Geister-
Krimi � Nr. 51 � 51
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Geister-
Krimi � Nr. 51 � 51
Edgar Tarbot �
In den Klauen des � Ghouls �
2 �
Ein schemenhafter Schatten spiegelte sich in den nüchternen Fliesenwänden des Leichenschauhauses. Es war später Nachmittag. Vor einer knappen halben Stunde war ein furchtbares Unwetter über London niedergegangen. Nun hatte es zu regnen aufgehört. Aber die dunkelgrauen Wolken hingen immer noch wie eine ernste Bedrohung über der Stadt. Schrecklich düster war es in der Leichenhalle, durch deren Milchglasfenster nur noch schwaches Tageslicht sickerte. Ein unheimliches Seufzen zitterte durch den sterilen Saal. Es hörte sich an, als würden die hier untergebrachten Toten zu neuem Leben erwachen. Schmatzende Geräusche kamen aus einem schummerigen Winkel. Und es bewegte sich auch etwas. Niemand ahnte, daß in dieser grauenvollen Stunde ein Dämon bei den Toten war ein Ungeheuer, ein Wesen, wie es schlimmer nicht sein konnte. Gerade richtete sich das Scheusal lauschend auf. Es atmete unregelmäßig, hechelte, leckte sich über die Lippen. Sein Gesicht war eine grauenerregende Fratze. Der Schädel war haarlos. Braungraue, sekretierte Hautfetzen bedeckten die schleimig schimmernden Wangen. Farblos und weit zurückgezogen waren die furchterregenden, geifernden Lippen. Schwarz-gelblich schimmerten die spitzen, gebogenen Zähne aus dem ekelhaften Maul, während in den winzigen, tiefliegenden Augen rotglühende Flammen züngelten. Das Scheusal war ein Leichenfresser. Ein Ghoul, wie man diese Monster nannte. Furcht- und ekelerregend, wenn man sie anschaute. Unheimlich und tödlich, wenn sie einem begegneten. Ihre Fähigkeit, sich in harmlos scheinende Menschen zu verwandeln, machte sie um so gefährlicher. Das schleimige Monster hatte seinen Hunger bereits an der ersten Leiche gestillt. Geifer troff aus seinem aufgesperrten Maul. 3 �
Ein hungriges Keuchen folgte, als sich der Ghoul der zweiten Leiche, einer toten Frau, zuwandte… * Inspektor Abel Brighton ließ die Handbremse ratschend einrasten. Kurzatmig drehte er sich zu dem Mann um, der neben ihm saß. Der Mann hieß Leo McMillan. Er war schwarz gekleidet, trug einen sorgfältig gestutzten Oberlippenbart und eine große Hornbrille. Die Melone hing auf dem schlanken Griff seines dunkelgrauen Regenschirms, der noch vom Regen feucht war. Der Inspektor zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir leid, Ihnen das nicht ersparen zu können, Mr. McMillan. Tut mir wirklich leid.« McMillan schaute förmlich durch den beleibten Inspektor von New Scotland Yard hindurch. Mit ausdruckslosen Augen blickte er zur deprimierend kahlen Fassade des Leichenschauhauses hinüber. »Ich weiß, daß es sein muß, Inspektor«, seufzte er. »Möchten Sie vorher eine Zigarette haben?« »Danke. Das ist nicht nötig.« »Vielleicht tröstet Sie das, Mr. McMillan: Ihre Frau sieht aus, als würde sie schlafen.« Leo McMillan hob den Kopf. Sein Gesicht war grau. Die Aufregung war beinahe zuviel für ihn. Tapfer kämpfte er um Fassung. Mit granitharten Zügen preßte er hervor: »Ich will sie jetzt sehen, Inspektor Brighton.« Der Yard-Mann nickte. »Gut, dann kommen Sie!« Brighton öffnete den Wagenschlag und schob seine kurzen Füße nach draußen. Er war ein im Polizeidienst ergrauter Herr 4 �
mit allen Vorzügen und Nachteilen eines Menschen, den der Umgang mit Gaunern und Mördern hart gemacht hat. Trotz allem hatte sich Brighton ein ganz kleines Schränkchen in seiner Seele eingerichtet, in dem er das wertvollste Gut der Menschheit aufbewahrte: das Mitgefühl. Er konnte verstehen, wie McMillan in diesem Augenblick zumute war. Deshalb sprach er mit dem Mann so wenig wie möglich und so sanft wie möglich. Es ist ein verdammt hartes Los, zu erfahren, daß man keine Frau mehr hat. Daß sie tot ist, ermordet. Und es ist schlimm, ins Leichenschauhaus zu gehen, um die Tote zu identifizieren. Schweigend gingen sie durch die glänzenden Pfützen. Inspektor Brighton schellte. Er holte seine Zigaretten aus dem Jackett und hielt sie McMillan hin. »Wollen Sie nicht doch eine?« Leo McMillan schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich zittere am ganzen Körper«, gestand er. »Die stärkste Zigarette schafft es nicht, mich zu beruhigen.« Abel Brighton rauchte allein. Als sich ihnen die Tür nach geraumer Zeit nicht aufgetan hatte, ließ er ein erstauntes »Nanu« hören. »Ich habe doch angerufen und gesagt, daß wir kommen. Mr. Hawk müßte doch eigentlich…« Hinter der schmalen gerippten Scheibe flammte Licht auf. Brightons Blick hellte sieh sofort wieder auf. Lächelnd sagte er: »Ah, da kommt er schon. Hat vermutlich seine Schuhe in der Eile nicht gefunden.« Zu McMillan sagte er erklärend: »Hawk zieht die Schuhe immer aus, müssen Sie wissen.« Mr. Arthur Hawk öffnete die Tür mit knackenden Geräuschen. Er war klein und dünn. Der weiße Kittel hing faltig von seinen knöchernen Schultern. Er hatte unzählige Fältchen und Runzeln im Gesicht, dessen Haut irgendwie an altes Leder erinnerte. »Na, Mr. Hawk«, brummte Inspektor Brighton. 5 �
