Nicole Claire
Im Spinnennetz
der Angst
Irrlicht Band 409
Jennifer schloß die Tür von innen und drehte den Schlü...
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Nicole Claire
Im Spinnennetz
der Angst
Irrlicht Band 409
Jennifer schloß die Tür von innen und drehte den Schlüssel zweimal herum, ehe sie ihn wieder abzog und auf den Nachtschrank legte. Überrascht stellte sie fest, daß das Fenster geschlossen war, obwohl sie sich nahezu sicher war, es offengelassen zu haben. Bei der nächtlichen Schwüle wollte sie wenigstens ein frisch gelüftetes Zimmer haben. Sogar die Vorhänge waren geschlossen. Als die junge Engländerin sie zur Seite zog, prallte sie entsetzt zurück und preßte die Hand auf den Mund, um nicht einen Schrei auszustoßen. Vor ihr klebte an der Scheibe eine riesige schwarze Spinne. Das bleiche Mondlicht warf die verzerrten Schatten ihrer Beine auf Jennifers Kleid, die wie erstarrt vor dem Fenster stand…
»Da ist es ja schon!« rief Jennifer Courtland aufgeregt und zeigte in die Richtung, wo sich vor ihnen auf der Hügelkuppe die Silhouette des Hotels abzeichnete. »Si, Signorina«, bestätigte der Taxifahrer, der den Wagen über die holprige Auffahrt lenkte. Mit seiner Einsilbigkeit entsprach er so ganz und gar nicht dem Bild eines typischen Italieners, dessen Redefluß kaum zu stoppen war. Doch Jennifer war das ganz recht. Sie schwelgte ohnehin in Erinnerungen, denn dieses zum Hotel umgebaute Landhaus dort oben kannte sie nur allzu gut. Mit ihren Eltern hatte sie hier oft ihre Sommerferien verbracht. Wenn es hier auch keinen Rummel wie in den Touristenzentren gab, es hatte ihr hier immer gut gefallen, und sie war gerne mit ihren Eltern hierhergefahren. Am liebsten hatte sie auf der großen Terrasse gesessen, gelesen, in die Gegend geschaut oder einfach nur geträumt. Vom nahegelegenen Meer kam fast ständig ein angenehm kühlender Wind, und drei riesige Pinien spendeten schützenden Schatten. Von diesen Bäumen stammte auch der Name des Hotels: »La Pineta«. Nach ihrer Kindheit war Jennifer noch einmal hier gewesen. Drei Jahre war das nur her. Sie war damals zweiundzwanzig Jahre alt, furchtbar verliebt und mit ihrem Freund hier gewesen. Doch bald darauf hatten sie sich getrennt. Ein Schatten flog über Jennifers Gesicht, als sie daran zurückdachte. Eine neue feste Beziehung hatte sich bis jetzt nicht ergeben, obwohl Jennifer mit ihren langen dunkelblonden Haaren sehr hübsch war und so mancher junge Mann versucht hatte, ihr Interesse zu wecken. Doch sie konzentrierte sich voll auf ihr Studium an einer Modedesign-Schule daheim in London, das ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Noch ein Jahr würde es
dauern. Sie hatte beschlossen, die Chance zu nützen und einen guten Abschluß zu schaffen. Sie wollte endlich auf eigenen Beinen stehen, so gerne ihre Eltern vielleicht den monatlichen Scheck schickten und ihr auch diesen Urlaub ermöglichten. »Wir sind da, Signorina«, sagte der Taxifahrer und hielt den Wagen auf dem schotterbedeckten Parkplatz vor dem Hotel. Jennifer schreckte etwas hoch, sie hatte ihre Umgebung in den letzten Minuten völlig vergessen. Sie sah auf die weißgetünchten Mauern des Hauses, und ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie vor dem Eingang Maria erkannte. Diese lebenslustige, vielleicht vierzigjährige Frau war die Inhaberin und Leiterin des kleinen Hotels. Sie hatte das Haus geerbt und später umbauen lassen. Sie war stets freundlich und fast schon rührend um das Wohlergehen ihrer Gäste besorgt. Vor Maria stand ein dicklicher Mann inmitten vieler Koffer und redete wild gestikulierend auf sie ein, während seine Frau neben ihm ein schreiendes Kind in den Armen schaukelte, um es zu beruhigen. Ein anderes Kind zupfte aufgeregt an ihrem Rock. Offensichtlich eine Familie, die gerade angekommen war oder abreisen wollte. Jennifer bezahlte den Fahrer und stieg aus. »Uns werden Sie hier nie wieder sehen!« hörte sie den dicken Mann schreien. Dann schnappte er sich zwei Koffer und stiefelte auf den Taxifahrer zu, der gerade Jennifers Gepäck aus dem Kofferraum holte. Maria blieb hilflos stehen, während die Familie in das Taxi einstieg. Schließlich brauste der Wagen davon. Erst jetzt fiel Jennifer auf, wie leer der Parkplatz vor dem Hotel war. Hatten früher zu dieser Jahreszeit Dutzende von Wagen vor dem Landhaus gestanden, so waren es jetzt gerade drei Wagen. Langsam näherte sie sich der Hotelbesitzerin, die sie erst jetzt zu bemerken schien. Hatte Maria eben noch ausgesehen, als
wurde sie jeden Augenblick in Tranen ausbrechen, zeigte sich jetzt auf ihrem Gesicht ein Lächeln. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie Jennifer umarmen. »Oh, Signorina Courtland!« rief sie aus. »Schön, daß Sie endlich da sind. Wie war die Reise!« »Gut, Maria. Aber was ist hier los? Warum ist die Familie abgereist? Hat es Ärger gegeben?« Maria winkte ab. »Ach, nichts Wichtiges«, sagte sie, doch Jennifer ahnte, daß mehr hinter dieser Sache steckte. Die Familie hatte verärgert und empört ausgesehen, fast schon ein bißchen erschrocken. Lag es nur daran, daß sie mit der Gegend hier unzufrieden waren, die nun wirklich nicht das Richtige für eine Familie mit Kindern war, oder war etwas anderes der Grund? Jennifer war jedoch zu höflich, um der Hotelbesitzerin Löcher in den Bauch zu fragen, besonders jetzt, da sie gerade erst angekommen war. Außerdem sah Maria nicht so gesund aus, wie sie sie in Erinnerung behalten hatte. Das Rouge konnte die Tränensäcke unter ihren Augen nicht verborgen. Die Hotelbesitzerin mußte oft geweint haben in letzter Zeit. Jennifer nahm sich vor, der Sache in den nächsten Tagen auf den Grund zu gehen. Schließlich war Maria für sie fast so etwas wie eine liebe Bekannte geworden. »Jetzt kommen Sie aber erst einmal herein.« Behende griff Maria nach einem der Koffer und trug ihn ins Hotel, während Jennifer mit ihrer kleinen Reisetasche folgte. »Wie lange möchten Sie bleiben?« erkundigte sich Maria, als sie hinter der Rezeption stand und im Gästebuch blätterte. Hier in der Empfangshalle war es angenehm kühl. Jennifer freute sich schon darauf, den Staub der Reise unter der Dusche vom Körper zu spülen und sich frische Kleidung anzuziehen. »Zwei Wochen.« »So ganz alleine diesmal?«
Jennifer war klar, daß Maria damit auf ihren Freund anspielte, den sie beim Urlaub vor drei Jahren dabei hatte. Es war immer wieder seltsam, wieviel die Hotelbediensteten im Laufe der Jahre noch über ihre Gäste wußten. »Ja, vorerst bin ich allein. In einer Woche wird allerdings meine Freundin nachkommen.« Für einen Augenblick dachte sie daran, Maria zu fragen, warum so wenige Gäste hier waren, wo dieses Hotel doch immer so etwas wie ein Geheimtip gewesen war. Trotz der Abgeschiedenheit war es hier immer sehr voll gewesen. Doch dann schwieg sie. »Also brauchen Sie erst einmal nur ein Einbettzimmer?« »Ja. Wenn es möglich ist, möchte ich gerne wieder mein altes Zimmer. Zimmer 17.« Maria erstarrte und wurde bleich. »Zimmer 17?« »Ja«, sagte Jennifer und runzelte beunruhigt die Stirn. Dieses Zimmer war es, in dem sie immer gewohnt hatte, wenn sie mit ihren Eltern hier gewesen war. Es war so eine Art Zuflucht für sie geworden, in der sie sich sofort wohl fühlte. »Ist es etwa belegt?« »Nein… es ist noch frei«, stotterte Maria. »Na also!« Jennifer strahlte. »Aber Signorina. Möchten Sie nicht vielleicht ein anderes Zimmer? Mit Blick auf das Meer?« Maria wirkte beunruhigt, sie schien etwas zu verheimlichen. Es mochte an Jennifers Urlaubslaune liegen, daß sie es nicht bemerkte. »Nein, Maria, ich würde am liebsten in meinem alten Zimmer wohnen. Oder ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Äh, nein«, stotterte Maria. »Es… es ist alles in Ordnung. Sie… Sie wissen ja, wo das Zimmer ist. Soll ich die Koffer hinaufbringen lassen?«
»Nicht nötig«, winkte Jennifer ab. »Ich habe den Koffer durch halb Italien geschleppt, die restlichen Meter werde ich auch noch schaffen!«
*
Jennifer hatte den Koffer und die Reisetasche auf das Bett gestellt, über dem – wie konnte es hier auch anders sein – ein hölzernes Kreuz an der Wand befestigt war. Aus dem geöffneten Fenster sah sie auf die Felder, die sich auf dieser Seite bis ins Landesinnere erstreckten und bei weitem nicht so planmäßig und geometrisch angelegt waren wie die Felder im Norden Europas. Ein frischer Wind wehte durch das Fenster, spielte mit ihren Haaren und brachte eine erfrischende Kühlung. Nur langsam konnte sie sich von dem Anblick der wogenden Felder losreißen und zum Bett zurückgehen, um die Koffer auszupacken. Sie ließ sich Zeit dabei, die Sachen in den Schrank einzuräumen. Die Fachbücher, die sie sich zusammen mit ein paar Liebesromanen mitgebracht hatte, legte sie gleich auf den Nachtschrank. Sie wollte ständig vor Augen haben, daß sie selbst im Urlaub ein paar Stunden für ihr Studium lernen sollte. Jennifer wählte ein weißes Baumwollkleid – genau das Richtige für die immer noch warmen Abendstunden. Dann schlüpfte sie aus dem T-Shirt und den Jeans, die sie auf der Reise getragen hatte. Ein paar Sekunden später stand sie in der kleinen Duschkabine des zum Zimmer gehörenden Badezimmers. Die Wasserstrahlen prasselten auf ihren Körper und verschafften ihr ein angenehmes Gefühl der Wärme.
Der Urlaub konnte endlich beginnen, und Jennifer war entschlossen, sich diese beiden Wochen durch nichts und niemanden verderben zu lassen.
*
Als Jennifer schließlich wieder die Treppe zur Empfangshalle hinunterging, fühlte sie sich herrlich erfrischt. Aber zugleich spürte sie die Mattheit der langen Reise in den Knochen. Es war kein Zuckerschlecken gewesen, in den meist überfüllten Zügen während der Mittagshitze quer durch Italien zu reisen. Nur die ansteckende südländische Fröhlichkeit der Menschen hierzulande hatte etwas von der stickigen Hitze in den Abteilen abzulenken vermocht. Zum Glück waren die Strapazen der Reise jetzt vorbei. Jennifer nahm sich vor, recht früh ins Bett zu gehen, um so morgen den ersten Urlaubstag in aller Frühe zu genießen. Vielleicht würde sie zum Strand gehen, der hier zwar nicht so weiß wie in den Touristenorten war, dafür aber fast menschenleer. Alles hat eben immer seine Vor- und Nachteile! dachte sie lächelnd, als sie in den Speiseraum trat. Es wurde gerade für das Abendessen gedeckt. Ehe sie sich versah, rannte eine kleine Person auf sie zu, die nur gute anderthalb Meter groß, dafür aber um so rundlicher war Jennifer wurde fast erdrückt, als »Mamma« sie umarmte, wie alle hier die freundliche und gesprächige Köchin nannten. Und tatsächlich sah sie aus wie eine italienische Bilderbuchmutter. War Maria der freundliche Geist des Hotels, so war Mamma die gute Seele des Hauses.
»Oh, Signorina«, sprudelte es aus ihrem Mund, »wie schön, daß Sie wieder da sind. Heute abend gibt es Cravattini mit Gorgonzola-Soße. Und danach Honigmelonen!« Mamma formte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis, und Jennifer benutzte die Gelegenheit, um sich aus der Umarmung zu befreien. »Genug«, prustete sie. »Sie erdrücken mich ja!« Doch ihre Empörtheit war nur gespielt. Sie blickte sich kurz um und entdeckte, daß nur einer der hinteren Tische besetzt war, ansonsten war der Speiseraum leer. Nachdem sie an einem der Tische Platz genommen hatte, unterbrach sie den Redefluß der Köchin und fragte, warum so wenig Gäste hier waren. Früher war das Hotel um diese Jahreszeit fast immer belegt gewesen, und Jennifer hatte insgeheim schön befürchtet, kein Zimmer mehr zu bekommen, weil sie erst zwei Wochen vor Urlaubsbeginn eines bestellt hatte. Mammas Gesicht wurde schlagartig ernst. Sie sah sich in alle Richtungen um, als befürchtete sie, jemand konnte hören, was sie sagte. Dann beugte sie sich zu Jennifer vor und flüsterte: »Die Gaste haben Angst. Die Leute sagen, daß ein Fluch auf diesem Haus liegt.« »Aber das ist doch Unsinn«, rief Jennifer, und Mamma bedeutete ihr hastig, leise zu reden: »Bitte, Signorina, nicht zu laut. Die Gaste…« »Das ist doch wirklich Unsinn«, wiederholte sie leise. »Ich habe nie etwas von einem solchen Fluch gehört und schließlich war ich schon als kleines Kind hier!« Die Köchin schüttelte energisch ihren Kopf. »Das ist kein Unsinn«, sagte sie eindringlich. »Alles hat erst im letzten Jahr angefangen. Im Sommer kamen die ersten Spinnen. Und dann sind die Gäste ausgeblieben…«
Doch ehe Mamma antworten konnte, tauchte neben den beiden plötzlich Maria auf. Die Köchin zuckte zusammen, als wäre sie dabei erwischt worden, etwas Verbotenes getan zu haben. Die Hotelbesitzerin warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Du solltest aufpassen, daß die Cravattini nicht verkochen! Sonst verlieren wir noch mehr Gäste!« Die Köchin verschwand unverzüglich in der Küche. Maria wandte sich an Jennifer und nickte ihr noch einmal freundlich zu, bevor sie der Köchin folgte. Jennifer war viel zu irritiert über das merkwürdige Verhalten der beiden Frauen, um irgend etwas zu sagen. Bislang war es ihres Wissens noch nie vorgekommen, daß es Streit zwischen Maria und ihrer Köchin gegeben hatte. Und dennoch klangen erregte Wortfetzen aus der Küche, die sie jedoch nicht verstehen konnte. Als Jennifer später beim Essen versuchte, Mamma noch einmal auf diese Sache anzusprechen, tat die Köchin so, als hätte sie die Fragen überhört, und lobte dafür das Abendessen über alle Maßen. Zu Recht! Die Cravattini waren wirklich hervorragend. Jennifer trank noch einen weißen herben Wein, der genau zum Essen paßte, und beschloß, diese Sache vorerst zu vergessen. Mamma mochte an solche Sachen wie einen Fluch glauben, aber tatsächlich konnte es so etwas wohl kaum geben. Der Speiseraum füllte sich mit der Zeit etwas, einige Gäste waren erst später von Ausflügen oder vom Baden zurückgekommen. Aber dennoch blieb mehr als die Hälfte aller Tische unbesetzt. Schließlich ließ Jennifer sich zurücksinken und lehnte seufzend das erneute Angebot von Maria ab, ihr noch ein drittes Stück Honigmelone auf den Teller zu legen. Sie war so satt, daß sie keinen einzigen Bissen mehr herunterbringen
würde. Sie trank den letzten Schluck Wein, bevor sie dann auf ihr Zimmer ging. Sie hatte zwar vorgehabt, noch etwas zu lesen, aber dann überkam sie mit einem Male die Müdigkeit. Sie schaffte es gerade noch, das Buch auf den Nachtschrank zu legen und das Licht auszuknipsen, bevor sie tief und fest einschlief.
*
Es waren kaum zehn Minuten vergangen, seit Jennifer auf ihr Zimmer gegangen war, da parkte ein weiteres Auto auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Es handelte sich um einen großen amerikanischen Wagen, der jedoch ein italienisches Kennzeichen trug. Der Lack war stellenweise abgeblättert, und auf dem Blech zeigten sich ein paar häßliche Beulen und Schrammen. Der Fahrer, der gerade ausstieg und die Tür hinter sich ins Schloß knallte, schien vollkommen zu dem Wagen zu passen. Er trug einen zerknitterten und verschwitzten weißen Sommeranzug, der schon einige Wochen lang nicht mehr in der Reinigung gewesen zu sein schien. Der Strohhut auf seinem Kopf hing so tief, daß er beinahe die schwarzen buschigen Augenbrauen bedeckte, die dem Gesicht einen finsteren Ausdruck gaben. An der Rezeption angekommen, hieb der Fremde auf den Klingelknopf und trommelte nervös mit den Fingern auf dem hölzernen Tresen, bis Maria endlich erschien. »Sie wünschen?« erkundigte sie sich höflich. Der Fremde brummte mürrisch etwas und musterte mit starren Augen die Schlüssel am Brett mit den
Zimmernummern, bis sein Blick endlich die Hotelbesitzerin traf, die sich langsam unbehaglich zu fühlen begann. Wären die Zeiten besser gewesen, hatte sie den ungepflegten Kerl wahrscheinlich sofort wieder her ausgeworfen, so aber war sie auf jeden Gast angewiesen. Zuviel war im letzten Jahr passiert, als daß sie es sich hätte leisten können, einen Gast abzuweisen. »Ein Zimmer«, antwortete der Fremde und wischte sich mit der Hand über die Bartstoppeln in seinem Gesicht. Es gab ein kratzendes Geräusch, das Maria ein Schaudern über den Rucken jagte. »Zimmer 17«, fügte er mit drohender Bestimmtheit hinzu. Maria erstarrte, und ihr Gesicht wurde um einige Nuancen bleicher. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie die Sprache wiederfand. »Das Zimmer ist belegt. Tut mir leid.« Sie bot dem Fremden kein anderes Zimmer an in der heimlichen Hoffnung, er wurde gleich wieder verschwinden. Und sie hatte auch keinen Mut zu fragen, warum er ausgerechnet dieses Zimmer haben wollte. Das Zimmer, in dem… »Hm«, brummte der Fremde einsilbig, nachdem er eine Zeitlang überlegt hatte. »Gut, dann geben Sie mir halt das Zimmer nebenan. Das ist doch wohl hoffentlich noch frei?« »Ja, das ist allerdings ein Doppelzimmer.« »Das ist mir vollkommen egal!« »Das macht dann 50 000 Lire – zahlbar im voraus! Wie lange wollen Sie bleiben?« Maria schob dem Fremden ein Formular über den Tresen. »Wenn Sie sich hier bitte eintragen wollen, Signore…« »Signore Pares«, sagte der Mann, nachdem er ein paar Sekunden überlegt hatte. Dann holte er aus seiner Hosentasche
ein zerknittertes Bündel Scheine und zahlte den genannten Betrag ab. »Ich bleibe vorerst für eine Woche. Ich lasse Sie es wissen, wenn ich es mir anders überlege!« Er füllte das Formular aus, wobei ihm Maria stumm zusah und es nicht wagte, in seiner Gegenwart nach dem zerknitterten Geld zu greifen. Nachdem er mit der kleinen schäbigen Reisetasche, die offenbar sein einziges Gepäck darstellte, auf der Treppe nach oben war, fragte sie sich, ob es richtig war, dem Mann das Zimmer neben der Nr. 17 zu geben. Sie mußte unbedingt die Engländerin warnen, die schon so oft ihren Urlaub hier verbracht hatte. Maria spürte, daß die junge Frau in Gefahr war. Es war falsch gewesen, dem Fremden dieses Zimmer zu geben.
*
Obwohl sie am vorigen Abend früh ins Bett gegangen war, wachte Jennifer erst spät am Vormittag auf. Sie fühlte sich herrlich erholt und pfiff im Badezimmer ein fröhliches Lied, während sie sich wusch. Anschließend wählte sie ein hellblaues trägerloses Sommerkleid, das genau richtig für die baldige Mittagshitze war. Unten im Speiseraum stellte sie freudig Überrascht fest, daß es noch Frühstück gab. Bei einem Brötchen und einer Tasse Kaffee überlegte sie, wie sie den Tag verbringen wollte. Da es schon später Vormittag war, würde die Zeit bis zum Mittagessen nicht mehr reichen, um hinunter zum Strand oder in das ein paar Kilometer entfernte Dorf zu fahren, um einige Besorgungen zu machen.
Jennifer beschloß, die restliche Zeit einfach ein bißchen spazierenzugehen – in den Feldern, die ihr so gut gefielen. Als sie aufblickte, bemerkte sie, daß am anderen Ende des Speiseraumes ein unsympathisch aussehender Mann mit dichten Augenbrauen saß und unablässig zu ihr herüberstarrte. Doch sie beschloß, ihn nicht weiter zu beachten. Schließlich war sie eine hübsche junge Pfau. So selten kam es gar nicht vor, daß man ihr hinterherblickte, wenn sie das auch meist als recht aufdringlich empfand. Nach einer Viertelstunde verließ sie den Speiseraum und ging wieder auf ihr Zimmer. Sie cremte sich Schultern und Arme mit einer Sonnenschutzlotion ein, bevor sie ihre dunkle Sonnenbrille aufsetzte und das Hotel wieder verließ. Die fast schon am Zenit stehende Sonne war fürchterlich heiß und brannte erbarmungslos auf die trockene Erde hinunter. Nach einer guten halben Stunde kam Jennifer an eine kleine asphaltierte Straße. Etwas erschöpft ließ sie sich auf die Sitzfläche einer kleinen Bank sinken, die am Straßenrand stand. Obwohl man das nahegelegene Meer von hier aus nicht sehen konnte, lag das ständige Rauschen der Wellen in der Luft. Doch es brachte keine Erholung, da es nahezu windstill war. Jennifer bekam langsam Durst und freute sich schon darauf, in die wohltuende Kühle des Hotels zurückzukehren. Sie beschloß gerade, sich auf den Rückweg zu machen, als auf der Straße ein alter, buckliger Mann näherkam. Sein Rücken war von der Last der vielen Jahre gebeugt. Sein Gang war schleppend, und so dauerte es eine Weile, bis er Jennifer erreichte. Er stellte seinen Rucksack auf den Boden, setzte sich neben sie auf die Bank und nickte ihr freundlich zu. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß vom sonnengegerbten Gesicht. Er schien aus dem nahegelegenen
Dorf zu kommen. Nachdem er sich eine Weile verschnauft hatte, wandte er sich an Jennifer. »Es ist heiß«, sagte er in etwas holprigem Englisch. »Ja. Woher wissen Sie, daß ich Engländerin bin?« Der alte Mann lächelte freundlich und tippte sich gegen die Schläfe, als wollte er zeigen, daß er dafür eine Art sechsten Sinn hatte. »Sind Sie das erste Mal hier?« »Nein. Früher bin ich oft mit meinen Eltern hier gewesen. Es ist hier sehr schon.« »Ja, ja«, bestätigte der alte Mann freundlich, als könne er nicht so recht daran glauben. Aber vielleicht hatten seine Augen den Blick für die Schönheiten dieser Gegend längst verloren, da er sein ganzes Leben hier verbracht hatte. »Wo wohnen Sie? Im Dorf?« »Nein, ich habe ein Zimmer im Hotel ›La Pineta‹.« Der alte Mann riß plötzlich erschrocken die Augen auf und wich ein Stück zurück, daß er fast von der Bank gefallen wäre. Mit den Händen schlug er ein Kreuz vor seiner Schulter und auf Italienisch sämtliche Schutzheiligen an, die er kannte. Er sprang auf, schnappte nach seinem Rucksack und lief die Straße hinunter, ohne Jennifer noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Er behandelte sie, als litt sie an einer ansteckenden Krankheit. Jennifer sah verwundert dem davoneilenden Mann hinterher, bis er hinter einer Biegung verschwunden war. Dann zuckte sie seufzend mit den Schultern. Alte Menschen sind manchmal schon seltsam, dachte sie. Was mochte ihn nur bei der Nennung des Hotelnamens so erschrocken haben? Sie schloß die Augen und lehnte sich für einen Augenblick zurück. Doch ein Gefühl der Beunruhigung blieb. Wieder fielen ihr die Worte der Köchin ein, die von einem Fluch
gesprochen hatte, der auf dem Hotel liegen sollte. Sie hatte heute morgen völlig vergessen, Maria nochmals darauf anzusprechen. Doch das wollte sie gleich nach ihrer Rückkehr nachholen. Ein Motorgeräusch näherte sich hinter der nächsten Biegung der Straße. Jennifer wollte gerade aufstehen, als sie plötzlich in Bauchhöhe eine seltsame Bewegung auf dem Kleid verspürte. Instinktiv griff sie mit der rechten Hand an die Stelle und spürte an ihren Fingern einen haarigen Körper. Erschrocken riß sie die Hand zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was dort auf dem dunklen Stoff hockte. Sie konnte gerade noch einen entsetzten Schrei unterdrücken. Es war eine beinahe handtellergroße schwarze Spinne, die fast unbeweglich dort saß. Die beiden kleinen Knopfaugen sahen bösartig aus und schienen geradewegs in Jennifers Augen zu schauen. Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und sie war versucht, mit den Händen nach der Spinne zu schlagen, konnte sich jedoch nicht überwinden, den behaarten Körper zu berühren. Jennifer sprang auf, doch die Spinne klebte wie eine Klette auf dem hellblauen Stoff. Anscheinend von der plötzlichen Bewegung gestört, begann sie nach oben zu klettern. Jennifers Augen sahen nur noch den ekelhaften schwarzen Körper, der sich auf seinen langen Beinen zwischen den Rundungen ihrer Brüste heraufschob. Jeden Moment mußte er das Ende ihres Kleides erreicht haben. Jennifer verlor den letzten Rest von Selbstbeherrschung und begann haltlos zu schreien… Das Quietschen von Reifen nahm sie gar nicht mehr wahr. Jennifer bemerkte ebenfalls nicht, wie ein Mann aus dem Sportwagen mit dem offenen Verdeck sprang und zu ihr eilte.
