolute Macht über seine Frau und seine Tochter. Seiner Frau war es verboten, das Haus zu verlassen, und es wurde ihr nicht erlaubt, mit irgend jemandem zu sprechen, insbesondere mit Männern. Sie verließ das Haus nur, wenn sie das Hamam, das öffentliche Badehaus, besuchte, einmal alle zehn Tage. Sie war eine Gefangene. Bei einer Gelegenheit kam ein Elektriker, um irgendeine Arbeit im Haus zu verrichten. Sie schickte mich, um ihn etwas zu fragen. Ihr war es nicht gestattet, mit irgendeinem Mann zu sprechen, sagte sie. Sie mußte sich verhüllen und verbergen. Und doch spürte ich, daß sie sich danach sehnte, mit Menschen zu sprechen, besonders mit Männern. Ich fühlte mich hier nicht sicher und hatte Angst. Jede Nacht lag ich wach, manchmal starr vor Furcht, und rechnete jeden Augenblick damit, daß er in mein Zimmer kam. Er war bitter, grob und herzlos. Ich mußte ausziehen. Ich war seit sechs Wochen da und hatte das Gefühl, hier nicht länger leben zu können. Seine verdächtigen Aktivitäten in der Nacht, all diese verschlossenen Zimmer. Eins von ihnen, wurde mir gesagt, war das Hochzeitszimmer bei seiner ersten Frau gewesen. Er hatte alles genau so belassen wie in der ersten Nacht. Niemandem war es gestattet, dieses Zimmer oder eins der anderen zu betreten, abgesehen von ihm selbst. Und das tat er nachts. Dies alles machte einen mysteriösen und verdächtigen Eindruck. Ich hatte Angst, zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, daß mich dieses Haus zerbrechen würde. Mit Hilfe einer Studentin fand ich ein anderes Zimmer. Ich rechnete aus, wieviel Miete ich dem Ladenbesitzer schuldete, und brachte ihm das Geld. 179
»Wieviel schulde ich Ihnen?« fragte ich. Er nannte mir eine höhere Summe. »Aber der Betrag, den ich ausgerechnet habe, lautet anders«, sagte ich. Ich rechnete es ihm vor. »Ja«, sagte er und stimmte zu meiner Überraschung zu. »Sie hatten es schon vorher ausgerechnet, nicht wahr?« Er grinste hämisch. Mein neues Zimmer befand sich im Haus einer amerikanischen Familie, einen etwa zwanzigminütigen Fußmarsch vom College entfernt. Ich ging jeden Tag mit einer Freundin, einer Klassenkameradin namens Farideh, zu Fuß zum College. Sie nahm bis zu meinem Haus einen Bus, und von da aus gingen wir gemeinsam. Die amerikanische Familie war freundlich zu mir. Sie hatten zwei kleine Kinder. Der Vater war Anthropologe. Die Leute brachten diesen amerikanischen Anthropologen, die plötzlich überall im Iran aufzutauchen erschienen, tiefes Mißtrauen entgegen. »Was haben sie vor?« sagten die Menschen. »Wen wollen sie auf den Arm nehmen?« Die Familie hatte viele Freunde, ebenfalls Anthropologen. Unter den Studenten gab es Gefühle von Mißtrauen und Argwohn gegenüber den Amerikanern und Briten. Wer mit ihnen verkehrte, mußte aus ihrer Sicht für sie arbeiten. Die meisten Mädchen sahen sich durch mich verwirrt. Argwöhnisch beobachteten sie meine gelegentlichen Treffen mit britischen und amerikanischen Damen, die mit der Mission in Verbindung standen. Die Blindenschule hielt Kontakt zu mir. Letzten Endes war ich ihr Aushängeschild. Einige Freunde der Missionare in Teheran besuchten 180
mich gelegentlich und luden mich zum Essen, zum Tee oder zu einem Wochenendaufenthalt in ihren luxuriösen Villen ein. Einige dieser Freunde hatten Verbindungen zum Hof und zu Prinzessin Ashraf, der Schutzpatronin der Blindenschule. Die Mädchen machten sich Gedanken – war ich eine SAVAK-Agentin? Bespitzelte ich sie? Warum sonst sollten mich diese Damen in ihren Rolls-Royces besuchen? Der SAVAK war die nationale Nachrichtendienst- und Sicherheitsorganisation. Ihre Agenten wurden von der CIA und dem Mossad, dem israelischen Geheimdienst, geschult. Ihre Aufgabe war es, Verdächtige zu melden und den Schah zu beschützen. In jeder Studentengruppe, sowohl zu Hause als auch im Ausland, sollte es mindestens einen SAVAK-Informanten geben. Der SAVAK war eine äußerst mächtige und große Organisation, mit dem Schah an der Spitze. Unter den Studenten herrschten Furcht und Mißtrauen, denn jeder konnte für den SAVAK arbeiten. Sie würden es nicht wissen, wenn einer ihrer Freunde oder Bekannten ein SAVAK-Agent war. Sie mißtrauten einander schrecklich. Dieses tiefe Mißtrauen spiegelte sich in einer Karikatur wider, die einmal in Tufigh, einer satirischen Zeitschrift, erschien: Ein Student sagt zu einem Professor: »Professor, obwohl ich mit allem, was Sie sagen, übereinstimme, fürchte ich, daß ich Sie trotzdem melden muß.« Und der Professor antwortet: »Wenn Sie mit mir übereinstimmen, warum müssen Sie mich dann melden?« Und der Student deutet auf einen Studienkameraden und sagt: »Wenn ich Sie nicht melde, meldet er mich!« Die Menschen wurden auf allen Ebenen überwacht und bespitzelt. Jeder, der ausländische Radiosendungen hörte, besonders aus der Sowjetunion, oder Literatur las, die als 181
