Geheimnis-Roman Heft-Nr.: 134
Ihr unbekannter Feind Ein Bastei-Geheimnis-Roman von Luanna Churchill
Eigentlich war al...
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Geheimnis-Roman Heft-Nr.: 134
Ihr unbekannter Feind Ein Bastei-Geheimnis-Roman von Luanna Churchill
Eigentlich war alles so, wie es sich Marlene immer gewünscht hatte. Ferien in einem romantischen alten Farmhaus. Und das Zimmer mit den alten Gaslampen war wunderschön. Marlene konnte nicht ahnen, daß es für sie zu einer Todesfalle werden würde. Sie hielt es für einen Unfall, als sie durch ausströmendes Gas im Schlaf fast erstickt wäre. Auch die Geräusche, die sie in der Nacht hörte, ängstigten sie zuerst nicht. Jedes alte Haus hatte solche Geräusche. Aber dann erkannte Marlene zu ihrem Entsetzen, daß sie einen Feind hatte, der überall in den Schatten lauerte . . .
Marlene Mahoney wischte ärgerlich die Tränen fort, die sie zu blenden drohten. Schuldbewußt blickte sich die junge Frau im Raum um, um sicherzugehen, daß sie auch allein war. Sie schämte sich ihrer häufigen Anfälle von Selbstmitleid und achtete immer darauf, kein Publikum dabeizuhaben. Ständig diese dumme Heulerei, wo sie sich doch geschworen hatte, stark zu sein! Aber Marlene hatte wirklich nicht damit gerechnet, daß ihre Träume von ewiger Liebe und einem Kind schon so bald zerbrechen würden. Dan hatte kein Recht, ihr so etwas anzutun! Es war schon schlimm genug, entdecken zu müssen, daß der Mann, der geschworen hatte, sie immer zu lieben und zu umsorgen, eine krankhafte Neigung zum Trinken besaß und sich außerdem zu leichtfertigen Frauen hingezogen fühlte. Er mußte sie nicht auch noch wegen ihrer - wie er es nannte puritanischen Vorstellungen auslachen! Zuerst war Marlene so schockiert und wütend gewesen, daß ihre Trennung sie kaum berührt hatte. Aber nachdem die Scheidung rechtskräftig geworden war und sie vor den Scherben ihres jungen Lebens stand, hatte ihr Selbstbewußtsein arg gelitten. Anstatt der liebende Mittelpunkt einer Familie zu sein, wie sie es immer erhofft hatte, war sie zu einer abstoßenden Heulsuse geworden. »Verdammt! Verdammt, dieser Kerl!« stieß Marlene grollend hervor und warf ihren Kugelschreiber wütend in das kleine Heft, das neben der Schreibmaschine lag. Marlene war dankbar für die Position, die sie als Drehbuchautorin beim Fernsehen innehatte. Irgend etwas hatte sie damals davor gewarnt, ihren Job bei Excelsior Enterprises aufzugeben, nachdem sie Dan geheiratet hatte. Kopfschüttelnd starrte Marlene auf die Manuskriptseite, die korrigiert werden mußte. Als sie gerade mit der Arbeit beginnen wollte, flog die Tür auf, und Berthell Daugherty stürmte herein und warf sich in den abgenutzten Sessel neben der Tür. Das Mädchen
streckte die Beine weit von sich und ließ seine Arme kraftlos auf den Sessellehnen herunterhängen. Berthells große braune Augen blitzten vor Ärger, und sogar ihre roten Locken schienen vor Empörung zu zittern. »Was ist bloß los mit mir?« fragte sie wütend. »Nein, rufen Sie uns nicht an; wir melden uns«, zitierte sie spöttisch. »Wozu bezahle ich gutes Geld für einen Agenten, wenn er mir keine Aufträge bringen kann? ! « Marlene Mahoney mußte unwillkürlich lächeln. Berthell Daugherty war die temperamentvolle Achtzehnjährige, mit der sie ihre Wohnung teilte. Sofort nach ihrer Scheidung hatte Marlene sich auf Wohnungssuche begeben und war bei einer Besichtigung diesem hübschen, zierlichen Mädchen begegnet. Auch Berthell suchte eine Wohnung, und da sich die beiden von Anfang an gut verstanden, beschlossen sie schließlich, die Wohnung gemeinsam zu mieten. In Berthells Fall war es eine Frage der Sparsamkeit, aber Marlene suchte vor allem einen Menschen, der ihr Gesellschaft leisten würde. Sie hatte die Scheidung noch nicht soweit verkraftet, um allein leben zu können. Das war vor fünf Monaten gewesen. Berthell, das hatte Marlene schon am ersten Tag ihrer Begegnung festgestellt, war ein Mädchen aus dem Dorf, das einen KleinstadtSchönheitswettbewerb gewonnen hatte. Der erste Preis war eine Statistenrolle in einem Film gewesen, und die Filmgesellschaft bezahlte alle Kosten, einschließlich der Reise von der kleinen Stadt in Ohio nach Los Angeles. Von diesem Moment an wuchs in Berthell der grandiose Traum, ein bekannter Filmstar zu werden, und sie weigerte sich trotz der flehenden Briefe ihrer Großeltern, bei denen sie gelebt hatte, auf die heimatliche Farm zurückzukehren. Das meiste der kleinen Gage, die Berthell für die Statistenrolle erhalten hatte, verwendete sie für ein Zimmer in einem der besseren Hotels. Außerdem beauftragte sie einen Agenten.
Als die Zeit verging, keine Aufträge hereinkamen und ihr Geld immer weniger wurde, überwand Berthell ihren Stolz und nahm eine Stellung in einem Büro an. Sie bearbeitete die Kartei eines großen Kaufhauses und hatte beschlossen, dort zu bleiben, bis eines Tages die große Wende kommen würde, mit der sie fest rechnete. »Also war es wieder ein harter Tag, was?« fragte Marlene mitfühlend und fügte hinzu: »Dort auf dem Fernseher liegt ein Brief für dich. « Berthell vergaß augenblicklich ihre Niedergeschlagenheit. »Ein Brief? Für mich?« fragte sie begeistert. Und dann: »Ach, er ist nur von Grandma«, bemerkte sie ein wenig enttäuscht. »Sie vergißt mich wirklich nie - läßt auch nicht eine Woche vergehen, ohne mir zu schreiben.« Jetzt klang ihre Stimme zärtlich. Berthell schlitzte den Umschlag auf und zog ein Blatt heraus, das mit großer Kinderhand beschrieben war. Berthell lächelte, als sie zu lesen begann. Dann sagte sie zu Marlene: »Auch wenn es dich vielleicht zu Tode langweilt, solltest du das vielleicht hören.« Rasch sagte Marlene: »Ganz im Gegenteil, meine Liebe. Ich teile gern Grandmas Briefe mit dir. Sie schreibt so, daß man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen. Und Farmen haben mich immer schon sehr interessiert. Wenn ich einmal reich und berühmt werden sollte, dann möchte ich mir eine Farm kaufen, auf die ich mich zurückziehen kann, falls es mir in der Stadt zu hektisch wird.« »Also gut, du hast es so gewollt«, erwiderte Berthell lachend. Dann las sie vor: »Ich weiß, daß du das Leben hier sehr langweilig findest nach all der Aufregung dort, aber ich bezweifle, Kleines, daß du so glücklich bist wie wir hier.« Berthell hielt inne und räusperte sich umständlich. Dann blickte sie Marlene an und fragte gespielt gleichmütig: »Wie
würde es dir gefallen, morgens um fünf Uhr aufzustehen?« »Ich vermute, daß ich mich daran gewöhnen könnte«, erwiderte Marlene. »Deine Leute werden wohl mit den Hühnern zu Bett gehen, wie man so sagt.« »Manchmal bleiben sie sogar bis zehn Uhr auf. Wildes Leben, was? Hör dir das an: Wir haben ein neues Kalb und Olive Horn ein neues Baby. Es ist ein Junge, ihr elfter schon, und sie ist noch nicht einmal dreißig. Sie heiratete schon mit dreizehn. Grandpa behauptet immer, es sei eine Muß-Heirat gewesen, aber ich war nie sicher, ob es stimmt. Oh, übrigens kam Jimmy Watts vor kurzem vorbei. Seine Augen glänzen immer noch, wenn er deinen Namen hört. Er hofft, daß du jetzt bald nach Hause kommst.« Marlene lachte leise und fragte: »Du hast also einen Verehrer, der auf deine Heimkehr wartet?« Berthell schürzte verächtlich die Lippen. »Dieser komische Kauz sollte sich lieber einen Bauerntölpel suchen, der ihm den Pflug ziehen kann. Du solltest ihn mal sehen. Er hat Warzen und ein ganz pickeliges Gesicht.« »Was schreibt deine Großmutter sonst noch?« fragte Marlene neugierig. »Sie muß ein wunderbarer Mensch sein, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht - so ähnlich wie die Waltons im Fernsehen.« Berthell zuckte die Achseln und fuhr fort: »Morgen werden wir Apfelbutter machen. Nur so können wir all die Sommeräpfel verbrauchen. Einige Gläser werde ich mit Pflaumen mischen - für dich, meine Kleine. Ich weiß, daß es dein liebster Brotaufstrich ist.« Marlene leckte sich die Lippen und bemerkte: »Es gibt nichts Besseres als ein kräftiges Bauernessen. Vermißt du das eigentlich nicht?« Berthell nickte ernst. »Das ist etwas, was ich tatsächlich sehr vermisse. Wenn ich an Grandmas Pfannkuchen mit echtem
Ahornsirup denke, an ihre selbstgemachten Würste oder den geräucherten Schinken, dann läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Das ist etwas anderes als die Hamburger, mit denen wir uns hier vollstopfen. « »Psst! Soll ich vor deinen Augen verhungern? Ich kann schon an nichts anderes denken«, beklagte sich Marlene lachend. »In ein paar Tagen müssen wir die Miete bezahlen«, erwiderte Berthell mürrisch. »Ich kann meinen Anteil diesmal leider nicht aufbringen, Marlene.« »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich bekomme bald Geld«, erwiderte Marlene gutmütig. »Ich weiß, aber ich will dich nicht ausnutzen. Ich glaube, ich werde nie ein Filmstar werden. Deshalb könnte ich auch genausogut dieser widerlichen Stadt den Rücken kehren und nach Hause zurückfahren«, überlegte Berthell traurig. »Dort werde ich wenigstens vermißt, und man hat mich gern.« Sie reichte Marlene den Brief und fügte hinzu: »Hier, lies selbst.« Nachdem Marlene die Zeilen überflogen hatte, bemerkte sie: »Ich frage mich, was wir Stadtmenschen ohne die Leute vom Land anfangen würden.« Berthell sagte abwesend: »Weiß ich auch nicht. Wir würden wohl vor Hunger eingehen.« »Oder lernen, mit Vitaminen und Chemie zu überleben«, erwiderte Marlene lächelnd. Berthell schob das Kinn vor. »Du weißt, daß ich ziemlich stur bin. Ich würde wirklich nur sehr ungern meine Niederlage zugeben und auf die Farm zurückkehren. Ich hatte solche hochgeschraubten Erwartungen, als ich hierherkam, und sieh mich jetzt an! « Marlene runzelte die Stirn. »Kleines, du mußt dir klarmachen, daß Hollywood und Los Angeles voller Mädchen
sind, die an gebrochenem Herzen leiden und ihren verlorenen Träumen nachhängen. Ich habe Glück gehabt, daß mein Talent im Schreiben liegt. Ich würde nur sehr ungern mit all den anderen um miserable Statistenrollen in einem dummen Film anstehen. Das könnte ich nie.« »Wahrscheinlich könnte ich auch eine Weile weiterarbeiten und sehen, was sich tut. Vielleicht kommt noch eine Wende«, sagte Berthell nachdenklich. Dann schüttelte sie resolut den Kopf. »Nein, ich werde das nicht länger mitmachen. Ich fange besser mit dem Packen an. Ich werde zurückgehen, einen langweiligen Bauernsohn heiraten, seine langweiligen Kinder aufziehen und eine langweilige Matrone in einem langweiligen Ort werden«, sagte sie wehmütig. Marlene protestierte. »Der Brief deiner Großmutter hat dich in einem sehr empfindlichen Moment erreicht. Bist du sicher, daß du das Richtige tust, indem zu zurückgehst?« Sie hatte sich an die Gesellschaft des temperamentvollen Mädchens gewöhnt und dachte mit Schrecken daran, daß sie jetzt plötzlich wieder mit ihrer Einsamkeit allein fertigwerden müßte. »Wir können uns nicht so einfach trennen«, protestierte Marlene heftig. »Wenn du es dir vielleicht noch einmal überlegst. . .« »Es hat keinen Sinn«, fiel ihr Berthell ins Wort. »Ich lasse dich nur ungern allein, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.« Sie musterte ihre Freundin einen Moment scharf und platzte dann heraus: »Warum fährst du nicht auch nach Hause, Marlene? Sicher wären deine Eltern auch froh, dich wieder bei sich zu haben.« Marlene machte ein wehmütiges Gesicht. »Du wirst wohl auch bemerkt haben, in welchem Ton sie mir schreiben«, sagte sie spöttisch. »Ich bin der letzte Mensch auf der Welt, den sie jetzt bei sich haben wollen. Weißt du, sie leben in einer Kleinstadt in Wisconsin, wo jeder über das Leben der anderen
Bescheid weiß. Sie versuchen immer noch, den Skandal um meine Scheidung zu vertuschen. Sie halten mich für ein zügelloses Frauenzimmer, nur weil mein Mann und ich nicht miteinander ausgekommen sind.« »Oh, wie leid mir das für dich tut«, sagte Berthell bedrückt. Doch dann hellten sich ihre Augen auf, und sie rief begeistert: »Ich weiß! Du kommst einfach mit zu mir nach Hause! Da du deine Arbeit ohnehin per Post abschickst, könntest du ja überall arbeiten. Wer weiß? Vielleicht findest du ja einen unserer Bauerntölpel unwiderstehlich und willst gar nicht mehr fort.« Marlenes Züge verhärteten sich. »Ein Mann ist wirklich das Allerletzte, was ich brauche. Vielen Dank.« »Das glaubst du jetzt«, erwiderte Berthell vernünftig, »aber du bist noch jung und viel zu hübsch, um allein zu bleiben. « Marlene runzelte nachdenklich die Stirn. Natürlich war sie nicht an einem neuen Partner interessiert, aber sie konnte sich auch nicht mit dem Gedanken anfreunden, ganz allein zu leben. Rasch sagte sie: »Ich komme mit dir, vorausgesetzt, daß deine Großeltern einverstanden sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie begeistert sein werden. Haben sie Telefon?« »Klar!« Berthells Gesicht strahlte vor Freude, und sofort war sie voller Pläne. »Ich bezahle das Gespräch. Aber rufe sie an und versichere dich, daß sie auch einverstanden sind«, schlug Marlene vor. Berthells Aufregung steckte an und sie hoffte, daß die Großeltern Berthells Plan annehmen würden. Berthell blickte auf ihre Armbanduhr. »Sie werden jetzt alle zu Hause sein. Um diese Zeit essen sie.« Es dauerte zwei Stunden, bis Berthell endlich die Verbindung bekam. Die Großmutter meldete sich am anderen Ende der Leitung und ihre Stimme klang so warm und beruhigend, daß Berthell in Tränen ausbrach. Es stellte sich heraus, daß die Großeltern die Freundin ihres kleinen
Mädchens herzlich willkommen hießen und überglücklich waren, ihre Enkelin bald wiederzusehen. Nachdem Berthell aufgelegt hatte, war sie plötzlich sehr ernüchtert. In den fünf Monaten ihres Zusammenseins hatte sie ihrer Freundin nie von ihrer Familie erzählt. Sie ließ sich in den verschlissenen Sessel fallen und begann zu sprechen. »Weißt du, Marlene, Grandma und Grandpa sind die einzigen Eltern, die ich je gekannt habe. Ihre einzige Tochter war meine Mutter. Sie und Dad begaben sich ein paar Monate nach meiner Geburt auf eine zweite Hochzeitsreise und ließen mich bei meinen Großeltern zurück. Ich erinnere mich natürlich nicht daran, aber ich habe die Geschichte so oft gehört, daß ich alles klar vor mir sehe. « Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Sie kamen gerade nach Hause, nach einer wunderschönen Woche in der Hauptstadt. Sie waren überglücklich, ihr Baby und die Familie wiederzusehen. Sie nahmen den Zug bis Maltville, das etwa achtzehn Meilen von der Farm liegt, mußten dann jedoch einen Pferdewagen mieten, weil ein furchtbarer Sturm wütete. Kein Auto konnte die schlammbedeckten Straßen befahren, und die Schnellstraße wurde erst ein paar Jahre später gebaut. Auf dem Weg waren sie gezwungen, einen Fluß zu überqueren, der bei normalem Wetter völlig unbedeutend war.« Berthell räusperte sich bewegt und erzählte weiter: »Durch den Sturm war das Wasser im Fluß angestiegen, und der Kutscher konnte die Furt nicht sehen. Die Pferde gerieten in ein tiefes Loch, und die Kutsche kippte um. Da es heftig regnete, waren Türen und Fenster verschlossen, und so konnten meine Eltern sich nicht befreien. Dem Fahrer gelang es, ans Ufer zu schwimmen. Später folgten auch die Pferde und zogen die Kutsche hinter sich her. Aber da waren meine Eltern schon ertrunken. Deshalb hängen meine Großeltern so an mir. Ich bin alles, was ihnen von ihrer Tochter geblieben ist. Sie sagen, ich sei das genaue Abbild meiner Mutter.«
Marlene blickte Berthell voller Mitleid an. Berthell sprach mit leiser Stimme weiter: »Berthell, dieser alberne Name, ist eine Verbindung aus den Namen meiner Eltern. Meine Mutter hieß Bertha und mein Vater Russell, und so haben sie mich eben Berthell genannt.« Sie verstummte, und Marlene sagte nach einer Weile: »Ich hatte mich schon gewundert, wie du zu dem Namen gekommen bist. Ich finde ihn schön, und dein Schicksal tut mir sehr leid, Liebes. Aber deinen Worten nach zu urteilen, müssen deine Eltern sehr glücklich miteinander gewesen sein, und du mußt einsehen, daß es für deine Großeltern ein Segen ist, daß du ihnen geblieben bist.« »Das hoffe ich«, sagte Berthell ernst. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, und sie rief: »Wann sollen wir abreisen? Wir müssen unsere Reise planen.« »Mein Wagen ist fast neu. Er sollte uns also hinbringen«, schlug Marlene vor. »Ohio, wir kommen!« Sie sprachen bis zum Abend über ihre Fahrt, aufgeregt wie zwei Schulmädchen, die sich auf eine Reise um die Welt vorbereiteten. An diesem Abend erhielt Berthell einen Anruf von ihrem Agenten. An seinem Ton erkannte sie, daß er sie für verzweifelt genug zu halten schien, jede Art von Beschäftigung anzunehmen, solange sie nur etwas mit dem Showgeschäft zu tun hatte. Seine folgenden Worte bestätigten ihren Verdacht. »Ich habe eine tolle Gelegenheit für Sie, Kleines«, sagte er mit verschwörerischer Stimme. »Ginos Bar sucht ein gutaussehendes Go-Go-Girl zum Vortanzen. Ich glaube, Sie sind genau das, was die suchen.« Berthell wie seinen Vorschlag empört ab und informierte ihn kühl, daß sie seine Dienste nicht länger in Anspruch nehmen werde. Sie konnte es sich allerdings nicht verkneifen, eine kleine Lüge anzubringen. Stolz sagte sie: »Man hat mir eine großartige Stellung in
einem Theater in Ohio angeboten. Wissen Sie, ich bin dort nämlich nicht ganz unbekannt.« Als die Mädchen schließlich auf dem Weg nach Ohio waren, überfielen Berthell plötzlich doch Zweifel, ob es richtig war, auf die Farm zurückzukehren. Sie sagte zu Marlene: »Ich werde wohl nie wieder so weit nach Westen kommen. Warum nehmen wir uns also nicht die Zeit, uns auf dem Weg alles anzusehen? Wenn du Geld dazu hast, natürlich nur. Großvater wird dir deine Ausgaben erstatten, sobald wir zu Hause sind.« Marlene vermutete, daß ihre Freundin es doch heimlich bedauerte, die Glitzerstadt Los Angeles für immer verlassen zu müssen, und so erwiderte sie freundlich: »Wer weiß, vielleicht komme ich auch nie wieder hierher. Machen wir also das Beste aus der Reise, was? Ich kann abends an meinen Drehbüchern arbeiten, und was das Geld betrifft, vergiß es, Kind. Es ist mein Dankeschön für all die Monate, in denen du mir Gesellschaft geleistet hast, als ich dich brauchte.« Sie waren noch nicht weit gefahren, als Berthell vorschlug, einen Anhalter mitzunehmen. »Auf keinen Fall!« wehrte Marlene entschieden ab. »Fremde mitzunehmen, ist der beste Weg, ermordet oder beraubt zu werden. Wie fändest du es, brutal zusammengeschlagen und in der Wüste zurückgelassen zu werden?« »Aber er war so jung und hübsch! Er sah wirklich nicht aus, als könnte er etwas Böses tun«, protestierte Berthell. »Er wäre bestimmt auch unterhaltend gewesen. Hast du seine Gitarre gesehen?« Marlene fuhr unbeirrt weiter. »Pretty Boy Floyd, der berühmte Frauenmörder, sah auch sehr gut aus. Wir können das Radio anstellen, wenn wir Unterhaltung haben wollen.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als der Wagen plötzlich zu schwimmen begann und nach einer Seite zog. Kein Zweifel, ein Reifen war platt! Marlene bremste und stieg aus.
Berthell maulte: »Wenn wir den Anhalter mitgenommen hätten, dann hätte er uns den Reifen wechseln können.« »Ich habe schon sehr viele Reifen gewechselt«, erwiderte Marlene gleichmütig. »Ach, ich weiß auch, wie es gemacht wird«, sagte Berthell, »aber es wäre mir lieber, wenn es jemand anderer für mich erledigen würde. « Marlene blickte sie streng an. »Komm, Berthell. Wir beide sind jeder Situation gewachsen. Nun, beinahe jeder«, fügte sie hinzu. Nach diesem unerwarteten Aufenthalt beschloß Marlene etwa zweihundert Meilen weiter, für heute haltzumachen. Sie fanden ein kleines, ordentliches Hotel. Marlene verbrachte fast den ganzen Abend in dem hübschen Zimmer und arbeitete an ihrem Drehbuch. Berthell streifte einen Badeanzug über und wollte den Swimmingpool des Hotels testen. Es war erst nach Mitternacht, als Marlene ihre junge Reisegefährtin wiedersah. Sie hatte bei ihrer Arbeit nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Als sie auf die Uhr sah, begann sie, sich um Berthell zu sorgen und wollte sie gerade suchen, als die Tür aufflog und Berthell hereinstürmte. Ihre Worte überschlugen sich, als sie erregt ausrief: »Weißt du, was? Ich habe gerade einen tollen Typ getroffen. Er lebt in Hollywood und ist auf dem Heimweg. Du wirst dir nicht vorstellen können, was er beruflich macht!« »Du wirst es mir sicher sagen«, erwiderte Marlene trocken. »Er ist Gebrauchsgraphiker«, verkündete Berthell mit dramatischem Gesichtsausdruck. »So? Ist das etwas Besonderes?« »Klar! Und weißt du, was? Er stellt Modelle ein - für fünfundzwanzig Dollar die Stunde!« Berthell blickte Marlene triumphierend an.
