Poesiealbum
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Poesiealbum 8 Günter Kunert
Von der Londoner Oxford Street und vom Berliner Nachlaßlager i...
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Poesiealbum
n e U im Mai
Poesiealbum 8 Günter Kunert
Von der Londoner Oxford Street und vom Berliner Nachlaßlager in der Kleinen Alexan derstraße, von dem Physiker Albert Einstein und von dem antiken Sänger Orpheus erzäh len die neuen Gedichte des bekannten Lyrikers Günter Kunert. Mit mehrfarbig illustriertem Umschlag und einer doppelseitigen Grafik von Ronald Paris 32 Seiten, 90 Pfennig Erhältlich an Zeitungskiosken, in jeder Buch handlung und im Abonnement bei der Deut schen Post
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
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K.H.Ball L.Weise
im Eis des Kometen
Verlag Neues Leben Berlin
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1968 Lizenz Nr. 303 (305/112/68) ESO A Umschlag und Illustrationen: Hans Rade Typografie: Walter Leipcld Schrift: 8 p Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
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as Videophon zirpte leise. Ich schaltete es ein, auf der Mattscheibe erschien Son Dhin, die immer etwas streng blickende Sekretärin der Re daktion vom KOSMONAUT. „Guten Morgen, Frank, ich hoffe, Sie nicht beim Frühstück zu stören. Brant Woljanow möchte Sie sprechen." Brant, der Chefredakteur, war gleich darauf da, rund, fröhlich, wie immer guter Laune. „Hallo, Frank, ich habe einen feinen Auftrag für dich. Du kanntest doch Pratow, Enke Pratow, den Kapitän. Du bist doch damals mit ihm auf der CURTOS geflogen. Ich sehe eben, er wird näch sten Monat achtzig, wir sollten einen Artikel über ihn bringen. Du hast mir da mal was erzählt, ich weiß nicht mehr genau, wie das war, jeden falls war's genau der Stoff, den wir brauchen. Einverstanden? Gut. Heute ist Dienstag — sagen wir, am Sonnabend schickst du dein Manuskript." Ich hatte schon oft vergeblich versucht, Brant Woljanow zu unterbre chen; es gelang mir auch heute nicht. Er lächelte freundlich, nickte noch einmal, und schon war die Mattscheibe leer. Auf diese Art verteilte er gern seine Aufträge. Er mußte davon gehört haben, daß ich schon lange über Enke Pratow schreiben wollte. Der Kapitän der CURTOS war keinesv/egs vergessen — doch nicht nur für die Allgemeinheit war er schon zu einem Schatten geworden, auch die junge Generation der Kosmonauten erinnerte sich des Kapitäns, ohne genau zu wissen, warum sein Name mit Hochachtung genannt werden mußte. Ich ging zu Irina in den Garten hinaus, sie wartete mit dem Frühstück. „Brant hat mich eben beauftragt, einen Artikel über Pratow zu schrei ben." „Und — du hast doch zugesagt." Sie sah mich an, lächelte. „Sofern man bei Brant noch zusagen kann, ich weiß." „Ich wollte dich erst fragen, Irina", sagte ich. dodi sie schüttelte den Kopf, die schweren, immer noch völlig dunklen Haare wehten sacht. „Lieber, es ist mehr als zwanzig Jahre her, ich habe Pratow damals um Entschuldigung bitten müssen, soll ich das jetzt verschweigen? Verdanken wir beide ihm nicht sehr viel?" Wir erinnerten uns, während wir frühstückten, jenes Fluges. Die schon undeutlich gewordenen Bilder gewannen wieder Farbe und Leben, spä ter nahm ich meine Tagebücher hervor und vertiefte mich in die Notizen über jene Fahrt und über unser Gespräch mit Enke Pratow, dem dama ligen Kapitän der CURTOS. Wir flogen eine wissenschaftliche Expedition zum Pluto. Nach drei Milliarden Kilometern — wir benötigten dazu noch zweieinhalb Monate — näherten wir uns dem Kometen „Lindner II", bei dem wir Wasser als Stützmasse für unsere .Antriebsaggregate aufnehmen wollten. Die CUR TOS war ein geradezu behäbiges Raumschiff, das schon seit zwölf Jahren im Planetensystem hin und her pendelte und es offenbar noch einmal die gleiche Zeit tun würde. Ich machte allerdings meine erste Fahrt mit der CURTOS, besaß das Kosmonauten-Patent 2. Klasse, war in Schiffsfüh 3
rung, Funk- und Ingenieurtechnik ausgebildet und hatte mehrere Flüge zum Mond und zur Venus hinter mir. Da ich damals schon mit einigen Reportagen Erfolg gehabt hatte, war ich beauftragt worden, auf dieser wissenschaftlichen Exkursion zum Pluto Stoff für eine neue Arbeit zu sammeln. Ich fand während des Fluges auch Muße genug, an meiner Dis sertation weiterzuarbeiten. Kapitän Enke Pratow war ein großer, starker Mann, besser gesagt, eine große, starke Persönlichkeit. Man mußte ihm vom ersten Begegnen her vertrauen. Sein Kopfhaar war aschgrau, die Augen besaßen eigen tümlicherweise die gleiche Farbe — unvorstellbar, daß er einmal blond gewesen war. Das beinahe eckige Gesicht mit der starken, etwas gebo genen Nase strahlte ruhige Gelassenheit aus. Er sprach wenig, doch im mer hatte man das Gefühl, Pratow kenne jeden Gedanken, jede Frage, mit denen wir Jungen uns abquälten, und er wisse stets Rat und Ant wort. Se,ine Bewegungen ließen ihn bedachtsam und schwerfällig erschei nen, das mochte an den Plastprothesen liegen, beide Beine waren ihm bis über die Knie abgenommen, doch auch diese gemessenen Schritte schienen zu seiner Art zu gehören. Im übrigen beherrschte er die Kunst gliedmaßen vollkommen. Zu der Zeit kannte ich Irina Korn, die Astro-Medizinerin und Kyber netikerin, schon mehrere Jahre; wir hatten zwar an der gleichen Uni versität studiert, uns aber erst bei einem Tanz-Wettbewerb kennen gelernt, als wir auf Verlangen der Jury gemeinsam an der Entscheidung teilnehmen mußten. Inzwischen waren wir uns. einig geworden, den künftigen Lebensweg gemeinsam gehen oder besser fliegen zu wollen. Als ich für die Exkursion der CURTOS bestimmt wurde, schlug ich Irina vor, ebenfalls daran teilzunehmen. Wir hätten die Möglichkeit ge habt, vorher noch zu heiraten. Doch Irina schüttelte den schwarzhaarigen Schopf. „Nein, mit Kapitän Pratow fliege ich nicht." Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, und wir hätten uns fast wegen ihres Starrsinns entzweit. Schließlich sagte sie: „Frage ihn doch selbst — du preist ihn ja förmlich an." Nun gut, ich flog in Richtung Pluto und erfuhr drei Tage nach unserem Start von Irina durch das Raumschiff-Videophon, daß sie auf der BREDICHIN an der Erforschung sonnenferner Kometen teilneh men werde. Ich konnte ihr nur einen guten Flug wünschen, für Monate würden wir uns nun nicht sehen, wenigstens nicht persönlich gegenüber stehen. Immer wenn ich Kapitän Pratow sah, mußte ich daran denken, daß er sozusagen schuld an dieser nicht unbedingt nötigen Trennung war. Indes sen, was halfen solche Gedanken, ich versah meinen Dienst auf der CUR TOS, sofern auf diesem anscheinend für die Ewigkeit gebauten Raum schiff von Diensttun die Rede sein konnte. Die Schaltgruppen des kyber netischen Blocks kannten keinen Kurzschluß, die automatischen Astro navigatoren übertrafen an Genauigkeit unsere Kontrollgeräte, Beschleuni gung und Kurswechsel vollzogen sich nach dem Programm mit der Pünktlichkeit von Atomuhren. Zuweilen ertappten wir uns bei der Über prüfung der Aggregate und Apparaturen bei dem Wunsch, wenigstens einen winzigen Fehler zu finden. Vergeblich. Nun, ich war dieser Präzision nicht gram, gewann ich doch dadurch genügend Zeit für meine Doktor arbeit. Jedoch, wer wollte es mir verargen, daß mir immer wieder Irinas Abschiedsworte in den Sinn kamen. Was konnte sie, die eben Fünfund zwanzigjährige, gegen den Kapitän haben, der die Fünfzig weit über schritten hatte. Doch ich konnte auch nicht hingehen und fragen: „Kapi 4
tan Pratow, meine Braut, Irina Korn, hat etwas gegen Sie, sie schweigt jedoch darüber, vielleicht können Sie mir sagen, was es ist." Das ging nicht. Irgendwer hatte mir vor dem Start gesagt: „Pratow — den hat doch seine Frau verlassen." Aber auch das konnte unmöglich mit Irina etwas zu tun haben; ihre Mutter leitete ein biologisches Institut in Kalkutta, ihr Vater war tot. Und doch — manchmal ertappte ich mich bei der festen Absicht, zu Pratow zu gehen. Bevor wir die Jupiterbahn passierten, gab es auch in der behäbigen CURTOS einige spannende Tage: Hier war vor Jahrmillionen vielleicht ein Planet geborsten, jedenfalls rasten auf elliptischen Bahnen milliar denfache Trümmerreste durch den Weltraum und gefährdeten immer wieder die Raumschiffe. Da halfen nur die Laser-Abwehrwaffen. Pratow schickte Bert Trell und mich in den Kommandoraum, wir warteten auf die Begegnung mit den Asteroiden. Die Schaltrelais waren von uns in den Tagen zuvor kontrolliert worden. Sobald sich auf dem Bildlaser auch nur ein winziger Punkt zeigte, würde ein Alarmsignal ertönen, die La serstrahlen würden den Brocken erfassen und zu Gas verdampfen. Wir warteten vergeblich auf unsere erste Begegnung mit den natürlichen Hin dernissen der Weltraumfahrt, den einzigen, den letzten, den ewigen Hin dernissen. Bert sagte in seiner trockenen Art: „Die kennen die alte CUR TOS, in den zwölf Jahren hat sich herumgesprochen, daß deren Laser einrichtung immer funktioniert" Hinter uns sagte Kapitän Pratow: „Die Vollkommenheit der kybernetischen Systeme ist der Trost für die Unvoll kommenheit des Menschen." Wir hatten ihn nicht hereinkommen hören, jetzt trat er zwischen uns, legte jedem eine Hand auf die Schulter. „Viel leicht ist es gut, daß wir Menschen nie so vollkommen werden können." Ein Druck seiner Hand auf meine Schulter, und er verließ den Kom imandoraum wieder. Ich sah Bert an. „Verstehst du den Kapitän?" Bert bewegte den Kopf wägend. „Wozu, Frank, es ist nicht nötig, daß man einen Menschen versteht, es genügt, daß man ihm vertraut. Und Enke Pratow — ich würde ihm ohne Raumschiff im Skaphander durch den Weltraum folgen." Ich auch, sicher, doch Irina nicht, und da ich Irina liebte und ihr ver traute, genau wie ich Pratow vertraute, mußte es doch etwas geben, das wiederum dieses Vertrauen in Frage stellte — welches Vertrauen, grü belte ich, das zum Kapitän oder das zur Geliebten? Ich fragte Bert: „Hast du eine Ahnung, bei welcher Gelegenheit Pra tow zum erstenmal an einem Kometen tankte? Man redet davon wia von etwas Selbstverständlichem, aber wer weiß denn genau darum?" Bert überlegte einige Augenblicke. „Lieber Frank, es geschieht jeden Tag soviel Neues, das morgen und übermorgen schon wieder selbstver ständlich ist. Was vor zwanzig Jahren geschah, hat gewissermaßen schon sagenhaften Charakter. Niemand fragt mehr, warum und wieso und unter welchen Umständen es geschehen ist." Er hatte recht. Wenige Tage später rief mich Bert an. Ich saß über meiner Disser tation. Bert sagte: „Du wirst am Videophon gewünscht, schalte ein." Ich drückte die Empfangstaste meines Apparates, die Mattscheibe flim merte — und Irina lachte mich an. Irina — ich wollte nach ihrem Gesicht, ihrem dunklen Schopf greifen, so überrascht war ich in diesem Augen blick, vergaß, daß ich ja nur ihr Bild vor mir hatte. ,.Hallo, Frank", rief sie, „ich warte auf dich! Wie lange dauert es denn, (ehe ihr mit eurer alten Tante CURTOS zur Kometentankstelle kommt?'*. „Irina", sagte ich, „seid ihr denn schon am .LmdnerTI'?" 5