Mit einem schnellen Schlag fegte er die Spinne von ihrer Brust – gerade hatte eines der behaarten Beine ihre bloße Haut berührt. Kaum auf dem Boden angekommen, krabbelte die Spinne jedoch wieder auf Jennifers Füße zu. Der Mann hob einen großen Stein auf, der am Straßenrand lag, und tötete das Tier damit. Noch ein-, zweimal zuckten die schwarzen Beine, dann wich der letzte Rest von Leben aus dem zerquetschten Körper. Jennifer kam erst einigermaßen wieder zu sich, als sie ihren Kopf schluchzend an der Brust des fremden Mannes vergraben hatte. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht verhindern, daß ihr die Tränen aus den Augen schossen. Der Mann hielt sie umarmt und redete beruhigend auf sie ein. »Ganz ruhig, Signorina. Es ist ja alles vorbei.« Die Stimme flößte ihr Vertrauen ein, und es mochte an ihrer Wärme und dem beruhigenden Tonfall liegen, daß sie ihre Beherrschung bald wiederfand. Sie löste sich von der Brust des Mannes, der sie bereitwillig aus der Umarmung freigab. Während sie sich die Tränen von den Wangen wischte, nahm sie sich Zeit, ihren Retter genauer anzusehen. Vor ihr stand ein äußerst attraktiver Mann, der unzweifelhaft italienischer Abstammung war. Er hatte lockiges schwarzes Haar und einen ebenso schwarzen Oberlippenbart. Seine Kleidung war sportlich-elegant und stammte bestimmt aus einer sehr teuren Boutique. Als sie ihm in die Augen sah, erkannte sie, daß er sie bei ihrer Musterung beobachtet hatte und nun etwas spöttisch die Mundwinkel verzog. Jennifer blickte verlegen zu Boden und trat erschaudernd ein paar Schritte zurück, als sie neben sich auf dem Boden den toten Spinnenkörper entdeckte. »Was… was war das?« Ihre Stimme klang belegt. Der Mann verzog for einen Augenblick das Gesicht, bevor er antwortete.
»Es war eine Tarantel. Es gibt diese Spinnen hier in der Gegend gar nicht so selten. Und wenn es so heiß ist, sind sie recht flink und trauen sich aus ihren Verstecken heraus.« »Eine Tarantel?« In Jennifers Erinnerung regte sich etwas. »Das sind Giftspinnen, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte er. »Aber so schlimm, wie viele Menschen behaupten, verhält es sich nicht. Taranteln kommen meist nur dann aus ihren Unterschlupfen, wenn es sehr heiß ist. Außerdem ist ihr Biß zwar giftig und unangenehm, aber keineswegs tödlich. Obwohl es natürlich schon gefährlich werden kann, wenn man am Hals oder im Gesicht gebissen wird.« Noch im nachhinein fing Jennifer wieder an zu zittern. Der Mann war Wirklich im letzten Augenblick gekommen. »Verzeihen Sie«, sagte sie. »Aber ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt.« »Das war nun wirklich nicht der Rede wert. Dafür habe ich mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Mario Argenti. Für Freunde einfach Mario.« Er lächelte, und sie erwiderte es. »Für Freunde heiße ich Jenny.« »Prima, Jenny«, sagte Mario. »Sie verbringen hier bestimmt Ihren Urlaub. Wo wohnen Sie?« Jennifer zögerte einen Moment und dachte an die Wirkung, die der Hotelname auf den alten Mann gehabt hatte. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Mario war bestimmt kein Mensch, der viel auf Schauermärchen gab. »Im Hotel ›La Pineta‹«, erklärte sie. »Oh«, erwiderte Mario etwas enttäuscht. »Das ist ja recht nahe. Ich hatte gehofft, Sie noch ein bißchen länger durch die Gegend fahren zu können Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie zurück ins Hotel bringe, Jenny? Nach diesem Erlebnis werden Sie noch recht wacklig auf den Beinen sein.«
»Das stimmt«, bestätigte Jennifer. »Okay, wenn Sie möchten, bringen Sie mich zum Hotel zurück. Ich habe wirklich keine große Lust zurückzulaufen.« Während sie in den roten Sportwagen einstieg, spürte Jennifer plötzlich, daß sich tief in ihrem Innern etwas gegen den Mann sträubte, den sie soeben erst kennengelernt hatte. Sicherlich, er war zuvorkommend und nett, und er hatte sie aus einer Situation gerettet, bei der wohl so manch anderer vorbeigefahren wäre. Nein, das, was Jennifer störte, war sein perfekt und lässig zugleich gekleidetes Äußeres und nicht zuletzt auch der Sportwagen, der fabrikneu zu sein schien. Er hatte bestimmt so viel gekostet wie ein ganzes Einfamilienhaus. Jennifer konnte es nicht verstehen, wie jemand für ein Auto eine derartige Menge Geld ausgeben konnte. Ihr kurzes Leben hatte sie mißtrauisch gegen eine solche Zurschaustellung von Geld gemacht, denn nicht selten war es das verlockende Gefühl von Reichtum, das die Gefühle der Menschen abstumpfen ließ. Schade, dachte Jennifer, während der Wagen nach vorne schoß und ihr Haar im Wind zu flattern begann. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er nicht einen solch exklusiven Lebenswandel gezeigt hätte, sondern ein Mensch wie jeder andere auch gewesen wäre. Unwillkürlich blickte sie zu ihm, und er zeigte ihr ein kurzes, strahlendes Lächeln. Jennifer merkte, wie sie sich dennoch für den Mann dort neben ihr zu interessieren begann…
*
Kaum war der Sportwagen mit dem offenen Verdeck angefahren, teilten zwei schmutzige Hände das Gras hinter der Bank. Ein ungepflegter, dreckstarrender Kopf erschien, und der Blick der Augen richtete sich auf den zerquetschten Spinnenkörper. »Du hast meine Spinne getötet!« stieß die Gestalt heiser in italienischer Sprache hervor und erhob sich schwerfällig. Dann wandte sie den Kopf in Richtung des davonbrausenden Sportwagens. Der haßerfüllte Blick biß sich dabei an Jennifers wehenden Haaren fest. »Das wirst du mir büßen!« rief die Person mit erhobener Faust. »Ganz schrecklich büßen!« Dann drehte sie sich hastig um und verschwand im wogenden Schutz der Felder.
*
Als Jennifer die Eingangsstufen zum Hotel emporstieg und hinter ihr der Sportwagen wieder vom Parkplatz herunterfuhr, fragte sie sich, warum sie Marios Einladung zum Abendessen abgeschlagen hatte. Eigentlich war es doch so eine Begegnung gewesen, von der sie als kleines Kind immer geträumt hatte. Auch Mario hatte enttäuscht ausgesehen, als sie ihm eine Absage erteilt hatte. Doch sie war standhaft geblieben. Jetzt bereute sie das schon fast wieder. Sie war in Versuchung, sich umzudrehen und dem Wagen hinterherzulaufen, doch Mario war längst verschwunden. Ich hatte mich zumindest nach seiner Adresse erkundigen sollen, machte Jennifer sich Vorwürfe. Dann hatte ich mich wenigstens noch einmal mit einem kleinen Präsent für seine
schnelle Hilfeleistung bei dem schrecklichen Spinnenerlebnis bedanken können. Wieder lief Jennifer ein Schauder den Rücken hinunter, als sie an die Spinne mit den langen haarigen Beinen dachte. Sie hatte wirklich unwahrscheinliches Glück gehabt, daß Mario gerade vorbeigekommen war und sie gerettet hatte. Jennifer erkundigte sich bei einem der Mädchen, die das Mittagessen vorbereiteten, ob Maria da wäre. Sie wollte die Hotelbesitzerin unbedingt einmal auf den mysteriösen Fluch ansprechen. Doch leider schüttelte das Mädchen den Kopf und erklärte, daß Maria zusammen mit der Köchin in die nahegelegene Stadt gefahren war, um einige Besorgungen zu machen. Jennifer überlegte, ob sie das Mädchen nach dem seltsamen Fluch fragen sollte, unterließ es dann aber. Die Verständigung würde zu schwierig werden. Außerdem wußte sie nicht einmal, was »Fluch« auf Italienisch hieß. Sie bedankte sich und ging wieder auf ihr Zimmer, um sich vor dem Mittagessen etwas frischzumachen.
*
Den Nachmittag verbrachte Jennifer am Strand. Ein Ehepaar, das seinen Urlaub ebenfalls in dem Hotel verbrachte, hatte sie mit ans Meer genommen. Beide hatten die Vierzig mittlerweile schon überschritten und machten einen sehr kultivierten Eindruck. Jennifer hatte es sich ein paar Meter abseits auf einem Badetuch bequem gemacht und schmökerte in einem der Romane, die sie mitgebracht hatte. Sie hatte beschlossen, die
Fachbücher erst einmal im Hotel zu lassen. Für die hatte sie schließlich in den nächsten Wochen noch Zeit genug. Die Sonne hatte den Zenit mittlerweile überschritten. Dennoch war es noch immer sehr heiß. Jennifer drehte sich auf die andere Seite und beschloß, nicht mehr allzulange in der Sonne zu bleiben. Schließlich wollte sie sich nicht schon am ersten Tag einen Sonnenbrand holen. So etwas konnte den Urlaubsspaß ganz schön verderben, wie sie aus eigener Erfahrung wußte. Sie legte den Roman zur Seite, hockte sich auf das Badetuch und beobachtete das Ehepaar dabei, wie es langsam aus dem Wasser stieg und zu seinen Sachen zurückkehrte. »Das Wasser ist wirklich herrlich warm«, rief ihr der Mann zu. »Haben Sie denn gar keine Lust, etwas zu schwimmen?« Jennifer schüttelte den Kopf. »Fürs erste reicht mir ein bißchen Sonne.« »Ich kann sowieso nicht verstehen, wie ein junges Mädchen wie Sie seinen Urlaub in einer solch stillen Gegend verbringen kann. Vermissen Sie den Trubel der großen Städte nicht?« »Ach«, antwortete Jennifer. »Trubel habe ich das ganze Jahr aber. Wenigstens im Urlaub will ich Ruhe haben.« »Eine vernünftige Einstellung«, lobte der Mann, während er nach seinem Handtuch griff. »Sie haben bestimmt Durst«, meinte jetzt die Frau, die sich bereits abgetrocknet hatte. »Wir haben kalten Zitronentee mit. Trinken Sie ein Glas mit uns?« Erfreut nahm Jennifer das Angebot an und setzte sich auf einen Moment zu den beiden. Doch lange wollte sie nicht mehr am Strand bleiben. Sie hatte Lust, noch einen Spaziergang ins nahegelegene Dorf zu machen. Sie freute sich darauf, wieder die kleinen winkligen Gassen zu sehen, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Zum Glück hatte sich hier in den letzten Jahren kaum etwas geändert.
In einem der kleinen Straßencafes könnte sie sich für ein paar Stunden in den Schatten setzen und bei einer Tasse Espresso weiterlesen. Oder sie würde einfach nur aufs Meer hinaussehen, auf dem weiter entfernt etliche kleine Fischerboote zu sehen waren. Kurz bevor Jennifer sich von dem freundlichen Ehepaar verabschiedete, erkundigte sie sich vorsichtig danach, ob die beiden etwas von einem Fluch wußten, der auf dem Hotel liegen sollte. Doch sie verneinten lächelnd. »Wissen Sie, wir sind so oft unterwegs oder hier am Strand, daß wir kaum etwas von dem mitbekommen, was im Hotel vor sich geht«, erklärte die Frau. »Wir sind eigentlich nur zum Essen und Schlafen im ›La Pineta‹«, ergänzte der Mann, während er den Rest des Zitronentees austrank. »Auf Gerüchte geben wir nicht viel. Und schließlich reisen wir ja auch morgen schon wieder ab. Leider, es ist sehr schön hier.« »Richtig«, stimmte ihm seine Frau zu. »Wenn wir es einrichten können, kommen wir im nächsten Jahr bestimmt wieder hierher. Und was den Fluch angeht: Sie sollten nicht allzuviel auf Gerüchte geben. Die Leute hier sind sehr, sehr abergläubisch.« »Das habe ich auch schon gemerkt«, meinte Jennifer und stand auf. Dann packte sie ihr Badetuch und was sie sonst noch bei sich hatte in die grobe Strandtasche und verabschiedete sich von den Eheleuten. Die beiden boten ihr an, sie am späten Nachmittag wieder im Dorf abzuholen, damit sie nicht zurück zum Hotel laufen oder sich ein Taxi nehmen mußte. Jennifer nahm dankend an. Sie zog sich noch rasch ihr Kleid über den knappen Bikini, um ihre Haut besser vor der Sonne zu schützen, und machte sich anschließend auf den Weg ins Dorf. Diesmal wollte sie
nicht den Weg durch die Felder nehmen, sondern am Meer entlangspazieren. Jennifer genoß das Gefühl, wenn die stetigen Wogen ihre Knöchel umspülen. Sie blickte hinaus auf das Meer, auf dem sich die Sonnenstrahlen glitzernd brachen. Sie ließ sich Zeit und erreichte das Dorf mit dem kleinen, malerischen Hafen erst nach einer knappen Stunde. Eines der Straßencafes lag noch immer am gleichen Platz, und Jennifer verbrachte dort den Rest des Nachmittags. Sie trank drei Tassen Espresso, bevor sie schließlich von dem Ehepaar wieder abgeholt und zum Hotel zurückgebracht wurde. Die Sonne stand mittlerweile nicht mehr allzuweit über der geraden Linie des Horizontes. Bald wurde sich die gelbe Scheibe in einen glutroten Ball verwandeln und im Meer versinken…
*
Als Jennifer aus dem Wagen des Ehepaares ausstieg und sich noch einmal für das Mitnehmen bedankte, sah sie an der Fassade des Hotels hinauf zum ersten Stock – dorthin, wo das Fenster ihres Zimmers lag. Für einen winzigen Moment glaubte sie, hinter den Gardinen eine schemenhafte Bewegung auszumachen. Als sie jedoch ein zweites Mal hinaufblickte, war nichts mehr zu erkennen. Jennifer zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatten lediglich die Gardinen im Wind geflattert. Hinter der Rezeption stand das junge Mädchen, das während der Abwesenheit von Maria und Mamma für die Bewirtung der
Gäste sorgte. Die beiden waren noch immer nicht zurückgekehrt, wie Jennifer auf Nachfrage erfuhr. Dafür hatte aber jemand für sie angerufen. Das Mädchen Übergab ihr einen Zettel, auf dem eine Telefonnummer und ein Name vermerkt waren, beides von Mario. Das Mädchen erzählte Jennifer weiter, daß es vor einigen Stunden einen Anruf für eine gewisse »Jenny« bekommen hatte. Der Anrufer ließ nachfragen, ob sie bereit wäre, heute abend mit ihm essen zu gehen, und sie möchte ihn bitte bis neunzehn Uhr zurückrufen. Jennifer bedankte sich lächelnd und ging die Stufen hinauf zu ihrem Zimmer. Auf der Treppe kam ihr der Mann entgegen, der ihr schon heute morgen beim Frühstück unangenehm aufgefallen war, weil er sie die ganze Zeit über so merkwürdig angestarrt hatte. Auch jetzt traf sie sein starrer Blick, und Jennifer glaubte fast körperlich zu spüren, wie er ihren gesamten Körper abtastete. Er war stehengeblieben, so daß sie sich auf der Treppe an ihm vorbeischieben mußte. Sie rümpfte die Nase, wandte den Blick ab und bemühte sich, ihn nicht zu berühren. Als Jennifer den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, blickte sie sich noch einmal um. Der Fremde stand noch immer am gleichen Fleck und starrte zu ihr herauf. Er wandte sich erst ab, als sie zu ihm hinuntersah. Jennifer spürte, wie Ärger in ihr emporstieg. Sie konnte derart aufdringliche Menschen nicht leiden. Was mochte der Grund sein, daß dieser Mensch sie die ganze Zeit anstarrte? Wie anders war da Mario heute gewesen! Er hatte sich wie ein richtiger Gentleman benommen. Jennifer lächelte, als sie an den gutaussehenden Mann zurückdachte, der sie heute vormittag gerettet hatte. Während sie den Flur zu ihrem Zimmer entlangging, fragte sie sich, ob sie seine Einladung zum Abendessen nicht doch annehmen
sollte. Aber sie wußte, daß sie sich insgeheim längst entschieden hatte. So zuwider ihr Marios Zurschaustellung von Reichtum auch war, sie mußte zugeben, daß er ein interessanter Mensch war und zumindest eine weitere Chance verdient hatte. Sie mußte unbedingt mehr über ihn erfahren. Womit verdiente er das viele Geld? Als Jennifer kurz darauf ihre Zimmertür aufgeschlossen hatte und den Raum betrat, erlebte sie eine böse Überraschung. Jemand mußte während ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer gewesen sein und es durchsucht haben. Überall lagen ihre Kleider auf dem Boden herum, die Schubladen waren ausgeleert, und selbst die Bettdecke war zur Seite gezerrt worden. Für einen Moment dachte Jennifer daran, wie sie vorhin unten im Hof geglaubt hatte, eine Bewegung hinter dem Fensterrahmen zu sehen. Aber sie war sich darüber im klaren, daß es genausogut eine Täuschung gewesen sein konnte. Und dann durchzuckte sie ein Gedanke: ihr Geld! Sie stieß die Tür hinter sich ins Schloß, ließ die Badetasche auf den Boden fallen und eine als erstes zum Schrank. Dort hatte sie zwischen einigen Wäschestücken ein kleine Börse mit ihrem gesamten Geld versteckt. Kein sehr gutes Versteck, wie sie im nachhinein feststellen mußte, denn der gesamte Schrank war durchwühlt worden. Doch Jennifer hatte Glück. Die Geldbörse war noch da. Schnell riß sie den Verschluß auf und sah hinein. Aufatmend stellte sie fest, daß das gesamte Bargeld noch vorhanden war, sowohl das italienische als auch das englische Geld. Kopfschüttelnd ließ sich Jennifer inmitten des Chaos auf die Bettkante sinken. Der oder die Unbekannten die in ihrem Zimmer gewesen waren, konnten die Geldbörse einfach nicht
übersehen haben. Die gesamten Wäschestücke aus dem Fach lagen auf dem Boden. Ein rascher Blick überzeugte sie, daß auch sonst nichts fehlte, jedenfalls vermißte sie nichts. Sollte der Einbrecher letzten Endes gar kein Einbrecher gewesen sein? Aber welches Interesse mochte er sonst gehabt haben, ihr Zimmer zu durchsuchen? Außer ihrem Geld gab es hier schließlich kaum etwas Wertvolles. Jennifer blickte sich um, ob sich sonst etwas in dem Raum befand, was einen solchen Aufwand lohnte. Doch es stand alles noch am alten Platz: die beiden kleinen Nachtschränke zu beiden Seiten des Bettes, der kleine Schreibtisch vor dem Fenster, wenn er auch etwas von seinem alten Platz verrückt worden war. Und der Schrank stand natürlich auch noch an seinem alten Platz. Er war auch viel zu schwer, als daß man ihn hatte bewegen können! Auch im Badezimmer war nichts entfernt worden, wenn man auch deutlich erkennen konnte, daß sich jemand darin befunden haben mußte. Die Handtücher lagen auf dem Boden, und der Inhalt ihres Kulturbeutels war über dem Duschbecken ausgeleert worden. Jennifer kniete sich nieder und sammelte die Gegenstände wieder auf, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Sie überlegte, ob sie das Mädchen verständigen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wollte warten, bis Maria wieder zurück war. Schließlich war ihr nichts gestohlen worden. Das Ganze war mehr eine rätselhafte Angelegenheit. Jennifer nahm sich vor, Maria bei dieser Gelegenheit auch gleich wegen des Fluches zur Rede zu stellen. Schließlich mußte sie zumindest wissen, was es damit auf sich hatte. Ihr seltsames Verhalten gestern vor dem Abendessen hatte verraten, daß sie durchaus von dieser Sache wußte und Mamma verboten hatte, darüber zu reden.
Jennifer beschloß, mit dem Aufräumen zu warten, bis Maria wieder da war, damit diese sich mit eigenen Augen von dem Chaos überzeugen konnte. Hoffentlich dauerte ihre, Rückkehr nicht mehr allzu lange! Jennifer streifte die Sandalen ab und legte sich seufzend auf ihr Bett, nachdem sie die darauf verstreuten Bücher wieder auf den Nachtschrank gelegt hatte. Doch sie hatte sich kaum ausgestreckt, als sich plötzlich der haarige Körper einer Spinne in ihr Blickfeld schob. Es war eine große schwarze Tarantel, die an der Zimmerdecke hockte und sich nun langsam in Bewegung setzte. Jennifer war vor Entsetzen wie gelähmt, das einzige, wozu sie noch fähig war, war zu schreien…
*
Maria hörte den Schrei, als sie zusammen mit der Köchin aus ihrem Wagen ausstieg. Instinktiv wußte sie, daß er nur aus dem offenen Fenster des Zimmers der jungen Engländerin kommen konnte. Sie ließ die Köchin einfach stehen und hetzte die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf. Hoffentlich war es noch nicht zu spät! »Signorina Courtland!« rief sie, als sie an die Zimmertür klopfte. »Was ist passiert?« Zu ihrer Erleichterung machte Jennifer ein paar Sekunden später die Tür auf. Die Engländerin sah zwar bleich aus, schien aber ansonsten unversehrt zu sein. »Maria!« stieß Jennifer hervor. »Endlich sind Sie wieder da!«
Die Hotelbesitzerin warf einen Blick an ihr vorbei auf das Chaos, das im Zimmer herrschte. »Was ist denn hier passiert?« fragte sie und dämpfte unwillkürlich die Stimme, als der ungepflegte Gast, der Jennifer erst eben auf der Treppe begegnet war, auf dem Gang erschien. »Kommen Sie herein«, sagte Jennifer, die den Mann ebenfalls sah. Es mußte ja nicht unbedingt sein, daß alle Gäste mitbekamen, was in ihrem Zimmer los war. Maria hatte bestimmt schon Sorgen genug. Sie schloß die Tür und deutete auf die Zimmerdecke. Ihre Hand zitterte noch immer etwas. Als Maria sah, was dort an der Decke klebte, schlug sie ein Kreuz vor der Brust. Es war der tote Körper einer großen Tarantel. Doch von der Giftspinne ging keine Gefahr mehr aus. Ein großer Nagel mitten durch den schwarzen Körper hielt sie dort an der Stelle. Maria leierte ein paar Worte in italienischer Sprache herunter, wahrscheinlich rief sie irgendwelche Schutzgeister an. »Und nicht allein das«, erklärte Jennifer jetzt und machte eine umfassende Geste. »Jemand hat heute nachmittag mein Zimmer durchsucht!« »Oh, Signorina!« rief Maria unglücklich. »Hat man Ihnen etwas gestohlen?« »Das ist ja das Seltsame. Es fehlt nichts!« »Das ist der Fluch«, flüsterte Maria düster. »Das habe ich mir schon fast gedacht!« rief Jennifer erregt. »Glauben Sie nicht, daß es endlich Zeit ist, mir etwas über diesen ominösen Fluch zu erzählen?« »Ja«, nickte Maria. »Ich werde Ihnen alles erzählen. Aber Sie müssen aus diesem Zimmer verschwinden. Ich werde Ihnen ein anderes geben.«
»Nein«, sagte Jennifer bestimmt. »Ich werde aus diesem Zimmer erst wieder verschwinden, wenn Sie mir ein bißchen mehr erzählt haben.« In diesem Moment klopfte es draußen an der Tür, und es schien, als wäre Maria diese Störung gar nicht so unrecht. Draußen stand Mamma, die Jennifers Schrei ebenfalls gehört hatte und sich besorgt erkundigte, ob alles in Ordnung wäre. Maria ging zur Tür und flüsterte der Köchin zu, daß nichts passiert wäre und sie sich um das Abendessen kümmern sollte. Dann schloß Maria die Tür wieder. Ihr Blick traf zuerst die Tarantel und blieb dann auf Jennifer hängen, die abwartend dastand. »Ich werde Ihnen alles erklären, Signorina«, sagte sie. »Nach dem Abendessen. Bitte warten Sie noch ein wenig, ich muß mich jetzt um die Küche kümmern. Aber zuvor entferne ich noch diese gräßliche Spinne. Und Sie müssen mir versprechen, das Zimmer zu verlassen!« »Wir werden sehen«, erwiderte Jennifer. Sie hatte nicht viel Lust, ihr altes, so vertrautes Zimmer zu verlassen, obwohl ihr die Geschichte natürlich einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte.