Marlene nickte weise. »Und er möchte, daß du für ihn Modell stehst?« Berthell kicherte begeistert. »Woher weißt du das?« »Wie viele Stunden in der Woche?« »Das hat er nicht gesagt.« »Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Marlene kopfschüttelnd. »Sei vernünftig, Mädchen. Dieser Mann ist vermutlich genausowenig ein Gebrauchsgraphiker wie du und ich!« »Aber er muß viel Geld haben. Er hat mir seinen Cadillac gezeigt«, rief Berthell empört, sofort bereit, ihren neu gewonnenen Freund zu verteidigen. »Woher weißt du, daß es seiner ist? Er könnte irgendeinem Gast des Hotels gehören. Oder vielleicht ist der Wagen sogar gestohlen. « Berthell schnitt eine Grimasse. »Du mißtraust wohl allen Männern, was?« »Nicht allen, Kleines. Nur vielen von ihnen«, erwiderte Marlene ehrlich. »Du könntest natürlich recht haben. Vielleicht hat er mir einfach etwas erzählt«, gab Berthell zu. »Du kämpfst wirklich mit dir, nach Hause zurückzukehren, nicht wahr?« fragte Marlene verständnisvoll. Das jüngere Mädchen nickte langsam. »Sobald ich auf der Farm eintreffe, wird man in der ganzen Umgebung wissen, daß ich in Kalifornien versagt habe.« »Du hast Glück, daß du überhaupt ein Zuhause hast, wohin du zurückkehren kannst«, sagte Marlene ruhig. »Weißt du eigentlich, daß die meisten der Schauspieler, die für das Fernsehen und den Film arbeiten, weniger als zweitausend Dollar im Jahr verdienen?« »Woher weißt du das?«
»Der Vorsitzende der Schauspielergewerkschaft hat es mir erzählt.« Dann fügte sie hinzu: »Ich wette, daß nicht viele Modelle fünfundzwanzig Dollar die Stunde verdienen.« »Wahrscheinlich hast du recht«, gab Berthell mürrisch zu. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Aber meine Leute zu Hause werden sehr beeindruckt sein, wenn sie hören, wie bekannt du beim Fernsehen bist.« Marlene lächelte schwach. »Es gibt Dutzende von Drehbuchschreibern, die wesentlich besser bezahlt werden als ich, obwohl ich nicht klagen kann.« »Meine Großeltern brauchen ja nicht zu wissen, daß du nicht zu den ganz Großen gehörst. He, warum tun wir nicht einfach so, als wäre ich deine Sekretärin?« Sie erwärmte sich für die Idee und fuhr fort: »Ich kann Schreibmaschine schreiben und stenographieren.« »Wie würdest du erklären, daß du kein Gehalt bekommst?« »Dazu werde ich mir schon etwas einfallen lassen.« »Ich kann dir nicht dabei helfen, deine Familie zu belügen, Berthell«, sagte Marlene entschieden. »Okay, dann sage ich ihnen eben die bittere Wahrheit.« Sie preßte fest die Lippen zusammen. »Und noch etwas. Ich werde Zimmer und Verpflegung bezahlen, während ich bei euch bin«, verkündete Marlene entschlossen. »Das werden sie nicht annehmen. Du bist meine Freundin.« »Irgendwie werde ich mich für ihre Gastfreundschaft erkenntlich zeigen.« »Na, hoffentlich denkst du noch so, nachdem du eine Weile bei uns gewesen bist.« Berthell musterte Marlene scharf. »Ich hoffe, daß es dir nichts ausmachen wird, in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt zu werden. Und ich verlasse mich darauf, daß du dich nicht vor Gespenstern fürchtest.«
*** Marlene drängte Berthell, ihr zu erklären, was sie mit Gespenstern gemeint hatte. Berthell reagierte schnell, als sie das blasse Gesicht ihrer Freundin sah. »Oh, ich wollte dich nicht erschrecken, Marlene«, rief sie erschrocken. »Grandma wird allmählich alt - sie und Grandpa sind weit über sechzig -, und ich glaube, sie bildet sich gewisse Dinge ein. In einigen ihrer Briefe schrieb sie, sie habe sonderbare Geräusche gehört, und sie erwähnte es auch, bevor ich die Farm verließ. Aber ich habe nicht darauf geachtet. Mach dir keine Gedanken. Wahrscheinlich ist es nicht mehr als die Einbildungskraft einer alten Frau.« Die beiden Mädchen waren über eine Woche unterwegs, bevor sie erschöpft endlich ihr Ziel Maltville erreichten. Berthell zeigte Marlene im Vorüberfahren alles Sehenswerte der kleinen, geschäftigen Kreisstadt. Marlene war beeindruckt. »Wenn es das ist, worüber du gesprochen hast, dann bin ich bereits begeistert«, freute sie sich. »Ich dachte, wir kämen in richtiges Hinterland.« »Laß dich von Maltville nicht irreführen«, warnte Berthell. »Ich gebe zu, daß es ziemlich modern ist. Hier fand der Schönheitswettbewerb statt. Aber bis jetzt hast du noch nichts gesehen. Wenn du Hinterland haben wolltest, keine Sorge, du wirst es schon bald sehen.« »Ich glaube, du übertreibst«, schalt Marlene. »Ich muß ja fast glauben, daß du mich davontreiben willst, bevor wir überhaupt ankommen.« »Du wirst schon sehen«, unkte Berthell. »Vielleicht sollte ich dir ein wenig über die Bewohner von High-Hill-Farm erzählen, damit der Schock nicht zu groß für dich ist.«
»Das wäre nicht schlecht«, stimmte Marlene zu. »Nun, ich beginne am besten mit meinen Großeltern«, sagte Berthell nachdenklich. »Versteh mich bitte nicht falsch, Marlene. Ich liebe sie sehr und würde sie um nichts in der Welt hergeben, aber, weißt du, ich habe mich schon an sie gewöhnt. Grandma ist groß, einen Meter fünfundsiebzig, von sehr kräftiger Statur. Sie kann sehr heftig werden, hat jedoch einen phantastischen Sinn für Humor. Ich glaube, sie hat keine einzige Falte in ihrem runden Gesicht.« »Das hört sich zu schön an, um wahr zu sein«, bemerkte Marlene. »Aber warte - das Merkwürdige ihres Wesens kommt noch. Sie ist schrecklich puritanisch und haßt alles Moderne. Sie trägt ihr graues Haar immer noch mit strengem Mittelscheitel und hat es zu einem Knoten gebunden. Zum Glück ist ihr Haar von Natur aus wellig, und so sieht es nicht zu hausbacken aus. Aber das wäre ihr natürlich gleichgültig. Und ihre Kleider! Sie trägt immer noch bodenlange Hauskleider mit weiten Röcken und langen Schürzen darüber. Und es stört sie gar nicht, wenn ihre Kleider einer Reparatur bedürfen. Sie sieht gewöhnlich so aus, als käme sie direkt aus einem Lumpensack, aber das ist wohl verständlich. Sie kann ja nicht elegant aussehen, wenn sie Großvater so oft auf dem Feld hilft. Sie besitzt für ihr Alter unglaubliche Ausdauer. « »Nun, es ist ihr Heim, warum sollte sie sich nicht so kleiden, wie es ihr gefällt?« fragte Marlene lächelnd. »Zu Hause ist es schon in Ordnung, glaube ich, aber wenn sie ihre Sonntagssachen anzieht, wie sie sie nennt, dann ist es auch ein bodenlanger schwarzer Rock und dazu eine hochgeschlossene weiße Bluse mit Stehkragen. Am Hals trägt sie eine uralte Brosche. Sie sieht aus, als käme sie gerade aus einem Wildwestfilm, aber die Leute im Dorf akzeptieren sie und haben sie sehr gern. « »Und dein Großvater? Ist er mit
ihrer Art, sich zu kleiden, einverstanden?« »Oh, er ist genauso. Zu Hause trägt er meist verschlissene Latzhosen und alte blaue Arbeitshemden. Auf dem Kopf hat er fast immer einen breitrandigen Strohhut, der schon längst auf den Müll gehört. Im Winter vertauscht er ihn mit einer Pelzkappe mit Ohrenklappen, und dazu trägt er eine alte Schafsfelljacke. Er hat einen Bart, und damit sieht er richtig finster aus, aber er ist der sanfteste Mann, den ich mir vorstellen kann. Er ist sehr groß und sehr schlank. Grandma und Grandpa tragen beide altmodische Goldrandbrillen, wie sie zur Zeit Benjamin Franklins getragen wurden.« »Was für ein malerisches Paar müssen sie sein«, sagte Marlene beeindruckt. »Sie besitzen grenzenlose Energie«, fuhr Berthell fort. »Sie tanzen leidenschaftlich gern Volkstänze und nehmen an jedem Fest im Ort teil.« »Hattest du nicht auch von einem Großonkel oder Onkel gesprochen?« fragte Marlene neugierig. »Beides«, erwiderte Berthell. »Grandmas Bruder, Arzy Robinson, lebt auch auf der Farm. Er ist zehn Jahre jünger als Grandma, schmächtig gebaut und hat dünnes rötliches Haar und viele Sommersprossen im Gesicht. Er ist Junggeselle und lebte schon immer bei uns. Früher war er ihnen eine große Hilfe, aber dann hatte er einen Unfall und verlor einen Fuß. Er hat einen künstlichen Fuß, weigert sich jedoch, ihn zu tragen. « »Was meintest du mit >beides<, als ich nach deinem Onkel fragte?« »Oh, die Hauptstütze der Farm, finanziell gesehen, ist Onkel Fen, Fenwick Frisbey. Er ist der jüngere Bruder meiner Mutter und sieht sehr gut aus, hat hellbraunes Haar und braune Augen. Er ist groß, kräftig und, das muß ich sagen, sehr herrisch. Aber er wird dir gefallen, glaube ich. Im Augenblick ist er allerdings sehr unglücklich, denn er hat vor etwa sechs Monaten seine
Frau verloren. Sie waren nur kurze Zeit verheiratet, und ich habe nie verstehen können, wie es zu dieser Verbindung kam. Evelyn hat nie auf die Farm gepaßt. Sie war viel zu zart und war in einem Mädchenpensionat aufgewachsen. Ich war immer der Ansicht, daß sie viel zu flatterhaft für Onkel Fen war. « »Wie alt ist dein Onkel?« fragte Marlene interessiert. »Zweiunddreißig, glaube ich. Er besitzt eine sehr exklusive Möbelfabrik in Maltville. Seine Fabrik gibt den meisten Leuten in der Stadt Arbeit. Ich weiß nicht, wie sie ohne ihn überleben würden. Weißt du, er läßt die Bäume fällen, sie werden in seinem eigenen Sägewerk zurechtgeschnitten und dann in der Fabrik von ausgezeichneten Handwerkern zu Möbeln verarbeitet. Die handgemachten Frisbey-Möbel sind überall bekannt, sogar im Ausland. « »Man sollte meinen, daß ein so erfolgreicher Mann in einer Luxuswohnung in der Stadt lebt«, bemerkte Marlene. »Nicht Onkel Fen«, sagte Berthell mit Überzeugung. »Er liebt die Farm, obwohl die Arbeit auf dem Feld ihn nicht reizt. Außerdem will er in der Nähe meiner Großeltern sein.« »Gibt es noch andere Leute, die ich kennenlernen werde?« fragte Marlene. »Ich hatte mir vorgestellt, daß nur deine Großeltern im Haus leben.« »Da ist nur noch Chad Talbot. Er ist Grandpas rechte Hand auf der Farm. Er hat sich ein kleines Häuschen neben der Scheune gebaut.« Berthell schwieg und fuhr dann fort: »Er ist nun, nicht gerade geistig zurückgeblieben, aber ein wenig langsam im Denken. Aber er ist in Ordnung, wenn er auch Fremden gegenüber mißtrauisch ist. Sein düsteres Stirnrunzeln hält die Leute von ihm ab, und mit seinem wirren schwarzen Haar und den dunklen Augen sieht er ein bißchen wild aus, aber er ist zahm wie ein Kätzchen. Für Großvater ist er eine Stütze. Ich glaube, Chad ist Ende Zwanzig. « Beide Mädchen schwiegen, als sie über die schmale Straße
fuhren. Anders als die Highways, dachte Marlene bei sich. Plötzlich sagte Berthell: »Ich hätte es beinahe vergessen. Da ist noch Elsie Phipps, aber sie lebt nicht auf der Farm. Sie ist drei oder vier Jahre älter als ich und die Tochter eines benachbarten Farmers. Sie hat rotes Haar, grüne Augen, ist mürrisch und ein bißchen grob, aber sie ist eine gute Arbeiterin. Grandma holte sie immer während der Einmachzeit zu Hilfe. Mach nur Chad keine schönen Augen in ihrer Gegenwart! Sie hat ihr rotes Haar und die grünen Augen nicht umsonst. Sie ist der Ansicht, er gehöre ihr, und sie würde ihn mit allen Mitteln verteidigen.« »Da braucht sie sich bei mir keine Sorgen zu machen«, sagte Marlene lachend. »Eine gute Sammlung scheint ihr auf der High-Hill-Farm zu haben!« »Nun, langweilig wirst du es bestimmt nicht finden«, sagte Berthell. »Das kann erst passieren, wenn du eine Weile dort bist.« »Wie weit ist es noch?« fragte Marlene ungeduldig. »Noch ein paar Meilen bis Chesterton, und von dort sind es dann drei bis zur Farm. Hast du das Schild Privat bemerkt, an dem wir gerade vorbeigefahren sind?« »Ja. Warum?« »Nun, das ist eine Abkürzung zur Farm. Onkel Fen hat den Weg durch den Wald schlagen lassen. Es hat ihn ein Vermögen gekostet und sehr viel Ärger mit der Bürokratie, aber schließlich hat er es geschafft. Von dem Schild bis zur Farm ist es nur eine Meile.« »Warum sind wir dann nicht dort abgebogen?« Marlene war etwas pikiert, daß sie diesen Umweg fahren sollte, wo es doch einen kürzeren Weg gab. »Weil ich möchte, daß du die High-Hill-Farm zum ersten Mal auch richtig siehst«, erwiderte Berthell verschmitzt. »Über
diesen Weg hättest du keinen schönen Blick darauf. Onkel Fen wollte nicht immer bis Chesterton fahren müssen. Deshalb hat er den Weg anlegen lassen. « Bald darauf befanden sie sich im Zentrum von Chesterton. Ein paar Häuser aus der viktorianischen Epoche waren zu sehen; es gab einen Lebensmittelladen und eine Tankstelle. Mehr konnte Marlene beim besten Willen nicht entdecken. »Das ist also Chesterton?« fragte sie und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Wie viele Einwohner hat der Ort?« »Etwa dreihundert«, sagte Berthell. »Aber die umliegenden Farmer schließen hier ihre Geschäfte ab.« »Gibt es hier etwas, wo man seinen Durst stillen kann?« fragte Marlene. »Ich würde mir auch gern ein wenig die Beine vertreten.« »Ja, da vorn ist eine Eisdiele«, sagte Berthell und deutete auf ein kleines Haus. »Oh, wir sind richtig modern hier, das sollst du wissen. Es gibt Coca-Cola und Sodawasser und andere gute Sachen. « Marlene hatte den Wagen unter einem riesigen Ahornbaum geparkt. »Komm, gehen wir«, sagte sie ungeduldig zu Berthell. »Oh, Doktor Peebles!« rief Berthell plötzlich erfreut, als sie ihre Drinks bestellt hatten. »Ich hatte Sie beim Hereinkommen gar nicht gesehen! « Marlene wandte sich um und blickte in die zwinkernden grauen Augen eines Mannes, der an der Theke lehnte. Er trug einen abgetragenen grauen Filzhut, und sie sah, daß auch sein Haar darunter grau war. Auch der Anzug war aus dieser Farbe. Der Mann ist eine Studie in Grau, dachte Marlene belustigt. »Doc, ich möchte, daß Sie meine liebe Freundin Marlene Mahoney kennenlernen. Sie wird eine Weile bei uns auf der Farm bleiben. Sie ist eine bekannte Drehbuchautorin. «
Marlene war sehr verlegen. »Marlene, hier ist der Mann, der mich auf die Welt gebracht hat. Mich und die meisten jungen Leute hier, würde ich sagen. « Doktor Peebles tippte an seinen grauen Hut. Dann sagte er anerkennend zu Marlene: »Eine richtige Schönheit sind Sie, was? Wir könnten hier mehr solcher Mädchen brauchen.« »Aber Doc«, neckte ihn Berthell, »ich dachte, ich wäre das Hübscheste, was Sie je gesehen haben! « »Das warst du, bis Marlene Mahoney kam«, meinte er grinsend. Dann fügte er etwas ernster hinzu: »Wie seid Ihr hierhergekommen?« »Mit dem Wagen«, erwiderte Marlene sofort. »Wir sind den ganzen Weg von Los Angeles in meinem Pinto gekommen.« »Nun, weiter werden Sie wohl auch nicht kommen, bis die Straßen trocken sind«, sagte der Arzt nachdenklich. »Die Straße zur Farm ist nicht befahrbar. Sie würden sofort im Schlamm steckenbleiben. Es hat in den letzten Tagen sehr heftig geregnet.« »Aber was sollen wir tun?« rief Marlene alarmiert. »Ich würde vorschlagen, daß Sie Ihren Wagen in der Garage dort drüben abstellen und einen Pferdewagen mieten. Ihr Auto können Sie später abholen. Es ist dort gut aufgehoben.« Marlene hatte das kalte Getränk bereits vergessen. »Gehen wir, Berthell!« rief sie aufgeregt. »Stellen wir fest, was los ist.« »Bis später«, rief der Arzt ihnen nach, als die Mädchen aus dem Lokal eilten. Sie stiegen in den Wagen, und Berthell zeigte Marlene den Weg zur Mietgarage. Und zehn Minuten später war ihr Gepäck bereits in einem leichten Pferdewagen verstaut, vor den zwei nervöse Schimmel gespannt wurden. Es war Marlenes erste Fahrt in einem pferdegezogenen Gefährt, und nach einer Weile tat ihr jeder Knochen weh,
während der Wagen weiter über die ausgewaschene Straße holperte. Schlamm spritzte von der Straße auf die ungeschützten Kleider der Mädchen, und die Reise schien nicht enden zu wollen! Das einzig Positive an der Fahrt war die herrliche Landschaft, die sie umgab. »Wir hätten zu dem Weg zurückfahren sollen, den dein Onkel gebaut hat«, sagte Marlene vorwurfsvoll. »Nein«, erwiderte Berthell. »Das Schönste kommt erst noch, und ich möchte auf keinen Fall, daß du es verpaßt.« Bald wußte Marlene, was ihre Freundin gemeint hatte. Die Hügel stiegen immer höher an, und die Täler wurden tiefer. Zuweilen konnte sie über einen ganzen Wald hinwegsehen, und dann wieder befanden sie sich mitten in einem Tal, das so grün war, wie Marlene es sich nie hätte vorstellen können. Als sie um die letzte Biegung fuhren, deutete Berthell nach vorn. »Da - wie findest du es? Das ist es«, sagte sie stolz. Am Ende eines blühenden Tals sah Marlene eine Scheune. Sie erkannte auf der Wiese dahinter Kühe und zwei oder drei Pferde. Hinter der Scheune lagen ein paar Gebäude, vermutlich Kornkammern und Ställe. Ein weiteres eckiges Gebäude kam in Sicht, bevor sie das eigentliche Haus sehen konnte. Als sie näher kamen, bemerkte Marlene, daß die Straße tief unter den Gebäuden vorbeiführte, und als der Wagen in das Tor einbog, sah sie die Zäune, die die verschiedenen Weiden voneinander trennten. Ein kleiner Küchengarten besaß seinen eigenen Zaun, und der Hof um das Haus war von einem altmodischen Gatter umgeben. Das Haus selbst kam ihr überwältigend groß vor, obwohl es nur zwei Stockwerke zu haben schien. Es stand auf einem Hügel, und man erreichte es über eine Treppe. Auf der Vorderseite zog sich eine Veranda mit kräftigen Säulen hin, die anscheinend um das ganze Haus gebaut war. Jede Veranda besaß eine eigene Treppe. Das Haus war weiß gestrichen und
hatte grüne Fensterläden und ein spitzes Schieferdach. »Hier haben wir immer gelebt«, sagte Berthell verträumt. »Dieses Haus war Großvaters Hochzeitsgeschenk an seine Frau. Er hat es selbst gebaut, nur für sie. Sie liebte diesen hohen Hügel sehr, und so hat er das Land gekauft und ihr Heim gebaut. Das Grundstück ist nur vierzig Hektar groß, und das meiste davon ist nicht zu bearbeiten, weil es so hügelig ist. Aber Großmutter hat ihren Garten und Großvater seine Felder, und so haben sie im Sommer frisches und im Winter selbsteingekochtes Gemüse. Sie pflanzen auch Mais, Weizen und Heu an, aber das meiste Land wird als Weideland genutzt. Natürlich gibt es ein paar Neuerungen, für die Onkel Fen verantwortlich ist.« »Es ist wunderschön!« sagte Marlene ehrfürchtig. »Was für eine friedliche, perfekte Umgebung zum Arbeiten! « Die beiden Mädchen gingen mit den Koffern in der Hand über einen flachen Pfad zum Haus, und der Kutscher brachte die schwereren Gepäckstücke. Eine große Frau mit breiten Hüften und lächelndem Gesicht stürzte mit einer Behendigkeit aus der Tür, die ihr Alter Lügen strafte. »Willkommen zu Hause, Kleines!« rief sie, eilte auf Berthell zu und drückte sie fest an ihre Brust. Ihre Augen schimmerten feucht vor Glück, als sie sich an Marlene wandte. »Und das muß Marlene sein.« Marlene fand sich an dem mütterlichen Busen der Frau wieder, bevor sie überhaupt etwas sagen konnte. »Und Sie müssen Grandma sein.« Sie lächelte die alte Frau an. »Ich bin so dankbar, daß Sie mir erlaubt haben, mit Berthell heimzukommen.« »Wir freuen uns, noch eine andere junge Frau im Haus zu haben«, versicherte Grandma ihr. Dann: »Mein Gott, Kind, was sind Sie hübsch! Ich sehe jetzt schon, wie all die jungen Männer aus der Umgebung Ausreden erfinden, um herkommen
zu können.« Marlene spürte, wie sie errötete. Sie war nicht an so offene Bewunderung gewöhnt und es fehlten ihr die Worte. Aber Grandma fuhr fort, bevor sie sich zusammennehmen konnte: »Und Berthell hat uns geschrieben, daß Sie eine berühmte Schriftstellerin sind. Eine bekannte Fernsehautorin unter unserem Dach!« Marlene war auf einen solchen Empfang nicht vorbereitet gewesen, aber es wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie wußte, daß sie in einer solchen Umgebung und mit so herzlichen Menschen ihre Niedergeschlagenheit rasch ablegen würde. In diesem Augenblick erschien ein großer, hagerer Mann mit Bart an der Tür. »Nun, Lib, bring das Mädchen doch herein. Laß uns doch miteinander bekannt werden. Sie soll doch nicht den ganzen Tag auf der Schwelle stehen.« »Ach, Tom«, sagte Grandma lachend, »Natürlich kommen wir herein. Die armen Kinder müssen ja ganz erschöpft sein. Sobald ihr euch ein wenig erfrischt habt, gibt es ein Stück frischen Apfelkuchen und ein Glas Milch. Und du rührst den Kuchen bis zum Abendessen nicht an! Hast du mich verstanden?« »Achte nicht auf sie«, flüsterte Berthell Marlene zu. »So reden sie die ganze Zeit miteinander, aber beide lieben es sehr!« Grandpa nahm Marlenes Hand und zog sie durch die Tür. Er blickte sie lange und scharf an und sagte dann: »Du bist in Ordnung, Mädchen. Siehst mir aus, als wärst du ganz vernünftig, gerade richtig für unsere Kleine.« Und dann packte er Berthell um die Taille und hob sie hoch in die Luft. Danach küßte er sie herzhaft, setzte sie ab und wischte sich mit einem großen blauen Taschentuch über die Augen. Eine Bewegung hinter ihm veranlaßte ihn, sich umzudrehen. Er schob einen kleinen Mann nach vorn und gab sich dabei Mühe, die Krücken des Mannes nicht anzustoßen.
»Das ist Arzy«, stellte er ihn vor, »Es gibt keinen Besseren. Er ist Libs kleiner Bruder und eine große Hilfe für uns.« Arzy schob eine Krücke unter den Ellbogen und streckte Marlene die freie Hand hin. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, sagte er fröhlich. »Wir brauchen hier ein bißchen Leben. Wir haben schon viel von Ihnen gehört, Mädchen, von Berthell, und Sie sind uns gar nicht fremd.« »Vielen Dank, Mister - Robinson, nicht wahr?« erwiderte Marlene. »Was ich von der Farm gesehen habe, gefällt mir bereits recht gut.« »Mister ist hier fehl am Platz, Kind. Ich bin schlicht der alte Arzy.« Er blickte seine Großnichte liebevoll an und drückte ihr fest die Hand. »Wir haben dich vermißt, Kleines«, sagte er leise. »Berthell, zeig Marlene das Schlafzimmer neben der Küche. Dort wird sie wohnen«, befahl Grandma. »Und wenn ihr fertig seid, dann steht schon ein kleiner Imbiß auf dem Tisch. Auspacken könnt ihr später.« Berthell führte Marlene durch die Küche, die noch aus der Zeit der Pioniere zu stammen schien. Dahinter lag ein kleiner, hübscher Raum. Das Zimmer war altmodisch, aber sehr gemütlich eingerichtet, und man hatte ihr sogar einen kleinen Tisch hineingestellt, auf dem sie arbeiten konnte. Was sie jedoch am meisten entzückte, war die Tür, die zum Garten hinausging. Sie stand jetzt offen und ließ frische Luft und Sonne herein. Marlene ging sofort auf die Tür zu, und Berthell bemerkte: »Dieses Zimmer war früher größer. Jetzt ist es leider sehr klein.« »Es ist entzückend!« erwiderte Marlene aufrichtig. »Was kann ich noch mehr wünschen?« Berthell deutete auf die Wand, die rechts von ihnen lag. »Siehst du diese Holzverkleidung? Früher war dort eine
Treppe, die auf eine Art Speicher führte. Sie trockneten dort im Winter die Wäsche und im Sommer Obst und Gemüse. Sicher hast du gesehen, daß vom Wohnzimmer eine andere Treppe nach oben zu den Schlafzimmern geht. Als Onkel Fen das Haus modernisierte, baute er diese Treppe zu und ließ zwei neue Schlafzimmer im anderen Flügel des Hauses anlegen. Der Speicher ist einfach zugebaut worden, und hier, wo die Treppe war, gibt es jetzt einen riesigen Schrank. So hat er die Lücke ausfüllen lassen.« Berthell öffnete die Tür, und Marlene sah einen großen Innenraum mit Kleiderhaken. Im Hintergrund waren alte Koffer und Pakete gestapelt. »Nun, ich sehe schon, daß ich genug Platz für meine Sachen habe«, sagte sie und wandte sich wieder zur Tür, die in den Garten führte. Sie trat hinaus und atmete tief die frische Landluft ein. Es waren keine anderen Häuser von dieser Seite aus zu sehen, aber die Aussicht auf die Landschaft war atemberaubend. Marlene stand auf einem kleinen Hügel und konnte ein weites Tal überblicken, durch das mehrere Bäche flossen. »Von hier aus sieht man drei Distrikte«, erklärte Berthell. »Es ist der höchste Ort in der ganzen Gegend. Kein Wunder, daß sie das Haus High-Hill-Farm genannt haben. « Und da sah Marlene einen herrlichen schwarzen Hengst, der nicht weit von ihnen entfernt graste. Sie rief bewundernd aus: »Was für ein wunderschönes Tier!« und fügte hinzu, daß sie gut reiten konnte. Berthell blickte Marlene lange an, bevor sie sie warnte: »Halte dich von diesem Pferd fern, Marlene. Midnight ist sehr schön, ja, aber er ist ein Mörder. Geh nicht in seine Nähe, wenn dir dein Leben lieb ist.« ***
Es war mehr der Ton in Berthells Stimme als die Worte, die Marlene etwas betroffen machten. Sie konnte die böse Vorahnung, die sie befallen hatte, nicht unterdrücken. »Sag mir nur nicht, dieses schöne Tier sei bösartig. So, wie es aussieht, müßte es eigentlich lammfromm sein«, sagte Marlene schließlich, jedoch ohne große Überzeugung. »Es war früher das sanfteste Reitpferd, das wir je hatten, aber es ist zuviel passiert, worin es verwickelt war, um ihm jetzt noch trauen zu können«, sagte Berthell etwas traurig. »Ich bin in Wisconsin aufgewachsen und deshalb mit Pferden sehr vertraut«, erwiderte Marlene. Das Unbehagen war inzwischen verflogen. »Ich bilde mir ein, mit jedem Tier fertig zu werden. Ich wette, daß Midnight und ich gute Freunde werden könnten.« »Setz dich, Marlene«, sagte Berthell und ließ sich auf der Stufe nieder. »Ich werde dir von Midnight erzählen.« Marlene folgte ihrem Beispiel und spürte entzückt, wie weich der dichte Rasen unter ihren nackten Füßen war. »Gut«, sagte sie gleichmütig, »erzähl mir von ihm.« »Onkel Fen kaufte Midnight, als er Evelyn als seine Braut nach Hause brachte. Sie verliebte sich in den Hengst und übernahm ihn. Ich muß zugeben, daß sie eine hervorragende Reiterin war, und sie und diese schwarze Schönheit gaben ein herrliches Bild ab. Sie ritt jeden Tag auf ihm - stundenlang. Es schien mit der Zeit zu ihrem einzigen Vergnügen zu werden. Aber das Pferd wurde zu einer fixen Idee von ihr. Sie konnte nicht ertragen, daß es von anderen geritten wurde. Sie war sogar eifersüchtig, wenn jemand es nur striegelte. « »Ich nehme an, daß die Farm nicht ihr Element war, und das Pferd half ihr wohl über die Stunden hinweg, in denen dein Onkel in der Fabrik war«, sagte Marlene verständnisvoll. »Für jemanden von ihrer Herkunft muß es hier schrecklich einsam
gewesen sein. « »Das ist alles gut und schön«, fuhr Berthell fort, »aber Evelyn übertrieb mit der Zeit. Wie ich schon sagte, sie war schrecklich flatterhaft und labil. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, daß sie - daß sie ein wenig durcheinander war. In gewissen Dingen jedenfalls.« »Unter diesen Umständen sollte man annehmen, daß dein Onkel ihr verboten hätte, allein mit Midnight auszureiten«, bemerkte Marlene zögernd, denn es widerstrebte ihr, über Tote zu reden. »Alles war in bester Ordnung, bis Elsies älterer Bruder sich Midnight eines Tages auslieh. Sein Reitpferd hatte einen Fuß verstaucht, und sein Vater arbeitete mit dem Gespann auf dem Feld. Jerry ritt den schwarzen Hengst bis zu einer entfernten Ecke ihrer Weide, wo der Zaun repariert werden mußte. Als er zum Essen nicht zurückkam, machte sich sein Vater auf die Suche nach ihm und fand ihn neben dem Zaun - abgeworfen und totgetrampelt. Er war tot. Midnight schnaubte und scharrte und war schweißbedeckt. Es gab keinen Zweifel daran, was geschehen war. Dieses Pferd hatte den jungen Mann abgeworfen und zu Tode getrampelt.« »Wie schrecklich!« rief Marlene aus. »Etwas muß das Tier erschreckt haben.« »Das haben wir alle gedacht, außer Evelyn«, fuhr das junge Mädchen fort. »Sie behauptete, es sei nur Rache gewesen, weil jemand anderer gewagt hatte, das Pferd zu reiten, das sie allein für sich beanspruchte.« Berthell machte eine Pause und fügte hinzu: »Danach befahl Onkel Fen natürlich, daß niemand mehr das Pferd reiten durfte, einschließlich seiner eigenen Frau. Aber Evelyn war Evelyn, und sie kümmerte sich natürlich nicht um sein Verbot und ritt weiterhin täglich aus.« »Man sollte meinen, Fen hätte das Pferd nach einer solchen Tragödie abgeschafft«, warf Marlene ein.