„Wenn ihr nicht bald kommt, fliegen wir weiter, Lieber. Wann kommt Ihr? Ich habe große Sehnsucht, Frank." Sie konnte keine größere Sehnsucht haben als ich. Da waren sie mit der BREDICHIN irgendwo im Weltraum an uns vorbeigerast und lagen nun schon am Kometen, während wir noch gemächlich durch das Nichts trudelten, und vor nicht allzulanger Zeit war die CURTOS noch das schnellste Raumschiff gewesen. Ich ging in den Steuerraum hinüber und studierte das Programm. Danach benötigten wir noch zehn Stunden bis Kum Kometen „Lindner II". In der letzten Stunde saß ich im Observatorium der CURTOS, einem nicht allzugroßen Raum, durch dessen Fenster ich den Kometen beob achten konnte. Er war nur ein Punkt, ein schimmernder Punkt — dabei besaß er die stattliche Länge von fünfzig Kilometern. Das wurde mir all mählich bewußt, als der schimmernde Fleck im Weltall sich zu einer schneeigen Kugel entwickelte, einem gleißenden Schneeball, einem gigan tischen Gebilde, das Riesenfäuste geformt haben mußten. Als wir näher heranjagten, streckte sich die Kugel zu einer unförmigen gewaltigen Walze. Kalt, starr, drohend lag das Ungetüm vor uns, gefährlich und zu gleich zum Nachdenken zwingend. Ich konnte mich ganz meinen Gedan ken und Gefühlen hingeben, den Ingenieur zur Seite treten lassen und nur Reporter sein, den der Kapitän auch vom Anlegemanöver befreit hatte mit einem der bei ihm seltenen Scherzworte. Natürlich wußte ich ganz genau: „Lindner II" stammte aus dem all gemeinen zirkumsolaren Kometensystem, das einen kugelförmig um das ßonnenzentrum gedachten Raum von etwa 1 Parsek Durchmesser bil dete. Die zu neunzig Prozent aus Festgas bestehende Masse des Kometen würde erst in einigen Jahrmillionen, wenn er sich der Sonne stärker näherte, an der Oberfläche abdampfen. Der von den Sonnenstrahlen ver ursachte Gasstrom würde dann die scheinbare Vergrößerung des Kome tenkerns bewirken, und später entstand auf diese Art der Schweif. Kam ein solcher Komet bei einem Durchgang zu nahe an die Sonne, verlor er unter Umständen einige Millionen Tonnen seiner Masse. Das wußte ich, natürlich, wozu hatte ich studiert, doch diese nüchtern-sachlichen Kenntnisse traten in den Hintergrund vor dem Erlebnis, zum erstenmal einen Kometen greifbar nahe vor mir zu sehen. Seine zu Eis erstarrten Gase reflektierten die Lichtstrahlen der fernen Sonne, das kühle, blau weiße Leuchten strahlte einen Zwang aus, es zog an. Ich verspürte eine prickelnde Lust, in den Skaphander zu steigen und zu dieser Ungeheuer lichkeit hinüberzufliegen... „Willkommen am ,Lindner II'! Die Besatzung der BREDICHIN bittet die Besatzung der CURTOS für heute abend zu sich." Es war Irinas Stimme, die mich aus meinem Wachtraum riß. Am Abend fuhren wir mit den kleinen Pendelraketen von der CURTOS zur BREDICHIN. Gegen unser Raumschiff war die BREDICHIN ein Riese, das modernste interstellare Raumschiff. Selbstverständlich wohn ten wir auch auf der CURTOS relativ behaglich und großzügig; die Aus maße der BREDICHIN gestatteten für alle Besatzungsangehörigen gera dezu ideale Arbeitsräume und Laboratorien mit den modernsten Instru menten und Apparaten. Die Wohnräume besaßen jeglichen Komfort, für die Freizeit gab es Klubräume verschiedenster Art und sogar einen klei nen Saal. Die BREDICHIN war in jeder Beziehung ein Stück der guten alten Erde, ich hatte sie auf der Werft und später im Raumfahrzentrum Antarktika besichtigt und darüber geschrieben. 6
Es war neunzehn Uhr, als wir im Saal an den Tischen Platz nahmen — wenigstens zeigte die Borduhr diese Stunde an, es war die GreenwichZeit. An Bord der Raumschiffe ging die irdische Zeiteinteilung nach Son nenauf- und -Untergang verloren, doch lebten wir nach irdischem Rhyth mus, und den bestimmte eben das gute alte Greenwich mit seinem Null meridian. Übrigens hatte sich die BREDICHIN-Besatzung alle Mühe ge geben, das Zeitalter der Raumfahrtspeisen war längst vorbei, aus den Tiefkühlräumen kamen ausgezeichnete irdische Speisen auf den Tisch. Die Getränke waren von gleicher Qualität, für den Rebensaft von den Weinbergen unserer lieben Erde gibt es eben keinen Ersatz. Aus den Tonsäulen erklang Musik. Argwöhnisch hatte ich Irina und Pratow beobachtet, als wir den gro ßen Klubraum betraten. Irina vermied es, unserem Kapitän die Hand zu geben, ein knappes, kurzes Neigen des Kopfes, dann wandte sie sich wieder mir zu, nahm meinen Arm und ging mit mir seitab. Kapitän Pra tow schien diese sehr kühle Begrüßung stillschweigend hinzunehmen, Nun gut, sollten sie beide — mir genügte, daß ich neben Irina saß, d.-<ß wir uns nach zweieinhalb Monaten wiedersahen. Wir sollten diese Stun den der Gemeinsamkeit nützen. Nach dem Easen tanzten wir. Diese modernen Tänze erforderten eine vollendete Harmonie der Bewegungen; Sf
sie gaben Gelöstheit und Freude und verlangten gleichzeitig eine hohe, Körperbeherrschung. Irina zeigte sich immer noch als Meisterin dieser Tänze, ich stand ihr, ohne Eigenlob, nicht viel nach, schließlich hatten wir auf jenem Hochschul-Wettbewerb den ersten Preis ertanzt. Irina stellte plötzlich fest: „Du bist heute offenbar nicht völlig hier, Frank. Was ist?" Ich führte sie zu einer Nische. „Was ist? — Viel, Irina, beinahe mehr als ertragbar", erwiderte ich etwas unwillig. „Ihr fliegt in dreißig Stun den weiter, weil du meinen Kapitän nicht leiden kannst. Sonst könntest du umsteigen, und wir wären für immer zusammen. Und dann — nun ja, ich leugne es nicht —, ,Lindner II' reizt mich, mein erster Komet. Am liebsten stiege ich in meinen Skaphander und flöge zu ihm." Irina stupste mit dem kleinen Finger zärtlich gegen meine Nasen spitze. „Lieber. Das erste betrachte bitte als eine gewissermaßen histo rische Geschichte, die weder du noch jemand anderes ändern kann. Und den Kometen da draußen — nun schön, er reizt, doch komm, ich zeige dir etwas von unserer BREDICHIN." Sie erhob sich-, ich zog sie an mich, wir küßten uns. Irina schob mich etwas von sich, musterte mich mit leicht spöttischem Lächeln. „Selbst deine Küsse sind sozusagen abwesig, Frank. — Übrigens", sie sah mich schräg an, als wir durch den Raum gingen, in dem die anderen fröhlich waren, „diese Exkursion zum Kometen solltest du dir aus dem Kopf schlagen, Lieber. Ich weiß, daß du ein guter Ingenieur bist, alles be herrschst, was dazu gehört, auch mehr als einmal draußen warst — aber zum Kometen fliegen, das ist doch wieder der abrupte Einfall des Repor ters, nicht wahr?" Es ließ sich schlecht leugnen. • Wir gingen durch die Räume der BREDICHIN, die etwa doppelt so lang war wie unsere CURTOS. Irina öffnete die Tür zu einem Arbeits raum, in dem acht Roboter ständig bereit waren, bei Defekten an ein^ zelnen Raumschiffaggregaten sofort Reparaturen durchzuführen. Das war mir an sich nichts Neues, obwohl wir auf der CURTOS solche Helfer nicht besaßen. Als Irina nach und nach die Stichworte aussprach, man hatte jedem Roboter einen Namen gegeben, glommen ihre Linsenaugen auf. Irina stand neben ihnen, deutete auf die Gruppe der Maschinen menschen und sagte lachend: „Meine Verehrer, die gehorchen mir aufs Wort!" Ein Stichwort wieder, und die Roboteraugen erloschen, die Ag gregate fielen aus ihrer Bereitschaft in die Ruhestellung zurück. Dann betraten wir Irinas Arbeitsfaum, wo sie als Kybernetikerin für mehrereRoboter verantwortlich war; diese besaßen ein offenes Programm, an dessen ständiger Erweiterung sie arbeitete, dazu kamen einige neue Ge biete der Medizin, für die sie laufend Informationen von der Leitstelle Antarktika erhielt und hier verarbeitete. „Und nun gehen wir noch zum Observatorium", sagte Irina, „wegen deiner Kometenlust." Es lag außerhalb der durch Zentrifugalkraft er zeugten Schwerkraft in der BREDICHIN. Wir betraten es durch die Schleuse, einige kurze Bewegungen, dann meisterten wir beide die Schwerelosigkeit. Ich war manchmal stolz auf das Observatorium der CURTOS, hier gab es kaum noch einen Vergleich. Der Raum selbst war groß, seine Stirnwand und die rechte Seitenwand bestanden aus durch sichtigem Glas und vermochten gleichzeitig als Bildschirm zu dienen für die Aufnahmen des außerhalb des Raumschiffes montierten Teleskops. Wir schwebten zu den Konturensesseln, schnallten uns an, im Halbdun kel schimmerten die Bedienungssäulen der Apparaturen. Irina schaltete 8
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die geringste Vergrößerung des Teleskops ein: Über die leicht gewölbte Fläche des Kometen hinweg schwamm ein bläulich schimmernder GasSee heran, darüber und in die Kometenmasse hineingestellt der turm förmige Saugstutzen, von dem ein Schlauch zu den Tanks der BREDI CHIN führte. Ich hörte Irina sagen: „Die beiden Punkte dort — ich hole sie einmal "näher...", sie schaltete das Teleskop schärfer, jetzt erkannte ich zwei Menschen in Skaphandern, die still über dem Kometen schwebten, „ . . . das sind Boris Swerd und Piet Vannee." Hochachtung klang aus Irinas Worten, vielleicht sogar mehr, etwas wie Bewunderung. Ich begehrte auf: „Es muß ja jemand hinaus und das Tanken beob achten, Irina, auf der CURTOS auch. Idi werde mich dazu melden, und Kapitän Pratow wird mir die Erlaubnis zu einem Skaphanderflug über dem Kometen geben. Er versteht mich." Darauf bekam ich keine Antwort von Irina, sie sagte nur: „Die Ko metengasgemische werden jetzt gleich bei der Aufnahme getrennt, eine Erfindung unseres Chemophysikers Boris Swerd. Der links schwebt, ist es." Wie sie mir diese Tatsache erläuterte, das klang nach Zurechtweisung. Als wenn das nur ihr Boris Swerd konnte. Nun reizte es mich noch mehr, einen Meter über „Lindner II" zu schweben. „Ich muß das erlebt ha ben, Irina, ich muß diesen Kometen mit meinen eigenen Händen gespürt haben!" „Das werden Sie sein lassen!" Ich riß den Kopf herum, woher kam die Stimme des Kapitäns? Ich blickte in Irinas erschrockenes Gesicht, dann sah ich Pratow. Er saß hinter uns in einem Konturensessel. Seine Stimme hing dunkel im Raum, als er fortfuhr: „Mit meiner Erlaubnis brauchen Sie nicht zu rechnen." . Irina schien es peinlich zu sein, von Pratow hier überrascht zu werden. Ihre Hand griff, automatisch fast, nach dem Schalter, das Bild des Kome ten verschwand, die hellen Leuchten des Observatoriums hüllten uns in schattenloses Licht. Irina und ich saßen wie Gefesselte in den Kontu rensesseln. Hinter uns sagte Kapitän Pratow: „Irina Korn — ich habe Sie nicht stören wollen, bin Ihnen nicht nachgegangen. Ich wollte mich hier nur ein wenig erholen. Aber da Sie einmal hier sind, kann ich Ihnen dies hier übergeben." Ich sah, wie er einen kybernetischen Rechner aus der Innentasche sei ner Uniformjacke zog, eines jener kleinen, etwa fünfundzwanzig Zenti meter langen, flachovalen Orientierungsgeräte, vielleicht doppelt so stark wie die da und dort bei älteren Leuten noch üblichen Brillenfutterale. Dieses Gerät, ich erkannte es an der Farbe, lag sonst auf seinem Arbeits tisch, er benutzte es nie, behandelte es wie etwas Ehrwürdiges. Als ich es einmal bei einer Besprechung aufnehmen wollte, legte er sofort die Hand darüber und sagte schnell: „Bitte, benutzen Sie das Bordgerät." Jetzt klang seine Stimme beinahe feierlich. „Es ist das erste Gerät die ser Art, das Ihr Vater entwickelte..Es rettete mir das Leben." Irina wandte sich unter dem Zwang seiner Worte zu ihm hin. In ihrem bleich gewordenen Gesicht zuckte es. Unwillkürlich hob sie die Hand. Der Kapitän gab ihr das Gerät, sie nahm es, und er sagte: „Damals, als ich wieder gesund war, als wir zurückkehrten, traf ich Ihre Mutter nicht mehr an. Ich erfuhr, daß sie mir die Schuld an Lit Korns Tod gab. Mehrfach schrieb ich ihr, die Briefe kamen ungelesen zurück. Ich habe das Gerät die vielen Jahre aufbewahrt," 9