*
Fast hätte Jennifer vergessen, Mario anzurufen, dachte aber noch kurz vor neunzehn Uhr daran. Sie wählte die Nummer, die er ihr hinterlegt hatte, und bereits nach dem ersten Schellen meldete sich eine sonore altere Stimme: »Argenti.« Jennifer war etwas überrascht, daß am anderen Ende nicht die Stimme Marios zu hören war.
»Äh, hier spricht Jennifer Courtland«, sagte sie unsicher. »Können Sie mich verstehen?« »Oh, ich verstehe Sie ausgezeichnet«, erwiderte die Stimme in einwandfreiem Englisch, wenn auch mit unverkennbarem Akzent. Jennifer dachte etwas beschämt daran, daß hier fast jeder, mit dem sie zusammentraf, Englisch sprach und sie selbst nur ein paar Brocken Italienisch beherrschte. »Sie müssen die junge Frau sein, von der mir mein Sohn erzählt hat. Das heute vormittag war bestimmt ein unangenehmes Erlebnis für Sie?« »Ja«, antwortete Jennifer etwas einsilbig. Sie dachte gerade an die furchtbare Überraschung zurück, die sie eben in ihrem Zimmer vorgefunden hatte. Genau genommen war dies schon das zweite Erlebnis heute, auf das sie gerne verzichtet hatte. Marios Vater deutete ihr Schweigen anscheinend falsch. »Ich darf doch hoffen«, fuhr er fort, »daß Sie die Einladung meines Sohnes zum Abendessen nicht abschlagen.« Sein Tonfall wurde scherzend. »Hier im Süden gilt es nämlich als Beleidigung, eine Einladung abzulehnen.« »Wir im Norden nehmen das nicht so ernst«, meinte Jennifer lächelnd und unterbrach sich unwillkürlich, als der aufdringliche Hotelgast an ihr vorbeiging. Wieder starrte er sie eigenartig durchdringend an, so daß Jennifer richtig mulmig wurde. In ihr keimte allmählich der Verdacht, daß er etwas mit der Durchsuchung ihres Zimmers zu tun haben konnte, so unsinnig es auch war, jemanden allein aufgrund seines unsympathischen Verhaltens zu verdächtigen. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, als versuche der ungepflegte Mann, sie mit seinen aufdringlichen Blicken zu verjagen. »Könnte ich jetzt bitte mit Mario sprechen?«
»Aber natürlich. Ich muß mich entschuldigen, ich benehme mich, als hätte ich Sie heute vormittag kennengelernt. Aber ich würde mich freuen, wenn wir uns tatsächlich einmal kennenlernen würden. Morgen abend geben wir hier einen Empfang und…« Marios Vater unterbrach sich, und im Hintergrund war Marios Stimme zu hören: »Nun fall doch nicht gleich mit der Tür ins Haus. Ich glaube, der Anruf war doch für mich, oder?« Der Telefonhörer wurde weitergereicht. »Jenny?« vernahm sie Marios Stimme. »Ich freue mich, daß Sie angerufen haben.« »Ihr Vater anscheinend auch«, gab Jennifer lächelnd zurück. »Sie müssen ihm ja viel über unsere Begegnung erzählt haben?« »Nur das Beste«, gab Mario zu. »Wie ist es, machen Sie mir die Freude, heute abend mit mir essen zu gehen? Es gibt hier ganz in der Nähe ein nettes, kleines Restaurant, das berühmt für seine Fischspezialitäten ist.« »Gern«, stimmte Jennifer zu. »Nur glaube ich, daß ich nach dem Abendessen hier im Hotel keinen großen Appetit mehr haben werde.« »Dann essen Sie jetzt einfach ein bißchen weniger. Außerdem ist der Fisch so gut, daß Sie ganz bestimmt noch etwas schaffen werden.« »Na gut. Wo treffen wir uns?« »Ich hole Sie selbstverständlich ab, Jenny. Und keine Angst, ich bringe Sie auch wieder zurück. Ich bin keiner von diesen heißblütigen jungen Italienern, die gleich aufs Ganze gehen und alles sofort wollen!« »Und wenn ich genau das wollte?« fragte Jennifer und wunderte sich selbst über ihre kühnen Worte.
»Vielleicht mache ich bei Ihnen eine Ausnahme«, lachte Mario. »Aber bleiben wir fürs erste beim Essen. Wann darf ich Sie abholen? In einer Stunde?« Jennifer überlegte einen Moment. Das Abendessen würde bestimmt eine Stunde dauern. Und dann war da anschließend noch das Gespräch mit Maria. »Lieber in zwei Stunden.« »Gut, ich werde dasein!« * »Der Fluch geht auf eine Geschichte zurück, die vor fast zehn Jahren hier geschehen ist«, erklärte Maria flüsternd. Sie hatte sich mit Jennifer in ihre Wohnung zurückgezogen, die in einem abgetrennten Hügel des Hotels lag. Durch die Fenster drang das düstere Zwielicht der Dämmerung. Die beiden Frauen hatten sich an einen Tisch gesetzt, auf dem ein paar Kerzen standen. Schuf ihr warmes Licht sonst eine angenehme Atmosphäre, so hatten die flackernden Schatten, die auf die Wände des Raumes geworfen wurden, plötzlich etwas Unheimliches an sich. Jennifer konnte sich eines kleinen Schauders nicht erwehren. Fast hätte sie die Hotelbesitzerin gebeten, die elektrische Beleuchtung einzuschalten, sagte jedoch nichts, weil sie sich nicht lächerlich machen wollte. Es wäre ja noch schöner, wenn sie jetzt begänne, abergläubisch zu werden! »Erzählen Sie«, sagte sie statt dessen. Maria seufzte und steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Sie rauchte hastig ein paar Züge und blickte hinunter auf die Tischplatte, während sie erzählte. »Zehn Jahre ist es seit den schrecklichen Ereignissen her. Ich hatte gehofft, sie niemandem erzählen zu müssen. Es war Winter damals, und wir hatten das Hotel geschlossen. Wir, das waren mein Vater und ich.« Sie lachte kurz humorlos auf.
»Keiner weiß so recht, warum ich nicht geheiratet habe, am allerwenigsten ich selbst. Dabei war ich ein hübsches Mädchen damals, und viele junge Männer hatten mir Anträge gemacht. Nun, vielleicht hatte ich einfach zuviel damit zu tun, meinem Vater beim Bewirtschaften unseres Hotels zu helfen. Obwohl er es gerne gesehen hatte, wenn ich geheiratet hätte…« »Was ist damals passiert?« fragte Jennifer gespannt. »Ich war in diesem Winter weg, um in Neapel meine Prüfung als Hotelfachfrau zu machen. Mein Vater war allein hier, zusammen mit einem Bekannten, der ihm dabei half, einige Ausbesserungen zu machen. Und dann kamen die Männer!« Maria stockte. Man merkte ihr an, daß es ihr ungeheuer schwer fiel, über den Vorfall zu sprechen. »Es waren vier Bankräuber«, erzählte sie weiter. »Sie waren auf der Flucht vor der Polizei, da sie vor wenigen Stunden in einer größeren Stadt eine Bank überfallen und eine größere Menge Geld erbeutet hatten. Zwei Angestellte wurden dabei erschossen. Mein Vater hat sie die Nacht über hier beherbergt in der Hoffnung, sie würden dann wieder verschwinden, ohne ihm und seinem Bekannten etwas anzutun. Aber das Versteck war zu gut, deshalb blieben sie fast eine Woche, hielten meinen Vater und seinen Bekannten gefangen. Irgend jemand informierte schließlich die Polizei, die die Gangster dann überwältigen konnte. Es war der Nachmittag, an dem ich meine Prüfung bestanden hatte, als ich erfuhr, daß mein Vater dabei ums Leben gekommen war.« Maria schluckte, und Jennifer legte ihr für einen Moment tröstend die Hand auf die Schulter. »Was hat diese Sache mit dem Fluch zu tun?« fragte sie, nachdem sie der Hotelbesitzerin etwas Ruhe gegönnt hatte. »Warten Sie, ich erzähle es Ihnen. Mein Vater ist nämlich nicht durch die Gangster ums Leben gekommen, sondern durch eine Tarantel.«
»Was?« »Ja. Es war, als die Polizei das Haus umstellt hatte und die Bankräuber sich mit den Polizisten einen Schußwechsel lieferten. Sie hatten meinen Vater und seinen Bekannten gefesselt, und als sie hilflos am Boden lagen, kam eine solche Giftspinne – die wohl in der Wärme des Hauses Unterschlupf gesucht hatte – und biß meinen Vater in die Schläfe. Sein Herz war schwach gewesen, und so hatte er kaum eine Chance. Er flehte die Bankräuber an, ihm einen Arzt zu bringen, aber sie hielten die ganze Sache nur für einen Ablenkungsversuch. Mein Vater starb, doch bevor er tot war, verfluchte er die vier Gangster. Keiner weiß, ob das Gift seinen Verstand bereits verwirrt hatte oder ob tatsächlich mehr dahintersteckte. Er rief ihnen zu, daß sie der Fluch der Tarantel treffen würde, und er würde nicht eher ruhen, bis sie alle tot wären. Sein Bekannter hat es mir erzählt, als ich hierher zurückkam.« »Und diese traurige Geschichte ist die Ursache für den Aberglauben der Leute hier?« fragte Jennifer erstaunt. »Entschuldigen Sie bitte, ich möchte Ihnen nicht weh tun, aber ich kann nun einmal nicht an solche Sachen glauben.« »Warten Sie, Signorina, warten Sie!« rief Maria. »Die Geschichte ist noch nicht ganz vorbei. Wenn ich Ihnen den Rest erzählt habe, werden Sie verstehen – und glauben.« Maria nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Zigarette aus. »Von den vier Bankräubern überlebten nur drei. Einer wurde von der Polizei beim Stürmen des Hauses erschossen. Ein anderer bekam einen Streifschuß am Kopf und lebt seitdem in einer geschlossenen Anstalt für psychisch Kranke. Die beiden letzten bekamen hohe Haftstrafen. Die Beute allerdings wurde nie gefunden. Die Polizei vermutete sie natürlich irgendwo hier im Haus. Alles würde auf den Kopf gestellt, das Geld jedoch blieb verschwunden.
Und keiner von den dreien sagte je etwas darüber, wo das Geld geblieben war. Letzten Sommer hatte ich hier einen Gast, von dem sich erst im nachhinein herausstellte, daß er einer der beiden Gangster war, der aus der Haft entlassen worden war.« »Aber sie müßten doch eigentlich für so ein Verbrechen viel länger im Gefängnis sitzen!« rief Jennifer leidenschaftlich. »Man konnte ihnen nie beweisen, die Bankangestellten erschossen zu haben. Sie schoben die Morde auf den Anführer, der von der Polizei erschossen wurde. Und da sie bei dem Überfall Masken trugen, konnte man ihnen nur Beihilfe zum Mord vorwerfen. Aber hören Sie erst, was dann geschah. Der Gangster nämlich übernachtete in Zimmer 17, Ihrem Zimmer. Als wir am nächsten Morgen frische Bettwäsche beziehen wollten, fanden wir ihn tot im Bett. Fast das ganze Zimmer war in Unordnung, so als hätte jemand nach etwas gesucht, vielleicht sogar er selbst.« »Woran ist er gestorben?« Maria schlug abermals ein Kreuz vor ihrem Gesicht. »An Tarantelbissen«, sagte sie fast unhörbar. »Was?« Jennifers Augen weiteten sich. »Sein ganzer Körper war übersät davon, und im Zimmer fand man tatsächlich mehrere Giftspinnen, einige davon zerquetscht, als hätte er mit ihnen gekämpft. Wir haben sofort die Polizei gerufen, und die haben sie dann eingefangen und auch festgestellt, woher die Spinnen gekommen sein könnten. Es gab einen kleinen Riß im Mauerwerk, groß genug, um sie hineinzulassen.« »Den Riß gibt es noch?« »Natürlich ist er zugemauert worden.« »Und wegen dieser Geschichte nehmen die Leute an, daß sich der Fluch erfüllt?«
»Ja, aber noch aus einem anderen Grund. Rund um dieses Hotel sind die Spinnen fast zu einer Landplage geworden. Die Leute aus dem Dorf meiden den Hügel hier oben. Sie sagen, es sei der Geist meines Vaters, der in die Spinnen gefahren wäre, um seinen Fluch zu erfüllen!« »Und das glauben Sie?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Maria. »Andererseits – wir haben schon alles mögliche versucht, aber die Spinnen sind einfach nicht loszuwerden. Sie kommen ins Haus, und Sie können sich vorstellen, wie gerne die Gaste in einem solchen Hotel wohnen möchten.« »War das auch der Grund, warum die Familie gestern abgereist ist?« »Richtig, sie hatten auf der anderen Seite des Flures gewohnt und am Morgen eine dieser ekeligen Spinnen in ihrer Badewanne gefunden. Auch das Gerede der Leute wird immer schlimmer, und bald werde ich das Haus wohl schließen müssen. Die wenigen Gäste reichen nicht mehr aus, um das ganze Jahr über die Runden zu kommen.« »Was ist aus dem anderen Gangster geworden?« fragte Jennifer und dachte an den ungepflegten Mann, der sie die ganze Zeit anstarrte. Konnte es sein, daß er der andere Bankräuber war, der nun hierher zurückkam? »Er hat eine längere Strafe bekommen und muß noch mindestens fünf Jahre im Gefängnis bleiben. Ich habe mich letztes Jahr nach dem Zwischenfall mit seinem Kumpanen natürlich bei der örtlichen Polizei erkundigt.« Das Bild in Jennifers Gedanken zerstob wieder. Schade, dachte sie, dabei wäre das die einfachste Lösung gewesen. »Sie dürfen auf keinen Fall in Ihrem Zimmer bleiben, Signorina Courtland. Und ich kann es Ihnen nicht einmal verübeln, wenn Sie in ein anderes Hotel ziehen.«
»Darum brauchen Sie sich nun wirklich keine Sorgen machen, Maria«, erwiderte Jennifer und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, was ihr einigermaßen gelang. »Wegen eines solchen Fluches gebe ich doch nicht mein Zimmer auf!« »Oh, bitte nicht, Signorina! Sie machen einen schrecklichen Fehler! Wir haben genug leerstehende Räume…« »Ach was!« Jennifer zog aus der Tasche ihrer Jeans den Zimmerschlüssel. »Ihn kann sich heute nachmittag jeder vom Brett hinter der Rezeption weggenommen haben. Diesmal behalte ich ihn vorsichtshalber.« »Bitte, Signorina«, flehte Maria und überlegte sich, ob sie ihr etwas von dem seltsamen Gast erzählen sollte, der gestern abend angekommen war und unbedingt in Zimmer Nr. 17 übernachten wollte. In diesem Moment klopfte es aber an die Tür, und die Hotelbesitzerin wurde ihrer Entscheidung enthoben. Das Zimmermädchen steckte seinen Kopf durch die Tür und sagte etwas auf Italienisch zu Maria, was Jennifer nicht verstand. »Sie sagt, daß Besuch angekommen ist. Ein junger Mann wartet an der Rezeption auf Sie«, übersetzte Maria, und zum ersten Male lächelte sie etwas. »Ich wußte gar nicht, daß man in dieser Gegend so schnell Bekanntschaften schließen kann!« »Die Spinnen haben eben auch ihr Gutes«, antwortete Jennifer mehrdeutig und sprang auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Ein Blick auf die Uhr bewies ihr, daß es tatsächlich schon kurz vor einundzwanzig Uhr war. Mario war pünktlich gekommen. »Signorina!« rief Maria ihr hinterher, als Jennifer mit raschen Schritten das Zimmer verließ. »Ich bitte Sie, ziehen Sie aus dem Zimmer aus!«
»Das hat auch noch Zeit bis morgen«, gab Jennifer zurück, die mit ihren Gedanken bereits bei Mario war. Sie wußte nicht, daß sie mit dieser Entscheidung einen schrecklichen Fehler beging…
*
»Ich kann doch unmöglich in diesem Aufzug ausgehen«, sagte Jennifer und deutete auf ihre ausgewaschenen Jeans. Mario winkte ab. »In dem Restaurant gibt es keinen Kleiderzwang.« »Aber wie sehe ich denn neben Ihnen aus?« Jennifer spielte auf den eleganten Sommeranzug an, den Mario trug. »Wenn Sie möchten, kann ich mich ja noch umziehen«, scherzte er gutgelaunt. »Gut«, gab sich Jennifer geschlagen. »Aber ein bißchen schminken darf ich mich doch noch?« »Sie sehen hübsch genug aus, Jenny«, sagte er sanft. »Wozu wollen Sie sich denn schminken?« »Danke für das Kompliment«, lächelte Jennifer und errötete etwas. »Das war kein Kompliment«, gab er zurück. »Das war die Wahrheit.« Er legte seinen Arm um Jennifers Schultern und zog sie mit sanfter Gewalt zu seinem Wagen. Sie ließ es geschehen und fühlte sich nicht einmal unwohl dabei. Sie genoß die Berührung mit ihm, erinnerte sich aber daran, daß sie noch immer viel zu wenig über ihn wußte. Sie beschloß, daß sich das ändern mußte, ehe sie sich Hals über Kopf in ein solches Abenteuer stürzte.
*
Das Restaurant, in das Mario Jennifer führte, erwies sich als so gut, wie er gesagt hatte. Es lag auf einem schroffen Hügel, der zum Meer hin steil abfiel, Jennifer und Mario saßen draußen auf der Terrasse, die in den Hang hineingebaut war. Auf dem Meer sah man die bunten Positionslichter einiger Schiffe, die sich langsam bewegten. Das Essen war ausgezeichnet. Sie bestellten sich frische Muscheln in einer Spezialsoße, deren Rezept vom Inhaber wie ein Geheimnis gehütet wurde. Jennifer konnte ihn voll und ganz verstehen. Sie war froh darüber, sich beim Abendessen im Hotel zurückgehalten zu haben. Nach der Sache, die mit ihrem Zimmer passiert war, hatte sie ohnehin wenig Appetit gehabt. Doch in der Gesellschaft von Mario fühlte sie sich wohl. Er war sehr nett, zuvorkommend und ein interessanter Gesprächspartner. Jennifer erzählte ihm, daß sie eigentlich aus London stammte und bisher sehr oft in dieser Gegend Urlaub gemacht hatte – meist mit ihren Eltern. Als sie erwähnte, daß sie ein Mode- und Design-Studium machte, wurde Mario hellhörig. »Dann haben wir ja sozusagen den gleichen Beruf!« rief er freudig. »Warum das?« »Ich arbeite in einer Mode-Agentur in Neapel. Ich arbeite das ganze Jahr über daran, unsere Kollektion auf Messen zu präsentieren, und bin ebenfalls nur im Urlaub hier. Meine Eltern haben ein Landhaus hier, das gar nicht so weit vom ›La Pineta‹ entfernt ist.«
»Dann müssen Sie sehr erfolgreich sein?« »Warum?« »Nun«, sagte sie. »Sie fahren ein Auto, von dem die meisten Menschen ihr Leben lang träumen. Ihr elegantes Äußeres läßt sich ja durch Ihren Beruf erklären.« Er lachte. »So erfolgreich bin ich gar nicht. Aber mein Vater ist es. Ihm gehört nämlich die Agentur.« Jetzt mußte auch Jennifer lachen. »Und ich hatte mir schon Sorgen gemacht, daß Sie Ihr Geld mit irgendwelchen zwielichtigen Geschäften machen! So etwas soll hier in Süditalien ja nicht unüblich sein.« »Sie haben sich Sorgen gemacht, weil ich so viel Geld habe? Normalerweise ist es bei den Frauen, die ich kennengelernt habe, gerade andersherum.« Ein Schatten flog über sein gebräuntes Gesicht, und Jennifer schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht bin ich nicht eine von diesen Frauen?« Er lächelte zurück. »Das glaube ich auch. Wie ist es? Sollten wir nicht dieses alberne >Sie< weglassen, wenn wir nun schon einmal Kollegen sind?« »Noch sind wir keine Kollegen«, erinnerte sie ihn. »Noch habe ich den Abschluß nicht geschafft. Aber was den Rest angeht, bin ich durchaus einverstanden.« Sie stießen mit einem Glas Wein darauf an. Der anschließende Kuß fiel beinahe schon etwas zu lang und zu innig aus, aber Jennifer genoß ihn, wie sie selten zuvor einen Kuß genossen hatte. Sie merkte, wie sich in ihrem gesamten Körper eine wohlige Wärme ausbreitete. Mario war ein bißchen näher an sie herangerückt und legte langsam seinen Arm um sie. Jennifer wehrte sich nicht und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Es vergingen eifrige
Minuten, in denen sie beide schwiegen, die gegenseitige Wärme genossen und auf das Meer hinaussahen. Keiner von ihnen bemerkte, wie hinter ihnen leise die leeren Teller und Schüsseln abgeräumt wurden. »Ich bin sehr froh, dich kennengelernt zu haben, Jenny.« »Ich auch«, flüsterte sie. »Das alles ist fast zu schön, um wahr zu sein!« »Tust du mir den Gefallen und besuchst morgen abend den Empfang, den meine Eltern geben? Mein Vater hatte dir ja davon schon am Telefon erzählt. Er würde sich freuen, dich kennenzulernen, und ich würde mich noch mehr freuen, morgen mit dir zusammenzusein.« »Was ist das für ein Empfang?« fragte Jennifer mißtrauisch. Sie hatte bislang einige Empfänge mitgemacht, zu denen ihre Eltern eingeladen waren. Meist war es unerträglich langweilig gewesen. Alle Gäste hatten gesellschaftsfähigen Smalltalk getrieben, was hieß, daß sie mit möglichst vielen gewählten Worten möglichst wenig gesagt hatten. Jennifer war meist froh gewesen, wenn sie wieder verschwinden konnte. »Wir haben ein paar Freunde aus der Modebranche eingeladen. Keine Angst, es gibt keinen großen Rummel. Wir veranstalten nur ein kleines Grillfest. Du wirst sicherlich einige interessante Leute kennenlernen.« »Ich habe bestimmt nichts Passendes anzuziehen«, warf sie ein, hatte sich aber schon bald überreden lassen. »Wenn du möchtest, komm so, wie du heute angezogen bist«, sagte er. »So ernst nehmen wir das nicht. Wenn die Modeschöpfer unter sich sind, ziehen sie sich eigentlich ziemlich leger an. Und wenn du möchtest, erscheine ich zur Unterstützung ebenfalls in Jeans und T-Shirt.« »Nicht nötig«, lachte sie. »Ein hübsches Kleid werde ich schon noch finden.« »Das heißt, daß du kommen wirst?«
»Wenn du mich abholst?« »Versprochen!« Sie unterhielten sich an diesem Abend noch über verschiedene Dinge. Mario brachte Jennifer recht oft zum Lachen. Als er noch einen Wein für sie bestellte, wollte sie schon ablehnen, aber er überredete sie zu noch einem Glas. Jennifer konnte ihm kaum einen Wunsch abschlagen. Und sie fühlte, daß er keine Situation ausnützen würde, wenn ihr der Wein allzusehr in den Kopf steigen sollte. Etwas später brachte sie die Sprache auf etwas Unangenehmeres, nämlich den Fluch. »Was hat es damit auf sich?« fragte Mario und runzelte besorgt die Stirn. »Ich habe schon ein paar Gerüchte davon hier in der Gegend gehört, mich aber nicht weiter darum gekümmert.« »Das würde ich auch nicht«, antwortete Jennifer, »wenn ich nicht in diesem Hotel wohnen würde.« Sie erzählte ihm das, was sie am frühen Abend von Maria erfahren hatte. Über ihnen war längst die schmale Sichel des Mondes aufgegangen und stand am nachtklaren Himmel, an dem Tausende von Sternen funkelten. Als Jennifer geendet hatte, zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht, was von der Geschichte zu halten ist. Aber ich rate dir, auf jeden Fall das Zimmer zu wechseln. Solch ein Aberglaube hat immer einen wahren Kern, und ich möchte nicht, daß du in Gefahr gerätst! Zur Not kannst du auch gerne bei uns im Landhaus übernachten. Wir haben genügend Zimmer frei.« »Nein, nein«, wehrte Jennifer ab. »So schnell lasse ich mich nicht vertreiben. Schließlich bin ich extra hierher gefahren, um wieder in meinem alten Zimmer zu sein.« »Ich weiß nicht, ob das eine kluge Entscheidung ist«, gab Mario zu bedenken.