»Es wurde davon gesprochen«, gab Berthell zu, »aber Evelyn machte ein solches Theater, daß Fen den Gedanken wieder verwarf. Aber das war nur der Anfang einer Reihe von schrecklichen Vorfällen, die dieses unschuldig aussehende Biest verursachte. Onkel Arzys Unfall zum Beispiel. Er ritt eines Tages auf Midnight nach Chesterton, und auf dem Rückweg scheute der Hengst vor irgend etwas und warf meinen Onkel ab. Dabei trat er mit seinem ganzen Gewicht auf Onkel Arzys Fuß und zerquetschte ihn so, daß er abgenommen werden mußte. Später schwor Onkel Arzy, einen hellen Lichtstrahl direkt vor dem Pferd aufblitzen gesehen zu haben, und behauptete, deshalb habe das Pferd gescheut. Und seitdem gibt er zu, einen großen Respekt vor dem Übernatürlichen zu haben. Er sagt, es seien böse Geister gewesen, die den Unfall verursacht hatten, nicht das Pferd. « »Was könnte Midnight denn so erschreckt haben, daß er jemanden abwarf, den er so gut kannte?« fragte Marlene verwundert. »Das werden wir wohl nie erfahren«, erwiderte Berthell. »Da Jerry Phipps tot war, als man ihn fand, konnte er niemandem sagen, ob ihm nicht dasselbe passiert war.« »Was sagte Evelyn zu Onkel Arzys Unfall?« wollte Marlene wissen. »Oh, sie sagte, Onkel Arzy müsse sich irren. Aber ich frage mich, was sie gedacht haben mag, als Midnight sie umbrachte«, sagte Berthell mit ernster Stimme. Auf Marlenes entsetzten Blick hin erklärte sie: »Evelyn war verstörter als sonst gewesen, bevor sie Midnight zum letzten Mal ritt. Ungefähr um die Zeit, als Onkel Fen aus der Fabrik nach Hause kam, traf auch Midnight ein, schweißbedeckt und mit Schaum vor dem Mund. Und ohne Reiter. Er war so aufgeregt, daß er für Stunden niemandem gestattete, in seine Nähe zu kommen. Da sie natürlich das Schlimmste
befürchteten, machten sich Onkel Fen, Grandpa und Chad sofort auf die Suche nach Evelyn. Sie haben sie nie gefunden, aber sie entdeckten die Stelle, wo sie gestorben war. Dort unten hinter den Hügeln gibt es ein flaches Plateau. Niemand geht in seine Nähe, weil dort ein unergründliches Loch ist, das keinen Boden hat. An jenem Tag fanden sie Midnights Hufabdrücke am Rand dieses Lochs, wo er plötzlich angehalten haben und Evelyn über den Rand des Lochs geschleudert haben muß. Überall um das Loch herum waren Hufabdrücke, aber keine menschlichen Fußspuren, und so war es offensichtlich, daß Evelyn nicht zu Fuß fortgegangen sein konnte. Die Sache hatte nur einen rätselhaften Aspekt. Man fand ein paar verkohlte Überreste der Gräser, die neben dem Loch wuchsen, und Asche, die nicht zu identifizieren war. Man nahm also an, daß es dort eine plötzliche Explosion oder einen Blitz gegeben haben muß, der Midnight so erschreckte, daß er seine Reiterin abwarf.« »Aber danach hätte Fen Midnight doch abgeben müssen«, sagte Marlene entsetzt. »Ganz im Gegenteil«, erwiderte Berthell. »Weil Evelyn das Tier so geliebt hatte, konnte sich Onkel Fen nicht dazu entschließen, es einschläfern zu lassen. Es gibt noch etwas, das ich noch keinem Menschen gesagt habe. Ich glaube nämlich, Fen ist überzeugt, daß Midnight keine Schuld am Tode Evelyns trifft. Ich bin sicher, daß er glaubt, seine Frau habe Selbstmord begangen, und ich finde diese Theorie ganz einleuchtend. Warum hätte sie sonst zu dieser Stelle reiten sollen, von der jeder wußte, wie gefährlich ein falscher Schritt werden konnte? Sie war vorher nie in die Nähe dieses Ortes geritten. « Eine solch schreckliche Möglichkeit wollte Marlene ausschließen. »Was willst du mit all diesen Geschichten erreichen?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Warum erzählst du mir all diese Dinge, die doch gar nicht wahr sein können?«
»Marlene, ich schwöre dir, daß ich nicht übertreibe«, erwiderte Berthell aufrichtig. »Ich habe es dir nur erzählt, damit du, was Midnight betrifft, nicht auf dumme Gedanken kommst. Früher oder später hättest du sowieso alles erfahren. « Marlene schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann schaute sie den stolzen Hengst lange an. Und plötzlich war er zu einer Herausforderung geworden, mit der sie sich auseinandersetzen wollte, bevor allzuviel Zeit vergangen war. Marlene stand auf, zog ihre flachen Sandalen an und blickte sich um. Berthell, die gern das Thema wechseln wollte, erklärte eifrig: »Dort, hinter dem Horizont, liegt Maltville. An klaren Tagen kann man die Silhouetten der Häuser erkennen. Das kleine Holzhaus dort drüben ist Grandmas Kühlschrank. Es läuft eine Quelle hindurch, und sie hat das kälteste Wasser, das du dir nur vorstellen kannst. Onkel Fen hat Grandma einen modernen Kühlschrank und eine Gefriertruhe gekauft, als in dieser Gegend Gas gefunden wurde. Aber wie ich dir schon sagte: Grandma haßt alles Moderne und benutzt weiter das kleine Haus als Kühlschrank. Onkel Fen bewahrt ein paar Sachen im Kühlschrank auf, aber ansonsten steht er nur unbenutzt herum.« »Habt ihr keinen Strom?« fragte Marlene. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß man ohne Strom leben konnte. »Du lieber Himmel, nein!« sagte Berthell lachend. »Es war schon ein Kampf, Grandma zu überreden, ihren alten Kohlenherd gegen einen Gasherd einzutauschen. Sie behauptet, man koche darauf längst nicht so gut wie auf dem Kohlenherd. Und es war ein völlig aussichtsloses Unterfangen, ihr eine neue Waschmaschine bringen zu wollen. Sie benutzt immer noch dieses alte Modell mit der handbetriebenen Walze, das auf der Veranda steht. Sicher hast du auch das kleine Gebäude gesehen, das bei der Scheune liegt. Dort bewahrt sie ihre
großen Kupferkessel auf, in denen Apfelbutter oder Schweineschmalz zubereitet, Wäsche gekocht wird und so weiter. Hinter diesem Schuppen liegt der Kohlenkeller. Wir haben in allen Zimmern Gasheizung, außer im Wohnzimmer, und Grandma will sich den großen Ofen dort nicht ausreden lassen.« »Man würde doch meinen, daß sie alles begrüßen würde, was ihr die Arbeit erleichtert«, bemerkte Marlene. »Sie muß sehr viel zu tun haben. « »Ja, aber es macht ihr nicht das Geringste aus. Sie liebt es anscheinend. Und Grandpa ist genauso schlimm. Du wirst ihn sehen, wie er sich auf der Veranda vor der Küche mit einem Rasiermesser rasiert. Dazu hängt er einen Spiegel an eine der Säulen. Und Grandma schneidet ihm manchmal das Haar und den Bart. Ich glaube, Grandpa hat noch nie einen Friseurladen von innen gesehen. « »Ich glaube, diese beiden werden mir ein paar gute Ideen für interessante Drehbücher geben«, sagte Marlene, die sich kaum vorstellen konnte, daß es heutzutage noch solche Leute gab. »Siehst du diese Zisterne?« Berthell deutete auf eine Pumpe aus Metall. »Wenn du das kälteste, köstlichste Wasser der Welt probieren willst, dann bedien dich bitte!« Neben der Pumpe hing an einem Pfosten eine kleine Henkeltasse. »Nachts, wenn ich durstig bin, dann weiß ich, wo ich hingehen muß«, sagte Marlene anerkennend. »Siehst du das andere Gebäude aus Holz - hinter dem Zaun, in dem kleinen Obstgarten?« fragte Berthell. »Das ist die Räucherkammer. Hm, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Köstlichkeiten dort gelagert werden! Beim Abendessen wirst du wohl eine Kostprobe davon bekommen. « Marlene hatte sich umgewandt und wollte gerade hineingehen, als sie ein fest verschlossenes Fenster entdeckte, das von den großen Zweigen eines Chinarindenbaums fast ganz
verdeckt wurde. Als sie Berthell nach dem Fenster fragte, zuckte diese die Achseln. »Ach, das. Früher war es das einzige Fenster auf dem Speicher. Siehst du, daß es viel tiefer liegt als die Fenster der Schlafzimmer darüber? Als sie den Trockenraum zumauerten, gaben sie sich keine Mühe, das Fenster zu entfernen, weil sonst das Haus auf dieser Seite neu verputzt hätte werden müssen. Sie haben es also nur von innen zugenagelt und die Jalousien geschlossen. Man sieht es ja kaum hinter diesem riesigen Baum.« »Ich glaube, es ist der schönste Baum, den ich je gesehen habe«, sagte Marlene bewundernd. »Wie heißt er?« »Sag Grandma, wie gut er dir gefällt. Sie wird dich dafür lieben«, sagte Berthell lachend. »Der Baum ist ihr ganzer Stolz. Verwandte aus Arizona brachten Grandma Samen für einen Chinarindenbaum mit - als Hochzeitsgeschenk. In dieser Gegend sind sie nicht bekannt, aber sie hat das Bäumchen so gepflegt, daß es schließlich groß und stark wurde und die harten Winter überstehen konnte. Und sieh ihn dir jetzt an!« In diesem Augenblick hörten die beiden Mädchen ein seltsames Geräusch in Marlenes Schlafzimmer. Marlene wandte sich erschrocken um, aber Berthell lachte. »Komm herein. Ich möchte dir noch ein Mitglied der Familie vorstellen«, sagte sie. »Das ist Flossie - unser stolzes und verwöhntes Haustier. « Marlene sah die ungewöhnlichste Katze vor sich, die sie je gesehen hatte. Sie hatte drei Farben - gold, weiß und schwarz. Ihr Gesicht war gezeichnet wie eine schöne Clownmaske, in eben diesen drei Farben, die sich über den Hals bis zum Bauch fortsetzten. Der Rest des Körpers, einschließlich Schwanz, war schwarz wie Ebenholz. »Was für eine seltsame Zeichnung! Ich habe noch nie ein so ausgefallenes Kätzchen gesehen. Es ist ja unwiderstehlich! «
Sie bückte sich und streckte die Hand nach Flossie aus, die sich vor den Mädchen putzte und ihre Bewunderung zu genießen schien. Aber Berthell rief Marlene zurück. »Flossie ist Fremden gegenüber nicht sehr zutraulich«, erklärte sie. »Und ihre Krallen sind sehr scharf, wie du beinahe hättest feststellen können. Sie ist diejenige, die den ersten Schritt tun möchte. « »Aber sieh doch«, rief Marlene. »Ich glaube, sie mag mich.« Die Katze hatte sich ihr genähert und strich jetzt an Marlenes Beinen vorbei. Dabei schnurrte sie laut und zufrieden. »Nun, den strengsten Test hast du überstanden«, gab Berthell zu. »Sie ist bei dir schneller zutraulich geworden als bei irgendeinem anderen zuvor. Wenn du ihre Anerkennung gefunden hast, dann brauchst du dir wegen der anderen Familienmitglieder keine Sorgen zu machen. Jetzt kannst du sie übrigens auch streicheln, wenn du willst.« Marlene beschränkte sich nicht darauf, sondern nahm die Katze auf den Arm und drückte sie zärtlich an sich. Die Katze schnurrte heftiger und strich mit dem Kopf über Marlenes Schulter, bis Marlene das Zimmer durchquert hatte und vor der holzgetäfelten Wand stehengeblieben war. Plötzlich zischte Flossie laut, knurrte und sprang auf den Boden. Ihr Fell war gesträubt, und ihr Schwanz bewegte sich bedrohlich von einer Seite zur anderen. »Was ist passiert?« fragte Marlene verblüfft. »Habe ich etwas getan, was sie nicht mag?« »Du hast dich mit ihr dieser Wand genähert«, erklärte Berthell. »Aus irgendeinem verrückten Grund gerät sie jedesmal in Panik, wenn sie auf dieser Seite des Zimmers ist.« »Wie seltsam«, sagte Marlene neugierig. »Wahrscheinlich haben Katzen auch ihre Abneigungen, genau wie die Menschen. Aber sie ist großartig, und wir beide werden gute Freunde sein. «
»Alle lieben Flossie«, sagte Berthell lächelnd. »Und sie weiß es. Deshalb ist sie auch so selbständig.« Sie brach ab und fügte dann zögernd hinzu: »Nun, beinahe alle, hätte ich sagen sollen. Evelyn war eine Ausnahme. Sie konnte die Katze nicht ausstehen, und das Gefühl war gegenseitig, dessen kannst du sicher sein. Flossie konnte mit ihr nichts anfangen.« Berthells Blick verdüsterte sich, und sie sagte: »Wir gehen jetzt lieber und sehen nach, was Grandma für uns vorbereitet hat, sonst kommt sie nämlich und holt uns«, schlug Berthell vor. »Ah, bevor wir gehen - weißt du, wie Gaslampen funktionieren?« »Keine Ahnung«, erwiderte Marlene. »Nun, dann lernst du halt etwas Neues.« Berthell lachte und deutete auf eine Lampe, die an der Wand befestigt war. »Paß auf, ich zeige dir, wie man sie anzündet.« Sie zündete ein Streichholz an und hielt die Flamme an ein netzartiges Gebilde, das sich unter dem Glasschirm der Lampe befand. »Das ist der Mantel. Du mußt sehr vorsichtig damit umgehen und darfst ihn nie berühren. Er ist sehr zerbrechlich und fällt beim geringsten Kontakt zu Asche zusammen. « »Ich hoffe, daß ich lernen werde, mit diesem verrückten Ding umzugehen« sagte Marlene gutmütig. »Ich werde wohl eine Weile üben müssen.« »Du lernst es schnell«, versicherte Berthell. »Du hättest Grandmas Petroleumlampen erleben sollen! Wir haben immer noch ein paar davon im Haus. In ihrem Schlafzimmer benutzt sie nur Petroleumlampen. Sie traut diesen neumodischen Lampen nicht, weil sie eine Erfindung des Teufels sind, wie sie sagt. Sehr gottesfürchtig ist sie nun auch wieder nicht. Warte, bis du ihren Wein zu kosten bekommst!« »Dann macht sie also auch Wein?« fragte Marlene überrascht. »Sie scheint unglaublich viele Talente zu besitzen.« »Oh, Grandma ist eine gottesfürchtige Frau, ja. Wir gehen jeden Sonntag in die Kirche, wenn wir Zeit haben und die
Straßen in Ordnung sind, aber es ist eine lange Fahrt, und sie dauert fast den ganzen Tag. Grandma will die Kirchen in der nächsten Umgebung nicht besuchen. Sie besteht darauf, zwanzig Meilen zu einem kleinen Dorf namens Pisgah zu fahren. Mit dem Auto kommt man nicht hin, also werden die Pferde angespannt. Ach, wie ich schon sagte, Grandma ist nicht schlecht, sie ist nur ein geborener Schelm. Sie freut sich, wenn sie Gästen ihren Wein vorsetzen kann, ganz besonders dann, wenn der Wanderprediger hier vorbeikommt. Sie versichert allen, daß es nur eine kleine Aufmerksamkeit ist, drängt die arglosen Opfer jedoch, mehr und mehr Wein zu trinken, und sie haben keine Ahnung, wie stark er ist. Und sie ist entzückt, wenn sie dann ihre Besucher auf den Heimweg schickt und sie sich weinselig von ihr verabschieden.« »Oh, bevor ich es vergesse«, fragte Marlene, »war das eine Toilette, was ich dort draußen gesehen habe?« »Na klar«, gab Berthell ruhig zu. »Du glaubst doch nicht etwa, daß Grandma so moderne Erleichterungen wie eine Toilette im Haus erlauben würde?« Sie lachte. »Die meisten aus der Familie benützen das kleine Häuschen, aber du hast Glück.« Sie öffnete wieder die Schranktür und deutete auf eine kleine Kabine, die in eine Ecke gebaut war. Marlene schob die Schwingtür zurück und riß bei dem Anblick, der sie erwartete, erstaunt die Augen auf. Eine freistehende, häßliche Kommode mit einem runden Loch in der Mitte! Von der Decke hing eine Kette herab, die offensichtlich dazu diente, die Spülung zu betätigen. »Nun, ich habe noch nie . . .«, begann Marlene. »Oh, du wirst es aber lernen«, sagte Berthell lachend, »es sei denn, du gehst lieber in den Garten. Evelyn bestand darauf, eine solche Einrichtung zu bekommen, aber Grandma war nicht einverstanden, bis Onkel Fen versprach, die Toilette zu verstecken. Aber zum Waschen oder Baden wirst du dir trotzdem Wasser holen müssen.« Sie deutete auf eine große
Keramikschüssel und einen Steinkrug. »Gewöhnlich seifen wir uns einfach ab, aber manchmal holen wir die große Wanne aus dem Kohlenschuppen und gönnen uns ein ausgiebiges heißes Bad.« Marlene schüttelte verwundert den Kopf. Dann lächelte sie. »Hier ist alles so anders, aber ich glaube, es wird mir sehr gefallen, eine Weile anders zu leben.« »Nun, wenigstens bekommst du genug zu essen«, bemerkte Berthell. »Und da wir von Essen sprechen - wir sollten Grandma besser nicht zu lange warten lassen.« Diesmal sah sich Marlene in der großen Küche genauer um. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt und makellos sauber. An den Wänden waren breite Regale befestigt, die in einem dunklen Grün gestrichen waren. An dicken Haken hingen Jacken, Mützen und andere Kleidungsstücke. Der große, rechteckige Tisch war mit geblümtem Wachstuch bedeckt, und um ihn herum und an den Wänden standen solide, offensichtlich handgemachte Stühle. Es gab eine Tür, die zur Veranda führte und jetzt weit offenstand. Grandma in ihrem langen Rock, der ihr beim Gehen um die Beine raschelte, sagte fröhlich: »Kommt, setzt euch, und eßt.« Beide Mädchen setzten sich an den langen Tisch, wo bereits zwei Teller mit Apfelkuchen standen. Daneben ein Glas Milch, das vor Kälte beschlagen war. Grandma stand vor dem Tisch und hielt einen Krug in der Hand. Daraus goß sie dicke, gelbe Sahne über die Kuchenstücke. Zu Marlene sagte sie: »Probier das, wenn du etwas Gutes essen möchtest, Kind. Ich habe die Sahne gerade von einer Kanne Milch abgeschöpft.« Marlene kostete und strahlte sofort über das ganze Gesicht. Wenn es möglich war, sich in Essen zu verlieben, dann war es ihr gerade passiert. »Ich habe noch nie etwas so Gutes gegessen!« rief sie
entzückt, nahm eine neue Gabel und schob sie genießerisch in den Mund. Die alte Frau und ihre Enkelin wechselten amüsierte Blicke. »Und vielen Dank, daß Sie mir dieses reizende Zimmer gegeben haben«, fügte Marlene hinzu. »Der Ausblick, den man von der Tür aus hat, ist einfach hinreißend!« »Mir hat dieses Zimmer früher sehr gut gefallen«, sagte Grandma nachdenklich. »Wenn das Wetter so warm war wie jetzt, dann öffnete ich alle Türen von der Küche aus, setzte mich mit meiner alten Nähmaschine in dieses Zimmer und nähte stundenlang. Damals war es hell und luftig. Aber in letzter Zeit fühle ich mich dort nicht mehr wohl, und ich kann nicht einmal sagen, warum es so ist.« Beide Mädchen aßen mit Vergnügen, und bald waren Teller und Gläser leer. Grandma sagte: »Ich würde euch mehr geben, aber bald ist es Zeit für das Abendessen, und ich möchte euch nicht den Appetit verderben. Fen kommt gegen sechs nach Hause. Berthell«, schlug sie vor, »zeig deiner Freundin inzwischen doch das Haus und den Garten! « »Ja. Komm mit, Marlene«, lud Berthell ein und wandte sich zum Wohnzimmer. »Ich zeige dir alles.« Das Wohnzimmer war mit altmodischen, bequemen Möbeln und handgewebten Teppichen eingerichtet. Neben dem großen Kamin befand sich eine schmale Tür. Berthell öffnete sie und sagte: »Hier bewahrt Grandma ihre Konserven auf. Sie hat hier ständig um die dreihundert Gläser - zusätzlich zu all den Marmeladen und Gelees!« »Man sieht, daß sie nicht will, daß jemand Hunger leidet«, bemerkte Marlene. Berthell war zur anderen Seite des Kamins gegangen, wo sie eine andere, etwas breitere Tür öffnete. »Hier ist die Treppe, von der ich dir erzählt habe. Sie geht zu den Schlafzimmern.« Marlene ging zu Berthell hinüber und sah eine schmale
Wendeltreppe. Berthell ging voran, und Marlene hielt sich am Geländer fest, um auf den schmalen, engen Stufen nicht auszugleiten. Sie seufzte vor Erleichterung, als sie oben ankamen, aber nur einen Augenblick. Hier war der Gang so schmal, daß die beiden Mädchen hintereinander gehen mußten. Vier Türen öffneten sich zu den Seiten hin. Berthell führte sie in alle Schlafzimmer. Die ersten beiden Zimmer, die sie betraten, waren die ursprünglichen Schlafzimmer. Auch sie waren mit schweren, alten Möbeln eingerichtet. »Dieses Zimmer hier rechts gehört meinen Großeltern«, erklärte Berthell bereitwillig. »Das andere Onkel Arzy.« Dann führte sie Marlene zu den beiden neuen Schlafzimmern. Die Einrichtung hier war sehr modern und ausgesprochen elegant. Was für ein Kontrast zu dem Rest des Hauses, dachte Marlene bei sich. »Einige der Möbel stammen aus Onkel Fens Fabrik«, erzählte Berthell. »Sie sind handgearbeitet.« Dann führte sie Marlene wieder die Treppe hinunter und die Haustür hinaus. Auf der Veranda bot sie ihrem Gast einen gepolsterten Schaukelstuhl an und setzte sich neben sie. Sie unterhielten sich angeregt, und die Zeit verging wie im Fluge, bis Grandma zum Abendessen rief. Als sie alle um den großen Tisch saßen, stellte Grandpa Marlene vor. Chad grunzte etwas und beschäftigte sich mit seinem Essen. Fenwick Frisbey nickte Marlene freundlich zu, als sie ihm vorgestellt wurde, sprach jedoch während des Essens kaum ein Wort. Er ist höflich, aber ein wenig zurückhaltend, dachte Marlene. Dennoch gelang es ihr nicht, ihre Blicke von ihm abzuwenden. Er sieht hinreißend gut aus und scheint sehr dominierend zu sein, überlegte sie. Er besaß eine magische Anziehungskraft auf Marlene, und sie starrte ihn unablässig an. Als er einmal
aufblickte, schlug sie beschämt die Augen nieder. Sie hatte den Eindruck, als habe er ihr mit seinem durchdringenden Blick eine Botschaft überbringen wollen - vielleicht eine Warnung oder Drohung! Nach dem Essen halfen die beiden Mädchen, die Küche aufzuräumen, dann folgten sie den Männern ins Wohnzimmer. Grandma setzte sich in den gepolsterten, rotlackierten Schaukelstuhl und nahm von einem kleinen Tisch daneben ihre Strickarbeit in die Hand. Ihre Finger glitten im Einklang mit den Nadeln dahin, während Grandpa aufstand und eine Geige holte. Dann begann er eine muntere Tanzmelodie zu spielen. Beim ersten Ton legte Grandma rasch ihre Handarbeit beiseite, nahm eine Mundorgel und begann, die Melodie mitzuspielen. Marlene fühlte sich um hundert Jahre zurückversetzt und lauschte verzaubert, bis die Musiker sich erhoben und verkündeten, es sei Zeit, ins Bett zu gehen. Marlene war froh, daß Berthell die Gaslampe in ihrem Zimmer angelassen hatte. Sie wußte nicht, wie man sie ausdrehte und beschloß deshalb, sie lieber die ganze Nacht brennen zu lassen. Marlene kleidete sich aus und öffnete den großen Schrank, um ihre Sachen aufzuhängen. Aber sie blieb wie angewurzelt stehen und das Blut stockte ihr in den Adern, als sie das Geräusch vernahm. Es war nicht laut, aber deutlich genug zu erkennen, und es hörte sich an, als werde etwas über den Boden über ihrem Kopf geschleift. Das Geräusch klang so unheimlich, daß Marlene für einen Moment um ihr Leben fürchtete. *** Marlene verlor keine Zeit, zog sich hastig aus dem großen Schrank zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Dann stand
sie wie erstarrt vor Angst im Zimmer und lauschte angestrengt nach oben. Aber das Geräusch wiederholte sich nicht, und außen vor dem Kleiderschrank erschien alles vollkommen normal. Jetzt dachte sie nicht mehr darüber nach, wie das Gaslicht abzustellen war. Ein schwaches Licht war besser als Dunkelheit! Entschlossen wandte Marlene dem Schrank den Rücken zu und schlüpfte ins Bett. Vor Erschöpfung fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf. Als sie am Morgen beim ersten Sonnenstrahl die Augen öffnete, war sie erleichtert, daß ihr in der Nacht nichts zugestoßen war. Sie stieg aus dem Bett, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und suchte in ihrer Tasche nach dem Aspirin, das sie immer bei sich trug. Dann schluckte sie rasch zwei Tabletten. Sie hatte eine wichtige Aufgabe zu erledigen, und die hämmernden Kopfschmerzen würden ihr dabei keine Hilfe sein. Nur ungern öffnete sie die Tür zum Schrank, schob dann jedoch entschieden die Kleider beiseite und untersuchte jeden Haken und jedes Brett in der Wand. Auch das Schlafzimmer wurde einer strengen Untersuchung unterzogen, aber sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Es gab keine geheimen Türen, keine verschiebbaren Paneele, die zu dem verschlossenen Raum über ihr führen konnten. Aber sie wußte genau, daß das erschreckende Geräusch von dort oben gekommen war. Sie öffnete die Tür zum Garten und war wie erlöst, als die Sonne das Zimmer überflutete. Auf der anderen Seite des Hauses hörte sie Geräusche und war froh, in ihrem Zimmer ungestört zu sein. Dann trat sie in den Garten hinaus und atmete tief die frische Morgenluft ein. Wie durch Zufall fiel ihr Blick auf das versiegelte Fenster über ihr, und sie empfand so etwas wie eine
Vorahnung. Rasch ging sie ins Zimmer zurück und bemerkte die unausgepackten Koffer, die noch auf dem Boden lagen. Da sie den anderen Familienmitgliedern in diesem Zustand nicht gegenübertreten wollte, beschloß sie, zuerst auszupacken, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie war gerade damit fertig, als es leise an der Tür klopfte. »Komm herein, Berthell«, rief Marlene munter. »Komm herein.« »Guten Morgen, mein Schatz«, erwiderte Berthell und steckte den Kopf herein. »Hast du Hunger? Grandma hat das Frühstück schon vorbereitet.« Marlene warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war zehn vor sieben. So früh hatte sie noch nie gefrühstückt, und sie bezweifelte, genug Appetit dafür aufbringen zu können. Grandma war eifrig in der Küche beschäftigt, als die Mädchen hereinkamen. »Guten Morgen«, sagte Marlene fröhlich zu der alten Frau. Grandma drehte sich zu ihr um und lächelte herzlich. »Guten Morgen, meine liebe Marlene. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Dann wandte sie sich wieder dem Herd zu. Die anderen, die bereits um den Tisch versammelt waren, warteten geduldig auf die Eier mit Speck, die Grandma gerade briet. Marlene schnitt unwillkürlich eine Grimasse. »Ich fürchte, ich bin heute nacht kaum zur Ruhe gekommen«, beantwortete sie die Frage der alten Frau. »Es ist mir unangenehm, daß ich nicht beim Zubereiten des Frühstücks geholfen habe.« Die alte Frau schüttelte den grauen Kopf. »Ich erledige das Kochen in diesem Haus. Das ist mein Bereich. Andere dabei würden mich nur stören. « »Aber ich bin nicht hierhergekommen, um Ihnen noch mehr Arbeit aufzubürden«, protestierte Marlene schwach. »Ich weiß, und das sollst du ja auch nicht«, sagte Grandma
lachend. »Nach dem Frühstück kannst du Berthell helfen, die Zimmer aufzuräumen und die Betten zu machen. Und da ist immer noch der Abwasch. « Marlene nickte zufrieden. »Ich freue mich, wenn ich mich nützlich machen kann. « Mit einem belustigten Blick auf ihre Großmutter bemerkte Berthell: »Weißt du, Grandma würde lieber mit Grandpa auf dem Feld oder im Garten arbeiten. Mach dir keine Sorgen. Wir finden schon genug für dich zu tun. Wenn du nicht gerade schreibst.« Grandma verteidigte sich: »Die Arbeit mit der Erde ist etwas, das Gott den Menschen bestimmt hat. Dabei ist man der Natur nahe.« Als die Mädchen sich an den Tisch setzten, fragten die Männer Marlene, wie sie geschlafen habe. Als sie zugab, daß sie kaum ausgeruht war, bemerkte Fen: »Das ist das fremde Bett.« »Nein, das war es nicht«, widersprach Marlene sofort. »Es war wegen der komischen Geräusche, die ich vor dem Zubettgehen gehört habe.« Der gutaussehende Mann runzelte die Stirn. »Geräusche? Was für Geräusche, Marlene? Woher kamen sie?« »Von oben«, erwiderte sie. »Ich hängte gerade meine Sachen auf, als ich sie hörte. « Marlene beobachtete den Mann scharf, während er sie befragte, und es fiel ihr auf, daß sein Blick nie lange auf ihr ruhte und ein besorgtes Stirnrunzeln in seinem Gesicht erschien, als er gleichmütig sagte: »In einem alten Haus kann man nachts alle möglichen Geräusche hören.« »Wie Gespenster«, warf Grandma ein und nickte weise. »Ich dachte an das Krächzen der Bohlen und alten Dielen oder wie die Zweige vom Wind gegen die Mauern getrieben werden«, bemerkte Fen streng. »Oder vielleicht hat sich eine Mäusefamilie in dem geschlossenen Raum angesiedelt.«
Chad überraschte sie alle, als er von seinem Teller aufsah und mit vollem Mund sagte: »Es gehen hier ein paar merkwürdige Dinge vor, ja. Das Haus ist unheimlich. Ich würde hier keine Nacht schlafen - nicht einmal für eine Million Dollar! « »Der Junge hat recht«, sagte Onkel Arzy. »Ich sage noch immer, daß die Gespenster für einige der Dinge verantwortlich sind, die sich hier abgespielt haben. « »Könnten wir nicht über etwas Erfreulicheres reden?« fragte Berthell rasch. »Noch etwas«, fügte Marlene hinzu. »Das Fenster in diesem verschlossenen Raum gibt mir ein unbehagliches Gefühl. Sind Sie sicher, daß es richtig geschlossen ist?« fragte sie Fen. »Bestimmt. Ich wette, daß man es jetzt nur noch aufbrechen könnte. Die Jalousien sind von der Feuchtigkeit angeschwollen, und die Beschläge und Schlösser müßten längst verrostet sein«, versicherte er ihr. Aber Marlene hatte das Gefühl, als glaube er selbst nicht recht an seine Darstellung. Um die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken, reichte Fen die Schüsseln weiter, die auf dem Tisch standen. Marlene nahm nur bescheidene Portionen. »Iß nur, Kind«, bemerkte Grandpa freundlich. »Kein Wunder, daß ihr Stadtmädchen so mager seid. Ihr wißt gar nicht, was gutes Essen ist.« »Ich habe morgens nie viel gegessen«, entschuldigte sich Marlene. »Außerdem könnte ich gar nicht alles probieren, was da vor mir steht. « »Farmer brauchen etwas Kräftiges zwischen die Rippen«, erklärte der alte Mann. »Chad und ich melken vor dem Frühstück die Kühe, füttern sie und bringen sie auf die Weide. Dann füttern wir die Hühner, sammeln die Eier ein und erledigen noch dies oder jenes, bevor wir uns an den Tisch setzen. Danach hat man natürlich Appetit.«
Marlene sah die Bottiche mit frischer Milch, die auf dem Arbeitstisch standen. Grandma erklärte: »Das ist alles von heute morgen. Und nach dem Frühstück wird das meiste davon abgeholt. Wir behalten nur die Milch, die wir selbst verzehren. Mit unseren Eiern, der Milch und der Butter verdienen wir ein nettes Zubrot.« »Und Sie haben all diese guten Sachen im Haus«, sagte Marlene begeistert. »Ich muß sagen, Grandma, nach dem wenigen, was ich hier gegessen habe, sind Sie die beste Köchin der Welt!« Grandma straffte sich merklich, sagte jedoch barsch: »Ich könnte viel besser kochen, wenn ich noch meinen alten Kohleherd hätte. Es ist doch gar nicht natürlich, daß man an einem Knopf dreht und eine Flamme angeht. Eines Tages fliegen wir alle in die Luft.« Als Grandma verstummte, sagte Marlene vorsichtig: »Ich glaube, ich werde mich heute mit Midnight anfreunden. Ich kann es gar nicht abwarten, dieses herrliche Tier kennenzulernen.« Ein alarmierter Ausdruck erschien auf Fens gutgeschnittenen Zügen. »Halten Sie sieh lieber von ihm fern, Marlene.« »Aber ich kann mit Tieren umgehen, ganz besonders mit Pferden«, erwiderte Marlene. »Er war früher das sanfteste Reitpferd, das ich kannte, und meistens ist er es immer noch«, gab der Fabrikant zu. »Aber es sind Dinge geschehen, die uns dazu zwingen, sehr vorsichtig mit ihm zu sein.« »Er ist nicht richtig im Kopf«, warf Chad ernst ein. »Sie wissen ja nicht, was er getan hat!« »Vielleicht hätten wir ihn einschläfern lassen sollen«, sagte Grandpa ernst. »Er ist schön zum Anschauen, ja, aber man kann ihm wirklich nicht trauen.«