Irina blickte darauf nieder, es verstrich wohl mehr als eine Minute, ehe sie sich wieder dem Kapitän zuwandte. „Meine Mutter hat meinen Vater sehr geliebt, Kapitän" — er nickte —, „und sie hat Sie — gehaßt. Ich habe nichts anderes erfahren, und ich konnte, wenn ich Sie auch nicht haßte, so doch nur einen — einen Widerwillen gegen Sie empfin den. Und nun wollen Sie sagen, daß der Haß meiner M u t t e r . . . " Sie konnte nicht weitersprechen. „Ich habe darunter gelitten, Irina Korn, doch ich habe dieses Gefühl Ihrer Mutter geachtet. Was damals geschehen ist — als wir zurückkamen, war es schon fast vergessen. Und als Sie alt genug waren, das zu verste hen, was mit uns geschehen war, da war es schon Raumfahrtgeschichte, von Wissenschaftlern wie Boris Swerd", er deutete zum Kometen hinaus, „längst vielfach verändert." Mir war, als spräche Enke Pratow wirklich von sagenhaft Vergan genem, und es war offenbar doch sein eigenes Erlebnis, Irinas Vater war dabei verunglückt. Ich hatte nie davon gehört, nicht einmal darüber ge lesen. Ich sagte: „Kapitän — sollte es nicht gut sein, wenn Sie uns das erzählen? Auch für Sie?" In Irinas Gesicht sah ich, daß sie mit sich unelns war. Sie blickte auf das Gerät nieder, sah mich an, wandte sich halb zu Pratow zurück. Dann neigte sie den Kopf. „Ich bin Ihnen dankbar, Kapitän. Ich habe oft mit dem Gerät gearbeitet, doch nie gewußt, daß dieses erste Modell noch existiert." Sie reichte Pratow die Hand. „Ich möchte mich Franks Vor schlag anschließen — erzählen Sie von meinem Vater." Wir verließen das Observatorium, standen in der Schleuse beieinan der. Ich bemerkte, daß Pratow in Irinas Gesicht nach einer Ähnlichkeit mit ihrem Vater suchte. Er sagte: „Es wird mehr sein, als nur von Ihrem Vater zu sprechen, Irina. Wollen wir zur CURTOS hinüberfliegen? Ich fühle mich dort am wohlsten." Wir gingen die langen Gänge zum Klubraum zurück, verabschiedeten*,, uns von den Freunden und bestiegen eine der kleinen Pendelraketen. Hinter der Kristallscheibe schimmerten die Lichter ferner Stern weiten.. Hundert Milliarden Sonnen umfaßt unser Milchstraßensystem, und es kann Millionen Planeten geben, auf denen vernunftbegabte Wesen woh nen. Doch wenn sie alle gleichmäßig im Raum der Galaxis verteilt wären, vergingen Milliarden Jahre, bis sich zwei dieser Vernunftbegab ten zufällig begegneten — so ungeheuerlich groß ist diese eine Galaxis! Wir drei in der kleinen Pendelrakete, Unendlichkeiten von der Erde entfernt und dennoch immer nur im Vorhof der wirklichen Unendlich keit, wir schwiegen — wir Menschen, behaftet mit den alten, uraltenGefühlen der Menschheit, mit Liebe und Haß und Widerwillen... Kapitän Enke Pratow führte uns in seinen Wohnraum. Ich sah Irina neugierig um sich blicken, offenbar verglich sie diesen Kapitänsraum der CURTOS mit ihrer Kabine in der BREDICHIN. Sie hielt den Rech ner in der Hand. Ich ahnte, daß er in ihrer Kabine den gleichen Ehren platz einnehmen würde wie bisher auf des Kapitäns Arbeitstisch. Pratow lud uns zum Sitzen ein, er stellte Gläser auf den Tisch und goß roten Krimwein ein, fand in einer Ecke seines Schrankes Gebäck. „Machen Sie es sich bequem, Irina, es wird eine lange Geschichte Und Sie, Frank, tun Sie mir einen Gefallen, bleiben Sie Ingenieur, lassen Sie den Reporter draußen, ja?" Er sah sich um, deutete mit beiden Händen durch den Raum. „Ich habe um das Kommando auf der CURTOS gebe ten, damals, als ich wieder fliegen konnte. Ich hatte das Gefühl, auf die sem Raumschiff kann ein Mansch so einsam sein, wie er sein will oder IQ
sein muß." Er wies mit beiden Händen auf seine Oberschenkel. „Bis hierher bestehe ich aus Plast. Die Kunstgliedmaßen sind vollkommen, ich könnte wandern und Berge ersteigen, doch immer wieder will mir scheinen, daß ich nicht mehr auf die Erde gehöre — manchmal kann ich sogar die Eremiten verstehen, die es vor Jahrhunderten einmal gegeben haben soll." Er lächelte, winkte mit der Rechten ab, wurde gleich wieder ernst. „Als ich zurückkam — Ihre Mutter, Irina, wollte meinen Dank an Ihren Vater nicht hören, und als meine Frau mich so sah, ohne Beine, hilflos erst noch — sie trennte sich von mir." Irina schrak hoch. „Ihre Frau ließ Sie allein?" „Sie war auch nur ein Mensch, ich kann sie nicht verurteilen, Irina. Es gibt wohl in jedem Leben Augenblicke, in denen wir manches rück gängig machen möchten, dann geht es nicht mehr, wir können es nicht. Meine Frau — sie müßte jetzt Raumfahrerin sein können." Er hatte eine Gebärde, die hieß: Sie ist es nicht. Dann schaute er über den Tisch. „Kann ich noch etwas für Sie tun? — Nein? — Dann will ich mich auch setzen." Er ließ sich zwischen uns nieder, griff nach seinem Glas. „Der rote Krimwein macht gesprächig, ich werde mir zuweilen die Zunge netzen müssen. Trinken wir auf das Leben mit all seinen Voll kommenheiten und Fehlern." Er saß, schwieg, suchte nach einem Anfang, dann griff er nach dem kleinen Gerät. Er nahm es und schob es beinahe spielerisch vor sich in 11
die Waagerechte, tippte mit den Fingerspitzen dagegen, bis es richtig lag. „Damals — wir waren eine dem Tode verfallene Raumschiffbesatzung. Achthundert Milliarden Kilometer von der Erde entfernt.schwebte unser Schiff, die ZIOLKOWSKI, antriebslos durch den Weltraum. Wir waren zu viert, und wir waren verzweifelt, vom Warten zermürbt, ohne Hoff nung — oder doch: mit der Hoffnung auf irgendeinen glücklichen Um stand, der uns freilich unbekannt war. Es war eine geringe, eine unwahr scheinlich geringe Hoffnung, doch wir waren Menschen. Und dieses Menschsein — das, möchte ich sagen, bewahrte uns vor dem Schlimm sten." Pratow sah erst Irina, dann mich an und nickte. „Menschsein", wie derholte er versonnen. „Unser Forschungsauftrag", sprach er weiter, „physikalische und chemische Daten von Kometen in großer Sonnen ferne zu sammeln, hatte uns weit von der Erde weggeführt. Die ZIOL KOWSKI war damals das einzige für derartige Flüge geeignete Raum schiff. Auf dem Rückflug gerieten wir in einen Strom interstellarer Ma terie. Durch Bremsmanöver und ununterbrochenen Laserbeschuß entgin gen wir zwar der sofortigen Vernichtung, allerdings war bei einem un vermeidlichen Zusammenstoß mit der Materie einer unserer Tanks mit Stützmasse weggerissen, ausgerechnet ein gefüllter, zwei andere waren restlos gelerrt, der vierte enthielt nur noch so viel Wasser, daß wir damit bestenfalls noch einmal in Gefahr Ausweichmanöver durchführen konn ten. So glich unsere stolze, gewaltige ZIOLKOWSKI trotz des durchaus genügend vorhandenen Antriebsstoffes einer wertlosen Metallhülse. Wir flogen mit etwa hundert Kilometer pro Sekunde, auf die-Sonne bezogen, in Richtung Erde. Hundert Kilometer pro Sekunde ist in Erdnähe viel, doch achthundert Milliarden Kilometer von der Erde entfernt gelten an dere Maßstäbe." Ich rechnete: Achthundert Milliarden Kilometer war die zweimillionen fache Entfernung zwischen Erde und Mond, die fünftausendfache von der Erde zum Mars. Hundert Sekundenkilometer bedeutete mithin eine Flugzeit von fast dreihundert Jahren! Pratow nannte die gleiche Zeit, sagte, mit dem verbliebenen Rest Stütz masse wäre eben bestenfalls eine Kurskorrektur möglich gewesen oder ein Schub zur Verdoppelung der Geschwindigkeit. Damit hätten wir uns jedoch die letzte Möglichkeit genommen, irgendwelche anderen Ma növer durchzuführen, und ob dreihundert Jahre oder hundertfünfzig oder vier Jahre, in der Konsequenz blieb sich das gleich. Keiner von uns würde die Zone erreichen, die den normalen Raumschifftypen zu gänglich war, in der wir Hilfe erwarten konnten." Irina hatte vorher, als Pratow wortlos nach dem Gerät griff, kurz die Hand gehoben, als wollte sie es zurücknehmen. Jetzt jedoch schien sie bereits jedes andere Gefühl, jeden anderen Gedanken verloren zu haben, sie saß, genau wie ich, mit in der ZIOLKOWSKI. Pratow erzählte: „Drei Monate vergingen, wie Zeit vergeht, die an einem Ort angenagelt ist. Selten betrat noch einer von uns den Kom mandoraum, um die Aggregate zu kontrollieren, und ich hatte beim Gang durch die Räume zuweilen bereits das Gefühl, allein zu sein, der letzte von vier Kosmonauten. Wir waren nach zweieinhalbjähriger Frist zum Hungertod verurteilt. Dieser Gedanke, schon der letzte zu sein, trieb mich immer wieder durch die Gänge, bis ich einen Kameraden fand, der von dem gleichen Gefühl gepackt worden war. — Wir hatten die wesentlichen Fakten unserer Forschungsergebnisse zur Erde gefunkt, wir 12
hatten von unserer Havarie Bericht gegeben und von der Tatsache, daß uns noch dreißig Monate blieben." „Die Nachrichtenverbindung mit der Erde dauerte bei Laserstrahlen immerhin etwa einen Monat", überlegte Irina, „und die Antwort die gleiche Zeit." „Stimmt", sagte Pratow. „Die Flugleitstation teilte uns mit, daß die Raumschiffswerft in Woßchod die Arbeiten für das zweite interstellare Raumschiff mit allen Mitteln beschleunigen würde, doch sie brauchte mindestens noch drei Jahre und dann anderthalb Jahre Flugzeit — während unsere Lebensmittelvorräte bei strengster Rationierung für nicht länger als dreißig Monate reichten. Diese Nachricht konnte uns nur veranlassen weiterzuarbeiten, was sollten wir sonst tun. Wir waren Menschen, ich sagte es schon, Menschen, die die Hoffnung nicht auf geben konnten, auch wenn sie irreal schien, besser irreal war. Tages ablauf, Arbeits- und Lebensrhythmus erfuhren keine Veränderung. Perg Santos, mein Stellvertreter, widmete sich seinem zweiten Beruf als Astro nom. Lit Korn . . . " „Mein Vater", sagte Irina schnell. „Er war der Bordingenieur und Kybernetiker der ZIOLKOWSKI, nicht wahr?" „Ja. Lit trug für das einwandfreie Arbeiten der Raumschiffaggregate Sorge und gab die monatliche Funkmeldung zur Erde, Jan Welar, Bord arzt und Biologe, betreute uns gesundheitlich, uns, die wir nach Ablauf des dreißigsten Monats keinerlei Nahrungsmittel mehr haben würden. Es klingt widersinnig, aber wir mußten gesund bleiben, um einmal in diesen dreißig Monaten das tun zu können, was uns zu retten vermochte, das freilich völlig Unbekannte. Ich widmete mich der Auswertung der chemischen und physikalischen Kometendaten. In den ersten Monaten trafen wir uns auf die Minute genau zur mor gendlichen Besprechung, zum Frühstück, zum Mittagessen; am Nach mittag ging jeder seiner Freizeitbeschäftigung nach, die allerdings wegen der geringen Nahrungsmittelmenge zumeist aus Ruhe bestand oder doch bestehen sollte. Keiner aber konnte sich aufgeben. Perg Santos ermittelte die wahrscheinliche räumliche Verteilung der für das Sonnensystem er rechneten hundert Milliarden Kometen. Ihr Vater bastelte an diesem kybernetischen Rechner. Er wollte ein vielseitig verwendbares, hoch empfindliches Orientierungsgerät schaffen. Welar hatte sich einen leeren Lagerraum als biologisches Labor und vor allem als Maleratelier ein gerichtet. Er malte Aquarelle, fertigte Holzschnitte, sein Thema blieb im mer: Der Mensch im All. Dann und wann erschien er bei einem von uns, verstrickte ihn in Diskussionen über seine Arbeiten und neuen Ideen. Oder er trieb uns zum Sport an. Immer wieder überrasdite er uns mit anderen abwechslungsreichen Übungen, die durchaus der gerin gen Nahrungsmittelzuteilung entsprachen." Pratow machte eine Pause. Idi überlegte: Dreißig Monate auf Rettung warten, das können Ewigkeiten sein. Wenn sie den Abschluß bedeuten, den Lebensabschluß, dann sind sie wohl kaum mehr als ein Tag, weil man zu jeder Stunde daran denken muß. Für diese vier Menschen bedeu teten sie beides, je nach ihrem Charakter, und diese vier Menschen muß ten ja unterschiedlich sein. „Perg Santos, immer humorvoll und redselig, schien von unserem Ge schielt anfangs ka*um berührt", sagte Pratow. „Er behauptete, nun erst die richtige Muße für seine Arbeiten zu haben. Er verbrachte zehn Stun den und mehr im Observatorium. Doch allmählich wurde er ernst und "verschlossen, magerte ab, sein Energieverbrauch konnte durch die mehr 13
