Gesine Kulcke Identitätsbildungen älterer Migrantinnen
VS RESEARCH
Gesine Kulcke
Identitätsbildungen älterer Migra...
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Gesine Kulcke Identitätsbildungen älterer Migrantinnen
VS RESEARCH
Gesine Kulcke
Identitätsbildungen älterer Migrantinnen Die Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Alfred Holzbrecher
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Dorothee Koch / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16946-0
Geleitwort
Fotos als „geliebte Objekte“ (T. Habermas), als Medien zur Stiftung von Identität in einem fremden Land: Wenn ältere Migrantinnen zur Kamera greifen, kann davon ausgegangen werden, dass sich in ihren Fotos ihr Lebensgefühl widerspiegelt. Dieser komplexen Problematik nähert sich die Autorin zunächst mit dem Diskurs über Identitätsbildung von Migrantinnen, um auf diesem Hintergrund „Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft“ herauszuarbeiten, d.h. aus der Perspektive der (interkulturellen) Medienforschung zu zeigen, in welcher Weise und mit welchem Interesse „Bilder“ von Migranten konstruiert werden. In einem weiteren Kapitel widmet sie sich der Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle bzw. als Forschungsmethode, deren Setting darin besteht, dass sie ältere Migrantinnen bittet, für sie bedeutsame Situationen zu fotografieren, ergänzend dazu werden Interviews durchgeführt. Damit wird es möglich, ein exemplarisch ausgewähltes Foto bildanalytisch zu untersuchen und mit Hilfe ergänzender Informationen aus dem „Fotointerview“ sehr eindrucksvoll zu belegen, in welcher Weise dem Medium Fotografie im Identitätsbildungsprozess Bedeutung zukommt. Die Arbeit ist zum einen ein wichtiger Beitrag zu einer Fotopädagogik, in der die rezeptive und die produktive Arbeit miteinander verknüpft sind, zum anderen zeigt sie beispielhaft, wie mit dem Medium Fotografie als Forschungsmethode gearbeitet werden kann. Prof. Dr. Alfred Holzbrecher Pädagogische Hochschule Freiburg
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................................. 9 1 Identitätsbildung von Migrantinnen............................................................ 13 1.1 Identität und Identitätsbildung ............................................................ 13 1.2 Migration als Identitätskrise ............................................................... 17 2 Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft....... 21 2.1 Die unmoderne Frau unter dem Kopftuch .......................................... 21 2.2 Das Bild der Migrantin in den Medien ............................................... 27 2.2.1 Beispiele aus den Medien ........................................................... 27 2.2.2 Einfluss der Medien auf Alltagswissen über Migrantinnen ........ 30 2.3 Das Bild der Migrantin in der Migrationsforschung........................... 33 2.4 Die Migrantin in Beratungs- und Bildungsprojekten.......................... 34 3 Identitätsbildung sichtbar machen .............................................................. 39 3.1 Die Fotografie als Ausdrucksmittel .................................................... 39 3.2 Die Fotografie als Erkenntnisquelle.................................................... 41 3.3 Ein Analyseverfahren für Eigenproduktionen .................................... 48 4 Pädagogisches Setting................................................................................. 55 4.1 Der Fotoauftrag................................................................................... 55 4.1.1 Persönlich bedeutsame Orte........................................................ 55 4.2 Situation und fotografischer Kontext.................................................. 58 4.3 Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit............................ 59 4.3.1 Der Verein................................................................................... 59 4.3.2 Projektverlauf.............................................................................. 60 5 Exemplarische Bildanalyse......................................................................... 71 5.1 Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse ........................ 71 5.1.1 Erstverstehen..................................................................................... 73 5.2 Bildanalyse ......................................................................................... 79 5.2.1 Einführung in die Methode ......................................................... 79 5.2.2 Sachebene ................................................................................... 80 5.2.2.1 Beschreibung bildlicher Details .............................................. 80 5.2.2.2 Gestaltungselemente ............................................................... 85 5.2.3 Selbstoffenbarungsebene ............................................................ 91 5.2.3.1 Selbstdarstellung ..................................................................... 91 5.2.3.2 Selbstenthüllung...................................................................... 98
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Inhaltsverzeichnis
6 Fotointerview............................................................................................ 113 7 Resümee.................................................................................................... 117 Anhang.............................................................................................................. 121 Literatur ............................................................................................................ 147
Einleitung
Die Feststellung, dass es nicht eine Migrantin gibt, sondern viele Frauen mit unterschiedlichen Identitäten, die in Deutschland in der Migration leben, scheint überflüssig. Doch der Blick in die Medien, die Rezeption politischer Debatten sowie pädagogischer Praxis zeigt, dass die zahlreichen Lebensstile von Migrantinnen keinesfalls immer wahrgenommen, geschweige denn kommuniziert oder in pädagogischer Arbeit reflektiert werden. Vielmehr werden verallgemeinerte Darstellungen von Migrantinnen und ihre in der Regel als rückständig beschriebenen Herkunftskulturen instrumentalisiert. Die Medien konstruieren Stereotypisierungen, die das Eigene aufwerten und das Fremde abwerten, und legitimieren damit soziale Ungleichheiten und Bildungsnachteile. Bis in die sechziger Jahre stellte die Ausländerpädagogik vornehmlich das Bild der orientierungslosen und handlungsunfähigen Migrantin in den Vordergrund, indem sie sich darauf konzentrierte, mit Sprach- und Förderkursen ökonomische, soziale und sprachliche Nachteile aufzufangen (vgl. Munsch et al. 2007, S. 38). Diese defizitorientierte Haltung wird inzwischen in der Interkulturellen Pädagogik kritisiert, doch nach Eggert-Schmid, orientieren sich PädagogInnen nach wie vor an zu allgemeinen Zuschreibungen und erkennen individuelle Lebensentwürfe und -stile, sowie Integrationsleistungen von Migrantinnen und Migranten nicht ausreichend an bzw. nehmen diese nicht ausreichend wahr. Es wird nicht unbedingt mit der bewussten Haltung gearbeitet, alle Zugewanderten gehörten einem ethnisch homogenen Kollektiv an. Doch „als Fiktion ist dieses Bild nach wie vor ein Teil der gesellschaftlichen Realität“ (Eggert-Schmid 2000, S. 202).
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Einleitung
Bewusst oder unbewusst: die pauschale Aufforderung an Migrantinnen, ihre angeblich rückständigen Herkunftskulturen zu überwinden, leitet auch pädagogisches Handeln. Die Überwindung der Herkunftskulturen wird weit verbreitet als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration betrachtet. Eingefordert wird damit Assimilation; kreative Chancen, die in der Transkulturalität und Weiterentwicklung kultureller Traditionen liegen, werden dabei weder genutzt noch erkannt (vgl. Schiffauer 2003, S. 160). In dieser Arbeit sollen Spuren von Transkulturalität erfasst werden. Dabei wird vermutet, dass solche Spuren in individuellen und schöpferischen Identitätsbildungen von Migrantinnen sichtbar werden, da sich Identitäten nicht allein aus gesellschaftlichen Zuschreibungen und Sinnvorgaben bilden: Zuschreibungen bedingen Identitätsbildungen, dennoch bleibt Raum, in dem individueller Sinn und individuelle Bedeutungen entstehen (vgl. Marotzki 1995, S. 60f.). Texte oder Interviews sind für diese Spurensuche weniger geeignet. Nicht etwa weil den Frauen sprachliche Defizite unterstellt werden sollen, sondern vielmehr weil Identitätsbildungen in ihrer Komplexität nicht immer bewusst nachvollziehbar sind (vgl. Marotzki 1995). Da Identitäten sich aber nach Habermas in der Gestaltung persönlicher Umwelten bzw. der Gestaltung und Aneignung persönlicher Orte widerspiegeln (vgl. 1999, S. 243f.), wird angenommen, dass Fotografien, die Migrantinnen von für sie persönlich bedeutsamen Orten machen, Identitätsbildungen so offenbaren, dass eine Kommunikation über sie möglich wird. Dabei ist hier nicht allein über das Motiv – also die persönlich bedeutsamen Orte – ein Zugang zu individuellen Identitätsbildungen von Migrantinnen zu erwarten, sondern auch über den bildspezifischen Selbstausdruck. Für die Interpretation dieses Selbstausdrucks wird u.a. auf das Bildanalyseverfahren von Holzbrecher & Tell zurückgegriffen, die das von Schulz von Thun entwickelte kommunikationspsychologische Modell zur Analyse verbaler Nachrichten auf die Analyse von Bildnachrichten übertragen haben (vgl. Holzbrecher & Tell 2006). Schulz von Thun stellt eine Deutungsvielfalt für gesprochene Nachrichten fest (vgl. 2005). Um diese Deutungsvielfalt erfassen zu können, ordnet er die einzelnen Botschaften, die mit einer Nachricht sowohl
Einleitung
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bewusst als auch unbewusst kommuniziert werden und somit in der zwischenmenschlichen Kommunikation wirken, vier Ebenen zu: der Sachebene, der Selbstoffenbarungsebene, der Beziehungsebene und schließlich der Appellebene, auf der versucht wird, den/die EmpfängerIn einer Nachricht zu einer bestimmten Handlung, einer Meinung oder einem Denken zu bewegen (vgl. Schulz von Thun 2005, S. 26ff.). Die Ebenen entsprechen den jeweiligen Informationsgehalten der Botschaften. Holzbrecher & Tell haben diese Ebenen zur Erfassung sprachlicher Nachrichten so adaptiert, dass sie auch Botschaften, die in Bildern kommuniziert werden, differenziert erfassen können (vgl. 2006, S. 107). Holzbrecher & Tell haben auf diese Art bisher vornehmlich Bilder analysiert, die Jugendliche in medienpädagogischen Kontexten fotografiert haben, um deren spezifische Weltsichten und Perspektiven näher betrachten zu können (vgl. 2006, S. 107). In der vorliegenden Arbeit sollen nun spezifische Weltsichten und Perspektiven von Erwachsenen erfasst werden. Dafür wurden insgesamt mehr als dreißig Frauen aufgefordert, einen für sie persönlich bedeutsamen Ort zu fotografieren. Elf Frauen haben schließlich Bilder zur Verfügung gestellt: neben acht älteren auch drei jüngere. Davon haben sich vier Frauen fotografieren lassen. Sie haben also nicht selbst fotografiert. Diese Bilder wurden aussortiert, so dass für die Bildanalyse sieben Bilder zur Verfügung standen, von denen schließlich eins detailliert untersucht wurde. Zu den Bildern, die im Rahmen dieser Arbeit entstanden sind, wurden zusätzlich so genannte Fotointerviews geführt: Denn sowohl der Analyse von Bildern, die von unerfahrenen Fotografinnen gemacht werden, die technische Gestaltungsmittel nur bedingt gezielt einsetzen, als auch der Fremddefinition persönlicher Objekte sind Grenzen gesetzt (vgl. Habermas 1999, S. 494). Die Fotointerviews sind zudem der Einstieg in einen selbstreflexiven Dialog zur Überwindung unreflektierter Alltagsdeutungen in der pädagogischen Interaktion. Das Fotointerview erfasst gezielt intendierte Botschaften der Fotografin. So bereitet die Arbeit einen selbstreflexiven Dialog vor, der auch ein Bewusstsein für Transkulturalitäten schaffen kann, indem mögliche Rezeptionen, die ein Bild in sich trägt, zusammengetragen und dem intendierten Ausdruck gegenübergestellt
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Einleitung
werden. Es wird Raum für Selbstdefinitionen, aber auch für die Auseinandersetzung mit diesen geschaffen. In der Arbeit wird davon ausgegangen, dass das Individuum in seiner Identität nicht nur von Zuschreibungen bestimmt wird, sondern Möglichkeiten hat und nutzt, Identitäten neu zu schaffen und so zu präsentieren, dass sie in der Gesellschaft wahrgenommen werden können. Diese Annahme soll im ersten Kapitel näher erläutert werden, bevor im zweiten Kapitel eine Auseinandersetzung mit Aussagen, die über Migrantinnen in den Medien, in der Migrationsforschung und der pädagogischen Praxis gemacht werden, stattfindet. Das dritte Kapitel führt in die Fotografie als Erkenntnisquelle für sozialwissenschaftliche Fragen ein und erläutert die für diese Arbeit ausgewählte Methode. Im vierten Kapitel wird das pädagogische Setting beschrieben, also der Kontext, in dem die Bilder für diese Arbeit entstanden sind, bevor im fünften Kapitel ein Bild exemplarisch analysiert wird, und in Kapitel sechs das die Einzelbildanalyse ergänzende Fotointerview folgt.
1 Identitätsbildung von Migrantinnen
1.1 Identität und Identitätsbildung Die persönliche Identität setzt sich aus vielen Teilidentitäten zusammen, die miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Hettlage-Varjas 2002, S. 170). Die fundamentalen Identitäten sind die Geschlechts-, Alters- und Familienidentität. Im Laufe der Entwicklung eines Menschen kommen weitere Teilidentitäten hinzu, die sich aus Zugehörigkeiten ergeben: So kann ein Mensch zu einer Schule gehören, zu einer Stadt, einem Land, einer Wohngemeinschaft, einem Sportverein oder einer Religionsgemeinschaft. Auch Interessen sind identitätsbildend: Eine Person kann Fußballfan sein, Computerfreak oder auch Musikliebhaber (vgl. Habermas 1999, S. 244). Das Individuum entwickelt seine persönliche Identität, indem es sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Dabei gründet sich die Identität auf eigenen Wünschen und Bedürfnissen, aber auch auf Wünschen und Bedürfnissen anderer, denn der Mensch sucht sowohl Anerkennung und Zugehörigkeit, als auch die Möglichkeit, sich in seiner Einzigartigkeit von anderen abzugrenzen: Die Ansprüche und Gesetze der Umwelt sind für das Individuum durchaus entscheidend, weil es zu seinem Dasein und seiner Entwicklung ebenso des Eingebettetseins in eine Gemeinschaft wie der eigenen Bestrebungen bedarf. Zum einen identifiziert sich das Kind mit den bewussten und unbewussten Erwartungen der Eltern und ihrer Vertreter, weil es Bestrafung, Kränkung und Liebesverlust vermeiden will und mit diesen solidarisch ist. Zum anderen bedarf es aber auch der Spiegelfunktion seiner Umgebung, um ein Bild von sich zu formen, von anderen abzugrenzen und es zu lieben. Kurz: Identität wird gebildet durch die konflikthafte und
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Identitätsbildung von Migrantinnen spannungsvolle Interaktion zwischen inneren Strukturen und Kräften des Selbst und seinem Umfeld, wobei intrapsychische und intersubjektive Prozesse untrennbar miteinander und ineinander verknüpft sind (Hettlage-Varjas 2002, S. 169).
Identität bildet sich also zunächst aus sozialen Erfahrungen, die in der Kindheit gemacht werden. Besondere Bedeutung haben hier Identifikationen mit den Eltern: den Fähigkeiten der Eltern und den Rollen, die sie einnehmen. Identifikationen finden aber auch in der Nachbarschaft, in der Kindertagesstätte, in der Schule, in den Medien oder mit jüngeren und älteren Kindern statt: Die Identitätsbildung schließlich beginnt dort, wo die Brauchbarkeit der Identifikationen endet. Sie entsteht dadurch, daß die Kindheitsidentifikationen teils aufgegeben, teils aneinander angeglichen und in einer neuen Konfiguration absorbiert werden, was wiederum von dem Prozeß abhängt, durch den eine Gesellschaft (oft mittels Untergesellschaften) den jungen Menschen identifiziert, indem sie ihn als jemanden annimmt und anerkennt, der so werden mußte, wie er ist (Hervorheb. i. Orig. Erikson 1973, S. 140).
Die Identifizierung durch die Gesellschaft bzw. die Definitionen und Zuschreibungen anderer, nennt Erikson soziale Identität, während die Ich-Identität „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart [beschreibt], das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt“ (Goffman 1975, S. 132). Die Wahrnehmung der Rollenidentitäten durch andere bzw. durch die Gesellschaft ist nicht deckungsgleich mit der eigenen Wahrnehmung. Ich-Identität und soziale Identität unterscheiden sich umso mehr, desto fremder sich begegnende Personen sind. Damit eine soziale Interaktion möglich wird, bedarf es Identitätssymbole, die durch die Andeutung von Identitäten die Interaktionssituation so vorbereiten, dass die Personen aufeinander zugehen und in der Interaktion Identitäten gemeinsam aushandeln und definieren können (vgl. Habermas 1999, S. 245). Identitätssymbole ermöglichen den Ausdruck von Gemeinsamkeiten mit anderen, aber auch Abgrenzungen. Zu den Identitätssymbolen gehören nach
Identität und Identitätsbildung
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Habermas alle Objekte, die am Körper getragen werden, wie Kleider, Brillen, Taschen, aber auch Frisuren. Identitätssymbole können genauso Autos sein oder Fahrräder, ebenso Nahrungs- und Genussmittel (vgl. Habermas 1999, S. 243f.). In der Regel wird nicht mit isolierten Symbolen auf soziale Identitäten verwiesen, sondern mit der gesamten Gestaltung der persönlichen Umwelt bzw. mit Lebensweisen und -stilen, die nach Bourdieu auf den Habitus zurückzuführen sind, der in Abhängigkeit von sozialen Positionen und Stellungen Geschmäcker, Einstellungen und Handlungsweisen produziert (vgl. Bourdieu 1987, S. 288f.). Soziale Identitäten sind also besonders am Körper, aber auch an Wohnräumen und Einrichtungsgegenständen erkennbar, mit denen der Bewohner seine Behausung schmückt und sich anderen präsentiert: die Möbel, der Wandschmuck, der Bodenbelag, die audiovisuellen und anderen Geräte, die Bücher, die funktionale Aufteilung der Räume, die Sauberkeit. Dazu gehört ebenfalls die Behausung selbst mit ihrer Größe, ihrer Lage und eventuell dazugehörenden Außenräumen wie einem Garten (Hervorheb. i. Orig. Habermas 1999, S. 243).
Nach Bourdieu produziert der Habitus nicht nur Geschmack, Handlungsweisen und Lebensstile, durch die sich wiederum Identitäten vermitteln, sondern der Geschmack, die Handlungsweisen und Lebensstile sind der sozialen Lage, aus der sie hervorgehen, schon vorab angepasst. Der durch die soziale Lage bestimmte Habitus sorgt dafür, dass gemocht wird, was gemocht wird, nicht etwa eine freie Entscheidung (vgl. Krais & Gebauer 2002, S. 43). Habermas geht dennoch davon aus, dass das Individuum auch Möglichkeiten hat, Identitätsobjekte auszuwählen und zu gestalten, um etwa sein Geschlecht, sein Alter, seine Herkunft, seine Interessen oder Positionen in der Gesellschaft zu vermitteln. Auch Altman schildert das Individuum eher aktiv und bewusst in der Auswahl seiner Identitätssymbole (vgl. 1975). Es ist das Individuum, das der Welt sagt, wer es ist, wobei die Gesellschaft seinen Selbstausdruck durch Konventionen, Stile, Moden oder Trends mitbestimmt:
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Identitätsbildung von Migrantinnen It is quite evident that different age, occupational, and status groups adopt styles of clothing or ‘uniforms’ to tell the world who they are, to help define situations, and to reflect their status roles. For example, one usually dresses formally at weddings and casually at picnics; one wears suits and ties to business offices and informal clothing at home (Altman 1975, S. 36f.).
Nicht nur die eigenen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse sowie die Zuschreibungen anderer formen Identitäten, auch Situationen und Zustände, in denen sich ein Individuum langfristig oder vorübergehend befindet. „Most people are more or less able to seperate the different roles in their lives; their functioning in one situation (for example, as a husband or father) is seperate from their role in other settings (for example, as a business executive)” (Altman 1975, S. 40). Für alle gilt, „auch für MigrantInnen, dass in verschiedenen Sozialräumen – in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule, im Beruf, in der Nachbarschaft, in Vereinen, religiösen Institutionen und sozialen Milieus – auch verschiedene soziale Identitäten ausgelebt werden“ (Munsch et al. 2007, S. 25). Die Identitätsbildung ist „eine lebenslange Entwicklung, die für das Individuum und seine Gesellschaft weitgehend unbewußt verläuft“ (Erikson 1973, S. 141). Demnach findet die Identitätssuche auch kein Ende mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter: Der Mensch gerät immer wieder in Identitätskrisen, die durch die einzelnen Entwicklungsstufen im Lebenszyklus ausgelöst werden1. Auch die Immigration kann zu einer Identitätskrise führen, deren Bewältigung neue Lebensentwürfe und Identitäten hervorbringt: Identitätskrisen werden jedoch nicht nur durch den Lebenszyklus ausgelöst, sondern auch durch den Wechsel der Umstände. Dazu gehören Schicksalsschläge, aber auch eine unerträgliche Portion von Glücksfällen, der Verlust von bedeutungsvollen Be-
1 Zu den Entwicklungsstufen gehören das Säuglingsalter, das Kleinkindalter, das Spielalter und das Schulalter, die Adoleszenz, das frühe Erwachsenenalter, das Erwachsenenalter und das reife Erwachsenenalter. „Die Funktion des Ichs besteht darin, die psychosexuellen und psychosozialen Aspekte einer bestimmten Entwicklungsstufe zu integrieren und zu gleicher Zeit die Verbindung der neu erworbenen Identitätselemente mit den schon bestehenden herzustellen“ (Erikson 1973, S. 143).
Migration als Identitätskrise
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zugspersonen, Krankheit, Entwurzelung, Krieg, Verfolgung, Vergewaltigung und Flucht (Hettlage-Varjas 2002, S. 171).
1.2 Migration als Identitätskrise Wenn eine Frau ihr Land verlässt, gibt sie nicht nur Gewohnheiten auf, sondern auch Beziehungen und Bindungen, die Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung geben und damit dem Leben Halt und Sinn (vgl. Akashe-Böhme 2002, S. 53). Die Trennungserfahrungen führen zu Gefühlen von Entwurzelung, die fehlenden sozialen Netzwerke zu Einsamkeit und Isolation. Hinzukommen in der Migration oft Arbeitslosigkeit und damit verbundene Statusverluste. Erschwerend kommt hinzu, dass die neue soziale Umgebung Flüchtlingen und Migranten das Gefühl vermittelt, unwillkommen zu sein, und sie ein für sie unbegreifliches Maß an Ablehnung, Arroganz, Feindseligkeit und Unfreundlichkeit erleben, das ihnen bis dahin zumeist fremd war. Dieses Gefühl ‚unerwünscht zu sein’, führt häufig zu sozialem Rückzug, Frustration, Wut, Depression, psychosomatischen Störungen, Suchtverhalten, Identitäts- und Sinnkrisen, bis hin zum Suizidverhalten (Rohr 2002, S. 22f.).
Flucht und Migration können als „tiefgreifender biographischer Bruch“ erfahren werden (vgl. Akashe-Böhme 2002, S. 56). MigrantInnen berichten von dem Gefühl der Ausgrenzung, dem Gefühl zwischen Kulturen zu stehen; davon, dass sie sich fremd in ihrer neuen Umgebung fühlen. Eine Reaktion darauf ist die identitätssichernde, intensive Auseinandersetzung und Hinwendung zur Herkunftskultur: Es liegt auf der Hand, dass jeder Mensch bestrebt ist, die Spannung zwischen Anpassung und Abstoßung gering zu halten, Angst und Frustration zu vermeiden bzw. mit sich und der Welt in Einklang zu leben. Er wird versuchen, die Spannung aufzulösen und den Anpassungsrückstand minimal halten. Wiederum auf die Situation
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Identitätsbildung von Migrantinnen des Migranten bezogen, gibt es dafür vielfältige Strategien: Er kann sich z.B. weigern, die ‚Spielregeln’ der Aufnahmekultur wahrzunehmen und so tun, als ‚führen die Züge noch immer nach dem alten Fahrplan’. Das entspricht in etwa dem Konzept der Selbstghettoisierung (Hervorheb. im Orig., Hettlage-Varjas 2002, S. 176).
Die Selbstghettoisierung ist jedoch nur eine vorläufige Lösung. Ein Leben in sozialer Isolation ist für Menschen kaum zu ertragen, und die Mehrheitsgesellschaft lässt ein solches Leben in der Regel auch gar nicht zu. MigrantInnen werden immer wieder mit dem Fremden - mit der anderen Kultur in ihrem neuen Land - konfrontiert, auch wenn sie versuchen sich zurückzuziehen, da bestimmte Bedürfnisse und Pflichten den Umgang mit Institutionen verlangen, die gesellschaftliche Aufgaben wie die Versorgung bei Krankheit und Alter oder die Erziehung und Bildung der Kinder übernehmen (vgl. Tillmann 2006, S. 109). Die Konfrontationen mit unbewältigten kulturellen Widersprüchen in gesellschaftlichen Institutionen sind spannungsvoll und können Angst auslösen. Der Mensch kann die kulturellen Widersprüche und die mit ihnen verbundenen inneren Spannungen und Identitätskrisen jedoch nicht mit einer schnellen und einfachen Anpassung an die neue Umgebung lösen: Lernt er schnell und passt sich den neuen Gepflogenheiten an, gerät er mit seiner mitgebrachten Haltung – und dadurch auch mit den primären Bezugspersonen, die ihm diese übermittelt haben – in Widerspruch. Er wird den Verlust der Liebe und Anerkennung der Repräsentanten seiner Herkunftskultur und eines Teils von sich selbst fürchten. Er wird sich vor ihnen schämen und schuldig fühlen, befürchten, von ihnen ausgeschlossen und verlassen zu werden (Hettlage-Varjas 2002, S. 174).
In ihrem Buch Leben im Exil beschreibt die Iranerin Mahnaz Afkhami, wie sie sich im Exil in den USA einen Wintermantel kaufen will und wie ihr bei der Frage, was für einer das sein müsse, für was für ein Leben er passen müsse, plötzlich bewusst wird, dass sie ihre eigene Identität nicht mehr fassen kann, dass dieses Leben, für das der Mantel passen muss, zwar ihr Leben ist, aber gleichzeitig eines, das sie selbst noch nicht kennt. „Mein ‚Ich’ hatte keine klaren
Migration als Identitätskrise
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Umrisse mehr, es warf nicht länger einen deutlichen Schatten“ (Afkhami 1994, S. 17). Die Fremdheit und Identitätsdiffusion macht sich im Alltag bemerkbar; nicht nur im Handeln, sondern auch an Gegenständen: „Was ein Mantel ist, wann und warum man ihn trägt, hängt sehr stark vom jeweiligen kulturellen Umfeld ab und von der Rolle, die man darin verkörpert“ (Akashe-Böhme 2002, S. 55). Das Tragen eines Mantels wird nicht einfach von der Jahreszeit bestimmt. So tragen muslimische Frauen auch im Sommer einen Mantel. Dementsprechend stellt sich Afkhami nicht nur die Frage, in welchem Klima sie in Zukunft leben wird, sondern auch in welchem kulturellen Umfeld. Die Unsicherheit über die eigene Identität bzw. der Verlust der vertrauten Umgebung wird oft kompensiert, indem Erinnerungen heraufbeschworen werden. So schreibt Afkhami: Du arbeitest fieberhaft daran, die Erinnerung zu bewahren und die Vergangenheit möglichst detailgetreu wiedererstehen zu lassen. […] Ich suchte meistens die Gesellschaft anderer Exil-Iraner. Gemeinsam hörten wir persische Musik, tauschten Erinnerungen aus, riefen uns liebgewordene Geschichten und Anekdoten ins Gedächtnis zurück und gestatteten uns ein Schwelgen in maßloser Sentimentalität. Wir erinnerten uns an Geschmäcker, Gerüche und Geräusche (Afkhami 1994, S. 22f.).
In der Konfrontation mit der neuen Umgebung, mit der Kultur der anderen Gesellschaft und der Erinnerung an sowie der Identifikation mit der Herkunftskultur wird nach Hettlage-Varjas individuelle Multikulturalität geschaffen: „Vor allem die Identitätskrisen, so schmerzlich sie auch sein mögen, sind erzwungene Möglichkeiten, Identitätsarbeit zu leisten und auf die Suche nach einer, wenn auch nicht neuen, so doch veränderbaren Identität zu gehen“ (Hettlage-Varjas 2002, S. 171). Es werden Identitäten neu ausgehandelt, das Ich mit der Umwelt neu verknüpft. In der vorliegenden Arbeit soll dieser schöpferischen Identitätsbildung nachgegangen werden. Dafür ist es notwendig, sich zunächst mit den Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft zu beschäftigen, die diese schöpferische Identitätsbildung in der Regel nicht anerkennt, sondern mit verallgemeinernden Schemata überschreibt und so Migrantinnen Kollektividentitäten zuschreibt.
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Identitätsbildung von Migrantinnen
Eine genauere Betrachtung der Zuschreibungen ermöglicht ihre Dekonstruktion und den Blick auf individuelle Identitätsbildungen von Migrantinnen.
2 Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
2.1 Die unmoderne Frau unter dem Kopftuch Es gibt viele Gründe für das Leben im Exil, und Frauen, die im Exil leben, haben viele Identitäten: Sie kommen aus den unterschiedlichsten Ländern, sie sind jung oder alt, verheiratet oder unverheiratet, Christin, Jüdin oder Atheistin, Akademikerin oder Analphabetin, Mutter oder kinderlos; dennoch wird ihr Leben und ihre Lebensweise in öffentlichen, sozialpolitischen, aber auch in sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen verallgemeinert. Es scheint eine naive Feststellung, dass es die eine Migrantin nicht gibt. Dennoch werden Facetten im Leben von Migrantinnen kaum wahrgenommen und kommuniziert. Seit den siebziger Jahren wird die Migrantin, die bis dahin so gut wie gar nicht öffentlich wahrgenommen wurde, als Opfer ihrer Herkunftskultur betrachtet: Während die Männer im Teehaus sitzen, wird „den Frauen die Verbannung aus der öffentlichen Sphäre auf den Leib geschrieben, indem man sie in Wort und Bild ans Brotbackbrett und neben den Teekochtopf bzw. an die halb geöffnete Tür stellte, sie aber nicht eintreten ließ“ (Huth-Hildebrandt 2002, S. 91). Die Beschreibung der Geschlechterverhältnisse in den Migrationskulturen bzw. die Art der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit grenzt Migrantinnen nicht nur aus, sondern verdeckt soziale Ungleichheiten und stabilisiert Machtinteressen: Das verzerrte Idealbild vom freien, deutschen Mädchen, das seine Träume verwirklicht und seinen Traumberuf ergreift, funktioniert nur im Kontext der unterdrückten, Kopftuch bedeckten Migrantin (vgl. Munsch et al. 2007, S. 18).
