Nr. 132
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Nr. 132
Die Burg des Tyrannen Aus Jägern werden Gejagte -Kristallprinz Atlan auf der »Straße der tausend Krater« von Hans Kneifel
Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die dem 9. Jahrtausend v.Chr. entspricht – eine Zeit also, da die in die Barbarei zurückgefallenen Erdbewohner nichts mehr von den Sternen oder dem großen Erbe des untergegangenen Lemuria wissen. Arkon hingegen – obzwar im Krieg gegen die Maahks befindlich – steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III, ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII töten ließ, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können. Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Mann hat der Imperator von Arkon zu fürchten: Allan, Sohn Gonozals, den rechtmäßigen Thronerben und Kristallprinzen des Reiches, der inzwischen zum Mann herangereift ist. Nach der Aktivierung seines Extrahirns hat Atlan den Kampf gegen die Macht Orbanaschols aufgenommen und strebt den Sturz des Usurpators an. Doch Atlans Möglichkeiten und Mittel sind noch begrenzt. Er muß sich vorerst mit einer Art Guerillatätigkeit zufriedengeben – dies zeigt auch sein Einsatz auf der Freihandelswelt Jacinther IV. Hier geht es Atlan und seinen Gefährten darum, das politische Intrigenspiel der Gouverneure des Planeten für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Eine Chance dazu bietet DIE BURG DES TYRANNEN …
Die Burg des Tyrannen
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Fartuloon - Der Kristallprinz und sein väterlicher Freund geben sich als Spione des Imperiums aus. Banff und Vergord - Mitglieder der Nocto-Nos von Sebentool. Djulf Sorpschan und Kaddoko - Zwei Gouverneure mit Ambitionen. Fertomash Agmon - Ein Toter wird präpariert!
1. Knapp einen Meter von ihrem Tisch entfernt brannte das Feuer im Kamin. Die hellen Flammen leuchteten die Gesichter halbseitig aus; die rechte Hälfte des Kleinen Handelsmannes und die linke Hälfte des hochmütigen, abweisenden Kopfes von Banff, dem ungekrönten Herrn dieses Großkraters. Vor beiden Männern standen Becher aus edlem Stahl, versehen mit einem zierlich ausgefrästen Mäander und mit den Initialen des Wirtes. Die Kaschemme war angefüllt mit dem Rauch aus vielen Pfeifen, von den Gerüchen nach ungewaschenen Körpern, dem Duft verschiedener scharfer Getränke; es roch nach Leder, nassem Pelz, nach Stoffen und den nassen Bodendielen. Von Draußen, durch die unregelmäßig gezackten Öffnungen der Fenster und Balkone, drang der Nebel herein. Er roch nach Erde, nach Schwefel, und diese Gerüche bereicherten noch den Dunst, der unter der niedrigen Decke hin und her waberte. Der Kleine Handelsmann beugte sich vor. »Herr!« sagte er und umklammerte den Stahlbecher. Verlegen schob er ihn auf dem hochpolierten Holz der Tischplatte hin und her. »Herr!« wiederholte er. »Es waren – es sind – ihrer zwei. Ein kleiner Mann, dick, mit einem Schwert an der Seite. Und ein junger Mann. Er trat sehr herrisch auf. Von ihm, dies sagte ich dir, geht eine mächtige Strahlung aus.« Banff musterte den Handelsmann wie eine Kreatur, die eben einem der Sümpfe rund um die Krater entstiegen war. »Unsinn!« sagte er scharf. »Berichte!« »Sie kamen mit einem Gleiter. Die Maschine trägt das Zeichen einer Händlerfami-
lie aus Kortasch-Auromt. Den gehörnten Drachen. Es ist der Clan der Glenlivet. Sie suchten Kontakt mit mir; das war deutlich, Herr. Sie sagten, sie wären Händler. Aber der Dicke sieht aus wie ein Narr in des Kaisers Diensten. Und der andere, der junge Mann mit dem ernsten Gesicht, wirkt wie ein verkleideter Herrscher. Nun, vielleicht sind es verarmte Adlige, die ihren Besitz kleinweise verkaufen müssen!« Banff, der Große Kaufmann – von Kratergruppe zu Kratergruppe wechselten die Bezeichnungen, mit denen sie hier schon als Kinder aufwuchsen, ihre Bedeutung. Es war die einzige Möglichkeit, zwischen der vielschichtigen Verwandtschaft zu unterscheiden, zwischen der Wichtigkeit einzelner Clans, ausgedrückt durch die Höhe der Bilanzen, zwischen den verschiedenen Gütern, die auf dieser Freihandelswelt umgeschlagen wurden. Für jeden Fremden war das System völlig frustrierend, weil total undurchsichtig. Als der Kleine Handelsmann in seiner schäbigen Kleidung aus Reptilienleder in das Gesicht des Großen Kaufmanns blickte, begann er deutlich zu ahnen, daß sich in den nächsten Tagen hier entlang der »Straße der tausend Krater« einiges ereignen würde. Es hatte zu viele Gerüchte gegeben in den letzten Tagen … »Neue Händler! Das bedeutet immer Aufregung. Maßnahmen müssen getroffen, die Nocto-Nos muß verständigt werden …«, murmelte der Große Kaufmann. »Beginnen wir von vorn, Kleiner Handelsmann. Berichte!« »Mit Vergnügen, Herr. Aber entschuldige, wenn ich Fehler mache und durcheinanderkomme. Ich besitze keinen solcherart geschulten Verstand wie du!« Kleiner Handelsmann, das wurde ausge-
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Hans Kneifel
sprochen, als verkehre der Kaufmann mit dem Abschaum der Galaxis. Angewidert trank er, dem man nachsagte, er sei ein Gewisses Mitglied der Nocto-Nos, einen Schluck aus dem Becher. »Berichte!« wiederholte er schärfer und lauter. Der Kleine Handelsmann, dessen Name Vergord war, begann zu erzählen.
* Die Handelsstation Sebentool besteht, wie jedermann weiß, aus zwei einzelnen Städten, die rund dreihundert Kilometer voneinander entfernt waren. Eine breite Straße, zugleich eine Gleiterpiste, verband die Städte. Die Straße zog sich von Sebentool-Varn, der Stadt des Raumhafens, in wirren Kurven durch die Landschaft, berührte einige der Kraterwälle, durchschnitt einen kleinen Teil der Dschungelsümpfe und war auf lange Abschnitte durch den Urwald gebrannt worden, ehe sie in Sebentool-Braan, der südlichen Stadt, endete. Ich habe mit meiner Sippe einen kleinen Krater in der Nähe der Abzweigung, die nach dem Sitz von Agmon führt. Eines Tages erschienen sie. Ich wußte nicht, warum sie sich gerade meinen Krater ausgesucht hatten. Ich kam also aus meinem Warenlager heraus, ging an den Regenwasserteichen vorbei und an der kleinen, vollrobotischen Hydroponikanlage und blieb neben dem Tor stehen. Es war mit vier Schichten von Maschendraht abgesichert. Ich konnte den Gleiter mit dem Zeichen des gehörnten Drachen gut erkennen. »Ihr habt den Gleiter der Glenlivet?« sagte ich. Die beiden blickten mich an, und der Dicke nickte. »So ist es, Mann!« sagte er und musterte mich. Seine Augen waren auf eigentümliche Weise durchdringend. »Wir sind fremd hier. Aber wir wollen nichts anderes als die Händler entlang der Straße der tausend Krater besuchen.« Ich grinste.
»Also handeln!« sagte ich. »Mit mir?« »Warum nicht?« sagte der andere. Während der Tonfall des dicken Mannes in den knielangen Lederstiefeln weich und listig klang, war die Stimme dieses jüngeren etwas herrisch. Vermutlich war er unsicher. Aber nicht zu sehr, wie sich gleich darauf herausstellen sollte. »Wir handeln aber nicht mit billigen Waren!« meinte er halblaut. »Unsere Waren sind kostbar. Wir suchen einen Platz, wir suchen Kontakte, wir suchen Gesprächspartner, die gern handeln und gern große Gewinne mit Risiko machen wollen. Ob wir allerdings hier bei dir an der richtigen Adresse sind, wissen wir nicht. Der Höflichste scheinst du nicht zu sein.« Ich zuckte zusammen. Dann streckte ich die Hand aus und legte den positronischen Riegel herum. Kreischend in rostigen Angeln drehte sich die Tür nach innen auf. Es nützte nichts; diese Hitze, die feuchte Wärme und der Dampf, der immer wieder nach den Gewittern und Hurrikanen aufstieg, machte jede Schmierung sofort zunichte. »Kommt herein!« sagte ich. »Man nennt mich Vergord, den Mann seltener Bodenbakterien und guter Mutationssamen.« Der Dicke schob sich an mir vorbei. Erst jetzt sah ich, daß er unter seiner Jacke mit den eingearbeiteten Kühlschlangen einen zerbeulten Brustpanzer trug. »Wir handeln mit Wissen und Informationen, mit Tips und mit Klugheit, mit Kontakten und nötigenfalls auch mit Waffen. Und mit Kenntnissen!« warf der jüngere Mann wie beiläufig ein. »Eine leichte Ware!« bestätigte ich. »Sie braucht keine Lagerhäuser!« »Und verdirbt nicht so schnell!« konterte der Dicke. »Lassen wir die Komplimente, Vergord. Mich nennt man Claudevarn.« Der jüngere deutete auf seine Brust und sprach kurz: »Ich bin MocDoff.« MocDoff und Claudevarn. Fremde Namen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich mußte, wenn ich die nächsten Jahre ohne Konkurs überstehen wollte, jemanden von
Die Burg des Tyrannen der Nocto-Nos verständigen. Aber dies hatte noch Zeit, bis ich mit den beiden Fremden gesprochen hatte. »Können wir den Gleiter außerhalb des Kraters lassen?« fragte der Dicke in angriffslustigem Ton. »Oder stiehlt man ihn dort?« Ich hob die Schultern und breitete die Arme aus. »Normalerweise wird hier nichts gestohlen. Aber es kann sein, daß man den Gleiter der Glenlivet einer genauen Prüfung unterzieht. Dann könnte er, unter bestimmten Umständen, nicht mehr so recht funktionieren.« Der Dicke lachte kurz und wandte mir, als wir nebeneinander den breiten Weg zum Haus gingen, sein Gesicht zu. Es war rund, aber von vielen Runzeln durchzogen. Es strahlte eine geradezu teuflische Lust am Wortspiel, am Schachern und an den vielfältigen Möglichkeiten der Verwirrung und der Tricks aus. »Sollte man den Gleiter untersuchen wollen, so wird man unliebsame Überraschungen erleben!« versicherte er. Plötzlich begann ich mich zu fürchten. Das ist der erste Grund, weswegen ich hier bin. Ich sprach die bekannte Formel. »Kommt herein. Mein Haus ist euer Haus, und Profit bestimme unsere Rede.« Der jüngere Mann verneigte sich kurz und erwiderte leise, aber in merkwürdiger Bedeutung: »Solange die Sonne scheint.« Ich machte eine einladende Bewegung, und wir gingen ins Haus. Auch mein Haus war, wie alle Bauwerke entlang der Straße, in einen Krater hineingebaut. In geologischer Vergangenheit schien entlang einer Bodenspalte ein gigantisches Feld von Vulkanen ausgebrochen zu sein, oder es war ein Meteorschauer, der hier Tausende von Kratern aufgeworfen hatte. Inzwischen hatten sich viele Krater mit Wasser gefüllt, andere waren gänzlich verschwunden, weil sie der Dschungel überwuchert hatte, wieder andere blieben unbewachsen und bildeten Narben
5 in der Landschaft. »Mein« Krater hatte einen Durchmesser von vierzig und eine Tiefe von fünfzehn Metern. Das Tor war mit Atombrennern aus dem der Straße zugewandten Teil des Ringwalles herausgeschnitten worden. Das Haus, ein flacher Bau mit gläsernem Dach, befand sich im Zentrum. »Ihr wißt sicher«, sagte ich, »daß hier nicht jeder einfach kommen und handeln kann?« Der Dicke funkelte mich an, als sei ich für den Zustand verantwortlich. »Auf Arkonwelten wie diesen, auf Freihandelswelten, bedarf man etwa eines gesetzlichen Schutzes?« »Nicht direkt eines gesetzlichen Schutzes«, wich ich aus. »Aber Schutz werdet ihr brauchen.« »Wieviel? Von wem? Warum?« erkundigte sich der jüngere Mann, der einen langsamen Rundgang durch die hermetisch abgekapselten und an die biologischen Systeme angeschlossenen Vitrinen machte. Ich holte tief Luft und fragte zurück: »Woher kommt ihr eigentlich? Genau – ich muß es wissen, sonst kann ich euch keinen Rat geben, Fremde.« Natürlich waren es keine Fremde im klassischen Sinn, sondern Arkoniden wie ich auch. »Von Kortasch-Auromt!« sagte der Dicke, als sei dies eine Erklärung. »Der Clan der Glenlivet hat uns geholfen. Wir sind neue Männer und bringen neue Erkenntnisse. Wir sind die Problemloser.« »Recht so«, entgegnete ich. Ich wurde aus den beiden nicht recht klug. Sie waren zu clever, zu schnell und zu wendig. Ich ahnte abermals, daß wir mit ihnen Ärger bekommen würden. »Trotzdem braucht ihr Schutz. Es gibt eine Organisation, die gegen einen geringen Betrag den sicheren Handel hier gewährleistet. Hier, in den beiden Städten Sebentool und entlang der Straße der tausend Krater.« Der jüngere warf mir einen Blick zu, in dem Kühnheit und Wildheit lagen.
6 »Etwa die Nocto-Nos?« »So ist es.« Der Dicke stieß ein verdrossenes Grunzen aus, polierte mit seinen Ärmeln den verbeulten Brustpanzer und sagte: »Die Nocto-Nos also! Wir hörten bereits davon. Wir kennen solche Schutzgemeinschaften, und wir wissen auch, daß sie alle durchaus hierarchisch aufgebaut sind. Also haben sie einen obersten Chef. Bei der Korruption, die allenthalben auf Jacinther Vier herrscht, könnte ich mir denken, daß der Gouverneur der Verantwortliche ist. Vertagen wir diese Erörterung. Gestattest du, Vergord, Mann der guten Bakterien, eine Reihe wichtiger Fragen? Wichtig für uns?« Ich nickte. In diesem großen, hellen Raum meines Hauses war meine Ware ausgebreitet. Nun kann man Bodenbakterien und Samen nicht werbemäßig ausstellen, denn niemand sah ihnen ihre Kraft, Güte oder Schönheit an. Aber dafür konnte ich die Ergebnisse meiner Züchtungen zeigen. In den abgeschlossenen Vitrinen, die auf steinernen Sockeln standen und strahlend hell ausgeleuchtet waren, befanden sich Erdproben in verschiedenen Stadien der Aufbereitung. Und aus den Samen waren schöne Blumen und allerlei Gewächse entstanden, die jedermann bewundern konnte. Nur meine ungewöhnlich arbeitsintensive Gütekontrolle machte den Vorzug aus; ich garantierte einen neunundneunzigprozentigen Erfolg. Große Teile des berühmten Gartens von Djulf Sorpschan, unserem Gouverneur, stammten aus meinen Zuchthäusern und Gartentürmen, die sich entlang der inneren Kraterwandung in die Höhe schoben. Der junge Mann hatte seinen Rundgang abgeschlossen und blieb jetzt in meiner Nähe stehen. Er schien unruhig zu sein. »Fragt! Was ich beantworten kann und darf, das werde ich beantworten!« wiederholte ich. »Können wir einen kleinen Krater mieten? Ist dies grundsätzlich möglich?« »Grundsätzlich schon!«
Hans Kneifel »Können wir bestimmte Reklameaktionen starten?« »Dafür gilt das gleiche!« sagte ich mit Nachdruck. »Gibt es nach deiner Meinung hier viele Probleme, die zu lösen sind? Mit wissenschaftlichen Methoden, mit Klugheit oder mit ein wenig Zauberei?« Der kleine, breitschultrige Mann zwinkerte listig. Ich mußte mich korrigieren. Er war nicht fett, keineswegs. Er war nur in einem Maß muskulös, das wie Fett wirkte. Seine Bewegungen waren nicht die eines alternden, dicken Mannes. Sie waren kurz und schnell und sehr zielsicher. »Es gibt viele Probleme«, sagte ich. »Und wer sie lösen kann, wird sich eine goldene Nase verdienen.« »Ausgezeichnet!« sagte der jüngere Mann und lächelte verhalten. »Dann werden wir, indem wir die Probleme der anderen lösen, auch unsere lösen können. Nun eine Bitte – wir werden uns erkenntlich zeigen.« Ich neigte den Kopf und lauschte aufmerksam. »Bringe uns mit einem der oberen Vertreter der Nocto-Nos zusammen. Und sage uns, wo wir in Ruhe übernachten können. Ein gutes, nicht zu großes Hotel oder derlei.« Ich grinste; zwei Kunden, das brachte eine saftige Prämie. Sie wurde auf die Rechnung der beiden addiert. »Es gibt nur eine gute Raststätte, nämlich Zur Karawanserei. Der dreizehnte Krater von hier, links in die Richtung SebentoolVarn. Ein großer, gelber Stein ist neben der Straße. Heute abend können wir uns in der Schenke treffen. Dort wird dann auch jemand sein, der euch über die Nocto-Nos beraten kann.« Ich stand auf und gab damit zu erkennen, daß meine Zeit kostbar zu werden begann. Auch der Dicke kam mit einer schnellen Bewegung auf die Beine und hielt mir seine Hand mit den überraschend gut geformten Fingern hin. »Danke, Handelsmann!« sagte er. »Wir
Die Burg des Tyrannen treffen uns heute abend in der Karawanserei. Dann können wir alles in Ruhe und bei einem guten Glas Wein besprechen. In deinem Sinn, Vergord?« Ich schüttelte die Hand, und es erwies sich, daß der kleinere der beiden eine geradezu mörderische Kraft in seinen Fingern hatte. Dann sah ich ihnen nach, wie sie meinen Krater verließen.
* Aus dem Kaminfeuer sprangen einige Funken und zischten zwischen den Köpfen des Kleinen Handelsmannes und Banff, dem Großen Handelsmann hindurch. Vergord lehnte sich zurück und sagte durch den Rauch und das Gemurmel unzähliger Gespräche, die die Schenke der »Karawanserei« erfüllten: »So und nicht anders war es, Herr!« Er drehte den Kopf. Seine Augen versuchten, den Dunst zu durchdringen. Dann, ganz plötzlich, zischte Vergord: »Herr!« Banff, der ruhig in äußerster Gelassenheit die Anwesenden musterte und die Atmosphäre in sich aufnahm, fragte: »Ja?« »Dort sind sie! Sie treten gerade durch die Tür. Ich glaube, sie suchen mich. Soll ich …?« Banff winkte ab. »Sie werden an unseren Tisch kommen. Lasse sie sprechen. Du wirst deinen Lohn erhalten.« »Ich zweifle nicht daran!« meinte der Kleine Handelsmann. Die Organisation, deren nahezu oberster Chef der Große Kaufmann war, kassierte von jedem Handelnden zwischen den beiden Städten ihren Tribut. Aber sie leistete dafür auch tatsächlich, was sie versprach: Der Handel konnte ohne Störungen, ohne die Tätigkeit von Dieben oder Einbrechern stattfinden. Auch schienen zwischen der Polizei dieses feuchtheißen Dschungelplaneten und den Asozialen geheimnisvolle Bindungen zu
7 bestehen. Weder die eine Institution noch die andere störte sich gegenseitig. Obwohl der Große Kaufmann wußte, daß sich unter den rund zweihundert Gästen dieses Lokals mindestens fünfzig aktenkundige Verbrecher befanden, schwieg er. Jacinther Vier lebte in dieser Form der Symbiose zwischen Gesetz und Ungesetzlichkeit hervorragend und störungsfrei. »Der Dicke?« fragte Banff leise. »Ja. Er scheint der Gefährlichere zu sein!« bestätigte der andere. »Ja, es ist der Dicke. Und hinter ihm, das ist der junge Mann mit dem harten Gesicht!« erwiderte der Kleine Handelsmann. »Jetzt haben sie uns gesehen.« Er hob die Hand und winkte. Der untersetzte Mann mit dem dunklen Lederumhang und der polierten Brustplatte winkte zurück. Er schob sich langsam, aber kraftvoll durch die drängende Masse der Gäste. Schließlich blieb er vor ihrem Tisch stehen. Schräg hinter ihm wartete schweigend der junge Mann. »Sei gegrüßt Vergord!« sagte er mit seiner kraftvollen Stimme. »Wir dürfen uns setzen?« Der Handelsmann nickte und erwiderte: »Gern. Dies hier ist Banff, der Große Kaufmann. Er ist es, der mit euch reden wird.« »Danke!« sagte der Mann, der sich selbst als Claudevarn bezeichnet hatte. »Wir zahlen die erste Runde.« Er setzte sich, und der Arkonide namens MocDoff kam näher an den Tisch heran.
