Ernst Vlcek
Im Namen Vestas Dragon Band Nr. 38
Seit der Stunde, da Arric der Rote seinen schändlichen Verrat beging u...
13 downloads
526 Views
792KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Ernst Vlcek
Im Namen Vestas Dragon Band Nr. 38
Seit der Stunde, da Arric der Rote seinen schändlichen Verrat beging und das Tor zwischen Dragons und Danilas Welt für immer verschloß, sind der Atlanter und sein Gefährte Ubali zu Gefangenen einer wilden und bizarren Umgebung geworden. Um sich zu behaupten, müssen sie um ihr Leben kämpfen – und zwar jeder für sich, denn sie sind getrennt worden. Beide Männer haben wenig Hoffnung, ihre eigene Welt jemals wiederzusehen – dennoch geben sie nicht auf! Während Ubali, der Panther, den mannigfaltigen Gefahren des Dschungels trotzt und sich mit Thamai auf den langen Marsch in das Land Vitus macht, hat Dragon mit dem »Erbe des Träumers« eine tödlich gefährliche Aufgabe übernommen. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Moment, als der Atlanter die Ruinen von Merlane erreicht, auf die »Ritter der Wüste« trifft und am großen Turnier zum Ruhme Erthus teilnimmt. Dragon, der Sieger des Turniers, wird zum Verfemten und Gejagten – bis sich schließlich das Blatt wendet und Erthu, der Erdgeist, den Atlanter in den Augen der Merlaner rehabilitiert. Erthu erklärt sich auch bereit, Vesta, dem auf der Insel des Namenlosen gefangenen Herrn der Elemente, wieder Gehorsam zu leisten und das durch Akkeron drohende Chaos abwenden zu helfen – unter der Bedingung jedoch, daß es Dragon gelingt, Aerula, den Luftgeist, zu überzeugen. Und so macht sich der Atlanter weiter auf den Weg – IM NAMEN VESTAS …
1. Du kommst im Namen Vestas, Sterblicher! Doch glaube nicht, daß der Stirnstein dir den Weg zu mir ebnet und dir alle Tore öffnet. Du mußt dich erst bewähren. Dein Weg soll dornig sein, und Hindernis um Hindernis wird sich dir entgegenstellen. Du wirst Mut und List beweisen müssen, willst du dein Ziel erreichen. Also bewähre dich! Dragon bekam diese Botschaft von Aerula-thane übermittelt und wußte sofort, wer ihr Absender war: Aerula, der Herr der Winde – der Luftgeist! Er meldete sich nicht bei Dragon persönlich, obwohl dies sicherlich möglich gewesen wäre. Denn Dragon trug sein Amulett, das ihm auch die Gedanken dieses Elementargeists hätte vermitteln können. Dragon war auch im Besitz von Vestas Auge, jenem Juwel, das er von dem sterbenden Akkathos erhalten und sich oberhalb der Nasenwurzel in die Stirn eingepflanzt hatte. Auch dieses Auge Vestas hätte es dem Luftgeist ermöglichen müssen, seine Gedanken ohne weiteren Vermittler an Dragon zu richten. Doch das schien wohl nicht in Aerulas Absicht zu liegen. Denn schon aus dem Inhalt der Botschaft ging hervor, daß der Luftgeist Dragon nicht vorbehaltlos als Abgesandten Vestas anerkannte. War es der Stolz eines Gottes einem Sterblichen gegenüber? War es Feindschaft, Haß oder Mißtrauen eines Elementargeists, der in dem Fremden jemanden sah, der ihn seiner Freiheit berauben wollte? Dragon wußte es nicht. Aber welche Bedingungen Aerula auch stellte, Dragon mußte sich ihnen beugen. Nachdem Dragon den Erdgeist für seine Pläne gewonnen hatte, bestieg er, mit den Geschenken und den besten Glückwünschen der Merlaner versehen, die Wanderwolke und flog mit Aerula-thane gen Nordwesten. Denn in dieser Richtung lag der Sitz des Luftgeists. Ihn mußte Dragon aufsuchen und dazu bringen, sich wieder unter die Herrschaft Vestas, des Herrn der Elemente, zu stellen. Denn Erthu wollte Vesta nur dann gehorchen, wenn Aerula seinen Widerstand ebenfalls aufgab. In dieser Mission war Dragon mit Aerula-thane unterwegs. Sie überflogen die weite, golden flimmernde Wüste und kamen ohne Zwischenfälle zu der Bergkette, die den fruchtbaren Küstenstreifen am Nordmeer vom Landesinnern trennte. Hier begünstigten Aufwinde Aerula-thanes Flug, so daß sie mühelos in höchste Höhen emporsteigen konnte. Es war ein atemberaubender Anblick, als sie über die majestätischen Berggipfel dahintrieben. Unter ihnen der zerklüftete Fels, der noch seit den ersten Tagen der Schöpfung unberührt schien. Die Luft war hier oben dünn und schnitt Dragon mit eisiger Schärfe in die
Atemwege. Aber die Kälte konnte ihm nichts anhaben, denn Aerula-thane schützte seinen Körper mit einer wärmenden Hülle aus wolligem Wolkenflausch. Bald hatten sie die höchsten Gipfel der Bergkette hinter sich gelassen, die Hügel wurden niedriger, flacher und gingen bald in grünes, saftiges Küstenland über. Dragon sah schon das Meer, die weiß schäumende Gischt der Wellen, die mit Tydes Kraft unermüdlich gegen Erthus Land rollten. In diesem Augenblick traf die Botschaft Aerulas ein. Dragon sah sein Amulett aufleuchten und umfaßte es mit beiden Händen, um so die empfangenen Impulse verstärkt aufnehmen zu können. Doch er bekam nichts zu hören. Erst einige Atemzüge später erfuhr er von Aerulathane den Inhalt der Botschaft. Und Aerula-thane bestätigte seine erste Vermutung, daß ihr Schöpfer, der unumschränkte Herr der Lüfte und Meister der Winde, Aerula, der Urheber dieser Nachricht war. »Das kann nicht alles sein«, sagte Dragon laut vor sich hin, in der Gewißheit, daß Aerula-thane seine gleichlautenden Gedanken hören könnte. »Hat mir Aerula nichts mehr zu sagen?« Wieder begann Dragons Amulett zu leuchten, und auf seiner Stirn, dort wo das Auge Vestas mit dem Gewebe seiner Haut und dem Schädelknochen verschmolz, verspürte er ein seltsames Kribbeln. Doch, meldete sich Aerula-thane, soeben vernehme ich wieder Aerulas Wort. Es ist noch nicht oft geschehen, daß mein Schöpfer meine Existenz in diesem Maße würdigt und seine Gedanken an mich richtet. Und ich erinnere mich nicht mehr daran, wann es zuletzt geschehen ist … so lange ist es her …« »Was hat Aerula zu sagen?« fragte Dragon ungeduldig. »Laß es mich wissen, Aerula-thane. Oder ist seine Botschaft nicht für mich bestimmt?« Doch, versicherten die Gedanken der Wanderwolke. Es ist, als spräche Aerula zu dir, Dragon. Und dann hörte Dragon von Aerula-thane, was der Herr der Winde ihm zu sagen hatte.
* Ein Elementargeist ist nie allein, auch wenn er durch den Raum von den anderen getrennt ist. Wisse das, Sterblicher, der du dich Dragon nennst und dich in deiner Anmaßung für einen Abgesandten Vestas hältst. Erthu hat mir über die große Entfernung, die uns voneinander trennt, alles berichtet. Und auch Vitu und Skortsch sind eingeweiht. Ich weiß von den beiden Zwillingsbrüdern, die so gegensätzlich wie Wasser und Feuer waren. Akkeron und Akkathos bekamen als Vermächtnis von ihrem Vater Himur jeder ein Auge Vestas, das ihnen Macht über die Pflanzen und Tiere der Stillen und der Wilden Zonen unserer Welt gab.
Akkeron wollte seine Macht dazu gebrauchen, uns Elementargeister in seinen Bann zu zwingen und als neuer Herr der Elemente die Welt zu beherrschen. Akkathos dagegen träumte davon, dem Chaos ein Ende zu machen und die Welt zu befrieden. Doch sein Bruder Akkeron zerstörte diesen Traum, er blendete Akkathos und setzte ihn in der Wildnis aus. Akkathos aber wollte sich nicht geschlagen geben und versuchte, der Verbannung zu entfliehen. Auf dem Weg zurück holte ihn jedoch der Tod ein – und du, Dragon, fandest ihn, als er sein Leben aushauchte. Akkathos vertraute dir das Auge Vestas an und nahm dir den Schwur ab, daß du sein Werk fortsetzen und vollenden würdest. Und so kam es, daß du das Vermächtnis dieses Träumers übernahmst und nun deine Aufgabe darin siehst, den Herrn der Elemente zu befreien und das vermeintliche Chaos dieser Welt wieder zu ordnen. Vermessen wie du bist, trittst du im Namen Vestas auf. Und du glaubst, das gibt dir das Recht, dich mit den Göttern zu messen – und du meinst in deinem Größenwahn gar, ihr Schicksal beeinflussen zu können! Damit hast du dir ein Ziel gesetzt, wie es einem Herrn der Elemente selbst zustehen würde. Aber was bist du? Ein nichtswürdiger Sterblicher! Das behaupte ich, obwohl es dir gelungen ist, Erthu zu beschwatzen. Wenn du willst, daß ich meine Meinung über dich ändere, dann mußt du mich durch Taten eines Besseren belehren. Du mußt durch Taten beweisen, daß du würdig bist, als Sprecher Vestas den Elementargeistern gegenüberzutreten. Es wäre zu einfach, daß dir das Auge Vestas alle Wege ebnet und alle Tore öffnet. Dein Weg zu mir soll steinig sein – und du mußt erst all diese Steine aus dem Wege räumen, wenn du mir gegenübertreten willst. Ich empfinde es als Verhöhnung, daß du dich eines meiner Geschöpfe bedienst und dich in meinem Reich bewegst. Über die Winde und die Geschöpfe der Lüfte herrsche immer noch ich unbeschränkt, das will ich dir beweisen. Deshalb werde ich alle Winde abberufen, sie in Gebiete wehen lassen, die fern von dir und Aerula-thane sind. Dein Höhenflug, Dragon, wird in einem Sturz in die Tiefe enden, damit du wieder auf deinen eigenen zwei Beinen stehst, deinen Verstand und deine Hände gebrauchen mußt, um dich zu bewähren. Erst wenn dir das gelungen ist, bin ich bereit, mir anzuhören, was du zu sagen hast.
* Wie Aerula es angedroht hatte, erstarben plötzlich alle Winde. Jegliche Bewegung der Lüfte kam zum Stillstand, Aerula-thane schwebte unaufhaltsam in die Tiefe; die Segel, die die Wanderwolke gesetzt hatte, hingen schlaff herunter – sie waren so nutzlos geworden, daß Aerulathane sie einfuhr und sie in ihrer Körpermasse aufgehen ließ. Aerula-thane konnte sich nur noch von Luftschicht zu Luftschicht gleiten lassen. Sie sank immer tiefer, ihre Bemühungen, wieder an Höhe zu gewinnen, waren
erfolglos. Und schließlich mußte sie auf einer grasbewachsenen Hochebene landen. Dragon ging an den Rand der Wanderwolke. Wenige Schritte vor ihm senkte sich die Hochebene in ein Tal hinunter. Dahinter reihten sich einige Hügel aneinander, und dazwischen hoben sich vereinzelte Felsen wie steinerne Inseln in den Himmel. Und hinter diesen Hügeln, etwa einen halben Tagesmarsch von Dragon entfernt, war die Küste zu sehen. Das Meer hatte eine große Bucht aus dem Land geschwemmt, und entlang des halbmondförmigen Ufers erstreckte sich eine Stadt. Es war eine große Stadt, das war leicht ersichtlich, obwohl Dragon keine Einzelheiten erkennen konnte. »Aerula hat einen schweren Irrtum begangen«, sagte Dragon. Er umfaßte dabei sein Amulett so fest, als wolle er es zusammenpressen. »Aerula-thane, du mußt das deinem Schöpfer erklären!« Es liegt nicht in meiner Macht, den Luftgeist anzurufen, antworteten die Gedanken der Wanderwolke. Es ist eine Gnade sondergleichen, daß Aerula sich an mich wandte. Aber nun ist die Verbindung abgebrochen, und ich kann sie von mir aus nicht wieder aufnehmen. Vielleicht kann Aerula deine Gedanken aber noch immer hören, dachte Dragon. Er hoffte es inständig, denn es hing viel davon ab, daß er diesen Irrtum aufklären konnte. Er war keineswegs vermessen genug, anzunehmen, daß die Elementargeister sich ihm bedingungslos anschließen würden, nur weil er das Auge Vestas in seiner Stirn trug. Es hatte ihm Kampf genug gekostet, zu Erthu vorzudringen und zu erreichen, daß ihn der Erdgeist erhörte. Ähnlich würde es ihm auch mit den anderen Elementargeistern gehen. Doch insgeheim hatte er gehofft, daß Aerula zugänglicher sein würde, da der Luftgeist von Erthu über seine, Dragons, Mission unterrichtet worden war. »Aerula muß wissen, welche Gefahr von Akkeron droht«, sagte Dragon laut und eindringlich vor sich hin und hoffte, daß die Betonung seiner Gedanken ähnlich sein würde. »Akkeron ist machtbesessen und wird vor nichts zurückschrecken, um seinen Plan, alle fünf Elementargeister in seine Gewalt zu bekommen, zu verwirklichen. Aerula muß doch wissen, daß Akkeron bereits Tyde, den Wassergott, unterjocht. Aerula muß sich bald entscheiden, bevor es zu spät ist.« Dragon schloß die Augen und drückte sein Amulett gegen den Stirnstein. Er hoffte so, die übernatürlichen Kräfte von Vestas Auge zu verstärken, um vielleicht Aerula doch mit seinen Gedanken erreichen zu können. Er wollte nicht viel vom Herrn der Winde, nur daß er ihm gestattete, mit Aerulathanes Hilfe das Meer überbrücken zu können und den Nordkontinent zu erreichen. Einmal im Nordland angelangt, würde er keine Mühen scheuen, sich seinen Weg zum Sitz des Luftgeists zu erkämpfen. Aber das große Meer, das dieses Land vom Nordkontinent trennte, erschien ihm
als unüberwindliches Hindernis, zumal der Wassergeist von Akkeron beherrscht wurde. Mit Tydes Hilfe konnte Akkeron jeden Widersacher mühelos in den Tod schicken, der sich auf das Meer hinauswagte. Dragon, der Atlanter zuckte leicht zusammen, als Aerula-thanes geistiger Ruf in die Hektik seiner Gedanken einbrach. Aerula hat sich noch einmal gemeldet, berichtete die Wanderwolke. Aerula weiß sehr wohl, daß Tyde von Akkeron beherrscht wird, und der Luftgeist unterschätzt auch keineswegs die Gefahr, die sich daraus für alle anderen Elementargeister ergibt. Dennoch ist er nicht bereit, dir den Weg zu ebnen. Du mußt einsehen, Dragon, daß du als Sterblicher eine Bewährungsprobe abzulegen hast, wenn du zum Sitz eines Gottes willst. Du solltest nicht verzagen, denn ich bin sicher, daß du alle Prüfungen bestehen wirst. Aerula-thanes Argumente waren nicht dazu angetan, Dragon sein Schicksal leichter ertragen zu lassen. Er konnte ihr aber auch keine Vorwürfe machen, daß sie sich Aerulas Gebot bedingungslos unterwarf. Selbst wenn sie dies nicht getan hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, Dragon weiterzuhelfen. Wenn der Luftgeist die Winde anhielt, die Luftströmungen zum Versiegen brachte, dann konnte Aerula-thane nicht mehr fliegen und war nicht in der Lage, Dragon an sein Ziel zu bringen. Die Wanderwolke war noch hilfloser als er, denn sie hatte nun überhaupt keine Möglichkeit der Fortbewegung mehr. Dragon dagegen konnte seinen Weg zu Fuß fortsetzen. Wenn er sofort aufbrach, dann würde er die große Stadt an der Küste noch vor Sonnenuntergang erreichen. Ein Glück überhaupt, daß Aerula-thane so nahe der Stadt niedergegangen war, denn dort konnte Dragon wenigstens Hilfe und Unterstützung erwarten. Mit den Edelsteinen und Schmuckstücken, die er von den Merlanern geschenkt bekommen hatte, würde er sogar ein Schiff kaufen und eine Mannschaft anheuern können. Diese Gedanken besänftigten Dragon, und er war längst nicht mehr so verbittert wie zu dem Zeitpunkt, als er Aerulas erste Botschaft erhalten hatte. Dragon warf sich den Umhang mit dem auf dem Rücken eingestickten FalkenWappen um, legte den Waffengürtel an und schob seine Linke durch die Halteschlaufen des Schildes; die mit Edelmetall und Schmucksteinen beschlagene Tasche, in der er die Edelsteine und Geschmeide verwahrte, hing er sich an der Tragschlaufe um die Schulter. »Ich hoffe, daß dein Schöpfer bald wieder Winde aufkommen lassen wird, damit du nicht für lange an diesen Ort gebannt bist«, sagte Dragon zum Abschied zu der Wanderwolke. Sorge dich nicht um mich, Dragon, kamen die leicht wehmütigen Gedanken
Aerula-thanes. Ich habe hier eine saftige Weide und werde so auch einen längeren Aufenthalt leicht ertragen. Behalte du deine Aufgabe im Auge und marschiere wacker auf dein Ziel los. Ich werde in Gedanken bei dir sein. Bestimmt kreuzen sich unsere Wege wieder einmal bei günstigerem Wind. Ohne sich noch einmal nach der Wanderwolke umzusehen, stieg Dragon den Hügel hinunter. Erst als er das Tal erreichte, drehte er sich um. Er sah, wie Aerula-thane in einer leichten Brise aufstieg, ein kleines Segel setzte und in Richtung Süden davonflog. Er blickte der Wanderwolke solange nach, bis sie hinter dem Hügel verschwunden war. Er war nicht enttäuscht, daß sie in die entgegengesetzte Richtung davonflog, aber es schmerzte ihn etwas, daß sie keinen einzigen Gedanken mehr für ihn erübrigte. Vielleicht war es aber besser so. Er drehte sich um und setzte seinen Marsch zur Küste fort. Er schritt fest und kraftvoll aus, denn er wollte die Stadt noch erreichen, bevor die Bewohner schliefen. Wenn es irgend möglich war, wollte er ein Schiff erstehen und noch heute in See stechen.