»Das ist mir egal«, sagte Jennifer. »Da muß schon ein bißchen mehr passieren, ehe ich mich vertreiben lasse!«
*
»Das ist der widerliche Kerl, von dem ich dir erzählt habe«, sagte Jennifer, als Mario seinen Sportwagen auf den schotterbedeckten Parkplatz vor dem Hotel fuhr. Auf der Terrasse neben dem Eingang stand der Mann, der sie während des Tages so häufig durchdringend angestarrt hatte. Längst war Mitternacht vorbei, und es schien Jennifer beinahe so, als hatte der Mann auf ihre Rückkehr gewartet, um sie wieder mit seinen aufdringlichen Blicken zu belästigen. »Vielleicht sollte ich diesem Kerl einmal meine Meinung sagen!« brummte Mario, doch Jennifer hielt ihn zurück. »Die Hotelbesitzerin hat im Moment sowieso Sorgen, genügend Gäste zu bekommen. Wir sollten ihr die letzten nicht auch noch auf einen Verdacht hin vertreiben.« »Hm«, meinte Mario. »Du hast vollkommen recht. Aber dann begleite ich dich wenigstens, bis wir an dem dort vorbei sind.« Dagegen hatte sie nichts einzuwenden, sondern war im Gegenteil recht froh darüber. Mario vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit, und sie freute sich schon jetzt darauf, ihn morgen wiederzusehen. Vor der Rezeption verabschiedete er sich von ihr mit einem langen Kuß. Er blickte ihr nach, bis sie auf dem oberen Treppenabsatz verschwunden war, bevor er wieder nach draußen ging. Fast hatte er erwartet, daß der Kerl in dem schmutzigen weißen Sommeranzug nachgekommen war, um Jennifer hinterherzulaufen. Mario hatte sich schon die passenden Worte
zurechtgelegt, um den Fremden zur Rede zu stellen. Doch als er nach draußen kam, stand dieser noch immer unbeweglich da und starrte in den dunklen Abendhimmel. Er tat so, als würde er Mario nicht bemerken. Der junge Italiener rümpfte die Nase, als er wieder in seinen Wagen stieg. In seiner Erinnerung hatte sich etwas gerührt. Ihm war, als hatte er diesen Mann in der letzten Zeit schon einmal irgendwo gesehen. Er spürte, daß er der Lösung des Geheimnisses einen großen Schritt näher war, wenn er sich daran erinnern könnte, woher er den Fremden kannte. Er startete den Motor und lenkte den Wagen an dem alten, vertrockneten Brunnen vorbei vom Parkplatz. Im Rückspiegel sah er die Umrisse des Hotels, die in den dunklen Himmel hineinragten und langsam immer kleiner wurden. Mario lächelte, als er an die junge Engländerin zurückdachte.
*
Jennifer hatte blendende Laune, als sie vor ihrem Zimmer stand und aufschloß. Gleichzeitig aber fühlte sie sich müde und freute sich schon darauf, endlich ins Bett zu kommen. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, und er hatte ihr einige unliebsame Überraschungen beschert wenn auch der Abschluß sehr angenehm gewesen war. Die Tür schwang auf, und für einen kurzen Moment hatte Jennifer die Befürchtung, es wäre abermals jemand in ihrem Zimmer gewesen. Doch ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Der Lichtschein, der aus dem Flur in den Raum
drang, zeigte ihr, daß alles so zu sein schien, wie sie es verlassen hatte. Sie schloß die Tür von innen und drehte den Schlüssel zweimal herum, ehe sie ihn wieder abzog und auf den Nachtschrank legte. Sie hatte das Licht noch immer nicht angemacht, und das aus einem guten Grund. Nichts konnte in südeuropäischen Hotels den nächtlichen Schlaf mehr stören, als daß man abends das Licht anschaltete, bevor man die Fenster geschlossen hatte. In Sekundenschnelle flogen zahlreiche Mücken herein, die wesentlich stechfreudiger waren als ihre nordeuropäischen Artgenossen. Sie haben schon so manchem Touristen die Freude an der besten Zeit des Jahres beeinträchtigt. Überrascht stellte Jennifer fest, daß das Fenster geschlossen war, obwohl sie sich nahezu sicher war, es offengelassen zu haben. Bei der nächtlichen Schwüle wollte sie wenigstens ein frisch gelüftetes Zimmer haben. Sogar die Vorhänge waren geschlossen. Als die junge Engländerin sie zur Seite zog, prallte sie entsetzt zurück und preßte die Hand auf den Mund, um nicht einen Schrei auszustoßen. Vor ihr klebte an der Scheibe eine riesige schwarze Spinne. Das bleiche Mondlicht warf die verzerrten Schatten ihrer Beine auf Jennifers Kleid, die wie erstarrt vor dem Fenster stand…
*
Jennifer wich zurück, bis sie auf der anderen Seite des Zimmers mit den Schulterblättern gegen die Zimmertür stieß. Ihr erster Gedanke war, so schnell wie möglich dieses Zimmer zu verlassen. Nichts wie weg von diesem Ort des Grauens!
Doch dann erkannte sie, daß sich die Spinne, die einen guten halben Meter durchmessen mochte, bislang um keinen Millimeter bewegt hatte. Und das, obwohl Jennifer sie bestimmt erschreckt haben mußte, als sie die Vorhänge zur Seite gerissen hatte. Jennifer kämpfte gegen das Gefühl der Panik an, das sich in ihr ausgebreitet hatte und ihr riet, die Tür aufzustoßen und dieses verfluchte Hotel hinter sich zu lassen! Stirnrunzelnd schaltete sie das Licht ein und erkannte im nächsten Augenblick, daß es lediglich eine Attrappe war, die ihre Sinne genarrt hatte. Die Spinne bestand aus nichts anderem als aus schwarzer Pappe, die auf das Glas geklebt war. Halb erleichtert und halb verärgert, näherte sich Jennifer wieder dem Fenster. Die Pappe war rundherum durch zahlreiche Schnitte zerfranst, so daß in der Dunkelheit ein beängstigend reales Bild behaarter Beinpaare entstanden war. Unterhalb des Spinnenkörpers war ein Zettel an die Scheibe geheftet worden, den Jennifer in der Aufregung bislang übersehen hatte. Sie nahm das zerknitterte Stück Papier in die Hand. »La tua morte e vicina«, war dort zu lesen. Jennifer starrte auf den Zettel und versuchte, aus ihrer Erinnerung genügend italienische Worte hervorzukramen, um den Inhalt dieses Satzes zu verstehen. Da ihr das jedoch nicht gelang, zerknüllte sie ihn kurzentschlossen und warf ihn in den Papierkorb neben dem kleinen Schreibtisch. Sie riß die Pappe von der Scheibe und warf sie hinterher. »Pah«, rief sie leise, und es mochte sein, daß der am Abend genossene Alkohol ihr zusätzlichen Mut verlieh. »Ich lasse mich doch nicht durch so einen dummen Jungenstreich von hier vertreiben!«
Sie ging nebenan ins Badezimmer. Hier war nichts verändert worden, es wartete keine neue Überraschung auf sie. Jennifer drehte die beiden Hähne der Dusche auf und prüfte mit der Hand, ob das Wasser die richtige Temperatur hatte. Sie wollte vor dem Zubettgehen noch duschen. Sie fühlte sich von der Hitze des Tages und der schwülen Wärme des Abends verschwitzt. Zurück in ihrem Zimmer zog sie sich die Schuhe aus und schlüpfte aus Hose und T-Shirt. Aus dem Schrank suchte sie sich ein frisches Nachthemd, bevor sie zurück ins Badezimmer huschte. Sie hatte den schwarzen Körper der Spinne nicht bemerkt, die sich unter dem Schrank verborgen gehalten hatte, nur wenige Zentimeter von ihren bloßen Füßen entfernt. Während Jennifer sich wohlig unter den warmen Wasserstrahlen reckte, die auf ihren Rücken prasselten, setzte sich die Spinne in Bewegung und krabbelte langsam in Richtung des Bettes. Von irgendwoher erklang leise ein Kichern, das sich nur noch entfernt menschenähnlich anhörte. Doch das Prasseln des Wassers war zu laut, als daß die junge Engländerin es gehört hätte…
*
Jennifers gute Laune war zumindest teilweise zurückgekehrt, als sie aus dem Duschbecken stieg und sich mit einem weichen Frotteetuch trockenrieb. Sie beschloß, die Sache mit der Pappfigur wirklich nicht ernster zu nehmen als einen Streich, den ihr jemand gespielt hatte. Trotzdem, ein letzter Rest von Beklemmung blieb.
Zu vieles ist immer noch unklar, dachte sie, als sie sich das dünne Nachthemd überzog und in ihr Zimmer zurückkehrte. Für sie stand fest, daß irgend jemand sie aus diesem Zimmer vertreiben wollte. Aber aus welchem Grund? Was gab es in diesem Zimmer, das für irgendeine Person einen Wert hatte, der einen solchen Aufwand lohnte? Sie dachte an die Geschichte zurück, die ihr Maria heute am frühen Abend erzählt hatte. Wenn der zweite Bankräuber nicht immer noch hinter Gittern sitzen würde, läge die Lösung des Problems auf der Hand – vorausgesetzt, sie ließ sich nicht allzusehr von dem unsympathischen Verhalten des aufdringlichen Gastes zu wilden Spekulationen verleiten. Aber diese Gedankengänge waren ja leider hinfällig. Aber wer sonst könnte ein Interesse haben, sie von hier zu vertreiben? Jennifer dachte an Maria. Nein, die Hotelbesitzerin wäre sicherlich die Letzte, die dahintersteckte. Sie würde sich wohl kaum selbst ihre Gäste vergraulen. Auch Mamma schied aus. Die liebenswerte Köchin konnte sicherlich keiner Fliege etwas zuleide tun und hatte selbst viel zuviel Furcht vor diesem Fluch. Und das Mädchen, das hier arbeitete? Auch das war unwahrscheinlich! Wer blieb noch? Die Gäste, sicherlich. Von ihnen konnte praktisch jeder dafür verantwortlich sein. Doch keiner von ihnen war ihr besonders aufgefallen, von dem Mann in dem weißen schmutzigen Sommeranzug einmal abgesehen. Jennifer merkte, daß sich ihre Gedanken im Kreis drehten. Diese Grübeleien brachten sie keinen Schritt weiter. Sie ging zur Zimmertür und knipste das Licht aus. Es war schon sehr spät. Wenn sie morgen halbwegs pünktlich aufstehen wollte, mußte sie jetzt endlich schlafen. Außerdem wurde es morgen abend auf dem Empfang von Marios Vater
bestimmt auch wieder sehr spät werden, und dafür wollte sie ausgeruht und fit sein. Barfuß ging sie zum Fenster und öffnete es. Dann blieb sie noch einen Augenblick dort stehen und genoß den leichten, erfrischenden Windhauch, der über ihre Haut streichelte. Die schmale Sichel des Mondes war inzwischen ein beträchtliches Stück weitergewandert. Das bleiche Licht beleuchtete die Umgebung des Hotels nur sehr schwach. Es gab hier draußen keine künstlichen Lichtquellen, nur den sanften Schimmer des Firmaments. Jennifer konnte gerade den Übergang von der Schotterfläche des Parkplatzes zum angrenzenden Rasen ausmachen. Selbst der steinerne Brunnen war kaum zu sehen. Dort erkannte sie plötzlich eine schattenhafte Bewegung – jedoch nur für einen winzigen Moment. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, als sie plötzlich ein leises Kichern hörte, das für Sekunden vom Wind herangetragen wurde. Danach blieb alles ruhig. Jennifer verharrte und starrte fast eine Minute auf die Umrisse des Brunnens, doch die Bewegungen, die sie erst auszumachen geglaubt hatte, wiederholten sich nicht. Langsam beginnst du, dich selbst verrückt zu machen! ermahnte sie sich in Gedanken. Abrupt wandte sie sich deshalb ab und setzte sich auf die Bettkante. Sie stieß an einen Gegenstand und ertastete kurz danach eines ihrer Fachbücher, das sie auf dem Bett hatte liegenlassen. Sie packte es in die Schublade des Nachtschrankes und kroch dann unter die dünne Bettdecke. Eine Weile lag sie dort und starrte hinauf an die Zimmerdecke, die im Dunkeln kaum auszumachen war. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf und war kaum mehr erstaunt darüber, daß sie sich nach einiger Zeit ausschließlich mit Mario beschäftigten.
Fast kam es ihr vor, als kannte sie ihn schon viel länger als die paar Stunden, die es tatsächlich erst waren. Sie freute sich sehr darauf, ihn morgen wiederzusehen. Und es war ihr eigentlich auch ziemlich gleichgültig, wie langweilig die anderen Gäste auf der Grillparty sein würden. Jennifer zuckte zusammen, als sie irgendwo im Zimmer ein leises Rascheln hörte. Sie lauschte in das Dunkel hinein, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Dabei war sich Jennifer auch nicht mehr sicher, ob sie wirklich etwas gehört hatte. Du solltest jetzt endlich schlafen, dachte sie und schloß die Augen. Kurze Zeit später war sie dann tatsächlich eingeschlafen. Sie bemerkte nicht mehr, wie die schwarze Tarantel begann, langsam an einem der Bettpfosten heraufzuklettern. Und sie bemerkte ebenfalls nicht, wie sich unter dem Kleiderschrank der behaarte Körper einer zweiten Spinne hervorschob…
*
Jennifer erwachte, als sie eine Berührung an der Wange spürte. Ein Instinkt riet ihr, sich unter keinen Umständen zu bewegen. Wie ein Blitz durchschoß sie nämlich die Erkenntnis, was es für eine Bewegung gewesen war, die sie geweckt hatte. Es waren die haarigen Beine einer Spinne, die sie auf ihrer Haut fühlte! Nur mit Mühe konnte Jennifer den Impuls unterdrücken, einfach aufzuspringen und davonzurennen. Sie ahnte, daß die Spinne in diesem Fall zugebissen hätte! Die Engländerin spürte, wie ihr der Angstschweiß aus den Poren trat.
Die Sekunden dehnten sich zu wahren Ewigkeiten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben bangere Augenblicke durchgemacht zu haben. Dann endlich bewegte sich die Spinne, und Jennifer glaubte, das ekelerregende Gefühl der behaarten Beine keinen Augenblick länger ertragen zu können, als der Spinnenkörper plötzlich herabfiel. Sofort ruckte Jennifer hoch. Sie wußte, daß sie unbedingt Licht brauchte, wenn sie der Spinne ausweichen wollte. Es war dieser Gedanke, der ihr die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben rettete! Ihre Hand tastete nach der kleinen Nachttischlampe. Als das Licht aufflammte, erkannte Jennifer das wahre Ausmaß dieser teuflischen Falle. Ihr entfuhr ein unterdrückter Schrei, und sie wunderte sich, daß sie in diesem Augenblick nicht die Nerven verlor. Überall im Zimmer waren die schwarzen behaarten Körper zu sehen. Es mochten Dutzende dieser Giftspinnen sein, die sich in ihrem Zimmer befanden, die meisten davon auf dem Fußboden – doch zwei von ihnen krabbelten auf der weißen Bettdecke auf Jennifer zu! Die junge Engländerin war vielmehr Zuschauerin in ihrem eigenen Körper, als daß sie selbst bewußt über ihre Handlungen bestimmt hatte. Sie wußte, daß Hilfe von außen viel zu spät kommen würde, um ihr noch zu helfen. Nein, sie mußte ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen! Sie griff nach der Bettdecke und schüttelte die beiden Spinnen Sie griff nach der Bettdecke und schüttelte die beiden Spinnen einfach ab. Mit dem Kopfkissen fegte sie hinter sich einen weiteren schwarzen Körper vom Bett – wahrscheinlich war das die Spinne, die sie zuerst auf ihrer Wange gespürt hatte.
Jennifer wurde nur von einem Gedanken beherrscht: Sie mußte heraus aus diesem Zimmer! Sie wollte nach dem Zimmerschlüssel greifen und riß ihre Hand im selben Moment erschrocken zurück, als eine Spinne über den metallenen Schaft kroch. Es dauerte wieder ein paar bange Sekunden, bis sie weiterkroch und Jennifer endlich danach greifen konnte. Sie hatte sich mittlerweile aufgerichtet und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Gleichzeitig versuchte sie, ständig die gesamte Fläche des Bettes im Auge zu behalten. Immer wieder erreichte der behaarte Körper einer Spinne das Bettlaken und wurde im nächsten Augenblick weggefegt. Das Kopfkissen erwies sich als beste Waffe, wenn es darum ging, Abstand von den Giftspinnen zu halten. Aber irgendwann würde der Augenblick kommen, da Jennifer nicht mehr zu reagieren vermochte oder einfach die Nerven verlor. Doch wie sollte sie das Zimmer verlassen? Bis zur Tür waren es mehr als drei Meter, und die konnte die junge Engländerin nicht schaffen, ohne in Berührung mit den Spinnen zu kommen, die überall auf dem Boden herumkrabbelten. Die Schuhe standen unerreichbar neben dem Schrank. Doch plötzlich hatte Jennifer die rettende Idee. Sie legte den Zimmerschlüssel und das Kopfkissen für einen Moment auf das Bettlaken, griff nach der Bettdecke und warf sie auf den Boden, so daß sie ausgebreitet zwischen Bett und Tür lag. Mit dem Schlüssel in der Hand überbrückte sie die Lücke mit einem Sprung und zuckte für einen Moment zusammen, als sie das Geräusch vernahm, mit dem sie eine der Spinnen unter der Bettdecke zertrat. Doch der Stoff war zum Glück dick genug, als daß Gefahr für sie bestanden hätte. Jennifers Gedanken waren fast völlig ausgeschaltet. Für sie gab es nur ein Ziel, und das war die Tür.
Als sie den Schlüssel von innen ins Schloß stieß, um aufzuschließen, erkannte sie jedoch voller Entsetzen, daß die Falle vollends zugeschnappt war. All ihre Mühe war umsonst gewesen. Denn die Tür war noch immer abgeschlossen, und zwar von außen! Ein Schlüssel steckte von der anderen Seite im Schloß. Sie war eingesperrt! Jetzt verlor Jennifer vollends die Beherrschung. Ihre Nerven versagten. »Helft mir«, schrie sie und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Zimmertür. »Um Gottes willen, helft mir!« Die ersten Spinnen krabbelten bereits über die Ränder der Bettdecke. Jennifer warf einen kurzen Blick hinüber zum Kopfkissen, das in unerreichbarer Ferne auf dem Bett lag. »Helft mir!« Doch ihre Stimme brachte nicht mehr als ein Schluchzen zustande. Jennifer lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Wie gebannt starrte sie auf die haarigen Giftspinnen, die sich langsam ihren bloßen Füßen näherten. »Was ist los?« erscholl plötzlich ein Ruf auf der anderen Seite der Tür. Jennifer mobilisierte die letzten Kräfte, über die sie noch verfügte. »Holt mich hier raus!« schrie sie. »Macht die Tür auf.« Sie machte einen Schritt zur Seite und wich einer Spinne aus, die schon fast ihre Zehen erreicht hatte. Hinter ihr wurde die Tür aufgestoßen, und der Schatten einer Person war zu sehen. »Oh, mein Gott«, hörte Jennifer eine Stimme auf dem Flur. Dann wurde sie von kräftigen Armen gepackt und zur Tür hinausgerissen. Sie selbst wäre wahrscheinlich zu keiner Bewegung mehr fähig gewesen. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, das beinahe zu einer Todesfalle geworden wäre, breitete sich eine erlösende Ohnmacht in ihr aus.
»Ich hatte sie mehr als einmal gewarnt. Warum nur wollte sie nicht aus dem Zimmer ausziehen?« Marias Stimme war das erste, was Jennifer wahrnahm, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte. Sie wollte darauf etwas antworten, aber ihre Stimmbänder versagten ihr den Dienst. Sie schlug die Augen auf und erkannte über sich das Gesicht der Hotelbesitzerin, das sich ihr zuwandte. »Endlich sind Sie wach, Signorina«, sagte sie. »Was… was ist geschehen?« fragte Jennifer. Sie blickte sich um und sah, daß sie auf einem Bett lag. Neben ihr saßen Mamma und Maria und warfen ihr sorgenvolle Blicke zu. Und mit einem Male konnte die junge Engländerin sich erinnern. Das Zimmer… die Spinnen. Ein Weinkrampf überkam Jennifer, und sie verbarg ihr Gesicht in Marias Schoß, die ihr beruhigend über die Haare strich. »Beruhigen Sie sich, Signorina«, sagte sie. »Es ist ja alles vorbei. Sie sind jetzt in Sicherheit. Die Spinnen können Ihnen nichts mehr anhaben!« »In Sicherheit?« fragte Jennifer kraftlos. »Ja. Sie sind in einem anderen Zimmer, und ich passe auf Sie auf. Aber jetzt müssen Sie erst einmal schlafen.« Sie drückte Jennifers Kopf mit sanfter Gewalt ins Kopfkissen und redete noch einige Zeit beruhigend auf sie ein. Schließlich schlief Jennifer tatsächlich ein. Doch ihr Schlaf war kein tiefer. Durch ihre Träume geisterten die Bilder von schwarzen Spinnen, die überall auf ihrem Körper herumkrochen. Mehr als einmal schreckte sie schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Erst in den frühen Morgenstunden hörten die bösen Träume endlich auf. Ihr Schlaf wurde tiefer und brachte ihr die Erholung, die sie dringend nötig hatte.
*
Als Jennifer aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Durch das geöffnete Fenster drang warme Luft und brachte die schwüle Hitze eines neuen Tages mit sich. Jennifer sah sich im Raum um und war im ersten Moment überrascht, daß sie sich nicht in ihrem eigenen Zimmer befand. Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Nacht wiedererlangt hatte. Doch die Ereignisse hatten viel von ihrem Schrecken verloren, obwohl der jungen Engländerin noch immer ein Schauder den Rücken hinunterlief, wenn sie daran zurückdachte. Sie stand langsam auf und trat ans Fenster. Gedankenverloren sah sie hinaus auf die Felder, die sich auf der vom Meer abgewandten Seite tief ins Landesinnere erstreckten. Sie genoß diese Sekunden der Erholung und Ruhe. Die Tür wurde geöffnet, und Mamma kam herein. In der Hand hielt sie ein kleines Tablett, auf dem eine Tasse Kaffee stand. »Sie sind schon wach?« wunderte sich die Köchin. »Ich wollte Sie gerade wecken.« »Ich bin auch gerade erst wach geworden.« »Hier, trinken Sie einen Schluck Kaffee, Signorina. Das wird Ihnen sicherlich guttun.« Dankbar nahm Jennifer die Tasse entgegen und trank vorsichtig ein paar Schlucke. Das heiße Getränk vertrieb den letzten Rest von Müdigkeit, der noch in ihr steckte. »Was ist denn passiert, nachdem ich ohnmächtig geworden bin?« fragte sie dann.