* Ich musterte schweigend die drei Männer an diesem Tisch dicht neben den Flammen des Feuers. Nur ein Gesicht kannte ich; das von Fartuloon. Der unbedeutende Händler sah aus, als sei er von der Wichtigkeit seiner Person durchdrungen. Der andere, der sich als Banff hatte vorstellen lassen, trug die blasierte Miene eines Großverdieners zur Schau, der glaubte, alles sei mit Geld zu be-
8 zahlen. Ich schwor mir, seine Eitelkeit zu zerbrechen. Zusammen mit Fartuloon hatte ich alles besprochen. In Wirklichkeit hatten wir nicht die geringste Absicht, uns hier als Händler niederzulassen. Unsere Pläne deuteten in eine andere Richtung. Als ich mich setzte, lockerte ich vorsichtig den kleinen Strahler unter meiner Achselhöhle. »Herr Händler«, hörte ich Fartuloon mit seiner sanftesten Stimme sagen, »wir sind Ratsuchende. Unser Freund hier sagte uns, daß wir den Schutz der mächtigen NoctoNos brauchen. Bist du Abgesandter dieser Verbrecherorganisation?« Das Gesicht des anderen verfiel förmlich. Einen solchen Eröffnungszug hatte er nicht erwartet. Der Kleine Handelsmann geriet in Panik und rutschte auf seinem Sessel hin und her. Eine ältliche Bedienung kam an den Tisch und beugte sich zu mir herunter. »Wein«, sagte ich halblaut. »Den besten gegen ein gutes Trinkgeld.« »Ich fliege, junger Herr!« erwiderte sie mit dem Krächzen eines flügellahmen Vogels. Wir waren wieder allein. Banff erholte sich nur langsam von seinem Schrecken und sagte heiser, fast wütend: »Du wagst es, uns als Verbrecher zu bezeichnen, und trotzdem willst du unseren Schutz?« Oft bewunderte ich Fartuloon. In diesem Fall bewunderte ich rückhaltlos seine kaltblütige Art. Er fragte ungerührt: »Wir können unseren Zehent auch direkt an Sorpschan entrichten. Dann vermeiden wir die Umwege und kommen vermutlich billiger weg. Oder willst du allen Ernstes behaupten, daß der Gouverneur nicht das Haupt der Nocto-Nos ist?« Der kleine Mann japste erschrocken auf. Um unseren Tisch schien sich eine Zone eisigen Schweigens zu bilden und langsam auszudehnen. An den Nebentischen verstummten einige Gespräche. Ich warf, etwas leiser, ein: »Dein Erschrecken, Banff, ist gleichbe-
Hans Kneifel deutend mit einer Bestätigung. Abgesehen davon, daß wir keine Bestätigung mehr brauchen. Hier auf Jacinther Vier liegt alles ganz klar auf der Hand. Außerdem solltest du in der Lage sein, tiefer in die Herzen der Menschen blicken zu können.« Das Schweigen wurde dichter. Ich hatte das unschöne Gefühl, daß jemand mit einem Strahler oder einem Messer auf meinen Rücken zielte. Wir kannten diesen Planeten, der zwischen rasenden Orkanen und stechender Sonnenhitze schwankte und dazu noch eine größere OberflächenSchwerebeschleunigung zeigte, noch immer nicht gut genug. Aber für unseren großen Schlag, den wir gegen den Herrscher führen wollten, schienen alle diese kleinen Gefahren wenig zu wiegen. Langsam drehte ich mich um, aber ich sah nichts. Banff starrte schweigend Fartuloon in die Augen, dann wandte er sein Gesicht mir zu. Der Hochmut war verschwunden. Verblüffung und Wut zeichneten sich ab. »Ihr beide scheint die Gefahr zu lieben!« sagte er leise. »Woher habt ihr eure Informationen?« »Wir kennen nicht nur Vergord und dich, Banff!« gab ich zurück. »Wir kommen viel herum. Ein Ökonom braucht viele Augen und Ohren.« Das schien ihm den Rest zu geben. Wir hatten unsere einzelnen Aktionen genau aufeinander abgestimmt und alles abgesprochen. Uns beiden war klar, daß wir uns mitten in die Gefahr stürzten, aber unsere beiden Freunde hinter dem Sender waren unsere Garantie. »Freemush?« flüsterte Banff. Wir zogen, fast gleichzeitig, die Schultern hoch und breiteten die Arme aus. Aber die Phantasie spielte Banff einen Streich nach dem anderen. Seine eigene Phantasie. Das Murmeln und das Klirren der Becher und der Eßbestecke wurde wieder lauter. Die Kellnerin kam und stellte Becher und einen vollen Weinkrug vor uns hin. »Man hat vom Zustand des Imperiumsbeauftragten gehört. Man denkt, daß er abge-
Die Burg des Tyrannen setzt werden sollte.« Der Kleine Handelsmann lehnte sich zurück. Hinter seinen Schultern fiel ein Holzscheit in sich zusammen. Ein Funkenregen stiebte auf und wurde durch den Kamin gezogen. Banff schien rasend schnell zu überlegen. Man sah ihm geradezu die Anstrengung an, die Konsequenzen dieser neuen Mitteilung zu verstehen. Dann brachte er mühsam hervor: »Der Ökonom Freemush hat also von Agmons Zustand gehört. Oder besser davon, daß Agmon alles andere als präsent ist. Und ihr seid seine Sendboten. Das bedeutet, daß auch Freemush kommen wird, um einen neuen Imperiumsbeauftragten auszuwählen und in sein Amt einzusetzen.« »Das scheint mir die logische Folgerung zu sein!« sagte Fartuloon und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was ist das doch für ein trauriger Laden hier! Keine schönen Frauen! Teurer und saurer Wein! Und ein Gestank, daß es einem die Eingeweide umdreht!« Er lachte schallend und goß den Inhalt seines Bechers in sich hinein. Immer wieder war ich verblüfft, was dieser Mann vertragen konnte. Eine ununterbrochene Kette aus wilden und tödlichen Abenteuern führte von dem Tag an, da ich denken gelernt hatte, bis hierher an diesen Tisch in der verräucherten Schenke der Karawanserei. Und noch immer überraschte mich Fartuloon, oder Claudevarn, wie er sich nannte. »Das alles läßt sich schnell und gründlich ändern, Claudevarn«, versprach Banff. »Vergiß Sorpschan und den Tribute an die Nocto-Nos. Aber vergiß Sorpschan nicht – auf eine andere Weise.« »Er ist sicher unvergeßlich!« meinte ich nicht ohne Ironie. Djulf Sorpschan, auch das hatten wir erfahren, hatte sich als Zentrum seiner Macht – schließlich war er Gouverneur dieses Gebiets – einen riesigen, runden Krater ausgesucht, der außen und innen vollständig bewachsen war. Im Innern gab es den berühm-
9 ten Riesenirrgarten, und die Krone seines Ringwalls bildeten glasglatte Felsen, die als unübersteigbar galten. Hin und wieder fand man zerfetzte Leichen oder Gerippe; Zeugen davon, daß Menschen versucht hatten, in den Krater einzudringen. Die gesamte Anlage breitete sich unter einem flach gekrümmten und transparenten Dach, das den Regenstürmen und Orkanen widerstand, aus. Der Garten, angefüllt mit seltenen Pflanzen, durchstreift von wilden oder halbzahmen Tieren, war weit über die Grenzen des Planeten hinaus bekannt. Er galt als eine Art planetares Wunder, als Kleinod inmitten einer Landschaft der extremen Lebensäußerungen. Der große Krater Sorpschans lag in der Nähe der Siedlung Sebentool-Braan. »Gebt mir eine Viertelstunde Zeit!« sagte Banff. »Wozu?« fragte ich. Die Spannung nahm zu. Bisher waren wir durch die Gefahren von Jacinther Vier getrieben wie abgefallenes Laub in einem Bachlauf, aber nun schien es, daß wir wieder die Handelnden waren. Wir planten einzugreifen, und dies waren die ersten Schritte. »Ich will euch die Wahrheit sagen!« meinte Banff. »Obwohl ich dies nicht dürfte, denn ich bin nicht zuständig. Aber ich nehme an, daß ihr plötzlich zu sehr wichtigen Personen geworden seid!« »Plane nicht, uns zu hintergehen. Ich bin schnell mit der Waffe. Wohin willst du gehen?« »Ein Visiphongespräch führen.« »Mit wem?« »Mit einigen meiner Vertrauten. Ihr seid daran interessiert, Sorpschan zu sehen, mit ihm zu sprechen?« Diplomatisch erwiderte Fartuloon: »Wer ist das nicht?« »Dann wartet bitte. Es dauert nicht lange. Ihr könnt auch austrinken und vor der Karawanserei auf mich warten!« »Ich werde mit dir gehen!« sagte ich. Fartuloon nickte mir zu und sagte, für Banff und den Handelsmann unhörbar: »Gut, Atlan. Aber vermeide unnötiges Ri-
10 siko. Der Weg der nächsten Stunden ist ziemlich gradlinig.« Ich zwinkerte ihm zu und schob mich hinter der schlanken, schmalen Gestalt von Banff durch die Menschenmenge. Hier, in dieser späten Nachmittagsstunde, traf sich der repräsentative Querschnitt durch die Welt entlang der Straße der tausend Krater. Jeder und alles war hier vertreten. Es lag etwas in der stickigen Luft. Niemand kannte uns wirklich, aber der unter der sichtbaren Oberfläche schwelende Machtkampf der vier Gouverneure schlug bis hierher Wellen. Die Gouverneure warteten förmlich darauf, daß Agmon starb oder getötet wurde. Mitten in diesem Konflikt steckten wir. Die Holztür schwang knarrend zurück. Trotz der Nachrichten hatte Banff seine Arroganz nicht vergessen. »Ich möchte nicht, daß du hörst, mit wem ich spreche, MacDoff!« sagte Banff. »MocDoff«, sagte ich. »Gut. Einverstanden. Ich warte.« Ich schob meine rechte Hand unter den linken Arm. Der Kolben der Waffe legte sich in meine Finger. Langsam bewegte ich mich hin und her und wartete förmlich darauf, daß mich jemand angriff. Mein Leben – das gefahrvolle Leben eines gehetzten Thronerben – war ohne solche Gefahren nicht denkbar. Seit wir aus der Sogmanton-Barriere herausgekommen und auf Jacinther Vier gelandet waren, schienen wir die Überfälle geradezu magnetisch anzuziehen. Unsere Augen trafen sich. Der Kaufmann sah mich an, während er scheinbar lässig mit jemandem sprach, den ich nicht auf dem Bildschirm erkennen konnte. Auch kam niemand in den Korridor. Nur der Lärm aus der Schenke drang an meine wachsamen Ohren. Ich sah, wie Banff seine Hand hob und das Gespräch beendete. Er kam aus der abgedunkelten Zelle heraus, blieb vor mir stehen und sagte aufgeregt: »Ein paar Männer werden uns abholen. Der kleine Mann und du, ihr habt das Interesse Sorpschans erregt. Bitte, vergeßt nicht,
Hans Kneifel daß ich es war, der diesen Kontakt ermöglicht hat.« »Ich bin ganz sicher, daß wir es nicht vergessen werden«, entgegnete ich zweideutig. »Die Männer sind sicherlich von der NoctoNos!« »So ist es. Ich gehe hinein und bezahle den Wein.« »Wir sind geschmeichelt!« gab ich zu und folgte ihm wieder bis zu unserem Tisch. Bewundernde und argwöhnische Blicke verfolgten uns, als wir aufbrachen. Vor der »Karawanserei« blieben wir wartend stehen. Die Anziehungskraft, die mehr als ein Zehntel höher war als der von uns gewohnte Wert, machte uns inzwischen nichts mehr aus. Aber die gewaltige Wand des Sturmes, die sich von Westen näherte und sich mit flammenden Blitzen ankündigte, brachte Hitze und Schwüle mit sich. Schlagartig waren wir in Schweiß gebadet. Fartuloon nahm den Mantel ab und sagte: »Wir fliegen mit unserem eigenen Gleiter?« Banff zog den Kopf zwischen die Schultern und entgegnete halblaut: »Ich weiß es nicht. Warten wir es ab.« »Was geht eigentlich hinter dem Energieschirm um Agmons Burg vor? Weiß das jemand von euch aus der Nocto-Nos?« fragte ich. Jedesmal, wenn ich diesen Begriff erwähnte, zuckte Banff zusammen. So auch jetzt. »Niemand kennt Agmon. Man hörte und sah lange nichts von ihm!« antwortete der Kaufmann und krümmte sich. »Sorpschan wird es besser wissen. Und sein Garten ist eine Perle des Planeten.« Fartuloon deutete auf den Sturm, der schnell näher kam und bemerkte: »Hoffentlich kommen wir nicht in diesen Hurrikan aus Schwärze und Regen.« Von der Straße her näherte sich ein schwerer, großer Luftgleiter, der bemerkenswert niedrig flog. Kurz vor dem überdachten Eingang des Hotels flammten mindestens sechs Scheinwerfer auf und blendeten uns
Die Burg des Tyrannen für Sekunden. Als wir wieder genau sehen konnten, standen sechs Männer um uns herum. Ihre kleinen, dunkel schimmernden Waffen deuteten auf uns. Ärgerlich knurrte Fartuloon: »Sollen wir als Gefangene zu Sorpschan gebracht werden?« Eine kehlige Stimme hinter mir sagte in verstümmeltem Dialekt: »Man hat auf Sorpschan bisher siebenundvierzig Attentate verübt. Dreimal wurde er fast getötet. Er ist daher mißtrauisch. Banff – du bleibst hier. Diese beiden Männer kommen mit uns. Ness, du nimmst ihren Gleiter und fliegst hinterher. Darf ich bitten?« Der Mann, ein Hüne mit breiten Schultern und einem fahlen Gesicht, schob sich hinter mir in den Bereich des Lichtes und deutete in die Richtung des Luftgleiters. Ein Mann rannte davon. Fartuloon und ich wechselten einen schnellen Blick; wir gehorchten und gingen auf die Maschine zu.
2. Die Männer waren augenscheinlich gewohnt, schnell und zuverlässig zu handeln. Kaum saßen wir, eingekeilt zwischen den Bewaffneten der Nocto-Nos, in dem Gleiter, startete die Maschine und raste in Richtung auf Sebentool-Braan davon. Wir flogen entlang der heranwalzenden Sturmwolke. Die Landschaft war in ein seltsames Zwielicht getaucht, aber diesen Ausdruck kannten wir bereits; der Planet wurde ständig und an allen Orten von solchen kurzen und heftigen Hurrikanen heimgesucht. Ich blickte aus dem Seitenfenster hinunter und sah die helle Straße, die tatsächlich ein sehenswerter Anblick war. »Wie weit haben wir zu fliegen?« knurrte Fartuloon. Auch auf ihn richtete ein schmalgesichtiger Mann die Waffe. Es bestand kein Zweifel; sie hatten den Auftrag, uns lebend oder tot zu Sorpschan zu bringen. Das konnte zwei Gründe haben, die ungleich gefährlich waren. Entweder kannte uns Sorpschan
11 nicht, dann würden wir überleben oder weiterkommen. Oder jemand hatte uns erkannt und verraten und dann flogen wir in die weit geöffnete Falle. »Eine knappe Stunde, bei diesem Sturm!« knurrte der Pilot, aber er verringerte weder die Flughöhe noch die Geschwindigkeit. Die vielen Krater, große und kleine, säumten das Gebiet der gewundenen Straße. Nicht alle waren bewohnt; einige glänzten tief schwarz zwischen den Moorflächen und den wild wuchernden Gebieten des Dschungels, dessen Bäume in den einzelnen Sturmstößen hin und her schwankten und sich halbwegs zu Boden beugten. »Hast du Angst, Dicker?« fragte der Mann mit der heiseren Stimme. »Nein, aber ich bin unruhig!« gab Fartuloon zu. »Warum?« »Weil ich nicht jeden Tag entführt werde, um mit einem Gouverneur in seinem prunkvollen Garten zu sprechen!« meinte Fartuloon verdrossen. Auch er starrte nach unten und merkte sich die nur noch undeutlich zu erkennenden Geländemerkmale. Wissen und Kenntnisse dieser Art konnten unser Leben retten. »Alles passiert einmal zum erstenmal!« sagte der Pilot respektlos. »Man sagt es!« knurrte ich und spürte ebenfalls die Mündung einer Waffe gegen meine Seite. Sicherlich hatten die Boten ihre Anweisungen, aber eigentlich hätten sie die angeblichen Sendboten des Ökonomen liebenswürdiger behandeln müssen. Aber das Mißtrauen des Gouverneurs in seiner blütenübersäten Schutzinsel … wir verstanden es und verhielten uns bis zum Ende des Fluges ruhig. Der kleine Gleiter mit dem Clanzeichen der Glenlivets flog schräg hinter uns in geringer Höhe. Die Lichter von Sebentool-Braan tauchten weit voraus aus der Dunkelheit auf, als uns der erste schwere Ansturm des Hurrikans traf. Der Gleiter überschlug sich beinahe, als
12 der Pilot gegensteuerte. Wir waren nicht angeschnallt und fielen übereinander. In der Luft war plötzlich ein Heulen, und rund um uns herum blitzte und wetterleuchtete es. Krachend rollte der Donner über den sturmgepeitschten Dschungel. Die Landschaft unter uns verwandelte sich binnen Sekunden in ein Chaos aus stürzenden Bäumen und aus Fahnen aus Wasser, die aus den gefüllten Kratern hochgerissen wurden. Die Wolken und der Regen trieben heran und machten uns blind, aber das stechende Leuchten vom Armaturenbrett bewies, daß der Pilot seine Voraus-Instrumente eingeschaltet hatte. Die Maschine tanzte in der bewegten Luft wie ein winziges Boot auf einem Ozean. »Du gehst verdammt sorglos mit dem Gerät um!« murmelte ich. Der Pilot riß an den Hebeln der Steuerung und schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich bin bisher noch immer gelandet.« Der Gleiter schoß in einer leichten Rechtskurve nach unten und huschte keine hundert Meter über den schwankenden Wipfeln auf einen verschwommenen Lichtfleck abseits der Stadt zu. Baumkronen und große Büsche flogen, sich drehend und überschlagend, unter uns nach Osten. Und immer wieder blendeten uns Blitze, die ganz in der Nähe einschlugen. Der Donner erschütterte die Maschine. Ich lehnte mich zurück, klammerte mich an einem Griff und an die Lehne der Vordersitze fest und dachte darüber nach, was wir in einem unbekannten Gebiet unternehmen konnten, wenn es jemand geglückt war, unsere wahre Identität aufzudecken. Der Sturm passierte unsere Flugbahn, verwüstete die Wälder, schlug mit den schweren Regengüssen die Pflanzen nieder und raste weiter, sich langsam drehend. Von rechts wurde es heller. Ein rötlicher Glanz schimmerte durch die treibenden Wolken und ließ Reflexe auf den schrägen Wasserbahnen aufsteigen. »Dort vorn? Ist es der Krater Sorpschans?« fragte Fartuloon, als wir uns dem noch undeutlich erkennbaren Gebiet näherten.
Hans Kneifel »Ja. Wir müssen an Punkt Eins landen!« gab der Pilot zur Antwort. Die letzten Regenwolken und Nebelfetzen trieben vorbei. Der Sturm ging so schnell, wie er gekommen war. Die untergehende Sonne beleuchtete die Rückwand der Säule des kondensierten Wassers. Jetzt sahen wir durch die Frontscheiben, wohin wir flogen. Ein riesiger Krater, an drei Vierteln seines Walles von seichtem Wasser und Morast umgeben, schälte sich aus der verhangenen Landschaft heraus. Deutlich erkannten wir die vergleichsweise riesigen Ausmaße und den flachen Schirm, der über dem Krater lag. Zwei kleine Erhebungen wuchsen durch den Schirm hindurch und bildeten kleinere, fast halbkugelige Vorsprünge. Während unter dem Schutzschirm nur eine halbe Dämmerung, durch wenige Lichtpunkte erhellt, zu sehen war, strahlten die kleinen Kuppeln weitaus heller. Der Gleiter wurde tiefer heruntergebracht, bremste ab und flog entlang einer schmalen, indirekt beleuchteten Straße auf ein weißes, torähnliches Bauwerk zu. Fartuloon und ich hatten uns den Weg hierher so gut gemerkt, wie es eben möglich war. Das Gebäude entpuppte sich als Ansammlung von vier runden, massiven Türmen, die den Durchbruch des Ringwalls flankierten. Zwei von außen, zwei innen. Zwischen den Türmen sahen wir einen hell lodernden Energieschirm. Und wir konnten auch undeutlich die rasiermesserscharfen und glatten Felsen sehen, die wie ein riesiges Gebiß aus der bewachsenen Krone des Ringwalls herausragten. »Achtung! Wir landen!« sagte der Pilot. Die Waffen wurden zögernd zurückgesteckt oder gesichert. Der Gleiter landete weich vor dem Energieschirm. Die Türen schoben sich auf. Langsam stiegen wir nacheinander aus und blieben stehen. »Durch den Schirm?« fragte Fartuloon laut und griff nach seinem Schwert. Es war keine symbolische Geste, wie ich wußte. »Nein.« Die Männer eskortierten uns über den
Die Burg des Tyrannen nassen, mit feuchten Blättern bedeckten Belag der Straße bis zu einer hohen, schmalen Pforte, die aus Stahl zu sein schien. Hinter einem schußsicheren Glasverschlag richteten sich Kameras und schwere Optiken auf uns. Tiefstrahler schalteten sich ein, und sicher streckten sich auch unsichtbare Mikrofone nach uns aus. »Bleibt bitte vor dem Tor stehen. Ihr werdet geprüft!« sagte der Mann mit der unheimlichen Stimme. Der Halbkreis von Begleitern bildete eine Kulisse außerhalb der hellen Lampen. »Und sicherlich hineingelassen!« sagte ich. Welche Gefahren verbargen sich auf dem Weg bis zum Zentrum des Kraters? Keiner von uns wußte es, aber wir hatten drei Dutzend verschiedene Gerüchte gehört. Schließlich, nach langen Minuten, sagte eine seidenweiche Stimme halblaut: »Ich bitte die Mittelsmänner des Ökonomen, durch diese Pforte zu treten und immer geradeaus auf dem weiß gekennzeichneten Weg den Garten zu durchqueren. Ich gebe mir die Ehre, sie zu einem erlesenen Abendessen einzuladen. Bitte, tretet ein.« Hier schien sich jedermann zu duzen. Oder war dies nur eine Eigentümlichkeit, die man Fremden gegenüber anwandte? »Mit Vergnügen!« sagte ich scharf. Die massive Stahlpforte verschwand langsam im Boden. Wir warteten, bis die Oberkante mit der Straße eine Ebene bildete, dann gingen wir vorwärts. Das letzte, was wir hörten, waren die gleitenden Schritte der NoctoNos-Männer, die zu ihrem Gleiter zurückgingen. Jetzt konnten wir sicher sein, daß der machtgierige Gouverneur auch der Chef dieser makabren Schutzorganisation war. Ohne daß es jemand hören konnte, nicht einmal ein höchstempfindliches Richtmikrophon, flüsterte Fartuloon in mein Ohr: »Unser Ziel ist Freemush. Alles andere ist unwichtig. Laß mich lügen und bestätige, was ich sage, Atlan!« Er nutzte das schleifende, summende Geräusch aus, daß die hochgleitende Platte verursachte. Ich gab in derselben Sprechtechnik
13 zurück: »Genau das habe ich vor. Aber der Park wird keine einfache Sache werden.« Lauter meinte der Bauchaufschneider: »Darauf sind wir vorbereitet!« Wir machten zuerst zögernd, dann schneller, die ersten Schritte in die neue Umgebung hinein. Eine bedrohliche Atmosphäre erfüllte diesen stillen Garten unter dem Energiedach. Der Weg bestand aus einem selbstleuchtenden Material und wand sich wie eine Schlange zwischen den Pflanzengruppen hindurch. Ein widerlich süßer Geruch erfüllte die Luft. Es waren nur wenige Geräusche zu hören; die Bewegungen von Tieren, die in einem gerodeten und ausgelichteten Dschungel herumhuschten und einander verfolgten. »Los, weiter, ich habe Hunger!« sagte Fartuloon. »Vielleicht ist es dem Herrn Gouverneur eingefallen, ein kleines Bacchanal zu richten. Weine, gutes Essen, Frauen und Lautenmusik. Ach, diese Zeiten scheinen vorbei zu sein.« Fartuloon legte die Hand an den Griff des Skarg und stapfte vorwärts. Ich holte auf und ging links neben ihm. Langsam zog ich meine Waffe heraus und entsicherte sie mit einer Daumenbewegung. Der leuchtende Pfad erhellte die nächstliegenden Büsche, die wippenden Grasbüschel und die schmalen Wasserläufe, die schwarzen Tümpel, deren Oberfläche mit farbenprächtigen Blüten bedeckt waren. Vereinzelte andere Lichtinseln waren undeutlich zu sehen, hinter Stämmen, in halber Höhe von Bäumen und inmitten bizarrer Kombinationen aus ausgehöhlten Felsen und Grasflächen. Wer immer diesen Park angelegt oder den bereits vorhandenen Dschungel verformt und veredelt hatte – sein Verstand war damals schon krank gewesen. Etwas davon färbte wohl auf jeden Besucher des Parks ab, denn auch wir wurden stiller und mißgestimmter, je mehr Windungen des Weges wir zurücklegten. »Halt!« stieß ich plötzlich hervor und hob den Arm mit der Waffe. Über uns ertönte ein langgezogenes Zi-