* Dragon hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er zu einem Sammelplatz kam. Er prägte diese Bezeichnung, weil es verschiedene Anzeichen dafür gab, daß hier vor gar nicht langer Zeit viele Menschen zusammengekommen waren. Das Gras war in weitem Umkreis von vielen Füßen niedergetrampelt worden, unzählige Eindrücke von Hufen und Tierfüßen waren im weichen Boden zu sehen, und viele verkohlte Stellen wiesen auf Lagerfeuer hin. Unrat, Kleiderfetzen, zerbrochene Tonkrüge und die verschiedensten Abfälle lagen herum und wurden vom wieder sporadisch aufkommenden Wind verweht. Von einigen Tierkadavern erhoben sich Aasvögel, als Dragon in ihre Nähe kam. Die Überreste der Tiere waren noch nicht in Verwesung übergegangen, was ein weiterer Beweis dafür war, daß erst wenige Tage vergangen sein konnten, daß die vielen tausend Menschen hier gelagert hatten. Zuerst dachte Dragon, daß sich hier ein riesiges Heer zum Angriff auf die nahe Stadt gesammelt hatte. In dieser Vermutung wurde er bestärkt, als er von einem Felsen zur Bucht hinunterblickte. Die Sonne stand schon im tiefen Nachmittag, und die Gebäude der Stadt warfen scharfe Schatten, so daß er aus dieser Entfernung einige Einzelheiten erkennen konnte. Zumindest sah er genug, um zu erkennen, daß die Stadt größtenteils nur noch aus Ruinen bestand. Es handelte sich aber keineswegs um eine Ruinenstadt wie Merlane, die vom Zahn der Zeit angenagt war, denn er sah zwischen den Ruinen auch Prachtbauten, an denen keine Zerfallserscheinungen festzustellen waren. Das alles wies darauf hin,
daß diese Küstenstadt erst vor kurzem eine arge Heimsuchung erfahren hatte. Doch wußte er jetzt, daß nicht eine Belagerung durch wilde Krieger schuld daran sein konnte. Denn wäre dies hier ein Heerlager oder ein Schlachtfeld gewesen, so hätte er Tote oder Gräber oder zumindest Blutspuren entdecken müssen. Aber er fand nicht einmal eine Pfeilspitze, eine gebrochene Klinge oder den Helm oder den Harnisch eines Kriegers. Es lagen nur Gebrauchsgegenstände und Hausrat herum, kurzum Abfälle, wie sie ein friedliches Wandervolk an einem Lagerplatz zurückließ. Hatte hier eine Völkerwanderung stattgefunden? Dragon versuchte zu erkennen, ob die teilweise zerstörte Stadt bewohnt war. Doch das war ihm nicht möglich. Er sah aber wohl, daß im Hafen einige Schiffe vor Anker lagen – und war einigermaßen beruhigt. Er stieg von seinem Aussichtsposten herunter und wollte seinen Marsch zur Stadt fortsetzen, als er hinter einem Felsen ein Geräusch vernahm. Er hätte sich nichts weiter gedacht, denn das Geräusch konnte von einem der herumstreunenden Tiere verursacht worden sein, die sich mit den Aasvögeln um die Beute stritten. Irgendeines dieser Tiere mochte einen Stein in Bewegung gebracht haben, der nun einen Felshang hinunterkollerte. Doch diese Möglichkeit mußte Dragon sofort wieder verwerfen, als dem Geräusch schnelle Schritte folgten. Da rannte jemand davon, und zwar kein Tier, sondern ein zweibeiniges Lebewesen, dessen Füße Schuhwerk trugen. Ohne lange zu überlegen, zog Dragon sein Schwert und folgte den sich entfernenden Schritten. Als er um einen Felsen herumlief, sah er keine zwanzig Schritte vor sich einen Menschen in einem zerlumpten Umhang. Es handelte sich zweifellos um einen betagten Mann, dem das Laufen Schwierigkeiten bereitete. Er rutschte einige Male auf dem Fels aus, fiel hin und raffte sich dann wieder auf. Dabei benahm er sich, als seien Dämonen hinter ihm her. Er wandte einmal den Kopf, und Dragon erblickte ein Gesicht, das runzelig wirkte und fast hinter einem schmutzig-grauen Bart verschwand. »Bleib stehen, Alter!« rief Dragon ihm nach. »Ich will dir nichts tun.« Aber der Alte hörte nicht auf ihn. Er rannte weiter, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Als Dragon ihn erreichte, lag er bäuchlings da, sein Körper hob und senkte sich rasch, sein Atem ging rasselnd, die knochigen Hände hatte er im Gestein verkrallt. »Warum fürchtest du dich, Alter?« fragte Dragon wieder auf Atlantisch, weil das die in Danilas Welt übliche Sprache war. Doch der Alte gab außer einem erschöpften Keuchen nichts von sich. »Kannst du mich nicht verstehen?« fragte Dragon. Der Rücken des Alten krümmte sich leicht, so als erwarte er, geschlagen zu
werden. Dragon nahm den Mann an der Schulter und drehte ihn trotz seines Widerstandes auf den Rücken herum. Große Augen, von unzähligen Fältchen und Falten umgeben, starrten furchtsam zu ihm auf. »Ich tu dir nichts Alter«, sagte Dragon wieder. »Bist du taub oder verstehst du meine Sprache nicht? Oder glaubst du mir nicht?« Der Alte öffnete den Mund. »Ich …«, begann er in einem leicht akzentuierten Atlantisch, verstummte aber sofort wieder. Seine Augen waren ängstlich auf Dragons Stirnstein gerichtet. Jetzt hob er die eine Hand und wischte sich über die rissigen Lippen. Dabei rutschte sein Umhang bis zum Ellenbogen hinunter, und Dragon sah die blutverkrusteten Wunden an seinem Unterarm. »Du bist verletzt! Hast du Schmerzen?« Der Alte nickte leicht, ließ aber die Augen nicht von Dragons Stirnstein. »Mein Anblick scheint dich zu erschrecken«, stellte Dragon fest. »Ist es das Auge Vestas, das deine Zunge lähmt? Wenn es so ist, dann sieh nicht hin. Ich schwöre dir, daß ich nicht Hand an dich legen werde!« Das schien den Alten etwas zu beruhigen. Er entspannte sich und schloß die Augen. Der stark hervortretende Adamsapfel an seinem dürren Hals geriet in Bewegung, als er schluckte. »Bist du nicht geschickt worden, um mich zu richten?« fragte er dann mit krächzender Stimme. »Wieso glaubst du das?« »Ich habe die Götter versucht. Ich habe geglaubt, ein Auserwählter zu sein, doch ich war nicht berufen … In der Stunde der Entscheidung habe ich versagt.« »Welche Schuld du auch immer auf dich geladen haben magst – ich bin nicht dein Henker«, erklärte Dragon. »Ich bin ein Fremder in diesem Land, der zufällig des Weges gekommen ist. Mein Ziel für heute ist die Stadt in der Bucht. Kannst du mir sagen, wie sie heißt?« »Askaloth.« »Bist du aus dieser Stadt?« Der Alte nickte. »Ja, ja«, murmelte er dann in wehmütiger Erinnerung, »ich bin aus Askaloth; nicht dort geboren, und doch ist es meine Stadt – oder sie war es, bis vor wenigen Tagen. Viele Sommer lang … bis mich die Askalother dann vor drei Tagen verjagten und mich fast zu Tode steinigten.« »Warum taten sie das? Hattest du diese Strafe verdient?« Der Alte antwortete nicht. »Wenn du nicht über dich sprechen willst, möchtest du mir dann nicht wenigstens über diese Stadt erzählen?« fragte Dragon. »Ich höre ihren Namen zum erstenmal
und wäre für jede Auskunft dankbar. Ich verlange nichts umsonst von dir.« Dragon griff in seine Tasche und holte einen fingerkuppen großen Edelstein hervor. Der Alte blickte von dem funkelnden Juwel in Dragons Hand zu seinem noch feuriger strahlenden Stirnstein. »Ist das so ein magischer Stein, wie du ihn als drittes Auge trägst?« fragte der Alte. »Der Edelstein, den ich dir anbiete, hat keine magische Kraft, wohl aber einen großen weltlichen Wert«, antwortete Dragon. »Aber du selbst bist doch ein Magier?« fragte der Alte hoffnungsvoll. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich fühle es, daß von dir eine übermenschliche Kraft ausgeht. Ich darf mir ein Urteil zutrauen, denn ich selbst bin ein Meister der Magie. Als ich vor Jahren nach Askaloth kam, war ich ein Fremder, ein Niemand wie du. Aber bald kannte jedes Kind in der Stadt Altakaan, den Meister der Elemente.« Der Alte seufzte. »Was soll ich dir vorlügen. Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Aber versuche dein Glück nicht in Askaloth, das ist zur Zeit kein guter Boden für Scharlatane. Dein Stirnauge wird niemanden beeindrucken. Sie werden dich steinigen wie mich.« Der Alte erholte sich ziemlich rasch. Seine Verletzungen, die er durch die Steinigung erfahren hatte, schienen weniger arg gewesen zu sein als die Angst, die er bei Dragons Anblick empfand. Jetzt, da er sah, daß er nicht mehr um sein Leben zu bangen brauchte, wurde er immer lebendiger. Dragon blickte zur Sonne. »Ich werde meinen Weg heute nicht mehr fortsetzen, sondern hier Rast machen und erst morgen früh zur Stadt gehen. Willst du mir Gesellschaft leisten und mir dabei erzählen, was du über das Leben und Treiben in der Stadt weißt, Altakaan? Dann soll dieser Edelstein dir gehören.« Der Alte griff blitzschnell nach dem Edelstein und betrachtete ihn mit leuchtenden Augen. Dann deutete er auf Dragons Tasche und meinte: »Da sind wohl noch mehr davon drin?« »Soviele, daß du daran ersticken könntest«, antwortete Dragon. Altakaan machte eine abwehrende Handbewegung. »Glaube nur nicht, daß ich dich bestehlen möchte. Ich bin kein Dieb, ich habe es nicht nötig, zu stehlen. Wenn du mich noch vor einigen Tagen in meiner blauen Prunkrobe gesehen hättest, wärst du vor Ehrfurcht erzittert …« Dragon ließ den Alten reden, ohne ihn zu unterbrechen. Altakaan war ein guter Erzähler, und es dauerte nicht lange, da war er bei dem Thema angelangt, für das sich Dragon interessierte. »Die Geschichte von Askaloth reicht weit in die Zeit vor dem Großen Chaos zurück
und ist eng mit Eckelund, einer Hafenstadt auf dem Nordkontinent, verknüpft …«
2. Altakaan Elementemeister erzählt: Vor Einbruch des weltweiten Chaos, das auf das Wirken jenes geheimnisvollen Mannes zurückgeht, den man den Namenlosen nennt, also vor rund zweitausend Jahren, als Vesta die Elemente noch nach seinem Willen lenkte, da war Askaloth eine reiche Seehandelsstadt. Neben Ekkelund, der nordnordwestlich von Askaloth an der Küste des Nordlandes liegenden Stadt, war Askaloth eines der mächtigsten Mitglieder im mächtigen Bund der drei Meere. Diesem weltweiten Bund, dem alle großen Seehandelsstädte und alle wohlhabenden Kauffahrer angehörten, hatte an allen Küsten seine Handelsniederlassungen und beherrschte mit seinen Viermastern alle drei Meere. Als durch das Wirken des Namenlosen die fünf Elementargeister frei wurden und diese die chaotischen Veränderungen auf dieser Welt verursachten, kam auch der Niedergang dieses mächtigen Seefahrerbundes. Tyde, der Wassergeist, wurde zum Schrecken aller Meere; er schickte den Kauffahrern riesige Wellenberge entgegen, rieb ganze Handelsflotten auf und hetzte seine Meeresungeheuer auf die Überlebenden. In diesen Tagen zu Beginn des Großen Chaos wurde das Meer Tausenden von stolzen Schiffen des Bundes zum Grab. Tyde duldete es nicht, daß die Sterblichen in seinem Element solche Macht ausübten, und deshalb zerschlug der Wassergeist den weltweiten Seefahrerbund. Viele Küstenstädte, die vormals große Bedeutung erlangt hatten, versanken in den Fluten oder gerieten im Laufe der Jahre einfach in Vergessenheit, weil sie kaum mehr von Handelsschiffen angelaufen wurden. Im Falle von Askaloth und Ekkelund aber wirkte sich der Niedergang des Bundes der drei Meere besonders aus. Der Zerfall der Macht und Kultur dieser beiden Städte setzte schon vor dem Großen Chaos ein. Grund dafür war ein Krieg zwischen diesen beiden Städten, der aus einem längst vergessenen Anlaß kurz vor der Entfesselung der fünf Elementargeister ausbrach Die Veränderungen in der Welt hatten auf die kriegerische Einstellung dieser beiden Städte zueinander keinen Einfluß. Anstatt daß sie angesichts der vom Untergang bedrohten Welt zusammenhielten, wuchs der Haß derer von Askaloth und derer von Ekkelund aufeinander nur noch mehr. Und so kam es immer wieder zu Krieg und Kampf, wann und wo immer ein Askalother und ein Ekkelunder aufeinandertrafen. Dies blieb bis zum heutigen Tage so. Noch immer, und dies nun schon seit
zweitausend Jahren, leben die von Askaloth und Ekkelund in Todfeindschaft; sie hassen und sie fürchten einander wie die Pest. Und das, obwohl keiner mehr den Grund für diese Feindschaft kennt. Askaloth und Ekkelund sind längst zu uneinnehmbaren Zitadellen geworden. Jede dieser beiden Städte ist von dicken Festungsmauern umgeben, bewaffnete Männer stehen Tag und Nacht auf den Zinnen, schwere Kriegsmaschinen, Steinschleudern und mächtige Bögen, die ein Dutzend mannshoher Speere gleichzeitig bis weit aufs Meer schießen können, erheben sich drohend von den Stadtmauern. Doch obwohl ich mehr als fünf Sommer lang in Askaloth verbrachte, habe ich nie erlebt, daß eine der Schleudern gegen Angreifer aus Ekkelund eingesetzt worden wäre. Und es passierte auch nie, daß auch nur ein einziger Ekkelunder in die Nähe von Askaloth gekommen wäre … zumindest nicht bis vor sieben Tagen. Aber davon berichte ich noch in Einzelheiten. Als ich vor fünf Sommern nach Askaloth kam, war die Stadt eine waffenstarrende Festung, und die erste Frage, die man an mich richtete, war: »Bist du ein verfluchter, kinderfressender Ekkelunder?« Ich konnte das mit ruhigem Gewissen verneinen, zumal ich kein Kinderfresser und schon gar kein Ekkelunder war. Als ich mich in der Stadt umsah – und alsbald auch zu wirken begann, was mir den ehrenvollen Namen Elementemeister eintrug –, kam ich zu der Überzeugung, daß jeden Augenblick ein Angriff dieser gehaßten Ekkelunder stattfinden müsse. Doch erst nach und nach erfuhr ich, daß kein unmittelbarer Anlaß für die Verteidigungsmaßnahmen bestand, sondern daß man in Askaloth jeden Tag so begann, als brächte er die Entscheidung in der Auseinandersetzung mit den Ekkelundern. Man erwartete täglich, ja, stündlich einen Angriff der feindlichen Flotte. Und die Frage: »Sind die Masten der verpesteten Schiffe aus Ekkelund schon am Horizont gesichtet worden?« erklang an einem Tage häufig und von allen Seiten. Wenn man als Fremder dies hört – und sieht –, dann meint man unwillkürlich, daß der Krieg knapp vor dem Ausbruch steht. Es dauerte lange, bis ich die Wahrheit erkannte. Die Askalother lebten schon seit zweitausend Jahren mit der Kriegsgefahr, ihr Leben wäre ohne diese selbstsuggerierte Bedrohung wahrscheinlich ohne Sinn. Und wahrscheinlich erging es den Ekkelundern ebenso, obwohl ich mir darüber bis vor sieben Tagen kein Urteil erlauben konnte. Nach und nach erkannte ich dann die volle Wahrheit, die einer gewissen Tragikomik nicht entbehrte. Die Askalother lebten in einer Festungsstadt, entschlossen, sie gegen die angreifenden Ekkelunder zu verteidigen. Sie waren sicher, daß dieser Angriff eines Tages stattfinden würde, obwohl es seit nunmehr zweitausend Jahren noch nicht dazu gekommen war. Die besondere Tragik daran war aber, daß die Askalother schon längst keine
Handelsfahrer mehr waren; ihre Flotte bestand aus einigen ärmlichen Fischerbooten, mit denen sie sich nicht weit aus der Bucht hinauswagten. Aus kühnen Seefahrern waren Fischzüchter geworden, die in der Bucht, in der einst stolze Viermaster geankert hatten, Becken für ihre Fische anlegten, von denen sie lebten. Die Produkte des Meeres erlaubten ihnen ein kärgliches Dasein, das durch den Tauschhandel mit gedörrtem und gesalzenem Fleisch mit den Inlandbewohnern nicht viel einträglicher wurde. Und trotzdem – obwohl sie nur noch harmlose und genügsame Fischzüchter waren – lebten sie weiterhin in der Überzeugung, daß eines Tages der Angriff der Ekkelunder stattfinden würde. Und sie hielten auf den Stadtmauern Wache, suchten mit dem Fernauge das Meer nach den Viermastern der Ekkelunder ab, pflegten ihre Kampfmaschinen, sprachen und träumten nur von dem Sieg über ihre Erzfeinde. Diese kamen jedoch nicht, um Askaloth zu erobern. Ich sah bald ein, daß es zwecklos war, die Askalother von ihrem Wahn abbringen zu wollen. Ich hatte einmal im Rausch einem Fischer zu erklären versucht, daß der Angriff, der nun schon zweitausend Jahre auf sich warten ließ, wohl kaum in den nächsten zweitausend Jahren stattfindenwürde. Diese unbedachte Äußerung hätte mich fast den Kopf gekostet. Nun, ich verbrannte mir in den folgenden fünf Jahren nie mehr auf diese Weise die Zunge. Ich will dich nicht mit meinem Werdegang langweilen, denn du weißt inzwischen, was aus mir geworden ist. Es war ein Zufall, der aus mir, dem unbedeutenden Altakaan, den hochverehrten Altakaan Elementemeister machte. Es war am zehnten Tage meines Aufenthalts in Askaloth, als ich, von schwerem Wein berauscht, in einen Bottich mit Fischtran fiel. Das stank so erbärmlich, daß ich mich entschloß, zum Hafen zu gehen und mich in einem der Becken zu waschen. Zu meinem Leidwesen – oder eigentlich zu meinem Glück – wählte ich ein Becken für mein Bad, in dem die blutrünstigen und räuberischen Pescats gezüchtet wurden. Die Pescats sind nur unterarmlang, aber sie bestehen zur Hälfte aus einem riesigen Maul mit Dutzenden von messerscharfen Zähnen. Wer in einen Schwärm von Pescats gerät, der ist verloren, denn diese Räuber zerfleischen ihn innerhalb weniger Atemzüge und lassen nichts als die blanken Knochen übrig. Du kannst dir vorstellen, Dragon, welches Geschrei anhob, als man mich in das Becken mit den Pescats springen sah. Man gab keine verfaulte Kaulquappe mehr für mein Leben. Doch siehe da, ein Wunder, die Pescats fielen nicht über mich her, sondern nahmen Reißaus vor mir. Später fand ich heraus, daß der Fischtran mir das Leben rettete, da er die Pescats ebenso abstößt, wie Blut sie anlockt. Ich erwähnte davon jedoch nichts, sondern ließ mich als einen Gesandten Tydes feiern, der vom Wassergeist die Gabe erhalten hat, die Ungeheuer des Meeres zu beherrschen. Ich wurde zu Altakaan Elementemeister und tat fortan alles, um dieses
Vorstellungsbild der Askalother von meiner Person zu erhalten und noch mehr zu festigen. Ich sagte den Fischern, wann sie aufs Meer fahren konnten und keine Ungeheuer zu fürchten hatten und wann ihnen reicher Fang gewiß war, und ich gab ihnen Ratschläge für die Fischzucht. Ich war in meinen Ratschlägen so vorsichtig, daß ich nie welche gab, die den Askalothern schadeten – und wenn ich auch kaum welche gab, die ihnen nützten, waren sie doch mit mir zufrieden. Ich stand so hoch in der Gunst des Schutzherrn von Askaloth, daß er mir den ehrenvollen Posten eines Bewachers der drei Meere gab. Hinter diesem hochtrabenden Titel verbarg sich eine eher simple Aufgabe: Mir wurde die Beobachtung des Meeres durch das Fernauge übertragen, mit dem man weit entfernte Dinge vergrößert sehen kann. Für die Askalother war dies freilich ein verantwortungsvoller Posten, weil der Mann am Fernauge als erster die angreifenden Ekkelunder sehen und Alarm schlagen mußte. Du belächelst das, Dragon, aber für die Askalother ist das tierischer Ernst. Ihr Leben ist Tradition, die zweitausend Jahre sind an ihrem Denken spurlos vorbeigegangen. Sie tun noch immer so, als besäßen sie eine große Flotte und beherrschten die drei Meere. Das siehst du daran, daß sie mir, als Mann am Fernauge, den Titel Bewacher der drei Meere gaben, obwohl mein Blick selbst durch das Fernauge nicht weit aus der Bucht auf das Nordmeer hinausreichte. Überhaupt sind die Askalother mit hochtrabenden Titeln großzügig, sie vergeben sie unter völliger Mißachtung der wirklichen Gegebenheiten. Warum nennt sich Mondel, das Oberhaupt von Askaloth, der anderswo vielleicht als Stadthalter gelten würde, Schutzherr von Askaloth, Erster Kauffahrer von Askaloth, Hoher Rat des Bundes der drei Meere, Erster Seeherr von Askaloth – und so fort? Die Reihe seiner Titel ließe sich endlos weiterführen. Das alles ist uralter Brauch, alteingesessene Gepflogenheit, demgemäß sich der Besitzer eines morschen Fischerbootes immer noch Seeherr von Askaloth und Kauffahrer von Askaloth nennen darf. Niemand in der Stadt wird es wagen, einen »Kauffahrer von Askaloth« zu belächeln, auch wenn er nur die Lumpen an seinem Körper, ein seeuntüchtiges Wrack und ein Zuchtbecken mit einigen Zierfischen sein eigen nennt. Denn er tritt mit der Würde eines Kauffahrers auf. Du gähnst, Dragon. Hat dich meine Vorgeschichte ermüdet? Nun, glaube mir, sie war nötig, damit du die folgenden Geschehnisse besser verstehen kannst. Ich sagte dir, daß seit zweitausend Jahren kein Schiff von Ekkelund in den Hafen von Askaloth eingelaufen war – weder ein Schiff, das Krieg brachte, noch eines, das mit einer Friedensbotschaft aus Ekkelund kam. Aber vor sieben Tagen geschah es. Obwohl ich nie wirklich damit rechnete, versah ich meinen Dienst am Fernauge gewissenhaft. Wenn ich nicht selbst durch das
Vergrößerungsrohr blickte, so war mein Helfer Abriax Altakaangehilfe – so durfte er sich nennen – auf dem Posten. An diesem Tage aber war ich selbst zur Stelle. Ich traute meinen Augen nicht, als ich durch das Fernauge das Schiff erblickte. Es hatte ein meergrünes Segel – die Hoheitsfarbe der Ekkelunder. Ich wartete nur solange, bis überhaupt keine Zweifel mehr bestanden, daß sich Askaloth ein Schiff der Ekkelunder näherte. Dann verließ ich auf dem schnellsten Weg den Leuchtturm, den ich bewohnte, und begab mich zum Ersten Seeherrn von Askaloth.
3. Sowenig wie Mondel ein Seeherr war, sowenig war sein Domizil ein Palast. Er lebte im Kontor einer ehemaligen Seehandelsgesellschaft und schmückte die Räumlichkeiten mit Dingen aus der Zeit, als Askaloth noch eine Handelsmacht im Bund der drei Meere war. Es ist ein düsteres Gemäuer, aber Mondels Erscheinung verlieh ihm Glanz. Sein Auftreten läßt einen die erbärmliche Umgebung vergessen; wenn er in seinem vom Salzwasser zerfressenen Thron sitzt, dann wird seine Wohnstube zum Herrschergemach; wenn er durch die winkeligen Gänge schreitet, dann werden sie zu den Hallen eines Palastes; und wenn er spricht, dann sind es die Worte eines allmächtigen Schutzherrn. Er ist groß und korpulent, aber an seinem Körper ist kein Klümpchen Fett; seine Leibesfülle besteht aus Muskeln, die, obwohl er bereits fünfzig Sommer zählt, mehr Kräfte entwickeln als die Muskeln eines gutgebauten Jünglings. Er hat graue Augen mit einem Adlerblick, wenn du verstehst, was ich meine. Hast du Gelegenheit gehabt, einen Adler zu beobachten, wenn er den Kopf reckt und über sein Reich blickt? Es ist der Blick einer Majestät – und denselben Blick haben Mondels Augen. Aber er ist eine Majestät am falschen Ort. Ihm würde es zustehen, statt zehntausend darbender, armer Fischzüchter eine wirkliche Handelsstadt zu regieren. Mondel jedoch wird sich dessen nicht bewußt. Er ist viel zu starrsinnig, um die Wahrheit zu erkennen. Er ist Kriegsherr, Feudalherrscher und Erster Kauffahrer. Es mag ihm im Augenblick einer ehrlichen Selbsterkenntnis ein Trost sein, daß zumindest im ersten Fall sein Titel seinem Status gerecht wird, denn ich sagte schon, das Askaloth eine waffenstarrende Festung ist. Als ich in Mondels »Palast« im Hafen kam, saß er gerade mit seiner Tochter Jorana bei Tisch. Sie aßen Fisch – was sonst? –, aber Mondel speiste, und er tat es auf eine
Art, daß einem beim Zusehen das Wasser im Munde zusammenlief, weil man meinte, es handle sich dabei um exotische Delikatten von der Insel des Namenlosen. »Die Ekkelunder müssen mich verflucht haben, daß Vitu mir so eine aus der Art geschlagene Tochter schenkte!« rief Mondel gerade ärgerlich und wischte sich die vom Fisch fettigen Hände in seinem grauen Bart ab – ganz nach Art der eines Herrschers von hohem Geblüt. Mondel erblickte mich und sagte: »Sage mir, wie ich eine solche Tochter verdient habe, Altakaan Elementemeister, Bewacher der drei Meere! Oder hast gar du ihr diese verrückten Gedanken in den Kopf gesetzt? Ich habe diese Jungfrau, die sich Mondelstochter rufen lassen darf, schon einige Male in der Nähe deines Leuchtturms gesehen. Sag ehrlich, hast du ihr das Gift in die Gedanken gegeben?« »Versuche nicht, Altakaan mit hineinzuziehen und deinen Ärger an ihm auszulassen«, rief Jorana aufgebracht, noch bevor ich etwas sagen konnte. »Ich habe die Befestigungsanlagen der Stadt schon lange vor Altakaans Ankunft als unsinnig erkannt. Wenn du die jungen Männer vom Waffendienst befreien und zu sinnvoller Arbeit heranziehen würdest, dann könnte Askaloth wieder zu einer blühenden Stadt werden, und niemand brauchte mehr in Armut zu leben.« Mondel hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ich bitte mir auch von meiner Tochter mehr Achtung aus!« »Entschuldige, Schutzherr von Askaloth, daß ich so unverfroren in euer Tischgespräch hineinplatze«, sagte ich schnell, bevor Vater und Tochter den Streit fortsetzen konnten. »Aber ich habe dir eine wichtige Nachricht zu melden. Ich habe durch das Fernauge ein Schiff gesichtet, dessen Segel in der Hoheitsfarbe der Ekkelunder gehalten war.« Mondel starrte mich an wie eine übernatürliche Erscheinung und vergaß dabei, den Mund zu schließen. »Du hast ein Schiff der Ekkelunder gesichtet?« fragte er dann ungläubig. Obwohl er jeden Tag Vorbereitungen zur Verteidigung der Stadt treffen ließ, als erwartete er jeden Augenblick einen Überfall der Eckelunder, schien ihn die Verwirklichung seiner Hoffnungen und Ängste doch vollkommen überraschend zu treffen. »Es handelt sich zweifellos um ein solches Schiff«, sagte ich. Zu mehr kam ich jedoch nicht. »Das sagst du erst jetzt, Bewacher der drei Meere!« herrschte mich Mondel an und warf sich die blaue Robe um die Schulter. »Und warum hast du keinen Alarm geschlagen? Willst du, daß uns der Feind im Schlaf überrascht?« »Aber …«, versuchte ich ihm zu erklären, doch er unterbrach mich. »Es gibt keine Entschuldigung für dich, Altakaan Elementemeister! Wir warten zweitausend Jahre auf diesen Augenblick, haben alles getan, um für die Verteidigung unserer Stadt gewappnet zu sein – unzählige Generationen von Askalothern haben
für nichts anderes als für den Kampf gegen Ekkelund gelebt. Und nun ist es endlich soweit, und du, der Bewacher der drei Meere, vergißt, Alarm zu geben!« »Ich habe es ganz bewußt nicht getan, weil es sich nur um ein einziges Schiff handelt«, erwiderte ich. Aber Mondel hörte mich nicht mehr. Er stürzte hinaus und schrie dabei: »Alarm! Die Ekkelunder greifen an! Alle Mann auf ihre Posten!« Ich blickte hilflos zu Jorana. »Dieser Aufwand wäre nicht nötig, denn das Schiff ist nur ein kleines Fischerboot, von dem für Askaloth sicher keine Gefahr droht. Ich wollte eine Panik vermeiden, deshalb habe ich keinen Alarm gegeben.« »Bist du sicher, daß es nur ein Schiff war?« fragte sie, und in ihre grünen Äugen trat ein seltsamer Ausdruck. »Sofern mich das Fernauge nicht getrogen hat«, antwortete ich, fügte aber hinzu: »Natürlich ist es möglich, daß es sich nur um die Vorhut handelt. Möglicherweise schicken die Ekkelunder ein einzelnes Schiff voraus, um die Verteidigungsstärke von Askaloth zu prüfen.« »Aber du sagtest, daß es sich um ein harmloses Fischerboot handelt«, erinnerte mich Jorana. »Wenn die Ekkelunder in kriegerischer Absicht kämen, dann hätten sie bestimmt ein stärkeres Schiff vorausgeschickt.« »In welcher Absicht sollten die Ekkelunder denn kommen, wenn nicht in kriegerischer?« Jorana machte eine verzweifelte Gebärde und verdrehte die Augen. »Wie soll ich das wissen? Aber jedem vernünftig denkenden Menschen muß es doch einleuchten, daß man mit einem zerbrechlichen Fischerboot nicht in den Krieg zieht. Es wäre doch leicht möglich, daß es sich bei den Ekkelundern um harmlose Fischer handelt, die zufällig in unsere Gewässer getrieben wurden.« »Hm«, machte ich, »das wäre schon möglich. Aber wenn schon. Wo ist der Unterschied? Ekkelunder bleibt Ekkelunder.« »Du redest schon fast wie Vater«, sagte sie aufgebracht. »Dabei bist du nicht einmal ein Askalother und hast überhaupt keinen Grund, die Ekkelunder zu hassen. Du könntest doch wenigstens ohne Vorurteile sein, Altakaan. Du als Fremder mußt doch erkennen, wie unsinnig es ist, daß wir nach zweitausend Jahren immer noch mit den Ekkelundern auf Kriegsfuß stehen.« »Darüber steht mir kein Urteil zu …« »Altakaan«, sagte sie verzweifelt und ergriff meine Hände, daß mir warm ums Herz wurde, »ich habe immer geglaubt, daß du der einzige Mensch in Askaloth bist, der mich versteht. Du hast einmal gesagt, daß du alles für mich tun würdest. Jetzt kannst du zeigen, daß das nicht leere Worte waren. Hilf mir!« »Wie – und wobei soll ich dir helfen?« erkundigte ich mich vorsichtig. Es stimmte, daß ich einmal in einer lauen Frühlingsnacht den Schwur getan hatte, mein Leben für
sie hinzuwerfen. Doch das war im Zusammenhang mit einer Liebeserklärung an sie geschehen. Da sie auf meine Werbung abweisend reagiert hatte, brauchte ich mich auch nicht an den Schwur zu halten. Und trotzdem, ich verehrte sie immer noch so sehr, daß ich die Nachtlichter für sie vom Himmel geholt hätte. »Vielleicht will uns Tyde oder einer der anderen Elementargeister ein Zeichen geben, indem er uns das Fischerboot geschickt hat«, sagte Jorana. »Vielleicht wollen die Götter, daß die Feindschaft zwischen Askaloth und Ekkelund ein Ende nimmt, und sie haben uns deshalb das Boot geschickt. Wir müßten diesem Wink der Götter gehorchen und die Ekkelunder wie Freunde aufnehmen, anstatt sie zu bekämpfen. Wenn sie dann nach Hause zurückkehren und berichten, daß sie die Gastfreundschaft der Askalother genossen haben, wäre das vielleicht der Beginn eines dauerhaften Friedens zwischen unseren beiden Städten.« »Das hättest du deinem Vater auseinandersetzen müssen, Jorana Mondelstochter«, sagte ich kühl. Sie drückte meine Hände fester. »Begleite mich zum Hafen, Altakaan«, bat sie. »Auf dich wird Vater hören. Weise ihn darauf hin, daß uns Tyde ein Zeichen gegeben haben könnte, um den Kriegszustand zu beenden. Sage irgend etwas, aber verhindere, daß er das Schiff versenkt, ohne die Rechtfertigung der Ekkelunder gehört zu haben. Ich spüre, daß das weitere Schicksal unseres Volkes von dieser Begegnung abhängt. Komm, Altakaan, dir wird es möglich sein, Vater zu Vernunft zu bringen …« Und Jorana ergriff meinen Arm und lief mit mir aus dem Haus und zum Hafenbecken hinunter. Ich konnte ihr einfach nicht widerstehen.
