Nr. 344
Im Reich des Tyrannen Der Arkonide in der Gewalt der Spercoiden von Kurt Mahr
Die Erde ist wieder einmal davo...
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Nr. 344
Im Reich des Tyrannen Der Arkonide in der Gewalt der Spercoiden von Kurt Mahr
Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans Ein greifen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kon tinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wie der auf die Reise durch Zeit und Raum – auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lange! Der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte dazu, daß der ›Dimensionsfahrstuhl‹ Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeitkontinuum gezwungen wurde. Und so geschieht es, daß Pthor auf Loors, dem Planeten der Brangeln, niedergeht, nachdem der Kontinent eine Bahn von Tod und Vernichtung über die ›Ebene der Krieger‹ gezogen hat. Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Dar auf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, beschließt der Arkonide, Umschau zu halten IM REICH DES TYRANNEN …
Im Reich des Tyrannen
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Arkonide nimmt Kontakt mit den Spercoiden auf.
Thalia - Ihre Brüder erteilen ihr einen Auftrag.
Lasko - Kommandant von Sarccoth.
Mooc - Kommandeur einer Spercoiden-Flotte.
Myys - Ein Spercoide opfert sich für einen Fremden.
1. Die Nacht war so wunderbar still, daß das Rascheln, so leise es auch war, mich sofort stutzig machte. Weit vor mir ragten im Schimmer der Sterne die Umrisse zweier kleiner Pyrami den auf. Dahinter wuchtete die große Pyra mide in den Nachthimmel, die FESTUNG – einst ein Raumschiff, gebaut von einem Volk, das die Dimensionen längst verschlun gen hatten. Ich war hierher gekommen, um auf Thalia zu warten. Der Zeitpunkt, zu dem wir uns verabredet hatten, war mittlerweile längst verstrichen. Mich störte es nicht. Hier drau ßen war es friedlich. Die Nacht war warm. Kein Lüftchen regte sich. Die Tierwelt war längst zur Ruhe gegangen. Ich genoß die Stille. Bis ich plötzlich das Rascheln hörte. Es kam aus dem Gebüsch hinter mir. Das Ge räusch war nicht stetig. Es dauerte jeweils ein oder zwei Sekunden lang und erstarb dann, um erst eine halbe Minute später oder so wieder hörbar zu werden. Ich war unbewaffnet. Es konnte sich um ein Nachttier handeln, das sich hinter mir im Gestrüpp zu schaffen machte. Aber ich glaubte eher an etwas anderes. Ich schätzte meine Lage ab. Das Gebüsch war dicht be laubt. Das Geräusch schien noch immer we nigstens zwei Meter von mir entfernt. Wer immer es war, der dort drinnen im Busch stak – er konnte mich noch nicht sehen, be sonders in der Dunkelheit nicht. Ich wartete, bis das Rascheln das nächste Mal erklang. Da stand ich auf. Mit vorsichti gen Schritten umrundete ich das Buschwerk. Ich traf auf eine tiefe Spur, die durch das
feuchte Gras führte und an einer Bresche im Gebüsch endete. Die Spur war die eines Menschen. Meine Vermutung hatte also nicht getrogen. Ich arbeitete mich behutsam bis an die Bresche heran. Dabei stieß ich mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Ich bückte mich nieder, betastete das Hindernis und hob es auf. Es war eine schwere Streitaxt mit zwei Schneidblättern aus blauem Metall. Der kräftige Kolben war in der oberen Hälfte mit groben, vierkantigen Nägelköpfen beschla gen. Der untere Teil des Kolbens bestand aus einer hydraulischen Federung. Am Knauf des Kolbens war eine lederne Schlau fe befestigt. Das war die Khylda, die gefürchtete Streitaxt des Odinssohns Heimdall. Also war es Heimdall, der da drinnen im Gebüsch stak. Er hatte die Waffe abgelegt, weil sie ihm beim Anschleichen hinderlich war. Ich fragte mich, was er wollte. Konnte es sein, daß er Thalia und mich bei einem Stelldich ein zu belauschen hoffte? Die drei Odins söhne waren sich darüber, wie sie ihre einzi ge Schwester behandeln sollten, uneins. Ei nerseits galt ihnen Thalia nicht viel, weil sie eine Frau war und sich zudem seit Ragnarök weigerte, die Rolle des Odinssohns Honir weiterzuspielen, in der sie jahrhundertelang ihre Weiblichkeit verborgen hatte. Andererseits war sie trotz allem ein Kind Odins, und daher mußte man ablehnen, daß sie mit einem dahergelaufenen Fremden, nämlich mir, allzu enge Kontakte pflegte. Ich wollte dem Versteckspiel eine Ende machen. »Heimdall!« rief ich. »Du kommst nicht als ein Ehrlicher. Seit wann hat man gehört, daß ein Sohn Odins sich feige wie ein Scha kal an sein Opfer anschleicht?«
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Kurt Mahr
Drinnen im Gebüsch war es einen Augen blick lang ruhig. Dann hörte ich ein zorniges Knurren. Die Zweige gerieten rauschend und knackend in Bewegung, und im Handumdrehen wuchs aus dem Dunkel Heimdalls hünenhafte Gestalt. Er stand knapp an die zwei Meter hoch. Er war in voller Rüstung, deren Metallteile im Licht der Sterne silbrig schimmerten. »Wer nennt mich feige?« schnaubte er. »Ich, der Fremde«, antwortete ich. »Ich war es, den du anschlichst, oder nicht? Hier hast du dein Spielzeug wieder.« Ich warf ihm die Streitaxt zu. »Was willst du hier?« fuhr ich ihn an. »Dies ist mein Land«, antwortete er dü ster. »Ich brauche mich vor dir nicht zu ver antworten.« »Gut. Es ist mein Rücken, den du an schleichst. Beim nächsten Mal wundere dich nicht, wenn ich dir wie einem heimtücki schen Räuber einen Knüppel über den Schä del schlage!« Er hatte die rechte Hand in die Schlaufe der Khylda geschoben und schlenkerte die Streitaxt hin und her. »Das sind große Worte, die du quakst, Fremder!« versuchte er zu spotten. »Du kennst mich«, sagte ich. »Probier' mich aus. Hattest du Thalia hier erwartet? Sie ist nicht hier.« Er war unsicher. Wahrscheinlich hatte ich den Nagel auf den Kopf getroffen. »Ich habe niemand hier erwartet«, knurrte er. Dann schritt er davon.
* Ich habe des öfteren versucht, mir Re chenschaft darüber abzulegen, was ich für Thalia empfand. Schönfärberei sei mir fern. Einer der Gründe, warum ich mich zu Thalia hingezo gen fühlte, war die rein physische Anzie hungskraft, die eine Frau auf einen Mann ausübt. Thalia war, wenn auch nicht schön, so doch von äußerst attraktivem Äußeren. Aber was war es, über das rein Physische
hinaus, das mich an die junge Frau fesselte? Mitleid? Sicherlich – ich empfand Bedau ern für Thalia in ihrer Lage. Jahrhunderte lang hatte sie ihren Abschnitt der Straße der Mächtigen beherrscht und ihrer Umwelt Ehrfurcht und mitunter wohl auch Furcht eingeflößt. So groß war ihre Macht gewesen, daß selbst die Herren der FESTUNG sie hat ten in Ruhe lassen und mit ihr, ebenso wie mit ihren Brüdern, eine Art Stillhalteabkom men schließen müssen. Dann aber kam die Zeit der großen Umwälzungen, die in Rag narök gipfelte. Thalia streifte die Rolle von sich, die ihr Vater ihr aufgezwungen hatte. Sie wollte eine Frau sein. Was aber hatte dieser Entschluß ihr eingebracht? Den Ver lust aller Macht und die grimmige Verach tung ihrer Brüder, die sich dagegen sträub ten, eine Frau an der Herrschaft über Pthor zu beteiligen. Und war das allein mein Mit leid noch nicht wert, so kam hinzu, daß Tha lia die Ablehnung, die ihr von seiten Heim dalls, Balduurs und Sigurds zuteil wurde, mit einer Art von verzweifeltem Optimis mus als etwas Vorübergehendes deutete. Was war es noch, das ich für Thalia emp fand? Sie und ich – wir hatten etwas gemein sam: wir waren beide Fremde in einer un wirklichen, grotesken Welt. Thalia mochte, in ihrer Maske als Honir, gewissermaßen zum Standardinventar von Pthor gehört ha ben. Aber in Wirklichkeit war dieser Mate riebrocken ebenso wenig ihre Welt wie die meine. Thalia dachte nicht wie eine Pthore rin. Sie unterschied sich von ihren Brüdern nicht zuletzt darin, daß sie Dinge und Zu sammenhänge vorurteilslos zu beurteilen vermochte. Thalia und ich – wir waren zwei Fremde. Ebenso fremd wie Kolphyr, das Wesen aus Antimaterie, ja, in Wirklichkeit sogar noch fremder. Denn während Kolphyr das Land Pthor als etwas ganz und gar Neuartiges, nie zuvor Erlebtes sah, erschienen uns das Land und seine Bewohner wenigstens auf den er sten Blick als vertraut. Um so drastischer war dann für uns, daß der äußere Anschein
Im Reich des Tyrannen der Vertrautheit sich anhand der Gegeben heiten nicht rechtfertigen ließ. Das war es also: Trieb, Mitleid und das Gefühl der Verbundenheit. Alle zusammen ergaben Sympathie.
* Ich kehrte zu meinem früheren Wartepo sten zurück. Meine Geduld wurde belohnt. Nach meiner Schätzung ging es auf Mitter nacht, als Thalia sich einfand. Sie wirkte be drückt und ein wenig verwirrt – so, als hätte sie mit einem inneren Unbehagen zu kämp fen. »Sag' dem treuesten deiner Freunde, was dich bekümmert«, forderte ich sie auf, »und dem Kummer wird abgeholfen!« Sie reagierte nicht auf den gut gemeinten Spott. Ihre Sorge saß tief. »Ich habe einen Auftrag bekommen«, sagte sie dumpf. »Von deinen Brüdern?« »Ja. Ich soll zur Großen Barriere von Oth reisen und mit den Magiern Verbindung auf nehmen.« »Das haben deine Brüder sich nicht rich tig überlegt«, antwortete ich. »Die Magier aus der Großen Barriere haben sich von Pthor abgeriegelt. Niemand wird sie sehen oder mit ihnen sprechen, wenn sie selbst es nicht wollen.« »Das habe ich Heimdall auch gesagt. Aber Heimdall kennt eine Beschwörungsfor mel, die er mich lehren will. Mit dieser For mel, sagt er, kann ich jedes Hindernis besei tigen.« »Wenn er daran glaubte«, lachte ich är gerlich, »dann wäre er selbst der erste, der sich auf die Reise nach Oth macht!« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Heimdall war dabei, als sie dir den Auf trag gaben?« wollte ich wissen. »Alle drei waren zugegen«, bestätigte Thalia. »Wann war das?« »Vor ein paar Stunden. Sie sprachen lan ge auf mich ein. Als sie fertig waren, verließ
5 ich die FESTUNG und wanderte in der Dun kelheit umher. Ich wollte mit meinen Ge danken ins reine kommen.« »Aha! So war das!« »Wie? Was meinst du?« »Heimdall dachte, du würdest auf dem schnellsten Weg mich aufsuchen. Er nahm an, daß wir den Auftrag miteinander bespre chen würden. Dabei wollte er uns belau schen. Da siehst du, wie ehrlich er es meint!« Sie verstand nicht. Ich berichtete von mei nem Zusammentreffen mit Heimdall. »Das vergibt er dir nicht!« bemerkte Tha lia ängstlich. »Es ist mir gleichgültig, was er mir ver gibt und was nicht. Er könnte mich nur be siegen, wenn er mich aus dem Hinterhalt an griffe, und das erlaubt seine Ehre nicht.« Wir sprachen geraume Zeit über Thalias Auftrag. Ich riet ihr von der Reise ab. Unter den gegenwärtigen Umständen war Pthor ein außerordentlich gefährliches Terrain. Thalia war in der FESTUNG besser aufge hoben als irgendwo sonst. Ich merkte jedoch, daß ich nicht zu ihr durchdrang. Sie empfand den Auftrag als et was, womit sie sich das Wohlwollen ihrer Brüder erwerben konnte. Ich spürte, daß sie fast schon entschlossen war, die Reise zu unternehmen. Als ich sah, daß ich nichts mehr ausrichten konnte, brachte ich die Sprache auf ein anderes, belangloseres The ma. Diese Nacht verbrachten Thalia und ich im Freien – wie schon viele Nächte zuvor.
* Ein schneidender Wind weckte mich. Verschlafen und noch halb benommen stemmte ich mich in die Höhe. Es war noch dunkel. Aber am Horizont zeigte ein lichter Fleck die Stelle, an der die Sonne aufgehen würde. Der Wind pfiff über die weite Fläche, die einst der Garten der FESTUNG gewesen war. Es roch nach Schnee. Ich fühlte mich
6 erbärmlich. Besonders, als ich feststellte, daß Thalia nicht mehr da war. Da wußte ich endgültig, daß Thalia mei nen Rat nicht angenommen hatte. Der Wunsch, ihren Brüdern zu Gefallen zu sein, hatte die Oberhand behalten. Wahrschein lich war sie schon nach Oth aufgebrochen. Die Vorstellung, für längere Zeit ohne ihre Gesellschaft zu sein, machte mich verdros sen. Obendrein knurrte mein Magen. Ich er innerte mich kaum noch, wann ich zum letz ten Mal gegessen hatte. Das mußte gewesen sein, bevor Razamon und Kolphyr sich auf den Weg zur Senke der Verlorenen Seelen machten, um herauszufinden, was mit den eingeschläferten Fremden geschehen war, die dort in 3000 Glaspalästen ruhten – oder wenigstens geruht hatten, als Pthor noch durch den Dimensionstunnel reiste. Ich hatte die Wahl, mir selbst etwas zu es sen zu beschaffen oder mich an die Vorräte der Odinssöhne zu halten. Der Garten bot noch immer genug Früchte, von denen ein hungriger Mann satt werden konnte. Aber meine Stimmung war mehr nach einem Bis sen Fleisch. Obendrein machte ich Heim dall, Balduur und Sigurd für mein Mißbefin den verantwortlich. Folglich geschah es ih nen recht, wenn jemand von ihren Vorräten stahl. Sie hatten genug Dellos, die die Kam mern wieder auffüllen konnten. Die ersten fünfhundert Meter in Richtung der großen Pyramide legte ich im Trott zu rück. Das brachte das Blut in Zirkulation und vertrieb die Kälte. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen. Aber sie hielt sich hin ter einer düsteren Wolkendecke verborgen. Der Sturm trieb Nebelfetzen in geringer Hö he über das Land. Plötzlich tauchte vor mir eine Gestalt auf. Sie bewegte sich auf mich zu und hatte es offenbar eilig. Ich erkannte Sigurd. Der An blick war ein wenig ungewöhnlich, weil er nicht wie sonst die Rüstung trug, sondern ein bis auf den Boden reichendes Gewand, das aus einem einzigen Stück Material ge fertigt zu sein schien. Ich sah ihm an, daß er auf der Suche nach
Kurt Mahr mir gewesen war. Er wirkte erleichtert, als er mich erblickte. Allerdings sah er zu, daß die Erleichterung nicht allzu sichtbar wurde. Seinem Ruf als einer der Söhne Odins war er einiges schuldig. Einem dahergelaufenen Fremden gegenüber durfte er sich nicht zu leutselig zeigen. »Du scheinst es eilig zu haben«, bemerkte ich, bevor er etwas sagen konnte. »Du wirst gebraucht!« antwortete er schroff. Nun war mir Sigurd von den drei Götter sprossen, die Odin dem Land Pthor als sein Vermächtnis hinterlassen hatte, immer der angenehmste gewesen. Er als einziger von den dreien brachte es mitunter zuwege, un beschwert und heiter zu sein und sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Zu an deren Zeiten freilich war er genau so aufge blasen wie seine beiden Brüder. »Leg dich wieder ins Bett und schlafe dich aus!« antwortete ich. »So spricht man nicht mit mir!« Er war einsichtig. Er erkannte, daß er in der Manier des Herrschers mit mir nicht zu Rande kommen werde. Also versuchte er, mich zu beeindrucken. »Es ist zu befürchten, daß uns Gefahr droht«, erklärte er. »Uns? Wer ist uns?« »Uns allen. Dem ganzen Land! Das Wa che Auge meldet eine Reihe seltsamer Beob achtungen.« »Und wozu werde ich gebraucht?« Er hatte offenbar gehofft, mich mit sei nem barschen Befehl einfach überrumpeln und danach abschleppen zu können. Die Frage kam ihm sichtlich ungelegen. Er druckste herum, bis es ihm schließlich über die Lippen rutschte: »Wir verstehen nicht, was das Wache Au ge uns meldet.« »Und da dachtet ihr, ich sei womöglich ein wenig schlauer als ihr?« Er antwortete nicht, sondern sah mir starr ins Auge. »Unter einer Bedingung«, erklärte ich. »Wenn ich euch auseinandergesetzt habe,
Im Reich des Tyrannen was es mit den Beobachtungen des Wachen Auges auf sich hat, dann besorge ich mir aus euren Vorratskammern ein Mahl, das einen Mann satt macht.« Er machte die Geste der Zustimmung. Wir schritten gemeinsam in Richtung der großen Pyramide.
* Das Kontrollzentrum der FESTUNG, die einst ein Raumschiff gewesen war, befand sich in einem kreisrunden Raum von fünfzig Metern Durchmesser, dessen Sohle rund dreihundert Meter unterhalb der Pyramiden spitze lag. Der Raum wurde von einer kup pelförmigen Decke überwölbt, die im Mit telpunkt eine Höhe von zwanzig Metern er reichte. Alles in diesem Raum war in düste rer grauer Farbe gehalten, der auch die Be leuchtung nichts Anheimelndes zu vermit teln vermochte. Das Zentrum war voller technischer Gerä te, die zum Teil aus der Fertigung der Ro botbürger von Wolterhaven stammten, zum anderen Teil wohl aber auch schon zur Aus rüstung des ursprünglichen Raumschiffs ge hört haben mußten. In beiden Fällen war mir die Technologie fremd. In den Tagen unmit telbar nach Ragnarök, dem Untergang des Regimes der Herren der FESTUNG, hatte ich des öfteren an diesen Maschinen herum experimentiert. Soweit meine Experimente erfolgreich gewesen waren, verdankte ich diesen Umstand nicht etwa meinem Ge schick im Erfassen fremder Zusammenhän ge, sondern eher dem Zufall und einer Porti on Glück. Die übrigen beiden Odinssöhne erwarte ten uns: Heimdall und Balduur, beide in ihre Rüstungen gekleidet. Balduur starrte mich unbeteiligt an. Er hatte ein breitflächiges Gesicht mit weit auseinanderstehenden Au gen und wulstigen Lippen. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sonderlich intelligent. Heimdall dagegen warf mir nur einen finste ren Blick zu. Sigurd wies mich an die Geräte, über die
7 das Wache Auge seine Meldungen erstattete. Es handelte sich um eine Batterie klobiger, altmodischer Bildempfänger, insgesamt fünf an der Zahl. Die Bilder, die sie zeigten, wa ren zunächst unverständlich. »Was kannst du erkennen?« fragte Sigurd. »Nichts«, antwortete ich. »Ich muß mich mit den Geräten befassen. Vielleicht kann das Bild so getrimmt werden, daß man etwas erkennt.« »Mach schnell!« drängte er. »Wir alle spüren, daß eine ernste Gefahr auf uns zu kommt.« Ich ging nicht darauf ein. Mit den Bildge räten hatte ich mich nie zuvor befaßt. Sie waren damals, unmittelbar nach dem Tod der Herren der FESTUNG, nicht in Betrieb gewesen. Ihre Bedienung konnte nicht son derlich kompliziert sein, denn es gab nur zwei Tasten. Die Herren der FESTUNG al lerdings hatten nicht einmal diese Tasten ge braucht: sie hatten die Empfänger von ihren Nährbehältern aus fernsteuern können. Ich nahm mir das erste Gerät vor und drückte eine der beiden Tasten. Das Bild än derte sich ruckartig. Dieselbe Veränderung ging gleichzeitig auf zwei weiteren Geräten vor sich. Das Bild war nicht verständlicher geworden, es war nur anders als bisher. Mehrere Tastendrucke brachten weiter nichts zustande, als daß sich das Bild von Druck zu Druck änderte, ohne dabei klarer zu werden. Ein einziges Mal bekam ich ein Muster zu sehen, das so aussah, als stelle es eine Reihe gleichmäßig geformter Objekte auf einer weiten Ebene dar. Ich drückte und drückte weiter. Die zwei anderen Bildschir me vollzogen nach, was sich auf meinem Empfänger abspielte. Die restlichen zwei da gegen blieben unverändert. Nach ein paar Minuten stellte ich fest, daß sich das Muster auf der Bildfläche zyklisch veränderte. Es gab insgesamt vierundzwan zig verschiedene Muster. Nach vierund zwanzig Tastendrücken kam das erste wie der zum Vorschein. Ich tastete mich bis zu dem Bild vor, auf dem ich die gleichmäßig geformten Gegenstände zu erblicken glaub
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Kurt Mahr
te. Als ich es hatte, probierte ich zum ersten Mal die zweite Taste. Sofort ging mir eine Licht auf. Der Druck der zweiten Taste verursachte nur geringfü gige Veränderungen, und diese wiederum führten dazu, daß das Bild allmählich schär fer wurde – immer gleichzeitig auf allen drei gekoppelten Empfängern. Ich tastete weiter, und je weiter ich mich vorarbeitete, desto deutlicher wurde das Bild – und desto deut licher wurde auch meine Ahnung, was es war, das der Bildschirm darstellen würde, wenn ich die richtige Einstellung endlich ge funden hatte. Die Gebilde, die sich da aus der Unschar fe herauszuschälen begannen, waren mir nicht unbekannt. Eines von ihrer Art hatte ich schon einmal gesehen, auf der Fläche Mur-Zerrada. Es war ein Raumschiff gewe sen, das dem Volk der Spercoiden gehörte. Es sah aus wie zwei aufeinandergestülpte Spitzhüte. Die Seitenflächen waren gewellt, und das Ganze bestand aus einem fremdarti gen Metall von blaßblauer Färbung. Die Spercoiden hatten mich eine Zeitlang als Gefangenen an Bord ihres Schiffes gehabt. Seit jener Zeit wußte ich, daß es mit den Spercoiden kein Auskommen gab. Das war auch der Grund, warum Razamon das Schiff schließlich vernichtete – oder eher: ver schwinden ließ – indem er das Leuchtfeuer manipulierte. Genug davon. Was auf der Bildfläche schließlich sichtbar wurde, war nicht ein Spercoiden-Raumschiff, sondern ihrer sechsunddreißig. Sie bildeten eine straff ge ordnete Formation, und was ich auf dem un scharfen Bild für eine Ebene gehalten hatte, war in Wirklichkeit die Weite des Weltalls. Ich wandte mich um und sagte zu den drei Odinssöhnen: »Eure Ahnung trügt nicht! Die Spercoi den kommen, um uns anzugreifen.«
* Balduur widersprach sofort.