14 schen. Dann eine Reihe schriller Schreie, die in ein flatterndes Geräusch übergingen. Zweige schnellten zurück, und ein Regen aus Aststückchen, Borke und Blättern ging über uns nieder. Ich ließ die Hand wieder sinken. »Es war wohl nur ein Tier, das geflüchtet ist!« sagte Fartuloon. Unsere Nerven waren gespannt. Und im Zentrum dieses verrückten Gartens lauerte wie eine Spinne im Netz der Gouverneur Sorpschan, der sich für den einzig aussichtsreichen Kandidaten für den Posten des Imperiumsbevollmächtigten hielt. Dicke Tropfen klebrigen Taus fielen auf uns herunter. Wir wurden schneller und folgten den Windungen des Pfades. Rechts und links von uns hörten wir langsame, schleichende Bewegungen. Es war, als liefen Raubtiere neben uns her und lauerten auf einen günstigen Augenblick. Blieben wir stehen, dann hörten auch die Geräusche auf. Es war ein psychologisch geschickt arrangierter Weg; denn die Besucher kamen erschöpft und verängstigt an. Einmal, zwei Minuten nachdem wir eine Brücke aus Lianen und Pflanzenteilen passiert hatten, die über dem Weg baumelte und offensichtlich eben benutzt worden war, hielt der Bauchaufschneider mich am Ärmel fest. »Sieh dort hinüber!« sagte er deutlich. Ich drehte den Kopf und sah einen schwarzen, annähernd runden Tümpel, in dessen Oberfläche lange, peitschenähnliche Zweige hingen. Der Tümpel stank nach Moder und Fäulnis. Aus verschiedenen Richtungen kamen leichte Windstöße und rührten die Oberfläche auf. Sie brachten auch rätselvolle Geräusche und seltsame, schmetterlingsähnliche Lebewesen mit sich, die über das dunkle Wasser strichen und auf uns zukamen. »Ich sehe diese Insekten!« sagte ich. »Witterst du Gefahr?« Langsam gingen wir weiter. Der Weg verlief genau am Rand des Tümpels. Die Insekten schwirrten heran, bildeten eine kleine Wolke und schienen vom Licht magisch angezogen zu werden. Dann stürzten sie sich
Hans Kneifel auf uns. Sie waren offensichtlich lästig, aber nicht gefährlich. Ihre Flügel berührten uns und blieben an der Kleidung kleben. Wir schlugen um uns und begannen zu laufen, um dieser Attacke zu entgehen. Mitten in diesem Wirbel aus spinnenartigen Beinen, schlagenden Flügeln und langen Fühlern rauschte das Wasser auf. Wir fuhren herum. Ein flacher, häßlicher Kopf mit riesigen Augen erhob sich aus dem Wasser. Tang, Schlamm und Pflanzenstücke rutschten und tropften entlang des Schlangenhalses herunter. Ein mörderischer Gestank schlug uns entgegen. Dann hefteten sich die Augen auf uns. Der Schädel begann sich zu drehen, der Hals schwankte hin und her. Das Tier ähnelte auf einmal einer angreifenden Schlange. Allein der Schädel glich einer fürchterlichen Mutation eines Moojas. Eine lange Zunge schoß zwischen scharfen Reißzähnen hervor, dann Stieß das Tier einen röchelnden Laut aus. Der Kopf zuckte in einer unvorstellbar schnellen Bewegung herunter und traf auf den Weg – Fartuloon hatte sich mit einem schnellen Sprung zur Seite gerettet. »Es wird gefährlich«, knurrte Fartuloon und riß »Skarg« heraus. Noch immer schlugen wir nach diesen riesigen Motten, die in immer größerer Menge zwischen den Pflanzen hervorkamen. Mindestens fünfzig Meter weit lief der leuchtende Pfad am Tümpelrand entlang. Wir mußten darauf achten, den nicht mehr als einen Meter breiten Pfad nicht zu verlassen, weil wir uns dann in die Einflußsphäre womöglich noch gefährlicherer Tiere begaben. Wieder schrie das Schlangenwesen auf. Ein zweiter Hals tauchte aus dem Tümpel auf, aber der Kopf war noch zu weit entfernt. Wir rannten in einer Wolke von gelben Faltern dahin, die uns die Sicht versperrten und auf die Ohren, die Nase und die Augen zielten. Wieder stieß der Kopf zu, den Rachen weit aufgerissen, die langen Zähne vorgestreckt. Schlammtropfen flogen nach allen Seiten, als sich der Hals abbog wie eine zustoßende Kobra. Ich blieb stehen, federte in den Knien und
Die Burg des Tyrannen wischte fluchend die Motten von Stirn und Augen. Die rechte Hand hielt die Waffe. Als der Kopf bis auf vier Meter heran war, feuerte ich. Der Donnerschlag aus der Waffe versetzte diesen Teil des Dschungels in ein Chaos. Der Blitz detonierte in dem offenen Rachen und zerfetzte den Kopf. Ich hechtete nach vorn, zerteilte mit zwei Hieben die Wolke der Nachtfalter und rollte mich ab. »Schnell weg hier!« schrie ich. »Der Garten ist tatsächlich eine tödliche Falle. Wir müssen …« Ich kam wieder auf die Beine und versuchte, mich zu orientieren. Rundherum in den Zweigen und am Boden schrien unsichtbare Tiere. Ein Schwarm Vögel flatterte an uns vorbei und schlug uns mit Schnäbeln und Schwingen. Es war eine akustische Hölle. Wir hörten Zischen und Schreie, hysterisches Kichern und drohendes Brüllen und Fauchen. Dann donnerte die Waffe Fartuloons auf und tötete das zweite Wassertier, das schnell herangeschwommen war und seinen Rachen nach dem Bauchaufschneider ausstreckte. Der Krach des Abschusses verstärkte noch den Lärm. »Wir müssen rechtzeitig zum Abendessen im Schloß oder wo auch immer sein!« erwiderte Fartuloon. Wir sahen uns an und grinsten. Beide sahen wir mitgenommen und Verdreckt aus. Schlammspritzer, tote Motten und Tangfetzen bedeckten unsere Kleidung. Wir schüttelten uns und rannten weiter, immer das leuchtende Band entlang. Hinter uns blieben die zerfetzten Reptilien zurück. »Ein unappetitlicher Anmarsch!« sagte ich und blickte um mich; jeden Augenblick konnte eine neue Überraschung über uns hereinbrechen. Wir wunderten uns, daß wir keine anderen Menschen hier trafen. Vielleicht warteten sie in der Burg des Gouverneurs auf uns und amüsierten sich über unsere Abenteuer. »Und weitaus länger als ich gedacht hatte!« gab Fartuloon zurück. »Der Pfad führt im Zickzack durch die
15 Anlage!« meinte ich. »Das verlängert die Strecke.« »Richtig! Und vergrößert meine Wut!« Die Szenerie änderte sich jetzt langsam und fast unmerklich. Die Bäume, deren Luftwurzeln unglaublich miteinander verfilzt waren, wurden kleiner und zeigten Spuren von Kultivation. Die Lianen hingen geordnet an den Ästen. Büsche und Gestrüpp und die Inseln aus schwankenden Rohrgräsern sahen aus, als wären sie bewußt so angeordnet worden. Zwischen einzelnen Formationen waren Scheinwerfer versteckt angebracht. Riesige Mückenschwärme tanzten im Licht und bildeten sich ständig verändernde Schleier und Wolken. Jetzt begannen wir schwer zu atmen und in der schwülen, wasserdampfgesättigten Luft zu schwitzen. Trotzdem rannten wir hintereinander mit schußbereiten Waffen weiter. Wieder sahen wir vor uns ein neues Bild. Eine große Lichtung öffnete sich, durch die der strahlende Weg verlief. Wieder erkannten wir in dem gelben Licht die Flanken eines riesigen Felsens, der schräg aus dem Boden wuchs, umgeben von runden, sorgfältig gestutzten Bäumen und großen Büschen, deren sternförmige Blüten bis hierher dufteten. »Dahinter ist wohl das Hauptquartier des Gouverneurs!« murmelte Fartuloon hinter mir. »Ich sehe den Turm«, bestätigte ich und sah jenseits des Baumwerks eine helle Säule, die mit der durchsichtigen Fläche des Energieschirms verschmolz. Und noch immer spürten wir den Wind auf unseren Gesichtern. Hundert Meter ging es über die Lichtung, dann begann wieder ein Gürtel aus dichtstehenden Pflanzen. Als wir den Felsblock passierten, hielt mich Fartuloon auf, indem er einfach stehenblieb. Ich wich blitzschnell aus, um nicht mit voller Wucht in ihn hineinzurennen. »Das hat sich tatsächlich ein Wahnsinniger ausgedacht!« sagte ich. »Aber wir haben es nicht mehr weit bis zu Ihrer Hoheit. Wir haben uns das Essen jedenfalls redlich verdient.«
16 Grimmig versicherte Fartuloon: »Diesen Weg und die Aufregungen wird Sorpschan uns bezahlen. Und zwar in sehr teurer Münze.« »Einverstanden.« Wir waren erschöpft und wütend. Das Licht spiegelte sich in den Flanken des Felsens, der gelbrot und scharf in den Himmel ragte. Jetzt fiel uns noch etwas anderes auf. Es war unheimlich still geworden. Wir konnten nur das Murmeln einer Quelle oder eines Wasserlaufes hören und ein unklares Rascheln schräg hinter uns. Ich drehte mich einmal um und musterte Meter um Meter der Umgebung. Dann fielen meine Augen wieder auf den Felsen. Gegen das undeutliche Licht, gegen den helleren Schein jenseits der dunklen Masse der Bäume hoben sich merkwürdige dreieckige Gestalten ab, die den Felsen an allen oberen Kanten bedeckten. Dadurch sah er aus, als sei er angesägt oder ausgebrochen worden. Ich flüsterte aufgeregt: »Was ist das dort oben? Siehst du, was ich meine?« Ich deutete hinauf. Im gleichen Moment kam Bewegung in diese Verzierungen. Sie verschoben sich nach rechts und nach links. Ich sah erschrocken, daß es sich um fliegende Tiere oder um Raubvögel handeln mußte, wenn ich die Größe in Betracht zog. »Vögel«, sagte Fartuloon alarmierend. »Schnell. Es sind zu viele!« Wir spurteten los. Jetzt war es wahrscheinlich, daß wir um unser Leben liefen. Als wir uns nach vorn warfen, breiteten die ersten Tiere – es waren riesige Vögel mit weiten Schwingen – ihre Flügel aus und stürzten sich in unsere Richtung. Das Rauschen der Federn wurde zu einem lauten, drohenden Geräusch. Wir wurden schneller. Nur die Bäume oder das Gebäude selbst konnten uns Schutz geben. »Schneller, mein Sohn!« keuchte Fartuloon. »Sie sind dicht über uns.« Ich drehte mich halb um und erkannte, daß nicht weniger als dreißig Vögel sich auf uns konzentrierten. Noch behinderten sie
Hans Kneifel sich gegenseitig, aber aus der Masse der schwarzen, flatternden Leiber schoben sich einige starke Exemplare heraus und flogen dicht hinter uns, einige Meter über unseren Köpfen. Ein Tier, schwarz wie die Nacht, faltete die Schwingen zusammen und ließ sich auf mich fallen. In einer Sekunde würden sich die Krallen der vorgestreckten Fänge in meine Schultern bohren. Ich riß die Waffe hoch, duckte mich, lief im Zickzack weiter und feuerte. Ich wurde geblendet, obwohl ich die Augen geschlossen hatte. Aber der Energiestrahl verbrannte den Vogel und sprengte die anderen auseinander. Die Tiere begannen zu krächzen und rissen wütend ihre Hakenschnäbel auf. Ich feuerte dreimal in den dichten Schwarm der Verfolger hinein und rannte, so schnell ich es vermochte, hinter dem Bauchaufschneider her. Er wirbelte, etwa fünfzig Schritte vor mir, herum und hob seine Waffe. Ich wich seitlich aus und spürte die Hitze der Feuerstrahlen. Hinter mir schrien und flatterten die Vögel. Griffen sie alles an, das sich nachts hier bewegte, oder waren sie ausgeschickt worden, um uns zu töten? »Bringe dich in Sicherheit«, dröhnte Fartuloons Stimme auf. Einige weitere Schüsse krachten, neben mir fiel mit einem häßlichen, klatschenden Geräusch ein toter Vogel auf den Pfad. Die Federn des Tieres schmorten. Ich rannte jetzt dicht neben dem hellen Band auf Fartuloon zu. »Deckung!« schrie er. Ich begriff, hielt die Waffe fest in der Hand und hechtete nach rechts. Über meine linke Schulter strich schnell und mit weit geöffnetem Schnabel ein Vogel. Sein Flügel schlug hart gegen meine Schläfe. Ich überschlug mich im weichen Gras, kam sofort wieder auf die Beine und schoß auf den nächsten Vogel, der aus dem Halbdunkel auf mich zusteuerte. Ich erwischte ihn am Körper und wich aus, als er brennend auf mich fiel. Die anderen Vögel, etwa ein Dutzend,
Die Burg des Tyrannen umkreisten uns in engen Kreisen und Spiralen, als wir wie die Wahnsinnigen den Pfad entlang auf den Lichtschein zutaumelten. Immer wieder stieß eines der Tiere auf uns herunter. Sie waren wie besessen; ihre Angriffswut ließ nicht nach, obwohl der Weg hinter uns mit den brennenden und verschmorten Kadavern bedeckt war. Wir rannten weiter, keuchend und mit den Spuren des Kampfes an unseren Kleidern und Händen zwischen den Büschen hindurch, entlang an einer Reihe von Baumstämmen, dem Licht entgegen. Niemand kam uns zu Hilfe, wir sahen niemanden. Ich drehte mich immer wieder um und gab einen Schuß nach dem anderen ab. Jedesmal bäumte sich im Lichtblitz der nächst fliegende Vogel auf und stürzte ab. Die anderen verdoppelten ihre Angriffe, als wir zwischen den dichten Büschen herausbrachen, vor uns die Brücke sahen und dahinter das Bauwerk. Noch einmal, mitten auf der breiten Brücke, blieben wir stehen, rissen die Arme hoch und feuerten gezielt auf die Vögel. Vor uns erschien eine Kette von Explosionen, durch den Dschungel tobte der Lärm und rief abermals ein wildes Echo aus Schreien und Heulen und Flüchten hervor. Aber als wir uns umdrehten, sahen wir, daß wir am Ziel waren. »Ich traue meinen Augen nicht mehr!« sagte Fartuloon. Ich hatte ihn selten so verblüfft gesehen. Ich blieb starr stehen, als sich meine Augen an die reduzierte Helligkeit gewöhnt hatten. Das Bild war tatsächlich einmalig. Im Zentrum dieses mörderischen, stinkenden Dschungels befand sich eine große Rasenfläche. Sie war nicht völlig eben, sondern verlief in kleinen Hügeln und Senken. Ziersteine, eine Brunnenanlage, viele verborgene und deutlich sichtbare Lichter, zierliche Sträucher unterbrachen diese glatte, jetzt dunkelgrüne Fläche. In ihrer Mitte stand ein langgestrecktes, flaches Gebäude mit einer Front, die mindestens zweihundert Meter lang war. Jede einzelne Öffnung – es schien nur riesige Fenstertüren zu sein – war hell erleuchtet. An dem einen Ende des Gebäu-
17 des, das dort auf Stelzen stand, wo Felsen und ein Abhang des Rasens einen Absturz bildeten, sahen wir den Schaft des schlanken Turmes, der sich in der durchsichtigen Schirmanlage verlor. »Dieser Sorpschan ist entweder eine schillernde, einmalige Gestalt, oder auch er ist verrückt!« bemerkte ich düster. Mir war die Lust an diesem Bild gründlich vergangen. Langsam gingen wir, die Waffen in den Händen, auf eine vorspringende, hell erleuchtete Plattform zu, die mit dem Rasen durch Treppenstufen verbunden war. Dort auf der Fläche sahen wir Windlichter, eine ganze Menge Menschen, Tische und Stühle. Eine idyllische Szene. »Dahinter muß etwas anderes stecken!« meinte Fartuloon. »Das hat Methode. Vergiß nicht, daß wir nicht hier sind, um mit ihm Fragen der Etikette und des Wohlverhaltens zu diskutieren.« »Ich werde es nicht vergessen«, versprach ich und blieb dicht neben ihm. Wir wurden erwartet. Je näher wir den untersten Stufen kamen, desto mehr der etwa hundert Menschen drängten sich zusammen und sahen in unsere Richtung. »Offensichtlich die politisch interessierten Stützen der Gesellschaft!« bemerkte der Bauchaufschneider voller Wut. Wir blieben auf der mittleren Stufe stehen. Ich fragte laut: »Wer von euch ist der Gouverneur?« Zwischen den teuer gekleideten Personen allen Alters, aller Größe und nicht nur arkonidischer Herkunft schob sich ein hagerer Mann in einem schwarzen Anzug nach vorn. »Ich bin Djulf Sorpschan. Mit Sicherheit seid ihr die letzten Gäste. Wir haben auf euch gewartet.« Fartuloon stemmte die Arme in die Seiten. Er hielt noch immer die Waffe in der Hand und sagte laut und mit unverkennbarer Drohung: »Wir sind keine Bettler, und wir sind es nicht gewohnt, auf diese Weise empfangen zu werden.«
18 Um den Gouverneur bildete sich ein Halbkreis. Worte des Erstaunens wurden laut. »Ich will und werde kein Risiko eingehen. Ich bin mehrmals überfallen worden und lebe trotzdem noch. Und nicht jeder, der sich als wichtige Person ausgibt, ist auch eine.« Mit einer Stimme, die vor Ärger troff und die mir selbst fremd vorkam, fragte ich zurück: »Wir sind also getestet worden. Haben wir die Probe bestanden?« »Glänzend. Es hätte nicht besser ausfallen können. Bitte, kommt herauf. Laßt euch von den Dienern helfen.« Wir nahmen die restlichen Stufen und standen vor dem Gouverneur. Einige schnelle Blicke zeigten uns, daß wir in einem Wespennest gelandet waren. Nicht nur der Gouverneur war hier und seine Diener, sondern auch Mittelsmänner der anderen drei Gouverneure. »Und nach dem Duschen und Umziehen könnt ihr euch sicher exakt ausweisen!« rief uns der Gouverneur nach. »Mit Bestimmtheit!« erwiderte Fartuloon. Wir wurden ins Haus gebracht. Sorpschan kam auf uns zu. Ich betrachtete ihn genauer. »Du kommst also von Freemush. Worum geht es eigentlich? Ich bin sehr neugierig, alles zu erfahren«, wandte sich Djulf an mich. »Ich glaube nicht, daß wir besonders gesprächig sein werden«, konterte ich. »Wir sind verärgert.« Sorpschan war ein schlanker Mann mit großen, fiebrigen Augen. Er hatte ein schmales Gesicht und dunkles Haar, das lang in den Nacken fiel. An seinen dünnen Fingern funkelten schwere Ringe. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Gouverneur, »wenn ich euch verärgert haben sollte. Einem Mittelsmann oder wie ihr gesagt habt, den Augen und Ohren eines Ökonomen gegenüber werde ich mich gebührend zu entschuldigen wissen.« Der Bauchaufschneider kam auf uns zugestapft. Seine Augen funkelten angriffslu-
Hans Kneifel stig. »Was mich versöhnen könnte, wäre ein gutes Essen. Mit viel Wein und in der Gesellschaft ausgesucht schöner Frauen.« Mit einer wahrhaft fürstlichen Bewegung des Armes deutete Sorpschan um sich und sagte leutselig: »Alles das wirst du hier finden, mein Freund. Aber jetzt darf ich an die Tafel bitten!« Es hatten sich Gruppen gebildet. Ich konnte wetten, daß es hier von Spionen wimmelte, aber bisher war unsere wahre Identität noch nicht aufgedeckt worden. Der Gouverneur faßte uns leicht an den Armen und führte uns an das Kopfende der Tafel. Wir hatten die Ehrenplätze links und rechts neben ihm. Neugierige Blicke folgten uns, verfolgten jede unserer Bewegungen. Der Gouverneur klatschte in die Hände und setzte sich. Das Essen wurde aufgetragen, und die still brennenden Windlichter machten die Situation weniger bedrohlich, als sie in Wirklichkeit war. Wir saßen mit gespannten Muskeln und Nerven da und gaben uns den Anschein von Gelöstheit. Dem Gouverneur war es anscheinend nach einer Plauderei während der Mahlzeit zumute. Er lächelte Fartuloon mit zwei Reihen blendendweißer Zähne an und fragte: »Woher kommt ihr, meine Freunde?« »Wir sind hier gelandet, kamen auf etlichen Irrwegen an einige Stellen des Planeten und sind um die richtigen Eindrücke bemüht, um die richtigen Ratschläge geben zu können!« erwiderte Fartuloon. »Dies war eine Auskunft voller Diplomatie«, antwortete Djulf und hielt einem Halbrobot sein Glas hin. Die Maschine füllte mit exakter Perfektion das Glas zu zwei Dritteln. »Wir können es uns nicht leisten, unproblematisch zu sein«, sagte ich. »Denn die Augen eines Ökonomen müssen die Dinge richtig sehen. Du hältst dich für den berechtigten Nachfolger Agmons, des Imperiumsbeauftragten?« Gnädig gestattete sich Djulf mit mir zu sprechen. Für eine Mission von solch diplo-
Die Burg des Tyrannen matischer Delikatesse schien ich ihm noch reichlich jung zu sein, das waren seine Gedanken. »So ist es, und sicher nicht zu Unrecht«, bemerkte Sorpschan. »Aus der Burg des alten Agmon, die hinter einem undurchlässigen Energieschirm liegt, hörte man seit langem nichts.« »Wie das?« fragte mürrisch der Dicke und flirtete ungeniert mit drei jungen Frauen gleichzeitig. Sie schienen von ihm fasziniert zu sein. Er grinste wie ein dicker, mondgesichtiger Teufel. Auch eine seiner unzähligen Masken. »Nur seine Anordnungen und Verwaltungsakte kommen noch auf uns«, erläuterte der Gouverneur. Er schien sich damit anzufreunden, daß wir tatsächlich die Wahrheit sagten. »Niemand auf Jacinther Vier weiß genau, was hinter diesem Energieschirm vorgeht.« »Auch nicht die Spione des Gouverneurs?« erkundigte ich mich spöttisch. Meine Gedanken schweiften ab zu unseren beiden Freunden, die sich versteckten und sozusagen unsere Lebensversicherung darstellten. »Auch diese nicht«, gab er zu. »Niemand. Niemand hat seit langer Zeit etwas von Agmon gesehen. Auch nicht, natürlich, ihn selbst. Er ist schon heute mehr eine Legende oder vielmehr ein Schatten seiner selbst. Schon allein aus diesem Grund begrüße ich die Ankunft eines Ökonomen.« Die Diener servierten, die Gäste unterhielten sich, und aus versteckten Lautsprechern kam eine unaufdringliche Musik. »Ebenso begrüßen die drei anderen Gouverneure denselben Umstand«, knurrte Fartuloon. Wir beruhigten uns ein wenig und kosteten das Essen. Es waren viele Gänge, und alle Speisen waren vorzüglich. »Ich will diesen Umstand nicht leugnen. Es ist verständlich«, entgegnete Sorpschan. »Sicher hast du hier auch Vertreter der drei Rivalen eingeladen?« erkundigte ich mich nach einer Weile und deutete auf die Tafel. Hier war die Luft wunderbar kühl, sie
19 stank nicht, und es gab auch keine Insekten. »Sicher. Sie werden ihren Herren berichten, daß die Boten des Ökonomen bei mir speisen und sich freundschaftlich mit mir unterhalten. Übrigens werde ich mir das Vergnügen bereiten, euch morgen mein Haus und meine Art, die Provinz zu leiten, genau zu zeigen.« »Danke«, sagte ich kühl und sah ihn über den Rand des Glases an. »Wir kennen bereits den Chef der Nocto-Nos.« … Der Gouverneur lächelte. Dann kam ein Diener, beugte sich zum Ohr des Mannes und flüsterte etwas. Langsam änderte sich der Gesichtsausdruck des Gouverneurs. Er starrte zuerst Fartuloon, dann mich an, schließlich sagte er kurz: »Entschuldigt mich.« Er stand auf, verließ die Tafel und eilte mit langen Schritten ins Haus. Wir blickten uns an und wußten fast automatisch, daß uns Gefahr drohte. Sie konnte nur aus einer Richtung kommen. Aus Braschoon auf dem Südkontinent …
3. Die anderen Gäste beruhigten sich sehr schnell. Das ausgezeichnete Essen, die Getränke und die Unterhaltung lenkten sie ab. Viele hatten es auch jetzt noch nicht gemerkt, daß der Gouverneur die Tafel verlassen hatte. Wir ahnten, was jetzt kommen würde. Flüsternd und mit winzigen Gesten verständigten wir uns – es gab immer einen Ausweg. Aber bis wir wußten, was wirklich geschehen war und welchen Grund die plötzliche Wut des Gouverneurs gehabt hatte, mußten wir unsere alte Maske weitertragen. Ein Mann, der Nachbar meiner langhaarigen Nachbarin, sprach mich an. »Junger Mann«, sagte er halblaut. »Du bist offensichtlich weit herumgekommen?« »In der Tat«, gab ich zu und runzelte die Stirn. Sein Tonfall klang nach Angriff. »Dann wirst du mir auch sagen können, warum gerade Djulf Sorpschan der aus-
20 sichtsreiche Kandidat für die Position des Imperiumsbeauftragten ist.« Ich schüttelte den Kopf und sah zwei Silhouetten gegen den hellen Hintergrund eines Wohnraums näherkommen. »Er ist es ebenso wenig wie die anderen drei Gouverneure«, erklärte ich. »Oder ebenso viel. Nichts ist sicher. Wir können den Entschluß Freemushs nicht beeinflussen.« Die Schatten kamen näher. Ich sah den Blick, den Fartuloon mir zuwarf. Höchste Alarmbereitschaft lag darin. »Ihr beeinflußt den Entschluß also nicht? Warum dann eure Anwesenheit?« fragte der Mann. Sicher war er aus dem Lager eines anderen Gouverneurs. Hier auf Jacinther Vier herrschten Strömungen und Verbindungen, die ein getreues Spiegelbild des Lebens am Hof Orbanaschols waren, nur kleiner und mit geringerer Zielsetzung. Jetzt blieb der Gouverneur hinter seinem Sessel stehen. Die Gestalt an seiner linken Seite … ich drehte den Kopf und riskierte einen langen Blick. Der krumme Wirt! Wir hatten ihn gesehen, waren mehrmals an den Theken seines Lokals gestanden, vor einiger Zeit im Handelsstützpunkt Braschoon auf dem südlichen Kontinent. Mit Sicherheit war er einer von Sorpschans Spionen, denn sonst hätte er kaum jemals eine Chance gehabt, hier eingeladen zu werden. Langsam verstummten die Unterhaltungen. Ein paar Gläser klirrten. Fartuloon saß entspannt da, lehnte sich zurück und ließ sich soeben sein Glas nachfüllen. Ich schob meinen letzten Fleischbrocken in den Mund und kaute – für uns war das Essen beendet. Dann entspannte ich mich und hob mein Glas, das noch gefüllt war. Ich genoß den letzten Schluck Wein. Mit lauter, von Ärger gezeichneter Stimme begann der Gouverneur zu sprechen: »Unser Fest ist gestört worden! Wir haben Verräter unter uns. Diese beiden Männer, die sich als Mitarbeiter des ver-