Trotz der Warnungen hatte Marlene den Eindruck, als könnte sie sich mit Midnight ausgezeichnet verstehen. »Ich gehe das Risiko ein«, sagte sie stur. »Ich komme auf jeden Fall mit«, erklärte Berthell bestimmt. »Was ihr auch vorhabt, Mädchen, paßt gut auf«, warnte Fen. »Ich sähe es wirklich lieber, wenn ihr die Idee ganz aufgeben würdet.« »Wir werden vorsichtig sein«, versicherte Berthell ihrem Onkel. »Wir bleiben hinter dem Zaun und geben ihm ein bißchen Zucker. Das wird wohl seine Stimmung versüßen. « Gegen zehn Uhr hatten die beiden Mädchen die morgendliche Hausarbeit erledigt und machten sich auf den Weg zur Koppel. Der schwarze Hengst trabte sofort zum Zaun, als er sie kommen sah. »Oh, was für ein traumhaft schönes Tier!« rief Marlene begeistert, als sie Gelegenheit hatte, den Hengst aus nächster Nähe zu begutachten. »Wir werden Freunde werden, warte nur ab, Berthell!« »Bevor du dir Illusionen machst, solltest du dich davon überzeugen, daß er deine Bewunderung verdient. Lerne ihn ganz allmählich kennen, wenn du dich unbedingt mit ihm anfreunden willst. Gib ihm zuerst Zucker, und sieh zu, was passiert. Wenn er Anstalten macht zu beißen, dann spring zurück«, warnte Berthell. Der glänzende schwarze Hengst stand Marlenes Freundschaftsangebot gar nicht ablehnend gegenüber. Seine weichen Lippen berührten liebevoll ihre ausgestreckte Hand, bis der letzte Krümel Zucker verschwunden war. Marlene lachte triumphierend und sagte: »Siehst du, es gefällt ihm. Midnight könnte doch keiner Fliege etwas zuleide tun!« Berthell war nicht überzeugt und erwiderte: »Manchmal
spielt er wirklich verrückt, aber nicht, wenn Zucker in der Nähe ist.« »Ich würde ihn für mein Leben gern reiten!« rief Marlene erregt. Ein entsetzter Ausdruck erschien auf dem Gesicht des jungen Mädchens. »Sag das nicht! Und du wirst ihn heute auf keinen Fall satteln. Du mußt das zuerst mit Onkel Fen absprechen, und ich bezweifle, daß er es je erlauben wird. « Trotzig sagte Marlene: »Du kannst sicher sein, daß ich ihn früher oder später reiten werde.« »Manche Leute reißen sich geradezu, in Schwierigkeiten zu geraten«, erwiderte Berthell kopfschüttelnd. »Ich gehe zurück zum Haus, solange ich noch in einem Stück bin. Kommst du?« »Noch nicht, Berthell«, erwiderte Marlene. »Ich möchte noch eine Weile hierbleiben und mir diese Schönheit etwas länger anschauen.« »Komm nicht auf dumme Gedanken, wenn ich fort bin« sagte Berthell rasch. »Versprochen?« Marlene kreuzte rasch zwei Finger. »Du kannst mir heute vertrauen, das verspreche ich dir.« Marlene war froh, als die Freundin gegangen und sie mit Midnight allein war. Sie streckte vorsichtig eine Hand aus und rieb mit dem Finger über seine Nase. Er reagierte darauf sehr erfreut, und sie wurde mutiger und ließ ihre Hand über seinen Kopf und die seidige Mähne gleiten. Wie weich sein Fell war! Offensichtlich gab es jemanden, der ihn gut pflegte. Wahrscheinlich war es Fen. Das Pferd drängte sich an den Zaun und wollte näher zu Marlene. Es war gegenseitige Liebe auf den ersten Blick. Sie war so in das Streicheln des Hengstes vertieft, daß sie plötzlich erstaunt feststellte, daß bereits über eine Stunde vergangen war. Als sie eilig zum Haus zurückging, kam ihr Berthell schon
entgegen. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, schimpfte die rothaarige Freundin. »Was hast du so lange gemacht?« »Ich wünschte, ich könnte malen«, sagte Marlene verträumt. »Was für ein herrliches Modell würde Midnight abgeben!« »Wir haben ein paar gute Bilder von ihm im Haus«, informierte Berthell sie. Berthell hatte nicht übertrieben. Es gab drei ausgezeichnete Fotos von dem schwarzen Hengst, die ein guter Fotograf gemacht haben mußte. »Jemand hat seine Schönheit erkannt«, sagte Marlene nach langer Betrachtung. »Oh, Evelyn hat all diese Fotos geschossen«, sagte Berthell mürrisch. »Ich habe dir ja gesagt, daß sie verrückt nach diesem Pferd war. « »Es ist ein Wunder, daß Fen ihn nicht verkauft hat«, sagte Marlene nachdenklich. »Man sollte meinen, daß das Pferd ihn dauernd an den tragischen Tod seiner Frau erinnert.« »Er wird ihn nie verkaufen, da bin ich ganz sicher«, sagte Berthell rasch. »Nicht, weil er Midnight so besonders liebt, aber immerhin war das Pferd das ein und alles seiner Frau. Er weiß, daß sie auf keinen Fall damit einverstanden wäre, daß er ihr Lieblingstier verkauft.« Marlene bemerkte: »Dein Onkel sieht sehr gut aus. Geht er oft aus - mit Frauen, meine ich?« Berthell lachte geringschätzig. »Überhaupt nicht. Ich bezweifle, daß er Frauen überhaupt ansieht.« Marlene legte den Kopf schief. »Ein gutaussehender, erfolgreicher Mann wie Fen sollte eigentlich heiraten.« »Das scheint ihm fernzuliegen«, erwiderte Fens Nichte. »Aber warum?« fragte Marlene erstaunt. »Er ist noch jung, und es gibt bestimmt genug Mädchen, die gern Mrs. Fenwick
Frisbey würden.« »Aus einem verrückten Gefühl der Treue Evelyn gegenüber, nehme ich an«, meinte Berthell achselzuckend. »Aber sie ist tot«, argumentierte Marlene. »Er kann ihren Tod doch nicht ewig betrauern.« »Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, wie sie gestorben ist«, entgegnete Berthell geheimnisvoll. Bevor Marlene etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort: »Warum versuchst du es nicht bei ihm? Ihr wärt ein ideales Paar. « Marlene wies den Gedanken sofort zurück. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie bestimmt. »Sorgen? Ich würde dich mit offenen Armen in die Familie aufnehmen«, gestand Berthell offen. Zu ihrer Verblüffung gähnte Marlene. »Entschuldige bitte«, sagte sie. Mitleidig sagte Berthell: »Du hast letzte Nacht nicht gut geschlafen. Das Mittagessen wird bald fertig sein, aber danach könntest du dich doch eine Weile hinlegen, meinst du nicht?« Marlene streckte sich faul. »Vielleicht tue ich das.« Und dann ging ihr erst richtig auf, was die Freundin gerade gesagt hatte. »Du meinst, es gibt gleich schon wieder so ein Riesenessen?« »Auf der High-Hill-Farm gibt es drei herzhafte Mahlzeiten am Tag«, bestätigte Berthell. »Und wie bist du dann so schlank geblieben?« wollte Marlene wissen. »Das war nicht leicht bei Grandmas Kochkunst«, sagte Berthell lachend. »Wenn man hier nicht dick werden will, dann muß man lernen, sich zu beherrschen.« »Aber dein Großvater ist groß und schlank, und er ißt, als sei jeder Bissen sein letzter« bemerkte Marlene. »Man sagt, mein Vater sei auch sehr schlank gewesen. Manche Leute haben eben Glück, aber Grandpa arbeitet die
Kalorien auch auf dem Feld ab.« Zum Mittagessen gab es gebratenen Fisch, den Onkel Arzy am Morgen im Fluß gefangen hatte. Wieder schmeckte alles so gut, daß Marlene viel mehr aß als vorgesehen. Nach dem Essen legte sie sich hin und war fest eingeschlafen, als Berthell sie plötzlich wachrüttelte. »Ich habe geklopft, aber du hast es nicht gehört«, sagte sie. »Und ich wollte dir nur sagen, daß wir Besuch haben.« Ihre Stimme klang ein wenig erregt. »Besuch? Wer ist es?« »Doktor Vincent Peebles«, sagte Berthell, und es klang, als sei der Präsident persönlich gekommen. »Er und Fen sind Freunde geworden, während ich in Los Angeles war. Jetzt kommt er oft zum Essen. Er ist Doktor Peebles' Neffe - du hast Doktor Peebles im Eiscafe kennengelernt, weißt du noch? Vincent hat sich eine Praxis in Maltville eingerichtet, und wie ich hörte, läuft sie sehr gut. Marlene, du solltest ihn sehen!« Marlene wusch ihr Gesicht und legte ein wenig Make-up auf. »Wie ist denn dieser Apollo? Es hört sich ja an, als sei er etwas ganz Besonderes!« »Das ist er!« rief Berthell erregt. »Du wirst es selbst sehen. Mein Gott, sieht er gut aus! Er ist blond, gut gebaut, sehr modern gekleidet, und er hat soviel Charme!« »Eine Frau und wie viele Kinder?« warf Marlene ein. »Nichts dergleichen. Frei wie ein Vogel und nur ein wenig älter als du, Marlene. Gerade richtig für mich, findest du nicht?« Marlene lächelte. »Hast du mit ihm gesprochen? Woher weißt du, daß er nicht langweilig wie eine alte Zeitung ist?« Die beiden Männer saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich über Baseball, als Berthell und Marlene hereinkamen. Als sie die Mädchen sahen, sprangen sie auf. Fen stellte vor, und
Marlene war von Doktor Peebles' festem Händedruck und seiner angenehmen Stimme sehr beeindruckt. Beim Abendessen las Berthell ihm jedes Wort von den Lippen ab, und ihre schmachtenden Blicke verließen nicht einmal sein Gesicht. Marlene war peinlich berührt, aber außer ihr schien niemand Berthells auffälliges Benehmen zu bemerken. Das Objekt von Berthells Bewunderung bemerkte es jedenfalls nicht, denn Vincent Peebles wandte sich fast ausschließlich an Marlene, wenn er etwas sagte. Sie unterhielten sich über dies und jenes, und die Augen des jungen Doktors fanden Marlene bei jeder Gelegenheit, während Berthell ihren Blick nicht von ihm abwenden konnte. Marlene war froh, als das Essen vorbei war und die Männer sich ins Wohnzimmer zurückzogen. Die Arbeit in der Küche wurde innerhalb kürzester Zeit erledigt, denn Berthell arbeitete rasch und wie in Trance, und bald darauf gesellten sich die Damen zu den Männern. Marlene saß etwas abseits und war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, bis der Arzt mit einer Frage ihre Aufmerksamkeit erregte. »Können Sie sich vorstellen, daß ein einigermaßen intelligenter Mann an übernatürliche Dinge glaubt?« fragte er. »Du nicht! « rief Fen lachend. »Du bist viel zu vernünftig und gesund, um an derartige Märchen zu glauben.« »Märchen, ha!« sagte Grandma. »Es sind die Klugen, die zugeben, daß nachts Gespenster umgehen!« »Ich neige dazu, Ihnen rechtzugeben, Grandma Frisbey«, sagte der junge Arzt mit ernstem Gesicht. »Erinnern Sie sich an das letzte Mal, als ich hier war? Als Berthell noch in Kalifornien war? In jener Nacht war es ziemlich spät, als ich aufbrach. Vielleicht habe ich mir das alles nur eingebildet - ich war schon ziemlich schläfrig. Aber können Sie sich vorstellen,
daß ich überzeugt war, eine Frau gesehen zu haben? Sie war von Licht erhellt und stand im Nebel bei diesem bodenlosen Loch hinter den Feldern. Ich wurde auf der Stelle wach, das können Sie mir glauben. Aber als ich noch einmal hinsah, war sie verschwunden. Wie ich schon sagte. Ich war sehr müde, und der Nebel war dicht wie Suppe. Das Loch ist ein ganzes Stück von der Straße entfernt, aber ich schwöre, daß sie dort war.« *** »Marlene, warum erzählen Sie Vince nicht, wie es dazu gekommen ist, daß Sie für das Fernsehen schreiben?« schlug Fen vor, um das Thema zu wechseln. Marlene zuckte mit den Schultern. »Es ist wirklich nicht wert, darüber zu sprechen. Ich habe schon immer eine lebhafte Phantasie gehabt und erfand als Kind Geschichten, mit denen ich alle Leute verrückt machte.« Der junge Mediziner hatte sich vorgebeugt und fragte jetzt voller Eifer: »Aber wie wird aus einem Amateur ein Fachmann wie Sie?« Marlene lächelte. »Es ist die Praxis, glaube ich.« »Haben Sie Journalismus studiert?« forschte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nie. In den großen Stadtbüchereien findet man genug Informationen über Schriftstellerei. Gegen den Willen meiner Eltern habe ich mein weniges erspartes Geld genommen und bin nach Los Angeles gefahren. Dort nahm ich jeden Job an, den ich finden konnte, um Leib und Seele zusammenzuhalten, und schickte meine Manuskripte jedem zur Ansicht, der sich dafür interessierte.« »Am Anfang war es bestimmt nicht einfach«, bemerkte Vince.
»Nein, aber es war es wert. Ich vergesse nie den Tag, als Excelsior Enterprises bereit waren, mir eine Chance zu geben. Sie boten mir an, als Sekretärin für einige der großen Drehbuchautoren zu arbeiten. Nun, eins kam zum anderen, und mit viel Fleiß und Beharrlichkeit habe ich mir meine gegenwärtige Position erarbeitet.« »Sie müssen auf jeden Fall Talent gehabt haben«, sagte Vince bewundernd. Um die Aufmerksamkeit von Marlene abzulenken, warf Berthell ein: »Ich glaube, ich werde auch bald zu schreiben beginnen. Bestimmt wäre ich gut darin, ganz besonders für Kindergeschichten.« Der Doktor blickte Berthell nur flüchtig an und gab keinen Kommentar. Marlene bemühte sich, nicht zu zeigen, wie unangenehm ihr die aufdringliche Art war, mit der sich ihre junge Freundin um den Doktor bemühte. Grandmas Stimme lenkte sie ab. »Ich würde diese verflixten Räuber gern in flagranti erwischen«, sagte sie ärgerlich. »Räuber?« fragte Fen überrascht. »Was sagst du da, Ma?« »Ich spreche von den verfluchten Dieben, die seit Tagen mein Kühlhaus heimsuchen. Eigentlich geht es schon seit Wochen so. Es macht mich wütend, daß sie mir dauernd die Lebensmittel stehlen. « Grandpa sagte grimmig: »Also tun sie es immer noch, Lib? Du vermißt auch jetzt noch Sachen?« Grandma nickte heftig. »Gestern nacht hat sich jemand an die Kasserolle gemacht, die ich dort abgestellt hatte. « »Es müssen Landstreicher in der Gegend sein«, erklärte Fen. »Vielleicht sollten wir uns einen Wachhund anschaffen. Einer der Männer aus der Fabrik züchtet deutsche Schäferhunde. Er würde mir bestimmt einen abgeben.« Grandma erwiderte mit Schärfe: »Du weißt, daß wir keinen
Hund halten können, solange Flossie lebt. Sie würde sich nie mit einem Hund verstehen.« Fen lächelte schwach. »Das stimmt. Ich hatte vergessen, daß Flossie die Königin in diesem Haus ist. Aber es gefällt mir nicht, daß man uns bestiehlt. « Nachdenklich sagte Grandma: »Ich glaube, du irrst dich in einem Punkt, Fen. Landstreicher können es nicht sein, da wir viel zuweit von der Hauptstraße entfernt leben.« Fen runzelte die Stirn. »Dann muß es jemanden in der Gegend geben, dem es finanziell sehr schlecht geht.« Er blickte Grandpa an. »Pa, kennst du bedürftige Familien hier in der Nähe?« Grandpas hageres Gesicht wirkte plötzlich besorgt. »Ich denke gerade an diese Familie, die in das Hopkins-Haus eingezogen ist. Sie scheinen eine Menge Kinder zu haben. Ich werde nachsehen, ob sie vielleicht Hilfe brauchen. « »So, wie du dich immer um das Wohl der umliegenden Nachbarn kümmerst, Pa, wundert es mich, daß du ihnen noch keinen Besuch abgestattet hast«, sagte Fen liebevoll. »Ich kenne den Vater der Familie. Er heißt Oscar Jenkins. Er kam vor ein paar Tagen in die Fabrik, weil er einen Job suchte. Leider sind wir voll besetzt, und ich konnte ihn nicht einstellen.« »Schade«, sagte Grandpa ernst. »Ich werde morgen bei ihnen vorbeischauen. Wenn es ihnen wirklich schlechtgeht, werde ich sehen, was ich für sie tun kann.« Fen nickte. »Sag mir Bescheid, ja? Wenn sie etwas brauchen, werde ich mich beteiligen. Manchmal sind es die Umstände, die die besten Menschen zu Gesetzesbrechern machen. Ich würde wohl auch stehlen, wenn ich hungrig wäre.« Die Unterhaltung verlief in andere Bahnen, und nach einer Weile sah Marlene, wie Fen sich erhob und zum Fenster ging.
Er schob den schweren Vorhang beiseite und starrte in die Dunkelheit hinaus. Dann öffnete er abrupt die Tür und ging hinaus. Aus einem Impuls heraus stand Marlene auf und folgte ihn. Die anderen hatten weder sein noch ihr Verschwinden bemerkt. Fen lehnte an einer der Verandasäulen und starrte in die Nacht. »Ich habe eine Gelegenheit gesucht, Ihnen mein Mitgefühl zu dem tragischen Tod Ihrer Frau auszusprechen«, sagte Marlene leise. »Danke, Marlene«, erwiderte er ernst. Im Mondlicht sah sie, wie streng sein Gesicht wirkte. »Ich glaube, ich kann Ihnen nachfühlen, was Sie empfinden. Auch ich habe meinen Partner verloren.« Und jetzt spürte sie wieder den vertrauten Schmerz. »Das tut mir leid«, erwiderte er schlicht. »Berthell schrieb mir in einem ihrer Briefe, daß Sie geschieden sind. Es muß schlimm für Sie gewesen sein.« Sie nickte. »Und so endgültig wie der Tod.« Nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Evelyn gehörte nicht hierher.« »Oh?« »Ich lernte sie bei einem Kongreß von Möbelherstellern in Chikago kennen. Sie war sehr gut erzogen, sehr schön, und ich verliebte mich sofort in sie, aber ich hätte sie nie hierherbringen dürfen. Es war nicht ihr Element. Wir haben sehr überstürzt geheiratet.« »Aha«, erwiderte Marlene. »Aber ich glaube, es hat nicht viel zu bedeuten, wie lange sich die Partner vor der Ehe kannten. Ich kannte meinen geschiedenen Mann viele Jahre, bevor wir heirateten. Und trotzdem ging es nicht gut.« »Evelyn war ein sehr schwieriger Mensch. Ich habe sie nie richtig verstanden, und heute mache ich mir Vorwürfe, weil ich
es nicht lange genug versucht habe. Vielleicht trifft mich die Schuld an dem, was geschehen ist.« Er brach ab und fuhr nach kurzem Schweigen fort: »Sie war grundlos und krankhaft eifersüchtig. Und in vielen Dingen war sie mehr ein Kind als ein erwachsener Mensch. Sie konnte liebevoll und freundlich sein - im nächsten Augenblick war sie bösartig und hart. Grandma war immer der Meinung, ihr Leben müsse tragisch enden, es sei ihr so bestimmt. Wir haben uns alle sehr viel Mühe gegeben, aber niemand konnte es meiner Frau recht machen. « Ohne nachzudenken, sagte Marlene: »Ihrer Erzählung nach neige ich dazu, Grandma recht zu geben. Auch ich habe den Eindruck, daß sie labil und unberechenbar war.« Sobald die Worte ausgesprochen waren, bereute sie sie auch schon. Sie wußte sofort, daß sie etwas Falsches gesagt hatte. Fens verärgertes Gesicht war der beste Beweis dafür. »Es gefällt mir nicht, daß Sie so ein schnelles Urteil über meine Frau fällen«, fuhr er sie an. »Mit welchem Recht kritisieren Sie einen Menschen, den Sie nicht einmal gekannt haben?« »Aber Sie sagten doch .. .« Ihre Worte trafen auf taube Ohren. Fenwick Frisbey hatte sich umgedreht und war gegangen. Es war ein Fehler, mit Berthell herzukommen, entschied Marlene. Am Morgen würde sie packen und abreisen. *** Noch vor dem Einschlafen dachte Marlene an Fen, und erst der Schlaf vertrieb ihn aus ihren Gedanken. Sie erwachte mitten aus einem schrecklichen Alptraum und wußte nicht, was sie geweckt hatte. Eine Tür schien irgendwo
zugeschlagen zu sein, aber beschwören konnte sie es nicht. Sicher war sie nur, daß irgend etwas nicht stimmte. Sie hatte das Gefühl, jemand sei in ihr Zimmer eingedrungen. Aber in der nachtschwarzen Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Der Gedanke, daß sie sich in Gefahr befand, weckte sie vollends. Sie setzte sich rasch im Bett auf. Jetzt begann ihr Hirn zu arbeiten. Das Licht! Hatte sie doch unbewußt das Licht abgestellt? Bestimmt nicht! Während sie noch über die seltsame Lage nachdachte, drang ein widerlicher Geruch in ihre Nase, und sie mußte niesen. Sie hielt den Atem an, als ihr bewußt wurde, was den aufdringlichen, stechenden Geruch erzeugte. Gas! Mund und Nase so gut wie möglich mit der Hand schützend, stieg Marlene aus dem Bett. Die Taschenlampe! Wo hatte sie sie gelassen? Auf dem Waschtisch - wie nachlässig von ihr! Als sie sie schließlich in der Hand hielt und den Knopf betätigte, sah sie sofort, daß sie ganz allein im Zimmer war. Den Lichtstrahl auf die Gaslampe richtend, sah sie, daß der Hahn weit geöffnet war. Sie drehte ihn so fest zu, wie es möglich war, eilte dann auf die Außentür zu und riß sie auf. In der Nachtluft atmete sie tief ein, und die ersten Atemzüge drohten sie fast zu ersticken, aber nach einer Weile fühlte sie sich besser und konnte wieder normal atmen. Als sie sich beruhigt hatte, erinnerte sie sich daran, daß die Außentür nicht verschlossen gewesen war. Wie konnte das sein? Sie schloß sie doch nachts immer ab! Was ging hier vor? Wurde sie allmählich verrückt? War es möglich, daß sie die Tür gar nicht abgeschlossen und die Gaslampe nicht richtig abgestellt hatte? Sie ging in das Zimmer zurück und sah auf ihre Uhr. Fast fünf. Bald würden die anderen Hausbewohner aufstehen. Es war nicht nötig, daß sie sie weckte. Sie würde warten, bis sie die ersten Geräusche aus der Küche hörte. Im schwachen Schein der Taschenlampe wusch sie sich und
zog einen blauweißen Hosenanzug an. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie beschloß, zuerst mit Fen über die seltsamen Vorkommnisse in ihrem Zimmer zu sprechen. Gegen halb sieben war sie sicher, daß Fen aufgestanden sein würde, und ging in die Küche. Grandma begrüßte Marlene freundlich. »Das Frühstück ist bald fertig«, sagte sie. »Berthell ist noch nicht aufgestanden, und Fen sitzt im Wohnzimmer. Wo die anderen sind, weiß ich nicht.« Marlene ging zögernd zum Wohnzimmer. Fens Gesicht war hinter der Morgenzeitung verborgen. Er sah nur kurz auf, als sie eintrat, und warf ihr einen kühlen Blick zu. Marlene verlor beinahe ihren Mut und sagte rasch: »Guten Morgen. Ich will Sie nicht stören, aber ich habe etwas sehr Dringendes mit Ihnen zu besprechen.« Fen legte resigniert die Zeitung beiseite und blickte sie kühl an. »Was könnte so wichtig sein, daß man so früh am Morgen darüber sprechen muß?« fragte er grantig. Er machte es ihr nicht leicht, aber Marlene ließ sich nicht einschüchtern. »Halten Sie mich bitte nicht für jemanden, der sich ständig beklagt, aber es hat sich etwas Merkwürdiges in meinem Zimmer ereignet.« Er runzelte die Stirn. »Nun?« fragte er ungeduldig. »Erstens habe ich gestern abend bemerkt, daß eine Jalousie des verschlossenen Fensters über meinem Zimmer offenstand. Ich nehme an, daß Sie es richten werden, bevor die Jalousie sich ganz löst und herunterfällt.« »Oh?« Das war alles. Ihre Stimme klang schriller, als sie fortfuhr: »Irgendwie ist die Lampe heute nacht in meinem Zimmer ausgedreht und das Gas wieder aufgedreht worden. Entweder das, oder es ging von
allein aus. Jedenfalls strömte das Gas aus, und wenn ich nicht aufgewacht wäre, wäre ich jetzt wohl tot.« Daraufhin blickte Fen sie ungläubig an. »Sind Sie sicher? Haben Sie das auch nicht erfunden?« Jetzt wurde Marlene wütend und berichtete empört, daß auch die Außentür nicht verschlossen war. Fen stand auf und sagte, er wolle ihr Zimmer sehen. Die Jalousie, die am Abend zuvor noch locker am Fenster gehangen hatte, befand sich wieder an ihrem Platz. Das Fenster über ihrem Zimmer war fest verschlossen. Der Gasgeruch war aus ihrem Zimmer verschwunden. Fen und Grandpa, der mit hinzugekommen war, blickten Marlene zweifelnd an. Dann wandte Fen sich ab. »Das Frühstück ist fertig. Kommt ihr?« Nach dem Frühstück sprach Marlene mit Berthell über die merkwürdigen Vorfälle in ihrem Zimmer. »Du glaubst mir doch, Berthell?« fragte sie verzweifelt. »Natürlich glaube ich dir. Ich glaube fast, daß sich jemand auf unserem Grundstück aufhält. Nach der ganzen Stehlerei und jetzt das!« Nach dem Mittagessen folgte Marlene Chad nach draußen. Als der Mann sie fragend anblickte, sagte sie: »Ja, ich möchte Sie um etwas bitten, Chad. Satteln Sie bitte Midnight für mich!« Der junge Mann wurde sofort abweisend. »Nein, Miss!« protestierteer. »Fen würde meinen Skalp verlangen.« Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Marlene Chad überzeugt hatte, daß man ihn nicht verantwortlich machen würde, wenn ihr etwas zustoßen sollte. Er gab nach, und zehn Minuten später war der schwarze Hengst gesattelt. Marlene streichelte Midnight und sprach beruhigend auf ihn ein, bevor sie aufsaß. Es kam ihr vor wie ein Traum, als sie mit Midnight über die Weiden ritt. Er war das schönste Pferd, das
sie je unter dem Sattel gehabt hatte, und das Tier reagierte sofort auf ihr sanftes Antreiben. Sobald sie das Gatter passiert hatten, gab sie die Zügel frei, und Midnight fiel in einen mühelosen Galopp. Das Pferd wählte einen Weg, der in den. dichten Wald führte. Seine muskulösen Beine trugen sie tiefer und tiefer in das dichte Gehölz. Nach einer Weile saß sie ab und ließ das Pferd grasen. Ein zufälliger Blick auf ihre Uhr sagte ihr, daß sie schon über zwei Stunden unterwegs war. Bestimmt würde man sich wegen ihrer langen Abwesenheit Sorgen machen, und so beschloß sie, zum Haus zurückzureiten. Der schwarze Hengst begrüßte sie mit einem leisen Wiehern, als sie wieder aufsaß, und blieb geduldig stehen, bis sie fest im Sattel saß. Als sie gerade den Wald verlassen wollten, geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Zwischen den dicht zusammenstehenden Bäumen wurde es plötzlich hell, und Marlene erblickte ein seltsam geisterhaftes Wesen. Dann explodierte ein heller Lichtstrahl direkt vor dem Kopf des Pferdes. Midnight reagierte wild, blieb abrupt stehen und warf die Hinterbeine in die Luft. Das Tier wurde vor Panik beinahe wahnsinnig. *** Marlene hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten. Eine weniger gute Reiterin wäre sofort zu Boden geschleudert worden. In seinem entsetzten Zustand reagierte Midnight nicht auf Marlenes sanfte, lockende Worte. Es dauerte mindestens zehn Minuten, bis er ruhiger wurde. Zu Marlenes Erleichterung hörte er auf, auszuschlagen, aber
der Hengst weigerte sich, auch nur einen Schritt zu tun. »Sei brav, Midnight«, flehte Marlene ihn an. »Niemand wird dir etwas tun. Komm, wir gehen nach Hause.« Midnight rührte sich nicht. Es war, als blockierte etwas Unsichtbares seinen Weg. Resigniert saß Marlene wieder ab und versuchte, ihn am Zügel zu führen. Er rührte sich nicht. Marlene sah erschrocken, daß die sonst so sanften, dunklen Augen des Tieres glasig waren und das Tier starr vor sich hinstarrte. Hatte der Lichtstrahl ihn geblendet? Sie war jetzt selbst der Panik nahe und zog fester am Zügel. Streng sagte sie: »Ich habe noch nie ein Pferd geschlagen, Midnight, aber ich werde es tun, wenn du jetzt nicht endlich kommst. Bitte bring mich nicht in Wut!« Irgend etwas in ihrer Stimme ließ das Tier aufhorchen. Zu ihrer Überraschung und großen Freude richtete Midnight seine großen Augen auf sie und blickte sie sanft an. Und dann gehorchte er ihrem Zügeldruck. Grandpa war in der Scheune, als sie das Tier zum Stall führte. Ein Blick auf den alten Mann zeigte ihr, daß er mehr als verärgert war. »Wo warst du, Mädchen?« fragte er grob. »Ich hätte Chad beinahe getreten, als ich hörte, daß er diese Bestie gesattelt hat.« »Nein, nein, geben Sie bitte nicht Chad die Schuld«, flehte Marlene. »Ich habe ihn dazu überredet, wirklich. Es tut mir leid, wenn Sie sich Sorgen gemacht haben.« Grandpa schien bereits etwas besänftigt zu sein. »Tu es nicht wieder, Marlene«, sagte er. »Chad wird Midnight absatteln. « Auch Grandma machte Marlene Vorhaltungen und schloß mit den unheilverkündenden Worten: »Wenn Fen davon erfährt, wird er dir die Hölle heiß machen, Kind.« Um das zu verhindern, schützte Marlene Kopfschmerzen vor
und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie ging nicht zum Essen, und als es später an ihrer Tür klopfte, dachte sie, es sei Berthell. »Komm herein!« Die Tür öffnete sich, und zu Marlenes großem Schreck betrat Fen das Zimmer. »Können Sie sich nicht wie ein erwachsener Mensch benehmen?« herrschte er sie an. Damit weckte er ihren Widerspruchsgeist. »Ich wußte nicht, daß ich eine kriminelle Handlung begangen hatte«, erwiderte sie kühl. »Sie haben nicht nur Ihr eigenes Leben riskiert, sondern auch meinen Leuten Sorgen gemacht. Ich möchte so etwas nicht mehr erleben«, sagte er wütend. »Ich weiß gar nicht, was dieses ganze Theater um Midnight soll«, erwiderte sie ruhiger. »Das Pferd ist ein sehr sanftes Tier. Es würde mich nie verletzen. « »Soll ich etwa glauben, daß er in der kurzen Zeit, die Sie hier sind, schon Ihr Sklave geworden ist?« Jetzt triefte Fens Stimme vor Spott. »Das Pferd sehnt sich nach Aufmerksamkeit und Zuneigung, und von mir wird es sie bekommen«, rief sie leidenschaftlich. »Das können Sie halten, wie Sie wollen, aber Sie werden Midnight nicht mehr reiten! Verstanden?« Danach ging er, und Marlene blieb bekümmert zurück, mehr denn je entschlossen, am nächsten Morgen abzureisen. *** Nach einer ziemlich unruhigen Nacht stand Marlene am nächsten Morgen zeitig auf. Sie gab sich mehr Mühe als sonst mit ihrem Haar und dem Make-up, denn sie war fest entschlossen, den ersten Schritt zu tun und sich bei Fen zu
entschuldigen. Aber das war gar nicht so einfach. Fen sorgte dafür, daß er und seine Eltern so tief in eine Unterhaltung verstrickt waren, daß sie keine Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort einzuwerfen. Arzy war eigentlich immer ruhig, aber heute war er stumm. Sogar Berthell wurde rasch unterbrochen, als sie zu sprechen begann. Nach dem Frühstück stand Fen abrupt auf und sagte, er müsse jetzt sofort in die Fabrik. Was Marlene am meisten verletzte, war die Tatsache, daß er sie während der ganzen Mahlzeit nicht eines einzigen Blickes gewürdigt hatte. Nach dem Frühstück ging Marlene zu Midnights Weide und brachte ihm ein Stück Zucker. Chad kam hinzu, als das Pferd liebevoll seine Nase an ihrer Schulter rieb. Ein wenig neidisch sagte er: »Ich glaube, das Pferd hat Sie genauso gern wie damals Evelyn.« Marlene blickte ihn nachdenklich an und fragte: »War Evelyn eigentlich nett zu Ihnen?« Chads Gesicht verdüsterte sich. »Ich war wie Dreck für sie. Ich habe nie verstanden, warum Fen sie geheiratet hat.« »Hat sie sich gut mit Grandpa und Grandma vertragen?« forschte Marlene weiter. Er zuckte die Achseln. »Sie hat sie praktisch als Dienstboten betrachtet. Sie hat nie selbst eine Arbeit angefaßt.« »Wie hat sie dann ihre Zeit ausgefüllt?« »Mit Reiten.« Dann wandte sich Chad zum Gehen, und Marlene begleitete ihn und half ihm beim Birnenpflücken. Um fünf Uhr kehrte Marlene zum Haus zurück und bot Grandma an, ihr beim Einkochen der Birnen behilflich zu sein. Grandma nahm dankbar an. »Das ist aber nett von dir, Marlene. Du kannst morgen früh mit dem Schälen beginnen. Aber auch Elsie wird herüberkommen und helfen. Sie freut
sich immer, wenn sie ein bißchen Geld dazuverdienen kann. « Später ging Marlene ins Wohnzimmer, wo Fen und Vince saßen. Sie begrüßte die beiden Männer freundlich, und Vince lächelte erfreut, aber Fen blieb stumm. Marlene war verletzt, zog sich jedoch nicht zurück. Statt dessen nahm sie in einem Schaukelstuhl Platz und wartete darauf, in die Unterhaltung mit einbezogen zu werden. Vince richtete oft das Wort an sie, aber Fen übersah sie vollkommen. Nach einem köstlichen Abendessen kam endlich die Gelegenheit, auf die Marlene so lange gewartet hatte. Wieder erschien Fen rastlos und unruhig, und es dauerte nicht lange, bis er hinausging. Marlene ging ihm nach und versuchte auf der Veranda, eine Unterhaltung zu beginnen. Aber ohne auf sie zu hören, wandte er sich um und ging in Richtung Scheune. Beschämt barg Marlene das Gesicht in den Händen. Und da flüsterte plötzlich eine beruhigende Männerstimme neben ihr: »Ich vermute, daß dieser Tag nicht so verlaufen ist, wie Sie gern gehabt hätten, Marlene.« »Ach, Vince! « rief sie aus und versuchte, ihre Fassung zu bewahren. Der junge Arzt lachte. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Sie waren so in Ihre Gedanken vertieft, daß Sie mich gar nicht bemerken konnten.« »Ja, das stimmt«, erwiderte Marlene lahm. »Ich bin schrecklich müde, weil ich Chad beim Birnenpflücken geholfen habe. « »Eine gute Nachtruhe wird Wunder wirken.« »Ha!« sagte sie schlicht. »Heißt das, daß Sie hier nicht gut schlafen?« fragte er besorgt »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen«, bekannte sie.