als knappe Ration nicht ersetzt werden. Er zeigte sich äußerlich zwar ruhig, doch in seinen braunen Augen flackerte helle Unrast. Ich fand ihn eines Tages im Observatorium mit zerzaustem Haar, die Knöpfe des Hemdes waren geöffnet, und mit diesem Äußeren stimmte sein genetztes, bleiches, hageres Gesicht überein. Er wandte sich abrupt zu mir und sagte, die Kometenverteilung sei wie jede Naturerscheinung dem Dualismus von Gesetzmäßigkeit und Zufall unterworfen. Ihn jedoch interessierten allein die Gesetzmäßigkeiten. ,Ich finde sie', stieß er erregt hervor, .fünf zehn Jahre Forschung — zwanzig Jahre!' Dann verstummte er, rieb mit den Fingern zwischen Hemdkragen und Hals, starrte vor sich hin und wandte sich kurz ab." Irina hob die Hand, legte einen Finger gegen die Lippen, fragte: „Ein Santos hat doch mit dem Kollektiv des Hollweg-Luna-Observatoriums dia Existenz der Übergalaxis theoretisch nachgewiesen?" „Sein Vater", bestätigte ich. Es war, als erinnere der Kapitän mit seinem Bericht an Kenntnisse, die wir im alltäglichen Leben als Seibai verständlichkeiten gar nicht mehr sonderlich beachteten. Jetzt „wußten" wir wieder, was uns immer bewußt war. Der praktische Nachweis dieser Übergalaxistheorie erforderte die Beobachtung der viele Milliarden Licht jahre entfernten benachbarten Galaxien, was von einem Ort in Richtung 14
auf den Stern Wega möglich sein sollte. Dort durchbrach ein sternarmer Kanal an einem ganz genau berechneten Punkt des Alls den diffusen Licht- und Wellenhintergrund und die Dunkelmaterie der eigenen Galaxis. So behauptete die von Santos' Vater miterarbeitete Theorie. Von jenem, dem Sonnensystem nächstgelegenen Beobachtungsort würden Teleskop giganten völlig neue, bis dahin noch unzugängliche Bereiche des Univer sums erforschen können, wenn — ja, wenn es gelang, eine Raumflotte dorthin zu entsenden. Auch Irina durchdachte dieses Problem. Sie sagte: „Um unser Weltbild zu vervollständigen, müssen wir die Ordnung der Materie kennen, dazu gehört auch diese Theorie von der Ubergalaxis. Einsteins berühmte For mel E = Mc2 war die Voraussage, die Theorie. Als sie später praktisch genutzt werden konnte, gaben uns die ungeheuren, Energiequellen der Materie tatsächlich die Möglichkeit, zu den entferntesten Sonnenplaneten vorzustoßen. Pratow bestätigte Irinas Worte. „Man soll diese alten Dinge immer wieder einmal überdenken. Unsere Flugbahnberechnungen, unsere ge samte Kosmonautik wären undenkbar ohne die grundlegenden Kennt nisse eines Newton von der Ordnung der Materie in unserem Sonnen system." Unser Gespräch nahm den Charakter eines Gedankenaustauschs an. Um Pratows Flug mit der ZIOLKOWSKI zu verstehen, um ihn und seine Ka meraden zu begreifen, mußten wir uns erst einmal wieder über viele Dinge klarwerden, die, wie gesagt, zum Allgemeinwissen eines Kosmo nauten gehören. Es steht heute außer Zweifel, daß unsere Sonne mit ihren Planeten, Monden, Meteoriten, Asteroiden, Kometen und der inter planetaren Materie einer weit höheren Ordnung unterworfen ist. Das Sonnensystem rotiert als Materieansammlung ebenso wie hundert Mil liarden andere Fixsternsysteme um einen gemeinsamen Masseschwer punkt im Kern der Galaxis. Ähnlich sind nun wieder die riesigen Ga laxien zu Untersystemen mit jeweils etwa achtzig Galaxien vereinigt, die Bestandteil einer Übergalaxis sind. Ein Lichtstrahl, der von einem Ende zum anderen Ende unserer Übergalaxis gelangen will, benötigt fast sechs Milliarden Jahre! „Perg Santos' Vater und das mit ihm arbeitende WissenschaftlerKollektiv erkannten bei ihren kosmischen Arbeiten ganz klar", vervoll ständigte Pratow die letzten Überlegungen, „daß die mächtigste Urkraft im Kosmos nicht die Atomenergie ist, auch wenn sie Trillionen, Trilliar den Tonnen Materie von einem Materiezustand in den anderen umformt — die mächtigste Kraft muß die Gravitation sein, denn sie bestimmt die Ordnung der Materie im Universum. Die äußerst wichtige Konsequenz dieser Theorie ist: Die Gravitation pflanzt sich schneller fort als das Licht! Die innere Struktur einer Welt, deren Materieanhäufungen Hun derttausende und Millionen Lichtjahre voneinander entfernt sind, wäre schließlich undenkbar, wenn die ordnende Kraft, eben die Gravitation, eine im kosmischen Maßstab schneckengleiche Ausbreitungsgeschwindig keit aufwiese. Bestätigte sich diese Theorie von der Metagalaxis, so öffnete sich wirklich das Tor zum Kosmos für uns. Die bisherigen Flüge zum Mars, zum Jupiter und zum Pluto sind nichts weiter als Keisen zu einem Vorort. Gewiß — wenn wir sie als die absolute Grenze der Fortbewegung annehmen, gestattet sie uns unter zukünftigen technischen Bedingungen wohl den Flug zu den nächstgelegenen Fixsternen." Ich konnte mich nicht enthalten, Pratow zu unterbrechen: „Aber schon zum Sternhaufen im Herkules M 13, zu diesem aus etwa dreißig 15
tausend Sternen bestehenden Kugelsternhaufen, würde ein Photonen raumschiff mehr als vierunddreißigtausend Jahre unterwegs sein." „Und die Zeitdilatation?" fragte Irina und fügte gleich hinzu: „Für den Raumfahrer würden nur Jahrzehnte vergehen, aber unten auf der Erde, auf unserem wissensdurstigen kleinen Inselchen im Weltraum, zählte jede Minute ihres Fluges Jahre. Und siebzigtausend Jahre würden ver gehen, bis die Wissenschaft Nachricht von der Beschaffenheit dieser Sternassoziation erhielte. Millionen Jahre vergingen für einen Flug zum milchstraßenähnlichen, benachbarten galaktischen System M 33, Mil liarden Jahre Wartezeit wären nötig, bis die Raumschiffe von der näch sten Übergalaxis zurückkehrten." Pratow hob beide Hände, um dieses vorerst vergebliche Bemühen an zudeuten. „Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen setzt dem menschlichen Forscherdrang scheinbar unüberbrückbare Schranken. Es ist uns nur gestattet, den Vorhof des Weltalls zu erken nen. Unser Flug, Santos' Arbeiten, das waren Schritte, jenen interstellaren Flug vorzubereiten. Wir überprüften sozusagen die Übergalaxistheorie. Es bestand also ein enger Zusammenhang zwischen seinen Arbeiten zur Berechnung der Kometenstreuung, denen der Forschungsgruppe seines Vaters und unseren Kometenanalysen. — Ein Raumschiff, auch wenn es Atomtriebwerke mit hohem Nutzeffekt besitzt, verbraucht gewaltige Men gen Treibstoff. Um hunderttausend Tonnen Masse auf zweihundertsech zigtausend Kilometer je Sekunde zu beschleunigen, werden zweihundert tausend Tonnen Treibstoff benötigt! Raumschiffe für interstellare Reisen würden also unterwegs mindestens die Stützmasse aufnehmen müssen. Unsere physikalischen und chemischen Forschungen an Kometen im äuße ren zirkumsolaren Kometensystem hatten in uns schon die Idee reifen lassen, die Nutzung von Kometenbestandteilen für die Betankung der Raumschiffe zu untersuchen." Manches an diesen Überlegungen war Irina und mir neu, anderes kannten wir von unseren eigenen Raumflügen her. Die Betankung von Raumschiffen an Kometen war ja inzwischen selbstverständlich gewor den. Ein Komet besteht zu neunzig und mehr Prozent aus leichtflüchtigen Stoffen: Wasser, Kohlendioxid, Ammoniak, Methan, Stickstoff, Dizyan. Diese leichtflüssigen, infolge der Raumkälte zu Festgas erstarrten Sub stanzen sind gewissermaßen der Kittj der die restlichen zehn Prozent Meteoritenstaubpartikel bindet und zusammenhält, „Späteren Raumschiffbesatzungen müßte bei Flügen zu benachbarten Fixsternen die Möglichkeit geschaffen werden", erläuterte Pratow die da maligen Überlegungen, „Kometen über riesige Entfernungen hin zu orten und anzufliegen, die Kometengase zu trennen und dann zu tanken. Kometen sind sozusagen so zahlreich wie Fische im Ozean, nur erschwert ihre geringe Helle bei großem Sonnenabstand ihre Entdeckung. Auf un serem Flug hatten wir achthundert Kometen beobachtet. Sie waren einige hunderttausend bis zu sechzig Millionen Kilometer von uns entfernt. Zweiundzwanzig befanden sich auf so günstigen Bahnen, daß wir uns ihnen bis auf wenige-Kilometer nähern konnten. Gewiß, zur errechneten Gesamtzahl von etwa zwanzig Milliarden Kometen in unserem Sonnen system standen unsere achthundert in einem sehr bescheidenen Verhält nis." ~" Der Sprechapparat summte, Pratow schaltete ihn ein, sich bei uns ent schuldigend. Seinen Fragen und Antworten entnahmen wir, daß die CUR TOS mit den Vorbereitungen zum Tanken beginnen konnte. Unwillkür lich wandte ich den Blick in Richtung des Kometen, und der Kapitän ver 16
stand meine Gebärde. „Bleiben Sie ruhig hier, Frank, die Arbeit drau ßen wollen wir den darin erfahrenen Kameraden überlassen. Warum — das werden Sie bald hören." Dann berichtete er weiter. „Perg Santos war der Meinung, daß die Kometen nicht regellos im gesamten Sonnensystem verteilt seien, sondern daß gewisse Gesetzmäßig keiten bestünden. Er suchte also nach dieser .Ordnung' der Kometen. Fand er sie, so ließ sich der Standort bestimmter Kometen mathematisch festlegen, und die Kosmonauten waren nicht mehr auf den Zufall ange wiesen, um später diese Tankstellen für Raumflüge zu finden. Während mir damals all diese Überlegungen durch den Kopf gingen, griff Santos plötzlich nach meiner Schulter und rief: ,Ein Komet!' Seine Stimme über schlug sich fast. Ich begriff sofort: Was für uns bisher nur eine vage Idee war, ferne künftige Möglichkeit, bestimmte Kometengasbestandteile für die Atomtriebwerke nutzbar zu machen, das mußte von uns in An griff genommen werden. Ein geradezu toller Gedanke! Wir waren schließ lich für ein solches Unternehmen weder mit den technischen Hilfsmitteln ausgerüstet, noch gab es dafür eine wissenschaftlich erarbeitete und er härtete Technologie. Aber mir war auch in der gleichen Sekunde klar, daß von einem solchen Experiment unsere Rückkehr zur Erde abhing." Pratow schaltete für kurze Zeit das Sehgerät ein, um die Vorbereitun gen zum Tanken zu beobachten. Er war aufgestanden, ging sacht durch den Raum, blieb am anderen Ende stehen. Ich sah, er sammelte sich, durchlebte jenen längst vergangenen Augenblick noch einmal. Irina saß ganz still, doch ihre Fingernägel gruben sich erregt in die Handflächen. Der Kapitän deutete auf den Bildschirm des Sehgeräts. „Das ist nun schon selbstverständlich, und — es gab eine Zeit, als Eisenbahnen durch Einöden und Wälder gelegt wurden, da haben unsere Voreltern unterwegs haltmachen müssen und erst Birken gefallt, um damit die Lokomotive wieder anheizen zu können, in Schweden und Kanada und in Sibirien. Heute — man legt an einem Kometen an. Damals, als Perg Santos das Wort herausgeschnellt hatte, wußte ich, es gab für uns keine andere Wahl, kein Für und Wider. Wir hatten nichts zu verlieren als den uns verbliebenen Rest an Stützmasse. Ich schloß unwillkürlich die Augen. Würde sie reichen, die erforderlidien Manöver durchzuführen? Nun, ich rief die Kameraden zusammen. Ihr Vater, Irina, kam zuerst. Er war blaß, er hatte sicher nicht geschlafen, wie Perg nicht, wie ich nicht, obwohl offiziell Nachtzeit war. Lit Korn hatte, wie sidi bald herausstellte, an seinem Orientierungsgerät" gearbei tet. — Sie haben Ihren Vater nicht mehr bewußt gekannt, Irina, darf idi etwas über ihn sagen? Er hatte allgemeine Kybernetik studiert; durch seine ausgezeichneten Leistungen und Fähigkeiten gelangte er unter die Ausgewählten für das Spezialfach Raumsdiiffautomation. Seine Zähigkeit, seine Körperbeherrschung und eine hervorragende Reaktionsfähigkeit ließen ihn bald zu den Kosmonauten mit Spezialkenntnissen aufrüdcen. Übrigens — im Geräteturnen gab es selten einen Kameraden, der Lit schlug. In dieser Stunde nun fiel mir auf, daß die verflossenen Monate auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen waren. Sein ovales, sehr sym metrisches Gesicht hatte eckige Konturen erhalten; er litt, wie wir alle, unter der strengen Rationierung der Lebensmittel, die auf den genau festgelegten Arbeits-Freizeit-Schlaf-Turnus abgestimmt war, eine Regel, an die sich kaum einer hielt, obwohl jeder wußte, daß zusätzliche Ver geudung von Kräften zu Abbau- und Mangelerscheihungen führen mußte." Pratow war während seiner Worte wieder herangekommen und neben Irina stehengeblieben. „Sie sind sein Ebenbild, Irina, und ich freue mich, 17