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
Die sozialen Ungleichheiten, die verdeckt werden, offenbaren sich u.a., wenn die Schulabschlüsse von MigrantInnen mit denen von Nicht-MigrantInnen verglichen werden. Obwohl die meisten Schulabsolventinnen und -absolventen mit Migrationshintergrund inzwischen in Deutschland geboren sind und hier auch Kindertagesstätten und Vorschulen besucht haben, machen nur 40 Prozent von ihnen das Abitur oder beenden die Schule mit einem Realschulabschluss. Bei den SchülerInnen ohne Migrationshintergrund tun dies dagegen 70 Prozent. Jede/r vierte SchülerIn ohne Migrationshintergrund beendet die Schule mit der Hochschulreife. Bei migrantischen SchülerInnen ist es nur knapp jede/r Zehnte2. Diesen Zahlen entsprechend sind Migrantinnen nach wie vor überdurchschnittlich häufig Geringverdienerinnen: „Von den hier lebenden Ausländerinnen ist nur etwa jede fünfte sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmerin3.“ Nur 38 Prozent der Migranten und Migrantinnen haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, was zu einer überdurchschnittlich hohen Beschäftigung im Dienstleistungssektor führt, in dem nicht nur die Qualifikationsanforderungen gering sind, sondern auch besonders viele Minijobs angeboten werden4. Nicht nachgewiesen aber vermutet wird, dass Migrantinnen zudem überproportional häufig im informellen Sektor arbeiten: „Ihre sozialen Reproduktionsleistungen werden vor allem als Hausangestellte, Kinderfrauen, in der häuslichen Krankenund Altenpflege, aber auch im Unterhaltungssektor und in der Prostitution nachgefragt“ (Munsch et al. 2007, S. 19). Die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt wird mit Hilfe generalisierender Zuschreibungen begründet: zum einen mit fehlender Kompetenz, zum anderen mit einer angeblich unterentwickelten Position der Frauen innerhalb ihrer rigiden Herkunftskultur (vgl. Munsch et al. 2007, S. 20). Dem liberalen Westen entspringt dagegen die emanzipierte Frau - gleichwohl die Chefetagen in Deutschland überwiegend männlich dominiert sind, „wie auch die deutschen Universitäten trotz Quotierungsbemühungen den Vergleich mit Ländern wie z.B. 2
vgl. 7. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Dezember 2007, S. 57ff. 3 ebd. S. 97 4 ebd. S. 101
Die unmoderne Frau unter dem Kopftuch
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Türkei oder Indien bzgl. Frauenquote nicht standhalten können. So sind ca. 10% der Lehrstühle in Deutschland mit Frauen besetzt, während in der Türkei und Indien annährend 40% Frauen Professorinnen sind“ (Castro & do Mar 2007, S. 64). Die Rolle der unemanzipierten Migrantin wird u.a. am Kopftuch festgemacht. Weil das im Kopftuch sichtbare Fremde die eigenen Normen zu bedrohen scheint, wird es ausgegrenzt: „Es entwickelt sich eine polarisierte (Fremd- und Selbst-)Wahrnehmung, bei der die etablierten Einheimischen den zugewanderten AußenseiterInnen gegenüberstehen – mit den dazugehörigen stereotypen Geschlechterbildern“ (Munsch et al. 2007, S. 26). Herwartz-Emden & Westphal haben in einer Studie die Wahrnehmung kultureller Differenzen untersucht, um zu erfahren, wie in Deutschland lebende Migrantinnen von der Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden. Sie fanden heraus, dass einheimische Frauen Migrantinnen nicht nur weniger modern einschätzen als sich, sondern auch als diese sich selbst. „Westdeutsche Frauen sehen eine deutliche Differenz zwischen ihrem Selbstbild und ihren Fremdbildern von eingewanderten Frauen. Sie beschreiben als stärkste Differenz die zwischen sich bzw. ihrem eigenen Frauenbild und dem von Frauen aus der Türkei“ (Herwartz-Emden & Westphal 1999, S. 891). Eine empirische Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zeigt, dass in Deutschland die Fremdenfeindlichkeit, die sich auf bedrohlich empfundene kulturelle Differenz und materielle Konkurrenz um scheinbar knapper werdende Ressourcen bezieht, insgesamt steigt: „Auffällig für die Fremdenfeindlichkeit sind inzwischen jene 60 %, die der Auffassung sind, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben. Und der Forderung, dass Ausländer wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollen, wenn die Arbeitsplätze knapp werden, stimmen nach mehr als 27 % in 2002 jetzt in 2004 36 % zu“ (Heitmeyer 2005, S. 9). In politischen Debatten scheint die Migrantin seit einigen Jahren fast ausschließlich als Opfer der Zwangsehe von Interesse. In 2005 führte dieses Interesse immerhin dazu, dass ein Gesetz in Kraft trat, das sich explizit mit der Zwangsehe befasst und diese als strafbaren, besonders schweren Fall der Nö-
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
tigung einstuft. In Baden-Württemberg wurde zudem mit Hilfe des zunächst nur dort bekannt gewordenen Gesinnungstests geprüft, ob Einbürgerungswillige der Meinung sind, eine Zwangsheirat sei mit der Würde eines Menschen vereinbar (vgl. Westphal & Katenbring 2007, S. 146). Auch die Medien halten an der Opferrolle der Migrantin fest und sind dabei erstaunlich persistent: So kursiert in der gesamten Medienlandschaft seit Jahren die Falschmeldung, dass in Deutschland jedes Jahr 30.000 Frauen zwangsverheiratet werden. Angeblich hat Terre des Femmes diese Zahl erstmals vor sieben Jahren veröffentlicht; Terre des Femmes selbst bestreitet dies: „Wie viele Fälle es hierzulande tatsächlich gibt, ist ungeklärt. Im Jahr 2002 wurde fälschlicherweise in der Presse behauptet, nach Aussagen von Terre des Femmes, würden jedes Jahr 30.000 Mädchen und Frauen in Deutschland zwangsverheiratet. Dabei handelt es sich um eine Falschmeldung. Bisher gibt es keine repräsentativen Studien zu der Anzahl von Betroffenen in Deutschland5.“ Die Zahl kursiert weiter, obwohl es nach Westphal & Katenbring pro Jahr überhaupt nur 30.000 Eheschließungen unter den insgesamt in Deutschland lebenden türkischen Migrantinnen gibt (vgl. 2007). Zwangsehen kämen zudem in allen Kulturkreisen und Ländern vor. In der öffentlichen Debatte würden sie jedoch fast ausschließlich mit der islamischen Kultur in Verbindung gebracht. Ungeachtet dessen, dass die Ehe auch nach islamischem Recht ein Vertrag ist, der von beiden Partnern anerkannt werden muss (vgl. Westphal & Katenbring 2007, S. 148), wird die arrangierte Ehe überwiegend als Zwangsehe betrachtet. So wird sie – wie auch das Kopftuch – zum Symbol für die Unterdrückung der Frau durch ihre Herkunftskultur. Die starke Thematisierung der muslimischen Kultur bzw. der Versuch die christliche Kultur von ihr abzugrenzen, prägt auch die Wahrnehmung von Migrantinnen und Migranten anderer Kulturen (vgl. Munsch et al. 2007). Hinzukommen Bilder, die stellvertretend für andere Ethnizitäten sind, aber genauso unmissverständlich eine Rückständigkeit in den Geschlechterverhältnissen zum 5 http://www.frauenrechte.de/tdf/index.php?option=com_content&task=view&id=164&Itemid=126, (25.09.2008)
Die unmoderne Frau unter dem Kopftuch
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Ausdruck bringen wie die Stereotypisierungen, mit denen Frauen beschrieben werden, die aus muslimischen Kulturkreisen kommen: „der/die übersexualisierte Schwarze, der südamerikanische Macho, die ausländische Prostituierte, die Putzfrau aus dem Osten usw“ (Munsch et al. 2007, S. 10). Mit diesen Bildern lässt sich die Forderung nach Assimilation legitimieren: Es wird eine offensichtlich fehlende Anpassung von Migrantinnen herausgestellt und gleichzeitig eingefordert und dabei ignoriert, dass Frauen, die in der Migration leben, sich entsprechend ihrer neuen Lebenswelt und den mit dieser verbundenen Anforderungen wandeln und sich dabei „vielfältige Identitäten und Lebensentwürfe mit unterschiedlichen und durchaus in sich widersprüchlichen und paradoxen Bedeutungen“ (Munsch et al. 2007, S. 26) entwickeln. Ergebnisse aus der Migrationsforschung deuten diesen Wandel an, wenn auch nur an seiner Oberfläche. Bereits 1997 wurden für das Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts die intergenerativen Beziehungen und ihr Wandel in Migrantenfamilien untersucht (vgl. Weidacher 2000). Das Ergebnis: Junge MigrantInnen nehmen am sozialen Leben in Deutschland teil. Mehr als 70 Prozent von ihnen schätzen ihre Deutschkenntnisse als gut bis sehr gut ein. Die Studie zeigt, dass Eltern nach wie vor mit ihren Kindern überwiegend in ihrer Herkunftssprache sprechen. Unter Geschwistern spricht inzwischen jedoch mehr als die Hälfte hauptsächlich Deutsch (vgl. Nauck 2002, S. 331). Gewandelt hat sich auch die Familienplanung. Der allgemeine Geburtenrückgang in Deutschland findet auch in Migrantenfamilien statt. „Insgesamt ist damit festzustellen, dass unter Migrationsbedingungen die Geburt von 4 und mehr Kindern bei türkischen Frauen schon sehr selten ist; ebenso selten ist die Geburt von weniger als 2 Kindern, so dass die ‚typische’ in der Aufnahmegesellschaft entstandene Migrantenfamilie zwei oder drei Kinder hat“ (Nauck 2002, S. 328). Auch bei den Bildungsabschlüssen hat sich im Laufe der Generationen etwas getan. Zwar bleibt die Benachteiligung im Vergleich zu deutschen SchülerInnen weiter prägnant, doch der Vergleich über drei Generationen hinweg zeigt, „dass Jugendliche der zweiten Zuwanderungsgeneration bei den Italienern zu über einem Drittel und bei den Türken zu über zwei Drittel Großmütter ohne
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
Schulabschluss haben (und 23% bzw. 47% haben Großväter ohne Schulabschluss). In der Elterngeneration sind diese Anteile bei den Müttern bereits auf 17% bei den Italienerinnen und auf 34% bei den Türkinnen zurückgegangen, bei den Vätern betragen die entsprechenden Anteile 12% bzw. 8%“ (Nauck 2002, S. 333). Trotz dieser Ergebnisse wird in der Öffentlichkeit am Bild der nicht integrierten bzw. sich nicht integrieren wollenden MigrantInnen festgehalten, wie die häufig sehr vereinfachte Deutung einzelner Forschungsergebnisse zeigt: Neben der sinkenden Geburtenrate in Migrantenfamilien und der im Vergleich mit der ersten und zweiten Generation verbesserten Schulausbildung der dritten Generation wurde festgestellt, dass immer weniger binationale Ehen geschlossen werden. Dieses Ergebnis führte u.a. zu der Behauptung, dass MigrantInnen sich vermehrt von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wollen (vgl. Nauck 2002). Missachtet wurde dabei jedoch, dass der Männerüberschuss unter den MigrantInnen 1961 bestand der ausländische Anteil der Bevölkerung zu sechzig Prozent aus Männern zwischen zwanzig und vierzig Jahren – mit dem Zuzug von immer mehr Frauen und Kindern kontinuierlich gesunken ist (vgl. Nauck 2002, S. 318). Entsprechend ist auch das Bedürfnis gesunken, Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft zu heiraten. Ebenso verringert die Konzentration von MigrantInnen in bestimmten Wohngebieten bzw. Stadtteilen, Tätigkeitsfeldern und Arbeitsverhältnissen binationale Eheschließungen (vgl. Nauck 2002, S. 320). Auch in Migrantenfamilien beobachtbare Rollenfixierungen in den Geschlechterbeziehungen sowie starke intergenerative Beziehungen sind nach Nauck nicht einfach als Segregationstendenz bzw. stures Festhalten an der Herkunftskultur zu begreifen. Vielmehr passen sich die Migrantenfamilien an ihre Migrationssituation in der deutschen Gesellschaft an: So lässt sich die starke Orientierung an familiären Netzwerken damit erklären, dass MigrantInnen die unzureichende sozialstaatliche Unterstützung und Förderung kompensieren müssen, die u.a. offensichtlich wird, wenn die Bildungsabschlüsse von MigrantInnen mit denen von Nicht-MigrantInnen verglichen werden (vgl. Nauck 2002, S. 335). Doch weder die Anpassungsleistungen an die Migrationssituation, noch der an-
Das Bild der Migrantin in den Medien
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gedeutete Wandel in den Migrantenfamilien haben weit verbreiteten Einfluss auf die öffentliche Kommunikation, wie die folgende, genauere Betrachtung von Medienberichten über Migrantinnen zeigt.
2.2 Das Bild der Migrantin in den Medien 2.2.1
Beispiele aus den Medien
Systematische Inhaltsanalysen zeigen, dass die Medien in den achtziger Jahren hauptsächlich von einem „Türkenproblem“ ausgingen, das bald in ein „Asylantenproblem“ umbenannt wurde (vgl. Zentrum für Türkeistudien 1995). Von Anfang an problematisch an den Türken und später den Asylanten waren laut Medienberichten die angeblich durch sie verursachten und zunehmenden Straftaten in Deutschland (vgl. Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 47). AsylbewerberInnen und andere MigrantInnen tauchen in den Medien aber auch als Bedrohung deutschen Kultur und deutscher Arbeitsplätze auf; „ja selbst als Bedrohung des Christentums“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 47). Inzwischen scheint aus dem „Asylantenproblem“ ein „Islamproblem“ geworden zu sein, das die demokratischen Grundpfeiler der deutschen Gesellschaft erschüttert. Davon zeugt laut Medienberichten ganz besonders das Leben der Migrantin: Wer die aktuellen Medienberichte verfolgt, kommt schnell zu dem Schluss, dass die Töchter der migrantischen Nachfolgegenerationen chancenlos im Kampf gegen die dominanten Bilder, die sie als unterdrückte Objekte der eigenen Community repräsentieren, dastehen. Wenngleich es immer mehr so genannte erfolgreiche Frauen mit Migrationshintergrund gibt, so werden sie doch höchstens als die Ausnahme wahrgenommen (Castro & do Mar 2007, S. 64).
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
Auch die persistente Annahme, dass die Kriminalitätsrate in Deutschland weiter steigt6, wird inzwischen an den patriarchalischen, Frauen unterdrückenden Strukturen in Migrantenfamilien festgemacht: Es bleibt dabei, dass männliche türkische Jugendliche mehr als doppelt so oft Mehrfachtäter von Gewalt sind wie Deutsche. Wir deuten das so: Ein beachtlicher Teil von ihnen ist stark durch ein traditionelles Männlichkeitskonzept geprägt, das sie in ihrer familiären und kulturellen Sozialisation erlernen und das ihre Gewaltbereitschaft deutlich erhöht. Die Forschungsergebnisse sehen wir damit als Ausdruck eines Kulturkonfliktes, der sich insbesondere für solche türkischen Familien ergibt, die sich nach der Einwanderung in Deutschland stark an diesen traditionellen Rollen für Männer und Frauen orientieren. Dort wird die Vorherrschaft des Vaters, der den Gehorsam der Familienmitglieder notfalls mit Gewalt einfordern darf, zum Ausgangspunkt dafür, dass die Söhne in ihrer neuen Heimat in massive Gewaltkonflikte geraten (Pfeiffer & Wetzels 2000, S. 14).
Die Kopftuchdebatte, die Ende der neunziger Jahre am Fall Ludin ausgetragen wurde7, prangerte nicht nur patriarchalische Strukturen und unterentwickelte Geschlechterverhältnisse an, sondern warnte darüber hinaus vor einer sich ausbreitenden, muslimischen Parallelgesellschaft, in der Frauen jegliche Rechte abgesprochen werden. So veröffentlichte die Zeitschrift Emma 1998 unter dem Titel „Die Kopftuchlüge“ folgende Sätze: 6
Tatsächlich gibt es weniger Straftaten: „Im Jahr 2008 wurden in Deutschland 6.114.128 Straftaten polizeilich registriert. Gegenüber dem Vorjahr ist damit ein Rückgang um 2,7 Prozent zu verzeichnen. […] Die Anzahl der Tatverdächtigen ist im Jahr 2008 um 1,7 Prozent auf 2.255.693 gesunken“ (http://www.bka.de/pks/pks2008/download/pks2008_imk_kurzbericht.pdf, 17.06.2009). Die Zahl der Straftaten ist seit 1993 – als die neuen Bundesländer in die Polizeiliche Kriminalstatistik aufgenommen wurden - immer weiter gesunken (vgl. http://www.bka.de/pks/zeitreihen/pdf/t01.pdf, 17.06.2009). 7 „Mit großem Interesse verfolgte die Öffentlichkeit den Fall von Fereshta Ludin, die in Afghanistan geboren wurde und seit 1995 in Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft ist. Frau Ludin wurde die Einstellung als Lehrerin im baden-württembergischen Schuldienst verwehrt, weil sie darauf bestand, mit Kopftuch zu unterrichten. […] Die Lehrerin erhob Klage beim Verwaltungsgericht, das sich der Entscheidung des Ministeriums anschloss und betonte, die staatliche Neutralitätspflicht habe Vorrang vor der Religionsfreiheit. Im September 2003 urteilte das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Klägerin“ (http://www.bpb.de/themen/373SRR,3,0,T%FCrkische_Minderheit_in_Deutschland.html, 04.11.2008). In der Begründung hieß es, ein Kopftuch habe keinen eindeutigen Symbolgehalt.
Das Bild der Migrantin in den Medien
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Lassen wir also Mina Ahadi reden, eine Iranerin im Exil in Köln: ‚Ich komme aus einem Land, in dem die Staatsgewalt mit Bajonetten und Peitschen Millionen von Frauen die Zwangsverschleierung aufgezwungen hat. Wenn Frau Ludin erlaubt wird, im Kopftuch zu unterrichten, würde sich das unmittelbar auf das Leben Tausender Frauen und Mädchen auswirken.’8
Der zurzeit intensiv geführte Diskurs über Ehrenmorde, Zwangsverheiratung und arrangierte Ehen ist nicht neu und wird seit vielen Jahren wiederholt von diversen Medien aufgegriffen. Filmregisseure bearbeiteten die Themen bereits in den achtziger Jahren – Tevfik Baser mit „40 qm Deutschland“ oder Hark Bohm mit „Yasemin“. Aktuell erscheinen sie jedoch - neben der Debatte um den Bau von Moscheen in deutschen Städten9 - als die prominentesten Migrationsthemen in den Medien: Im Februar 2005 hat der so genannte „Ehrenmord“ an der jungen Berliner Kurdin Sürücü, die sich gegen ihre Zwangsverheiratung wehrte, eine intensive Berichterstattung ausgelöst (vgl. Westphal & Katenbrink 2007, S. 137). Erschienen sind in diesem Zusammenhang u.a. im Mai 2005 „Die Braut als Schnäppchen“ (in: Die Zeit 05/2005), sowie im April 2005 „Deutschland gegen Zwangsehen“ von Chantal Louis (in: Emma 04/2005). Jörg Lau schrieb im September 2005 für Die Zeit „Wie eine Deutsche“ und einen Monat später „Kulturbedingte Ehrenmorde“. Der Fall Sürücü aus Berlin wirkt bis heute nach: Im Mai des vergangenen Jahres wurde in Hamburg ein 16-jähriges Mädchen aus Afghanistan erstochen. Ohne weitere Details zu kennen, deutete die Stuttgarter Zeitung bereits zwei Tage nach dem Verbrechen an, dass auch dieses Mädchen Opfer eines Ehrenmordes geworden sein muss. „Der Fall erinnert an ein aufsehenerregendes Verbrechen in Berlin. Am 7. Februar 2005 wurde die Deutschkurdin Hatun Sürücü von einem ihrer Brüder auf offener Straße erschos-
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„Die Kopftuchlüge: Kann das Kopftuch einer Afghanin im Jahre 1998 Privatsache sein?“, in: Emma 5/1998. 9 vgl. Toepfer, Stefan. „Heftige Debatte um Moschee-Bau“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.08.2007, über den Protest gegen den Bau einer Moschee im Frankfurter Stadtteil Hausen. Oder: „Muslime in Deutschland: Deutschlands größte Moschee ein Zeichen für Anerkennung“ in: ZEIT online, 25.10.2008.
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sen, weil die Familie den westlichen Lebensstil der jungen Frau nicht akzeptierte10.“
2.2.2
Einfluss der Medien auf Alltagswissen über Migrantinnen
Kulturkritische Thesen, in denen angenommen wird, dass Medienbotschaften einen direkten Einfluss auf die Meinungen und Einstellungen von RezipientInnen haben, womit negative Medienberichte über MigrantInnen unmittelbar Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft fördern oder auch auslösen würden, verkennen die „funktionsspezifische Operationsweise des Mediensystems“ (vgl. Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 156). Ebenso unwahrscheinlich ist jedoch, dass Medienberichte keinen Einfluss darauf haben, welche Bilder MigrantInnen zugeschrieben werden. Diese ambivalente Feststellung, die den Einfluss der Medien aufgreift, ohne vereinfachten Medienwirkungstheorien zu folgen, lässt sich mit Baacke näher erläutern. Der Grund warum eine unmittelbare, verallgemeinerbare Wirkung der Medien auf RezipientInnen auszuschließen ist, liegt nach Baacke zunächst einmal darin, dass RezipientInnen Subjekte mit ganz unterschiedlichen Handlungs- und Entscheidungskompetenzen sind. Medien bieten Identifikations- und Imitationsmodelle an, doch andere Instanzen wie die Familie, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen tun dies auch. Entsprechend heterogen sind LeserInnen und ZuschauerInnen: „Das Publikum ist groß, aber keineswegs homogen, und seine Verstehens- wie Verständnisbereitschaft ist äußerst unterschiedlich“ (Baacke 2007, S. 16). Es müssen also individuelle Selektionsmechanismen und Konstruktionen auf Seiten der RezipientInnen berücksichtigt werden. Baacke schließt damit aber nicht aus, dass Medien und die Wirklichkeit, die sie konstruieren, Wahrnehmungen beeinflussen. Er nimmt sogar an, dass der Einzelne sich angesichts der individualisierten Lebensverhältnisse zunehmend an den Medien orientiert (vgl. Baacke 2007, S. 19). 10
„16-Jährige in Hamburg erstochen“, in: Stuttgarter Zeitung, 17.05.08.
Das Bild der Migrantin in den Medien
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Über die Medien lässt sich die funktionale Differenzierung und die mit ihr einhergehende Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft scheinbar ein stückweit auffangen. „Der Verlust an Stabilität verstärkt den Wunsch, die Umwelt kontrollieren zu können. Was kann da mehr Sicherheit geben als eine Nachrichtensendung, die den Hörer oder Zuschauer nach ein paar Minuten mit der Gewissheit entlässt, nun Bescheid zu wissen?“ (Meyen 2001, S. 101). Bonfadelli hat die Medien auch als Frühwarnsystem bezeichnet, denn MedienrezipientInnen gehen davon aus, dass die Medien sie über alle Ereignisse informieren, die für sie von Belang sind (vgl. Bonfadelli 1994, S. 27f.). Und da Medien einfach zu konsumieren sind - sie kosten nicht viel, man muss sich nicht auf sie vorbereiten, nicht auf sie reagieren und geht keine Verpflichtungen ein (vgl. Meyen 2001, S. 100) -, ist anzunehmen, dass über die Medien vermittelte Positionen und Werte viele Menschen gleichzeitig erreichen. Zu den Botschaften, die eine gesellschaftliche Einbindung fördern, gehören u.a. ethnische Differenzierungen bzw. Abgrenzungen vom Fremden. Sie werden besonders in gesellschaftlichen Konfliktsituationen und Krisen betont, die die Identifikation mit der Gesellschaft bedrohen. „Die verlorene Inklusion wird wieder hergestellt (zum Beispiel ‚wir Deutschen’), indem eine bestimmte Gruppe exkludiert wird (zum Beispiel Ausländer, Asylbewerber)“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 41). Dabei gilt als fremd, "was ‚anders’ ist, oder das, was unbekannt und unvertraut ist“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 25). Die Abgrenzung vom Fremden gelingt über die Stereotypisierung des Fremden, wobei dieser Stereotypisierung oft Schemata zu Grunde liegen, die zunächst einmal notwendige Orientierungshilfen sind: „Schemata erlauben eine rasche Einordnung von Eindrücken, eine Bildung von Gestalten aus einer Menge von scheinbar zusammenhanglosen Details“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 35). Stark verfestigte Schemata sind jedoch Stereotypen, die dafür sogen, dass neue, ihnen widersprechende Informationen, nicht mehr wahrgenommen werden: „Ein Stereotyp ist eine Generalisierung über eine Gruppe von Menschen, bei der man praktisch allen Mitgliedern der Gruppe identische Eigenschaften zuschreibt, oh-
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft
ne Beachtung gegebener Variationen unter den Mitgliedern“ (Hervorheb. i. Orig. Aronson 2004, S. 485f.). Medien manifestieren Schemata, indem sie diese ständig und weit verbreitet wiederholen, wodurch die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft immer wieder aufgefordert werden, sich an ihnen zu orientieren. Auch andere Instanzen bieten Orientierungshilfen an. Doch die durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zunehmende Instabilität sozialer Beziehungen und Netzwerke, drängt die von den Medien angebotenen Orientierungshilfen in den Vordergrund: „Die Konstruktion von Identität in modernen Gesellschaften ist u.E. zu einem großen Teil davon abhängig, wie die Medien die Gesellschaft in all ihren Teilbereichen beobachten und beschreiben, und damit dem einzelnen die Möglichkeit geben, sich in diesem Konstrukt wiederzufinden und diese Gesellschaft als die ‚eigene’ zu begreifen“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 24). Auch wenn die Medien potenziell einen starken Einfluss auf das Wissen über MigrantInnen haben, lässt sich nicht messen, wie sehr sie die subjektive und kontextabhängige Einstellung des Einzelnen tatsächlich prägen. Fest steht, dass aus den Medien übernommene Schemata oder Stereotypen revidiert werden können, wenn es zu persönlichen Kontakten mit MigrantInnen kommt; „in je mehr Bereichen und je öfter Befragte Kontakt zu Ausländern haben, umso weniger fremdenfeindlich äußern sie sich“ (Zentrum für Türkeistudien 1995, S. 158). Huth-Hildebrandt geht jedoch davon aus, dass persönliche Kontakte bzw. Einblicke in die Migrantenfamilie viel zu selten vorkommen. Sie kritisiert, dass nicht nur die alltäglichen Auseinandersetzungen über das Migrationsschema wesentlich von den Medien gesteuert werden, sondern auch die wissenschaftlichen: Da diese [gemeint sind hier die Geschlechterbeziehungen] überwiegend in einem Bereich gelebt werden, der sich dem öffentlichen Blick gemeinhin entzieht, und die Privatsphäre der Migrantinnen und Migranten auch der fremden Wissenschaftlerin nicht so ohne weiteres zugänglich ist, kann das stereotype Bild von der Migrantin als Synonym für das signifikant Andere des eingewanderten Bevölkerungsteils vielfältig genutzt werden, um Phantasien zu mobilisieren und um spekulativem Denken einen Raum zu geben (Huth-Hildebrandt 2002, S. 109).
Das Bild der Migrantin in der Migrationsforschung
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2.3 Das Bild der Migrantin in der Migrationsforschung Auch die Migrationsforschung ist an der Konstruktion sozialer Wirklichkeit beteiligt und bietet Schemata an, die eine Abgrenzung vom Fremden ermöglichen. Wie in den Medien werden immer wieder die Geschlechterverhältnisse in Migrantenfamilien beschrieben, ohne dass differenzierte Erkenntnisse bzw. genaue Analysen dazu vorliegen: Es existiert die paradoxe Situation, dass man die Verschiedenheit von Migrantinnen und Migranten im Verhältnis zu Angehörigen der Aufnahmegesellschaft immer wieder beispielhaft am Geschlechterverhältnis festgemacht, auf eine Erforschung desselben jedoch bislang weitgehend verzichtet hat und in den Beschreibungen ohne Bezug zu einem wissenschaftlichen Hintergrund überwiegend mit subjektiven Setzungen operiert(e) (Huth-Hildebrandt 2002, S. 97).
Als zentrale Themen werden auch in der Wissenschaft die Ehre und Schande, die Jungfräulichkeit vor der Ehe oder die Zwangsverheiratung begriffen. So werden Stereotypen bezüglich des Lebens von Migrantinnen aufrechterhalten, die nicht haltbar sind, weil sie die facettenreiche, weibliche Identitätsbildung in der Migration und dazugehörige Brüche und Widersprüche nicht erfassen (vgl. HuthHildebrandt 2002, S. 107f.). Wie in den Medien, so wurde auch in der Migrationsforschung die Migrantin lange ausschließlich als Opfer betrachtet; hilflos zwischen verschiedenen Kulturen gefangen und nicht in der Lage, sich an ihre neue Lebenssituation in der Mehrheitsgesellschaft anzupassen (vgl. Rohr 2002, S. 29f.). Rohr kritisiert diese vereinfachte Zuschreibung. Keinesfalls will sie behaupten, dass eine Migrantin völlig autonom agieren könne bzw. ein völlig selbstbestimmtes Subjekt sei. Insbesondere traumatisierte Flüchtlinge sind extrem häufig depressiv, apathisch, suizidgefährdet, mit Schuldgefühlen belastet und leiden unter Verfolgungswahn. Studien belegen, dass insbesondere Frauen oft einen Statusverlust in der Migration erleiden und sehr häufig von Arbeitslosigkeit und ihren Folgen betroffen sind:
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Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft Dieser Statusverlust wird von Männern wie von Frauen als eine immense Kränkung erlebt, und zwar als eine Kränkung, über die auch die Familie und der familiale Zusammenhalt nicht zu trösten vermag, da der soziale Abstieg Gefühle der Scham und Demütigung auslöst und eine soziale Kompensation nicht in Aussicht steht. Als kränkend wird auch die soziale Isolation und die Einsamkeit erlebt, die das Leben als Flüchtling und oft genug ebenfalls als Migrant kennzeichnet, denn all das, was bislang Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung vermittelte, fehlt nun, und das verloren gegangene soziale und familiale Netzwerk lässt sich in der Fremde kaum ersetzen (Rohr 2002, S. 22f.).
Dennoch greifen nach Rohr reine Opferdarstellungen zu kurz. Denn sie unterschlagen, dass in der Migration jenseits der ethnisch-kulturellen Orientierungen und der Integration in die Aufnahmegesellschaft auch Neues entstehen kann, da kulturelle Differenzen, Konflikte und Widersprüche die Chance bieten, neue Identitäten auszubilden (vgl. Rohr 2002, S. 30).
2.4 Die Migrantin in Beratungs- und Bildungsprojekten Sowohl Medienbilder als auch Erkenntnisse und Analysen aus der Migrationsforschung bieten Wirklichkeitskonstruktionen und Schemata an, auf die die Pädagogik zurückgreift, wie die Ausgestaltung von Beratungs- und Bildungsprojekten für Migrantinnen zeigt: Zu Beginn der achtziger Jahre entstanden in vielen Städten Beratungs- und Bildungsprojekte mit dem Ziel, zur Emanzipation von Migrantinnen beitragen zu wollen. […] Aus einem Gefangensein in hierarchischen Geschlechterbeziehungen wurde für die Migrantinnen eine besondere Situation der Ohnmacht konstruiert, aus der es ohne fremde Hilfe – nämlich der von (weiblichen) Angehörigen des Aufnahmelandes, den Sozialpädagoginnen – anscheinend kein Entkommen geben konnte (Hervorheb. i. Orig. Huth-Hildebrandt 2002, S. 95).
Die Migrantin in Beratungs- und Bildungsprojekten
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Mit Beginn der sechziger Jahre setzte die Ausländerpädagogik im Wesentlichen auf Hilfen wie Sprachkurse und Förderunterricht, um sprachliche, soziale und ökonomische Nachteile aufzufangen. Nachgezeichnet wurde vornehmlich das Bild von orientierungslosen, handlungsunfähigen MigrantInnen, die ausschließlich Opfer ihrer Migration sind (vgl. Munsch et al. 2007, S. 38). Die aus der Ausländerpädagogik hervorgegangene Interkulturelle Pädagogik kritisiert heute diese Darstellung und fordert Lern- und Veränderungsprozesse sowohl von den Mitgliedern der aufnehmenden Gesellschaft als auch von den MigrantInnen (vgl. Eggert-Schmid Noerr 2000, S. 195). „Doch werden in der Interkulturellen Pädagogik die individuellen Lebensentwürfe sowie Integrationsleistungen der MigrantInnen nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt“ (Eggert-Schmid 2000, S. 202). Die Interkulturelle Pädagogik hat wohl erkannt, dass die Vorstellung, alle Zugewanderten gehörten einem ethnisch homogenen Kollektiv an, angesichts der kulturellen Vielfalt in Deutschland untragbar ist. Doch „als Fiktion ist dieses Bild nach wie vor ein Teil der gesellschaftlichen Realität. Dem entsprechend findet die multikulturelle Realität in der Öffentlichkeit und in den politischen Institutionen nur widerwillig Akzeptanz“ (Eggert-Schmid 2000, S. 202). Auch in pädagogischen Einrichtungen wird weiterhin dazu aufgefordert, sich anzupassen; nicht selten, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein: „Die sozialpädagogischen Bemühungen, jugendliche Migranten und Flüchtlinge vor Marginalisierung und Anomie zu bewahren, trägt aufgrund der impliziten Normalitätsvorstellungen mitunter gerade zur Stilisierung von Problemgruppen bei“ (King & Schwab 2000, S. 210). Auch Schiffauer hat beobachtet, dass aktuelle, pädagogische Arbeit als stigmatisierende Zuschreibung und Ethnisierung erlebt werden kann. Nach wie vor werden Kollektividentitäten gebildet, die eher ausgrenzen als Toleranz fördern (vgl. Schiffauer 2003, S. 151), wie die kurze Zusammenfassung einer Analyse von Schiffauer veranschaulicht: Ein türkisches Mädchen namens Güler besuchte bis 1996 eine Gesamtschule in Berlin. Danach verließ sie Deutschland und ging mit ihrem Cousin in die Türkei. Die beiden heirateten und kehrten zusammen
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nach Berlin zurück. Doch die Ehe missglückte. Güler lebte vorübergehend bei ihren Eltern und ging dann wieder zu ihrem Ehemann zurück. Sie wurde schwanger, entschied sich jedoch gegen das Kind und zog in die Wohnung ihrer Eltern, dann zu ihrem Ehemann und schließlich wieder zu ihren Eltern. Güler war nicht dabei, als ihre Geschichte im Unterricht diskutiert werden sollte. Sie hatte die Schule längst verlassen. Auslöser der Diskussion war ein Artikel, der in der Zeitschrift Emma erschienen war und von einer zwangsverheirateten, pakistanischen Frau berichtete, die ihren Mann verlassen hatte und daraufhin von einem Familienangehörigen getötet worden war. Die Lehrer der Berliner Gesamtschule verglichen die Geschichte der pakistanischen Frau mit der Geschichte von Güler, obwohl Güler weder zwangsverheiratet, noch von einem so genannten Ehrenmord bedroht war: „Es ist also zunächst faszinierend, dass die Lehrer eine Erklärung für Gülers Verhalten im Bereich der Kultur suchen und nicht (wie sie es wahrscheinlich bei einem deutschen Jugendlichen getan hätten) im Bereich der Gesellschaft oder der Psychologie“ (Schiffauer 2003, S. 153). Güler wird dem Kollektivsubjekt Muslime zugeordnet, genauso wie die Frau aus Pakistan. Es wird davon ausgegangen - wenn auch nicht unbedingt bewusst, denn in Fachkreisen gilt eine solche Unterstellung als überholt -, dass sich Güler und die pakistanische Frau durch eine gemeinsame Mentalität auszeichnen, die zu Problemen führt (vgl. Schiffauer 2003, S. 153). Ein Familienproblem wird mit Mentalität erklärt; wie auch die zu Beginn dieses Kapitels aufgeführten sozialen Ungleichheiten, die sich in geringer qualifizierten Schulabschlüssen, fehlenden Berufsausbildungen und der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt ausdrücken: „Kultur beziehungsweise Mentalität wird primär als Fortschritthemmnis eingeführt. Entsprechend wird die Überwindung von Kultur positiv gewertet“ (Schiffauer 2003, S. 154). Mit der Notwendigkeit kulturelle Nachteile auffangen zu müssen, werden schließlich auch Inhalte von Kursen begründet, die von PädagogInnen explizit für Migrantinnen angeboten werden. Darauf soll hier kurz eingegangen werden, da die Frauen, die für diese Arbeit ihren persönlich bedeutsamen Ort fotografiert
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haben, zu einem Großteil Sprachkurse in einem Verein besucht haben, der auch Alphabetisierungskurse und eine „Begleitung auf dem Weg zum deutschen Pass“ anbietet. Folgendes ist in der Vereinsbroschüre nachzulesen: Anders als in vielen Kulturen ist es in unserer Gesellschaft nicht üblich, dass sich die Frau auf die Rolle als Hausfrau und Mutter zurück zieht [sic!]. Auf Grund der traditionell isolierten Aufgaben im Haus, des häufig schlechten Bildungshintergrundes und der mangelhaften Deutschkenntnisse vieler Migrantinnen fehlen diesen häufig die Kontakte zu Deutschen. Entsprechend fallen ihre Entscheidungen und Handlungen im Bildungs- und Integrationsprozess aus. Sie erhalten nicht die notwendigen Informationen aus der Nachbarschaft, der Schule usw., sie reflektieren ihre Erziehungsziele und Maßnahmen nicht und geraten in Gefahr, mehr in ihrer eigenen Welt als in der hiesigen Gesellschaft zu leben.
Demnach ist das Leben in der Migration – insbesondere das von Frauen – nur zu bewältigen, wenn die einschränkende Herkunftskultur überwunden wird. Die daraus ableitbare Forderung nach Assimilation, überlagert nach Schiffauer die kreativen Chancen, die in der Transkulturalität liegen: „Anders als Kulturalismus ist Transkulturalität nicht nach hinten, sondern nach vorne gerichtet. Transkulturalität bricht auch mit einer Idee der kulturellen Reinheit zugunsten einer Idee der kreativen kulturellen Mischung“ (Schiffauer 2003, S. 160). Kulturelle Traditionen lassen sich dann weiterentwickeln, wenn „die Wahrnehmung individueller Subjekthaftigkeit“ (Munsch et al. 2007, S. 17) gefördert wird und nicht die soziale und kulturelle Differenz betont bzw. das Anderssein festgeschrieben wird.