* Als wir die Befestigungsmauer erreichten, gab Mondel gerade das Zeichen für die Männer an den Steinschleudern. Die Wurfmaschinen traten augenblicklich in Tätigkeit und schleuderten ihre Geschosse auf das Meer hinaus. Das Fischerboot wurde von mehreren Steinen getroffen; der Mast knickte, das meergrüne Segel senkte sich über die sechsköpfige Besatzung an den Rudern und legte sich wie ein Leichentuch über sie. Ein riesiger Felsbrocken hatte die Bordwand getroffen und ein Leck geschlagen. Das Boot begann schnell zu sinken. Die Askalother brachen in ein Triumphgeschrei aus, daß man meinen konnte, sie hätten eine ganze Flotte versenkt. Sie warfen ihre Arme in die Höhe, daß die blauen Roben wie Siegesfahnen in der Luft flatterten und rasselten mit ihren Amtsketten und Orden. Und sie schrien: »Tyde holt die Ekkelunder!« Ich trat neben Mondel hin und sagte so leise, daß nur er es hören konnte: »Zehntausend Askalother – eine ganze Stadt – gegen sechs Fischer! Fürwahr, ein ausgeglichener Kampf!«
Sein verklärter Gesichtsausdruck verflüchtigte sich, und er blickte mich böse an. »Was sind das für seltsame Worte, Altakaan Elementemeister?« fragte er drohend. »Sie stammen nicht von mir, sondern von Tyde«, erwiderte ich. »Der gottgleiche Herr der drei Meere sieht es mit Unmut, daß die, die er als Boten des Friedens über das Nordmeer geschickt hat, von den Askalothern erschlagen werden.« Mondel runzelte die Stirn. »Du sprichst immer seltsamer, Altakaan. Wie kannst du es wagen, die Ekkelunder ›Boten des Friedens‹ zu nennen. Das kann Tyde nicht gemeint haben. Du hast dich sicherlich verhört.« »Möglich«, schränkte ich ein, und mir wurde heiß. »Tyde spricht von sehr weit zu mir, aus Meerestiefen, so daß seine Botschaft durch das Rauschen des Wassers übertönt wird. Aber ich bin ganz sicher, daß Tyde nicht will, daß du die Fischer hilflos ertrinken läßt.« »Du meinst, es sei Tydes Wille, daß die Ekkelunder am Leben bleiben?« fragte Mondel unwillig. »Für den Augenblick zumindest«, sagte ich. »Fische sie aus dem Wasser und setze sie gefangen. Danach wird sich finden, was mit ihnen geschehen soll. Und wenn es Tydes Wille ist, daß sie sterben sollen, dann ergibt sich für dich die Möglichkeit, sie auf aufsehenerregendere Art und Weise in den Tod zu schicken.« Mondel überlegte kurz, dann entschloß er sich. »Los, holt die Ekkelunder aus dem Wasser und werft sie in den Turm!« befahl er seinen Leuten. »Wir werden ein großes Siegesfest veranstalten, an dessen Höhepunkt die Ekkelunder hingerichtet werden sollen.« Die sechs Ekkelunder wurden aus dem Wasser gezogen und unter den Schmährufen der Askalother in den »Meergrünen Turm« gebracht. Dieser Turm war all die Jahrhunderte für den Zweck freigehalten worden, gefangene Ekkelunder darin unterzubringen. Mondel konnte mir dankbar sein, daß ich ihn daran gehindert hatte, die Ekkelunder zu töten, denn so konnte wenigstens, zum erstenmal seit zweitausend Jahren, der Turm seiner Bestimmung gerecht werden. Die Soldaten in den blauen Roben konnten zwar mit Mühe eine schmale Gasse in der Menge der Schaulustigen freihalten, durch die die triefend nassen Ekkelunder geführt wurden. Jorana stand neben mir am Turm, als die sechs von ihren Bewachern durch das eisenbeschlagene Tor geführt wurden. »Danke, daß du ihnen das Leben gerettet hast, Altakaan«, flüsterte sie mir zu und drückte meinen Arm. Hinter mir hob eine fette Fischersfrau ihr Jüngstes hoch und rief dem plärrenden Balg mit keifender Stimme zu: »Siehst du die Ekkelunder? Schau sie dir genau an. Wenn du nicht immer brav deinen Fischbrei ißt, werden sie dich holen!« Daraufhin plärrte das Balg nur noch mehr.
Ich muß gestehen, daß ich mir die Ekkelunder eigentlich anders vorgestellt hatte. Nach den Schilderungen der Askalother hatte ich sie mir als krummbeinige Wilde, mit fliehenden Stirnen, Raubtiergebissen, Spitzohren und vor Mordlust funkelnden Augen ausgemalt. Daß dieses Bild nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen konnte, war auch mir klar, weil kein lebender Askalother je einen Ekkelunder zu Gesicht bekommen hatte. Aber ich war beim Anblick dieser sechs jungen Männer dennoch überrascht, denn sie unterschieden sich durch nichts – außer der Farbe ihrer Kleidung, die meergrün war – von gleichalterigen Askalothern. Einer von ihnen, der an ihrer Spitze ging und allem Anschein nach der Anführer war, stach mir besonders ins Auge. Und ebenso fiel er Jorana auf, denn ihre Blicke hingen wie gebannt an ihm. Dieser Ekkelunder war größer als die anderen, hatte eine blonde, wehende Mähne und kluge, blaue Augen; sein entschlossen vorgerecktes Kinn wurde von einem dichten Bart noch mehr betont. Zuerst hatte er versucht, mit den Askalothern zu sprechen, ihnen irgendwelche Erklärungen zu geben, doch als er für seine Verständigungsbemühungen nur Hiebe erntete, strafte er die Umstehenden mit Verachtung. Als er an Joranas Höhe ankam, wandte er sich jedoch ruckartig in ihre Richtung, als sei der Blitz in ihn gefahren. Jorana begegnete seinem Blick und klammerte sich unwillkürlich an mich, als hätte sie einen Schwächeanfall. Gleich darauf verschwand der blonde, blauäugige Hüne im Turm, der als Gefängnis für gefangene Ekkelunder gedacht war. Jorana entspannte sich, und ich war erleichtert, daß dieser eindrucksvolle Ekkelunder durch die dicksten Steinmauern von ganz Askaloth von Jorana getrennt war. Diese verrückte Schwärmerin, die so überhaupt nicht traditionsbewußt war, wäre imstande gewesen, sich sogar in einen Ekkelunder zu verlieben. Und das war selbst für mich eine schreckliche Vorstellung, obwohl ich kein Askalother war.
* Du hältst mich wohl für einen großen, alten Narren, der, sich seiner Grenzen nicht bewußt, sich in ein junges Ding verschaut hat. Aber ich habe zweierlei zu meiner Rechtfertigung vorzubringen. Man muß Jorana gesehen haben, um urteilen zu können. Sie ist nicht nur schön im herkömmlichen Sinn, sondern mehr noch das fleischgewordene Weib schlechthin, so wie es sich ein Mann erträumt, aber im Leben nie bekommt. Wäre ich ein Dichter, ich würde viele Vergleiche finden, um Joranas Schönheit beschreiben zu können. So kann ich mich nur auf das Wesentliche beschränken, ihre gertenschlanke Figur lobpreisen, die Anmut ihrer Bewegung, das lange blonde Haar und – ihre Klugheit
hervorheben, die sie über alle anderen Frauen stellt. Und dabei ist sie längst kein Mädchen mehr, sondern mit ihren vierundzwanzig Sommern selbst schon eine reife Frau und somit in einem Alter, in dem andere Frauen jenseits aller Wertmaßstäbe sind. Damit bin ich beim Alter angekommen und dem zweiten Teil meiner Rechtfertigung. Du blickst mir ins Gesicht, Dragon, siehst gegerbte, lederartige Haut, Runzeln und Falten und meinst, das Alter habe sie geprägt. Aber das stimmt nicht, denn nicht das Alter hat in meinem Gesicht Spuren hinterlassen, sondern das Leben – ein ach so kurzes, aber in vollen Zügen genossenes Leben. Du kannst siebzig Sommer alt sein, und den Eindruck eines leidlich frischen Jünglings erwecken, und du kannst dreißig Sommer leben und die Spuren von siebzig Sommern im Gesicht tragen. Ich sage dir, Dragon, es kommt nicht darauf an, wie lange du lebst, sondern wie schnell. Ich habe Vitu, dem Lebensgeist, zu schnell gelebt, deshalb hat er mich gebrandmarkt. Vielleicht erzähle ich dir meine Lebensgeschichte ein andermal. Das würde aber voraussetzen, daß wir zusammenbleiben. Du kannst mir glauben, daß der Altersunterschied zwischen Jorana und mir nicht groß ist. Wenn überhaupt, dann ist sie nur wenige Monde jünger als ich. Du glaubst mir nicht, ich weiß. Aber ich schwöre dir, daß ich das Feuer der Jugend in mir trage. Ich muß aber zugeben, daß dieser blonde Ekkelunder besser zu ihr passen würde, und sie gäben sicherlich ein schönes Paar ab, wenn er nicht eben ein Ekkelunder wäre. Ich habe es Jorana während ihrer Begegnung am »Meergrünen Turm« angesehen, daß sie Gefallen an ihm fand. Vielleicht war ihr Interesse aber auch nur darin begründet, daß sie in ihm die Möglichkeit sah, den Kriegszustand zwischen Askaloth und Ekkelund zu beenden. Das gab sie auch als Grund an, als sie zwei Tage später zu mir in den Leuchtturm kam. »Warst du dabei, als Vater mit den Gefangenen sprach, Altakaan?« fragte sie mich. »Nein«, antwortete ich wahrheitsgetreu. »Weißt du dann wenigstens, was bei den Verhandlungen mit ihnen herausgekommen ist?« »Nein«, antwortete ich ungehalten; mir behagte das Gesprächsthema nicht. Gereizt fuhr ich fort: »Ich glaube auch gar nicht, daß Mondel mit den Ekkelundern Verhandlungen geführt hat. Wahrscheinlicher ist, daß er sie beschimpft und ihnen erklärt hat, auf welche Art und Weise sie sterben werden. Aber ich weiß darüber nichts, und selbst wenn ich es wüßte, würde ich dir nichts verraten. Warum wendest du dich in deiner Wißbegierde nicht an Mondel selbst? Er ist doch dein Vater!« »Du weißt, wie starrsinnig er sein kann«, erwiderte Jorana. »Er schweigt auf alle meine Fragen verbissen, und wenn es ihm zuviel wird, droht er sogar damit, mich
ebenfalls in den Turm zu stecken. Aber das würde er nie tun. Andernfalls könnte ich mit den Ekkelundern selbst sprechen. Ich würde viel dafür geben, wenn ich das könnte.« »Du bist von Sinnen, Jorana!« »Es ist mir ernst, Altakaan. Ich muß mit den Ekkelundern sprechen. Ein einziges Gespräch könnte unsere Beziehungen zu Ekkelund verbessern und wäre vielleicht der erste Schritt zu einem dauerhaften Frieden. Hilf mir, Altakaan!« »Kommt nicht in Frage!« »Ich kenne einen Geheimgang, der geradewegs in den Turm hineinfuhrt. Da die Wachen außerhalb des Turmes stehen, können wir nicht entdeckt werden. Es ist ganz ungefährlich.« »Dann geh doch allein.« »Ich kann nur sicher sein, daß du mich bei Vater nicht verrätst, wenn du mich begleitest. Wenn du mir hilfst, dann werde ich alles für dich tun – alles, Altakaan.« Sie wußte natürlich, wie sehr ich sie begehrte und daß ich ihrem Liebreiz nicht widerstehen konnte. »Gut, ich helfe dir, Jorana«, hörte ich mich sagen. »Und ich verlange keine Gegenleistung von dir.« Ich wollte sie nicht haben, nicht auf diese Weise. Wenn man etwas liebt, dann will man es nicht nur kurz besitzen, um es dann für immer zu verlieren, sondern man verzichtet eher darauf und behält es dafür in guter Erinnerung. Schon eine Stunde nach diesem Gespräch ging ich mit Jorana. Sie führte mich in ein altes Haus in der Nähe des »Meergrünen Turmes«. Dort gab es einen versteckten Zugang in die Katakomben, die noch aus der Zeit vor dem Großen Chaos stammten. Die Karner mit den Gebeinen der großen Seefahrer waren längst schon alle leer. Jorana wußte zu berichten, daß man sie am Beginn des Großen Chaos herausgeholt und in Skortsch hatte eingehen lassen. Ihre Asche war dem Meer übergeben worden. Früher war man durch den Turm in die Katakomben abgestiegen, doch jetzt wußte kaum mehr jemand etwas von ihrem Vorhandensein. Jorana hatte als Kind zufällig die Katakomben entdeckt und dort oft mit ihren Freunden gespielt, bis ihr Vater dies verbot. Jetzt, als sie nach einem Weg suchte, um mit den gefangenen Ekkelundern in Verbindung treten zu können, erinnerte sie sich wieder der Katakomben. Wir leuchteten uns mit einer Fackel den Weg. Jorana gestand mir, daß sie heute mehr Angst hatte als damals, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie wußte, daß sie heute eine schwerere Strafe zu erwarten hatte, wenn ihr Vater ihr auf die Schliche kam – von mir gar nicht zu sprechen. Aber Joranas Furcht vor Mondel war geringer als ihre Neugierde – und ich Unglücklicher begleitete sie, ohne auch nur zu versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Wir kamen zu einer Tür, die auf unserer Seite durch drei schwere Riegel
verschlossen war. Neben der Tür lag ein Skelett. Es stammte wahrscheinlich von dem Wächter, der in uralter Zeit darauf geachtet hatte, daß niemand durch den Turm in die Katakomben eindrang. Es kostete mich einige Mühe, die verrosteten Riegel zu öffnen. Aber dann war der Weg in den Turm frei. Wir befanden uns in der Folterkammer. »Ich begleite dich nicht nach oben, Jorana«, sagte ich. »Ich möchte mit dieser Sache nichts zu tun haben.« Jorana ging allein in den Turm hinauf. Ich wartete in der Folterkammer auf ihre Rückkehr. Nur einmal stieg ich die Wendeltreppe hinauf, um am Eingangstor zu lauschen. Durch die Ritzen hörte ich die Stimmen der beiden Wachen, die draußen standen und sich miteinander unterhielten; es war nicht zu befürchten, daß sie vor Sonnenuntergang, wenn sie den Gefangenen das kärgliche Abendbrot brachten, in den Turm kamen. Aber trotzdem wurde ich immer unruhiger, denn Jorana wollte und wollte nicht zurückkommen. Ich verlor in der Folterkammer jegliches Zeitgefühl. Als ich dann endlich ihre hastenden Schritte vernahm und sie mit gerötetem Gesicht in die Folterkammer kam, rannte sie mit wehendem Kleid an mir vorbei und rief mir dabei zu: »Schnell, fort von hier. Angyr Asdamssohn hat durch das Zellenfenster meinen Vater auf den Turm zukommen gesehen.« Gerade als wir durch die Verbindungstür in die Katakomben flüchteten, hörte ich von oben Geräusche. Mir zitterten bei dem Gedanken die Knie, was passiert wäre, wenn Mondel nur um einige Atemzüge schneller gewesen wäre. Nachdem ich die Riegel zugezogen hatte, lehnte ich mich geschwächt gegen die Tür. »Ich danke dir, Altakaan«, sagte Jorana mit leuchtenden Augen und drückte mir einen Kuß auf die Wange. »Du hast mir sehr geholfen. Jetzt weiß ich, warum Vater kein Wort über die Gespräche mit den Gefangenen verlauten ließ. Angyr hat mir alles gesagt – was sich in Ekkelund zugetragen hat und warum er nach Askaloth gekommen ist. Das war kein Zufall, Altakaan. Er und seine fünf Getreuen …« »Kein Wort mehr, Jorana«, unterbrach ich sie. »Ich will nichts von deinem Gespräch mit den Ekkelundern wissen.« »Aber es ist ungeheuer wichtig«, beschwor sie mich. »Wenn du wüßtest, was in Ekkelund passiert ist …« »Ich will es nicht wissen«, sagte ich. »Ich will nicht noch größere Schuld auf mich laden, indem ich mich zu deinem Mitwisser mache. Ich bereue bereits, was ich getan habe. Verlange nicht noch einmal, daß ich dich hierher begleite. Ich kann es nicht wieder tun.« Jorana nickte. »Ich werde nicht mehr verlangen, daß du deinen Kopf für mich riskierst, Altakaan.
Vergessen wir, was geschehen ist.« Wenn ich damals geahnt hätte, was Jorana von den Gefangenen erfuhr, hätte ich mich nicht geweigert, sie anzuhören. Denn mit diesem Wissen wäre ich von den kommenden Ereignissen nicht überrascht worden.
* Noch am gleichen Abend suchte mich Mondel in meinem Leuchtturm auf. Es geschah selten, daß er mich besuchte, denn wenn er etwas von mir wollte, ließ er mich in seinen Palast rufen. Ich wußte also, daß irgendein bedeutungsvoller Grund vorlag, wenn er den Weg zu meinem Leuchtturm fand. Meine anfängliche Befürchtung, daß Jorana ihm vielleicht verraten hatte, daß ich mit ihr im Turm gewesen war, erwies sich als unbegründet. Denn sonst wäre Mondel nicht so zurückhaltend gewesen. Er wirkte bedrückt und nachdenklich, so als hätte er Schwierigkeiten, mit denen er nicht fertig wurde. »Was siehst du durch das Fernauge, Altakaan, Bewacher der drei Meere?« fragte er mich bei seinem Eintreffen. »Das Meer ist besonders ruhig, Mondel, Schutzherr von Askaloth«, antwortete ich. »Keine Gefahr im Anzug.« Ich dachte, seine Frage beziehe sich auf Schiffe der Ekkelunder, deren Angriff in Askaloth immer noch erwartet wurde. Aber er sagte darüber kein Wort, sondern äußerte sich in einer Weise, die mich vermuten ließ, daß seine Besorgnis einen ganz anderen Grund hatte. »Altakaan Elementemeister«, sagte er bedächtig, »du behauptest, ein Günstling des Wassergeists zu sein. Wenn das wahr ist, dann mußt du auch wissen, wie Tyde uns gesinnt ist.« »Habe ich nicht schon oft bewiesen, daß Tyde mit mir ist?« entgegnete ich etwas unsicher und hoffte, daß er nicht ein zu großes Wunder von mir verlangte. »So scheint es«, sagte er und nickte anerkennend, »den in all den Jahren, die du in Askaloth bist, hat uns Tyde mehr Segen als Unheil gebracht. Ich hoffe, du erwirkst auch weiterhin, daß der Wassergeist uns wohlgesinnt bleibt.« »Ich werde weiterhin dafür sorgen«, versprach ich, »daß Tyde auch in den nächsten Jahren die Fische in der Bucht von Askaloth gedeihen läßt, daß die See vor Askaloth glatt bleibt und keine Woge das Schiff eines Askalothers kentern läßt; es wird auch in den kommenden Sommern so sein, daß Tyde den Meeresungeheuern den Zugang in die Bucht von Askaloth versperrt.« Dieses Versprechen konnte ich ruhig abgeben, denn die Bucht war seicht, so daß sich ohnehin kein Seeungeheuer hierher verirren würde. »Wenn du sagst, daß Tyde uns nicht grollt, dann bin ich beruhigt«, sagte Mondel erleichtert. Nach einer Weile des Schweigens fuhr er fort: »Mich würde nur noch
interessieren, wie Tyde zu den Ekkelundern steht. Die Gefangenen haben einige Aussagen gemacht, die ihr Verhältnis zum Wassergeist in einem für uns erfreulichen Licht zeigen. Aber ich bin nicht sicher, ob die Gefangenen die Wahrheit sagen. Vielleicht – wollen sie uns nur täuschen, uns in Sicherheit wiegen und Askaloth mit ihrer Flotte überfallen, wenn wir es am wenigsten erwarten. Ich möchte Gewißheit haben, Altakaan Elementemeister. Deshalb sollst du mir sagen, was Tyde den Ekkelundern beschert: Segen oder Fluch. Ich muß wissen, ob wirklich geschehen ist, was die gefangenen Ekkelunder erzählt haben.« Ich begann zu schwitzen; jetzt bereute ich, daß ich mir Joranas Bericht nicht angehört hatte. Denn von ihr hätte ich erfahren, was sich in Ekkelund zutrug. Aus Mondels Worten war das nicht herauszuhören, aber immerhin konnte ich mir zusammenreimen, daß die Gefangenen schlechte Nachricht aus Ekkelund brachten – und zwar mußte etwas in Zusammenhang mit Tyde passiert sein, das schlecht für die Ekkelunder war. Also wählte ich meine Worte sehr vorsichtig, gab mich sehr geheimnisvoll und sagte zugleich doch aus, was Mondel von mir hören wollte. »Ich sehe, daß die Ekkelunder bei Tyde in Ungnade gefallen sind. Sie können sich mit den Schiffen nicht mehr weit aufs Meer hinauswagen, weil Tyde sie in ihren Schlund hinunterzieht, die Fischer kehren mit leeren Netzen zurück. Aber Tyde bedroht nicht nur die Seefahrer, sondern bestraft auch die, die sich hinter den Mauern der Stadt verschanzen und sich so vor dem nassen Element sicher fühlen. Doch niemand in Eckelund ist vor Tydes Zorn sicher, die Stadt der Feinde Askaloths steht im Zeichen eines großen Unheils.« Mondel war von meinen Weissagungen sehr beeindruckt. »Du sagst das gleiche wie die gefangenen Ekkelunder, nur gebrauchst du andere Worte«, meinte der Schutzherr von Askaloth. »Fast meine ich, daß du gesehen hast, was sich in Ekkelund zutrug.« »Tyde hat mir ein Zeichen gegeben«, behauptete ich und versuchte, meine Überraschung darüber, daß ich die Ereignisse von Ekkelund erraten haben sollte, zu verbergen. Was sich wirklich zugetragen hatte, wußte ich nach wie vor nicht – und auch Mondel verriet es mir nicht. Er sagte nur: »Bist du auch ganz sicher, daß wir von Tyde nicht ein ähnliches Schicksal zu erwarten haben, Atlakaan Elernentemeister?« »Solange ich in Askaloth bin, habt ihr nichts zu befürchten«, versicherte ich ihm. Mondel umarmte mich gerührt, und als er meinen Leuchtturm verließ, da schien es, als hätte er sich eben von einer schweren Bürde befreit und könne nun wieder frei atmen. Die Bürde, derer er sich entledigte, hatte nun ich zu tragen.
4. In den folgenden zwei Tagen versuchte ich, Jorana Mondelstochter unter vier Augen zu sprechen. Da ich aber meinen Platz am Fernauge nicht mehr verließ – denn irgendwie ahnte ich das kommende Unheil bereits –, schickte ich meinen Helfer Abriax aus, um Jorana in meinen Leuchtturm zu bitten. Doch Jorana nahm meine Einladung nicht an; sie ließ mir durch Abriax ausrichten, daß sie einem Gespräch unter vier Augen nicht zustimmen könne. Ich schickte Abriax nochmals aus, doch diesmal konnte er Jorana nirgends finden. Sie war weder im Palast ihres Vaters noch an einem der anderen Orte, an denen sie sich aufzuhalten pflegte, und niemand konnte sagen, wo sie sich befand. Jorana schien wie vom Erdboden verschwunden. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schwenkte ich das Fernauge und richtete es auf den »Meergrünen Turm«, in dem die sechs gefangenen Ekkelunder untergebracht waren. Und dort sah ich sie. Ich erkannte sie ganz deutlich durch ein kleines vergittertes Fenster im obersten Stockwerk des Turmes. Sie stand vor der Zellentür aus Eisenstäben und war in ein angeregtes Gespräch mit den Gefangenen vertieft. Am liebsten hätte ich mich selbst auf den Weg in die Katakomben gemacht, um eine Aussprache mit Jorana zu erzwingen, doch wagte ich nicht, meinen Beobachtungsposten zu verlassen. Ich blieb in meinem Leuchtturm und hatte das Fernauge auf das offene Meer gerichtet. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt, nichts regte sich – und doch hatte ich das Gefühl, daß dieser Friede trügerisch sei. Manchmal schwenkte ich das Fernauge zum Turm mit den Gefangenen hinüber und konnte noch einige Male Jorana durch das kleine, vergitterte Fenster beobachten. Sie besuchte die Gefangenen an diesem Tage noch zweimal – am Nachmittag und am Abend, nachdem sie ihr Essen erhalten hatten – und erschien am zweiten Tag schon in aller Frühe und dann noch einmal gegen Mittag. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie so oft bei den Gefangenen wollte und sorgte mich um sie. Immerhin war es möglich, daß der blonde Ekkelunder, an dem sie Gefallen gefunden zu haben schien, sie dazu überredete, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Und außerdem – wie leicht hätte sie bei einem ihrer heimlichen Besuche im Turm von den Wachen zufällig überrascht werden können! Wer weiß, welchen Verlauf das alles genommen hätte, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, das alles andere überschattete und zur Zerstörung der Stadt führte.