»Vielleicht brauche ich ein Beruhigungsmittel.« »Ein Schlafmittel wäre wirkungsvoller. Ich hole ihnen eins aus meiner Tasche. Bleiben Sie ruhig hier, ich komme sofort zurück.« Als Vince zurückkam, weinte Marlene, und er nahm sie in die Arme und riet ihr, sich auszuweinen. Marlene fühlte sich in ihrer Verzweiflung in den Armen des jungen Arztes geborgen und behütet, aber plötzlich spürte sie etwas, das sie veranlaßte, zur Wohnzimmertür hinüberzusehen. Und da stand Berthell, und der Haß in ihren Augen war sogar in der Dunkelheit zu erkennen. Marlene machte sich rasch aus Vinces Umarmung frei und ging auf das Mädchen zu. »Berthell, was du gesehen hast, ist nicht das, was du meinst!« rief sie verwirrt. Aber Berthell war schon verschwunden. »Jetzt sind Sie noch betroffener als vorher, nicht wahr?« fragte Vince besorgt. »Wenn es meine Schuld ist, dann tut es mir leid.« Wieder strömten die Tränen. »Berthell wird nie wieder ein Wort mit mir sprechen«, sagte Marlene verzweifelt. »Aber natürlich. Morgen früh wird alles anders aussehen.« Danach verabschiedete sich Vince, und Marlene blieb auf der Veranda sitzen, bis sie hörte, wie sein Wagen abfuhr. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück und war entsetzt, als sie den kalten Ausdruck auf den Gesichtern von Grandma und Grandpa sah. Sogar Arzy wandte sich von ihr ab. Die anderen beiden, Fen und Berthell, waren nirgends zu sehen. Marlene verabschiedete sich und ging zu Bett. Sie nahm vorsorglich zwei der Schlaftabletten, die Vince ihr gegeben hatte, und war bald darauf fest eingeschlafen. Sie erwachte, als sie am Morgen das Krähen der Hähne hörte, und stand benommen auf. Sie ging zum Waschtisch und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser, bevor sie in den Spiegel
schaute. Und da schrie sie vor Entsetzen auf! Sie versuchte, sich zunächst einzureden, daß auch das nur wieder ein furchtbarer Alptraum war, aber als sie die Hand an den Kopf hob, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Ihr herrliches, schulterlanges blondes Haar war grob abgeschnitten worden und hing ihr in unordentlichen Strähnen um den Kopf. Die längsten Strähnen waren kaum fünf Zentimeter lang. *** Schockiert und ungläubig starrte Marlene ihr Spiegelbild an, bevor sie sich zusammennahm und zur Tat schritt. Sämtliche Mitglieder des Haushaltes saßen am Frühstückstisch, als Marlene in die Küche stürmte und schrie: »Hier! Seht euch das an! Wenn ich herausfinde, wer mir das angetan hat, dann ...« Diese letzten Worte schrie sie mit gellender, schriller Stimme, konnte jedoch den Satz nicht beenden, weil ein heftiges Schluchzen ihre Kehle erstickte. Tränen strömten über ihr Gesicht. Es war ihr bewußt, daß alle Augen sie anstarrten, erschrocken und ungläubig. Fen fand als erster Worte. »Marlene, was haben Sie mit Ihrem Haar gemacht? Sie haben es wirklich verschandelt. « Marlenes Schluchzen hatte nachgelassen und der Ärger wieder die Oberhand gewonnen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, das ist das Werk von einem Wahnsinnigen! Glauben Sie, ich würde so etwas selbst tun?« »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie so etwas passieren konnte, ohne daß Sie etwas davon gemerkt haben«, sagte er verständnislos. Marlene erwiderte etwas runiger: »Vince gab mir gestern
Schlaftabletten, und ich habe eine doppelte Dosis davon genommen. Man hätte mich aus dem Zimmer tragen können, so fest habe ich geschlafen. Aber ich schwöre, daß jemand dafür bezahlen wird!« Grandma sagte streng: »Reg dich nicht auf, Kind. Wir werden den Übeltäter finden, und wenn wir alles auf den Kopf stellen müssen.« »So ist es, Marlene«, bestätigte Grandpa. »Unsere Vorräte zu stehlen, ist eine Sache, aber das hier ist weitaus schlimmer. « »Wie kann ich hier je wieder ruhig schlafen? Es könnte mir doch alles Mögliche zustoßen. Mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als mir eine Waffe zu kaufen und mich selbst zu schützen«, erwiderte Marlene aufgebracht. Fen ignorierte diese Bemerkung und machte ihr einen Vorschlag: »Kommen Sie doch mit mir in die Stadt, Marlene. Sie können zu einem Friseur gehen und später mit mir zurückfahren.« Seine Stimme klang warm und verständnisvoll, und Marlenes Herz machte einen Sprung. Gerührt erwiderte sie: »Vielen Dank, Fen. Ich glaube, das ist eine sehr gute Idee. « Während Marlene sich in ihrem Zimmer für die Fahrt in die Stadt umzog, erschien Berthell an der Tür. Sie machte ein betretenes Gesicht und sagte verlegen: »Es tut mir schrecklich leid für dich, Marlene. Ich gebe zu, daß ich gestern abend vor Wut außer mir war, als ich dich in Vinces Armen sah, aber ich wäre nie dazu fähig gewesen, mich in dein Zimmer zu schleichen und . . .« Marlene musterte ihre Freundin scharf. Berthell wirkte tatsächlich unschuldig, und wenn sie auch einen Moment daran gedacht hatte, Berthell könnte sich in blinder Wut in ihr Zimmer geschlichen haben, so war jetzt jeder Zweifel beseitigt. Berthell hatte nichts mit der Sache zu tun. »Ich bin überzeugt, Liebes, daß du deinem schlimmsten
Feind so etwas nicht antun würdest. Das paßt überhaupt nicht zu dir«, erwiderte Marlene erleichtert. In diesem Augenblick spürte sie, wie sich Flossie schnurrend an ihren Beinen rieb. »Du kannst dich geschmeichelt fühlen«, sagte Berthell. »Die Katze ist bis jetzt nie in dieses Zimmer gekommen.« »Sie weiß eben, wer sie gern hat«, erwiderte Marlene und streichelte die schöne Katze zärtlich. Die Zuneigung des Tieres beruhigte sie und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Aber das änderte sich bald! Marlene ging zum Wandschrank, um einen Schal herauszunehmen. Flossie folgte ihr die ersten Schritte, aber als das Mädchen sich der Wand näherte, die nach Osten lag, versteifte sich die Katze. Ihr Nackenhaar richtete sich auf, und ihr Schwanz bewegte sich mißtrauisch von einer Seite zur anderen. Sie gab zischende Laute von sich und schien große Angst zu empfinden. Marlene war betroffen. »Was ist nur auf einmal mit ihr los?« Ernst erwiderte Berthell: »Sie muß etwas Böses spüren, etwas, das wir nicht sehen können.« Während Marlene noch verwirrt die Katze anstarrte, wandte sich Flossie um und rannte aus dem Raum, als sei sie vom Blitz getroffen worden. »Könnte sich etwas Gefährliches hinter der Wand befinden?« fragte Marlene unbehaglich. »Es gibt hier Klapperschlangen«, überlegte Berthell laut. »Alle Tiere fürchten sich vor ihnen, aber ich muß zugeben, daß ich noch nie eine gesehen habe.« Ein kalter Schauer ging über Marlenes Rücken. »Aber sie kommen doch nicht ins Haus, oder?« »Hm, das weiß ich nicht. Meine Großeltern sprechen manchmal davon, daß sie schon einmal Schlangen im Haus gefunden haben. In der Scheune und in den Ställen sind sie auf
jeden Fall.« »Das hat mir gerade noch gefehlt!« rief Marlene betroffen. »Ich würde vor Schreck sterben, wenn mir eine begegnet.« Berthell sagte ernst: »Eins steht jedenfalls fest: Keine Schlange könnte dir das Haar abschneiden.« Marlene blickte auf die Uhr. »Du liebe Güte! Ich muß mich beeilen. Fen wartet bestimmt schon.« Fen saß tatsächlich schon in seinem Wagen, als sie aus dem Haus kam. Sie erzählte ihm auf der Fahrt, wie seltsam sich Flossie verhalten hatte. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, sagte Fen nur kurz: »Ich war schon immer der Ansicht, daß Katzen ebenso schwer zu verstehen sind wie Frauen.« »Berthell meinte, es könnte sich eine Schlange in der Mauer aufhalten.« Scharf sagte er: »Unsinn! Das ist absolut unmöglich! « Danach schwiegen sie, bis sie die Stadt erreichten. Fen setzte sie vor einem Friseursalon ab. Sie hatte Glück. Die Friseuse, die sie bediente, war eine Expertin auf ihrem Gebiet, und Marlene betrachtete sich eine Stunde später bewundernd im Spiegel. Es war unglaublich, was die Friseuse aus ihrem mißhandelten Haar gemacht hatte! Das Haar war jetzt sehr kurz und ganz anders gelegt als vorher, aber sie fand sich recht hübsch mit ihrer neuen Frisur und war sehr zufrieden. Da ihr noch ein paar Stunden Zeit blieben, bis sie mit Fen nach Hause fahren würde, setzte sie sich in ein kleines Restaurant. Das Lokal war gut besetzt, aber sie fand einen freien Platz in einer der Nischen. Das Essen war gut und reichhaltig. Um sich die Zeit zu vertreiben, lauschte sie. auf die Unterhaltung, die aus der nächsten Nische drang. Es war ein Ehepaar mittleren Alters, das sich dort unterhielt
und plötzlich von den Frisbeys zu sprechen begann. Der Mann murmelte mürrisch: »Ich würde mich freuen, wenn dieser eingebildete Fen Frisbey mal Pech hätte. Ich habe die Geschichte über den Tod seiner Frau nie geglaubt. Wenn ich Geld dazu hätte, würde ich meinen letzten Penny darauf verwetten, daß er sie umgebracht hat.« »Das sagst du doch nicht etwa, weil er dich entlassen hat, Henry?« fragte seine Frau besorgt. Der Mann erwiderte ärgerlich: »Natürlich nicht, Amy! Ich habe schon immer vermutet, daß er seine Frau beiseite geschafft hat.« »Warum hat er dich eigentlich entlassen? Ich war immer der Ansicht, daß du damals betrunken zur Arbeit gekommen bist«, sagte seine Begleiterin kühl. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, ich war vollkommen nüchtern«, erwiderte der Mann wütend. »Ja. Aber manchmal belügst du mich eben, Lieber.« Der Mann schnappte ein: »Nach all den Geschichten, die du über die Leute erzählst, solltest du dir nicht das Recht nehmen, jemanden einen Lügner zu nennen.« Die Frau, die Amy genannt wurde, wechselte abrupt das Thema. »Gehen wir endlich, Henry. Ich muß noch die Sachen aus der Reinigung abholen, bevor wir nach Hause fahren.« Das war das letzte, was Marlene deutlich verstehen konnte, und wenig später bezahlte sie ihre Rechnung, stand auf und verließ das Restaurant. Fen war in seinem Büro beschäftigt und sah freundlich lächelnd auf, als sie eintrat. Marlenes Herz schlug schneller, als sie bemerkte, wie bewundernd Fen sie anstarrte. »Also hat die Friseuse es gut gemacht?« fragte sie gespielt gleichmütig. Er nickte. »Das kann man wohl sagen! Kurzes Haar steht
Ihnen sehr gut, Marlene. Haben Sie Lust, sich die Fabrik anzusehen?« »Sehr gern«, erwiderte sie aufrichtig. Fen warf einen Blick auf seine schmale Armbanduhr. »Es bleibt uns noch eine halbe Stunde, bevor wir schließen.« Bei ihrem Rundgang erfuhr Marlene eine Menge darüber, wie Möbel angefertigt werden. Als sie schließlich in seinem Wagen saßen und auf dem Heimweg waren, bemerkte sie: »Ich fühle mich sehr viel besser als heute morgen. Ich wäre am liebsten gestorben, als ich mich im Spiegel sah.« »Ich kann Ihnen nachfühlen, was Sie empfunden haben«, sagte Fen verständnisvoll. Dann schwieg Marlene. Nach einer Weile runzelte sie die Stirn und meinte: »Vielleicht sollte ich morgen lieber abreisen. Es ist nur zu offensichtlich, daß es jemanden gibt, der mich nicht auf der Farm haben will. Es wäre bestimmt besser, das Schicksal nicht weiter herauszufordern. « Fen wandte ruckartig den Kopf. »Gehen Sie nicht, Marlene!« schrie er fast. Dann wurde er ruhiger: »Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts mehr zustößt, und wenn ich dafür jede Nacht vor ihrem Zimmer schlafen muß.« Sie mißtraute seinem veränderten Verhalten ihr gegenüber und verfiel in Schweigen. »Einen Dollar für Ihre Gedanken«, sagte Fen plötzlich. Sie lachte leise. »Sie würden sich um Ihr Geld betrogen fühlen.« »Aber Sie werden doch bleiben, nicht wahr?« fragte er bittend. »Berthell würde wieder rastlos werden und fortgehen wollen, und ich möchte nicht, daß meine Eltern wieder leiden müssen.« »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Fen. Wer gestern nacht
mein Haar so zugerichtet hat, der hätte mir auch leicht die Kehle durchschneiden können.« Marlene sah, wie sein Gesicht hart wurde. »Ich finde heraus, wer in Ihrem Zimmer war, und wenn es meine letzte Handlung auf Erden sein sollte«, versprach er grimmig. Seine Erklärung veranlaßte sie zu der Frage: »Verdächtigen Sie denn jemanden von der Farm?« Er ließ sich mit der Antwort Zeit; dann sagte er: »Ich werde mich heute abend einmal mit Chad unterhalten. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß er nicht -hm - daß er nicht ganz richtig im Kopf ist.« »O nein, nicht Chad!« rief Marlene bestürzt. »Er ist doch nur ein bißchen langsam im Denken. Und er ist so nett. Ich glaube, Sie haben keine Ahnung, wie sehr er sich an Sie und Ihre Familie gebunden fühlt.« Seine Stimme wurde härter: »Das mag ja sein, aber Sie verdächtigen doch nicht etwa meine Familie? ! « Marlene beeilte sich, ihm zu versichern: »Nein, nein, natürlich kann ich Ihre Familie nicht verdächtigen! « »Ich muß zugeben, daß Onkel Arzy etwas merkwürdig geworden ist, seit er seinen Fuß verloren hat. Manchmal werden Menschen durch einen schweren Unfall verbittert. Vielleicht wäre es gut, wenn Vince sich einmal ausführlich mit Onkel Arzy unterhalten würde. Er könnte bestimmt feststellen, ob mein Onkel seltsame Eigenschaften entwickelt hat.« Fens Worte stimmten Marlene nachdenklich. Konnte es sein, daß der alte Mann über ihre Anwesenheit auf der Farm verärgert war? Aber hatte er sie bei ihrer Ankunft nicht sehr herzlich begrüßt? Es mochte in jedem Fall gefährlich für sie sein, noch länger auf der Farm zu bleiben, auch wenn Fen ihr ihre persönliche Sicherheit garantierte. Aber würde ihre wachsende Zuneigung dem gutaussehenden Mann gegenüber ihr überhaupt eine Abreise erlauben?