3 Identitätsbildung sichtbar machen
3.1 Die Fotografie als Ausdrucksmittel Eine Suche nach Spuren individueller und schöpferischer Identitätsbildungen geht davon aus, dass sich Identitäten nicht allein aus gesellschaftlichen Zuschreibungen und Sinnvorgaben bilden. Sie mögen durch sie bedingt sein, aber es gibt einen „individuellen Erfahrungsverarbeitungsraum“ (vgl. Marotzki 1995, S. 60f.), in dem individueller Sinn und individuelle Bedeutungen entstehen. Entsprechend liegt dieser Arbeit ein Subjektbegriff zugrunde, der davon ausgeht, dass Subjekte gesellschaftliche Zusammenhänge individuell deuten, also Wirklichkeiten konstruieren, auf die sich ihre jeweiligen Identitätsbildungen beziehen. Vermutet wird, dass individuelle Konstruktionen von Wirklichkeit bzw. Selbstdarstellungen von Migrantinnen stereotypisierende Bilder und Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft in Frage stellen. Interviews oder andere Texte erscheinen im Zusammenhang mit dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit als Quelle ungeeignet: Nicht etwa weil den Frauen unterstellt werden soll, sie hätten sprachliche Defizite, sondern weil die Konstruktion von Wirklichkeit und entsprechende Identitätsbildungen nicht immer bewusst nachvollziehbar sind (vgl. Marotzki 1995). Angenommen wird aber, dass sich den Identitätsbildungen in fotografischen Abbildungen der persönlichen Umwelt auf die Spur kommen lässt, da der Mensch seine Identität sowohl bewusst als auch unbewusst in der Gestaltung seiner persönlichen Umwelt und mit Hilfe von Identitätssymbolen ausdrückt (vgl. Habermas 1999, S. 243f.). Dass sich Bilder als Erkenntnisquellen für erziehungswissenschaftliche Fragen eignen, lässt sich bei Mollenhauer nachlesen, der feststellt, dass Menschen
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ihre Weltsicht nicht nur in Texten sondern auch immer in Bildern ausdrücken. Darüber hinaus können in Bildern andere Sinne als in Texten zum Ausdruck kommen (vgl. Mollenhauer 2003, S. 247). Nach Pilarczyk & Mietzner sind Fotografien zum Beispiel ideologische Vorannahmen und pädagogische Vorstellungen immanent, „die im Sinne BOURDIEUs zum geistigen Habitus der Zeit gehören“ (Hervorheb. i. Orig., Pilarczyk & Mietzner 2003, S. 19). Somit lassen sich mit Fotografien individuelle Wirklichkeitskonstruktionen in ihrer Abhängigkeit von Einstellungen und Deutungsmustern erfassen. Die individuelle Wirklichkeitskonstruktion wird u.a. in der Bildgestaltung deutlich. „Bilder vereinen in der Bildästhetik Form und Inhalt, dadurch erreichen sie Vieldeutigkeit und Mehrperspektivität, womit sie sich der Abbildtheorie widersetzen und gerade deshalb Ausgangspunkte bieten, um das vielfältige wechselseitige Eingebundensein von Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur zu repräsentieren“ (Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 120). Technisch lassen sich Fotografien durch Einstellung der Brennweite, der Wahl eines Bildausschnittes oder einer Perspektive gestalten. Zudem lässt sich „von einer subjektiven Konstitution der Wirklichkeit sprechen, wenn etwa ein Hochzeitsbild, in der Art wie es arrangiert ist, bestimmten zeit- und sozialtypischen Klischees entspricht; denn der Fotograf bzw. die Fotografin gibt damit zu erkennen, daß er/sie dieses Klischee für sich als Perspektive teilt“ (Beck 2003, S. 56). Entsprechend kann das Bild sowohl mit der Frage betrachtet werden, was es über die auf ihm abgebildeten Personen aussagt, als auch mit der Frage, was es über die Person aussagt, die es gemacht hat (vgl. Mollenhauer 2003, S. 248). Botschaften, die Fotografien über abgebildete oder auch abbildende Personen vermitteln, lassen sich nach Holzbrecher & Tell wie die Botschaften einer sprachlichen Nachricht auf vier Ebenen anordnen: auf der Sachebene, der Beziehungsebene, der Appell- und der Selbstoffenbarungsebene (vgl. Holzbrecher & Tell 2006, S. 107f.). So kann in der Bildanalyse explizit der Sachinhalt betrachtet werden, den das Bild ausdrückt. Die Beziehung, die der Fotograf/die Fotografin zu den abgebildeten Menschen ausdrückt, kann für sich erfasst werden, sowie die Beziehung zu denen, die das Bild betrachten sollen,
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aber auch mögliche Appelle, die das Bild vermittelt. Das Interesse dieser Arbeit liegt auf der Selbstoffenbarungsebene, auf der mittels Analyse der Motivwahl und Bildgestaltung Einstellungen, Befindlichkeiten, Vorlieben und Identitäten der jeweiligen Fotografin erfasst werden sollen, denn „Fotograf bzw. Fotografin sind im Bild quasi unsichtbar anwesend" (Beck 2003, S. 64). So wie Kleider, Frisuren, Möbel, Bücher, ein Wandschmuck oder auch ein Auto auf Identitäten verweisen, also als Identitätssymbole fungieren und aktiv als solche genutzt werden (vgl. Habermas 1999, S. 243f.), sind nach Holzbrecher & Tell Fotografien kulturelle Zeichen in denen Lebensarten, Wahrnehmungs- und Deutungsarten ihrer ProduzentInnen sichtbar werden. Da es in dieser Arbeit um Selbstbilder bzw. Ich-Identitäten geht, scheint es sinnvoll, mit subjektnahen Quellen wie Selbstzeugnissen bzw. Eigenproduktionen zu arbeiten. „Ein für die Interpretation sehr ergiebiges Gebiet ist die sog. Autofotografie – Projekte, bei denen Betroffene sich oder ihren Alltag selbst fotografieren. Es lassen sich zwei Formen unterscheiden: die Selbstinszenierung und die Dokumentation von Ausschnitten des Alltags“ (Hervorh. im Orig., Beck 2003, S. 65). Bevor im weiteren Verlauf dieser Arbeit beschrieben wird, wie die Spurensuche nach Identitätsbildungen in Foto-Eigenproduktionen von Migrantinnen umgesetzt werden soll, wird im folgenden Abschnitt auf die Besonderheiten, die Fotografien als Erkenntnisquellen mit sich bringen und die bei einer Interpretation bzw. Analyse berücksichtigt werden müssen, eingegangen.
3.2 Die Fotografie als Erkenntnisquelle Die Bildanalyse ist in den Sozialwissenschaften als Methode umstritten (vgl. Fuhs 2003, S. 37) und wird daher häufig nur als Fallbeleg oder Illustration eingesetzt: Während ein ‚Belegfoto’ den Beweis liefern soll, daß ein bestimmter Sachverhalt zum Zeitpunkt T am Ort O tatsächlich festzustellen war, ist es für ein illustratives
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Identitätsbildung sichtbar machen Foto ausreichend, daß für die Darstellung eines Sujets entsprechende Modelle oder Requisiten verfügbar waren. Das, was illustriert wird, muß nicht existieren, die Illustration sagt also über die tatsächliche Existenz dessen, was illustriert wird, nichts aus (Wuggenig 1988, S. 334).
Fotos werden in Interviews oder Tests als visuelle Vorgaben genutzt, ebenso finden Befragungen anhand von Fotografien statt, um die Motivation der Befragten zu erhöhen und detailreiche Antworten und Informationen zu erhalten (vgl. Wuggenig 1988, S. 335). Auch wenn Fotografien bereits von Goffman, Bourdieu und anderen inhaltlich analysiert und damit ihr Entstehungszusammenhang und ihre soziale Funktion untersucht wurde - als Beispiele nennt Wuggenig Goffmans Analyse kommerzieller Werbefotografien und die Studien über Amateur- und Berufsfotografien von Bourdieu (vgl. 1988) – ist das Bild als Quelle für Mollenhauer damit nicht ausgeschöpft. Er hält eine Bildanalyse für genauso aussagekräftig wie die Interpretation eines autobiografischen Textes. Entsprechend decken sich auch seine Leitfragen an Text und Bild: „Man möchte wissen, was der Autor oder die Autorin meint, was das Bild, der Text unabhängig von der Autorenmeinung an Aussagen enthält, und man will wissen, wie diese Meinung sich zum historisch-kulturellen Umfeld verhält“ (Mollenhauer 2003, S. 248). Wie in Abschnitt 3.1 erwähnt, gehört die Vieldeutigkeit und Mehrperspektivität zu den Besonderheiten der Fotografie. Einer Fotografie ist nicht nur die Perspektive des Fotografen bzw. der Fotografin immanent, sondern auch die der abgebildeten Personen. Entsprechend ist es möglich, sich mit Hilfe einer Bildanalyse, sowohl den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern des Fotografen bzw. der Fotografin als auch den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der auf der Fotografie abgebildeten Personen anzunähern (vgl. Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 120). Fotografien bilden keine Wirklichkeit ab, sondern von FotografInnen und Fotografierten wahrgenommene und inszenierte Wirklichkeiten. Dennoch erklären sie soziales Handeln, denn der Mensch reagiert nicht auf eine Wirklichkeit, sondern auf das, was er wahrnimmt (vgl. Guschker 2002, S. 41). Werden
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Fotografien schließlich von BetrachterInnen decodiert, reichern deren Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sie mit weiteren Bedeutungen an. Die aus dieser Mehrperspektivität resultierende Vieldeutigkeit ist eine große Herausforderung, besonders dann, wenn Bilder analysiert werden sollen, die von ungeübten Fotografinnen stammen: Fotografien von so genannten Knipsern11, die wenig über Gestaltungsregeln und -techniken wissen, sind ohnehin vieldeutig. Privatfotos zeigen zwar häufig Situationen, die allgemeinverständlich sind, da sie weit verbreitete und gelernte Wahrnehmungsmuster wiedergeben, bewusst gestaltet sind sie deshalb nicht: Da funktioniert plötzlich ein Blitzlicht nicht, das Motiv wird unterbelichtet, und schon tritt es ungewollt in den Hintergrund. Dennoch wird sich der Aussage eines Bildes in vielen Analyseverfahren über die Gestaltung genähert. Die Gefahr von Überinterpretationen ist also groß und lässt sich nicht ohne weiteres bändigen, denn zunächst einmal wird gesehen, was gesehen werden will: „Im privaten Gebrauch der Fotos ist diesein [sic!] Vorteil. Für den Sozialwissenschaftler wandelt sich dies zum Hemmnis bei der Suche nach Interpretationsmöglichkeiten. Das vermeintliche Vorwissen und die Suggestivkraft des Abgebildeten verhindern das sinnhafte Verstehen eines Fotos“ (Hervorheb. i. Orig. Guschker 2002, S. 30). Da sich der Herstellungskontext einer Privatfotografie nur schwer rekonstruieren lässt und damit die Intentionen des Fotografen bzw. der Fotografin schwer nachvollziehbar sind, beschäftigt sich Guschker ausschließlich mit der Rezeption von Privatfotos. Während er dem Sinn nachgeht, der ihnen von ihren BesitzerInnen nach der Produktion zugeordnet wird – sei es in Fotoalben oder gerahmt an der Wand -, bleibt für Pilarczyk & Mietzner, genauso wie für
11 Nach Guschker gibt es eine Einteilung von Fotografen und Fotografinnen in professionelle FotografInnen, AmateurInnen und KnipserInnen, deren Bilder hauptsächlich Erinnerungsfunktionen haben und entsprechend in Fotoalben oder Schubladen landen, während AmateurfotografInnen das Fotografieren zu ihrem Hobby gemacht haben und ihre Bilder auch auf Ausstellungen zeigen. „Vor allem die ästhetische Ausrichtung an den überlieferten Normen der fotografischen Gestaltung kann hierbei als Abgrenzungskriterium dienen. Gestaltungsregeln und -techniken werden im professionellen Milieu definiert und auf unterschiedlichen Niveaus von den anderen Akteuren reproduziert. Die Gruppe von Fotografen, für die in diesem Sinne ‚anspruchslose’ Bilder von sozialer Bedeutung sind, werden als Knipser bezeichnet“ (Guschker 2002, S. 19f.).
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Mollenhauer oder Beck auch die Produktionsanalyse ein durchaus brauchbarer, wissenschaftlicher Zugang: Ein Foto ist jedoch keineswegs subjektiv in dem Sinn, daß die Bedeutung des Dargestellten idiosynkratisch, nicht von anderen BetrachterInnen teilbar wäre. Gerade weil wir als Mitglieder einer bestimmten Kultur, als Zeitgenossen in einer soziohistorischen Realität ähnliche Sozialisationsprozesse durchlaufen haben – auch was unsere bildliche Wahrnehmung und Deutungsfähigkeit von Bildern betrifft -, sind wir in der Lage, Fotografien in ihrem Sinngehalt bis zu einem gewissen Grad angemessen zu interpretieren (Beck 2003, S. 56).
Auch Niesyto verwirft die Bildanalyse aus Sicht des Bildproduzenten bzw. der Bildproduzentin nicht, kritisiert aber Verfahren, deren Analyseschritte sich sehr stark an kunstwissenschaftlichen Kriterien ausrichten und den Habitus des Bildproduzenten bzw. der Bildproduzentin fast ausschließlich über bildimmanente Informationen versuchen zu erfassen (vgl. Niesyto 2006). So sind bei Bohnsack Bildbeschreibung und formale Komposition der eigentliche Kern der Interpretation, während so genanntes Kontext- bzw. Vorwissen über die FotografInnen zunächst einmal ausgeklammert wird, um zu vermeiden, dass bildimmanente Botschaften überlagert werden (vgl. Bohnsack 2006, S. 46ff.). Sich zwischen Guschker und Bohnsack positionierend hält Niesyto - ebenso wie Fuhs und Holzwarth – dagegen Kontextwissen wie Alter, Geschlecht, Herkunft und Milieu der BildproduzentInnen, den Zeitpunkt der Bildproduktion, den Ort und die Bedingungen unter denen das Bild entstanden ist sowie den Verwendungszusammenhang für Informationen, die von Anfang an in die Analyse einfließen müssen, um Überinterpretationen zu vermeiden (vgl. Holzwarth 2006, S. 180). Sehr geeignet für die sozialwissenschaftliche Bildanalyse scheint die seriellikonografische Methode, in der Pilarczyk & Mietzner die Vorteile kunstgeschichtlich hermeneutischer Interpretationsverfahren ausschöpfen, indem sie sich das Stufenmodell von Panofsky zunutze machen, das sie jedoch so auf die Fotografie abgestimmt haben, dass es Produktionsbedingungen, Verwendungsweisen und technische Daten berücksichtigt: „Fotografien sind als ästhetische Phäno-
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mene der Alltagskultur [zu verstehen], hinter denen mit Recht ein bestimmter ‚Sinn’ vermutet werden kann, auch wenn es sich dabei nicht (immer) um Kunst handelt, ihre Interpretation kann jedoch nur in einem auf das spezifisch Fotografische hin modifizierten Verfahren gelingen“ (Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 135). Die Analyseschritte von Pilarczyk & Mietzner binden Kontextwissen in die Interpretation ein, stellen aber Bildbeschreibungen, Formanalysen, Gestaltungsprinzipien und deren Bedeutungen in den Mittelpunkt12. So stehen im Zentrum der Analyse die ikonografische Beschreibung und die ikonografische Interpretation. Während in der ikonografischen Beschreibung Gestaltungselemente wie der Bildaufbau samt Fluchtlinien, Diagonalen, wirklichen und imaginären Linien, Bildmittelpunkten, Helligkeits- und Farbkontrasten sowie Oberflächenstrukturen als Sinn konstituierend betrachtet werden, geht die ikonografische Interpretation im Wesentlichen der Frage nach, welche dieser Sinn konstituierenden Gestaltungselemente der Fotograf bzw. die Fotografin bewusst eingesetzt haben könnte. Pilarczyk & Mietzner rechtfertigen die zentrale Bedeutung der Gestaltungselemente für ihre Bildanalyse u.a. mit Arnheims Feststellung, dass grundlegende Seherlebnisse und Wahrnehmungsmuster allgemein wirksam sind (vgl. Arnheim 1978). Der bildlichen Wahrnehmung liegen nicht nur individuelle Erfahrungen zu Grunde, sondern auch kulturelle Erfahrungen sowie kulturhistorische Entwicklungen, die nicht nur KünstlerInnen in der Gestaltung, sondern auch 12
Das Analyseverfahren von Pilarczyk & Mietzner hat vier Ebenen: die vorikonografische und die ikonografische Beschreibung, die ikonografische und die ikonologische Interpretation. Auf der ersten Ebene werden alle bildlichen Details genannt. Die primäre Sinnschicht soll erfasst werden. Die Beschreibung beinhaltet z.B. mimische Ausdrücke, Gesten, Körperhaltungen. Der Übergang zur zweiten Ebene ist fließend. Hier wird Wissen außerhalb des Bildes einbezogen, es findet eine erste Analyse von Symbolen, Emblemen und Zeichen statt. Formale Elemente sind hier wesentlich: Räumliche Anordnungen, dominante Linien, Licht- und Schattenwirkungen, Farben und Kontraste werden als Bildaussagen hervorbringende Elemente betrachtet. Auch Verwendungs- und Nutzungszweck der Bilder werden eingebracht. Auf der dritten Ebene wird die bewusste Gestaltung des Fotografen bzw. der Fotografin betrachtet: Welche Gestaltungselemente wurden eingesetzt, um eine bestimmte Bildaussage zu erreichen? Auf der Ebene der ikonografischen Interpretation werden Form und Inhalt aufeinander bezogen. Kontextinformationen zu den Bildern, Verwendungen der Bilder, Perspektiven der FotografInnen, der abgebildeten Personen sowie der BetrachterInnen werden aufeinander bezogen.
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BetrachterInnen in der Wahrnehmung beeinflussen. So folgt der Mensch u.a. der ökonomischen Tendenz zur Vereinfachung, was dazu führt, dass eingeschlossene Flächen eher als Objekte und nicht als Hintergründe gesehen werden, weil es leichter ist, sich an Objekten zu orientieren (vgl. Arnheim 1978, S. 224). Der Tendenz der Vereinfachung entspricht auch, dass auf einem Bild als Erstes die einfachsten Flächen – z.B. symmetrische Flächen – wahrgenommen werden (Arnheim 1978, S. 219), während Überlagerungen von Objekten bzw. Figuren zu Spannungen führen: „Wir spüren das Verlangen der verdeckten Figur, sich von der Beeinträchtigung ihrer Unversehrtheit freizumachen“ (Arnheim 1978, S. 246). Es mag grundlegende Wahrnehmungsmuster geben, die sowohl in der Bildproduktion als auch in der Bildrezeption wirksam werden. Dennoch scheint die Anwendung der Methode von Pilarczyk & Mietzner für die Analyse einzelner Selbstdarstellungen bzw. Eigenproduktionen, die von ungeübten Fotografinnen erstellt werden, schwierig. Auch wenn Wahrnehmungsmuster verallgemeinerbar sind, ist aufgrund der technischen Anforderungen, die das Fotografieren mit sich bringt, nicht unbedingt nachzuvollziehen, ob Gestaltungselemente und entsprechende Bildaufbauten bewusst, unbewusst oder nur zufällig aufgrund eines technischen Fehlers entstanden sind. Die bewusste Gestaltung, zu der ein Knipser in der Lage ist, reduziert sich für Guschker deshalb auf die Motivwahl und die Perspektive. Ein gutes Foto von einem Knipser bzw. einer Knipserin, ist für Guschker ansonsten zufällig und ungeplant entstanden (vgl. 2002, S. 37). Auch Fuhs geht davon aus, dass KnipserInnen die Möglichkeiten, eine Fotografie zu gestalten, bei weitem nicht ausschöpfen. Dennoch findet er in ihren Fotografien Gestaltungselemente, die über die Motiv- und Perspektivwahl hinausgehen: So real ein Foto aussieht, so trügerisch ist diese Realität. Sie wird bedingt durch den Standort des Fotografen und durch das, was er wegläßt. So basieren romantische Landschaftsaufnahmen oft darauf, daß die Fotografen alles Störende verschwinden lassen. Selektiert wird in einem Bild häufig auch durch die Schärfe, wenn zum
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Beispiel eine Person im Vordergrund scharf und der Hintergrund verschwommen bleibt, so daß die Person aus ihrem Umfeld herausgelöst wird (Fuhs 2003, S. 272).
Die Auswahl von Motiven, die Belichtung von Motiven oder auch ihre Anordnung wird von Trends, Traditionen und Sehgewohnheiten mitbestimmt. Weitere gültige Gestaltungsprinzipien in der Alltagsfotografie sind die Wahl des Hochformats für Porträts und des Querformats für Landschaften, ein symmetrischer Bildaufbau und die Platzierung des Wesentlichen im Zentrum der Fotografie: „Der alltägliche Umgang mit Fotos geht einher mit einer spezifischen ‚Schule des Sehens’, sozialisiert die Bildbenutzer in eine fotografische Sichtweise der Welt“ (Fuhs 2003, S. 271). Fuhs behauptet nicht, dass diese Gestaltungsmittel unbedingt bewusst eingesetzt werden: So wird für ein Privatfoto oft völlig spontan und unvermittelt eine Perspektive eingenommen. Spontan und unvermittelt meint jedoch nicht zufällig. Die unbewusste Gestaltung eines Bildes lässt sich von der zufälligen, durch technische Handicaps entstandenen Gestaltung getrennt wahrnehmen, so dass mit einer Bildanalyse tatsächlich auch in einer Fotografie, die von einer Knipserin oder einem Knipser aufgenommen wurde, habituellen Deutungs- und Wahrnehmungsmustern nachgegangen werden kann: Werden Fotografien nicht als isolierte Gegenstände betrachtet, „sondern als Medien zwischen Mensch und Welt, erhalten sie eine weitergehende Bedeutung: ihre Zufallsmomente sind dann nicht beliebig interpretierbar, sondern unterliegen historischen Wahrnehmungsgesetzen“ (Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 121). Die seriell-ikonografische Methode nach Pilarczyk & Mietzner lässt sich in dieser Arbeit nicht anwenden, da nur wenige Bilder entstanden sind. Die seriellikonografische Methode verlangt, dass das zu analysierende Einzelbild aus einem Referenzbestand ausgewählt wird. Dieser Referenzbestand wird über externe und interne Klassifikationsfaktoren wie dem Verwendungszusammenhang, der Autorschaft, dem Zeitpunkt der Aufnahme oder dem Motiv-Genre gebildet. Während der Einzelbildanalyse soll immer wieder auf den Referenzbestand Bezug genommen werden, da nur so Aussagen über Wahrnehmungs-
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und Deutungsmuster möglich sind, die über das Einzelbild hinausgehen. Wird der Referenzbestand für eine Untersuchung neu gebildet, sind zwischen 300 und 500 Fotografien notwendig (vgl. Pilarczyk & Mietzner 2005, S. 143). Da ein solcher Referenzbestand nicht vorliegt, wird dem Analyseverfahren von Pilarczyk & Mietzner im folgenden Abschnitt das von Holzbrecher & Tell aufs Bild abgestimmte kommunikationspsychologische Modell von Schulz von Thun zur Seite gestellt.
3.3 Ein Analyseverfahren für Eigenproduktionen Die Suche nach Spuren individueller Identitätsbildungen in Fotografien von Migrantinnen basiert nur auf einer kleinen Bildmenge. Doch auch ein Einzelbild lässt sich analysieren. „Es enthält visuelle Botschaften, die entschlüsselt und in Sprache transformiert werden können“ (Fuhs 2006, S. 217). Das Foto fungiert dabei als ein visuelles Angebot, dem der Betrachter bzw. die Betrachterin Sinn zuordnet. „Das eigentliche Bild entsteht erst im Auge des Betrachters, ist mithin eine Konstruktion des Subjektes, freilich unter bestimmten sozialen und kulturellen Bedingungen“ (Fuhs 2006, S. 218). Hier klingt Fuhs wie Guschker, der in Bezug auf Privatfotos allein die Rezeptionsforschung für sinnvoll hält. An anderer Stelle betont Fuhs jedoch, dass die erzählende Qualität von Bildern nicht nur in ihrer Betrachtung wirksam wird, sondern auch in der Produktion berücksichtigt wird, Bilder also so gestaltet werden, dass sie bestimmte Botschaften vermitteln. ProduzentInnen kommunizieren also aktiv mit ihren Bildern. Entsprechend taugt das einzelne Bild auch als sozialwissenschaftliche Quelle, der sich Fuhs mit folgenden Fragen annähert: „Welchen Beitrag liefert eine Fotografie zu einem Diskurs? Mit welchen Mitteln wird die visuelle Botschaft gestaltet, mit welchen ästhetischen Mitteln werden die Gefühle, die vermittelt werden sollen (zum Beispiel Angst) erzeugt?“ (Fuhs 2008, S. 222). Die Kommunikation mit Hilfe von Bildern bzw. durch Bilder steht auch bei Holzbrecher & Tell im Mittelpunkt (vgl. 2006). Sie haben das psychologische
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Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation, mit dem Schulz von Thun das Senden und Empfangen sprachlicher Botschaften analysiert, auf Bilder übertragen. Schulz von Thun stellt in seinem Modell eine Deutungsvielfalt für gesprochene Nachrichten fest (vgl. 2005). Zur Ordnung der zahlreichen Botschaften, die in einer Nachricht kommuniziert werden, greift er vier wesentliche Aspekte bzw. Ebenen heraus, auf denen mit einer Nachricht kommuniziert wird: den Sachinhalt, also die Information, die mit der Nachricht weitergegeben wird, die Selbstoffenbarung, gemeint ist hier das, was der/die SenderIn in ihrer/seiner Nachricht von sich selbst Preis gibt, die Beziehungsbeschreibung von SenderIn und EmpfängerIn aus Sicht des Senders/der Senderin und schließlich den Appell, mit dem versucht wird, den/die EmpfängerIn zu einer bestimmten Handlung, einer Meinung oder einem Denken zu bewegen (vgl. Schulz von Thun 2005, S. 26ff.). Diese vier Aspekte übernehmen Holzbrecher & Tell, um ihrerseits die Vielfalt von Botschaften zu ordnen, die durch Bilder vermittelt werden (vgl. 2006, S. 107). Das kommunikationspsychologische Modell hat sich bisher bei Bildern bewährt, die Jugendliche im Rahmen von medienpädagogischen Projekten fotografiert haben und die dann mit dem Ziel analysiert wurden, spezifische Weltsichten und Perspektiven der Jugendlichen zu erfassen (vgl. Holzbrecher & Tell 2006, S. 107). Diese Arbeit geht davon aus, dass mit Hilfe des kommunikationspsychologischen Modells auch in Eigenproduktionen von Erwachsenen Weltsichten und Perspektiven erfasst werden können, besonders dann, wenn sie in Lebensphasen entstehen, in denen sich aufgrund so genannter Identitätskrisen neue Lebensentwürfe und Identitäten bilden. Frauen, die in der Migration leben, setzen sich intensiv mit der eigenen Identität auseinander, da sie mit dem Verlassen ihres Herkunftslandes und dem Eintritt in ein ihnen zunächst fremdes Land mit unvertrauten Lebensumständen konfrontiert werden, auf die sie reagieren müssen (vgl. Hettlage-Varjas 2002, S. 171). Dabei - so wird hier vermutet – bilden sich auch neue Identitäten, die in Bildern sichtbar werden, die die Frauen selbst fotografieren.
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Das Bildanalyseverfahren von Holzbrecher & Tell basiert auf der in der Medienpädagogik inzwischen weit verbreiteten Annahme, dass ein Subjekt nicht ausschließlich durch Milieu-, Kultur- oder Medienzuschreibungen definiert wird, sondern sich auch selbst definieren kann13. Tatsächlich geht die qualitative Forschung generell davon aus, dass „soziale Wirklichkeit durch die handelnden Subjekte erzeugt wird und diese die Möglichkeit haben, sich reflexiv auf vorausgegangene Erfahrungen und Handlungen zu beziehen“ (Schründer-Lenzen 2003, S. 110). Die Analyse der Bilder auf der Selbstoffenbarungsebene scheint in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, da auf dieser Ebene die Botschaft – sei es eine verbale oder visuelle – auf die Senderin bzw. den Sender zurückverweist, „ob auf eine psychische Befindlichkeit, eine soziokulturell oder –ökonomisch identifizierbare Klassenlage oder eben auf seine spezifische Form der Deutung und Verarbeitung seiner Situation. In dieser Weise können sowohl bewusste als auch unbewusste Ausdrucksformen als ‚Zeichen’ gelesen werden“ (Holzbrecher & Tell 2006, S. 108). Schulz von Thun schließt in die Definition der Selbstoffenbarungsebene sowohl die gewollte Selbstdarstellung als auch die unfreiwillige Selbstenthüllung ein (vgl. 2005, S. 26f.). So lässt sich der subjektiv gemeinte Sinn der fotografierenden Frauen nachvollziehen, die Auswahl und Gestaltung von Bildmotiven verweist aber auch auf den Habitus der Bildproduzentinnen bzw. auf bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die unbewusst soziales Handeln ausrichten (vgl. Holzbrecher & Tell 2006, S. 108). Im Rahmen von medienpädagogischen Projekten entstehen in der Regel keine großen Bildbestände. Während Pilarczyk & Mietzner einen Referenzbestand von 300 bis 500 Fotografien voraussetzen, damit gültige Aussagen über Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gemacht werden können (vgl. 2005, 13 Die aktuelle Medienpädagogik stellt entsprechend fest: „Die Widersprüche der Modernisierung werden in den Subjekten ausgetragen und verarbeitet, die damit nicht gesellschaftlichen Wirkfaktoren determinierend ausgeliefert sind, sondern selbst als Produzenten und Resultat gesellschaftlichen Handelns verstanden werden müssen. Es ist die ästhetische Praxis, die heute Medien und ihre Nutzer zusammenschließt in der gemeinsamen Aufgabe, Weltverhältnisse so zu gestalten, daß sie lebbar und überlebbar werden“ (Hervorheb. i. Orig., Baacke 2007, S. 26f.).
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S. 143), gehen Holzbrecher & Tell davon aus, dass Aussagen, die auf kleineren Bildbeständen basieren, validiert werden können, indem auf Kontextinformationen zurückgegriffen wird, die sich in einem pädagogischen Setting ergeben. Dazu gehören vor allem Beobachtungen, die ein/e Pädagoge/in im Laufe eines Projektes macht, und mit denen er/sie erschließt, wie sich die Fotografierenden gegenseitig beeinflussen, was sie während des Projektes erzählen und diskutieren und welches technische und gestalterische Vorwissen sie mitbringen. In Einzelgesprächen lässt sich auch erfragen, welche Bedeutung das Fotografieren für die TeilnehmerInnen im Alltag hat, welche Motive sie im Alltag fotografieren, und welche Absichten sie damit verbinden (vgl. Holzbrecher & Tell 2006, S. 110). Die Kontextinformationen, die sich aus dem pädagogischen Setting ergeben, werden bereits auf der Sachebene eingeführt. Neben dem situativen Kontext, der Zeit, dem Ort, dem Verwendungszusammenhang und Bild-Genre werden auch alle bildlichen Details benannt: Die Ebene erfasst Objekte und Personen, ihre genaue Position im Bild, ihre Mimik, ihre Gesten, ihre Körperhaltung, aber auch technische Details wie Kamerastandort, Bildausschnitt, Objektiv, Blende, Licht oder Tiefenschärfe. Auf der zweiten Ebene, der Selbstoffenbarungsebene, wird festgehalten, was der Fotograf bzw. die Fotografin über sich selbst aussagt - sowohl explizit als auch implizit. Wobei implizit keinesfalls nur unbewusst meint: Nach Schulz von Thun unterscheiden sich implizite von expliziten Botschaften dadurch, dass sie nicht direkt gesagt werden. Sie werden über einen bestimmten Tonfall, eine gewisse Aussprache, bestimmte Formulierungen, Mimiken oder Gestiken vermittelt (vgl. 2005, S. 33). Auf das Bild übertragen lassen sich implizite Aussagen weniger aus der Wahl eines bestimmten Motivs herauslesen, als aus seiner Gestaltung. Von Bedeutung ist dabei, aus welcher Perspektive ein Motiv aufgenommen und wie es im Bild platziert wurde, wie mit Licht und Schatten gearbeitet und schließlich das gesamte Bild aufgebaut wurde. Da vorab erfragt wird, welche technischen und gestalterischen Kompetenzen die FotografInnen mitbringen, lässt sich in der Regel auch feststellen, was im Bild bewusst gestaltet wurde und sich damit der Selbstdarstellung zuordnen lässt, und was eher
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unbewusst zu Stande gekommen ist und damit als unfreiwillige Selbstenthüllung oder technischer Zufall einzustufen ist. Schulz von Thun zählt zu den impliziten Bildaussagen jedoch nicht nur solche, die indirekt aber absichtsvoll gesagt bzw. gesendet werden, sondern auch das, was der/die EmpfängerIn in eine Botschaft hineininterpretiert (vgl. 2005, S. 33). Implizite Bildaussagen stellen damit den oft fließenden Übergang zwischen Produktions- und Rezeptionsperspektive dar. Um beide Perspektiven zu erfassen, stellen Holzbrecher & Tell auf der Selbstoffenbarungsebene zwei grundlegende Fragen an das Bild: „Was sagt der/die Fotograf/in mit dem so gestalteten Foto (Thema, Motivwahl, Gestaltungsmittel etc.) über sich selbst aus?“ (2006, S. 111) und „Welches Lebensgefühl, welche Situationswahrnehmung, welches Bild von sich selbst/welche Welt-Sicht lässt sich daraus erschließen?“ (ebd.). Auch der Rezeption eines Fotos nähern sich Holzbrecher & Tell auf vier Ebenen, die sie dem kommunikationspsychologischen Modell von Schulz von Thun entnommen haben. Die vier Ebenen auf Seiten des Empfängers korrespondieren mit den vier Ebenen auf Seiten des Senders: Je nachdem, ob das SachOhr, das Selbstoffenbarungs-Ohr, das Appell-Ohr oder das Beziehungs-Ohr hinhört, variiert der Empfang bzw. die Rezeption gesendeter Botschaften (vgl. Schulz von Thun 2005, S. 47ff.). Das Sach-Ohr bemüht sich um die Aufnahme von Sachinhalten, das Selbstoffenbarungs-Ohr versucht aufgrund der Nachricht zu begreifen, wer da spricht, also was für eine Person, mit welchen Eigenschaften, Vorstellungen oder Befindlichkeiten. Das Beziehungs-Ohr spürt auf, was der bzw. die SenderIn über den/die EmpfängerIn sagt, und wie er/sie diese/n einschätzt. Das Appell-Ohr reagiert schließlich auf den Appell des Senders bzw. der Senderin und fragt, wozu der/die SenderIn den/die EmpfängerIn auffordert. Wie bedeutsam die Rezeptionsanalyse auf allen vier Ebenen ist, hat Schulz von Thun in seiner Analyse zwischenmenschlicher Kommunikation gezeigt: „Bei vielen Empfängern ist – unabhängig von den Situationserfordernissen – ein Ohr auf Kosten der anderen besonders gut ausgebildet“ (2005, S. 47). Es besteht also die Gefahr, dass die Dekodierung einer Nachricht einseitig stattfindet und nicht
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so aufgenommen wird, wie sie von Seiten des Senders bzw. der Senderin intendiert war. Die einzelnen Ohren der Empfängerin bzw. des Empfängers und ihre Ausprägungen hängen ab von „Erwartungen, Befürchtungen, Vorerfahrungen – kurzum: von seiner ganzen Person“ (Schulz von Thun 2005, S. 61). Holzbrecher & Tell haben für alle vier Ebenen einer Bildnachricht sowohl Leitfragen entwickelt, mit denen sie intendierte und ungewollte Botschaften des Bildproduzenten bzw. der Bildproduzentin erfassen, als auch Leitfragen, mit denen sie sich der Rezeption dieser Botschaften annähern. So wird auf der Beziehungsebene u.a. gefragt: „Welche Beziehungsqualität der abgebildeten Personen/Objekte (Gestus, Körperhaltung/Habitus etc.) zueinander (‚Blickbeziehungen’) lässt sich beobachten? Welche Beziehungsqualität zwischen dem Fotografen und den abgebildeten Personen ist erkennbar?“ (Hervorheb. i. Orig., Holzbrecher & Tell 2006, S. 111) und dann: „In welcher Weise nehme ich als Betrachter/in das Foto wahr? Welche Erinnerungen/Gefühle etc. weckt es? Warum gefällt es mir (nicht)? Auf welche Erfahrungen, Geschmackskategorien verweist mein ästhetisches Urteil?“ (Hervorheb. i. Orig., ebd.). Auf der Appellebene fragen sie, zu welchen Haltungen und Handlungen das Bild auffordert und wer mit diesem Appell angesprochen wird, also für wen das Bild gemacht wurde (vgl. Holzbrecher & Tell 2006, S. 111). Holzbrecher & Tell stützen ihr Analyseverfahren jedoch nicht ausschließlich auf Schulz von Thun, sondern machen sich zunutze, dass Gegenstände als so genannte geliebte Objekte „bei der Identitätsentwicklung eine biografisch bedeutsame Rolle spielen“ (Holzbrecher & Tell 2006, S. 110). Da die auch als Identitätssymbole bezeichneten geliebten Objekte auf soziale Identitäten verweisen (vgl. Habermas 1999, S. 243f.), ist es sinnvoll die Bildproduktion thematisch so einzugrenzen, dass in der anschließenden Analyse der Bilder auf die Aussagekraft geliebter Objekte zurückgegriffen werden kann. Im folgenden Kapitel wird ein entsprechender Fotoauftrag, der für die vorliegende Arbeit formuliert wurde, näher erläutert. Der Fotoauftrag ist Teil des pädagogischen Settings, in dem die Bilder für diese Arbeit entstanden sind. Im folgenden Kapitel wird dieser für die Validität der Bildanalyse entscheidende fotografische Kontext
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detailliert erläutert, so dass die Einzelbildanalyse in Kapitel fünf gleich mit der Beschreibung der bildlichen Details beginnen kann.