subversiv galt, war verdächtig. Verbotene Literatur zu lesen, mußte sorgsam geplant werden. Dann trafen sich drei oder vier Studenten in einem Haus. Einer blieb in der Nähe der Tür, einer hielt sich irgendwo in der Mitte des Hauses auf, und der dritte saß im entlegensten Zimmer des Hauses und las bei vorgezogenen Vorhängen. Wenn irgend etwas Verdächtiges passierte, gaben sie sich Signale, und das Buch wurde versteckt. Wenn unerwünschte Literatur im Haus gefunden wurde, zog das schwere Strafen nach sich. Weiterhin waren Gerüchte über die kaiserliche Familie im Umlauf, beispielsweise über ihre sexuelle Ausbeutung anderer. Es hieß, wann auch immer Ghulamreza, der Bruder des Schahs, eine Mädchenschule besuchte, dann verschwand am nächsten Tag das hübscheste Mädchen aus der Schule. Es hieß, die Schulleiterin wurde unverzüglich nach der Adresse des Mädchens gefragt, und in derselben Nacht wurde das Mädchen zu Ghulamrezas Vergnügen an den Hof gebracht. Und man sagte, daß Ashraf, die Zwillingsschwester des Schahs, bei Militärinspektionen die ansehnlichsten jungen Männer auswählte und zu ihrem sexuellen Vergnügen zu sich bestellte. Die kaiserliche Familie war für ihre vorgebliche sexuelle Unersättlichkeit berühmt, und der Nachschub an Callgirls aus Frankreich sollte unbegrenzt sein. Als Ghulamreza Takhrie, Sportler und Nationalheld, ermordet wurde, ging die Geschichte um, daß er auf Anweisung des Schahbruders getötet worden war, der ebenfalls Ghulamreza hieß und als Sportminister fungierte. Eines Tages betrat der Bruder des Schahs ein Sportstadion, aber niemand nahm Notiz von ihm. Als jedoch Ghulamreza Takhrie eintrat, wurde ihm ein begeisterter Empfang bereitet, mit so lange anhaltendem Applaus, daß der Bruder des Schahs wütend wurde und 182
seine Ermordung befahl. Er wurde zusammengeschnürt, in ein Hotel geschleppt und bekam eine tödliche Injektion. Ein Abschiedsbrief wurde hinterlegt. Dr. Sadighi, mein Soziologielehrer im College, war ein enger Freund Ghulamreza Takhries gewesen. Als man ihn fragte, was er von Takhries angeblichem Selbstmord hielt, schlug er mit der Faust auf den Tisch und brüllte: »Selbstmord! Kein Mann mit seinem Sportsgeist würde Selbstmord begehen. Wen wollen Sie auf den Arm nehmen?« Tufigh schrieb damals: »Ghulamreza tötete Ghulamreza.«
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KAPITEL ACHTZEHN Die Mädchen im Studentenwohnheim kamen ans dem ganzen Land – Studenten aus Teheran selbst wohnten zu Hause – und gehörten der gebildeten Mittelklasse an, mit Ausnahme eines Mädchens namens Hamideh und meiner Person, die wir aus armen Familien stammten. Hamidehs Familie war nicht zur Schule gegangen. Sie kleidete sich einfach – schäbig, wie es die anderen Mädchen ausdrückten. Sie sprach leise und stellte viele Fragen, komische manchmal, besonders zu Beginn. »Warum servieren sie das Essen immer genau um halb eins?« »Nun, welche Zeit würdest du vorschlagen?« ging jemand auf sie ein. »Nun, es könnte an einigen Tagen um zwölf oder um eins sein, oder? Warum immer um halb eins, hm?« Jemand gab ihr irgendeine Antwort. Ihre Manieren waren schlicht und konnten es mit denen der anderen Mädchen nicht aufnehmen. Es wurde erzählt, daß sie beim Mittagessen am ersten Tag die Suppe aus der Schöpfkelle getrunken hatte, statt sie auf den Teller vor sich zu gießen. Dies wurde als bäuerliches Benehmen angesehen, aber die Tatsache, daß sie einen Kulturschock erlitt, zog niemand in Betracht. Sie war ein sehr kluges, sanftes Mädchen und studierte Medizin. In der Blindenschule war für uns alles organisiert und arrangiert worden – jeden Tag wurden die Uniformen gebügelt und die Schuhe geputzt, wir wurden zur Schule und wieder zurück transportiert, unser Essen wurde gekocht und so weiter. Und wir wurden nie allein nach 184
draußen gelassen. Aber hier wurde ich plötzlich ins kalte Wasser geworfen. In Teheran, an der Universität, war ich auf mich selbst angewiesen und mußte mit allem allein zurechtkommen. Es gab nur Hamideh, mit der ich etwas gemeinsam hatte. Die Menschen um mich herum gingen ins Kino, sahen Fernsehen, lasen Comics, besuchten Fußballspiele, redeten, lachten und amüsieren sich, während ich täglich mit den Lebensumständen zu kämpfen hatte. Wie sollte ich meine Ausgaben bezahlen? Wie sollte ich lernen, ohne daß mir jemand beim Lesen half? Wie sollte ich mit den Prüfungen fertig werden? Wie sollte ich in Teheran von A nach B kommen? Ich fühlte mich unsicher und verängstigt. Schließlich schickte mir die Blindenschule eine Schreibmaschine und ein Tonbandgerät. Ich fand einen Teilzeitjob in einer Blindenschule, wo ich Englischunterricht gab, zwei Stunden täglich von zwei bis vier, an jedem Nachmittag mit Ausnahme des Freitags. Da die Schule außerhalb von Teheran lag, hatte ich einen Anfahrtsweg von jeweils einer Stunde, hin und zurück. Diese Schule hieß, nach dem Sohn des Schahs benannt, Reza Pahlewi und war erst kürzlich eröffnet worden. Einige der Lehrer waren in meiner alten Schule in Isfahan ausgebildet worden, und durch eine von ihnen, eine gute Freundin mit Namen Fati, bekam ich einen Job. Das Geld, das ich verdiente, half mir bei meinem Lebensunterhalt. Es war eine Internatsschule für Jungen und Mädchen im Alter zwischen fünf und zwanzig Jahren. Ältere bekamen Tagesunterricht, hauptsächlich in Werkstätten. Es war die einzige Blindenschule im ganzen Land, die vom Staat geführt wurde. Der Schulleiter besaß absolute Macht. Jedem, den er nicht leiden konnte, ging es schlecht. Einer der Schüler, die er nicht mochte und aus der 185