Sie endlich kennengelernt zu haben. Darüber auch, daß Sie Kybernetikerin sind wie Ihr Vater." Seine Hand schien über ihr Haar streichen zu wollen, er unterließ es, setzte sich wieder zu uns. „Ja — und dann war da noch Jan Welar. Er hatte Aquarellmappe und Skizzenblock wohl vergessen. Sein halb verschlafenes, halb besorgtes Gesicht wirkte komisch. Wir kann ten unseren ,Dokdok', wie Ihr Vater ihn nannte, nur als einen von uner schütterlichem Gleichmut erfüllten Menschen. Ich erinnere mich — als Santos ihn zu Beginn unserer Expedition scherzhaft fragte, ob es über haupt etwas gäbe, das ihn aus der Ruhe bringen könne, hatte Jan Welar ernsthaft überlegt und dann den Kopf geschüttelt. Im Augenblick wüßte er nichts, doch er wolle, wenn ihm eine solche Möglichkeit einfiele, San tos gern davon in Kenntnis setzen. Offenbar war er jetzt doch etwas er schüttert, doch nicht, weil wir nach dem von ihm ausgearbeiteten Dienst plan zu schlafen hatten und nicht schliefen — mehr wohl, weil er erkannte, daß wir ihn, der sich an seinen Plan hielt und also aus dem Schlaf ge weckt worden war, als etwas Besonderes ansahen. Das brachte ihn aus der Fassung. Er versteckte seine Gefühle hinter einem verfinsterten Ge sicht. Unsere geringen Rationen könnten nur dann den vereinbarten Le bens- und Arbeitsrhythmus garantieren, zürnte er, wenn wir uns streng an den Plan hielten. ,Ich hielt Kontrollgänge bisher für überflüssig, da wir erwachsen sind und also verständig genug sein sollten, die Folgen zu begreifen, wenn wir die zur Erhaltung unseres Lebens beschlossene Ordnung mißachten!' Er sah mich an und fügte schroff hinzu: ,Es gibt keinen Entschuldigungsgrund]" Dann, einen nach dem anderen musternd und offenbar jetzt erst erkennend, in welcher Situation wir uns befan den, fügte er hinzu: ,Wir können natürlich beschließen, die Rationen zu verdoppeln. Damit verkürzen wir unser Leben von nunmehr noch zwan zig Monaten auf zehn.'" Der Kapitän hielt an, die Erinnerung an diesen Augenblick ließ ihn leicht nicken. „Jan Welar leitet jetzt die Medizinische Hochschule für Kosmosforschung Havanna — vielleicht denkt er auch noch zuweilen an jene Stunden. Ich verstand natürlich seinen Unwillen. Wir hatten ihm die Vollmacht erteilt, dieses Raticnierungssystem auszuarbeiten, es ga rantierte die Fortführung unserer Arbeiten bis zum letzten Tag. Jan lebte uns sein Programm gewissenhaft vor, er lebte unter der Last der Ver antwortung, die physisch und psychisch einwandfreie Funktion unserer Körper unter den schwersten Bedingungen zu erhalten — vielleicht ein erstes Mal, daß ein Arzt ein solches Programm bei sich und anderen be dingungslos durchführen mußte. Ich weiß nicht, was Lit Korn und Perg Santos in diesen Minuten dachten, in mir riefen Welars Bemerkungen etwas wie ein Schuldbewußtsein hervor. Wir lebten in einem ständigen Zwiespalt — einerseits arbeiteten und forschten wir, denn unausgespro chen war in jedem die Hoffnung, wir könnten uns retten oder würden doch noch gerettet werden, und dabei verbrauchten wir andererseits mehr Kräfte, als uns zustanden. Es konnte sein, daß einer von uns zusammen brach, dann mußte er auf Kasten der anderen eine erhöhte Ration be kommen und verkürzte damit das Leben aller. Wir besaßen aus wiederum verständlichem Pflichtbewußtsein keine Selbstdisziplin." Pratow hob die Hände. „Aber das sind Überlegungen, die wohl erst später so klar umrissen werden können. Für Santos jedenfalls gab es sie gar nicht. Vor Welars Unmut war sein Gesicht blaß geworden, er stieß mit scharfer Stimme hervor: ,Wir werden Wasser an einem eben ent deckten Kometen tanken, Welar. Du kannst nur Strafpredigten halten, daß wir unser Schicksal nicht folgsam hinnehmen. Nein, wir finden uns 18
damit nicht ab! Ich nicht! Keinen Atemzug! Ich werde beobachten, Jan, Bahnen berechnen, unseren neuen Kurs bestimmen, Jan. Dies« Nächte, alle Nächte, ich . . . ' Er taumelte, wir wollten ihn stützen, doch Welar fing ihn schon auf und trug den hageren Astronavigator in einen Sessel. Er kontrollierte Puls- und Atemfrequenz, und ohne sonderlich auf uns zu achten, zog er sein Instrumentenbesteck aus der Jackettasche, entnahm ihm eine Injektionsspritze und zwei Ampullen, es roch für Sekunden scharf nach Äther. Eine Minute verging, vielleicht mehr — es waren Augenblicke, die kein Ende zu nehmen schienen, dann traf uns Santos' grenzenlos erstaunter Blick. ,Der Komet', erinnerte er uns. Der Komat war ihm wichtiger als alles andere. Langsam erhob er sich. Jan Welar sagte mit einer Stimme, die jeden Widerstand ausschloß: ,Du wirst sechs Stunden arbeiten können und dann vierundzwanzig Stunden schlafen müssen.' Er sah uns an. Wortlos, ohne jede Gebärde verließ er uns, kam jedoch nach kurzer Zeit zurück. Er war im Lebensmitteldepot gewesen und gab nun jedem von uns eine halbe Tagesration. Schweigend aßen wir von den Traubenzuckertafeln. Damit verzehrten wir erstmalig ein Stück des vollen neunhunde-rtsten Tages, des letzten Tages des dreißig sten Monats." Wieder hielt der Kapitän inne und wandte sich dem Sehapparat zu. Wir sahen auf dem Bildschirm zwei Männer im Skaphander zum Auf bereitungsturm über dem Gas-See des Kometen schweben, dorthin, wo vorher Boris und Piet die Tankvorgänge beobachtet hatten. Dann sprach er weiter: „Perg Santos nahm seinen Platz am Teleskop wieder ein, als sei nichts geschehen. Ihr Vater, Irina, saß an seinen ky bernetischen Geräten, und ich verglich die Angaben, die ich von Santos erhielt, mit den Tabellen der Spektralanalyse. Wir hatten die von uns er forschten Kometen in verschiedene Klassen eingeteilt, je nach ihren beson deren Gehaltsmerkmalen. Die gelben bestanden in der Hauptsache aus schwefligen Zusammensetzungen, die rötlichen aus Wasser. Dieser Komet gehörte zur C-Klasse, zu den rötlichen, den vornehmlich Wasser enthalten den Kometen. Ein Glücksfall für uns. Welar hatte plötzlich wieder seinen Skizzenblock zur Hand, seine Zeichenkohle markierte mit festen groben Strichen das Observatorium und uns, die Kosmonauten, die ihr Leben verkürzten, um länger leben zu können. — Ich habe mich später gefragt, welche Gedanken die Kameraden haben mochten, gesprochen haben wir nie darüber. Wahrscheinlich waren es die gleichen oder ähnliche, mir ge nügten die eigenen. Man spricht mitunter von den großen Augenblicken des menschlichen Lebens. Diese Stunde war, wenn man nachträglich so sagen darf, die unserer Wiedergeburt." Er schwieg eine Weile, um Irina und mir Zeit zu geben. Wir waren noch nicht in eine solche Situation gekommen, doch wir besaßen beide Phantasie genug, um uns alles vorstellen zu können. Es war — das konnte ich jedenfalls von mir sagen, und Irina, bestätigte mir spätor, daß es ihr ebenso erging —, als erlebten wir mit, was Pratow uns berich tete. Er sagte: „Noch blieben wir in Ungewißheit. Würden wir mit dem restlichen Treibstoff den Kometen erreichen? Keiner von uns konnte sich auch nur einen Begriff davon machen, wie wir die Kometengase tanken Sollten. Vorerst beschäftigten wir uns damit, die physikalischen und chemischen Daten des Kometen zu erarbeiten und festzulegen. Un unterbrochen summte unser Rechenautomat, und der Spektromat stieß Diagramme über die Emissionsspektren aus. — Heute, soviel Jahre spä ter, hat jene Situation ihren einmaligen Charakter verloren", fügte Pra tow überlegend hinzu. „Sie sind Teil eines selbstverständlichen Lebens 19
und Erlebens geworden. Und dennoch: Ich konnte mich immer noch nicht davon trennen, vielleicht ist es von nun ab möglich . . . Nach den ihm von Welar zugebilligten sechs Stunden sank Santos völlig er schöpft in die Polster seines Sessels zurück. Er war am Ende seiner Kraft. Mit Welar beugte ich mich über ihn. Bleich, mit ruhelos hastenden und doch auch müden Augen sah er uns an. Leise, erschöpft, fragte er: ,Den Kometen — wie nennen wir ihn?' Den Kometen, der weitab im Unend lichen schwebte — wie wir ihn nennen wollten, fragte er. Und Ihr Vater, Irina, Ihr Vater sagte .Hoffnung.' Santos, halb schon im Schlaf, flüsterte: .Hoffnung — Hoffnung ist gut.' Wir brachten ihn in seine Kabine, wir isg ten uns selbst nieder, schliefen vierundzwanzig Stunden, schliefen mit der Gewißheit ein, daß der Komet uns nicht mehr entgehen konnte. Seine Bahnparameter lagen fest, doch wir wußten eines immer noch nicht, ob vvir ihn mit unserem Treibstoffrest, mit dem Rest der im letzten Tank vorhandenen Stützmasse, erreichen würden. Es galt erst noch, von tausend möglichen Bahnvarianten die zeitlich und energiemäßig rationellste zu finden." Pratow schwieg wieder. Ich rekapitulierte schnell, als müßte ich gleich eine entsprechende Frage beantworten, die Einteilung der Kometenbereiche: Es gibt Kometen des 20
centralen planetarischen Bereichs, deren Perihel innerhalb der Neptun bahn liegt, zum anderen jene Kometen, deren Aphel bis zu dreieinhalb Lichtjahren von der Sonne entfernt ist. In der Form der Kometenbahnen gibt es die kurzperiodischen Kometen, die nahezu kreisförmige elliptische Bahnen besitzen, und jene mit langgestreckten elliptischen Bahnen; einige Kometen besitzen auch parabolische oder hyperbolische Bahnen, auf denen sie schließlich das Sonnensystem verlassen. Natürlich setzte Pratow diese Kenntnisse bei Irina und mir voraus. „Unser Komet .Hoffnung' besaß eine langgestreckte elliptische Bahn, die nach unseren Berechnungen eine Annäherung an die Sonne von höch stens zehntausend AE zuließ. Als wir ihn entdeckten, bewegte er sich mit einer Sekundengeschwindigkeit von weniger als zehn Kilometern auf einer ähnlichen Bahn wie unser Raumschiff. Seine Bahnwerte erwiesen sich trotzdem als für uns sehr ungünstig, die Kometenfoahn ging weit an der Sonne vorbei. Ihr Vater, Irina, und Perg Santos rechneten in den nächsten drei Tagen — wir hatten uns alle durch den vierundzwanzigstündigen Tief schlaf gut erholt — jene Annäherungsmanöver durch, die uns unser gerin ger Treibstoffvorrat ermöglichte. Die Erregung begann wieder an unseren Kräften zu zehren, nur Jan Welar gab sich höchst gleichmütig, doch er besaß nicht mehr die Kraft, seine Ruhe auf uns zu übertragen. Es mochte daher kommen, daß er nicht so direkt mit dem Kometen und der in ihm verborgenen Möglichkeit verbunden war wie wir. Zehn Monate hatten wir immerhin kaltblütig das scheinbar Unabwendbare hingenommen, jetzt erblickten wir in der Ferne einen Strohhalm, und an ihn, den wif doch nur erst errechnen konnten, klammerten wir uns. Er sollte uns den Schönheiten der Erde wiedergeben, unseren Familien, unseren Kindern, unseren Freunden, dem Leben." Er schwieg. Irina hob zögernd die Hand, schob sie dann doch näher zu Pratows Hand hin. „Sie hatten Kinder?" fragte sie halblaut, Pratow be wegte den Kopf verneinend. „Wir waren erst ein gutes Jahr verheiratet, aber ich — ich liebte Heia. Ich habe sie auch später noch geliebt." Er v sagte es leise, erinnernd, beinahe wie in einem Traum. „In jenen Stunden, in denen die Ungewißheit, die Hoffnung sich in Gewißheit zu wandeln begann, ohne daß wir etwas direkt dazutun konn ten, begannen wir schon wieder über das da unten zu sprechen, über die Heimat. Einmal fragte mich Santos: ,Was wirst du unternehmen, Enke, wenn wir heil im Kosmodrom Antarktika gelandet sind?' Die Frage hatte ich nicht erwartet, dennoch schoß die Antwort sofort heraus: ,Reisen werde ich, mit Heia reisen, zum Baikal, zur Südsee — reisen.' Als wenn diese Reise ins All nicht genügt hätte, mich vorerst einmal stillsitzen zu lassen. Santos lächelte und meinte nachdenklich: ,Auf der Erde reisen — schön. Aber mir fehlen zu meiner Theorie noch mehrere tausend außer planetarische Fakten . . . ' Für ihn gab es nur die eine große Reise, die ununterbrochene wissenschaftliche Exkursion." Enke Pratow nahm das Rechengerät auf, hielt es beinahe andächtig vor sich. Dieses Raumorientie rungsgerät war heute für jeden Kosmonauten ein selbstverständliches Hilfsmittel. Schweigend blickten wir zu dritt darauf nieder, auf diese erste Ausführung, auf das Modell. Pratow sagte: „Ihr Vater hat viele Jahre daran gearbeitet, Irina. Es ist eines der Dinge, in die der Mensch all sein schöpferisches Vermögen hin eingibt. Er muß es schaffen, vielleicht aus einem auch heute noch mög lichen unbewußten Drang heraus, vielleicht, weil wir wissen, und Lit Korn sagte es einmal ja auch, daß es Situationen gibt, die unser Gehirn nur mit Hilfe der Kybernetik zu meistern imstande ist." Er legte es wieder 21