4 Pädagogisches Setting
4.1 Der Fotoauftrag 4.1.1 Persönlich bedeutsame Orte Bevor in diesem Kapitel die Situation und der Kontext beschrieben werden, in dem die in dieser Arbeit verwendeten Fotografien entstanden sind, soll der Fotoauftrag begründet werden, der die Motivauswahl der Fotografinnen mitbestimmt hat. Der Fotoauftrag ist nicht nur methodisch sinnvoll, sondern auch weil in dieser Arbeit von Interesse ist, was in der alltäglichen Fotopraxis kaum von Interesse ist und entsprechend selten fotografiert wird: „So gehört es zu den impliziten sozialen Festlegungen dieser Praxis, daß man das, was man täglich vor Augen hat, nicht fotografiert. Die hauptsächlichen Anlässe und Motive sind das Außeralltägliche, das Besondere, und das, was Fremdheitsgefühle oder Erstaunen erweckt“ (Wuggenig 1988, S. 343). In dieser Arbeit geht es um Identitäten, die sich gerade nicht im „Außeralltäglichen“ bilden, sondern in der alltäglichen Konfrontation und Bewältigung von Lebensumständen. Sichtbar werden diese Identitätsbildungen u.a. in der Gestaltung persönlicher Umwelten: Menschen gestalten sich ein Selbst, indem sie sich zuerst eine materielle Welt herstellen und dann mit ihr interagieren. Physische Dinge verkörpern und versinnbildlichen Ziele, deuten auf Fertigkeiten hin und gestalten die Identität des Benutzers. Zur Umwelt einer Person gehören nicht nur andere Personen, sondern auch Artefakte wie Möbelstücke oder Fotos. Dinge der persönlichen Umgebung sind
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Pädagogisches Setting nicht vom Wesen des Menschen ablösbar; die Interaktion mit ihnen bestimmt das Selbst genauso, wie die Interaktion mit anderen Personen (Guschker 2002, S. 356).
Für diese Arbeit wurden ältere Frauen gefragt, die nicht in Deutschland geboren sind, aber seit langem hier leben, ob sie einen für sie persönlich bedeutsamen Ort fotografieren können, denn an persönlichen Orten befinden sich viele persönliche Dinge, die auf die Identitäten ihrer BesitzerInnen hinweisen (vgl. Habermas 1999, S. 112f.). Mit der Ansammlung persönlicher bzw. geliebter Objekte wird ein Ort als persönlich markiert, so dass er nicht ohne weiteres von einem Fremden übernommen werden kann. Persönliche Orte sind zudem Orte, die eine Person jederzeit verlassen kann, aber immer wieder aufsucht, weil sie sich von ihnen angezogen fühlt (vgl. Habermas 1999, S. 115). Wohnräume sind typische persönliche Orte, und ihre BewohnerInnen nutzen sie ganz bewusst zur Selbstdarstellung. Es wird nicht in jeder Wohnung eine „gute Stube“ geben, die nur geöffnet wird, wenn Besuch kommt. Tatsächlich gibt es aber in den meisten Wohnungen Bereiche, die für den Empfang von Gästen eingerichtet und dekoriert sind: „Sie signalisieren dem Besucher sowohl Gastfreundlichkeit wie die vom Gastgeber aspirierte, für die Selbstpräsentation gewählte Identität“ (Habermas 1996, S. 122). Besonders aussagekräftig sind Ansammlungen von Objekten wie Bücher, Bilder, Porzellan, Gläser oder auch Ziergegenstände (vgl. Habermas 1999, S. 122). Mit der Selbstpräsentation geht aber auch eine „unfreiwillige Selbstenthüllung“ einher (vgl. Schulz von Thun 2005, S. 27), denn die gesamte Einrichtung bzw. Gestaltung von Wohnräumen weist auf einen Habitus hin, der seinerseits auf Geschlechtsidentität, Altersidentität und andere Teilidentitäten verweist. „Man braucht sich nur einmal zu vergegenwärtigen, daß Güter sich in distinktive Zeichen verwandeln, die – einmal in Beziehung zu anderen gesehen – Zeichen von Distinktion, aber auch von Vulgarität sein können, um zu erkennen, daß die Vorstellung, die Individuen und Gruppen durch ihre Eigenschaften und Praktiken unvermeidlich vermitteln, integraler Bestandteil ihrer sozialen Realität ist“ (Hervorheb. i. Orig., Bourdieu 1987, S. 754). Ganz alltägliche Dinge, die
Der Fotoauftrag
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eine besondere Rolle für das Wohlbefinden eines Menschen spielen, können zu unfreiwilligen Selbstenthüllungen führen. Dazu gehören Hygieneartikel, persönliche Kleidung, aber auch das eigene Bett oder eine Handtasche, in der sich persönliche Papiere befinden (vgl. Habermas 1999, S. 122f.). In Wohnungen bzw. in privaten Räumen findet also eine Selbstoffenbarung gegenüber anderen statt – als bewusste Selbstdarstellung und ungewollte Selbstenthüllung. Darüber hinaus stärken private Räume die Ich-Identität (vgl. Altman 1975, S. 46). Ein Ort wird nicht nur an den dort zu verrichtenden Grundbedürfnissen ausgerichtet. Eine Küche ist also nicht nur zum Essen und ein Schlafzimmer nicht nur zum Schlafen da. Vielmehr eignet sich eine Person einen Ort an. Sie personalisiert ihn, indem sie ihn interessengeleitet und affektiv gestaltet, „begleitet von Phantasien, wie sie ihn nutzen und sich in ihm befinden wird. Um sich einen Ort einzurichten, muß man sich mit dem Ergebnis der Einrichtung identifizieren, sie als eigenes Produkt und Ausdruck eigenen Wählens und Handelns anerkennen, so daß man sich an dem Ort chez soi, bei sich fühlen und andere dort empfangen kann“ (Hervorheb. i. Orig., Haberams 1999, S. 125). Wandeln sich Identitäten bzw. Rollen, weil neue Erfahrungen und Begegnungen Bedürfnisse und Bedingungen verändern, werden neue Orte aufgesucht oder alte neu interpretiert. Das Leben von Migrantinnen ist von vielen neuen Erfahrungen und Begegnungen geprägt, dennoch werden sie aufgrund traditioneller Rollenzuschreibungen auf einen Ort reduziert: Angenommen wird, dass sie in der Küche walten (vgl. Munsch et al. 2007), aber ansonsten nicht in der Lage sind, die Freiheiten ihrer neuen Heimat zu nutzen, indem sie sich andere bzw. weitere Orte aneignen. Besonders älteren Frauen wird unterstellt, dass sie sich nicht umorientieren können, sondern die Kontrolle verlieren, wenn sie einen Ort verlassen müssen. Altman & Churchman haben jedoch gezeigt, dass sich auch ältere Frauen immer wieder Orte aneignen und sie entsprechend ihrer sich wandelnden Bedürfnisse gestalten. In ihren Orten und Ortsbeziehungen spiegeln sich sehr facettenreiche Identitäten wider (vgl. Altman & Churchman 1994, S. 4).
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Pädagogisches Setting
Persönliche Orte werden trotz bestehender Einschränkungen, die es in ihrer Auswahl und Gestaltung geben mag, als “Domains of Choice” bezeichnet (vgl. Howell 1994, S. 105f.). Frauen werden also nicht einfach nur Orte zugeteilt, sondern sie sind auch in der Lage, Orte selbst aufzusuchen. Es ist davon auszugehen, dass die wirtschaftliche Lage älterer Migrantinnen in Deutschland - also das geringere Einkommen, das ihnen im Vergleich zu deutschen Frauen zur Verfügung steht, ihre stärkere Bedrohung von Arbeitslosigkeit und Altersarmut, ihre schlechter ausgestatteten und kleineren Wohnungen (vgl. Horn 2006, S. 9) - es ihnen erschwert, sich Orte anzueignen und zu gestalten. Doch auch in diesem Rahmen sind schöpferische Identitätsbildungen möglich und zu beobachten (vgl. Howell 1994, S. 106). Der Fotoauftrag richtete sich vornehmlich an ältere Migrantinnen, da vermieden werden sollte, dass die weit verbreitete Vorstellung, Migrantinnen stünden als Identitätsressourcen im Wesentlichen Haushalt und Mutterschaft zur Verfügung (vgl. Munsch et al. 2007), den Blick auf schöpferische Identitätsbildungen verdeckt. Es ist anzunehmen, dass andere Identitätsressourcen eher wahrgenommen werden, wenn mit dem Erwachsenwerden der Kinder die Hausfrauen- und Mutterrolle in den Hintergrund tritt: Mid- to late-life transitions for women (empty nest, widowhood) have been as particularly significant insofar as childraising and homemaking roles were said to be the primary sources of self-definition and their loss is to be thought her loss. However, as we hear the stories of individual older women, as each reflects on her current and past relationships with environemnts, it becomes clear that domains of choice have not been so universal or narrowly and affectively defined by them (Howell 1994, S. 106).
4.2 Situation und fotografischer Kontext Insgesamt wurden für diese Arbeit mehr als dreißig Frauen direkt angesprochen, u.a. mit Hilfe von DozentInnen und KommilitonInnen der Pädagogischen Hoch-
Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit
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schule Freiburg, des Deutsch-Türkischen Forums sowie der Landeszentrale für politische Bildung in Stuttgart und einem Verein, der Alphabetisierungs-, Sprach- und Integrationskurse in Freiburg anbietet. Tatsächlich fotografiert haben schließlich elf Frauen: neben acht älteren auch drei jüngere, die an Sprachkursen teilnehmen und so von dem Projekt erfahren haben. Die acht älteren Frauen sind alle älter als fünfzig. Der Kontakt zu einer Frau aus Schwäbisch Hall ist über das 2006 von der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Buch Meine Heimat ist in mir. Muslime und Musliminnen in Baden-Württemberg entstanden. In dem Buch steht ein Porträt über die in der Türkei geborene Schneiderin. Eine 62-jährige Schulsekretärin, die ursprünglich aus Schweden kommt, ist die Bekannte einer Kommilitonin, eine Theaterwissenschaftlerin, die aus Südafrika kommt, seit 1989 in Deutschland lebt und als Dozentin an der Universität Freiburg arbeitet, die Bekannte einer Dozentin der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Die fünf anderen kommen aus Sprachkursen. Da mit acht Frauen die Mehrheit der Fotografinnen aus Sprachkursen kommt, folgt in Abschnitt 4.3 die Beschreibung des Projektverlaufs in dem Verein, der die Sprachkurse anbietet.
4.3 Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit 4.3.1 Der Verein Der Verein wurde vor 32 Jahren gegründet und ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und im Verband für Interkulturelle Arbeit. Er hat 174 Mitglieder und bietet neben Integrationskursen spezielle Projekte für Kinder und Jugendliche an, sowie drei Alphabetisierungskurse und drei darauf aufbauende Sprachkurse für Frauen. Die Kurse werden jeweils von etwa zwölf Frauen besucht. Begleitend gibt es Informationen über Ausbildungs- und Weiterbildungschancen, Hilfen bei der Anerkennung von Zeugnissen aus dem Hei-
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Pädagogisches Setting
matland und Berufsberatungsgespräche. Die fünfzehn ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen sowie eine fest angestellte Pädagogin begleiten Frauen und Familien auch bei Behördengängen, bieten Schreib- und Lesetrainings, Computerkurse, Nähtreffs, Teenachmittage und Schwimmkurse an.
4.3.2
Projektverlauf
Die Schilderung des Projektverlaufs ist einem Journal entnommen, in dem nach jeder Kontaktaufnahme mit dem Verein Beobachtungen, Erfahrungen und Begegnungen notiert wurden. Aufgeführt wird hier eine Zusammenfassung, die sich an dem für die Bildanalyse notwendigen Kontextwissen orientiert. Nach einem ersten Gespräch mit der fest angestellten Pädagogin wurden zunächst einmal Besuche in drei Sprachkursen vereinbart, um erste Kontakte zu den Frauen zu knüpfen und Inhalte der Kurse kennen zu lernen. Dabei kam es zu einigen Einzelgesprächen, in denen aber kaum mehr als Namen und Berufe ausgetauscht wurden. Die Frauen, die die Sprachkurse belegen, leben zum Teil erst seit zwei Jahren, zum Teil aber auch schon mehr als zehn Jahre in Deutschland. Sie kommen u.a. aus Bosnien, der Ukraine, Russland, Iran, Eritrea, Afghanistan und Kambodscha. Die ehrenamtlichen Leiterinnen arbeiten in ihren Kursen mit dem Lehrbuch Komm, wir lernen einfach Deutsch, das der Landesverband Niederrhein vom Deutschen Roten Kreuz herausgegeben hat. Über die Ziele der Sprachkurse schreibt der Verein auf seiner Homepage: „Das Üben der lateinischen Schrift, Erweitern des Wortschatzes, Trainieren alltäglicher Gesprächssituationen und das Verbessern der Grammatik stehen im Vordergrund.“ Anknüpfend an die ersten Besuche in den Sprachkursen wurde der folgende Text an die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Vereins weitergegeben und diente in den Sprachkursen als Stütze für die Projektvorstellung:
Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit
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Ich möchte Sie dazu einladen, Ihren für Sie persönlich bedeutsamen Ort zu fotografieren. Damit meine ich den Ort, den Sie sich hier in Freiburg so eingerichtet und gestaltet haben, dass Sie sich dort wohlfühlen. Es ist Ihr Ort, der Ort, an dem Sie entspannen können, weil dort für Sie wichtige Dinge ihren Platz haben, oder Sie dort das tun können, was für Sie persönlich wichtig ist. Es ist der Ort, an dem Sie bei sich sein können. Dieser Ort kann ein Zimmer sein, es kann auch nur eine kleine Ecke in einem Zimmer sein. Vielleicht weil dort ein Regal steht oder eine Vitrine, in der für Sie wichtige, persönliche Dinge stehen. Vielleicht ist es auch eine Wand, an der Bilder hängen, die Sie immer wieder ansehen, weil sie Ihnen ein gutes Gefühl geben und Sie an etwas erinnern. Es kann ein Zeugnis sein, das an der Wand hängt und Ihnen zeigt, was Sie können, oder ein Pokal, den Sie gewonnen haben. Vielleicht ist Ihr persönlicher Ort aber auch die Küche, ein Arbeitsplatz, ein Schreibtisch oder ein Sessel: ein Ort, den Sie sich so eingerichtet haben, dass Sie dort tun können, was Ihnen gut tut, Ihnen Spaß macht und wichtig für Sie ist. Es kann ein Möbelstück sein, das Sie schon lange begleitet, von dem Sie sich nicht trennen wollen. Es kann Ihr Bett sein, weil Sie am liebsten träumen. Es ist ein Stück von Ihnen. Es ist ein Ort, an dem es Spuren von Ihnen gibt, Spuren davon, wie Sie sind, was Sie fühlen, wie Sie denken. Es sind Spuren, mit denen Sie anderen etwas von sich mitteilen können, etwas, das Ihnen viel bedeutet. Für die Frauen, die mitmachen wollen, werde ich Digitalkameras ausleihen. Da ich immer nur zwei bis drei Kameras an der PH Freiburg ausleihen kann, müssen wir die Kameras weiterreichen: von einer Frau zur anderen. Ich kann die Kameras auch immer nur für ein paar Tage ausleihen und muss sie dann zurückbringen und wieder neu ausleihen. Wie die Kameras funktionieren, kann ich erklären. Wenn Sie den für Sie persönlich bedeutsamen Ort fotografiert haben, können Sie die Kamera an eine andere Frau weiterreichen, von der Sie wissen, dass Sie auch fotografieren möchte. Oder Sie können mir die Kamera zurückgeben. Wir verabreden uns dann, und ich komme hierher.
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Pädagogisches Setting Das Bild, das Sie gemacht haben, müssen Sie nicht ausdrucken. Ich werde es von der Kamera auf meinen Computer laden. Das Foto wird dann in meiner Arbeit gezeigt: mit oder ohne Namen, so wie Sie es haben möchten. Natürlich drucke ich das Bild auch für Sie aus. Wenn Sie nichts dagegen haben, kann Ihr Foto auch Teil einer Ausstellung werden. C. S. [Name der fest angestellten Pädagogin] findet es spannend, die Bilder auszustellen, denn mit den Bildern können Sie Freiburgern - oder auch Menschen in anderen Städten - etwas über Ihre individuelle Persönlichkeit mitteilen. Sie können sich ein Stück von dem fremdbestimmten Bild lösen, das in der Öffentlichkeit über Frauen in der Migration vorherrscht. Sie können sich selbst ausdrücken und müssen nicht nur annehmen, wie andere meinen, dass Sie sind. Sobald ich einige Bilder zusammen habe, möchte ich mich mit Ihnen noch einmal treffen und über Ihr Bild sprechen. Ich werde die Bilder für meine Arbeit interpretieren, aber ich möchte nichts hineindichten, sondern von Ihnen wissen, was Sie fotografiert haben und warum. Das, was Sie zu Ihrem Bild sagen, werde ich auf Tonband aufnehmen, um es genauso in meiner Arbeit wiedergeben zu können, wie Sie es gesagt haben. Wenn die Arbeit fertig ist, können Sie sie selbstverständlich auch lesen. Falls Sie Frauen kennen, die nicht hier sind, aber auch gerne ein Foto machen würden, können Sie sich auf jeden Fall bei mir melden, denn ich suche zehn bis zwanzig Frauen, die mitmachen. Ich freue mich über jede Frau, die dabei ist!
Die Frauen, die sich aus dem Verein an dem Fotoprojekt beteiligt haben, kommen bis auf zwei aus dem gleichen Sprachkurs. Der weitere Projektverlauf wird deshalb im Wesentlichen anhand ebendieses Kurses beschrieben. Die Leiterin des Kurses ist die fest angestellte Pädagogin, der das Projekt in einem persönlichen und ausgiebigen Gespräch vorgestellt wurde; wahrscheinlich lässt sich u.a. damit auch begründen, warum das Projekt die Teilnehmerinnen dieses Kurs
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mehr angesprochen hat als die Teilnehmerinnen der anderen Kurse14. Hinzukommt, dass der Kurs mehrheitlich von Frauen besucht wurde, die bereits mehr als zwei Jahre eng mit dem Verein verbunden waren und neben Sprachkursen auch an diversen anderen Projekten, wie dem Nähtreff oder dem Schwimmkurs, Teenachmittagen und Ausflügen teilgenommen hatten. Sie hatten also ein ausgeprägtes Vertrauen in die Angebote des Vereins. Als das Projekt im Rahmen des Sprachkurses zum ersten Mal vorgestellt wurde, waren zehn Frauen da. Zu diesem Termin wurden zwei Kameras mitgebracht und den Frauen angeboten, ihnen diese zu zeigen und zu erklären. Dabei stellte sich heraus, dass Leihkameras für das Projekt gar nicht gebraucht werden würden, da die Frauen selbst Kameras besitzen. Es wurde das Fach Medienpädagogik erklärt und darüber auch, wie Medien Bilder und Informationen über Migrantinnen vermitteln. Die Bedeutung des eigenen Ausdrucks wurde angesprochen und die Notwendigkeit sich selbst ausdrücken zu können, um mit anderen in Kontakt treten und kommunizieren zu können. Die Frauen wurden dazu eingeladen, sich in Fotos selbst darzustellen. Dafür wurde die Idee der persönlich bedeutsamen Orte in Anlehnung an Habermas konkretisiert. Der abstrakte Begriff lässt sich erfassen, indem typische Merkmale von persönlichen Orten betrachtet werden. So strahlen persönliche Orte Vertrautheit aus, sie bieten Sicherheit und Entspannung; Menschen fühlen sich an ihren persönlichen Orten wohl (vgl. Habermas 1999, S. 117ff). Die Kursleiterin hat die Vorstellung des Fotoauftrags begleitet und ist mit eigenen Anmerkungen eingesprungen, sobald sie das Gefühl hatte, für die Frauen sei das 14
Die anderen, ehrenamtlich tätigen Kursleiterinnen erfuhren auf einer Teamsitzung von dem Projekt, wobei die fest angestellte Pädagogin bei der Vermittlung der Idee im Team offenbar Schwierigkeiten hatte. Eine Kursleiterin meinte nach der Projektvorstellung im Team, dass ein persönlicher Gegenstand fotografiert werden solle, so dass bei der Projektvorstellung im Sprachkurs nicht nur den Teilnehmerinnen, sondern auch ihr der Fotoauftrag erklärt werden musste. Das führte u.a. dazu, dass sie während der Projektvorstellung kritisierte, dass die Idee einen persönlich bedeutsamen Ort zu fotografieren sehr eurozentristisch sei, da viele Frauen einen solchen Raum gar nicht hätten und nicht „für sich“ sein könnten, sondern in erster Linie für ihre Familie da sein müssten. Ein Einwand, der zum einen die Vorstellung andeutet, die die Kursleiterin vom Leben der Frauen hat, die sie unterrichtet, zum anderen aber auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Projekt vermittelt, das sich eventuell auf die Frauen übertragen hat. An dem Fotoprojekt hat sich auch nach weiteren Besuchen keine Teilnehmerin dieses Kurses beteiligen wollen.
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Pädagogisches Setting
Projekt nicht zu verstehen und müsste weiter veranschaulicht werden. Entsprechend warf sie ein, dass eine der Kursteilnehmerinnen sicher ihren Garten fotografieren werde, von dem sie immer wieder erzähle. Die Kursleiterin verriet auch, dass ihre Hängematte und ihr Balkon die für sie persönlich bedeutsamen Orte seien. Daraufhin schlug eine Kursteilnehmerin vor, das Freiburger Augustinum zu fotografieren. Um Missverständnissen vorzubeugen und zu verhindern, dass nur nach einem schönen Ort bzw. einem Ort der Entspannung gesucht wird, wurde ergänzt, dass es auch ein Ort sein kann, an dem etwas gerne gemacht wird. Fotografiert werden könne auch ein Stück Raum oder eine Wand, an der etwas hinge, was einem viel bedeute, wichtige Bilder zum Beispiel oder eine Sammlung. Genauso könne es ein Möbelstück sein. Diese Aufzählung läuft Gefahr, die Motivwahl der Frauen stark zu beeinflussen. Die Nennung konkreter Beispiele erschien jedoch aufgrund der bestehenden Sprachdifferenzen notwendig. Nach der ersten Vorstellungsrunde sagte nur eine Kursteilnehmerin spontan zu, dass sie ein Bild machen werde. Um den Einstieg in das Projekt zu erleichtern, wurde der Sprachkurs nach zwei Tagen wieder besucht. Für diesen Termin wurden auf einer Postkarte die Umschreibungen und Ausdrücke gesammelt, die in der ersten Vorstellungsrunde zu dem Begriff persönlich bedeutsamer Ort genannt worden waren: Ein Stück von mir, so lebe ich hier, das bin ich, mein Möbelstück, meine Arbeit, mein Garten, hier mache ich, was mir gefällt, hier bist du bei mir, meine Träume, ohne diesen Ort will ich hier nicht sein, mein Ort, meine Werke, hier habe ich mich eingerichtet, meine Bilder, meine Bücher, meine Sammlung, mein Zimmer, hier fühle ich mich wohl, hier bin ich bei mir15.
15
Die gesammelten Begriffe waren in verschiedenen Farben und Schrifttypen auf der Vorderseite der Karte abgedruckt. Auf der Rückseite standen Kontaktadressen, Telefonnummern und Mailadressen, falls Fragen zum Projekt aufkommen sollten, aber auch damit Fotos direkt eingesendet werden konnten. Die Karten wurden an andere Vereine und Frauen weitergereicht, so dass eine Projektteilnahme auch ohne Umwege möglich gewesen wäre. Rückmeldungen auf Karten, die außerhalb des Vereins kursierten, gab es jedoch keine.
Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit
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Die Karte wurde vervielfältigt und an die Kursteilnehmerinnen verteilt. Mit Hilfe der Karte wurden weitere Begriffe gesammelt, um die Lust und das Interesse der Frauen am Fotografieren zu wecken. In der Teepause meldete sich eine weitere Frau, die fotografieren wollte. In einem persönlichen Gespräch mit ihr stellte sich heraus, dass sie Hemmungen hat, etwas Persönliches zu fotografieren und anderen zugänglich zu machen. Von der Idee dann doch überzeugt habe sie die Vorstellung, dass das Bild dazu beitragen könnte, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Sie habe aber Respekt vor ihrer Kamera, die sie noch nie ausprobiert habe. Sie erzählte, dass ihr Neffe ihr die Kamera im Januar zum Geburtstag geschenkt habe. Inzwischen sei April, und die Kamera sei nicht einmal ausgepackt. Sie sei aber gespannt auf die Kamera und werde in der kommenden Woche ein Bild mitbringen. Die anderen Frauen sammelten im Plenum weiter nach Ideen für persönlich bedeutsame Orte. Sie nannten Parks, die Dreisam, wieder das Augustinum, ihre Gärten, aber auch ihre Wohnungen, und eine Frau kam auf die Idee, im Kindergarten ihres Sohnes zu fotografieren. Auf Nachfrage erklärte sie, dass der Ort nicht nur für ihr Kind, sondern genauso für sie der wichtigste sei. Eine andere Frau wollte ihre Haustür fotografieren, die für sie den Kontakt bzw. die Begegnung mit anderen Menschen symbolisiere. So lösten sich die Frauen immer mehr von den Vorgaben, die bei der Projektvorstellung und mit den auf der Karte gesammelten Begriffen gemacht worden waren. In der folgenden Woche brachte die Frau, die sich als Zweite gemeldet hatte, das erste Bild mit, was dazu führte, dass weitere Frauen Bilder zusagten. Die Fotografin brachte ihr Bild auf der Digitalkamera mit. In einem persönlichen Gespräch am gleichen Nachmittag erzählte und erklärte sie ihr Bild. Diese Erklärungen sollten nicht auf Tonband aufgezeichnet werden, es störte sie aber nicht, dass das, was sie erzählte, auf dem Laptop mitnotiert wurde. Erst wollte sie gar nicht sprechen. Und auf gar keinen Fall wollte sie sich für einen späteren Termin verabreden, um über das Bild zu sprechen. Aber als einzelne Gegenstände auf ihrem Bild direkt angesprochen wurden, fing sie an zu erzählen. Ob-
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Pädagogisches Setting
wohl sie zwischendurch nach Vokabeln suchte, um alles ausdrücken zu können, was ihr zu ihrem Bild einfiel, kam sie in einen erstaunlichen Sprachfluss. Eine Woche später kamen drei Bilder dazu. Dann riss der Faden ab. Um die Motivation zu steigern, wurden den Frauen bei weiteren Besuchen die bereits existierenden Bilder auf dem Laptop gezeigt. Acht Wochen nach Beginn des Projektes merkten die Kursleiterinnen aller drei Kurse an, dass die Unterrichtszeit, die ihnen zur Verfügung stehe, sehr knapp bemessen sei und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fotoprojekt so nicht fortgeführt werden könnte. Überlegungen Extratermine für das Projekt anzubieten, wurden abgelehnt. Die Idee, die Frauen beim Fotografieren zu begleiten und zu unterstützten, wurde nicht umgesetzt, da die Suche nach dem persönlich bedeutsamen Ort nicht gestört bzw. nicht zu stark beeinflusst werden sollte. Schließlich wurde ein letztes Mal einer der beiden Sprachkurse besucht, aus denen sich bisher keine Frau gemeldet hatte. Doch die Leiterin des Kurses meinte gleich, die Frauen würden sich wahrscheinlich nicht mehr dazu überwinden können, an dem Projekt teilzunehmen. Sie könnten es einfach nicht verstehen. Begriffe, die zur Erläuterung des Projekts notwendig seien, wie persönlich oder auch bedeutsam, seien einfach zu abstrakt. Es sei schwierig, die Begriffe im Sprachunterricht zu vermitteln. Sie könne die Begriffe nicht umschreiben, weil die Frauen in ihrem Kurs erst begonnen hätten, Deutsch zu lernen. Es gäbe keine konkreten Gegenstände, die sie den Begriffen zuordnen könne, um sie zu veranschaulichen. Die Frauen aus ihrem Kurs hätten auch wenig Kontakte außerhalb der eigenen Familie, selbst wenn sie schon viele Jahre in Deutschland lebten. Zwei fünfzigjährige, afghanische Frauen hätten den Sprachkurs erst begonnen, nachdem ihre Kinder zu Hause ausgezogen waren. Eine der beiden habe inzwischen zwar soviel Vertrauen, dass sie im Unterricht ihr Kopftuch absetze. Aber es werde sicher noch lange dauern, bis sie an irgendwelchen Projekten teilnehme. Im folgenden Monat fanden zwei Gespräche zu Bildern statt, die jeweils eine Stunde dauerten. Die Gespräche konnten leider nur mitgeschrieben werden, da keine der Frauen auf Tonband aufgenommen werden wollte. Die beiden
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Fotografinnen lernten in ihrem Sprachkurs gerade, auf Deutsch nach der Uhrzeit zu fragen und Sätze zu bilden, die beschreiben, was sie gerne essen oder im Urlaub erlebt haben. Die einstündigen Gespräche zu ihren Bildern waren im Vergleich zu diesen Unterrichtsinhalten erstaunlich komplex und scheinen zu bestätigen, dass Bilder eine besondere „narrative Kraft“ haben (vgl. Fuhs 2006, S. 216). Guschker erklärt diese narrative Kraft u.a. damit, dass Bilder einen ausgewählten Ausschnitt der Realität zeigen, auf den sich die BetrachterInnen in Ruhe konzentrieren können (vgl. 2002, S. 28). Auch Fotointerviews, die in den sechziger Jahren gemacht wurden, zeigen, dass durch Fotos sprachliche Grenzen überwunden werden, sich der Wunsch zu erzählen erhöht und InterviewpartnerInnen Stress abbauen. „Bei den Befragten wird die Motivation und das Aktivitätspotential beim Interview erhöht, womit sich reichhaltigere/detailliertere Informationen als bei herkömmlichen verbalen Interviews erzielen lassen“ (Guschker 2002, S. 48). Nachdem sich aus den Sprachkursen keine Frau mehr motivieren ließ zu fotografieren, wurden über DozentInnen und KommilitonInnen der Pädagogischen Hochschule Freiburg und über das Deutsch-Türkische Forum in Stuttgart weitere Kontakte zu Migrantinnen geknüpft. Zehn Frauen erklärten am Telefon, sie hätten Interesse an dem Projekt. Trotz wiederholter Kontaktaufnahme per Mail und Telefon kamen dann aber nur drei weitere Bilder dazu: von einer Schneiderin aus Schwäbisch Hall, einer Freiburger Schulsekretärin und einer Freiburger Theaterwissenschaftlerin. Der geringe Rücklauf lässt sich sicher damit erklären, dass zu den Frauen nur Mail- und Telefonkontakte bestanden, die nicht ausreichten, um eine Vertrauensbasis zu schaffen, die in Anbetracht des Fotoauftrags unabdingbar scheint. Schließlich werden die Frauen aufgefordert, sich selbst zu offenbaren, indem sie ihren persönlich bedeutsamen Ort präsentieren. Dieser persönlich bedeutsame Ort befindet sich nicht nur auf der Vorderbühne, sondern auch auf der Hinterbühne. Während sich eine Person auf der Vorderbühne vor einem Publikum darstellt, kann die Hinterbühne
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Pädagogisches Setting definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewusst und selbstverständlich widerlegt wird. […] Hier können Kostüme und andere Bestandteile der persönlichen Fassade auf Fehler überprüft und korrigiert werden. Hier kann das Ensemble, wenn keine Zuschauer da sind, seine Vorstellung proben und sie auf Anstoß erregende Ausdrücke hin kontrollieren. […] Hier kann sich der Darsteller entspannen; er kann die Maske fallen lassen, vom Textbuch abweichen und aus der Rolle fallen (Goffman 1985, S. 104f.).