»Wer sagt, daß sie uns angreifen wollen?«
»Die Logik«, antwortete ich ihm. »Die Spercoiden haben auf Loors ein Raumschiff verloren. Sie kommen, um nachzusehen, was aus ihm geworden ist, und die Übeltäter zu bestrafen.« »Die Übeltäter sind nicht wir!« bemerkte Heimdall scharf. »Du hast recht«, pflichtete ich ihm bei. »Wahrscheinlich wird es am besten sein, wenn Razamon, Kolphyr und ich uns den Spercoiden ausliefern. Auf diese Weise geht ihr kein Risiko ein, und euer teures Fell bleibt euch erhalten.« »Unsinn!« wehrte Sigurd ab. »Wenn sie angreifen, stehen wir zusammen. Aber wer sagt überhaupt, daß sie in der Nähe sind? Ich sehe ein Bild, das viele Fahrzeuge auf dem Hintergrund des Raumes zeigt. Aber wel cher Raum ist dies?« »Das Wache Auge hätte sich nicht gemel det, wenn sie nicht in der Nähe wären«, gab ich zu bedenken. Dabei fiel mir ein, daß die beiden Bildge räte, die noch immer dasselbe unverständli che Bild zeigten wie in dem Augenblick, da ich die Halle betreten hatte, eine besondere Funktion besaßen. Ich nahm mir eines von ihnen vor und probierte die beiden Tasten. Dabei bemerkte ich, daß auch diese beiden Geräte wieder miteinander gekoppelt waren: sie zeigten beide stets das gleiche Bild. Jetzt, da ich wußte, wie die beiden Bedie nungstasten funktionierten, fiel es mir nicht schwer, das richtige Bild hereinzuholen. Ich begann, vor der Technik, deren sich die Her ren der FESTUNG bedient hatten, Achtung zu empfinden. Das erste Bild, auf drei Emp fängern gleichzeitig zu sehen, zeigte das Ob jekt, auf das das Wache Auge aufmerksam geworden war und über das es den Bewoh nern der FESTUNG Meldung zu erstatten für richtig befunden hatte. Das zweite Bild, von den übrigen zwei Empfängern darge stellt, war eine Animation, also ein künstli ches Bild, das zeigte, wo sich das Objekt im Verhältnis zu Pthor befand. Man sah einen grellen Lichtpunkt, der ohne Zweifel Loors' Sonne darstellte, und zwei weniger intensive
Im Reich des Tyrannen Punkte, von denen der äußere in regelmäßi gen Abständen blinkte. Der innere Punkt mochte eine Schwesterwelt von Loors dar stellen, der blinkende Reflex war ohne Zweifel Loors selbst. Das Objekt schließlich war wiederum sehr intensiv und ebenfalls blinkend dargestellt, aber sein Blinkrhyth mus war wesentlich schneller als der von Loors. Ich versuchte zu schätzen. Loors war eine erdähnliche Welt. War es sinnvoll anzuneh men, daß das Muttergestirn von diesem Pla neten ungefähr ebenso weit entfernt war wie Sol und Terra? Sicherlich. Die Entfernung der sechsunddreißig Spercoiden-Schiffe von Loors betrug etwa ein Zehntel des Abstands der Sonne von ihrem Planeten. Rund fünfzehn Millionen Kilometer. Und die Entfernung wurde stetig geringer. Die Spercoiden näherten sich mit hoher Fahrt. Ich wandte mich um und musterte die drei Odinssöhne. Zumindest Sigurd schien be griffen zu haben, was das zweite Bild dar stellte. Er wirkte besorgt. »Da seht ihr es«, sagte ich. »Die Spercoi den sind im direkten Anflug auf diese Welt. Pthor wird ihnen nicht entgehen. Und da Loors ansonsten nur von harmlosen Primiti ven bevölkert ist, werden sie sofort wissen, wo sie die zu suchen haben, die für den Ver lust ihres Raumschiffs verantwortlich sind.«
* Diesmal dachten sie wenigstens eine Zeit lang über meine Worte nach. Balduur mach te schließlich eine wegwerfende Handbewe gung und meinte: »Mögen sie angreifen! Der Wölbmantel wird uns schützen.« Noch vor wenigen Tagen hätte ich ihm recht gegeben. Als Pthor noch im Atlantik ruhte und nur der Schutzschirm, den die Verantwortlichen der Erde von außen her angelegt hatten, die Horden der Nacht daran hinderten, über die terranische Menschheit herzufallen, da war der Wölbmantel ein un erhört wirksames Gebilde gewesen, das es
9 so gut wie unmöglich machte, von außen nach Pthor einzudringen. Der Mantel hielt alles von Pthor fern: materielle und immate rielle Dinge, Projektile, Energiestrahlen, Bomben, Desintegratorsalven. Razamon und ich wußten davon ein Lied zu singen. Nur mit Hilfe eines Tricks war es uns gelungen, den Wölbmantel zu durchdringen. Aber selbst wir hatten unsere Kleidung draußen zurücklassen müssen und waren nackt an Land geklettert. Das war damals gewesen. Seitdem war Pthor an einer Kreuzung zweier Dimensi onstunnels mit einem asteroidengroßen Wasserklumpen zusammengestoßen und hatte auf Loors seine Notlandung vollzogen. Dabei war der kosmische Materiebrocken, aus dem Pthor bestand, bis in die Tiefe sei ner Grundfesten erschüttert worden. Wer sagte uns, daß die Generatoren noch ein wandfrei funktionierten, die den Wölbman tel mit Energie versorgten? Balduur, Heimdall und Sigurd waren durch derartige Überlegungen nicht zu be eindrucken. Der Wölbmantel hatte bisher immer seinen Dienst verrichtet. Warum soll te er ausgerechnet jetzt aufhören zu funktio nieren? Das war ihre Denkweise. Auf der Bildfläche wurde der Abstand zwischen der Flottille der Spercoiden und dem Planeten Loors immer kleiner. Ich be merkte, daß das Wache Auge den Maßstab der Darstellung den Gegebenheiten anpaßte: die Sonne Loors' verschwand allmählich über den Bildschirmrand hinaus, kurze Zeit später auch der Schwesterplanet. Loors er schien jetzt als volle Scheibe. Man konnte sehen, daß die sechsunddreißig SpercoidenSchiffe in einer Höhe von etwa zwanzigtau send Kilometern in Orbit gingen. Sie umrundeten Loors zweimal. Dann be gann der Angriff.
2. Zunächst hörten wir nur ein dumpfes Ru moren. Die drei Odinssöhne horchten zu nächst mit besorgter Miene. Aber als ein
10 paar Minuten vergangen waren, ohne daß das Geräusch lauter geworden war als das Rumpeln eines fernen Gewitters, begann ih re Zuversicht wieder zu wachsen. »Da geht dein Kleinmut dahin«, bemerkte Heimdall abfällig. »Der Wölbmantel hält stand!« Das Bild auf allen fünf Empfängern hatte sich gewandelt. Die sechsunddreißig Raum schiffe und ihre Position relativ zu Loors waren nicht mehr zu sehen. Beide Anzeigen waren für die Bewohner der FESTUNG nicht mehr interessant. Statt dessen zeigte die erste Gruppe von drei Bildschirmen in ständig wechselnder Perspektive verschiedene Ausschnitte eines nebelhaften Gebildes, das keine erkennbaren Umrisse hatte. Mir wurde erst klar, was die drei Empfänger zeigten, nachdem ich mir die Anzeige der beiden übrigen Geräte aufmerksam angese hen hatte. Sie stellte in räumlicher Perspekti ve eine schimmernde Kuppel dar, auf die mitunter ein rot leuchtender Blitz herab zuckte. Ich verstand. Die Kuppel war der Wölb mantel in schematischer Darstellung. Mit Hilfe des roten Pfeils wurden die Schüsse der Spercoiden-Raumschiffe simuliert. Also stellten die übrigen drei Geräte den Mantel selbst dar, wie er von den Aufnahmegeräten des Wachen Auges gesehen wurde. Ich beobachtete und begann allmählich zu verstehen, was die drei Bilder mir bedeuten wollten. Jedesmal, wenn auf der schemati schen Darstellung ein roter Pfeil aufleuchte te, erschien in dem Nebel, der einen Aus schnitt des Wölbmantels darstellte, ein schwarzer Schatten von unregelmäßiger Form. Ich verstand genug von Hyperphysik, um zu wissen, daß es sich bei den Schatten um Strukturrisse handelte. Das konzentrierte Feuer der Spercoiden zeigte erste Wirkun gen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erkannten, daß es nur einer noch besseren Koordination der Schußfolge bedurfte, um den Wölbmantel endgültig zum Einsturz zu bringen. Die Erkenntnis, daß ich eine wichtige
Kurt Mahr Entscheidung zu fällen hatte, traf mich wie ein gelinder Schock. Ich war offenbar der einzige, der wußte, was dem Wölbmantel bevorstand, wenn die Spercoiden ihr Feuer koordinierten. Der Zusammenbruch des Wölbmantels aber bedeutete den Untergang von Pthor. Das Todesurteil für alle Bewoh ner des kosmischen Materiebrockens war vermutlich schon längst gesprochen – die Spercoiden warteten nur darauf, daß der Wölbmantel fiel. Geraume Zeit später stellte sich heraus, daß ich die Zuversicht der Spercoiden in diesem Augenblick weit überschätzte. Ihr Kommandant war im Gegenteil verzweifelt ob der Hartnäckigkeit, mit der der Wölb mantel dem konzentrierten Feuer seiner Ge schütze trotzte. Er stand unmittelbar vor dem Entschluß, den Angriff abzubrechen und sich zurückzuziehen. Aber das wußte ich nicht. Infolgedessen traf ich eine Ent scheidung, die dem wahren Ernst der Sach lage nicht entsprach. Durfte ich zulassen, daß Pthor zerstört und seine Bewohner ermordet wurden? Ich durfte es nicht. Ich hätte es selbst dann nicht zulassen dürfen, wenn es in diesem Land nur Fremde gegeben hätte, an denen mir von Natur aus nichts lag. Außerdem war meine eigene Situation zu bedenken. Für mich war Pthor eine Art Raumschiff, mit dessen Hilfe ich eines Tages zur Erde zurückzukehren hoffte. Die Vernichtung Pthors würde ich womöglich überstehen, wenn ich mich so fort auf den Weg zu dem Versteck machte, in dem ich das Goldene Vlies zurückgelas sen hatte, und mir den Anzug überstreifte, der mir schon in so vielen Gefahren zum Retter geworden war. Aber was wurde aus meinem Raumschiff? Ich befand mich in ei nem fremden Universum, aus dem ich den Weg zurück zur Erde nie finden würde! Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als Pthor zu retten – oder wenigstens einen entspre chenden Versuch zu unternehmen. Ich wandte mich an die drei Odinssöhne. Ich gewahrte den selbstgefälligen Ausdruck ihrer Mienen und wußte, daß sie die drohen
Im Reich des Tyrannen de Gefahr noch immer nicht erkannt hatten. »In spätestens einer Stunde«, sagte ich, »wird der Wölbmantel zusammenbrechen!«
* Sie sahen mich entgeistert an. »Die Angst hat dir den Verstand ver wirrt!« beschuldigte mich Heimdall. »Wenigstens habe ich einen Verstand, der sich verwirren läßt«, gab ich zurück. »Im Gegensatz zu dir. Du siehst die drohenden Anzeichen und begreifst sie nicht!« Ich erklärte ihnen, was es auf den beiden Bildschirmgruppen zu sehen gab. Es war wichtig, daß sie wenigstens eine Ahnung von den Vorgängen hatten. Denn wenn ich Pthor retten wollte, brauchte ich ihre Hilfe. Sigurd war der erste, der Wirkung zeigte. Sein Gesicht wurde bedenklich. Jedesmal, wenn einer der dunklen Schatten auf den drei Empfängern erschien, zuckte er unwill kürlich zusammen. »Der Fremde hat recht«, murmelte er. »Was tun wir?« Bevor Balduur oder Heimdall ihre Vor schläge an den Mann bringen konnten – wenn sie überhaupt welche hatten – erklärte ich: »Einer von uns muß hinaus und die Auf merksamkeit der Angreifer von Pthor ablen ken!« Das saß wie eine Bombe. Einen Augen blick lang waren sie völlig sprachlos. Dann stieß Heimdall hervor: »Beim Andenken meines Vaters: du bist wirklich verrückt! Glaubst du, ein einzelner Mann könnte sie derart ablenken, daß sie den Angriff auf Pthor einstellen?« Hier ging es nicht mehr um sachliche Er wägungen. Ich mußte sie ins Bockshorn ja gen, wenn ich in der Zeit, die mir noch blieb, einen Erfolg erzielen wollte. Ich machte also eine großspurige Geste und ant wortete verächtlich: »Ich sehe, daß du dieser Mann nicht sein willst. Die Angst steckt dir in den Knochen, deine Zähne klappern, und dein Gesicht ist
11 so weiß wie eine reines Bettlaken. Aber von dir hat überhaupt niemand gesprochen. Der Mann, den ich meine, muß tatkräftig sein. Und vor allen Dingen muß er es verstehen, die Aufmerksamkeit des Gegners auf sich zu lenken.« In diesem Augenblick machte Balduur in seiner schwerfälligen Weise eine Bemer kung, die so gewitzt war, wie man sie von ihm eigentlich gar nicht erwartet hätte. Er sagte: »So großspurig, wie du gewöhnlich da herredest, kannst du eigentlich nur dich selbst meinen.« »Und?« erwiderte ich herausfordernd. »Wüßtest du einen Besseren?« »Du willst gehen?« staunte Sigurd. »Was, wenn sie dich töten?« »Der Tod ist des Kriegers Schicksal«, ant wortete ich mit einem ihrer eigenen Sprü che. »Außerdem werde ich mich vorsehen und mich nur dann umbringen lassen, wenn es sich gar nicht anders machen läßt.« Er sah auf die Bildgeräte. Im selben Au genblick ließ ein intensiver Feuerhagel meh rere Strukturrisse gleichzeitig erscheinen. Das gab den Ausschlag – wenigstens für Si gurd. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du die Fremden von Pthor ablenken willst«, sagte er. »Sie sind viel zu weit entfernt, als daß sie dich sehen könnten. Aber ich habe nichts da gegen, daß du wenigstens den Versuch un ternimmst.« »Gut«, antwortete ich. »Ich brauche einen Zugor. Und eine Tagesration Proviant.« Zugors waren die Fahrzeuge, die die Technos entwickelt hatten – runde, wannen förmige Gebilde, die sich wie Gleiter durch die Luft bewegten und sich eines altmodi schen Raketenantriebs bedienten. Ich wußte, daß die Odinssöhne über insgesamt vier die ser Fahrzeuge verfügten. Ich brauchte eines davon. Würden sie es mir geben? Sigurd hatte jetzt eindeutig die Initiative ergriffen. »Nimm eines unserer Fahrzeuge!« trug Odins jüngster Sohn mir auf. »Du weißt, wo
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Kurt Mahr
sie sich befinden. Auf dem Weg dorthin ver sieh dich mit Proviant aus unseren Vorrats kammern!«
* Ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Der Besuch bei den Vorratskammern nahm le diglich vier Minuten in Anspruch. Ich fand einen ledernen Beutel, in den ich hinein stopfte, was mir gerade in die Hände kam. Einen übereifrigen Dello, der den Proviant seiner Herren vor meinem dreisten Zugriff schützen wollte, mußte ich niederschlagen – mit ihm zu argumentieren hätte zuviel Zeit in Anspruch genommen. Die Zugors befanden sich in einer unterir dischen Halle, von der aus eine breite Ram pe zur Oberwelt hinaufführte. Es kostete mich Mühe, mich in der Düsternis zurecht zufinden. Schließlich aber fand ich ein Fahr zeug, dessen Anzeigen verrieten, daß es fahrbereit und einigermaßen vollgetankt war. Ich verstaute meine Proviantbeutel. Wäh rend ich das Triebwerk anlaufen ließ, über legte ich, ob ich das Goldene Vlies anlegen solle, bevor ich mich auf den gefährlichen Weg machte. Ich entschied schließlich dage gen – aus keinem anderen Grund, als daß ich keine Zeit verlieren wollte. Der Zugor fauchte die steile Rampe hin auf. Ich spielte mit den Kontrollen, um mich mit dem Fahrzeug vertraut zu machen. Es gehorchte willig jedem Befehl. Ich war mit meiner Wahl zufrieden. Draußen war es in zwischen kaum wärmer geworden. Wolken fetzen huschten über das Land. Bleiern lag der Himmel über Pthor. Ich hielt nach Nord nordost. In dieser Richtung lag die Küste am nächsten – die Küste, die jetzt nur noch ein langgestrecktes Kliff mitten in der Land schaft des Planeten Loors war. Einige Kilo meter östlich der Mündung des XamyhrFlusses, der jetzt seine Wasser nicht mehr in den Atlantik, sondern in die Wüstenei am Rand der Fläche Jell-Cahrmere entleerte, würde ich den Wölbmantel durchbrechen.
Sigurds Bedenken kam mir in den Sinn. Es war naiv zu glauben, daß die Spercoiden aus zwanzigtausend Kilometern Höhe ein einzelnes Fahrzeug orten würden. Und selbst wenn sie es orteten, würden sie ihm Beach tung schenken? Wenn ich überhaupt be merkt werden wollte, mußte ich zumindest die Wolkendecke durchstoßen. Meine Hoff nung war darauf gerichtet, daß der Gegner sich nicht damit begnügen werde, aus einem hohen Orbit seine Geschütze abzufeuern und geduldig zu warten, bis der Wölbmantel auf zubrechen begann. Sicherlich waren vorge schobene Beobachter an Bord. Die Raum schiffe der Spercoiden besaßen, wie ich wußte, Beiboote. Mehrere solcher Fahrzeu ge, nahm ich an, waren inzwischen in die unteren Atmosphäreschichten von Loors vorgedrungen, um zu ermitteln, ob die Ge schütze der Raumschiffe überhaupt eine Wirkung erzielten. Das war um so wahr scheinlicher, als Pthor sich nicht wehrte. Eines dieser Boote würde mich bemerken. Was danach kam, darüber hatte ich mir bis lang keine Gedanken gemacht. Ich wollte mit den Spercoiden sprechen, mit ihnen ver handeln. Ich wollte sie durch logische Argu mente dazu bewegen, Pthor in Frieden zu lassen. Ich wollte von den ungeheuren Ener gien berichten, die in der Tiefe des Materie brockens schlummerten – dort, wo der »Steuermann« früher geherrscht hatte – und sie davor warnen, daß diese Energien schlagartig freigesetzt werden und alles ringsum, die Flottille der Spercoiden einge schlossen, vernichten könnten. Aber ich war keineswegs sicher, daß die Söldner Spercos überhaupt geneigt waren, mir zuzuhören. Womöglich würden sie mich auf der Stelle umbringen. Das war ein Risi ko, das ich wohl oder übel eingehen mußte. Ich redete mir zwar ein, daß sie an den In formationen interessiert sein müßten, die ich ihnen geben konnte, und daß mein Leben wenigstens solange sicher war, bis sie mich restlos ausgequetscht hatten. Aber auch das war nur eine Vermutung, die sich bewahr heiten mochte oder nicht – je nachdem, wie
Im Reich des Tyrannen falsch oder richtig ich die Mentalität des Gegners eingeschätzt hatte. In Wirklichkeit, so wurde mir klar, hatte ich überhaupt keinen Plan. Ich hatte ein Ziel, aber keine Taktik. Ich reiste aufs Gerate wohl. Es waren also keineswegs heitere Gedan ken, die mich bewegten, als ich auf den Wölbmantel zuflog. Hinter dem Kliff, das den Rand von Pthor darstellte, erschien die Einöde, in die das einstmals fruchtbare Land sich verwandelt hatte, als Pthor seine Not landung vollzog und diesen Teil der Ober fläche von Loors mit einer Flut mörderischer Hitze überschüttete. Der Wölbmantel war an dem leichten Flimmern zu erkennen, das ständig davon ausging. Ich befand mich auf einer der Schneisen, auf der das Energiege bilde von innen nach draußen mühelos durchquert werden konnte. Eine halbe Se kunde lang schien der Zugor in einen Flam menmantel gehüllt – dann hatte ich Pthor verlassen. Ich ließ das Fahrzeug steigen. Nach kurz er Zeit durchbrach ich die niedrige Wolken decke. Über mir wölbte sich blauer Himmel, und die fremde Sonne sandte ihre wärmen den Strahlen ins Innere des Zugors. Ich sah mich um. Von den Beibooten, die ich hier zu finden erwartet hatte, war keine Spur zu sehen. Hinter mir ragte das flim mernde Gebilde des Wölbmantels durch das dichte Wolkenmeer. Es kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß ich mich womöglich in der Schußbahn der spercoidischen Schiffsge schütze befand. Ich bereitete mich darauf vor, bei dem ersten Anzeichen von Gefahr ein rasches Ausweichmanöver zu fliegen. Ansonsten aber blieb mir weiter nichts übrig, als zu warten. Hoch über mir, unsicht bar hinter der Weite des Blaus, kreuzten die Raumschiffe der Spercoiden. Ich wußte nicht, wie wirksam die Orter- und Meßgerä te waren, die sie an Bord hatten, und ob sie ausreichten, meinen kleinen Zugor aus sol cher Entfernung zu erfassen. Ich wußte auch nicht, wie lange es dauern würde, bis eines der Beiboote, mit deren Vorhandensein ich
13 fest rechnete, in meiner Nähe auftauchte. Geduld war in diesem Augenblick die Tu gend, der ich in erster Linie bedurfte.
3. Von dem, was im folgenden geschildert wird, war mir selbstverständlich noch nichts bekannt, als ich mit meinem Zugor mehr oder weniger ziellos hoch über der Wolken decke nördlich der Küste von Pthor kreuzte. Die Einzelheiten wurden mir erst später of fenbar, und da die Verständigung mit den Spercoiden immer recht schwierig war, mag ich auch das eine oder andere falsch verstan den haben und infolgedessen hier falsch wiedergeben. Im großen und ganzen aber, glaube ich, ist meine Schilderung korrekt. Vor allen Dingen ist sie notwendig, um zu verstehen, wie es überhaupt zu dem spercoi dischen Angriff auf Pthor kam und wie es der Spercoiden-Flotte auf dem Weg von ih rem Standort zu dem Planeten Loors erging, der früher so leicht aufzufinden war, plötz lich aber vom Himmel der Galaxis Wolcion weggewischt zu sein schien, weil sein Leuchtfeuer nicht mehr funktionierte.
* Nachdem das Raumschiff TREUE auf der Welt Loors als überfällig gemeldet worden war, hatte Kommandant Lasko sich ent schlossen, eine kleine Kriegsflotte in jene Gegend zu entsenden, um das Schicksal der TREUE zu klären. Der Entschluß war ihm nicht leichtgefal len. Er hatte, als der Verlust des Raum schiffs offenbar wurde, zwei Entscheidun gen treffen können. Die eine wäre gewesen, Sperco, dem Mächtigen, Bericht zu erstatten und die Verantwortung für alles weitere da mit in Spercos Hände zu legen. Die andere war eben die, die Lasko getroffen hatte: auf eigene Faust den Fall TREUE zu klären. Indem er Sperco benachrichtigte, hätte Lasko implizit zu verstehen gegeben, daß er nicht die Fähigkeit besaß, über die Sicher
14 heit der ihm anvertrauten Raumschiffe zu wachen. Die Folge wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewesen, daß er von seinem Posten abgelöst und in ei ne Position geringerer Verantwortung ver setzt wurde. Der Kommandant Lasko aber war von einem unersättlichen Machthunger beseelt. Er strebte aufwärts. Der Gedanke, wieder einen Schritt zurück zu tun, war ihm unerträglich. Indem er sich entschloß, selbst das Schicksal der TREUE zu entschleiern, ging er ein großes Risiko ein. Wenn ihm nicht ge lang, was er vorhatte, war ihm der Tod si cher. In der kriegerischen Gesellschaft der Spercoiden war der Tod das unvermeidliche Resultat des Versagens. Auf der anderen Seite würde Lasko, wenn er das Verschwin den der TREUE zu erklären und obendrein die Schuldigen zu bestrafen vermochte, da mit unter Beweis stellen, daß er den Anfor derungen seines Postens gewachsen war und obendrein womöglich noch eine Belobigung von seiten Spercos, des Mächtigen, einheim sen. Also hatte Lasko seinem Kommandeur Mooc den Befehl gegeben, mit einer Flotte von sechsunddreißig Kriegsschiffen in den Sektor Loors aufzubrechen, herauszufinden, was mit der TREUE geschehen war, und diejenigen, die für den Verlust des Schiffes verantwortlich waren, zu bestrafen. Mooc hatte den Befehl entgegengenom men, wie es sich für einen Offizier im Dienst des Mächtigen geziemte: ohne Mur ren und mit dem Ruf: »Sperco ist die Macht – die Spercotisier ten sind seine Diener!« Und das, obwohl ihm klar war, daß er nur geringe Aussichten hatte, dieses Unterneh men lebend zu überstehen. Loors war eine gefährliche Welt. Erst vor kurzem war dort eine Robotarmee des mächtigen Sperco ver nichtet worden. 250.000 Kampfmaschinen, zu einer riesigen Lache aus blauem Stahl zerschmolzen! Der Verantwortliche, der Hirte Juscu, hatte nicht zur Rechenschaft ge zogen werden können, weil er inzwischen
Kurt Mahr den Tod gefunden hatte. Diesen Bericht hatte die TREUE abgege ben, die unmittelbar nach der Katastrophe auf Loors gelandet war. Kurze Zeit später war der Kontakt zur TREUE abgerissen, und seitdem hatte sich das Raumschiff nicht mehr gemeldet. Es war durchaus denkbar, daß auf Loors Feinde des mächtigen Sperco am Werk wa ren. Sie schienen ihrerseits über nicht uner hebliche Machtmittel zu verfügen, denn eine Armee von 250.000 schwerbewaffneten Kampfmaschinen vernichtet man nicht ein fach im Handumdrehen. Mooc hielt es sehr wohl für möglich, daß es ihm gelingen wer de, das Schicksal der TREUE zu klären. Aber ob er in der Lage sein würde, die Übel täter zu bestrafen, daran zweifelte er sehr. Kehrte er jedoch zurück, ohne beide Teile seines Auftrags erfüllt zu haben, dann warte te auf ihn der Tod, nach dem ungeschriebe nen Gesetz der Krieger des Mächtigen, vor dem auch Lasko sich fürchtete: Wer versagt, wird ausgelöscht. Es ging den Spercoiden der Ruf voraus, daß sie sich vor nichts fürchteten. Dieser Ruf war insofern gerechtfertigt, als die Sper coiden in der Tat die härtesten Kämpfer wa ren, die die Galaxis Wolcion kannte. Sie schraken vor keiner Auseinandersetzung zu rück und gingen selbst dann zum Angriff vor, wenn der Gegner ihnen hoffnungslos überlegen war.