*
Es war zur Zeit der Ebbe. Das Meer war ruhig wie nie, der Wasserstand in den Becken der Fischzucht war besonders niedrig. Das Wasser in den Becken der räuberischen Pescats schäumte, weil die Raubfische sich in den zu niedrig gewordenen Becken wie verrückt gebärdeten. Das war bei Ebbe immer so. Ich war immer noch von unheilvollen Ahnungen geplagt und ließ deshalb das Meer nicht aus den Augen, die mir vom vielen Starren schon weh taten. Deshalb glaubte ich zuerst, einer Täuschung zum Opfer gefallen zu sein, als ich am Horizont einen dunklen Streifen sah, der in wilde Bewegung geraten zu sein schien. Ich wischte mir über die Augen, aber die Erscheinung verschwand nicht. Der dunkle Streifen, der sich über den ganzen Horizont dahinzog, blieb. Sofort war ich am Fernauge und nahm eine, Scharfeinstellung vor. Was ich mit bloßem Auge nicht klar erkennen konnte – und nicht recht glauben wollte –, sah ich nun ganz deutlich vor mir. »Abriax Altakaangehilfe gibt sofort Alarm!« rief ich meinem Helfer zu. »Kommen die Ekkelunder?« fragte er. »Du sollst Alarm geben!« herrschte ich ihn ungehalten an. Ohne eine weitere Frage rannte er zu dem mächtigen Nebelhorn und blies aus Leibeskräften hinein. Während das dumpfe Tuten weit über Askaloth hinaus hallte, blickte ich neuerlich durch das Fernauge, dabei zitterten mir die Knie. Es konnte kein Zweifel bestehen: Vom Meer her wälzte sich eine mehr als haushohe Flutwelle auf die Bucht zu. »Blase das Horn bis zum Umfallen, Abriax!« trug ich meinem Gehilfen auf. »Eine riesige Flutwelle kommt auf Askaloth zu. Ich mache mich auf den Weg, um Mondel und die Stadtbewohner zu warnen.« Abriax’ Augen waren groß und fragend auf mich gerichtet, als ich die oberste Plattform des Leuchtturms verließ. Aber er war klug genug, keine Fragen zu stellen, sondern weiter das Nebelhorn zu blasen. Der dumpfe, durchdringende Ton begleitete mich die ganze Zeit hindurch, während ich die Wendeltreppe hinunterhastete. Als ich aus dem Leuchtturm kam, näherten sich bereits einige Fischzüchter in ihren blauen Roben und in voller Bewaffnung. »Kommen die Hunde aus Ekkelund endlich?« riefen sie mir erwartungsvoll zu. »Werft die Waffen fort und rennt, was eure Beinen hergeben«, rief ich im Laufen zurück. »Das, was auf Askaloth zukommt, könnt ihr mit dem Schwert nicht bekämpfen. Eine große Flutwelle rollt heran, der die Befestigungsmauern der Stadt nicht standhalten können.« »Aber es ist Ebbe!« sagten die verblüfften Fischzüchter. Und sie blickten aufs Meer hinaus – und sie sahen den dunklen Streifen entlang des Horizonts, dessen Grat von weißen Schaumkronen gebildet wurde. Ein wildes
Geschrei erhob sich und die Schreckensrufe eilten mir voraus. »Tyde will Askaloth verschlingen!« »Das Meer hat sich zu einem Wasserberg aufgetürmt und wird unsere Stadt überfluten.« Und immer wieder sagten fassungslose Askalother: »Aber es ist Ebbe!« »Nein!« war die Antwort jener Bürger, die von den Türmen und den höchsten Punkten der Stadtmauern aufs Meer geblickt hatten. »Tyde schickt die Flut!« Ich blickte immer wieder zurück zum Meer, weil ich das Gefühl hatte, die Flutwelle könnte mich einholen – so schnell ich auch lief. Aber seltsam, die Wellenberge schienen überhaupt nicht näherzukommen. Mit bloßem Auge war noch immer nur ein dunkler Streifen zu erkennen, der über die große Entfernung nicht einmal besonders bedrohlich aussah. Aber ich wußte es besser, denn ich hatte die Flutwelle durch das Fernauge gesehen. Und Abriax blies weiterhin das Nebelhorn, dessen alarmierender Ton die Askalother auf die drohende Gefahr aufmerksam machen sollte. »Rette sich, wer kann!« rief ich den Zögernden zu. »Nehmt das Wichtigste eurer Habe und flüchtet in die Berge. Dort kann euch die Flut nicht erreichen.« »Tyde will uns strafen!« Frauen stürzten aus den Häusern, Krüge mit Wertgegenständen und Lebensmitteln auf dem Kopf, Kleinkinder in den Armen. Eine Frau, die ihr Neugeborenes gerade säugte, rief kreischend nach ihrem Mann. »Der sitzt im ›Stolz von Askaloth‹ und besäuft sich!« rief ihr jemand zu. »Laß ihn, Frau«, sagte ich zu ihr und drängte sie zu einem Wagen, der von einem Esel gezogen wurde. Ich hob sie hinauf und rannte weiter. Noch bevor ich den Palast des Schutzherrn von Askaloth erreichte, kam mir Mondel entgegen. »Was hat das zu bedeuten, Bewacher der drei Meere!« herrschte er mich an. Auch er hatte volle Kampfausrüstung angelegt. Hinter ihm tauchte seine Tochter Jorana auf. »Wir müssen Askaloth räumen«, beschwor ich ihn. »Eine Flutwelle, höher als der höchste Turm der Stadt, kommt auf uns zu. Sie wird Askaloth überschwemmen.« Mondel blickte mit zusammengekniffenen Augen aufs Meer hinaus und wurde blaß. Seine Rechte umschloß den Knauf des Schwertes, und dabei sah er mich mit wildem Blick an. »Du hast geschworen, daß Tyde uns wohlgesinnt sei, Atlakaan«, sagte er mit zornbebender Stimme. »Du hast hoch und heilig versprochen, daß uns vom Wassergeist keine Gefahr droht.« Er zog das Schwert, doch da fiel ihm Jorana in den Arm. »Vater!« rief sie. »Hast du nichts anderes im Sinn als deine Rache? Viel wichtiger
ist es doch, die Menschen vor der Flutwelle in Sicherheit zu bringen.« Das brachte Mondel zur Besinnung. Er steckte das Schwert zurück. »Du entgehst deiner Strafe nicht, Altakaan Elementemeister«, sagte er zu mir, dann lief er zur befestigten Hafenmauer hinunter und befahl den Kriegern, die Stadtmauern zu räumen. Manche von ihnen glaubten immer noch, daß das Alarmsignal der Flotte aus Ekkelund galt – sie dachten, der dunkle Streifen am Horizont bestünde aus Feindschiffen. »Lauf fort, Altakaan«, riet mir Jorana. »Bring dich in Sicherheit, bevor dich der Zorn meines Vaters treffen kann.« »Wo willst du hin, Jorana?« fragte ich, als sie in Richtung des Hafens davonlaufen wollte. »Ich muß die Gefangenen aus dem Turm befreien«, antwortete sie. Gleich darauf war sie in der Menge verschwunden. Ich stand da, wie vor den Kopf gestoßen. Erst jetzt wurde mir so recht bewußt, in welcher Lage ich mich befand. Ich hatte Mondel versichert, daß uns von Tyde keine Gefahr drohe – und nun schickte der Wassergeist eine Flutwelle nach Askaloth. Anstatt mich sofort auf die Flucht zu machen, hatte ich Alarm geschlagen und mich zu Mondel begeben, um ihm persönlich Bericht zu erstatten. Das war dumm von mir gewesen, ich erkannte es erst jetzt, denn damit hatte ich mein Schicksal besiegelt. Hätte ich sofort die Flucht ergriffen, wäre ich aus der Stadt gewesen, bevor irgend jemand mich zur Rechenschaft hätte ziehen können. Und doch bereute ich meine Handlungsweise nicht, denn ohne meinen Einsatz wären die Askalother zu spät gewarnt worden – und viele, die sich nun rechtzeitig in die Vorberge in Sicherheit bringen konnten, wären in der Flutwelle ertrunken. Was war schon mein Leben gegen das von Hunderten von unschuldigen Menschen? Mein Wort, Dragon, ich dachte in diesen Augenblicken wirklich so und war überhaupt nicht auf meine eigene Sicherheit bedacht. Ich hätte in dem allgemeinen Chaos immer noch flüchten können. Aber ich tat es nicht. Mir war es wichtiger, einem alten Marin auf die Beine zu helfen, der von der rücksichtslosen Menge niedergestoßen worden war und nun von den Flüchtenden beinahe zu Tode getrampelt wurde. Ich stürzte in eine Kneipe, wo einige Betrunkene ungeachtet der tödlichen Bedrohung, die vom Meer kam, weiterfeierten. Ich verfrachtete sie mit Hilfe des Wirtes auf dessen Karren. Einen von ihnen mußte ich niederschlagen, weil er tätlich wurde und in seinem Rausch überhaupt nicht begriff, was vor sich ging. Als ich wieder auf die Straße kam, da war die Flutwelle schon deutlicher zu erkennen. Sie war nähergekommen und auch schon mit freiem Auge als das zu erkennen, was sie war: ein Gebirge aus Wasser, das, von der elementaren Kraft Tydes getrieben, unaufhaltsam auf die Küste zurollte. Bald würde die Flutwelle die vorgerückten Landzungen erreicht haben und die
Bucht von Askaloth in ihrer ganzen Breite ausfüllen. Ich sah, wie einige Fischer versuchten, ihre Boote hinter die Schutzmauern des Hafens in Sicherheit zu bringen. Bis sie das geschafft hätten, wäre die Flutwelle heran und würde sie unter sich begraben. Ich konnte nicht zusehen, wie diese um ihre Habe besorgten Narren in den Tod gingen, deshalb kletterte ich auf die Stadtmauer und rief ihnen im Namen Mondels zu, sich sofort um die Frauen und Kinder zu kümmern, die ohne Wagen oder Reittiere durch die Stadt irrten. Das wirkte, denn der Name Mondels flößte den Männern auch jetzt Respekt ein. Zumindest erreichte ich, daß sie ihr sinnloses Unterfangen aufgaben und an Land kamen. Als ich mich wieder anderen Aufgaben zuwenden wollte, erhielt ich plötzlich von der Seite einen fürchterlichen Schlag, der mich zu Boden warf. »Ich werde dich lehren, den Namen unseres Schutzherrn nicht zu mißbrauchen!« sagte einer der Krieger, die ins Hafenviertel abgestellt worden waren, um die Häuser zu räumen. »Glaube nur nicht, daß wir dich vergessen haben, Altakaan. Du wirst deiner gerechten Strafe nicht entgehen.« Bevor ich etwas zu meiner Rechtfertigung sagen konnte, wurde mir ein Knie in die Seite gerammt, daß mir die Luft wegblieb. Man fesselte mir die Hände und schleifte mich zu einem mit Hausrat beladenen Wagen, an dessen hintere Radachse ich gebunden wurde. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, trat mir ein Krieger die Beine unter dem Körper weg, so daß ich zu Boden ging und nachgeschleift wurde. Immer wenn ich versuchte, auf die Beine zu kommen, wurde ich erneut niedergetreten. Irgendwann hörte ich Jorana rufen: »Laßt mich los. Ihr könnt mich nicht mit Gewalt zwingen, die Stadt zu verlassen. Wenn ihr die Gefangenen nicht aus dem Turm holt, werde auch ich hierbleiben.« Die Krieger hatten für einen Augenblick genug damit zu tun, Jorana zu bändigen, die wie eine Wildkatze kämpfte, so daß ich wieder auf die Beine kommen konnte. Da sah sie mich. »Altakaan, was haben sie mit dir gemacht?« »Er ist ein Günstling Tydes und muß gewußt haben, daß uns der Wassergeist die Flutwelle schickt. Er ist ein Verräter, weil er uns nicht warnte«, sagte ein Krieger. Ein anderer stieß mir den Lanzenschaft zwischen die Beine, so daß ich wieder stürzte. Er sagte: »Mondel selbst hat uns befohlen, ihn gefangenzunehmen.« Jorana riß sich los und kam zu mir. Sie löste meine Fesseln, so daß ich nicht mehr von dem Wagen nachgezogen wurde. »Was seid ihr doch für Barbaren!«, herrschte sie die Krieger an. »Altakaan hätte
flüchten können, wenn ihm der Sinn danach gewesen wäre. Aber statt dessen hat er euch gewarnt und alles getan, um die Askalother vor der Flutwelle in Sicherheit zu bringen. Ich, Mondelstochter, verbürge mich für ihn. Und ihr schert euch fort und verwendet eure Kräfte für sinnvollere Taten.« Jorana stützte mich und schleppte mich von den Kriegern fort. Sie unternahmen nichts, um uns aufzuhalten. »Danke, Jorana«, sagte ich schwach. »Aber du hast meinen Tod nur hinausgezögert …« »Ich werde nicht zulassen, daß man dich oder einen der Ekkelunder in den Untergang treibt«, erklärte sie entschlossen. »Wohin bringst du mich?« fragte ich. »Ich muß versuchen, die Gefangenen zu retten«, antwortete sie. »Die Krieger haben mir schon einmal den Zutritt zum Turm verweigert. Deshalb werden wir versuchen, durch den Geheimgang hineinzugelangen.« Ich wollte dagegen aufbegehren, doch dann sah ich ein, daß ich mein Leben ebensogut auf diese Weise wie auf jede andere wegwerfen konnte. Ich war sowieso ein toter Mann, wenn mich der Zorn der Askalother traf. Wir gelangten ohne Zwischenfall in das verlassene Haus, von dem der unterirdische Gang zum Meergrünen Turm führte, und kamen bald darauf an unserem Ziel an. Diesmal begleitete ich Jorana in den Turm hinauf. Der blonde Hüne aus Ekkelund, den Jorana Angyr Asdamssohn nannte, stand an der Gittertür und rüttelte daran. »Jorana!« rief er bestürzt aus. »Warum kommst du hierher? Fliehe lieber, bevor es zu spät ist.« Jorana hielt eine schwere Eisenstange hoch und sagte: »Ich werde nicht zulassen, daß ihr hier zugrunde geht. Vielleicht gelingt es uns damit, das Gitter aufzubrechen.« Angyr nahm das Brecheisen an sich und setzte es wie einen Hebel am Schloß an. Ich blickte durch das vergitterte Fenster in die Bucht hinaus. Die Flutwelle war inzwischen zu eindrucksvoller Größe angeschwollen. Ihre ersten Ausläufer hatten die der Küste vorgelagerten Landzungen erreicht und überflutet. Ich sah, wie einige Fischerhütten, die lange schon unbewohnt waren, in den Fluten verschwanden. »Wir müssen fort, Jorana«, beschwor ich Mondels Tochter. »Noch ist es nicht zu spät. Wenn wir uns beeilen, können wir die Hügel noch erreichen. Die Flutwelle kommt nur langsam heran.« »Nein«, sagte Jorana entschlossen. »Ich gehe nicht ohne Angyr und seine Kameraden.« Angyr wurde am Brecheisen von zweien seiner Leute abgelöst. Der Schweiß rann ihnen in Strömen von der Stirn, als sie mit vereinten Kräften versuchten, das Schloß
aufzusprengen. Aber sie erreichten nur, daß sich die Eisenstange verbog. »Jorana, ich beschwöre dich …« begann Angyr Asdamssohn, doch Mondels Tochter unterbrach ihn. »Entweder kann ich mich mit dir retten, oder ich sterbe mit dir, Angyr. Ich könnte nicht mit der Gewißheit weiterleben, daß mein Vater deinen Tod verschuldet hat.« »Wir schaffen es nicht«, sagte der eine Ekkelunder am Brecheisen keuchend. Er ließ sich von einem anderen ablösen. Und die Flutwelle kam immer näher. Sie erreichte die ersten Fischbecken, riß die Dämme hinweg und zerstörte die Fischkulturen. »Wir sind verloren!« stellte ich fest. Ein Klirren – und dann sprang die Zellentür auf, die Gitterstäbe prallten gegen die Steinwand. »Geschafft!« »Zu Spät!« Die Ekkelunder waren frei, aber das half nun keinem mehr von uns. Die Flutwelle hatte den Hafen erreicht, schleuderte die Fischerboote gegen die Befestigungsmauer, hob sie hoch darüber und trieb sie durch die Straßen der Stadt. Die Flut hatte Askaloth erreicht und begann ihr Zerstörungswerk.
* »Es ist das gleiche Bild wie vor zwei Wochen in Ekkelund«, hörte ich Angyr über das Tosen des Wassers hinweg sagen. Ich traute meinen Ohren nicht. »Was sagst du da, Ekkelunder?« fragte ich ungläubig. Er sah mich verwundert an. »Vor nunmehr zehn Tagen hat Tyde eine Flutwelle nach Ekkelund geschickt«, erklärte Angyr. »Wir konnten sie noch rechtzeitig ausmachen, und sie rollte langsam genug auf das Land zu, daß sich die Bewohner der Stadt in höhergelegene Gebiete retten konnten. Es gab dabei nur wenige Menschenleben zu beklagen, aber dafür wurde um so größerer Schaden an den Bauwerken der Stadt angerichtet. Ich habe Joranas Vater davon erzählt und ihn davor gewarnt, daß diese Flutwelle auch Askaloth heimsuchen könnte. Doch er hat mir nicht geglaubt.« Jetzt erst verstand ich, was der Grund für Mondels Besuch bei mir im Leuchtturm war. Er glaubte dem Ekkelunder nicht recht, wollte seine Warnung aber auch nicht in den Wind schlagen. Deshalb holte er meinen Rat ein und war beruhigt, als ich ihm versicherte, daß Askaloth nichts von Tyde zu befürchten hätte. Verständlich, daß er mich nun für einen Verräter hielt, da die Flutwelle entgegen meiner Weissagungen doch nach Askaloth gekommen war. Hätte ich davon nur gewußt, was in Ekkelund geschehen war – Askaloth wäre gewappnet gewesen! »Erinnerst du dich, Atlakaan, daß ich dich aufklären wollte?« sagte Jorana. »Aber
du wolltest nichts von meiner Unterhaltung mit Angyr wissen und gebotst mir Schweigen. Selbst konnte ich nicht mit meinem Vater sprechen, denn sonst hätte er gewußt, daß ich mich heimlich in den Turm schlich …« Joranas weitere Worte gingen im Tosen der heranbrandenden Flutwelle unter. Das Gemäuer wurde wie von einem Erdbeben erschüttert, als das nasse Element Tydes mit ungeheurer Wucht dagegenrollte. Wir hielten uns an dem Eisengitter fest, Jorana klammerte sich schutzsuchend an Angyr, salzige Gischt stob durch die vergitterten Fenster herein. Wir alle dachten in diesen Augenblicken wohl das gleiche, nämlich daß unsere letzte Stunde geschlagen hatte. Aber das dicke Gemäuer des Turmes hielt der Flutwelle stand. Ringsum stürzten Häuser in sich zusammen, Dächer trieben wie Flöße in der Wirbelströmung herum, die Verteidigungsanlagen wurden hinweggeschwemmt, und das Gestänge der Wurfmaschinen knickte unter dem Gewicht der Wellenberge zusammen. Doch der Meergrüne Turm trotzte allen Gewalten. Als das Wasser wieder ins Meer abfloß, blieb eine Stätte der Zerstörung zurück, Askaloth war ein Ruinenfeld; nur wenige Gebäude außer dem Meergrünen Turm waren erhalten geblieben. Auf den schlammüberzogenen Straßen zwischen den Ruinen lagen Trümmer, sterbende Meerestiere und Haufen von Seetang. In die Stadtmauern waren große Breschen geschlagen worden. Fast alle Dämme der Fischteiche waren niedergerissen worden, nur das Becken mit den räuberischen Pescats war wie durch ein Wunder heil geblieben. Wir sprachen kein Wort miteinander, angesichts dieser schrecklichen Katastrophe hatten wir einander nichts zu sagen. Wir warteten, bis das Wasser zurückgeflutet war, dann stiegen wir die Turmtreppe hinunter. Das schwere, eisenbeschlagene Eingangstor war aus den Angeln gerissen worden. Der Keller mit dem Geheimgang stand noch unter Wasser. Das machte nichts, denn wir waren nicht darauf angewiesen, den Geheimgang zu benützen. Wir kamen ins Freie und erkletterten die Stadtmauer. Von dort sahen wir, daß nur ein einziges Schiff ganz geblieben war. Einige waren nicht so arg beschädigt, daß man sie nicht wieder seetüchtig hätte machen können. Doch dafür wären einige Tage harter Arbeit nötig gewesen. »Über das Meer können wir wegen der tobenden See nicht flüchten«, sagte Jorana. »Aber uns bleibt immer noch der Weg entlang der Küste. Bis sich die Askalother von den Hügeln ins flache Land herunterwagen, könnten wir längst schon in Sicherheit sein.« »Ich denke nicht an Flucht, Jorana«, sagte Angyr. »Ich bin mit einer bestimmten Mission nach Askaloth gekommen und werde nicht eher nach Ekkelund zurückkehren, bis ich Erfolg gehabt habe.«
»Aber du hast gesehen, wie mein Vater deine Botschaft aufgenommen hat«, hielt ihm Jorana entgegen. »Jetzt wird er anders denken«, behauptete Angyr. »Nach der Flut, vor der ich ihn gewarnt habe, sieht alles anders aus. Er weiß, daß ich die Wahrheit gesagt habe und muß erkennen, daß ich es ehrlich meine.« »Da kennst du meinen Vater schlecht, Angyr!« Der blonde Ekkelunder schüttelte den Kopf. »Mein Entschluß steht fest.« Jorana blickte zu mir. »Und du, Altakaan, was wird aus dir?« »Ich liefere mich ebenfalls der Gnade oder Ungnade deines Vaters aus«, sagte ich. »Ich habe die Flut auf wundersame Weise überlebt. Das zeigt mir, daß Tyde mir nicht zürnt. Das ist ein gutes Omen und gibt mir Mut, ein neues Leben in Askaloth zu beginnen.« Aber meine Hoffnungen erfüllten sich nicht. In der Mitte des nächsten Tages erschien Mondel an der Spitze einiger Krieger im Hafen. Als sie uns erblickten, bedrohten sie uns mit den Waffen. Mondel sprach zu den Ekkelundern: »Ihr habt Tydes Zorn über uns gebracht. Wir werden euch dem Wassergott opfern, damit er wieder versöhnt ist mit uns.« Und Mondel sagte zu mir: »Dich Tyde zu opfern, hieße den Wassergeist beleidigen. Du bist – ein Betrüger und Verräter und sollst als ruchloser Verbannter von dannen ziehen. Verlasse Askaloth durch das Südtor, so daß du auf deinem Weg aus der Stadt jenen Menschen begegnen mußt, die sich auf dem Rückweg in ihren Heimatort befinden. Jeder Askalother soll Gelegenheit haben, dich zu sehen, Altakaan, der du Tydes Zorn auf Askaloth gelenkt hat.« »Aber sie werden mich töten«, sagte ich. »Dann werden sie es – und ich hoffe für dich, daß sie es schnell tun!« Die Krieger führten mich durch das Südtor aus Askaloth in das Bergland, aus dem die Askalother in ihre Stadt zurückströmten. Ich bekam ihre volle Wut zu spüren. Sie beschimpften, verfluchten und steinigten mich – und dann ließen sie mich einfach liegen, weil sie mich für tot hielten. Als ich wieder zu mir kam, waren die Askalother wieder in ihre Stadt zurückgekehrt. Ich pflegte meine Wunden, so gut es ging, ernährte mich von Wurzeln und dem Fleisch, das ich den Aasfressern abjagte – und sah von den Hügeln den Askalothern beim Wiederaufbau der Stadt zu. Es ist bezeichnend, daß Mondel zuerst mit der Wiederherstellung der Befestigungsanlagen begann. Er ließ zuerst die Stadtmauern ausbessern und die
Wurfmaschinen reparieren; seine Krieger stehen vierundzwanzig Stunden am Tage Wache und beobachten das Meer. Aber ich bin sicher, daß sie es nicht nur deshalb tun, weil sie befürchten, Tyde könnte eine neue Flutwelle schicken. Da würden die Stadtmauern und die Wurfmaschinen auch nichts nützen. Nein, Mondel rechnet immer noch mit einem Überfall der Ekkelunder, obwohl er doch nun endlich daran glauben könnte, daß diese Stadt ebenfalls von einer Flutwelle heimgesucht wurde und die Ekkelunder sicherlich andere Dinge im Kopfe haben als einen Überfall auf Askaloth. Aber so ist Mondel nun einmal, alter Brauch zählt bei ihm mehr als die Gegebenheiten der Gegenwart. Ich habe mir überlegt, ob ich mein Glück noch einmal in Askaloth versuchen sollte. Wohin soll ich denn sonst gehen? Aber jetzt bin ich davon abgekommen. Mondel würde mich sicherlich töten lassen und mich zusammen mit den Ekkelundern dem Wassergeist opfern. Falls er Angyr und seine fünf Kameraden nicht bereits dem Meer übergeben hat. Und es ist auch besser für dich, Dragon, wenn du um Askaloth einen Bogen machst. Im Augenblick ist das keine Stadt, in der ein Scharlatan sein Glück machen könnte …
5. Dragon trat die Glut des Lagerfeuers aus und wandte sich dann Altakaan zu, der an einen Felsen gekauert schlief und mit Dragons Umhang zugedeckt war. Dragon nahm ihm behutsam den Umhang ab und warf ihn sich über. Er ging dabei aber offensichtlich nicht vorsichtig genug zu Werke, denn Altakaan erwachte und sprang auf die Beine, als gelte es, sich einer Gefahr entgegenzustellen. Sein schlaftrunkener Blick klärte sich, als er Dragon betrachtete. Er sagte: »Du bist früh auf den Beinen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen.« »Ich habe es eilig, nach Askaloth zu kommen.« »Was willst du dort?« fragte Altakaan herausfordernd. »Glaubst du meiner Erzählung etwa nicht? Ich schwöre dir, daß jedes Wort davon wahr ist.« »Ich glaube dir, Altakaan«, sagte Dragon und hing sich die Tasche mit seinen Schätzen an den Gürtel. »Aber deine Erzählung kann mich nicht abschrecken. Ganz im Gegenteil, vielleicht komme ich noch zurecht, um ein großes Unrecht zu verhindern.« »Sei kein Narr, Dragon«, sagte Altakaan beschwörend. »Vergiß Askaloth und schließe dich mir an. Wenn wir zusammenarbeiten, könnten wir jede Stadt erobern. Aber nicht Askaloth, denn dort ist man Magiern gegenüber mißtrauisch. Wenn man
dich sieht, wird man sich nur zu gut meiner erinnern und dir einen entsprechenden Empfang bereiten. Der leuchtende Stein auf deiner Stirn wird niemanden beeindrucken.« »Vielleicht doch«, erwiderte Dragon, »denn es ist Vestas Auge.« Altakaan winkte ab. »Darauf wird in Askaloth niemand hereinfallen. Sie werden dich erst gar nicht anhören, sondern dich wie einen Betrüger behandeln. Und, Hand aufs Herz, Dragon, im Grunde genommen bist du es auch – genauso wie ich einer war.« »So?« sagte Dragon. »Nun, dann gib acht, Altakaan.« Dragon wandte sich in die Richtung eines krummen, vertrockneten Baumes, der fünfzig Schritt von ihnen entfernt stand. In den knorrigen, blattlosen Ästen des Baumes hockten ein halbes Dutzend großer Aasvögel, die ihre langen Hälse mit den gefiederten Halskrausen neugierig in ihre Richtung reckten. Dragon wandte seine ganze Aufmerksamkeit zwei besonders stattlichen Exemplaren zu und konzentrierte seine Gedanken dabei auf seinen Stirnstein. Mit Hilfe von Vestas Auge war es ihm schon oft gelungen, sich die Geschöpfe dieser Welt gefügig zu machen; sei es, daß er Raubtiere davon abhielt, sich auf ihn zu stürzen, oder sie dazu brachte, ihm als Reittiere zu dienen; sei es, daß er die chaotischen Gesetze der Welt mit der magischen Kraft seines Stirnsteines aufhob und Gegebenheiten zu seinem Vorteil umkehrte – so wie damals, als er vor seinen Verfolgern in das Gebiet der Wandernden Steine flüchtete, die ihm selbst nichts taten, aber seine Feinde zermalmten. Vestas Auge verlieh seinem Träger Macht über die Natur dieser Welt, machte ihm Tiere und Pflanzen und auch die toten Elemente, die hier oftmals ein seltsames Leben entwickelten, Untertan. Dragon wußte es aus Akkathos’ Erzählung, der ihm das Auge Vestas vor seinem Tode vermachte, und aus eigener Erfahrung. Deshalb war er sicher, daß es ihm gelingen würde, den Aasvögeln seinen Willen aufzuzwingen. Er dachte diese diesbezüglichen Gedanken ganz fest – und das magische Juwel in seiner Stirn sandte seine Gedanken verstärkt aus und beeinflußte beide großen Aasvögel. Dragon sah zufrieden, wie sie ihre Körper streckten, die Flügel spannten und sie zu schlagen begannen. Sie hoben sich behäbig von den kahlen Ästen, auf denen sie geruht hatten, und kamen im Tiefflug auf ihn zu. Dragon hatte beide Arme ausgebreitet, und jeder Vogel ließ sich auf einem Arm nieder. »Glaubst du, was du mit eigenen Augen sehen kannst, oder hältst du es für Betrug?« fragte Dragon. »Wie bringst du dieses Kunststück fertig?« erkundigte sich Altakaan verblüfft. »Ich habe noch nie davon gehört, daß es jemandem gelang, diese scheuen Aasögel
abzurichten. Wie machst du das?« »Mit Hilfe des Steines in meiner Stirn«, antwortete Dragon und gab die beiden Vögel mit einer Handbewegung frei. »Die Vögel wurden von mir nicht abgerichtet, sie sind wild und frei wie alle anderen. Aber mit dem Auge Vestas kann ich sie mir gefügig machen. So wie diese Vögel, gehorcht mir jedes Tier dieser Welt, wenn ich es will – egal ob in den Wilden oder in den Stillen Zonen, ob es ein Tier des Dschungels oder ein Bewohner des Meeres ist.« »Habe ich nun einem Wunder beigewohnt, oder sah ich nur einen billigen Zaubertrick?« sagte Altakaan noch immer verwirrt. »Du hast eine Kostprobe davon erhalten, wie die Macht Vestas, des Herrn der Elemente, durch mich wirkt«, antwortete Dragon. »Wenn du mir immer noch nicht glaubst, daß ich kein Betrüger bin, dann kann ich es nicht ändern. Wenn du aber nicht mehr an mir zweifelst, dann begleite mich nach Askaloth.« »Ich soll mit dir in die Stadt gehen, deren Bewohner mich beinahe zu Tode gesteinigt haben und deren Herrscher mich verbannte?« sagte Altakaan schaudernd. »Das wäre mein Tod!« »Ich stelle dich unter meinen Schutz«, sagte Dragon. »Und was Mondel betrifft, gelingt es mir vielleicht, seinen Starrsinn zu brechen und ihn zur Einsicht zu bringen. Wenn du mir vertraust, dann schließe dich mir an, Altakaan.« Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte sich Dragon in Richtung der Stadt in Bewegung. Nach hundert Schritten wurde er von Altakaan eingeholt. »Bei Tyde, ich komme mit«, sagte er keuchend. »Was habe ich denn schon zu verlieren als mein wertloses Leben? Das will ich gerne hergeben, wenn ich mitansehen kann, wie Mondel in die Knie gezwungen wird. Dir könnte das gelingen, Dragon. Bei Tyde!« »Erspare es dir, Tyde anzurufen«, wies Dragon seinen Begleiter zurecht. »Der Wassergeist besitzt über sein Element keine Macht mehr.«
* Der feierliche Zug kam vom Meergrünen Turm die Treppe herunter zur Hafenstraße, bewegte sich ein Stück auf der Straße entlang und wurde dann auf der größtenteils bereits ausgebesserten Stadtmauer fortgesetzt. Allen voran gingen Mondel, Schutzherr von Askaloth, und Jorana Mondelstochter. Mondel trug Festtagskleider, die er sich von einem einfachen Kauffahrer hatte leihen müssen, da sein Palast von der Flutwelle überschwemmt und alle Habe des Oberhaupts von Askaloth vernichtet oder unbrauchbar gemacht worden war. Hinter diesen beiden kamen die sechs Gefangenen, deren meergrüne Roben sich wie ein Schandfleck von den blauen Gewändern der Askalother abhoben. Die Gefangenen waren durch schwere Ketten, die bei jeder Bewegung klirrten, an Händen und Füßen aneinandergefesselt.