Die Kontrolle über die Hinterbühne zu behalten, ist von besonderer Bedeutung, denn „durch die Hinterbühne versucht man sich gegen die deterministischen Ansprüche abzupuffern, von denen man umgeben ist“ (Goffman 1985, S. 106). Von den vier Bildern, die über Mail und Telefon akquiriert wurden, sind zwei aussortiert worden, genauso wie zwei Bilder, die von Frauen gemacht wurden, die einen Sprachkurs belegten. Die Bilder entsprechen nicht dem Fotoauftrag. Die Frauen haben keine Bilder von für sie persönlich bedeutsamen Orten gemacht, sondern haben sich fotografieren lassen. Dieses Missverständnis ist wahrscheinlich wie der geringe Rücklauf darauf zurückzuführen, dass die Frauen nur über Telefon und Mail bzw. zufällig von dem Projekt erfahren haben. Auch den beiden Frauen, die einen Sprachkurs belegten und sich fotografieren lassen haben, fehlten wichtige Informationen und Details zum Fotoauftrag, denn sie kamen nicht aus dem Sprachkurs, in dem das Projekt ausgiebig erklärt wurde. Sie wurden bei einer zufälligen Begegnung von der fest angestellten Pädagogin eingeladen, an dem Projekt teilzunehmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Alltagsfotografie für gewöhnlich die eigene Person abgebildet wird, wenn es darum geht, sich selbst darzustellen: Dabei ist die elementarste Bedeutungsweise der Fotografie die Vergewisserung der eigenen Existenz durch den Anblick des fotografierten Körpers. Mit dem Medium des Körpers stellen wir unsere Geschichte dar und wirken so einer Selbstentfremdung entgegen. Andererseits sind damit die Grundlagen für Selbstdarstellung, Selbstidealisierung und Selbstveredelung gegeben (Guschker 2002, S. 362).
Das Fotoprojekt im Kontext interkultureller Arbeit
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Die vier Bilder, auf denen Personen zu sehen sind, werden hier gezeigt, aber in den Bildanalysen ausgeklammert:
Abbildung 1:
Bilder, die Personen zeigen und deshalb aussortiert wurden
5 Exemplarische Bildanalyse
5.1 Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse Da nach Abzug der vier Bilder, auf denen Personen zu sehen sind, insgesamt nur sieben Bilder für eine Bildanalyse zur Verfügung stehen, soll anhand einer Fallstudie, „ein möglichst ganzheitliches, tief gehendes Bild des einzelnen Produktes“ (Luca 2001, S. 127) entstehen. Welches Bild analysiert wird, soll mit der von Niesyto beschriebenen Methode des Erstverstehens (vgl. 2006) entschieden werden. Die Methode versucht über freie Assoziationen zu allen vorliegenden Bildern, das Bild zu erfassen, das sich durch eine besondere Erzähldichte auszeichnet bzw. eine besondere Aussagekraft für das Erkenntnisinteresse der Arbeit hat. Im Erstverstehen werden zudem eigene Sehgewohnheiten deutlich, „die sich bewusst zu machen für eine Entfaltung eines distanzierten Blicks im weiteren Verlauf des Bildverstehens nützlich sein kann“ (Niesyto 2006, S. 274). Die spontane Bilderbetrachtung, der Bildervergleich und damit einhergehende Assoziationen und Diskussionen werden schriftlich erfasst, so dass der Prozess der Bildauswahl intersubjektiv zugänglich ist. Für die Methode des Erstverstehens gibt es keine festgelegten Analyseschritte bzw. Analyseebenen. Sowohl Formen, Farben, Personen und Gegenstände, die auf den Bildern erfasst werden, aber auch Bedeutungen sowie die Bildatmosphäre oder Bildthematik, die bei der ganz subjektiv und intuitiv gemeinten Bildbetrachtung aufkommen, werden so festgehalten, wie sie wahrgenommen werden. Der/die BetrachterIn soll „das Foto auf sich wirken lassen; streunende Wahrnehmung zulassen; Empfindungen, Eindrücke, Stichworte und Fragen niederschreiben“ (Niesyto 2006, S. 281).
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Exemplarische Bildanalyse
Alle Wahrnehmungen sind zugelassen, egal welche Ebene sie betreffen. Auch wenn in der auf die Bildauswahl folgenden Einzelbildanalyse nicht mehr auf die Appellebene und nur eingeschränkt auf die Beziehungsebene eingegangen wird, da der Fotoauftrag den Blick auf die Selbstoffenbarungsbotschaften richtet. Der Fotoauftrag schließt Personen als Fotomotive aus, so dass sich auf der Beziehungsebene weder die Frage nach der Beziehung der Fotografin zu den von ihr abgebildeten Personen, noch die Frage nach der Beziehung, die abgebildete Personen zueinander bzw. zu abgebildeten Objekten haben, stellt. Die Beziehungsebene einer Bildnachricht ist aber in Bezug auf die Frage, wie der Betrachter bzw. die Betrachterin einzelne Botschaften einer Bildnachricht wahrnimmt und auf sich bezieht, in der Anwendung der Methode des Erstverstehens von entscheidender Bedeutung. Die subjektive Wahrnehmung eines Bildes ist durch persönliche Erinnerungen, Gefühle, Deutungsmuster und Empfangsgewohnheiten geprägt. Sie bestimmen, welche und wie Bildbotschaften wahrgenommen werden und verraten, welches Ohr besonders aufmerksam ist: das Sach-, Selbstoffenbarungs-, Beziehungs- oder Appell-Ohr. Erinnerungen, Gefühle, Erfahrungen und ästhetische Urteile des Betrachters bzw. der Betachterin werden von Holzbrecher und Tell in der Einzelbildanalyse auf der Beziehungsebene erfasst, um schnelle Alltagsdeutungen zu entlarven und „das Subjekt in seiner Eigen-Logik anzuerkennen, bevor man bewertet“ (2006, S. 112). In der vorliegenden Arbeit entlarvt bereits die Methode des Erstverstehens vorschnelle Alltagsdeutungen, indem sie sie ohne Einschränkung zulässt. Die anschließende Einzelbildanalyse steuert das Betrachten des Bildes durch festgeschriebene, aufeinander folgende Analyseschritte, die keine intuitiven und vorschnellen Bedeutungszuschreibungen mehr zulassen. Die Einzelbildanalyse ist der Einstieg in die Metakommunikation: Auf der Selbstoffenbarungsebene werden schrittweise - über die genaue Betrachtung einzelner Bilddetails und -motive, ihrer Ikonologie und Gestaltung - intersubjektiv nachvollziehbare Lesarten des Bildes zusammengetragen, um den Dialog mit der Fotografin vorzubereiten, der mit dem Fotointerview beginnt. Das Fotointerview
Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse
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ist keinesfalls als Korrektiv der Einzelbildanalyse zu verstehen, sondern als weitere Annäherung an den intendierten Selbstausdruck der Fotografin.
5.1.1 Erstverstehen
Abbildung 2:
Die Bilder Garten 1 und Garten 2
Zunächst einmal fällt auf, dass es zwei Außenaufnahmen gibt: Garten 1 und Garten 2. Ein Raum zwischen außen und innen ist auf dem Bild Balkon festgehalten.
Abbildung 3:
Bild Balkon
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Exemplarische Bildanalyse
Die anderen Bilder zeigen Innenräume. Die Bilder von den Innenräumen sind besonders reizvoll, weil auf ihnen viele, einzelne Gegenstände zu sehen sind - mit Ausnahme des Bildes Gemälde, das nur einen Gegenstand zeigt: ein goldgerahmtes Acryl- oder Ölbild. Spannend wäre hier zu wissen, was auf dem Bild nicht zu sehen ist, nämlich wo das Gemälde hängt.
Abbildung 4:
Bild Gemälde
Ohne die Fotografin lässt sich diese Frage nicht beantworten. Zu der Stimmung des Fotos lässt sich wenig sagen. Eigentlich lässt sich nur eine Stimmung im Gemälde erfassen. Dieses Bild kommt daher nicht in die engere Wahl für eine Einzelbildanalyse. Die Stimmung bzw. Atmosphäre der drei Innenraumbilder Schneiderei, Arbeitszimmer und Wohnzimmer scheint nicht von der Gestaltung der Bilder bestimmt zu werden, sondern vielmehr von den Gegenständen, die auf den Bildern zu sehen sind.
Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse
Abbildung 5:
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Bilder Schneiderei, Arbeitszimmer und Wohnzimmer
Welche Gegenstände auf den Bildern zu sehen sind, haben die Fotografinnen mit den Ausschnitten bestimmt, die sie für ihre Bilder gewählt haben. Auf den Bildern sind also bestimmte Gegenstände zu sehen, weil die Frauen ihr Bild gestaltet haben, insofern haben ihre Bildgestaltungen doch auch mit den Stimmungen ihrer Bilder zu tun. Die Gegenstände scheinen nicht für die Bilder inszeniert oder arrangiert, sondern so abfotografiert, wie sie im Alltag vorzufinden sind. Auf allen drei Bildern sind sowohl Gebrauchsgegenstände als auch Ziergegenstände, Fotos, Geräte und Möbel zu sehen. Während auf den Bildern Schneiderei und Arbeitszimmer mehrere Möbelstücke zu sehen sind, zeigt das
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Exemplarische Bildanalyse
Foto Wohnzimmer nur einen ganz kleinen Ausschnitt von einem Tisch, auf dem ein Fernseher steht. Im Bildschirm des Fernsehers scheint sich noch ein weiterer Tisch zu spiegeln, der in der Mitte des Raumes steht und auf dem eine weiße Tischdecke liegt. Die auf diesen Bildern abgebildeten Gegenstände stellen möglicherweise einen Vorteil für die Bildanalyse dar, denn die Materialien, Formen und Farben dieser Gegenstände deuten nicht nur auf Geschmäcker, Vorlieben und Gewohnheiten ihrer Besitzerinnen hin, sondern geben auch zeitliche, soziale und kulturelle Hinweise. Die beiden Bilder Garten 1 und Garten 2 lassen sich nicht ohne weiteres einer Zeit, Kultur oder Gesellschaft zuordnen, wobei Garten 1 natürlich Pflanzen zeigt, deren Anpflanzung auch einer Mode entsprechen und etwas über den Geschmack der Fotografin aussagen könnte, und die Art, wie die Betonplatten verlegt oder die Beete angelegt sind, lassen sich vielleicht als Raumgestaltung deuten, die auf ein Milieu oder eine Zeit hindeutet. Das Bild Garten 2 scheint zunächst völlig unzugänglich. Die Aufnahme ist im April gemacht worden. Unten rechts auf dem Bild ist sogar das Datum zu lesen: 19.4.2008. Aber sonst sind nur drei Gehwegplatten, etwas Gras und ein vorbereiteter Boden zu sehen. Vielleicht ist schon etwas ausgesät? Was wird im Frühjahr ausgesät? Ist es ein Nutzgarten? Auf den ersten Blick wirkt das Bild eher trostlos. Aber verbunden mit dem Gedanken an eine Aussaat hat es etwas sehr Versprechendes, Hoffnungsvolles, was auch durch die frisch geharkte Erde mitgetragen wird und dazu verführt, das Bild näher zu betrachten. Dabei fällt wiederum auf, dass der ganze Boden mit kleinen Keimlingen übersät ist, und sich hinter den Grasplatten im Bild nicht nur kleine Grasbüschel befinden, sondern noch weitere, andere, junge Pflanzen. Aber die Pflanzen sind so jung, so unberührt, so schwer zu fassen. Was sagt das Motiv über die Fotografin? Was sagt die Fotografin mit ihrem Motiv? Dass sie etwas ausgesät hat, dass etwas wächst? Dass auch da etwas zu holen ist, wo auf den ersten Blick nichts zu sein scheint? Beide Bilder – Garten 1 und Garten 2 – scheinen für eine Einzelbildanalyse ungeeignet, da sich eine Aneignung und Individualisierung der Pflanzenwelt schwer erfassen lässt.
Auswahl eines Bildes für die exemplarische Analyse
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Das Bild Balkon zeigt dagegen wieder Gebrauchsgegenstände, an denen auch Gebrauchsspuren der Besitzerin zu erkennen sind: So ist ein Stuhl zu sehen, der keine rein dekorativen Zwecke hat, sondern auf dem schon oft gesessen wurde. Darauf weist zum einen die Sitzfläche hin, die offensichtlich schon einmal neu bezogen werden musste, denn das Muster ihres Polsters hebt sich von dem restlichen Polster des Stuhls ab, und zum anderen die an der vorderen Stuhlkante abgenutzte Polsterung. Der Stuhl steht vor einem Fenster mit einer weißen, Blumen bestickten, zugezogenen Gardine. Neben dem Stuhl steht ein Tisch mit Pflanzen. Auf dem Tisch liegt eine sehr bunte Tischdecke, vielleicht aus Plastik, vielleicht ein Wachstuch. Neben gelben und grünen Vierecken sind verschiedene Früchte wie Erdbeeren, Melonen, Weintrauben, Zitronen und Kirschen auf der Decke abgebildet. Auf der Wachsdecke liegt eine weiße Stofftischdecke, und darüber liegen mehrere Plastiktüten, die wahrscheinlich die weiße Stofftischdecke schützen sollen. Durch die Plastiktüten wirkt der Ort wie ein Arbeitsplatz. Das Muster der weißen Gardine, das Muster des Stuhlpolsters und der Tischdecken sowie die Plastiktüten, die sie schonen sollen, passen zu einem älteren Menschen, einem sparsamen, älteren Menschen. Das Bild scheint also aus sich heraus die Kraft zu haben, Teilidentitäten der Fotografin anzudeuten. Es könnte als Selbstausdruck funktionieren. In Bezug auf die in dieser Arbeit gestellte Frage, ob Identitätsbildungen bzw. Identitätsübergänge sichtbar werden können, ist das Bild jedoch ein sehr schwieriges, da es – zumindest auf den ersten Blick – keine deutlichen Hinweise auf eine bestimmte Herkunftskultur gibt. Auch das Bild Arbeitszimmer ist diesbezüglich schwer zu entziffern. Das Bild Schneiderei scheint in diesem Zusammenhang aussagekräftiger: So hängen an der Wand oben rechts im Bild Fotos und Postkarten, die Küstenlandschaften zeigen, die dem Mittelmeerraum zugeordnet werden können, und auf dem Bild mit den zwei Fußballern, das unter der Preisliste hängt, sind zwei türkische Flaggen zu erkennen. Trotzdem soll die Aufnahme Wohnzimmer allen anderen für die Einzelbildanalyse vorgezogen werden, da sie auf der Symbolebene am zugänglichsten
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Exemplarische Bildanalyse
wirkt. Es wird eine besondere Stimmung mit dem Bild vermittelt. Eine Annäherung an Bildbotschaften scheint auch ohne die Selbstdeutung der Fotografin möglich, sowohl auf der Sachebene als auch auf der Selbstoffenbarungsebene. Die Stimmung des Bildes weist darauf hin, dass die Fotografin etwas sehr Intimes mitteilt. Die Objekte fügen sich zu einer Art Gedenkstätte, wirken fast wie ein Altar. Hier wurde etwas bewusst – sicher nicht fürs Bild, aber im Sinne einer Selbstdarstellung – gestaltet und dekoriert. Das Motiv hat die Ausstrahlung eines besonderen Ortes, eines persönlich bedeutsamen Ortes. Der Ort wirkt sakral, und doch wird er nicht nur zu besonderen Anlässen genutzt oder in besonderer Art und Weise, denn es sind ganz alltägliche Gebrauchsgegenstände zu sehen, wie ein Wecker und ein Fernseher, der zwar als Fundament des Altars fungiert, aber dadurch nicht in seiner eigentlichen Funktion unbrauchbar wird. Das Bild von dem Engel lässt sich nicht nur als Ausdruck einer Religionsidentität deuten. Die Fotografin könnte damit auch ausdrücken, dass sie einfach nur ihre Herkunft erinnert. Gleichzeitig unterstützt es auf besondere Weise den Eindruck, das ganze Bild zeige eine Art Altar. Werden hier Erinnerungen gepflegt? Oder verarbeitet? Das silbergerahmte Porträt des Jungen deutet auf eine Vergangenheit hin; auf die Zeit, aus der das Bild stammt. Die Uhr, die Blumen und die frische Kerze deuten die Gegenwart an. Von der Fotografin dieses Bildes ist bekannt, dass sie seit elf Jahren in Deutschland lebt und aus Bosnien kommt. Mit ihrem Mann, der Journalist war, hatte sie einen Sohn. Die Familie der Fotografin ist im Krieg gestorben. Sie lebt jetzt alleine und arbeitet halbtags als Putzfrau in einer Klinik. Diese Kontextinformationen stammen aus dem Fotointerview, das mit der Fotografin zu ihrem Bild vor der Bildanalyse stattgefunden hat. Das Interview war nicht standardisiert. Es gab keine festgelegten Leitfragen, vielmehr sollte die Fotografin im Interview als Expertin ihres eigenen Bildes bzw. Selbstausdrucks zum Erzählen über ihr Bild motiviert werden. Das Interview fand vor der Bildanalyse statt, weil die Fotografin nur zu einem Gespräch bereit war, als sie das Bild zum ersten Mal zeigte. Auch wenn weiteres Kontextwissen, das sich aus dem Gespräch mit der Fotografin ergeben hat, existiert, soll es in der nun folgenden Einzelbild-
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analyse zunächst ausgeklammert werden: Es ist notwendig, die Mehrperspektivität der Fotografie zu berücksichtigen, um einen Dialog führen zu können, in dem nicht nur der Selbstausdruck der Fotografin, sondern auch mögliche Lesarten dieses Selbstausdrucks reflektiert werden.
5.2 Bildanalyse 5.2.1 Einführung in die Methode Die Einzelbildanalyse erfasst mögliche Lesarten bzw. Rezeptionen der Fotografie und bereitet damit den von Holzbrecher & Tell geforderten selbstreflexiven Dialog vor, der unreflektierte Alltagsdeutungen in der pädagogischen Interaktion überwinden kann. Um auf der Metaebene zu kommunizieren und dabei herauszufinden, wie Nachrichten gesendet, empfangen und dekodiert werden, ist es notwendig, aus der Distanz auf die Kommunikation zu blicken. Nur so können eingefahrene Kommunikationsmuster vermieden werden (vgl. Schulz von Thun 2003, S. 91). Ein distanzierter Blick wird in der Einzelbildanalyse mit Hilfe festgelegter Analyseschritte erreicht, die eine detaillierte und systematische Betrachtung einzelner Bildbotschaften ermöglichen. Die Analyse beginnt mit einer rein deskriptiven Beschreibung des Bildes. Auf der Sachebene wird auch die Gestaltung des Bildes erfasst, während auf der Selbstoffenbarungsebene zunächst der bewussten Selbstdarstellung im Bild nachgegangen wird – so weit sie mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr erfassbar ist und dann der Selbstenthüllung, womit das Aufspüren verborgener Bedeutungen gemeint ist, die sozial, kulturell oder historisch geprägt sind und auf den Habitus der Fotografin hinweisen. Auf der Beziehungsebene ist von den drei Perspektiven, also der Beziehung der Fotografin zu den von ihr abgebildeten Personen, der Beziehung der abgebildeten Personen untereinander bzw. der Beziehung der abgebildeten Personen zu abgebildeten Objekten und der Beziehung zwischen Betrachterin und Bild, für diese Arbeit nur die Beziehung zwischen Betrachterin
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Exemplarische Bildanalyse
und Bild relevant. Diese Beziehung wurde in Abschnitt 5.1.1 mit der Methode des Erstverstehens reflektiert. Das Bild wurde spontan betrachtet und damit intuitive Bedeutungszuschreibungen bzw. der subjektive Blick der Betrachterin aufgedeckt und nachvollziehbar. Die Appellebene wird nicht weiter aufgegriffen, da der Fotoauftrag den Ausdruck möglicher Appellbotschaften in den Hintergrund rückt und sich entsprechend dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf die Selbstoffenbarungsbotschaften konzentriert.
5.2.2
Sachebene
5.2.2.1 Beschreibung bildlicher Details
Abbildung 6:
Ausgewähltes Bild Wohnzimmer
Auf dem Foto Wohnzimmer ist eine weiße, offensichtlich mit Raufaser tapezierte Raumecke zu sehen, in der ein Fernseher mit einem schwarzen, glatten Kunst-
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stoffgehäuse steht, an dessen unteren Rand sich links ein schwarzer Einschaltknopf, daneben Kabelbuchsen und Regler befinden sowie in silbernen, leicht schräg gestellten Großbuchstaben Daewoo steht. Der Bildschirm ist schwarz. In dem schwarzen Bildschirm spiegeln sich im Raum befindliche Gegenstände, von denen eine weiße Tischdecke zu erkennen ist, deren Kanten nicht parallel zu den Kanten des Tisches verlaufen, auf dem sie liegen, sondern deren Ecken über die Tischseiten hängen. Auf der Tischdecke liegen Gegenstände, zwei davon wirken gelb, einer rot. Aus diesen Gegenständen ragt eine unklare Form, wie zerknülltes Papier aus Silber. Der Fernseher nimmt etwa ein Fünftel des Bildes ein. Der Fernseher steht auf einem Tisch, von dem am unteren Rand des Bildes kleine Flächen freigelegt sind, so dass die hellbraune, holzfarbene, wohl durchsichtig lackierte Oberfläche des Tisches zu sehen ist. Auf dem Tisch steht links vom Fernseher ein vom linken Bildrand schräg angeschnittenes, schwarzes Gerät, auf dem eine ausgezogene, silberne Antenne liegt. Schräg vor dem Gerät, fast parallel zur unteren Bildkante, steht ein analoger Wecker mit schwarzem Plastikgehäuse und einem weißen Ziffernblatt, schwarzen Ziffern und Punkten, die die Ziffern einkreisen. Die zwei Zeiger sind an den Spitzen grün phosphoreszierend. Auf der Uhr ist es dreizehn Minuten vor eins: Der dünne, schwarze Sekundenzeiger steht kurz hinter der Vier, und ein kurzer, roter Zeiger zeigt auf die Fünf. Unter dem Gerät mit der Antenne und dem Wecker ist ein Stück von einem weißen Häkeldeckchen zu sehen, von dem drei abgerundete Häkelspitzen über den am unteren Bildrand zu sehenden Tischrand hängen. Auch neben dem Wecker, fast mittig vor dem Fernseher, liegt ein weißes Häkeldeckchen im gleichen Stil, nur oval geformt und ohne abgerundete Häkelspitzen. Auf dem parallel zum Fernseher ausgebreiteten Deckchen liegt eine Uhr mit einem goldeingefassten, schwarzen Ziffernblatt und einem ausgestreckten, braunen Armband. Direkt daneben – von der Betrachterin des Bildes aus gesehen hinter der Uhr - liegt eine schwarze Kette mit einem kleinen, runden, goldenen Anhänger und einem goldenen Verschluss. Die Spitze eines dunkelgrünen Zimmerpflanzenblattes ragt rechts davon vom unteren Bildrand in das Bild hinein.
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Exemplarische Bildanalyse
Rechts neben dieser Blattspitze liegt wieder ein Stück von einem weißen Häkeldeckchen, von dem eine abgerundete Spitze zu sehen ist und eine angeschnittene Spitze, deren Rest der runde Fuß eines goldfarbenen Kerzenständers verdeckt. Der Kerzenständer ist über dem goldenen Fuß, der einen ziselierten Rand hat, geformt wie eine Glocke, die in einen Becher mit einem ausladenden Rand übergeht. In dem Becher steckt eine rote Kerze. Die lange, dünne Kerze, die nach oben hin konisch zuläuft, hat einen weißen Docht. Rechts neben der Kerze steht eine blaue Glasvase, die etwa so hoch ist wie die Kerze. Die Vase hat die Form eines lang gestreckten Zylinders, der direkt über dem Fuß bauchig, dann schmaler wird, und dessen Öffnung wieder den Umfang des bauchigen Zylinderabschnitts direkt über dem Fuß hat. Durch das blaue Glas der Vase schimmert die weiße Wand, vor der die Vase steht, und dunkle Schatten deuten die Stile und Blätter der Blumen an, die in der Vase stecken. Das blaue Glas der Vase ist zudem einmal direkt an der rechten Seite über dem Fuß und einmal vom linken oberen Rand ausgehend mit jeweils einem diagonal über das blaue Glas laufenden, weißen Schimmer verziert. In der Vase steckt eine Blume. Weiße Blütenspitzen und drei grüne Blattspitzen ragen aus der Öffnung. Rings um die in der Öffnung der Vase halb versenkte Blüte ragen fünf grüne Stängel mit Blüten nach oben: deutlich zu erkennen sind zwei weiße Margeritenblüten und eine rote Rosenblüte. Eine weitere Margerite wird von der roten Rose etwas verdeckt. Die Rosenblüte überragt alle anderen Blüten. Das unterste Blütenblatt der roten Rose ist etwas angedunkelt, genauso wie die Spitzen der restlichen Blütenblätter. Die Blütenblätter der Margeriten sind dagegen ganz weiß und die Blütenstempel leuchtend gelb. Die Margeriten sind von grünen Blättern umrangt, deren Ränder Schatten an die weiße Wand werfen, vor der sie stehen. Auch die Rose wirft links über der Blüte einen kleinen Schatten an die Wand. Hinter der blauen Vase und der roten Kerze ist ein schwarzes Viereck fast komplett verdeckt. Auf dem Viereck liegt ein Tuch oder ein Stück durchsichtiges Geschenkband mit rosaglänzenden Rändern und kleinen rosa Punkten. Auf der
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rechten Seite vor der Vase steht eine vom rechten Bildrand angeschnittene lilafarbene Zylinderform, die ungefähr die Höhe des goldenen Kerzenständers hat und den Durchmesser der Vase an ihrer weitesten Stelle. Die Oberfläche des lilafarbenen Gegenstandes ist glatt. Der Gegenstand ist in durchsichtiges Cellophan verpackt, das oben mit einem durchsichtig schimmernden Geschenkband zugebunden ist. Am Fuß des lilafarbenen Gegenstandes glitzern hinter dem Cellophan Blüten, die an Perlmutt erinnern. Ein Stück Blattspitze, das direkt aus der rechten unteren Bildecke in das Bild ragt, verdeckt ein kleines Stückchen von dem lilafarbenen Gegenstand, der mitten auf dem weißen Häkeldeckchen steht, auf dem auch die Vase und die Kerze stehen. Fast genau auf der Mitte des Fernsehers liegt wieder ein weißes Häkeldeckchen, von dessen Rand sechs Spitzen zu sehen sind. Zwei von diesen Spitzen hängen ein kleines Stück über den Rand des Fernsehers. Auf dem Häkeldeckchen steht hochkant ein silberner Bilderrahmen, dessen vier Seiten mit jeweils fünf silbernen Strahlen verziert sind. In dem Rahmen steckt ein den Rahmen vollständig ausfüllendes Foto von einem Jungen mit schwarzen, kurzen Haaren. Der Pony hängt über der Stirn des Jungen und ist in der Mitte etwas aufgeschoben. Der Junge wurde vor einem hellblauen Hintergrund fotografiert. Seine Kopfspitze ist am oberen Rand des Bildes ein kleines Stück angeschnitten, den unteren Abschnitt des Fotos füllt ein weißer Pullover oder ein T-Shirt, das er trägt. Der Kopf des Jungen ist ganz leicht nach links geneigt, sein Blick ist direkt auf die Betrachterin gerichtet. Der Junge hat dunkelblaue Augen, schwarze Augenbrauen und eine eher dunkle Haut. Er macht ein ernstes Gesicht. Er könnte zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt sein. Auf dem linken Rand des Fernsehers steht ein türkisfarbenes Objekt. Es ist halb so hoch wie der Bilderrahmen. Der untere Teil des Objektes hat die Form eines Ruderbootes ohne Riemen. Dieser Bootsrumpf ist in Längsrichtung blau und weiß gestreift. Auf dem Rumpf steht eine runde, weiße oder gläserne Scheibe bzw. Kugel, in deren Mitte ebenfalls Blau zu sehen ist. Diese runde Scheibe wird von einem etwa doppelt so großen, blauen Hintergrund überschirmt, dessen leichtangewellter Rand einen kleinen Schatten an die weiße Wand wirft. Der
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Exemplarische Bildanalyse
Wellenrand erinnert an eine Muschel. Rechts neben der Scheibe bzw. Kugel schimmert ein kleiner goldener Stab, der an eine Kanüle erinnert. Direkt über dem türkisfarbenen Objekt hängt an der weißen Wand ein goldgerahmtes Bild von einem Engel. Das Bild hat ein Hochformat. Es ist etwa so hoch wie der Fernseher und etwa halb so breit. Das Gemälde muss hinter Glas stecken, denn unten links im Bild spiegelt sich etwas, das sich im Raum gegenüber von dem Bild befindet. Der goldene Rahmen ist dünn und ohne Muster. Der Engel sitzt rechts im Bild und trägt ein weißes Gewand, das in den Falten leicht blau schimmert, und um den linken Oberarm eine rote Binde, die auf der Oberseite etwas orange schimmert. Seine linke Hand zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger – von der Betrachterin aus gesehen – auf den linken Bildrand. Die andere Hand umfasst eine rote Linie, aus der über der rechten Schulter des Engels ein Kreis wird, der einmal um den Kopf des Engels verläuft. Der Engel hat dunkelbraune, dicke Haare, die auf dem Kopf und seitlich bis auf die Schulter in großen Haarrollen aufgesteckt sind. Das Gesicht wird links und rechts jeweils von einer Haarrolle eingerahmt, die auf das Ohr zuläuft und dort endet. Die zwei Haarrollen, die das Gesicht einrahmen, werden über der Stirn von einem weißen Haarschmuck unterteilt, dessen Form an eine Muschel erinnert. Der Engel hat schwarze Augenbrauen, die Lider sind orangebraun eingefärbt. Die Nase ist zierlich und lang, so wie das ganze Gesicht schmal und lang ist. Es hat die Form eines Ovals. Der orangerote Mund ist klein, schmal und geschlossen. Der Engel blickt aus dem Bild; aus Sicht der Betrachterin blickt er leicht nach oben links. Der Kopf des Engels ist ganz leicht nach links geneigt und auch nach links gedreht, so dass das Gesicht über der roten Binde sitzt, die der Engel an seinem linken Oberarm über dem weißen Gewand trägt. Hinter der von der Betrachterin weggedrehten, rechten Schulter breitet sich ein brauner Flügel aus, der bis an den linken Bildrand reicht. Auch hinter der linken Schulter ist ein kleines Stück Flügel zu erkennen. Der Flügel ist vom rechten Bildrand bis auf die Form eines kleinen Dreiecks abgeschnitten. Der vom Engel aus gesehene rechte Flügel ist braun, hat aber einen großen, hellblauen bis weißen Rand, der wie ein Schatten des braunen Flügels dessen Form aufgreift. Diese Form erinnert
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an die Flügelform eines großen Greifvogels. Am linken Bildrand befindet sich auf Kopfhöhe des Engels ein blaues Dreieck, unter dem zwei blauweiße Streifen liegen, die sich ebenfalls zu einem Dreieck zusammenfügen. Zusammen wirken das blaue Dreieck und die blauweißen Streifen wie eine Pfeilspitze, wobei sich das blaue Dreieck etwas über die Spitze der beiden Streifen schiebt. Der Hintergrund ist orangebraun, könnte aber auch ins Goldfarbene gehen. Vom Betrachter aus links neben dem Kopf des Engels, ungefähr auf Höhe seines Ohres, sind zwei weiße, abgeknickte Fäden zu sehen, die an kleine Blitze erinnern. Ganz oben rechts im Bild ist ein weißgelber, dicker Strich zu sehen.
5.2.2.2 Gestaltungselemente Kameraperspektive Da die Linie, die durch die beiden aufeinander treffenden Wände entsteht und die Zimmerecke markiert, am oberen Bildrand leicht nach rechts abfällt, wird angenommen, dass die Fotografin die Kamera etwas schräg gehalten hat. Der Fernseher bekräftigt diese Annahme, denn auch er kippt aus Sicht der Betrachterin leicht nach rechts unten. Die obere Kante des Fernsehers ist vollständig zu erkennen, das heißt die Kamera wurde höher als diese Kante gehalten bzw. aufgestellt. Darauf deutet auch das Blitzlicht hin, denn es ist nicht auf dem Bildschirm des Fernsehers am deutlichsten zu erkennen, sondern am rechten Bildrand der Ikone. Die Blitzspuren, die nicht nur auf dem von der Betrachterin aus gesehenen rechten Bildrand der Ikone zu sehen sind, sondern auch auf dem linken Bildrand, belegen, dass sich die Fotografin bzw. die Kamera beim Fotografieren nicht direkt vor dem Fernseher befand, sondern etwas rechts davon.
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Zufällige Bildelemente Die abgebildeten Objekte wurden offensichtlich nicht für das Bild inszeniert. Das Bild hat einen dokumentarischen Charakter, auf den zufällige Bildelemente verweisen, wie die grünen Blattspitzen am unteren, rechten Rand des Bildes, die die Fotografin wahrscheinlich aufgenommen hat, ohne es zu merken. Bildelemente, die zufällig fotografiert werden, können die Wirkung des Bildes mitbestimmen. Doch in diesem Fall ist der Einfluss sehr gering.
Bildmittelpunkte Der Fernseher ist sehr dominant: zum einen durch seine schwarze Farbe, zum anderen durch seine rechteckige Form, denn regelmäßige und einfache Formen wirken besonders schwer (vgl. Arnheim 1978, S. 28). Der Fernseher nimmt etwa ein Fünftel des Bildes ein und ist damit der größte abgebildete Gegenstand. Das Porträt des Jungen ist ziemlich genau im geometrischen Mittelpunkt des Bildes platziert: Es steht etwas rechts neben dem Mittelpunkt. Das Porträt des Jungen wird aber durch die Linie, die die Zimmerecke beschreibt und genau auf die obere, linke Kante des Rahmens trifft, wieder nach links in die Bildmitte zurückgezogen. Das Porträt ist das zentrale Bildmotiv und zählt damit wie der geometrische Mittelpunkt und der Fluchtpunkt zu den Bildmittelpunkten. Geometrischer Mittelpunkt und zentrales Bildmotiv stimmen in diesem Bild fast genau überein. Zusätzlich betont der silberglänzende Rahmen die Zentralität des Porträts von dem Jungen. Der Rahmen steht in einem starken Farbkontrast zu dem schwarzen Fernseher und hebt sich auch deutlich von der – die meiste Fläche im Bild einnehmenden – weißen Wand ab. Der Blick des Jungen erzeugt einen Dialograum mit der Betrachterin, unterstützt durch den Blick der auf der Ikone abgebildeten Gestalt.
Bildanalyse
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Der Fluchtpunkt sitzt in der Ikone, reißt das Bild aber nicht auseinander, weil es mit dem zentralen Bildmotiv eine Diagonale bildet: Die Diagonale könnte entsprechend der Lesrichtung eines Bildes von links oben nach rechts unten absteigen und damit einen abfallenden bzw. eher negativen Eindruck vermitteln. Dieser Eindruck wird auch durch den schweren, nach unten ziehenden Fernseher unterstützt. Die Diagonale kann aber auch aufsteigend wirken, da die Ikone sehr anziehend wirkt: In ihr sitzt der Fluchtpunkt, und sie präsentiert sich an der weißen Wand hängend losgelöst von den anderen Objekten: „Isolierung verstärkt das Gewicht. Sonne oder Mond an einem leeren Himmel sind schwerer als ein ähnlich aussehendes, von anderen Dingen umgebenes Objekt“ (Hervorheb. i. Orig. Arnheim 1978, S. 27). Das Bild hat also eine Dynamik, vielleicht sogar eine Unruhe, trotz des schweren Fernsehers.