Hans Kneifel ehrten Ökonomen ausgegeben haben, sind in Wirklichkeit alles andere als ehrenwerte Personen. Dieser Mann hier, einer meiner wichtigsten Spione auf dem Südkontinent, ist soeben eingetroffen und hat mich davon unterrichtet. Es ist wohl Zeitverschwendung, wenn ich auf alle eure Verbrechen und Abenteuer eingehe, die in der letzten Zeit soviel Aufregung über Jacinther Vier gebracht haben?« Fartuloons Grinsen war nicht anders als unverschämt zu bezeichnen. Ich setzte das leere Glas ab; gerade eine Stunde lang hatten wir Ruhe gehabt. »Im Augenblick, Hoheit«, sagte Fartuloon und drehte sich halb im Stuhl herum. Ich sah, wie er sich für einen Sprung bereit machte. »Im Moment scheint die Göttin des Glücks nicht bei uns zu weilen. Der Anschein spricht gegen uns, aber wir werden rehabilitiert werden. Und dies in kurzer Zeit!« Der krumme Wirt, dessen Oberkörper zur linken Schulter hin gekippt war und dem mittelgroßen Mann ein merkwürdiges Aussehen gab, redete leise auf Sorpschan ein. Der Gouverneur brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen und hob eine Hand an den Mund. Einer seiner Ringe glühte dunkel auf. »Ich kann kein Risiko eingehen. Das, was wir von euch wissen, reicht für ein Todesurteil. Holt sie euch, Jungens! Laßt sie verschwinden, für immer.« Aufgeregtes Murmeln breitete sich wellenförmig entlang der Tafel aus, erreichte das entgegengesetzte Ende und kam wieder zurück. Die junge Frau neben mir starrte mich mit großen Augen an und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Fartuloons Hand schoß vor, er warf in einer gekonnt ungeschickten Bewegung das Glas um. Das Signal! Ich sprang zurück, warf meinen Stuhl nach rechts und zog die Waffe. In derselben Sekunde hechtete der Bauchaufschneider auf Sorpschan zu, schleuderte den Wirt mit ei-
Die Burg des Tyrannen ner wilden Handbewegung um fünf Meter zurück und stand plötzlich hinter dem Gouverneur. Ein Blitz funkelte auf und entpuppte sich als der Skarg, der quer vor dem Hals Sorpschans lag. »Leute!« schrie Fartuloon, »wenn sich einer rührt, stirbt Sorpschan!« Lähmendes Schweigen breitete sich aus. Mit einer Hand griff Fartuloon nach dem Arm des Gouverneurs und drehte ihn auf dessen Rücken, schob ihn hoch. Ächzend krümmte sich Sorpschan. »Niemand rührt sich!« schrie ich und feuerte einen Schuß ab. Ich stand zehn, zwölf Meter neben der Tafel und konnte jede verdächtige Bewegung sehen. Einige Sekunden vergingen, in denen sich niemand rührte. Dann konnten wir aus den Augenwinkeln erkennen, daß aus dem Haus und hinter dem Haus hervor sich einige Männer näherten. Offensichtlich die Leibwächter des Gouverneurs. Sie blieben stehen, als sie erkannten, daß sich der Gouverneur in unserer Gewalt befand. Wieder sprach Fartuloon. Seine Stimme war diesmal ungewöhnlich ernst. »Hört zu, alle! Wir haben den Gouverneur in unserer Gewalt. Geschieht uns etwas, stirbt er. Wir sind keine Spione, aber der Anschein ist gegen uns. Ein Toter kann sich nicht mehr verteidigen, und deswegen haben wir etwas dagegen, von diesem Mann und seinen Nocto-Nos-Schergen getötet zu werden. Wir müssen uns absichern und flüchten. Djulf Sorpschan geht mit uns. Vorwärts!« »Und keine selbstmörderischen Aktionen!« warnte ich und ging langsam rückwärts, bis ich die Front des Gebäudes und die Tafel gleichzeitig überblicken konnte. Dann drehte ich mich um und winkte die drei Männer, die hinter mir standen und schwere Waffen in den Händen hielten, zur Seite. »Keine Dummheiten!« Sie gehorchten. Schritt um Schritt zog sich Fartuloon mit dem Gouverneur in seinem erbarmungslosen Griff zurück, in die
21 Richtung der offenen Wohnräume. Niemand wagte sich zu rühren. In dem Augenblick aber, wenn wir uns die geringste Blöße gaben, würden sie über uns herfallen. Das bedeutete, daß wir zu unserer eigenen Sicherheit Djulf als Geisel nehmen mußten. Die Leibwächter blieben unschlüssig. Jetzt befanden wir uns dicht vor der Linie, die zwischen der Terrasse und den Hauseingängen lag. Der lange Tisch mit den wie erstarrt dasitzenden Gästen war etwa zwanzig Meter von uns entfernt. Rechts von mir und rechts von der Längsseite der Tafel standen drei Männer, die ihre Waffen gesenkt hatten und sich ausschließlich auf Fartuloon und den Gouverneur konzentrierten. Ihnen gegenüber bildeten vier dunkel gekleidete Wächter eine lockere Linie. Auch sie starrten die beiden Männer an. Der Spion des Gouverneurs stand verkrümmt vor diesen vier Leibgardisten. Keiner sprach, keiner rührte sich. Die glänzende Schneide des Skarg sprach eine deutliche Sprache. »Warte hier, mein junger Freund«, sagte plötzlich Fartuloon. Ich nickte in seine Richtung. Mit einigen schnellen Schritten überquerte der Dicke die Trennlinie zwischen Terrasse und Haus und zog sich zurück. Hilflos stolperte der Gouverneur hinter ihm her. Ich hörte, wie er gurgelte: »Ihr werdet nicht weit kommen. Früher oder später erwischt euch die Nocto-Nos oder die Polizei. Oder meine Leibwache.« Grimmig versprach Fartuloon: »Sie erwischen uns im Augenblick deines Ablebens, Gouverneur. Es gibt einen anderen Weg aus diesem Dschungelkrater. Zeige ihn uns!« »Ich denke nicht daran!« Ich blickte die beiden Gruppen warnend an, machte ein paar schnelle Sätze und wechselte meine Position. Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden. Jeden Sekundenbruchteil konnte diese instabile Situation zusammenbrechen und explodieren. Ich gab Fartuloon einen Wink. Er begriff. Ich riß einen weiten Mantel von der Wand und blieb mit dem Rücken an eine breite
22 Säule gelehnt, die einen Raum halb abteilte. Dann hörte ich ein würgendes Stöhnen. Fartuloon drückte das Schwert hart gegen den Hals seines Gefangenen. »Den Weg, Gouverneur! Wenn du den Krater verläßt, nimmst du nicht den leuchtenden Pfad!« »Nein, ich …« »Schneller! Oder willst du provozieren?« Mit der freien Hand vollführte Sorpschan einige ziellose Bewegungen, dann deutete er zu der blauen Tür im Hintergrund. Von seiner sprichwörtlichen Eleganz war jetzt nichts mehr zu merken. Er war nur mehr ein Mann, der zwischen Angst und Wut schwankte. »Das Boot … Die Wasserstraße!« »Bringe uns hin! Du wirst mitkommen!« sagte Fartuloon gnadenlos. »Aber ich …«, begann der Gefangene. »Kein aber!« Fartuloon zerrte Sorpschan zur Tür. Ich kontrollierte noch immer den Raum zwischen uns und den Wächtern. Bisher hatten sie noch keinen Angriff versucht, aber sie bewegten sich bereits unruhig und sahen ihre Chance deutlich vor sich. »Schnell. Wir müssen das Haus verlassen«, sagte ich warnend. Die Tür glitt nahezu geräuschlos auf. »Hinunter«, sagte Fartuloon im Gesprächston. »In diesem Fall bekommst du Skarg von hinten zwischen die Rippen. Keine Tricks!« Ich blieb in der Türöffnung stehen, übersah die Lage, dann schloß ich die Tür, hämmerte mit dem Griff der Waffe den Schalter in die Wand und zerstörte ihn, dann rannte ich hinter meinem Freund her. Wir nahmen in großer Schnelligkeit etwa dreißig Stufen, die aus hellem Stein bestanden und mit einem weißen Teppich belegt waren. Dann, als sich das Licht änderte, standen wir auf einer Plattform, die als schmale Zunge über dunkles Wasser hinausragte. »In welche Richtung, Hoheit?« fragte Fartuloon und richtete die Spitze des Schwertes gegen die Wirbelsäule Sorpschans. »Nach links.«
Hans Kneifel »Du wirst uns begleiten. Wenn deine Leute auf uns schießen, dann sorge ich dafür, daß sie dich treffen.« Ich ging schnell bis an den Rand der Plattform. Dort lagen drei Boote nebeneinander, ordnungsgemäß vertäut. Ich suchte das größte und vermutlich auch das schnellste aus, sprang hinein, wechselte augenblicklich ins nächste Boot über und entfernte aus beiden anderen die Zündkontakte und riß einige dicke Steuerkabel heraus. »Du steuerst?« fragte der Bauchaufschneider und schob den Gouverneur an den Spalt zwischen Bordwand und Steg heran. »Ja«, erwiderte ich, schob den Kontakt hinein und versuchte, mich schnell mit den Kontrollen vertraut zu machen. Das Energieaggregat brummte auf, hinter dem Heck des schnellen Gleitboots begann das Wasser zu brodeln. Ich setzte mich vor die Steuerung, nachdem ich die Leinen gelöst hatte, dann hielt ich das Boot im Rückwärtsgang der Unterwasserdüsen gegen den Steg. »Hinein!« Ein nachdrücklicher Stoß, und Sorpschan sprang ins Boot. Fartuloon landete neben ihm und drückte ihn auf den Nachbarsitz nieder. Gleichzeitig öffnete ich die Unterwasserdüsen weit, ließ die Hitzeturbinen hochfahren und kauerte mich in dem Fahrersitz zusammen. Das Boot bäumte sich vorn auf, raste in einer engen Kurve vom Steg weg und wurde schneller. Die spitze Nase senkte sich wieder, und wir schossen in einen dunklen Tunnel aus Wasser und überhängenden Bäumen und Ästen hinein. Nach fünfzig Meter sah ich nur noch die spitzwinklige Bugwelle, die immer weiter am Bootsunterteil nach hinten wanderte, bis der Gleiter nur noch auf dem äußersten Teil des Hecks dahinglitt. »Ich nehme an«, brüllte Fartuloon durch das zischende Geräusch der gischtenden Wellen, »daß dieser Kanal bis an den Rand des Kraters führt?« »Ja, aber er ist gewunden, nicht gerade!« gab der Gouverneur zurück. Ich hatte den Geschwindigkeitsregler bis zum vorderen
Die Burg des Tyrannen Anschlag geschoben. Das Boot konnte nicht mehr schneller werden. Ich fand einen Schalter; drei Scheinwerfer flammten auf und strahlten gerade in den dunklen Schacht hinein, durch den wir rasten. Eine irre Vorstellung – der Gouverneur verließ sein Haus und seinen Krater auf dem Wasserweg. »Ich warne dich zum letztenmal!« sagte Fartuloon. »Wenn es Hindernisse oder Fallen gibt, dann stirbst du mit uns, Djulf Sorpschan!« Er hielt sich krampfhaft fest, weil das Boot Sprünge von mehreren Metern Weite machte und unaufhörlich hart gegen das Wasser schlug. Wir bewegten uns wie ein über die Wellen hüpfender Kiesel dahin. Meine Augen bohrten sich in die halbe Dunkelheit; das Boot folgte nicht jeder Bewegung der Steuerung. »Erst am Ende«, ächzte der Gefangene. Ich versuchte, das tanzende Boot annähernd in der Mitte der schmalen Wasserrinne zu halten. Bewachsene Ufer huschten rasend schnell vorbei. Meistens war der Rand des Gewässers unsichtbar verborgen hinter riesigen Gewächsen, hinter schwankenden Bündeln von Lianen. Wie Edelsteine leuchteten faulig riechende Orchideen aus den Zweigen. Augen von riesigen Tieren funkelten im Lichtschein der kalten Lampen auf. Ich nahm alles nur undeutlich und schattenhaft wahr, denn ich konzentrierte mich auf dieses ungewöhnliche Fluchtgefährt. Der Kanal verlief in leichten Windungen durch den Dschungel. Einmal hämmerte der Kiel des Bootes gegen ein großes Tier, dessen Weg wir gekreuzt hatten. Es gab einen harten Schlag, das Boot vollführte einen Sprung und drehte sich in der Luft nach links. Es schwankte hin und her, als es wieder hart einsetzte, dann schoß es mit weißer Heckwelle weiter. Hinter mir schrie der Gouverneur auf. Dann rasten wir mitten in das Gewirr aus Blättern und kleinen Ästen hinein; ein mächtiger Ast war heruntergebrochen und lag im Wasser. Wir schossen wie ein spindelförmiges Projektil durch die grüne Barriere. Das
23 Boot zerfetzte die Blätter, riß die Lianen auseinander und ließ die Äste zersplittern. Meine Muskeln verkrampften sich, ich erwartete einen Aufprall, der uns alle aus den durchfedernden Sitzen schleuderte und gegen einen Baum oder einen Felsen schmetterte. Aber das Boot landete im Wasser, tanzte hilflos hin und her, bis ich es wieder in meine Gewalt bekam. »Du wählst einen ungewöhnlichen Weg, Sorpschan!« sagte Fartuloon. »Ich liebe das Bizarre.« »Schade, daß wir auf diese Weise miteinander verkehren müssen«, sagte ich. »Ich meine es ehrlich. Aber die Würfel sind nun einmal in diese Richtung gerollt.« »Ich glaube keinem von euch. Nicht ein einziges Wort!« schrie Sorpschan aufgebracht. Fartuloon lachte entspannt. Er schien diese rasende Fahrt zu genießen. »Die Zeit wird uns rechtfertigen!« erklärte er großspurig. Ich kauerte über der Steuerung, sah den Widerschein des Lichtes auf dem schwarzen Wasser. Das Boot wurde langsamer, als der Gouverneur »Halt!« sagte. Ich sah nichts anderes, als was ich bisher um mich gehabt hatte: Dunkelheit, die langen Schatten und die kalkweißen Bahnen der drei Scheinwerfer. Langsam sank das Boot weiter und weiter ins Wasser und wurde langsamer. Als der Bug in die schwarze, ölig wirkende Flüssigkeit einsank, bildeten sich Wellen und Strudel. »Was ist los?« Ich drehte mich halb herum. Die rasende Fahrt schien unseren Gefangenen sehr mitgenommen zu haben. Er saß regungslos auf seinem Sitz und klammerte sich an einer Lippklüse und einem Handgriff fest. Fartuloon lehnte in den Polstern und richtete die Spitze des kurzen Schwertes auf das Herz des Mannes. »Langsam weiter. Sonst kommen Sie niemals hinaus.« »Wie ist der Ausgang gesichert?« fragte ich leise.
24 Weißer Schaum quirlte hinter dem Heck des Bootes. Mit mäßiger Geschwindigkeit trieben wir weiter. »Durch eine Barriere aus Stahl und eine Tarnillusion!« war die Auskunft. »Was habt ihr mit mir vor?« Fartuloon erklärte: »Wir brauchen mehr Sicherheit. Wir nehmen dich mit bis zum Gleiter. Weiter nicht – vermutlich.« »Wie löse ich die Sperre auf?« rief ich. Vor mir war das dunkle Wasser versperrt. Es endete vor einigen Stämmen, die sich quer über den Kanal legten. Fauliger Geruch stieg auf. Auf dem Wasser trieben losgerissene gelbe Blüten. »Der schwarze Knopf, links neben dem Steuer!« Ich suchte und fand den Knopf. Er kippte halb, als ich draufdrückte. Verborgene Maschinen begannen zu summen. Nacheinander hoben sich die Baumstämme hoch und kippten zurück in den Dschungel rechts und links neben anderen Bäumen. Das Fahrwasser war auf hundert Meter geradeaus frei. Das Boot fuhr langsam weiter. Ich wartete auf weitere Hindernisse. Einige Sekunden vergingen, in denen nur das Summen der Maschine zu hören war und die Laute des halbnatürlichen Urwaldes. Wir boten ein hervorragendes Ziel, falls die Leibgarde bereits hier war. Der Gouverneur schien nicht der Mann zu sein, der sich uns hilflos auslieferte. »Was jetzt?« fragte ich laut. Ich glaubte jenseits der Zweige und Gewächse die Augen der Verfolger zu sehen. Wir wurden nervös … »Drücke den Knopf zweimal.« Ich führte seine Anordnung aus. Sorpschan war so mitteilsam, weil die Spitze des Schwertes wieder auf seine Kehle wies. Vor uns, etwa zwanzig Meter, entstand dicht unter dem Wasser eine Bewegung. Scharfe Spitzen waren zu sehen und dicke Stücke Metall, die mit wuchtigen Schrauben miteinander verbunden waren. Unser Boot würde aufgerissen und zerstört werden.
Hans Kneifel Langsam driftete das Boot über dieses vernichtende Unterwasserhindernis hinweg und wurde vor einer massiven Wand aus wild übereinander gefallenen Felsbrocken langsamer. »Die Illusion?« fragte ich. »Ja. Dreimal drücken.« Ich betätigte den Schalter. Die Illusion verschwand. Ich löschte zwei Scheinwerfer und fuhr langsam an. Die Felsen waren vollständig verschwunden. Wir fuhren durch einen engen Stollen, der durch den Ringwall dieses Kraters getrieben war. Weit vor uns verlor sich der gerichtete Strahl in der Weite der Nacht über diesem Teil des Planeten Jacinther Vier. Das Echo des brummenden Hochleistungsmotors brach sich in den Felsen. »In Kürze ist deine Gefangenschaft vorbei, Sorpschan«, erklärte Fartuloon, als wir mit breiter Bugweite aus dem Stollen hinaus und auf den See fuhren. Etwa dreitausend Meter weiter rechts – wir hatten diesen See während des Herflugs aus der Luft erkennen können – wartete unser Gleiter. Wenn wir Glück hatten, dann warteten dort die Leibwächter oder schnell alarmierte Nocto-Nos-Leute nicht auf uns. »Dies alles nützt euch nichts!« wiederholte Sorpschan. »Ich habe Befehl erteilt, euch zu verhaften oder gegebenenfalls zu töten, und daran ändert sich nichts mehr. Selbst wenn ihr mich umbringt.« »Das hat niemand vor. Wir sind friedliche Menschen«, erklärte ich. Die Maschine des Bootes brummte auf. In der Dunkelheit zeichnete sich im schwachen Licht der Sterne nur die Kielspur des Bootes ab. Ich steuerte auf die Stelle des Ufers zu, die dem Standort unseres Gleiters am nächsten lag. »Wohin werdet ihr flüchten?« Fartuloon stieß ein dröhnendes Lachen aus. Er wirkte, als habe er zuviel Wein erwischt. »Wir sind nicht halb so naiv, nicht halb so verbrecherisch, wie Eure Hoheit anzunehmen belieben«, scherzte er. »Und nun, ein
Die Burg des Tyrannen längerer Fußmarsch wird uns allen helfen. Wir fühlen uns dann besser durchblutet.« Der Kiel des schnellen Bootes schrammte auf den Kieseln auf. Ich schaltete die Maschinen aus und sprang ins Wasser. Bis zum Knie versank ich im Schlick des Ufers, dann wurden die beiden anderen Männer von dem Ruck halbwegs aus den Sitzen gehoben und kletterten über den Bug ans Land. »Vorwärts!« sagte Fartuloon. »Lasse dich nicht durch meinen angenehmen Plauderton täuschen, Herr Gouverneur. Ich bin gewohnt, schnell zu reagieren.« »Ich verstehe.« Wir begannen, so schnell wir konnten, uns entlang des Ringwalls auf den Platz zuzubewegen, an dem wir unseren Gleiter mit dem Clanzeichen der Glenlivet wußten. Uns trieb die Furcht, wieder in einen Hinterhalt zu geraten. Rund drei Kilometer … Ein wildes Rennen begann. Wir liefen entlang eines Pfades, den man mehr ahnen als sehen konnte. Unser einziges Licht war das der Sterne. Meistens rannten wir entlang der äußeren Schräge des Ringwalls, aber wir kamen auch hinunter in den Dschungel und an den Rand des Moores. Fartuloon lief voran; er schien im Dunkeln sehen zu können wie eine Katze. Der Gouverneur halbwegs am Ende seiner Kräfte, in der Mitte. Wir verloren den Begriff für die Zeit, für die Entfernungen. Wir stolperten, fielen zu Boden und kamen wieder hoch. Eigentlich hielt sich der Gouverneur ganz gut, aber er würde sich, wenn er es konnte, auf fürchterliche Weise rächen. Aber wir nahmen keine Rücksicht – aus zwei Gründen. Erstens hatten wir nichts Geringeres zu verlieren als unser Leben, und zweitens zielten wir direkt auf Freemush. Abermals wurden wir gezwungen, zu reagieren. Das Handeln war uns für den Augenblick versperrt und unmöglich gemacht, aber diese eine Stunde der Ruhe schien uns zusätzliche Kräfte verliehen zu haben. Tiere schrien und flüchteten vor uns.
25 Andere Tiere, große Katzen oder merkwürdige Reptilien, die wir niemals richtig sehen konnten, waren hinter uns her. Fartuloon schien in Wirklichkeit aus mehreren Personen zu bestehen, von denen jede ein ebenso guter Kämpfer war. Mit dem Schwert zerhackte er eine riesige Schlange, die sich aus einem Baum auf uns stürzte. Zweimal feuerte er, die Waffe auf geringe Intensität eingestellt, auf Raubtiere, die aus dem Sumpf auftauchten. Er erkannte den Pfad, als sei es ein breiter Weg, der gut beleuchtet durch den Urwald führte. Schließlich hielt er an. »Noch hundert Meter!« sagte er. »Geh du voraus. Gib Zeichen, wenn du Gefahr witterst.« »In Ordnung«, sagte ich und rannte nach vorn. Ich bemühte mich, so leise wie möglich aufzutreten. Ich konzentrierte mich auf den Weg. Er war so schmal wie meine Hand, aber ich schaffte es, bis an den Rand der schmalen Straße vorzustoßen und dort zu warten. Keuchend und schweißüberströmt verbarg ich mich im Schatten eines Baumes. Dort ist der Gleiter, dachte ich. Vielleicht warten sie darauf, daß einer von uns über die Straße rennt. Ich wich nach rechts aus, kämpfte mich nahezu geräuschlos hundertfünfzig Meter durch morastigen Dschungel und überquerte dann die Straße. Ich sah keinerlei Anzeichen dafür, daß der Gleiter bewacht wurde. Ich kämpfte mich dieselbe Strecke zurück, dann ließ ich mich auf Knie und Ellenbogen nieder, robbte die wenigen Meter bis zum Gleiter und spähte dann um mich. Ich sah und hörte nichts außer dem pochenden Schlag meines Herzens, der in den Ohren zu rauschen schien. Langsam, Millimeter um Millimeter, stemmte ich mich vom Boden hoch. Meine Augen versuchten, die fast totale Dunkelheit zu durchdringen. Ich fühlte mich ausgelaugt. Die Müdigkeit griff mit ihren schmeicheln-
26 den Spinnenfingern nach mir. Ich erreichte den Türgriff und zog mich vollends in die Höhe. Ich stand auf und drehte mich langsam um. Nichts. Wir hatten überall dort, wo Sorpschan oder seine geheimen Verbündeten von der Nocto-Nos die politische Landschaft kontrollierten, nicht die geringsten Chancen des Überlebens. Wir würden einen ganz anderen Platz aufsuchen müssen. »Hier bin ich«, sagte ich laut. Die Worte schienen unangemessen laut zu sein. Ich hörte dicht gegenüber meinem Standort Geräusche und einige knackende Ästchen. Dann rannte Fartuloon im Zickzack auf mich zu. »Alles in Ordnung, Atlan?« flüsterte er und riß die Tür auf der Fahrerseite auf. »Ich habe nichts und niemanden gesehen!« versicherte ich und schwang mich in den Gleiter. »Dann ist es gut. Du ahnst, wohin wir fliegen?« »Zu einem Platz hoffentlich!« sagte ich, »an dem wir uns waschen und ausschlafen können.« »Meinetwegen.« Der Gleiter startete, drehte sich herum und raste die Piste entlang. Dann zog Fartuloon die Maschine hoch, bis wir knapp über den Wipfeln der Bäume dahinschwebten. Die Maschine brummte zuverlässig. Nur ein Wunder hatte uns gerettet – der Umstand, daß die Männer der Nocto-Nos ihre Aktionen nicht abgesprochen und koordiniert hatten, war schuld daran, daß niemand unseren Gleiter bewachte. »Was ist mit Sorpschan?« fragte ich. Meine Augen fielen von allein zu. Ich hatte Mühe, wach zu bleiben. »Er ist dicht neben der Straße mit Lianen an einen Baum gefesselt!« sagte Fartuloon. »Außerdem habe ich ihn gelähmt. Bis er aufwacht, haben wir fünfzehn Stunden Vorsprung.« »Und in welche Richtung steuerst du?«
Hans Kneifel Er lachte grimmig. »Dorthin, wo uns niemand suchen wird!« Ich schluckte. Sein Plan war vermessen, aber gerade die kühnsten Gedanken hatten meist die größte Aussicht auf Erfolg. »Wohin also?« »In die Burg von Fertomash Agmon, mein Junge.« Ich stöhnte auf. »Ich habe es fast geahnt!« sagte ich. »Offensichtlich ist es alles andere als einfach, einen Ökonom Orbanaschols zu kidnappen. Unser Kampf ist die Tat zweier Wahnsinniger. Wir …« Freundlich murmelte Fartuloon: »Halt den Mund, Atlan. Und versuche zu schlafen. Morgen sehen die Dinge ganz anders aus.« Der Sitz des rätselhaften Imperiumsbeauftragten, den es nach Aussage seiner politischen Gegner nicht mehr gab, lag etwa in der Mitte der Straße der tausend Krater, also rund hundertfünfzig Kilometer von Sebentool-Varn oder von Sebentool-Braan entfernt. Wir hatten die Anlage noch nicht selbst gesehen, aber schon viel von ihr gehört. Weit ins Innere des Landes versetzt, hinter einem undurchdringlichen Hochenergieschirm, sollte diese alte steinerne Burg sein. Man munkelte, daß es die Relikte einer ausgestorbenen Zivilisation sein sollten. »Wir werden es erleben!« murmelte ich müde. »Aber vorher werden wir uns für die kommenden Auseinandersetzungen an einem sicheren Platz stärken und ausruhen!« versprach der Bauchaufschneider. Der Gleiter raste ohne Scheinwerfer durch die Nacht. Nur die Sterne mit ihrem schwachen Licht beleuchteten unseren Weg. Irgendwann schlief ich ein.