* Moocs Flottille bestand aus sechsunddrei ßig Einheiten. Darin eingeschlossen war sein Flaggschiff, die EHRLICHKEIT. Der Ver band bewegte sich in rascher Fahrt bis in den Raumsektor, von dem aus das Leucht feuer von Loors angepeilt werden konnte. Mooc erlebte seine erste Überraschung – und gleichzeitig eine Vorahnung des Un heils, das ihn erwartete: von dem Leuchtfeu er war keine Spur zu finden. Der Verband verbrachte einen halben Tag in Warteposition. An Bord aller sechsund
Im Reich des Tyrannen dreißig Einheiten waren die Meßgeräte in fieberhafter Tätigkeit. Trotzdem wurde das Leuchtfeuer nicht gefunden. Es war wie weggewischt. Mooc folgerte daraus, daß der unbekannte Feind, dem der Untergang der Robotarmee und das Verschwinden der TREUE anzulasten war, auch das Leucht feuer zerstört hatte. Ohne die Signale des Leuchtfeuers aber war Loors so gut wie un auffindbar. Die Spercoiden flogen, wenn sie einen ihrer Stützpunkte erreichen wollten, nach Koordinaten, die lediglich den unge fähren Standort des Stützpunkts bezeichne ten. Aus einer Entfernung, die gewöhnlich mehrere Dutzend Lichtjahre betrug, maßen sie sodann das Leuchtfeuer des Zielpunkts an und richteten sich von da an nach dessen Signalen. Mooc befand sich also in einer Zwangsla ge. Er befahl den Cheftechniker Sym zu sich. Sym war wenige Augenblicke später zur Stelle. Wie Mooc trug er den blaßblauen Panzer der Spercoiden-Krieger, der ringsum mit faustgroßen Noppen versehen war, und dazu den ovalen Helm, der aus demselben blaßblauen Metall bestand und ebenfalls noppenähnliche Auswüchse trug. In die Mit te der vorderen Helmseite war eine acht mal zwanzig Zentimeter große Scheibe aus dickem, braunem Quarz eingelassen. Man konnte nicht sehen, was sich dahinter ver barg – weder bei Sym, noch bei Mooc. An der Hüfte trug Sym in einem primiti ven Gehänge die Standardwaffe der Spercoi den, den Feuerstab. Er sah aus wie ein schlanker Knüppel aus schwarzem Holz. In der Hand eines gewandten Kriegers jedoch verwandelte er sich in ein feuerspeiendes Mordwerkzeug. Auch Mooc trug den Feuer stab. Der seine war jedoch kürzer, dafür dicker, und über die schwarze, holzähnliche Substanz schlängelten sich verästelte Ver zierungen, die aus silbern schimmerndem Metall gefertigt waren. »Sym«, sprach der Kommandeur: »Ich habe eine wichtige Aufgabe für dich. Unsere Meßgeräte haben bisher das Leuchtfeuer von Loors nicht erfassen können. Du bist der
15 erfahrenste Techniker, den ich habe. Ich be fehle dir, alle verfügbaren Mittel einzusetzen und die Signale des Leuchtfeuers zu finden. Du hast dafür einen Vierteltag Zeit.« Sym antwortete: »Sperco ist die Macht – die Spercotisier ten sind seine Diener!« Dann ging er. Er hätte, so würde ein Mensch gedacht haben, anders reagieren können. Er hätte Mooc darauf hinweisen können, daß das Leuchtfeuer womöglich gar nicht mehr exi stierte und seine Signale daher selbst mit den raffiniertesten Mitteln nicht mehr aus findig gemacht werden konnten – eine Hy pothese, der Mooc eigentlich aufgeschlossen hätte gegenüberstehen müssen, weil sie von ihm selbst bereits entwickelt worden war. Aber Sym dachte nicht wie ein Mensch. Er hatte einen Befehl erhalten. Diesen Be fehl würde er auszuführen versuchen. Wie viel Erfolg er sich von diesem Bemühen ver sprach, war seine eigene Sache. Als der Vierteltag vorüber war, meldete sich Sym von sich aus bei dem Komman deur. Mooc ließ ihn ein und fragte: »Hast du die Signale gefunden?« »Nein«, antwortete Sym. »Du bist ein Versager!« »Ja«, antwortete Sym. »Wie lautet das eherne Gesetz?« »Wer versagt, wird ausgelöscht.« »Du sagst es!« Mit diesen Worten löste Mooc den Feuer stab aus dem Gehänge, richtete ihn auf Sym und drückte ab. Der Cheftechniker verging in einer Feuersäule.
* Danach ernannte Mooc den Seniortechni ker Fraq zum Cheftechniker und gab ihm denselben Befehl, den er zuvor Sym gege ben hatte. (Die Überreste Syms waren in zwischen von Räumrobotern aus Moocs Quartier entfernt worden.) Fraq erklärte: »Sperco ist die Macht – die Spercotisier ten sind seine Diener!«
16 Einen Vierteltag später meldete er sich wieder bei Mooc, um über seinen Mißerfolg zu berichten, und wurde ausgelöscht wie sein Vorgänger. Ebenso erging es Aarb, der nach Fraq Cheftechniker wurde. Als vierter kam der Juniortechniker Myys an die Reihe. Mooc war sich darüber im kla ren, daß er, wenn auch Myys keinen Erfolg hatte, auf die Mannschaften der anderen Schiffe in seiner Flottille werde zurückgrei fen müssen, denn Myys war der letzte Tech niker, den die EHRLICHKEIT an Bord hat te. Myys aber war von anderer Art als seine Vorgänger. Er sagte: »Sperco ist die Macht – die Spercotisier ten sind seine Diener!« Aber dann, anstatt sich abzuwenden und zu gehen, blieb er stehen. »Du weigert dich, meinem Befehl zu ge horchen?« fragte Mooc mit knarrender Stim me. »Keinem Krieger des Mächtigen würde es je einfallen, einen Befehl seines Komman deurs zu mißachten«, erwiderte Myys. »Es geht lediglich darum, daß ich glaube, daß Sym, Fraq und Aarb in der falschen Rich tung Ausschau gehalten haben.« »In der falschen Richtung?« wiederholte Mooc. »Wie meinst du das?« »Ich meine, daß es das Leuchtfeuer auf Loors nicht mehr gibt«, antwortete Myys. »Also können wir seine Signale nicht mehr empfangen.« »Du erklärst dich jetzt schon zum Versa ger?« fragte Mooc und zupfte an dem Ge hänge, in dem sich der Feuerstab befand. »Nein, Herr«, sagte Myys rasch. »Ich glaube nur, daß wir nach etwas anderem su chen müssen, wenn wir Loors finden wol len.« »Wonach?« »Das Schicksal der TREUE gibt Anlaß zu vermuten, daß ein unbekannter Feind auf Loors eingefallen ist. Er muß mächtig sein, denn es ist ihm gelungen, eine starke Robot armee auszulöschen. Wahrscheinlich ist der Feind mit einer starken Flotte angerückt. Die
Kurt Mahr Einheiten seiner Flotte, falls sie nicht alle vor Anker gegangen sind, geben Streusignale von sich, die von unseren Meßinstrumen ten erfaßt werden können, wenn wir sie nur richtig kalibrieren.« Mooc hatte augenblicklich den Eindruck, daß Myys auf dem richtigen Weg sei. Er selbst, Mooc, war ja der erste gewesen, der gefolgert hatte, daß das Leuchtfeuer Loors nicht mehr existierte. Die Befehle an Sym, Fraq und Aarb hatte er gegeben, weil es sei ne Aufgabe als Kommandeur war, alle Mög lichkeiten auszuschöpfen. Insgeheim hatte er gehofft, daß einer der drei Techniker auf ei ne Idee kommen würde, wie man Loors auch ohne das Leuchtfeuer finden konnte. Sym, Fraq und Aarb hatten ihn enttäuscht. Aber Myys schien auf der richtigen Spur zu sein. Mooc sagte deshalb: »Falls du eine Spur findest, werde ich dich erst dann zum Versager erklären, wenn deutlich wird, daß diese Spur nicht nach Loors führt.« Und Myys antwortete: »Deine Güte ist unübertrefflich, Herr. Ich werde Loors für dich finden.« Als Myys gegangen war, dachte Mooc ge raume Zeit nach. Zum ersten mißfiel ihm der Ausdruck »Güte«, den Myys gebraucht hat te, und zweitens störte ihn, daß Myys den Planeten Loors für ihn, also Mooc, zu finden gedachte. Die Güte gehörte nicht zu den Eigen schaften eines Kriegers, die vor Spercos Au ge Wohlwollen fanden. Und für wen sollte Myys den verlorenen Planeten finden? Doch nur für sich selbst! Denn wenn er ihn nicht fand, war er ein Versager, der ausgelöscht werden mußte. Mooc beschloß, auf den Techniker Myys ein wachsames Auge zu haben.
* Es war noch nicht einmal die Hälfte der Frist verstrichen, da meldete Myys bereits den ersten Erfolg. Er hatte, indem er die
Im Reich des Tyrannen Meßgeräte neu kalibrierte, eine Quelle inten siver Störstrahlung ausfindig gemacht, die sich etwa in der Richtung befand, in der man Loors vermutete. »Ich muß meine Arbeitshypothese korri gieren«, erklärte er Mooc. »Die Signale, die wir empfangen, sind so stark und so einheit lich, daß sie unmöglich von einer Flotte feindlicher Schiffe stammen können. Sie müssen statt dessen von einem Körper her rühren, der unvergleichlich größer ist als ei ne Ansammlung von Raumschiffen.« »Wie erklärst du dir das?« fragte Mooc. »Ich versuche erst gar nicht, es mir zu er klären, Herr«, lautete die Antwort. »Auf Loors muß etwas geschehen sein, was ge waltiger ist, als wir uns ausmalen können.« »Du bist sicher, daß die Spur nach Loors führt?« Auf diese Frage reagierte Myys mit der einzig möglichen Antwort: »Ich will ein Versager sein, Herr, wenn sie es nicht tut.« Der Verband von sechsunddreißig Raum schiffen setzte sich von neuem in Bewe gung. Sie folgten der Spur, die der Techni ker Myys wies, und materialisierten in der Nähe eines Sonnensystems, das der Be schreibung des Loors-Systems entsprach. Mit Hilfe einiger Messungen überzeugte man sich, daß der zweite Planet, von der Sonne auswärts gerechnet, in der Tat Loors war. Die Strahlung, die dem Verband den Weg gewiesen hatte, war jetzt stärker als je zuvor. Myys, der endgültig zum Cheftechniker er nannt worden war, seitdem die Möglichkeit, er könne versagen, ihn nicht mehr belastete, stellte fest, daß die Strahlung unmittelbar von Loors ausging, und warnte Mooc, daß sich auf dem Planeten der Brangels etwas Gewaltiges, Unvorstellbares eingenistet ha ben müsse. Mooc allerdings erschrak dar über nicht, sondern hoffte zunächst, das Ver schwinden der TREUE und das Erlöschen des Leuchtfeuers werde sich durch irgendein Naturereignis erklären lassen. Dadurch er sparte er sich die Mühe, eine Strafaktion
17 durchzuführen, die – je nachdem, um was für einen Gegner es sich handelte – recht ge fährlich hätte werden können. Es stellte sich schließlich heraus, daß Moocs Hoffnung unbegründet war. Die ge heimnisvolle Strahlung, die Myys benützt hatte, um Loors zu finden, ging von einem riesigen Materiebrocken aus, den es früher nicht gegeben hatte und der seitwärts der Fläche Jell-Cahrmere lag. Dieser Brocken wiederum war in ein energetisches Feld gehüllt, das gewiß nicht natürlichen Ur sprungs war, sondern von Maschinen künst lich erzeugt wurde. Die, denen diese Ma schinen gehörten, waren für den Verlust der TREUE und das Erlöschen des Leuchtfeuers verantwortlich. Ihnen galt die Strafaktion, die Mooc einzuleiten gezwungen war. Mooc stürzte sich nicht übereilig in dieses risikoreiche Abenteuer, sondern inspizierte die Szene zunächst ausgiebig. Er war sicher, daß er von den Fremden unter dem Energie feld inzwischen wahrgenommen worden war. Er wartete darauf, daß sie ihn angriffen. Er wollte wissen, über welche Waffen sie verfügten, und seine Angriffstaktik danach richten. Die Fremden auf dem Materiebrocken aber rührten sich nicht. Mooc dirigierte sei ne Raumschiffe in einen hohen Orbit und umrundete Loors zweimal. Als bis dahin der Gegner unter dem Energiemantel noch im mer keinen Mucks von sich gegeben hatte, befahl der Kommandeur, das Feuer zu eröff nen.
* Mooc war gewohnt, daß unter denn kon zentrierten Feuer seiner schweren Schiffsge schütze jedes Ziel innerhalb weniger Minu ten zerbarst. Er war daher überrascht und wenig später ziemlich erschüttert, als sich herausstellte, daß seine Artillerie dem Ener gieschirm nicht das geringste anzuhaben vermochte. Er versuchte verschiedene Feuerfolgen. Er richtete die Geschütze auf verschiedene
18 Orte der Feldoberfläche. Er ließ alle Ge schütze gleichzeitig feuern, und dann wie derum gliederte er die Schußsequenz derart, daß ein bestimmter Punkt des Energiefeldes unter Dauerfeuer lag. Aber alle Mühe blieb erfolglos. Das Feld wankte nicht. Es hielt unbeirrt selbst dem schärfsten Feuer stand. Mit einemmal war klar, warum sich der Feind unter dem Feld mantel bisher nicht gerührt hatte: er hatte es nicht nötig. Er brauchte nur zu warten, bis der Angreifer des sinn- und wirkungslosen Beschusses müde geworden war und abzog. Mooc empfand Zorn und Angst zugleich. Er sandte eine Schar von Beibooten aus, die den Energiemantel aus der Nähe untersu chen und ermitteln sollten, ob es irgendeine Weise gab, ihm beizukommen. Die Krieger, die die Boote bemannten, wurden durch Los gewählt. Ihrer wartete ein grimmiges Schicksal: wenn sie zurückkehrten, ohne Mooc erklären zu können, wie der Schirm zu knacken war, galten sie als Versager und würden den Tod erleiden. Es verging eine Stunde, während der die Schiffsgeschütze der spercoidischen Flottille fortfuhren, das Energiefeld zu bearbeiten. Ein Erfolg wurde dabei erwartungsgemäß nicht erzielt. Die Meßgeräte der Spercoiden waren nicht dazu geeignet, die Strukturrisse festzu stellen, die sich in der Oberfläche des Wölb mantels immer häufiger bildeten, je länger das Feuer anhielt. Die ausgesandten Boote hatten sich bis lang noch nicht gemeldet. Das bedeutete, daß sie nichts hatten finden können. Moocs Zorn machte einer dumpfen Verzweiflung Platz. Er würde zum Stützpunkt zurückkeh ren, ohne seine Aufgabe erfüllt zu haben. Das bedeutete die Auslöschung. Der Um stand, daß Lasko dasselbe Schicksal erleiden werde, weil er die falsche Entscheidung ge troffen hatte, bedeutete für Mooc nur einen geringen Trost. Er stand im Begriff, die Boote zurückzu rufen, da wurde ihm ein Funkspruch zuge leitet. Der Befehlshaber eines der Boote
Kurt Mahr meldete sich und erklärte: »Herr, wir beobachten ein fremdartiges Fahrzeug, das diesseits des Energiefelds kreuzt. Soweit wir sehen können, befindet sich ein einziges Wesen von ungewöhnli cher Erscheinungsform in dem Fahrzeug.« Mooc horchte auf. »Es handelt sich nicht etwa um einen Brangel?« erkundigte er sich. »Nein, Herr. Es ist ein Fremder, wie man ihn noch nie zuvor auf diesem Planeten ge sehen hat.« »Stammt er aus dem Innern des Energie mantels?« »Das ist die einzig denkbare Erklärung für seine Anwesenheit.« Mooc atmete auf. Der Beginn eines Pla nes formte sich in seinem Verstand. »Nimm ihn gefangen«, befahl er dem Bootsführer, »und bring ihn zu mir!«
4. Ich sah das Boot erst, als es bis auf ein paar hundert Meter heran war. Es kam direkt aus der Sonne. Das Fahrzeug hatte die Form eines flachgedrückten Eis. Es maß von Bug bis Heck etwa sechzig Meter, war maximal dreißig Meter breit und hatte eine Dicke von zwölf bis fünfzehn Metern. Es gab ein hel les, durchdringendes Summen von sich, was mich vermuten ließ, daß es eine Art Feldan trieb benutzte. Es ist nicht jedermanns Sache, kühlen Mut zu bewahren, wenn ein Fahrzeug auf einen zukommt, von dessen Insassen man weiß, daß sie vom Wert menschlichen Le bens eine bestenfalls verschwommene Vor stellung haben. Ich gestehe, daß mir der Schweiß auf der Stirn stand, während ich in jeder Sekunde damit rechnete, daß aus dem Bug des eiförmigen Bootes ein Lichtblitz hervorschoß und mich mitsamt meinem Zugor in ein Häufchen Asche verwandelte. Meine Furcht war jedoch unbegründet. Das Boot ging längsseits. In der metallenen Hülle entstand eine Öffnung, die gerade groß genug war, um einen normal gewach
Im Reich des Tyrannen senen Mann passieren zu lassen. Dahinter lag Finsternis, und aus dieser Finsternis er scholl eine laute, knarrende Stimme, deren Worte ich nicht verstand. Um was anderes aber hätte es sich handeln sollen als um eine Aufforderung, an Bord zu kommen? Ich zögerte. Jetzt, da der Zeitpunkt ge kommen war, den entscheidenden Schritt zu tun, war ich meiner Sache auf einmal nicht mehr sicher. Wenn ich an Bord des Bootes ging, lieferte ich mich den Spercoiden aus. Ich hatte nicht die Spur einer Garantie, daß sie daraufhin den Angriff auf Pthor einstel len würden. Ich befand mich in einer Lage, in der der Gegner alle Verhandlungsvorteile auf seiner Seite hatte. Dann ertönte die zweite Aufforderung. Der Ton war noch herrischer, noch un freundlicher als zuvor. Ich gewann eine wei tere Erkenntnis: der Narr, der ich war, hatte sich bereits viel zu weit vorgewagt, als daß er jetzt noch hätte umkehren können. Ich kletterte unbeholfen über den Rand des Zugors. Dabei dachte ich kurz an die drei Odinssöhne. Der Zugor würde noch ei ne Zeitlang über dem verwüsteten Gelände kreisen, bis ihm der Treibstoff ausging, und dann abstürzen. Das bedeutete, daß Sigurd, Heimdall und Balduur nur noch drei solcher Fahrzeuge hatten. Dann stand ich in dem finsteren Raum jenseits der Öffnung. Die Luft war warm und hatte einen merkwürdigen, nicht sonder lich angenehmen metallischen Geruch. Das Schott schloß sich hinter mir. Ein trübes Licht flammte auf. Ich hörte, wie das Sum men plötzlich lauter wurde. Ein Ruck riß mich fast von den Beinen. Das Boot hatte Fahrt aufgenommen. Die Andruckneutralisa toren, falls es sie überhaupt gab, funktionier ten längst nicht so gut wie an Bord eines ter ranischen Raumboots. Ich stellte mich mit dem Rücken gegen ei ne der vier Wände des kleinen Raumes. Eine Zeitlang wartete ich, ob jemand kommen werde, um mich zu inspizieren und mit mir zu sprechen. Das schien jedoch nicht im Sinn der Bootsbesatzung zu liegen – wenn
19 es eine solche überhaupt gab. Ich blieb al lein. Etwa zehn Minuten später bemerkte ich, wie das Fahrzeug umständlich zu manö vrieren begann. Das Summen wurde leiser, dafür schien es plötzlich von allen Seiten in der Art eines Echos reflektiert zu werden. Ich hörte Metall auf Metall klingen und wußte, daß das Boot sich in einem Hangar an Bord eines der hutförmigen Raumschiffe befand. Kurze Zeit später öffnete sich das Schott. Ich blickte in eine weite Halle, die mehrere Exemplare des eiförmigen Boottyps enthielt. Unmittelbar jenseits der Öffnung aber stan den drei Spercoiden, gekleidet in schwere Metallrüstungen von blaßblauer Farbe, mit einem ovalen Helm auf den Schultern, in dessen Vorderseite eine rechteckige und un durchsichtige Scheibe aus braunem Quarz eingelassen war. Die drei Gepanzerten hatten jeder einen schwarzen Stab in der Hand, und mit der Spitze des Stabes zeigten sie auf mich. Ich nahm an, daß es sich bei den Stäben um Waffen handelte. Es war geboten, sehr vor sichtig zu sein und den Spercoiden keinen Anlaß zur Betätigung ihrer Waffe zu geben. Einer der drei brachte quarrend eine Reihe von Lauten hervor, die für mich völlig un verständlich waren. Ich sprang durch das of fene Luk hinaus und bemerkte dabei, was mir bisher entgangen war: die Schwerkraft an Bord des Raumschiffs war um etliche Prozent geringer als die Normalgravitation, an die ich gewöhnt war. Die Spercoiden wandten sich seitwärts. Der Größte unter ihnen – er mochte einen Fingerbreit größer sein als ich – wies mit seinem Stab in den Hintergrund der Hangar halle. Ich setzte mich gehorsam in Bewe gung. Die drei Spercoiden folgten mir.