»Wir haben das Zimmer wieder abgeschlossen, Signorina. Mit Hilfe von ein paar Gästen haben wir Sie anschließend in dieses Zimmer gebracht. Oh, ich hoffe, Sie haben nicht mehr vor, jemals wieder in Ihr altes Zimmer zurückzukehren!« Jennifer schüttelte den Kopf. Nach diesem Erlebnis hatte sie wirklich nicht mehr die geringste Lust, an diesen Ort zurückzukehren, der ihr beinahe zum Verhängnis geworden war. »Was ist mit meinen Sachen?« »Wir werden Sie Ihnen gleich bringen, Signorina. Vor einer Stunde ist jemand von der Polizei gekommen. Doch in Ihrem Zimmer waren keine Spinnen mehr zu entdecken.« »Was?« entfuhr es Jennifer. »Aber ich habe sie doch selbst gesehen! Sie waren doch dagewesen?« »Seien Sie ganz beruhigt. Wir alle haben die Spinnen gesehen.« Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und ihr Tonfall wurde tiefer. »Sogar viele der Gäste!« »Und wie haben sie auf die Sache reagiert?« »Zwei Paare sind heute morgen schon abgereist!« »Das tut mir leid«, sagte Jennifer. Irgendwie fühlte sie sich ein bißchen schuldig daran. Warum hatte sie auch so lange darauf bestanden, in ihrem alten Zimmer zu bleiben? Jetzt waren Marias Sorgen bestimmt noch ein beträchtliches Stück größer! »Machen Sie sich keine Vorwürfe«, meinte die Köchin nun, als hätte sie Jennifers Gedanken erraten. »Die Sache ist ja nun zum Glück vorüber. Aber was war mit der Pappfigur und dem Zettel, die wir in Ihrem Papierkorb gefunden haben?« Diese Sache hatte Jennifer völlig aus den Augen verloren, erst die Worte der Köchin erinnerten sie daran. »Beides klebte gestern abend an der Scheibe des Fensters. Ich habe gar nicht weiter darauf geachtet.«
»Oh, Signorina!« Mamma schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Sie haben die Warnung auf dem Zettel gar nicht weiter beachtet!« »Was für eine Warnung?« fragte die Engländerin erstaunt. »La tua morte e vicina«, zitierte Mamma mit düsterer Miene die Worte, die in krakeliger Schrift auf dem Zettel gestanden hatten. »Und was bedeuten diese Worte?« »Dein Tod ist nahe!« Die Köchin flüsterte die Worte fast. »O Gott«, entfuhr es Jennifer. »Und ich habe an einen Streich gedacht!« »Bitte, Signorina«, sagte Mamma beschwörend, »tun Sie mir einen Gefallen, und kehren Sie nie wieder in dieses Zimmer zurück!« »Das verspreche ich«, bestätigte Jennifer, und in diesem Augenblick war sie überzeugt davon.
*
Als Jennifer nachmittags am Strand lag, kam es ihr fast so vor, als wäre sie aus dem Hotel geflohen. Sie hatte lustlos in ihrem Mittagessen herumgestochert – sehr zum Leidwesen der Köchin –, und schließlich hatte sie sich mit Maria und einem Polizisten getroffen, der schon dabei gewesen war, als man vorsichtig ihr Zimmer geöffnet hatte. Doch wie Mamma schon gesagt hatte, es war keine Spur mehr von den Spinnen zu entdecken gewesen. Eine Frage aber blieb offen: Wer war derjenige gewesen, der von außen den Schlüssel ins Schloß gesteckt und so verhindert hatte, daß Jennifer ihr Zimmer verlassen konnte?
Die Hotelbesitzerin konnte darüber keine Angaben machen, sie wußte lediglich, daß der Schlüssel ein Zweitschlüssel war, der schon seit Monaten verschwunden gewesen war. Etwas mürrisch hatte der Polizist Jennifer schließlich gefragt – wobei die Hotelbesitzerin als Dolmetscherin fungierte –, ob sie beabsichtige, Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten, und war offensichtlich erleichtert, als die junge Engländerin verneinte. Es hatte ihrer Meinung nach keinen Sinn, nach dem Täter zu suchen, jedenfalls nicht, ohne das Hotel weiter in Mißkredit zu bringen. Schließlich war sie noch einmal mit einem Schrecken davongekommen. Der Polizist war am frühen Nachmittag wieder aus dem Hotel verschwunden. Maria hatte Jennifer einen dankbaren Blick zugeworfen, weil sie nicht darauf bestanden hatte, den Fall untersuchen zu lassen. Das hatte nur zu noch mehr Unruhe unter den Gästen geführt, die nach dieser Nacht ohnehin schon sichtlich verunsichert waren. Schließlich war durch Jennifer das halbe Hotel geweckt worden, und nicht wenige hatten die Spinnen in ihrem Zimmer gesehen oder zumindest von anderen Gästen davon gehört. Im Hotel herrschte eine angespannte Stimmung, und Maria befürchtete, daß in den nächsten Tagen weitere Gäste abreisen würden. Beim Mittagessen hatte Jennifer fast körperlich die forschenden Blicke gespürt, die ihr von den anderen Tischen herübergeworfen wurden. Doch sie hatte einfach so getan, als würde sie gar nicht bemerken, daß sie plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stand. Zumindest hatte sich niemand getraut, sie auf die Ereignisse der letzten Nacht anzusprechen. Jennifer schüttelte die Gedanken ab. Jetzt, da sie das Zimmer gewechselt hatte, sollte der Spuk eigentlich vorbei sein. Sie dachte kurz daran, ob es nicht klüger wäre, in ein anderes
Hotel zu ziehen, doch dazu hätte sie die Gegend hier verlassen müssen. Den gesamten Nachmittag blieb Jennifer am Strand und ließ sich bräunen. Wenn es ihr zu warm wurde, kühlte sie sich im Meer ab. Am späten Nachmittag wurden die Wellen langsam höher, und eine nach der anderen brach sich rauschend vor dem Ufer. Jennifer bemühte sich, genau den Punkt zu erwischen, wo sie sich zu brechen begannen, denn dann trug einen die Kraft des Wassers Dutzende von Metern weit zum Strand zurück. Sie nahm sich Zeit, sich auszutoben, und vergaß darüber fast, daß es schon Zeit war, zum Abendessen ins Hotel zurückzukehren. Aber noch einen Grund gab es, warum sie jetzt aufbrechen mußte. Mario würde sie bald zu der Grillparty abholen. Jennifer freute sich schon darauf, den jungen Italiener wiederzusehen. In seiner Nähe hatte sie das Gefühl von Geborgenheit. Und diese Geborgenheit hatte sie nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht bitter nötig.
*
Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, dennoch reichte das restliche Licht noch aus, um alles genügend zu erhellen. Es würde noch eine gute halbe Stunde dauern, bis die ersten Sterne am Himmel zu sehen sein würden. Jennifer hatte sich frischgemacht und ein rotes Kleid angezogen. Es war das einzige elegante Abendkleid, das sie mitgenommen hatte – eigentlich nur aus einem Verdacht
heraus, denn in dieser Gegend war es mehr als unwahrscheinlich, daß sie abends ausgehen würde. Sie lächelte bei dem Gedanken, daß es ihr sechster Sinn diesmal gut mit ihr gemeint hatte. Das Kleid hatte sie im Rahmen einer Studienaufgabe selbst entworfen und genäht. Sie war ein bißchen skeptisch bei dem Gedanken, ob es den prüfenden Augen der Gäste standhalten würde. Sie betrachtete sich eingehend im Spiegel und vollführte eine Drehung. Der rote feine Stoff umspielte schmeichelhaft ihre schlanke Figur und reichte fast bis zum Boden hinunter. Jennifer schrak ein wenig zusammen, als es an die Tür klopfte. »Herein!« rief sie leise, und die Tür wurde geöffnet. Es war Maria, die ihren Kopf durch den entstandenen Spalt hereinschob. »Ich möchte Sie nicht stören, Signorina«, sagte sie, »aber ich glaube, ich muß Ihnen noch etwas erzählen!« Jennifer sah ihr interessiert entgegen. »Sie stören natürlich nicht, Maria. Kommen Sie doch herein. Allerdings habe ich nicht sehr viel Zeit, ich werde in ein paar Minuten abgeholt.« »Ich sehe schon, Signorina«, lächelte die Hotelbesitzerin. »Das Kleid sieht sehr schön aus.« »Danke«, erwiderte Jennifer. Marias Lob zählte doppelt, weil sie nicht wissen konnte, daß das Kleid Jennifers eigenes Werk war. »Aber Sie wollten mir etwas erzählen. Worum geht es? Hat es mit den Spinnen zu tun?« Die Engländerin wunderte sich darüber, wie ruhig sie mittlerweile über diese Sache sprechen konnte. »Ich weiß es nicht«, begann Maria und schüttelte leicht den Kopf. »Aber gestern habe ich vergessen, Ihnen alles zu erzählen. Es geht nämlich um einen Gast.« »Hier aus dem Hotel?«
»Ja. Aber ich weiß wirklich nicht, ob diese Sache wichtig ist. Ich könnte mich genausogut täuschen.« »Erzählen Sie!« forderte Jennifer die Hotelbesitzerin auf. »Am selben Tag, an dem Sie angekommen sind, ist auch ein anderer Gast eingetroffen, der sich nicht vorher angemeldet hatte. Auch er wollte das Zimmer 17 haben.« Jennifer runzelte die Stirn. »Hat er Ihnen einen besonderen Grund dafür genannt?« »Nein. Und ich habe ihm das Zimmer auch nicht gegeben, weil Sie ja bereits eingezogen waren. Er hat daraufhin das Zimmer neben Ihnen genommen. Auch er war gestern nacht dabei, als wir Sie aus dem Zimmer geholt haben. Und heute morgen kam er wieder zu mir und fragte, ob er nun in Zimmer 17 umziehen könnte, jetzt, da das Zimmer doch wohl frei wäre.« »Wie bitte?« entfuhr es Jennifer. »Ja, Signorina. Ich habe es ihm selbstverständlich nicht erlaubt, denn ich möchte nicht, daß überhaupt noch jemand in diesem Zimmer wohnt. Nicht, nachdem diese Sache gestern abend mit Ihnen passiert ist!« Es klopfte abermals. Es war das Mädchen, das Jennifer sagte, daß unten an der Rezeption ein junger Mann auf sie wartete. »Das wird Mario sein«, sagte Jennifer und bat dem Mädchen, ihm auszurichten, daß sie gleich herunterkommen würde. Dann wandte sie sich wieder an die Hotelbesitzerin. »Eines haben Sie mir noch nicht gesagt, Maria. Wer ist dieser Gast, der unbedingt in mein altes Zimmer will?« »Es ist der Mann mit dem schmutzigen weißen Sommeranzug. Er nennt sich Signore Paresa!«
*
»Sie sehen wirklich bezaubernd aus«, sagte Signora Argenti und küßte Jennifer galant die Hand. »Mein Sohn hat wirklich nicht übertrieben. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Marios Vater war ein gutaussehender Mann in den Fünfzigern. Er trug einen eleganten schwarzen Abendanzug. Sein Haar, dessen Schläfen schon mit silbernen Strähnen durchwoben waren, war über der hohen Stirn zurückgekämmt. Er blickte die junge Engländerin freundlich an, und es schien, als dachte er in diesem Moment schon an eine bevorstehende Hochzeit. »Ich freue mich auch«, gab Jennifer etwas schüchtern zurück und warf einen hilfesuchenden Blick zu Mario, der neben ihr stand. Er lächelte ihr zu und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, daß sie seinen Vater nun einmal so nehmen sollte, wie er war. »Sie müssen unbedingt meine Frau kennenlernen«, sagte Signore Argenti nun und zog Jennifer mit sanfter Gewalt hinter sich her. Auf steinernen Treppenstufen gelangten sie in den Garten vor dem prächtigen Landhaus. Die Rasenfläche war mit Dutzenden von brennenden Fackeln geschmückt, die die Szenerie in flackernde Schatten hüllten. Scheinbar wahllos standen Stühle und Tische herum, an denen nur wenige Gäste saßen. Die meisten standen vor dem großen Holzkohlegrill an dem kleinen, künstlich angelegten Teich. Auf der Wasseroberfläche schwammen einige Schwimmkerzen. Von der hellroten Glut des Grills stieg Rauch auf, und ein appetitlicher Duft von gebratenem Fleisch zog durch die Luft. Weiter hinten vor der Terrasse war noch ein Stand, an dem eine Unzahl von Flaschen und Gläsern aufgebaut waren. Ein Hausdiener stand dahinter bereit, um Nachschub an Eis aus
dem Haus zu holen oder Getränke je nach Geschmack zu mixen. Signora Argenti war ebenfalls eine Frau in den Fünfzigern. Sie hatte ein langes, weißes Abendkleid an und umarmte Jennifer spontan. Sie war eine Seele von Mensch und freute sich offenbar ebenso wie ihr Mann über Jennifers Erscheinen auf der Grillparty. Jennifer verstand sich mit dem Ehepaar auf Anhieb. Sie unterhielt sich eine ganze Zeitlang mit den beiden, bis Mario sie schließlich zum Grill entführte. Die Filetsteaks schmeckten hervorragend und waren ausgezeichnet gewürzt. Die dazugehörende Spezialsoße war sehr scharf, so daß Mario sich schließlich auf die Suche nach Getränken machte. Er kam zurück mit zwei großen Gläsern Longdrinks, in denen große Eisstücke schwammen. »Sei vorsichtig, Jenny«, meinte er, nachdem er ihr ein Glas in die Hand gedrückt hatte. »Diese Drinks schmecken meist nur erfrischend, aber sie enthalten eine Menge Alkohol.« Jennifer trank einen Schluck, dann nickte sie zustimmend. »Schmeckt wirklich gut. Kaum zu glauben, daß dabei so viel Hochprozentiges verwendet wurde.« Sie suchten sich eine stille Ecke im Garten und setzten sich auf eine Hollywoodschaukel, die im Schatten von ein paar Bäumen verborgen lag. Jennifer bewunderte die Villa, die Mario und seine Eltern bewohnten. Es war einer dieser flachen und verwinkelten Bungalows, von denen man meistens immer nur träumte. »Es ist wirklich sehr schön hier«, bestätigte Mario auf eine entsprechende Frage. »Unsere Agentur liegt in Neapel, und dort ist rund um die Uhr etwas los. Deshalb genieße ich die Ruhe, die wir hier draußen haben, um so mehr.« Jennifer nickte stumm und trank einen weiteren Schluck. Mario hatte recht gehabt. Sie spürte bereits, wie ihr der
Alkohol leicht in den Kopf stieg. Sie stellte das Glas ab und lehnte sich zurück. Ihre Schulter berührte die von Mario, und Jennifer mußte sich eingestehen, daß sie es genoß, seinen Körper zu spüren. Die Abendluft war noch immer sehr warm. Vom Haus her erklang leise klassische Musik. Sie bildete den richtigen Hintergrund für eine angenehme Nacht. »Hast du es schon bereut, hierhergekommen zu sein?« fragte Mario nach einer Weile. Jennifer schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz bestimmt nicht!« »Und ich hatte schon befürchtet, daß du dich hier zu Tode langweilst!« »So ein Unsinn. Die Gäste sind wirklich sehr nett. Jedenfalls die, die ich kennengelernt habe.« Sie sah Mario tief in die Augen. »Und außerdem habe ich doch noch dich!« Nach diesen Worten nahm Mario sie plötzlich in seine Arme und preßte sie fest an sich. »Das hast du wunderschön gesagt, Jenny«, flüsterte er dabei in ihr Ohr, und anschließend vereinigten sich ihre Lippen zu einem innigen Kuß. Jennifer zitterte. Noch nie zuvor hatte sie ein Mann so geküßt, sanft und zärtlich und doch auch gleichzeitig leidenschaftlich und erregend. Die Welt um Jennifer schien sich in nichts aufzulösen, es gab nur noch Mario und sie. Doch dann – wie aus weiter Ferne – vernahm sie plötzlich ein Räuspern. Die Engländerin löste sich hastig aus Marios Armen und drehte sich um. Es war Marios Vater, der vor der Hollywoodschaukel stand und wohlwollend auf die beiden hinuntersah. Jennifer errötete ein wenig und blickte ihn unsicher an. Doch Signore Argenti schenkte ihr ein Lächeln, als wollte er damit sagen, daß er ihre Gefühle vollauf verstand. Dann wandte er sich an Mario.
»Ich muß dich einen Moment stören. Die Bertonis sind gerade angekommen. Du weißt doch, das sind die Besitzer der Textilfabrik, die demnächst für uns arbeiten wollen. Sie möchten dich unbedingt kennenlernen!« Mario wandte sich zu Jennifer. »Du entschuldigst mich doch sicher einen Moment, Jenny?« »Aber sicher. Ich komme auch einen Moment alleine klar.« »Das müssen Sie aber nicht«, erwiderte Signore Argenti. »Wenn Sie möchten, bitte ich Sie um einen Tanz!« Erst jetzt bemerkte Jennifer, daß die Musik gewechselt hatte Sie sah, daß ein Teil des Rasens als Tanzfläche benutzt wurde. Es waren einige Pärchen, die sich dort im sanften Rhythmus der Musik bewegten. »Gerne«, antwortete Jennifer und stand auf. Marios Vater führte sie am Arm zur Tanzfläche. Unwillkürlich ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß sie sich Marios Vater sehr gut als Schwiegervater vorstellen konnte.
*
»Was ist das nur für ein bezauberndes Kleid, das Sie da anhaben!« rief eine Frau zu Jennifer. Neben ihr stand offenbar ihr Ehemann, und beide blickten mit offensichtlichem Wohlgefallen zu Jennifer herüber. Die Engländerin hatte das Ehepaar bereits früher am Abend gesehen, war ihnen vielleicht auch vorgestellt worden – wie so vielen neuen Menschen heute nacht. Aber die Namen hatte sie kaum im Gedächtnis behalten können. »Danke«, erwiderte sie artig.
»Nun seien Sie doch nicht so bescheiden«, sagte der Mann mit französischem Dialekt. »Bei dem Kleid handelt es sich wirklich um ein Meisterwerk!« »Wirklich!« bestätigte die Frau begeistert und klatschte etwas affektiert in die Hände. »Was gäbe ich dafür«, fuhr nun der Mann weiter fort, »solch ein Kleid in meiner Kollektion zu haben! Sicherlich ist Ihre Agentur sehr erfolgreich?« Jennifer lachte. »Ich habe gar keine Agentur. Ich studiere noch. Das Kleid ist lediglich eine Arbeit für mein Studium gewesen.« »Sie haben bestimmt die besten Noten bekommen«, vermutete der Mann. »Nun ja«, schmunzelte Jennifer. »Die Prüfer haben es für recht gut befunden.« »Recht gut, das ist eine Untertreibung!« »Du hast recht«, stimmte ihm seine Frau zu. »Sagen Sie«, fragte der Mann. »Haben Sie nicht Lust, für uns zu arbeiten? Nach Ihrem Studium oder auch sofort. Wer solche Kleider entwirft, hat bestimmt eine große Karriere vor sich.« Jennifer schwieg halb überrascht, halb geschmeichelt. Sie wußte nicht, ob die Bewunderung des Ehepaars echt oder nur gespielt war. »Wollen Sie nicht bei uns anfangen? In unserer Entwurfsabteilung haben wir eine interessante Stelle frei.« Der Mann unterbrach sich für einen Augenblick. »Aber entschuldigen Sie, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Duran, Pierre Duran. Und das ist meine Frau Isabell.« »Jennifer Courtland«, stellte sie sich vor. »Mir gehört eine Mode-Agentur in Frankreich«, sagte der Mann. »Wir beschäftigen uns besonders mit eleganter
Abendgarderobe. Ich könnte mir vorstellen, daß eine junge, begabte Frau wie Sie gerade richtig bei uns aufgehoben wäre.« »Jetzt versuch doch nicht, uns unsere Neuentdeckung sofort abzuwerben, Pierre«, unterbrach Marios Vater gutgelaunt, der sich fast lautlos genähert hatte und Jennifer aus ihrer Verlegenheit befreite. Er trat neben sie und legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schulter. »Schließlich haben Mario und ich Jennifer zuerst entdeckt!« »Ach, so ist das«, meinte die hübsche Engländerin mit gespielter Entrüstung. »Ihnen ging es von Anfang an nur um eine neue Kraft in Ihrer Agentur.« »Genauso ist es«, bestätigte Signore Argenti augenzwinkernd und nickte dem Ehepaar freundlich zu. »Glaub ihm kein Wort, Jenny!« rief Mario, der sich ebenfalls näherte und ihr entgegenlachte. »Mein Vater hat die Angewohnheit, alle Dinge sofort von der praktischen Seite her zu sehen!« »Natürlich«, bestätigte Signore Argenti. »Wie, glaubst du, habe ich die Agentur sonst aufgebaut? Und wer solch gelungene Kleider entwirft wie Sie, Jennifer – ich darf Sie doch so nennen? –, verdient es, eine Chance zu bekommen.« »Noch ist es ja nicht soweit«, sagte sie. »Ich habe noch ein Studienjahr vor mir, und wer weiß, ob ich die Prüfung überhaupt schaffen werde.« »Das dürfte für Sie doch nun gewiß kein Problem sein!« meinte Signore Duran sofort. Jennifer errötete, auf soviel Schmeicheleien war sie nicht gefaßt gewesen. Und noch immer war sie sich unsicher, ob man es ernst mit ihr meinte. All das, was sie in den letzten Stunden auf dieser Party erlebt hatte, erschien ihr mehr und mehr wie ein schöner Traum. Und Träume hatten es nun einmal an sich, jeden Augenblick vorüber zu sein. Doch dieser hielt weiter an…
»Ich würde mich freuen, wenn Sie in den nächsten Tagen vielleicht einmal die Gelegenheit finden wurden, unsere Agentur in Neapel zu besuchen«, erklärte Marios Vater. Als Jennifer nicht sofort antwortete, fügte er hinzu: »Natürlich nur, wenn Sie es möchten!« »Ich habe wirklich nichts dagegen«, sagte sie schnell. »Es kommt nur alles plötzlich so… so überraschend für mich!« »Nun überfordert sie doch nicht sofort mit diesem Kram«, mischte sich Mario ein. Er kam näher und drückte sie einen Moment schützend an sich. »Ich hoffe doch, daß du in erster Linie an mir interessiert bist?« »Gab es da je irgendwelche Zweifel?« fragte Jennifer ironisch und gab ihm einen kurzen Kuß. »Jedenfalls nicht in den beiden Tagen, die wir uns jetzt kennen. Komm, laß uns etwas tanzen!« Er zog Jennifer sanft mit sich in Richtung der Tanzfläche. Sie wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil, sie war froh, daß sie endlich wieder ein paar Augenblicke allein mit Mario sein konnte – wenn auch um sie herum viele andere Menschen waren. Doch für sie hatte Jennifer keinen Blick übrig.