Schule geworfen hatte, war ein junger Mann knapp unter zwanzig, der nicht wußte, wohin er gehen sollte. Er verbrachte einige Nächte draußen in der Kälte außerhalb des Tors. Der Winter war streng. Eines Morgens wurde er tot auf der Straße aufgefunden. Es machte mir Spaß, mit den Kindern zu arbeiten. Ich blieb einmal in der Woche über Nacht, um auf sie aufzupassen. Später verbrachte ich einige Ferientage dort. Im College gehörten alle der Mittelklasse an. Die Lehrer in der Schule stammten aus demselben Milieu. Nur die Schüler in der Schule gaben mir ein gewisses Identitätsgefühl. Sie waren blind wie ich. In der Universität nahm ich die Vorlesungen mit dem Tonband auf, hörte sie später ab und machte mir Notizen in Blindenschrift. Die Bücher, die für meinen Kurs nötig waren, las ich zusammen mit anderen Studenten. Sie lasen mir die Texte laut vor. Wie in der Schule erklärte ich sie ihnen anschließend. Wir lernten gemeinsam, aber sie konnten für die Examen alles noch einmal durcharbeiten, ich jedoch nicht, denn es hätte zuviel Zeit gekostet, mir Notizen in Blindenschrift zu machen. Manchmal lernten wir zu dritt oder zu viert. Bei den Prüfungen saß ich in einem separaten Zimmer, wo ich die Fragen aufschrieb und die Antworten mit der Maschine tippte. Aber dieses Verfahren hatte seine Nachteile. Manchmal gaben sich die Dozenten nicht die Mühe, Vorkehrungen zu treffen, um mich zur selben Zeit wie die anderen prüfen zu können, und sagten, daß meine Prüfung später erfolgen würde. Es ergab sich, daß ich drei oder vier Prüfungen an einem einzigen Tag ablegen mußte. Ich war bei den Prüfungen nicht so gut, wie ich sein sollte, weil ich nicht in der Lage war, den Stoff vorher noch einmal durchzuarbeiten und auch aufgrund der Art und Weise, in der die Prüfungen durchgeführt wurden. 186
Mein Bruder Ali gab sich die größte Mühe, mich davon zu überzeugen, daß ich bei seiner Familie wohnen und ihm mein verdientes Geld geben sollte, statt es für meine Unterkunft auszugeben. Das lehnte ich ab. Ich wußte, daß er nur hinter dem Geld her war. Er und seine Familie wohnten weit entfernt von der Universität, und es wäre unmöglich für mich gewesen, pünktlich zum College und zur Blindenschule zu kommen. Mein Bruder sagte, daß ich unkooperativ und achtlos wäre, weil ich das ganze Geld für eine Wohnung verschwendete, während er in solcher Armut lebte. Die Menschen lebten in Elend und äußerster Armut, besonders im südlichen Teheran. Meine Angehörigen waren keineswegs die ärmsten. Mein Bruder, seine Frau, meine Mutter – vor ihrem Tod – und mein jüngerer Bruder wohnten zusammen in einem Haus, das aus einem zehn Quadratmeter großen Zimmer mit einem schrankgroßen Vorratsraum und einem weiteren, fünfzehn Quadratmeter großen Raum mit der Toilette in einer Ecke bestand. Dieses Haus lag zusammen mit zwei anderen Häusern vergleichbarer Größe in einer Gasse, die einen guten halben Meter breit war und nur von einer Person auf einmal durchschritten werden konnte. Sie hatten das Grundstück von meinem Onkel gekauft und das Haus selbst gebaut. Das Grundstück zahlten sie noch immer in Raten ab. Das Nachbarhaus wurde von einem Onkel meiner Mutter bewohnt, der sechs Kinder hatte. Ein Fluß, der ungeklärte Abwässer mit sich führte und entsetzlich stank, floß wenige Meter an diesen Häusern vorbei. Wenn es stark regnete, trat der Fluß über die Ufer, schwemmte den Besitz der Menschen weg und verursachte mitunter auch Todesfälle. Die Menschen, die am Fluß wohnten, fürchteten ständig um ihr Leben und um die Gesundheit ihrer Kinder. Viele Krankheiten hatten 187
ihren Ursprung in dem stark verschmutzten Wasser. Seit Jahren führten die Anwohner eine Kampagne für eine Klärung oder Abdeckung des Flusses. Das Wasser zu klären wäre unmöglich, wurde ihnen gesagt, weil es zu teuer war. Eine Abdeckung wollten die Behörden erwägen, und das taten sie bereits seit Jahren. In diesem Jahr, 1966, hatten die Frauen genug. Es mußte etwas geschehen. Sie hatten ihre eigenen Kinder und die Kinder ihrer Freunde und Verwandten an Infektionen sterben sehen, die vom Fluß herrührten. Sie hatten die Leichen vieler anderer Kinder gesehen, die in seinem Wasser davongetragen wurden. Einer der Gründe, aus denen die Frauen so viele Kinder hatten, war der, daß so viele nicht überlebten. Die Frauen bildeten eine große Gruppe, nahmen ihre Babys und kleinen Kinder und marschierten zum Rathaus Shahadari, mit einer Petition, in der sie erklärten, was sie wollten. Als sie nicht hereingelassen wurden, ließen sie sich draußen rings um das Gebäude nieder. Der Verkehr kam zum Stillstand. Die Zeitungen wurden alarmiert. Die Obrigkeit mußte handeln. Sie erklärten sich einverstanden, den Fluß abzudecken. Sie konnten nicht die Armee rufen, um das Feuer auf eine Gruppe von Frauen und Babys eröffnen zu lassen. Viele Menschen lebten in Schuppen, die aus allem möglichen, was sie in die Hände bekommen konnten, erbaut waren – aus Metallteilen, Plastik, Holz, Steinen, aus allem, was sie finden konnten. Dies traf besonders auf das südliche Teheran zu. Es gab dort ein großes, steinbruchartiges Gelände namens Darvazeh Gar, auf dem Menschen wohnten. In gewissen Abständen wurden Bulldozer losgeschickt, um die Behausungen und Schuppen der Menschen zu zerstören. Wenn die Behausungen platt gewalzt waren, fingen die Frauen und 188