* Der innere Aufbau des Spercoiden-Schif fes war sehr übersichtlich. Die Decks lagen parallel zueinander. Es gab Antigravschäch te, mit denen man von einem zum andern
20 gelangte. Ich passierte mehrere solcher Schächte, wobei mich die drei Aufpasser keine Sekunde lang aus dem Auge ließen. Sie dirigierten mich schließlich in einen kah len Gang, der nach etwa dreißig Metern vor einer Metallwand endete. Einer der Spercoi den rief einen scharfen Befehl. Vor mir ent stand eine Öffnung. Dahinter lag ein kahler Raum, der gewiß nicht mehr als drei Meter im Geviert maß. Ich trat ein. Noch bevor ich eine Kehrtwendung ma chen konnte, schloß sich die Öffnung hinter mir. Ich war allein. Das einzige Mobiliar meines Gefängnisses bestand aus einer Leuchtplatte, die in die Decke der Zelle ein gelassen war und ein trübes, orangegelbes Licht verbreitete. Ich hockte mich auf den metallenen Bo den. Ich wußte nicht, was ich von meiner Lage zu halten hatte. Was hatten die Sper coiden mit mir vor? Für den Augenblick fühlte ich mich einigermaßen erleichtert, weil mir keine Gefahr mehr zu drohen schi en. Die Angst, daß die Fremden in den blau en Rüstungen nichts Eiligeres zu tun haben würden, als mich umzubringen, erwies sich als unbegründet. Die Erleichterung erlaubte anderen, un wesentlichen Regungen meines Seins, zu Wort zu kommen. Ich merkte plötzlich, daß ich hungrig war. Ich hatte heute morgen schon Hunger gehabt – und das lag wer weiß wieviel Stunden zurück. Der Beutel mit Pro viant war an Bord des Zugors verblieben. Gab es in diesem Raumschiff überhaupt et was, was ich essen konnte? Hunger macht benommen. Ich nickte ein. Ich weiß nicht, wie lange ich in dem kleinen, kahlen Raum vor mich hingedöst habe, bis plötzlich das Geräusch des auffahrenden Schotts mich aufschreckte. Ich fuhr in die Höhe. Vor mir stand ein Spercoide, in die übliche, blaßblaue Rüstung gekleidet. Er war etwa 1,60 m groß. Aus irgendeiner Fuge seiner Montur drangen die Laute einer bar schen, knarrenden Stimme. Ich nahm an, daß er gekommen war, um mich abzuholen. Ich trat aus der Zelle. Er wies in den Gang
Kurt Mahr hinein – die einzige Richtung, die man von meinem Gefängnis aus nehmen konnte. Ich schritt vor ihm her. Er brachte mich über zwei kurze Anti gravschächte, vier Gangabschnitte und eine Rampe zu einem Raum, in dem sich ein hochgewachsener, fast zwei Meter großer Spercoide befand. Der Raum enthielt außer der obligatorischen Leuchtplatte in der Decke ein umfangreiches, mit vielerlei tech nischem Gerät bestücktes Gebilde, das so aussah, als könne es ein Arbeitstisch sein, und einen unbequem wirkenden, hochbeini gen Sessel, in dem der Spercoide saß. Sonst gab es keinerlei Ausstattung. Mir, dem Vor geführten, war zugedacht, diese Affäre ste hend hinter mich zu bringen. Der Gepanzerte, der mich hierhergebracht hatte, war erst gar nicht durch die Schottöff nung getreten, sondern draußen zurückge blieben. Das Schott schloß sich alsbald wie der. Ich trat auf den Arbeitstisch zu und mu sterte den massigen Spercoiden, der in dem unbequemen Sessel saß. Wer mit Spercoiden verhandeln muß, der ist vor allen Dingen dadurch gehandikapt, daß er seinen Verhandlungspartner nicht se hen kann. Die kleine braune Quarzscheibe in der Mitte des Helmes war auch in diesem Falle völlig undurchdringlich und vermittel te mir keinerlei Hinweis darauf, was für ein Wesen das eigentlich war, dem ich gegen überstand. Ich nahm mir vor, mich nicht ins Bocks horn jagen zu lassen. Der Spercoide begann zu sprechen – mit jenem unangenehm knarrenden Organ, des sen Laute unter den Fugen des ovalen Helms hervorzudringen schienen. Ich verstand kein Wort. Ich wartete geduldig, bis die Lautfol ge endete. Dann sagte ich: »Ich bin leider deiner Sprache nicht mächtig. Wenn die Unterhaltung weiter in dieser Weise geführt werden soll, dann kann ich mir vorstellen, daß wir ein paar Stunden, wenn nicht gar Tage zu tun haben werden. In der Zwischenzeit mache ich es mir besser bequem.«
Im Reich des Tyrannen Daraufhin zog ich mich bis an die Wand zurück, in der sich das Schott befand, durch das ich gekommen war, und ließ mich dort auf den Boden nieder. Ich schlug die Beine im Schneidersitz untereinander und bemerk te mit Genugtuung, daß die Kante des Ar beitstisches so hoch war, daß der Spercoide, der dahinter in seinem Sessel saß, mich nun nicht mehr sehen konnte. Der Spercoide reagierte auf diese für ihn sicherlich unerwartete Entwicklung, indem er aufsprang und mich mit einem Schwall hastig hervorgestoßener, unverständlicher Laute übergoß. Ich machte eine verächtliche Grimasse und winkte ab. »Du mußt dir schon ein wenig mehr Mü he geben, mein Junge«, sagte ich. »Ich kann dich wirklich nicht verstehen.« Er sprach weiter. Ich tat so, als ignoriere ich ihn. In Wirklichkeit hörte ich sehr auf merksam zu. Die spercoidische Sprache war voller Kehl- und Rachenlaute, die für einen Arkoniden oder Terraner sehr schwer nach zuahmen waren. Manche Lautstrukturen hörten sich an wie das Knarren einer altmo dischen Tür oder das Bersten von zersplit terndem Holz. Es war eine unschöne Spra che. Man fragte sich unwillkürlich, wie ein spercoidisches Lied sich anhören mochte. Ich versuchte zu erkennen, ob der Gepan zerte jenseits des Arbeitstisches Gefühlsre gungen zum Ausdruck brachte. Ob er zornig war wegen meines Verhaltens. Ob er sich är gerte. Aber nichts dergleichen war zu erken nen. Die knarrende Stimme holperte in stetig gleichbleibendem Tonfall dahin. Ich schloß daraus, daß die Spercoiden nicht sonderlich emotionell veranlagt waren. Der Gepanzerte sank schließlich in seinen hochbeinigen Sessel zurück. Ich konnte nur noch die Oberkante seines Helmes sehen. Er war mit irgend etwas beschäftigt. Ich hörte Schalter klicken. Plötzlich meldete sich eine andere Stimme zu Wort und sprach zu mir – in einer anderen Sprache. Leider war mir dieses Idiom ebenso unverständlich wie das erste. Ich schüttelte den Kopf. Aber ich war nicht sicher, ob mein erfolgloser Gesprächs
21 partner diese Geste verstand. Zu der technischen Ausrüstung des Ar beitstischs gehörte anscheinend ein einiger maßen umfangreiches Translatorsystem. Der Spercoide probierte mehrere Sprachen an mir aus. Er unternahm jedoch keinerlei Ver such, mich zum Sprechen zu bringen, wor aus ich schloß, daß das System nicht über analytische Fähigkeiten verfügte. Das heißt: es arbeitete nur mit eingespeicherten Spra chen, war aber nicht in der Lage, eine frem de Sprache zu analysieren und zu »erlernen«. Die Sache wurde allmählich langweilig. Das Sprechgerät leierte sämtliche Sprachen herunter, die in Spercos Reich in Gebrauch waren – so wenigstens kam es mir vor – und womöglich noch ein paar mehr. Ich aber, der ich ein Fremder in diesem Universum war, kannte keine von ihnen. Daher war ich sehr überrascht, als ich plötzlich eine Serie vertrauter Laute hörte. Ich sah unwillkürlich auf und horchte auf merksam. Was der Translator von sich gab, waren die Schmatz- und Schnalzlaute, die die Brangeln auf Loors hervorbrachten, wenn sie sich akustisch miteinander verstän digten – nicht mit dem Mund, sondern mit den Saugnäpfen an den Enden ihrer Arme, die ihnen die Hände ersetzten. Wer zum er sten Mal zwei Brangeln miteinander spre chen hört, der hielt es für absolut unmöglich, daß ein Mensch diese Sprache jemals erler nen könne. Er mochte, so schien es, ein paar Begriffe verstehen lernen, aber er würde nie mals in der Lage sein, die Laute der brange lischen Sprache nachzuahmen. Nun, ich hatte es trotzdem versucht. Und dabei einigen Erfolg gehabt. Die Schmatzund Schnalzlaute mit der Zunge und den Lippen zu erzeugen, erforderte mitunter recht groteske Gesichtsverzerrungen, die Razamon hellauf zum Lachen gebracht hat ten. Aber ich hatte es schließlich geschafft, mich ohne Translator mit den Brangeln zu verständigen. Beim Erlernen der Sprache hatte mir geholfen, daß die Brangeln, wie es bei primitiven Völkern üblich war, nur über
22 einen geringen Begriffsschatz verfügten. Ich glaube nicht, daß die Sprache mehr als fünf hundert Wörter besitzt. Das ist, wie gesagt, eine Erleichterung beim Studium. Der Ver ständigung dagegen hilft es nicht. Ich hörte also Laute der Brangelsprache. Es wurde eine Frage gestellt, wie ich an dem abschließenden Knall hörte, der wie das Ge räusch eines springenden Sektkorkens klang und das brangelische Äquivalent einer Fra gepartikel darstellt. Die Frage wurde gleich darauf wiederholt, und diesmal verstand ich sie einwandfrei. »Wer bist du?« wurde gefragt. (Der eigentliche Wortgehalt der Frage war lediglich »Wer – du«, aber aus Gründen der Verständlichkeit sehe ich mich in mei nem Bericht gezwungen, das karge Vokabu lar der Brangeln zu vollständigen Sätzen zu ergänzen.) Ich stand auf, um dem Spercoi den mein Interesse an dieser Unterhaltung zu bekunden. Dabei sagte ich: »Ich bin Atlan.« Mein Name klang in der Sprache der Brangeln etwa wie Schchtlschn, aber man darf nicht meinen, daß dieses in der Haupt sache aus Schmatz- und Zischlauten zusam mengesetzte Idiom völlig vokallos sei. Die Vokale waren zumeist knallähnliche Effek te, die je nach dem Grade der Öffnung des brangelischen Saugnapfes wie a, o, e oder u klang. »Woher kommt Atlan?« lautete die näch ste Frage. »Ich komme aus einem fremden Univer sum«, antwortete ich. Ich benutzte den Begriff »Sternenmeer«, weil die Brangeln kein Wort für Universum besaßen. Aber der Inhalt meiner Antwort schien dem Spercoiden klar zu sein. »Wie kommst du nach Wolcion?« »Mit dem Materiebrocken, der am Rand der Ebene Jell-Cahrmere liegt.« »Was willst du hier?« »Ich will hier nichts. Das Schicksal hat mich hierher verschlagen.« Ich muß dazu erwähnen, daß der Spercoi de jetzt nicht mehr gespeicherte Wortfolgen
Kurt Mahr ablaufen ließ, sondern die Frage jeweils in seiner eigenen Sprache formulierte, worauf hin sie vom Translator ins Brangelische übersetzt wurde. »Hast du unser Raumschiff vernichtet? Und den Turm-der-leuchtet?« Übergroße Offenheit war hier sicherlich nicht am Platz. Ich verneinte die Frage ge trost. Schließlich war es Razamon, der das spercoidische Fahrzeug ebenso wie das Leuchtfeuer auf dem Gewissen hatte. »Wenn du es nicht warst – waren es deine Genossen?« Der Kerl war hartnäckig – und logisch obendrein. Diesmal half mir nur noch eine Lüge. »Wir sahen den Turm-der-leuchtet explo dieren«, erklärte ich. »Das Raumschiff be fand sich in unmittelbarer Nähe. Als die Ex plosion vorüber war, war auch das Schiff verschwunden.« So ungefähr hatte es sich tatsächlich abge spielt – nur nicht ganz so ohne unser Dazu tun, wie ich den Spercoiden glauben machen wollte. Der Gepanzerte hatte im Augenblick kei ne weitere Frage auf Lager. Ich benutzte die Gelegenheit, um mich zu erkundigen: »Wer bist du?« Er antwortete bereitwillig: »Ich bin Mooc, der Kommandeur dieser Flotte.« »Was wird aus mir?« »Ich bringe dich zum Stützpunkt des Kommandanten Lasko auf der Welt Karo que.« »Was soll ich dort?« »Du erstattest Lasko Bericht. Du sagst ihm, wie der Turm-der-leuchtet und das Raumschiff verschwunden sind.« »Bringst du mich dann wieder nach Pthor zurück?« »Es wird Pthor nicht mehr geben«, ant wortete Mooc. »Wir werden es vernichten, bevor wir uns auf den Rückweg machen.« Ich erschrak. »Das wird dir nicht gelingen«, erklärte ich mit soviel Überzeugung, wie ich aufbringen
Im Reich des Tyrannen konnte. »Der Wölbmantel hält deinen Ge schützen mühelos stand.« Da geschah etwas Seltsames. Mooc ant wortete zunächst nicht. Als er aber schließ lich zu sprechen begann, da übersetzte der Translator: »Ich weiß es. Deswegen habe ich das Feu er auch einstellen lassen!« In diesem Augenblick war mir der Gepan zerte fast sympathisch. Es machte ihm nichts aus, seine Niederlage einzugestehen. Er wirkte fast – menschlich. Es schien mir mit einemmal, als sei mein überstürztes Unter nehmen doch nicht ganz so sinnlos gewesen, wie es mir noch vor wenigen Minuten vor gekommen war. Ich hatte die Spercoiden ab gelenkt. Und der Angriff auf Pthor war ein gestellt worden. Der Felsbrocken war gerettet – und mit ihm Razamon, Kolphyr und Thalia! Ich war mit mir zufrieden, und die Spercoiden er schienen mir längst nicht mehr als die ge fühllosen, brutalen Eisenfresser, als die ich sie nach meinem gefährlichen Besuch an Bord der TREUE gesehen hatte.
* Ich sollte bald erkennen, daß meine Froh gefühle verfrüht waren. Mooc hatte sich anscheinend den Kopf darüber zerbrochen, was mit mir als näch stes geschehen solle, und war schließlich zu einem Entschluß gekommen. »Du wirst untersucht«, erklärte er mir. »Wozu?« wollte ich wissen. »Wir müssen erfahren, wie du beschaffen bist.« »Leer«, erklärte ich ihm. Das verstand er nicht. »Ich habe Hunger«, erläuterte ich. »Ich habe seit anderthalb Tagen nichts mehr ge gessen. Wenn du mich lebend nach Karoque bringen willst, mußt du mir zu essen geben.« »Du erhältst zu essen, aber zuerst wirst du untersucht.« »Wie?« »Durchleuchtet.«
23 Er gab von seinem Arbeitstisch aus ein Signal. Das Schott öffnete sich. Draußen standen zwei Spercoiden, die mich in die Mitte nahmen und abführten. Mooc rief ih nen etwas zu. Unter anderem verwendete er ein Wort, das wie »Brangel« klang. Wahr scheinlich informierte er seine Leute dar über, daß man sich nur in der Sprache der Brangeln mit mir verständigen konnte. Ich wurde in einen großen, länglichen Raum gebracht, der heller erleuchtet war als alle anderen, die ich bis jetzt gesehen hatte, und der die Funktion einer Rumpelkammer zu versehen schien. Überall standen Geräte, Laden, Gestelle, Untersätze, Liegen, mit Ku fen, Rädern und Gleitschienen versehene Fahrzeuge herum. Inmitten des Gewirrs hiel ten sich drei Spercoiden auf, die mich erwar tet zu haben schienen. Es war mir klar, daß ich, wenn ich mich unter den Gepanzerten zurechtfinden wollte, beizeiten lernen müsse, die Spercoiden von einander zu unterscheiden. Da sie alle die übliche Panzerung aus blaßblauem Metall trugen, gab es auf den ersten Blick nur ein einziges Unterscheidungsmerkmal, das auf die Dauer nicht ausreichen würde: die Kör pergröße. Die Spercoiden waren zwischen anderthalb und zwei Metern groß – eine un gewöhnlich weite Spanne für ein Volk, von dem man annehmen mußte, daß es Jahrmil lionen biologischer Evolution hinter sich hatte. Der Größenunterschied reichte aus, um die Kleinen von den Großen zu trennen. Wie aber sollte ich zwei gleichgroße Gepan zerte auseinanderhalten? Bei näherem Hinsehen fiel mir auf, daß die schwarzen Stöcke, die sie an der Hüfte trugen und die zur Standardausrüstung zu gehören schienen, geringfügige, aber durch aus bemerkbare Unterschiede aufwiesen. Manche waren lang und dünn und gänzlich unverziert, andere waren kürzer und dicker und trugen kleine oder auch umfangreichere Ornamente aus einer silbrig schimmernden Substanz. Dabei schien es sich um eine Art Rangabzeichen zu handeln: je kürzer und dicker der Stab, je auffälliger die Verzie
24 rung, desto höher der Rang. Und schließlich entdeckte ich noch ein drittes. An verschiedenen Stellen der blauen Rüstung, zumeist am Rand der hervorsprin genden Noppen, trugen die Spercoiden win zige Markierungen, die zumeist aus einer Vielzahl dünner, braunschwarzer Striche be stand. Was diese Striche bedeuteten, erfuhr ich nicht. Sie standen offenbar in keinem Zusammenhang mit der Dicke des Knüppels und dem Ausmaß der silbernen Verzierun gen. Aber dadurch, daß jeder Spercoide die Markierungen an einer anderen Stelle seines Panzers trug, und obendrein durch die Va riation in der Zahl der Striche wurden sie zu einem recht verläßlichen Unterscheidungs merkmal. Die drei Spercoiden bedeuteten mir, auf einen der mit Rollen versehenen Untersätze zu klettern und mich dort lang auszustrecken. Einer der drei trug einen Knüppel, der nicht länger als vierzig Zenti meter und von beachtlichem Durchmesser war. Er war überdies reichlich mit Silber verziert. Ich nahm an, daß dieser Spercoide der Ranghöchste im Raum sei. Er beteiligte sich kaum an der Vorbereitung der Untersu chung. Am meisten hatte ich mit einem Hü nen von rund zwei Metern zu tun, der mich ungeduldig auf der fahrbaren Liege zurecht rückte, als ich nicht gleich die gewünschte Position einnahm. Er ging dabei recht grob zu Werke. Die beiden Gepanzerten, die mich ge bracht hatten, schoben mich sodann unter ein Ding, das wie eine altmodische Flut leuchte aussah, ein lampenförmiges Etwas von kreisförmigem Querschnitt, mit einem Durchmesser von gut und gern zwei Metern. Ein Summen ertönte. Die Lampe senkte sich auf mich herab. Sie war mächtig genug, um an Kopf- und Fußende jeweils um eine Handspanne über mich hinauszuragen. Aus ihrem Innern ertönten furchteinflößende, brummende und knacksende Geräusche. Mir wurde mit einemmal mulmig zumute. Ich hatte mich auf eine Durchleuchtung ein gelassen – in der womöglich voreiligen An nahme, daß die Spercoiden darunter dassel-
Kurt Mahr be verstanden wie die Terraner. Wer aber mochte wissen, mit welchen Techniken hier gearbeitet wurde? Womöglich durchleuchte ten sie mich mit Korpuskularstrahlen und verwandelten mich in einen radioaktiven Meiler! Ich begann zu protestieren. Ich versuchte, mich in die Höhe zu stemmen, und stellte fest, daß ich inzwischen an meine Unterlage gefesselt worden war. Ich schrie. Da kam der lange Spercoide herbei und versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. Es war ein harter Schlag, geführt von einer gepanzerten Hand. Ich spürte ein Brennen auf der Wange und fühlte, wie mir das Blut warm über die Kinnlade sickerte. Im selben Augenblick begann die Lampe zu strahlen. Eine unerträglich grelle, weiß blaue Lichtflut überschüttete mich. Ich schloß geblendet die Augen. Mir wurde heiß – nicht von außen, sondern von innen her aus. Ich wußte instinktiv, daß ich mich in Gefahr befand. Ich schrie auf … Das war vorläufig das letzte, woran ich mich erinnerte.
5. Ich kam zu mir. Ich fühlte mich absolut elend. Ringe tanzten mir vor den Augen. Es roch entsetzlich. Ich hatte Durst, aber gleich zeitig wußte ich, daß ich keinen einzigen Schluck würde tun können, weil meine Keh le nur noch aus bloßgelegten Nervenenden bestand. Stimmen waren zu hören. In meiner Ver wirrung versuchte ich zu verstehen, was ge sprochen wurde – bis ich erkannte, daß die Stimmen Spercoiden gehörten. Meine Erin nerung kehrte bruchstückweise zurück. Ich richtete die schmerzenden Augen in die Hö he und sah, daß die gräßliche Lampe ver schwunden war. Es war mir klar, daß ich ei ne überhöhte, womöglich eine tödliche Strahlendosis abbekommen hatte. Ich brauchte Hilfe. War den Spercoiden nicht klar, was sie angerichtet hatten? Was rede
Im Reich des Tyrannen ten sie da herum? Warum halfen sie mir nicht? »Hilfe …!« krächzte ich. Einer der Spercoiden kam auf mich zu. Es war der mit dem verzierten Knüppel. Er sprach ein paar knarrende Worte, die ich nicht verstand. Kaum aber hatte er geendet, da erwachte ein Translator zum Leben, der anscheinend in den ovalen Helm eingebaut war. In der Sprache der Brangeln vernahm ich die Frage: »Bist du verletzt?« Im Augenblick der Todesangst neigt der Mensch zu Übertreibungen. »Ich werde sterben«, stieß ich hervor. »Oder habt ihr Medikamente?« Der Spercoide wandte sich ab. Er drehte sich in Richtung der beiden anderen Gepan zerten, besonders zu dem Hünen hin, der zu vor so grob mit mir umgesprungen war. Vor meinen Augen spielte sich nun eine Szene ab, die so entsetzlich und grotesk war, daß ich an meinem Verstand zu zweifeln be gann. Da der Ranghöchste der Spercoiden seinen Translator eingeschaltet ließ, konnte ich der Unterhaltung folgen. »Du hast die Geräte für die Durchleuch tung justiert?« fragte der mit dem verzierten Knüppel. »Ja«, antwortete der Hüne. »Der Gefangene wird an den Folgen der Behandlung sterben. Was sagt das über dich aus?« »Ich habe versagt!« »Was sagt das eherne Gesetz?« »Wer versagt, wird ausgelöscht.« Wortlos nahm der Ranghöchste den reich verzierten Knüppel von der Seite. Er richtete die Spitze auf den hochgewachsenen Sper coiden. Ehe ich noch begriff, was hier ge schah, zuckte aus der primitiv wirkenden Waffe ein greller Lichtblitz. Rings um den Hünen entstand ein Flammenmantel. Eine Hitzewelle flutete durch den Raum. Als die Flammenhülle erlosch, war von dem hünen haften Spercoiden nichts mehr zu sehen. Selbst sein Metallpanzer hatte sich aufge löst.
25 Mir stand der Verstand still. Hatte ich wirklich mitangesehen oder mir nur einge bildet, daß das Leben eines intelligenten Wesens wegen der Fehleinstellung eines Analysegeräts ausgelöscht worden war? Der dritte Spercoide – meine beiden Wär ter schienen den Raum inzwischen verlassen zu haben – war dem unglaublichen Vorgang ohne erkennbare Anteilnahme gefolgt. Ge hörten Vorfälle dieser Art womöglich zum spercoidischen Alltag? Mein geplagter Verstand rettete sich aus der Lage, die er sich nicht zu erklären wuß te, indem er sich zu Näherliegendem flüch tete. Mir ging es noch immer miserabel. Ich befand mich in Gefahr. Auf die Dauer würde auch mein Aktivator mich nicht davor be wahren, an den Folgen der Überdosis harter Strahlung zugrunde zu gehen. »Es wird bald noch einen Versager ge ben«, krächzte ich, »wenn ich keine Hilfe bekomme.« Das wirkte. Beide Spercoiden standen plötzlich neben meiner Liege. Der mit dem verzierten Knüppel fragte: »Was für Hilfe brauchst du?« Gerechter Himmel – wie heißt »Gewebestabilisator« auf Brangelisch? Ich begann zu radebrechen. Ich redete mit Mund, Armen und Händen. Ich deutete auf mich, kniff mir in den Arm, in die Wange und machte auf diese Weise den Spercoiden mit Mühe den Begriff »Gewebe« klar. Dann verdeutlichte ich ihnen, daß meine Körper substanz infolge der tödlichen Strahlendosis sich aufzulösen begonnen hatte. Die Art, wie die Gepanzerten reagierten, machte mich zu versichtlich. Sie schienen über umfangreiche biologisch-medizinische Kenntnisse zu ver fügen. Die Frage war nur, ob sich spercoidi sches Fachwissen auf einen arkonidischen Körper anwenden ließ. Sie begriffen anscheinend, daß man mit mir vorsichtiger umgehen mußte als mit ih resgleichen. Arkoniden, schien es, waren nicht annähernd so widerstandsfähig wie Spercoiden. Ob das nur auf die Durchleuch tungstechnik zutraf oder auch auf andere
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Kurt Mahr
Aspekte biologisch-medizinischer Behand lung, blieb vorläufig dahingestellt. Es moch te schließlich auch sein, daß die spercoidi sche Röntgentechnik deswegen so hohe Strahlungsdosen verwendete, weil die Sper coiden nie ihren Panzer ablegten! Schließlich hatte ich die beiden soweit, daß sie genau zu wissen glaubten, welche Therapie mir wieder auf die Beine helfen würde. Sie packten meine fahrbare Liege und schoben mich durch den Wirrwarr abge stellter Geräte auf einen Gegenstand zu, der zunächst wie ein metallener Würfel von zweieinhalb Metern Kantenlänge wirkte. Als die Liege sich darauf zubewegte, öffnete sich eine der Würfelseiten. Ich wurde in das Innere des Gehäuses geschoben. Der Spercoide mit dem verzierten Knüp pel blieb bis zuletzt bei mir. »Wir machen dich gesund«, versprach er. Mir war mittlerweile so elend, daß ich keine Kraft mehr hatte, an seiner Zuversicht zu zweifeln. Ich brachte mit Mühe ein mat tes Lächeln zuwege und sagte: »Du wirst meinetwegen nicht zum Versa ger werden wollen, oder?« »Auf keinen Fall«, versicherte er mir. »Frag nach mir, wenn die Behandlung been det ist.« »Wie heißt du?« erkundigte ich mich. »Mein Name ist Myys«, lautete seine Antwort.