Bildlinien Die Diagonale zwischen zentralem Bildmotiv und Ikone wird zusätzlich durch den Glanzpunkt auf dem rechten Bilderrahmenrand der Ikone unterstützt. Er greift den Glanz des silbernen Porträtrahmens auf. Die Diagonale läuft bis in die rechte, untere Bildecke auf die rote Kerze zu. Diese Diagonale verläuft parallel zu einer der Fluchtlinien, die vom Fernseher aus auf die Ikone zulaufen. Der Fluchtpunkt befindet sich auf der Höhe des Flügelansatzes am Kragen der auf der Ikone abgebildeten Gestalt und löst dort einen Sog aus, der auch die Objekte betont, die auf den Fluchtlinien liegen. Auf der rechten Fluchtlinie liegt ein Stück der Vasenöffnung, die rechte Fernsehkante, die rechte Ecke des silbernen Rahmens, in dem das Porträt des Jungen steckt, und die Armbinde der auf der Ikone abgebildeten Gestalt. Eine solche Fluchtlinie verläuft auch links im Bild. Auf dieser Linie liegt der Wecker, die linke Fernsehkante und wieder die Ikone. Die Linie fällt leicht nach rechts ab. Sie wird aber durch eine rechts daneben liegende Senkrechte aufgefangen, die vom rechten Rand des weißen Häkeldeckchens, auf dem die Uhr und die Kette liegen, durch das türkisfarbene
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Exemplarische Bildanalyse
Objekt auf dem Fernseher und die Ikone verläuft. Die rote Kerze und die rote Rose bilden über ihre gemeinsame Farbe eine Senkrechte, die wieder leicht nach rechts kippt. Auf dieser Linie liegen auch die Margeriten, die so mitbetont werden.
Abbildung 7:
Diagonalen im Bild
Eine weitere Linie, die durch das Bild geht, entsteht durch die zwei aufeinander treffenden Wände. Als Senkrechte könnte sie das Bild stabilisieren. Sie fällt aber oben leicht nach rechts ab. Durch den Farbkontrast zwischen der schwarzen Kante des Fernsehers und der weißen Wand bildet sich eine Waagerechte. Die Objekte, die auf dem Fernseher stehen, betonen diese waagerechte, eher Gleichgewicht und Stabilität ausstrahlende Linie: Das türkisfarbene Objekt greift den Glanz des silbernen Rahmens auf, in dem das Porträt des Jungen eingefasst ist, und führt somit den Blick an der Fernsehkante entlang, wo er an der rechten Seite von der roten Rose und den Margeriten aufgefangen wird. Eine weitere
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Waagerechte findet sich am unteren Bildrand: Sie wirkt über das weiße Ziffernblatt des Weckers, das weiße Häkeldeckchen vor dem Fernseher und das weiße Deckchen in der rechten, unteren Ecke.
Abbildung 8:
Waagerechte Linien im Bild
Formen und Farben Formen werden im Bild durch Linien, aber auch durch Farben erzeugt, die von mehreren Objekten aufgegriffen werden oder komplementär zueinander stehen: So bilden der Porträtrahmen, das türkisfarbene Objekt und der Rahmen der Ikone durch den gemeinsamen Glanz, den sie haben, ein Dreieck. Der spitzeste Winkel dieses Dreiecks liegt unten rechts, also im Rahmen des Porträts. Ein weiteres Dreieck bildet die Ikone mit dem türkisfarbenen Objekt, dem Porträt und der roten Rosenblüte. Die Ikone lässt sich auch mit dem Wecker, dem Häkeldeckchen vor dem Fernseher und dem Häkeldeckchen ganz rechts im Bild zu einem
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Exemplarische Bildanalyse
Dreieck verknüpfen. Die Dreiecke scheinen den Sog des Fluchtpunktes nach oben zu unterstützen und irritieren so die Stabilität, die der schwere Fernseher ausstrahlt. Auch das Hochformat des gesamten Fotos mildert die schwere Formwirkung des quadratischen Fernsehers ab.
Abbildung 9:
Dreiecke im Bild
Das Rechteck taucht als Form auch in dem Wecker, dem silbernen Bilderrahmen und der Ikone auf. Freie Formen können Rechtecke schnell in Unruhe bringen: Eine freie Form ist das Häkeldeckchen, das über der Kante des Fernsehers hängt. Auch das Gerät mit der Antenne sorgt für eine Störung des Rechteckes, das der Fernseher beschreibt. Da das Gerät wie der Fernseher schwarz ist, verbindet es sich mit ihm unten links im Bild zu einer freien Form. Weitere Unruhen entstehen in diesem Bild durch die Farben. Das Auge sucht ein Bild spontan nach Komplementärfarben ab (vgl. Arnheim 1978, S. 358) und findet in diesem Bild Grün und Rot: die Blätter und dazu passend die Rosenblüte und die Kerze. Die Nähe der Komplementärfarben zueinander betont
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dieses Ensemble, so dass sich die Blumengruppe mit der Kerze und der Vase etwas hervordrängt und aus dem Bildzusammenhang löst. Weil die Kerze aber Teil der Diagonale ist, die auf die Ikone zuläuft, wird die Blumengruppe wieder ins Bild hineingezogen. Die rote Armbinde greift in der Ikone zudem das Rot der Kerze und der Rose auf. Verbindungen über die Farbe gibt es auch zwischen der blauen Vase, dem türkisfarbenen Objekt, dessen Rand stark ins Blaue geht, sowie dem blauen Dreieck und den blau abgesetzten Flügeln in der Ikone. Auch der Hintergrund der Ikone unterstützt diese Verbindung, weil er – zumindest auf dem Foto – wirkt, als sei er in Orange gehalten, also der Komplementärfarbe von Blau. Die Ikone verbindet sich über die Farbe des Gewandes, das die auf ihr abgebildete Gestalt trägt, mit dem Hintergrund des Porträts von dem Jungen. Das Lila des Objektes unten rechts im Bild ergänzt als Komplementärfarbe das Gelb der Blütenstempel von den Margeriten.
5.2.3 Selbstoffenbarungsebene 5.2.3.1 Selbstdarstellung Die gezeigte Raumecke weist auf einen Wohnraum hin. Es könnte eine Ecke in einem Schlafzimmer oder Wohnzimmer sein, wobei der Tisch, der sich im Bildschirm des Fernsehers spiegelt, eher auf ein Wohnzimmer hindeutet. Die Fotografin hat sich offensichtlich in dem hier zu sehenden Ausschnitt des Wohnraumes im Habermas’schen Sinne eingerichtet. Die Gestaltung des Raumes wirkt nicht so, als sei sie vornehmlich nach der Funktion des Raumes ausgerichtet, wonach in einem Schlafzimmer einfach nur ein Bett stünde, weil der Mensch schlafen muss, oder in einem Esszimmer ein Esstisch, weil der Mensch essen muss. Der hier gezeigte Raumausschnitt wurde affektiv gestaltet und dekoriert, er fungiert als Selbstausdruck und wird so zu einem Ort, mit dem sich die Fotografin identifizieren und bei sich fühlen kann (vgl. Habermas 1999, S. 125).
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Das Farbfoto ist mit einer einfachen Digitalkamera mit integriertem Blitzlicht aufgenommen. Zu der Kamera gibt es keine auswechselbaren Objektive. Die Kamera wurde der Fotografin geschenkt. Sie hat sie im Rahmen dieses Fotoprojekts zum ersten Mal benutzt. Die Kamera wurde ihr im Januar geschenkt, und sie hat sie erst vier Monate später für das Fotoprojekt ausgepackt. Die Fotografin fotografiert also selten, so dass nicht anzunehmen ist, dass sie technische Effekte genutzt oder irgendwelche besonderen Kameraeinstellungen vorgenommen hat. Die Fotografin ist damit eine Knipserin im Sinne Guschkers (vgl. Kap. 3 dieser Arbeit). Obwohl sie als Knipserin einzustufen ist, hat sie ihr Bild nicht völlig wahllos fotografiert. Deutlich wird das zunächst einmal an den Bildern, die im Kontext des hier im Mittelpunkt stehenden Bildes entstanden sind. Im Vergleich mit diesen Bildern zeigt sich, wie intensiv die Fotografin an dem Zielfoto, also dem Foto, das sie schließlich ausgewählt hat, gearbeitet hat. Sie hat nach einer Perspektive, einem Format und einem Ausschnitt gesucht, so dass ganz bestimmte Objekte auf dem Bild zu sehen sind und andere nicht:
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Abbildung 10: Ausschnittsuche 1
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Abbildung 11: Ausschnittsuche 2 und Zielfoto
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Von diesen Bildern wurde das Bild ausgewählt, das die Fotografin am gelungensten fand. Als gelungen gilt ein Bild in der alltäglichen Fotopraxis dann, wenn es den jeweiligen ästhetischen Ansprüchen genügt. Diese sind oft von Vorgaben aus der Werbung geprägt, die dafür sorgt, dass „konventionalisierte Motive“ fotografiert werden (vgl. Guschker 2002, S. 167). Das Bild muss aber nicht nur ästhetischen Ansprüchen genügen, um für gut befunden zu werden, sondern auch das zeigen, was die Fotografin zeigen will: Ein gutes und damit sinnvolles Foto ist also ein Foto, auf dem erkennbar ist, was erkennbar sein soll. Die Qualität zeigt sich in der Effektivität der Aufnahme, dem Vermeiden von Materialverschwendung durch zuviel Ausschuß. Erkennbarkeit ist das zentrale Qualitätskriterium. Hierin zeigt sich noch einmal der Unterschied zur professionellen Fotopraxis, in der Erkennbarkeit nur der Ausgangspunkt für gestalterische Einflußnahme ist (Hervorheb. i. Orig., Guschker 2002, S. 160).
Die Fotografin hat also einen Ort bzw. ein Motiv gefunden und ausgewählt, das ihrer Meinung nach zum Ausdruck bringt, was sie zum Ausdruck bringen will. Und sie geht davon aus, dass das ausgewählte Motiv von anderen verstanden wird bzw. eben das nachvollziehbar ist, was sie vermitteln will. Ins Zentrum des Bildes hat die Fotografin das Porträt eines Jungen gesetzt. Es ist in einen silbernen, glänzenden Rahmen eingefasst und steht auf dem Fernseher - nicht direkt, sondern auf einem Häkeldeckchen, das wie auch der auffällige Rahmen, die Ausstellung des Fotos betont. Das Porträt des Jungen wird also präsentiert, es soll gesehen werden. So wie es da steht, kann es – anders als in einer Schublade oder einem Fotoalbum – ständig angeguckt werden. Darüber hinaus lenkt es durch seine Rahmung, durch das Deckchen, auf dem es steht, und die zentrale Position auf dem Fernseher den Blick auf sich. Auch die Fotos, die aussortiert wurden, zeigen wie bedeutsam dieses Porträt für die Fotografin ist, denn es gibt zwei Aufnahmen, auf denen sie nur das Porträt zeigt:
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Abbildung 12: Porträt des Jungen Die Bilder, die ausschließlich das Porträt zeigen, haben der Fotografin aber offensichtlich nicht gereicht, um ihren persönlich bedeutsamen Ort im Sinne des Fotoauftrags zu zeigen. Auf das Foto gehörten für sie neben dem Porträt des Jungen auch das goldgerahmte Bild, das an der linken Wand hängt, die rote Rose und die Margeriten, wie weitere Fotografien zeigen, die die Fotografin ebenfalls aussortiert hat (siehe Abb. 11). Die Ausschussbilder zeigen auch, welche Gegenstände der Fotografin nicht so aussagekräftig erschienen: So ist der blaue Sessel vor dem Fernseher mehrmals mitfotografiert und auch die grüne Pflanze. Doch sobald Sessel und Pflanze auf dem Bild sind, fehlen das goldgerahmte Bild oder sogar das Porträt des Jungen (siehe Abb. 10), beides Dinge, die der Fotografin offenbar mehr bedeuten als der Sessel und die Pflanze. Die Fotos, die aussortiert wurden, zeigen, dass die Fotografin die Objekte, die auf dem Bild zu sehen sind, nicht für das Bild verschoben, hervorgeholt oder weggestellt hat: So ist das türkisfarbene Objekt immer wieder zu sehen. Auch die Kerze wurde nicht als störend empfunden und für einzelne Aufnahmen weggestellt. Genauso wenig sind nicht dekorative Gebrauchsgegenstände – wie etwa
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der Wecker - zur Seite geräumt worden. Trotzdem lässt sich – anders als bei dem goldgerahmten Bild, dem Porträt des Jungen und den Blumen – sowohl bei der Kerze und dem türkisfarbenen Objekt, als auch bei dem Wecker, der Armbanduhr oder den Häkeldeckchen nicht ohne die Fotografin zu fragen feststellen, ob sie mit ihnen bewusst etwas aussagen will, oder ob die Gegenstände nur zufällig auf dem Bild sind, also mitfotografiert wurden, als versucht wurde, das Porträt des Jungen, das goldgerahmte Bild und die Blumen einzufangen. Sie könnte mit dem Wecker, dessen roter Zeiger auf fünf Uhr steht, implizit ausdrücken wollen, dass sie eine Frühaufsteherin ist. Mit der Armbanduhr und auch der Halskette, die fein säuberlich auf dem weißen Häkeldeckchen liegen, könnte sie darauf hinweisen, dass sie sehr sorgsam mit ihren Dingen umgeht. Tatsächlich wird mit diesen impliziten Aussagen, die sowohl bewusst als auch unbewusst getroffen worden sein können, der von Schulz von Thun angedeutete, nicht immer klar einzuordnende Übergang von der bewussten Selbstdarstellung zur unbewussten Selbstenthüllung erreicht. Selbst bei dem goldgerahmten Bild, dem Porträt des Jungen und den Blumen, von denen angenommen werden kann, dass sie auf das Bild sollten, weil sie der Fotografin etwas bedeuten, gibt es diesbezüglich Unklarheiten, da nicht gesagt werden kann, welche Bedeutungen sie konkret mit ihnen verbindet: Ist die Fotografin russisch- oder serbischorthodoxen Glaubens? Nimmt sie das goldgerahmte Bild als Ikone wahr oder nur als Abbildung eines Engels? Wen zeigt das Porträt, wer ist dieser Junge? Haben die Rose und die Margeriten einen Symbolgehalt für die Fotografin, oder ist es ihr egal, welche Blumen in der Vase neben dem Porträt des Jungen stehen? Ohne die Fotografin lassen sich auf diese Fragen keine Antworten finden. Die Selbstdarstellung wird in dieser Arbeit daher erst im sechsten Kapitel mit einem Interview weiter vertieft, das mit der Fotografin zu ihrem Bild geführt wurde. Aussagen, die das Bild auf Grund seiner Gestaltung, der gezeigten Objekte und ihrer Ikonologie machen kann, die also – ob sie bewusst oder unbewusst sind – grundsätzlich rezipierbar sind, werden nun im folgenden Abschnitt zusammengetragen.
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5.2.3.2 Selbstenthüllung Erinnerungsobjekte Ins Zentrum des Bildes hat die Fotografin das Porträt eines Jungen gesetzt: Wie der Abschnitt über die Gestaltungselemente ergeben hat, ist das Porträt sowohl das zentrale Bildmotiv als auch – mit einer leichten Versetzung, die durch die Tapetenlinie wieder aufgefangen wird - geometrischer Mittelpunkt des Bildes. Das Porträt wird zusätzlich durch den starken Farbkontrast zwischen dem schwarzen Fernseher und dem silbernen Rahmen betont, der wiederum das Porträt von der größten Fläche im Bild - der weißen Wand - abhebt. In dieser Zentralität gibt das Porträt das Thema des Bildes vor. Der silberne, glänzende Rahmen, in den es eingefasst ist, steht nicht direkt auf dem Fernseher, sondern auf einem Häkeldeckchen, das wie auch der auffällige Rahmen, die Ausstellung des Fotos betont. Es wird also präsentiert, es soll gesehen werden, sowohl von möglichen BesucherInnen als auch von der Bewohnerin des Raumes selbst: Sie fordert sich mit dem ausgestellten Porträt immer wieder auf, das Gesicht eines Jungen zu betrachten, also sich an ihn zu erinnern. Werden Bilder alleine – also nicht in Gesellschaft – betrachtet, spricht das nach Guschker für ein Versinken in nostalgischen Gedanken (vgl. 2002, S. 233). Das türkisfarbene Objekt, das neben dem Porträt steht, lässt sich als Souvenir klassifizieren. Es ist nicht ein Souvenir von vielen. Es scheint der Fotografin nicht ganz unwichtig zu sein, denn es steht neben dem zentralen Bildmotiv – dem Porträt des Jungen. Dort tritt das Souvenir durch seinen Glanz, der dem Glanz des silbernen Rahmens entspricht, in den das Porträt eingefasst ist, besonders hervor. Das Wort Souvenir kommt aus dem Französischen und bedeutet Erinnerung bzw. Andenken. Souvenirs werden in der Regel gekauft, nicht verliehen, wie etwa ein Pokal für eine besondere Leistung. Souvenirs werden von Reisen mitgebracht. „Hierbei handelt es sich dann häufig um etwas Landestypisches. Auch Tassen, T-Shirts, Aschenbecher, Schlüsselanhänger, Salz- und Pfefferstreuer etc. mit Namensaufdrucken der besuchten Orte oder Abbildungen
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derselben sind beliebte Souvenirs16.“ In Souvenirs stecken nach Habermas biografische Informationen. „Sie haben keinen praktischen, sondern symbolischen Wert“ (1999, S. 295). Sie weisen auf Orte hin, die besucht wurden oder auf Personen, die dabei waren. Da das türkisfarbene Objekt auf dem Bild nicht genau zu erkennen ist, lässt es sich keinem Ort zuordnen. Es lässt sich aber als Erinnerungsobjekt klassifizieren und verstärkt als solches die bereits in dem Porträtfoto vermittelte Bedeutung des Ortes für die Fotografin: Auch das Souvenir lädt ein zu erinnern. Von der roten Wachskerze etwas verdeckt ist ein direkt vor der rechten Wand stehendes Objekt mit einer weißen Schleife, die mit roten Punkten und einem roten Rand verziert ist. Die roten Punkte und der rote Rand nehmen das Rot der im Vordergrund stehenden Wachskerze auf und machen so auf das Objekt aufmerksam. Die Schleife könnte auf ein Geschenk hinweisen, genauso wie das unten rechts im Bild stehende, in durchsichtiges Cellophan eingewickelte lilafarbene Objekt, das an eine Kerze erinnert. Ähnlich wie das Souvenir können Geschenke die Funktion haben, an jemanden oder etwas zu erinnern: an die Person, die geschenkt hat, oder die Situation, in der geschenkt wurde. Der Bildaufbau betont das Geschenk mit der rot gepunkteten Schleife nicht – es ist verdeckt und hinter der Kerze und der Vase kaum erkennbar. Es scheint nicht so bedeutsam zu sein wie das Porträt oder das türkisfarbene Objekt, die so stehen, dass sie sofort und vollständig gesehen werden können. Aber das Geschenk liegt auch nicht in einer Schublade. Es springt zwar nicht ins Auge, fällt aber immer wieder in den Blick und kann jederzeit hervorgeholt werden und so ebenfalls eine Erinnerung wiederbeleben. Auf einer Linie mit dem zentralen Bildmotiv liegen die goldene Armbanduhr und die Halskette. Da sie auf einem Häkeldeckchen liegen, das dem Deckchen ähnelt, auf dem das Porträt des Jungen steht, überträgt sich auch der Ausstellungscharakter des Porträts auf sie. Die Fotografin kann sich mit der Halskette schmücken, sie kann sie aber auch an etwas erinnern: an die Person, die sie ihr geschenkt oder vererbt hat, an einen besonderen Moment oder Wendepunkt 16
http://de.wikipedia.org/wiki/Souvenir, 04.11.2008
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in ihrem Leben. Die Halskette könnte ein Talisman sein oder eine religiöse Bedeutung haben. Auch die Armbanduhr kann ein Erinnerungsobjekt sein, lässt sich aber nicht eindeutig als solches kategorisieren. Es hat das Potenzial mehrere Bedeutungen in sich zu vereinen. Ist dem so, wäre diese Uhr besonders wichtig für die Fotografin, denn je „mehr unterschiedliche biographische Bezüge ein Objekt auf sich vereint, um so umfassender repräsentiert es seine Biographie und um so bedeutsamer ist es der Person“ (Habermas 1999, S. 299). Besonders die sorgfältige Art, in der die Armbanduhr neben die Halskette auf das ovale Häkeldeckchen gelegt wurde, deutet auf einen Wert hin, der über die technische Funktion der Uhr hinausgeht. Das Häkeldeckchen, auf dem es liegt, taucht im Bild insgesamt viermal als Untersetzer auf. Die Funktion der einzelnen Häkeldeckchen lässt sich nicht eindeutig festlegen: Sollen sie das Mobiliar schützen, sollen sie den Ort schmücken oder die Dinge schützen, die auf ihnen liegen bzw. stehen? Im Falle der Armbanduhr wirkt es so, als sei das Häkeldeckchen zu ihrem Schutz da, auch weil neben ihr Schmuck liegt: die Halskette mit dem goldenen Anhänger. Die Armbanduhr könnte daher den Wert eines Geschenkes oder eines Erbstückes besitzen, also eine Reliquie sein, und so – wie auch das Porträtfoto des Jungen - an jemanden erinnern (vgl. Habermas 1999, S. 305f.). Während Souvenirs so genannte Identitätsobjekte sind, die an die eigene Vergangenheit erinnern und damit auf die eigene Person verweisen, die an einem bestimmten Ort oder mit bestimmten Menschen unterwegs war, verweisen Reliquien immer auf andere: auf andere Personen, aber auch andere Orte, die mit diesen Personen verknüpft sind (vgl. Habermas 1999, S. 320). Uhr und Kette könnten also Reliquien sein. Ziemlich sicher sind sie Bestandteil des Minimalsets der Fotografin: In jeder Kultur gibt es so etwas wie ein Minimalset persönlicher Objekte (identitykit). Dazu gehören in unserer Kultur Hygieneartikel wie eine eigene Zahnbürste, Handtuch und Kamm, eigene Kleidung und Schuhe, gegebenenfalls medizinische Hilfsmittel wie Brillen, Prothesen und Hörgeräte, eine Schlafstelle, eigenes,
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jedenfalls nicht zugleich von Fremden genutztes Bettzeug, eine Handtasche oder ein ähnlicher Behälter mit Ausweis oder Geld (Hervorheb. i. Orig., Habermas 1999, S. 122f.).
Da auf dem Foto Bestandteile des Minimalsets offen ausliegen, die für das Wohlbefinden eines Menschen notwendig sind, kann davon ausgegangen werden, dass der Ort, der hier fotografiert wurde, geschützt ist.
Auseinandersetzung mit dem Tod Nicht nur das Porträt des Jungen, auch die Ikone, die auf dem Bild zu sehen ist, vermittelt eine nostalgische Stimmung. Die Ikone hängt an der leeren Wand, sie wacht über das Ensemble unter sich und ragt durch ihre Position im Bild besonders heraus. Wie in Abschnitt 5.2.3.1 an den aussortierten Bildern deutlich wurde, war es der Fotografin wichtig, dass die Ikone vollständig im Bild zu sehen ist. Auch sie könnte – neben dem Porträt des Jungen – durch ihre Bildposition das Thema für das gesamte Bild vorgeben: In ihr befindet sich der Fluchtpunkt, sie ist über eine Fluchtlinie direkt mit dem Porträt des Jungen und den Blumen verbunden. Dennoch konkurriert sie nicht wirklich mit dem Porträt, sondern ergänzt es, verstärkt Stimmung und Inhalt der Botschaft, die das Porträt vermittelt: Die Ikone ist serbisch-byzantinisch und trägt den Titel Der Weiße Engel am Grab Christi. Die Ikone könnte auf den serbisch-orthodoxen Glauben der Fotografin hindeuten. Sie verweist auch auf den Tod, der von einem Engel begleitet wird: Im Alten Testament tauchen Engel besonders als Beschützer und Begleiter auf. […] Im Neuen Testament verkörpern sie die Boten Gottes: Ein Engel des Herrn bringt Maria die Botschaft vom kommenden Heil (Lk 1,26-28), den Hirten verkünden Engel die große Freude von der Geburt Jesu (Lk 2,1-20), und nach seinem Tod
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Exemplarische Bildanalyse findet Maria aus Magdala dort wo Jesus gelegen hatte zwei Engel vor, die in weißen Gewändern in der Grabkammer sitzen (Johannes 20, 11-18)17.
Die Ikone verweist darauf, dass sich die Fotografin an dem Ort, den sie fotografiert hat, wahrscheinlich nicht nur an eine Person erinnert, sondern mit dem Tod auseinandersetzt. Auch die Blumen in der Vase könnten auf den Tod verweisen. Die Rose scheint echt zu sein, da sie an den Spitzen leicht angewelkt wirkt. Die Margeriten wirken dagegen künstlich, da sie überhaupt keine Verfärbungen aufweisen. Den Blumen - sowohl der Rose als auch den Margeriten - lassen sich Symbolinhalte zuordnen, „die auf dem Hintergrund vor allem der botanischen Pflanzeneigenschaften gewachsen sind“ (Beuchert 1995, S. 10). Der Name der Margerite ist schon als Name in der Antike verwendet worden und bedeutet Perle (vgl. Kluge 1999, S. 540). Zur Margerite schreibt Beuchert: „In der Kunst der Renaissance wurden diese Perlen-Blumen-Tränen als ein Symbol der Passion Christi, aber auch der Märtyrer, auf die Tafelbilder gemalt“ (1995, S. 211). Am bekanntesten ist jedoch die Bedeutung der Margerite als Orakel, das neben der Liebe auch Auskunft über die Zukunft gibt: „Über den zukünftigen Beruf verlangten die Kinder von der Rupfblume Auskunft: ‚Edelmann, Bettelmann, Bur’ – die Jungen, doch ‚heiraten, ledig bleiben, Klosterfrau’ – die Mädchen. Die Alten fragten, wie es denn mit der ewigen Seligkeit bestellt sei: ‚Himmel, Hölle, Fegefeuer.’“ (Beuchert 1995, S. 211). Die rote Rose ist dagegen ein weit verbreitetes Symbol der Liebe. Aber Rosen welken auch schnell und erinnern damit an die Vergänglichkeit. „So weit man menschliches Zusammenleben zurückverfolgen kann, werden geliebte Tote mit Rosen geschmückt, tragen Trauernde Rosen in den Händen“ (Beuchert 1995, S. 282). Die unangezündete Kerze wirkt besonders im Kontext der Blumen, des Porträtfotos und der Ikone so, als ob sie nur zu bestimmten Anlässen angezündet wird. Kerzen dienen in der Kirche und auch zu Hause dazu, eine feierliche Stimmung oder auch eine entspannte bzw. gemütliche Atmosphäre zu schaffen. In 17
http://kirchensite.de/index.php?myELEMENT=140532, (17.10.2008)
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diesem Sinne wäre die Kerze ein Hinweis auf die Geborgenheit, die der Ort, den sich die Fotografin eingerichtet hat, vermittelt. Nach Bollnow spiegelt sich Gemütlichkeit in all dem Verhalten, bei dem der Mensch die Anspannung des Willens und des tätigen Handelns aufgeben und sich einer entspannenden Ruhe überlassen kann. In diesem Sinn macht er es sich im Hause gemütlich, gibt es dort eine gemütliche Ecke, einen gemütlichen Aufenthalt usw. So macht die Gemütlichkeit einen wesentlichen Bestandteil der häuslichen Sphäre in ihrem Gegensatz zur Anspannung des außerhäuslichen Lebens aus (Bollnow 1990, S. 149).
Die Kerze ist aber auch ein religiöses Symbol. So steht sie u.a. im Christentum für „die Seele, die im dunklen Reich des Todes leuchtet. Durch das Anzünden der Osterkerze wird im Christentum die Auferstehung, d.h. Jesu Triumph über den Tod, symbolisiert18.“ Die Flamme zeigt nach oben, Richtung Himmel, und verweist auf die Unsterblichkeit. Die Osterkerze ist hier Ausgangspunkt des Symbolgehalts: Die Osterkerze als Bindeglied zwischen Altem und Neuem Testament umfaßt dergestalt die nach christlicher Überzeugung zusammengehörigen Bereiche ‚Schöpfung’ und ‚Erlösung’. Durch ihr Entzünden am höchsten christlichen Feiertag, in der Nacht des Heils, wo Finsternis und Licht, Trauer und Freude wie nirgends sonst eng beieinander liegen, manifestiert die Osterkerze den Symbolgehalt des Kerzenlichts in perfekter Weise (Seidel 1996, S. 65).
Das Kerzenlicht drückt die Hoffnung des Menschen auf das ewige Leben aus. Das Licht begleitet den Menschen von Anfang an: „’Das Licht der Welt erblicken’ heißt ‚geboren werden’“ (Seidel 1996, S. 113). Entsprechend gibt es den Brauch, Neugeborene mit dem Anzünden einer Kerze zu begrüßen und diese Kerze dann an jedem Geburtstag wieder anzuzünden. „Die Taufkerze ist das 18 http://209.85.135.104/search?q=cache:aniyZ4TW9AYJ:de.wikipedia.org/wiki/Kerze+Kerze+bedeu tung&hl=de&ct=clnk&cd=1&gl=de, (20.10.2008)
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erste Licht innerhalb der kirchlichen Lichtsymbolik und gilt als Inbegriff des neu beginnenden, christlichen Lebens überhaupt“ (Seidel 1996, S. 114). Die Sterbekerze begleitet das Lebensende: „Die Kerze, die dem Täufling bei seinem Eintritt in die Welt leuchtete, soll dem Mensch auch bei seinem Austritt aus derselben ,über die dunklen Pforten des Todes in das Land des Lichtes und des Friedens’ hinüberleuchten“ (Seidel 1996, S. 116).
Habitus Zu den persönlichen Objekten, die einer Person vertraut sind, gehören auch Gebrauchsgegenstände, „die Person kennt sie gut, interagiert eingeübt bis automatisiert mit ihnen, und sie rufen in Situationen der Fremdheit ein Vertrautheitsgefühl hervor“ (Habermas 1999, S. 495). Zu den gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände auf dem Bild gehören der Fernseher, der Wecker und das schwarze Gerät hinter dem Wecker, dessen Antenne darauf hindeutet, dass mit dem Gerät u.a. Radio gehört werden kann. Der Fernseher und das Radio sind im Gegensatz zum Telefon, dessen funktionale Bedeutung darin liegt, mit anderen Kontakt aufnehmen zu können und selbst auch erreichbar zu sein, Geräte, mit denen nur eine einseitige Kommunikation möglich ist. Zwar stellen sie durch die Botschaften, die sie als Massenmedien kommunizieren, Verbindungen nach außen dar, aber diese Verbindungen sind passiv, weil die Empfängerin keine Botschaften senden kann: Medien unterscheiden sich von symbolischen Objekten also dadurch, daß sie transparent sind für viele verschiedene Aussagen, die sie transportieren können, meist ohne dabei selbst primär als Zeichen zu fungieren. Medien können als kontakterleichterndes Medium zum persönlichen Objekt werden, oder sie werden als Träger spezifischer Daten auch wegen ebendieser gewählt, so wie bestimmte Bücher, alte Briefe oder Tagebücher (Hervorheb. i. Orig. Habermas 1999, S. 319).