Kinder an zu weinen und verfluchten die Leute, die es getan hatten. »Weint und verflucht uns nicht«, brüllte einer der Fahrer. »Betet lieber. Betet für einen Unglücksfall, der uns daran hindert, eure Heime zu zerstören. Wir wollen das nicht. Wir haben nur unsere Befehle.« Ich hatte Freundinnen, die Lehrerinnen waren und mir bestürzende Geschichten von ihren Kindern erzählten. Eine, Mehri, sprach über ein kleines Mädchen in ihrer Klasse, das eines Morgens nicht den Kopf vom Pult heben konnte. »Was ist los?« fragte Mehri während der Pause. »Fühlst du dich nicht gut?« »Ich habe seit Tagen nichts gegessen«, antwortete die Kleine. »Weißt du, ich habe heute morgen auch noch nicht gefrühstückt«, sagte meine Freundin. »Ich bin ziemlich hungrig. Ich sage dir was. Ich gebe dir jetzt etwas Geld, und du gehst und holst Brot und Joghurt, und dann essen wir gemeinsam zu Mittag.« »Das taten wir dann auch«, sagte sie traurig zu mir. »Sie hatten alle Hunger. Sie hatten keinerlei Energie zum Lernen mehr. Du solltest sie sehen, sie waren alle sehr klug, begierig aufs Lernen. Ich fühle mit ihnen.« Im Winter hatten sie nicht genug Kleider oder Schuhe an den Füßen, um nach draußen in den Schnee zu gehen. Dies waren die glücklichsten Kinder – diejenigen, die zur Schule gingen.
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KAPITEL NEUNZEHN Es gelang mir, für das folgende Jahr einen Platz im Studentenheim zu bekommen. Zufällig traf ich die Sekretärin des Dekans, und diese riet mir, den Dekan des Colleges höchstpersönlich aufzusuchen. Er verstand meine mißliche Lage und sprach an Ort und Stelle mit Mrs. Mansoor, der Leiterin der Wohnungsabteilung. »Ich verstehe nicht, warum dieses Mädchen auf diese Art und Weise behandelt wurde.« Er war ein freundlicher Mann. Ich spürte die Anteilnahme und Güte in seiner Stimme. Als er sprach, war es so, als würde er sich schämen, daß so etwas passieren konnte. Er sorgte dafür, daß ich in das Studentenheim einziehen konnte, und ich mußte ein Dokument unterschreiben, mit dem ich versprach, die Universitätsgebühren in Raten zurückzuzahlen, nachdem ich meinen Abschluß gemacht und zu arbeiten angefangen hatte. Der Dekan hörte mir zu, fühlte mit mir und gab mir praktische Hilfestellung. Er bat sogar seine Sekretärin – eine freundliche Frau –, mich ab und zu zu besuchen oder anzurufen und ein Auge auf mich zu halten, was sie auch tat. An einem Sommertag nahmen sie und eine Freundin von ihr mich mit zu einem Picknick. Sie hielt den Dekan über mein Wohlbefinden auf dem laufenden. Dies alles unterschied sich sehr von meinen Erfahrungen im ersten Jahr. Es linderte meine Wunden – etwas. Das Wohnheim, ein modernes Gebäude, lag in einer eleganten Straße, die seitlich an der Universität vorbeiführte, und beherbergte sechzig Mädchen. Es war das einzige Wohnheim für weibliche Studenten in 190
Teheran. Es hatte sechs Etagen. Die meisten Zimmer waren Doppelzimmer, aber in jedem Stock gab es ein Dreifach- und ein Einzelzimmer. Die Einzelzimmer waren anfänglich Teeküchen gewesen, Gemeinschaftsräume für die Mädchen. Angesichts des steigenden Zimmerbedarfs waren diese Küchen später in Wohnräume umgewandelt worden, und da ich als jemand angesehen wurde, der »spezielle Bedürfnisse« hatte, weil ich bei meinem Studium eine Schreibmaschine und ein Tonbandgerät verwendete, bekam ich eins dieser Zimmer. Die anderen Einzelzimmer wurden an ausländische Studentinnen vergeben, die überwiegend aus Pakistan oder einigen afrikanischen Ländern kamen. Das Erdgeschoß wurde als gemeinschaftlicher Aufenthaltsraum, als Speisesaal und als Büro genutzt. Täglich wurden drei Mahlzeiten serviert, dazu gab es nachmittags um vier Uhr Tee. Unten lag ein Buch aus, in das wir uns eintragen mußten, wenn wir das Haus verließen – mit der Angabe, wohin wir gingen und wann wir zurückkehrten. Wenn wir eine offizielle Collegeverpflichtung wie beispielsweise eine Arbeit im Labor hatten, wurde das Abendessen, das es um sieben Uhr gab, aufbewahrt. Wenn wir ansonsten später kamen, bekamen wir kein Abendessen. Die Hauswartin, eine Miss Behaaddin, wohnte in der obersten Etage. Sie war in den Fünfzigern, klein, fett und immer schlecht gelaunt. Sie grummelte und schimpfte ständig mit jedermann. »Und wo wollen Sie hin, Miss?« donnerte sie manchmal plötzlich los. Das tat sie, wenn sie in guter Stimmung war. Sie war voller Zynismus, Sarkasmus und Argwohn. Sie war destruktiv und haßerfüllt, immer. Sie ging mit schweren 191