4. Jetzt erwachte ich vollkommen. Schon vorher war ich mehrmals wach gewesen und hatte undeutlich Fartuloon bei verschiedenen Arbeiten gesehen. Er impro-
Die Burg des Tyrannen visierte, aber sein Schatz aus Erfahrungen machte selbst aus einer Improvisation etwas Vollwertiges. Ein kleines, stechend heißes Feuer brannte, darüber drehte sich auf einem hölzernen Spieß ein kleines Tier. Das Feuer war rauchlos und konnte uns nicht verraten. Ich drehte mich herum und schaute mit verschlafenen Augen die Seitenwand des verschmutzten Gleiters entlang. Dort vorn, keine vier Kilometer entfernt, lag die Energiekuppel um Agmons Burg. »Guten Morgen!« murmelte Fartuloon. Er sah ausgeschlafen, aber etwas mitgenommen und verschmutzt aus. »Dort drüben ist so etwas wie eine Quelle.« »Sie hat mich die ganze Nacht über gestört«, erklärte ich. »Das Plätschern und die Tiere, die getrunken haben.« »Beeile dich«, erwiderte der Bauchaufschneider. »Vermutlich sind die Truppen des Gouverneurs hinter uns her.« »Wahrscheinlich.« Ich wickelte mich aus meinem Mantel und stand auf. In der Kühle des frühen Morgens fröstelte ich ein wenig. Wir befanden uns hier am Rand eines Dschungelstreifens, der abrupt in das Gelände eines kleinen Wüstenfleckens überging. Eine riesige Sandfläche dehnte sich vor uns aus; riesig deswegen, weil wir den gegenüberliegenden Rand nicht erkennen konnten. Die Sonne war eben aufgegangen, lange Schatten fielen über die Sandfläche. Daß sie annähernd rund war, wußten wir aus Erzählungen. Ich schüttelte meinen Mantel aus, faltete ihn zusammen und ging durch taunasses Gras hinüber zur Quelle. Ich wusch mich, erwachte notgedrungen vollends und begann zu überlegen. Wir waren wieder einmal auf der Flucht, und die Richtung, in die wir flüchteten, zeigte genau in eine größere Gefahr hinein. Aber bisher waren wir mit allen möglichen Gefahren fertig geworden – vielleicht auch hier. Außerdem ergab sich dort vorn, in viertausend Metern Entfernung, eine weitere (Chance auf dem Weg, Orbanaschol einen entscheidenden Schlag zu versetzen.
27 Schließlich war ich der Kristallprinz. Ich setzte mich neben das Feuer und sah zu, wie Fartuloon mit dem Schwert den Braten zerteilte. Er tat dies mit der Geschicklichkeit eines versierten Küchenmeisters. »Hunger?« erkundigte er sich. »Nicht wenig«, gab ich zu und starrte hinaus in die Wüste. Das Gelände war nicht völlig eben, sondern bestand aus einer ununterbrochenen Folge leichter, hügelartiger Aufwerfungen. Keine davon schien höher als fünf oder höchstens zehn Meter zu sein. Zwischen den Hügeln wuchsen runde, stachelige Gewächse. »Beginne niemals einen Kampf mit leerem Magen – wenn es sich vermeiden läßt«, murmelte der Bauchaufschneider heiter. »Wenn wir zusammenrechnen, was wir von oder über Fertomash Agmon nicht wissen«, antwortete ich, »dann könnten wir ein Buch darüber schreiben.« Mit dem Schwert deutete Fartuloon hinüber zur Energiekuppel. »Bald werden wir mehr wissen, Atlan.« Wir tranken Quellwasser, aßen den heißen, aber schwach gewürzten Braten und die letzten Konzentratwürfel aus unseren schwindenden Vorräten. Die Sonne kletterte langsam über den Horizont hinauf, die Schatten wurden schärfer, aber unmerklich kürzer. Diese Zeit, kurz nach Sonnenaufgang, war ziemlich günstig für uns. Wenn wir versuchten, in die Burg einzudringen, setzten wir uns Gefahren aus, die wir nicht genau kannten, die aber abzuschätzen waren. »Hinter uns die kleine Mördertruppe des Gouverneurs Sorpschan, vor uns ein undurchdringlicher Energieschirm … wir sind wieder einmal mitten drin. Man macht es dir nicht leicht, Kristallprinz.« »Eines Tages«, schwor ich, »wird jemand dafür bezahlen.« »Recht so«, sagte Fartuloon. »Das ist die richtige Einstellung.« »Nehmen wir den Gleiter?« »Ich weiß es noch nicht. Vielleicht!« erwiderte mein Freund. Beides war gleich ris-
28 kant. Zu Fuß waren wir langsamer, im Gleiter konnten wir eher gesehen oder geortet werden. Fartuloon warf einen sauber abgenagten Knochen über seine Schulter und wischte sich über den Mund. »Bereit, Atlan?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war noch nicht satt, und meine Gedanken beschäftigten sich mit den Ereignissen, die hinter uns lagen. Wenn ich den kuppelartigen Energieschirm betrachtete, fühlte ich so etwas wie eine finstere Drohung, die davon ausstrahlte. Der Schirm schien das stechende Sonnenlicht aufzusaugen. »Gleich!« murmelte ich. Wir sollten den Gleiter nehmen und die letzten Schritte zu Fuß versuchen. Wir würden auf diese Weise weniger Zeit verlieren und den Verfolgern entkommen können, in das Innere des Energieschirms hinein. Ich schluckte den letzten Bissen Fleisch herunter und holte einige Fleischfasern mit einem zugespitzten Ästchen aus den Zähnen. Ich stand auf und deutete auf den Gleiter. »Nehmen wir die Maschine, Fartuloon. Ich habe seit letzter Nacht kein besonders gutes Verhältnis zu Fußmärschen.« Ich ging auf die Maschine zu, überprüfte meine Waffen und die wenige Ausrüstung und öffnete die Tür. Fartuloon löschte das Feuer und beseitigte in einer Serie schneller Bewegungen unsere wenigen Spuren. Ich glitt hinter das Steuer und überprüfte die Systeme. Langsam schob sich der Gleiter aus dem Unterholz. Die Scheiben und die Seitenwände waren stark verschmutzt. Ich begann, mich an die Gedanken zu gewöhnen. Vor uns lag ein neuer Abschnitt. Die andere Tür schob sich auf, und Fartuloon warf sich in den Sitz. »Ich kann dich verstehen, Atlan«, sagte er mit einer warmen, einfühlsamen Stimme und lächelte mich an. Plötzlich wirkte er wieder wie ein besorgter Vater. »Niemand versteht dich besser, Kristallprinz. Aber es ist noch ein sehr weiter Weg bis zu unserem Ziel. Deinem Ziel wollte ich sagen.«
Hans Kneifel »Ich sehe«, meinte ich. Langsam kroch der Gleiter auf die Wüste hinaus. Das helle Tageslicht rief auf den verschmierten Scheiben starke Lichteffekte hervor. Ich schaltete die Reinigungsanlage ein. »Gäbe es einen weniger, gefahrvollen und direkten Weg, Atlan, dann würden wir ihn längst überschritten haben. Wir werden von Orbanaschol verfolgt – er würde dich wie mich töten, wenn er uns fassen könnte. Gleichzeitig mit dem Leben, das wir führen …« Ich warf voller Bitterkeit ein: »… es ist ein Leben von Verfolgten, Gehetzten, Gejagten …!« »Zugegeben«, murmelte er. Ich trat den Geschwindigkeitsregler voll durch. Der Gleiter raste mit einem Satz los und blieb in einer Bodenspalte, zwei Handbreit über dem feuchten Sand. »Gleichzeitig mit dem Leben von zwei oder mehreren Gehetzten führen wir das nicht weniger aufregende, aber mehr befriedigende Leben des Jägers. Wie gesagt, es gibt keinen anderen Weg als den, den wir gehen.« »Die andere Möglichkeit wäre totale Resignation.« »Ich weiß das ebenso gut wie du, Bauchaufschneider«, antwortete ich. »Willst du das?« »Nein!« sagte ich hart. Alles in mir sträubte sich gegen den Gedanken an diese Möglichkeit. »Dann versuche, mit mir zusammen und mit deinen wenigen anderen Freunden den Weg bis zum Ende zu gehen.« »Ich versuche es!« sagte ich. Wir rasten im Zickzack über die Wüste. Während ich versuchte, den Gleiter so gut wie möglich in den Schatten zu halten, suchte Fartuloon die Landschaft hinter und den Himmel über uns ab. Ich hörte ihn zufrieden brummen. »Keine Verfolger?« »Nein!« ächzte er. Zwischen den winzigen Hügeln hindurch, den Einschnitten der kaum sichtbaren Täler
Die Burg des Tyrannen folgend, durch die langen schwarzen Schatten der Wüstengewächse, näherten wir uns dem stumpffarbenen Energieschirm. Nicht einmal ein kleines Tier bewegte sich in dieser gelbbraunen Zone der Verlassenheit. Ich umklammerte die Hebel der Steuerung und konzentrierte mich scharf auf die vor mir liegende Strecke. Der Schirm mit seinen glasähnlichen Wänden kam näher und füllte binnen kurzer Zeit das gesamte Panorama aus. »Halt! Wir müssen den Gleiter verstecken!« sagte Fartuloon. »Etwa in einem solchen Busch? Oder wollen wir ihn eingraben? In jedem Fall ist die Tarnung nicht gut!« »Besser schlecht getarnt als gar nicht. Er könnte zu unserer Lebensrettung werden!« sagte der Bauchaufschneider. Er machte sich zum Aussteigen fertig. Ich bremste vor einem der letzten runden Büsche ab und steuerte dann das Gefährt mit aller Maschinenkraft in die krachenden Zweige hinein. Wir verschwanden fast völlig in dem Busch, dessen Blätter zitterten und herunterfielen, aber vom Bug und vom Heck sahen jeweils ein Meter daraus hervor. Wir schoben die Türen auf und bahnten uns einen Weg durch die Zweige. »Auf zu Agmon, dem Beauftragten des arkonidischen Imperiums!« sagte Fartuloon und blieb im Schatten stehen. Die Wüste um uns herum roch abgestanden, nach Fäulnis, irgendwie fremd. Es war, als sickere jener Geruch nach siechenden Blüten durch den Schutzschirm. Fartuloon zog sein Schwert und hielt Skarg waagrecht vor sich her. »Bleibe hinter mir!« sagte er leise. Wir sahen nichts; der Schirm wirkte wie stark rauchiges Glas. »Achtung!« Wir standen unmittelbar vor der leicht gekrümmten Fläche des Schirmes. Für uns war die Krümmung nicht zu erkennen, denn aus der Nähe wirkte die Fläche wie eine gigantische Mauer. Langsam streckte Fartuloon das Schwert aus. Die Spitze kam immer näher an die Energieschale heran, berührte sie …
29 drang ein. Ein geräuschloser Vorgang, ohne lebensgefährliche Blitze, ohne dramatischen Lärm. Dann vollführte Fartuloon drei Bewegungen. Zuerst schnitt er, wie durch warmes Wachs oder weichen Stoff, nach unten. Dann führte er einen weiteren Schnitt schräg nach oben, schließlich einen dritten bis zu dem Punkt, an dem er hineingestoßen war. Innerhalb dieses unregelmäßigen Dreiecks löste sich die Energie auf, verschwand wie dichter Rauch. Wir blickten hindurch, nahmen einige flüchtige Bilder auf, dann sprang Fartuloon nach innen. Ich folgte mit einem langen Satz. Wir liefen ein paar Schritte geradeaus, blieben stehen und betrachteten die verwirrende Szene vor unseren Augen. »Das ist besser als alle Erzählungen und Märchen!« sagte Fartuloon. Er war ehrlich verblüfft und erschüttert. Langsam schob er das Schwert in die Scheide, warf den Mantel über die Schultern zurück und marschierte los, direkt auf das Zentrum des Bildes zu. Vor uns, begrenzt durch das Innere des Schirmes, breitete sich eine völlig ebene Fläche aus. Sie war von blaugrünem, kurzem Gras bedeckt, dessen Halme sich ineinander kräuselten wie ein schmutziges Schaffell. Vereinzelte Inseln aus Bäumen und Büschen standen unregelmäßig verteilt in dieser düsteren Landschaft. Ich drehte mich um. Das Loch im Energievorhang schloß sich wieder; lautlos züngelten dunkle Streifen und Spitzen aus den Innenrändern und berührten einander, eine Art Netz oder Geflecht bildend. Der Schirm war plötzlich wieder voll und undurchsichtig. Wieder drehte ich mich herum. Diese Anhäufung von Ruinen, gemischt mit einzelnen neu errichteten Stützen, hatte ich innerhalb des Schirms nicht vermutet. Eine geisterhafte Stille herrschte, und das Sonnenlicht kam stark gedämpft durch die Energie. Es gab kaum Schatten; eine kühle Luftfront, die von den Ruinen herwehte, ließ
30 uns erschauern. »Ein merkwürdiges Heim hat sich der Imperiumsbeauftragte herausgesucht!« sagte ich laut und folgte Fartuloon. Bis zu den ersten Steintrümmern und Mauern hatten wir etwa fünfzehnhundert Schritte zurückzulegen. »Vielleicht hat er der eitlen Welt entsagt und sich in Dunkelheit und Stille zurückgezogen!« spottete der Bauchaufschneider. Alles wirkte wie eine dreidimensionale Zeichnung, wie Kulissen. Die Reste gewaltiger Mauern standen da, übergangslos aus dem Gras herauswachsend. Sie waren gesäubert und bearbeitet worden, aber in einer Art, die jedes Zeichen der Vergangenheit erhalten hatte. Breite Simse, vielfarbene Kachelmosaiken und farbige Flächen unterbrachen die zyklopischen Mauern, schwangen sich über wuchtige Säulen und über die steilen Bögen aller Tore und Zinnen. Wie leere Augenhöhlen starrten uns Fenster entgegen; Löcher in den Mauern. Nicht ein einziger Stein lag im Gras. Die äußeren Mauern und die hausähnlichen Teile der Anlage schienen unbewohnt zu sein. Wir sahen aus der Ferne einige Maschinen, die über den Rasen schwebten und mit langen, glitzernden Gliedmaßen zwischen den Halmen herumstocherten. Auch an einer Mauer schwebten einige Robots und benutzten ihre Werkzeuge. Hin und wieder erklangen summende und klappernde Geräusche. Innerhalb der ersten Mauern gab es Bauteile, die besser erhalten waren. Hier sahen wir, als wir darauf zugingen, neu eingesetzte Fenster und Türen. Ein Dach war hier neugedeckt worden, dort gab es Stützen aus Eisenbeton oder anderem Material. Fassaden waren verblendet worden, und wir konnten Treppen und Stege zwischen den Mauern sehen. »Kannst du die Strukturlücke auch schaffen, wenn wir aus irgendeinem Grund fliehen müssen?« erkundigte ich mich vorsichtig. Ich zweifelte nicht daran, aber die Auskunft beruhigte mich.
Hans Kneifel »Mit Sicherheit!« war die Auskunft. Was war das für ein Mensch, der sich freiwillig in dieser düsteren Umgebung aufhielt, obwohl ihm grundsätzlich sämtliche schönen Plätze des Planeten Jacinther zur Verfügung gestanden hätten? Wenn die Umgebung auf den Charakter Agmons schließen ließ, dann erwartete uns eine düstere Persönlichkeit, ein Mann, der keinerlei Fröhlichkeit kannte. Seine Reaktionen würden ebenso sein wie die Ruinen und das dunkle Gras. Bis auf dreihundert Meter hatten wir uns der Anlage genähert. Nun entdeckten wir hellere Stellen im Gras. Als wir abermals näherkamen, sahen wir, daß es sich um riesige, polierte Steinplatten handelte. Also ein Weg, der uns genau zum Eingang führte. »Düster, verlassen, leer …«, murmelte Fartuloon. »Die Burg scheint ohne Leben zu ein.« Er deutete auf die Roboter. »Ohne wirkliches Leben, meine ich. Natürlich erwarte ich keine Totenburg mit rasselnden Gerippen.« Die gesamte Anlage, die sich uns in immer neuen, wechselnden Perspektiven zeigte, atmete Verlassenheit aus wie einen giftigen Dampf. Jeder Schritt verstärkte das Gefühl der Unsicherheit. Wir kamen an das erste Tor, einen mächtigen Spitzbogen, dessen Laibung mit den Fratzen und Gestalten von Ungeheuern und Fabeltieren versehen war. Geschöpfe einer längst vergessenen Vergangenheit und deren Wesen, die einmal Jacinther bevölkert hatten. Fartuloon streckte einem Fabelwesen, halb Vogel, halb Echse, wütend die Zunge heraus. »Erinnert mich an meine geizige Erbtante. Väterlicherseits«, sagte er und fügte grinsend hinzu: »Obwohl ich meinen Vater niemals gekannt habe.« Die Steinplatten führten durch eine Art Hof auf eine breite Freitreppe zu, die in eine aufrecht stehende, aber unnütze Mauer mündete. Das Innere dieses Gebäudes war leer. Wir blieben kopfschüttelnd stehen. »Keine Spur von Agmon!«
Die Burg des Tyrannen »Keine Spur von menschlichen Bewohnern dieser Burg!« sagte ich und deutete auf eine Gruppe von Robotern, die, mit verschiedenen Maschinen ausgerüstet, an der linken Ecke der mächtigen verwitterten Wand arbeiteten. Sie putzten die bröselnden Steine, injizierten mit riesigen Spritzen flüssigen Stein in die Fugen und restaurierten die Fresken und die gemeißelten Simse. »Weiter!« Wie die Stufen einer riesigen Freitreppe, aber ausgetreten, abbröckelnd und mit breiten Lücken zwischen den Rampen und Geländern, führte die Treppe nach oben. Wir stiegen hinauf. Es waren etwa fünfzig Stufen, jeweils drei Handbreit hoch. Die Wesen, die diese Stufen einst benutzt hatten, waren größer als wir gewesen oder hatten über andere Gliedmaßen verfügt. Wir erreichten die letzten Stufen und drehten uns um, als wir die Plattform vor den siebzehn Säulen erreicht hatten. Über uns hingen riesige Steintafeln, einst Bestandteile eines Schutzdaches, in ihren verwitterten Widerlagern aus Stein. Jede Sekunde konnte eine solche Platte heruntersegeln und uns erschlagen. Die Plattform war mit Schutt und Steinbrocken bedeckt. »Noch immer nichts zu sehen!« bemerkte ich. Ich wurde zunehmend unruhiger. Das Schweigen zerrte an meinen Nerven. Obwohl die Arbeitsgeräusche der Maschinen die Stille durchbrachen, fehlte jeder organische Laut. Es schien kein einziges Tier zu geben, keinen Menschen, nichts. Nicht einmal die Büsche bewegten sich. »Wir sind aber auf dem richtigen Weg. Dort, die Platten, die Treppe, das Tor und …«, sagte Fartuloon und ging auf die Säulen zu. Ich blieb noch einige Sekunden lang stehen und sah hinunter. Wir befanden uns rund dreißig Meter über dem Boden. Von hier aus konnte ich die Struktur dieses uralten Bauwerks erkennen. Es waren viele Vierecke und Rechtecke gewesen, ineinander verschachtelt wie eine einfache Grafik. Die Schnittstellen wurden von Toren oder Fenstern oder weit vorspringenden Erkern
31 gebildet. Überall sah ich jetzt andere Robotergruppen, die sich mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigten. Ich wirbelte herum und eilte Fartuloon nach. Er befand sich bereits unter den Säulen und ging weiter, in einer Hand den Schwertgriff, in der anderen die Waffe. »Fartuloon!« sagte ich. »Wohin?« »Dorthin. Geradeaus!« Ich sah, was er meinte, als ich neben ihm durch den Torbogen lief und den gewaltigen Innenhof dieses Gebäudes ohne Dach sah. Ein riesiges Bauwerk, gebildet aus dem Boden aus Granitplatten und den vier Wänden mit leeren Türen, Fensterhöhlen und mit wuchtigen Steinfeldern in den weißgekalkten, verputzten Wänden. Gesichter und so etwas wie eine Schrift waren in den Platten zu erkennen, undeutlich und verwittert, nur an einigen Stellen restauriert. Die Basaltplatten sahen wie aufgerauhtes Metall aus. Wir bewegten uns auf einem Steg aus Stein und Stahl, der wie eine Brücke die leere, dachlose Halle durchquerte. Unwillkürlich wurden wir schneller, Dreißig Schritte, fünfzig, sechzig … die andere Wand kam rasend schnell näher. Wir schossen förmlich durch ein weitaus kleineres Tor und befanden uns wieder in einer gänzlichen neuen Umgebung. Auf der obersten Plattform eines runden Turmes mit Zinnen und Nebentürmen; derselbe, den wir schon während des Näherkommens vom Boden aus gesehen hatten. Hier wuchsen kleine, sorgsam gestutzte Bäume, kleine Büsche mit farbigen Blüten. Wir erkannten auch eine Menge Eingänge, die wohl nach unten führten. »Aha!« sagte Fartuloon. Dann, übergangslos, gab er mir einen Stoß und bückte sich. Plötzlich waren wir von Männern umgeben. Sie tauchten hinter den knorrigen Stämmen der Bäume auf, rannten hinter den Büschen hervor und kamen aus den Vertiefungen der Turmplattform. Sie alle trugen Waf-
32 fen in den Händen. Einer feuerte schräg über unsere Köpfe hinweg in die Luft. Ich warf mich nach rechts, rannte im Zickzack auf einen der Niedergänge zu und hob die Waffe. »Halt!« schrie eine schneidende Stimme. Ich kümmerte mich nicht darum, zielte auf den Mann, der eben über die schmalen Stufen geklettert kam und rannte weiter. Ich lief nach rechts, nach links und wartete auf einen Schuß. Von rechts kam ein anderer Mann, von links liefen zwei auf mich zu. In der Falle! Die Mündung meines Strahlers deutete auf den Mann vor mir. Er war keine drei Meter entfernt. Ich hechtete auf ihn zu. Wieder krachte hinter mir ein Schuß auf. Ich erreichte den Ankommenden, der überrascht war und nicht schnell genug reagierte. Ein Hieb mit der Waffe traf sein Handgelenk, und die Waffe fiel zu seinen Füßen zu Boden. Dann hatte ich meinen Arm um seinen Hals gelegt, mich hinter seinem Rücken verborgen und drehte ihn langsam herum. Noch immer war mein Strahler feuerbereit. Dicht an seinem Kopf vorbei blickte ich auf die Szene. Der Mann wehrte sich nicht. Die drei Männer auf beiden Seiten blieben stehen, aber sie machten nicht den Eindruck, als würden sie sich einschüchtern lassen. Fartuloon wurde von fünf Männern umkreist. Sie griffen an, aber sie verwendeten ihre Waffen nicht. Fartuloon warf sich auf den ersten von ihnen, schmetterte ihn mit einem furchtbaren Hieb zu Boden und schnellte herum. Die Männer warfen sich über ihn. Ihm wurde die Waffe aus der Hand geschlagen, und als er sich bückte, rissen ihm die Männer die Arme in die Höhe. Ich konnte nicht feuern, ohne ihn ernsthaft zu gefährden. »Hört auf!« schrie ich und ließ meinen Gefangenen los. Ich sicherte die Waffe und schob den Mann, der mich angreifen wollte, zur Seite. Langsam ging ich auf das Knäuel der kämpfenden Männer zu. »Laßt ihn los!« sagte ich scharf. »Ich habe