* Er ließ mich allein. Das würfelförmige Gehäuse wurde geschlossen. Es war völlig finster. In der Ferne hörte ich ein leises Summen. Ich fühlte mich unendlich müde und zerschlagen. Das Summen war wie ein Schlaflied. Ich hatte nicht mehr genug Ver stand, um mir Sorgen um meinen Zustand zu machen. Ich schlief einfach ein. Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich ungemein gekräftigt. Ich empfand keine Schmerzen mehr, selbst die wunde Kehle schien zugeheilt zu sein. Eine leichte Be nommenheit war alles, was mich an mein
gefährliches Abenteuer erinnerte. Ich öffnete die Augen und blickte in einen spartanisch eingerichteten Raum, der von ei ner orangefarbenen Deckenlampe wohltuend matt erleuchtet wurde. Ich lag auf einem fla chen Gestell, das – auf Rollen oder Stützen – nicht mehr als eine Handspanne zwischen sich und dem Boden ließ. Ich war in das le derne Gewand gekleidet, das ich in der FE STUNG angelegt hatte. Es war angenehm warm. Ich drehte den Kopf und gewahrte schräg hinter mir eine Gestalt in einem Panzer aus blaßblauem Metall. Die braune Helmscheibe war, wie immer bei den Spercoiden, völlig undurchsichtig – wenigstens von außen. Ich musterte meinen schweigsamen Besucher und erkannte den reichlich verzierten Knüp pel und die Serie braunschwarzer Striche, die sich um die Basis einer Noppe dicht un terhalb der rechten Schulter gruppierten. Ich zählte und fand insgesamt sechzehn Striche. »Myys?« fragte ich. Der Spercoide trat zu mir. »Wie hast du mich erkannt?« fragte er. »Ich dachte, für dich müßten wir alle gleich aussehen?« »Tut ihr auch«, bestätigte ich. »Aber es gibt gewisse Merkmale, an denen man euch unterscheiden kann.« »Wie geht es dir?« erkundigte er sich. »Ich fühle mich ausgezeichnet.« Das war die Wahrheit. Nach über zehn tausend Jahren kannte ich meinen Körper gut genug. Ich wußte, daß die Gefahr über standen war. Die spercoidische Therapie und mein Aktivator – diesen beiden verdankte ich mein Leben. »Warum hast du den Mann getötet?« frag te ich. Myys antwortete ohne Zögern. »Er hatte versagt.« »Das ist ein Grund, ihn umzubringen?« »Ja. Spercos ehernes Gesetz verlangt es so. Wie ist es bei euch? Was macht ihr mit den Leuten, die nicht so arbeiten, wie es von ihnen erwartet wird?« »Wir belehren sie. Wir machen sie auf ih
Im Reich des Tyrannen re Fehler aufmerksam. Wenn sie die Fehler wiederholen, geben wir ihnen eine andere Arbeit.« »Und wenn der Fehler darin besteht, daß sie eine ganze Welt vernichten?« Die Frage gab mir zu denken. Nicht nur, weil ich sie nicht sofort beantworten konnte. Was machten die Arkoniden, was machten die Terraner mit einem Mann, der aus Ver sehen einen Planeten auslöschte? Einen Pla neten mit Bewohnern darauf? Ich wußte es nicht. Dieser Fall war im Reglement der mir bekannten Zivilisationen nicht vorgesehen – wahrscheinlich, weil er so überaus selten eintrat. Aber was sollte die Frage? Litten die Spercoiden an einem Trauma? Hatten sie sich die Vollkommenheit zum Gesetz ge macht, weil irgendwann im Laufe ihrer Ge schichte Unvollkommenheit zu einer Kata strophe geführt hatte? »Ich weiß die Antwort nicht«, gestand ich. »Bei uns vernichtet niemand einen Pla neten. Es gibt zuviele Vorsichtsmaß nah men.« »Hältst du euer Volk für glücklicher als das unsere?« »Ich kenne dein Volk nicht. Nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, verspüre ich die Neigung, mit Ja zu antworten.« Es soll ja keiner meinen, daß die Unter haltung zwischen Myys und mir sich wirk lich so reibungslos und elegant abwickelte, wie hier geschildert wird. Die meiste Zeit über drucksten und stotterten wir und be mühten uns verzweifelt, dem primitiven Idi om der Brangeln die Begriffe wenigstens in Umschreibung zu entlocken, die wir für un seren Meinungsaustausch brauchten. »Du wirst unser Volk kennenlernen«, ant wortete Myys auf meine letzte Feststellung. »Wo? Auf Karoque?« »Nein, nicht dort.« »Ich will sonst nirgendwo hin«, erklärte ich. »Euer Kommandeur, Mooc, hat mir ver sprochen, daß er mich nach Pthor zurück bringt, sobald ich Lasko Bericht erstattet ha be.« »Ist das wahr? Hat er dir das verspro
27 chen?« Ich dachte nach. Ich versuchte, mich zu erinnern. Nein – Mooc hatte keinerlei Ver sprechen abgegeben. Ich hatte verlangt, nach Pthor zurückgebracht zu werden – aber dann waren wir auf den Wölbmantel zu sprechen gekommen. Myys wartete meine Antwort nicht ab. »Ich weiß, daß du dich täuschst. Mooc kann ein solches Versprechen nicht gegeben haben.« »Warum nicht?« »Weil allein Lasko über dich entscheiden kann.« »Mooc könnte mich angelogen haben«, versuchte ich, meine Aussage zu verteidi gen. »Ein Spercoide lügt nicht«, erklärte Myys. Das klang in meinen Ohren so beiläufig und gleichzeitig so unumstößlich wie die Aussage, der wolkenlose Himmel auf einem Sauerstoffplaneten sei blau. »Sind wir immer noch in der Nähe von Loors?« fragte ich, weil mich plötzlich die Sorge um Pthor wieder gepackt hatte. »Nein, wir sind längst auf dem Weg nach Karoque«, antwortete Myys. »In ein paar Stunden kommen wir dort an.« Da wurde mir leicht ums Herz. Moocs Aussage hatte ich noch mißtraut. Myys aber glaubte ich. Pthor war gerettet. Über mein eigenes Schicksal machte ich mir vorerst keine Gedanken. Ich schien mich in keiner allzu schlimmen Lage zu befinden. Bedenk lich war, daß Myys nicht glaubte, man wer de mich je nach Loors zurückbringen. Dar über mußte ich mir bei nächster Gelegenheit Gewißheit verschaffen.
* Myys war ein aufmerksamer Wärter. (Daß er mir als Wärter zugewiesen war, gab er auf eine entsprechende Frage unumwunden zu.) Er verschaffte mir zu essen. Was er brachte, war ein unansehnlicher, übelriechender Brei, den ich in fast jeder anderen Lage wortlos
28 verschmäht hätte. Dieser Zeit aber war mein Hunger so groß, daß der Magen zu schmer zen begonnen hatte. Ich schlang den Brei hinunter, so rasch es ging, und stellte dabei fest, daß er nicht halb so übel schmeckte, wie er roch. Myys erwies sich als ein äußerst wißbe gieriger Geselle. Er fragte nach tausend Din gen, und aus jeder Antwort, die er nicht so gleich verstand, ergab sich ein Dutzend wei terer Fragen. Er kam mir vor wie ein Schwamm, der mit unvergleichlicher Gier Wissen in sich aufsog. Meinen Fragen gegenüber verhielt er sich jedoch schweigsam. Ich wollte etwas über die Geschichte der Spercoiden erfahren: er antwortete ausweichend. Ich wollte über Sperco, den Tyrannen, hören: er wußte an geblich nichts darüber. Ich stellte Fragen über die Ausdehnung des spercoidischen Sternenreichs: man hatte ihn darüber nicht informiert. Ich reagierte auf diesen Mangel an Mit teilsamkeit, indem ich mich seinen Fragen forthin ebenso verschloß. Das entging ihm natürlich nicht. »Hat deine Erinnerung dich plötzlich ver lassen?« fragte er. »So sehr wie dich die deine«, antwortete ich. »Meine Erinnerung ist in Ordnung«, be hauptete er. »So in Ordnung, daß du bisher jede mei ner Fragen ausführlich beantwortet hast«, entgegnete ich. »Ich weiß alles über dein Volk, seinen Herrscher und sein Reich.« Das gab ihm zu denken. »Du meinst, ich ver heimliche dir etwas?« erkundigte er sich schließlich. In der Sprache der Brangeln war das ein ziemlich vertrackter Satz. Die Serie von Schnalzlauten, die ich hier mit »verheimlichen« übersetze, bedeutete so wohl »im Dunkeln halten« als auch »im Dunkeln sein«. Und das »dir« hatte ich selbst hinzugedacht. »Ich stelle dir Fragen«, hielt ich ihm vor, »und erwarte, daß deine Antworten mein
Kurt Mahr Wissen bereichern. Nach etwa einhundert Fragen bemerke ich jedoch, daß ich über die Spercoiden nicht mehr weiß als zuvor.« »Nicht nur du«, antwortete er zu meiner großen Verwunderung: »Ich auch nicht!« »Lehren sie euch nicht die Geschichte eu res eigenen Volkes?« fragte ich erstaunt. Er zögerte eine Weile. Seine nächste Ant wort überraschte mich noch mehr als die vorherige: »Ich bin nicht einmal sicher, ob es ein spercoidisches Volk gibt.« Ich dachte scharf nach. Wenn ich jetzt die richtige Frage stellte, bekam ich womöglich die Antwort, die ich brauchte, um Licht in das Dunkel zu bringen, das die Herkunft, das Gehabe und womöglich gar die Daseins berechtigung des Volkes der Gepanzerten umgab. Panzer – das war es! »Ob ihr alle ein und demselben Volk an gehört, müßt ihr erkennen können«, sagte ich, »wenn ihr die Rüstungen ablegt und so, wie die Natur euch erschaffen hat, euch mit einander vergleicht.« Myys' Translator brachte ein glucksendes Geräusch hervor: das brangelische Lautsym bol der Verneinung. »Was du als Rüstung betrachtest, ist ein Teil unser selbst«, erklärte er. »Wer die Rü stung ablegt, stirbt.« Ich war enttäuscht. Die Frage, die ich für die entscheidende gehalten hatte, war wir kungslos verpufft. Dann aber begann Myys von neuem zu sprechen. Er sagte: »Wie willst du wissen, ob du einem Volk angehörst, wenn nur dein Äußeres denen der Wesen ringsum gleicht, aber nicht dein In neres? Wie willst du wissen, ob es wirklich ein spercoidisches Volk gibt, wenn die Ver haltensweisen der Spercoiden so unendlich weit voneinander verschieden sind?« Ich wußte darauf keine Antwort. Wie im Fall des Mannes, der aus Versehen einen ganzen Planeten hochgehen ließ, erwies es sich, daß die Spercoiden Sorgen hatten, die einem normalen Terraner oder Arkoniden
Im Reich des Tyrannen nie in den Sinn kämen. Erst viel später – als es den unglücklichen Myys schon längst nicht mehr gab – erfuhr ich, was er mit diesen Worten gemeint hatte.
* Kurze Zeit vor der Landung auf Karoque – wie sich später herausstellte – teilte Myys mir mit, daß Mooc mich zu sehen verlange. Er selbst brachte mich in das kahle Gemach, in dem der Kommandeur residierte. Aller dings entfernte er sich alsbald wieder. Ich blieb mit Mooc alleine. Wie bei der ersten Unterredung mußte ich stehen. Mittlerweile allerdings war meine Aufsässigkeit zum Teil gewichen – nicht zuletzt dank der humanen Behandlung, die ich von Myys erfahren hat te. Ich blieb also stehen. »Wir landen in Kürze auf Karoque«, er öffnete mir Mooc. »Auf Karoque wird ein bestimmtes Verhalten von dir erwartet wer den. Dieses Verhalten werde ich dir jetzt beibringen.« Er machte eine kurze Pause, als wolle er mir Gelegenheit geben, das Gehörte zu ver stehen. Dann fuhr er fort: »Barbaren aus der Tiefe des Alls haben Loors überfallen. Ich nenne sie Barbaren, weil sie nicht mit Raumschiffen reisen, son dern auf einem riesigen Materiebrocken. Dieser Brocken ist wie ein gewaltiger Mete or auf Loors geprallt. Dadurch wurde der Turm-der-leuchtet vernichtet und auch eines unserer Raumschiffe. Die Barbaren sind na türlich nicht zufällig auf Loors gelandet, sondern weil sie sich dort reiche Beute ver sprachen. Für die Übeltaten, die sie began gen haben, mußten sie bestraft werden. Ich selbst habe diese Bestrafung übernommen. Zwar liegt der Materiebrocken noch immer auf Loors, aber es gibt kein Leben mehr auf ihm. Ich habe alle Barbaren ausgelöscht. Nur dir habe ich das Leben gelassen, damit du dem Kommandanten Lasko Bericht er statten kannst, falls er das wünscht.« Er schwieg. Ich war wie vor den Kopf ge schlagen. Einen Atemzug lang fürchtete ich,
29 daß er seine Worte ernst meinen könne und Pthor womöglich vernichtet habe, ohne daß ich etwas davon wußte. Dann aber begann ich zu begreifen. Ich erinnerte mich des hochgewachsenen Sper coiden, der erschossen worden war, weil er mir eine zu hohe Dosis Röntgenstrahlung verabreicht hatte. Er war ein Versager gewe sen, und Versagen wurde bei den Spercoi den mit dem Tode bestraft. Mooc war ausge sandt worden, um das Verschwinden des Leuchtfeuers und des Raumschiffs TREUE zu klären und diejenigen, die für die beiden Vorfälle verantwortlich waren, zu bestrafen. Kehrte er nach Karoque zurück, ohne sich seines Auftrags entledigt zu haben, war er ebenfalls ein Versager und mußte den Tod erleiden. Also legte er sich eine Geschichte zu recht. Sie gewann an Glaubwürdigkeit da durch, daß ihr Grundbestandteil ziemlich grotesk und dennoch beweisbar war. Wer hätte schon eine Geschichte, die von Barba ren, die auf einem Materiebrocken durch das Weltall reisten, ernst genommen? Aber wer hätte, nachdem er von der Existenz des Ma teriebrockens überzeugt worden war, nicht auch den Rest des Berichtes unbesehen für wahr gehalten? Es gab nur einen einzigen Unsicherheits faktor in Moocs Planung, und der war ich. »Ich habe nichts dergleichen erlebt«, sagte ich. »Folglich kann ich nichts dergleichen berichten.« Mooc indes erwies sich als ein Planer, der die Stärke der eigenen Position genau kann te. »Dann wird dein Wort gegen meines ste hen«, erklärte er. »Und wem meinst du, wird man auf Karoque glauben?«
* An Myys' Stelle erwarteten mich zwei an dere Spercoiden, die mich zu meiner Kabine zurückbrachten. Ich war geraume Zeit allei ne und glaubte währenddessen zu bemerken, daß das Raumschiff eine Serie komplizierter
30 Landemanöver durchführte. Erschütterungen durchliefen den Schiffskörper, wenn eine Kursänderung vollzogen wurde. Die An druckneutralisatoren der Spercoiden waren denen terranischer Fertigung ganz eindeutig unterlegen. Das unruhige Hin- und Hermanövrieren endete schließlich mit einem ziemlich un sanften Ruck, auf den absolute Stille folgte. Ich schloß daraus, daß das Schiff gelandet war. Wenig später öffnete sich das Schott meines Gelasses. Ein Spercoide trat ein. An dem verzierten Knüppel und den Strichen unter der Noppe an der rechten Schulter er kannte ich Myys. Der Landevorgang hatte mich vorübergehend abgelenkt und dennoch den Vorwurf nicht vergessen lassen, den ich Myys machen wollte. »Ein Spercoide lügt nicht!« schleuderte ich ihm entgegen. »Und doch hat Mooc nichts anderes vor, als Lasko eine giganti sche Lüge aufzutischen!« In Augenblicken der Erregung vergißt man leicht, daß entrüstete Aufschreie, durch einen Translator übersetzt und obendrein im begriffsarmen Idiom der Brangeln ausge drückt, im Prozeß der Übertragung ihre ge samte Wirkung verlieren. Myys' Reaktion war denn auch ziemlich gelassen. Er schien weder überrascht, noch sonst irgendwie be eindruckt, sondern bemerkte nur: »Dann geht es ums Versagen.« Mein Zorn war noch lange nicht be schwichtigt. »Als du mir weismachen wolltest, daß ein Spercoide nicht lügt«, schrie ich, »war vom Versagen keine Rede! Was sollen deine Worte? Ein Spercoide lügt nicht – es sei denn, dieser oder jener Grund bewegt ihn dazu?« »Du verstehst mich nicht«, antwortete Myys. »Die Begriffe der Sprache, mit der wir uns verständigen, reichen nicht aus, um zu verdeutlichen, worum es hier geht. Eine Lüge ist eine Lüge, wenn sie nicht aus Not ausgesprochen wird. Die ärgste Not, die ein Spercoide erdulden kann, ist die Gefahr der Selbstauslöschung. Mooc hat nicht gelogen.
Kurt Mahr Er übt Selbstschutz.« Seine Argumentation entwaffnete mich. Ich wußte nicht mehr, was ich noch hätte sa gen sollen. Myys erkundigte sich nach mei ner Unterredung mit Mooc. Ich berichtete, wie sie verlaufen war. Als ich geendet hatte, fragte er: »Fürchtest du dich vor dem Tod?« »Natürlich!« platzte ich heraus. Erst dann kam mir die Bedeutung der Frage zu Be wußtsein. »Was soll das?« »Ich warne dich«, antwortete Myys. »Mooc hat dich nach Karoque gebracht, weil er dich braucht. Sobald er dich nicht mehr braucht, wird er dich auslöschen.« Das Schott stand immer noch offen. Drau ßen im Gang hörte ich Geräusche. Wahr scheinlich hatte ich nur noch ein paar Au genblicke, mich mit Myys zu unterhalten. Ich unterdrückte all die Fragen, die sich mir auf die Zunge drängten, und sagte: »Dann weiß ich, wie lange ich noch sicher bin: Bis ich zu Lasko gesprochen habe.« »Es ist nicht gewiß, daß du zu Lasko spre chen wirst«, erklärte Myys. »Ich soll Bericht erstatten, nicht wahr?« »Mooc soll Bericht erstatten«, verbesserte mich Myys. »Wenn Lasko von seinen Wor ten überzeugt ist, dann braucht er dich nicht mehr anzuhören. Ob du dazu kommst, mit Lasko zu sprechen, hängt alleine von Lasko ab – von sonst niemand.« Ich weiß nicht, ob er meinen Gesichtsaus druck deuten konnte. Ich jedenfalls war in diesem Augenblick ziemlich niedergeschla gen und gab mir keinerlei Mühe, dies zu verbergen. »Du wirst auf der Hut sein müssen«, er klärte Myys.