Tritten und verbreitete eine bedrohliche Aura. Die Mädchen bezeichneten sie als Hexe, Ungeheuer, Teufel. Alle hatten schreckliche Angst vor ihr. Sie mochte niemanden, nicht einmal sich selbst. Das Leben schien wie eine Hölle für sie zu sein, und das mußten alle büßen. An den Freitagabenden wurde die Bettwäsche gewechselt. Wir brachten unsere Tücher hoch zu ihr in den obersten Stock und holten uns frische. Bei mir und Hamideh stellte sie immer eine Prüfung an, um sicher zu sein, daß unsere Bettwäsche auch zurückgegeben wurde. Sie argwöhnte, daß wir sie stehlen könnten. Sie erschreckte jedermann, wenn sie sich mit ihren schweren Schritten näherte und ihre Stimme wie Donner grollen ließ. Mrs. Mansoor kam täglich, um sich um die Verwaltungsarbeit zu kümmern. Wir sahen nicht viel von ihr. Sie wohnte in den reichen Vororten im Norden Teherans, und man erzählte sich, daß sie ein junges Paar angestellt hatte, um die Arbeit in ihrem Haushalt zu verrichten. Eines Morgens kehrte sie unerwartet nach Hause zurück, fand die beiden nackt in ihrem Bett und entließ sie auf der Stelle. Ich legte Wert darauf, alle Kleider zu bügeln, bevor ich sie anzog. Ich mußte gut aussehen, wie andere Mädchen. »Dieses Mädchen muß eine Zofe haben, die ihr beim Ankleiden hilft«, sagten die Leute zu meinen Freundinnen. »Nicht einmal der Saum ihrer Strümpfe sitzt jemals schief.« Eine Freundin sagte, daß sie verblüfft war über die Dinge, die ich tat. »Ich habe meinem Vater davon erzählt«, sagte sie lachend. »Monir nimmt die Teetasse exakt von der Stelle 192
hoch, an der sie auf den Tisch gestellt wurde.« Ihr Vater sagte: »Vermutlich täuscht sie nur vor, daß sie nicht sehen kann.« Ich wurde oft entweder unter- oder überschätzt. Ich fand dies ärgerlich und frustrierend. Wenn eine andere Freundin sah, daß ich eine Nadel in der Hand hatte, nahm sie sie mir schnell ab und besorgte die Näharbeit an meiner Stelle. »Ich habe Angst, daß du dich stichst«, sagte sie dann. »Statt dich mit der Nadel in der Hand zu sehen, mache ich das lieber für dich.« Oder ein Mädchen sagte: »Ich brauche dir nicht zu sagen, was da draußen ist. Du kannst es dir vorstellen, weil du den sechsten Sinn hast. Du brauchst deine Augen gar nicht, nicht wahr?« Als ob ich magische Kräfte hätte! Veredeer, die Freundin, die mit mir im Bus gefahren war, war ein freundliches, empfindsames Mädchen. Während des ersten Jahrs verbrachten wir viel Zeit zusammen. Wir begründeten eine tiefe Freundschaft. Wir lernten oft gemeinsam. Ich ging in ihr Haus, und sie kam und besuchte mich. Eines Tages sagte sie mir, daß sie Krebs hätte. Innerhalb von zwei Jahren starb sie. Ihr Tod übte eine starke Wirkung auf mich aus. Ich konnte die Tragödie, die Grausamkeit nicht verstehen. Ich war Zeugin der letzten Augenblicke ihres Lebens. Sie hatte Schmerzen. Warum mußte sie das durchmachen? Warum mußte ich sie verlieren? Sie war eine wirkliche Freundin, und doch hatte ich sie nur für so kurze Zeit. Ich hatte mich auf sie gestützt, mich auf sie verlassen. Wir hatten einander alles anvertraut. Sie konnte leichter mit mir sprechen als mit ihren vier Schwestern. Ich fühlte mich privilegiert, schätzte mich glücklich, sie gekannt zu 193
haben. Die Mädchen, die im Studentenheim wohnten, hatten es schwer mit der Universitätsleitung und den von ihr auferlegten Beschränkungen. Was sollten sie in das Buch eintragen, wenn sie abends an einem Sit-in oder einer politischen Veranstaltung teilnahmen? Am Tag konnten sie »im College«, »Studieren in der Bibliothek« oder ähnliches schreiben. Wenn sie eintrugen, daß sie zu einer Freundin oder zu Verwandten gingen, wurde das überprüft. Einmal verschwanden einige der Mädchen für mehrere Tage. Das war 1968. Sie waren nach Studentendemonstrationen festgenommen und verhört worden, und wir waren überrascht, als sie wieder ins Wohnheim zurückkamen. Danach wurden sie von ihren Familien, dem Studentenheim, der Universität und vor allem vom SAVAK unter Druck gesetzt, sich jedweder politischen Aktivität zu enthalten. Männliche Freunde waren unakzeptabel. Die wenigen von uns, die es wagten, Freundschaften mit Jungen zu schließen, mußten diskret und manchmal listig vorgehen, beispielsweise ein Mädchen aus Schiras, mit dem ich befreundet war. Eines Abends bemerkte sie bei einer Feier im Studentenheim, die für uns Neulinge veranstaltet wurde, meine Ängstlichkeit und Anspannung. Sie hielt meine Hand und nahm mich mit hoch in ihr Zimmer. »Ist dir nach weinen zumute?« fragte sie. »Dann laß uns zusammen weinen.« Ich spürte den Aufschrei in ihren Worten, als sie sie sagte. Sie wurde regelmäßig von einem Mann besucht. Er war ein gutes Stück älter als sie. »Er ist mein Onkel«, erzählte sie allen. 194