Hans Kneifel meine Waffe weggesteckt.« Ich blickte die Männer an. Sie paßten alle zu diesen Gebäuden und zu der düsteren Stimmung unter der Energiekuppel. Mit einer gewaltigen Anstrengung, die drei der Angreifer nach verschiedenen Richtungen schleuderte, befreite sich der Bauchaufschneider aus den Griffen. Ein mittelgroßer, sehniger Mann in einer Art dunkelgrauer Uniform kam auf uns zu. Er hatte abwartend, seine Waffe in beiden Händen, abseits gestanden. »Wer seid ihr?« fragte er. »Flüchtlinge!« sagte ich. »Die Männer der Nocto-Nos und deren Chef Sorpschan sind hinter uns her.« »Wir sind zu Agmon geflüchtet!« erklärte Fartuloon. »Warum dieser Überfall? Ihr hättet uns ernsthaft erschrecken können.« Der Anführer stutzte. Er hatte ein Gesicht voller Kerben, rasiermesserscharfe Augenbrauen und große, sensible Augen. Langsam blickte er von einem seiner Männer zum anderen, musterte mich eindringlich, schließlich wandte er sich an Fartuloon. »Wie seid ihr hereingekommen?« »Durch den Schirm. Ein persönlicher Trick von mir.« »Packt sie! Hinunter zu ihnen. Zum Chef!« sagte der Anführer dann scharf. Wir wehrten uns nicht. Bei einem Kampf hier oben wären wir getötet worden, und außerdem wollten wir ja zu Agmon. »Wir müssen mit dem Imperiumsbeauftragten sprechen!« sagte Fartuloon. Man führte uns mit vorgehaltenen Waffen zu einem der Niedergänge und trieb uns die Stufen hinunter. »Das geht schneller, als ihres euch vorgestellt habt!« war die Antwort. Die Männer umringten uns und richteten die Waffen wieder auf uns, als wir die nächstliegende Plattform erreicht hatten. Von Agmon hatten wir nicht einmal ein Bild gesehen – bisher. Jedenfalls war dieser Raum weitaus besser erhalten. Die Wände schienen neu verkleidet worden zu sein. Mildes Licht strahlte aus runden Lampen. Der Boden bestand aus
Die Burg des Tyrannen einer federnden Plastikmasse. In der Mitte des Raumes sahen wir die Säulen eines mechanisch betriebenen Lifts. »Bei den Scharten meines Schwertes!« entfuhr es Fartuloon. »Ruinen mit Lifts. Wir dachten schon, daß …« »Ihr könnt später reden. Los, hinein!« Vier Männer stießen uns in den Lift und zwängten sich zu uns. Der Lift glitt summend abwärts. Durch die halbtransparente Tür sahen wir mindestens zehn oder zwölf verschiedene Ebenen. Wir mußten uns unter dem Niveau des Grasbodens dort draußen befinden. Langsam bremste der Lift ab, die Platte schob sich zurück. Ich stand vorn und sah die Halle zuerst. »Geradeaus. Versucht keine Tricks – wir sind hinter euch!« sagte der Anführer und rammte mir den Strahler in den Rücken. Wir verließen den Lift und marschierten etwa dreißig Meter über einen hellen Teppich, an dessen anderen Ende ein großer Schreibtisch zu erkennen war. Eigentlich nur eine massive Platte, die in der Luft schwebte. Hinter der Platte sah ich einen kleinen Mann, der uns schweigend entgegenstarrte. Dann hob er die Hand. »Laßt uns allein. Ich habe alles gehört.« Er deutete auf Bildschirme, die reihenweise links von dem Schreibtisch in die Wand eingebaut waren. Nicht weniger als hundert, also zehn Reihen von jeweils zehn Stück. »Aber … du kennst sie nicht! Was sie sagen, kann erlogen sein. Denke an Sorpschan!« sagte der Anführer. Mit einer dünnen, zornigen Stimme schrie der kleine Mann: »Ich weiß, was ich sage! Hinaus! Ich weiß, wer sie sind! Hinaus! Laßt mich mit ihnen allein!« Der Anführer zuckte die Schultern, drehte sich herum und ging mit seinen Männern aus dem Saal heraus. Fartuloon betrachtete die Einrichtung, und ich musterte unseren Gesprächspartner. Ein großer Saal tief unter der Erde. An einigen Stellen sahen wir, daß es tatsächlich ein altes Gemäuer war, das aber mit Hilfe
33 moderner Technik und einiger Baumaterialien und Einrichtungsgegenständen wohnlich oder zumindest weitaus gemütlicher als die übrige trostlose Umgebung gemacht worden war. Monitoren, Sessel und Tische, viele Lampen, der helle Bodenbelag und schwere Vorhänge an glitzernden Stangen – das waren die Mittel, mit denen man aus dieser Gruft aus Granitblöcken einen Wohnraum oder Arbeitsraum gemacht hatte. Aber deutlich sah man an einigen Stellen, daß Gänge und Stollen und Tore in andere Räume führten, die Teil eines uralten und unterirdischen Systems sein mochten. Auch der Geruch nach Feuchtigkeit und Moder, den auch die Heizung und die Luftumwälzanlage nicht vertreiben konnten, deutete darauf hin. »Willkommen!« sagte der Mann. Er hatte eine hohe, gebrochene Stimme. Der Mund war verkniffen, als habe Agmon seit fünfzig Jahren ununterbrochen schlechte Laune. Die Augen waren schmal und zusammengekniffen. Der Mund war schief, vermutlich ein Geburtsfehler oder die Folge einer Verwundung oder einer schlecht ausgeführten Operation. An beiden Seiten des Kopfes hing schütteres Haar herunter. »Danke!« erwiderte ich. »Wir freuen uns, den Imperiumsbeauftragten, in seiner farbigen, lebenssprühenden Umgebung zu treffen.« Der Mann vor uns schüttelte seinen schmalen Kopf. Als ich genauer hinblickte, sah ich, daß die hydraulische Säule des Sessels fast ganz ausgefahren war. Die dünnen Beinchen baumelten zwei Handbreit über dem Teppich. Dieser Mann, zweifellos ein Arkonide, war ein Zwergwüchsiger. Er schien meinen überraschten Blick bemerkt zu haben, denn er sagte: »Dies alles ist nicht unbedingt mein Geschmack. Außerdem bin ich nicht Agmon.« Fartuloon ging bis zum Tisch, stützte sich schwer darauf und schüttelte langsam und in gespielter Verblüffung den Kopf. »Dann«, sagte er wohlüberlegt, »kannst du nur der Gouverneur des Mittelkontinents sein.«
34 Der zwergenhafte Mann hob den Kopf, warf einen Blick zu den Quadern an der Decke und stöhnte: »Richtig. Ich bin doch bekannter, als ich dachte. Und jetzt, nachdem ihr wißt, wer ich bin, werde ich hoffentlich auch eure Namen hören. Obwohl ich zu wissen glaube, daß sie unzweifelhaft falsch und darüber hinaus völlig nichtssagend sein werden.« »Ich bewundere deinen Scharfsinn, Kaddoko«, erwiderte ich. »Aber nehmen wir ruhig an, unsere Namen sind richtig. Und auch unsere Mission ist absolut ehrlich, wenn sie auch vielen Menschen Gewinn und Ansehen und Vorteile bringen soll.« Er drückte einen Schalter auf dem Pult, blickte kurz nach links und blinzelte kurzsichtig. Von einer Sitzgruppe lösten sich zwei schwere, bequem aussehende Sessel, schwebten über den Teppich bis vor die Platte und wurden angehalten. Wir setzten uns. »Ihr kennt vermutlich mein Ziel. Da ihr bei Sorpschan wart, kennt ihr auch sein Ziel. Dieses Ziel ist augenblicklich Mode auf Jacinther.« Fartuloon entspannte sich, schob das Schwert zur Seite und schlug die Beine übereinander. Ich nickte. »Jeder Gouverneur will Imperiumsbeauftragter werden. Ein verständliches Bestreben«, sagte ich. »Und jeder der Herren Gouverneure bildet sich auch ein, der beste Mann für diesen Posten zu sein. Mich würde deine Version, Kaddoko, brennend interessieren.« Ein Kichern. Dann schlugen die kleinen Fäuste auf den Tisch und Kaddoko, der Gouverneur des mittleren Kontinents KevKev, rief triumphierend aus: »Die anderen drei haben sich gestritten. Sie haben um die Gunst gebuhlt. Sie haben vor lauter Rivalität vergessen, daß man handeln muß, um etwas zu erreichen. Ich habe gehandelt – obwohl ich dazu gezwungen wurde.« Fartuloon flüsterte: »Sage mir, daß nicht wahr ist, was ich
Hans Kneifel denke?« »Es ist wahr! Aber ich habe nicht angefangen. Es geschah in Notwehr!« Wir glaubten ihm kein Wort. Abgesehen davon, daß es durchsichtig war, zeigte sein Gesicht bereits an, daß er log. Fartuloons Gesicht war ernst, als er sich erkundigte: »Du hast Agmon getötet?« »Ja! Aber er schoß zuerst. Ich habe noch heute die Brandwunden an meiner Schulter!« »Berichte! Wir sind die Augen und Ohren des Ökonomen, aber wir sind auch Händler und Geschäftsleute. Und ebenso, wie wir dich zu Fall bringen können, sind wir auch einem guten Geschäft nicht abgeneigt.« »Ihr habt ein Problem?« Fartuloon versicherte grimmig: »Wir sind praktisch Gefangene eines Problems. Aber dieses Problem schließt alles mit ein. Uns, dich, den Ökonomen, die Gouverneure und das Amt, nach dem du gegriffen hast.« »Ich verstehe. Hört zu. Was sind eure Bedingungen?« »Wir werden sie diktieren, wenn wir wissen, wie wir handeln können. Aber das ist nur möglich, wenn wir alle Informationen haben über das, was hier vorgefallen ist. Jedenfalls ist Fertomash Agmon tot?« Kichernd erklärte Kaddoko: »Ich versichere euch, daß er sehr tot ist. Ich selbst habe ihn töten müssen. Notwehr, ihr versteht?« Wir verstanden mehr, als ihm und uns lieb war.
5. Plötzlich ertönte leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern. Das Farbenspiel der hundert eingeschalteten Monitoren bildete dazu einen unbestimmten Rhythmus. Mit Hilfe von Robotsonden, von Spionkameras und einigen menschlichen Beobachtern konnte der Imperiumsbeauftragte, also der Herr über vier Gouverneure, hier unten Szenen und Unterhaltungen von hundert verschiedenen Plätzen auffangen. Wir ahnten, daß jeweils fünfundzwanzig in einem der
Die Burg des Tyrannen Gouvernements standen oder postiert wurden, je nach Aufforderung. Auf diese Weise holte sich jetzt auch Kaddoko seine Informationen. Ein silberner Roboter schwebte herein und brachte uns Getränke und kleine Häppchen. Sie bildeten, angenehm schmeckend, einen starken Gegensatz zu der Umgebung, die melancholisch stimmen konnte. »Du hast also den Beauftragten von Orbanaschol, Fertomash Agmon, in Notwehr getötet.« Der arkonidische Zwerg nickte heftig und umklammerte ein großes Glas mit seinen dünnen Fingerchen. »Anläßlich eines Besuchs, bei dem ich ihm meine Loyalität beweisen wollte. Wir bekamen Streit. Er schoß dreimal auf mich. Oder öfter. Ich feuerte zurück und traf ihn. Und dann kam mir die Idee meines Lebens.« Fartuloon fragte weiter. Ich merkte, daß er versuchte, diese unglaubliche Geschichte zu verarbeiten und ihre Bedeutung in unseren Plan einzubauen. Noch war der Bauchaufschneider unsicher, aber das spürte nur ich, Kaddoko auf keinen Fall. »Du hast dich also in der letzten Zeit als Agmon ausgegeben?« »Das ist richtig. Galbass, Sorpschan und Ruuver haben sich gegenseitig eifersüchtig bespitzelt, dabei ihre Arbeit vernachlässigt, und dennoch sind sie nicht zu ihrem Ziel gekommen. Ich spiele die Rolle von Agmon. Aber noch spiele ich sie zu schlecht. Auch ich habe von dem Besuch des Ökonomen gehört, und gerade das macht mich unsicher. Wenn ihr mir helft, dann helfe ich euch. Oder wollt ihr als Rächer Agmons auftreten?« »Keinesfalls!« versicherte ich eifrig. »Wir haben ganz andere Vorstellungen vom Erfolg unserer Mission.« »Ich habe jedenfalls Sicherheiten eingeschaltet. Ihr könnt mir nicht mehr gefährlich werden.« Fartuloon winkte lässig ab und rief leicht ärgerlich: »Das Zeug hier, das ich trinke, ist gut. Be-
35 richte endlich, was dein Plan ist. Wir halten uns nicht mit lächerlichen Duellen auf. Wir wollen mehr. Wir wollen alles.« Kaddoko trank einen Schluck, stellte das Glas hart ab und sagte: »Ich habe KevKev zu einem blühenden Gemeinwesen gebracht. Ich bin von allen Gouverneuren der erfolgreichste. Ich versuche täglich zwanzig Stunden lang, in die neue Rolle zu schlüpfen und sie von Tag zu Tag besser zu repräsentieren. In ein paar Monaten, so hoffe ich, habe ich das gesamte staatliche Instrumentarium so gut in der Hand, daß ich die Rolle Agmons exakt spielen kann. Ich will als Agmon weiter herrschen.« Ich verstand. Auf seine unnachahmliche Weise war er verrückt. Offensichtlich war kein Lebewesen, das die Möglichkeit besaß, Macht auszuüben und zu herrschen, dagegen gesichert, daß es durchdrehte und sein Können pervertierte. Kaddoko also wollte sich selbst zum unsichtbaren Nachfolger machen, indem er in die Rolle des Agmon schlüpfte. Einen gesunden, aller seiner Sinne mächtigen Imperiumsbevollmächtigen würde Freemush nicht absetzen, das war klar. Auf eine solch raffinierte Methode, Macht zu erlangen, wäre keiner der drei anderen Gouverneure gekommen. »Du willst als Agmon weiter herrschen«, wiederholte Fartuloon nachdenklich. Er hielt dem Robot das Glas hin. »Einen solchen Verbündeten brauchen wir, Kaddoko. Wir werden dir helfen!« Fartuloon warf mir einen langen, intensiven Blick zu. Jetzt wurde es spannend. »Mein Partner spricht für mich!« bestätigte ich. »Mein Problem und eure Probleme machen uns also zu Verbündeten?« erkundigte sich der falsche Agmon mißtrauisch. Fartuloons Gelächter sprengte beinahe die Trommelfelle. »Im wahrsten Sinn des Wortes!« schrie der Bauchaufschneider und verspritzte etwas von dem hochprozentigen Inhalt des Glases. »Kaddoko!« fragte er und beugte sich vor.
36 Er wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Eine Reihe von Fragen!« »Ja, bitte!« »Agmon ist bekannt. Aber ebenso ist bekannt, daß er sich in der Öffentlichkeit sehr selten hat sehen lassen.« »Das ist richtig. Einige winzige Veränderungen, und ich bin Agmon. Als ich ihn das erstemal sah, erkannte ich schon diese Chance.« »Weiter. Du, Kaddoko, bist in den letzten Wochen ebenfalls nur als Agmon aufgetreten?« »Sehr selten, aber einige Male. Niemand hat Verdacht geschöpft. Ich kann die Reaktionen überprüfen!« Er deutete auf die Bildschirme, die ohne Ton liefen und uns ständig mit einem wirren Schauer von Farben und Formen überschütteten. »Wir helfen dir. Agmon wird eines natürlichen Todes gestorben sein. Du verstehst?« Er nickte unschlüssig. »Ja, aber …?« »Du kehrst zurück nach KevKev. Und wir sorgen dafür, daß der Ökonom dich zum Nachfolger Agmons ernennt. Denn wenn Agmon tot aufgefunden wird, und wenn zudem ein Gouverneur verschwindet, der ihm wenigstens rein äußerlich einigermaßen ähnlich sah, aus seiner Residenz auf KevKev verschwindet, dann schöpft auch ein Idiot Verdacht. Und weder wir, die Augen und Ohren des Ökonomen, noch der Ökonom selbst, gehören dieser Gattung an.« Kaddoko senkte den Kopf. »Das widerspricht meinem Konzept«, bekannte er schließlich. »Nein!« sagte ich. Er blickte mich an, verwirrt und aus der Bahn seiner Überlegungen, Wünsche und Sehnsüchte gerissen. Er tat mir fast etwas leid, aber dann dachte ich daran; daß er vermutlich ein Mörder war und, um seinen Weg fortzusetzen, auch weiterhin über Leichen gehen würde. »Wie das? Was meinst du mit nein?« Ich erklärte ihm ruhig:
Hans Kneifel »Du hast, bis wir unsere Vorbereitungen beendet haben, noch einige Tage Zeit. In diesen Tagen kannst du weiterhin versuchen, dir das Wissen des Verblichenen anzueignen. Was ist mit der Gefolgschaft Agmons los? Hast du sie alle getötet oder umbringen lassen?« »Das nicht. Ich kam mit zwölf Männern meiner Leibwache. Nach dem Schußwechsel entspann sich ein Kampf zwischen meinen Leuten und denen Agmons. Einige der Agmon-Wachen wurden getötet, die anderen flohen. Aber sie haben mich nicht gesehen. Als Zeugen werden sie außerhalb der Kuppel wertlos sein.« »Hört zu!« meinte Fartuloon. »Wir müssen diese Kuppel verlassen, bevor der Ökonom kommt. Sein erster Besuch wird dem mächtigsten Mann des Planeten Jacinther Vier gelten, also Agmon. Bei diesem Besuch wird Freemush eine Anzahl leerer Gebäude finden und einen Toten: Agmon. Die Wächter und die wenigen Bediensteten …« Kaddoko hob die Hand und unterbrach: »Agmon war menschenscheu. Er war im klassischen Sinn ein Misanthrop, das weiß jeder Bewohner seines Regierungsgebietes. Er hatte nicht eine einzige Krau oder ein Mädchen hier. Nur fünfzehn Mann einer lotterigen Truppe trieben sich in den Ruinen herum. Die Restaurierung dieser grauenvollen Blocksteinmauern und des alten Fratzenzeugs war sein Hobby. Die Bediensteten sind, als der Kampf sehr schnell beendet war, geflohen. Einige sind in der Wüste umgekommen, das habe ich hier gesehen. Sämtliche Gleiter und alles, was sie besaßen, ließen sie zurück. Sie haben das Weite gesucht.« Fartuloon war damit beschäftigt, drei verschiedene Illusionen aufzubauen; in Gedanken wenigstens. Er mußte Agmon-Kaddoko täuschender mußte den Ökonomen in eine sorgfältig, vorbereitete Falle laufen lassen, und er sorgte dafür, daß auch die drei anderen Gouverneure etwas von dem Schrecken abbekommen würden. Ich erkannte an sei-
Die Burg des Tyrannen nem kühnen Grinsen, daß er seinen Plan fertig hatte. »Wenn Freemush kommt, wird er eindeutig Spuren finden.« »Recht so, mein Freund!« flüsterte Kaddoko. Er stand noch immer im Bann seiner Vision von Macht und Einfluß. »Die erste Spur wird ihm sagen, daß Agmon gestorben ist. An Altersschwäche und darauf folgend an einem lächerlichen Unfall.« »Gut, gut!« meinte der Zwerg lachend. Vermutlich hatte er niemals in seinem Leben Freunde gehabt, und jeder, der anders mit ihm verkehrte als die speichelleckenden Untergebenen und die listenreichen Widersacher, hatte relativ leichten Erfolg. So wie wir eben. »Dann wird er erfahren, daß Agmons Truppe geflohen ist, um nicht angeklagt oder sonst irgendwie zur Verantwortung gezogen werden zu können.« »Richtig!« »Schließlich wird er zwei Notizen auffinden. Eine davon wird besagen, daß es keinen besseren Nachfolger für Agmon gibt als dich, mein Freund. Diese Notiz findet sich in den Akten, in Erlassen und in den privaten Unterlagen des Mannes. Du bist also von ihm aus schon als Thronfolger vorgesehen worden. Soweit dieser Teil. Zweitens werden wir, die Vertrauten, die unbekannten Spione Freemushs, ihm unseren Rat geben. Daß dieser Rat mit der Empfehlung identisch ist, dich zu erpennen, sollte uns klar sein. Erst ein einziges Mal hat der Ökonom unseren Empfehlungen nicht entsprochen und einen Mann eingesetzt, der uns ausgetrickst hatte. Es ist müßig, zu betonen, daß dieser Favorit ein schmähliches Ende nahm.« Fartuloon, dieser gerissene Schauspieler, hatte noch längst nicht alle Register gezogen. »Ein schmähliches Ende! Trefflich ausgedrückt, Freund!« Kaddoko konnte sich vor Heiterkeit kaum fassen. Sprunghaft wechselte seine Stim-
37 mung; er rutschte halb über die schwebende Tischplatte mit ihren Monitoren, Sprechgeräten und Tastaturen. Er sagte heiser: »Du wirst, von KevKev aus, den Ökonom einladen. Dort werden wir mit ihm zusammentreffen. Freemush wird dein wichtigster Gast seit Jahren sein, also bereite seine Ankunft besonders vor. Richte ein Fest, aber übertreibe nicht. Und jetzt sollten wir unsere Pläne in die Tat umsetzen. Wo ist die Leiche Agmons?« »Irgendwo dort hinten. In einem Kühlfach. Er sieht aus, als würde er schlafen. Gut. Ich stimme ein. So werden wir es machen. Welche Leistung verlangt ihr für die Mithilfe?« Ich erwiderte: »Abgesehen davon, daß wir deine Gastfreundschaft strapazieren werden, kannst du beruhigt schlafen. Der Umstand, daß wir dir helfen, ist Teil einer größeren Strategie. Unser Glück liegt nicht auf diesem Planeten. Außerdem vergaß mein Partner zu sagen, daß wir einige zusätzliche Spuren konstruieren werden.« Fartuloon korrigierte mich mit dröhnenden Gelächter. »Jugendlicher Übermut. Ich vergaß es nicht, sondern ich wurde unterbrochen. Um die Wahl von Kaddoko zusätzlich zu sichern, werden die drei anderen Gouverneure in den Tod Agmons einbezogen. Sagen wir … sie haben etwas nachgeholfen. Es wird schwer sein, etwas richtiggehend zu beweisen, aber ebenso schwer wird es Ruuver, Galbass und Sorpschan sein, das Gegenteil zu beweisen, nämlich ihre Schuldlosigkeit.« »Ausgezeichnet!« schrie Kaddoko und sprang von seinem Sessel hinunter. Er ging um den Schreibtisch herum, und jetzt sahen wir erst, daß er nicht viel größer als hundertvierzig Zentimeter war. Er bot einen grotesken Anblick. »Das sind unsere Pläne stets!« versicherte Fartuloon und erhob sich ebenfalls aus seinem Sessel. »Aber nicht alle Pläne können auch ausgeführt werden. Kaddoko – wir brauchen ein
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Hans Kneifel
Zimmer und Schlafgelegenheiten. Aber zuerst ein kleiner Rundgang durch die Anlage, ja?« »Selbstverständlich! Ich werde euch zeigen, was ich weiß.« In der nächsten halben Stunde stellte er uns seine zwölf Leibgardisten vor, sagte ihnen, daß wir wichtige Gäste waren und wie wir zu behandeln seien. Dann folgte eine schnelle Führung durch die meisten unterirdischen Gänge und Stollen. Einiges kannte er selbst noch nicht, einiges würde immer unerforscht bleiben, aber überall dort, wo die Restaurationswut des Imperiumsbeauftragten sich ausgetobt hatte, sahen wir die Kultur einer Gruppe von Lebewesen, die es – ebenso wie Agmon selbst – vorgezogen hatten, den größten Teil ihres Lebens unter der Erde zu verbringen.