Links und rechts von ihnen marschierten Krieger, die Schwerter starr vor die Gesichter erhoben. Den Gefangenen schließlich folgten die Bürger der Stadt in der Reihenfolge ihrer Bedeutung: Geadelte Fischzüchter und begnadete Handwerker, Standespersonen aller Art, Schiffsbauer, Fahnenträger und Personen, die durch ihren Reichtum Einfluß auf die Geschicke von Askaloth nahmen und stolze und doch nichtssagende Titel trugen wie: Seeherr von Askaloth, Kauffahrer von Askaloth, Flottenbauer von Askaloth, Blauprinz der drei Meere, Bannerschwinger der Welt und Bewacher der drei Meere – womit Abriax gemeint war, der nach Altakaans unrühmlichen Abgang dessen Posten übernommen hatte. Mondel hatte befohlen, daß für diese Stunde des Tages alle Arbeit ruhen sollte. Und so standen die einfachen Bürger von Askaloth Spalier, die Schaufel mit denen sie die Stadt vom Schlamm Tydes reinigen wollten, die Werkzeuge, mit denen sie die Schäden reparierten, noch in den Händen. Oder aber sie hatten faulig stinkenden Seetang umgehängt, den sie sich in Streifen von der Schulter zupften und damit die Gefangenen bewarfen. Sie trugen auch Schlamm in Kübeln mit sich, schöpften daraus mit vollen Händen und bespritzten damit die Ekkelunder, die trotz dieser Demütigungen mit stolz erhobenem Haupt dem Schutzherren von Askaloth und dessen Tochter folgten. Frauen und Kinder hatten sich mit toten Fischen ausgerüstet, die von der Flut in die Stadt gespült worden waren. Diese schwangen sie unter Gemurmel und Flüchen und ließen die stinkenden Fischkörper auf die Gefangenen niedersausen, wenn sie in ihre Reichweite kamen. Die Gefangenen ertrugen alle diese Schmähungen mit Würde. Mondel hätte sie gerne um Gnade winseln gehört. Doch diesen Gefallen taten sie ihm nicht, was seinen Groll gegen sie im besonderen und gegen Ekkelund im allgemeinen nur noch verstärkte. Sie bewahrten auch ihre Haltung, als sie von Mondel und seiner Tochter Jorana über einen Steg zum Meer hinuntergeführt wurden. Vor einem der Becken kam die Prozession zum Stillstand. Die gewöhnlichen Zuschauer, die sich an dem Opferzeremoniell nicht direkt beteiligen durften, drängten sich oben an der Stadtmauer und verfolgten das weitere Geschehen mit ehrfürchtigem Schweigen; die Flüche und Beschimpfungen waren verstummt. Die sechs Gefangenen wurden in einer Reihe aufgestellt, dann lösten die Soldaten die Verbindungsketten, so daß nur noch Hand- und Fußschellen ihre Gelenke umschlossen. Die Gefangenen mußten sich so stellen, daß sie mit dem Rücken zum Meer standen und Mondel und seine Tochter das Gesicht zukehrten. Hinter jedem von ihnen ragte das obere Ende eines Pfahles aus dem fast mannstiefen Wasser.
Angyr warf Jorana einen fragenden, fast flehenden Blick zu, doch sie wandte sich von ihm ab. Mondel bemerkte dies mit Genugtuung. Der Schutzherr von Askaloth wertete dies als Zeichen dafür, daß seine Tochter nun endlich zur Vernunft gekommen war. Zuvor hatte es zwischen ihm und ihr noch eine ernste Meinungsverschiedenheit gegeben. Jorana hatte es doch tatsächlich gewagt, ihn, Mondel, Schutzherr von Askaloth, wegen seiner Entscheidung, die sechs Gefangenen Tyde zu opfern, zu kritisieren. Mondel wollte den Zwischenfall nun vergessen und wischte die Worte, die seine Tochter gegen ihn gebraucht hatte, aus seinem Gedächtnis. Und er hatte ihr klar gemacht, daß er eher seiner Tochter das gleiche Schicksal wie den sechs Ekkelundern angedeihen lassen würde, als von deren Opferung abzusehen. »Ist das dein letztes Wort, Vater?« hatte sie gefragt. »Es ist mein heiliger Ernst – Tyde sei mein Zeuge«, hatte Mondel geschworen. »Und ich möchte von dir kein Wort mehr darüber hören, Jorana.« »So sei es nach deinem Willen«, hatte sie gesagt, und sonst überhaupt nichts mehr. Ihre abschließende Bemerkung irritierte Mondel, doch da sie sich bisher vernünftig verhielt, kam er zu der Überzeugung, daß sie sich zum Gehorsam entschlossen hatte. Dies glaubte er auch daraus zu ersehen, daß sie Angyrs Blicken auswich. Als die sechs Schlächter mit den Opfertieren feierlichen Schritts von der Seite her anmarschierten, begann das eigentliche Zeremoniell. Bei den Opfertieren handelte es sich um Kerler – unterarmlange Pelzwesen, die sich mit Vorliebe von Fischen ernährten. Sie schlichen sich des Nachts über die Dämme zu den Becken hinaus und räuberten mit großem Geschick unter den Fischkulturen. Sie eigneten sich deshalb vortrefflich als Opferbeigaben – zumal sie ja auch Feinde der Geschöpfe Tydes, der Fische, waren. Die sechs Schlächter stellten sich hinter die Gefangenen und hoben die Kerler mit einer Hand an den Hinterläufen über ihre Köpfe, in der anderen Hand blitzten die Kurzschwerter. Die kleinen pelzigen Räuber quietschten, schlugen um sich und schnappten mit ihren scharfen Zähnen nach den Gefangenen, weil sie ihnen am nächsten waren. Einige der Ekkelunder trugen schmerzhafte Bißwunden in ihren Gesichtern davon, bevor die Schlächter die Opfertiere mit einem Schlag der Breitseiten ihrer Kurzschwerter auf den Kopf betäubten. Dann erst begann Mondel mit seiner Rede. Er richtete seine Worte an Tyde, den Wassergeist, den er bat, das Opfer anzunehmen. Er wandte sich aber auch gleichzeitig an die sechs Ekkelunder, denen er vorhielt, daß sie mit ihrem Erscheinen in Askaloth Unglück über diese Stadt gebracht hatten. Er beschuldigte sie, nur nach Askaloth gekommen zu sein, um die Lage
auszukundschaften. Ihr Friedensangebot, das sie vorbrachten, sei nur Vorwand gewesen. »Tydes Zorn wurde erweckt, als ihr mit euren dunklen Absichten von Ekkelund aus in See gestochen seid und Kurs auf Askaloth nahmt. Wir hätten Tydes Zeichen erkennen sollen, als er Aerula beauftragte, euch den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihr rudern mußtet, um euch den Mauern unserer Stadt zu nähern. Wir hätten nicht zulassen dürfen, daß ihr eure stinkenden Füße auf unseren heiligen Boden setztet. Wir hätten euch mitsamt eurem Schiff Tyde übergeben sollen. Doch wir waren geblendet durch das Wort eines Verräters, der inzwischen seine gerechte Strafe erhalten hat. Und das wird Tyde versöhnen. Es wird Tyde auch versöhnlich stimmen, daß wir euch seiner Gewalt übergeben. Tyde selbst wird über euch richten. Wir bekunden unsere Reue und unseren guten Willen, indem wir euch an die sechs Pflöcke im Meer binden. Dann öffnen wir eine Schleuse zum Becken mit den Pescats. Diese Geschöpfe Tydes sollen das Urteil vollziehen. Will Tyde euer Opfer nicht, dann wird er verhindern, daß die Pescats euch verschlingen – und ihr seid frei.« An diese Möglichkeit freilich glaubten weder die Gefangenen noch Mondel selbst, denn sie alle kannten die Gefräßigkeit der kleinen Raubfische. Keiner hatte Zweifel über den Ausgang eines solchen Gottesurteils. Und es war auch nur Formsache, als Mondel zu den Gefangenen sagte: »Obwohl es euch nicht zusteht, sollt ihr noch ein letztes Mal Gelegenheit haben, euch zu äußern. Gesteht eure Schuld ein und bereut, auf daß Tyde euch vielleicht erhört. Willst du das tun, Angyr Asdamssohn aus der verfluchten Stadt Ekkelund?« Der blonde Ekkelunder streckte sich zu seiner vollen Größe. »Wir haben nichts zu bereuen, Schutzherr von Askaloth«, rief er so laut, daß ihn selbst die, die am unteren Ende der Stadtmauer standen, hören konnten. »Wir sind in der guten Absicht gekommen, Frieden zwischen Ekkelund und Askaloth zu stiften. Aber anstatt sich unser Friedensangebot auch nur anzuhören …« Mondel hatte den Schlächtern ein Zeichen gegeben, und diese schlitzten den Kerlern, die sie über die Gefangenen hielten, die Kehlen auf. Angyr verstummte, als ihm plötzlich ein Blutschwall ins Gesicht schoß. Die Menge begann vor Begeisterung zu toben. Bevor die Gefangenen sich von der ersten Überraschung erholt hatten, wurden sie von den Soldaten ins Becken gestoßen. Die Soldaten sprangen den Ekkelundern nach, bogen ihnen die Arme auf den Rücken und fesselten sie mit Stricken so an die sechs Pfähle, daß nur ihre Köpfe aus dem Wasser ragten. Jorana barg ihr Gesicht in den Händen, als sie sah, wie Angyrs Gesicht vom Blut des Kerlers besudelt wurde. Sie stand, am ganzen Körper zitternd, da, starrte zum Damm hinaus, wo zwei Männer mit Schlagstöcken an der Schleuse zum Teich mit den Pescats standen und auf Mondels Zeichen warteten.
Als Mondel die Hand hob, stürzte Jorana nach vorne. »Halt!« rief sie, daß alle es hören konnten. »Haltet ein!« Die beiden Männer an der Schleuse zögerten, diese zu öffnen. Mondel machte einen Schritt auf Jorana zu, doch er blieb stehen, als er ihr entschlossenes Gesicht sah und sie ihm die Hände abwehrend entgegenstreckte. »Bevor ihr das Gottesurteil über diese Männer fällt, hört mich erst einmal an, Bürger von Askaloth«, rief Jorana. »Diese sechs Ekkelunder sind unter Aufopferung ihres Lebens von ihrer Stadt aufgebrochen, weil sie erkannt haben, wie sinnlos der Kriegszustand zwischen Ekkelund und Askaloth ist. Sie hofften, daß man in Askaloth einsichtig genug sein würde, wenigstens ihre gute Absicht anzuerkennen. Aber Mondel, den ihr als euren Schutzherrn preist, ließ nicht einmal zu, daß ihr die Friedensbotschaft der Ekkelunder zu hören bekamt. Ich habe mit ihnen gesprochen und glaube ihnen – und wahrscheinlich befürchtet Mondel, daß ihr ihnen ebenfalls glauben würdet, wenn sie zu euch sprächen. Ihr dürft nicht zulassen, daß diese Männer getötet werden.« Jorana wandte sich ihrem Vater zu. »Du hast gesagt, daß du mich eher ebenfalls den Pescats vorwerfen würdest, bevor du die Ekkelunder verschonst. Das wirst du auch tun müssen, wenn du deine Meinung nicht änderst!« Mit diesen Worten sprang Jorana unter dem Aufschrei der Menge in das Becken zu den Gefangenen. Die Männer an der Schleuse blickten erwartungsvoll zu Mondel. Dieser hatte die Hand immer noch erhoben. Sie zitterte jetzt leicht, als er seine einzige Tochter in dem Becken sah, in das auf sein Handzeichen die blutrünstigen Pescats einfallen würden. Mondel hörte aus dem Durcheinander von Stimmen viele heraus, die für Jorana Partei ergriffen und sich sogar für eine Aufhebung des Gottesurteiles aussprachen. Aber nicht sie waren es, die Mondel einige Atemzüge lang zögern ließen. Es war die Trauer um seine einzige Tochter, die er in diesem Moment empfand und die seine Hand daran hinderte, sich zu senken. Und doch war er nicht bereit, seine Entscheidung rückgängig zu machen, er wollte zu seinem Wort stehen und eher seine Tochter opfern, als die Ekkelunder am Leben zu lassen. Und so senkte er die Hand, nachdem er ein kurzes Gebet für die Rettung der Seele seiner Tochter an Tyde geschickt hatte. Die beiden Männer schlugen mit den Schlagstöcken auf die Verriegelung der Schleuse, weil sie es wegen der Pescats nicht wagten, mit den Händen nach den Riegeln zu greifen. Die Schleuse ging auf, und ein Schwarm grünschillernder, länglicher Körper ergoß sich in das Becken – vom Blut der Kerler angelockt, mit dem die Ekkelunder getränkt waren.
Die Menge hielt den Atem an, als sie den mörderischen Schwarm pfeilgerade auf ihre Opfer zuschießen sah. Jorana hatte sich um die Schultern des an den Pfahl gefesselten Angyr geklammert und sah dem Tode gefaßt entgegen. Mondel hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal kamen ihm Zweifel darüber, ob er auch wirklich richtig gehandelt hatte. Er war nicht mehr so sicher – aber es war auch schon zu spät, seine Entscheidung rückgängig zu machen. In wenigen Augenblicken würde sich das Wasser im Becken vom Blut seiner Tochter rot färben – und einige weitere Augenblicke später würde von ihr außer einem säuberlich blankgenagten Skelett nichts übrigbleiben. In diese erschreckenden Gedanken Mondels donnerte eine mächtige Stimme. »Im Namen Vestas! Was geht hier vor?«
* Für Mondel, der die Augen immer noch geschlossen hatte, hörte es sich an, als käme die donnernde Stimme aus dem Himmel selbst. Als der Schutzherr von Askaloth die Augen öffnete, stellte er zuerst fest, daß sich im Becken nichts geändert hatte, so als wäre die Zeit angehalten worden. Aber die Zeit stand keineswegs still, denn die Köpfe der Gefangenen, die aus dem Wasser ragten, bewegten sich. Sie versuchten, hinter sich zu blicken, was ihnen wegen der Fesseln aber nicht gut gelang. Und auch die Pescats bewegten sich immer noch, wühlten in ihrer Wildheit die Wasseroberfläche auf – doch sie kamen nicht vom Fleck. Statt auf ihre Beute loszuschießen, kreisten sie auf der Stelle. Fast schien es, als kämpften sie gegen ein unsichtbares Hindernis an, das ihnen den Weg zu ihrer Beute verstellte. Nun blickte Mondel hinter sich, zur Stadtmauer hinauf. Dort erblickte er den Fremden, dessen Gewand sich deutlich vom Blau der Askalother abhob. Aber er bot auch sonst einen ungewöhnlichen Anblick. Nicht seine überragende Größe, sein muskulöser Körper, oder sein markant geschnittenes Gesicht, mit dem entschlossenen Mund und den klugen, strahlenden Augen waren außergewöhnlich an ihm. Er hätte dem Aussehen nach auch ein Askalother sein können. Aber zwei Dinge hatte er an sich, die ahnen ließen, daß er nicht irgendein Sterblicher war. Zwischen seinen Augen, auf der Stirn, dort wo die Nasenwurzel war, trug er ein Juwel, das in einem überirdischen Glanz funkelte und von dem auch eine Ausstrahlung ausging, die nicht nur das Auge blendete, sondern sich auch auf den Geist legte. Wenn man in diesen Stirnstein blickte, dann meinte man, in ihm versinken zu müssen. Und um den Hals trug er an einer Kette ein Amulett, das der Sonne ähnlicher war und ebenso strahlte. Neben diesem Fremden tauchte eine bekannte Gestalt auf: Altakaan, der Verräter.
Wie war es möglich, daß diese Ratte noch lebte? Hatten die Askalother nicht berichtet, daß ihre Steine ihm die Glieder zerschmettert und den Schädel zertrümmert hatten? Aber Altakaan lebte! Hatte ihn der Fremde zum Leben erweckt? Mondel wischte diese Überlegungen hinweg. Er hatte genug von Magiern, die behaupteten, von den Elementargeistern begnadet zu sein. Sie waren Schwindler, Scharlatane, die die Namen der Götter mißbrauchten. In diesem Licht wollte Mondel auch den Fremden betrachten, obwohl ihm ein Gefühl sagte, daß dieser Mann etwas Besonders sein könnte … »Wer bist du, Fremder, daß du es wagst, den Lauf göttlicher Gerechtigkeit zu stören?« rief Mondel mit zorniger Stimme zur Stadtmauer hinauf. »Ich hätte gute Lust, einen siebten Pfahl in das Becken treiben zu lassen und dich die Gesellschaft der Pescats genießen zu lassen.« »Du bist schnell dabei, über Menschen zu urteilen, ohne sie angehört zu haben, Mondel«, erwiderte der Fremde. »Du willst wissen, wer ich bin – so sollst du es erfahren. Mein Name ist Dragon, und ich bin ein Beauftragter Vestas, des Herrn der Elemente.« Ein Raunen ging durch die Menge, und die Askalother rund um Dragon wichen ehrfürchtig zurück. Dragon fuhr fort: »Seht das Juwel auf meiner Stirn – es ist Vestas Auge. Es verleiht mir Macht über die Tiere und Pflanzen der Welt und macht mir sogar die Elemente Untertan. Aber ich gebrauche diese Macht nicht, um die Geschöpfe Vestas zu beherrschen und zu unterdrücken, sondern um Unrecht zu sühnen und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Und gerecht wäre es, diese sechs Männer und das Mädchen vor dem Tod zu bewahren, denn Tyde braucht ihr Opfer nicht. Deshalb werde ich nicht zulassen, daß hier ein Urteil vollstreckt wird, das nicht die Götter gesprochen haben, sondern das aus dem Unverstand der Sterblichen geboren wurde.« Mondel verschlug es bei diesen kühnen Worten die Sprache. Er hätte am liebsten seinen Kriegern befohlen, sich auf den Fremden zu stürzen, der sich erdreistete, im Namen Vestas zu sprechen. Aber noch bevor Mondel irgend etwas unternehmen konnte, zog Dragon die Askalother wieder mit seiner Stimme in den Bann – und ließ die Tat folgen. »Du hast versprochen, daß diese Männer frei sind, wenn die Pescats sie nicht zerreißen. Vesta hat deine Worte gehört, Mondel, und da der Herr der Elemente wünscht, daß hier kein Blut mehr vergossen wird, hat er verfügt, daß ich in seinem Namen einschreite. Und sehet, was ich um Vestas willen tue.« Dragon schritt von Zinne zu Zinne, erreichte den Steg, der zu den Fischbecken hinunterführte und ging ihn entlang. Seine Augen waren dabei auf das Becken
gerichtet, dessen Wasser von den blutrünstigen Pescats gepeitscht wurde. Dabei strahlte sein Stirnstein noch heller und Mondel und die anderen waren gezwungen, den Blick abzuwenden. Mondel blickte wieder auf das Becken, wo die Pescats im unsichtbaren Griff einer fremden Macht tobten. War es wirklich Vestas Bann, der sie davon abhielt, sich auf ihre Opfer zu stürzen? Jedenfalls hatte noch keiner der Raubfische die sieben Menschen im Becken angegriffen. Jetzt sah Mondel allerdings, wie sich einige der Fische aus dem Schwärm lösten und pfeilschnell auf die Ekkelunder zustießen. Die Menge schrie auf, aber der Schrei erstickte sofort wieder. Mondel zuckte zusammen, als er sah, daß die Pescats rund um seine Tochter das Wasser peitschten. Wollte Vesta ausgerechnet Jorana geopfert haben – und nur sie? Aber nein, die Pescats taten ihr nichts. Die Bestien schienen sich eher auf Angyr zu stürzen und auf dessen fünf an die Pfähle gefesselten Kameraden. Ja, so war es. Aber auch das Blut der Ekkelunder floß nicht. Dafür geschah etwas anderes. Als die Pescats aufhörten, rund um die Gefangenen das Wasser aufzuwirbeln, hoben die sechs Ekkelunder plötzlich die Arme in die Höhe. Sie waren frei! Die Pescats hatten die Stricke durchgebissen und sie von ihren Fesseln befreit! Das konnte nur jemand erwirken, auf den die Macht der Götter übertragen wurde. Die Gefangenen konnten es selbst kaum glauben, daß sie von den Pescats verschont geblieben waren. Dragon hatte den Beckenrand erreicht und streckte Jorana die Hand hin. »Komm, Mädchen«, sagte er. »Im Namen Vestas, du sollst am Leben bleiben.« Und sie ergriff seine hilfreiche Hand, und er zog sie aus dem Wasser. »Vesta hat bestimmt, daß du leben sollst«, sagte Dragon zu Angyr und zog ihn aus dem Becken. Dieser Vorgang wiederholte sich noch fünfmal, bis alle Gefangenen an Land waren. Dragon wandte sich Mondel zu. »Der Beschreibung nach, die ich von Altakaan erhielt, mußt du Mondel, der Schutzherr von Askaloth sein«, sagte Dragon zu ihm. »Hat dir die Kostprobe meiner Macht über die Kreatur genügt, oder zweifelst du noch immer, daß ich ein Gesandter Vestas bin?« »Befehlt über uns, Herr«, sagte Mondel ehrfürchtig, der von dem Wirken des Fremden tief beeindruckt worden war. »Wir verehren Vesta sehr, denn in den Zeiten, in denen der Herr der Elemente die Welt regierte, erreichte unsere Stadt ihre höchste Blüte. Und wir sehnen nichts mehr herbei, als daß Vesta wieder die Elementargeister in seine Gewalt bekommt. Einem Boten, der in Vestas Namen kommt, liegt Askaloth zu Füßen.«
Dragon war zufrieden. Er deutete auf die sechs Ekkelunder, hinter denen sich sofort bewaffnete Krieger aufgepflanzt hatten und sagte: »Ich möchte, daß du dich mit mir und den sechs Ekkelundern an einen Tisch setzt. Es wird Zeit, daß zwischen euch offene Worte fallen. Vielleicht gelingt es durch Vestas Hilfe, die Schranken aus Vorurteilen und Mißtrauen zwischen Askaloth und Ekkelund niederzureißen.« »Vestas Wille geschehe«, sagte Mondel. »Folge mir in meinen Palast. Dort will ich ein Fest zu Ehren des Herrn der Elemente geben.« Als Mondel an Altakaan vorbeikam, verhärtete sich sein Mund. Sein Finger schnellte auf den ehemaligen »Bewacher der drei Meere« zu, und er sagte: »Was hat dieser Verräter hier zu suchen? Er hat durch seine Unfähigkeit, die Zeichen der Elementargeister zu deuten, viel zum Untergang von Askaloth beigetragen.« »Er steht unter Vestas Schutz«, sagte Dragon nur. Mondel wandte sich angewidert von Altakaan ab und stapfte grollend davon. Dragon, Altakaan, Jorana Mondelstochter und die sechs Ekkelunder folgten ihm.