Sie saßen oft stundenlang im Gemeinschaftsraum. Im nächsten Jahr heiratete sie ihn. Dies schien eine gute Idee zu sein, und ich unternahm den Versuch, sie zu kopieren. Ein Freund, mit dem ich schon seit langem, seit meiner Schulzeit, korrespondierte, brachte mich nach einem Ausflug ins Studentenheim zurück. Als wir das Gebäude betraten, prallten wir mit einer Gruppe von Leuten zusammen. »Hallo! Das ist mein Onkel«, sagte ich schnell. Als ich meinen Freund das nächste Mal traf, fragte er mich: »Wie geht es deinem Onkel?« »Aber ich habe dich mit meinem Onkel gemeint«, erklärte ich ihm erstaunt. »Ah, Gott sei Dank, daß ich nichts gesagt habe«, erwiderte er. »Ich dachte nämlich, du meinst, er wäre dein Onkel.« Er bezog sich auf einen der Männer in der Gruppe. Ich bewegte mich in völlig unterschiedlichen Umwelten: von derjenigen, in der meine Familie lebte – wo acht Menschen ein Zimmer teilten und Kinder an Unterernährung und Kälte starben –, zum Studentenheim, wo ich nachts mit meinen Zehen die Heizung abstellen konnte, um die Zimmertemperatur zu senken, und mich dabei schuldig fühlte, weil ich Bescheid wußte über diejenigen, die sich in strengen Winternächten nicht warm halten konnten. Ich kam auch in reiche Häuser in Teheran, in denen sich die Menschen einen luxuriösen Lebensstil leisteten und sich des Elends der Armen kaum bewußt waren. Diese Leute wohnten in riesigen, aufwendigen Häusern mit Swimmingpools in ihren Gärten und teuren, von Chauffeuren gefahrenen Wagen, die aus dem Ausland importiert worden waren. Eine Familie beispielsweise, die ich durch meine 195
Missionsverbindungen kennengelernt hatte, beschäftigte ganztägig fünf Mitglieder einer einzigen Familie, dazu noch einen Gärtner und einen Fahrer. Solche Familien beschäftigten Kindermädchen aus dem Westen. Ich lernte ein Kindermädchen kennen, eine Engländerin. Sie sagte, daß ihr Leben in Teheran wie ein Traum wäre. Sie besaß einen eigenen, von einem Chauffeur gefahrenen Wagen und hatte gerade einen Pelzmantel als Weihnachtsgeschenk bekommen. Nicht alle Kindermädchen hatten so viel Glück. Ich lernte ein anderes kennen, ein schwarzes Mädchen. Ihre Lady haßte sie wegen ihrer Hautfarbe, erniedrigte und beschimpfte sie oft. Sie wollte nicht, daß sie im selben Swimmingpool schwamm wie ihre Kinder. Ich hatte noch nie eine so unglückliche Person in diesem Kreis erlebt. Unzufriedenheit und Frustration waren seit einiger Zeit im Iran unter Studenten, Arbeitern und Intellektuellen gewachsen. Junge Leute vom Land strömten nach Teheran und suchten nach Arbeit, so wie es meine Familie Jahre zuvor getan hatte. Die Landwirtschaft des Landes war zerstört. Früher hatte sich der Iran selbst versorgt, heute war er von Nahrungsmittelimporten abhängig, vor allem aus Amerika. Es herrschte die weitverbreitete Meinung, daß die Politik der Vereinigten Staaten bewußt darauf abgezielt hatte, eine Abhängigkeit zu erzeugen. Viele Bauern, die gezwungen waren, ihre Dörfer zu verlassen, waren nach Teheran gekommen und suchten nach Wegen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Während des Tages arbeiteten sie am Bau von Hotels und Villen für die Reichen, und in der Nacht schliefen sie zusammengedrängt in Gräben oder aufgegebenen Steinbrüchen. Jungen, die nicht älter waren als acht oder neun Jahre, arbeiteten lange Stunden in Fabriken und schickten das 196
wenige, was sie verdienten, zu ihren Angehörigen in den Dörfern. Einer von ihnen, ein Cousin, der gerade zehn war, als er anfing, arbeitete in einer Fliesenfabrik und zeigte nur die Brandmale in seinem Gesicht. »Es gibt keinen Schutz vor dem Feuer«, sagte er. Mädchen arbeiteten im Haushalt und als Prostituierte. Ich erlebte zwei Schwestern im Alter von sechs und acht Jahren, die als Hausmädchen arbeiteten und geschlagen wurden, weil sie es nicht schafften, die Kinder der Familie, die zwei und drei Jahre alt waren, ruhig zu halten, während sich die Mutter damit beschäftigte, am frühen Morgen den Koran zu lesen. Ein anderer Verwandter erzählte mir, daß er um die Mittagszeit, als sich die Sonne auf ihrem höchsten Punkt befand, wegen eines Dokuments in einer Schlange vor einem Polizeirevier gestanden hatte. »Ich bekam schwere Kopfschmerzen von der Sonne«, sagte er. »Ich holte ein Taschentuch hervor und breitete es auf meinem Kopf aus. Es war ein rotes Taschentuch. Ein Weilchen später, als ich mich der Tür näherte, bemerkte der Polizeioffizier, der in seinem klimatisierten Büro hinter dem Schreibtisch saß, das Taschentuch. ›Der da, der so achtsam mit seinem Kopf umgeht, daß er ein Taschentuch darauf legt, raus aus der Schlange‹, kommandierte er. ›Es ist nur, weil ich von der Sonne bohrende Kopfschmerzen bekomme‹, versuchte ich zu erklären. Aber es führte zu nichts. Er bestand darauf, daß ich gehorchte. Ich trat aus der Schlange, nahm das Tuch runter und stellte mich wieder ans Ende der Schlange.« Oft verschwanden Menschen. Das war normal. Es klopfte mitten in der Nacht an die Tür, und sie wurden zum Verhör abgeholt. Menschen wurden eingesperrt, oft für unbestimmte Zeit, manche wurden gefoltert. Nägel 197