Zu Hause angekommen, ging Marlene sofort in ihr Zimmer, um sich zum Essen umzuziehen. Sobald sie jedoch eingetreten war, stellte sie sofort fest, daß etwas nicht in Ordnung war, aber sie konnte nicht sagen, was es war. Dann fiel ihr Blick auf den kleinen Schreibtisch, und sie traute ihren Augen nicht. Ihre Schreibmaschine war verschwunden! Sie lief in die Küche, ignorierte Grandmas bewundernde Worte für ihren neuen Haarschnitt und eilte ins Wohnzimmer weiter, wo die anderen sich versammelt hatten. Als sie völlig aufgelöst eintrat, blickte die Familie sie fragend an. »Jetzt ist es genug!« schrie Marlene hysterisch. »Das reicht! Ich habe die Nase voll!« »Was in aller Welt . . .?« begann Grandpa, aber Marlene fiel ihm grob ins Wort. »Meine Schreibmaschine!« schrie sie wütend. »Wenn meine Schreibmaschine nicht bis morgen früh wieder da ist, rufe ich die Polizei an. Es reicht jetzt wirklich!« Fen blickte sie betroffen an. »Wollen Sie uns sagen, daß Ihre Schreibmaschine verschwunden ist, Marlene?« Ihre Wut wuchs, und sie wandte sich ihm mit blitzenden Augen zu. »Was glauben Sie denn, was ich sage? Sie ist fort, ja, und ich kann nicht ohne sie arbeiten! « »Ich kann es nicht glauben!« Berthell schüttelte den Kopf. »Bei hellem Tageslicht . . . Und es war immer jemand von uns in der Nähe.« »Wenn das die unglaubliche Vorstellung von Spaß ist, ich finde es keineswegs komisch«, sagte Marlene, den Tränen inzwischen nahe. »Mein Lebensunterhalt hängt von dieser Maschine ab.« Grandpa murmelte ärgerlich: »Wenn ich etwas hasse, dann ist es ein schmutziger Dieb! Wenn deine Schreibmaschine gestohlen worden ist, Marlene, dann werde ich dafür sorgen,
daß du sie zurückbekommst. Nach dem Essen werde ich sofort alles in die Wege leiten.« »Danke, Grandpa. Ich wäre Ihnen für immer dankbar, wenn Sie sie wiederfänden. « Berthell blickte Marlene in die Augen und sagte: »Ich war nicht in deinem Zimmer, Marlene, während du fort warst.« Es klang überzeugend. Chad, der sich die ganze Zeit still verhalten hatte, sagte jetzt: »Ich war bestimmt nicht in der Nähe Ihres Zimmers.« Dazu hob er die rechte Hand. Arzy blickte zu Boden und sagte kein Wort. *** Grandma rief zum Essen. Marlene zwang sich zur Ruhe und folgte den anderen in die große Küche. Beim Essen sprach Grandma von den Birnen, die sie heute mit Elsie Phipps eingekocht hatte. Ihre unschuldige Erwähnung des Mädchens brachte Marlene auf eine Idee. »Grandma, sehen Sie denn nicht, wie es war?« platzte sie heraus. »Elsie hat meine Schreibmaschine mitgenommen!« Alle Augenpaare am Tisch wandten sich ihr feindselig zu. Grandma sprach zuerst. »Unsinn! Du weißt nicht, was du sagst, Kind. Elsie hat schon als kleines Kind in diesem Haus verkehrt, und nie hat etwas gefehlt. Ich würde dem Mädchen meinen wertvollsten Besitz anvertrauen!« Chad blickte Marlene lange und hart an, und sie krümmte sich unter der Feindseligkeit, die sie in seinen Augen las. Dann sagte er empört: »Elsie nimmt nichts, was nicht ihr gehört!« »Vielleicht hat sie noch nie so etwas getan, Chad, aber haben
Sie sie gesehen, als sie heute ging?« Der nicht allzu kluge Landarbeiter schnitt eine Grimasse und studierte eine ganze Weile seine Hände. Dann sagte er: »Ich glaube nicht.« Dann fügte er störrisch hinzu: »Ich würde meine Ehre auf ihre Anständigkeit verwetten!« »Sie müssen Sie aber gesehen haben, als sie ging, Grandma«, sagte sie dann zu der besorgt blickenden alten Dame. Grandma sah einen Moment sehr nachdenklich aus und sagte dann: »Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, ob ich sie gehen gesehen habe oder nicht. « Marlene blickte Berthell an. Die Freundin wandte das Gesicht ab. »Ich fürchte, ich kann dir keine Hilfe sein. Ich bin nach dem Einkochen mit dem Fahrrad fortgefahren. Aber ich kann dir nur sagen, daß du auf der falschen Fährte bist, wenn du das Mädchen verdächtigst, dir deine kostbare Schreibmaschine gestohlen zu haben.« Wieder flammte Wut in Marlene auf. »Da ihr Elsie alle schützen zu wollen scheint, wird meine Überzeugung, daß sie die Schuldige sein muß, immer größer. Man kann auch zu heftig protestieren, wißt ihr.« Grandpa hatte bisher nur schweigend gelauscht. Jetzt sagte er betrübt: »Es gefällt mir nicht, daß du so sprichst, Kind, wo du Elsie Phipps nicht einmal kennst. Ich bin natürlich nicht mit dem Diebstahl einverstanden, das ist klar. Aber Elsie war immer wie unser eigenes Kind, und wir wissen, daß sie nie etwas nehmen würde, das nicht ihr gehört.« Der sonst so sanfte Chad sagte wild: »Wenn Sie Elsie unbedingt die Schuld zuschieben wollen, dann werde ich Ihnen eben zeigen, wie sehr Sie sich geirrt haben! Ich finde den Dieb! Dann werden Sie an Ihren eigenen Worten ersticken! « Fens Worte brachen die Spannung, die sich aufgebaut hatte. »Ich gehe nach dem Essen zu den Phipps hinüber. Ich bin
überzeugt, daß sie die Schreibmaschine nicht hat, aber ich möchte jeden Zweifel an Elsies Ehrlichkeit aus dem Weg räumen. « Nachdem Marlene Grandma beim Abwasch geholfen hatte, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück. Da ihr die Luft dort stickig und drückend vorkam, ging sie ins Freie hinaus und setzte sich auf einen Stuhl. . Sie hatte bald das Gefühl für Zeit verloren, aber es wurde rasch dunkel. Marlene erschrak, als sie jemanden um die Ecke kommen sah. Es war Berthell, die Marlene einen unfreundlichen Blick zuwarf. »Ich möchte mit dir reden, Marlene«, sagte sie sehr kühl. Marlene zuckte müde die Achseln. »Bitte. Ich höre.« Berthell verlor keine Zeit mit Einleitungen. »Vince rief heute nachmittag an, als du in der Stadt warst.« »So? Das ist ja toll!« »Aber er hat nach dir gefragt!« rief Berthell ärgerlich. »Oh?« Das klang nicht sehr interessiert. »Hat er gesagt, was er wollte?« »Nein. Das ist es ja. Ich habe ihn gefragt, aber darauf wollte er nicht antworten.« Ihre Stimme klang, als fühlte sie sich verraten. Leichthin antwortete Marlene: »Vielleicht machte er sich Sorgen um seine Patientin.« »Das bezweifle ich sehr. Du hattest heute sehr viel Zeit in Maltville. Bist du sicher, daß du ihm keinen Besuch abgestattet hast?« Marlene war allmählich über die Andeutungen der jungen Freundin empört. »Hör zu, Berthell«, sagte sie ein wenig verärgert. »Schlag es dir ein für allemal aus dem Kopf. Ich habe kein Interesse an Vince!« Berthell blickte sie ungläubig an. »Warum sollte er dich
dann anrufen?« »Ich habe keine Ahnung, und es interessiert mich auch nicht!« »Wahrscheinlich wollte er dich einladen, mit ihm auszugehen«, sagte Berthell mißtrauisch. »Jetzt geht aber deine Phantasie mit dir durch, Berthell«, schalt Marlene. »Wie kommst du überhaupt darauf, daß er sich für mich interessieren könnte? Ärzte sind begehrte Ehemänner, und ich bin überzeugt, daß die Hälfte aller Mädchen aus Maltville ihm den Hof macht! « Der Schmerz, den Berthell empfand, zeigte sich deutlich auf ihrem rundlichen Gesicht. »Aber er kann sich doch nicht für die Mädchen von hier interessieren! « »Woher weißt du das?« fragte Marlene. »Das möchtest du doch nur gern glauben. Denk daran, daß du den Mann gar nicht gekannt hast, bevor du aus Kalifornien zurückkamst. Er würde dir doch bestimmt nicht erzählen, wie viele Liebesaffären er schon gehabt hat, oder?« »Onkel Fen würde es wissen, wenn Vince irgendeine Beziehung gehabt hätte. Ich habe es ihn bereits gefragt, und er hat mir versichert, daß Vince kaum Zeit zum Ausgehen hat.« »Ich kann mir kaum vorstellen, daß der junge Mann seine Affären herumerzählen würde - nicht einmal seinem besten Freund, der in diesem Fall dein Onkel ist. Ich glaube, er ist ein Kavalier.« Wieder blitzten die Augen des jungen Mädchens. »Du weißt ja nicht, wie es in Kleinstädten zugeht«, argumentierte Berthell. »Onkel Fen hört den meisten Klatsch aus Maltville in der Fabrik, und er würde es sicher wissen, wenn Vince sich irgendwelche Eskapaden geleistet hätte.« Marlene hatte genug von Berthells kindischem Gerede und wollte sie loswerden. Sie versuchte noch einmal, Berthell
davon zu überzeugen, daß von ihrer Seite nicht das geringste Interesse an dem jungen Arzt bestand. »Ich gebe zu, Berthell, daß ich Vince nett finde und gern in seiner Gesellschaft bin, aber wenn ich mich nach einem zweiten Ehemann umsehen würde, ganz bestimmt nicht nach ihm! Er mag ein guter Freund sein, aber eine romantische Beziehung zwischen uns beiden steht vollkommen außerhalb jeder Diskussion. « Berthell starrte Marlene lange an, bevor sie ernst fragte: »Würdest du das beschwören?« »Jederzeit, wenn du dann endlich aufhörst, mich verrückt zu machen!« erwiderte Marlene scharf. Berthells Verhalten änderte sich sofort, als sie an Marlenes Stimme hörte, wie irritiert die Freundin war. »Ich wollte dich nicht belästigen«, sagte sie verlegen. »Aber du weißt, daß ich verrückt nach diesem Mann bin, und ich kann nichts dagegen tun. Sei bitte nicht böse.« Marlene wollte um jeden Preis einen Streit vermeiden und sagte ruhig: »Ich hätte keinen Grund, böse zu sein, wenn du endlich deine Eifersucht beherrschen würdest.« »Das verspreche ich dir, Marlene«, sagte Berthell feierlich. Und dann, um das Thema zu wechseln: »Willst du heute abend arbeiten, Marlene? Dann könnte ich dir nämlich eine geliehene Schreibmaschine besorgen. Ich bin mit einem Mädchen zur Schule gegangen, das ganz in der Nähe wohnt, und das besitzt eine Schreibmaschine. Sicher würde es sie dir leihen.« Marlene schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Berthell. Ich glaube kaum, daß ich mich heute auf meine Arbeit konzentrieren könnte.« »Nun, ich hoffe, daß bald jemand deine Maschine findet«, meinte Berthell. »Ich habe es ernst gemeint, daß ich die Polizei anrufen will,
wenn die Schreibmaschine morgen früh nicht wiederaufgetaucht ist«, sagte Marlene mit Bestimmtheit. Berthell runzelte die Stirn. »Oh, bitte laß es!« rief sie aufgeschreckt. »Ich bin sicher, daß Onkel Fen dir lieber eine neue kaufen würde. Nach alldem, was hier schon passiert ist, möchte er nicht, daß die Leute noch mehr Grund zum Klatschen bekommen. Seit Evelyns Tod haben es ihm die Leute nicht leichtgemacht.« Marlene stand auf. »Eine neue Maschine würde ich nicht annehmen«, sagte sie, und es klang endgültig. »Ich bin an meine gewöhnt und will keine andere haben. « In diesem Augenblick weckte eine Bewegung über ihren Köpfen ihre Aufmerksamkeit. Erregt rief sie aus: »Berthell, hast du das gesehen?« Sie deutete zum Fenster hinauf. »Die Jalousie an dem verschlossenen Fenster ging gerade auf und wieder zu! « Berthell blickte hinauf und sagte lachend: »Dabei haben wir doch heute abend gar keinen Wein getrunken!« »Du glaubst mir nicht, was, Berthell?« »Ich habe nichts gesehen. Ich glaube, du bist überanstrengt und siehst Gespenster, Marlene.« »Ich wollte mir in der Stadt eine Pistole kaufen«, sagte Marlene besorgt. »Aber leider habe ich es vergessen.« Sie gähnte laut. »Ich bin sehr müde, Berthell - wie wäre es, wenn wir die Unterhaltung morgen fortsetzen würden?« Berthell wünschte ihr eine gute Nacht, und Marlene ging zu Bett. Es dauerte lange, bis sie einschlief, und dann träumte sie von Ungeheuern, kopflosen Leichen und langen, schimmernden Messern, die sie bedrohten. Sie erwachte noch vor der Morgendämmerung, weil sie Stimmen aus der Küche vernahm. Wer dort auch immer sprach, er gab sich keine Mühe, es leise zu tun!
Ein Gefühl drohenden Unheils gewann Oberhand über ihre Müdigkeit, und Marlene stand auf und zog ihren Morgenmantel über, bevor sie den Stimmen nach unten folgte. Sämtliche Mitglieder der Familie hatten sich im Wohnzimmer versammelt, und jeder versuchte, den anderen zu überstimmen. Die Unterhaltung brach jedoch abrupt ab, als Marlene in der Tür erschien. Fen fing sich zuerst und sagte nervös: »O Marlene, haben wir Sie geweckt? Wir wollten Sie eigentlich nicht stören. « »Aber was . . .« begann sie, doch Fen ließ sie nicht ausreden. Der Rest der Gruppe schwieg und starrte sie mit - wie Marlene fand - etwas dümmlichen Gesichtern an. Fen fuhr fort, und es klang, als habe er eine Ankündigung von größter Bedeutung zu machen. »Ihre Schreibmaschine ist wieder da. Was haben Sie dazu zu sagen?« Marlene war so verwirrt, daß sie das Gesagte kaum begriff. Als ihr schließlich der Sinn seiner Worte aufging, rief sie: »Oh, das ist ja herrlich! Wer hatte sie? Wo haben Sie sie gefunden?« Fen zeigte auf Chad, der sie jetzt offen angrinste. »Sie können sich bei Chad bedanken«, sagte er. »Der Junge hat die ganze Nacht danach gesucht.« »Ich habe Ihnen ja gesagt, Miss, daß ich sie finden würde«, sagte Chad stolz. »Jetzt sehen Sie selbst, daß Elsie nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. « »Würde mir vielleicht freundlicherweise jemand sagen, was hier vorgeht?« bat Marlene. »Ich danke Ihnen, Chad, daß Sie meine Maschine zurückgebracht haben. Aber ich tappe noch immer im dunkeln. Wo haben Sie die Maschine gefunden?« Dann fügte sie rasch hinzu: »Es tut mir leid, daß ich Elsie verdächtigt habe. Aber sie war die einzige, die ich nicht kannte, und deshalb für den Diebstahl in Betracht ziehen konnte.«
»Chad fand Ihre Schreibmaschine unter dem Heu in der Scheune«, sagte Fen. »Unter dem Heu? Das sieht ja fast so aus, als lege es jemand darauf an, mich an der Arbeit zu hindern. Was habe ich getan, daß ich so verfolgt werde?« fragte Marlene unglücklich. »Aber Kind«, sagte Grandma beruhigend. »Wir wissen ja gar nicht, ob es jemand getan hat, um dir Schaden zuzufügen. Erzähl ihr den Rest, Fen.« Gehorsam fuhr Fen fort: »Marlene, es war nicht nur die Maschine, die Chad unter dem Heu fand. Es waren mehrere Messer aus der Küche dabei, die wir nie vermißt haben. Und eine ganze Menge Dynamit und Munition - sogar ein altes Gewehr. Wir haben keine Ahnung, wo das herkommt.« *** »Aber wer . . .«, begann Marlene betroffen, aber Fen fiel ihr ins Wort. »Das Wichtigste ist, daß Ihre Schreibmaschine wieder aufgetaucht ist, Marlene. Jedenfalls, was Sie betrifft. Das wollten Sie doch, nicht wahr?« »Natürlich«, erwiderte sie, »aber Sie werden doch sicher wissen wollen, wer all diese Dinge in der Scheune versteckt hat. Es kommt mir vor wie das Werk eines Menschen, der geistig etwas verstört ist, und ein solcher Mensch macht vielleicht auch vor Schlimmerem als Diebstahl nicht halt.« »Wir werden es schon herausfinden«, sagte Grandpa ruhig. »Vielleicht waren es Nachbarkinder, die mit ihrer überschüssigen Energie nichts anderes anzufangen wußten. « »Nein«, beharrte Marlene fest, »ich glaube nicht, daß es Kinder waren. Ich glaube, Sie sollten sofort die Polizei anrufen.«
»Ich werde selbst entscheiden, was veranlaßt wird«, erwiderte Fen darauf kühl. Auch Marlenes Stimme klang frostig, als sie erwiderte: »Ich war schon immer der Ansicht, daß die Behörden besser mit solchen Leuten umgehen können als ein gewöhnlicher Privatmann.« »Ich bitte Sie, sich um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und mir diese Sache zu überlassen«, sagte Fen eisig. »Sie haben Ihre Schreibmaschine wieder, und mehr sollte Sie nicht interessieren.« Grandpa unterstützte seinen Sohn. »Wir waren noch nie Menschen, die gern mit der Polizei zusammenarbeiten. Bis jetzt haben wir uns immer selbst helfen können.« Grandma nickte zustimmend. »Recht hast du, Tom. Was die Leute aus der Stadt nicht wissen, darüber können sie nicht klatschen.« Dann wandte sie sich bittend an Marlene. »Das Frühstück kommt erst in einer Stunde auf den Tisch, Kind. Willst du so lange nicht wieder zu Bett gehen?« »Ich könnte nach alldem kein Auge zutun!« sagte Marlene aufgebracht. »Ich bin nicht an derartige Vorfälle gewöhnt. Und dann sprechen Sie von den gefährlichen Städten! « fügte sie bitter hinzu. »Reg dich bitte nicht auf, Marlene«, sagte Berthell leise. Aber Marlene konnte sich nicht beruhigen. »Ich verstehe euch wirklich nicht! Unter normalen Umständen würde man sofort die Polizei benachrichtigen und sie mit der Lösung des Falls beauftragen. Da Sie jedoch gegen diese simple Lösung Ihres Problems sind, muß ich fast annehmen, daß Sie sich davor fürchten, das Gesetz um Hilfe zu bitten!« »Wollen Sie damit andeuten, daß wir etwas zu verbergen haben?« fragte Fen, blaß vor Wut. »Ich glaube, ich habe allen Grund zu dieser Annahme.«
»Und was sollten wir denn verbergen? Hören Sie, Mädchen, erzählen Sie uns doch, welche Leiche Sie in unseren Schränken gefunden haben. Ich möchte Ihre Theorien hören«, sagte er verärgert, gab sich jedoch Mühe, ruhig zu sprechen. »Vielleicht finden wir sie interessant.« »Ich habe keine Ahnung, warum Sie so geheimnisvoll handeln, aber ich bin sicher, daß es einen Grund dafür gibt«, schloß Marlene. »Ich bedaure jetzt zum ersten Mal, daß ich nichts von Psychologie verstehe.« Fens Stimme klang auf einmal väterlich. »Marlene, Sie sind heute morgen nicht Sie selbst. Ich hoffe, daß Sie sich vor dem Frühstück beruhigen. Legen Sie sich jetzt lieber hin, und entspannen Sie sich. Sie sind sehr nervös.« Er ging auf die Tür zu und rief über die Schulter zurück: »Ich mache einen kleinen Spaziergang. Das beruhigt gewöhnlich meine Nerven.« Dann war er fort. Auch die anderen verteilten sich auf die verschiedenen Räume. Marlene blieb nichts anderes übrig, als ihre Schreibmaschine zu nehmen und in ihr Zimmer zurückzugehen. Ihr Kopf dröhnte, während ihre Gedanken durcheinanderwirbelten. Je länger sie über die Bewohner der Farm nachdachte, desto verdächtiger wurden sie ihr. Fen ganz besonders. Warum behandelte er sie manchmal wie ein dummes, lästiges Kind und war im nächsten Augenblick dann grob und feindselig zu ihr? Marlene grübelte noch immer darüber nach, als es stürmisch an ihrer Tür klopfte. Sie erschrak, erkannte dann jedoch die Stimme. Es war Berthell. »Frühstück, Marlene!« rief sie gutgelaunt. »Geh nur schon voraus«, erwiderte Marlene. »Ich habe Magenbeschwerden und möchte im Bett bleiben, bis es sich gebessert hat.« »Oh, das tut mir leid«, rief Berthell mitleidig. »Kann ich dir
irgend etwas bringen?« »Nein, vielen Dank, Berthell«, antwortete Marlene. »Ich brauche Ruhe, das ist alles. « Marlene blieb in ihrem Zimmer, bis es fast zehn Uhr war. Die anderen hatten längst das Haus verlassen, und sie stand jetzt auf und erfrischte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Danach fühlte sie sich etwas besser und zog einen ärmellosen Hausanzug an. Verstohlen öffnete sie die Tür und hoffte, niemandem zu begegnen. Grandma, Berthell und Elsie Phipps waren bestimmt in der Küche und noch mit dem Einkochen der Birnen beschäftigt, die sie mit Chad gepflückt hatte. Als sie die Tür zu dem großen Raum öffnete, wurde sie angenehm überrascht. Er war vollkommen leer. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und schlich, immer noch unbeobachtet, ins Wohnzimmer. Im Augenblick konnte sie wirklich keine unbequemen Fragen gebrauchen. Ihr Blick fiel auf das Telefonbuch, das auf einem Hängetischchen neben dem Wandtelefon lag. Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, weil es eine Ewigkeit dauerte, bis sich endlich eine weibliche Stimme am anderen Ende meldete. »Ich möchte gern den Doktor sprechen«, sagte Marlene freundlich. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?« »Marlene Mahoney«, antwortete sie nach kurzem Zögern. Wenige Sekunden später hörte sie Vinces freundliche Stimme. »Guten Morgen, Marlene. Was für eine nette Überraschung!« »Guten Morgen, Vince«, sagte sie atemlos. »Ich hoffe, daß ich Sie nicht gestört habe.« »Sie stören mich nie, Marlene«, erwiderte er galant. »Sie sind doch nicht krank, oder?« Seine Stimme klang ein wenig alarmiert.
»O nein! Es geht mir bestens«, versicherte sie ihm, »aber ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Ich möchte Ihren Zeitplan nicht durcheinanderbringen, aber vielleicht hätten Sie heute ein paar Minuten Zeit für mich?« »Wann immer Sie es wünschen - im Bereich meiner Möglichkeiten natürlich«, erwiderte er lachend. »Essen Sie im Restaurant zu Mittag oder in der Praxis?« fragte sie. Er lachte belustigt. »Nein, ich nehme mir das Essen nicht mit in die Praxis, wenn Sie das meinen. So schlecht gehen die Geschäfte nicht.« Dann wurde er ernst. »Wenn kein dringender Fall dazwischenkommt, habe ich jeden Tag von zwölf bis halb zwei frei.« »Wäre es möglich, daß Sie mich in der Nähe der Farm treffen würden, Vince?« Er zögerte nicht mit der Antwort. »Aber natürlich, Marlene!« »Welchen Ort würden Sie dafür vorschlagen?« »Lassen Sie mich nachdenken. Oh, ich hab's«, rief er triumphierend. »Bei Grange Hall, etwa eine halbe Meile westlich der Farm, gibt es einen kleinen Park. Die Straße nach Maltville führt hindurch. Ich werde versuchen, um halb eins dort zu sein.« Marlene konnte ihre Erleichterung kaum verbergen. »Phantastisch! Vielen Dank, daß Sie bereit sind, sich mit mir zu treffen, Vince. Es ist wirklich wichtig für mich.« Seltsamerweise war die Küche immer noch leer, als Marlene zurückging, und es gelang ihr, unbemerkt Zucker für Midnight zu stehlen. Als sie sich dem Kohlenschuppen näherte, hörte sie Stimmengewirr und entdeckte Grandma, Berthell und Elsie Phipps. Sie standen vor großen Kupferkesseln, die über einem offenen Feuer hingen. Grandma rührte in den Kesseln, während
Berthell das Feuer schürte. Das plumpe, noch sehr junge Mädchen bei ihnen mußte Elsie Phipps sein. Sie leerte Eimer voller geschälter Birnen in die Kessel. Birnenbutter! Marlene setzte leise ihren Weg fort. Als sie in Sichtweite des schwarzen Hengstes kam, bewiesen ihr seine Reaktionen, daß er sich freute, sie wiederzusehen. Natürlich konnte es auch etwas mit dem Zucker zu tun haben, den sie ihm brachte. »Ich habe dich vermißt, Midnight«, sagte sie lockend. »Möchtest du heute morgen mit mir ausreiten?« Zu ihrer großen Freude nickte der schwarze Hengst heftig mit dem großen Kopf, als habe er die Frage verstanden. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß weder Chad noch einer der anderen Männer in der Nähe war, schlich sie zu der alten Scheune, wo Midnights Sattelzeug aufbewahrt wurde. Zu ihrem Entzücken folgte ihr Midnight dicht auf den Fersen. Es war nicht schwer, den Sattel und das Zaumzeug zu finden, und das temperamentvolle Tier stand zu Marlenes Erstaunen still, während sie ihm den Sattel auflegte und die Steigbügel befestigte. Es war fast so, als sei ihm bewußt, daß sie schon lange kein Pferd gesattelt hatte und als wollte es ihr die Arbeit erleichtern. Sie tätschelte ihm liebevoll den Hals und sagte leise: »Danke, Midnight. Ich wünschte, du gehörtest mir.« Dann spähte sie vorsichtig durch die Scheunentür, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe war. Sie führte Midnight durch das große Tor im Zaun auf die Straße und sprach dabei beruhigend auf ihn ein. Midnight verhielt sich ganz ruhig. Es war fast so, als wüßte er, daß ihr Ausritt geheimgehalten werden mußte. Als sie ihn schließlich neben dem Zaun anhielt, um in den Sattel zu steigen, hielt er ganz still. Marlene war einen Augenblick unschlüssig, welchen Weg
sie einschlagen sollte. Es war noch viel zu früh, um Vince zu treffen, und so beschloß sie, wieder in den Wald zu reiten - zu der Stelle, wo sich Midnight so erschreckt hatte. Sie war ein wenig besorgt, weil sie befürchtete, daß sich ein solcher Vorfall wieder ereignen könnte, aber sie wollte auch feststellen, was ihn verursacht hatte. Auf ihre aufmunternden Worte hin fiel er in leichten Trab. Als sie den Pfad erreichten, der in den Wald führte, reagierte er auf den Zügeldruck, ohne im Schritt zu verharren. Seine gute Laune und sein Temperament waren ansteckend, und bald fühlte Marlene, wie ihre bedrückte Stimmung wich. Als der Wald vor ihnen auftauchte, brachte Marlene Midnight abrupt zum Stehen. Sie hatte plötzlich ein sehr unbehagliches Gefühl und spürte, daß sie in Gefahr war. Am liebsten wäre sie abgesessen und hätte nach dem Grund ihrer Unruhe gesucht, aber im Sattel fühlte sie sich irgendwie sicherer. Während sie auf den Wald starrte und versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen, fühlte sie, daß sie nicht allein war. Eigenartig, aber diesmal schien Midnight ihre Befürchtungen nicht zu teilen. Als sie in der Nähe einer riesigen, alten Eiche ein gedämpftes Husten vernahm, war sie überzeugt, daß sich ein menschliches Wesen ganz in der Nähe aufhielt. Entschlossen, ihre Angst auf keinen Fall zu zeigen, rief sie, so laut sie konnte: »Wer Sie auch sein mögen, Sie befinden sich auf Privatbesitz und haben kein Recht, sich hier aufzuhalten! « Während sie noch sprach, trat ein Mann aus dem Gebüsch. Er hielt ein Gewehr in der Hand, und seine Anwesenheit versetzte Marlene so in Furcht, daß sie am liebsten Hals über Kopf geflohen wäre. Aber sie war wie gelähmt und unfähig, Midnight den Befehl zu erteilen. Sie glaubte, ihr Herz müsse
stehenbleiben, während sie auf den Angriff des Mannes wartete. Und dann, ganz schwach vor Erleichterung, stellte sie fest, daß der Mann, der auf sie zukam, Chad war. Er wartete nicht ab, bis sie etwas sagte, sondern verkündete unheilvoll: »Wenn Fen herausfindet, daß Sie Midnight gegen seine Anweisungen geritten haben, dann ist der Teufel los!« Marlene starrte auf das Gewehr in seiner Hand. »Das Risiko muß ich eben eingehen, nicht wahr, Chad? Aber was machen Sie hier, wenn ich fragen darf? Sie haben mich fast zu Tode erschreckt! Warum verbergen Sie sich?« Der Farmarbeiter hob das Gewehr. »Was meinen Sie denn, was ich damit mache?« Sie erinnerte sich plötzlich, daß er die Sachen gefunden hatte, die unter dem Heu versteckt gewesen waren, und fragte: »Oh, Sie sind jemandem auf der Spur?« »Halten Sie mich für einen Indianer? Oder meinen Sie, ich hätte die Nase eines Bluthundes?« Seine Stimme klang grob. Marlene zwang sich zum Lachen. »Natürlich nicht, Chad. Weder, noch, glauben Sie mir.« »Wenn Sie es noch nicht gemerkt haben, daß ich auf Jagd bin, dann muß ich es Ihnen wohl sagen.« »Und wieso ist mir das nicht eingefallen?« fragte sie verlegen. »Sie müssen mich für unglaublich dumm halten.« »Wenn die Leute aus der Stadt aufs Land kommen, dann wissen sie die meiste Zeit nicht, was eigentlich vorgeht«, erwiderte Chad geringschätzig. Marlene nickte zustimmend. »Ich gebe zu, daß hier alles etwas anders ist als in meiner gewohnten Umgebung. Was jagen Sie eigentlich, Chad?« »Dachse. Sie schmecken sehr gut.« Marlenes Magen drehte sich um, aber sie sagte freundlich: »Ich wußte gar nicht, daß man Dachse essen kann. Ich habe es
noch nie gehört.« »Wenn ich Glück habe, dann werden Sie heute einen essen. Grandma wird ihn zubereiten. Bestimmt schmeckt er Ihnen.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. »Sie werden arge Schwierigkeiten bekommen, wenn herauskommt, daß Sie das Pferd genommen haben. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken!« Marlene lachte schwach. »Vielleicht wird mein Fell im Laufe des Tages dicker, dann kann ich Ihnen heute nachmittag gegenübertreten. « »Sie werden doch zum Mittagessen zurück sein, oder? Nachdem Sie schon nicht gefrühstückt haben, werden Sie es doch nicht auch verpassen wollen?« Marlene hatte nicht die Absicht, Chad von ihrem geplanten Treffen mit Vince zu erzählen, und so sagte sie leichthin: »Ich bezweifle, daß ich es schaffen werde. Es gibt Tage, da habe ich überhaupt keinen Hunger und komme stundenlang ohne Essen aus. Heute scheint einer dieser Tage zu sein. Ich glaube, Midnight und ich werden heute die Landschaft erforschen.« Chad schien nicht zu wissen, wie er sich nun verabschieden sollte, und sagte: »Ich glaube, ich mache mich jetzt lieber auf den Weg. Aber passen Sie gut auf. Es kommen von überallher Jäger auf das Grundstück der Frisbeys, und Sie könnten von einer streunenden Kugel getroffen werden.« Seine Warnung klang in ihren Ohren nach, und Marlene gab es auf, die Umgebung nach Spuren abzusuchen, und lenkte Midnight wieder in Richtung Straße. Es war kurz nach Mittag, als sie es an der Zeit fand, zum Park zu reiten, wo sie Vince treffen sollte. Da sie keine Eile hatte, zwang sie Midnight, im Schritt zu gehen, aber sie spürte, daß das temperamentvolle Pferd viel lieber galoppiert wäre. Marlene fand den kleinen Park ohne Schwierigkeiten. Sie saß ab, band den Hengst an einen Baum, damit er grasen
konnte, und saß auf einer Bank, als Vinces Wagen auftauchte. Der junge Mann eilte an ihre Seite, ließ sich neben sie auf die Bank fallen und sagte ohne Einleitung: »Sprechen Sie, und befreien Sie sich von dem, was Ihnen Sorgen bereitet, Marlene. Ich verspreche Ihnen, kein Wort zu sagen, bis Sie sich alles von der Seele geredet haben.« Das war Ermunterung genug, und so erzählte sie dem verständnisvollen jungen Mann alles, was sich bisher ereignet hatte. Seinem Versprechen getreu schwieg Vince, bis sie verstummte und die Tränen abwischte, die ihr übers Gesicht liefen. »Armes Kind«, sagte der junge Arzt beruhigend. »Kein Wunder, daß Sie vollkommen verstört sind.« »Ich möchte wirklich nicht nach Los Angeles zurückfahren, Vince«, sagte Marlene. Bei seinen sanften Worten waren erneut Tränen geflossen. »Aber ich weiß nicht, wie ich jetzt noch bei den Frisbeys bleiben könnte. Ich glaube, sie stellen eine Bedrohung für mich dar.« »Hier stimme ich nicht mit Ihnen überein«, sagte Vince ernst. »Keiner dieser Menschen könnte Ihnen etwas antun. Ich glaube, ich kenne Fen ziemlich gut. Manchmal ist er grob und streng, aber ich bin überzeugt, daß er keinen bösen Gedanken kennt. Und die anderen sind herzensgute Leute. Keiner von ihnen wünscht Ihnen etwas anderes als das Beste, aber ich muß natürlich zugeben, daß die Umstände sehr merkwürdig sind. « »Ich werde mich dort nie wieder wohl fühlen«, rief Marlene verzweifelt. »Es sind zu viele seltsame Dinge geschehen, die mir niemand zu meiner Zufriedenheit erklären kann oder will. Und jetzt habe ich sie mit meinen Beschuldigungen alle gegen mich aufgebracht.« »Kleines, ich glaube, ich habe die einzig vernünftige Lösung für dein Problem«, sagte er mit Überzeugung. Überrascht über die ungewohnte Anrede, blickte Marlene
den Mann an. »So?« fragte sie schließlich gedehnt. »Dann sagen Sie mir doch bitte, wie ich mich aus dieser unangenehmen Situation befreien kann, in die ich mich selbst gebracht habe.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie fest an sich. Seine kräftige Berührung gab ihr die Zuversicht zurück, die sie nach der letzten Begegnung mit der Familie am Morgen verloren geglaubt hatte. Zärtlich und leise sagte er: »Du weißt doch sicher, wie lieb ich dich gewonnen habe, Marlene. Ich liebe dich sehr, Kleines, und ich möchte, daß du meine Frau wirst.« Seine Liebeserklärung und sein Heiratsantrag rührten sie, aber Marlene rückte ein wenig von ihm ab und sagte rasch: »Ich kann dich nicht heiraten, Vince.« »Aber warum denn nicht, Marlene?« fragte er drängend. »Es wäre die Lösung deiner Probleme, und gleichzeitig würdest du mich zum glücklichsten Mann auf Erden machen.« »Ich möchte dir nicht weh tun«, erwiderte sie gepreßt, »aber einer der Gründe ist, daß ich dich nicht liebe.« Sie hatte Bitten erwartet, Ärger, Protest - alles, außer dem, was dann tatsächlich kam. Vince begann, übermütig zu kichern. Auf ihren erstaunten Blick hin sagte er: »Das ist kein Problem. Ich werde dich schon dazu bringen, daß du mich liebst, und wenn ich dich dazu hypnotisieren muß!« Die Zuversicht, mit der er seine Erklärung abgab, ließ sie sich für einen Moment fragen, ob er tatsächlich zu etwas derartigem fähig wäre. »Kannst du wirklich Leute in deinen Bann zwingen?« fragte sie ungläubig. Er nickte zustimmend. »Diese Fähigkeit kommt in der Medizin sehr gelegen. « »Ich habe davon gehört, daß Ärzte manchmal mit Hypnose arbeiten«, gab sie zu und lenkte dann rasch die Unterhaltung in
ihre ursprünglichen Bahnen zurück. »Im Ernst, Vince, was soll ich tun?« »Ich habe dir gerade die einzige Lösung genannt, die es gibt«, sagte er aufrichtig. »Ich möchte dich heiraten, Marlene. « »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Vince«, wandte sie ein. »Ich weiß, daß du Mitleid mit mir hast und dir Mühe gibst, meine Stimmung zu heben. « »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas ernster gemeint«, sagte er, sie eindringlich anblickend. »Vince, hör mir gut zu«, bat Marlene. »Du weißt doch gar nichts von mir. Wir kennen uns doch kaum! Du weißt nicht einmal, daß ich verheiratet war und geschieden bin. « »Es ist mir gleichgültig, was in deiner Vergangenheit war«, erklärte er. »Ich weiß nur, daß du ein liebes, nettes Mädchen bist und ich mich unsterblich in dich verliebt habe.« »Ich bin geschmeichelt, Vince, daß du mich heiraten willst, aber ich kann es wirklich nicht. Ich wünschte, es wäre möglich, aber ich bin noch nicht bereit, wieder zu heiraten - und ganz bestimmt nicht jemanden, dem ich mich nicht ganz schenken könnte - mit Leib und Seele. Und so liebe ich dich leider nicht. Ich wünschte, ich könnte es.« Er nahm den Arm von ihrer Schulter und ließ die Schultern hängen. »Vince, es tut mir leid!« sagte Marlene betrübt. »Ich habe dir gesagt, daß ich dir nicht weh tun möchte. Ich hätte dich nicht bitten sollen herzukommen, um dir meine Sorgen anzuhören. Aber ich dachte, du könntest mir vielleicht einen guten Rat geben.« Sein Gesicht war düster geworden, und brüsk erwiderte er: »Wenn du nicht bereit bist, mich zu heiraten und mein Haus in Maltville mit mir zu teilen, dann habe ich leider keine weiteren
Vorschläge zu machen.« Sein verändertes Verhalten stimmte Marlene noch bedrückter. »Heißt das, daß ich deine Freundschaft verloren habe?« Ohne auf ihre Frage zu antworten, sagte er gleichmütig: »Ich gehe jetzt zum Essen. « »Darf ich einen Vorschlag machen?« sagte Marlene schnell, denn so verärgert wollte sie ihn nicht gehenlassen. Er vermied es, sie anzusehen, und knurrte: »Na gut. Sprich.« »Ich glaube, du wärst ein ausgezeichneter Ehemann für das richtige Mädchen, Vince, ein Mädchen, das dich so lieben würde, wie du es verdienst. Das könnte Berthell sein, Vince. « Er schürzte verächtlich die Lippen und sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich glaube, ich habe nicht recht gehört«, sagte er und ging zu seinem Wagen. Marlene sah ihm nach und fühlte sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben. Es war bereits später Nachmittag, als sie mit Midnight den kühlen Park verließ. Und als sie in den Hof vor der Scheune einritten, geschah das, was sie erwartet hatte. Die Küchentür des alten Farmgebäudes flog auf, und sämtliche Bewohner des Hauses stürzten auf sie zu. - Fens Stimme übertönte die anderen. »Junge Dame, was haben Sie zu sagen? Sie haben meine Anweisungen wissentlich in den Wind geschlagen! Welche Strafe wäre nun für Sie angebracht? Was meinen Sie?« Anstatt sich von seinen wütenden Worten beeindrucken zu lassen, sagte Marlene ruhig: »Ich bin auf Midnights Rücken sicherer als in der Gesellschaft von Leuten, die sich weigern, mir zu erklären, warum ich dauernd angegriffen werde. Sie sehen ja selbst, wie sanft dieses Tier unter meinen Händen ist.« War es überhaupt wichtig, was sie sagte? Würde sie nicht ohnehin abreisen, sobald sie ihre Sachen gepackt hatte?