* »Erstaunlich, was ein paar Stunden Ruhe, ein Bad und frische Kleidung ausmachen können«, sagte Fartuloon, als er in mein Zimmer kam und sich in einen Sessel warf. Ich kam aus dem Bad hervor und setzte mich ebenfalls. »Man fühlt sich nicht gerade wie neugeboren, aber so ähnlich«, erklärte ich und sortierte meine Kleidung aus. Wir versuchten, keinerlei Risiko einzugehen und hatten uns neu ausgerüstet. Auch jene Vorräte und Hilfsmittel, die wir leicht mit uns tragen konnten, waren ersetzt und ergänzt worden. Langsam zog ich mich an und sah dann in den riesigen Projektorschirm, der das Fenster darstellte. Er zeigte einen Blick in den großen Hof der alten Bauwerke, also die Fläche vor der Freitreppe, zwischen den Mauerresten. »Gehen wir an die Arbeit?« fragte Fartuloon nach einer Weile. Ich schaltete den Spiegel ab und nickte. »Dein rastloser Verstand wird zwischenzeitlich wieder tätig gewesen sein, denke ich?« »Ja. Mir sind einige aparte Einzelheiten
eingefallen. Und eines sage ich dir: Am Hof von Kaddoko in KevKev werden wir dem Imperator einen harten Schlag versetzen und den Ökonomen kidnappen. Wir entführen Freemush, das ist klar. Bis zu diesem Punkt sind es nur wenige Schritte. Endlich sind wir wieder die Handelnden!« »Ich freue mich ebenfalls darüber!« stimmte ich zu. Wir verließen den Raum. Durch einen düsteren Korridor, den auch die hellen Beleuchtungskörper nicht sonderlich freundlicher machten, kamen wir an Basreliefs und langen steinernen Bändern entsetzlicher Fratzen vorbei bis zu einer Treppe. Hier sahen wir den Aufzug, der von der Energie eines unterirdischen Wasserstroms angetrieben worden war – auch diese Anlage hatte Agmon von seinen Robotern restaurieren lassen. »Wir müssen in die vierte Ebene!« sagte ich leise. »Ja. Dort sind die Kühlkammern.« Wir stiegen in den Kasten, der aus Holz und Schmiedeeisen bestand. Fartuloon löste einen Riegel. Daraufhin drückte eine hölzerne Klappe, mit einem schweren Steingewicht als Ausgleich versehen, ein Zahnrad aus Hartholz gegen den. Antrieb. Der Liftkorb ruckte an und wurde in einem einzigen schnellen Ruck nach oben gezogen, vorbei an den Führungsschienen und an der Balkenkonstruktion. Ich drückte die Sperrklinke hinein, die neben der Zahl stand. Eine lederne Bremse griff nach dem Seil, während die Klappe das Zahnrad wieder auskuppelte. Der Lift hielt an, wir stiegen aus und befanden uns in einem anderen Korridor. Über uns waren noch drei Ebenen, dann kam das Bodenniveau, das wir schon kannten. »Das ist ein unterirdisches Labyrinth«, stellte ich fest. »Ich glaube nicht, daß selbst Agmon alle Gänge, Stollen und Säle kannte, zu schweigen von den Treppen und womöglich einigen Geheimgängen.« »Hier kann sich eine Armee monatelang verbergen«, versetzte Fartuloon ärgerlich. Wir gingen über einen rostfarbenen Belag,
Die Burg des Tyrannen der die Geräusche dämmte und die Bodenkälte abhielt, bis zu einem stählernen Schott. Von der anderen Seite des Korridors kamen uns zwei Männer entgegen. »Ihr sucht Agmons Leiche, nicht wahr?« rief einer von ihnen. Es war, als er näherkam und ich ihn erkannte, Taunas, der Anführer dieser kleinen Truppe. »So ist es.« »Kaddoko schickt uns. Er wollte eben mit euch sprechen, aber ihr wart nicht mehr in euren Räumen.« »Das ist richtig. Ihr helft uns?« fragte Fartuloon. Taunas öffnete das Schott. Ein eiskalter Luftstrom kam uns entgegen. Schlagartig bildeten sich Dampfwolken, wenn wir sprachen oder atmeten. Das Schott war dick isoliert. Klickend schaltete sich die Beleuchtung ein. Hier war ein riesiges Lager für konservierte Nahrungsmittel aller Art. Taunas betätigte ein Schaltgerät an seinem Handgelenk. »Ein Robot. Ich habe ihn gerufen«, erklärte er. Wir gingen hinein. Drei Wände waren vollständig mit Fächern bedeckt. Viele von ihnen waren mit Klappen verschlossen, die meisten waren offen. Dort standen die Packungen, die in Folie eingeschweißten Fleischstücke und alle möglichen anderen Nahrungsmittel. Überall hatte sich Reif und dünnes Eis gebildet. Die beiden Männer rissen ein Fach dicht über dem Boden auf, zogen die Lade heraus, und hier lag, in halbdurchsichtiges Plastik eingewickelt, der Tote. »Hmm!« machte Fartuloon und spähte durch das beschlagene Material. Die Umrisse stimmten, Agmon war nicht viel größer als Kaddoko. Aber er war dunkelhaarig, und der Gesichtsschnitt war, soweit erkennbar, ganz anders. Das sollte unsere geringste Sorge sein. Ein schwerer Lastenrobot kam durch das offene Schott herein, schwebte auf Taunas zu und blieb summend neben ihm in der Luft schweben. »Aufladen und uns folgen!« sagte der Anführer. Wir traten zurück. Mit seinen drei
39 hydraulisch verstärkten Armen hob die Maschine das Bündel hoch, legte es erstaunlich sanft auf die Ladefläche und drehte auf der Stelle. Der Begleiter Taunas' schob das Fach wieder zu und nickte. »Gehen wir.« Taunas ging voraus. Hinter ihm schwebte der Lastenrobot, eine veraltete, aber zuverlässige Arkon-Konstruktion. Das Bündel mit dem makabren Inhalt strahlte eisige Kälte aus. Wir flankierten den Robot bis zum Lift, dann kamen wir in einem Nebenturm, an der Oberfläche heraus. »Wer kennt eigentlich die ganze Anlage hier?« fragte ich, als wir durch ein glasloses, aber neu eingerichtetes Fenster den Steg durch die leere Haupthalle sahen. »Ich bezweifle stark«, antwortete Taunas mürrisch, »daß selbst der da alles kannte. Das ist eine Anlage, in der man sich so verlaufen kann, daß man verhungert oder wahnsinnig wird.« »Beides wollen wir nicht.« Wir kamen auf den Steg hinaus, bogen ab und betraten die Plattform vor der Treppe. Sie war noch immer von Trümmern übersät. Als wir unter dem Torbogen hindurchgingen, knisterte es über uns. Mein Kopf fuhr hoch, ich blickte nach oben. »Zurück!« Zwischen den Säulen und den Auflageflächen fiel ein ständiger Regen aus bröckelndem Stein herunter. Die schräge Steinplatte zeigte die langen Sprünge. Ein dreieckiges Stück löste sich, drehte sich langsam und fiel gerade auf die Ladefläche zu. »Robot! Zurück!« schrie ich. Fartuloon breitete seine Arme aus, drehte sich um und rannte zurück. Er packte die beiden Männer um die Hüften und sprang durch das Tor zurück auf den Steg. Summend schwebte die Maschine rückwärts, aber der Steinsplitter traf sie. Noch mitten in der Bewegung, der Robot war bereits unterhalb des steinernen Bodens, schlug der riesige Steinsplitter ein. Er traf das Gehäuse der Maschine, durchschlug die Metallabdeckung und bohrte sich tief in die
40 energetischen Eingeweide des Lastenrobots. Ich war mit einem weiten Satz in den Schutz eines Mittelpfeilers gesprungen und sah und hörte, wie eine Lawine von Steinbrocken zwischen den Säulen herunterprasselte. Der Robot krachte zu Boden, die steifgefrorene Leiche wurde heruntergeschleudert und die Verpackung lockerte sich. Einige Blitze zuckten aus der Antriebsmaschinerie heraus, dann gab es eine scharfe Detonation. Schwarzer Rauch quoll aus den Trümmern der Maschine. Die letzten Brocken fielen herunter und rollten staubend nach allen Seiten auseinander. »In Ordnung«, sagte, ich. »Der Steinschlag ist vorbei.« Sie kamen zurück. Wir betrachteten den Schaden, aber offensichtlich war Fartuloon keineswegs beunruhigt. Er packte die Leiche und wickelte sie mit Hilfe von Taunas aus. »Fangen wir an!« sagte er ruhig. Wir legten die Leiche auf die Treppe. Bei dem Gefecht hatte Kaddoko eine Nadelwaffe benutzt. Der Einschuß in der Brust war kaum zu entdecken. Auch den defekten Robot ließen wir dort, wo er zerstört worden war. Das schuf zusätzliche Verwirrung, falls der Ökonom eine Untersuchung befahl. Fartuloon blieb stehen, stemmte die Arme in die Seiten und betrachtete das Arrangement. »Gut. Sieht aus, als hätte er sich zu Tode gestürzt.« Dann winkte Fartuloon zu uns herauf. »Tretet ein paar große Steine die Treppenstufen hinunter. Das wirkt noch realistischer!« »In Ordnung, Chef!« schrie Taunas. Wir rollten einige große Brocken an den Rand der obersten Stufe, traten andere Steine hinterher; eine kleine Steinlawine rollte hüpfend über die Stufen hinunter. »Gut, so«, knurrte der Bauchaufschneider. »Sehr gut. Jetzt brauchen wir nur noch die Indizien zu verstreuen. Der Mantel!« Der alte Fuchs! Deswegen hatte er darauf bestanden, daß ich meinen Mantel, der aus
Hans Kneifel dem Haus Djulf Sorpschan stammte, mitnehmen sollte. Ich nahm das Kleidungsstück von den Schultern und warf es rechts über das Geländer. Fartuloon nickte zufrieden. »Das war das Indiz, daß Sorpschan sehr viel Ärger verursachen wird«, rief der Bauchaufschneider. Wenn Freemush hier landete und die Burg betrat, dann würde er Agmon finden. Je länger der Ökonom brauchte, um diese Stelle zu finden, desto schwerer würde es sein, die Wahrheit herauszufinden. »Zurück in die Räume, von denen aus Agmon regiert hat!« ordnete Fartuloon an. Langsam kletterte er, den Steinen ausweichend, die Treppe wieder hinauf. Kaddoko würde alles, was wir jetzt unternahmen, voll unterstützen. Langsam gingen wir über den Steg, den gesamten Weg zurück, den wir zum erstenmal hierher gegangen waren. Wir kamen schließlich wieder in den Raum mit dem Schreibtisch. Dort fanden wir Kaddoko, der weitere »Beweise« herstellte. Fartuloon hatte ihm genau vorgeschrieben, was er tun mußte.
* »Wir bereiten gerade den Aufbruch nach KevKev vor«, sagte Kaddoko am Abend. »Morgen früh starten wir.« »Einverstanden!« sagte ich. »Die Unterlagen sind in Ordnung?« »Ja.« In den Protokollen waren die Stellen gefälscht und nachgetragen worden. Die gesprochenen und geschriebenen Texte sprachen von der Furcht Agmons, von den drei anderen Gouverneuren ermordet zu werden. Von dem Vertrauen war die Rede, das Agmon eigentlich nur einem Menschen gegenüber aufbringen konnte, nämlich dem Herrscher über den Kontinent KevKev. Fartuloon hatte weitere Spuren hinterlassen. Gegenstände, die bis zurück zu Ruuver zu verfolgen waren, lagen hier. »Die Spuren … hast du deine Männer an-
Die Burg des Tyrannen gewiesen, alles wegzuräumen, sämtliche Fingerabdrücke und ähnliche Relikte zu beseitigen?« Kaddoko lächelte überlegen. »Wir waren nicht lange hier. Wir haben nicht viele Räume bewohnt und demnach kaum Spuren hinterlassen, die uns verraten können. Abgesehen davon räumen Taunas und seine elf Leute gerade ihre Zimmer auf.« »Hoffen wir, daß wir die richtigen Dinge getan haben«, meinte Fartuloon. »Ich denke ununterbrochen daran, was wir falsch gemacht haben könnten. Ich glaube, ich habe keinen Fehler gemacht.« Wenn wir Freemush entführen wollen, dachte ich, dürfen wir auch keinen einzigen Fehler machen. Wir aßen ruhig weiter, von Robotern bedient, tief im Innern des unheimlichen alten Gemäuers. Morgen würden wir an einem anderen Platz sein und andere Aktivitäten versuchen. »Ich glaube auch, daß wir keine Fehler gemacht haben. Wann, sagt ihr, wird Freemush landen?« Ich lächelte. Das wußten wir selbst nicht genau. Wir wußten nur, daß er in den nächsten Tagen kommen würde. »Wir haben nichts gesagt«, erklärte ich. »In einigen Tagen. Er wird sich laut genug melden, dessen können wir sicher sein.« Das Essen ging zu Ende. Eine lustlose Stimmung herrschte im Augenblick. Jeder von uns war mit seinen Gedanken beschäftigt. Ich fragte mich, in welchem Maß wir Orbanaschol erpressen oder zwingen konnten, wenn wir seinen Vertrauten hatten. Fartuloon lagen die verwirrenden Konstruktionen des Kampfes hinter den Kulissen am Herzen, und der zwergenhafte Mann mit dem schiefen Mund dachte nur noch an seine künftige Machtposition. Von allen denkbaren Verbündeten hatten wir uns mit unfehlbarer Sicherheit den bizarrsten ausgesucht. Ich stand auf und sagte: »Ich bin müde. Was immer wir morgen vorhaben – ich möchte ausgeschlafen und
41 frisch sein.« Fartuloon nickte mir zu und griff nach seinem Glas. »Ich werde noch eine halbe Stunde hier bleiben und mit dem Herrscher von KevKev die letzten, wichtigen Einzelheiten besprechen. Schlaf gut, mein Freund.« »Danke, du auch.« Ich ging, einen Pokal halb voll Rotwein in der Hand, langsam durch die uralten Gänge. Ich zögerte, mein Zimmer aufzusuchen, als könnte ich dadurch etwas ändern oder aufhalten. Hin und wieder ging ich in einen der Querstollen hinein, bis das Licht spärlicher wurde und ich nicht mehr sah, was vor mir lag. Einmal glaubte ich, am unteren Ende einer langen, schmalen Treppe etwas zu sehen, das wie ein riesiges Auge aussah, aber es verschwand zu schnell. Dann wieder, einige zwanzig Schritte weiter, in einem Schacht, der nach unten führte und eine Wendeltreppe enthielt, hörte ich ein langgezogenes Stöhnen oder Fauchen. Ein Tier? Oder eine Maschine, ein Geheimnis der ausgestorbenen Bewohner dieser schwarzen, trostlosen Anlage? Langsam ging ich weiter, kletterte die Stufen einer breiten, hell ausgeleuchteten Treppe hinauf und trank, ehe ich die Kontaktplatte drückte, einen Schluck Wein. Die Tür glitt lautlos auf. Mein Zimmer war wie eine freundliche Zelle inmitten einer unheimlichen Umgebung. Ich setzte mich, drehte den Sessel in die Richtung der Bildplatte und starrte, ohne die Bilder bewußt wahrzunehmen, auf die dunklen Umrisse der Ruinen, die hier abgebildet waren. Dann zog ich mich aus und legte mich schlafen. Einmal wurde ich mitten in der Nacht wach; ein wüster Traum ließ mich schweißgebadet hochfahren. Als ich blinzelnd die Augen öffnete, glaubte ich, jemand stünde vor dem Bett. Dann erst erkannte ich, daß es ein tanzender Lichtstrahl war, der über die Türwand strich und flirrte. »Was ist das? Was kann das sein?« flüsterte ich überrascht und tastete nach der
42 Waffe neben dem Bett. Dann begriff ich! Mit einem Satz, die schwere Strahlwaffe in den Fingern, sprang ich auf die Beine. Ich wirbelte herum und heftete meinen Blick auf das »Fenster«. Es war genau der Vorgang, den ich zu sehen erwartet hatte. Auf dem Bildschirm des künstlichen Fensters, dessen Aufnahmelinse in den Hof der Burg hinunter gerichtet war, sah ich zwei helle Lampen, die sich unruhig bewegten. Die starken, weißen Lichtkegel fuhren über den Rasen, streiften die Gleiter mit den Zeichen Kaddokos, richteten sich auf die Steine, aber bisher hatte sich noch kein Kreis aus dunklen, schlanken Gestalten um die Leiche versammelt, die am Fuß der Treppe lag und inzwischen völlig aufgetaut sein mußte. Ich sah, während ich mich schnell anzog und die Augen nicht von dem Bild nahm, wie ein schemenhaft erkennbarer Gleiter sich heranschob und einmal kurz die Scheinwerfer aufblinken ließ. Kurz erkannte ich das Herrscherzeichen von Sorpschan. »Ich werde wahnsinnig!« stöhnte ich auf. Eine übereilte Aktion würde mehr schaden als nützen. Ich nahm die Spange des Funkgeräts, setzte sie auf mein linkes Handgelenk und drückte den Rufknopf. Dann flüsterte ich eindringlich: »Fartuloon! Ich rufe Fartuloon! Hier spricht Atlan!« Einige Sekunden vergingen. Ich schaltete überall dort das Licht ein, wo ich Gegenstände meiner Ausrüstung liegen hatten. In fieberhafter Eile sammelte ich ein, was ich brauchte. Ein letzter Griff an die Gürtelschnalle, dann fuhr ich in meine Jacke. Noch immer keine Antwort. Abermals drückte ich den Knopf; wartete einige Sekunden. Dann kam Fartuloons Stimme: »Was gibt es?« fragte er knapp. »Sorpschans Soldaten sind im Hof. Es kann nur noch Sekunden dauern, bis sie die Leiche Agmons entdecken!« »Verdammt. Hast du die anderen …?« »Ich weiß nicht, wie sie zu wecken und
Hans Kneifel wo sie zu finden sind!« sagte ich. »Ich gehe hinaus und versuche, die Soldaten abzulenken. Sie müssen ein Verfahren kennen, mit dem sie die Energieschale aufgebrochen haben.« Fartuloon fluchte einigemal, dann versicherte er: »Lenke sie ab, aber lasse dich nicht in einen gefährlichen Kampf ein. Ich besorge das Wecken der anderen. Los!« Ich stürmte aus dem Zimmer und rannte den Weg entlang, den ich kannte. Mein Ziel war der runde Turm, beziehungsweise der Steg, der die Treppe mit der Turmplattform verband. Ich rannte durch die Korridore, fegte um Winkel, sprang in den Lift hinein und wurde, als ich mich umdrehte, angerufen. »Was ist los? Warum rennst du?« Ich streckte die Hand aus. Die Lifttür fuhr zischend wieder zurück in ihren Spalt. Taunas! Er rannte auf den Lift zu. »Sorpschans Soldaten!« stieß ich hervor. »Der ganze Plan ist in Gefahr!« Mit einem Satz sprang er zu mir herein. Die Lifttür schloß sich wieder, und der Korb setzte sich in Fahrt. Ich erklärte ihm, was ich gesehen hatte, während Taunas seine Waffe zog, kurz überprüfte und entsicherte. Er lächelte kühl und erklärte: »Ich habe soeben diesen Schalter an meinem Rufgerät gedrückt. Alle elf Männer sind jetzt geweckt. Außerdem kenne ich inzwischen einige Tricks, mit denen Agmon seine Festung einbruchssicher gemacht hat.« »Hoffentlich funktionieren sie!« sagte ich leise. Der Lift hielt, und über die Treppe rannten wir hinauf auf die Plattform. Wenn auch nur einer der Soldaten entkam und seinem Herrscher meldete, was er gesehen hatte, dann waren nicht nur wir persönlich in Lebensgefahr, sondern unser weitaus wichtigerer Plan starb, ehe er die Chance hatte, überhaupt ausgeführt zu werden. »Wir müssen sie nach links treiben! An der Treppe vorbei und an der Längswand des Haupthauses!« erklärte Taunas, als wir
Die Burg des Tyrannen wie die Besessenen über den Steg rannten und jede Sekunde erwarteten, von vorn unter Feuer genommen zu werden. »Gern, wenn ich es kann!« meinte ich.