vor sich hin. „Bei unseren Versuchen bewährte sich dieses Gerät aus gezeichnet. Die Ergebnisse dieser immerhin doch kleinen Maschine be wiesen, daß sie ein Meisterwerk menschlichen Erfindergeistes war. Lit Korn hatte mehr als drei Millionen molekular-elektronischer Zellen, Bau kastenelemente, in mühsamer Arbeit zusammengefügt, unablässig kombi nierend und probend. Er wollte vor allem erreichen, daß dieses Gerät auch Bewegungen sichtbar machte, die für das menschliche Bewußtsein nicht mehr wahrnehmbar sind, es arbeitete mit einem außerordentlich geringen Energieverbrauch. Na, das ist Ihnen ja bekannt. — Lit und Perg gelang es schließlich, mit den Bordrechenautomaten die im Bereich unserer Mög lichkeiten liegenden Flugmanöver festzulegen und das Programm für den Steuerautomaten auszuarbeiten. Damit endete sozusagen die erste Stufe unseres Rettungsmanövers." Mit einer sachten Bewegung schob Pratow das kleine Gerät wieder zu Irina hin. Vorher, im Observatorium der BREDICHIN, als er Irina das Gerät überreichte, übergab er mit einer fast eleganten Gebärde ein Geschenk. Jetzt trennte er sich, so kam es mir vor, von einem Teil Beines Selbst. Er richtete sich wieder auf. „An diesem Tage begannen nach zwölf Monaten die Raumschifftrieb werke wieder zu arbeiten. Wir saßen geradezu andächtig in dem halb kreisförmigen Kommandoraum, vernahmen das Vibrieren des mächtigen Raumschiffkörpers. Der Maschinenblock, seit einem Jahr tot, schien mit seiner großen Schalttafel zum Leben erwacht, ein Stück unseres eigenen Lebens. Die Signallämpchen glühten, wir beobachteten das Spiel des weißen, roten, grünen, gelben, blauen Aufleuchtens und Verlöschens. Fast begierig folgten wir den über die Skalen pendelnden Instrumentenzeigern, griffen nach den Zahlenstreifen und Diagrammen, die die Informatoren ausstießen. Wenn ich die Freunde betrachtete, schien mir, der vertraute und so lange entbehrte Arbeitsrhythmus der Aggregate stärkte uns mehr als die kärgliche Tagesration, die Welar uns zubilligte. Wir lebten auf, und selbst Santos fand seinen Humor wieder." Über Pratows Gesicht huschte ein Lächeln. „Er kramte vergessene, vor fünf Jahren, zu Beginn unserer Expedition erzählte Anekdoten heraus. Hoffnung war wieder da, der Komet trug seinen Namen zu Recht, schien mir. In diesen aufregenden Tagen, und es blieb keiner von dieser ihn durchrüttelnden Erregung bewahrt, begriff ich, wie weit wir uns in diesem Jahr der Hoffnungslosigkeit gewandelt hat ten, fast unmerklich hatten wir uns von uns selbst entfernt. Nun began nen wir zu uns zurückzukehren, und dabei war unsere Rettung doch durchaus noch nicht sicher. Wir wußten nicht, ob uns eine Übernahme der Kometenmaterie mit den primitiven Hilfsmitteln gelingen würde — aber unsere Hoffnung funkten wir zur Erde. Jetzt, da wir unsere Flug bahn und Geschwindigkeit der des Kometen anpaßten, gaben wir die Möglichkeit auf, jemals wieder in befahrene Planetenräume zu kommen. Doch selbst solche Gedanken konnten unsere Hoffnungen nicht schmälern. Es ist offenbar ein Naturgesetz, daß der Mensch seine phantastischsten Träume verwirklichen muß, selbst wenn er weiß, daß sich dieser Reali sierung scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen." Der Kapitän hatte recht, wenn man die technische Entwicklung der Menschheit betrachtete: Vor vierhundert Jahren fanden das erste Dampf schiff und die erste Eisenbahn ebensoviel Bewunderer wie Spötter. Hun dertfünfzig Jahre später verbannten noch zahlreiche ernsthafte Wissen schaftler den Weltraumflug des Menschen in das Reich der Utopie. In jenen Tagen, da Kapitän Pratow uns an Bord der CURTOS, die neben der 22
BREDICHIN am Kometen „Lindner II" lag, diesen Bericht von dem Kampf gab, den vier Menschen mit sich selbst und der Unendlichkeit des Universums führten — in jenen Tagen gab es einen erbitterten wissen schaftlichen Meinungsstreit um das Problem der Überlichtgeschwindig keit. Dabei war durchaus bewiesen, daß Partikel, die mit ihrer Masse das Photon millionenfach übertrafen, in festen Körpern, in Flüssigkeiten und in Gasen höhere Geschwindigkeiten erreichen können als das Photon. Warum sollte also die Überlichtgeschwindigkeit im Vakuum nicht erreich bar sein? Pratow erzählte weiter: „Perg Santos war von den wieder arbeitenden Triebwerken am meisten erschüttert. Er gab sich zweifellos Mühe, seine Erregung hinter Geplauder und Scherzen zu verbergen, war wieder der Lustigste und Unterhaltsamste wie bei Expeditionsbeginn, doch ich ahnte und fürchtete, daß sein jetzt so lebhaftes Wesen beim Scheitern unseres Vorhabens in eine gefährliche Depression umschlagen könnte. Er, der als Astronom vielleicht die klarste Vorstellung von den riesigen Ausmaßen des Universums hatte, suchte unwillkürlich und unablässig nach einem Weg, der es der Menschheit ermöglichte, von dem noch Unbekannten Besitz zu ergreifen. Im neunzehnten Jahrhundert konnten noch Chemiker und Physiker beweisen, daß der Atomkern unteilbar sei, einfach weil es ihnen an den für die Spaltung nötigen technischen Hilfsmitteln fehlte. Wir vermögen gegenwärtig noch nicht, die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitation im Weltraum zu messen, auch die Entstehung der Gravita tion ist noch weitgehend unerforscht. Wir kennen nur ihre Wirkung, die der mächtigsten Urkraft, die die Materie in allen Zustandsformen zu solch komplizierten Gebilden ordnet, wie es Sonnensystem, Sternhaufen, Dunkelnebel, Galaxien, Nebelhaufen und Übergalaxien sind." Irina warf schnell ein: „Der Neandertaler kannte auch nur die Wirkung von Blitz und Donner. Nicht, daß wir sozusagen moderne Neandertaler wären, durchaus nicht, aber diese Wissenslücken, die Sie eben schilder ten, Kapitän, machen es auch unmöglich zu behaupten, die Lichtgeschwin digkeit sei die absolute Geschwindigkeit im Weltraum, wie man das noch vor hundert Jahren annahm." Ich fügte, meine vorigen Gedanken vollendend, Irinas beinahe leiden schaftlichen Worten hinzu: „Wir können von der Lichtgeschwindigkeit der zeit nur als der uns bekannten Höchstgeschwindigkeit von Photonen im gasleeren Raum sprechen. Es ist unmöglich, unser wissenschaftliches Bild von den Kernkräften für abgerundet oder gar abgeschlossen zu halten." Pratow nickte zustimmend und, wie mir schien, innerlich erfreut über unsere schnellen Reaktionen. „Diese Fragen berührten Perg Santos am meisten. Er sagte einmal, für ihn hinge von der Lösung dieser Frage durchaus nicht die Seligkeit ab, trotzdem beschäftige sie ihn unablässig . .. Doch zurück zu unserem Flug. Die Triebwerke unseres Raumschiffes blieben nur für einige Stunden in Betrieb, bis die Bahnkorrektur vorgenom men worden war. Dann näherte sich unser Schiff allmählich dem Kometen. In etwa zwei Wochen waren wir auf eine halbe Million Kilometer heran. Das war die eine Seite unseres Vorhabens, wir kamen dem Kometen näher, doch was geschah, wenn wir ihn erreichten? Ich wußte, wir brauch ten vor allem ein Verfahren, um die benötigte Kometenmaterie zum Raumschiff ziu transportieren. Im Teleskop zeigte sieh, daß ausreichende Mengen zu Schnee erstarrten Wassers im Kometenkern enthalten waren. Bei den Untersuchungen an anderen Kometen hatten wir feststellen kön nen, daß häufiger, als früher angenommen wurde, die Gase ein mehr oder Weniger homogenes flockenartiges Gemisch darstellten. Wir mußten also 23
die leichtflüchtigen Stoffe erwärmen und gleichzeitig Stickstoff, Ammo niak, Kohlendioxid, Dizyan und andere Gase abtrennen." „Das übrigbleibende Kometenwasser konnte dann als Stützmasse ver wendet werden, denn Kernbrennstoff war ja noch vorhanden." Ich kam mir, als mir diese Worte herausgeschlüpft waren, höchst naseweis vor, denn Pratow und seine Kameraden befanden sich in einem Raum schiff, das mit derartigen Anlagen nicht ausgestattet war. Der Kapitän konnte auch ein leicht spöttelndes Lächeln nicht verbergen, sprach jedoch ganz ruhig weiter: „Lit Korn begann nach meinen An weisungen mit zwei Hilfsrobotern einen Schlauch zu kleben, der natür lich, da er der Weltraumkälte ausgesetzt war, ständig erwärmt werden mußte. Das war um so komplizierter, als wir ja in einem gewissen Ab stand vom Kometen bleiben mußten. Die Ersatzmotoren der Klimaanlage wurden zu Kompressions- und Verdichteranlagen umkonstruiert. Und 60 hoftte ich mit Ihrem Vater, Irina, zu der für unsere Triebwerke nötigen Stützmasse zu gelangen. — Und dann geschah, ich möchte sagen, das Unerwartetste: Während Lit, Perg und ich mit diesen — sagen wir — ,Ba stelarbeiten' beschäftigt waren, betrat eines Tages Jan Welar das Labor. Einige Zeit sah er mir stumm zu, wie ich Stromstärken und Gasausbeuten mit den mir zur Verfügung stehenden Kompressions- und Kühlanlagen in Übereinstimmung zu bringen suchte. Dann trat er einen Schritt näher, als wollte er mir helfen oder mich allein durch seine Anwesenheit unter brechen, und fragte ganz abrupt: ,Enke — besteht die Möglichkeit einer Nahrungsmittelsynthese ?"' Pratow blickte Irina und dann mich an, hob eine Hand. „Nahrungs mittelsynthese — ein geradezu tollkühner Gedanke, der beinahe noch die Entdeckung des Kometen und die Idee, an ihm zu tanken, übertraf. Nahrungsmittelsynthese war auf der Erde in entsprechend eingerichteten Laboratorien und mit den vorhandenen Grundstoffen etwas Selbstver ständliches. Welar dachte, sie könnte aus Kometengasen vorgenommen werden. Ich sah Ihn an, blickte zu Ihrem Vater hinüber. Lit Korn nickte und meinte, ich solle nur mit Welar gehen, die Arbeiten am Schlauch schaffe er mit den Robotern allein. Ich saß nun mit Welar vor diesem neuen Problem. Die Kometensubstanzen zu gewinnen war möglich, doch die in der natürlichen Nahrung enthaltenen lebenswichtigen Spurenstoffe fehlten. Unser Vorrat an Vitaminkomplexen und Mineralsalzen war nicht sehr reichhaltig, doch er konnte uns nach Welars Berechnung zusammen mit synthetischer Nahrung für zwei weitere Jahre am Leben erhalten. Und nun geschah etwas — ich weiß jetzt nicht genau, wie ich sagen soll: Einmal von diesem Gedanken synthetischer Nahrung erfaßt, der nur kom men konnte, wenn wir oder weil wir den Kometen und seine Gase für uns auszubeuten entschlossen waren — einmal von diesem Gedanken also erfaßt, konzentrierten sich alle anderen darauf, diese Möglichkeit zu ver vollkommnen. Unser Raumschiff, seine Innenausstattung, sein Inventar, selbst die Schutzwände — alles wurde einer eingehenden Prüfung unter zogen, ob es sich in Nahrungsmittel umsetzen ließ. Welar entdeckte, daß die Liegen in der Krankenstation mit einem Zellulosefaserprodukt gepol stert waren — im Zeitalter der Synthesefasern eine geradezu lächerliche Rückständigkeit, die wir jedoch mit buchstäblich lautem Jubel begrüßten. Das waren reichlich hundert Kilo Zellulose; wir trugen die gleiche Menge altertümliches, zellulosehaltiges Papier zusammen, die darauf befindlichein Notizen mußten umgeschrieben werden, und schließlich fanden wir noch Holzteile in verschiedenen Einrichtungsgegenständen, die in Holzzucker umgewandelt werden konnten." 24