6. Das Bild, das Angyr Asdamssohn von Ekkelund zeichnete, unterschied sich kaum von der Situation in Askaloth. Auch die Ekkelunder pflegten ihren jahrtausendealten Haß auf Askaloth wie einen geheiligten Schatz. Dabei wußte auch in Ekkelund niemand mehr, wie es zur Todfeindschaft zwischen diesen beiden Städten gekommen war. Die Überlieferung nannte nicht den Grund für den Krieg, aber sie prägte die Gesetze. Und der Haß gegen Askaloth war mindestens so groß wie die Furcht vor einem Angriff der feindlichen Flotte. Deshalb wurde Ekkelund in all den Jahrhunderten zu einer schier uneinnehmbaren Festung ausgebaut. Man war jeden Tag darauf vorbereitet, daß die Viermaster des Feindes am Horizont des Nordmeers auftauchten. Wo immer zwei Ekkelunder zusammentrafen, kam früher oder später die Sprache auf Askaloth, und der Name der Stadt wurde nie genannt, ohne daß man Flüche oder Schimpfnamen beifügte. »Tyde hole Askaloth!« »Der Askalother hole dich!« »… hinterhältig, wie ein Askalother!« Das waren feststehende Redewendungen, Begriffe, die aus dem Sprachschatz der Ekkelunder nicht wegzudenken waren.
Angyr hörte sie bis zum Überdruß. Und wie Jorana Mondelstochter in Askaloth verstand er nicht, was für einen Sinn es haben sollte, daß diese beiden Völker noch immer einander so haßten, obwohl schon seit unzähligen Hundertsommern die Klingen nicht mehr gekreuzt wurden. Die Ekkelunder waren längst keine seefahrende Macht mehr. Ihre Viermaster, die die drei Meere beherrschten, gab es nur noch in der Erinnerung. Jetzt waren sie nichts als harmlose Fischer, die es zufrieden waren, mit vollen Netzen in den Hafen einzulaufen. Und ihrer eigenen Schwäche eingedenk, machten sie aus ihrer Prunkstadt eine düstere, waffenstarrende Festung, um auf den Angriff der Askalother vorbereitet zu sein. In Ekkelund wußte man nicht, daß Askaloth keine Flotte mehr besaß – und umgekehrt war es auch in Askaloth so. Auch in Ekkelund hielt man an der Überlieferung fest, frönte den alten Bräuchen und pflegte die Unsitte, den Haß gegen Askaloth aufrechtzuerhalten und ihn den Kindern in die Wiege mitzugeben. Auch Ekkelund hatte seinen Schutzherrn. Er hieß Asdam, dessen Sohn Angyr war. Angyr kämpfte vergeblich gegen den traditionellen Haß auf die Askalother an. Er versuchte, seine Landsleute von der Unsinnigkeit ihrer Haltung zu überzeugen, stieß dabei jedoch auf taube Ohren und fiel bei seinem Vater in Ungnade. Als dann die Flutwelle Ekkelund überschwemmte und die Stadt größtenteils zerstörte, kaperte Angyr Asdamssohn das einzige heil gebliebene Fischerboot und segelte damit in Richtung Askaloth. Er war sich klar darüber, welches Wagnis er einging. Er rechnete damit, bei den Askalothern auf Unverständnis zu stoßen und von seinen eigenen Leuten als Verräter gebrandmarkt zu werden. Doch Angyr nahm dieses Wagnis auf sich, um eine Annäherung der beiden sich grundlos hassenden Völker zu erreichen. Er hatte fünf Gleichgesinnte bei sich, die er für diese Friedensmission gewonnen hatte. Als dann in der Bucht von Askaloth Windstille eintrat, griffen die sechs Ekkelunder zum Ruder, um ihr Ziel mit ihrer Hände Kraft zu erreichen. Welchen Empfang man ihnen in Askaloth bot, war bekannt: Angyrs Boot war versenkt, er und seine fünf Gefährten im Meergrünen Turm eingekerkert, ohne überhaupt über die Beweggründe ihrer Reise befragt zu werden. Mondel bezichtigte sie, die Lage in Askaloth nur auskundschaften zu wollen, um der nachfolgenden Kampfflotte über die Verteidigungsschwächen berichten zu können. »Ich habe Mondel erzählt, welche Verhältnisse in Ekkelund herrschen«, fuhr Angyr Asdamssohn fort, »habe ihm geschworen, daß es keine größere Flotte als die paar
Fischerboote gibt, die nicht einmal als hochseetüchtig gelten können. Aber er hat mir nicht geglaubt. Ich konnte ihn sogar verstehen, denn mein Vater hätte wohl ebenso reagiert, wenn in unserem Hafen plötzlich ein Schiff mit Askalothern aufgetaucht wäre.« »Da hörst du es, Dragon«, sagte Mondel schnell. »Die Ekkelunder wollen den Frieden gar nicht. Angyr Asamssohn ist ein Außenseiter und kann nicht als Vertreter seines Volkes betrachtet werden. Deshalb konnte ich ihn auch nicht als Unterhändler anerkennen. Ich kenne doch die Ekkelunder, die verfluchten Hunde!« »Und die Ekkelunder glauben die Askalother zu kennen und haben keineswegs schmeichelhaftere Bezeichnungen für sie bereit«, meinte Dragon. »Wenn ihr weiterhin an den Vorurteilen festhaltet, kann die Todfeindschaft zwischen euren beiden Völkern noch einmal zweitausend Jahre währen. Jorana und Angyr haben den ersten Schritt zu einer Annäherung getan – und ich finde, du solltest sie unterstützen, Mondel.« »Was soll ich tun?« rief Mondel erregt. »Bei den Ekkelundern um Frieden betteln? Niemals!« Die Ratsherren, die sich ebenfalls zu den Feierlichkeiten für Vesta im notdürftig reparierten Palast des Schutzherrn von Askaloth eingefunden hatten, nickten beipflichtend. »Ich weiß, daß es nicht leicht ist, die Tradition, die euer Leben ist, von einem Tag auf den anderen über Bord zu werfen«, sagte Dragon. »Aber das Beispiel, das Jorana und Angyr gegeben haben, sollte doch zeigen, daß es einen Weg gibt. Du solltest Angyrs guten Willen endlich anerkennen, Mondel, und ihm den Status eines Unterhändlers einräumen.« Mondel knurrte etwas Unverständliches. Er blickte Dragon von der Seite an und fragte mißmutig: »Ist das ein Befehl von Vesta?« »Ich würde so etwas nicht befehlen, sondern möchte dich frei entscheiden lassen«, antwortete Dragon. »Aber die Entscheidung sollte dir nun nicht mehr schwerfallen, da du Angyrs gute Absichten kennst. Vielleicht sollte man es als Zeichen der Götter ansehen, daß beide Städte fast zur gleichen Zeit von der gleichen schrecklichen Katastrophe heimgesucht wurden. Beide Städte müssen nun von neuem beginnen. Und es wäre nur recht, den neuen Beginn mit einer Geste des Friedens anzuzeigen.« Mondel zog sich mit seinen Räten zur Beratung zurück. Es dauerte lange, bis er an die Tafel zurückkam und den Beschluß bekanntgab. »Wir Askalother wollen unseren guten Willen beweisen«, erklärte er, »indem wir Angyr Asdamssohn als unparteiischen Unterhändler anerkennen. Angyr und seine Mannen sind unsere Gäste.« Jorana warf dem blonden Ekkelunder die Arme um den Hals und drückte ihm
einen Kuß auf den Mund. Mondel blickte unbehaglich weg – er hatte den Verdacht, daß die beiden bei ihren heimlichen Treffen im Meergrünen Turm Annäherungsgespräche besonderer Art geführt hatten. »War es wirklich so schwer, einem Ekkelunder die Gastfreundschaft anzubieten?« fragte Dragon. »Ich betrachte Angyr nicht als Ekkelunder, sondern als neutralen Unterhändler«, antwortete Mondel mit verkniffenem Mund. »Du begehst immer noch den Fehler, daß du es für Schwäche hältst, einem ehemaligen Feind die Hand zum Frieden zu reichen«, sagte Dragon. »Aber dabei gehört viel Mut dazu – und es zeugt von menschlicher Größe. Ich bin sicher, daß du beides besitzt, Mondel. Du hast Zeit, das alles noch einmal zu überschlafen. Es ist spät geworden, und ich schlage vor, daß wir die Verhandlungen morgen fortführen.« »Unsere Gespräche werden zu nichts führen«, behauptete Mondel. »Denn was immer dabei herauskommt, ohne die Stimme der Ekkelunder bleibt es leeres Gerede ohne Gewicht.« »Sage das nicht. Der Friedenswille der Askalother allein könnte Gewicht genug haben, um der Feindschaft zwischen den beiden Städten endlich ein Ende zu setzen. Es hängt alles von dir allein ab, Mondel.«
* Dragon, Altakaan und die sechs Ekkelunder bekamen Unterkünfte im Leuchtturm zugewiesen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als sie in Begleitung Mondels und seiner Tochter zum Leuchtturm zogen, und so fand sich eine große Menschenmenge ein, die vor allem dem Träger von Vestas Auge huldigte. »Wir ehren die Elementargeister sehr«, erklärte Mondel dazu. »Aber Vitu, Erthu, Skortsch, Tyde und Aerula sind jeder für sich nur ein Teil der Gottheit. Wir besitzen viele Überlieferungen aus der Zeit, als Vesta noch die Welt regierte. Der Herr der Elemente hat die Kräfte zusammengehalten und sie segensreich für die Welt eingesetzt. Damals muß die Welt ein Paradies gewesen sein, und Askaloth war eine blühende, aufstrebende Oase in diesem Paradies. Durch Vestas Entmachtung kam das Große Chaos – und Askaloths Niedergang. Deshalb gilt unsere besondere Verehrung Vesta, denn unter ihm war Askaloth eine Stadt von besonderer Bedeutung. Wenn die Askalother heute den Namen Vestas hören, so hoffen sie, daß der Herr der Elemente ihnen das verlorene Glück wiederbringen könnte. Glaubst du, daß ihre Hoffnungen berechtigt sind?« »Die Askalother dürfen hoffen«, sagte Dragon ausweichend. Sie erreichten den Leuchtturm. Jeder von ihnen bekam einen eigenen Raum in einem der Stockwerke zugeteilt; Dragon wohnte in dem Geschoß unter der Aussichtsplattform, in den Räumlichkeiten des Türmers. Abriax, der Bewacher der drei Meere, empfand es als Ehre, sein Zimmer dem Mann mit dem Auge Vestas zu
überlassen und selbst unter freiem Himmel zu nächtigen. Abriax, den Dragon aus Altakaans Erzählung kannte, war noch recht jung – 20 Sommer, nach eigener Aussage. Er war um einen halben Kopf kleiner als Dragon, in den Schultern schmal und auch sonst schlank. Die derben Hände paßten nicht recht zu den dünnen Armen, und Abriax sagte, daß er sich die Schwielen an den Händen und die Hornhaut an den Handballen vom Fischezüchten geholt hatte; alle Fischzüchter hatten solche Hände vom Umgang mit den schuppigen Häuten der Wasserbewohner. Abriax verlegte sich aber bald vom Fischezüchten aufs Basteln von Kampfmaschinen. Und eine Steinschleuder nach seinem Entwurf stünde auch auf der Stadtmauer, und sie sei es gewesen, die mit ihrem Wurfgeschoß das Fischerboot der Ekkelunder zum kentern gebracht hatte, sagte er. Als Altakaan als Bewacher der drei Meere den Leuchtturm und am Fernauge Posten bezog, hatte er Abriax als seinen Gehilfen aufgenommen. Abriax bedauerte, daß Altakaan mit Schimpf und Schande aus der Stadt verbannt worden war, denn er hatte sich mit dem jugendfrischen Mann im Körper eines Alten ausgezeichnet verstanden. Und Abriax war froh, daß Dragon sich für Altakaans Ehrenrettung eingesetzt habe. »Ich habe nie geglaubt, daß Altakaan ein Elementemeister war, aber ich habe ihn als guten Menschen kennengelernt«, sagt Abriax. »Ich sah mit eigenen Augen, wie er während der großen Flut Frauen und Kindern und Alten behilflich war, aus der Stadt zu kommen. Das muß gelohnt werden. Ich wäre gerne bereit, ihm seinen Posten zurückzugeben und wieder als sein Gehilfe zu arbeiten.« »Nein, danke, davon habe ich genug«, ertönte Altakaans Stimme. Er erschien im Stiegenaufgang und betrat die Plattform. Er ging zum Fernauge, das auf einem Dreibein montiert war, strich darüber und klopfte dann mit den Knöcheln auf das mächtige, geschwungene Nebelhorn, daß es dröhnte. »Ich sage Askaloth ade«, fuhr er fort. »Mein Platz ist an Dragons Seite, der im Namen Vestas durch die Welt zieht und die Rückkehr des Herrn der Elemente vorbereitet.« »Hältst du mich denn nicht mehr für einen Scharlatan?« fragte Dragon schmunzelnd. Altakaan zuckte die Achseln. »Du magst sein, wer du bist, aber dein Kunststück mit den Pescats hat seine Wirkung auf die Askalother nicht verfehlt. Mit Hilfe deines Stirnsteins bist du sicherlich in der Lage, noch verblüffendere Kunststücke zu vollbringen. Aber ich werde nicht klug aus dir. Was bezweckst du damit? Geht es dir wirklich nur darum, Vesta zu dienen?« »Im Augenblick versuche ich, Askalother und Ekkelunder zu versöhnen«, sagte Dragon.
»Und danach?« »Danach werde ich Aerula aufsuchen und alles daransetzen, um den Luftgeist für meinen Plan zu gewinnen, dem Herrn der Elemente seine Freiheit zurückzugeben.« »Und wenn dir das gelingt?« Dragon seufzte. »Du glaubst mir wohl nicht, Altakaan. Aber darauf kommt es auch gar nicht an.« »Doch, doch«, beeilte sich Altakaan zu sagen. »Ich glaube alles, was über deine Lippen kommt. Erzähle weiter – ich könnte dir stundenlang zuhören. Und genau betrachtet, bist du mir deine Lebensgeschichte noch schuldig.« Dragon blickte zur Sonne, die als glutroter Ball im Nordmeer zu versinken schien. Es war die Sonne einer fremden Welt – durch Zeiten und Räume von seiner Erde getrennt. Würde er die Sonne seiner Welt jemals wiedersehen? Amee, Partho – und all die anderen? Mußte er sein Leben in Danilas Welt beenden? Er hoffte auf seine Rückkehr, aber er würde seinen Aufenthalt hier so gestalten, als müsse er für immer hier bleiben. Und mit seinem Leben wollte er auch diese Welt gestalten. Er hatte viele Selbstgespräche darüber geführt – warum sollte er seine Gedanken nicht auch Altakaan gegenüber äußern? Es tat gut, sich alles in Erinnerung zu rufen – und vor allem seine Erinnerungen aus der Alten Zeit, der Zeit von Atlantis, aufzufrischen. Sie waren noch nicht lückenlos, aber in seiner Erinnerung fehlte nichts Wesentliches mehr; was von Bedeutung war, wußte er, seit er Mura, der Eiskönigin, gegenübergestanden hatte. Dragon begann zu erzählen. Vom Leben auf der paradiesischen Insel Atlantis, die zur gleichen Zeit von einer Sintflut verschlungen wurde, als in Danilas Welt der Namenlose die fünf Elementargeister freisetzte. War das eine zufällige Parallele, oder standen die beiden Ereignisse in direktem Zusammenhang? Abriax und Altakaan hörten Dragons Erzählung und seinen Überlegungen interessiert zu. Die Sonne verschwand hinter dem Meer, die Sterne erschienen am samtschwarzen Himmel. Waren es die Sterne aus jenem Universum, zu dem auch die Erde gehörte? Oder war dieses Universum ein anderes, durch mehr als nur durch die Kluft des unermeßlichen Kosmos vom Universum Dragons entfernt? Abriax und Altakaan konnten Dragons Überlegungen nicht folgen, für sie war nur der Boden unter ihren Füßen die Welt. Aber sie lauschten seinen Worten begierig – und wenn sie sie auch nicht verstanden, so fühlten sie, daß dieser Mann nicht nur durch das Auge Vestas mehr als irgendein Sterblicher war. Daß er in gewisser Weise sogar ein Gott war, als den ihn die Bewohner von Urgor auch angebetet hatten, als er nach zweitausendjährigem Schlaf erwachte. Ein Mensch zwar aus Fleisch und Blut, sterblich, wie andere auch – aber vom Schicksal zu etwas Besonderem auserkoren.
Atlakaan und Abriax lauschten Dragons Worten aufmerksam. Seine Erzählung prägte sich ihnen tief ins Gedächtnis ein, so daß sie sie – wenn vielleicht auch mit einigen Ausschmückungen – jederzeit weiterreichen konnten. Vielleicht wurde in dieser Stunde eine Legende geboren, die in Danilas Welt noch weiterleben würde, wenn Dragon schon längst durch ein Weltentor in seine Welt zurückgekehrt war. Ein Weltentor! Gab es ein solches überhaupt noch in Danilas Welt, seit das eine verschüttet worden war, durch das Dragon hierherkam? Dragon befragte bei dieser Gelegenheit Altakaan, der viel in der Welt herumgekommen war. Altakaan hätte ihm über viele Wunder berichten können – von Fischen, die Menschen säugten, von Menschen, die sich in Tiere verwandelten, von Blüten, die auch Schmetterling zugleich waren – aber ein Weltentor und etwas, das der Beschreibung eines Weltentores glich, kannte er nicht. Davon hatte er noch nicht einmal gehört. »Erzähle weiter, Dragon …« Dragon schüttelte den Kopf. »Laßt mich allein«, bat er. Die beiden zogen sich zurück. Dragon blieb allein. Er mußte unwillkürlich an den Namenlosen denken. Seit der Begegnung mit diesem seltsamen Mann, der zwischen den Welten wanderte, um die Schuld zu sühnen, die er in Danilas Welt begangen hatte, seit dieser Begegnung war sein Leben ein anderes geworden. Dragon dachte auch an Amee, aber es war seltsamerweise kein Gedanke der Sehnsucht. Er liebte sie, ja, und er wollte sie gerne wiedersehen, aber er glaubte zu wissen, daß er nicht ihr alleine gehörte. Er gehörte wahrscheinlich nicht einmal sich selbst … Dragon griff nach dem Fernauge, richtete es zu den Sternen empor und blickte hindurch. Er starrte durch das Vergrößerungsglas lange auf einen einzelnen Leuchtpunkt – und dabei war ihm, als verstärke sich dessen Glanz, als würde sein Flimmern unruhiger und seine Pulsation intensiver. Ein Schwindel erfaßte ihn, aber er klammerte sich weiterhin an das Fernglas – wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Und der Stern wurde zum Auge Vestas! Das Auge, das er sich selbst in die Stirn eingepflanzt hatte, spiegelte sich plötzlich im Fernrohr – nur war es nun nicht ein winziges Juwel, sondern ein riesiger Kosmos, der vor vielfältigem Leben strotzte, der zum Bersten voll war mit Pflanzen, Tieren und Menschen. Das ist das Land der Dalaugiri! hörte Dragon eine Stimme in seinem Kopf. Und das ist mein Gefängnis! Dragon bekam einen verschwommenen Eindruck einer phantastischen Landschaft. Und hier Tyde – von Akkeron unterjocht!
Meerestiefen, Wasserwirbel und reißender Mahlstrom – Dragon wurde davon mitgerissen in eine Welt zwischen Wirklichkeit und Traum. Und da war ihm klar, daß sich Vesta, der Herr der Elemente, zum zweitenmal mit ihm in Verbindung setzte. Dragon ließ sich von dem unwirklichen Geschehen, das sich vor seinem geistigen Auge abspielte, forttragen und ließ dieses tief in sein Bewußtsein einwirken.
* Akkeron mit dem Auge Vestas, das er für seine eigenen dunklen Zwecke mißbrauchte, hatte Tyde besiegt. Nun herrschte nicht mehr der Wassergeist über die drei Meere und deren Geschöpfe, sondern der Sohn Himurs hatte alle Macht über das nasse Element. Er, der von der Herrschaft über die Welt träumte und sich zum neuen Herrn der Elemente aufschwingen wollte, zauderte nicht lange, Tyde seinen Willen aufzuzwingen. Er wollte zeigen, wozu er mit Hilfe des Wassergeistes fähig war und trug Tyde folgendes auf: »Lasse eine Flutwelle aus dir entstehen und schicke sie gegen eine große Stadt an der Küste des Nordmeers. Ja, Ekkelund soll es sein, jenes Bauwerk aus einer längst vergangenen Zeit, in der ein schwacher Herr der Elemente regierte, der sich von einem Namenlosen stürzen ließ. Tyde, überflute diese Stadt!« Und Tyde tat, wie ihm befohlen, weil er nicht anders konnte, als Akkeron zu Willen zu sein. Aber damit gab sich Akkeron, der machtlüsterne Sohn Himurs, nicht zufrieden. Er wollte seine Macht über den Wassergeist noch mehr auskosten und auch Askaloth unter den Fluten versinken sehen – jenes Askaloth, das ein Gegenstück zu Ekkelund war und ebenfalls aus der Zeit Vestas stammte. Auf diese Weise erlebte Dragon den Untergang der beiden Städte mit, und so erfuhr er, daß für die Flutwelle nur eine Laune Akkerons verantwortlich war, der damit zeigen wollte, daß Tyde ihm hörig war. Die Flutwelle versiegte, das Meer trocknete aus, versandete – und eine Steppe wurde daraus. Die Steppe des Westkontinents. Dieses Land wurde von den Dalaugiri beherrscht, einem wilden Reitervolk von kleinem Wuchs und gelblicher Hautfarbe. Der Dalaugiri hat krumme Beine, auf denen er sich nicht besonders geschickt fortbewegen kann, denn er ist mit dem Rücken seines Reittiers verwachsen. Er verbringt sein halbes Leben auf seinem Reittier, schläft auf ihm und ißt auf ihm. Nur wenn es nicht anders geht, steigt er von seinem Girion, was soviel bedeutet wie »Teil meines Lebens« oder »Teil meiner Seele«. Der Dalaugiri, der geradewegs auf Dragon zuzureiten schien, war tief über den Hals seines Girions gebeugt und biß mit seinen breiten, fast schwarzen Zähnen in die
Nackenmähne des Tieres hinein, die von vielen tausend empfindlichen Nervenfäden durchzogen war. Damit signalisierte er seinem Reittier seine Wünsche und Befehle, und das Girion streckte seinen schlanken Körper noch mehr, die vier dünnen, sehnigen Beine mit den dreigeteilten Hufen holten noch weiter aus – und Reiter und Tier schienen wahrlich miteinander zu verschmelzen und durch die heiße, trockene Steppenluft zu schweben. Ein zweiter Reiter tauchte auf, ebenfalls ein Dalaugiri. Sein Tier besaß ein rotes Fell und eine kurze, stumpfe Schnauze. Ein Metallring war durch die Nüstern gezogen, an dem die Zügel befestigt waren. Dieser Dalaugiri war etwas größer und wirkte gedrungener, über seine gespannten Armmuskeln zog sich narbige Haut – die Narben hatte sich der Dalaugiri selbst zugefügt, und sie stellten Symbole für Fruchtbarkeit, Mut und Kraft dar – und jede Narbe stand zugleich für einen getöteten Feind. Sein dunkles Haar wehte hinter ihm her, Spangen aus Tierknochen waren darin zu sehen und sollten die wuchernde Mähne zusammenhalten, was ihnen aber nicht gelang. Seine Füße, die bis hinauf zu den Knien in Fellstiefeln steckten, hieben dem Girion in die Seiten. Und dann prallten die beiden Reiter aneinander. Sie schlugen mit kurzen Krummschwertern aufeinander ein, bis sie beide blutüberströmt waren. Obwohl sie beide schwere Verwundungen aufwiesen, kämpften sie verbissen weiter. Auch die beiden Girions nahmen den Kampf gegeneinander auf. Als dem einen Tier von seinem Artgenossen die Kehle aufgerissen wurde und es unter einem Blutschwall zusammenbrach, rammte sich auch der Reiter des sterbenden Tieres sein Krummschwert in den Körper, obwohl seine Aussichten, den Kampf zu gewinnen, gar nicht so schlecht standen. Aber so waren die Dalaugiri – mit dem Girion starb ein Teil ihrer Seele, und als halber Reiter wollten sie nicht mehr weiterleben. Es schien unwahrscheinlich, daß die Dalaugiri jemals etwas anderes sein könnten als Steppenreiter, die durch die nördlichen Teile des Westkontinents zogen, plünderten, mordeten und kämpften. Wobei Morden und Kämpfen zweierlei war. Untereinander schätzten sie den sportlichen, wenn auch tödlichen Zweikampf – ihre Gegner aber metzelten sie erbarmungslos nieder. Ein Dalaugiri gab nur einem Dalaugiri Gelegenheit zur Gegenwehr. Und die beiden Reiter, von denen sich einer nach dem Tode seines Girions selbst entleibte, hatten zwei verschiedenen Stämmen angehört und um die Vormachtstellung gekämpft. Der siegreiche Stammeshäuptling wurde auch zum Anführer des unterlegenen Stammes. Nicht alle Dalaugiri waren mit ihrem neuen Häuptling einverstanden, denn er stand unter dem Einfluß einer verderblichen Macht, wie ihr verblichener Häuptling behauptet hatte. Und deshalb entleibten viele von ihnen sich lieber, als daß sie sich dem neuen Anführer unterordneten.