6. Myys entfernte sich kurze Zeit später. Ich war ziemlich sicher, daß ich ihn nie wieder zu sehen bekommen würde. Ich wurde abgeholt. Eine Eskorte von drei Spercoiden brachte mich zu einer Lade schleuse, von der aus eine primitive Roll
Im Reich des Tyrannen rampe in die Tiefe führte. Aus der Schleuse warf ich den ersten Blick auf die fremde Welt Karoque. Viel war nicht zu sehen. Moocs Schiff und die übrigen Einheiten seiner Flottille waren auf einem riesigen Raumhafen gelan det. Die Landefläche reichte so weit, daß ich ihren Rand nur zur Linken erkennen konnte. Die Landschaft jenseits des Raumhafens war eintöniges, prärieähnliches Grasland. Weit im Hintergrund schälten sich vage die Um risse eines Bergzugs aus dem Dunst. Der Himmel über mir war annähernd tür kisfarben. Eine kleine, weißgelbe Sonne ver breitete ein Übermaß an Helligkeit und Wär me. Die Luft war voller Feuchtigkeit. Die Schwerkraft dieser Welt war geringer als die der Erde, um acht bis zehn Prozent. Auf den ersten Blick war Karoque eine nichtssagen de Welt. Beeindruckend, vor allen Dingen durch ihr Größe, waren lediglich die Einrichtun gen, die die Spercoiden geschaffen hatten. Der Raumhafen schien kreisförmig zu sein. Sein Durchmesser betrug sicherlich etliche hundert Kilometer. Unweit von Moocs Raumschiff entfernt erkannte ich eine Ge bäudefront, die nach meiner Schätzung etwa einhundert Meter hoch aufragte und mit ei nem Wirrwarr neben- und ineinander ge schachtelter Dachkonstruktionen bestückt war, die an Pagoden erinnerten. Das Gebäu de war von gewaltiger Ausdehnung. Die Fassade, an der ich entlangblickte, verlor sich nach beiden Seiten hin im Dunst. In die Tiefe schien das Bauwerk ebenfalls sehr weit zu reichen. Auch hier konnte ich kein Ende erkennen. Ich erfuhr später, daß dies Sarccoth war, das spercoidische Operationszentrum auf Karoque. Das Gebäude war von quadrati scher Form. Die Seitenlänge des Quadrats betrug rund einhundert Kilometer. Sarccoth bildete das Mittelstück des gewaltigen Raumhafens, der seinerseits kreisförmig war und mehr als zehntausend Großraumschiffen Platz bot. Von meinem Standort aus zählte ich insgesamt achtzig Einheiten. Sie waren
31 samt und sonders von der hutähnlichen Form, die die Bauweise der Spercoiden cha rakterisierte, und die größten von ihnen rag ten gut und gern einen halben Kilometer in die Höhe. Ich wurde die Rampe hinabge führt. Unten wartete ein scheibenförmiges Fahrzeug, in das man mich verlud. Meine drei Begleiter blieben zurück. An ihrer Stel le nahmen sich zwei andere Spercoiden mei ner an. Die Flugscheibe glitt in geringer Hö he über den Boden dahin. Je näher wir dem Gebäude kamen, desto deutlicher wurde des sen vielfältige Gliederung. Was ich aus der Ferne für eine glatte Fassade mit unregelmä ßig verteilten Öffnungen gehalten hatte, er wies sich aus der Nähe als ein verwirrendes Durcheinander von Nischen, Erkern, Tür men, Vorsprüngen, Überhängen und Tun nels. Der Anblick war atemberaubend, zu mal als diese Gebäudeteile vor Leben und Aktivität förmlich zu bersten schienen. Ich sah Hunderte von kleinen und kleinsten Fahrzeugen, die auf kühn geschwungenen Rampen unterwegs waren. Ich erblickte Horden von Fußgängern, die, aus der Steif heit ihrer Haltung zu schließen, von Trans portbändern befördert wurden: aufwärts, ab wärts, seitwärts, in jede denkbare Richtung. Das alles quirlte und wirbelte durcheinander, daß einem das bloße Hinschauen schon den Verstand durcheinanderbrachte. Unsere Flugscheibe zielte auf einen halb kreisförmigen Tunnel von etwa fünfzig Me tern Höhe. Im Innern des Tunnels, der hell erleuchtet war, herrschte reger Verkehr. Die Spercoiden schienen über ausgezeichnete Funkleitsysteme zu verfügen. Das Durchein ander von Fahrzeugen, wäre es dem einzel nen Piloten selbst überlassen gewesen, für seine Sicherheit zu sorgen, hätte ohne Funk sicherung binnen kürzester Zeit zu einer chaotischen Folge schwerer Unfälle führen müssen. Wir glitten den Tunnel entlang. Nach et wa dreihundert Metern kamen wir wieder ins Freie, in eine Art Innenhof, der einen rechteckigen Umriß und eine Fläche von wenigstens zwanzig Quadratkilometern be
32 saß. Ich erblickte Grünflächen, die im Innern des Hofes angelegt worden waren – entwe der um bei der Reinigung der Atmosphäre zu helfen oder den Spercoiden Stätten der Entspannung zu bieten. Aus dem Innenhof ging es über eine geschwungene Rampe hin auf bis zu den pagodenförmig gewölbten Dachkonstruktionen des riesigen Gebäude komplexes, dann wieder hinab in einen zweiten, kleineren Hof und von dort durch einen weiteren Tunnel, der jedoch kleiner war als der erste und nicht soviel Verkehr enthielt. Unsere Fahrt nahm etwa eine halbe Stun de in Anspruch. Schließlich gelangten wir in einen dritten Hof, der jedoch nur eine Fläche von höchstens einem halben Quadratkilome ter hatte und überdies völlig kahl war. Auf die Turmspitze war eine kreisrunde Metall plattform von zehn Metern Durchmesser aufgesetzt. Auf dieser Plattform landete das Gleitfahrzeug. Meine Begleiter gaben mir zu verstehen, daß ich aussteigen solle. Sie sprachen nicht zu mir – sie gestikulierten. Anscheinend be saß nicht jeder Spercoide einen Translator, der auf die Sprache der Brangeln geeicht war. Meine Wärter bedeuteten mir mit Handbewegungen, was ich zu tun hatte. Wenn ich mich begriffsstutzig zeigte, nah men sie wohl auch den schwarzen Stock zu Hilfe, um mir entweder eine Richtung zu weisen oder mich ganz und gar physisch zu dirigieren, indem sie mir den Stock ins Kreuz oder in die Rippen stießen. Ich hatte vor der unscheinbaren Waffe großen Re spekt. Bei jeder Bewegung, die ich machte, war es mein erstes Anliegen, den Spercoiden zu zeigen, daß ich willfährig war. In die Platte, auf der das Scheibenfahr zeug gelandet war, mündete von unten her ein enger Schacht. Die beiden Wärter mach ten mir klar, daß ich dort hineinzuspringen habe. Ich zögerte. Da wurden ihre Gesten drastischer. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und stürzte mich ins Unge wisse – mit einem inbrünstigen Stoßgebet an das allmächtige Schicksal, das über allen
Kurt Mahr gläubigen Arkoniden wacht. Das Gebet wirkte. Der Schacht enthielt ein Antigravfeld, durch das ich gemächlich in die Tiefe sank. Ich blickte nach oben und sah den Schachtmund zu einem winzigen Lichtfleck zusammenschrumpfen. Die bei den Spercoiden folgten mir nicht. Ich war mir selbst überlassen. Nach einer Distanz, die etwa zwei Drittel der Höhe des Turmes betragen mochte, ver änderte sich plötzlich die Struktur des künst lichen Schwerefelds, und damit seine Wir kung. Ich kam zum Stillstand. Wenige Se kunden später glitt unmittelbar neben mir ei ne gewölbte Metallplatte zur Seite. Es ent stand eine Öffnung, die mir gerade genug Platz bot, um mich hindurchzuzwängen. Ich betrat ein rundes Gemach. Es nahm die gesamte Querschnittsfläche des Turmes ein – mit Ausnahme des Schachtes, der aus der Mitte des Raumes ausgespart war. Es war hell erleuchtet und fensterlos, und die Einrichtung stellte ein Musterbeispiel gestal terischer Einfallslosigkeit dar: sie bestand aus einer wenig eleganten, flachen Liege, die auf die Körpermaße der Spercoiden zu geschnitten war und damit wenigstens den einen Vorzug besaß, daß sie mir paßte. Der Schacht hatte sich inzwischen hinter mir wieder geschlossen. Kein Bemühen mei nerseits war in der Lage, den Öffnungsme chanismus zu finden und zu betätigen. Ich war eingesperrt. Ich streckte mich auf der Liege aus, ver schränkte die Hände unter dem Kopf und starrte zur kahlen Decke hinauf. Ich verspür te eine unbändige Begierde, mein Gehirn in planende Tätigkeit zu versetzen und eine Idee zu entwickeln, wie ich aus dieser Zelle, aus diesem Monstrum von einem Gebäude, von dieser häßlichen, feuchtheißen Welt ent kommen könne. Aber vorläufig gab es nichts zu planen. Ich kannte die Bedingungen nicht, unter de nen meine Flucht vonstatten gehen würde. Vorerst blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten und Informationen zu sammeln.
Im Reich des Tyrannen
* Die Spercoiden hatten sich an meinen Ausrüstungsgegenständen nicht vergriffen. Ich besaß also, unter anderem, eine Uhr, mit deren Hilfe ich das Verstreichen der Zeit messen konnte. Ich besaß außerdem ein klei nes Allzweckwerkzeug, das unter normalen Umständen für vielerlei Dinge gut war, sich gegenüber dem aus hartem Plastikguß beste henden Gemäuer des Turmes jedoch als hilf los erwies. Trotzdem war es mir schließlich von Nut zen. Ich klopfte systematisch jeden Quadrat zentimeter der Rundwand ab, um zu ermit teln, ob es irgendwo eine Stelle gab, die hohl klang und sich womöglich leichter bearbei ten ließ. An der Wand allerdings fand ich ei ne solche Stelle nicht. Immerhin hatte meine Suche mich davon überzeugt, daß es hier keinerlei Abhör- oder sonstige Überwa chungsgeräte gab. Danach wandte ich mich dem Schacht zu. Hier hatte ich von vornherein keine Hoff nung, denn die Schachtwand bestand aus so lidem Metall, das ebenso hart zu sein schien wie terranisches Ynkelonium-Terkonit. Der Schacht klang hohl. Wie anders hätte er auch klingen sollen, da er doch in der Tat hohl war? Aber ich stellte bald fest, daß der Klang sich änderte, je nachdem, wo ich ge gen das Metall klopfte. Das machte mich neugierig. Ich stürzte mich ins Detail. Ich klopfte das Metall milli meterweise ab und ermittelte, daß die Zone veränderten Klangs ein gewölbtes Rechteck darstellte, das etwa eine Handbreit über dem Boden begann und rund zwei Meter höher endete. Die Breite des Rechtecks betrug nicht mehr als fünfzig Zentimeter. Es han delte sich gewiß nicht um die Öffnung, durch die ich hereingekommen war. Denn die besaß eine größere Breite, und außerdem lag sie an einer anderen Stelle. Ich klappte den Magnetsensor aus mei nem Allzweckwerkzeug und fuhr langsam und vorsichtig den Umriß des Rechtecks
33 entlang. An einer Stelle, die etwa anderthalb Meter über dem Boden lag, glühte die Sen soranzeige plötzlich hell auf. Im nächsten Augenblick hörte ich ein schnalzendes Ge räusch, und plötzlich kam mir ein Teil der Schachtwand entgegen. Ich sprang zurück. Meine Vorsicht erwies sich indes als über flüssig. Das Rechteck war wie eine altmodi sche Tür auf einer Seite in Angeln gelagert, die allerdings so geschickt angebracht wa ren, daß man sie im geschlossenen Zustand nicht erkennen konnte. Das Rechteck entpuppte sich jetzt als ein Behältnis, eine Art Schrank, wenn man so will. Es war eine gute Handspanne tief und enthielt am oberen Ende der Rückwand eine Serie noppenähnlicher Vorsprünge, die in tensiv magnetisch waren, wie ich alsbald feststellte. Sie mochten zur Befestigung des Schrankinhalts dienen, der in diesem Fall als metallisch – und zwar ferromagnetisch – ge dacht werden mußte. Worum es sich bei die sem Inhalt jedoch handelte, das fand ich zu nächst nicht heraus, denn der Schrank war leer. Ich drückte das Rechteck wieder an sei nen ursprünglichen Platz. Es gehorchte wil lig. Ich überzeugte mich, daß ich es jederzeit wieder öffnen konnte, indem ich den Ma gnetsensor über die kritische Stelle führte und damit denselben Effekt erzielte wie zu vor. Diese Entdeckung versetzte mich in Auf regung. Ich hatte nicht wirklich etwas er reicht. Der leere Schrank trug nicht zu mei ner Befreiung bei. Aber ich hatte etwas ge funden! Ich war einem Versteck auf die Spur gekommen! Das überzeugte mich, daß ich auch weiterhin erfolgreich sein würde. Ich wollte als nächstes die übrigen Ab schnitte der Schachtwand absuchen. Dazu kam ich jedoch vorerst nicht. Ich wurde ge stört. Ich erhielt Besuch. Die Tür schwang auf – dieselbe, durch die auch ich gekom men war – und ein Spercoide trat ein. Er hielt den schwarzen Stock erhoben und gab mir damit zu verstehen, daß er von der Waf fe Gebrauch machen werde, wenn ich mich
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Kurt Mahr
nicht so verhielt, wie er es erwartete. In der anderen Hand hielt er eine Schüssel mit demselben widerlichen Gebräu, das auch Myys mir schon gefüttert hatte. Als er sah, daß ich mich ruhig verhielt, reichte er mir die Schüssel. Ich bezwang meinen Widerwillen und verzehrte die we nig appetitanregende Mahlzeit, wobei ich nach der Art der Barbaren die Finger be nützte, um mir den grauen Brei aus der leicht gekippten Schüssel in den Mund zu schieben. Der Spercoide blieb stehen. Ob er mir zusah, konnte ich nicht entscheiden. Of fenbar jedoch hatte er Anweisung, solange zu bleiben, bis ich fertig war, und die Schüs sel wieder mitzunehmen. Als ich sie ihm reichte, nahm er sie bereitwillig an. »Wie lang werde ich hier bleiben?« fragte ich. Ich hatte mit keiner Antwort gerechnet, daher war ich überrascht, als es unter dem metallenen Helm hervordrang: »Bis Lasko dich zu sehen wünscht.« »Wann wird das sein?« »Niemand außer Lasko weiß das.« »Wie oft bekomme ich zu essen?« Der Spercoide antwortete mit einem jener schwer definierbaren Zeitbegriffe der Bran geln, der je nach Jahreszeit anderthalb oder drei Stunden – oder irgendeinen Wert da zwischen – betragen mochte. Mit dieser Antwort glaubte er anscheinend, dem guten Ton Genüge getan zu haben. Rückwärtsge hend und mich keine Sekunde aus dem Au ge lassend, trat er wieder in den Schacht zu rück. Das Schott, das, wie ich inzwischen bemerkt hatte, doppelwandig war und die selbe Tiefe besaß wie der Schrank, den ich zuvor entdeckt hatte, schloß sich unmittelbar hinter ihm. Ich war wieder allein. Aber diese paar Minuten waren ungeheu er wertvoll gewesen. Ich besaß jetzt die er sten Informationen, die ich brauchte, um meinen Fluchtplan Gestalt annehmen zu las sen.
*
Ich setzte meine Suche fort. Die Speise, so unappetitlich sie auch sein mochte, hatte mir neue Energie gegeben. Angesichts der Lage, in der ich mich befand, war ich den Spercoiden dankbar, daß sie mir Nahrung verabreichten, die mein Körper offenbar zu hundert Prozent verdauen konnte. Ich hätte mich in dieser jeglicher hygienischen Vor richtung baren Umgebung sonst in Teufels Küche befunden. Bei meiner weiteren Suche stellte ich mir das Stück Schacht, das den Mittelpunkt mei ner Zelle bildete, als ein symmetrisches Ge bilde vor. Der Schrank, den ich entdeckt hat te, lag rechts von der Tür. Womöglich gab es links ein weiteres solches Gebilde und vielleicht sogar, auf der der Tür gegenüber liegenden Seite, ein drittes. Mittlerweile wußte ich, wie ich vorzuge hen hatte. Ich entdeckte in der Tat einen zweiten Schrank. Er war ebenfalls leer. Er unterschied sich von dem ersten lediglich dadurch, daß er einen unangenehmen Ge ruch ausströmte. Ich war auch weiterhin erfolgreich. Auf der Rückseite des Schachts – wenn man die Position der Tür als Vorderseite betrachtete – gab es, wie ich fast schon vermutet hatte, einen dritten Schrank. Er ließ sich auf die selbe Weise öffnen wie seine Vorgänger. Schon als er aufsprang, erkannte ich an dem intensiven Geruch, daß ich diesmal auf einen echten Fund gestoßen war. Ich reichte seitwärts in das Behältnis hinein und bekam etwas zu fassen, das aus flexiblem Metall bestand. Ich zog und zerrte daran, bis es sich von den magnetischen Noppen löste und mir in die Arme fiel. Annähernd fassungslos bestaunte ich mei ne neuste Entdeckung. Was mir da in den Armen lag und mit seinem beachtlichen Ge wicht an den Muskeln zerrte, war eine sper coidische Rüstung, ein Metallanzug – kom plett mit ovalem Helm und eingelassener brauner Quarzscheibe. Da wußte ich mit einemmal, daß das Ge schick mich nicht im Stich gelassen hatte. Der Anzug war etwa von meiner Größe. Er
Im Reich des Tyrannen würde mir passen – und wenn ich mich vor dem üblen Geruch, der von ihm ausging, noch so sehr ekelte. Ein Anzug von dieser Art aber war die Grundbedingung für den Erfolg meiner Flucht. So, wie ich war, konn te ich keinen Schritt gehen, ohne aufzufal len. Ich wußte nicht, wie schnell in diesem mächtigen Gebäudekomplex bekannt gewor den war, daß Mooc von seiner Fahrt nach Loors einen Gefangenen mitgebracht hatte. Aber ich nahm als sicher an, daß die Sper coiden, auch wenn sie nichts von mir wuß ten, sofort mißtrauisch würden, wenn ein of fensichtlich Fremder plötzlich in ihrer Mitte auftauchte. Sie würden Alarm schlagen, und meine Flucht fände schon nach wenigen Me tern ein unrühmliches Ende. So aber konnte ich mich verkleiden. Aus meiner Zelle zu entkommen, schien mir nicht besonders schwierig zu sein. Wenn es immer derselbe Spercoide war, der mir zu essen brachte – oder meinetwegen er und noch ein anderer – dann würde man sich bei zeiten an meine Harmlosigkeit gewöhnen und weniger vorsichtig sein. Ich erinnerte mich an Razamons Schilderung: die Sper coiden vergingen mitsamt ihren Anzügen in einer Art lautloser Explosion, wenn man ih ren Helm öffnete – etwa durch Zertrümmern der braunen Quarzscheibe. Ich würde töten müssen, wenn ich von hier entkommen wollte. Das widerstrebte mir. Aber nach al lem, was ich von Myys wußte, drohte mir selbst der Tod, wenn ich hierblieb. Unter diesem Blickwinkel mußte meine Handlung als Notwehr gesehen werden. Mir blieb kei ne andere Wahl. Zunächst allerdings mußte ich mich mit dem Anzug vertraut machen. Ich untersuchte die Verschlüsse, die primi tiv, aber wirksam waren. Sie ließen sich von außen wie von innen betätigen. Allerdings nahm ich an, daß die äußere Verriegelung nicht mehr bedienbar war, sobald sich je mand im Innern des Anzugs befand. Mit einem schwarzen Stock war die Mon tur zu meiner großen Enttäuschung nicht ausgerüstet. Das Innere des Anzugs bot sich dem tastenden Griff meiner Hand feuchtkalt
35 und glitschig dar – als hätte der frühere Trä ger der Montur unter gelegentlichen Schweißausbrüchen gelitten. Von der abge standenen Feuchtigkeit ging auch der üble Geruch aus, den ich, wenn auch weit weni ger intensiv, bereits an Bord von Moocs Raumschiff wahrgenommen hatte. Ich wagte es schließlich, in den Anzug zu schlüpfen. Es wurde mir fast übel dabei. Ich betätigte die Verschlüsse und hörte, wie etli che Mikrogeräte, die irgendwo in der Struk tur des Panzers untergebracht waren, zu ar beiten begannen. Ein frischer Luftzug be gann, im Innern der Montur zu zirkulieren, und nahm dem Gestank einiges von seiner Unerträglichkeit. Durch die braune Quarzscheibe sah die Welt düster und verschwommen aus. Ich würde mich an diesen Ausblick erst gewöh nen müssen. Während ich allein war, jeweils zwischen zwei Mahlzeiten, mußte ich mich mit dem Anzug vertraut machen und lernen, mit dem veränderten Sichtfeld und dem ver waschenen Bild der Umwelt fertig zu wer den. Ich löste mich schließlich wieder aus der Montur, was mir zu meiner Erleichterung mühelos gelang, und barg sie in dem Schrank. Auch in diesem Falle vergewisser te ich mich durch mehrmaliges Experimen tieren, daß ich das Behältnis jederzeit wieder öffnen konnte.
* Nach knapp zwei Stunden wurde mir mein zweites Mahl gebracht. Der Überbrin ger war derselbe Spercoide wie zuvor. Dies mal war ich nicht sonderlich hungrig. Ich nahm nur ein paar Bissen zu mir und reichte das noch halbvolle Gefäß zurück. »Hat Lasko schon nach mir verlangt?« fragte ich. »Ich habe nichts davon gehört«, lautete die Antwort. Ich bemerkte, daß der Spercoide den schwarzen Stab äußerst lässig hielt. War es möglich, daß er schon jetzt an meine Harm
36 losigkeit glaubte? »Hat Mooc schon an den Kommandanten Bericht erstattet?« erkundigte ich mich. »Du fragst den Falschen«, wurde ich be lehrt. »Ich bin ein einfacher Krieger und weiß nicht, was die Kommandanten und Kommandeure tun.« »Kennst du einen Krieger namens Myys?« wollte ich wissen. Es fiel mir auf, daß mein Nahrungsbringer diesmal einer Unterhaltung mit mir nicht so abgeneigt war wie beim ersten Mal. Ich sah auch das als Beweis, daß er Zutrauen zu mir zu fassen begann. Den Gedanken, daß ihm eben dieses Zutrauen letzten Endes den Tod einbringen werde, schob ich gewaltsam bei seite. »Ich kenne ihn«, antwortete der Spercoi de. »Er gehört zu Moocs Regiment.« »Befindet er sich hier?« »Mooc ist hier, also ist auch Myys hier.« »Bekommst du ihn manchmal zu sehen?« »Selten.« »Würdest du ihm eine Botschaft von mir ausrichten?« Ich stellte diese Frage nicht, weil ich Myys tatsächlich etwas zu sagen hatte, son dern weil ich wissen wollte, wie mein Wär ter auf ein solches Ansinnen reagierte. »Ich kann keine Botschaften ausrichten«, antwortete er. »Warum nicht?« »Weil mir Mooc keinen solchen Auftrag erteilt hat.« Danach war ihm anscheinend des Redens doch zuviel. Er wandte sich um und schritt hinaus. Wohlgemerkt: er wandte sich um! Er ging nicht rückwärts hinaus wie beim vori gen Mal! Ich mußte ihm wirklich harmlos erscheinen. Seine letzten beiden Antworten hatten mir bewiesen, was ich wissen mußte. Mooc hielt seinen Gefangenen, nämlich mich, versteckt. Das bedeutete, daß im Innern dieses Riesen gebäudes nur wenige Spercoiden waren, die wußten, daß ich mich hier befand. Dieser Umstand mochte dazu angetan sein, meine Flucht zu erleichtern. Wenn Mooc merkte,
Kurt Mahr daß ich entkommen war, würde er denen, die er zur Verfolgung ausschickte, den Sach verhalt erst umständlich erklären müssen. Dadurch gewann ich Zeit. Mein Plan stand jetzt fest. Bei der näch sten Gelegenheit – und das mochte recht wohl schon bei der nächsten Mahlzeit sein – würde ich meinen Wärter überwältigen. Ich hoffte, daß er bei seinen Besuchen in diesem Turm ein Fahrzeug benutzte, mit dem er auf der Plattform landete wie die beiden Sper coiden, die mich hierhergebracht hatten. Nachdem ich ihn ausgeschaltet hatte, würde ich mich einfach seines Fahrzeugs bemächti gen und davonfahren. Die Bedienungsweise spercoidischer Gleitfahrzeuge schien mir nicht besonders schwierig zu sein. Ich hatte, als man mich hierher transportierte, nur we nige Kontrollhebel gesehen, deren Handha bung einfach und logisch war. Auch den Rückweg getraute ich mich wiederzufinden. Wenn alles glatt ging, würde ich den Gebäu dekomplex in weniger als einer Stunde ver lassen haben. Was danach kam, darüber sagte mein Plan nichts aus. Nach der Flucht aus dem Riesen bau mußten die jeweiligen Gegebenheiten über meine weitere Vorgehensweise ent scheiden. In dem waghalsigsten meiner Träume nahm ich mir vor, ein spercoidi sches Raumschiff samt Besatzung zu entfüh ren und mit diesem Fahrzeug nach Loors zu rückzukehren. Dieses Vorhaben nahm ich vorläufig allerdings nicht sonderlich ernst. Es war logischer Planung nicht zugänglich und erforderte mehr Glück, als das allmäch tige Schicksal selbst dem gläubigsten seiner arkonidischen Kinder zugestehen mochte. Doch solche Überlegungen bedrückten mich vorerst nicht. Für mich war es das wichtig ste, erst einmal aus diesem Bollwerk zu ent kommen.
* Dann aber kam – zum ersten Mal seit lan ger Zeit – der Augenblick, in dem mein Ex trasinn zu mir zu sprechen begann, und es
Im Reich des Tyrannen vergingen nur ein paar Augenblicke, dann war mein wunderschöner Plan in tausend Fetzen zerrissen und vom Wind davonge weht. »Erinnerst du dich an Myys' Warnung?« fragte der Extrasinn. Ich war überrascht. »An welche?« erkundigte ich mich in Ge danken. »Daß Mooc dich umbringen wird, sobald er Lasko überzeugt hat?« Natürlich erinnerte ich mich. »Meinst du, er wird einfach hereinkom men und dich erschießen?« »Das wäre eine Möglichkeit, nicht wahr?« »Aber keine sehr plausible!« In dem nun folgenden Dialog überzeugte mich mein zweites Ich, daß Mooc sich dem Kommandanten Lasko gegenüber wahr scheinlich verdächtig machen würde, wenn er mich kaltblütig umbrachte. Es schien zwar so, als sei es Mooc gelungen, Lasko vom Erfolg seiner Mission zu überzeugen, auch ohne daß er sich auf meinen Bericht zu berufen brauchte. Dennoch würde Lasko mißtrauisch werden, wenn der Gefangene, auf dessen Bericht er verzichtet hatte, ein fach ausgelöscht würde. Mooc mußte einen Grund finden, der ihn dazu berechtigte, mich zu töten. Der ein fachste solche Grund war ein Fluchtversuch meinerseits. Ausgehend von dieser Voraus setzung zerpflückte der Extrasinn meinen Plan im Handumdrehen. Mooc hatte den Spercoiden-Anzug in dem geheimen Schrank untergebracht, weil er wußte, daß ich ihn finden und bei seinem Anblick auf die Idee kommen würde, ihn für meine Flucht zu benutzen. Der Wärter hatte wahrscheinlich genaue Instruktionen, wie er sich verhalten mußte. Vermutlich wußte er nicht, daß er zum Schlachtopfer ausersehen war. Mooc hatte ihm für seine Anweisungen wahrscheinlich eine ganz und gar harmlose Begründung gegeben. Aufgrund dieser In struktionen verhielt sich mein Speisenbrin ger so, als gewönne er überaus schnell Zu trauen zu mir. Dies wiederum würde mich
37 dazu veranlassen, meinen Fluchtversuch schon in allernächster Zukunft zu unterneh men. Darauf kam es Mooc an. Denn Lasko konnte jederzeit seine Meinung ändern und meinen Bericht doch noch verlangen. Es lag alles so offen auf der Hand – und dennoch wäre ich glatt in die Falle gegan gen, wenn ich nicht rechtzeitig gewarnt wor den wäre. Gewarnt von einem Zusatz mei nes Gehirns, der zwar einen Bestandteil mei ner selbst bildete, für dessen Tätigkeit ich je doch nicht verantwortlich war und dessen Leistungen ich daher kaum meinem eigenen Konto gutschreiben konnte. Aber noch während ich zerknirscht über meine Einfalt nachdachte, kam mir eine neue Idee. Sie war ganz einfach. Mooc er wartete, daß ich den Speisenbringer umbrin gen und mich an seiner Stelle in dessen Fahrzeug schwingen werde, um zu fliehen. Wie aber würde er sich vergewissern, daß ich meinen Plan in die Tat umgesetzt hatte, da doch jeder, der aus dem Turm zum Vor schein kam, die metallene Montur der Sper coiden trug und daher selbst ein Arkonide unmöglich von dem treuesten Diener des Tyrannen Sperco zu unterscheiden war? Ganz einfach, überlegte ich. Er würde je mand schicken, um nachzuschauen. Auf diese Überlegung baute ich meinen zweiten Plan. Er schien gut zu sein, denn der Extrasinn widersprach nicht.