*
»Und du glaubst wirklich, daß dieser ungepflegte Mann in dem weißen Sommeranzug für die ganze Geschichte mit dem Fluch verantwortlich ist?« fragte Mario, nachdem ihm Jennifer erzählt hatte, was sie heute am frühen Abend von der Hotelbesitzerin erfahren hatte. Die junge Engländerin zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Es ist sicherlich falsch, einfach einen der Gäste zu verdächtigen. Aber der Kerl hat sich wirklich seltsam benommen.« »Vielleicht steckt er ja tatsächlich hinter der ganzen Sache. Als ich gestern abend vom Hotel weggefahren bin, da war mir, als hätte ich sein Gesicht in der letzten Zeit schon einmal irgendwo gesehen.« »Und wo?« »Wenn ich das nur wüßte! Ich komme einfach nicht darauf.« »Was soll ich jetzt tun?« »Im Zweifelsfall würde ich dir empfehlen, hier bei uns zu bleiben und zu warten.« »Nein«, erwiderte Jennifer entschlossen. »Ich kann Maria nicht im Stich lassen. Es würde so aussehen, als würde ich fliehen – wie die anderen Gäste auch! Außerdem, worauf sollte ich warten?« »Zum Beispiel darauf, daß ich eine Nachricht bekomme. Ich habe eine Personenbeschreibung dieses Mannes an einen Freund weitergegeben, der in Neapel in einem Pressebüro arbeitet. Wenn dieser Kerl irgendwo bekannt sein dürfte, dann werde ich es erfahren!« »Aber das kann doch noch Tage dauern?« »Vielleicht. Andererseits erwarte ich gleich morgen früh einen Anruf von ihm. Er arbeitet heute nacht und bereitet irgendwelche Presseinformationen vor. Wenn er ausgeschlafen hat, wird er mich bestimmt anrufen.« »Aber so lange möchte ich nicht hierbleiben«, sagte sie. In der Tat fühlte Jennifer sich mittlerweile sehr müde. Sie wußte nicht, wie lange sie getanzt hatte, aber ihre Füße taten ihr schon ein bißchen weh. Ihre hochhackigen Schuhe hatten bestimmt einen gehörigen Teil dazu beigetragen. Dennoch bereute Jennifer es nicht, hierhergekommen zu sein. Es war ein herrlicher Abend gewesen. Sie hatte sich gut
amüsiert, hatte interessante Leute kennengelernt, die meist aus der Modebranche kamen – und nicht zuletzt war da ja auch noch Mario. »Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich müde. Und es ist ja auch schon sehr spät. Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich jetzt ins Hotel zurück.« »Ich bringe dich natürlich sofort nach Hause«, bot er an. »Daraus wird wohl im Moment nichts werden«, unterbrach Marios Vater, der sich erneut genähert hatte. »Mario, du kennst doch noch den Inhaber der Modefabrik im Süden. Er wird auch gleich nach Hause fahren, möchte aber vorher noch unbedingt mit dir reden.« Mario sah unsicher zu Jennifer herüber. »Oh, macht euch um mich keine Sorgen«, sagte sie und befreite diesmal ihren Freund aus der Verlegenheit. »Ich komme auch mit einem Taxi nach Hause.« »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Signore Argenti. »Ich werde Sie von einem unserer Bediensteten nach Hause bringen lassen. Keine Widerrede! Um diese Uhrzeit bekommen Sie außerdem kaum mehr ein Taxi.« Das mochte stimmen. Es war bereits mitten in der Nacht, kurz nach zwei Uhr. Jennifer hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Nur zu gern nahm sie das Angebot an. »Und du bist mir wirklich nicht böse?« fragte Mario und nahm sie noch einmal in den Arm. Sie sahen sich tief in die Augen. »Bestimmt nicht«, erklärte Jennifer. »Außerdem sehen wir uns in den nächsten Tagen noch oft genug.« »Das hoffe ich doch«, erwiderte er. Sie küßten sich zum Abschied, bevor sie in die elegante schwarze Limousine stieg.
*
Jennifer kam sich fast ein bißchen wie eine Märchenprinzessin vor, als sie in dem großen Wagen über die gewundene Küstenstraße nach Hause gebracht wurde. Schließlich tauchten vor ihr die schwarzen Umrisse des Hotels im Nachthimmel auf. Die drei Pinien sahen im bleichen Mondlicht seltsam fahl aus. Fast schon gespenstisch, dachte Jennifer, und ein Frösteln zog trotz der warmen Nacht durch ihren Körper. Doch sie zwang sich, an etwas anderes zu denken als an die bösen Erinnerungen, die sie mittlerweile mit dem Haus verband. Sie bedankte sich bei dem Fahrer dafür, nach Hause gebracht worden zu sein, und er wünschte ihr eine gute Nachtruhe. Langsam stieg sie die Stufen hinauf zum Eingang. Sie drehte sich noch einmal um und blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. In das sich entfernende Geräusch des Motors mischte sich für einen Lidschlag ein helles Kichern. Jennifer zuckte zusammen und blickte sich suchend in der Dunkelheit um. Doch alles blieb ruhig. Sie beeilte sich, in die gedämpft beleuchtete Halle mit der Rezeption zu kommen. Das Licht vermittelte ihr etwas mehr Sicherheit, wenn sie sich auch einzureden versuchte, daß sie sich das Kichern nur eingebildet hatte. Ihre Nerven spielten ihr ganz einfach einen Streich. Jennifer sah sich in der Halle um, als befürchtete sie, den Mann in dem weißen Sommeranzug hier irgendwo zu entdecken, wie er in einem der hochlehnigen Polstersessel saß und auf sie gewartet hatte, um sie wieder anzustarren. Aber natürlich war um diese Zeit niemand mehr liier unten.
Sie vergewisserte sich, daß sie ihren Zimmerschlüssel dabei hatte – sie wohnte jetzt in Zimmer Nr. 11 –, und ging hinauf in den ersten Stock.
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»Alles in Ordnung?« fragte Mario den Bediensteten, der gerade den schwarzen Wagen geparkt hatte und ausgestiegen war. »Was sollte nicht in Ordnung sein?« fragte dieser verwundert. »Ja, was sollte schon nicht in Ordnung sein?« wiederholte Mario etwas ratlos und ging wieder zurück in den Garten. Ohne Jennifer machte ihm die Party, die sowieso dem Ende zuging, keinen sonderlichen Spaß mehr. Aber das war nicht die einzige Ursache für seine Unruhe. Der Mann in dem weißen Sommeranzug ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Doch er kam nicht darauf, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Es war als wurde er sich jeden Augenblick entsinnen, doch jedesmal, wenn er einen Zipfel seiner Erinnerung gefaßt hatte, entzog sie sich ihm wieder. Aus irgendeinem Grund glaubte er zu wissen, daß Jennifer in Gefahr war. »Mario«, rief ihm sein Vater von der anderen Seite des Gartens zu und winkte mit dem Arm. »Gut, daß ich dich sehe. Fast hatte ich schon gedacht, daß du ins Bett gegangen wärst.« »Was ist denn?« »Es hat jemand für dich angerufen. Er ist noch in der Leitung.« Mario eilte ins Haus und hielt den Hörer an sein Ohr. »Wer ist dort? Ach, du bist es, Ennio!« Es war sein Freund aus dem Pressebüro in Neapel. »Was gibt es so Dringendes,
daß du jetzt noch anrufst? Hast du etwas über den Kerl, den ich dir beschrieben habe, herausbekommen?« Während Ennio ihm erzählte, was er herausgefunden hatte, verdüsterte sich Marios Gesicht von Sekunde zu Sekunde. Und auf einmal war auch seine Erinnerung wieder da. Er wußte plötzlich, woher er diesen Mann kannte! »Danke, Ennio, daß du mich sofort angerufen hast. Du hast einen Gefallen bei mir gut.« Er legte auf und griff sich seine Jacke von der Garderobe. »Ich muß noch einmal dringend weg!« rief er seinem Vater zu, während er an ihm vorbei zu seinem Cabrio eilte. »Jetzt um diese Zeit noch?« wunderte sich Signore Argenti. »Hast du nicht zuviel getrunken? Was ist passiert?« »Später!« rief er, während er den Zündschlüssel herumdrehte. Mit durchdrehenden Reifen lenkte er den Wagen auf die Straße. Er mußte sich beeilen. Seine Vermutung war zur Gewißheit geworden. Jenny war in Gefahr! Vielleicht sogar auch noch jetzt, da sie das Zimmer 17 verlassen hatte!
*
So müde sie auch war, aus irgendeinem Grund konnte Jennifer nicht einschlafen. Sie lag im Bett und starrte hinauf zur Decke. Vielleicht lag es an all den neuen Bekanntschaften, die sie heute gemacht hatte, auf jeden Fall war ihr Kopf noch viel zu beschäftigt, um ihr ein Hinübergleiten in den Schlaf zu gestatten. Sie knipste die kleine Nachttischlampe an, um noch ein bißchen in ihrem bereits angefangenen Roman lesen zu können.
Sie überlegte, wo sie ihn hingelegt haben könnte, und in diesem Augenblick fiel ihr ein, daß Mamma am Morgen ihre Sachen herübergebracht hatte. Die Bücher und Romane waren nicht dabei gewesen. Und in diesem Moment fiel ihr auch ein, wo sie nur sein konnten: in der Schublade ihres Nachtschrankes in Zimmer Nr. 17! Die Köchin mußte sie einfach übersehen haben, als sie die Sachen herübergebracht hatte. Für einen Lidschlag empfand Jennifer Panik bei dem Gedanken, wieder in ihr altes Zimmer zurückzukehren. Doch dann sagte sie sich, daß an einem leerstehenden Zimmer eigentlich nichts Furchterregendes sein konnte. Oder verwandelte sie sich langsam auch in eine dieser abergläubischen Frauen? Und außerdem dürfte das Zimmer abgeschlossen sein, jetzt, da niemand mehr in ihm wohnte. Jennifer beschloß, zumindest unten bei der Rezeption nachzusehen, ob der Schlüssel noch am Brett hing. Jetzt war es Nacht, und es würde bestimmt niemanden stören, wenn sie sich überzeugte. Sie schlüpfte in ihre Sandalen und zog sich eine leichte Jacke über. Man mußte sie ja nicht unbedingt in ihrem dünnen, fast durchsichtigen Nachthemd sehen, falls sich um diese Zeit noch jemand nicht in seinem Zimmer aufhalten sollte. Unten an der Rezeption entdeckte sie, daß der Schlüssel für Zimmer 17 erwartungsgemäß fehlte. Sie hatte sich auch nicht vorstellen können, daß Maria den Schlüssel zurück an das Brett gehängt hatte. Die Hotelbesitzerin wollte bestimmt nicht, daß noch jemand das Zimmer betrat. Dann muß ich Maria eben morgen noch einmal nach dem Schlüssel fragen, dachte sie und ging wieder hinauf in den ersten Stock. Als sie vor ihrer Zimmertür angekommen war, sah sie den dunklen Flur entlang, und fast war es ihr so, als
käme aus dem Spalt zwischen Tür und Boden ein Lichtschein aus ihrem alten Zimmer – aus Zimmer 17. Langsam, wie von einem inneren Zwang getrieben, näherte sie sich der Tür. Schritt für Schritt, immer in der Erwartung, daß sie jeden Augenblick aufgestoßen wurde. Aber nichts geschah. Und auch hinter der Tür war kein Geräusch zu vernehmen. Jennifer ging in die Knie, vielleicht würde sie durch das Schlüsselloch mehr sehen. Sie richtete sich abrupt wieder auf, als sie entdeckte, daß der Schlüssel von außen steckte. Unliebsame Erinnerungen tauchten in ihr auf, sie wurde an die Situation erinnert, in der sie sich gestern nacht befunden hatte. Ihre Lippen bebten, als sich ihre Finger um den Schlüssel legten. Langsam drehte sie den metallenen Schaft herum, die Tür war tatsächlich abgeschlossen gewesen. Sie lauschte einen Moment, als erwartete sie, den- oder diejenigen auf sich aufmerksam gemacht zu haben, die sich im Innern des Raumes befanden. Doch das war unsinnig, denn dann wäre nicht von außen abgeschlossen gewesen. Sie drückte die Klinke hinunter und gab der Tür einen kleinen Stoß. Durch den sich vergrößernden Spalt fiel das grelle Licht der Deckenlampe auf ihr Gesicht, und Jennifer wich entsetzt ein paar Schritte zurück, als sie vor sich die vielen krabbelnden Spinnen sah, die den Boden bedeckten. Unfähig, ihren Blick abzuwenden, starrte sie die reglose Gestalt des Mannes an, der verkrümmt auf dem Bett lag und die toten Augen weit aufgerissen hatte. Es war der Gast in dem weißen Sommeranzug, und selbst im Tod schien er Jennifer mit seinen Blicken belästigen zu wollen. Hinter dem dreckigen Kragen seiner Jacke erschien der schwarze Körper einer Spinne, die über sein Gesicht krabbelte. Die ersten Spinnen, die durch den offenen Türspalt auf den Flur krochen, bemerkte Jennifer nicht. Sie starrte voller
Entsetzen auf den Toten, und aus ihrem Mund löste sich ein Schrei, der grell durch den Flur schallte…
*
Mario überblickte die Situation sofort. Er war die Treppe zum ersten Stock emporgegangen und kam sich bereits etwas albern vor, als er hörte, wie ruhig es im Hotel war. Was sollte er Jennifer sagen, warum er um diese Nachtzeit noch hierherkam? Vielleicht hatte er bis morgen früh warten sollen. Doch dann hörte er den Schrei, der nur von der jungen Engländerin stammen konnte. Schnell rannte er zu Jennifer, die immer noch durch den Türspalt blickte und offenbar nicht in der Lage war, sich von der Stelle zu rühren. »Mein Gott!« stieß Mario hervor, als er sah, was sie da so erschreckte. Mit dem Fuß stieß er zwei der schwarzen Spinnen, die sich auf dem Flur befanden, ins Zimmer zurück und schloß danach die Tür schnell wieder. Für den Mann, der reglos auf dem Bett lag, konnte er im Augenblick nichts mehr tun. Er wandte sich an Jennifer und barg ihr schluchzendes Gesicht an seiner Brust, streichelte ihr fürsorglich über das Haar. »Ganz ruhig, Jenny. Ich bin da. Es kann jetzt nichts mehr passieren.« Die ersten Schritte näherten sich. Stimmengemurmel war zu hören. Bei den ersten, die nun ankamen, befand sich auch Maria. Die Hotelbesitzerin sah übernächtigt aus. Sie schien in den letzten Tagen kaum Schlaf gefunden zu haben.
Mario griff hinter sich, drehte den Schlüssel im Schloß herum und drückte ihn der Hotelbesitzerin in die Hand, ehe die anderen Gäste zur Stelle waren. »Rufen Sie die Polizei«, sagte er leise auf Italienisch, um die herumstehenden Personen nicht noch mehr zu verängstigen. Es würde sich ohnehin schnell genug herumsprechen, was hier geschehen war. »Komm«, sagte er anschließend sanft zu Jennifer. »Ich bringe dich in dein Zimmer.« Sie nickte schwach und machte einen zögernden Schritt nach vorne. Ihre Knie gaben nach, und sie wäre gestürzt, wenn Mario sie nicht aufgefangen hätte. Sie zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig hob er sie hoch, und wie ein kleines Kind, das ins Bett gebracht wird, trug er sie zu ihrem Zimmer. Hinter ihm versuchte Maria, die anderen Gäste zu beruhigen und sie zu veranlassen, wieder ins Bett zu gehen. »Es ist nichts passiert«, sagte die Hotelbesitzerin, und obwohl sie tatsächlich noch nicht wußte, was in jenem Zimmer vorgefallen war, wußte sie doch, daß sie log.
*
Mario hatte Jennifer am nächsten Morgen überredet, einen kräftigen Schluck Cognac in ihren Kaffee zu tun. Eine wohlige Wärme breitete sich in Ihrem Magen aus. Es war ein bißchen unangenehm und ungewohnt, aber es gab ihr das Gefühl, als würde sie mit allem Unangenehmen, was nun noch auf sie zukommen würde, fertig. Da war erst einmal die Befragung der Polizei, die unten an der Rezeption auf sie wartete. Schließlich war sie diejenige gewesen, die den Toten aufgefunden hatte.
Daran, daß er tot war, gab es keinen Zweifel mehr. Jedenfalls hatte Mario ihr das erzählt, als er ihr das Frühstück hereinbrachte. Die Polizisten hatten Rücksicht auf ihren Zustand genommen und gewartet, bis sie zumindest einigermaßen ausgeschlafen hatte. Für den Toten konnte jetzt sowieso niemand mehr etwas tun. Mario hatte die Nacht im Hotel verbracht, schließlich mußte jemand der Polizei Auskünfte erteilen. Die Beamten hatten das Zimmer durch das Schlüsselloch mit einem Gas vollgepumpt, ehe schließlich der erste von ihnen mit einer Gasmaske ausgerüstet hineingegangen war, um das Fenster zu öffnen. Es waren fast fünfzig Spinnen, die schließlich eingesammelt wurden. Und die vorläufige Todesursache stand auch schon fest. Der Mann war an unzähligen Giftbissen gestorben, die ihm die Taranteln zugefügt hatten. Er mußte sich eine Zeitlang gegen sie gewehrt haben, denn das ganze Zimmer war verwüstet, die Tapeten teilweise heruntergerissen. »Sag mir eines, Mario. Warum bist du heute nacht ins Hotel zurückgekehrt? Wie kam es, daß du rechtzeitig hier warst?« »Ich konnte natürlich nicht wissen, daß du versuchen würdest, in dein altes Zimmer zurückzukehren, und ich konnte auch nicht wissen, was sich dort abgespielt hat. Aber ich habe erfahren, wer dieser angebliche Signore Paresa war – nämlich der zweite Bankräuber!« »Aber das ist doch nicht möglich. Maria hat gesagt, daß er noch ein paar Jahre abzusitzen hat!« »Er wurde früher entlassen«, meinte Mario. »Wegen guter Führung.« »Und nun kam er hierher zurück, an den Ort des Verbrechens. Vielleicht, um die Beute zu holen, die hier irgendwo liegen konnte.« Jennifer schüttelte den Kopf. »Und dabei hatte alles so schön gepaßt. Wenn ich gewußt hatte, daß
er der zweite Bankräuber ist, hätte ich die Hand dafür ins Feuer gelegt, daß er derjenige war, der mich vertreiben wollte.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Und nun hat ihn der Fluch ereilt…« »Du glaubst plötzlich an diese Geschichte?« fragte Mario. Jennifer zuckte die Schultern. Sie war ratlos.
*
Die Unterhaltung mit der Polizei hatte nichts Neues ergeben. Jennifer hatte dem Polizisten, der glücklicherweise einigermaßen ihre Sprache verstand, noch einmal alles erzählt, was in der letzten Nacht passiert war. Viel war es nicht, schließlich wußte man schon alles von Mario, der nur ein paar Sekunden später eingetroffen war. Oben im Flur zeigte sie dem Beamten, wie sie das Zimmer geöffnet hatte. »Weiß man schon, wie die Spinnen in das Zimmer gekommen sind?« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Sie können durch das Fenster gekommen sein, das offengestanden hat. Und hinter dem Kleiderschrank haben wir eine Lücke in der Wand entdeckt Nebenan liegt eine Kleiderkammer. Auch dort war das Fenster offen gewesen. Aber das ist alles unwahrscheinlich. Was gibt es nur in diesem Zimmer das diese Viecher angelockt hat? Und was gibt es hier, an dem der Bankräuber so interessiert war?« Er wandte sich an Jennifer. »Sie kennen das Zimmer doch genau. Können Sie sich einen Grund vorstellen?« Sie blickte sich etwas ratlos in dem Zimmer um, das nach wie vor chaotisch aussah. Hinter den heruntergerissener Tapeten
waren seltsame Zeichnungen ein Wirrwarr aus dicken und dünner Strichen, die jedoch keinen Sinn ergaben. »Haben diese Muster vielleicht etwas damit zu tun?« »Das glaube ich nicht. Anfangs haben wir vermutet, es handle sich um ein, Art Schatzkarte. Doch solange mein Kollegen und ich uns auch den Kopf zerbrochen haben, wir konnten keinen Sinn in diesen Linien und Mustern entdecken. Vielleicht hat der zweite Bankräuber ja etwas damit anzufangen gewußt. Wenn dem so war, hat er sein Wissen mit ins Grab genommen.« Der Polizist tippte kurz an seine Dienstmütze. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Auskünfte, Signorina. Ich schätze, ich habe hier fürs erste nichts mehr verloren.« »Einen Augenblick noch«, mischte sich da plötzlich Mario ein. »Was ist mit dem dritten Bankräuber von damals? Vielleicht weiß er etwas mit diesen Zeichnungen anzufangen?« »Derjenige, der in die Nervenheilanstalt eingeliefert wurde?« »Genau den meine ich.« »Ich glaube nicht, daß er viel dazu sagen kann. Man hat sicherlich schon damals, als sich diese schrecklichen Vorfälle hier ereignet haben, versucht, etwas aus ihm herauszubekommen. Aber ich kann mich ja einmal vom Revier aus erkundigen.« Dann verabschiedete sich der Polizist und ließ die beiden zurück. Jennifer umklammerte Marios Arm. Seine Nähe gab ihr die Wärme, die sie jetzt benötigte. Sie war glücklich, ihn kennengelernt zu haben. Ohne ihn hätte sie all die schrecklichen Geschehnisse hier kaum verkraften können, ohne den Verstand zu verlieren. Und vielleicht war er ja insgeheim auch der Grund, warum sie so lange hiergeblieben war und nicht nach den ersten Vorfällen wieder ihre Koffer gepackt hatte.
»Komm«, sagte sie. »Laß uns erst hier weggehen. Ich ertrage es nicht, noch länger in diesem Raum zu sein.« Mario nickte stumm, und zusammen gingen sie hinüber zu ihrem Zimmer. Auf dem Flur kam ihnen Mamma entgegen. »Sagen Sie«, fragte Jennifer, »wo ist eigentlich Maria?« »Sie hat sich ein wenig hingelegt, Signorina. Sie hat zu viele Sorgen gehabt in den letzten Tagen, und es wäre schön, wenn sie endlich ein bißchen Schlaf findet. Sie hat ihn bitter nötig.« »Sind weitere Gäste abgereist?« »O ja, Signorina. Bis auf zwei Ehepaare ist das Hotel leer. Alle anderen sind heute morgen abgereist. Ich glaube nicht, das es dieses Hotel noch lange geben wird. Dazu ist zuviel passiert. Und die Leute in dieser Gegend reden sehr viel. Das macht alles noch schlimmer!« »Aber die ganze Sache ist doch jetzt, da es auch den zweiten Bankräuber erwischt hat, vorbei«, warf Jennifer ein. »Wenn der Fluch die Gangster bestrafen sollte, dann hat er doch eigentlich seinen Sinn erfüllt. Oder was glauben Sie?« Mamma kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich? Ich glaube gar nichts, Signorina!« Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ihre Brust. »Aber mein Gefühl sagt mir etwas anderes…« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie weiter. Jennifer sah ihr nach, bis sie am Ende des Flures verschwunden war, und konnte ein Frösteln nicht verhindern. Sie drückte sich näher an Mario. »Wie sie schon sagte, die Leute in der Gegend hier sind sehr abergläubisch«, sagte er. »Und zu ihnen gehört wohl auch die Köchin. Du solltest dich durch ihr Gerede nicht zu sehr verunsichern lassen, Jennifer.« Sie sagte nichts und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.
»Ich habe eine gute Idee«, fuhr Mario fröhlich fort in dem Versuch, sie aufzumuntern. Er wartete, bis sie zu ihm hochblickte. »Und?« fragte sie leise. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wir verbringen den Nachmittag bei mir zu Hause. Da kannst du dich ausruhen und entspannen.« Seine gute Laune war ansteckend. »Gerne«, nickte Jennifer und fühlte sich schon wieder ein bißchen besser.