Zu ihrer Überraschung sagte Fen knurrend: »Ich muß zugeben, daß er bei Ihnen ein ganz anderes Tier ist, und ich möchte Ihnen gratulieren, weil Sie so gut mit ihm umgehen können.« Die Wut war wie durch ein Wunder aus seiner Stimme gewichen, und wie um das Thema abzuschließen, sagte er zu Chad: »Chad, satteln sie Midnight bitte ab, reiben Sie ihn gut trocken, und geben Sie ihm Futter. Wenn Sie damit fertig sind, müßte das Essen auf dem Tisch stehen.« Zu den anderen gewandt, fügte er hinzu: »Kommt ihr?« Sie folgten ihm schweigend wie Kinder, die ihrem Anführer gehorchten. Es war, als habe er soeben das Zeichen gegeben, von jetzt an Marlenes Ausritte auf Midnight zu akzeptieren. Marlenes Laune besserte sich etwas, als sie am Tisch saß. Die anderen waren sehr viel freundlicher zu ihr, als sie erwartet hatte, und sie hatte plötzlich wieder Appetit. Nachdem alle gegessen und die Küche verlassen hatten, half sie Grandma und Berthell, das Geschirr abzuwaschen. Um neun Uhr entschuldigte sich Marlene und zog sich in ihr Zimmer zurück, um zu arbeiten. Sie schrieb gewissenhaft ein paar Stunden lang, da das Manuskript spätestens in drei Tagen auf dem Weg nach Kalifornien sein mußte. Als sie sich schließlich auf dem Bett ausstreckte, seufzte sie tief. Noch nie war ihr nach einem hektischen Tag so wohl gewesen. Sie hoffte, daß sie in dieser Nacht tief und fest schlafen würde, um endlich einmal frisch und ausgeruht zu erwachen. Marlene hätte nicht sagen können, wie lange sie eigentlich geschlafen hatte, aber plötzlich war sie hellwach und hörte das Echo einer Explosion. Es dröhnte in ihren Ohren, und sie hatte den Eindruck, als habe die Explosion direkt vor ihrem Fenster stattgefunden.
*** Marlene sprang mit einem Satz aus dem Bett. Ihre Ohren waren wie taub, und sie riß hastig die Tür in den Garten auf, um den stechenden Rauch hinauszulassen, der durch das Fenster in den Raum drang. Draußen atmete sie mehrmals tief ein. Ihre Furcht verwandelte sich in Hysterie, als sie Schritte hörte, die sich näherten. Sie wandte sich hastig um, um ihren Rettern entgegenzugehen, als ihr Blick eine Bewegung über sich einfing. Eine geisterhaft weiße Gestalt kletterte den Chinarindenbaum hinauf! Unwillkürlich stieß Marlene eine Reihe von schrillen Schreien aus. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß jemand sie kräftig schüttelte, und sie sah, daß sich die gesamte Familie um sie versammelt hatte. Die meisten trugen ihre Nachtkleidung. Sie erkannte, daß es Fen war, der Marlene schüttelte, und wies schwach mit dem Finger nach oben. Fen blickte zum Baum hinauf und gab augenblicklich ihre Schultern frei - so abrupt, daß sie fast gestürzt wäre. Er ging rasch auf den Baum zu und kletterte eilig hinauf, während sie und die anderen mit offenem Mund zusahen. Als Fen sich dem schweren Ast näherte, an den sich die geheimnisvolle grauweiße Gestalt klammerte, sah Marlene fasziniert zu, wie ein kurzer Kampf zwischen ihm und der merkwürdigen Kreatur begann. Das Mädchen hatte noch nie ein derart obszönes Gekreische gehört, das diese Gestalt nun anhub, während Fen sie ungerührt zur Erde zog. Obwohl Marlene sich nicht vorstellen konnte, wer der Gefangene sein mochte, so war sie doch ganz sicher, daß es nicht eins von Grandmas Gespenstern war. Kein Geist konnte so verrückt schreien wie dieser Wahnsinnige.
Marlene fürchtete sich zwar noch, war jedoch so neugierig, daß sie so nahe wie möglich zu Fen hinüberging. Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, daß dieses seltsame Geschöpf eine Frau war. Aber welch einen bedauernswerten Anblick sie bot! Ihr Haar hing wirr um die Stirn und war von Schmutz verfilzt. Das einst weiße Kleid war zerrissen und fleckig. Sogar die Hautfarbe der armen Seele war nicht genau zu erkennen, da sie unter dicken Lagen von Schmutz verborgen lag. Es war schwer zu sagen, welcher Rasse die Frau angehörte. Grandpa trat vor und starrte die Erscheinung, die sich noch immer unter Fens hartem Griff wand, lange und scharf an. Schließlich rief er ungläubig: »Das kann doch nicht wahr sein! Evelyn! Bist du es, Evelyn?« Seine Stimme ging in dem schrillen Schreien der Frau unter, und Fen sagte: »Was von ihr geblieben ist! Du siehst selbst, daß ihr Geist verwirrt ist.« Er blickte das Wesen, das er an den Armen festhielt, verächtlich an. Der Klang seiner Stimme schien zu der Wahnsinnigen vorzudringen, denn nun hörte sie auf, um sich zu schlagen, und sprach die ersten verständlichen Worte seit ihrer Gefangennahme. Ihre Stimme klang heiser vor Feindseligkeit. »Wer ist hier verrückt? Mein Verstand ist vollkommen klar, daß du dir darüber nur im klaren bist. Oh, ich habe es sehr schlau geplant, nicht wahr?« Um sie dazu zu bringen, weiter verständlich zu reden, antwortete Fen: »Ja, das hast du, Evelyn. Aber warum? Du hättest die Farm verlassen können, wenn du es gewollt hättest.« »O ja, das hätte dir gefallen, was?« Sie blickte ihn wütend an. »Ich wollte nur sehen, wie du reagierst, wenn du glaubtest, ich wäre tot. Genauso, wie ich es erwartet hatte. Es dauerte nicht lange, bis du mit der ersten Schlampe, die dir über den
Weg lief, ein Verhältnis anfingst!« Marlene bemerkte Fens Blick, aber er wies die Anschuldigung seiner Frau sofort zurück. »Evelyn, wenn du mich beobachtet hast, dann hast du auch bemerkt, daß ich deiner Erinnerung treu war.« »Oh, ich weiß, was ich weiß«, erwiderte sie giftig. »Du und dieses hergelaufene Mädchen, das Berthell mitbrachte, ihr konntet euch doch nicht aus den Augen lassen! Aber ihre Zeit wäre gekommen! Ich hätte sie mit dem Leben bezahlen lassen, genau wie all die anderen Mitglieder deiner komischen Familie. Sie sind diejenigen, die sich gegen mich gestellt haben! Ich wollte mit allen aufräumen, indem ich Midnight und den Sprengstoff benutzte, den ich aus dem Arbeitsschuppen gestohlen habe, als an der Straße gearbeitet wurde!« Fens Stimme klang traurig, als er sagte: »Deinetwegen, Evelyn, hat Arzy durch Midnight einen Fuß verloren, und Jerry Phipps mußte sein Leben lassen. Das ist richtig, was? Aber warum Jerry? Er gehört doch nicht zur Familie?« Die Frau lachte rauh. »Ich habe geschworen, daß jeder bezahlen sollte, der Midnight ritt. Er gehört mir, mir allein, aber das wollte ja niemand verstehen.« Jetzt richtete sie ihren Blick auf Marlene. »Ich kriege dich schon noch, du schamlose Hure! Du hast nicht nur versucht, mir die Liebe meines Pferdes zu stehlen, sondern du hast auch noch ein Verhältnis mit meinem Mann!« Fen beeilte sich, Marlene zu verteidigen. »Du irrst dich, wenn du glaubst, da wäre etwas zwischen Marlene und mir, Evelyn. Das mußt du mir glauben!« »Du bist ein Lügner, Fen Frisbey!« erwiderte Evelyn haßerfüllt. »Ich habe beobachtet, wie sie dir nachlief. Ich weiß alles, was hier vorgeht. Und nimm deine schmutzigen Hände von mir, verdammter Flegel!« Fen packte seine Frau noch fester, weil sie sich wieder zu
wehren begonnen hatte. »Du brauchst einen Arzt, Evelyn. Ich werde dafür sorgen, daß du den besten bekommst.« »Weißt du, was du lieber tun solltest, Mister?« schrie die verwirrte Frau. »Du solltest dir lieber noch ein paar schöne Stunden machen, solange dir dazu Zeit bleibt. O ja, ich habe auch deinen Tod schon arrangiert!« »Pa, würdest du bitte Doktor Claude in Chesterton anrufen? Sag ihm, es ist ein dringender Fall, und er soll sofort kommen«, sagte Fen schlicht. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Grandpa um und ging ins Haus. Fen wandte sich an seine Gefangene. »Evelyn, ich gebe zu, daß du sehr schlau warst, aber es gibt ein paar Einzelheiten, die ich nicht verstehe. Würdest du sie nur bitte erklären?« Evelyn konzentrierte sich darauf, sich loszureißen, und antwortete nicht. Fen fuhr fort: »Ich würde gern wissen, wie du diese Blitze produziert hast, vor denen Midnight sich so erschreckt hat.« Darauf lachte die Frau, und es klang unheimlich. »Wenn du so klug bist, dann finde es doch selbst heraus!« schrie sie, dem Wahnsinn wieder nahe. »Ich konnte das Dynamit nicht benutzen. Es hätte ihn umgebracht, und er ist das einzige, was ich liebe.« »Ich weiß, daß du das Dynamit aus dem Bauschuppen an der Straße gestohlen hast. Aber hattest du keine Angst, erwischt zu werden?« »Ach, das war ganz einfach«, erwiderte Evelyn verächtlich. »Der Schuppen war tagsüber nie abgeschlossen, und die Arbeiter waren meistens weit entfernt. Es war auch eine Menge Munition da, und ich habe mir einfach genommen, was ich brauchte.« »Aber wie kamst du darauf, diesen Speicherraum als
Unterschlupf zu benutzen? Es muß doch sehr unbequem dort gewesen sein!« bemerkte Fen. »Als du den Speicher versiegelt hast, hast du mir direkt in die Hände gespielt«, sagte Evelyn hämisch. »Da hast du eigentlich deinen größten Fehler gemacht. So kam ich auf die Idee, meinen eigenen Tod vorzutäuschen und euch alle umzubringen. Ich habe die Jalousien gelockert, damit ich sie jederzeit öffnen konnte, und dann das Fenster von innen aufgebrochen. Weißt du, ich habe jede Einzelheit meines Plans genau ausgearbeitet, bevor ich ihn in die Tat umsetzte«, brüstete sie sich. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Wenn man ein Ziel im Leben hat, dann macht ein wenig Unbequemlichkeit nichts aus.« »Es überrascht mich, daß dich nie jemand gesehen hat, wenn du in dein Versteck geschlüpft bist«, sagte Fen. »Der Chinarindenbaum war kräftig genug, dein Gewicht zu tragen, und nicht zu steil zum Klettern. Du bist also hinein- und herausgeschlüpft, ganz wie es dir gefiel, sogar tagsüber. Wie hast du es vermieden, daß du gesehen wurdest?« »Du bist wirklich dumm, weißt du?«, sagte die schmutzige Frau herablassend. »Du weißt sehr gut, daß tagsüber nie jemand auf dieser Seite des Hauses ist. Ich habe eben aufgepaßt. Und auf dem Rückweg habe ich mir immer Vorräte aus dem Kühlhaus besorgt.« Fen schüttelte verwundert den Kopf. »Ich gebe zu, daß niemand auf so eine Idee gekommen wäre. Mein Kompliment, Evelyn.« Evelyn lächelte geschmeichelt, als sie dieses, wie sie glaubte, Kompliment hörte, und Fen wandte sich zu den anderen: »Gehen wir ins Haus, und warten wir auf den Doc.« Die Worte waren kaum über seine Lippen gekommen, als Evelyn sich auch schon mit der Kraft der Verzweiflung losriß und mit der Geschwindigkeit eines wilden Tieres um das Haus lief. Marlene beteiligte sich impulsiv an der Jagd auf das
gestörte Wesen, gefolgt von Grandma, Grandpa, Berthell und Chad. Arzy humpelte ihnen mühsam auf seinen Krücken nach. Marlene erkannte Evelyns Absicht erst, als die Frau die Weide erreicht hatte, wo Midnight still wie eine Statue stand. Die wilde Kreatur machte einen verzweifelten Satz auf Midnights nackten Rücken. Erschrocken scheute das Pferd einmal, schien dann jedoch zu merken, wen es trug, und fiel in Galopp. Evelyn beugte sich tief über den Hals des Hengstes und trieb ihn immer heftiger an, bis er schließlich mit einem eleganten Sprung über das Gatter der Weide hinwegsetzte. Marlene sah, wie Pferd und Reiterin eine Weile der Straße folgten, dann abrupt in eine Wiese einbogen und auf das tiefe, bodenlose Loch zuhielten. Die warnenden Rufe der anderen bewiesen ihr, daß auch sie die Gefahr erkannt hatten. Fen war neben Chad der einzige, der in der Lage war, mit Pferd und Reiterin Schritt zu halten. Sie sahen von weitem, wie Evelyn Midnight vor dem tiefen Loch abrupt zum Stehen brachte und sich mühsam aufrichtete, bis sie auf dem bloßen Rücken des Pferdes stand. Marlene und die anderen erkannten voller Entsetzen ihre Absicht. Ihre erregten Schreie taten keine Wirkung. Mit einem wilden Gebrüll sprang Evelyn direkt in das Loch. Midnight stand ganz steif und still, aber seine Nüstern flatterten, und er stieß leise, klagende Geräusche aus, als Marlene ihn endlich erreichte. Während sie ihm sanft den Hals streichelte, fragte sie sich, was er nach dem endgültigen Verlust seiner Herrin empfinden mochte. Würde er um sie trauern? Vermutlich, dachte sie, bis er einen anderen Menschen fand, der seine Zuneigung verdiente. Marlene hoffte, daß sie es sein würde. Fens Stimme neben ihr machte ihr die traurige Wahrheit bewußt, daß seine einst geliebte Frau gerade einen schrecklichen Tod gefunden hatte. Sie fröstelte, als er verstört
sagte: »Es hört sich vielleicht brutal an, aber ich glaube wirklich, daß es so am besten für sie war. Evelyn hätte in einer Nervenklinik nicht lange gelebt.« Die anderen Mitglieder der Familie waren inzwischen zu ihnen getreten. Grandpa sagte nachdenklich: »Ich weiß jetzt, warum wir nie Fußspuren von Evelyn, statt dessen nur Midnights Hufabdrücke gefunden haben!« »Deshalb war ich ja so überzeugt, daß sie in das Loch gestürzt war«, sagte Fen. »Wenn sie fortgegangen wäre, hätten wir ihre Spuren gefunden.« »Siehst du nicht, was sie getan haben muß?« fragte Grandpa. »Sie hat das Feuer hier angezündet, das das lange, hohe Gras verbrannt hat, auf dem wir stehen. Midnight wurde davon so nervös, daß er aufgeregt den Boden zerstampfte. Deshalb haben wir die Asche gefunden.« »Aber keine Spuren«, warf Grandma ein, sich über die Augen wischend. »Arme Evelyn! Ich habe nie viel mit ihr anfangen können, aber das habe ich ihr nicht gewünscht! « »Und wenn sie ihr Pferd absichtlich erschreckt hat, wieso hat es sie dann nicht abgeworfen wie Onkel Arzy und Jerry Phipps?« wollte Berthell wissen. »Denkt daran, daß Evelyn in Midnights Sattel ganz zu Hause war«, erklärte Grandpa. »Sie war die beste Reiterin, die ich je gekannt habe. Sie blieb im Sattel, o ja, auch wenn das Pferd scheute und ausschlug. Sie hat ihn einfach beruhigt und ist dann mit ihm fortgeritten. Später, in sicherer Entfernung, ist sie abgesessen und hat das Pferd nach Hause getrieben.« »Ich bezweifle, daß wir je die ganze Wahrheit erfahren werden«, sagte Fen betrübt. »Ich kann verstehen, daß sie hier ein Feuer angezündet haben muß, aber woher kamen die Blitze, die Midnight so erschreckten, daß er Onkel Arzy und Jerry Phipps abwarf?« Grandpa nickte und sagte dann: »Hier können wir nichts
mehr tun. Gehen wir nach Hause. Doktor Claude wird schon dort sein. Es bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als den Sheriff anzurufen.« Fen nahm Midnight sanft bei der Mähne und half Marlene, ihre bloßen Füße aus dem weichen Schlamm zu befreien. Marlene haßte sich insgeheim für die heißen Empfindungen, die durch ihren Körper gingen, als Fen sie berührte. Aber Fen bemerkte es nicht und führte sie vorsichtig nach Hause zurück. Es war eine sehr niedergeschlagene, kleine Gruppe, die dann im Wohnzimmer saß und schweigend auf die Ankunft der beiden Männer wartete, die Grandpa angerufen hatte. Doktor Claude Peebles war der erste, der eintraf. Nachdem Fen ihm berichtet hatte, was sich auf der Farm abgespielt hatte, nahm der Arzt Platz, schlug die Beine übereinander und stellte ihnen Fragen. »Fen, haben Sie je vermutet, daß Evelyn nach ihrem rätselhaften Verschwinden noch am Leben sein könnte?« Fen schüttelte rasch den Kopf. »Keine Sekunde lang«, entgegnete er sehr überzeugend. »Wir waren alle sicher, daß sie in das bodenlose Loch gestürzt war.« Dann fügte er zögernd mit einem Blick auf Marlene hinzu: »In letzter Zeit sind hier seltsame Dinge vorgegangen, die uns wirklich verwirrt haben. Ich weiß, daß ich sie längst hätte melden sollen, aber irgendwie habe ich mich davor gefürchtet. Fragen Sie mich nicht, warum. Aber Evelyn war wirklich der letzte Mensch, den wir als Urheber dieser Vorfälle verdächtigt hätten.« Doc Peebles wirkte mehr als interessiert. »Was für Vorfälle?« »Nun - seltsame Dinge«, erwiderte Fen unverbindlich. »Nachdem Marlene angekommen war, hatte ich für kurze Zeit das Gefühl, ihr geschiedener Mann könnte etwas damit zu tun
haben, weil immer sie das Ziel der Angriffe war. Ich wußte ja nicht, was zwischen ihnen vorgefallen war, und dachte, er könnte dafür verantwortlich sein. Es tut mir leid, Marlene«, sagte er, zu ihr gewandt, »aber ich habe mir wirklich Sorgen um Sie gemacht.« »Nun, Sie müssen später alles dem Sheriff erzählen, das wissen Sie«, erwiderte der Arzt, Fens Erklärung akzeptierend. Abrupt fügte er dann hinzu: »Sie haben ihn doch angerufen, oder?« Grandpa warf ein: »Sofort, nachdem wir Evelyn . . .« Er brach ab und sah unglücklich und betroffen aus. Der Arzt nahm den Faden wieder auf. »Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, Fen, dann würde ich es nicht fragen, aber ich weiß, daß Sie es mir nicht übelnehmen werden.« Er zögerte einen Augenblick und fragte dann offen: »War Evelyn bei vollem Verstand?« »Das habe ich immer geglaubt«, erwiderte Fen langsam und gab sich Mühe, aufrichtig zu sein. »Sie war natürlich schon immer etwas neurotisch und hysterisch, aber das habe ich auf ihre Erziehung geschoben. Sie war ein sehr verwöhntes Mädchen. Einzelkind, wissen Sie. Aber als ich sie heute nacht einfing, Doc, da ließ sie mir keinen Zweifel, daß sie wahnsinnig war.« »Arme Frau«, sagte der Arzt mitleidig. »Jeder tut mir leid, der diesen Weg einschlägt, und sie war so hübsch und schien hier doch alles zu haben, was sie sich wünschen konnte. Das macht es irgendwie noch schlimmer. « »Wenn ich jetzt zurückblicke, dann glaube ich, daß sie nur dann glücklich war, wenn sie auf Midnights Rücken saß. Sie hat dieses Pferd sehr geliebt.« Der Arzt kratzte sich am Kopf. »Schlimm, schlimm, mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber es gibt wohl sehr wenige Frauen, die sich an die Einsamkeit des Landlebens gewöhnen
können, wenn sie aus der Stadt kommen.« Marlene wußte selbst nicht, warum sie es sagte: »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als den Rest meines Lebens auf einer solchen oder ähnlichen Farm zu leben. Irgendwo, wo es Pferde wie Midnight gibt.« Claude Peebles lächelte. »So hübsch wie Sie sind, wage ich zu bezweifeln, daß Sie auf einer Farm zufrieden wären. Es ist sehr viel Arbeit damit verbunden, von der Sie keine Ahnung haben.« »Ich wünschte, Sie hätten das nicht gesagt, Doc«, seufzte Berthell stirnrunzelnd. »Jetzt wird Marlene nach Los Angeles zurückkehren wollen. Und man kann es ihr nicht einmal übelnehmen nach alldem, was sie hier durchgemacht hat.« Der Arzt grinste. »Tut mir leid, Berthell, aber wie ich die junge Dame sehe, kann ich mir vorstellen, daß mehr dazu gehört, um sie in die Flucht zu schlagen.« Dann zog er eine silberne Uhr aus seiner Tasche. »Muß ich eigentlich noch länger bleiben, Fen?« Prompt erwiderte dieser: »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie noch bleiben würden, bis der Sheriff kommt, Doc.« »Kein Problem. Ich hoffe nur, daß er euch keine Schwierigkeiten macht. Ihr habt jetzt wirklich schon genug gelitten. « Fen beugte den Kopf. »Das stimmt. Ich bin gar nicht in der Verfassung, mir jetzt ein Wortgefecht mit Ralph Madison zu liefern. Ich habe gehört, daß er ziemlich hart sein soll.« Er blickte langsam von einem zum anderen. »Geben wir ihm lieber nur die nötigste Information. Haltet euch an die Tatsachen.« Dann verstummte die Unterhaltung, und alle schwiegen, bis der Polizeibeamte schließlich eintraf. Er war groß, kräftig gebaut und begrüßte die Anwesenden mit strengem Gesicht. Zu ihrer aller Überraschung folgte ihm Vince Peebles.