7. Bei seinem dritten Besuch war mein Nah rungsbringer ausgesprochen leutselig. Er un terhielt sich lange und ausgiebig mit mir. Den schwarzen Stab trug er zwar noch im mer in der Hand, aber er richtete die gefähr liche Waffe kein einziges Mal auf mich. Ich schickte ihn schließlich fort, weil ich wußte, daß Mooc von mir erwartete, bei der ersten Gelegenheit zu handeln. Wenn die Unterhaltung zu lange dauerte, würde er dar aus schließen, daß ich dieses Mal noch nicht zugeschlagen hatte. Dann wartete ich. Das vertrauliche Ver
38 halten des Spercoiden war so auffällig gewe sen, daß man klar erkennen konnte: Mooc erwartete von mir, daß ich bei dieser Gele genheit handelte. Ich öffnete den Schrank auf der der Tür gegenüber liegenden Seite der Schachtwand. Der metallene Anzug hing griffbereit. Das Anlegen hatte ich inzwischen ausgiebig ge übt. Ich brauchte nicht mehr als zweiund zwanzig Sekunden, um in die schwere Mon tur zu schlüpfen. Und es wurde mir nicht mehr übel, wenn mir der durchdringende Geruch in die Nase stieg, der charakteri stisch für die Körperausdünstung der Sper coiden zu sein schien. Es vergingen nur wenige Minuten, da hör te ich das charakteristische Geräusch, mit dem die Schachttür sich zu öffnen begann. Ich stand so, daß der, der durch die Öffnung kam, mich nicht sofort sehen konnte. Ich lugte um die Rundung des Schachtes und er blickte einen Spercoiden, der vorsichtig durch die Tür trat und seinen Stab waagrecht in schußbereiter Position hielt, während er sich nach allen Seiten umsah. Ich erkannte, daß er die Schachtsäule nach rechts hin um runden wollte und wich nach der anderen Seite aus. Seine Aufmerksamkeit war so ausschließlich vorwärts gerichtet, daß er nicht merkte, wie ich mich von hinten an schlich. Er hatte jetzt den Schacht zur Hälfte umrundet und sich damit einen Überblick über den gesamten Raum verschafft. Er hat te erwartet, entweder mich oder die zwar winzigen, aber dennoch feststellbaren Über reste des Speisenbringers zu finden. Statt dessen fand er überhaupt nichts. Er war ver wirrt. Er blieb stehen – ohne Zweifel, um nachzudenken, was er als nächstes tun solle. In diesem Augenblick griff ich an. Ich packte ihn von der Seite her und wirbelte ihn zu mir herum. Das ließ sich leichter bewerk stelligen, als ich erwartet hatte. Sein rechter Arm ruckte unwillkürlich in die Höhe. Da durch geriet ich aus der Schußlinie der ge fährlichen Waffe. Ich bekam den Arm zu fassen und drehte ihn seitwärts mit der Ab sicht, das Gelenk auszukugeln.
Kurt Mahr Im selben Augenblick zuckte wie ein Blitz die Nachricht des Extrahirns durch meinen Verstand: »Du weißt gar nicht, ob er überhaupt ein Gelenk hat!« Der Sinn der Nachricht war mir erst halb bewußt geworden, da vollführte der Spercoi de eine blitzschnelle Drehung, wie ein Men sch sie in dieser Lage unmöglich zustande gebracht hätte. Plötzlich hatte ich ihn direkt vor mir. Der Arm, den ich für halb ausgeku gelt gehalten hatte, sauste von oben herab. Mir blieb keine andere Wahl, als den Gegner für den Augenblick loszulassen. Ich sprang zur Seite. Der gefährliche schwarze Stab suchte meinen Bewegungen zu folgen. Ich durfte dem Gepanzerten keine Zeit lassen. Ich sprang ihn wiederum an, auch diesmal von der Seite. Er war kein be sonders gewandter Kämpfer. Ich klemmte den Arm zwischen mich und ihn. Die Waffe wurde nach oben geschlagen und zeigte auf den ovalen Helm. In diesem Augenblick drückte der Sper coide ab. Es gab ein häßliches, fauchendes Geräusch. Den Bruchteil einer Sekunde lang war alles ringsum in ein unvorstellbar grel les, schmerzendes Licht getaucht. Ich tau melte, als plötzlich vor mir nichts mehr war, wogegen ich mich hätte stützen können. Ich wäre gestürzt, wenn nicht die metallene Schachtwand mich aufgehalten hätte. Ich war benommen. Mit Mühe raffte ich mich zusammen. Vor meinen Augen tanzten bunte Ringe. Ich spreizte die Beine, um fe sten Halt zu finden, denn die Welt ringsum schien zu schwanken. Mühsam sah ich mich um. Der Spercoide war verschwunden. Der schwarze Stab, vor dem ich mich gefürchtet hatte, lag auf dem Boden. Daneben ein paar kleine, unschein bare Krümel einer grauweißen Substanz, die so aussah wie verbranntes Papier. Mehr war von dem Gepanzerten nicht übriggeblieben. Ich öffnete den Schrank von neuem. Bin nen weniger Sekunden hatte ich den stinken den Metallanzug übergestreift. Ich griff nach dem schwarzen Stab. Zwar wußte ich nicht,
Im Reich des Tyrannen wie man ihn bediente; aber allein der Um stand, daß er an meiner Seite hing, verlieh mir das authentische Aussehen eines Sper coiden. Ich war frei – wenigstens für den Augen blick. Die Schachttür stand noch offen. Ich schwang mich in das künstliche Schwere feld. Dabei drückte ich mich von der Tür schwelle ab, so daß ich mit beträchtlicher Geschwindigkeit den Schacht hinaufschoß. In der Nähe der Schachtmündung bremste ich meinen Flug, indem ich an der Schacht wand entlangscharrte. Dicht unterhalb des Ausstiegs kam ich völlig zum Stillstand. Ich reichte zum offenen Schachtrand hinauf und hievte mich langsam in die Höhe. Was ich zu sehen bekam, ließ mein Herz höher schlagen. Unmittelbar vor mir stand ein Fahrzeug – ganz, wie ich es erwartet hat te. Es war nicht der scheibenförmige Glei tertyp, mit dem man mich hierher gebracht hatte, sondern eher ein eiförmiges Gebilde, kleiner zwar, aber ähnlich dem Beiboot, von dem ich über Loors an Bord genommen worden war. Das Luk stand offen. Ich kletterte hinein. Mit einem Blick überflog ich die Kontrollen, mit deren Hilfe der Pilot das Fahrzeug steu erte. Sie schienen mir einfach. Der Sitz vor dem kleinen Kontrollpult paßte mir wie an gegossen. Er war auf die Maße spercoidi scher Metallpanzer zugeschnitten. In dem selben Augenblick, in dem ich mich setzte, klappte das Schott zu. Durch die kleine Bugscheibe sah ich über den Rand der Plattform hinweg in den In nenhof hinab. Dort war es ruhig. Ich suchte und fand die Öffnung des Tunnels, durch den man mich gebracht hatte. Auf demsel ben Weg würde ich zurückkehren. Ich betätigte einen kleinen Hebel und spürte, wie im Innern des Fahrzeugs das Triebwerk zu rumoren begann. Ein weiterer Druck auf den Hebel, und das eiförmige Ge bilde hob ab. Es schwebte jetzt reglos in der Luft, höchstens einen Meter über der Platt form. Ich musterte die Kontrollen ein weite res Mal. Plötzlich beschlichen mich Zweifel.
39 Zwar war das Fahrzeug einfach genug zu handhaben, aber vor mir lagen Dutzende von Hindernissen, die ich zu überwinden hatte, wenn ich wirklich die Freiheit gewin nen wollte. Drunten, in der Enge der runden Zelle, waren mir all diese Dinge klein und unwesentlich erschienen. Jetzt aber, da sie mir ins Auge blickten, fragte ich mich, ob ich mir nicht zuviel vorgenommen hatte. In diesem Augenblick hörte ich ein Ge räusch. Nein – es war mehr als ein Ge räusch, es war die Stimme eines Spercoiden, die knarrend aus einem Empfänger drang, der irgendwo im Innern des Helmes unterge bracht sein mußte. Zur gleichen Zeit aber, weitaus weniger deutlich, hörte ich die Schmatzlaute der brangelischen Sprache. Ich lauschte und verstand: »Wenn du dich nicht sofort auf den Weg machst, wird Mooc frühzeitig Verdacht schöpfen. Er beobachtet dieses Fahrzeug!« Ich fuhr herum. Das Innere des Gleiters war unbeleuchtet. Ich sah eine massige, ge panzerte Gestalt sich aus dem Halbdunkel schälen. Meine erste Reaktion war, nach dem schwarzen Stab zu greifen, der an mei ner Seite hing. Dann erblickte ich die verzierte Waffe des Fremden. Ich sah die Gruppierung von sech zehn Strichen an der Basis einer Noppe un terhalb der rechten Schulter. Und plötzlich war es mir leicht ums Herz. »Myys!« rief ich. Er trat herbei und nahm auf der Konsole einige Schaltungen vor. Der Gleiter setzte sich in Bewegung, aber nicht in Richtung auf den Tunnel, durch den ich hatte entkom men wollen.
* Myys sagte: »Dein Helm besitzt keinen Translator. Wenn du zu mir sprechen willst, mußt du den Helm abstreifen.« Ich tat, wie er sagte. Dann fragte ich: »Was tust du hier?« »Ich wartete auf dich. Mooc ist gerissen.
40 Er wußte, daß du versuchen würdest, dich zu befreien. Aber ich glaube, er hat deine Schläue falsch eingeschätzt. Er rechnet da mit, daß du den Speisenbringer umbringen würdest. Ich hörte von seinem Plan und machte mir meine eigenen Gedanken. Ich glaubte zu wissen, daß du nicht so primitiv vorgehen würdest, wie Mooc erwartete. Und es scheint, ich habe recht gehabt.« Ich war verwirrt. »Warum bist du hier?« fragte ich. »Was willst du tun?« »Ohne meine Hilfe wärest du verloren«, antwortete Myys. »Im Augenblick ist Mooc verwirrt. Er hat erfahren, daß das Fahrzeug des Speisenbringers an seinen üblichen Standort zurückgekehrt ist. Das bedeutet, daß du den Speisenbringer nicht überwältigt und getötet hast. Jetzt erwartet Mooc den Bericht seines Spähers, der dieses Fahrzeug benützte.« Ich begann zu begreifen. Wir befanden uns auf demselben Weg, den der Späher ge nommen hätte – wenn er noch am Leben wäre. Irgendwo vor uns lag der Punkt, an dem unser Kurs von demjenigen abweichen würde, den Mooc das Fahrzeug zu nehmen erwartete. Von da an bestand Gefahr. Der eiförmige Gleiter bewegte sich mit mittelmäßiger Fahrt auf der Höhe der ge schwungenen Dachkonstruktionen. Ich wuß te noch immer nicht, was ich von Myys' Handlung halten sollte. »Was geschieht mit dir, wenn Moocs Hä scher uns einholen?« wollte ich wissen. »Mooc wird mich fragen, ob meine Hand lungsweise im Sinne des mächtigen Sperco gewesen sei. Ich werde darauf mit Nein ant worten. Damit erkläre ich mich zum Versa ger. Du weißt, was dann geschieht!« »Aber warum … warum tust du das?« fragte ich stotternd. »Wir haben keine Zeit mehr zum Reden«, wies er mich zurecht. »Siehst du die Dach spitze dort vorne?« Ich sah sie. Es war ein wunderliches Ge bilde, ein schlankes Türmchen, das mit deut licher Neigung aus dem Dächergewirr her-
Kurt Mahr vorragte. Es wirkte wie ein Wegweiser. »Dort müßte dieses Fahrzeug landen, wenn es von Moocs Späher gesteuert wür de«, erklärte Myys. Ich hatte ihm inzwischen Platz gemacht. Unmittelbar vor der Dachspitze bremste er das Fahrzeug ab und wandte es seitwärts, als wolle er auf einer kleinen Plattform an der Basis des Türmchens landen. Dann aber riß er den Gleiter herum, ging mit einem Ruck auf Höchstfahrt und hielt auf einen Wirrwarr geschwungener Dachkonstruktionen zu. Es schien dort keine Lücke zu geben. Einen Atemzug lang fürchtete. ich, Myys wolle die Dächer rammen. Dann aber sah ich einen schmalen Spalt, der schräg in die Tiefe zu führen schien. Im Innern des Spalts war es finster. Dort hinein dirigierte der Spercoide das Fahrzeug. Mir hob sich der Magen, als der Gleiter steil in die Tiefe schoß. Es war dunkel ringsum. Ich fragte mich, wie Myys sich zurechtfand. Myys sagte: »Jetzt weiß Mooc, daß sein Plan fehlge schlagen ist. Von jetzt an haben wir seine Häscher hinter uns!«
* Der Spalt schien endlos. Etliche Minuten vergingen, bis Myys schließlich die Fahrt des Gleiters drosselte. Er schien dieses Ge lände ausgezeichnet zu kennen. Mitten in der Finsternis flog er plötzlich ein Manöver, das mir höchst gewagt zu sein schien. Er drehte das Fahrzeug seitwärts und bugsierte es auf einen Landeplatz, dessen Beschaffen heit ich wegen der Dunkelheit nicht erken nen konnte. Mit einem sanften Ruck kam der Gleiter zur Ruhe. Vielleicht, dachte ich, hat es mit der Kenntnis des Geländes nichts zu tun. Wo möglich besaßen die Spercoiden Wahrneh mungsorgane, für die es ein Leichtes war, sich in dieser Finsternis zurechtzufinden. Myys begann zu sprechen. »Von hier an fliehst du alleine«, sagte er. »Etwa einhun dert Schritte weiter ist der Stollen zu Ende.
Im Reich des Tyrannen Er mündet dort in die Außenwand von Sarc coth. Etwa in einer Stunde beginnt die Nacht. In der Nacht sehen die Spercoiden weniger als am Tage. Dadurch hast du es leichter. Du hast die Berge gesehen, die die Ebene im Nordwesten begrenzen?« »Ich habe sie gesehen«, antwortete ich. »Versuche, sie zu erreichen. Sie bieten dir Schutz. Mooc wird eine Zeitlang nach dir suchen lassen – wenn er überhaupt erfährt, daß du entkommen bist. Aber sobald er si cher ist, daß du nicht die Absicht hast, nach Sarccoth zurückzukehren, wird er die Suche abbrechen.« »Und du? Was hast du vor?« drängte es sich mir auf die Lippen. »Ich werde sie ablenken«, erklärte Myys. »In diesem Augenblick wird die gesamte Pe ripherie von Sarccoth überwacht. Wenn du dich ohne Vorbereitung sehen ließest, wärest du in wenigen Augenblicken verloren.« »Was soll ich in den Bergen anfangen?« wollte ich wissen. »Ich muß zurück nach Loors. Wie soll ich das tun, ohne vorher nach Sarccoth zurückzukehren? Ich muß Mooc oder Lasko dazu zwingen, daß sie mich nach Loors zurückbringen!« »Ich weiß nicht, wie dir das gelingen wird«, antwortete Myys. »Ich war nie in den Bergen. Aber es scheint mir, daß es dort eine geheimnisvolle Macht gibt, die dir weiter helfen kann. Die Berge sind die Hoffnung. Die Berge sind die Freiheit. Wende dich zu den Bergen, und es wird dir gelingen, was du erstrebst.« Selbst in den primitiven Lauten der Bran gel-Sprache, erzeugt von einem elektroni schen Translator, erkannte ich die Feierlich keit, mit der Myys sprach. Ein uralter Psalm der Christen kam mir plötzlich in den Sinn: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Rettung kommt … »Was wird aus dir?« wiederholte ich mei ne vorige Frage. »Ich vergehe«, antwortete er düster. »Ich werde die Verfolger von dir ablenken, solan ge es geht. Aber schließlich werden sie mich fassen. Ich bin ein Versager. Ich bin nicht
41 wie andere Wesen meines Volkes. Ich ver stehe sie nicht, und wenn sie wüßten, wie ich bin, würden sie mich nicht verstehen. Ir gendwo in meiner Vergangenheit ist ein Er eignis eingetreten, das mich von anderen Spercoiden verschieden gemacht hat. Mein Platz ist nicht hier. Ich gehe gern.« Ich wollte protestieren. Aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. Er setzte mir ausein ander, wie wichtig es war, daß ich mich so fort auf den Weg machte. Wenn die Nacht hereinbrach, mußte ich mich an einer günsti gen Ausgangsposition befinden. Vom Rande der Festung Sarccoth bis zu den Bergen be trug die Entfernung Hunderte von Kilome tern. Der größte Teil davon war die ebene, deckungsfreie Fläche des riesigen Raumha fens, der Sarccoth als mächtiger Kreis um gab. Es mochte eine Woche dauern, bis ich die Berge erreichte, und wenn ich in der Zwischenzeit nicht geschnappt werden woll te, brauchte ich eine Menge Glück. Ich ging schließlich. Auf meine Worte des Abschieds antwortete Myys nicht Die Spra che der Brangeln war arm, wenn es zu Be zeigungen des Dankes kam. Ich war nicht einmal sicher, ob Myys überhaupt verstand, was ich meinte. Denn auch das spercoidi sche Idiom schien nicht etwa an einem Überfluß von Dankesformeln zu leiden. Durch das offene Luk stieg ich in die Fin sternis. Den Helm hatte ich vorläufig noch offen. Ich würde ihn schließen, wenn ich an die Mündung des Stollens kam. Ich fand mich durch Tasten zurecht und stellte dabei fest, daß der Stollen, der sonst eine Breite von rund sechs Metern hatte, hier eine Art nischenförmige Ausbuchtung besaß, in der Myys mit dem Gleiter gelandet war. Ich fragte mich, wie er die Stelle so mühelos hatte finden können, da aus seinen Worten doch hervorging, daß die Spercoiden nicht etwa nachtsichtig waren, wie ich zuerst an genommen hatte. Der Boden des Stollens war hier nur noch mäßig abschüssig. Ich kam gut voran. Es war zunächst still ringsum. Später hörte ich Geräusche, die von draußen hereindrangen.
42 Ich näherte mich der Stollenmündung. Bald sah ich einen matten Lichtfleck weit vorab. Er verlor an Glanz, je näher ich ihm kam: Draußen war das Tageslicht am Erlöschen. Als ich schließlich unter dem Mund des Stollens ankam, sah ich den weiten Raumha fen vor mir liegen. Kleine Fahrzeuge des bo dennahen Verkehrs waren überall unter wegs. An riesig hohen Masten flammten die ersten Sonnenlampen auf. Die Masten stan den jeweils mehrere Kilometer voneinander entfernt. Dazwischen gab es Zonen unter schiedlicher Helligkeit. Ich würde mich dort bewegen müssen, wo es am dunkelsten war. Von meinem Standort aus sah ich insge samt fünf spercoidische Raumschiffe. Sie waren von unterschiedlicher Größe. Zwei von ihnen warfen vor dem Licht der Son nenlampen kräftige Schlagschatten, die ich für meine Flucht zu nutzen gedachte. Die Wand des Forts hatte zu meiner Rechten ei ne Gruppe von Vorbauten, die aus tristem, fensterlosem Gußmauerwerk ausgeführt wa ren. Ich schlich mich dorthin und verbarg mich in einer Nische zwischen zwei parallel verlaufenden Wänden. Wieviel von dem Verkehr dort draußen, fragte ich mich, mochte auf Moocs Befehl unterwegs sein? Wieviele von den Spercoi den, die sich an Bord der zahllosen, hin- und herhuschenden Gleiter befanden, hielten nach mir Ausschau? Ich würde es erfahren, sagte ich mir in einem Anflug von Galgen humor, sobald ich mich auf die freie Fläche hinauswagte. Den Helm hatte ich in der Zwischenzeit wieder geschlossen. Aber die Aussicht, als Spercoide unerkannt die riesige Landefläche überqueren zu können, war nicht so groß, wie ich ursprünglich gedacht hatte. Soweit das schwindende Tageslicht und der Glanz der Sonnenlampen reichten, sah ich keinen einzigen Fußgänger. Ich würde sofort auffal len, sobald ich mich in Bewegung setzte. Und Mooc wußte, daß ich eine Tarnung be saß. Er selbst hatte sie mir ja bereit gestellt. So machte ich mir meine meist nicht eben heiteren Gedanken über den Fortgang mei-
Kurt Mahr ner Flucht, als ich seitwärts ein Geräusch hörte. Es kam aus der Mündung des Stollens und hatte den charakteristisch hellen, sum menden Klang eines Gleitertriebwerks. Se kunden später schoß ein eiförmiges Fahr zeug aus dem Stollenmund, strich etwa einen halben Kilometer weit dicht über den Boden dahin und stieg sodann in steilem Winkel in die Höhe. Das mußte Myys sein! Mir stockte der Atem, als ich sah, wie der Verkehr auf der weiten Fläche des Raumha fens auf das Erscheinen des eiförmigen Glei ters reagierte. Jetzt erst wurde mir klar, daß Mooc in der Tat alles aufgeboten hatte, um meiner wieder habhaft zu werden. Von den Fahrzeugen, die bisher scheinbar geschäftig über das ebene Feld gehuscht waren, änder ten mehr als neunzig Prozent ihre Flugrich tung in eben dem Augenblick, in dem Myys' Gleiter auftauchte. Sie formierten sich blitz schnell. Es bildeten sich insgesamt vier Ab teilungen, die zunächst nach verschiedenen Richtungen davonstrebten, dann jedoch auf Steigflug gingen und offenbar nichts anderes im Sinn hatten, als den Gleiter, den Myys steuerte, von allen Seiten her in die Zange zu nehmen. Myys' Fahrzeug war inzwischen meinem Blickfeld entschwunden: die einsetzende Dunkelheit hatte es verschluckt. Aus dem Vorgehen der vier feindlichen Fahrzeugab teilungen war jedoch klar erkenntlich, wohin Myys sich gewandt hatte. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen die wild aufheulen den Triebwerke der hoch beschleunigenden Gleiter die kühler werdende Luft erfüllten. Dann blitzte im Dunkel der einsetzenden Nacht, hoch über den schlanken Türmen der Sonnenlampen der erste Schuß auf. Die Meute hatte das Opfer gestellt. Der Schuß blieb nicht allein. Allerorten blitzte es jetzt am dunklen Himmel auf. Ich konnte nicht erkennen, ob Myys sich überhaupt wehrte. Eine oder zwei Minuten lang ging das so. Das Fauchen der energetischen Entladungen war deutlich zu hören. Mitunter verstärkte es sich zum Sturmgetose und verschlang jedes andere Geräusch ringsum.