*
Marios Eltern waren nach Neapel gefahren und würden erst gegen Abend zurückkehren. Die beiden waren allein. Im Garten konnte sich Jennifer im Schatten der großen Bäume ungestört ausruhen und sogar ein bißchen schlafen, ohne befürchten zu müssen, gleich einen Sonnenbrand zu bekommen. Und tatsächlich verschlief sie fast den gesamten Nachmittag. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten sie sehr mitgenommen. Als sie wieder aufwachte, stand die Sonne nur noch dicht über dem Horizont, und die Schatten waren lang geworden. Jennifer gähnte ausgedehnt und streckte sich wohlig, bevor sie sich auf den Rand der Liege setzte. Sie blinzelte gegen die untergehende Sonne zum Haus hinüber. Mario stand dort und winkte ihr freundlich zu. Mit zwei Gläsern in der Hand kam er kurz darauf zu ihr und drückte ihr eines davon in die Hand. »Nicht schon wieder Alkohol!« wehrte Jennifer ab. »Ich möchte gerne endlich einen klaren Kopf bekommen!«
»Wo denkst du hin?« erwiderte er. »Das ist Orangensaft mit Vanilleeis. Du hast doch bestimmt Durst. Und Spaghetti sind auch schon im Topf. So weit reichen meine Kochkenntnisse gerade noch!« Jennifer stellte später beim Essen fest, daß Mario untertrieben hatte. Die Spaghetti waren zwar einfach zubereitet, aber dafür hatte es die Soße in sich. Mario wollte einen trockenen Weißwein zum Essen servieren, doch sie blieb weiterhin beim Orangensaft, auch wenn dieser nicht ganz zum Essen paßte. Die mit Käse verfeinerte Säße machte schnell satt. Jennifer hatte Mühe, die gar nicht so üppig aussehende Portion zu schaffen. Später saßen sie dann zusammen draußen auf der Terrasse. Die Sonne war längst untergegangen, und nur noch ganz hinten am Horizont wurden ein paar spärliche Wolken von ihrem Licht glutrot angestrahlt, über ihnen schimmerten bereits die ersten Sterne, doch für sie hatte Jennifer keinen Blick übrig Ihr gefiel es heute abend viel besser als gestern auf der Grillparty. Es hatte nicht an den Gästen gelegen. Nein, sie waren alle sehr nett zu ihr gewesen, und der Abend würde ihr sicherlich auch lange in Erinnerung bleiben. Aber gestern hatte sie keine Gelegenheit gehabt, mit Mario alleine zu sein, und dieses Gefühl genoß sie jetzt. Eine ganze Weile hielten sie sich stumm umarmt, und nicht nur einmal trafen sich ihre Lippen zu einem innigen Kuß. Worte waren nicht mehr nötig bei diesen beiden Menschen, die wußten, daß sie einander liebten. »Ich kann es noch gar nicht richtig fassen«, meinte Jennifer später, und ihre Stimme klang verträumt. »Vor ein paar Tagen habe ich eigentlich an nichts anderes gedacht, als endlich einmal auszuspannen und meinen Urlaub zu genießen. Und heute kommt es mir so vor, als hatte sich plötzlich mein gesamtes Leben geändert.«
»Ich verstehe dich gut, Jenny, denn mir geht es ebenso.« Sie wurde plötzlich ernst. »Aber… hast du denn gar nichts dagegen, wenn ich in anderthalb Wochen wieder nach Hause fahre? Schließlich muß ich mein Studium beenden. Ich glaube, für meine Eltern, die mir das alles ermöglicht haben, würde sonst eine Welt zusammenbrechen.« »Keine Sorge«, beschwichtigte sie Mario mit sanfter Stimme. »Dein Studium ist sehr wichtig für dich, Jenny. Ich wäre der Letzte, der von dir verlangen wurde, daß du all das aufgibst, was du dir in den letzten Jahren erarbeitet hast. Und das ein Jahr vor deinem Abschluß.« »Aber… hast du denn gar keine Angst, daß wir uns dann wieder aus den Augen verlieren?« »Ein bißchen Angst habe ich schon«, gab er zu. »Aber wenn die Gefühle, die wir füreinander empfinden, so stark sind, daß wir unser Leben zusammen verbringen wollen, dann werden sie auch stark genug für ein Jahr sein.« »Ein Jahr kann sehr lang sein«, flüsterte Jennifer. Der Gedanke, bald so lange von Mario getrennt zu sein, stimmte sie traurig. »Aber wir werden uns bestimmt öfters wiedersehen. In sechs Wochen betreue ich bereits eine Ausstellung von unseren Modellen in London. Und ich kann alle England-Kontakte persönlich übernehmen. Ich werde mir dann immer gleich ein paar Tage frei nehmen, um so bei dir sein zu können. Vorausgesetzt, dir ist das recht?« »Noch so eine Frage, und ich verlasse dich sofort!« drohte Jennifer scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger. Ihre Traurigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Sie war sicher, daß ihre Liebe dieses Jahr der Trennung verkraften würde.
Mario hatte recht. Nur wenn eine Liebe stark genug war, Hindernisse zu überwinden, würde sie für ein gemeinsames Leben reichen.
*
Jennifer hatte schon ein etwas schlechtes Gewissen, als sie erst wieder spät nach dem Abendessen ins Hotel zurückgebracht wurde. Sie verabschiedete sich herzlich von Mario. »Paß auf dich auf«, sagte er schließlich. »Das werde ich.« Sie winkte dem roten Sportwagen hinterher, bis er außer Sichtweite war. Auf der Terrasse saßen in einer hinteren Ecke zwei Gäste und unterhielten sich leise. An einem anderen Tisch war Maria zu sehen, die offenbar irgendwelche Unterlagen ausfüllte. Jennifer setzte sich zu ihr. »Oh, Signorina Courtland, ich freue mich ja so, daß Ihnen nichts passiert ist.« »Schon gut, Maria. Ich habe Glück gehabt, daß Mario hierher gekommen ist. Aber lassen wir doch das Thema.« »Sie haben recht, Signorina. Die ganze Sache ist so schrecklich, wenigstens wir sollten die Trübsal einen Moment vergessen. Trinken Sie einen Schluck Wein mit mir?« Jennifer wollte im ersten Augenblick ablehnen, stimmte dann aber doch zu, weil sie ahnte, daß die Hotelbesitzerin in diesen Stunden gerne mit jemandem reden wollte. Maria holte zwei Gläser und eine Flasche weißen, trockenen Wein. Anschließend unterhielten sie sich über die verschiedensten Dinge. Maria erkundigte sich, wie es Jennifers Eltern ging. Beide vermieden sie sorgfältig, die Sprache wieder auf den Fluch oder die Spinnen zu bringen.
Schließlich stand Maria auf. »Ich muß morgen früh aufstehen. Wir haben zwar nur wenig Gäste, aber auch die wollen versorgt sein. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.« »Danke, Maria. Ihnen auch.« Als Maria gegangen war, blickte sich Jennifer um. Auch die beiden anderen Gäste waren längst verschwunden. Sie war allein auf der Terrasse. Vor ihr stand die Sichel des Mondes über dem Horizont. Lange sah sie zu dem bleichen Himmelskörper hoch, als konnte er ihr eine Antwort auf die vielen Fragen geben. Was steckte hinter der Sache mit den Spinnen, und was gab es in ihrem Zimmer, das für beide Bankräuber so interessant war? Sie grübelte eine Zeitlang, und fast war es ihr, als würde sie irgend etwas übersehen. Fast unwillkürlich ging sie hoch in den ersten Stock. Es war zwar erst kurz vor Mitternacht, aber dennoch hatten sich schon alle im Haus zur Ruhe gelegt. Sie öffnete die Tür zu der kleinen Kleiderkammer neben ihrem alten Zimmer und schaltete das Licht ein. Vor ihr in der Wand, fast von einem der Regale verdeckt, auf denen die Bettwäsche lag, fehlte dicht über dem Boden ein Stein. Auf der anderen Seite der Wand mußte der Kleiderschrank von Zimmer 17 stehen. Darunter waren die Spinnen also hervorgekrabbelt. Aber was mochte sie veranlaßt haben, dorthin zu kriechen? Jennifer blickte zu dem kleinen Fenster, das anderthalb Meter über dem Boden lag. Es war unwahrscheinlich, daß die Taranteln dort hereingekommen waren, um dann zielstrebig durch das Loch in der Wand in Zimmer 17 zu krabbeln. Außer…
Ja, es sei denn, jemand hätte einen Behälter mit den Spinnen vor das Loch gehalten und gewartet, bis sie darin verschwunden waren! Jennifers Herzschlag beschleunigte sich. Sie spürte, daß sie der Lösung des Rätsels auf der Spur war. Wenn es jemanden gegeben hatte, der die Spinnen hierhergebracht hatte, dann war es derselbe, der beide Male die Tür von außen zugeschlossen hatte. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihr altes Zimmer vorerst nicht mehr zu betreten, zog es sie doch nahezu mit magischer Kraft dorthin. Aber die Tür war verschlossen, und diesmal steckte kein Schlüssel im Schloß. Auch unten hinter der Rezeption fehlte der Schlüssel. Fast schon befürchtete Jennifer, daß die Polizei den Schlüssel mitgenommen hatte, als sie ihn in einem der Fächer entdeckte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, den Schlüssel einfach zu nehmen, aber sie wischte alle diesbezüglichen Gedanken beiseite. Zu sehr hatte der Fall bereits ihr Leben berührt. Das Zimmer sah immer noch so chaotisch aus, wie sie es am Mittag verlassen hatte. Jennifer überzeugte sich davon, daß sich hier keine Spinnen aufhielten, bevor sie das Licht wieder ausknipste. Es mußte ja nicht jeder merken, daß sie sich hier befand. Sie schloß die Tür von innen ab und ließ den Schlüssel vorsichtshalber stecken, damit ihr nicht daß gleiche widerfuhr wie vor zwei Tagen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie von draußen plötzlich wieder dieses irre Kichern hörte. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, aber trotzdem näherte sie sich dem Fenster und blickte hinunter auf den Parkplatz. Wieder vermeinte sie dort drüben am Brunnen eine Bewegung zu entdecken. Doch abermals kam es ihr ein paar Sekunden später so vor, als hätte sie sich geirrt.
Jennifer schüttelte den Kopf und drehte sich um. Sie schalt sich einen Narren, hier mitten in der Nacht nach der Lösung des Rätsels zu suchen. Was gab es hier in diesem Zimmer schon Besonderes? Und dann, als sie von dem Fenster wegtrat und das Mondlicht vor ihr auf die Wand hinter den heruntergerissenen Tapeten fiel, erkannte sie plötzlich, was die beiden Bankräuber hier gesucht hatten. Denn die verwirrenden Muster dort an der Wand waren nichts anderes als eine Karte, die zeigte, wo die Beute des Überfalls versteckt war! Ein kleines Kreuz kennzeichnete eine Stelle, die neben dem Eingang lag, der den Raum vom Brunnenschacht trennen mußte. Ihr Gefühl sagte Jennifer, daß sie sich nicht täuschte. Sie hatte das Versteck der Beute gefunden, die all die langen Jahre verschwunden geblieben war!
*
Des Rätsels Lösung war das Mondlicht, das durch das geschlossene Fenster drang und nur einen kleinen Ausschnitt der Wandzeichnungen beleuchtete. Waren die Linien und Muster in ihrer Gesamtheit zu verwirrend, als daß man mit ihnen etwas hätte anfangen können, so wurden jetzt nur die Stellen in fahles Licht gehüllt, auf die es ankam. Jennifer wagte kaum zu atmen, als sie auf die Linien sah, die nun eindeutig den Brunnen zeigten, der vor der angedeuteten Silhouette des Hotels stand. Über ihm war ein Pfeil angebracht.
Jennifer wußte sofort, daß es sich nur um den alten Brunnen handeln konnte, der neben dem Parkplatz aus dem Boden ragte. Daneben war die Darstellung von Stufen zu erkennen und – wenn Jennifer es richtig deutete – der Plan eines Raumes, der unterhalb des Brunnens lag und nur über diese Stufen zu erreichen war. Vielleicht eine Kammer, die in früheren Zeiten dazu gedient haben mochte, bestimmte Dinge vor Banditen oder Steuereintreibern zu verbergen. Und dort unten mußte sich die Beute befinden, die von den Bankräubern hier versteckt wurde! Im ersten Augenblick dachte die Engländerin daran, Maria zu wecken, um ihr diese Entdeckung mitzuteilen. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Obwohl sie sich ihrer Sache sicher war, konnte sie sich letztendlich doch noch als Trugschluß erweisen. Vielleicht sollte sie erst selbst einmal beim Brunnen nachsehen. Durch die Fensterscheibe warf sie einen langen Blick auf die dunklen Umrisse, die von hier aus zu erkennen waren. Sie kannte den Brunnen seit ihrer Kindheit, aber auf einmal flößte ihr allein sein Anblick Angst ein. Es schien ihr, als würden sich die steinernen Konturen jeden Augenblick erheben, um sie davon abzuhalten, das Geheimnis zu lösen. Doch sie wußte natürlich, daß solche Gedanken lediglich ihrer überreizten Phantasie entsprangen. Sie sah auf ihre Uhr und versuchte, die Ziffern im Mondschein zu erkennen. Es war kurz vor Mitternacht. Ob sie Mario um diese Uhrzeit noch anrufen konnte? Sie faßte einen Entschluß und verließ das Zimmer. Unten an der Rezeption nahm sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer, die ihr Mario hinterlassen hatte.
»Jenny, du bist es!« sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Ist etwas passiert?« »Nein, nein«, wehrte Jennifer ab und bemühte sich, möglichst leise zu sprechen. In der leeren Empfangshalle kam es ihr ohnehin so vor, als würde jedes Wort bis in den letzten Winkel des Hotels schallen. »Aber ich habe eine sehr wichtige Entdeckung gemacht.« »Was für eine Entdeckung?« »Ich glaube, ich habe die Lösung zu der ganzen Sache mit dem Fluch gefunden. Und außerdem glaube ich zu wissen, wo sich die Beute aus dem Bankraub von damals befindet.« »Was? Wie hast du das herausbekommen?« »Ich erzähle dir später mehr. Hast du etwas dagegen, jetzt noch einmal hierherzukommen? Und bring bitte eine Taschenlampe mit, besser noch zwei.« »Aber warum…?« »Ich werde es dir alles erzählen. Nur komm erst einmal herüber. Ich warte an der Rezeption auf dich.« »Gut. Ich werde kommen!« Jennifer hängte ein und sah sich ein wenig ängstlich um. Doch es gab hier niemanden, der ihr zugehört haben konnte. Es hielt sie allerdings nicht lange in der Empfangshalle. Nach ein paar Minuten ging sie zur Treppe vor dem Hotel. Der leichte Wind vom Meer brachte in dieser warmen Nacht etwas Erfrischung. Jennifer blickte in die Dunkelheit, aber natürlich waren die Scheinwerfer von Marios Sportwagen noch nicht zu sehen. Es würde noch einige Minuten dauern, bis er hier ankommen würde. Immer wieder ging ihr Blick hinüber zu dem steinernen Zylinder des Brunnens. Fast gegen ihren Willen setzte sie sich in Bewegung und erschrak, als sie sich dessen bewußt wurde. Aber dann sagte sie sich, daß es doch nicht so gefährlich sein konnte, einmal einen Blick hinunter zu riskieren. Vielleicht
konnte sie etwas entdecken, wenn sie hinuntersah, obwohl es dafür aller Wahrscheinlichkeit nach zu dunkel war. Schließlich hatte sie den Brunnen erreicht. Wie sie vermutet hatte, war es zu finster, um Einzelheiten zu erkennen. Enttäuscht und erleichtert zugleich wollte Jennifer wieder zum Hoteleingang zurückkehren, als sie hinter sich plötzlich ein raschelndes Geräusch ausmachte. Doch noch bevor sie herumwirbeln konnte, legte sich eine feste Hand vor ihren Mund und verhinderte einen Schrei. Ihr Herz schien auszusetzen, als sie nun das irre Kichern hörte, das sie in den letzten Tagen schon öfters aus der Ferne vernommen hatte. Jennifer versuchte sich zu wehren, trat nach demjenigen, der mit der einen Hand ihren Mund bedeckte und mit der anderen ihre Arme im Rücken zusammenhielt. Doch der Fremde kicherte nur erneut und begann, sie zum Brunnen zu schleifen. Als sie vor sich die kreisrunde Öffnung sah, kam es ihr vor, als wäre es ein aufgerissener Schlund, der sie verschlingen sollte. Ein letztes Mal leistete sie Gegenwehr. Gerade als sie ihre Arme freibekommen hatte, traf sie jedoch ein brutaler Schlag am Kopf. Die Umgebung versank plötzlich in einem Meer von funkelnden Sternen, und dann verlor sie das Bewußtsein.
*
»Was war denn das gerade für ein Anruf, Mario?« fragte Signore Argenti, als sein Sohn sich die Jacke anzog und aus der Schublade eine Taschenlampe hervorkramte. »Das war Jennifer. Sie glaubt, den Grund für die Geschehnisse in den letzten Tagen herausgefunden zu haben,
und anscheinend möchte sie sofort nachprüfen, ob sie recht hat.« »Und was steckt ihrer Meinung nach hinter der Sache?« »Das hat sie nicht gesagt. Sie wartet im Hotel auf mich. Hoffentlich stellt sie keine Dummheiten an und wartet, bis ich da bin. Ich habe das ungute Gefühl, daß die Sache noch längst nicht ausgestanden ist.« »Soll ich mitkommen?« erbot sich Marios Vater. »Nein, ich glaube, daß das nicht nötig sein wird. Außerdem kommt eventuell noch ein Anruf für mich an. Ich habe noch einmal auf eigene Faust ein paar Nachforschungen anstellen lassen. Aber jetzt muß ich los. Ich will Jenny nicht zu lange warten lassen.«
*
Als Jennifer aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte, spürte sie als erstes den Schmerz in den Handgelenken. Es schien, als würde jemand versuchen, ihr die Arme aus dem Körper zu reißen. Benommen öffnete sie die Augen. Als sie nach oben blickte, entdeckte sie, daß ihre Handgelenke an ein Rohr gebunden waren, das knapp unter der Decke befestigt war. Ihre Füße schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden. Die Sandalen hatte sie offensichtlich verloren, als sie der Fremde hier herunter geschleppt hatte. Denn nirgends anders als in jener unterirdischen Kammer unterhalb des vertrockneten Brunnens konnte sie sich befinden! Überall standen Kerzen herum und warfen ihr flackerndes Licht gegen die Steinwände. Der Raum, soweit sie ihn überblicken konnte, war mit allerlei Gerumpel vollgestellt.
In einer Ecke glaubte sie so etwas wie eine Schlafstelle auszumachen. Da schob sich ein Schatten in ihr Blickfeld. Als sie das verdreckte Gesicht mit der häßlichen Stirnnarbe vor sich sah, wurden ihr auf einen Schlag die letzten Zusammenhänge klar. Der Mann vor ihr war niemand anderes als der dritte Bankräuber, der eigentlich in einer Nervenheilanstalt sein sollte. Der Teufel mochte wissen, wie er hierherkam. Der Mann musterte sie mit weit aufgerissenen Augen, in denen Irrsinn flackerte. Jennifer wollte schreien, als sie sein übler Atem traf. Erst jetzt merkte sie, daß ihr Mund mit einem Pflaster verklebt war. Entsetzt riß sie an den Fesseln, konnte sie jedoch nicht lockern. Der Mann musterte sie mit einem verzerrten Grinsen, als würde er sich an ihrer Qual weiden. Aus seinem Mund kam ein unverständliches Gestammel, während ihm Speichel über die Lippen lief. Aber zumindest entfernte er sich jetzt ein Stück von ihr. Er setzte sich mit übergeschlagenen Beinen auf den dreckigen Boden und starrte zu ihr empor, als wurde sein krankes Gehirn überlegen, was er mit ihr anstellen sollte. Jennifer kämpfte gegen ihre Panik an und versuchte eine Möglichkeit zu finden, hier herauszukommen – doch es gab keine. Aus eigener Kraft würde sie es bestimmt nicht schaffen, dem Mann zu entkommen. Ihre einzige Chance war Mario, der bald kommen mußte. Aber wie sollte sie ihn auf sich aufmerksam machen? Von draußen, verzerrt durch den hohen Brunnenschacht, drang das Dröhnen eines Motors an ihre Ohren. Das mußte ihr Freund sein! Auch der Irre schien es gehört zu haben. Langsam erhob er sich und starrte weiterhin Jennifer an, während seine
schmutzigen Hände nach einem Seil griffen, das von der Decke hing, und daran zogen. Sie spürte, wie sie plötzlich an dem Rohr entlang nach hinten gezogen wurde. Irgendwann kam ihr Körper pendelnd zum Stillstand. Als sie an ihrem Körper herunterblickte, sah sie unter sich eine große Grube im Boden, die vielleicht einen Meter tief sein mochte. Und innerhalb der Grube – eine brabbelnde Masse aus schwarzen Spinnenkörpern, keine dreißig Zentimeter unterhalb ihrer nackten Füße! Jennifer riß entsetzt die Augen auf und erfaßte erst jetzt, daß der Irre zu ihr getreten war und ihr das Pflaster vom Mund gerissen hatte Sie sah nur die Taranteln, die sich gierig nach ihr zu recken schienen. Einige versuchten, den glatten Rand der Grube empor zu krabbeln, glitten jedoch immer wieder ab. Sie schrie, und ihr Schrei brach sich an den steinernen Wänden und hallte den Brunnenschacht empor. Dann preßte ihr der Irre die Hand unter den Mund, drückte ihre Kiefer zusammen und klebte ihr wieder das Pflaster auf die Lippen. Jennifer wand sich in den Fesseln, als er sich wieder von ihr entfernte und sie mit einem verzerrten Grinsen ansah. Er ergriff eine Metallstrebe und verbarg sich im Schatten einer Nische gleich neben dem Durchgang zum Brunnenschacht. Jennifer war nahe daran, erneut das Bewußtsein zu verlieren, als sie erkannte, welch teuflischen Plan sich das kranke Bewußtsein des Irren ausgedacht hatte. Er hatte irgendwie erfaßt, daß Hilfe für sie unterwegs war – und er benutzte sie als Köder für ihren Geliebten!
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Mario warf gerade die Autotür hinter sich ins Schloß, als er Jennifers panischen Schrei hörte, der so leise war, daß man ihn ein paar Meter weiter vielleicht gar nicht mehr vernommen hatte. Im ersten Augenblick dachte Mario an das Hotel, doch als er seine Augen in die Richtung drehte, aus der der Schrei gekommen war, sah er vor sich die dunklen Umrisse des steinernen Brunnens. Dort mußte sich Jennifer befinden, denn nur von ihr konnte der Schrei stammen. Mario nahm die Taschenlampe und eilte auf den Brunnen zu. Für einen Moment dachte er daran, zuerst die Polizei zu verständigen, doch dann hätte er vielleicht zuviel Zeit verloren. Wer wußte, in was für einer Situation sich Jennifer befand? Was hatte sie überhaupt bewogen, dort in den Brunnen zu klettern? Doch all diese Gedanken waren im Moment überflüssig. Jennifer befand sich in Gefahr! »Jenny!« rief er den Schacht hinunter. Niemand antwortete ihm. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinunter. Doch der kegelförmige Strahl tastete lediglich über vermodertes Gestein hinweg. Aber keine Spur von der Engländerin. Warum hatte sie nicht auf sein Rufen geantwortet? Er rief noch einmal ihren Namen in den schwarzen Schacht hinunter. Als sich noch immer nichts regte, steckte er die Lampe kurzentschlossen unter den Gürtel und begann mit dem Abstieg. Sechs oder sieben Meter tiefer entdeckte er einen mannshohen Durchlaß, aus dem der schwache Schein flackernder Kerzen drang. Allerdings viel zu schwach, als daß man das von oben hätte bemerken können.
Die Tür, mit der man den Durchlaß verschließen konnte, stand offen. Mario runzelte beunruhigt die Stirn. Auf was war Jennifer hier gestoßen? Vorsichtig schlich er durch den kleinen Gang, bis dieser sich vor ihm zu einem Raum erweiterte. Fast ungläubig sah er nach vorne, wo Jennifer mit beiden Händen an einem Rohr unterhalb der Decke festgebunden war. Ihr Mund war mit einem Pflaster verklebt, und sie warf ihm einen flehenden Blick aus ihren aufgerissenen Augen zu, als wollte sie ihm etwas mitteilen. »Jenny«, rief er und trat einen Schritt nach vorne. »Was um Himmels willen hat man…« In diesem Augenblick erwischte ihn von der Seite her ein Schlag in den Nacken, der ihn zu Boden stürzen ließ. Blitzschnell wälzte er sich herum. Doch noch bevor er sich wieder aufrichten konnte, um sich auf den unbekannten Angreifer zu stürzen, warf sich der Geistesgestörte auf ihn. Mario hatte alle Mühe, die Eisenstange abzuwehren, die immer wieder auf seine Kehle zielte. Er versuchte, sich unter dem Körper des anderen, der wie ein Mühlstein auf ihm lastete, zu befreien. Doch es war zwecklos. Mario war den fast übermenschlichen Kräften des Irren nicht gewachsen, so daß er schließlich einen weiteren Schlag mit der Eisenstange erhielt. Jennifer mußte hilflos mitansehen, wie Mario aufstöhnend zurücksank und dann reglos am Boden liegenblieb. Ihr Entsetzen wurde noch größer, als sie erkannte, daß der Irre Mario nun ebenfalls zu fesseln begann. Nun gab es keine Chance zur Flucht mehr…
*
Der Verrückte hatte Mario die Hände auf dem Rücken gefesselt, ihn bis zur Wand geschleift und dort an einer Metallstrebe festgebunden. Immer wieder stieß er dabei sein unnatürliches Gekicher aus, und die Töne zerrten an Jennifers Nerven. Wenn das Pflaster nicht vor ihrem Mund gewesen wäre, hätte sie in diesen Sekunden haltlos geschrien. Doch nicht einmal das war ihr vergönnt. Der Verrückte näherte sich schließlich wieder ihr und grinste, als sei er auf das, was er mit Mario gemacht hatte, sehr stolz. Jennifers Herz schlug bis zum Hals, als sein verdrecktes Gesicht immer näher kam. Verzweifelt wand sie sich in ihren Fesseln. Dem Geisteskranken schien ihre Qual große Freude zu bereiten, doch dann verschwand er aus Jennifers Blickfeld. Nicht sie war sein Ziel. Er ging in die Hocke und griff nach einer Schüssel mit einer breiähnlichen Masse. Mit der Hand nahm er große Brocken heraus und warf sie in die Grube. Jennifer blickte hinunter und konnte sehen, wie die Spinnen das Zeug, mit dem sie offenbar gefüttert wurden, gierig in sich aufnahmen. Sie konnte ihren Blick nicht von dem abwenden, was der Geistesgestörte da tat. Sie sah, wie er die Schüssel nach einer Weile in eine Ecke zurückstellte und mit einem anderen Korb zurückkam. Es’ war ein brauner geflochtener Korb mit engen Maschen, und man konnte ihn oben verschließen. Mit der bloßen Hand griff der Verrückte in die krabbelnde Masse und zog nacheinander ein gutes Dutzend der schwarzen Giftspinnen hervor, deren Beine zwar in der Luft umhertasteten, die ihn jedoch aus irgendeinem Grund unbehelligt ließen.