»Hallo«, grüßte Vince. »Tut mir leid, daß ich kommen mußte. Sheriff Madison rief mich sofort nach eurem Anruf an und meinte, es sei vielleicht besser, wenn ein Arzt mitkäme.« Da erst sah er seinen Onkel. »Oh, Onkel Doktor! Hallo! Ich sehe, daß ich nun doch nicht gebraucht werde.« »Ich freue mich, daß du hier bist, Junge«, sagte Doc Peebles freundlich. »Diese Leute brauchen jetzt Freunde um sich.« Der Polizeibeamte unterbrach den Doktor und sagte laut: »Ich bin ein beschäftiger Mann. Ich habe keine Zeit zu verschwenden, Leute. Würde mir also jemand genau sagen, was sich hier heute nacht abgespielt hat?« Er stand groß und majestätisch vor ihnen und drückte Autorität allein durch seine bloße Anwesenheit aus. Fen erhob sich sofort. »Ich bin der Ehemann der Verstorbenen. Mit Ausnahme von Doc Peebles haben die anderen Anwesenden alle den Tod meiner Frau gesehen. Sie stürzte von ihrem Pferd in ein tiefes, bodenloses Loch auf einer Weide nicht weit vom Haus entfernt.« Madison warf Fen einen Blick zu, der deutlich bewies, daß er ihm kein Wort glaubte. »Dasselbe ist doch einer Ehefrau von Ihnen schon vor einiger Zeit passiert. So steht es jedenfalls hier in den Akten. War es Ihre zweite Frau, die ein identisches Schicksal erlitt?« Marlene konnte sehen, daß Fen kurz davor war, seine Beherrschung zu verlieren, und sie betete insgeheim darum, daß er sich zusammennehmen möge. Aber Fen zwang sich zur Ruhe. »Wenn Sie sich die Zeit nähmen, mir zuzuhören, Sheriff, dann könnte ich Ihnen alles zu Ihrer Zufriedenheit erzählen.« Ein Stirnrunzeln erschien auf den groben Zügen des Sheriffs. »Dazu bin ich hier, Mister Frisbey. Stört es Sie, wenn ich Platz nehme?« Und dann setzte er sich uneingeladen auf das alte Roßhaarsofa, und Grandma stöhnte erschrocken auf, als das
zierliche Möbelstück in allen Fugen ächzte. *** Es waren fast drei Stunden vergangen, als Sheriff Madison endlich seine Untersuchung beendet hatte und sich aufmachte, nach Maltville zurückzufahren. Während seines Besuchs hatte er sich auch das Loch angesehen, das erst vor wenigen Stunden zu Evelyns Grab geworden war. »Kommen Sie, Peebles?« sagte er zu dem jungen Arzt, als er sich zum Gehen wandte. »Noch nicht, Madison«, erwiderte Vince. »Diese Leute sind meine Freunde, und ich bleibe bei Ihnen, wenn es Sie nicht stört. Deshalb bestand ich darauf, in meinem Wagen zu folgen und nicht mit Ihnen zu fahren.« Wieder hatte sich die ganze Familie im Wohnzimmer versammelt, und Grandma hatte eine große Kanne starken Kaffee gekocht. Marlene sagte schuldbewußt: »Ich glaube, ich sollte besser zugeben, was mir passiert ist, als ich das erste Mal mit Midnight ausgeritten bin.« Sie zog den dünnen Morgenmantel, den sie über ihrem Nachthemd trug, fester zusammen. Fen blickte sie mißtrauisch an. »Erzählen Sie uns alles, Marlene. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Geheimnisse.« »Ich ritt an jenem Tag mit Midnight über den Pfad, der in den Wald führt«, begann sie, »als plötzlich eine schattenhafte weiße Gestalt vor mir auftauchte und ein heller Lichtstrahl explodierte. Es war wohl genauso wie damals, als Jerry und Onkel Arzy abgeworfen wurden. Nun . . .« Fen fiel ihr ins Wort und sagte: »Und der arme Midnight verlor den Verstand? Ich kann verstehen, was passiert sein muß. Er fürchtet sich, soweit ich weiß, nur vor einem, und das
ist Blitz oder helles Licht.« Marlene nickte. »Ich konnte mich nur mit Mühe im Sattel halten. « Sie schüttelte sich, während sie noch daran dachte. »Wenn ich mich nicht hätte halten können, dann wäre ich bestimmt von Midnights Hufen zu Tode getrampelt worden.« »Jetzt wissen wir natürlich, daß diese schattenhafte Gestalt Evelyn war. In der Dunkelheit des Waldes konnten Sie ihre Züge nicht erkennen. Sie hätten sie ohnehin nicht erkannt, da Sie sie noch nie gesehen hatten«, meinte Fen vernünftig. »Ich war gar nicht sicher, ob ich nicht ein Gespenst vor mir hatte«, gab Marlene zu. Fen schien für einen Moment tief in Gedanken versunken. Dann sagte er: »Wenn wir Evelyn nicht eingefangen hätten, dann hätte sie wahrscheinlich auf die Dauer dafür gesorgt, daß wir alle ums Leben gekommen wären.« Es fröstelte Marlene, und es war, als striche ein eiskalter Finger über ihren Rücken. »Evelyn prophezeite, Sie hätten nur noch kurze Zeit zu leben, Fen«, erinnerte sie ihn. »Ich weiß«, sagte er schlicht. »Vielleicht sollten wir alle beten. « »Dann glauben Sie also nicht, daß es nur eine Drohung war, die ihrem verwirrten Verstand entsprang?« »Nein. Ich bin ziemlich sicher, daß sie für uns alle den Tod geplant hatte, ganz besonders natürlich meinen.« »Ich frage mich, wie sie Sie hätte töten wollen«, sagte Marlene nachdenklich. Fen erwiderte stirnrunzelnd: »Sie besaß eine große Menge Dynamit. Vielleicht hatte sie vor, sich nachts in mein Zimmer zu schleichen und mich ins ewige Reich zu befördern.« »Schließen Sie Ihre Tür denn nicht ab, wenn Sie zu Bett gehen?« fragte Marlene besorgt. Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Ich hatte nie das
Gefühl, es sei nötig - hier, im Schoße meiner Familie!« Marlene runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich habe nie verstanden, wie Evelyn in mein Zimmer gelangen konnte, sogar mitten in der Nacht.« Fen sprang auf. »Kommen Sie, Marlene. Sehen wir uns die Schlösser Ihrer beiden Türen einmal genau an.« Die anderen blieben sitzen, ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Marlene stand auf und folgte ihm. In ihrem Zimmer wartete sie schweigend, während der gutaussehende Mann das Schloß der Tür untersuchte, die in die Küche führte. Es dauerte nicht lange, bis er ausrief: »Dieses Schloß würde nicht einmal den Bemühungen eines Kindes standhalten. Es hält nicht, wenn die Klinke von draußen fest heruntergedrückt wird.« Er demonstrierte für Marlene, was er meinte. »Ich habe Glück gehabt, daß Evelyn nicht zurückkam, nachdem ihr Plan mit dem Gas fehlgeschlagen war«, murmelte Marlene mit schwacher Stimme. »Vergessen Sie nicht, daß sie zurückkam, um Ihr Haar abzuschneiden. Es ist ein Wunder, daß sie Sie bei dieser Gelegenheit nicht umgebracht hat. Ich bin jedoch sicher, daß sie es früher oder später getan hätte«, sagte Fen mit besorgtem Gesichtsausdruck. Plötzlich kam ihr ein neuer und entschieden unangenehmer Gedanke in den Sinn. »In Filmen habe ich oft gesehen, wie die Leute in ihren Autos in die Luft gingen, sobald sie die Zündung betätigten.« »He, das stimmt«, sagte Fen überrascht. »Ich werde den Wagen gründlich überprüfen, bevor ich ihn das nächste Mal benutze.« »Vielleicht sollten Sie auch den Wagen Ihres Vaters und meinen Pinto untersuchen«, schlug Marlene vor. »Vielleicht
hat sie unter der Motorhaube eine Sprengladung angebracht.« »Ja, das ist unbedingt erforderlich, Marlene«, stimmte er ihr zu. »Ich werde mich darum kümmern und mir auch die Traktoren und anderen Maschinen ansehen, die zur Farm gehören.« Sie wechselte schnell das Thema, als ihr ein neuer Gedanke kam. »Es ist schade, daß wir Evelyn kein anständiges Begräbnis geben können. Darauf hat doch wirklich jeder Mensch ein Recht.« Ernst erwiderte Fen: »Ich werde immer bedauern, daß sie keines natürlichen Todes gestorben ist. Und noch etwas werde ich nie vergessen - die Art und Weise, wie wir in jener Nacht auseinandergingen, als sie verschwand. Ich glaube, nicht einmal meine Angehörigen wissen, daß wir in jener Nacht draußen einen schlimmen Streit hatten. Er endete damit, daß ich ihr sagte, ich wollte mich scheiden lassen. Ich war es leid geworden, mir immer wieder ihre unvernünftigen Forderungen und wilden Anklagen anhören zu müssen. Nachdem ich ihr gesagt hatte, daß ich mich von ihr trennen wollte, wurde sie wirklich wild, rannte in die Scheune und schrie mir alle möglichen schmutzigen Drohungen zu. Dann sah ich, daß sie Midnight einen Sattel übergeworfen hatte und auf ihm davonritt. Das war das letzte, was ich von ihr sah. Wäre ich ihr nachgeritten, hätte ich vielleicht diese Tragödie verhindern können«, schloß er bedrückt. *** Marlene sah auf ihre Uhr und stellte fest, daß es noch nicht ganz sieben war. Es war so viel geschehen, daß ihr die letzten hektischen Stunden wie ein ganzes Jahrhundert vorkamen. Es war fast Zeit für Fen, zur Arbeit zu fahren. Diesem Gedanken folgte rasch ein weiterer: Würde er nicht so viel Respekt für
den Tod seiner Frau zeigen, daß er für heute die Fabrik schloß? Als habe er ihre Gedanken erraten, sagte er: »Da heute Samstag und die Fabrik nur vormittags geöffnet ist, werde ich anrufen und sagen, daß ich heute nicht komme. Sie schaffen es auch ohne mich, ganz bestimmt, und ich habe hier genug zu tun.« »Sie sollten aber versuchen, ein paar Stunden zu schlafen«, sagte Marlene, um sein Wohlergehen besorgt. »Sie haben die ganze Nacht kein Auge zugetan. « »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, wehrte er ab. »Ich muß zuerst mit einigen Dingen fertig werden, bevor ich an Schlaf denken kann. Zuerst werde ich die Autos überprüfen. Wollen Sie mitkommen?« »Natürlich, Fen.« Sie nahm sich keine Zeit, sich anzuziehen, sondern streifte nur ein Paar Pantoffeln über. Dann zog sie den Morgenmantel fest um ihren schmalen Körper und war bereit, ihm notfalls bis ans Ende der Welt zu folgen. »Dann tun wir es doch vor dem Frühstück. Das wird wohl heute etwas verspätet auf den Tisch kommen, nehme ich an.« Marlene kam sich wie ein Schulmädchen bei seiner ersten Verabredung vor, als sie Fen auf den Hof folgte. Zu ihrer großen Enttäuschung waren Chad und Grandpa bereits in der Garage beschäftigt. Sie hatte sich so darauf gefreut, noch eine Weile mit Fen allein zu sein! Grandpa erklärte ihnen, warum sie in der Garage waren. »Ich dachte, du wärst jetzt nicht in der Lage dazu, und deshalb wollten Chad und ich uns hier ein bißchen umsehen. Sei froh, wir haben keine Sprengladungen an den Wagen gefunden. Das war wohl auch etwas zu kompliziert für Evelyn.« Marlene bemerkte, daß sich Fens Züge sofort entspannten. »Nun, das bedeutet, daß wir eine Sorge weniger haben«, sagte er schlicht. Chad warf ein: »Ich glaube, Evelyns Bellen war schlimmer
als ihr Beißen.« Fen schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, Chad. Ich bin sicher, daß sie es todernst gemeint hat. Sie hat zugegeben, Midnight erschreckt zu haben, damit er Onkel Arzy und Jerry Phipps abwerfen sollte, und sie hat dasselbe auch bei Marlene versucht.« In diesem Augenblick gesellte sich Vince zu ihnen. Berthell war ihm gefolgt. »Habt ihr etwas Gefährliches für Leib oder Seele gefunden?« fragte Vince betont leichtherzig, aber es lag ein besorgter Ton in seiner Stimme. »Nein. Gott sei Dank«, erwiderte Fen. Vince sagte aufrichtig: »Du weißt nicht, wie erleichtert ich bin, zur Abwechslung einmal gute Nachrichten zu hören.« Dann wechselte er das Thema. »Berthell bestand übrigens darauf, daß ich Midnight kennenlernen sollte. Gegen meinen Willen, muß ich zugeben. Es ist das erste Mal, daß ich ihn aus der Nähe sehe. Was für ein herrliches Tier!« Berthells braune Augen strahlten vor Freude, als sie sagte: »Und das ist längst nicht alles, was ich erreicht habe. Ich weiß nicht, ob er es euch schon gesagt hat, aber seine Sprechstundenhilfe hat gekündigt, weil sie heiraten will. Ich möchte euch nur sagen, daß ich ihn überredet habe, mich zur Probe einzustellen.« Fen lächelte seine Nichte nachsichtig an. »Deiner Aufregung nach zu urteilen, ist die Stellung sehr wichtig für dich.« Sie nickte heftig. »Sie bedeutet mir mehr als alles andere in der Welt, sogar mehr, als ein Star in Hollywood zu sein.« »Dann freue ich mich für dich, Kleines. Und vielen Dank, Vince, daß du die kleine Laus aus unserem Haar entfernt hast«, sagte Fen lachend zu seinem Freund. Berthell blinzelte Marlene verschwörerisch zu. »Weißt du,
Marlene, ich werde mich für meinen neuen Chef so unersetzlich machen, daß er sich fragen wird, wie er je ohne mich zurechtgekommen ist.« Marlene zwinkerte zurück und sagte: »Das wirst du, Liebes, davon bin ich überzeugt.« »Da - es wird zum Essen geklingelt!« rief Chad. »Grandma wird das Frühstück fertig haben, und ich kann jetzt einen Happen vertragen!« »Gehen wir, bevor alles kalt wird«, sagte Grandpa und ging schon voraus. »Wie ich Lib kenne, wird sie es uns nicht hinausbringen. « Jeder Stuhl an.dem geräumigen Küchentisch war besetzt. Marlene blickte sich nach Vinces Onkel um, aber er war nicht zu sehen. »Wo ist Doc Claude?« fragte sie. »Ich dachte, er würde mit uns essen. « »O nein«, sagte Vince lächelnd. »Er hat sich auf den Weg ins Bett gemacht, als ihr die Schlösser in deinem Zimmer überprüft habt, Marlene. Er sagte, er brauchte Schlaf und könnte keine Aufregung mehr vertragen.« »Der alte Doc ist wie wir, Lib, auch nicht mehr der Jüngste«, bemerkte Grandpa. »Natürlich braucht er seine Ruhe.« Vince war der erste, der zu frühstücken begann. Bevor die Schüsseln bis zu ihm gereicht wurden, wollte er einen Schluck von dem dampfenden Kaffee trinken. Er hob die Tasse an die Lippen, schnüffelte mit gekrauster Nase an dem Getränk und rief entsetzt: »Niemand darf den Kaffee anrühren! Meine Nase sagt mir, daß damit etwas nicht stimmt! « »Was sagst du da, Vince?« fragte Fen etwas ärgerlich. Sein Ton zeigte deutlich, daß er für heute genug von dramatischen Ereignissen hatte. Der junge Arzt hob erneut die große Tasse an die Nase und roch - wie es den anderen vorkam - endlos lange daran. Nach
einem ausgedehnten Schweigen sagte er ernst: »In diesem Kaffee ist eine Substanz enthalten, die nicht hineingehört.« Jetzt nahmen auch die anderen am Tisch ihre Tassen in die Hand. Fen war der erste, der Vince zustimmte. »Kein Zweifel, dem Kaffee ist etwas beigemischt worden. Wahrscheinlich ist er vergiftet. « »Aber wie könnte das sein?« rief Grandma erregt. »Wir wissen doch, daß Evelyn jetzt tot ist. Außerdem kann niemand unbemerkt in die Küche kommen und sich an der Kaffeekanne zu schaffen machen. Ich war die ganze Zeit hier.« Vince runzelte nachdenklich die Stirn. »Was ist mit dem Wasser, das Sie benutzen, Grandma? Haben Sie es heute morgen aus dem Brunnen geholt?« »Ja. Ich habe eben einen frischen Eimer hereingebracht«, sagte Grandma bestimmt. Diesmal wandte sich Vince an Grandpa. »Und ich nehme an, daß Sie auf der Farm mehrere Arten von Insektengiften haben?« Grandpa nickte. »Natürlich. Wir benutzen sehr viel davon.« Fen erkannte sofort, worauf Vince hinzielte. »Hast du etwas davon vermißt, Pa?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, aber es würde mir auch kaum auffallen. Wenn eine Flasche verschwunden wäre, hätte es niemand bemerkt.« Grimmig sagte Fen: »Vielleicht hat Evelyn eine Flasche davon in den Brunnen geleert, bevor wir sie gestern nacht fanden.« Er blickte Vince fragend an, und der Freund nickte. »Ich vermute, daß wir alle eines gräßlichen Todes gestorben wären, wenn wir den Kaffee getrunken hätten«, sagte er düster. Schließlich stellte Grandpa die Frage, die sie alle bewegte. »Glauben Sie, wir könnten überhaupt etwas essen, Doc?« Vince stach mit der Gabel ein Stück von dem Pfannkuchen
ab, der auf seinem Teller lag. Er hielt es an seine Nase und roch ausgiebig daran. Dann berührte er die Probe mit der Zunge. »Ich glaube, das Essen ist in Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher, daß wir es essen können. Ich kann mir kaum vorstellen, daß Evelyn sich die Mühe gemacht haben soll, auch noch das Essen zu vergiften, nachdem sie bereits Insektengift in den Brunnen geschüttet hatte. Sie wußte, daß früher oder später jeder von dem Wasser trinken würde.« »Lib, schütte den Kaffee fort, aber irgendwo, wo das Vieh nicht darankommt«, befahl Grandpa. »Und jetzt trinken wir Buttermilch und die frische Milch von heute morgen, die Chad und ich eben hereingebracht haben. Entfernt all das Wasser, das sich noch im Haus befindet. Nach dem Frühstück nehmen wir den Wagen, und ich fahre mit Chad in den Park bei Grange Hall, und dort füllen wir dann ein paar Kanister mit frischem Wasser. Das wird reichen, bis der Brunnen gereinigt worden ist.« »Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis wir den Brunnen wieder benutzen können!« sagte Grandma klagend. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Grandpa tröstend, »wir werden uns schon Wasser beschaffen.« Es war schon lange nach neun Uhr, als sie gefrühstückt hatten. Die Männer waren am Tisch sitzengeblieben und unterhielten sich, während die Frauen abgeräumt hatten. Marlene hörte, wie Fen zu Vince sage: »Halten wir dich von der Arbeit ab, Vince?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, Fen. Ich habe samstags und sonntags keine Sprechstunden. An diesen Tagen behandle ich nur dringende Fälle, und mein Telefonbeantworter gibt eure Nummer an.« »Ich bin wirklich froh, daß du hier bist«, erwiderte Fen dankbar. »Also bleib, solange du kannst, mein Freund. Ich werde jetzt Evelyns Versteck untersuchen. Ich wäre nicht
überrascht, wenn dort die Lösung auf einige unserer Fragen zu finden wäre. « Fen wies alle Angebote, ihm zu helfen, zurück, und es war bereits Mittagszeit, als er zu den anderen zurückkam, die sich im Wohnzimmer versammelt hatten. Grandma hatte geduldig mit dem Mittagessen auf ihn gewartet. Fen ließ sich schwer in einen Sessel fallen, und sein Gesicht war blaß und trug einen grimmigen Ausdruck. Nach kurzem Schweigen sagte Grandpa scharf: »Nun, heraus damit, mein Junge!« »Wir müssen das Speicherzimmer besser versiegeln, Pa. Ich möchte nicht, daß es noch einmal von jemandem betreten wird - nie wieder!« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Wir werden das tun, was wir schon am Anfang vorhatten. Das Fenster wird herausgerissen und zugemauert. Das kommt davon, wenn man eine Arbeit nur halb erledigt.« Der alte Mann blickte seinen Sohn fragend an. »Das ist kein Problem«, sagte er beruhigend. »Aber was hältst du zurück? Wir alle wollen wissen, was du dort oben gefunden hast.« Fen schnitt eine Grimasse. »Du hattest recht, was das Insektengift betrifft, Vince. Ich fand den Behälter unter dem Fenster, wo Evelyn ihn abgestellt hatte, als sie gestern nacht wieder in ihren Unterschlupf zurückklettern wollte. Und das Zimmer selbst befindet sich in schrecklicher Unordnung. Überall liegt verschimmeltes Essen herum. Es besteht kein Zweifel, Ma, daß sie der Dieb war. Und sie hatte dort oben noch mehr Explosivstoffe verborgen. Ich fand eine fast leere Dose mit Benzin und ein paar Werkzeuge. Ich fand auch den Flammenwerfer, den Pa vor Jahren gekauft hatte, um Unkraut damit zu vertilgen. Ich hatte ihn vollkommen vergessen.« »Benzin! Flammenwerfer!« rief Grandpa alarmiert. »Du lieber Himmel!« Grandma schrie es beinahe. »Dieses Zeug hätte ja explodieren können bei der Hitze, die dort oben herrscht! Das ganze Haus wäre in die Luft geflogen! Wenn ich
denke, daß wir die ganze Zeit in größter Gefahr waren und es keiner von uns wußte.« »Wir haben Glück gehabt, Ma«, sagte Fen. »Das erklärt übrigens die Blitze, die Midnight so in Panik versetzt haben.« Er hatte kaum ausgeredet, als Berthell plötzlich aufsprang und hysterisch zu schreien begann. Sie schlug sich mit geballten Fäusten gegen die Brust und schrie und schrie. Die Aufregung war zuviel für sie gewesen. Sie war mit ihrer Beherrschung am Ende. Mit wenigen langen Schritten war Vince an ihrer Seite. Mit berufsmäßig kühler Stimme stellte er die Diagnose: »Hysterie. Ich bringe sie in ihr Zimmer. Chad, würden Sie mir bitte meine Tasche aus dem Wagen holen?« Marlene gab sich die größte Mühe, ruhig zu bleiben, aber die Aufregung der letzten Stunden hatte auch ihr einiges abverlangt, und Berthells Ausbruch schien das Signal für ihren eigenen Zusammenbruch zu sein. Sie war unfähig, dem Schwindel und der plötzlichen Schwäche, die ihren Körper erfaßten, Kraft entgegenzusetzen. Es klang, als käme es von sehr weit her, als Fen ausrief: »Marlene! Fühlen Sie sich nicht wohl?« Er eilte zu ihr, und dann spürte sie die beruhigende Stütze seiner Arme, die sie aufrechthielten. »Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihr Zimmer. Sie müssen sich hinlegen.« Dann hob er die Stimme: »Vince, wenn Sie Berthell versorgt haben, dann sehen Sie bitte auch nach Marlene.« Mit Fens starkem rechtem Arm um ihre Hüfte schaffte sie es bis zu ihrem Bett, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Erst als ihr Kopf das Kissen berührte, überließ sie sich einer erlösenden Ohnmacht ... ***
Das erste, was sie bemerkte, als sie erwachte, war der helle Sonnenschein, der durch das Fenster in ihr Zimmer drang. Erstaunt blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Du lieber Gott! Vier Uhr!« rief.sie laut aus. Eine vertraute Stimme erklang ganz in der Nähe, und Marlene wandte den Kopf und sah erfreut, daß Fen neben ihrem Bett saß. Er sagte: »Vince hielt es für besser, Ihnen eine Spritze zu geben, Marlene. Wie fühlen Sie sich jetzt?« Mit einiger Anstrengung richtete sie sich auf und zupfte verlegen an ihrer Kleidung, die vollkommen zerknittert war. Sie war jedoch froh, eine Bluse und Hose angezogen zu haben, während Fen den Speicher untersucht hatte. Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich werde es überleben, Fen. Zumindest glaube ich es.« Seine Stimme klang plötzlich zärtlich. »Darauf bestehe ich auch.« Über ihre leichte Benommenheit hinweg verspürte sie plötzlich überwältigende Liebe für diesen Mann, der bei ihr gewacht hatte, wähend sie unter Einwirkung eines Beruhigungsmittels schlief. Sie wußte kaum, wie sie dazu kam, aber sie antwortete: »Ist es wirklich von Bedeutung für Sie, was aus mir wird?« »Mehr als alles andere auf der Welt«, sagte Fen ernst. »Ich weiß, daß ich Sie in der Vergangenheit schlecht behandelt habe, aber ich war absichtlich grob und abweisend zu Ihnen, weil ich um Ihr Leben fürchtete, wenn sie hierblieben. Als ich Sie sozusagen aufforderte abzureisen, da war es nur aus Sorge um Ihre Sicherheit. Aber jedesmal, wenn Sie dann wirklich gehen wollten, habe ich Sie gebeten zu bleiben. Als es wirklich darauf ankam, konnte ich mir nicht vorstellen, ohne Sie zu sein.« Seine Erklärung schockierte Marlene so, daß sie
vollkommen unbeweglich saß und unfähig war, auszudrücken, was in ihrem Herzen vorging. Das lastende Schweigen dauerte ein paar Minuten, dann sagte Fen: »Wegen Evelyns Tod halten Sie es vielleicht für verfrüht, von Liebe zu sprechen, aber ich muß Ihnen sagen, daß ihr Hinscheiden für mich eine alte Tatsache ist. Denken Sie daran, daß ich sie seit vielen Monaten für tot hielt. Vielleicht ist der Zeitpunkt schlecht gewählt, aber ich muß dir einfach sagen, was ich für dich empfinde, Liebling.« Bei diesem Kosewort begann das Blut in Marlenes Adern zu kochen, und sie guckte den Mann, der neben ihr saß, sehnsüchtig an. »Bitte, sag es mir, Fen. « | »Es war praktisch Liebe auf den ersten Blick bei mir, Liebes, und ich habe mit aller Kraft dagegen angekämpft«, sagte er aufrichtig. »Aber ich möchte nicht länger dagegen kämpfen.« »War es auch bei Evelyn so?« fragte sie unwillkürlich und empfand plötzlich eine merkwürdige Eifersucht. »Nein, auf keinen Fall«, erwiderte er fest. »Ich spürte in demselben Augenblick, wo du in mein Leben getreten bist, daß meine Gefühle für Evelyn nicht mehr als Verliebtheit waren. Und selbst das Gefühl hat sie getötet, als wir einmal zusammenlebten. Oh, ich gebe zu, daß ihr Tod eine traumatische Wirkung auf mich gehabt hat, aber ich empfinde keine Trauer, wie man sie für einen geliebten Menschen spüren würde.« »Ich möchte deine erste wirkliche Liebe sein, Fen«, murmelte sie verlangend. »Also liebst du mich! « rief er glücklich aus. Dann fiel ein Schatten über sein Gesicht. »Ich glaube, ich habe das Recht, dir dieselbe Frage zu stellen, Liebling. Hast du deinen Mann sehr geliebt?« Sie schüttelte heftig den Kopf und lächelte. »Du bist meine erste und einzige Liebe, Fen, Geliebter. Ich wußte gar nicht,
daß ich überhaupt fähig war, jemanden so zu lieben wie ich dich liebe.« Sie drängte sich näher an ihn. »Warum küßt du mich nicht?« Fen nahm das zitternde Mädchen in die Arme und küßte es innig. Zunächst sehr zärtlich, und als Marlene ihn dann näher an sich zog, wurden seine Küsse fordernder und leidenschaftlicher. Als er sie schließlich freigab, waren beide bis ins Innerste erschüttert und völlig außer Atem. Er atmete immer noch heftig, als er sagte: »Wenn wir heiraten, könnten wir dann hier glücklich sein?« »O Fen!« rief Marlene begeistert. »Ich kann mir keinen Ort vorstellen, wo ich glücklicher sein könnte. Ich möchte mein ganzes Leben hier verbringen. Ich habe immer von einem solchen Ort geträumt! « »Ich freue mich«, erwiderte er glücklich. »Ich liebe die Farm auch, aber ich würde auch ein Haus in Maltville bauen, wenn es dir hier einmal nicht mehr gefallen sollte.« Dieser Beweis seiner Liebe rührte sie zutiefst, denn sie ahnte, was für ein Opfer es für ihn wäre, die High-Hill-Farm zu verlassen. Und er hatte sich geweigert, für Evelyn dieses Opfer zu bringen. Ernst sagte sie: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, daß ich hier je unglücklich sein könnte. Ich habe meine Arbeit und Midnight, während du in der Fabrik bist. Und wenn Berthell auch arbeiten wird, so habe ich doch noch deine Eltern hier, die mir Gesellschaft leisten werden. Und wenn du zu Hause bist, dann wirst du schon etwas finden, um mich zu beschäftigen.« Sie blickte ihn bei diesen letzten Worten verschmitzt an. Er lächelte zärtlich. »Ah, Midnight«, sagte er gespielt ernst. »Bist du sicher, daß du mich nicht nur heiraten willst, um in seiner Nähe sein zu können?« Marlene lachte. »Nun, Midnight ist natürlich ein Pluspunkt
für dich, das muß ich zugeben. « Fen nahm sie wieder in die Arme und sagte gespielt ernst: »Weißt du, wir könnten ja in der Scheune heiraten. Dann wäre Midnight unser Trauzeuge.« »Natürlich.« Marlene spielte sofort mit. »Und Flossie, die als einzige klug genug war, nicht in die Nähe von Evelyns Versteck zu gehen, könnte meine Brautjungfer sein.« ENDE BASTEI Geheimnis-Roman erscheint wöchentlich im BASTEI-VERLAG Gustav H. Lübbe Postfach 200 180 - Scheidtbachstr. 23-31 5060 Bergisch Gladbach 2, bei Köln Telefon (0 22 02) 121-0 - Telex 8 87 922 (Anzeigenabteilung Postfach 200 170) Chefredakteurin: Susanne Scheibler (Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt) Redakteurin: Erika Saupe Redaktionsverwaltung: Manfred Kölzer Herstellung: Dieter P. Deichmann Anzeigen: Paul Irmiter, Josef Anton Zaindl Objektleitung: Rolf Schmitz Verlagsleitung: Horst Scholz Alleinvertrieb für Österreich: A. Fröhlich, Alfred-Fröhlich-Straße 3, 2201 Seyring, Telefon (022 46) 25 91. Erfüllungsort: Bergisch Gladbach. Gerichtsstand: Das für den Verlagssitz zuständige Gericht. Alle Rechte an diesem Romanheft vorbehalten. Die Bastei-Romane dürfen nicht verliehen oder zu gewerbsmäßigem Umtausch verwendet werden. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und andere Beiträge übernimmt der Verlag keine Haftung; unverlangten Einsendungen bitte Rückporto beifügen. Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Anzeigenpreisliste Nr. 17 vom 1. 1. 1981 Druck: VID Verlags- und Industriedrucke GmbH & Co. KG, 7730 Villingen-Schwenningen. Printed in Western Germany. Im Bastei-Verlag erscheinen folgende Unterhaltungsromane: Silvia-Roman, Silvia-Auslese, Silvia-Elite, Silvia-Luxus, Fürsten-Roman, Fürstenliebe, Courths-Mahler, 3. Auflage, Kronen-Roman, Der Hellseher, Heimat-Roman, Berg-Roman, Alpenrose, Der Bergdoktor, Arzt-Roman, Dr. Stefan Frank, Dr. Stefan Frank, 2. Auflage, Dr. Thomas Bruckner, Chefarzt Dr. Holt, Dr. Monika Lindt, Schiffsarzt Dr. Hansen, GeheimnisRoman, Spuk-Roman Titelbild: Three Lions Ltd. Titel der Originalausgabe: Death Rides a Black Steed Copyright: Lenox Hill Press Copyright der deutschen Übersetzung: Bastei-Verlag Übersetzung: Ulrike Moreno
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