Der Spreehapparat summte, Pratow drückte die Taste, fragte, was sei. Ich hörte die Stimme unseres Kochs. „Sie haoen Besuch, Kapitän, ist es recht, wenn ich einen kleinen Imbiß in Ihre Kabine bringen lasse?" Pratow fragte uns: „Einen Imbiß — ich würde vorschlagen, wir kommen erst mit unserem Gespräch zu Ende. Oder wünschen Sie etwas, Irina?" Sie lehnte a b : „Nein, durchaus nicht." Pratow sagte dem Koch: „Schönen Dank, Isio, ich rufe später, und dann machen Sie bitte etwas mehr als einen kleinen Imbiß, ja?" Zu uns gewandt, sagte er lachend: „Man braucht nur von Nahrungs mittelsynthese zu sprechen, gleich schaltet sich Isio ein, als gebe es eine entsprechende Gedankenverbindung zur Küche. — So einfach war es da mals nicht. Welars Gedanke zeigte erst einmal, daß er nun doch offenbar von uns angesteckt worden war, auch er mußte nun grübeln auf seinem Gebiet. Ich will nicht sagen, daß unsere Aufgaben restlos gelöst waren, aber wir waren doch mit. allem soweit, daß wir in kürzester Zeit die Ergebnisse unserer Arbeit am Kometen in der Praxis überprüfen konnten. Welar und ich stellten in der nächsten Zeit eine Unmenge theoretischer Erwägungen an. Manches davon mußten wir gleich wieder von unserer Liste streichen, so auch den Gedanken, die üblicherweise mitgeführten Getreide- und Hülsenfruchtsaaten in einem Hydroponikgarten zu vermeh ren; dazu brauchten wir am Ende der Züchtungen mehr Anbaufläche, als ein Dutzend Raumschiffe abgeben könnten. Der eine und andere Gedanke würde sich wahrscheinlich verwirklichen lassen, sobald wir den Kometen erreicht hatten und es sich erwies, daß wir in der Lage waren, ihn und seine ungeheuren Vorräte zu beherrschen. Vorerst blieben Welars Ideen nicht mehr als eben einer jener Träume, die der Mensch verwirklicht, ob wohl er ursprünglich darüber gelacht hat. An Lachen dachten wir jedoch nicht." Pratow war während der letzten Worte wieder aufgestanden, er be wegte sich sacht und etwas schwer, wie er immer tat. „Dann kam der Tag, an dem uns nur noch Kilometer vom Kometen trennten. Perg Santos hatte seinen Durchmesser bereits mit zweihundert Kilometern errechnet und seine Masse zu sechstausend Milliarden Tonnen bestimmt. Bisher hatten wir unsere Forschungen immer von Bord des Raumschiffes aus vorgenommen, diesmal sollte und mußte einer von uns die Kometen oberfläche betreten, wenn von einem Betreten im irdischen Sinne gespro chen werden konnte. Unser Plan war, zunächst mit einem Wärmestrahler eine bestimmte geringe Menge Kometenmaterie gleichmäßig auf zwei hundert Grad Kelvin zu erwärmen, dadurch würden, da der Gasdruck an der Oberfläche gering war, alle flüchtigen Substanzen verdampfen und das von uns begehrte Wasser übrigbleiben. Dieses weiter erwärmte Rohwasser ließ sich verflüssigen und sollte durch unseren Spezialschlauch angesaugt werden. Dazu mußte er, wie schon erwähnt, ständig erwärmt werden. Diese Arbeiten am Kometen sollte ich übernehmen." Enke Pratow hatte zuletzt langsam gesprochen, als verliere er sich in seinen Erinnerungen. Mein Blick fiel auf die Uhr. Wir saßen schon Stun den beisammen, und es schien mir seit dem Abflug von der BREDICHIN doch erst — nicht gerade Minuten, nein, aber doch viel weniger Zeit ver gangen. Pratow kam an den Tisch zurück, schaltete das Sehgerät ein. Die beiden Kameraden über dem Kometen schlössen den Ansaugschlauch an den Saugstutzen über dem Gas-See an. Sie schwebten auf und nieder, hin und her, es sah aus, als bewegten sie sich in einem ungefährlichen Spiel. Pratow nickte vor sich hin, schaltete den Apparat wieder aus. 25
„Heute scheint diese Arbeit beinahe leicht, obwohl sie immer gefährlich bleibt und die Männer draußen unter ständiger Kontrolle bleiben müssen. — Ich werde nie die Minuten vergessen, bevor ich die Luftschleuse betrat. Perg Santos war voller Hoffnungen und Zuversicht, er strotzte förmlich vor Sicherheit, wünschte mir Glück im Kosmos. Ihr Vater, Irina, reichte mir plötzlich sein kleines Gerät. In den letzten Tagen hatte ich mehrmals damit gearbeitet und dabei seine — seine Meisterschaft bewundern müs sen. Jetzt sollte es eine. Probe ablegen, die Ihr Vater ihm in sicher nicht nur berechtigtem! Erfinderstolz zutraute. Sein Vertrauen in das Gerät kam vor allem aus der Sicherheit des Wissenschaftlers, der weiß, daß jedes einzelne Bauteilchen durch seine Vollkommenheit dem Ganzen die höchste Gebrauchseffektivität gibt. Jan Welar musterte mich kritisch, bevor er mir die Hand fast zerdrückte. Er schien nicht ganz befriedigt. ,Zu auf geregt, viel zu aufgeregt', mahnte er tadelnd. Später, viel später erinnerte ich mich, daß in diesen wenigen Worten nicht nur ein besorgter Unterton geschwungen hatte. Ich meinte auch, er habe gezögert, ehe er mich in öie Luftschleuse schob. Seine letzten Worte waren: ,Vergiß nicht, daß du uns nicht nur ohne Kapitän, sondern auch ohne Chemiker zurückläßt.' Ich nickte zu Welars Worten wohl nur noch mechanisch, über diesen Satz vermochte ich nicht einmal nachzudenken, die letzten zwei Wochen waren aufreibend gewesen. Immer neue Gedanken und Pläne waren zwischen der Arbeit bei uns aufgetaucht, und manches davon mußte um jeden Preis realisiert werden, ohne sonderliche Rücksicht auf unsere Kräfte. Es waren Aufgaben, von denen jetzt schon mehr abhing als unser Leben. Und wir waren schließlich nur vier Menschen, wir besaßen nur vier Mensehenhime. Die mußten mehr schaffen, als unter gewöhnlichen Verhältnissen zumutbar, doch wiederum waren ja die außergewöhnlichen Verhältnisse der Raumfahrt unsere gewöhnlichen Verhältnisse. Später, nachher, da wußte ich, daß mir zehn Stunden Schlaf fehlten. Doch das Ergebnis war da, der Komet lag neben uns, die Realisierung unserer Pläne mußte begonnen werden, das eine folgte aus dem anderen. Möglich, daß Welar ahnte, in welcher Verfassung ich mich befand, doch auch er wagte nicht mehr als eine halbe Andeutung. Er schob mich in die Luftschleuse, zögernd, gewiß, aber doch auch wohl, um der letzten Ungewißheit end lich ein Ende zu machen. Die Verantwortung für alles kommende Ge schehen blieb mir überlassen. Nun — ich flog wie eine Feder zu dem Kometen hinüber. Ich stürzte gegen eine Landschaft, gegen ein Terri torium, möchte ich sagen, das zweihundert Kilometer lang war. Ich war — nun ja, nicht mehr als ein winziger Pollen Blütenstaub über diesem im unendlichen Leeren schwebenden riesenhaften Gebilde. Der Komet schimmerte in einem schwachen Blauweiß. Ich hielt wie eine Schnur, die mich mit dem Raumschiff verband, den Saugstutzen unseres Plaste schlauchs in der Hand. Der Rückstoßmotor in meinem Skaphander arbei tete in sanften Stößen. Erst langsam, dann beängstigend schnell rückten die kalten Festgasmassen mir entgegen. Der Komet wurde eine Scheibe. Gab es eine Gravitation bei ihm, ein Oben und Unten? Ich warf einen Blick zurück, ein phantastisches Bild bot sich mir: unser Raumschiff, zweihundert Meter lang, am tiefschwarzen Kometenhimmel wie ein silber ner Pfeil glänzend. Und unter mir nun schon die matt blauweiß leuchtende, stark gekrümmte Oberfläche des Kometen, die sich scheibenartig verbrei terte, mit dem eigentümlich nahen Horizont kleiner Himmelskörper, und grell der Übergang zwischen Komet und Kometenhimmel. Das waren die ersten schnellen Eindrücke . . . " Pratow nickte mir mit kleinem Lächeln zu. „Ich kann durchaus verstellen, Frank, daß der Journalist in Ihnen Lust 23
verspürt, den ,Lindner II' da draußen mit eigenen Händen zu berühren — es steckt eben in jedem von uns die Neugier des Forschens, »des Wissen möchtens. Doch es ist besser, wenn Sie die Hände davon lassen, glauben Sie mir!" Er hob die Hand, auf den Bildschirm deutend. „Der ,Lindner II' hat ja wohl etwa fünfzig Kilometer Länge. Unser Komet .Hoffnung' maß rund zweihundert Kilometer, den Wassergehalt hatten Wir auf mindestens achthundert Milliarden Tonnen geschätzt. Um unsere drei Stützmasse tanks zu füllen, genügten hunderttausend Tonnen. Diese eine kosmische Tankstelle würde also ausreichen, weitere achthunderttausend Raum schiffe für den Weiterfkig zu rüsten. Es ist einerseits so eine Art Spiel mit Zahlen, andererseits zeigen diese Zahlen aber auch, welche gigantischen Reichtümer der Kosmos bärgt. Sicher hatte ich damals diese Gedanken nicht, jedenfalls nicht so klar, schließlich mußte ich meine Aufmerksam keit dem Flug zuwenden. Aus nun geringerer Entfernung erkannte ich auf der Kometenoberfläche deutlich eine staubfeine Substanz. Einzelne blasenartige Hügel, wenn man das so bezeichnen konnte, ließen darauf schließen, daß der Koloß vor was weiß ich wie vielen Millionen Jahren mit den Gravitationsfeldern eines Großplaneten in Berührung gekommen 27
sein mußte, und nur seine eigene Bahnenergie mochte ihn vor der Ge fangenschalt bewahrt haben." Mit einer sachten Gebärde strich Kapitän Pratow über sein aschgraues Haar, wieder den -winzigen Zug eines erinnernden Lächelns in dem breit flächigen Gesicht. „Wißt ihr", sagte er langsam, ohne uns anzusehen, „ich habe früher nie gewußt, was richtige Angst ist, ich weiß es auch heute nicht — nicht mehr. Mit vierzehn Jahren bin ich durch den Amur ge schwommen, bei Chabarowsk. Ich hab vorher nicht überlegt, ob meine Kräfte ausreichen würden. Leichtsinn, gewiß. Als Chemiestudent experi mentierte ich einige Zeit mit älteren Raketentreibstoffen — eine höchst explosive Angelegenheit! Aber Angst — ich weiß nicht. Später durfte ich als Copilot Raketen zum Mond, zum Mars und zur Venus steuern, und auch ein Skaphanderaufenthalt im All war nichts Ungewöhnliches. Ich will sagen: Mit allem Wissen unserer Zeit habe ich mir wohl jene Na ivität erhalten, mit der ich durch Iden Amur schwamm. Doch das nur nebenbei. Ich besaß genügend Erfahrungen im Schätzen von Entfernun gen und Geschwindigkeiten, bremste also auch jetzt meinen Flug routine mäßig und — versank doch bis über den Kopf in der überaus leichten, pulvrigen Masse." Pratow begleitete die letzten Worte mit einer Kniebeuge, um uns sein Verschwinden im Kometen anzudeuten. Es war für mich erstaunlich, daß seine Prothesen, mit denen er sich doch sonst sacht und fast schwer be wegte, diese beinahe sanften Bewegungen gestatteten. Ich hatte mich noch nie mit der Arbeitsweise künstlicher Gliedmaßen beschäftigt, wozu auch, jetzt bemerkte ich fast verwundert, Wie der Federniechanismus im Knie gelenk es Pratow ermöglichte, derartige Übungen zu machen. Dieses Auf merken war jedoch mehr nebenbei in mir, denn ebenso wie Irina wartete ich gespannt und erregt auf Pratows Erlebnis am Kometen. „Natürlich versuchte ich sofort die Kometenoberfläche wieder zu errei chen, aufzutauchen, ruderte mit Armen und Beinen. Vor Überraschung mußte ich bereits den Schlauch losgelassen haben, der mir ja gewisser maßen als Sicherheitsleine dienen sollte. Es kam mir vor, als wenn ich immer tiefer in den gewichtlosen Stoff hineinruderte, tiefer glitt. Offenbar besaß der Komet doch eine sehr geringe, aber wirksame Gravitation. Die Funkverbindung Bum Raumschiff riß ab, doch das störte mich nicht, auch nicht, daß es kühl wurde im Skaphander. Ich meine, feuerst sogar etwas wie Spaß daran gehabt zu haben, eine Art naiver Freude wohl, oder besser: Es mochte das Triumphgefühl sein, den Kometen erreicht und schon besiegt zu haben. Ich befand mich nicht in einer Art Schnee wolke, dicht wie ein Bett, eher in einem unendlichen Trichter Seifen schaum, und darin schwebte ich." Pratow hielt inne, die eindringliche Schilderung, diese Erinnerung schien ihn zu erschöpfen. Er ließ die Hände am Körper niederhängen. Irina sagte -impulsiv: „Bitte, Kapitän — hören Sie auf, es ist nicht nötig, daß Sie uns dies alles erzählen. Ich habe ja nicht ahnen können, 'was sich alles hinter jenem — jenem Ereignis ver barg. War quälen Sie. Bitte." Sie stand auf und trat zu ihm. Der Kapitän wandte sich ihr zu, sein Gesicht hellte sich auf, er hob ihr die Hände entgegen — es war die Gebärde eines Vaters, der die Toch ter nach langer Trennung wiedersieht. „Ich quäle mich nicht, Irina. Es ist gut, daß ich Ihnen dies alles erzählen kann. Es hat mich, ehrlich gesagt, im mer wieder belastet in all den Jahren, daß ich mich nicht von einer Art •Schuldgefühl befreien konnte, wenn ich eine besondere Verantwortung übernehmen mußte. Es hängt vielleicht zusammen, dieses Freisprechen von der Erinnerung und das Begreifen, damals hast du unverantwortlich gehau 28