6. Die letzten fünfzehn Meter rannten wir auf Zehenspitzen. Über uns war der falsche Himmel der Energiekuppel. Kein einziger Stern war zu sehen, auch keine andere Helligkeit, die uns geholfen hätte. Wir ahnten unseren Weg mehr, als wir ihn sahen. Irgendwo vor uns waren die Säulen und die Torbögen und die Tonnen Schutt auf der Plattform. »Hinter mir her! Ich habe einen Restlichtverstärker!« flüsterte Taunas und setzte sich eine Brille auf. Vermutlich erkannte er jetzt, als die flackernden Lichter der Soldaten, zu wirken begannen, einige Umrisse und Einzelheiten. Wir tasteten uns, ich hatte meine linke Hand auf seine Schulter gelegt, geradeaus. »Halt!« Jetzt erkannte auch ich, wo wir uns befanden. Ich hatte etwa dasselbe Blickfeld wie vorhin in meinem Zimmer. Dort unten waren sie. Drei Gleiter und … sieben, neun, etwa fünfzehn Männer. Einer von ihnen ging eben genau in die Richtung, in der Agmons Leiche auf den Stufen lag, die Arme ausgebreitet oder noch nicht, je nach Zustand des Aufgetautseins. Ohne jede Warnung hob Taunas die Waffe und feuerte. Einen Meter vor dem Mann entstand ein blendend heller Glutkreis, der Knall der Detonation bildete einen schmerzenden Laut in der absoluten Stille, in der man nicht einmal die Roboter hörte. Als ich den ersten Schuß abgab, brach die Hölle los. Der Soldat oder der Mann der Nocto-Nos, der auf dem Weg zu den untersten Treppenstufen gewesen war, brach zusammen und schleuderte seine Lampe weit von sich. Dann kam er wieder auf die Füße und lief taumelnd auf einen Gleiter zu. Kurz vor dem
43 Gleiter, als ich mich gerade hinter einen Steinblock fallen ließ, hielt er an und riß eine Waffe unter der Achsel hervor. Taunas kannte nicht die geringste Rücksicht. Sein erster Schuß traf einen Soldaten in die Brust und tötete ihn. Der zweite Treffer schlug zwischen den auseinander rennenden Männern ein. Auch mein Schuß veranlaßte sie, nach links zu laufen. Über mir schlug das Feuer in die Platten und Säulen ein. Wieder hagelte es Bruchstücke, die rund um uns einschlugen und in zahlreiche Splitter zerbrachen. »Wenn wir sie nicht töten, dann töten sie uns!« zischte Taunas neben mir und erschoß einen fliehenden Mann. Jetzt rannten die Männer genau in die Richtung, die wir wünschten. Ich hatte keine Ahnung, warum Taunas dies vorhatte, aber ich würde es gleich sehen. Wo blieb Fartuloon? Einer der Gleiter fuhr los und richtete seinen Suchscheinwerfer auf uns. Ich schoß auf den Scheinwerfer und traf; es krachte, und Glasscherben flogen schmelzend nach allen Richtungen. Die Gleitermaschine heulte auf, und aus der Motorhaube schossen lange Flammen. Taunas entfesselte aus seiner Waffe ein wütendes Feuer und bewirkte, daß der Pilot starb und der Gleiter in rasender Fahrt an der Treppe vorbei, durch ein Tor hindurch und an einer der Ruinenmauern entlang hinaus auf die Grasfläche raste. Flammen, Rauch und Gestank verloren sich. Die Männer, es mochten noch ein Dutzend sein, zogen sich feuernd zurück und rannten entlang der langen Mauer. »Was jetzt?« fragte ich laut. Irgendwo draußen im Gelände gab es einen Lichtblitz, dann erreichte uns der Donner einer schweren Detonation. »Hinterher. Die anderen warten schon. Es geht hinunter in die Katakomben der ausgestorbenen Erbauer!« »Einverstanden.« Die furchtbare Vision eines Kampfes in
44 den unbekannten Gängen und Stollen tauchte vor meinem inneren Auge auf, als wir langsam die Treppe hinunterstiegen. Im Gras lag die Lampe und schickte einen schmalen Streifen Licht in unsere Richtung. Wir kamen an der Leiche vorbei, die tatsächlich mit ausgebreiteten Armen auf den Stufen lag. Keiner sagte ein Wort, aber ich rannte auf die Lampe zu und holte sie. Einige Schüsse fauchten parallel zur Mauer, aber sie konnten uns nicht erreichen. Wir rannten zur nächsten Ecke der Ruine und feuerten wieder auf die nur schwach sichtbaren Gestalten. Ich wollte losrennen, aber Taunas hielt mich zurück. »Noch nicht … gut! Sie laufen in die Falle.« Es waren etwa zweihundert Schritte bis zum runden Turm. Als die Männer in entsprechender Entfernung waren, eröffneten einige Männer aus Kaddokos Leibwache das Feuer von oben herab. Jetzt wagten wir uns aus unserer Deckung hervor und gingen schnell auf den Ort zu, den wir deutlich sahen; Lichtblitze und die Umrisse der Soldaten zeigten uns den Weg. »Die Falle?« fragte ich durch den Lärm der Schüsse. Einige Männer schrien auf. »Warte. Die Lampe!« »Hier!« Ich gab sie ihm. Er schirmte das Licht ab und strahlte die Mauer an. Auch hier gab es riesige Steinplatten mit unlesbaren Inschriften und grausigen Köpfen und Gesichtern. Ineinander verknotete Leiber von Schreckensfiguren bildeten den Rahmen. Im zuckenden Licht schien es, als ob sie zu neuem Leben erwachten. Langsam zählte Taunas. Bei der achten Tafel blieb er stehen. Wir waren nur noch zwanzig Meter von der kleinen Gruppe entfernt, die ununterbrochen nach oben feuerte. Eben begann sie sich zu zerstreuen. Taunas sagte: »Halte sie zurück!« »In Ordnung!« Ich hob meine Waffe und schoß fünfzehnmal hintereinander. Die Explosionsblitze
Hans Kneifel bildeten eine unterbrochene Reihe von kleinen Sonnen zwischen den Soldaten und uns. Ich sah nicht deutlich, was der Anführer von Kaddokos Leibwache mit der Tafel anstellte, aber plötzlich schwang sie nach außen und gab ein kleines Schaltbrett frei. Die Hand des Mannes zuckte vorwärts, die Finger drückten einen matt leuchtenden Knopf. Plötzlich schrien die Männer dort vorn alle gleichzeitig auf. Ein kreisrundes Stück Rasen fiel senkrecht nach unten. Mit großer Schnelligkeit geschah dies; ich sah nur noch ein Loch im Boden. Dann, als ich verwirrt die Waffe sinken ließ, ertönte von der Schalttafel her ein Summen. Eine zweite Tür schwang auf und enthüllte ein Stück matt beleuchteten Ganges. »Hier hinein. Wir landen auf der neunten Ebene. Dort, wo auch die Soldaten Sorpschans sind.« Eine raffinierte Falle. Vermutlich fiel die Platte die ersten Meter ungebremst abwärts, dann wurde sie langsamer und transportierte die Gruppe nach unten. Mit einiger Sicherheit gab es erstens rund um diese Bauwerke noch mehr solcher Fallen, und zweitens würde jeder Kampf in den unbekannten Stollen die Angreifer auch ohne Zutun der Verteidiger töten. Ich dachte an das Auge und das Stöhnen und folgte Taunas in den Korridor. »Ich bin überfordert!« bekannte ich. »Was passiert jetzt? Was soll das Ganze eigentlich?« Taunas zuckte seine schmalen Schultern und schob ein neues Energiemagazin in seine Waffe. »Ich bin auch erst vor zwei Tagen auf diese Anlage gestoßen. Eine Röhre führt bis zum tiefsten Punkt dieser Anlage. Etwa sechzig Meter oder mehr. Dort ist eine kleine Halle, von der unzählige Gänge abzweigen.« Wir rannten geradeaus, während sich hinter uns nacheinander beide Türen schlossen. Auch wir kamen an einen Lift, aber es war
Die Burg des Tyrannen diesmal eine Antigravanlage, die nach unten führte. Wir sprangen durch den Eingang und wurden vom Transportfeld erfaßt. »Gänge? Wohin führen sie?« »Keine Ahnung. Aber dieser Lift führt in einen der Gänge. Ich kenne sieben solcher Anlagen. Meine Männer werden die anderen benutzen. Wir sind dadurch im Vorteil, und lebend entkommt hier niemand.« »Falsche Rücksicht kennt keiner von euch!« murmelte ich, aber er hatte natürlich recht. Verriet einer der Soldaten die Tatsache, daß er hier Männer aus Kaddokos Leibwache oder gar den Gouverneur selbst gesehen hatte, dann war Kaddoko erledigt. Die Soldaten waren offensichtlich unseren Spuren gefolgt und verfügten über ein Verfahren, durch den Schirm zu kommen. Nach dem Durchdringen hatten sie es nicht schwer gehabt, uns zu finden. Wir glitten durch die vier Meter durchmessende Röhre bis hinunter auf den Grund. An keinem anderen Ausgang kamen wir vorbei; auch wir landeten auf der untersten Ebene. Das Schema lag jetzt klar vor mir. Sieben der. Anlagen, vermutlich nur von oben schaltbar, mündeten in Stollen, die auf die Halle zuführten. Die anderen Stollen endeten blind oder führten in die schreckliche Unterwelt der Burg. Wir landeten und sahen uns wieder einem uralten Gang gegenüber. Er war unbeleuchtet, aber Licht drang vom anderen Ausgang ein. Es kam aus der Halle, von der Taunas gesprochen hatte. »Du mußt führen. Ich kenne hier noch weniger als du!« sagte ich und verließ den Schacht. Er folgte mir und ging schnell geradeaus. »Meine Leute wissen, was sie zu tun haben«, meinte er, dann legte er den Finger an die Lippen und wurde noch leiser. Dicht an die Mauer gepreßt schlichen wir nach vorn, dem Licht entgegen. Einige Sekunden vergingen, dann fragte jemand vor uns halblaut: »Was sollen wir hier? Einfach in einen der Korridore hinein? Diese teuflischen Fratzen hier beunruhigen mich. Zählen …«
45 Sie waren also da und berieten sich. Eben mußte die Plattform gelandet sein. Tatsächlich rochen wir das verschmorte und verbrannte Gras und den feinen Rauch, der davon aufstieg und von Luftströmen, die einen nicht weniger geheimnisvollen Weg nahmen, hochgewirbelt und mitgeschleppt wurde. »Elf!« war die Antwort. Eine Sekunde nach diesem Wort krachte es auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Schrei zitterte als Echo in den Gängen nach. »Meine Leute greifen an! Vorwärts!« keuchte Taunas und startete. Er rannte geradeaus, erreichte die Schnittlinie zwischen Gang und Halle und schoß zweimal. In den Höllenlärm der Detonationen mischten sich Schreie – und dann ein anderer, fremder, grauenvoller Schrei. Er klang wie das Kreischen eines verwundeten Sauriers. »Was war das?« flüsterte ich und feuerte an der Hüfte Taunas vorbei auf einen Mann der Nocto-Nos, der mich gesehen und erkannt hatte. Mein Schuß traf ihn in die Brust und schleuderte ihn einige Meter weit zurück. Zwei Männer rannten nach rechts über die Plattform, die unschuldig grün unter dem Licht verborgener Lampen lag. Niemand hörte mich. Die Gänge und Hallen, Korridore und Treppen, in den gewachsenen Felsen geschnitten und in jahrelanger, mühsamer Arbeit mit gut erhaltenen Fliesen ausgestattet, bildeten rollende Echos und verstärkten die Explosionen noch. Einer der KaddokoLeibwächter kam blutend aus der Deckung getaumelt und brach zusammen; keine zwanzig Meter von uns entfernt auf der anderen Seite der Plattform. Ein anderer Mann floh ins Ungewisse, in einen Gang hinein. Ich sprang zur Seite und sah plötzlich, daß sich die Plattform wieder hob. Auf ihr lagen vier tote Männer. Ohne sichtbaren Antrieb schwebte die Platte höher und höher und bildete eine etwa meterdicke Scheibe, die direkt vor der Öffnung des Korridors vorbei nach oben schwebte und das Licht verdunkelte. Sie er-
46 reichte den oberen Rand des Loches – und plötzlich herrschte Dunkelheit. »Taunas?« fragte ich. Er hatte die Lampe, also sollte er sie einschalten. Wieder hörte ich diesen unwirklichen Schrei. Er schien von rechts zu kommen, aber die vielen Echos brachen den Primärschall, so daß man nichts Genaueres sagen konnte. Ich stellte mir vor, wie die Scheibe durch den riesigen runden Schacht jetzt aufwärts schwebte und dort den alten Platz mitten im Rasen wieder einnahm. Mit sich nahm sie die vier getöteten Männer: »Hier! Hast du die Lampe?« fragte er. »Du hast die Lampe. Verdammt! Warum gibt es hier kein Licht?« schrie ich. Auch meine Stimme kam als Echo zurück. Es war, als riefe ich in eine lange Röhre hinein. »Ich habe die Lampe nicht. Dann liegt sie irgendwo oben«, sagte Taunas dicht vor mir. »Wie lautet dein Rezept, Freund Anführer?« fragte ich sarkastisch. Trotzdem begann ich Angst zu fühlen. Von rechts – oder bildete ich es mir nur ein? – hörten wir seltsame, schlurfende und schleifende Laute. »Kein Rezept. Wir müssen warten, bis oben jemand die Anlage umpolt.« »Wer ist oben, Kaddoko?« »Er auch. Aber er weiß nicht, wo die Schalter sind. He! Hier ist Taunas! Ist einer von euch da?« Als Antwort blitzte schräg vor uns ein Schuß auf, erhellte für einen Sekundenbruchteil den Boden und die glatten Wände des steinernen Hohlzylinders. Der Schuß ging in den Felsen und erzeugte einen rötlichen Glutfleck, der einige Zeit lang ein dunkles Licht abgab, das alles mit einem staubigen roten Schimmer überschüttete. »Dann entwickele ein Rezept«, empfahl ich und versuchte, in dem betreffenden Korridor den Mann auszumachen, der auf uns gefeuert hatte, »wie wir auf dem schnellsten Weg wieder nach oben kommen. Wir hätten auf die Plattform springen sollen.« »Wir hätten …« Endlich hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt sah ich den
Hans Kneifel Schatten, der auf dem Boden kniete und die Waffe auf uns richtete. Zwar sah ich sie nicht, aber in solchen Situationen begann mein Instinkt zu arbeiten. Bisher war ich nicht ein einziges Mal getroffen worden, aber das hatte nichts zu sagen. Ich feuerte. Der Mann riß die Arme hoch, und seine Hände verkrampften sich. Sein Strahler zeigte zur Decke, als sich der Mann nach hinten überschlug. Das grellrote Licht blendete aus dem Korridor und erhellte notdürftig die Szene. »Taunas?« kam es von rechts. Taunas warf sich auf den Boden, ich duckte mich eng an die Wand. »Hierher!« schrie der Mann. »Wo steckt ihr?« Mein Logiksektor, mein Extrahirn, das sich in unregelmäßigen Abständen meldete, schien wieder einmal zu funktionieren. Sieh zu, daß du entkommst. Diese Art von Dunkelheit ist der Tod. wisperte es in meinen Gedanken. Ich wußte es. Aber ich sah keinen Weg, mich richtig zu verhalten. Ich schob meinen Kopf vor und blickte in drei verschiedene Korridore hinein. Nur dorthin fiel etwas von dem grellen, flackernden Lichte. In einem Gang entdeckte ich drei tote Männer, die in gekrümmter Stellung auf dem Boden lagen. Im dritten, ganz links, sah ich nur die Felswand. Sie war seltsam bearbeitet. Nein! Durch den Korridor bewegte sich etwas. Es sah wie der Kopf eines riesigen Wurmes aus. Ein riesiges Auge, darunter ein klaffender Spalt. Langsam schob sich der Spalt näher und näher. Vor dem Ungeheuer lag ein Toter. Der Rachen dieses Fabelwesens, das bleich und weich und ohne jede sichtbare Bewegung von Füßen oder Tentakeln näherkroch, wurde noch weiter aufgerissen, bis er wie eine Schaufel über den Boden des Korridors glitt. »Taunas!« schrie ich. »Dort! Sieh hin-
Die Burg des Tyrannen über!« Mit zitternden Fingern hob ich die Waffe. Ich fühlte mich im Bann dieses rätselhaften Wesens. Neben mir krachte ein Schuß auf. Der Mann von KevKev hatte rücksichtslos gefeuert. Fünf Männer rannten auf unseren Platz zu. Ich sah im Aufflammen des Blitzes, wie dieses Wesen gierig nach dem Toten oder sterbenden Mann schnappte. Der Schuß traf direkt das Auge, und der obere Teil des Schädels wurde weggerissen. Die Reaktion war erstaunlich … Der Körper des Tieres zog sich zusammen wie eine Feder, die man losgelassen hatte. In rasender Geschwindigkeit entfernte sich der scharfkantige Rachen. Der Tote wurde mitgeschleift und verschwand in der Dunkelheit. »Wer fehlt?« fragte Taunas laut. Einige Namen wurden genannt. Sechs Männer fehlten im Augenblick noch. In der Schwärze vor uns sagte eine Stimme: »Drei sind oben geblieben.« »Schießt in jeden Gang hinein. Los, schnell!« »Warum?« »Wegen des Lichts! Oder hat jemand die Lichtschalter entdeckt?« schrie ich aufgebracht. Die Männer gingen wieder auseinander. Einer von ihnen hielt ein Feuerzeug hoch. Andere zogen Papiere aus den Taschen und zündeten sie an der kleinen Flamme an. Ein paar Schüsse krachten auf und verwandelten die Rückseite der Gänge oder Fläche der Decke in glühende rote Beleuchtungskörper von fragwürdiger Lichtstärke. Wir fanden niemanden, aber einige verbrannten sich die Finger. »Was jetzt? Wir sind gefangen?« fragte einer von uns! »Noch lange nicht. Wenn die anderen sehen, daß die Plattform wieder oben ist, dann werden sie etwas unternehmen.« »Ich sage euch …« »Ruhe!« Das war die befehlsgewohnte Stimme von Taunas. Er sagte, ruhiger und in bestimmtem
47 Tonfall: »Wir bleiben zusammen. Dieser fette Mann, Kaddoko und drei von unseren Leuten, mindestens drei, sind oben. Sie kennen die Schaltungen. Zumindest die der achten Platte. In einigen Minuten werden sie wissen, was sie zu tun haben. Wir können hier alles brauchen, nur keine Panik.« »Etwas Licht könnten wir auch brauchen!« sagte ich und tastete mich langsam an der Wand entlang, bis ich das Loch erreichte, das den Antigravschacht markierte. Prüfend hielt ich die Hand hinein und spürte, daß das Feld noch immer nach unten drückte. Wir waren gefangen …
* Ich glaube immer, daß Atlan genau weiß, wie sehr ich mich um ihn und sein Leben sorge. Aber die Angst, die ich jetzt und hier empfand, war stärker als alle anderen einschlägigen Empfindungen seit unserer Flucht vor Orbanaschol. »Verflucht sei eure Begriffsstutzigkeit!« donnerte ich. »Tut etwas!« »Natürlich! Glaube uns doch – entweder sind sie alle tot, so wie diese Männer, oder sie leben. Wir müssen nur dort hinunter …« Ich packte zwei von ihnen an den Schultern, bohrte ihnen meine Finger in die Muskeln und schob sie vor mir her. Wir befanden uns auf dem Turm, auf der runden Plattform. Soeben war die Platte aus dem Hades dieses Bauwerks wieder aufgetaucht. Als wir unsere starken Handscheinwerfer auf diesen verbrannten Fleck richteten, sahen wir nur die Körper von Toten oder Bewußtlosen. Sie rührten sich nicht. »Glaube mir, ich bedaure diesen Zwischenfall, aber sie sind euch gefolgt. Das ist der Grund …« Kaddoko rief etwas hinter uns her, was ich überhörte. Wir rannten von der Turmplattform hinunter auf den breiten Steg. Das Licht der Scheinwerfer tanzte vor uns über
48 die Steine. Nur unsere keuchenden Atemzüge waren zu hören und die heftigen Schritte. »Antigravschächte?« fragte ich. »Ja. Einer ist am schnellsten zu erreichen, wenn wir die Freitreppe hinunterrennen.« »Sie sind umzuschalten, ja?« »So ist es. Taunas hat sie entdeckt.« Als ich auf der Treppe eingetroffen war, schien der Kampf bereits entschieden gewesen zu sein, jetzt wußte ich, daß zu diesem Zeitraum bereits die Falle mit den Angreifern ihre Abwärtsbewegung, angetreten hatte. Und als ich den Boden erreicht hatte, waren Atlan und Taunas bereits hinter der Platte verschwunden. Für mich waren sie einfach verschwunden gewesen, denn ich wußte erst seit einigen Minuten etwas von dieser Anlage. Mich hielt nur der Gedanke an Atlan ab, alles zu verfluchen. Wir hasteten die Treppe abwärts. »Hier entlang, ja?« »Ja. Links. Verzähle dich nicht.« »Du Narr!« sagte ich grob. »Ich habe schon gerechnet, als du noch nicht einmal Finger hattest!« Wir rannten hinter den runden Lichtkegeln unserer Scheinwerfer her, entlang der alten Mauer. Ich zählte die Platten und übersah den Toten, auf den ich beinahe getreten wäre. Sieben … acht. »Halt. Und jetzt, so schnell wie möglich. Ich gehe zuerst nach unten, und wenn ich einen Schuß abgebe, dann könnt ihr die Anlage umschalten.« »Verstanden.« Einer der Männer drückte nacheinander auf vier der Felder, in die Zeichen oder Buchstaben der gestorbenen Erbauer eingraviert waren. Langsam schwang die tonnenschwere Steinplatte nach außen. Sie ruhte in stählernen Gelenken; die ich erst jetzt sehen konnte. »Erwischt nach Möglichkeit auch den richtigen Schalter!« Drei Scheinwerfer leuchteten das kleine Schaltbrett an. Ein Hebeldruck, und die zweite Tür schwang auf. Ich schob mich durch den Spalt und rannte den kurzen Kor-
Hans Kneifel ridor entlang. Dann schwang ich mich durch die Öffnung und schwebte langsam nach unten. Lebte Atlan noch? Oder war er dort unten in tödliche Kämpfe verwickelt worden? Ich richtete die Lampe nach unten und sah nichts anderes als den staubbedeckten Boden des Antigravschachtes. Dann, als ich mich bis auf zehn Meter dem Grund genähert hatte, hörte ich einen erstickten Aufruf, das Trappeln vieler Füße und den Schrei: »Es kommt jemand durch den Schacht. Mit einer Lampe. Hierher!« Atlans Stimme! »Ich bin es!« schrie ich laut und blendete nacheinander in die Gesichter. Dann lachte ich laut auf, riß die Waffe hervor und gab einen kurzen Schuß mit schwacher Entladungsstärke ab. Von oben blinkte eine Lampe. Verstanden! »Ich wollte nachsehen«, sagte ich, aber gleichzeitig merkte ich, daß meine Stimme gar nicht fröhlich, sondern gepreßt klang. »Vielleicht, dachte ich, könnte ich euch helfen.« »Sie sind alle tot«, bemerkte Taunas ruhig. Ich hielt den Arm in die Einstiegsluke und spürte den deutlichen Zug nach oben. »Hinauf«, sagte ich. »Die anderen warten. Kaddoko hat sich entschlossen, noch heute zu starten.« »Das kann ich voll begreifen!« hörte ich Atlan sagen. »Das ist ein verdammt unheimlicher Platz.« Nacheinander kletterten wir in den Liftschacht und schwebten nach oben. Mir erschien es halbwegs wie eine Rückkehr ins Leben, und Atlan, der noch viel länger in dieser geheimnisvollen Tiefe zugebracht hatte, würde diesen Eindruck noch viel stärker haben.
* Sie alle waren verblüfft, als sie zusahen, wie Fartuloon ein gewaltiges Stück aus der
Die Burg des Tyrannen Energiekuppel herausschnitt und dann durch das Loch nach draußen sprang. Nacheinander schoben sich die Gleiter ins Freie; es waren vier Fahrzeuge, und im größten saß ich, bequem in die Polster zurückgelehnt, während frische Luft in die Kabine strömte und die einschmeichelnden Klänge eines Recorders aus kleinen Lautsprechern drangen. »Zurück nach KevKev!« sagte Kaddoko leise. »Und dann das andere Problem, nämlich der Ökonom und sein Empfang.« Ich mußte lächeln. Die Lähmung fiel erst jetzt ganz von mir ab. Du mußt deiner Phantasie verbieten, an das Zurückliegende zu denken, meldete der Extrasinn. »Ich freue mich auch schon darauf!« versicherte ich lautlos. Der Bauchaufschneider startete unseren versteckten Gleiter und jagte ihn mit festgestellter Steuerung schräg in den Nachthimmel. Fartuloon schwang sich in den Gleiter und schmetterte die Tür zu. Der Pilot, neben dem Kaddoko saß, beschleunigte wieder. Wie flogen in geringer Höhe und ohne Scheinwerfer über die Wüste, dann gingen wir in größere Höhen und auf einen Kurs, der uns nach KevKev bringen würde. Die einzelnen Maschinen bildeten eine Staffel, die unsichtbar in der Nacht flog. Wenigstens hofften wir das. »Alles ging fast ohne Verluste ab!« freute sich der Gouverneur. Der wahre Grund seiner Freude schien aber vielmehr der Umstand zu sein, daß dort, woher wir kamen, seinen drei Konkurrenten eine saubere Falle hinterlassen worden war. »Glücklicherweise!« murmelte Fartuloon. »Wäre es möglich, die Musik um eine Idee lauter und die Unterhaltungen etwas leiser zu schalten? Wir sind rechtschaffen müde, Exzellenz!« »Selbstverständlich!« murmelte Kaddoko leise. Wir hatten die letzten Stunden geschuftet, als ginge es um unser Leben. Alle Spuren, an die wir dachten, waren gründlich besei-
49 tigt worden. Unten, in dem Regierungsraum, plärrten mindestens fünfzig der hundert Monitoren wild durcheinander. Die anderen hatten, als wir den Raum zum letztenmal verließen, Nachtszenen gezeigt. Duschen, einige Minuten Ausruhen, ein Essen und dann das Sammeln und der Abflug – das war alles gewesen. »Wie lange fliegen wir!« fragte ich. »Sechs Stunden etwa!« gab der Pilot als Antwort. »Davon werde ich fünf Stunden schlafen!« versprach ich, gähnte und kuschelte mich im Winkel der Polster zusammen.
* Daraus wurde natürlich auch nichts Drei Stunden später, es wurde gerade hell, drehte der Pilot plötzlich an einem Schalter. Eine Geräuschflut schlug aus den Lautsprechern. Ich erwachte und sah zuerst Fartuloon, der sich gespannt vorbeugte und sich auf das konzentrierte, was er hörte. »… Funkimpulse und einwandfreie Ortungen. Inzwischen haben die wichtigen Stationen auf Jacinther Vier die ersten Meldungen bestätigt. Es handelt sich um das Schiff des Ökonomen Freemush. Er ist soeben in einen Orbit um den Planeten gegangen …« Zu früh! schrie mein Logiksektor. Wir sahen uns an und waren betroffen. Anscheinend liebte dieser Herr die Überraschungseffekte. Falsche Dramatik? Wir sollten es gleich genauer erfahren. In wenigen Stunden landeten wir in der Hauptstadt auf KevKev oder in der Residenz von Kaddoko, und bis dahin konnte Freemush noch hingehalten werden. Der Nachrichtensprecher fuhr fort: »… kommt nicht nur mit seinem eigenen Schiff, sondern mit einer Flotte von sechshundert arkonidischen Robotraumschiffen. Die Schiffsverbände haben Freemush Geleitschutz gegeben und gehen im Augenblick ebenfalls in einen stabilen Orbit um den Planeten …« Die Lage war völlig klar.
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Hans Kneifel
Der Ökonom Freemush war nicht zu einem Routinebesuch bekommen, sondern um die Macht und die Größe des Imperiums und des Imperators Orbanaschols zu demonstrieren. Für uns eine schlimme Überraschung, und sie kam desgleichen völlig unerwartet. »Das ist aufregend!« sagte Kaddoko. »Bei meinen Einsetzungsfeierlichkeiten werden sechshundert Robotschiffe mithelfen. Es wird ein denkwürdiger Tag werden.« Darüber hinaus war der Ökonom gekommen, um mit seiner Mannschaft, die garantiert unbestechlich war, auf der Freihandelswelt Jacinther aufzuräumen. Unser Plan, den Ökonomen zu entführen, war plötzlich in weite Ferne gerückt. »Verdammt!« flüsterte ich und biß in ohnmächtigem Zorn auf die Fingerknöchel. »Keine unpassenden Ausdrücke!« warnte Fartuloon. Auch er erkannte, daß unsere Si-
cherheit einmal wieder in Frage gestellt war. Nicht nur unsere, sondern auch die unserer versteckten Freunde. Und Kaddoko als Verbündeter war unter diesen veränderten Umständen nichts wert. Der Flug ging weiter. Kaddoko, Fartuloon und ich dachten an verschiedene Dinge, aber alle kreisten sie um Freemush. Wieder einmal war ich nahe daran, alles aufzugeben. Aber ich dachte daran, daß ich mir dann ein Leben lang Selbstvorwürfe machen würde. Wir mußten einen anderen Weg finden, einen neuen Plan machen, einen Ausweg finden. Und das in ganz kurzer Zeit …
ENDE
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