wurden ausgerissen. Einige mußten sich auf schmale Metallbetten legen, die allmählich erhitzt wurden. Männern wurden Gewichte an die Hoden gehängt. Ein Freund meines Onkels, mit dem dies gemacht wurde, konnte später keine Kinder mehr zeugen. Vergewaltigungen und das Einführen von zerbrochenen Flaschen in das Rektum waren üblich. Unter den jungen Männern machte ein schrecklicher Witz die Runde: »Willst du ein Coke? Groß oder klein?« »Klein, bitte. Damit geht’s leichter.« Mißtrauen und Furcht beherrschten das Leben der Menschen. Wir hörten entsetzliche Geschichten über die Behandlung von Menschen, die sich in Haft befanden, von Mädchen, die Berichten zufolge vergewaltigt und ausgepeitscht wurden. Von Männern, die nachts im Schlaf in eiskaltes Wasser geworfen und nackt ausgepeitscht wurden, und von wilden Tieren, die in Zellen losgelassen wurden. Ich hörte von einem Mann, dessen Kind vor seinen Augen gefoltert wurde, um von ihm Informationen über die Aktionen seiner Freunde zu bekommen. Er sagte immer wieder: »Dieses Kind ist unschuldig.« Jeder konnte aufgegriffen werden, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Alle wußten das. Die Menschen brachten sich gegenseitig tiefes Mißtrauen entgegen. Ich hatte eine Freundin, deren Cousin auf der Flucht war. Er rief gelegentlich an und sagte in dem Bewußtsein, daß das Telefon abgehört wurde, in welcher Richtung er das Land verlassen würde, um eine falsche Spur zu legen. »Geh und stell dich, Abas«, sagte die Mutter der Freundin. »Wie lange willst du noch so leben, immer auf der Flucht, heimatlos?« »Mich stellen! Weißt du, was sie mit mir machen würden, wenn ich das täte?« 198
Er wurde letzten Endes doch gefaßt und exekutiert. Sie hatten auch seinen Vater getötet, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Ein Mann, den ich kannte, war viele Male im Gefängnis gewesen und verlor sein Augenlicht. Sie hatten ihm mit extrem hellem Licht in die Augen geleuchtet, wodurch diese einen Schaden davontrugen. Die Menschen lebten in Furcht und Schrecken. Ein Verwandter, der als Lastwagenfahrer arbeitete, brachte eine Ladung Steine nach Amirabad, in das berüchtigte Gefängnis. Als er am Eingangstor ankam, bekam er strikte Anweisungen: »Halte die Augen gerade nach vorne gerichtet, wenn du raus- und reinfährst. Sieh nicht nach links und rechts, egal was passiert. Hast du verstanden?« Als er hineinfuhr, hörte er die qualvollen Schreie eines Mannes und blickte nach rechts, wo die Geräusche herkamen. Er sah einen jungen Mann, der nackt an einen Baum gebunden war und furchtbar geschlagen wurde. Der Polizist, der bei ihm im Lastwagen saß, schlug ihm ins Gesicht. »Haben wir dir nicht gesagt, daß du nicht hinsehen sollst?« Ein anderer, der mit ihm arbeitete, schaffte es einmal, mit einigen der jungen Studenten im Gefängnis zu sprechen. Sie gaben ihm Botschaften und die Adressen ihrer Familien mit. Auf dem Weg nach draußen untersuchte man ihn und nahm ihm die Papiere weg. Er wurde verwarnt und war sehr erleichtert, daß man ihn nicht verhaftet und bestraft hatte. Offizieren mit höherem Rang standen Wehrpflichtige zur Verfügung, die bei ihnen im Haus wohnten und sich um Ausrüstung und Kleidung zu kümmern hatten. Diese 199
jungen Männer leisteten ihren zweijährigen Wehrdienst ab. Fast immer mußten sie als Hausdiener fungieren. Viele schreckliche Geschichten über ihre Behandlung waren im Umlauf. Ich hörte, daß ein Soldat, der dem Hausherrn beim Einsteigen ins Auto den Rücken zuwandte, durch einen wütenden Schlag auf den Hinterkopf getötet wurde, weil er keine korrekte Haltung angenommen hatte. Ein anderer Soldat, dessen Mutter ich kannte, verhungerte. Sie waren Türkisch sprechende Immigranten aus Rußland, und die Mutter hatte jahrelang als Kindermädchen gearbeitet. Ihr Sohn kam in ein Haus, in dem er schrecklich behandelt wurde. Was seine Familie am meisten entsetzte, war die Tatsache, daß er die ganze Wäsche zu machen hatte, darunter auch die Unterwäsche der Hausherrin. Er mußte ihre Schlüpfer und Büstenhalter waschen, einen nach dem anderen, per Hand. Man stelle sich das vor! In ihren Augen war dies das Schlimmste, was einem Mann widerfahren konnte. Und er bekam tagelang hintereinander nichts zu essen. Schließlich starb er, buchstäblich an Hunger. Eines Tages besuchte der Schah die Universität. Er fragte einen der Studenten, was er studierte. »Volkswirtschaftslehre«, erwiderte der Student. »Volkswirtschaftslehre?« wiederholte der Schah mißbilligend. »Welch nutzloses Fach. Warum haben Sie nicht etwas Nützliches gewählt? Wir brauchen keine Volkswirte in diesem Land.« Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als die Belegschaft einer Fabrik im Norden einen Marsch nach Teheran organisierte. Die Arbeiter waren nicht zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. Sie trugen vor sich ein Bild des Schahs her, um zu zeigen, daß sie nicht gegen ihn waren. Als sie auf Teheran zumarschierten, bekam die 200
Armee Schießbefehl. Einige Arbeiter starben, viele wurden verletzt und die übrigen kehrten um. Studenten suchten immer nach Wegen, ihre Frustration auszudrücken. Einmal fingen sie an, die Scheiben eines Selbstbedienungsrestaurants einzuschlagen. »Was für eine Art von Essen gebt ihr uns da?« schrien sie. »Wir sind keine Tiere!« Ein anderes Mal wurden nach einer plötzlichen, sehr kräftigen Erhöhung der Bustarife Demonstrationen organisiert. Studenten liefen in großen Gruppen umher und brüllten Parolen. »Freiheit. Gleichheit.« »Gerechtigkeit für Verräter.« Ziemlich oft ging die Polizei bei Demonstrationen mit Schlagstöcken gegen die Studenten vor. Bei einer Gelegenheit war ich mit einer Kommilitonin unterwegs, als die Polizei anfing, mit ihren Schlagstöcken zuzuschlagen. Die Menschen neben uns wurden getroffen, während wir die Möglichkeit bekamen, davonzulaufen. »Es war wegen dir, daß wir nicht geschlagen wurden«, bemerkte meine Freundin. »Weißt du, es würde Schlagzeilen machen, wenn eine blinde Studentin zusammengeschlagen wird.« Aber wenn Studenten mit mir gesehen wurden, konnten sie aufgrund meiner Behinderung leicht identifiziert werden. Deshalb hielten sie sich bei Demonstrationen und Sit-ins ein gutes Stück von mir fern. Studenten veranstalteten in der Universität lang andauernde Sit-ins. Andere liefen herum, um Vorlesungen zu stören oder abzubrechen. Einige Dozenten ignorierten sie und fuhren mit ihrer Vorlesung fort. »Komm raus!« brüllten die Studenten. »Verräter, komm 201