Aber vielleicht hatte er ja besondere Fähigkeiten und wußte instinktiv, wie er sie zu greifen hatte, damit sie ihm nichts taten. Bei vielen psychisch Gestörten offenbarten sich mit der Zeit solche außergewöhnlichen Fähigkeiten, über die ein normaler Mensch nicht verfügte. Schließlich schloß er den Korb, nachdem er eine der Spinnen, die zum Rand emporgeklettert war, mit dem Finger wieder hineingestupst hatte. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er Jennifer an. Es schien, als sähe er sie jetzt zum ersten Male. Sein Arm schoß plötzlich nach vorne, und seine Hand strich ihr über das Gesicht. Jennifer schloß verzweifelt die Augen. Sie befürchtete das Schlimmste! Doch dann riß ihr die Hand überraschend mit einem schmerzhaften Ruck das Pflaster vom Mund. Er kicherte noch einmal, dann drehte er sich um und ging mit dem Korb voller Taranteln durch den Raum. Jennifer befürchtete, er wolle nun Mario etwas antun, doch das Ziel des Verrückten war ein anderes. Er ging zu einem Brett, das an der Wand befestigt war. An zahlreichen Nägeln hingen viele Schlüssel, die Jennifer erst jetzt auffielen. Er nahm ein paar von diesen Schlüsseln und steckte sie sich in die Hosentasche. Soweit sie es in dem flackernden, düsteren Licht erkennen konnte, handelte es sich um die gleiche Art wie die, die im Hotel benutzt wurden, und Jennifer war sich sicher, daß es tatsächlich Schlüssel aus dem Hotel sein mußten, zudem auch noch die kleinen hölzernen Anhänger mit den eingravierten Zimmernummern vorhanden waren. Und das war auch der Grund, warum er nachts im Hotel nach Belieben umherspazieren könnte!
Wo mochte er sich die vielen Schlüssel geholt haben? fragte sie sich in Gedanken und beantwortete sich im nächsten Augenblick ihre Frage selbst. Natürlich war es für ihn kein Problem gewesen, durch die Eingangstür, die auch nachts noch für spät heimkehrende Gäste offengehalten wurde, zur Rezeption zu kommen und dort von Zeit zu Zeit einen Schlüssel wegzunehmen. Schließlich hatte er dazu lange Zeit gehabt. Allem Anschein nach mußte er hier unten eine beträchtliche Zeit gehaust haben – vielleicht sogar schon Jahre. Maria dachte bestimmt, die Schlüssel wurden von den Gästen verloren oder bei der Abreise versehentlich eingesteckt! Und diese Jahre – da war sich Jennifer sicher – hatten sicherlich auch noch einen weiteren Teil dazu beigetragen, daß der dritte Bankräuber, der seinen Verstand vor zehn Jahren durch einen Kopfschuß verloren hatte, hier unten langsam auch noch den Rest seiner menschlichen Eigenschaften verloren hatte. Gab es für einen solchen Menschen überhaupt noch eine innere Stimme, die Gewissen genannt wurde? Jennifer bezweifelte es. Sie wußte, daß er im Prinzip eine bemitleidenswerte Kreatur war, doch so hilflos, wie sie ihm im Augenblick ausgeliefert war, brachte sie keine derartigen Gefühle auf. Sie hörte, wie in dem Verbindungsgang die Tür zu dieser Kammer zugestoßen wurde. Der Verrückte hatte den Raum verlassen. Was hatte er nur mit den Spinnen vor? Wahrscheinlich wollte er sie wieder im Hotel freilassen. Jennifer befiel Angst um die Hotelbesitzerin Maria und um die Köchin. Hoffentlich waren nicht sie das Ziel seiner nächtlichen Exkursion.
Und sie hoffte, daß auch keinem der ahnungslosen Gäste, so wenige es im Moment auch noch sein mochten, dort oben etwas geschehen möge. Vielleicht ließ er die schwarzen Giftspinnen ja auch in der Umgebung frei. Aller Wahrscheinlichkeit nach schien er auch dafür verantwortlich zu sein, daß es hier in der Gegend so viele Spinnen gab. Und wer weiß, vielleicht brachte er sie auch absichtlich immer in die Nähe belebter Orte, so daß der Eindruck entstehen mußte, die ganze Gegend leide unter einer entsetzlichen Spinnenplage. Der starke Aberglaube der einheimischen Bewohner hier hatte sicherlich auch einen gehörigen Teil dazu beigetragen, daß das Hotel in Verruf gekommen war. Vielleicht war das ja auch ein Teil der Idee, die sich in seinem kranken Hirn festgesetzt hatte? Vielleicht war das ein Teil seiner eigentümlichen Rache, die doch jetzt, da er seine beiden ehemaligen Kumpane umgebracht hatte, eigentlich abgeschlossen sein dürfte. Aber wer wußte, ob der ehemalige dritte Bankräuber das überhaupt noch wahrnahm? Und in der Grube unter ihren Füßen züchtete er die Spinnen! Wie weit entfernt von allen moralischen Werten mußte ein Mensch sein, der auf solch ekelhafte Gedanken kam? Jennifer schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken, diesem ehemaligen Gangster hilflos ausgeliefert zu sein. Sie konnte nichts weiter tun, als zu warten. Bis auf das ewige Rascheln unter ihren Füßen war es ruhig. Die Taranteln waren noch immer mit den Brocken beschäftigt, die der Geisteskranke in die Grube geworfen hatte. Ein abstoßender Geruch stieg aus ihr auf, und Jennifer kämpfte damit, nicht ohnmächtig zu werden. Doch was konnte sie schon tun?
Sie war allein mit Mary, der noch immer bewußtlos war. Jennifer fragte sich, was der Verrückte wohl mit ihnen vorhatte. Dabei hatten sie mit dem Überfall von damals nicht das geringste zu tun. Aber das schien ihm egal zu sein. Der Teufel persönlich möchte wissen, was in seinem Kopf für Gedanken kreisten! Die Spinnengrube unter ihren Füßen ließ sie das Schlimmste befürchten. Aber sie hatte es längst aufgegeben, gegen die festen Fesseln anzukämpfen. Außerdem waren ihre Arme mittlerweile blutleer und schmerzten, daß es ihr beinahe die Sinne raubte. Jennifer konnte also nichts tun, als zu warten und zu hoffen.
*
Langsam begann sich Mario im Hintergrund zu regen. Er stöhnte verhalten, bevor er die Augen aufschlug. »Jenny!« stieß er hervor, und es schien, als wäre er schlagartig bei vollem Bewußtsein. »Ist alles in Ordnung?« »Bis jetzt geht es mir gut, jedenfalls den Umständen entsprechend«, sagte sie tapfer. Dennoch konnte sie nicht unterdrücken, daß ihr die Tränen über die Wangen ließen. Sie war froh, daß sie zumindest mit Mario sprechen konnte, wenngleich sie wenig Hoffnung hatte, daß er etwas gegen ihre Lage unternehmen konnte. »Wo ist dieser Kerl?« fragte er, nachdem er sich in der Kammer umgesehen und entdeckt hatte, daß sie allein waren. »Er ist nach oben gegangen«, antwortete sie. »Er…« Jennifer stockte bei dem Gedanken an das, was sich vor ein paar Minuten hier unten abgespielt hatte.
»Was ist?« fragte er besorgt. Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. »Er… er hat ein Dutzend Spinnen aus der Grube geholt und…« Mario unterbrach sie barsch. »Aus was für einer Grube?« Er richtete sich auf, soweit das seine Fesseln zuließen. Jennifer schluchzte. »Ich hänge genau über der Grube!« »Was?« rief Mario erschrocken auf. Denn als er genauer hinsah, erkannte er unter ihren Füßen eine dunkle, sich bewegende Masse. Obwohl es zu dunkel war, um von seinem Platz aus einzelne Spinnenkörper auseinanderzuhalten wußte er doch, daß es Hunderte von krabbelnden Spinnen sein mußten. Er wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, daß er ihr nicht helfen konnte. Mario zerrte an seinen Fesseln. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er vermochte sich nicht zu befreien. »Wo ist der Kerl wohl mit den Viechern hingegangen?« fragte er, nachdem er eingesehen hatte, daß er gegen die Stricke nichts ausrichten konnte. »Ich weiß nicht«, gab Jennifer zu. »Aber ich glaube, er ist wieder unterwegs zum Hotel.« »Dann ist er also für die ganze Spinnenplage verantwortlich!« Mario atmete ein paarmal schwer. »Und er hat auch die beiden Morde auf dem Gewissen, die sich hier abgespielt haben!« »Ja«, machte Jennifer schwach. »Ich habe eine Lücke in der Wand zwischen der Abstellkammer und dem Zimmer 17
entdeckt. Von dort aus muß er die Spinnen in das Zimmer eingelassen haben. Wer weiß, wieviel solcher Durchlässe es noch gibt!« »Und beinahe hätte er auch dich erwischt!« sagte Mario grimmig. »Wenn ich nur frei wäre, dann würde ich dem Kerl zeigen, was ich von ihm halte!« Wieder zerrte er an den fesseln. »Es hat keinen Sinn«, murmelte er schließlich resignierend. Jennifers Befürchtungen hatten sich als wahr erwiesen. Auch Mario vermochte ihr keine Hilfe zu bringen. In diesen Punkten verstand der Geistesgestörte sein Handwerk. Sie hatten keine Möglichkeit, sich aus eigener Kraft zu befreien. Sie mußten auf Hilfe von außen hoffen, so dünn und zerbrechlich dieser letzte Strohhalm auch war, an den sie sich noch klammern konnten! »Vielleicht sollten wir um Hilfe rufen«, schlug sie vor. Sie wunderte sich, daß sie nicht schon längst auf diesen Gedanken gekommen war, als der Verrückte die unterirdische Kammer verlassen hatte. »Aber ich weiß nicht, ob das viel Sinn hat. Der Kerl hat die Tür in dem Verbindungsgang geschlossen.« »Dann hat es keinen Sinn«, erwiderte Mario. Es machte ihn fast wahnsinnig, daß er hier unten gefangen war und nicht einmal in der Lage war, zu Jennifer zu gelangen, sie dort von der Grube wegzuholen. »Ich habe deinen Schrei nur ganz leise gehört, Jenny«, sagte er weiter. »Und die Tür stand offen, als ich heruntergekommen bin. Wenn sie jetzt geschlossen ist… haben wir nicht die geringste Aussicht, daß jemand auf uns aufmerksam wird. Außerdem dürften sich alle im Hotel bestimmt längst in den tiefsten Träumen befinden. Nein, von dort haben wir keine Hilfe zu erwarten!« »Von wo dann?« fragte Jennifer verzweifelt. »Irgend jemand muß uns doch hier herausholen!«
Mario schwieg eine Zeitlang. Er wußte nicht, was er auf die Frage der geliebten Engländerin antworten sollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich matt. Während die Minuten verrannen, ohne daß sie etwas an ihrer Lage ändern konnten, machte sich Mario im stillen Vorwürfe. Hätte er doch nur das Angebot seines Vaters angenommen, ihn hierher zu begleiten. Zwei Personen hätte der Geisteskranke wohl kaum überwältigen können. Aber diese Möglichkeit war jetzt vertan. Und so sehr er es auch bereute, das Angebot seines Vaters abgelehnt zu haben, ändern konnte er jetzt sowieso nichts mehr. Dazu war es zu spät. »Aber erzähl doch erst einmal«, fragte er nach einer Weile, »was um Himmels willen du hier unten zu suchen hattest!« »Ich habe im Hotel eine Entdeckung gemacht, aus der hervorgeht, daß sich die Beute aus dem Banküberfall hier unten befinden muß.« »Die Beute von damals – hier unten?« »Ja.« »Aber wer ist dann dieser Wahnsinnige?« »Bist du noch nicht darauf gekommen?« fragte Jennifer überrascht. »Es ist der dritte Bankräuber, der damals durch einen Kopfschuß verwundet worden war. Er muß aus der Nervenklinik entkommen sein! Irgendwelche wirren Gedanken werden ihn hierhergeführt haben – vielleicht der Gedanke an Rache, weil er instinktiv spürte, daß seine ehemaligen Kumpane bald kommen und nach der Beute suchen wurden.« »Der dritte Bankräuber«, überlegte Mario laut. »So muß es sein. Nur warum hat man dann nicht die Polizei hier verständigt und hier nach ihm gesucht? Man mußte doch daran denken, daß er vielleicht hierher zurückkehrt.« »Nun«, sagte Jennifer, und zum ersten Male, seitdem sie hier unten gefangen war, zeigte sich für einen Lidschlag der Hauch
eines Lächelns auf ihrem Gesicht. »Über die italienischen Behörden hört man nicht allzuviel Gutes. So, wie Behörden nun einmal sind, ist die Nachricht vielleicht in irgendeinem Ordner auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Oder vielleicht ist niemand auf die Idee gekommen, er würde hierher zurückkehren. Aber in unserer Lage dürfte das ziemlich unwichtig sein.« »Woher weißt du eigentlich, daß die Beute hier unten versteckt ist?« »Die Muster in Zimmer 17«, antwortete sie. Marios Nähe half ihr sich wieder etwas zu beruhigen, wenngleich er ihr auch nicht helfen konnte. »Sie stellen eine Karte dar. Und laut ihr befindet sich die Beute hier in dieser Kammer.« »Und dann bist du alleine zum Brunnen gegangen und ihn heruntergeklettert?« fragte Mario. In seinem Hauch schwang ein bißchen Ärger über die vermeintliche Leichtsinnigkeit der jungen Engländerin mit. »Nein«, erwiderte Jennifer. »Dazu hätte ich gar nicht den Mut gehabt. Aber als ich von oben sehen wollte, ob ich irgend etwas erkennen kann, hat mich der Verrückte überwältigt und hier heruntergeschleppt.« Mario nickte. »Ob der Kerl weiß, daß sich die Beute hier unten befindet?« »Ich weiß nicht, vielleicht.« Mario sah sich ausführlich in dem Raum um. »Weißt du auch, wo sich die Beute hier unten befindet?« »Nicht genau. Aber laut der Karte eigentlich dort hinten bei dir. Irgendwo neben dem Eingang. Kannst du etwas entdecken?« »Ja«, rief Mario zurück. »Hier ist eine Luke in den Boden eingelassen. Warte mal, vielleicht kann ich sie öffnen.«
Er machte sich lang und stieß mit den Beinen ein paar Flaschen beiseite, die klirrend über den Boden rollten. Jennifer konnte sehen, wie er mit der Fußspitze in einen Ring stieß, der in diese Luke eingelassen war. Langsam stemmte er die Luke hoch, klemmte den anderen Fuß hinunter und stieß sie ganz auf. Selbst von hier konnte Jennifer im Licht der Kerzen die vielen Scheine und Münzen sehen, die in diesem Versteck aufbewahrt waren. »Lieber Gott!« stieß Mario aus, der die Beute dicht vor sich sah. »Das muß ein wahres Vermögen sein!« Plötzlich war der Verrückte wieder in dem Raum. Sein Korb war jetzt leer. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf die geöffnete Luke und stieß einen ärgerlichen Laut aus. Er warf den Korb in die Ecke, war bei Mario und versetzte ihm einen Schlag, der seinen Kopf zurückwarf. Jennifer schrie unwillkürlich auf. Der Geisteskranke erstarrte und wandte sich langsam um. Mit finsterem Blick sah er zu ihr herüber und setzte sich langsam in Bewegung. Jennifer hielt unwillkürlich den Atem an. Als er direkt vor ihr stand, begann er wieder zu kichern, während sie seinem Atem auszuweichen versuchte und den Kopf zur Seite drehte. Dann ging er in die Knie, und die Engländerin konnte nicht anders, als hinunterzublicken und zu sehen, wie er abermals mit der ungeschützten Hand hinunter in das krabbelnde schwarze Knäuel griff. Als er sich langsam wieder aufrichtete, hatte er eine schwarze Spinne, deren haarige Beine wild zuckten, in der Hand. Er blickte Jennifer mit irren Augen an und stieß ein grelles Kichern aus, das sie wie ein Stich ins Innerste traf. Sie schrie
und schloß die Augen, als der Irre seinen Arm mit der Spinne nach ihr ausstreckte. Näher und näher kamen die zuckenden Beine ihrem Gesicht, und fast schien es, als funkelten ihr die winzigen Spinnenaugen böse entgegen. Plötzlich zerriß ein Schuß die Luft, und abrupt endete das Kichern. Jennifer öffnete die Augen und sah, wie der Kranke nicht begreifend auf seine ausgestreckte Hand starrte. Der Schuß hatte ihm das Handgelenk zertrümmert und die Spinne beiseite gefegt. »Keine Angst, Jennifer, ich bin es!« hallte eine Stimme durch die Kammer, und voller Erleichterung erkannte die Engländerin, daß sie Marios Vater gehörte. In diesem Augenblick verzerrte sich das Gesicht des Geistesgestörten, und er wirbelte herum, um sich auf Signore Argenti zu stürzen, der mit einer Pistole in der Armbeuge auf der anderen Seite des Raumes aufgetaucht war. Doch bei der plötzlichen Bewegung trat er mit dem einen Fuß über den Rand der Grube, verlor das Gleichgewicht und fiel mit wild rudernden Armen hinein. Es gab ein gräßliches Geräusch, als er unter sich unzählige Spinnen zerdrückte. Er schrie auf, während er ein paarmal vergeblich versuchte, sich wieder aufzurichten. Die Spinnen verschonten ihn nicht. Er erlitt denselben Tod, den er seinen beiden früheren Kumpanen bereitet hatte. Erschaudernd wandte Jennifer den Blick ab. Marios Vater war herangekommen, zog sie von der Grube weg und öffnete dann ihre Fesseln. Jennifer hielt sich nur mit allergrößter Mühe auf den Beinen. Da sie die Arme noch nicht bewegen konnte, deutete sie mit dem Kopf dorthin, wo Mario auf dem Boden lag.
Signore Argenti schien seinen Sohn erst jetzt zu sehen und warf ihm einen besorgten Blick zu. »Keine Angst«, beschwichtigte ihn Mario. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich fühle mich nur ein bißchen in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt.« Ein paar Sekunden später war auch er befreit und hielt Jennifer in den Armen, die am gesamten Körper zitterte. »Warum bist du mir gefolgt?« fragte Mario seinen Vater. »Keine Minute, nachdem du losgefahren bist, kam ein Anruf von deinem Freund Ennio. Er sagte, daß der dritte Bankräuber vor einigen Jahren aus der Nervenheilanstalt ausgebrochen war. Da ich befürchtete, daß ihr in Gefahr geratet, bin ich sofort hinterhergefahren. Wie es mir scheint, kam ich im letzten Augenblick.« Er deutete auf die Grube. Einige Spinnen waren an dem emporgestreckten Arm des Toten über den Rand hinausgeklettert und krochen nun langsam über den Boden. »Laßt uns jetzt schnell nach oben klettern«, meinte Signore Argenti, und zu Mario gewandt fügte er hinzu: »Hilf Jennifer herauf. Ich verschließe erst einmal die Tür zu dem Raum, und dann sollten wir unverzüglich die Polizei verständigen.« »Durch den Schuß werden die Hotelbewohner sowieso wach geworden sein«, vermutete Mario, während er Jennifer durch den Verbindungsgang half. Sie konnte ihre Arme noch immer kaum benutzen. Das Blut kehrte erst langsam wieder zurück. Ihr schien, als kröchen Millionen kleiner Ameisen unter ihrer Haut umher. Mario half ihr auch den Brunnen hinauf. Alleine hätte sie es kaum geschafft. Sie war froh, endlich diesen Ort des Grauens hinter sich lassen zu können. Als sie oben aus dem Brunnenschacht gestiegen waren, erkannten sie, daß Marios Vermutung richtig gewesen war.
Im Hotel waren bereits einige Lichter angegangen, und während Marios Vater als letzter heraufgestiegen war, kam vom Haus her Maria zu ihnen gerannt. »Um Gottes willen!« stieß sie atemlos hervor, während hinter ihr Mamma als zweite aus dem Haus gelaufen kam. »Was ist geschehen?« »Es ist endgültig vorbei«, sagte Marios Vater. »Der Fluch ist beendet!«
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»Wahrscheinlich hat sich in seinem kranken Kopf die Idee festgesetzt«, sagte der Polizist, der den Fall bearbeitete, am nächsten Tag zu Jennifer, »daß er wieder hierher zurückkommen müsse. Ob er dabei an die Beute dachte oder aus anderen Gründen handelte, wissen wir nicht. Und es wird wahrscheinlich auch niemand mehr feststellen können. Aber instinktiv mußte er gewußt haben, daß der Schlüssel zu der Beute im Zimmer 17 versteckt war.« »In dem Zimmer, in dem ich schon seit Jahren Urlaub gemacht habe!« »Richtig. Die ganzen letzten Jahre muß er dort unten in diesem Loch gehaust haben. Als seine Komplizen auftauchten, hat er sie dann umgebracht, bevor sie die Beute finden konnten. Und Sie, Signorina, standen ihm wahrscheinlich nur im Weg, weil Sie zufällig in diesem Zimmer Ihren Urlaub verbrachten.« »Und er wußte nicht, daß er die ganzen Jahre über quasi auf der Beute geschlafen hat?«
Jennifer spielte auf den beträchtlichen Geldbetrag an, den die Polizei mittlerweile dort unten gefunden hatte, nachdem sie den Brunnen ausgeräuchert hatte. »Auch das werden wir wohl nie wissen«, erwiderte der Polizist. »Übrigens habe ich Ihnen auch noch eine frohe Nachricht zu überbringen.« Er machte eine dramaturgische Pause und blickte sich kurz um. »Ihnen steht ein prozentualer Anteil an der Beute als Finderlohn zu. Wieviel das sein wird, kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Aber ich werde Sie benachrichtigen, wenn die Formalitäten erledigt sind. Sie bleiben doch noch ein paar Tage hier?« »Sicher«, antwortete Jennifer. »Jetzt gibt es doch keinen Grund mehr, nicht hierzubleiben!« »Na, wenn das kein Grund zum Feiern ist!« rief Mario und umarmte Jennifer zärtlich. »Darauf sollten wir anstoßen!« »Ich hole eine Flasche besten Chianti!« rief Maria und eilte von der Terrasse in die Küche. Dort waren gestern die Taranteln gefunden worden, die der Verrückte in dem Korb mit nach oben genommen hatte. Zum Glück hatten sie keinen Schaden angerichtet. Sie waren wahrscheinlich nur dafür gedacht gewesen, weitere Unruhe ins Hotel und unter die Gäste zu bringen. Die Polizei, die bald darauf eingetroffen war, hatte sich der Spinnen angenommen und sie eingesammelt. Wie Marias Vater schon gesagt hatte: Der Fluch war endgültig vorbei! Jennifer lächelte, als sie der Hotelbesitzerin nachblickte. In diesem Moment beschloß sie, Maria die Hälfte ihres Finderlohns abzugeben – egal, wieviel es war. Diese Frau hatte es sicherlich ebenso verdient wie sie, schließlich hatte sie am meisten unter dem Fluch gelitten. Doch nun würde es wieder aufwärtsgehen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Auflösung des mysteriösen Fluches herumgesprochen.
In Zukunft würde Maria bestimmt keine Sorgen mehr haben, genug Gäste zu bekommen. »Warum lächelst du?« fragte Mario. »Weil ich glücklich bin!« rief Jennifer mit strahlenden Augen. Als Maria mit einem Tablett zurück auf die Terrasse kam, umarmten und küßten sich die beiden Liebenden noch immer. Sie waren sicher, daß nichts mehr ihr Glück würde stören können.