Die verderbliche Macht, die nun ihren Einfluß auf den Großteil der Dalaugiri ausübte, war niemand anderer als Akkeron, der Sohn Himurs, der inzwischen auch Tyde unterjocht hatte. Er war vor Tagen dem jetzigen Oberhäuptling entgegengetreten, der in dem Fremden ein willkommenes Opfer sah, und sich den Kopf des Dreiäugigen als Trophäe für sein Zelt holen wollte. Doch als er zum tödlichen Streich ausholte, warf ihn sein von Geburt an treues Girion ab. Angesichts dieser Schmach wollte sich der Dalaugiri mit dem Schwert den Leib aufschlitzen, doch der Dreiäugige konnte ihn davon abhalten. Er sagte: »Ihr glaubt daran, daß das Girion die Hälfte eurer Seele sei. Ich aber sage euch, daß ich die Seele aller Girions bin.« Und als Beweis für seine Behauptung rief der Dreiäugige alle Girions in weitem Umkreis zu sich – und das, ohne einen Laut von sich zu geben. Die Girions warfen ihre Reiter ab, die mit ihnen zeit ihres Lebens geradezu verwachsen waren, und scharten sich um den Dreiäugigen, der nun sagte: »Ich bin nicht nur die Seele der Girions, sondern der Geist der Dalaugiri – und ich habe beschlossen, euch in eine neue Zeit zu führen. Vergeßt eure Stammesfehden, vergeßt dieses karge Land und überzieht alle Länder dieser Welt mit Feuer und Schwert, denn diese Welt, die ich neu zu gestalten im Begriff bin, ist euer Erbe!« Diese Kunde brachte der Dreiäugige in alle Teile der nördlichen Steppe des Westkontinents und gewann die Dalaugiri durch seine Versprechungen für sich. Jene, die sich ihm nicht anschlossen, verloren entweder die Treue ihrer Girions, so daß sie sich selbst entleibten, oder sie fielen im Zweikampf mit dem neuen Häuptling über alle Dalaugiri-Stämme. Und der Dreiäugige führte die Dalaugiri ans Meer, und er deutete mit der Hand über das Wasser und sagte, daß hinter dem endlos scheinenden Ozean noch viele Länder seien, die darauf warteten, von den Dalaugiri erobert zu werden. Noch nie hatte man gesehen, daß ein Dalaugiri freiwillig einen Fuß ins Wasser gesetzt hätte, gar nicht davon zu sprechen, daß er sich in die Brandung des Meeres hinausgewagt hätte. Doch Akkeron mit dem Auge Vestas brachte die Dalaugiri dazu, sich ohne ihre Girions ins Meer hinauszuwagen, indem er ihnen sagte – und seine Worte auch bewies –, daß er auch der Herr des nassen Elements sei. Die Dalaugiri vergaßen ihre abergläubige Angst vor der bodenlosen Tiefe des Meeres, da sie nun wußten, daß dort unten nicht Dämonen und Ungeheuer lauerten, denen sie kampflos ausgeliefert waren, sondern ihr Schutzherr und die Seele aller Girions dort wohnte. Und so machte Akkeron aus einem Volk von Steppenreitern ein Volk von Seefahrern, die von einem fast religiös anmutenden Welteroberungsrausch erfaßt
wurden – und dabei nicht minder gnadenlos vorzugehen gedachten wie ehedem in dem Gebiet der Steppe … Die Bilder verblaßten, der trockene Steppenboden versank im endlosen Ozean, und ein gestaltloses, nicht klar erkennbares Wesen rang gegen einen unerbittlichen Gegner: Tyde im Kampf gegen Akkeron. Die Szenen verschwammen, wurden noch undeutlicher – und alles ging im Funkeln eines überirdischen Juwels auf: Vestas Auge. Dragon fiel darauf zu, wurde davon aufgenommen und verschmolz mit ihm, bis er nicht mehr ein Teil des kosmischen Auges war, sondern das Auge, ein vergleichbar winziges Juwel, ein Teil von ihm wurde – eingepflanzt in seine Stirn oberhalb der Nasenwurzel. Die Botschaft, die Vesta Dragon in Form eines Traumes übersandt hatte, war zu Ende. Dragon wußte nicht, ob er dabei geschlafen hatte und wieviel Zeit vergangen war. Aber um ihn war es inzwischen hell geworden, die Stille des beginnenden Morgens lag über Askaloth. Und als Dragon wieder ins Bewußtsein zurückfand, merkte er, daß er schon wieder – oder immer noch – am Fernglas stand. Aber nun spiegelte sich nicht mehr das Auge Vestas in dem geschliffenen Glas, sondern er sah darin einen Ausschnitt des Meeres. Er glaubte immer noch zu träumen, als er ein riesiges, dunkles Ungetüm die Wellen durchteilen sah … und dann ein zweites und noch ein drittens … und sich im Schlepptau dieser Meeresgiganten unzählige winzige Gestalten befanden. Ohne Einzelheiten erkennen zu können, wußte Dragon, was das zu bedeuten hatte. Er war sofort hellwach. »Abriax! Altakaan!« herrschte er die beiden Schlafenden an, die zusammengekauert unter warmen Fellen auf dem Boden lagen. »Gebt Alarm. Die Dalaugiri greifen an!« »Dalaugiri?« sagte Altakaan schlaftrunken. »Noch nie davon gehört.«
7. Der dumpfe Ton des Nebelhorns riß die Askalother aus dem Schlaf. In dunklen Kammern und herrschaftlichen Zimmern sprangen Männer von ihrem Lager hoch und griffen im Dämmerlicht nach ihren Waffen und Rüstungen, die sie jeden Abend vor dem Schlafengehen griffbereit auf vorbereitete Plätze legten. Sie waren von dem Augenblick an, da sie eine Waffe halten konnten, auf das Signal des Nebelhorns geschult worden und wußten, was sie zu tun hatten.
Als das Nebelhorn ertönte, da dachten sie, daß das Signal den Angriff der Ekkelunder anzeigte. Etwas anderes existierte in ihrer Vorstellung nicht – und das, obwohl Mondel am Tag zuvor die sechs gefangenen Ekkelunder begnadigt hatte. Der Feind des Askalothers war immer noch der Ekkelunder. Und so schlüpften die Krieger in ihre Rüstungen, hingen sich die blauen Roben um und griffen zu ihren Waffen – nur von dem Gedanken beseelt, die Ekkelunder zurückzuschlagen. Und sie stürmten aus ihren Häusern und rannten, die Schwerter, Pfeile und Bögen und Speere und Lanzen drohend schwingend, zum Hafen hinunter und erkletterten die Stadtmauern. Und sie drückten einander die Hände, sahen einander in die Augen und schworen sich: »Bruder, mit dir gegen die Ekkelunder!« Mondel erschien in Unterkleidern an der Stadtmauer. Während er seine Befehle bellte, um die Krieger richtig zu postieren und die Pfeil- und Steinschleudern in Stellung zu bringen ließ, kleidete ihn sein Page an. Mondels graue Augen waren die meiste Zeit über auf die Bucht gerichtet. Dort war noch nichts zu sehen, denn Morgennebel lag über dem Wasser. Irgendwo in seinem Rücken, hinter den Hügeln, ging die Sonne auf und brach sich in den Nebelschleiern. Die Askalother waren geblendet und konnten nichts sehen. Aber das war auch nicht notwendig, denn sie wußten, warum das Nebelhorn sie zu den Waffen gerufen hatte: »Die aus Ekkelund greifen an!« Wie klug es doch gewesen war, die Schäden, die durch die Flutwelle angerichtet worden waren, schnellstens wieder beheben zu lassen! Zwar war die Zeit zu kurz gewesen, alle Lücken in der Stadtmauer mehr als nur notdürftig zu schließen, aber dafür standen zwei Dutzend Schleudermaschinen wieder auf ihren Plätzen; sie waren in aller Eile aus den Trümmern der von der Flut beschädigten Schleudern zusammengestellt worden. Jorana tauchte auf. »Vater, Vater!« rief sie verzweifelt. »Was hat das zu bedeuten?« »Deine friedliebenden Freunde, die Ekkelunder, greifen an!« »Das kann ich nicht glauben«, sagte Jorana. »Du hast doch gehört, was Angyr sagte. Die Ekkelunder haben kein einziges seetüchtiges Schiff mehr.« »Ha!« machte Mondel abfällig; mehr hatte er dazu nicht zu sagen. »Du glaubst doch nicht, daß Angyr gelogen hat, Vater?« rief Jorana beschwörend. »Hältst du auch Dragon, den Boten Vestas, für einen Lügner?« »Ein Askalother kann nur sich selbst trauen«, erklärte Mondel grimmig. »Und was sieht der Askalother?« ertönte da eine Stimme. Mondel sah Dragon auftauchen. Das Auge auf seiner Stirn funkelte, sein Gesicht war entschlossen, das Sonnenamulett schlenkerte auf seiner Brust, der Umhang mit
dem eingestickten Falken wehte. »Was hast du bisher von dem anrückenden Feind gesehen, daß du so sicher bist, es müsse sich um Ekkelunder handeln«, fuhr Dragon fort und blickte Mondel herausfordernd in die grauen Augen. »Der Nebel blendet dich und versperrt dir die Sicht aufs Meer. Ich fürchte, er hat auch deinen Geist umnebelt, Mondel. Begleite mich zum Leuchtturm, dann wirst du sehen, welche Gefahr auf Askaloth zukommt. Ich würde dir wünschen, daß es sich um keinen gefährlicheren Gegner als die Ekkelunder handelt.« »Wer hat den Alarm gegeben?« fragte Mondel, durch Dragons Auftreten unsicher geworden, als sie auf der Stadtmauer dem Leuchtturm zustrebten, der wie ein Schemen aus den Nebelschwaden ragte. »Ich!« erklärte Dragon. »Vestas Auge hat mir im Traum die drohende Gefahr gezeigt. Und als ich aufwachte und durch das Fernauge sah, habe ich die Dalaugiri gesehen.« »Dalaugiri?« wiederholte Mondel verwundert. »Wer ist das?«
* Wenig später kannte ganz Askaloth die Dalaugiri. Es sprach sich wie ein Lauffeuer herum, daß die Dalaugiri kleine, krummbeinige Wilde vom fernen Westkontinent waren, die im Auftrag des machtbesessenen Akkeron Askaloth erobern und von hier ihren Siegeszug über dieses Land beginnen wollten. »Sie sind nur klein und von zartem Körperwuchs, aber sie kämpfen wie die Teufel. Für sie gibt es nur ein Gesetz – töten oder getötet werden. Sie kennen keine Gnade gegen sich selbst oder ihre Feinde.« »Sie haben eine gelbliche Hautfarbe und schmale Augen in ihren Gesichtern, die wie grinsende Totenschädel aussehen. Sie tragen zottige Barte, die mitunter wie ihr Haupthaar, zu Zöpfen geflochten sind. Jeder Zopf bedeutet einen getöteten Feind.« »Manche von ihnen verzierten ihre Körper mit Narben – und jede dieser Narben steht ebenfalls für einen ermordeten Feind.« »… Sie sind in Felle gehüllt, die sie nicht gerben. Ihre Schwerter sind krumm wie ihre Beine …« Es war verblüffend, wie genau die Askalother den heranrückenden Feind beschreiben konnten, obwohl keiner von ihnen jemals zuvor einen Dalaugiri gesehen, noch von ihm gehört hatte. Auch jetzt versperrte immer noch dichter Nebel die Sicht. Aber Mondel hatte einige Begleiter mit sich auf den Leuchtturm genommen, und sie unterrichteten bei ihrer Rückkehr in die Stadt die anderen Askalother. »Es müssen einige tausend sein«, sagte Mondel mit krächzender Stimme, als er durch das Fernauge blickte.
Zuerst sah er nur drei dunkle Körper, die wie schimmernde Inseln aussahen. Aber diese drei riesigen Gebilde hatten viele Flöße im Schlepptau, auf denen sich unzählige Körper bewegten: die Dalaugiri! »Das sind Therani!« erklärte Mondel voll Überzeugung. »Du meinst die Zugtiere?« erkundigte sich Dragon. »Jawohl.« Mondel nickte nachdrücklich. »Es gibt keine anderen Geschöpfe in den drei Meeren oder irgendwo auf dem Land, die so riesig im Wuchs sind. Nur ein Therano kann eine solche Körpergröße erreichen. Wie ist es diesen Wilden nur gelungen, die Therani zu zähmen? Jeder dieser Riesenfische zieht an die zehn Flöße hinter sich her.« »Es sind insgesamt dreißig Flöße«, bestätigte Dragon. »Und auf jedem befinden sich gut zweihundert Dalaugiri.« Mondel wurde blaß. »Das ergäbe sechstausend! … Und uns stehen nicht mehr als höchstens zweitausend Krieger zur Verfügung, die im Umgang mit Waffen geschult sind. Die anderen, die zwar auch Waffen tragen, kann man nicht rechnen.« »Dafür haben wir die Vorteile aller Verteidiger auf unserer Seite«, erwiderte Dragon. »Wir haben Zeit genug, einen wirksamen Verteidigungsplan auszuarbeiten, bis es zum Kampf kommt. Wir können nur hoffen, daß sich der Nebel lichtet, damit wir die Angreifer sehen können.« »In einer halben Stunde hat sich der Nebel bestimmt verzogen«, versicherte Mondel. »Das ist jeden Morgen so.« »Das genügt«, meinte Dragon. »Was sind die Therani überhaupt für Tiere, Mondel?« »Es sind die größten in unserer Welt lebenden Wesen«, antwortete der Schutzherr von Askaloth. »Aber es sind auch die friedlichsten. Sie ernähren sich von Meerespflanzen. Noch nie hat ein Therano ein Schiff angegriffen, obwohl er Kraft genug hätte, jeden Segler mit einem einzigen Schwanzhieb zu zertrümmern. Deshalb gilt der Therano als heilig und man nennt ihn auch den ›Seekönig‹. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie es diesen Wilden gelungen ist, die drei Therani so abzurichten, daß sie ihre Flöße ziehen. Nicht, daß die Therani nicht klug genug dazu wären, ganz im Gegenteil, sie sind wahrscheinlich noch gescheiter als die Wanderwolken. Aber einen Therano kann man nicht einfach fangen, ihm Widerhaken in den Leib schlagen und ihn als Zugtier verwenden. Der Therano würde bei der ersten Gelegenheit untertauchen und die Flöße mit sich in die Tiefe ziehen. Wie bringen die Dalaugiri ihn nur dazu, dies zu unterlassen?« »Ich glaube die Antwort zu wissen«, sagte Dragon. »Akkeron, der Tyde bezwungen hat und die Dalaugiri dazu trieb, ihre Steppen zu verlassen und ihre Girions mit Flößen zu vertauschen, wird dahinterstecken. Er muß es sein, der mit Tydes Hilfe diese Riesenfische abrichtete und dazu zwang, die Flöße der Dalaugiri zu ziehen.«
Der Nebel hatte sich in dem Maße gelichtet, daß die Askalother nun auch von der Stadtmauer aus die drei dunklen Riesenkörper auf dem Meer sehen konnten. Bei diesem Anblick stockte ihnen der Atem, und viele fanden, daß der Anblick der heranschwimmenden Ungetüme viel drohender war, als der der Flutwelle vor wenigen Tagen. »Wenn nur unsere Schiffe von der Flutwelle verschont geblieben wären!« sagte Mondel voll Ingrimm. »Ich würde diesen Landratten entgegenfahren und ihnen ein vernichtendes Seegefecht liefern. Aber wir besitzen nur noch ein einziges Fischerboot …« »Du würdest auch mit einer ganzen Flotte nichts ausrichten«, behauptete Dragon. »Bestimmt hat Akkeron die Therani dahingehend beeinflußt, daß sie jedes sich näherende Schiff unter ihren Körper zermalmen würden.« »Wie dem auch ist«, sagte Mondel und schickte sich an, den Leuchtturm wieder zu verlassen. »Ich muß zu meinen Männern, um sie in den Kampf zu führen.« »Warte noch einen Augenblick«, bat Dragon. »Die Dalaugiri sind sowieso noch nicht auf Kampfdistanz. Und sie werden auch nicht so schnell hier sein. Das Meer ist in der Bucht zu seicht, als daß die Therani sie bis an die Stadtmauer ziehen könnten.« »Da hast du recht, Dragon«, stimmte Mondel zu. »Die Therani würden in den Untiefen der Bucht unweigerlich steckenblieben. Aber was hast du vor?« Dragon gab keine Antwort. Er konzentrierte seine Gedanken auf das Auge Vestas, wie er es immer tat, wenn er mit Hilfe des Stirnsteins Lebewesen dieser Welt zu seinen Gunsten beeinflussen wollte. Er versuchte, die Therani zu erreichen und mit ihnen in gedankliche Verbindung zu kommen. Doch das gelang nicht. Akkeron hatte die Tiere zu sehr in seiner Gewalt und schützte sie durch eine geistige Barriere von jeglicher fremder Beeinflussung. Dragon gab seine Versuche schließlich auf. »Nun gut«, sagte er. »Dann bleibt uns kein anderer Weg, als den Kampf gegen die Dalaugiri aufzunehmen. Wir werden sie auch mit herkömmlichen Mitteln besiegen. Mondel, bist du bereit, Ratschläge von mir anzunehmen und zu tun, was ich von dir verlange?« Der Schutzherr von Askaloth zögerte nicht. »In dir ist die Weisheit und die Macht Vestas«, sagte Mondel. »Ich vertraue mein Volk deinem Geschick an, Dragon. Sage uns, was wir tun sollen.« »Vorerst noch nichts«, antwortete Dragon. »Wir müssen die Dalaugiri erst einmal auf Schußweite der Steinschleudern herankommen lassen. Aber du kannst einige mutige Männer bereits zu den Dämmen hinausschicken. Wenn ich dreimal kurz hintereinander das Nebelhorn blasen lasse, dann sollen sie die Schleuse des Beckens mit den Pescats öffnen …«
*
Das Nebelhorn blies immer noch Alarm, sein dumpfer Klang hallte weit auf das Meer hinaus. Der durchdringende Ton des Nebelhorns schien den Therani nicht zu behagen, denn sie glitten nicht mehr so ruhig dahin, sondern durchteilten das Wasser mit kräftigen, abgehackten Stößen, so daß die Flöße hin und her schwankten. Dabei stießen sie langgezogene kehlige Laute aus, so als wollten sie mit dem Nebelhorn wetteifern. Bei den Dalaugiri erhob sich ein wütendes Geschrei, das bis zur Stadtmauer gellte. Dragon ließ in voller Absicht weiter ins Nebelhorn blasen. Er hoffte, daß er damit das bei den Therani erreichte, was ihm mittels Vestas Auge nicht gelang. Aber so unruhig die Riesenwale mit den ausfahrbaren Schnorcheln auf den breiten Stirnen auch wurden, sie konnten Akkerons Bann nicht abwerfen. Sie schwammen mit den dreißig Flößen im Schlepptau in die Bucht ein – und da kam es zum ersten Zwischenfall. Der Therano, der an der Spitze schwamm, kam auf einmal ruckartig zum Stillstand. Er warf seinen mächtigen Körper hin und her, so daß das Wasser turmhoch aufgepeitscht wurde und die in seinem Körper verankerten Flöße durcheinanderwirbelten – aber so sehr sich der Meereskoloß auch anstrengte, er kam nicht mehr vom Fleck. »Einer der Therani ist auf Grund gelaufen und sitzt hilflos fest!« rief Abriax begeistert, der seinen Posten am Fernauge eingenommen hatte. Dragon konnte es auch mit freiem Auge sehen, wie die Dalaugiri die Seile kappten, die sie mit dem Riesenwal verbanden, und nun rudernd und stakend weiterzukommen versuchten. Die anderen beiden Therani kamen ebenfalls zum Stillstand, obwohl sie noch keineswegs dasselbe Schicksal erlitten zu haben schienen wie ihr Artgenosse. Der halb aus dem Wasser ragende und im Schlamm festsitzende Therano schrie in Todesangst. Das schien die anderen Flößer veranlaßt zu haben, ihre Zugtiere zu stoppen. Sie kappten nun etwas weiter draußen die Taue zu ihren Zugtieren, so daß diese ihre Freiheit zurückbekamen. Ein Therano wälzte sich herum, fuhr seine Schnorchel aus und tauchte in tiefes Wasser weg. Der andere kam jedoch trotz größter Bemühungen nicht mehr vom Fleck. Er war nicht, wie sein bemitleidenswerter Artgenosse, auf Grund gelaufen, doch war das Meer rings um ihn nicht tief genug, um ihm die Bewegungsfreiheit zu geben, die er benötigte, um seinen gigantischen Körper herumzudrehen. Und vorwärts konnte er nicht mehr schwimmen, weil ihm dort Sandbänke und Korallenriffe den Weg versperrten. Dragon versuchte nun noch einmal, mit diesen beiden in der Bucht festsitzenden Therani in Gedankenverbindung zu treten – und diesmal gelang es, er erhielt
Kontakt. Aber Dragon konnte sich nun nicht mehr um die Therani kümmern, denn die ersten Dalaugiri waren in den Hafen vorgedrungen und den Stadtmauern bereits bedrohlich nahe gekommen. Und sie waren nun in Reichweite der Steinschleudern. Die Dalaugiri hoben ein wüstes Gebrüll an, wahrscheinlich, um ihre Gegner einzuschüchtern. Und dazwischen ertönten ihre Kriegsrufe im Chor: »Tod allen Ungläubigen!« »Für Akkeron, den zukünftigen Herrn der Elemente!« »Für Akkeron und unsere neue Welt!« Draußen im Meer schrie der eine Therano in höchster Todesnot. Er hatte sich herumgewälzt, und jetzt lag er hilflos auf dem Rücken, so daß er den Schnorchel nicht mehr über Wasser halten konnte – und die bereits hoch am Himmel stehende Sonne schickte ihre sengenden Strahlen gegen seine sich hell aus dem Wasser wölbende Bauchseite.
* Die ersten zehn Flöße waren bereits auf Schußweite herangekommen. Aber Mondel ließ sich noch Zeit – er hielt sich an Dragons Anweisungen. Die Dalaugiri schickten ihre ersten Pfeile gegen Askaloth, doch entweder erreichten sie die Stadtmauer nicht, oder sie verfehlten ihr Ziel. Mondels Bogenschützen dagegen warteten. Die Männer an den Steinschleudern standen angespannt da, nahmen noch letzte Einstellungen an den Zieleinrichtungen vor. In manchen Wurfschaufeln der Schleuderarme lagen so große Felsbrocken, daß sie nur mit Lastenkränen an ihren Platz gebracht werden konnten. Mondel sah zu den fünf Männern an der Schleuse zum Pescat-Becken. Sie wurden von den Dalaugiri mit einem Pfeilhagel eingedeckt. Als drei der Männer getroffen zusammenzuckten, wartete Mondel nicht länger. Er gab den Männern an den Steinschleudern das Zeichen. Die Spannseile wurden gekappt, die Schleuderarme schnellten nach vorn und warfen ihre tödliche Last in den Hafen hinaus. Wasser schäumte und spritzte auf, wo die Felsbrocken ihr Ziel verfehlten. Aber nicht wenige gingen auf die Flöße nieder. Das Kriegsgeheul der Dalaugiri ging in Schmerzensschreie über. Ein riesiger Felsbrocken traf eines der Flöße in der Mitte. Die Halteseile rissen, Baumstämme wurden durch die Wucht des Aufpralls in die Luft gewirbelt, Körper wurden beiseite geschleudert. Unzählige Dalaugiri verloren den Boden unter den Füßen. Die unter ihnen, die nicht schwimmen konnten – und das waren weitaus die meisten – gingen kläglich unter, sofern sie nicht an einem der herumtreibenden Holztrümmer Halt fanden und
sich festklammern konnten. Auf die übrigen Flöße prasselten weitere Steine herunter, zertrümmerten die Baumstämme und begruben Angreifer unter sich. Da kam das von Dragon verabredete Zeichen für das Öffnen der Schleuse im Becken mit den Pescats: das Nebelhorn tutete kurz hintereinander dreimal. Aber an der Schleuse war keiner mehr, der sie bedienen konnte. Die fünf Männer waren im Pfeilhagel der Dalaugiri umgekommen. »Freiwillige vor!« rief Mondel. Drei Männer kletterten durch eine Lücke in der Stadtmauer auf den Damm hinaus und rannten zur Schleuse, der vorderste der Askalother traf mit einem Dalaugiri zusammen, der sich schwimmend auf den Damm gerettet hatte. Er spaltete dem Askalother mit einem senkrecht geführten Hieb seines Krummsäbels den Schädel, wurde selbst aber von der Lanze des nachfolgenden Askalothers aufgespießt. Aber auch der Askalother erreichte nicht sein Ziel. Plötzlich ragten zwei gefiederte Pfeilschäfte aus seiner Brust. Der dritte Askalother rannte weiter, fing ein halbes Dutzend Pfeile mit seinem Schild auf, doch dann brach er, zehn Schritt vor der Schleuse, zusammen – ein Pfeil hatte ihn im Oberschenkel getroffen. Er schleppte sich auf allen vieren weiter und gab auch nicht auf, als sich zwei weitere Pfeile in seinen Körper bohrten. Mit letzten Kräften erreichte er die Schleuse und schlug sie mit einem Schwerthieb aus ihrer Verankerung, dann stürzte er ins Wasser – mitten in den Schwarm der Pescats hinein. Doch er bekam ihre messerscharfen Zähne nicht zu spüren. Sie wichen dem Verwundeten aus und schnellten sich geradewegs auf die Dalaugiri zu.