raus!« Und sie machten weiter, bis die Vorlesung abgebrochen wurde und der Dozent ging. Dr. Sadighi war ein populärer Soziologiedozent – bis zu vierhundert Studenten hörten seine Vorlesungen. Einmal erschienen während einer Vorlesung die Studenten, rissen die Tür auf und begannen zu brüllen. »Gerechtigkeit!« »Gleichheit!« »Freiheit!« »Wir wollen Taten! Schluß mit den Theorien!« Dr. Sadighi hörte ihnen ein Weilchen zu, trat dann vom Podium herunter und verließ den Saal. Er bekam Applaus für seine Reaktion. Er sympathisierte mit den Anliegen der Studenten. Er gehörte zur Partei der Nationalen Front und war vom Schah für eine Reihe von Jahren ins Gefängnis gesteckt worden. Wenn man ihm direkte politische Fragen stellte, pflegte er zu schweigen. Bei einer Gelegenheit jedoch schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin angewiesen worden, nichts zu sagen!« brüllte er. Studentenführer wurden oft ergriffen und in Haft genommen. Aber schnell traten bei Demonstrationen andere an ihre Stelle und setzten den Protest fort. Ich kannte eine Studentengruppe, die gelobt hatte, regelmäßig einmal in der Woche in den südlichen Teil Teherans zu gehen und sich unter die Armen zu mischen, um sich das Ausmaß der Armut und des Elends vor Augen zu führen, mit dem die Menschen leben mußten – um nicht zu vergessen, um ihre Überzeugung, daß eine Änderung erforderlich war, hochzuhalten. 202
Die sogenannte Weiße Revolution des Schahs – weiß, weil sie ohne Blutvergießen vonstatten gehen sollte – hatte keine wirklichen Auswirkungen auf das Leben der Menschen gehabt. Sie sollte eine Landreform einschließen, eine groß angelegte Kampagne gegen das Analphabetentum, die Befreiung der Frauen, die Modernisierung der Industrie, die Umverteilung der Vermögen und eine Beschränkung der Macht der Geistlichkeit. Im Jahr 1971 veranstaltete der Schah ein großes Fest, um das zweitausendfünfhundertjährige Jubiläum des Persischen Reiches – gegründet von Cyrus im sechsten Jahrhundert v. Chr. –, seine dreißig Jahre auf dem Thron und den zehnten Jahrestag der Weißen Revolution zu feiern. Dieses verschwenderische Fest kostete das Land viele Millionen Pfund – nach einer Schätzung dreißig Millionen Dollar –, amüsierte Staatsmänner und die Reichsten der Reichen aus der ganzen Welt und fand statt in Persepolis, das in der Nähe von Schiras im Süden des Irans liegt. Das Essen und die Zelte für das Fest wurden von Frankreich geliefert. In seiner Rede bei der Feier sagte der Schah: »Cyrus, ruhe in Frieden, denn der Iran von heute ist genauso groß, wie er zu deiner Zeit war!« Als ich mit der Eisenbahn von Teheran nach Isfahan fuhr, hörte ich hinter mir zwei Männer, die sich über Shahr Ghesseh unterhielten, eine populäre Schau mit subtilen, aber handfesten politischen Einsichten, in der sich die andauernde Unzufriedenheit und das Unglück des Volkes widerspiegelten. Ich fühlte, daß sie selbst mit der Schau zu tun hatten. Es drängte mich, mit ihnen darüber zu reden. »Ich kenne Sie«, wollte ich sagen. »Ich habe Sie gehört. 203
Ich liebe Sie. Ich verstehe Sie.« Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mit ihnen zu sprechen. Der Gedanke, daß sie mich zurückweisen und verspotten würden, lähmte mich. Und doch spürte ich, daß sie nette Menschen waren. Ich befand mich in einem Dilemma. Meine Empfindungen waren verwirrend. Solche starken Gefühle, der Wunsch, mit ihnen zu reden, das Gespür, daß sie nette Menschen waren, aber auch das starke Gegengefühl, daß sie mich zurückweisen und verspotten würden. Ich kämpfte mit diesen Gefühlen während der ganzen Fahrt und auch noch lange Zeit danach. Als wir den Bahnhof in Isfahan erreichten, mußten sie mein Interesse gespürt haben. Sie fragten mich, wohin ich wollte. Ich erklärte es ihnen. Sie boten mir an, mich in einem Taxi mitzunehmen. Nein, das konnte ich nicht annehmen. Sie bestanden darauf, mit sanftem Nachdruck. Ich konnte ihnen nicht trauen – es wäre möglich, daß sie mich nicht als Mensch akzeptierten. Ich sehnte mich nach ihrer Gesellschaft, und doch konnte ich ihr Angebot nicht annehmen. Die gegensätzlichen starken Gefühle brannten in meinem Inneren. Ich konnte meinen eigenen Leuten nicht trauen. Ich konnte ihr Vertrauen, ihre Akzeptanz nicht annehmen, wenn sie mir angeboten wurde. Dieses Rätsel verblieb bei mir eine sehr lange Zeit. Ich konnte es nicht lösen, konnte es nicht verstehen, konnte keinen Sinn darin erkennen. Im Jahr 1970 erwarb ich an der Universität Teheran mein Diplom in Psychologie.
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