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Die Bedürfnistypologie im Sinne des aus der Psychologie bekannten Uses-andgratifications-Approach geht davon aus, dass die Fernsehnutzung verschiedene Bedürfnisse befriedigen kann (vgl. Meyen 2001). Dazu gehört zunächst das Informationsbedürfnis des Menschen, also das Bedürfnis sich in der Umwelt zu orientieren, Rat zu suchen, Neugier zu stillen, zu lernen und sich durch Wissen abzusichern. Des Weiteren gehört das Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion dazu. Das Fernsehen kann ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, Gesprächsgrundlage sein, Geselligkeit und Kontakt ersetzen. So kann es vorkommen, dass Nachrichtensprecherinnen oder Serienhelden ähnlich wahrgenommen werden wie reale Personen (vgl. Meyen 2001, S. 15f.). Derartige parasoziale Interaktionen bringen keine Verpflichtungen mit sich, die Fernsehzuschauerin kann also passiv kommunizieren, ohne selbst Erwartungen entsprechen zu müssen. Das Bedürfnis nach persönlicher Identität kann über Medien befriedigt werden, indem sie persönliche Werte bestätigen, Verhaltensmodelle vorgeben und Identifikationen mit anderen ermöglichen. Darüber hinaus unterhält das Fernsehprogramm und ermöglicht im Sinne des Eskapismus die Flucht vor der Wirklichkeit. Es kann Entspannung bringen, Zeit füllen und emotional entlasten sowie durch Komplexität, Neuartigkeit, Mehrdeutigkeit und Überraschung stimulieren (vgl. Meyen 2001, S. 20). Der Wecker ist schlicht und funktional, er scheint keinen Mehrwert zu haben, also nicht über seine eigentliche, technische Funktion hinauszugehen. Wichtig ist zunächst einmal, dass er die Uhrzeit anzeigt und seine Besitzerin rechtzeitig weckt: Die Weckzeit ist auf fünf Uhr eingestellt, wie der kleine rote Zeiger des Weckers verrät. Die Weckzeit deutet auf eine Tagesstruktur hin und damit eventuell auf einen Beruf oder eine Tätigkeit, die ein frühes Aufstehen verlangt. Schlichtheit und Funktionalität des Weckers weisen möglicherweise auf eine Entscheidung für das Notwendige im Sinne Bourdieus hin: Es wird angeschafft, was praktisch ist und sein muss. Aus Gegenständen wie dem Wecker können sich Hinweise auf den Habitus ergeben und darüber Hinweise auf die ökonomische Lage, denn nach Bourdieu ist es ökonomischer und sozialer
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Zwang, der „zu einem ‚einfachen’ und ‚bescheidenen’ Geschmack verurteilt“ (Bourdieu 1987, S. 594). Diesem bescheidenen Geschmack entsprechend müssen Möbel in erster Linie stabil sein. Funktionale Räume wie Küche und Bad werden nicht geschmückt, sondern nur Wohn- und Esszimmer bzw. die gute Stube. Die Regeln, nach denen Wohnräume für gewöhnlich geschmückt werden, scheinen auch die Gestaltung des auf dem Foto abgebildeten Raumes beeinflusst zu haben: So schreibt Bourdieu, dass auf den Kamin Nippsachen gehören und auf den Tisch ein Blumenstrauß (vgl. 1987, S. 594). Während sich Blumen auch anderen Lebensstilen zuordnen lassen, könnte die Erklärung, dass der Vorliebe für bunten Kitsch die Absicht zugrunde liegt, „mit dem geringsten Einsatz die größte Wirkung zu erzielen“ (Bourdieu 1987, S. 595), tatsächlich auch für die Fotografin gelten. Das als Souvenir klassifizierte, türkisfarbene Objekt auf dem Fernseher könnte ausgestellt sein, um eine „große Wirkung“ zu erzielen, aber auch die blaue, weiß schimmernde Vase neben dem Fernseher. Dass diese Gegenstände dem Geschmack der Fotografin entsprechen und nicht etwa Objekte sind, die zufällig so aussehen, wie sie aussehen, lässt sich daraus schließen, dass sie an einem für die Fotografin bedeutsamen Ort stehen. Die besondere Bedeutung des Ortes lässt sich - wie weiter oben in diesem Abschnitt bereits erläutert – an den einzelnen persönlichen Objekten bzw. Erinnerungsobjekten festmachen, die an diesem Ort ihren Platz gefunden haben. Nach Bourdieu gibt es in den unteren Klassen keine Kunst um der Kunst willen, sondern nur eine pragmatische und funktionalistische Ästhetik (vgl. Bourdieu 1987, S. 591). Und tatsächlich erscheint alles, mit dem der Raum bzw. der auf dem Foto sichtbare Teil des Raumes dekoriert ist, nicht einfach schön sein zu sollen, sondern immer auch eine oder mehrere weitere Funktionen zu erfüllen: So sind die Häkeldeckchen dekorativ, aber sie schonen auch die Möbel, auf denen sie liegen und die Gegenstände, die auf ihnen liegen und stehen. Die Vase ist ein dekorativer Gegenstand, aber sie hat auch die Funktion, Blumen zu fassen. Und selbst der Nippesgegenstand – also das türkisfarbene Objekt – ist mehr als dekorativ, wenn es als Souvenir und damit in seiner Erinne-
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rungsfunktion erkannt wird. Ebenso lassen sich die Kerze, das Geschenk, die Blumen, das silbergerahmte Porträt und die Ikone als Dekorationsgegenstände einordnen, aber auch als symbolische Objekte, die insbesondere der Erinnerung dienen. Die Annahme, die aufgeführten Objekte hätten neben einer dekorativen Funktion auch eine symbolische Funktion, lässt sich mit einer Studie aus den USA bekräftigen, die ergeben hat, dass Immigrantinnen ihre Wohnräume in Übergangssituationen häufig mit symbolischen Objekten dekorieren; nicht etwa, um sich von der neuen Umgebung abzugrenzen, sondern um sich in ihr zu stabilisieren (vgl. Habermas 1999). Die symbolischen Gegenstände ermöglichen trotz der veränderten Umgebung das Erleben einer Kontinuität, indem sie auf die persönliche Geschichte hindeuten und an die Herkunftskultur erinnern. Für die Studie wurden 24 in Kanada lebende Inderinnen befragt. „In ihrer Einrichtung mit Möbeln und elektrischen Geräten orientierten sie sich an den kanadischen Standards. Hingegen dienten Musik und Filme, vor allem aber individualisierte kleinere ästhetische, dekorative Gegenstände dazu, ihre Verbindung zu Indien, den dort verbliebenen Personen und der eigenen Vergangenheit zu symbolisieren“ (Hervorheb. i. Orig. Habermas 1999, S. 480). Eine solche Funktion lässt sich besonders der Ikone zuordnen. Sie dekoriert den Raum, gleichzeitig weist sie durch ihren serbisch-byzantinischen Stil auf die Herkunft der Fotografin hin. Darüber hinaus ist die Ikone eng mit dem Ritus der orthodoxen Kirche verbunden und spielt möglicherweise auf den serbisch-orthodoxen Glauben der Fotografin an. Da die auf dem Foto zu sehende Ikone in einen Glasrahmen eingefasst ist, handelt es sich vermutlich um ein Poster oder einen Druck. Ursprünglich wurden Ikonen auf Holz gemalt. Während die Bildgeschichten, die im Mittelalter in westlichen Kirchen entstanden sind, die Bibel nacherzählen, sind die Ikonen „Ausdruck göttlicher Wahrheit und göttlicher Unmittelbarkeit“ (Nickel 1965, S. 73f.). Die Ikone ist um 1230 entstanden19. Es gibt verschiedene Versionen, die sich aber sehr ähnlich sind, da es einen festgelegten Plan für die Ikonenmalerei gab, und auch das Kopieren guter Vorbilder üblich 19
http://de.wikipedia.org/wiki/Serbisch-byzantinischer_Stil, (17.10.2008)
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war (vgl. Nickel 1965, S. 110f.). Da die Ikonen dazu dienten, Glaubensgrundsätze zu verfestigen, „erhöhte es auch die Heiligkeit einer Ikone, wenn sie althergebrachte Formen beibehielt“ (Nickel 1965, S. 114). In der Ikone spiegelt sich also eine Manifestierung, die auch auf die Fotografin des Bildes ausstrahlt: Die Ausstellung der Ikone könnte darauf hindeuten, dass sie an Glaubensgrundsätzen festhält bzw. ihr Glaube bestand hat und sie begleitet; auch wenn sich ihre Umgebung gewandelt hat.
Zusammenfassung Die Fotografin des Bildes war die erste der angesprochenen Frauen, die ein Bild mitgebracht hat. Im Rahmen des pädagogischen Settings kann ihre Bildidee somit nur durch die Vorschläge beeinflusst worden sein, die im Laufe des Projektverlaufs gesammelt wurden, um den Fotoauftrag zu konkretisieren und verständlicher zu machen (siehe Abschnitt 4.3.2). In der Projektvorstellung wurde jedoch kein Motivvorschlag genannt, der dem der Fotografin entspricht. Die Fotografin hat alleine und für sich fotografiert. Es kann also angenommen werden, dass sie – in einem pädagogischen Setting dazu aufgefordert – tatsächlich einen für sie persönlich bedeutsamen Ort fotografiert hat. Der Beschreibung des pädagogischen Kontextes ist ebenso zu entnehmen, dass die Fotografin selten fotografiert und zudem das hier vorgestellte Bild mit einer Kamera aufgenommen hat, die sie zuvor noch nie benutzt hat. Die Kamera hat keine auswechselbaren Objektive; es ist eine einfache Digitalkamera mit integriertem Blitzlicht. Weitere Details konnte die Fotografin zu ihrer Kamera nicht nennen. Das schließt nicht aus, dass sie den Bildaufbau bewusst bestimmt hat, wie insbesondere die in Abschnitt 5.2.3.1 vorgestellten Bildaufnahmen zeigen, die im Kontext der hier analysierten Fotografie entstanden sind, aber von der Fotografin nicht für gut befunden und deshalb aussortiert wurden. Die Gefahr im Bild sichtbare Gestaltungselemente, die nur zufällig entstanden sind, überzuinterpretieren, ist aufgrund der geringen Erfahrung, die die Fotografin mit dem Fotografieren
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hat, jedoch gegeben. Besonders die an der oberen Bildkante leicht nach rechts fallende Linie, die die Raumecke beschreibt, und der leicht nach rechts abfallende Fernseher, deuten daraufhin, dass die Linien im Bild zufällig so verlaufen, wie sie verlaufen. Die Interpretationen stützen sich im Folgenden nicht weiter auf diese Gestaltungselemente, sondern im Wesentlichen auf das Bildmotiv und damit auf die abgebildeten Gegenstände und ihre Bedeutungen. Das Bild zeigt überwiegend Erinnerungsobjekte, denen Habermas drei Funktionen zuschreibt: Sie können an die Vergangenheit erinnern, die Zukunft andeuten oder eine Verbindung zu jemanden herstellen bzw. stellvertretend für jemanden sein (vgl. 1999, S. 307). Die Erinnerungen, die sie festhalten, sollen zwar nicht in Vergessenheit geraten, müssen im Alltag deshalb aber nicht ständig im Vordergrund stehen. Die Notwendigkeit sie in Erinnerungsgegenständen festzuhalten, kann sich unter anderem daraus ergeben, dass über sie nur schwer gesprochen werden kann (vgl. Habermas 1999, S. 298). Grund dafür könnten fehlende GesprächspartnerInnen sein, was auch zu dem im vorliegenden Bild sehr prominent platzierten Fernseher passen würde. Es ist anzunehmen, dass die Fotografin den Fernseher häufig nutzt, denn er steht an einem Ort, den sie immer wieder aufsucht, worauf zahlreiche Objekte mit für sie sehr wichtigen Funktionen hinweisen, die sich um den Fernseher gruppieren. Der Fernseher macht auf bestimmte Bedürfnisse der Fotografin aufmerksam. Da die Fotografin alleine lebt, kann entsprechend der Bedürfnistypologie des Uses-and-gratifications-Approach vermutet werden, dass sie mit Hilfe des Fernsehers ein besonderes Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion befriedigt. Sie könnte aber auch versuchen, der Wirklichkeit zu entfliehen oder schmerzhaften Erinnerungen. Gleichzeitig lässt der Fernseher die Annahme zu, dass für die Fotografin nicht nur die Erinnerung an ihre Herkunft bedeutsam ist, sondern über die Medien eine Auseinandersetzung mit der Kultur stattfindet, in der sie gegenwärtig lebt. Die vielen geliebten Objekte bzw. Erinnerungsobjekte, die das Bild der Fotografin zeigt, halten offensichtlich eine Verbindung zur Herkunftskultur aufrecht. Der Wunsch Erinnerungen festzuhalten, die mit der Herkunft verbunden
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sind, ist aber nicht ohne weiteres als Integrations-Unwillen zu deuten. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die Fotografin versucht, einen Schmerz zu verarbeiten, über den sie aufgrund seiner Tiefe oder aber fehlender GesprächspartnerInnen nur schwer sprechen kann. Nach Habermas orientiert sich das Wissen, das wir uns u.a. mit Hilfe von Erinnerungsobjekten über unser Leben bewahren, oft an Umwälzungen, Veränderungen oder kritischen Lebensereignissen, die nicht nur schmerzhaft sein können, sondern auch einen Identitätswandel verlangen: Dazu zählen normative Krisen, erwartbar datierbare Rollenübergänge wie Schuleintritt, Konfirmation, Studienbeginn, Heirat, Geburt eines Kindes und Pensionierung ebenso wie nicht-normative Veränderungen, vor allem Verlust, wie die Trennung von einem Partner, die Geburt oder der Tod einer nahestehenden Person, der Gesundheit durch eine Krankheit, der gewohnten Umgebung durch einen Umzug oder Emigration. Beide Arten von Ereignissen können das Individuum in eine Krise stürzen, da sie eine Veränderung ihrer Identität erfordern, ein aktives Bewältigen und Aneignen der Veränderung der eigenen Person und der sie definierenden Beziehungen und Umgebungen (Hervorheb. i. Orig. Habermas 1999, S. 298).
Persönliche Objekte sichern in Übergangssituationen die eigene Kontinuität und symbolisieren eine Bindung an Personen und Orte – also eine Zugehörigkeit (vgl. Habermas 1999, S. 326). Mit Hilfe der persönlichen Objekte wird das eigene Handeln sowie die Beziehung zu anderen reflektiert. Das schließt vergangene Handlungen und Beziehungen genauso ein wie zukünftige. Hier findet also keine Abgrenzung von der neuen Umgebung statt, sondern eine Bewältigung des Übergangs, also der Migration, die zu Trennungen, Auflösungen von Beziehungen und Bindungen führt, sowie den Verlust von Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung mit sich bringt (vgl. Akashe-Böhme 2002, S. 53). Nach Habermas lässt sich Einsamkeit, die durch Verluste oder Trennungen entstanden ist, besser bewältigen, wenn sie mit persönlichen Objekten betrauert werden kann (vgl. 1999, S. 487f.). Die Dinge, die für die Bewältigung und die Aneignung einer durch einschneidende Erlebnisse veränderten Umwelt gesammelt werden, nennt Habermas Übergangssouvenirs (vgl. 1999, S. 299). Als
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Übergangssouvenir ließe sich das Porträt des Jungen bezeichnen - soweit es den Sohn der Fotografin zeigt, von dem sie erzählt hat, dass er verstorben sei. Auch Halskette und Armbanduhr könnten Übergangssouvenirs sein und als Reliquien an verstorbene Menschen erinnern. Möglich ist aber genauso, dass sie an ganz andere Ereignisse erinnern; an eine Taufe, eine Kommunion oder eine Heirat. Die Objekte definitiv einzuordnen, scheint ohne weitere Auskünfte der Fotografin nicht möglich. Entsprechend schreibt Habermas: „eine Fremddefinition persönlicher Objekte ist nur als Grenzfall möglich, bei dem ein Dritter über eine ausreichend intime Kenntnis des Individuums verfügt, um selbst die Bedeutung des Objekts für die Person abschätzen zu können“ (1999, S. 494).
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Das folgende Gespräch soll die intendierten Botschaften der Fotografin genauer erfassen. Es ist als möglicher Einstieg in den Dialog über das Bild zu verstehen. Das Interview wurde an dem Tag geführt, an dem die Fotografin das Bild für diese Arbeit mitbrachte. Das Bild war während des Interviews auf dem Bildschirm geöffnet und sowohl für die Fotografin als auch für die Interviewerin zu sehen. Die Fotografin wollte nicht, dass ihre Antworten auf Tonband mitgeschnitten werden. Ihre Antworten konnten daher während des Interviews nur mitnotiert werden. Woher kommen Sie? Ich komme aus Bosnien. Meine Familie ist im Krieg gestorben und das Haus abgebrannt. Mein Sohn ist dabei verbrannt. Mein Mann, er war Journalist, ist bis heute nicht gefunden. Ich bin alleine übrig geblieben. Wie alt sind Sie und was machen Sie beruflich? Ich bin 53. Ich putze sechs Stunden am Tag in einer Klinik. Wie groß ist Ihre Wohnung? Das Zimmer hat zwölf Quadratmeter, alles zusammen, keine Küche. Ich muss eine Wohnung suchen, aber Freiburg ist teuer. Warum haben Sie dieses Bild gemacht, mit dem Porträtfoto? Es ist schwer, über meinen Sohn zu sprechen. Das ist mein Leben hier, das ist meine Ecke, die Heilige auf dem Bild ist ein Engel, der Weiße Engel. Ich liebe
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Blumen. Ich habe aber nur drei Blumen in meinem Zimmer, ich habe keinen Platz, ich schlafe auch in dem Raum, ich habe da keine Luft. Ich habe zwei blaue Sessel, auf denen ich sitze, und ein Sofa, auf dem ich schlafe. Auf dem einen ist ein Stoffbär, vom Messeplatz, von der Tombola, ich habe ihn auf dem Rummel gewonnen, 1998. Ich bin elf Jahre in Deutschland, den Bär habe ich gewonnen, gleich nachdem ich hier angekommen bin. Mein Bruder hat gesagt, lass uns zum Messeplatz, und da habe ich den Bär gewonnen. Alle Kinder haben geguckt, auf den großen Bär. Was steht links neben dem Bild auf dem Fernseher? Zwei blaue Muscheln und die halten eine Kugel, in der Kugel schwimmt im Wasser ein Fisch. Es ist eine Schneekugel. Die habe ich in Titisee gekauft. Überall wo ich hingehe, kaufe ich ein Souvenir. Was denken Sie, wenn Sie das Porträt angucken? Das Bild von meinem Sohn angucken fällt mir schwer. Ich denke dann daran, dass er in die Schule gehen könnte. Jedes Jahr gehe ich am 20. November nach Hause, das ist der Todestag meines Sohnes. Ich besuche dann sein Grab. Die Wohnung ist zu klein, ich brauche eine andere. Aber ich spare Geld, weil ich Geld für die Grabpflege brauche, für das Grab meines Sohnes, und ich brauche noch ein Stück für mein Grab, gleich daneben. Was machen Sie in diesem Zimmer? Ich lebe in diesem kleinen Zimmer, das ist mein ganzes Leben. Ich gucke fern, wenn ich nach Hause komme, das deutsche Programm. Ich höre auch Radio. Ich habe fünf Fernsehprogramme. Haben Sie eine Lieblingssendung? Ich habe keine Lieblingssendung.
Fotointerview
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Was steht rechts neben dem Fernseher? Das rechts im Bild, das lilafarbene, ist eine Kerze, auf einer Untertasse. Die Kerze besteht aus lauter kleinen Rosen, das ist ein Geburtstagsgeschenk von meiner Nachbarin. Gibt es irgendetwas, was Sie mitgebracht haben? Mein Haus hat gebrannt, ich habe nichts von zu Hause, keine Fotos, nur das eine von meinem Sohn. Wenn mein Sohn Geburtstag hat, dann mache ich eine Kerze an, immer eine gelbe, so macht man das bei uns. Gelb, Gelb ist für den Friedhof. Die rote mache ich an Neujahr an oder Weihnachten. Und die Uhr? Die Uhr liegt da einfach so. Das ist meine Armbanduhr, mit der kann ich nicht arbeiten, die lege ich da ab, es ist egal, wo sie liegt, ich wohne ja alleine. Die Vase habe ich mir selbst geschenkt, sie ist aus Glas, ich habe sie mir gekauft. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war, ich gehe immer zum Titisee oder zum Bodensee, ich bringe mir immer etwas mit. Aber wo genau ich die Vase gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Davon habe ich zwei gekauft, die andere habe ich meinem Neffen und seiner Frau geschenkt.
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Die Einzelbildanalyse hat Grenzen. So lässt sich aus dem in dieser Arbeit exemplarisch analysierten Bild nicht erschließen, ob die Fotografin tatsächlich trauert, oder um wen sie trauert. Auch die Funktionen der Objekte lassen sich nicht definitiv bestimmen: Ob die Armbanduhr eine Reliquie ist, die Ikone tatsächlich auf die Religionszugehörigkeit der Fotografin hinweist, oder der Fernseher das Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion befriedigt, lässt sich nur in einem Gespräch bzw. in einem Fotointerview mit der Fotografin eindeutig klären. Das in dieser Arbeit analysierte Foto ist kein Privatfoto, dessen Produktionsgeschichte nicht nachvollziehbar ist. Es ist in einem pädagogischen Kontext entstanden, der dem Foto Sinn zugeordnet hat, bevor es entstanden ist. Dieser Sinn erweitert sich jedoch in der Produktionsphase um Sinnzuschreibungen der Fotografin, die sich nicht vollständig aus dem Bild herauslesen lassen. Dennoch ersetzt das Fotointerview die systematische Bildanalyse nicht, denn sie generiert zum einen Sinngehalte, die der Fotografin nicht unbedingt bewusst sind, obwohl sie ihre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, ihr Handeln und damit auch ihren Ausdruck prägen, und zum anderen Sinngehalte, die ihrem Ausdruck angehängt werden. Die Einzelbildanalyse nähert sich also nicht nur dem intendierten Selbstausdruck der Fotografin, sondern auch möglichen Lesarten ihres Selbstausdrucks. Sie berücksichtigt damit die Mehrperspektivität einer Fotografie und eröffnet einen weiterführenden Dialog, in dem sich eingefahrene Kommunikationsmuster überwinden lassen. Der Einstieg in diesen Dialog ist das Fotointerview, das nicht nur deshalb erst nach der Bildanalyse geführt werden sollte, weil Inhalte, die sich im Fo-
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Resümee
tointerview ergeben, die Bildanalyse beeinflussen könnten, sondern die Bildanalyse den Dialog durch Sinnelemente bereichert, die in einer spontanen, undistanzierten Bildbetrachtung nicht erfasst werden können. Damit der Dialog selbst ergiebig ist, müssen die Fotografien eine bestimmte Qualität haben bzw. eine Bedeutung für die FotografInnen, die sich aus „der Art, Reichweite und Intensität der autobiografischen Begleiterzählungen“ (Guschker 2002, S. 391) erschließen lässt. In pädagogischen Kontexten kann ein gezielter Fotoauftrag die Produktion erzählgenerierender Bilder fördern, wie die Fotointerviews zu den Bildern dieser Arbeit20 zeigen. Nach Fuhs lösen Bilder Erzählungen besonders dann aus, wenn sie emotional wirken (vgl. 2006, S. 219). So können Emotionen weckende Bilder Dialoge begleiten, die – u.a. aufgrund von Sprachdifferenzen - schwierig zu führen sind. Persönlich bedeutsame Orte sind offensichtlich emotional besetzt und funktionieren als Eingangs- und Erzählimpuls. Die Frauen haben Gespräche zu ihren Bildern geführt, die sie sich sonst nicht unbedingt zutrauen bzw. ihnen nicht zugetraut werden: So erklärte die Leiterin eines Sprachkurses, dass es den Frauen im Unterricht besonders schwer falle, abstrakte Begriffe zu verstehen, und somit eine Kommunikation über Gefühle und persönliche Dinge kaum möglich sei. Die Fotos aber geben reale Anknüpfungspunkte für das Abstrakte: Der Stuhl vor dem runden Tisch ist der einzige richtige Stuhl, den wir haben. Wir haben noch einen Gartenstuhl, einen Couchhocker und einen alten Küchenstuhl. Das ist alles, für uns alle drei. Ich denke immer: Wenn jemand kommt, wo kann er sitzen? Vielleicht kommt deshalb niemand zu uns. Den hier auf dem Bild hat uns auch unser Nachbar geschenkt, wie das Bett. Auf dem Stuhl arbeite ich. Aber wenn wir in der Küche essen, nehme ich den Stuhl mit. Und meine Tochter sagt dann immer, dass sie auf dem Königsstuhl sitzen möchte, weil er so weich ist. Die anderen Stühle, besonders der Gartenstuhl, ist nicht so weich (vgl. Interview 1 im Anhang).
Mit Hilfe der Bilder haben die Frauen auch Identitätsübergänge kommuniziert. Die Fotografin des Bildes Garten 2 sät jedes Jahr Kräutersamen in ihrem Garten 20
Es wurden fünf weitere Interviews geführt, die im Anhang aufgeführt sind.
Resümee
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aus, die ihr eine Freundin aus dem Iran mitbringt. Sie erinnern sie zum einen an den Iran, zum anderen bieten sie ihr aber auch eine Beschäftigungsmöglichkeit und Kontakte in Freiburg: Ich genieße, ich möchte immer beschäftigt sein. Egal ob mit dem Garten oder mit jemanden. Ich muss immer beschäftigt sein: Bei mir zu Hause steht immer die Nähmaschine auf dem Tisch bereit. Ohne Arbeit bin ich krank. Die Strickmaschine ist da. Manchmal stricke ich einen Pullover, einen Rock. Mit jemanden sprechen ist auch gut. Und wieso nähe ich Taschen? Wieso bin ich immer beschäftigt? So komme ich mit vielen Menschen zusammen. So ist es auch mit den Kräutern, die ich verteile: ich bin in Kontakt mit vielen Menschen. Bei uns gegenüber gibt es einen Kindergarten. Viele Lehrerinnen und Kinder fragen mich, was ich in meinem Garten mache, was ich pflanze, und ich erzähle ihnen alles, ich kann ihnen alles erzählen, alles was ich mache (vgl. Interview 3 im Anhang).
Das Bild öffnet einen Raum und gibt Impulse, die als Gesprächsstütze dienen und gleichzeitig mitkommunizieren. So können Bilder, die erzählgenerierend sind, auch selbstreflexive Dialoge zwischen PädagogInnen und MigrantInnen fördern, die nicht einseitig von den PädagogInnen ausgehen. Von beiden Seiten können Wahrnehmungen, Deutungen und Urteile kommuniziert werden und pauschalierte Zuschreibungen aufgedeckt werden, die in der pädagogischen Arbeit virulent sind, denn auch pädagogisches Handeln – bewusst oder unbewusst – begleitet oft die Einstellung, dass eine Überwindung der einschränkenden Herkunftskultur für eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft notwendig ist (vgl. Abschnitt 2.4). Das Festhalten an der Herkunftskultur – zumindest mit Hilfe von Erinnerungsobjekten – scheint jedoch entscheidend für die Stabilisierung der eigenen Identität zu sein, die in der neuen Umgebung in Frage gestellt wird. Diese Stabilisierung fixiert nicht etwa bestehende Identitäten, sondern ermöglicht und unterstützt ihren von der neuen Umgebung geforderten Wandel. Das trifft, wie in dieser Arbeit deutlich wird, auch auf ältere Frauen zu, denen im besonderen Maße unterstellt wird, dass sie die Kontrolle verlieren, wenn sie einen Ort ver-
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lassen müssen, obwohl ihre facettenreichen Ortsbeziehungen vielfältige Identitäten widerspiegeln (vgl. Altman & Churchman 1994, S. 4). Mit Hilfe der subjektorientierten Bildanalyse dieser Arbeit lassen sich keine Aussagen treffen, die über den beschriebenen Einzelfall hinausgehen. Aussagen, die die Fotografin in ihrem Bild macht, sei es über ihre Religionszugehörigkeit, Herkunftskultur, ihren sozialen Status oder ihre aktuellen Lebensgefühle und Situationswahrnehmungen, lassen sich selbst mit einem Rückgriff auf die anderen Fotografien, die im Kontext dieser Arbeit entstanden sind, nicht verallgemeinern. Die Bildanalyse stellt jedoch in ihrer Wahrnehmung individueller Subjekthaftigkeit, eine Aufforderung zur Vermeidung von Festschreibungen auf das Anderssein dar, die soziale und kulturelle Differenzen betonen und fördern (vgl. Munsch et al 2007, S. 17) und wird so zu einem viel versprechenden Instrumentarium für die Interkulturelle Pädagogik, von der Munsch et al. eine „reflektierte Interkulturalität“ (vgl. 2007, S. 40) verlangen. Eine Offenheit für neue und individuelle Kulturentwicklungen, die sich aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen ergeben, ist nur möglich, wenn reflexiv gearbeitet wird, wobei reflexiv eben immer auch bedeutet „die eigenen – geschlechtlichen und ethnisch-kulturellen – Bedingtheiten im Wahrnehmen, Urteilen und Handeln zu erkennen und skeptisch gegenüber unhinterfragter Wahrheit zu sein“ (Munsch et al. 2007, S. 43). Da das Bildanalyseverfahren nicht nur mögliche Rezeptionen eines Bildes erfasst, sondern in einen Dialog zwischen ProduzentIn und RezipientIn mündet, lassen sich Wahrnehmungs- und Deutungsmuster auf beiden Seiten reflektieren, gemeinsam belegen und widerlegen.
Anhang
Es folgen die fünf Fotointerviews, die zu den anderen Bildern geführt wurden. Auch sie wurden nicht mit dem Tonband aufgezeichnet, sondern auf Wunsch der Frauen nur mitgeschrieben.
Interview 1
Abbildung 13: Bild zu Fotointerview 1 Wie alt sind Sie, und wo kommen Sie her? Ich bin 32 und komme aus Sewastopol in der Ukraine. Ich lebe seit etwa fünf Jahren hier.
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Wie sind Sie hierher gekommen? Ich bin nach Deutschland gekommen, weil mein Mann bereits in Deutschland lebte, bevor ich ihn geheiratet habe. Ich war ein Jahr in Münster, dann in Berlin und schließlich in Ludwigsburg, bevor ich nach Freiburg kam. Umgezogen bin ich so oft, weil mein Mann immer wieder Arbeit gesucht hat. Was machen Sie beruflich? Ich bin Buchhalterin, aber meine Ausbildung wird in Deutschland nicht anerkannt. Ich lerne jetzt Erzieherin. Wie leben Sie? Ich lebe mit meiner Familie zusammen, mit meinem Mann und meiner Tochter. Sie ist sechseinhalb. Wie groß ist Ihre Wohnung? Wir haben drei Zimmer. Was ist auf dem Bild zu sehen? Das Zimmer von meiner Tochter. Aber sie spielt da nur, weil sie Angst hat, da alleine zu schlafen. Es ist gemütlich für mich. Wir haben den Tisch dahin gestellt. Ich habe mir überlegt, wie ich das Zimmer gestalte. In dem Zimmer war eine alte Couch, niemand war in dem Zimmer. Dann hat der Nachbar uns ein Bett für die Tochter geschenkt, weil sie in die Schule kommt. Ich wollte ihr das Zimmer einrichten. Aber sie spielt nur dort, wenn ich arbeite. Ich arbeite immer den ganzen Tag. Wenn ich nach Hause komme, mache ich hier meine Hausaufgaben. Es ist gemütlich, niemand stört mich. Hinter der Wand ist noch ein Zimmer, da können mein Mann und meine Tochter Filme gucken oder spielen. Ich höre nichts, die Wohnung ist gut isoliert. Wenn ich zum Beispiel bis ganz spät arbeite, bis ein, zwei Uhr nachts, und mein Mann und meine Tochter schlafen schon, um sie nicht zu stören, schlafe ich hier. Dieses Kissen, wenn ich auf diesem Kissen liege, ich weiß nicht wieso, aber dieses Kissen, wenn ich auf
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diesem Kissen liege, schlafe ich sofort ein. Und mit dieser kuscheligen Decke. Auf anderen Kissen kann ich oft nicht einschlafen. Ich weiß nicht wieso. Das hat mir auch geholfen, als ich krank war. Ich hatte eine ansteckende Krankheit, ich habe dann hier geschlafen, damit meine Tochter nicht krank wird. Und das Gefühl unter der Decke ist sehr wohlig, sehr gemütlich. Das Kissen und die Decke habe ich schon sieben, sechs Jahre, ganz lange. Was ist das für eine Puppe? Die Puppe in der rosa Hose ist von meiner Mutter. Sie hat sie meiner Tochter aus der Ukraine mitgebracht, sie heißt Vika, sie war größer als meine Tochter, als sie sie geschenkt bekam. Und der Teddy ist auch ein Geschenk aus der Ukraine an meine Tochter, von ihrer Cousine. Hinter der Wand ist noch ein Tierchen, auch ein Bär aus der Ukraine. Ein brauner Bär. Als meine Tochter geboren war, haben meine Eltern den Bär mitgebracht. Meine Tochter ist in Berlin geboren, und meine Eltern kamen zu Besuch. Meine Tochter sagt immer, lass uns nach Berlin gehen, ich möchte sehen, wo ich geboren bin, ich will nach Berlin. Sie ist sechseinhalb Jahre und sagt: Wenn ich groß bin wie du Mama, dann werde ich auch ein kleines Mädchen haben. Und ich denke immer: Das ist doch zu früh, diese Gedanken, denk doch an die Schule [lacht]. Was für Hausaufgaben machen Sie? Die Hausaufgaben sind für die Ausbildung zur Erzieherin. Was ist das für ein Bild über dem Computer? Über dem Computer hängt mein Bild. Ich habe meinen Mann in der Ukraine kennen gelernt. Das Bild entstand, als wir in Jalta waren. Wir waren dort spazieren, waren Eis essen, und mein Mann hat dieses Bild von mir gemacht. Ich wusste es gar nicht. Er wohnte schon in Deutschland. Nachdem wir in Jalta waren, ist er wieder zurück. Ich wohnte noch in Sewastopol. Er hatte sich das Bild vergrößert, um mich immer wieder angucken zu können. Ich habe nichts an dem Bild geändert, auch den Rahmen nicht. Ich habe in den Rahmen nur noch ein
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Bild gesteckt, das mein Mann von mir gemacht hat, als wir in Ludwigsburg gewohnt haben. Es hängt da nicht, weil ich mich an Ludwigsburg erinnern will. Das Foto haben wir ganz zum Schluss gemacht, kurz bevor wir nach Freiburg gingen. War Ludwigsburg schlecht? Ludwigsburg fand ich nicht so spannend, da steht nur ein Schloss. Es ist langweilig, wir hatten nicht so viele Freunde. Mein Mann hatte dort einen Freund, der meinte wir sollten nach Ludwigsburg ziehen. Aber als wir dort hinkamen, gab es keinen Kontakt mehr zu ihm, und wir fühlten uns alleine. Mein Mann hat dann Arbeit in Freiburg gefunden, und er war froh wie ein Kind, der Lohn war nicht so gut, aber er wollte unbedingt diese Arbeit haben. Er ist Kartograf. In Russland war er Topograf, aber als er nach Deutschland kam, gab ihm jemand Arbeit als Fotochemiker, er fand das interessant und hat das probiert. Was ist auf dem anderen Bild? Das andere Bild an der Wand ist meine Tochter. Wir waren in der Ukraine, und wir haben sie fotografiert. Diese blaue Farbe haben wir im Fotolabor in der Ukraine machen lassen. Sie hat ein Häschen in der Hand, das hat mir mein Mann geschenkt, als ich am 8. März nach Deutschland kam und ihn geheiratet habe. Es war mein erstes großes Tierchen. Ich habe immer von einem großen Kuscheltier geträumt, so groß wie ich, und keiner hat es mir geschenkt. Und das hier war so toll und kuschelig. Aber auf dem Bild sieht es nicht mehr so toll aus, nicht mehr so gepflegt, wie es am Anfang war. Die Augen fehlen schon, meine Tochter hat sie entfernt, als sie klein war. Und meine Tochter hat meinen Hut auf. Der Hut ist von Karstadt. Wir wollten in den Urlaub fahren, zu meinen Eltern in die Ukraine, davor habe ich diesen Hut gekauft, wegen der Sonne, es ist unglaublich ohne Hut, 35, 40 Grad.
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Und sonst, die Tischdecke? Die Tischdecke auf dem Tisch war früher für Weihnachten. Aber jetzt liegt sie da immer. Darunter liegt eine Decke, aus Gummi, um den Tisch zu schonen. Er ist aus Glas. Er stand immer im Wohnzimmer. Wir wohnen nicht mehr im Wohnzimmer. Weil der Raum so groß ist und das Heizen zu teuer. Wir haben auch keinen Fernseher. Freunde hatten uns auch schon einen großen Tisch für das Wohnzimmer schenken wollen, aber ich wollte ihn nicht, weil es da immer so kalt ist. Was gefällt Ihnen so an dem Zimmer? Mir gefällt in diesem Zimmer hier, dass ich nicht viel laufen muss, neben dem runden Tisch, steht noch ein kleiner Tisch, auf dem Papier liegt. Vor dem Bettende, so dass man noch vorbeigehen kann, steht ein Regal mit meinen Büchern, mit den Büchern von meiner Tochter und Spiele. Meine Mappen, alles was ich brauche, ist da. Alles steht in einem Zimmer. Früher war alles in unterschiedlichen Räumen, und ich habe immer etwas gesucht, jetzt kann ich hier ruhig sitzen und arbeiten. Früher habe ich auch Musik gehört. Aber seit zwei Wochen ist der Sound kaputt. Wir warten auf ein neues Windows, weil unser Computer nicht mehr so gut läuft. Aber ich brauche Zeit zum Lernen, ich möchte keinen Tag verlieren, wenn mein Mann das neue Programm installiert, dauert das sicher ein paar Tage. Ich habe immer Prüfungen, nächste Woche zwei Klassenarbeiten. Ist das ein besonderer Stuhl? Der Stuhl vor dem runden Tisch ist der einzige richtige Stuhl, den wir haben. Wir haben noch einen Gartenstuhl, einen Couchhocker und einen alten Küchenstuhl. Das ist alles, für uns alle drei. Ich denke immer: Wenn jemand kommt, wo kann er sitzen? Vielleicht kommt deshalb niemand zu uns. Den hier auf dem Bild hat uns auch unser Nachbar geschenkt, wie das Bett. Auf dem Stuhl arbeite ich. Aber wenn wir in der Küche essen, nehme ich den Stuhl mit. Und meine Tochter sagt dann immer, dass sie auf dem Königsstuhl sitzen möchte, weil er so weich ist. Die anderen Stühle, besonders der Gartenstuhl, ist nicht so weich.