* Dragon sah vom Leuchtturm aus den Askalother in das Becken der Pescats fallen und befahl den Raubfischen, ihn in Ruhe zu lassen. Sie würden bei den Flößen genügend Beute finden. Mit Hilfe von Vestas Auge lenkte Dragon die Pescats in die gewünschte Richtung, und nachdem sie erst einmal Blut gewittert hatten, fanden sie den Weg zu ihren Opfern alleine. Hunderte von Dalaugiri kamen auf diese Weise um, das Meer färbte sich von ihrem Blut rot, aber das schäumende Wasser verwehrte wenigstens den anderen den Blick auf dieses schreckliche Schauspiel. Obwohl die Dalaugiri schwere Verluste zu verzeichnen hatten, bevor es zum eigentlichen Kampf kam, rückten sie den Stadtmauern von Askaloth immer näher. Jetzt traten Mondels Bogenschützen auf den Plan. Der Himmel über den Dalaugiri verdunkelte sich unter dem Hagel aus Pfeilen, die den hundertfachen Tod über sie brachten. Und Mondels Pfeilschützen schossen ohne Unterbrechung weiter.
Wenn die eine Hundertschaft ihre Pfeile vom Bogen schnellen ließ, griff die zweite in die Köcher und spannte die dritte ihre Pfeile in die Sehne ein. So erreichten die Askalother, daß den Dalaugiri keine Ruhepause gegönnt war – ihre Fellschilde waren mit Pfeilen bespickt. Aber sie ließen sich nicht entmutigen – und dann legte das erste Floß am Ufer an. Von den ehemals zweihundert Kriegern, die sich auf dem Floß befunden hatten, lebten keine dreißig mehr. Doch dieses Häufchen Wilde stürmte die Stadtmauer mit der Gewalt und Durchschlagskraft einer Hundertschaft – und mit der Selbstverleugnung von Selbstmördern. Sie blieben alle, bis auf einen, auf der Strecke, bevor sie die Stadtmauer erklommen oder sich durch eine Bresche geschlagen hatten. Doch dieser eine, der der Übermacht der Askalother einen erbitterten Schwertkampf lieferte, erledigte drei Gegner, bevor ihn sein Schicksal ereilte. »Hier oben haben wir nichts mehr verloren«, sagte Dragon auf dem Leuchtturm, als er sah, daß die Dalaugiri sich Ruderschlag um Ruderschlag der Stadtmauer näherten, obwohl sie unglaubliche Verluste einstecken mußten. »Seid ihr bereit zu kämpfen?« Die Ekkelunder bejahten. »Gib uns Waffen, und wir werden es den Dalaugiri zeigen«, sagte Angyr Asdamssohn. Abriax öffnete eine versteckte Waffenkammer, die Schwerter, Streitäxte, Schilde und Rüstungen enthielt. Angyr und seine Leute zögerten nicht, die in der Farbe von Askaloth gehaltenen Brustpanzer anzulegen und die blauen Schilde zu ergreifen. »Für Frieden in Askaloth und Eckelund!« Angyrs Männer stimmten in diesen Kriegsruf ein. Altakaan bewaffnete sich ebenfalls, Abriax sollte als Beobachter auf dem Leuchtturm zurückbleiben. Dragon verabredete mit ihm einige Hornsignale, durch die ihn Abriax auf Gefahrenherde aufmerksam machen konnte. Vom Leuchtturm aus hatte man einen viel besseren Überblick, als wenn man sich inmitten des Kampfgeschehens befand. Dragon, Altakaan, Angyr und dessen fünf Begleiter eilten die Wendeltreppe des Leuchtturms hinunter. Als sie von einem Obergeschoß auf die Stadtmauer hinaustraten, kam ihnen Jorana entgegen. Sie trug einen blaugefärbten Lederbrustpanzer und war mit einem Bogen bewaffnet; der Köcher auf ihrem Rücken war halb leer. Sie lächelte, als sie Angyr erblickte. Plötzlich bekam ihr Gesicht jedoch einen harten Ausdruck. Neben ihr schrie ein Askalother auf und sank tödlich getroffen um. Einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen, ihn in den Bogen zu spannen und ihn zwischen den Zinnen hindurch von der Sehne schnellen zu lassen – das alles sah bei Jorana wie eine einzige geschmeidige und harmonische Bewegung aus.
Nichtsdestoweniger war ihr Pfeil gut gezielt und bohrte sich einem der Dalaugiri in die Brust. Dragon überblickte die Lage sofort. Eines der Flöße hielt Kurs auf den Leuchtturm. Die Dalaugiri mußten herausgefunden haben, das diese vorgelagerte Bastion weniger gut bewacht war. Außerdem wies die Stadtmauer hier draußen mehr Lücken auf. Das Floß war noch mit mindestens fünfzig Dalaugiri besetzt, die sich aneinander kauerten und ihre Schilde so zusammensetzten, daß dazwischen keine Lücke war. Sechs Dalaugiri stakten das Floß mit langen Stöcken zum Ufer. Zwei von ihnen fielen unter Joranas Pfeilen, wurden aber sofort von zwei anderen ersetzt, die ihre Deckung verließen. Und dann erreichte das Floß das Ufer. Die Dalaugiri kamen mit wildem Geheul an Land. Dragon beorderte alle verfügbaren Krieger zu den Breschen in der Mauer, um sie gegen die Eindringlinge zu verteidigen. Auf der Stadtmauer waren nun auch alte Männer und Frauen aufgetaucht, die die Dalaugiri mit Steinen bewarfen und mit siedendem Öl überschütteten. Kinder schürten das Feuer unter den Kesseln und schleppten die Steine heran. Jorana schoß mit einem halben Dutzend weiterer Bogenschützen Pfeil um Pfeil auf die Angreifer hinunter. Angyr und seine Ekkelunder kletterten von der Stadtmauer, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. Es kam zu einem erbitterten Ringen, Mann gegen Mann. Die Dalaugiri stürzten sich mit Todesverachtung mitten in die Reihen der Feinde. Wo ein anderer Krieger gezögert und seine Überlebensaussichten abgewogen hätte, da stürmten sie bedenkenlos vorwärts. Das brachte ihnen große Verluste ein, aber jeder zweite von ihnen, der auf der Strecke blieb, nahm auch einen Askalother mit in den Tod. Dragon hatte zwei der Dalaugiri in sein Schwert laufen lassen, als er plötzlich stutzte. Vor ihm tauchte ein Dalaugiri auf, dessen Gesicht von unzähligen Narben entstellt war. Er hatte auch auf allen anderen sichtbaren Körperteilen Narben, die er sich selbst zugefügt haben mußte, denn sie waren zu seltsamen Ornamenten verschlungen. Es war derselbe Dalaugiri, den Dragon in seinem Traum gesehen hatte – es war jener, den Akkeron zum Anführer über alle Dalaugiri gemacht hatte. Dragon wollte sich einen Weg zu ihm bahnen. Doch da kam ihm Altakaan zuvor. Er stand breitbeinig vor dem Dalaugiri mit den Narben. Dieser lachte höhnisch und streckte ihn mit einem einzigen Schwerthieb nieder. Altakaan brach lautlos zusammen. Er starb so schnell, wie er gelebt hatte. Dragon wollte sich auf den Häuptling der Wilden stürzen. Doch er wurde abgedrängt und verlor das Narbengesicht aus den Augen.
Wenig später war der Vormarsch der Dalaugiri unterbunden; keiner von ihnen hatte überlebt, jeder hatte bis zum letzten Atemzug gekämpft. Dragon suchte unter den Gefallenen vergeblich nach dem Narbengesicht. Plötzlich ertönte vom Leuchtturm ein Triumphgeheul. Ein Dalaugiri erschien dort – es war der mit den Narben. Neben ihm lag Abriax’ lebloser Körper gegen das Nebelhorn gelehnt. »Im Namen Akkerons!« schrie der Narbige. »Diese Stadt ist die erste Bastion des neuen Herrn der Elemente. Und ich werde ihm das erste Opfer bringen!« Der Narbige hob den reglosen Körper eines Mädchens in die Höhe und machte Anstalten, ihn in die Tiefe zu stürzen. »Jorana!« rief Angyr entsetzt und ergriff Dragons Arm, als müsse er Halt suchen. Jorana schien unweigerlich verloren. Doch bevor der Dalaugiri sie in die Tiefe stoßen konnte, erschien neben ihm eine Gestalt und riß ihn mitsamt seiner Last zu Boden. Für einen Moment war nichts zu sehen, dann tauchten zwei ineinander verschlungene Gestalten zwischen den Zinnen auf. Der Dalaugiri holte mit seinem Krummschwert zum tödlichen Schlag aus. Doch der Mann unter ihm machte eine blitzschnelle Bewegung und hob den Dalaugiri über sich, so daß er durch die Luft flog. Der Dalaugiri ließ dabei seinen Gegner aber nicht los und riß ihn mit sich in die Tiefe. Die beiden Körper schlugen wenige Schritte vor Dragon auf dem Boden auf. »Ist das nicht einer deiner Männer?« fragte Dragon Angyr Asdamssohn. Der nickte und verschwand kurz darauf im Leuchtturm.
* Die Flöße der Dalaugiri trieben führungslos im Hafen, fast alle beschädigt von den steinernen Wurfgeschossen. Die Pescats fanden keine Opfer mehr, denn die Dalaugiri hatten das rettende Ufer erreicht. Es waren nicht mehr viele von ihnen, die zum Sturm gegen die Stadtmauern anrannten, aber ihr Ungestüm und ihr selbstmörderischer Kampfeswille wogen ihre geringe Zahl auf. Und obwohl die Askalother nun zahlenmäßig in der Übermacht waren, hatten sie bei der Verteidigung der Stadt kein leichtes Spiel. Selbst wenn zehn von ihnen einem einzigen Dalaugiri gegenüberstanden, war es ein erbitterter Kampf, der erst mit dem Tode des Dalaugiri beendet war. Kein einziger Dalaugiri, wie aussichtslos seine Lage auch war, dachte daran, sich zu ergeben. Ihr unbeugsamer Wille, zu siegen oder zu sterben, brachte den Askalothern viele Verluste ein. Als dann die Sonne sich dem Horizont näherte, war der Kampf beendet. Über Askaloth lastete die Stille des Todes – und vom Meer her erklang das Klagelied des einen Therano, der noch immer verzweifelt versuchte, einen Weg aus der flachen
Bucht in die tieferen Meeresregionen zu suchen. Der andere Therano war verendet. Seine ehemals weiße Bauchseite, die zum Himmel erhoben war, nahm sich grau und farblos aus. Die Sonnenstrahlen hatten die Haut ausgetrocknet, spröde und rissig gemacht und sie an vielen Stellen aufplatzen lassen. Über dem Kadaver des Kolosses zogen Aasvögel ihre Kreise – sie kreisten auch über der Stadt, reicher Beute gewiß. Doch Dragon ordnete an, daß man die toten Dalaugiri dem Meer und somit den Pescats übergab. Und die Askalother stimmten dem nur allzu gerne zu, denn nichts wäre ihnen widerlicher gewesen, als die Überreste dieses grausamen Kriegervolks im geweihten Boden ihrer Stadt zu verscharren. Sie wollten den Dalaugiri nicht einmal die Ehre erweisen, sie in Skortsch eingehen zu lassen – dies wollten sie ihren eigenen tapferen Kriegern vorbehalten, die im Kampf gefallen waren. Dragons Beweggründe für die Maßnahme waren anderer Natur. Er wußte aus Erfahrung, wie leicht sich eine Seuche ausbreiten konnte, wenn die Toten erst in Verwesung übergingen … Die Pescats waren am besten geeignet, dies zu verhindern. Draußen auf dem Meer stieß der in der Bucht gefangene Therano noch immer seine kläglichen Schreie aus. »Wir können das Tier nicht zugrunde gehen lassen«, sagte Dragon zu Mondel. »Ich leide mit dem Therano«, sagte der Schutzherr von Askaloth. »Ich bin im Herzen immer noch ein Seefahrer, und es schmerzt mich, diesem heiligen Meeresbewohner nicht helfen zu können.« »Vielleicht können wir ihm doch helfen«, meinte Dragon. »Ich weiß, daß deine Leute im Kampf gegen die Dalaugiri ihr Letztes gegeben haben. Aber wenn alle ihre Kräfte aufbieten, dann würde es vielleicht gelingen, dem Therano den Weg ins tiefere Meer zu weisen. Es wäre gleichzeitig eine Art Dankesopfer für den Sieg über die Dalaugiri an Vesta.« Mondel stimmte zu.
* Mit Hilfe von Vestas Auge hatte Dragon die Pescats in das Zuchtbecken zurückgetrieben, bevor er mit über vierhundert Askalothern die Flöße der Dalaugiri bestieg. Keiner dieser Krieger war mehr bei vollen Kräften, manche wiesen Verwundungen auf, dennoch war Dragon überzeugt, daß sie bis zum Umfallen arbeiten würden, um den Therano freizubekommen. Angyr und seine vier überlebenden Kameraden waren mit Dragon auf einem Floß. Die Männer hatten sich mit Tauen und schweren Rammböcken ausgerüstet, die zumeist aus der Ausrüstung der Dalaugiri stammten. Als Dragon die Pescats auf gedanklichem Wege in ihr Becken zurückgescheucht hatte, empfing er plötzlich Gedanken, die nicht von einem menschlichen Wesen aber doch von einem Geschöpf mit überragender Intelligenz stammten. Die Art dieser
Gedanken erinnerten ihn irgendwie an Aerula-thane, die intelligente Wanderwolke. Und doch waren sie auch wieder so fremdartig, daß er keinen Augenblick daran glaubte, sie kämen von Aerula-thane. Das ließ nur einen Schluß zu: Die Gedankenausstrahlung kam von dem Therano! Obwohl Dragon von den Askalothern wußte, daß diese Tiere überaus klug waren, so kam es doch für ihn überraschend, daß der Therano seine Gedanken in eine auch für Menschen verständliche Form kleiden konnte. Dies setzte besondere Intelligenz voraus. Wir werden dich retten, dachte Dragon, und sein Sonnenamulett und Vestas Auge verstärkten seine Gedanken und übertrugen sie auf das Gehirn des Therano. Dragon zweifelte nicht daran, daß der Koloß ihn verstehen konnte, wenngleich er nicht sofort Antwort bekam. Es war nur verständlich, daß der Therano eine Scheu vor fremden »Stimmen« hatte, die sich in seinen Denkvorgang einmischten. Er mußte böse Erfahrungen haben, denn so ähnlich würde es ihm auch ergangen sein, als Akkeron mit ihm Verbindung aufnahm, ihn unterjochte und ihn als Zugtier für die Flöße der Dalaugiri einspannte. Dragon sandte unermüdlich seine beruhigenden Gedankenimpulse aus, während sie sich auf den Flößen dem Therano näherten. Die Sonne ging unter, und die Askalother entzündeten Fackeln, die sie auf langen Stangen zwischen den Baumstämmen der Flöße verankerten. Und Dragon besänftigte den Therano weiterhin und nahm ihm die Angst vor dem Feuer. Wir werden dich aus deinem Gefängnis befreien und dich in tieferes Wasser bringen, versprach Dragon. Wir sind deine Freunde. Wir verehren dich als König der Meere! Der Therano verlor langsam seine Scheu vor den winzigen Wesen, die sich ihm auf den zerbrechlich wirkenden, schwimmenden Dingern näherten, die er so lange auf dem weiten, beschwerlichen Weg vom Westkontinent hinter sich hergezogen hatte. Die Gedanken des Therano verrieten Dragon, daß die Reise für das Tier äußerst schmerzhaft verlaufen war. Nicht nur, daß es dem Therano von seinem Meister untersagt worden war, zu tauchen, um die Flöße nicht zu gefährden. Viel schlimmer noch waren die Wunden gewesen, die man mit langen Enterhaken in seinen Rücken geschlagen hatte, um die Flöße zu befestigen. Diese Haken steckten immer noch in seinem Rücken und quälten ihn. Dragon versprach Abhilfe, wenngleich er dem Therano klarmachte, daß die Enterhaken vorerst einmal dazu dienen sollten, ihn aus der Untiefe zu ziehen. Das würde schmerzen – aber dem Schmerz würde die Freiheit folgen. Aus den folgenden Gedanken des Meeresriesen hörte Dragon heraus, daß es sich um ein Weibchen handelte. Die Therano-Kuh gab ihre Einwilligung, sie wollte sich mit allem abfinden, denn
ohne die Hilfe der Landbewohner wäre sie sowieso verloren. Die Askalother legten an dem mächtigen Körper des Therano an. Auf der einen Seite stießen sie die Rammböcke unter den Koloß, um sie als Hebel einzusetzen, während sie auf der anderen Seite die Seile, die an den Haken im Körper des Therano verankert waren, an ihren Flößen festbanden: so versuchten sie durch Ziehen und Heben, den Koloß über die Untiefe zu transportieren und ihn zumindest herumzudrehen, so daß sein Kopf auf das offene Meer hinaus wies. Es schien zuerst ein aussichtsloser Unterfangen, das Gewicht des Meeresriesen bewegen zu wollen. Doch nach einigen ersten vergeblichen Versuchen – und unter Mithilfe des Therano, dem Dragon über Vestas Auge Anweisungen gab –, gelang es schließlich doch, den Therano herumzudrehen. Aber er konnte noch immer nicht aus eigener Kraft eine Sandbank überwinden, die bis einige Mannslängen unter die Wasseroberfläche reichte und ihm den Weg ins offene Meer versperrte. Nachdem Dragon den Askalothern eine Atempause gegönnt hatte, begannen sie mit vereinten Kräften, den Riesenwal an den in seinem Rücken verankerten Seilen abzuschleppen. Ein Teil der Männer mußte die Flöße dabei mit den Rammböcken im Meeresboden abstützen, während die anderen ruckweise zogen. Einige Askalother brachen vor Erschöpfung zusammen, aber die anderen strengten sich doppelt an und schafften schließlich doch das unmöglich Scheinende. Die Fackeln waren schon fast alle abgebrannt, als der Therano über die Untiefe und ins tiefere Meer glitt. Dragon ließ die Enterhaken aus seinem Rücken entfernen und gab dem Therano die Freiheit. Doch vorher hatte Dragon mit der »Seekönigin« eine Vereinbarung getroffen. Wärst du bereit, wenn ich dir das Leben schenke, mich über das Meer zu bringen? hatte er den Therano gefragt. Die »Seekönigin« wollte sich gerne in dieser Form erkenntlich zeigen, doch knüpfte sie die Bedingung daran, daß ihr Dragon außer dem Leben auch die Freiheit gab. Damit meinte sie, daß sie nie mehr den Qualen des Ziehens eines Floßes ausgesetzt wurde. Dragon mußte dem wohl oder übel zustimmen, wenngleich er sich nicht vorstellen konnte, welch andere Art der Beförderung der Therano ihm sonst bieten konnte. Der Riesenwal versprach, in der Nähe zu bleiben und auf Dragon zu warten. Dragon kehrte mit den anderen nach Askaloth zurück.
8. Die Toten Askaloths waren in einer Reihe auf der Stadtmauer aufgebahrt. Altakaan, Abriax – und über hundert andere. Man hatte ihre sterblichen Überreste in mit Pech
getränktes Segeltuch gehüllt, Jungfrauen in Festtagskleidern und mit Fackeln in den Händen, standen bereit, sie den Flammen zu übergeben und in Skortsch eingehen zu lassen. Die Trauerfeierlichkeiten wurden gleichzeitig zu einer Abschiedsfeier für Dragon, die Askalotherin Jorana, den Ekkelunder Angyr und dessen vier Gefährten. »Wenn ich bis zuletzt daran gezweifelt habe, daß es zwischen Askaloth und Ekkelund Frieden und Freundschaft geben könnte, so hat euer heldenmütiger Kampf gegen die Dalaugiri und für die Sache Askaloths meine letzten Zweifel beseitigt«, sagte Mondel in seiner Ansprache an die fünf Ekkelunder. »Ihr habt gekämpft, als sei es eure Stadt, die ihr zu verteidigen habt – und einer von euch hat sein Leben hingegeben. Er soll nicht umsonst in Skortsch eingehen, denn von nun an wird Askaloth auch eure Stadt sein. Jeder Ekkelunder, der in Frieden kommt, ist unser Freund.« Mondel umarmte einen Ekkelunder nach dem anderen und sagte zu jedem von ihnen: »Sei mein Waffenbruder!« Dann stand er vor Jorana und Angyr, die sich fest an den Händen hielten. »Ich betrachte es als besondere Ehre, daß du meine Tochter zum Weib nehmen willst, Angyr. Soll sie dich auf deinem Weg nach Ekkelund begleiten – und eure Vereinigung sei das Symbol für das Band der Freundschaft, das unsere beiden Städte fortan verbinde. Jorana Mondelstochter, sie gibt es nicht mehr – ihr zweites Leben beginnt sie als Jorana Angyrsweib.« Er umarmte Angyr und dann – inniger – Jorana. »Sei du mit Vestas Auge der Schutzherr dieser Friedensbringer, Dragon«, wandte sich Mondel dann an den Atlanter. »Es wird viel von deinem Geschick abhängen, den Eckelundern die Friedensbotschaft glaubhaft zu machen. Viel Glück auf eurer Reise über das Meer, das Tydes Element ist, aber von Akkeron beherrscht wird. Vesta sei auf euren Wegen.« »Ganz klar ist mir noch immer nicht, auf welche Art wir das Meer überqueren sollen«, sagte Dragon mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck zu Mondel. »Sagtest du nicht, der Therano wolle euer Schiff sein?« »Er hat sich ausbedungen, kein Floß schleppen zu müssen.« »Das ist auch nicht nötig, wenn es eine Therano-Kuh ist.« Daraus wurde Dragon auch nicht klüger, aber er verkniff es sich, weitere Fragen zu stellen. Man geleitete sie in einem feierlichen Zug zum Hafen hinunter, wo das einzige seetüchtige Fischerboot mit zehn Ruderern für sie bereitstand. Es regte sich kein Windhauch, so daß Dragon vermutete, Aerula habe weiterhin Windstille verfügt, damit er nicht etwa mit Aerula-thanes Hilfe zum Nordkontinent gelangen konnte. Doch Dragon war gar nicht auf die Hilfe der Wanderwolke angewiesen. Er hatte in dem Therano einen hilfreichen Verbündeten, der ihn nach Ekkelund bringen würde,
so daß er Aerula einen entscheidenden Schritt näher war. Sie wurden ins offene Meer hinausgerudert, wo der Therano langsam vor ihnen aus dem Wasser tauchte. Rund um den Meeresriesen waren Schwärme von kleineren Fischen, die seine ständigen Begleiter waren und ihn von Schmarotzern reinigten und von seinen Ausscheidungen lebten. Dragon sah mit wachsendem Staunen, wie sich der Therano um seine Achse drehte, bis er seitlich zu liegen kam. Dragon sah, daß sich auf der Bauchseite dieses Therano beutelartige Auswüchse befanden, die er bei dem anderen Tier, das in der Bucht verendet war, nicht entdeckt hatte. »Das war auch keine Therano-Kuh«, erklärte ihm Jorana lachend. »In diesen Tragbeuteln befördern die Therani-Kühe ihre Jungen während der ersten Jahre ihres Lebens, um sie zu säugen und sie vor den Gefahren des Meeres zu schützen.« Ein Hautlappen an einem der Bauchbeutel tat sich auf wie ein riesiges Maul und gab eine geräumige Aushöhlung frei. »Sollen wir denn auch gesäugt werden?« scherzte Dragon. Alle lachten. Die Askalother brachten das Boot nun ganz an die Öffnung im Bauch des Meeresriesen heran, so daß Dragon und seine Begleiter überwechseln konnten. Die Ruderer reichten ihnen die Ausrüstung nach. Als sie sich vollzählig in dem Bauchbeutel befanden, schloß sich der Hautlappen. Der Therano wälzte sich herum, fuhr seine Atemschnorchel aus und tauchte unter. Gleich darauf war er den Blicken der Askalother entschwunden. Ich werde euch so sicher über das Meer bringen, als wäret ihr meine eigenen Jungen, vernahm Dragon die Gedanken des Therano. Ich spende euch Wärme und teile selbst meinen Atem mit euch. Und wenn ihr vor Eckelund an Land geht, könnt ihr es trockenen Fußes tun, denn dort ist das Meer tief, und das Steilufer erlaubt es mir, direkt anzulegen … Ich danke dir im Namen Vestas, Seekönigin, gab Dragon zurück.
ENDE