delt. Unverantwortlich, weil mir zehn Stunden Schlaf fehlten. Später, viel später wußte ich es. Seitdem habe ich mich immer wieder bemüht, einen Zustand völlig beherrschter schöpferischer Kräfte zu haben, ehe ich ent scheidende Schritte unternahm. Und dann: Ich habe die Pflicht, Ihnen das 'alles zu schildern — auch Ihretwegen. Kommen Sie, ich setze mich wieder zu Ihnen. Und — Frank will doch auch alles genau wissen", er nickte mir zu, ich hörte den leisen Spott 'seiner Worte, „sonst springt er (uns doch noch in den ,Lindner II'." Die kleine Pause genügte, jedem von uns einen gewissen Abstand zu verschaffen. Abstand auch zu jener Phase von Pratows Bericht, in der wir unwillkürlich wie Examinanden gedacht und gesprochen hatten. Zwischen uns wieder sitzend, ruhiger nun auch, fuhr Pratow fort: „Es mußten Stunden vergangen sein, vier oder fünf, wie ich an meinem Sauerstoffverbrauch abschätzen konnte. Ich versuchte dieses Gaspulver bald in dieser, bald in jener Richtung zu durchstoßen. Ich schaltete mein Rückstoßgerät ein, ließ mich treiben, ob nach oben oder unten, nach vorn oder zurück, das wußte ich nicht mehr. Der Treibstoffvorrat er schöpfte sich, und jetzt meldete sich das Niegespürte in mir, die Angst. Ich glaubte bis dahin, ruhige Bewegungen ausgeführt zu haben, jetzt be gannen meine Gedanken wirr durcheinanderzulaufen. Der Treibstoff, die Kälte, die ich plötzlich spürte — auch die innere Skaphandertemperatur sank —, ich bemerkte, daß ich allmählich empfindungsloser wurde. Mit einemmal schlug ich wie toll um mich." Er unterbrach sich. „In der Schil derung historischer Schiffskatastrophen gibt es jene Panikstimmung, die mir nur als Massenpsychose erklärlich war. Ich war allein und befand mich nun auch in einer solchen Panikstimmung. Ich schlug um mich, kämpfte mit dem Ungeheuer Komet, mit dieser pulvrigen Masse, die mich nicht freigab. Langsam kam ich jedoch wieder zur Vernunft. Wahrschein lich nicht, weil mein Hirn den Widersinn nicht mehr mitmachte, sondern einfach, weil ich erschöpft war, meine letzte Kraft verbraucht hatte. Die im Skaphander vorhandene Wärme war durch die mich umgebende Kälte verbraucht, ich war wie gelähmt." Mit beiden Händen strich Pratow über sein Gesicht, als spüre er jetzt wieder die Empfindungslosigkeit. Er blickte mich an. „Später, als ich mir dies alles wieder zu vergegenwärtigen vermochte, wußte ich, was Angst und Verzweiflung sind. In einem Augenblick unwahrscheinlicher Klarheit erkannte ich jedoch: Niemand kann dich retten! Noch zwei Stunden, dann wäre ich ein unscheinbares Partikelchen in dieser gigantischen Kometen masse, achtzig Kilo organische Substanz in sechs Billionen Tonnen Fest gas. — Nicht einmal die Pharaonenkönige konnten ein so riesiges Grabmal aufweisen wie der erste Mensch, der einen Kometen betreten hatte", über legte er mit schwerem Lächeln. „Als Stück erstarrter Materie würde ich mit beträchtlicher Geschwindigkeit Jahrmillionen hindurch einige Male das ganze Planetensystem durchfliegen. — Eine unverdiente Extrazugabe", meinte er mit leichter Ironie. „Man sage nicht, solche Überlegungen kämen in einer derartigen Si tuation nicht. Geradezu groteske, für die Situation groteske Bilder und Erinnerungen kamen mir. Ich befand mich plötzlich in dem ländlichen Haus meiner Kindheit in Chabarowsk, einem altertümlichen Ziegelbau aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Ich sah .mich dort am Fluß spielen, sah meine Mutter, meine Großmutter. Ich saß mit Freunden auf der ab schüssigen Wiese am Stromufer, vor uns dehnte sich der graublaue, fen sterlose Kunststoffbau der Konservenfabrik. Ich erkannte die Rohre und Platten elektronischer Fanganlagen, mit denen die industriemäßig gezüch 29
teten Störe und Karpfen aus dem Fluß gesogen wurden. Ich sah Wein berge und Obstplantagen, die Luftkissenboote kamen vorbei, wir spielten mit Muscheln — selbst die Schule tauchte auf..." Pratow strich mit beiden Händen über den Tisch, als wolle er diese Bilder v/ieder aus löschen. „Vielleicht menge ich doch jene Sekundenbilder mit mir jetzt bewußt werdendem Nacherlebtem — immerhin, ich sah plötzlich meinen Lehrer vor mar stehen, doch er hatte das Gesicht oder doch die Stimme Jan Welars. Und ich hörte, wie er sagte: .Vergiß nicht, daß du uns nicht nur ohne Kommandanten, sondern auch ohne Chemiker zurückläßt.' Ohne Chemiker — es gab eine in dieser Situation geradezu absurde Ge dankenverbindung: die Nahrungsmittelsynthese! Und ausgerechnet dieser Gedanke zwang mich, die Augen zu öffnen. Da glaubte ich zu erkennen, daß dieses blauweiße Gaspulver langsam an mir vorbeizog, ich vermutete ein Oben und Unten, und mit einem Male war ich hellwach. Der erste klare Gedanke war: Sollte es doch eine Gravitation geben? Mir fiel das 30
Gerät Lit Korns ein, es war nicht eingeschaltet." Pratow deutete zu dem kleinen Rechner, der vor Irina lag; sie schob ihn zu ihm. „Ich war zu Tode erschöpft, doch das Gehirn arbeitete präzis. Lits Orientierungsgerät konnte an Hand einer noch so winzigen Kristallbewe gung die Kernrichtung, also das Oben 'und Unten bestimmen. Natürlich hätte ich von Anfang an damit arbeiten müssen, doch der Sturz in die Kometeramatsse, der Triumph zugleich, ihn erreicht zu haben, aber auch wohl der fehlende Schlaf, der Mangel an Ruhe — all dies mußte meine Reaktionsfähigkeit eingeschränkt haben. Jetzt fügte ich einen Gedan ken an den anderen. Ich suchte den kleinen Bedienungsknopf, versuchte ihn herabzudrücken, aber die starren, schmerzenden Finger, noch dazu in der Skaphanderhülle, versagten den Dienst. Doch ich mußte es schaffen, ich begriff, daß von diesem winzigen Fingerdruck das Leben von vier Menschen abhing. Es glückte mir auch — ich weiß nicht, wie lange ich mich abgequält habe. Als am Gerätekopf die Lichter des künstlichen Gesichtskreises aufglommen, kam eine seltsame Ruhe über mich. Ich schaltete den Rückstoßmotor meines Skaphanders ein, stellte ihn in die vom Gerät bestimmte Richtung und schwebte aufwärts. Zugleich schaltete ich den Wärmestrahler ein, mir wurde etwas wie ein Rauschen bewußt, das erste Geräusch, seit ich das Raumschiff verlassen hatte. Es mußte wohl von dem sich um mich bildenden Wasser kommen, doch mehr zu denken war mir nicht mehr möglich, die Kräfte verließen mich völlig. Ich wehrte mich zwar gegen diese Müdigkeit, begriff noch, daß ich auf tauchte, nahm den Kometenhimmel wahr und sah auch etwas Helles, Silbernes an mir vorüberfliegen, ein Stück verirrter Materie wohl — dann war alles weg. Als idi wieder zu mir kam, befand ich mich an Bord der ZIOLKOWSKI. Jan Welar hatte mich hereingeholt." Enke Pratow lehnte sich erschöpft zurück. Irina legte die Hand leicht, beinahe zärtlich auf die Pratows. Leise fragte sie: „Der silberne Pfeil war..." Er nickte. „Es war Lit Korn, Ihr Vater, Irina. Er war mir gefolgt. Wir sahen ihn nie wieder." Pratow atmete tief auf. „Vielleicht verstehen Sie, warum ich mich drüben auf der BREDICHIN ins Observatorium zurück gezogen hatte. Der Komet und die beiden Männer über ihm — das bleibt für mich immer wieder etwas ganz Großes. Nicht, daß ich etwa das Ge fühl haben könnte: Du hast das zuerst getan, Pratow — das nicht. Es ist die Bewunderung und die Sorge um die Männer da draußen." Er sah uns an. „Es bleibt nicht mehr viel zu berichten. Welar hatte mich an Bord ge holt. Er mußte mich operieren, die Beine waren abgefroren. Jan und Perg schufen mir dann die Möglichkeit, ohne Beine meine Arbeit zu tun. Mich gesund machen, das war für beide die erste Aufgabe. Wir mußten wenig stens tau dritt sein. Es dauerte noch Wochen, bis wir mit unseren behelfs mäßigen Anlagen Wasser tanken konnten. Alles war primitiv, wir waren so etwas wie Robinsons. Es gelang uns auch, von den vielen Ideen We ist« zur Nahrungsmittelsynthese so viel zu verwirklichen, wie wir zur Auffüllung unserer Vorräte benötigten. Schließlich konnten wir den Ko meten verlassen, dem wir den Namen Ihres Vaters gegeben hatten. Zwei Jahre später erreichten wir die Erde." ..Eine Bitte, Kapitän. Meine Mutter ist fern, sehr fern, ich weiß auch nicht, ob sie mich, ob sie uns verstehen würde, doch ich möchte Sie bitten zu vergessen, daß meine Mutter Ihnen nie Gelegenheit gab, dies zu er zählen." „Ich bin froh, Irina, daß Sie mir die Gelegenheit gaben.". 31
Mit einem kurzen Blick in das Fernsehgerät überzeugte sich Pratow über den Fortgang der Tankarbeiten. Dann sagte er: „Es mag übertrieben sein, doch die beiden Männer da draußen haben vor ihrem Flug zum Ko meten zehn Stunden absolute Ruhe gehabt. Ich lasse nicht davon ab." Dann geschah etwas für mich völlig Unerwartetes. Irina sagte: „Jetzt habe ich einen Wunsch, Kapitän — würden Sie mich an Bord der CURTOS' nehmen, vorausgesetzt, Kapitän Valois von der BREDICHIN und die Leit stelle Antarktika sind einverstanden? Es wäre sicher ein Tausch mit einem Kameraden möglich." Ich vermochte wirklich nichts au sagen. Nur daß Irina lächelte, nahm ich wahr. Pratow sagte: „Sicher — warum nicht. Nur dürfte es wohl nicht Frank sein, den wir an die BREDICHIN geben. Mir würde es eine große Freude sein, Irina." Es gab Schwierigkeiten. Weder Kapitän Valois noch die Leitstelle waren sofort mit einer solchen Auswechslung einverstanden, doch Enke Pratow setzte sich sehr dafür ein und verstand es, sich, Irina und mir diesen Wunsch- zu erfüllen. So flogen wir mit der CURTOS weiter, in einer Ka bine, ein junges Paar, das Kapitän Pratow noch als Ehepaar ins Bord buch schrieb, ehe wir den Kometen „Lindner II" verließen.
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Jack London
Harte Kost
Kit und Shorty haben sich zwei skrupellosen Mülionärssöhnen verdungen, die bei ihrer Fahrt in die Goldgebiete Alaskas auf Schritt und Tritt wissentlich gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des hohen Nordens verstoßen. Seit Stunden versuchen die Männer trotz des Sturmes das andere Ufer des Sees zu erreichen. Sie waren total erschöpft, jeder hatte seinen kritischen Punkt erreicht. In dieser Situation sorgen Kit und Shorty dafür, daß diesen zwei Geldprotzen handfeste Lehren erteilt werden. :52
Es begann um die Jahrhundert wende An Hand von Tatsachen führt JÜRGEN KUCZYNSKI die Verbrechen des deut schen Imperialismus seit der Jahrhundert wende bis zur Gegenwart vor Augen. Er zeigt die tieferen Zusammenhänge, Hintergründe und ökonomischen Ursachen, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Aus dem Inhalt: Was sind Imperialismus und Monopole? • Das imperialistische Kaiserreich von 1900 bis 1918 Von der Novemberrevolution bis zum Ende der Weimarer Republik • Der faschistische Im perialismus • Der westdeutsche Imperialismus Mit Fotomontagen von John Heartfield, Alexander Shitotnirski, Mieczyslaw Berman, Strub/Marschke 212 Seiten • 20 Tafeln • Halbleinen 5,40 Mark VERLAG NEUES LEBEN BERLIN