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Was liegt vor dem Computer? Vor dem Computer liegen Schulsachen: eine Federmappe, ein Hausaufgabenheft, ein Kalender, ein Kalender extra für die Prüfungen. Da steht drin, wann sie sind, wann ich einen Leistungsnachweis abgeben muss. Wenn ich ihn aufmache, sehe ich sofort, wann ich etwas abgeben muss. In dem anderen Kalender kann ich es verpassen, da steht alles Mögliche drin. Und was ist das? Neben dem Locher auf dem Tisch liegt ein Fernglas. Mein Mann hat es mir gekauft, auf dem Flohmarkt. Ich hatte immer davon geträumt. Ich war früher mit meinem Vater oft im Wald, bin spazieren gegangen, und ich fand es interessant zu gucken, was in der Ferne war. Aber ich hatte kein Fernglas, ich habe immer davon geträumt. Dort, wo ich jetzt wohne, stehen viele Berge. Ich kann von meinem Balkon auf die Berge gucken. Und ich gucke mit dem Fernglas in die Berge, das ist spannend. Oder ich träume vom Spazieren im Wald. Ich fahre auch Inliner. Und meine Tochter hat probiert mit diesem Fernglas zu gucken, und ihr hat es auch gefallen. Das Bett kann man übrigens hochklappen. Aber wir machen das nicht, es steht immer so. Wie groß ist der Raum? Der Raum ist nicht so groß, vielleicht sechzehn Quadratmeter. Es ist ein dunkler Raum, das ist nicht so gemütlich. Ich muss immer Licht machen. Direkt vor dem Fenster steht ein Baum. Im Herbst sammle ich immer die Blätter von dem Baum, wenn ich vergessen habe, was für die Schule, also für meine Ausbildung, zu sammeln. Ich mache einfach das Fenster auf. Wir wohnen im zweiten Obergeschoss. Das Fenster hat keine Rollläden. Das ist auch nicht so gut. Warum haben Sie dieses Foto gemacht? Mit dem Bild hängt soviel zusammen, mit diesen Sachen, in diesem Zimmer, mir fällt immer etwas dazu ein, zu jeder Sache eine Geschichte.
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Interview 2
Abbildung 14: Bild zu Fotointerview 2 Wie alt sind Sie, und woher kommen Sie? Ich bin 62 und komme aus Linköping in Schweden, 200 Kilometer südlich von Stockholm. Wie sind Sie nach Freiburg gekommen? Ich habe Freundinnen aus der Schulzeit in Freiburg besucht, und dabei habe ich meinen Mann kennen gelernt. Das war 1970. Was machen Sie beruflich? Ich habe in Schweden das Abitur auf einem Wirtschaftsgymnasium gemacht und dann eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin. In Freiburg arbeite ich seit 1992 an einer Schule als Sekretärin. Wie leben Sie? Ich habe zwei Kinder, die in Berlin leben, einen erwachsenen Sohn und eine erwachsene Tochter. Ich wohne alleine in einer Wohnung, getrennt von meinem
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Mann, der aber im gleichen Haus wohnt. Das Haus gehört meiner Schwiegermutter. Was ist auf Ihrem Bild zu sehen? Für mich ist es ein See, vielleicht ist es auch ein Fluss. Es ist eine typische schwedische Landschaft, ein bisschen karg, ein bisschen Kiefer. Wir haben ein Sommerhaus in Schweden, meine Geschwister und ich. Da ist die Natur teilweise so ähnlich. Sie ist auch teilweise ganz lieblich, mit Wiesen, Kuhweiden, aber an dem See in der Nähe, sieht es so ähnlich aus. Das Bild erinnert mich daran, wenn ich es sehe. Ist der Maler ein Schwede? Sven Boman, ein Schwede. Das Bild habe ich von meinen Eltern. Ich habe es geerbt. Mein Vater ist als Letzter gestorben. Wir haben die Sachen geteilt, und ich wollte gerne dieses Bild. Warum? Rein praktisch war es so, dass meine Geschwister, ich hatte drei, die wohnen ja alle in Schweden, ich konnte ja keine großen Sachen nehmen, das war auch ein Grund, dass ich das Bild ausgesucht habe. Aber auch weil es mir gefällt. Wo hängt das Bild? Im Wohnzimmer, ich sitze jetzt am Esstisch, und da hängt es direkt vor mir Ist es ein besonderer Ort, an dem Sie sich viel aufhalten? Ich sehe das Bild sehr oft, ich habe keine Küche, alles spielt sich im Wohnzimmer ab. Warum haben Sie nur das Bild fotografiert? Ich habe einfach gedacht, ich soll eine Sache fotografieren, die mir wichtig ist, und es wäre auch viel kleiner gewesen, wenn noch mehr auf dem Foto gewesen
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wäre. Tatsächlich hat das Bild auch viel Platz für sich an der Wand, auch wenn an der gleichen Wand noch andere Bilder hängen. Was für Bilder? An der Wand hängt noch ein sehr alter Scherenschnitt und noch ein Foto. Was ist auf dem Foto? Mein Sohn. Würden Sie sagen, da hängen die wichtigsten Bilder? Nee, das Bild habe ich jetzt zu Ostern bekommen, da hat ein Fotograf ein schönes Bild von meinem Sohn gemacht. Der hat eine Buchhandlung in Berlin. Es kann aber sein, dass ich das noch umhänge. Was fühlen Sie, wenn Sie das Bild ansehen? Ich weiß nicht, es ist einfach, ich genieße das Bild, ich finde es schön. Oft, nicht immer, fühle ich etwas, ich sehe das Bild ja jeden Tag, ich fühle nicht immer was, jetzt im Moment, denke ich, dass es mich an das Sommerhaus erinnert und dass ich in knapp einer Woche da sein werde. Und manchmal – je nachdem in welcher Stimmung ich bin – denke ich an meine Eltern – es ist unterschiedlich, ich kann nicht sagen, dass ich immer dasselbe fühle. Aber es hat immer mit Schweden und der Familie zu tun. Es verbindet mich mit Schweden und meiner Familie. Fotografieren Sie sonst auch? Ja. Was? Am meisten, wenn ich in den Ferien bin. Ich habe jetzt eine Digitalkamera. Erst seit Weihnachten. Ich hatte vorher eine kleine, einfache Kleinbildkamera, mit der man schnell fotografieren kann. In den Ferien kann es alles sein, was man an-
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schaut: Natur, auch Menschen, mit denen man zusammen ist. Als meine Kinder klein waren, habe ich viele Bilder von meinen Kindern gemacht. Bewahren Sie Bilder auf? Ich hebe meine Bilder auf und gucke sie mit Freunden und Verwandten an, mit der Familie., Ich nehme jetzt meine Bilder, die ich Weihnachten gemacht habe und werde sie dann meinen Verwandten in Schweden zeigen. Gibt es Fotos, die sich als geliebte Objekte bezeichnen ließen? Ja, die ich mit schönen Erinnerungen verbinde. Als ich selbst ein Kind war, ich habe alle Bilder in Alben geklebt, ich habe auch noch meine alten Alben, von meinen Reisen mit Freundinnen, aus der Schulzeit, der Kindheit. Ab und zu gucke ich sie auch alleine an, aber wenig. Wenn ich an etwas Besonderes denke, dann hole ich die Bilder vor, auch die Bilder von meinen Kindern, ja, und dann Urlaubsreisen. Ich war vor zwei Jahren in Rom, und das sind auch Bilder, die ich wieder anschaue, wenn ich daran denke oder davon spreche. Wie war der Fotoauftrag für Sie? Ich fand es schwierig, einen Gegenstand auszusuchen, diese Verbundenheit, das ist für mich schwierig, so einen Gegenstand oder Ort zu suchen. Ich bin ein Mensch, der sich überall zu Hause fühlen kann. Bei mir sind auch meine Bücher ganz wichtig, aber das sind die Bücher im Allgemeinen, das heißt nicht, dass ich sie immer wieder lese. Es ist einfach schwierig, eine Entscheidung zu treffen und zu sagen, das ist es. Ich lebe schon so lange hier, mein Zuhausegefühl hat mehr mit Menschen zu tun als mit Gegenständen, genauso hier, wie in Schweden. Aber es ist interessant darüber nachzudenken. Wir haben bei uns in der Schule einen ganz hohen Ausländeranteil, auch viele Förderschüler, Türkei, Libanon, Kosovo. Ich kann mir vorstellen, dass wenn man als Flüchtling kommt, dass es anders ist, ich bin ja freiwillig hierher gekommen, mir ist es ja nicht schlechter gegangen hier. Ich bin sicher auch anders integriert, keiner sieht mir an, dass ich
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woanders herkomme. Ich schmelze mich hier sicher eher ein und finde mich hier zurecht.
Interview 3
Abbildung 15: Bild zu Fotointerview 3 Wie alt sind Sie, und woher kommen Sie? Ich bin 55 und komme aus Kermanscha im Iran. Wie sind Sie hierher gekommen? Mein Mann musste aus dem Iran fliehen. Er hatte Probleme mit der Regierung, deshalb lebe ich seit acht Jahren in Deutschland. Was sind Sie von Beruf? Ich bin Friseurin. Aber ich kann auch Teppiche knüpfen, schneidern, mit der Strickmaschine stricken und mit der Nähmaschine sticken. Meine Mutter war sehr krank. Ich habe sie gepflegt, als ich noch im Iran lebte. Meine Mutter brauchte jeden Tag Morphin. Ich habe auch viel mit Holz gearbeitet. Ich säge
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Bilder aus verschiedenen Holzsorten, Birne oder Kirsche. Dafür brauche ich viel Platz und viele Geräte, die ich in Deutschland nicht habe. Ich darf erst seit kurzem arbeiten, weil ich erst vor ein paar Wochen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe. Bis dahin wusste ich nicht, ob ich in Deutschland bleiben kann. Als ich mit meinem Mann nach Deutschland kam, habe ich erst in Karlsruhe in einem Asylantenheim gewohnt, dann wurde ich nach Freiburg geschickt. Freiburg gefällt mir, aber ich weiß nicht, ob ich hier eine Arbeit finden kann. Mein Mann hat auch keine Arbeit, er ist Fluglotse. Vielleicht gehen wir bald nach Köln. Wie wohnen Sie in Freiburg? Ich wohne mit meinem Mann zusammen, meine zwei Söhne sind 36 und 29 Jahre alt und leben allein. Was ist auf dem Bild zu sehen? Das ist mein kleiner Garten neben meiner Wohnung. Jedes Jahr pflanze ich viele Kräuter, die Kräuter bringt meine Freundin aus dem Iran mit. Und kochen Sie dann damit? Sie sind zum Essen, sie haben viele Vitamine. Und es gibt sie hier nicht? Doch, aber sie sind hier nicht wie im Iran. Es riecht anders. Besser? Ja, besser, es riecht besser als in Deutschland. Und wenn alle Kräuter groß sind, verteile ich sie an alle Leute. An welche Leute? Egal, deutsche Leute, persische Leute, russische Leute.
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Kann es sein, dass die Kräuter besser riechen, weil sie Sie an etwas erinnern? Vielleicht ja. An was könnten sie Sie erinnern? Zum Beispiel gibt es hier Schnittlauch, er ist sehr dünn. Aber bei uns: das ist ganz anders, es schmeckt auch anders. Und Koriander auch. Gibt es in Deutschland, aber es schmeckt anders. Viele Leute haben es probiert. Und sie sagen, dass es anders ist. Auch die, die hier in Deutschland leben. Wenn ich etwas verteile, sagen sie mir, dass es anders schmeckt. Der Kräutergarten ist wichtig für Sie, warum? Die Kräuter kommen aus dem Iran, und früher konnte ich hier nicht arbeiten, und ich bin mit dem Garten beschäftigt gewesen. Deswegen ist es für mich sehr wichtig. Jeden Tag muss ich den Pflanzen Wasser geben oder Unkraut zupfen. War es schlimm, dass Sie nicht arbeiten konnten? Natürlich, ich habe so viel gelernt, für alles habe ich eine Ausbildung: für die Teppiche, die Frisuren, die Strickmaschine, das Sticken. Warum verteilen Sie die Kräuter? Weil ich viele Kräuter haben will, wenn ich sie verteile, kommen immer mehr. Am Anfang vom Frühling pflanze ich einmal, und zwei Monate später kann ich ernten, manche sind schon nach einem Monat ausgewachsen. Und ich kann einmal im Jahr pflanzen und zwei Jahre abernten. Hatten Sie im Iran auch einen Kräutergarten? Nicht neben meinem Haus. Ich habe in Teheran gewohnt, in einer Wohnung. Wie hier. Viele Leute haben einen Extragarten im Norden vom Iran. Wir hatten auch einen Extragarten. Aber wir konnten dort auch bleiben und bauen, auf dem Gartengrundstück, zwei Zimmer und so. Wir konnten dort einen Monat bleiben. Aber in einem deutschen Kleingarten kann man nicht bleiben, da darf man nur
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bis zum Abend bleiben. Im Iran hatten wir alles in unserem Garten, Wasser, Strom, einen Markt in der Nähe. Alle haben einen Garten, sie können Kräuter pflanzen, Bäume. Meistens pflanzen sie Kräuter. Es ist schön, dass mein Garten hier in Freiburg direkt neben der Wohnung ist. Auch für meinen Mann ist der Garten sehr wichtig, weil er nicht arbeiten kann. Ich nähe manchmal, ich habe mich beschäftigt, aber für meinen Mann ist es schwieriger. Aber er ist jetzt sehr froh, weil er jetzt auch arbeiten kann, wir haben beide eine Aufenthaltsgenehmigung. Deswegen ziehen wir vielleicht nach Köln, um dort zu arbeiten. Wenn Sie aus Freiburg weggehen, was werden Sie am meisten vermissen? Die Leute, egal welches Land, deutsche, russische Leute, besonders Claudia, ich werde alle vermissen, und die Schülerinnen, ich habe viele Kontakte in Freiburg. Gestern Abend hatte ich eine deutsche Frau zu Besuch. Woher kennen Sie sie? Sie war bei meiner Freundin, und dort habe ich sie kennen gelernt. Sie hat gefragt, ob sie mich besuchen kann. Ich habe ihr eine Tasche genäht. Wenn Sie nach Köln gehen, werden Sie dann auch einen Garten haben? Ich habe zu meinem Mann gesagt: als Erstes soll er eine Wohnung mit Garten suchen. Normalerweise gibt es zu den Wohnungen im Erdgeschoss auch einen Garten. Was fühlen Sie an Ihrem Ort? Ich fühle mich sehr wohl. Und mein Mann auch. Wir genießen es dort. Warum? Weil ich mich für Pflanzen interessiere. Was denken Sie in ihrem Garten? Ich habe immer positive Gedanken, immer, immer positiv.
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Was ist ein positiver Gedanke? Wegen der Aufenthaltsgenehmigung, auf die wir gewartet haben: Früher hatte ich immer eine Hoffnung, mein Garten hat mir Hoffnung gegeben. Viele Leute haben gefragt, ob ich nicht zurück will, ob ich den Iran nicht vermisse, ob ich traurig bin. Ich habe gesagt: Ich wohne jetzt in Deutschland, ich muss hier alles genießen. Besonders genieße ich den Garten. Wie ist es für Sie über das Bild zu sprechen? Gefällt mir. Warum? Ich genieße, ich möchte immer beschäftigt sein. Egal ob mit dem Garten oder mit jemanden. Ich muss immer beschäftigt sein: Bei mir zu Hause steht immer die Nähmaschine auf dem Tisch bereit. Ohne Arbeit bin ich krank. Die Strickmaschine ist da. Manchmal stricke ich einen Pullover, einen Rock. Mit jemanden sprechen ist auch gut. Und wieso nähe ich Taschen? Wieso bin ich immer beschäftigt? So komme ich mit vielen Menschen zusammen. So ist es auch mit den Kräutern, die ich verteile: ich bin in Kontakt mit vielen Menschen. Bei uns gegenüber gibt es einen Kindergarten. Viele Lehrerinnen und Kinder fragen mich, was ich in meinem Garten mache, was ich pflanze, und ich erzähle ihnen alles, ich kann ihnen alles erzählen, alles was ich mache.
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Interview 4
Abbildung 16: Bild zu Fotointerview 4 Wie alt sind Sie? 61. Woher kommen Sie? Ich komme aus St. Petersburg. Was machen Sie beruflich? Ich bin Radioelektronikerin. Mein erster Mann war Meteorologe. Mit ihm war ich am Polarkreis, dort kam auch meine Tochter zur Welt. 1993 habe ich dann meine Tochter in Freiburg besucht, die einen jüdischen Mann geheiratet hat und nach Freiburg immigriert ist. Bei dem Besuch habe ich den Hausmeister des Hauses, in dem meine Tochter wohnte, kennen gelernt. Die Wohnung musste renoviert werden, aber meine Tochter hatte viel zu tun und war dauernd unter-
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wegs. Deshalb habe ich das übernommen. Ich musste immer wieder zum Hausmeister und Werkzeug ausleihen, was nicht einfach war, weil ich damals kein Deutsch sprach. Wir unterhielten uns mit Handzeichen und Wörterbüchern. Der Hausmeister fragte mich nach einigen Tagen, ob ich mit ihm Rad fahren würde. Als ich ein zweites Mal zu Besuch kommen wollte, konnte meine Tochter mich nicht einladen, weil sie damals Sozialhilfe bekam. Deshalb lud der Hausmeister mich ein. Und fragte, ob ich ihn heiraten will. Ich sagte, ich bin alt und meine Mutter lebt in St. Petersburg. Er meinte aber, meine Tochter ist doch auch in Freiburg und der Enkel. Beim nächsten Besuch fragte er wieder und ich blieb. Das war 1994. Meine Mutter ist 82 und lebt noch in St. Petersburg. Ich fliege zweimal im Jahr zu ihr. Wie wohnen Sie in Freiburg? Der Hausmeister und ich wohnen in einer Zweizimmerwohnung. Warum haben Sie dieses Bild fotografiert? Ich habe mir immer ein Fahrrad gewünscht, aber ich hatte nie Platz. Und einen Garten wollte ich immer haben. In St. Petersburg gibt es Datschen. Aber in St. Petersburg gibt es fünf Millionen Einwohner, alle wollen eine Datscha. Und man kann eine bekommen, 100 Kilometer entfernt. Oder man hat Familie. Dann geht das. Ich hatte mal ein Stück gekauft, aber ich musste eine Stunde fahren, und ich musste immer die Geräte mitbringen. Dann habe ich es wieder verkauft, es war zu weit, ich musste eine Stunde mit dem Zug fahren. Hier habe ich beides bekommen. Von der Siedlung haben wir den Garten, wie die Wohnung. Jeden Tag gehe ich in den Garten und gucke, was gekommen ist. Was ist auf dem Bild zu sehen? Das Weiße links ist ein Gartenhäuschen. Zwischen den Häusern, unser Haus ist rechts und nicht mehr im Bild, sind die Gärten, die man mieten kann. Wir haben drei Gärten gemietet und alle zusammengelegt, so dass es ein großer ist. Ich glaube, der Garten hat mehr als 100 Quadratmeter.
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Was gefällt Ihnen an Ihrem Garten? Mir gefällt alles an meinem Garten, beispielsweise der Rittersporn, ich habe drei, vier Jahre gepflanzt, immer wieder, aber nichts bekommen. Ich habe welchen aus Russland mitgebracht, und der blühte. Aber mein Mann hat ihn gespritzt, und dann war er kaputt. Er war wunderschön, hellblau. Ich kaufe jedes Jahr Samen und gucke jeden Tag, ob etwas Neues kommt. Für mich ist es so spannend, wenn etwas kommt. Was ist noch zu sehen? Diese Trauben da links, die Rebe, habe ich nie gepflanzt, sie sind von selbst gewachsen. Letztes Jahr hatte ich eine ganze Schüssel voll Trauben, alles von der Rebe. Sie hatten ein sehr gutes Aroma und einen sehr großen Kern. Unter dem Plastik habe ich Petersilie. Unter dem grünen Netz Kopfsalat. Und neue Zwiebeln habe ich. Rechts sind noch zwei Frühbeete, sie sind nicht mehr im Bild. Ich habe viele Blümchen. Astern, Strohblumen, Strandflieder, das habe ich alles gesät. Ich kaufe keine fertigen Pflanzen, ich säe alles, das ist interessanter, kaufen kann man alles. Und ich habe viele Geschenke im Garten. Die Kamille habe ich geschenkt bekommen, von meinem Mann. Und ich habe eine chinesische Pfingstrose, gelb, zwei Hände voll groß war die Blüte, gelb, mit einem roten, kleinen Rand. Die Pflanze ist auch ein Geschenk von meinem Mann, die Pflanze war sehr teuer, aber er mag mich [lacht]. Er macht viel für mich. Sonntags fahren wir immer Fahrrad. Wir haben vier Fahrräder, zwei große und dann noch zwei Klappräder. Mit den Klapprädern können wir auch mit dem Bus fahren: Wir klappen sie zusammen, packen sie in die Tasche und fahren mit dem Bus hoch in die Berge und dann zurück auf den Rädern. Was fühlen Sie in Ihrem Garten? Ich fühle mich sehr gut in meinem Garten, die vielen Gerüche, es macht mich zufrieden. Wenn eine neue Pflanze kommt, bin ich sehr, sehr zufrieden. Ich gucke jeden Tag, ob was Neues wächst oder nur Unkraut kommt. Es ist sehr interessant. Als Kind habe ich einen Blumenverein besucht, da war ich noch in der
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Grundschule. Wir haben gepflanzt, die Pflanzen beobachtet, wir haben die Pflanzen bestäubt und gelernt Bäume zu veredeln. Wir haben das Wachsen der Blumen beobachtet und protokolliert. Warum wollten Sie immer einen Garten? Keine Ahnung, warum ich immer einen Garten haben wollte. Meine Mutter kommt auch aus St. Petersburg, aber meine Großmutter kam vom Land und meine Tante. Jeden Sommer waren wir bei der Tante, alle Kinder, vielleicht kommt es daher. Ich weiß es aber nicht genau. Es ist so spannend, die Lilien anzuschauen, die Kaiserkronen. Weil der Frost noch einmal wieder gekommen ist in diesem Jahr, habe ich sie in einen Eimer gesetzt. Ich hatte dauernd Angst, dass sie erfrieren. Ich habe Kerzen neben die Blumen gesetzt in meinem Frühbeet, dass der Frost sie nicht zerstört. Das ist für mich sehr, sehr interessant. Ein Experiment. Ich habe gehört, dass man in großen Gärten Feuer macht, von dem Rauch kommt dann die Wärme, und deshalb habe ich in meinem Frühbeet Kerzen aufgestellt. Bisher ist nichts erfroren, das Frühbett ist ja überdeckt, es hat funktioniert. Ich habe Paprika im Frühbeet, Tomaten, Astern, Auberginen. Es ist fantastisch, die selbst angepflanzte Tomate zu essen. Ich esse sie wie Süßigkeiten, ein ganz anderes Aroma. Ich habe drei Sorten Johannisbeeren – weiße, rote und schwarze -, Stachelbeeren, gelbe Himbeeren, schmeckt fantastisch. Ich mache viele Experimente in meinem Garten. Meine Tomaten waren dieses Jahr viel zu früh im Frühbeet. Die habe ich erst in einer kleinen Schachtel gesät, dann in Töpfe gepflanzt, einige stehen noch im Zimmer, einige habe ich aber auch im Frühbeet, um zu sehen, ob das klappt, das ist das Experiment. Das ist spannend. Alle haben gesagt, es ist zu früh, man kann sie im Garten erst nach dem 15. Mai pflanzen. Aber ich habe gesagt: probieren, probieren! Ich bin auch stolz auf meinen Garten, und viele Leute gehen vorbei, bleiben stehen, schauen sich meine Blumen an. Zum Beispiel wenn ich Lilien habe, sie duften überall. Fantastisch. Ich habe eine Zwiebel gepflanzt, jedes Jahr kommt eine Blüte dazu, wie Teller, es können 30 Blüten werden, an einem Stock. Das ist doch unmöglich! Wenn alle kommen, bringe ich einen Stock mit. Ich mache auch viele Pflanzen kaputt,
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also ich probiere, wenn eine Pflanze an einem Ort nicht wächst, dann pflanze ich sie um, dabei ist mir schon viel kaputt gegangen. Aber ich probiere immer wieder. Was ist vorne im Bild zu sehen? Vorne im Bild, in der Mitte, das ist, leider habe ich den Namen der Pflanze vergessen. Links vorne sind Glockenblumen, dahinter Kokardenblumen, dahinter links sind Traubenhyazinthen, dahinter Vergissmeinnicht, daneben die kleinen Weißen sind auch Vergissmeinnicht. Der große grüne Busch rechts vor den gelben Blumen: das sind Nelken, daneben in der Mitte Rittersporn, die Gelben sind Gemswurz. Hinten links sind Hyazinthen, daneben kleine Röschen, die sieht man kaum. Neben den Platten ist Schnittlauch. Die Platten habe ich gelegt. Mein Mann kann mir nicht mehr helfen. Die anderen Platten habe ich auch gelegt, links im Bild. Mein Mann hat viele Probleme mit dem Rücken. Aber ich kann alles im Garten machen. Mir tut das gut. Ganz hinten die Hecken, das sind Himbeeren, an den Stöcken, ganz links hinten neben der weißen Wand ist eine Stachelbeere. Ich würde gerne noch eine Blume züchten, ich sehe sie nicht in anderen Gärten, ich habe sie nur einmal in St. Georgen gesehen, in einem Privatgarten. Da möchte ich fragen, wie die Blume heißt. Die ist so schön. Wie kleine Lilien, aber verschiedene Farben in einer Blüte. Sehr interessant. Mit Streifen. Sehr interessante Blumen.
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Interview 5
Abbildung 17: Bild zu Fotointerview 5 Wie alt sind Sie, und woher kommen Sie? Ich bin 72 und komme aus Dneprowsk in der Ukraine. Was machen Sie beruflich? Ich bin gelernte Buchhalterin und habe 42 Jahre in meinem Beruf gearbeitet. Wie sind Sie nach Freiburg gekommen? Als mein Mann vor elf Jahren starb, kam ich nach Deutschland. Meine Tochter war schon verheiratet und hatte Kinder, so dass ich nach dem Tod meines Mannes alleine war, und meine Wohnung zu teuer für mich wurde. Ich hätte entweder essen können oder die Miete zahlen. Mein Sohn wohnte damals schon in Freiburg. Er hat ein Haus und arbeitet bei der Telekom. Er hat auch eine Tochter. Er sagte, ich solle nach Deutschland kommen, da würde es mir besser gehen. Ich kam vor sechs Jahren nach Freiburg. Ich habe acht Monate in einem Flüchtlingsheim gewohnt. Jetzt wohne ich in einer Seniorenwohnung und bekomme 340 Euro im Monat. Meine Nachbarinnen sagen, das sei zu wenig. Aber es geht
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mir gut, ich kaufe gebrauchte Kleidung. Ich esse viel Obst und wenig Fleisch, das geht. Insgesamt habe ich 100 Euro im Monat fürs Essen. Ich habe kaputte Füße. Am rechten Fuß hatte ich bereits zweimal eine Venenoperation. In Deutschland musste ich nicht zahlen, aber in der Ukraine. Ich musste dort für eine OP alles hergeben und hatte danach kein Geld mehr. Ich hatte keine Familie mehr in Dneprowsk. Ich habe einen Bruder, aber der wohnt in Israel. Ich habe ihn einmal besucht, als er sechzig wurde. Sonst ist es zu teuer. Ich habe zwei Jahre für die Reise gespart. Was ist auf dem Bild zu sehen? Mein Balkon, ich sitze da oft, lese oder esse eine Frucht, einen Apfel, Pflaumen, was ich habe. Da steht eine Schüssel mit Früchten, direkt hinter dem Fenster. Ich wohne im Erdgeschoss. Ich habe viel Angst dort. Zweimal hat schon jemand versucht bei mir einzubrechen. Ich war im August im Elsass und kam zurück, und ich habe gesehen, es war wieder jemand in der Wohnung. Es waren Dinge verstellt, jemand war in meinem Schlafzimmer, die Schmuckschatuelle war offen, und ein Ring und eine Kette, die mein Mann mir geschenkt hat, waren weg. Jemand hat Geld gesucht. vierzig Euro lagen in der Wohnung. Sie waren weg. In vier Häusern wurde eingebrochen. Ich bin zu der Hausverwalterin und habe geweint. Sie hat mir erzählt, dass bei vier Leuten eingebrochen wurde. Aber bei mir ist es das zweite Mal. Ich möchte gerne eine Wohnung, die höher ist, auf einem anderen Stockwerk. Ich schlafe schlecht. Und in der Wohnung neben mir ist es immer laut, bis zwei Uhr nachts. Aber ich lebe noch, was kann ich machen? So ist mein Leben. Auf dem Balkon steht ein Tisch, auf dem Tisch stehen zwei Pflanzen. Aber auf dem Balkon stehen noch mehr. Ich habe viele Pflanzen, sie wachsen sehr gut. Ich kann nichts kaputtmachen, das lebt. Was sind das für Decken auf dem Tisch? Die sind aus Gummi.
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Warum liegen die Decken da, machen Sie was an dem Tisch? Nein, ich mache alles in meiner Küche, etwas schneiden oder so. Auf dem Balkon bin ich frei, da lese ich, esse ich Früchte. Und dieser Stuhl? Ich habe ihn gefunden, auf dem Sperrmüll, die Frauen haben verschiedene Sachen auf die Straße gestellt, und ich habe gesehen, der Stuhl gefällt mir. Er hatte ein Loch auf der Sitzfläche. Das habe ich zugenäht, und so ist ein schöner Stuhl bei mir. Ich kaufe nichts, alles ist teuer, ich habe kein Geld. Es ist also ein besonderer Stuhl? Ja, er hat einen besonderen Stoff, Velours, eine schöne Farbe, und das Loch habe ich genäht, alles mit meinen Händen, so ist es auch in meinem Zimmer. In meinem Zimmer steht ein Schlafsofa, das ich gekauft habe. Aber der Tisch war gebraucht. Die Nachbarin, die vor mir in der Wohnung gewohnt hat, hat mir alles andere geschenkt: den Schrank, ein Bett, ein kleines Regal und zwei Schränke. Es ist alles von dieser Frau, ich danke ihr sehr. Sie ist in ein Pflegeheim gegangen. Ich habe in einem Schrank etwas Reserven, falls ich krank werde. Morgen tut vielleicht der Fuß weh, und ich kann nicht gehen. Dort habe ich Öl, Essig, Reis, Nudeln, Mais, Mehl, von jedem eine Packung, alles was ich so esse. Dann gibt es noch einen Schrank, ein schmaler Schrank, in dem hängen meine Kleider. Wie fühlen Sie sich an Ihrem Ort? Sehr gut, ich sitze auf dem Balkon, und von meinem Balkon sehe ich, wer ins Haus geht und kommt, und die Nachbarn kommen auch und fragen, wie es mir geht. Sie sprechen ein bisschen mit mir. Die Sonne scheint von morgens bis nachmittags um zwei Uhr auf meinen Balkon, das ist gut. Es war ein bisschen schimmelig bei mir, aber der Hausmeister hat es in Ordnung gebracht, jetzt ist es trocken.
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Was lesen Sie auf dem Balkon? Ich lese Romane. Eine Bekannte hat mir ein sehr gutes Buch gegeben. Es ist eine Geschichte im Krieg, aus meiner Heimat. Historisch interessant. Das Buch erzählt, was mit den Leuten war, mit den Kindern, während des Zweiten Weltkrieges. Ich lese aber nicht schnell-schnell. Ich fühle das nach. Haben Sie den Krieg auch erlebt? Ich habe den Krieg erlebt. Ich war acht, ich bin 1936 geboren. 42 wurden wir evakuiert. Wir sind nach Kasachstan gelaufen und weiter und weiter, mit meiner Mutter, und mein Vater ist Soldat gewesen. Wir sind gelaufen und gelaufen, mit anderen Leuten. Ich hatte Hunger. Wir hatten zusammen 250 Gramm Brot. Ich habe es im Geschäft geholt, und auf dem Weg musste ich es schon wegessen, ich hatte so einen Hunger. Es war nichts mehr da, als ich Zuhause ankam. 1944 sind wir zurückgekommen, in die Ukraine, ich war krank. Ich hatte eine geschwollene Leber, ich war ganz gelb im Gesicht, weil das Essen so schlecht war. Aber ich bin am Leben geblieben, obwohl meine Mutter gesagt hat, der Doktor habe gesagt, ich würde nicht überleben. Ich war ein Skelett, aber ich lebe, ich lebe bis jetzt. Wenn meine Mutter wüsste, dass ich jetzt hier lebe, sie hätte einen Herzinfarkt, bei den Faschisten. Aber alle sind gut zu mir, ich liebe alle Menschen, arabische, deutsche, ukrainische, mir egal. Wenn ich das im Fernsehen sehe, wie die Menschen mit ihren Kindern im Krieg flüchten, ich weine und weine. Ich kann das nicht sehen. Ich gucke auch das russische Programm, wenig deutsches Fernsehen. Die Nachbarn reden mit mir, sie kennen mich, aber oft glauben die Leute, ich verstehe nicht alles, sie wissen nicht, was sie mit mir reden sollen. Aber ich lache viel, ich habe eine gute Natur, ich helfe. Deshalb sprechen die Leute mich an. Ich habe eine Regio-Karte, und fahre überall hin. Ich will alles sehen, lieber nichts essen, die Karte muss sein! Eine Freundin von mir, sie habe ich angerufen, ob sie mit mir zum Titisee fahren möchte, aber sie sagt, sie habe keine Karte, die ist zu teuer! Ich kann bis ins Elsass fahren. Andere Leute kaufen die Karte nicht, aber ich nehme die Schlüssel, mach die Tür zu und fahre los!
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Ist das eine besondere Schale, in der die eine Pflanze steht? Die Schale ist aus Keramik, ich habe sie auch gefunden, auf dem Sperrmüll. Ich habe alles gefunden, es ist ein bisschen was vom Rand abgebrochen, aber das sieht man nicht, das habe ich weggedreht. Die Tüten liegen auf dem Tisch, damit der Tisch nicht nass wird. Wie sind Sie auf Ihren Ort gekommen, warum haben Sie gerade ihn fotografiert, mit welchen Gedanken? Ich habe es nicht fotografiert, Tetyana [Fotografin von Abb. 14] hat es fotografiert. Ich habe keine Kamera, Tetyana war bei mir mit ihrer Kamera. Aber das ist mein Ort, ich denke dort nach, ich denke an meinen Mann, er war ein sehr guter Mann. Sie haben also keinen Fotoapparat? Ich habe mal eine ganz billige Kamera gekauft, für eine Reise, die habe ich aber meiner Freundin gegeben. Tetyana hat mich gefragt, welches mein Ort ist, und ich habe gesagt, das ist mein Stuhl, das ist mein Ort, und den hat sie fotografiert.
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