Im Reich des Tyrannen Und dann kam der Augenblick, den ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. In der Dunkelheit entstand eine klei ne Sonne – ein winziger, blauweißer Glut ball, der sich blitzschnell aufblähte und ein paar Sekunden lang alle Sonnenlampen des Raumhafens mühelos überstrahlte, so daß es hier unten taghell wurde. Als der Glutball in sich zusammensank, sah ich den Regen heller Funken, den er ver sprühte. Es bedurfte nicht des Umstands, daß plötzlich von Seiten der Verfolger keine Schüsse mehr fielen. Ich wußte auch so, was die Stunde geschlagen hatte. Myys war nicht mehr. Er hatte sich geop fert – für mich und für ein anderes Ziel, über das er zu mir nicht hatte sprechen können. Ich gestehe, daß sich mir in diesem Augen blick die Tränen in die Augen drängten. Ich sah, wie die Häscher zurückkehrten, Dutzen de von Fahrzeugen, die alsbald in verschie dene Tunnels des Riesengebäudes einflogen, um zu ihren Standorten zurückzukehren und Bericht zu erstatten. Draußen, auf dem weiten Feld des Raum hafens, wurde es ruhig. Unterwegs war nur noch eine Handvoll Gleiter, die Versor gungsgüter zu den gelandeten Raumschiffen brachten. Für mich nahte die Zeit des Aufbruchs. Ich wußte nicht, wie lange die Nacht von Karoque dauerte. Bis der Morgen graute, mußte ich aber etliche Kilometer zurückge legt haben. Trotz der Schwere des Anzugs, mit dem ich mich behängt hatte, glaubte ich, in der Stunde etwa sechs Kilometer zurück legen zu können. Damit kam ich recht gut vorwärts, vierzig bis fünfzig Kilometer in der Nacht, wenn Karoque nicht etwa ein be sonders schneller Eigendreher war. Das bedeutete, daß ich mehrere Tage – oder vielmehr Nächte – unterwegs sein wür de, bis ich natürliches Gelände erreichte. Damit entstand ein Problem, dem ich bis lang keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Die Ebene des Raumhafens war ganz und gar unfruchtbar. Sie bot weder Speise noch Trank. Wie sollte ich überleben?
43 Ich kroch aus meiner Deckung hervor und begann zu marschieren. Es war nicht gut, sich jetzt zuviele Gedanken zu machen. Ich mußte einfach auf mein Glück vertrauen. Es hatte mich in fast zwölftausend Jahren nur selten im Stich gelassen. Jetzt, da ich es nö tiger brauchte als je zuvor, würde es an mei ner Seite sein. Während ich ausschritt und mich jeweils dorthin wandte, wo es am dunkelsten war, dachte ich an Myys und die seltsamen Wor te, die er gesprochen hatte. Über dem Volk der Spercoiden hing ein düsteres Geheimnis. Myys hatte die Berge als den Hort der Hoff nung bezeichnet. Ob ich dort das Geheimnis der Spercoiden würde ergründen können?
8. Ich kam gut vorwärts. Niemand schenkte mir Beachtung. Ich glaubte zu verstehen, was Myys gemeint hatte, als er sagte: Mooc wird eine Zeitlang nach dir suchen lassen – wenn er überhaupt erfährt, daß du entkom men bist. Die Häscher hatten den eiförmigen Gleiter vernichtet. Woher hätten sie wissen sollen, daß ich mich nicht an Bord befand? Als der Morgen graute, gelangte ich in die Nähe einiger würfelförmiger Bauten, die un versehens aus der eintönigen Weite des Lan defelds aufragten. Sie waren etwa zehn Me ter hoch und bildeten eine Gruppe mit wink ligen Gängen zwischen den einzelnen Ge bäuden. Während ich dahinmarschierte, be obachtete ich die Würfel aufmerksam. Es schien dort keinerlei Aktivität zu geben. Überdies waren die Bauten fensterlos. Ich faßte den Entschluß, in einem der winkligen Gänge den Tag zu verbringen. Ich verkroch mich in eine Ecke, die von außen unmöglich eingesehen werden konn te. So gut es ging, machte ich es mir be quem. Der Marsch war anstrengend gewe sen. Als draußen die ersten Strahlen der grellen Sonne auf die Landefläche fielen, schlief ich ein. Als ich erwachte, war der Tag zu zwei Dritteln verstrichen – nach dem Stand der
44 Sonne zu schließen. Aufgrund der Anzeige meiner Uhr stellte ich ein paar Berechnun gen an, zog die Beobachtungen der vergan genen Nacht hinzu und kam zu dem Schluß, daß Karoque sich in etwa achtzehn Stunden einmal um die eigene Achse drehte. Dann kroch ich aus meinem Versteck. Ich war hungrig und durstig. Als ich über die schier endlose Weite des Raumhafens hin ausblickte, kam mir die Aussichtslosigkeit meines Vorhabens zum ersten Mal so richtig deutlich zu Bewußtsein. Ich war eine ganze Nacht lang marschiert, so schnell ich konnte. Ich hatte sicherlich fünfzig Kilometer zu rückgelegt. Und dennoch sah ich die Umris se des Forts Sarccoth noch immer als grauen Strich am Horizont. Und dennoch waren die Konturen der Berge im Nordwesten noch immer nicht deutlicher geworden. Es sah so aus, als sei ich meinem Ziel um keinen Schritt näher gekommen. Vor meinem Blick erstreckte sich das weite Landefeld bis in unendliche Weiten: kahl, unfruchtbar, uner bittlich. Ich würde verhungern, lange bevor ich den Rand des Raumhafens erreichte. In den kommenden Nächten würde ich weniger rasch marschieren können, weil mir allmäh lich die Kräfte ausgingen. Vielleicht schaffte ich noch hundert oder gar hundertundfünfzig Kilometer. Dann aber war es aus – und ich war noch nicht einmal in der Nähe des Randes. Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich lag in der Deckung eines der würfelför migen Gebäude und starrte hinaus auf die kahle Fläche des Landefelds. Es war kein Funke von Selbstvertrauen mehr in mir. Ich war bereit zum Aufgeben. Es spielte keine Rolle mehr, ob die Spercoiden mich fanden oder ob ich einfach hier liegenblieb: der Tod war mir in jedem Fall sicher. Manchmal, so scheint es, wartet das Schicksal bis zum allerletzten Augenblick, bevor es dem Verzweifelten einen Wink gibt. So jedenfalls erging es mir in dieser Stunde der Hilflosigkeit. Ich hatte mich eben damit abzufinden begonnen, daß die Karrie re des Kristallprinzen von Arkon hier auf
Kurt Mahr Karoque ein Ende finden würde – auf einer wildfremden Welt in einem fremden Univer sum –, da hörte ich plötzlich hinter mir ein rumpelndes Geräusch. Ich fuhr herum. Fassungslos vor Staunen gewahrte ich, daß einer der Würfel sich ge öffnet hatte : die gesamte Vorderwand war verschwunden. Durch die Öffnung schob sich langsam ein primitives Gefährt, ein rechteckiger Kasten, der oben offen zu sein schien. Der Kasten bewegte sich auf einem summenden Prallfeld. Er glitt auf das Lan defeld hinaus und begann zu beschleunigen. Er gewann überaus rasch an Fahrt und be wegte sich dabei auf schnurgerader Linie nach Nordwesten. Ich folgte ihm mit den Augen, bis er am Horizont verschwunden war. Dann erst begriff ich, daß eine barmherzi ge Macht mir soeben gezeigt hatte, wie ich dem sicheren Tod entkommen konnte.
* Der Würfel schloß sich wieder. Das, was ich für eine fensterlose Wand gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine nicht sonderlich dicke Metallplatte, die in den Boden ver sank, wenn die Öffnung gebraucht wurde. Bevor die Platte in ihre ursprüngliche Positi on zurückkehrte, sah ich noch, daß der Wür fel die Mündung eines Schachtes verdeckte, der senkrecht in die Tiefe führte und gänz lich unbeleuchtet war. Ich versuchte, mir einen Reim auf meine ungewöhnlichen Beobachtungen zu machen. Was das kastenförmige Fahrzeug enthalten hatte, war mir verborgen geblieben. Der ka stenförmige Aufbau war rund anderthalb Meter hoch und hatte die Ladung des Ka stens vor meinem Blick abgeschirmt. Ich konnte mir vorstellen, daß dieser riesi ge Raumhafen Versorgungs-, Instandhal tungs- und sonstige Anlagen besaß, die wo möglich nicht in der Festung Sarccoth, wie ich bisher angenommen hatte, sondern sub planetarisch untergebracht waren. Diese An lagen mußten einerseits mit Material ver
Im Reich des Tyrannen sorgt werden, andererseits produzierten sie Abfall. Der Kasten, den ich gesehen hatte, diente entweder der einen oder der anderen Funktion. Welcher, das war für meine Zwecke im Grunde genommen unwichtig. Für mich zählte allein, daß der Kasten die selbe Richtung eingeschlagen hatte, in die auch mein Weg führte. Es schien mir nicht schwierig, das eigenartige Fahrzeug zu be steigen, wenn es langsam und schwerfällig aus der Öffnung hervorkam. Der Kasten bot mir erstens Sichtschutz, und zweitens be wegte er sich, wenn er erst einmal Fahrt auf genommen hatte, mit einer Geschwindigkeit, die der eines Fußgängers wenigstens um das Zwanzigfache überlegen war. Ich wartete also. Ich wußte nicht, wie häufig die kastenförmigen Fahrzeuge ihre Fahrten unternahmen. Die Aussicht, daß es womöglich nur einen solchen Kasten gab und ich würde warten müssen, bis er zurück kehrte und irgendwann später einmal eine weitere Fahrt machte, war nicht eben beruhi gend. Ich tröstete mich mit der ein wenig kindlichen Überlegung, daß das Schicksal jetzt, nachdem es mir diesen Wink gegeben hatte, mich nicht mehr im Stich lassen wer de. Und ich behielt recht. Die kleine, grelle Sonne strebte dem westlichen Horizont zu, da hörte ich das Rumpeln von neuem. Dies mal kam es von einem anderen Würfel. Ich eilte dorthin und kam gerade noch rechtzei tig, um zu sehen, wie die metallene Vorder wand im Boden verschwand. Aus dem Dun kel im Innern des kleinen Gebäudes schob sich ein kastenförmiges Fahrzeug. Den oberen Rand des Kastens bekam ich mühelos zu fassen. Ich zog mich hinauf und warf einen Blick ins Innere des Aufbaus. Was ich zu sehen bekam, war nicht sonder lich appetitlich. Der Kasten enthielt eine La dung Müll, die zum Teil aus organischer Materie bestand. Vieles davon war bereits in Gärung oder Verwesung übergegangen. Aber was kümmerte mich das? Ich wäre, um nur der kalten, erbarmungslosen Öde des Raumhafens zu entkommen, auf einer La
45 dung Kot geritten! Ich schwang mich über den Rand des Ka stens und ließ mich einfach fallen. Ich lande te in einer breiigen Masse, die sicherlich recht übel roch. Da ich jedoch den Helm ge schlossen hatte, nahm ich den Geruch nicht war. Ich machte es mir so bequem, wie es ging. Dankbar empfand ich, wie der Kasten beschleunigte. Ich blickte in die Höhe und sah die ersten Sterne am dunkler werdenden Himmel erscheinen. Ich fragte mich, ob ei ner davon die Sonne war, die auf Loors schi en. Ich dachte an Razamon, an Kolphyr – und an Thalia, und der Entschluß wurde in mir wach, auf dem schnellsten Wege wieder nach Pthor zurückzukehren.
* So schnell allerdings, schien es, würde sich dieser Entschluß nicht ausführen lassen. Ich hatte keine Ahnung, wohin das kasten förmige Gefährt unterwegs war. Ich hatte mich ihm ausgeliefert: bei dieser Geschwin digkeit abzuspringen, wäre Selbstmord ge wesen. Es mochte sein, daß am Ende dieser Reise Gefahren auf mich warteten, die erst überwunden sein wollten, bevor ich weitere Pläne machte. Es war inzwischen Nacht geworden. Der Kasten war seit einer Stunde unterwegs. Ich stand auf und spähte über den Rand hinweg. Der Raumhafen lag hinter mir. Am südöstli chen Horizont sah ich den Widerschein der großen Sonnenlampen. Über mir blinkten die Sterne eines fernen Universums. Voraus glaubte ich, die Umrisse niedriger Bergzüge zu erkennen. Ich öffnete vorsichtig den Helm. Aus dem Innern des Kastens stank es mörderisch. Ich beugte mich über den Rand des Gefährts. Der Fahrtwind trug mir die Gerüche einer fremden Vegetation entgegen. Die Nacht war warm und feucht. Als die Hügel näherkamen, sah ich die Silhouetten von Bäumen, die auf ihren Kämmen wuch sen. Dann begann mein seltsames Gefährt zu bremsen. Wir näherten uns dem Ziel. Der
46 Kasten bewegte sich zwischen zwei flachen Bergzügen durch ein schmales Tal. Voraus glaubte ich ein dumpfes Rumoren zu hören, das immer deutlicher wurde, je weiter der Kasten vordrang. Die beiden Höhenzüge rückten immer nä her aneinander, bis zwischen ihnen nur noch ein Spalt von etwa fünf Metern Breite blieb. Der Kasten bewegte sich jetzt mit einer Ge schwindigkeit von etwa zwanzig Kilometern pro Stunde. Ich überlegte, ob ich den Ab sprung wagen sollte. Das Rumoren war jetzt laut und deutlich, als befände sich der Ort, von dem das Geräusch ausging, in unmittel barer Nähe. Ich schwang mich auf den Rand des Fahrzeugs hinauf. In diesem Augenblick geschah das gänz lich Unerwartete. Der Kasten kippte plötz lich um. Ich verlor den Halt und wurde hin ausgeschleudert. Die Ladung des Fahrzeugs kam hinter mir hergeschossen. Ich landete mit voller Wucht auf einer harten und gleichzeitig federnden Unterlage. Ich er kannte die Gefahr, in der ich mich befand, und wollte aufspringen. Aber der Aufprall hatte mich benommen gemacht. Ich war nicht schnell genug. Die stinkende Fracht des Kastens begrub mich unter sich. Ein paar Augenblicke lang war ich vor lauter Überraschung so hilflos, daß ich mich nicht rühren konnte. Dann spürte ich, daß meine Unterlage sich bewegte. Ich befand mich auf einem Gleitband, und das Rumoren kam immer näher! Es bedurfte keiner son derlich regen Phantasie, um zu erkennen, was da auf mich zukam. Der Kasten war ein Mülltransporter. Er hatte mich mitsamt sei ner übrigen Ladung an dieser abgelegenen Stelle abgeladen. Das Rumoren kam von ei ner Müllverarbeitungsanlage, die mit Hilfe des Gleitbandes gefüttert wurde, auf dem ich lag! Die Vorstellung, daß ich in wenigen Se kunden im Rachen eines Müllwolfs ver schwinden würde, gab mir augenblicklich meine Beweglichkeit zurück. Ich versuchte, mich in die Höhe zu stemmen. Aber auf mir lastete zentnerschwer der Unrat, den der Ka-
Kurt Mahr sten entleert hatte. Ich begann zu wühlen. Ich versuchte, mir einen Tunnel durch den Müll zu graben. Ich kam einen halben Meter weit, dann stürzte mein Tunnel ein. Panik ergriff mich. Es war mir klar, daß ich mich in tödlicher Gefahr befand. Ich versuchte, mich hin- und herzuwälzen. Ich stemmte mich auf den Ellbogen und auf den Knien in die Höhe. Die Angst verlieh mir Riesenkräf te. Und plötzlich, als ich fast schon nicht mehr damit rechnete, gab über mir etwas nach. Die zähe, klebrige Masse geriet plötz lich in Bewegung. Ich strampelte, ich schob, ich wühlte – und plötzlich spürte ich frische Luft, die mir ins Gesicht drang. Ich sah gleichzeitig eine ganze Wand von Feuer, die sich unmittelbar vor mir erhob und eine teuflische Hitze ausstrahlte. Ein letzter Ruck, und ich war endgültig frei. Auf Händen und Knien schnellte ich mich bis zum Rand des Transportbands. Für einen ordentlichen Sprung hatte ich keine Kraft mehr. Ich rollte mich einfach ab und landete unsanft auf einem harten Stück Erd boden. Eine Zeitlang blieb ich einfach liegen und sammelte Kräfte. Der Lichtschein, der von dem Müllverarbeiter ausging, tauchte die Umgebung in ein unwirkliches, gelblichro tes Licht. Über mir, etwa einen Meter weit entfernt, sah ich den Rand des Transport bands sich bewegen. Das laute Rumoren kam aus dem Innern der Anlage, die den Abfall bei Temperaturen von wahrscheinlich einigen tausend Grad zu anorganischem Schmelzgut verarbeitete. Von dem Kasten, der mich hierherge bracht hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Wahrscheinlich befand er sich längst auf dem Rückweg zum Raumhafen. Das Band über mir kam schließlich zur Ruhe. Der Müll war verarbeitet. Das gelbli che Dämmerlicht erlosch, als sich das gefrä ßige Maul der Anlage schloß. Das Rumoren erstarb. Ich raffte mich auf. Als ich zur Linken den Berghang emporklettern wollte, hinderte mich das Gewicht der metallenen Montur.
Im Reich des Tyrannen Ich streifte sie ab und ließ sie achtlos zu Bo den fallen. Ein paar Sekunden überlegte ich, ob ich nicht wenigstens den schwarzen Stab mitnehmen sollte – die einzige Waffe, die es in weitem Umkreis gab. Ich entschied mich schließlich dagegen. Den Grund für diese Entscheidung könnte ich auch heute noch nicht nennen. Wahrscheinlich wollte ich ein fach nichts mehr an mir haben, was mit den Spercoiden zu tun hatte. Die Kletterei bis zur Kuppe des Hügels war anstrengend. Als ich oben ankam, war ich so müde, daß ich haltlos auf ein Stück Moospolster fiel und sofort einschlief.
* Ich erwachte, weil mir die Sonne ins Ge sicht schien. Ich fühlte mich gekräftigt und gleichzeitig hungrig wie ein Wolf. Ich sah mich um. Ich lag auf einer kleinen Lichtung. Ringsum standen fremdartige Bäume. Einer davon trug appetitlich aussehende, blaurote Früchte, die etwa die Größe einer Männer faust hatten. Ich brach eine davon und beroch sie. Der Duft, der von ihr ausging, erinnerte gleichzeitig an Apfel und Quitte. Ich biß in die Frucht. Ihr Fleisch war fest, süß und saftig. Ich vergaß alle Vorsicht und aß … und aß, bis der Baum nahezu leer war. Es war mir klar, daß mein Heißhunger den Erfolg aller bisherigen Mühen in Frage stell te. Die Früchte mochten giftig sein; es war nicht ausgeschlossen, daß ich in einer halben Stunde tot umfiel. Aber was für einen Unter schied hätte es gemacht? Entweder ich be kam zu essen, oder ich war sowieso verlo ren. Ich sah mich um. Jenseits des Hügelkam mes ging es in ein flaches, grasbewachsenes Tal hinab. Im Hintergrund des Tales begann der Boden anzusteigen, und weiter im Nord westen wuchs ein Berg in die Höhe, dessen Gipfel gewiß bis zu zweitausend Metern weit aufragte. Die Szenerie war hübsch. Ich begann, Karoque einige von den unschönen Gedanken abzubitten, die ich empfunden hatte, als ich aus Moocs Raumschiff stieg.
47 Das also waren die Berge, von denen Myys geträumt hatte. Ich würde sie kennen lernen. Mein Weg führte dort hinauf. Die Bergwelt bot mir Sicherheit vor den Verfol gern, die ich nach wie vor auf meinen Fer sen wähnte. Außerdem klangen Myys' ge heimnisvolle Äußerungen noch in meinem Gedächtnis. Ich hatte das Gefühl, ich schul dete ihm eine Suche nach der geheimnisvol len Macht, von der er sich soviel verspro chen hatte. Ich machte mich auf den Weg. Von der Talsohle aus forschte ich nach einem geeig neten Aufstieg in die Bergwand. Die Wand war dicht bewaldet. Ich fand eine Linie, die sich wild gezackt durch den dichten Be wuchs zog. Als ich näher kam, erkannte ich, daß es sich um ein ausgetrocknetes Bachbett handelte, womöglich um eine Rinne, die das Schmelzwasser im Winter gerissen hatte. Das Bett führte ziemlich steil bergauf, aber von allen Wegen, die sich mir anboten, war es bei weitem der gangbarste. Die Kletterei war mühselig. Ich hielt mich, so gut es ging, im Schatten der Bäume am Rand des Bachbetts. Denn die kleine, weiß gelbe Sonne brannte mit unbarmherzi ger Kraft, und die weißen Felsen und Steine, die den Boden des Bettes ausmachten, re flektierten das Licht und die Hitze fast unge brochen. Gegen Mittag kam ich an die Stelle, an der die Rinne begann. Der Baumwuchs war hier schon ziemlich licht. Ich näherte mich der Region, in der die Pflanzen nicht mehr genug Nahrung fanden. Der Gipfel des Ber ges lag noch etwa siebenhundert Meter über mir. Auf ihn hatte ich es nicht abgesehen, sondern vielmehr auf einen tief eingeschnit tenen Sattel, der zur rechten Hand lag und in rund vierzehnhundert Metern Höhe eine Art Paß zwischen diesem und dem nördlich be nachbarten Gipfel bildete. Ich rastete eine Weile. Der Sattel zog mei ne Aufmerksamkeit an wie ein Magnet. Ich versuchte, mir auszumalen, was für eine Aussicht ich von dort oben haben werde. Ich befand mich am Rand des Gebirges. Vom
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Paß aus drang der Blick wahrscheinlich weit in die Tiefe des Berglands. Plötzlich hatte ich das eigenartige Gefühl, als werde ich aus der Höhe beobachtet. Ich zog mich ein paar Meter weiter in das Dickicht zurück und beobachtete den Sattel. Ich sah nichts, nicht einmal ein Tier. Und dennoch war ich nahezu sicher, daß sich dort oben etwas verbarg, das mich nicht aus den Augen ließ. Merkwürdigerweise hatte ich nicht das Gefühl, es drohe mir Gefahr. Was immer es sein mochte, das von dort oben zu mir her abschaute – es schien mir freundlich gesinnt zu sein. Ich begann zu glauben, daß Myys, als er von den Wundern der Berge sprach, recht gehabt haben mochte.
EPILOG Der Kommandeur Mooc war, soweit ein Spercoide sich derartige Gefühlsregungen erlauben durfte, zufrieden. Sein Bericht hatte den Kommandanten Lasko überzeugt. Lasko hatte bereitwillig zur Kenntnis genommen, daß es Mooc ge lungen war, die Barbaren, die das Leucht feuer auf Loors zerstört und das Raumschiff TREUE vernichtet hatten, empfindlich zu bestrafen. Dadurch war Lasko der Notwen digkeit enthoben, dem Tyrannen Meldung zu erstatten, und einen Teil der Erleichte rung, die er darob empfand, münzte er in Lob für Moocs unerschrockene und umsich tige Handlungsweise um. Zwar war die Beseitigung des gefangenen Barbaren nicht ganz so vonstatten gegangen, wie Mooc es sich vorgestellt hatte. Aber im-
merhin hatte der Barbar mittlerweile den Tod gefunden, und die Gefahr, daß Lasko auf irgendeine Art und Weise die Wahrheit über die Vorgänge auf Loors erfuhr, bestand nicht mehr. Rätselhaft für Mooc war, welche Rolle sein Cheftechniker Myys bei der Sache ge spielt hatte. Fast sah es so aus, als sei er dem Barbaren bei der Flucht behilflich gewesen. Das war natürlich undenkbar. Kein Spercoi de würde etwas derart Unsinniges tun. Aber Myys konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Er war mit dem Fremden zusammen umgekommen. Im Grunde gab es nur eines, worüber Mooc gelindes Unbehagen empfand. Lasko hatte die Absicht geäußert, demnächst ein Kommando nach Loors zu senden, um das Leuchtfeuer wiederzuerrichten. Für den Fall, daß er den Befehl über dieses Unternehmen nicht Mooc erteilte, bestand die Gefahr, daß Lasko zu guter Letzt doch noch erfuhr, wie die Dinge auf Loors wirklich standen. Aber auch darüber machte sich Mooc nicht allzu viele Gedanken. Wenn es an der Zeit war, würde er sich mit dem Befehlsha ber des Unternehmens ins Benehmen setzen und ihm klar machen, daß niemand daran gelegen sein konnte, Lasko dadurch Unan nehmlichkeiten zu bereiten, daß man ihm zu erkennen gab, er habe sich durch einen sei ner Untergebenen täuschen lassen. Lasko wäre sich sonst wie ein Versager vorgekom men, und die Folgen, die ein Spercoide für Versagen auf sich zu nehmen hatte, kannte man ja zur Genüge.
ENDE
Tal der Tausend Blüten von Clark Darlton Als Gefangener der Spercoiden ist Atlan zum Stützpunkt Sarccoth gelangt. Mit viel Glück bewerkstelligt er die Flucht aus dem Stützpunktkomplex. Sein weiterer Weg führt in die Wildnis des Planeten Karoque und in das TAL DER TAU SEND BLÜTEN …