»Wie geht's, Inspektor?« fragte Hawk freundlich. »Ich wette, es interessiert Sie nicht wirklich«, gab Brighton zurück. Er wies auf seinen bleichen Begleiter. »Das ist Mr. Leo McMillan. Führen Sie uns zu seiner Frau!« Die Männer traten ein. Hawk ließ die hohe Tür hinter ihnen zufallen. Ihre Schritte hallten gespenstisch durch den langen, grau verfliesten Korridor. Hawk machte überall Licht. Lange Neonröhren spendeten einen kalten, unpersönlichen und auch unnatürlichen Schein. McMillan schauderte. Während er zwischen den beiden Männern einherwankte, stiegen Tränen in seine Augen. Er hätte es noch vor ein paar Tagen nicht für möglich gehalten, daß er jemals ein Leichenschauhaus betreten würde. Er hatte nicht einmal gewußt, wo es sich befand. Dann war Cindy nicht nach Hause gekommen. Er hatte sich um sie gesorgt, hatte befürchtet, daß ihr etwas zugestoßen sei, und als er die quälende Ungewissheit nicht mehr länger ertragen konnte, war er zur Polizei gerannt. Er hatte Cindy beschrieben. Man hatte ihn von Büro zu Büro weitergereicht, bis er an Inspektor Brighton gelangt war. Der hatte ihm einen Kognak angeboten, da hatte er gewußt, was mit Cindy geschehen war. Er hatte um die Wahrheit gebeten und sie bekommen. Cindy war von einem jugendlichen Rowdy überfallen worden. Ihr Geld hatte er haben wollen. Er hatte sich auf ihre Handtasche gestürzt. Verflucht, warum hatte sie ihm das Geld nicht gegeben? Aber so war Cindy gewesen. Sie hatte sich ihr Geld nicht leicht verdient. Deshalb hing sie ebenso sehr daran wie an ihrem Leben. Und deshalb hatte sie ihr Geld mit ihrem Leben verteidigt. Der Junge bekam es mit der Angst, als sie um Hilfe schrie. Er wollte sie zum Schweigen bringen, und er brachte sie zum Schweigen, mit seinem Messer. Sie betraten die Halle, in der Cindy lag. Eine Maschine sorgte für konstante Kühlung. Der kalte Hauch 6 �
legte sich beklemmend auf Leo McMillans Lunge. Er atmete schwer und fuhr sich, nach Abnehmen der Brille, zweimal sehr schnell über die Augen, um die Tränen daraus zu vertreiben. »So, Sir«, sagte Arthur Hawk, nachdem er Licht gemacht hatte. � »Danke«, versetzte der Inspektor. � »Brauchen Sie mich noch, Sir?« erkundigte sich Hawk. »Ich � erwarte nämlich einen Anruf von…« »Privat, wie?« »Ja, Sir. Meine Tochter wollte anrufen. Sie hat Schwierigkeiten mit ihrem Mann, und sie hat nur mich, wenn sie über ihre Probleme reden möchte.« »Schon gut, Hawk. Gehen Sie nur. Das hier kann ich auch ohne Sie erledigen.« »Sie sind sehr verständnisvoll, Sir«, sagte Hawk dankbar. Detektiv-Inspektor Brighton lächelte bitter. »Vielleicht kommt das daher, weil ich keine Tochter, ja nicht mal Familie habe.« Arthur Hawk zog sich zurück. »Bitte, kommen Sie, Mr. McMillan! Ihre Frau liegt dort drüben«, sagte Brighton. Sie gingen etwa zehn Schritte. Plötzlich verfärbte sich Brightons Gesicht. Seine runden Augen quollen aus den Höhlen. Ekel und abgrundtiefes Grauen verzerrten seine Züge, als er das abgenagte Skelett jener Leiche sah, über die sich der Ghoul hergemacht hatte. Bestürzt wandte sich der Inspektor um. � »H-a-w-k-!« brüllte er, so laut er konnte. »H-a-w-k-!« � Leo McMillan stand wie versteinert da. � Entsetzt starrte er auf seine tote Frau. Das gefräßige Maul des � Ghouls hatte grauenerregende Spuren hinterlassen. *
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Einmal in vier Wochen hat auch ein Sensationsreporter das Bedürfnis, auszuspannen. Ich finde, einmal im Monat hat jeder Mensch das Recht, mit seiner Freizeit anzustellen, was ihm in den Sinn kommt, selbst wenn es noch so verrückt ist. Pausenlos Sensationen zu liefern ist bei Gott keine Kleinigkeit. Wie ich das trotzdem immer wieder schaffe, ist mir selbst ein bißchen schleierhaft. Natürlich bringe ich eine gehörige Portion Fingerspitzengefühl für diesen Job mit. Und eine gute Nase, mit der ich Übles schon meilenweit riechen kann. Der Rest besteht aus einem gekonnt ausgeklügelten System von Informanten, die immer und überall für mich die Ohren offen halten und mich sofort anrufen, wenn sie etwas für mich haben. Manche tun das aus reiner Freundschaft. Andere für Geld. Für mich war nur wichtig, daß sie es machten. An diesem verregneten Spätnachmittag oder Frühabend hatte ich Mary Teal in unserem Klub getroffen. Mary war so ziemlich das netteste Girl, das man sich vorstellen kann. Sanft, anschmiegsam, leidenschaftlich und obendrein auch noch treu. Ich bedauerte immer dann, wenn ich mit ihr beisammen war, daß ich so wenig Zeit für sie hatte. Himmel, was hätten wir beide alles angestellt. Wir tranken, lachten, tanzten, alberten, waren an diesem Tag nach langem wieder unbeschwert wie Kinder. Daß ich schon morgen nach Hongkong fliegen sollte, weil man da irgendein Rauschgiftsyndikat hochgehen lassen hatte, verschwieg ich Mary jetzt noch. Ich wollte ihr den Abend nicht verderben. Und auch nicht die Nacht, auf die wir uns beide schon freuten. Mitten in die ausgelassenste Stimmung hinein platzte der Anruf. Unangenehme Telefonate kommen zumeist zur ungelegenen Zeit. »Perry!« schrie der Kumpel hinter dem hohen, mit weinrotem Nylonsamt bespannten Tresen. »Perry Lloyd! Telefon!« 8 �
»Wer ist dran?« »Kann ich nicht verstehen bei dem Krach.« Mit Krach bezeichnete er die neue Single von Brian Ferry. Ich zog Mary zum Tresen und bestellte einen Juice für sie. Dann machte ich dem Disc-Jockey ein Zeichen, er möge die Phon reduzieren. Ich konnte mir solches erlauben, denn der Klub war sozusagen mein zweites Zuhause. Deshalb riefen auch alle meine Informanten hier an, wenn ich in meinem Haus nicht an den Apparat ging. Ich nahm den Hörer auf. »Lloyd.« »Bist auf 'ne Super-Super-Story scharf, Perry?« fragte George Molton am anderen Ende der Leitung aufgeregt. Er saß in den »Katakomben« von New Scotland Yard, wußte aber trotzdem alles, was lief. »Deine letzten Sensationen sind leider in die Hose gegangen, George«, sagte ich rügend. »Diesmal nicht, Perry. Diesmal kann ich dir den ganz großen Knüller ansagen.« Ich kannte George Molton schon lange. Wir waren zusammen zur Schule gegangen. Ich hatte ihn damals immer verprügelt, aber George war nicht nachtragend. Als die Schule zu Ende war, wurden wir Freunde. Er war einer von denen, die mich gratis mit Neuigkeiten fütterten. Ihm genügte es schon, zu wissen, daß mein beruflicher Erfolg mit ihm stand und fiel. Und ich vermittelte ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs neue dieses Gefühl. Da ich George Molton schon lange kannte, wußte ich natürlich auch, was ich von seinen leichtfertig angewandten Superlativen zu halten hatte. »Was gibt's, George?« fragte ich nicht besonders interessiert. Ich war nicht gerade versessen darauf, Mary Teal ausgerechnet 9 �
heute zu versetzen. Und morgen hatte ich einen Job in Hongkong. »Weißt du, was ein Ghoul ist?« fragte George. »Klar. Frag mich jetzt bloß nicht, wie man den schreibt. Ich hasse Kreuzworträtsel.« »Es gibt einen Ghoul in London, Perry!« »Ich glaube dir kein Wort, George.« »So? Dann fahr doch mal zum Leichenschauhaus und sieh dir das Skelett an! Aber kein Wort davon, daß du den Tip von mir gekriegt hast, Perry, verstanden? Sonst mußt du mir 'nen Platz in eurer Redaktion beschaffen.« »Gott behüte!« rief ich aus. George legte auf. Verdammt, ich hatte ihn noch eine Menge fragen wollen, um mir die Fahrt zum Leichenschauhaus zu ersparen. Zornig schleuderte ich den Hörer auf die Gabel. Der DiscJockey fuhr mit den Phon gleich wieder nach oben. Mir war es egal. Mein Schädel dröhnte sowieso schon. Ich sah Marys traurigen, fast leidenden Blick und verwünschte meinen Job und George Molton. * Inspektor Abel Brighton hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und auch alle dazwischenliegenden Instanzen. Man hatte das Leichenschauhaus buchstäblich auf den Kopf gestellt. Ergebnis: keine Spur von dem Ghoul. Die Bestie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gab nur noch Leichen in dem Schauhaus. Leichen und Polizisten. Abgesehen von Arthur Hawk und Leo McMillan, den man wegen des erlittenen Nervenzusammenbruchs mit einem Ambulanzwagen ins nächste Hospital brachte. Nach getaner Arbeit verließen die Polizeibeamten mit unzu10 �
friedenen Gesichtern das gruselige Gebäude. Arthur Hawk kehrte an seinen Schreibtisch zurück und telefonierte nun endlich mit seiner unglücklichen Tochter. Was hier vorgefallen war, behielt er für sich. Erstens deshalb, weil ihn der Inspektor darum gebeten hatte, und zweitens, weil er die junge Frau mit diesen Dingen nicht belasten wollte. Während Hawk mit tröstenden, ermahnenden und beratenden Worten auf sein Kind einredete, begann sich in jener Halle, in der Cindy McMillan lag, eine Leiche zu bewegen. Der Mann schlug die Augen auf und blickte sich vorsichtig um. Niemand war mehr da. Er war allein. Begeistert grinste er. Er war stolz darauf, die Polizisten derart an der Nase herumgeführt zu haben. Sie hatten ihn sich mehrmals angesehen. »Noch 'n Toter«, hatte einer von ihnen gesagt, dann hatte er das Laken wieder über ihn gelegt. Dieses Laken streifte der Mann nun langsam von seinem kräftigen Körper ab. Er hatte sich in einen Menschen verwandelt, als der Inspektor mit diesem anderen Mann gekommen war. Mit einem jähen Ruck setzte sich der unheimliche Dämon auf. Er hatte immer noch Hunger. Doch er wollte frisches, warmes Fleisch haben. Diese Toten hier waren ihm zu kalt. Sie schmeckten nicht so gut wie jene, die er sich auf dem Friedhof holte. Mit bloßen Händen wühlte er sich in die frischen Gräber hinab, um die Gebeine der kürzlich erst bestatteten Leichen gierig abzunagen. Lautlos glitt das Ungeheuer in Menschengestalt von der kalten Marmorpritsche. Nachdem der letzte Polizist die Halle verlassen hatte, war das Licht gelöscht worden. Der Mann eilte auf die weiß schimmernde Tür zu. Er erreichte sie, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Es schien, als schwebte er. 11 �
Behutsam legte er die Hand mit den krallenartigen Fingern auf den glatten Lack der Tür. Als Mensch hatte er andere Hände. Doch er war nur noch zur Hälfte ein menschliches Wesen. Die andere Hälfte hatte sich bereits wieder in den grauenerregenden Ghoul zurückverwandelt. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Er durchschritt sie, und als sie hinter ihm zuschwang, war seine Verwandlung bereits abgeschlossen. Das fürchterliche Monster war nun auf der Suche nach warmem Fleisch. Der Ghoul wußte, wo er welches finden konnte. * »Ich mache dir einen Vorschlag, Kleines«, sagte Arthur Hawk. »Wie du weißt, habe ich morgen den ganzen Tag frei. Schick Ronnie zu mir! Ich werde ihn gründlich ins Gebet nehmen, ihm den Kopf waschen und… Na ja, jedenfalls bin ich überzeugt, daß damit alles wieder Ins rechte Lot zu bringen ist. Ronnie ist doch ein vernünftiger, einsichtiger junger Mann.« »Ich rede nie wieder ein Wort mit ihm, Vater!« rief Hawks Tochter schluchzend. »Also, Kind, so geht es nun aber wirklich nicht. In solch einem Fall müssen sich beide Teile ein bißchen entgegenkommen.« »Ich? Ich bin doch nicht schuld daran, Dad.« »Du mußt ihm eine Chance geben, Kind.« »Niemals.« »Dann geht eure Ehe kaputt. Willst du das?« »Was kann denn daran noch kaputtgehen, Dad? Unsere Ehe besteht doch nur noch aus Scherben.« »Man kann die Scherben aufsammeln und zusammenkitten. Man muß aber wollen.« 12 �
»Ich will nicht! Nein! Ich will nicht mehr!« »Also möchtest du dich scheiden lassen?« »Oh, Dad, ich bin ja so unglücklich!« Hawk glaubte, draußen auf dem Korridor so etwas wie einen Schatten gesehen zu haben. Eine kühle Unruhe beschlich ihn. Er dachte an das Skelett in der Leichenhalle, und ihm fielen die mahnenden Worte des Inspektors ein, der ihm gesagt hatte, er solle sich vorsehen, denn man könne nicht wissen. Seine Tochter sprach schluchzend weiter. Er hörte ihre Worte zwar, verstand aber deren Sinn nicht mehr. Etwas anderes beschäftigte ihn und lähmte sein väterliches Denken. Etwas anderes man konnte es Angst nennen. Obwohl sich auf dem Korridor nichts regte, blieb die Angst. Irgend etwas stimmte dort draußen nicht. In einer solchen Situation überstürzten sich die Gedanken. Man sieht schreckliche Bilder und hat eine Menge unbrauchbarer, weil undurchführbarer Ideen. Hawk versuchte seine Furcht mit dem Einwand zu entkräften, er hätte sich getäuscht. Es kommt ab und zu schon mal vor, daß man meint, einen Schatten gesehen zu haben, ohne daß dies der Tatsache entspricht. »Dad!« rief Hawks Tochter am anderen Ende der Leitung enttäuscht. »Dad! Du hörst mir ja gar nicht zu.« Diese Worte verstand Arthur Hawk auch wieder dem Sinn nach. »Doch, doch, Kleines«, beeilte er sich zu sagen. »Natürlich höre ich dir zu.« »Was habe ich eben gesagt, Dad?« »Nun ja… Also… Du hast gesagt…« »Gib dir keine Mühe, Dad. Wozu haben wir überhaupt miteinander telefoniert? Es hat ja doch alles keinen Zweck.« »Das darfst du nicht sa…« 13 �
Es klickte in der Leitung. Laut losheulend hatte Hawks Tochter aufgelegt. »Kind!« rief er besorgt. »Kleines! Baby!« Ratlos legte er den Hörer in die Gabel. Die Sache mit dem Schatten ließ ihm keine Ruhe. Immer noch war die unheimliche Angst da. Nervös blickte er zur offen stehenden Tür. Dann schielte er nach dem Telefon. Ob er Inspektor Brighton anrufen sollte? Unsinn. Er konnte doch nicht halb Scotland Yard verrückt machen, ohne den Verdacht bestätigt zu wissen. Brighton hätte ihm den Kopf abgerissen. Und das mit Recht. Es war also nötig, daß er sich vorerst einmal Gewissheit verschaffte. Langsam erhob sich Arthur Hawk. Sein unsteter Blick war auf die offen stehende Tür geheftet. Er sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er sich bewaffnen konnte. Er entdeckte einen alten Gehstock mit Gummikappe. Irgend jemand hatte ihn mal vergessen. Keiner hatte ihn jemals abgeholt. Und keiner hatte die Idee gehabt, den Stock zum Fundbüro zu tragen. Deshalb lehnte er nun schon seit einem halben Jahr dort in der Ecke. Von niemandem beachtet. Hank nahm den Stock an sich. Er fühlte eine gewisse Erleichterung. Entschlossen straffte er den Rücken. Dann ging er los, ehe ihn der Mut verlassen konnte. Hastig trat er aus seinem Büro. Auf dem Korridor brannte kein Licht. Ein kleiner Teil davon wurde von dem Licht erhellt, das aus Hawks Büro fiel. Undeutlich waren die Umrisse einer großen Gestalt zu erkennen. Hawks Herz schlug schneller. Die Gestalt bewegte sich nicht, und das Licht reichte nicht so weit, um den Mann im weißen Kittel die Züge des fremden Gesichts erkennen zu lassen. »Was suchen Sie hier?« fragte Hawk tapfer. Feucht umschloß seine Hand den Stock. Er war bereit, zuzuschlagen, so kräftig es 14 �
ihm möglich war. »Wer sind Sie?« Ein heiserer, tierhafter Laut drang aus der Dunkelheit. Ein eiskalter Schauer rieselte Hawk über den schmalen Rücken. »Kommen Sie ins Licht, damit ich Sie sehen kann!« preßte er nervös hervor. »Kommen Sie schon! Treten Sie ins Licht!« Mit tiefen, rasselnden Atemzügen setzte sich die Gestalt in Bewegung. Die Lichtkante streifte die hoch aufgerichtete Figur. In derselben Sekunde wurde Arthur Hawk der ganzen schrecklichen Scheußlichkeit ansichtig. Er faßte sich entsetzt an die schmerzenden Schläfen. »O Gott!« ächzte er in namenloser Angst. »O Gott! Der Ghoul!« * Es war eine von Marys einzigartigen Tugenden, daß sie alles verstehen konnte. Niemand konnte sehen, wenn sie tief drinnen in der Seele litt. Nicht einmal ich, Aber ich fühlte es, und das machte mich krank. Wie eine stumme, schöne Göttin saß sie neben mir im Wagen. Ihr blondes Haar schimmerte wie flüssiges Gold. Ihre Züge waren ebenmäßig, bildschön, zeugten von ungewöhnlicher Intelligenz. Sie wollte Ärztin werden. Kinderärztin, genauer gesagt. Noch studierte sie. Verdammt, warum machte sie mir niemals Vorwürfe? Andere Mädchen brachen mehrmals am Tag wegen nichts einen Streit vom Zaun und stritten mit ihren Jungs, daß die Fetzen flogen. Mary Teal war anders. Sie sagte keinen Ton. Das war viel schlimmer. Ich ließ meinen grünen Flitzer, einen frisierten Hardtop-MG, noch einmal um eine Ecke jaulen. Dann waren wir da. Still, beinahe majestätisch lag das Leichenschauhaus vor uns. Ich hatte Mary nicht hierher mitnehmen wollen, aber sie hatte 15 �
darauf bestanden. Und wenn Mädchen einmal auf etwas bestehen… Ich hatte mich mit einem Achselzucken gefügt. »So«, sagte ich und stellte den Motor ab. »Hier haben wir das Leichenauffanglager. Ich hoffe, du bestehst nicht darauf, auch mit hineinzugehen.« Mary sah mich kühl an. »Ich komme wirklich mit, Perry.« Meine Zunge huschte schnell über meine Lippen. »Mary, das ist keine Ausstellungshalle, wo man sich schöne Sachen anschauen kann. Da drinnen gibt es Leichen, nur Leichen.« »Mir ist der Tod nicht fremd, Perry. Er hat nichts Abschreckendes an sich. Wenn man schon mal einen Toten seziert hat…« »Was hast du schon mal?« fragte ich benommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Mary mit ihren hübschen schlanken Händen schon mal eine Leiche zerlegt hatte. Diese sanften Hände, mit denen sie stets so zärtlich streichelte. »Es gibt keinen Doktor, der nicht schon mal seziert hat«, sagte Mary. »Doch, den gibt es.« »Nein.« »Aber ja. Dr. Brown zum Beispiel.« »Der ist doch Doktor der Rechtswissenschaften.« »Er ist Doktor, darum ging's«, sagte ich. Dann klappte ich den Wagenschlag auf, Mary tat dasselbe auf ihrer Seite. Ich stieg nicht aus. »Was ist?« fragte sie. »Ich will nicht, daß du mit hineingehst. Mary. Mag sein, daß es dir nichts ausmacht, einen Haufen Tote zu sehen. Aber hast du schon mal eine Leiche gesehen, die von einem Ghoul gefressen wurde?« »Nein.« 16 �
»Aber ich habe so etwas schon gesehen. Und deshalb sage ich: du bleibst hier!« Ich federte aus dem Wagen. Ein wenig erstaunt stellte ich fest, daß sie wirklich im MG sitzen blieb. * Der Ghoul stieß ein hungriges Fauchen aus. Die rotgelben Flammen in seinen tiefliegenden Augen verkündeten brennende Mordlust. In panischer Furcht wankte Arthur Hawk vor ihm zurück. Da besann sich der kleine Mann im weißen Kittel des Stocks, den er in Händen hielt. Angeekelt von dem scheußlichen, widerwärtigen Monster drosch er mit voller Kraft nach dem häßlichen Schädel. Es klatschte ekelhaft, als der Stock den haarlosen Schädel des Monsters traf. Der Ghoul riß sein gefräßiges Maul mit den häßlichen gelben Zähnen auf und stieß ein zorniges Zischen aus. Da, wo ihn der Stock getroffen hatte, platzte die schleimige Haut auf. Kleine schimmernde Blasen bildeten sich in der klaffenden Wunde. Sie wuchsen ungeheuer schnell, quollen aus dem Spalt hervor, brodelten und zerplatzten. Wie Speichel troff die Flüssigkeit über den häßlichen Schädel des grauenerregenden Monsters. Augenblicke später verdampfte dieser unheimliche Saft, und die Wunde war nicht mehr zu sehen. Dies alles währte nur Bruchteile von Sekunden. Schreiend wandte sich Hawk um. Die Hand des Monsters schnellte ihm nach. Scharfe Krallen bohrten sich tief in das Fleisch seines Halses. Ein Krächzen kam aus seiner zugeschnürten Kehle, als ihn der Ghoul herumriss. Blut schoß aus seinem Mund. Obwohl er wußte, daß sein Ende nahe war, kämpfte er mit dem Mut des 17 �
Verzweifelten um sein Leben. Er schlug mit dem Stock in wahnsinniger Angst um sich. Jeder Treffer war von diesem ekelhaften Klatschen begleitet. Hawk stieß dem Monster den Stock in den Rumpf, wieder und immer wieder. Der Ghoul ließ ihn los. Hawk glaubte hoffen zu dürfen und hetzte in sein Büro hinein. Keuchend schleuderte er die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel hastig herum. Doch die Tür vermochte den Dämon nicht aufzuhalten. Er warf sich mit unglaublicher Gewalt dagegen. Sie flog knirschend zur Seite. Ungläubig starrte Arthur Hawk auf das langsam näher kommende Scheusal. Die Bestie beeilte sich nicht, denn dieses Opfer war ihr sicher. Schreckliche Laute drangen aus dem Rachen des widerwärtigen Leichenfressers. Er warf sich gierig auf Hawk, der wie zur Salzsäule erstarrt auf den Tod wartete. Der Ghoul gab ihn ihm mit grausamer Härte. * Ich wandte mich an der Tür um und winkte Mary. Sie lächelte madonnenhaft und winkte zurück. Nun wollte ich schellen. Da brach mir plötzlich der Schweiß aus allen Poren. Ich hörte jemanden schreien, dort drinnen im Leichenschauhaus. Noch nie hatte ich einen grässlicheren Schrei wie diesen gehört. Der Ghoul! schoß es mir siedendheiß durch den Kopf. Du mußt rein! dachte ich aufgeregt. Da ist jemand in Lebensgefahr! Ich packte die schwere Messingklinke und riß sie auf und nieder. Wutentbrannt mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß abgeschlossen war. Doch damit war ich nicht zu entmutigen. Ich kannte viele Tricks, um so manche abgeschlossene Tür aufzukriegen. Und ich hatte auch ein teures Werkzeug zur Verfü18 �
gung. Ich trug es stets bei mir, und es hatte mir schon oft wertvolle Dienste geleistet. Natürlich war ein solches Vorgehen polizeilich nicht gedeckt, doch wer fragte in solch einem kritischen Fall schon nach dem Gesetz? Dort drinnen brüllte ein Mensch um sein Leben. Ich mußte hinein, um ihm zu helfen. Egal wie. Ich glaube, nicht einmal Mary bekam genau mit, was ich machte, obwohl sie mir bestimmt auf die Finger sah. Sie konnte wegen der geschlossenen Wagenfenster die grauenvollen Schreie nicht hören. Deshalb verstand sie wahrscheinlich auch meine an den Tag gelegte Hektik nicht. Sobald ich das Schloß überlistet hatte, warf ich die Tür auf und stürmte in das Leichenschauhaus. Der vor mir liegende Korridor war mir zu finster. Ich suchte und fand den Lichtschalter. Zuckend sprangen die Neonröhren an. Bestürzt stellte ich fest, daß der Mann nun nicht mehr schrie. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte. Mit weiten Sätzen jagte ich den Korridor entlang. Eine offen stehende Tür lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich vernahm ein gieriges Schmatzen. Die Bestie stillte gerade ihren Hunger. Mit hämmerndem Herzen näherte ich mich der Tür. Ich lief nicht mehr, sondern schlich, wagte kaum zu atmen. In meinem Kopf fuhren irre Gedanken Karussell. Ich fragte mich, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein solches Monster besiegen konnte. Ich hatte nur den unbändigen Wunsch, daß es mir gelingen möge. Vier Leichen hatte ich vor nicht allzu langer Zeit gesehen, über die sich ein Ghoul hergemacht hatte. Möglicherweise war es sogar dieser da gewesen. Sie hatten grauenvoll ausgesehen. Der Dämon hatte alles von ihren Knochen gefressen. Ein paar Haarbüschel hatte er übriggelassen. Das war alles gewesen. Für den 19 �
gesunden Menschenverstand unvorstellbar. Bei dem Gedanken, daß ich dort drinnen schon wieder ein solch abgenagtes Skelett vorfinden würde, drehte sich mir der Magen um. Hastig durchstöberte ich meine Taschen nach irgendeiner Waffe. Mit meinem Springmesser hätte ich nichts ausgerichtet, deshalb ließ ich es in der Tasche. Noch nie war ich einem Ghoul begegnet. Nur seine Spuren waren mir bekannt. Sie waren allerdings beredt genug gewesen. Meine Finger streiften das Gasfeuerzeug. Besser als nichts, dachte ich. Schnell holte ich es hervor und drehte die Düse ganz auf. Man sagt, wenn sonst nichts mehr hilft, bleibt immer noch das Feuer. Hoffentlich stimmt das. Mit angehaltenem Atem trat ich in den Rahmen der Tür. Das Monster stank penetrant nach Verwesung. Eine unbeschreibliche Übelkeit schnürte mir die Kehle zu und machte mich schwindelig. Ich mußte mich verflucht zusammenreißen, um nicht schlappzumachen. Nur das Wissen, daß ich verloren war, wenn ich jetzt umkippte, hielt mich auf den Beinen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Ghoul. Diesen scheußlichen Anblick werde ich nie vergessen. Der Dämon hörte mich nicht. Er war zu sehr mit seiner grausigen Mahlzeit beschäftigt. Sein gieriges Schmatzen ging mir durch Mark und Bein. Eine raue Gänsehaut spannte sich um meinen bebenden Körper. Noch nie hatte ich mehr Abscheu empfunden als in diesem Augenblick. Alle Widerwärtigkeit von Erde und Hölle hatten sich in diesem Monster vereinigt. Der Ghoul hatte dem Mann es handelte sich offensichtlich um einen Mann, genau war das nicht mehr festzustellen – die Kleider vom Leib gerissen. Mich übermannte die Wut. Ich dachte nicht mehr an meine Sicherheit und an mein Leben. Mich ekelte das alles derart an, 20 �
daß ich einfach nicht länger tatenlos zusehen konnte, wie diese verfluchte Bestie die bleichen Knochen seines Opfers bloßlegte. Mit einem zornigen Schrei rannte ich auf den Ghoul zu. Ich riß den Fuß mit viel Kraft nach vorn und versetzte dem Dämon einen mächtigen Tritt. Er ächzte und kugelte von dem Leichnam weg. Mit seinem haarlosen Schädel knallte er gegen den Schreibtisch. Hechelnd schnellte er auf die Beine, als wäre ihm nichts passiert. Seine Augen machten mir Angst. Ich gebe es offen zu, ich hatte in diesem schrecklichen Moment lausige Angst. Nur der wird mich verstehen, der sich schon mal in einer solchen Situation befunden hat vorausgesetzt, daß er überhaupt noch lebt. Die harten Lippen spannten sich. Blut troff aus seinem riesigen Maul. Er starrte mich an, als wollte er mich hypnotisieren. Vielleicht hatte er die Möglichkeit, mir seinen Willen aufzuzwingen. Was wissen wir Menschen denn schon von all diesen Greuelgestalten, die unsere Erde immer wieder heimsuchen. Seine langen Finger, an denen Krallen aus Horn waren, zuckten nervös. Es war nicht schwer zu erraten, wonach er trachtete. Sein Hunger war unersättlich. Er wollte auch mich töten und ebenfalls fressen. Meine Kleider klebten schweißdurchtränkt an meinem Körper. Ich versuchte mich von diesen unheimlichen Augen loszureißen, die mir irgend etwas aufzwingen wollten. Ich wehrte mich gegen den teuflischen Willen des anderen. Es kostete mich ungeheuer viel Kraft. Doch mir war bewußt, daß ich verloren war, sobald ich keinen eigenen Willen mehr hatte. Und ich war drauf und dran, ihn in diesem Moment zu verlieren. Mühsam preßte ich die Augen zu. Er starrte mich mit seinen rotgelben Flammen durch die Lider an. Ich schüttelte ächzend den Kopf und stellte verzweifelt fest, daß ich überhaupt nicht daran dachte, etwas zu meiner Rettung 21 �
zu unternehmen. Ich stand nur da und lieferte mich dem Bann dieses gefährlichen Monsters aus. Endlich meldete sich mein Selbsterhaltungstrieb in mir. Tu etwas! schrie er. Tu doch endlich etwas! Sonst ist es aus – aus – aus! Und ich tat etwas. Ich riß mein Feuerzeug hoch und richtete die Düse auf das grauenvolle Gesicht des Ghouls. Ein Daumendruck, die Gasflamme fauchte lang und glühendheiß dem Monster entgegen. Der Ghoul stieß einen furchtbaren Laut aus, wich mit angstverzerrter Fratze zurück, kreiselte im nächsten Moment blitzschnell herum, jagte mit kraftvollen Sätzen auf das geschlossene Fenster zu und sprang brüllend durch die Scheibe. Benommen ließ ich die Flamme sterben. Diese Runde war an mich gegangen. * Mary Teal saß draußen im MG. Sie hatte das Radio eingeschaltet und hörte sich die Instrumentalaufnahme von Lennon/McCartneys »Yesterday« an. Die Nummer gefiel ihr, deshalb drehte sie lauter. Und sie summte auch mit. Deshalb bekam sie nichts von all dem mit, was sich nur wenige Meter von ihr entfernt abspielte. Als »Yesterday« mit weichen Akkorden ausklang, stellte sie das Radio ein wenig leiser. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und bekam allmählich vom Warten genug. Nachdem Eartha Kitt drei ihrer bekanntesten Songs zum besten gegeben hatte, schaltete Mary ab. Ihre Ungeduld war nun nicht mehr zu zügeln. Sie verließ den grünen MG und begab sich zum offen stehenden Eingang des Leichenschauhauses. Als sie ihn erreicht hatte, zögerte sie kurz, doch dann trat sie entschlossen ein. Niemand 22 �
konnte von ihr verlangen, daß sie stundenlang im Auto sitzen blieb. Sie hatte genug Geduld bewiesen, nun reichte es eben. Erst ging sie flott, dann verlangsamte sie ihre Schritte. Schließlich setzte sie ihren Weg nur noch zögernd fort. Sie hatte keine Ahnung, wodurch dieses Zögern hervorgerufen wurde, was sie dermaßen hemmte. Unwillkürlich steuerte sie die Tür an, hinter der das Büro von Arthur Hawk lag. Es war ihr rätselhaft, weshalb sie ausgerechnet auf diese Tür zuging. Vielleicht weil sie die erste Tür war? Vielleicht weil sie offen stand? Was immer der Grund dafür war, Mary kannte ihn nicht. Sie fühlte sich von dieser Tür lediglich magisch angezogen, und sie gehorchte diesem unbekannten Locken. Als sie die Tür erreicht hatte, stürmten die entsetzlichsten Eindrücke auf sie ein. Sie preßte bestürzt die Hand auf den Mund. Was sie sah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Benommen starrte sie auf den skelettierten Toten. Sie sah das zertrümmerte Fenster. Sonst sah sie nichts. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch hinter sich. In diesem Moment kam ihr Herz zum Stillstand. Sie hörte sich einen schrillen Schrei ausstoßen, während sie mit furchgeweiteten Augen blitzschnell herumfuhr… * Der Erfolg mit dem Feuerzeug hatte mir eine Menge Selbstvertrauen gegeben. Diese Zuversicht, daß selbst ein Dämon wie dieser zu besiegen war, baute sich in mir zu einem ungeheuer starken Motor aus. Ich wollte dem verdammten Ghoul die erfolgreiche Flucht nicht gönnen. Er durfte nicht entkommen, denn sein heißer Hunger würde ihn zu immer mehr Morden treiben. Ghouls sind zwar im Prinzip Leichenfresser, doch je frischer die 23 �
Leichen sind, desto lieber haben sie sie. Auf bereits von Verwesung befallene Körper greifen sie nur ungern zurück. Sobald mir klar war, daß ich den Ghoul nicht entkommen lassen durfte, rannte ich zu dem zertrümmerten Fenster und sprang in der Hocke auf die Straße hinaus. Ich hatte dem Scheusal eine kleine Schlappe verpasst. Bestimmt war er darüber sehr wütend. Und vielleicht war er sogar ein bißchen durcheinander. Hoffentlich war er das. Er rannte im Zickzack durch das abendliche Stadtviertel. Ich folgte ihm. In der Nähe eines kleinen Friedhofs verlor ich ihn aus den Augen. Unheimlich geformte Nebelgeister umtanzten die Grabsteine. Ich würde mich nicht gerade als besonders ängstlich bezeichnen, aber hier, vor dem Friedhofstor, begann ich doch klugerweise erst mal zu überlegen, ob es ratsam war, dem Dämon weiter zu folgen. Es heißt, daß Ghouls unter Friedhöfen ein ganzes Labyrinth von Gängen anlegten, wodurch es ihnen möglich war, von Grab zu Grab zu kriechen. Wenn dieser Ghoul diese Gänge vielleicht auch nicht gegraben hatte, so war doch mit Sicherheit anzunehmen, daß er sich auf dem Friedhof unvergleichlich besser auskannte als ich. Er war hier zu Hause, ich nicht. Nach langem Hin und Her riskierte ich es trotzdem, den Friedhof zu betreten. * Fröstelnd warf sich Henry Gall den dicken Wollschal um den dünnen Hals. Er wickelte ihn mehrmals herum. Lang genug war er dazu. Dann warf er die beiden Schalenden nach hinten, als gingen sie ihn nichts mehr an. 24 �
Leise raunte der Wind in den alten Baumkronen. Gall hockte auf einem umgestürzten Grabstein. Die Inschrift war schon lange verwittert und nicht mehr zu entziffern. Um die Kälte des Steins nicht zu spüren und um sich keine quälende Verkühlung im Unterleib zu holen, hatte er fünf dicke alte Zeitungen aufgelegt. Daß ihn diese unheimlichen Nebelschleier umtanzten, störte ihn nicht. Er war nicht furchtsam, und ein Friedhof war für ihn ein Platz wie jeder andere. Gall war klein von Wuchs. Seine Schuhe waren schwer und hoch und eigentlich eher für den Winter passend. Doch für einen Mann wie Henry Gall gab es in Bezug auf Kleidung keine Jahreszeit. Was er hatte, trug er am Leib. Ob das nun im Sommer war oder nicht. Der kleine Mann mit den grauen Bartstoppeln schaute sich händereibend um. Man konnte nur wenige Meter weit sehen, dann kam die milchige, undurchdringliche Nebelwand. Bald würde sie jemanden ausspucken. Henry Galls Augen glänzten bei diesem Gedanken. Er leckte sich hungrig über die Lippen. Dies hier war ein Treffpunkt. Ein ungewöhnlicher Platz zwar, aber dafür konnte man sicher sein, daß man ungestört blieb. Dreimal in der Woche fand sich Henry Gall auf diesem Friedhof ein. Stets um die gleiche Zeit, obwohl er keine Uhr besaß. Er war auf seine Pünktlichkeit stolz. Die sollte ihm erst mal einer nachmachen ohne eigene Uhr. Dreimal in der Woche traf Henry Gall sich hier mit Josuah Brooks, der ebenfalls Strotter war. Sie kamen hier zusammen, um zu schwatzen und in irgendeiner Gruft die Nacht zu verbringen. Josuah trieb sich des öfteren bei einer Großbrauerei herum. Meistens brachte er Bier mit, das er dort entwendete. Hier auf 25 �
dem Friedhof wurde das Diebesgut dann ehrlich geteilt. Jeder bekam genau die Hälfte. Gall leckte sich wieder über die Lippen. Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, daß Josuah aufkreuzte. »Unpünktlicher Patron!« beschwerte sich Henry Gall und wetzte mit seinem dünnen Hintern auf den Zeitungen hin und her. Plötzlich vernahm er ein Geräusch. Noch im Nebel, aber doch schon nahe. »Na endlich!« brummte er. Er erhob sich und linste mit seinen alten Fuchsaugen in das undurchdringliche Grau. Er fand es seltsam, daß er nun kein weiteres Geräusch mehr hören konnte. War das wirklich Josuah? Wenn ja, warum kam er nicht näher? In seinen alten Tagen war man doch nicht mehr so verrückt, um hier auf dem Friedhof Verstecken zu spielen. Ein Käuzchen stieß klagende Laute aus. Die geisterhaften Nebelfiguren schienen auf Henry Gall zuzufliegen. Es sah so aus, als führten sie etwas Böses gegen ihn im Schilde. Sie streckten ihre bizarr geformten Arme nach ihm aus und strichen ihm mit kühlen Luftfingern durch das unfrisierte Haar. »Josuah?« fragte der alte Landstreicher unsicher in das dunkle Grau hinein. »He!« stieß er ganz leise, beinahe flüsternd, aus. »Bist du das, Josuah?« Zwei kurze Schritte, diesmal aus einer anderen Richtung. Gall wandte sich dorthin. Er nahm eine schemenhafte Bewegung hinter einem dicken eisernen, Grabkreuz wahr. Schon in der nächsten Sekunde war davon aber nichts mehr zu bemerken. Allmählich meldete sich die Angst bei Gall. Sein Herz pumpte wesentlich schneller. Er strich sich mit der Hand über das fliehende Kinn. Die Bartstoppeln knirschten leise. Was ging hier vor? Josuah war das bestimmt nicht. 26 �
Ein Spuk? Blödsinn! dachte der Alte. Und er hatte auch nicht im mindesten Angst vor Geistern oder vor den Toten, die man hier zur ewigen Ruhe gebettet hatte. Von Toten ging keine Gefahr aus, das wußte er. Gefährlich waren nur die Lebenden. Und wenn einer auf einem Friedhof so herumschlich wie der, den er nicht sehen, sondern nur hören konnte, dann hatte das bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Nervös fuhr sich Henry Gall über die, Augen. Sollte er abhauen? Noch war Zeit dazu. Wo nur Josuah so lange blieb. Ein gespenstisches Raunen strich über die Gräber. Gall schüttelte sich fröstelnd. Er hob den kleinen Kopf und blickte ratlos zum Halbmond hinauf, der ihn mit seinem kalten Licht übergoss. »Ich verdufte!« Zischelte Henry Gall plötzlich entschlossen. Er sprach oft mit sich selbst. Einsame Menschen haben keine andere Ansprache als die eigene Person. Er raffte seine Zeitungen zusammen, griff nach dem Esspaket, das er mitgebracht hatte und erst öffnen wollte, wenn Josuah mit dem Bier gekommen war. Er würde einen anderen ruhigen Platz finden und dort allein essen, irgendwo. Jeder Platz war ihm mit einemmal recht, nur nicht dieser. Als er sich aufrichtete, bewegte sich hinter ihm etwas. Entsetzt fuhr er herum. Seine grauen Augen waren weit aufgerissen. Auch der Mund stand weit offen, so als wollte er einen weithin hörbaren Schrei ausstoßen, doch es kam nicht zu diesem Schrei. »Hallo, Henry!« sagte der Mann, der sich in diesem Augenblick aus dem Nebel schälte. »Josuah!« preßte Gall hervor, und es klang wie ein unendlich erleichterter Seufzer. »Verdammt, Josuah!« Der fette Bursche kam grinsend auf ihn zu. Er trug einen 27 �
Anzug, den er vor zwei Wochen aus einer Mülltonne gefischt hatte. Das Hemd war ihm zu klein. Deshalb war es vor der Brust nicht geschlossen. Ein rosafarbenes Unterhemd leuchtete aus dem breiten Schlitz heraus, schmutzig und voller Flecken. Brooks musterte den Freund mit fragendem Blick. »Wolltest du gehen, Henry?« »Verflucht, ja.« »Aber wir waren doch verabredet.« »So? Ist dir das doch noch eingefallen, du unpünktliches Würstchen?« »Weshalb regst du dich so auf? Ich bin doch da.« »Kannst du nicht einmal zur abgemachten Zeit zur Stelle sein?« fragte Gall vorwurfsvoll. »Du weißt doch, daß ich keine Uhr besitze.« »Ich doch auch nicht. Aber ich bin immer vor der Zeit da, du nie.« »Dir ist was über die Leber gelaufen, Kumpel. Deshalb bist du so sauer, was? Setz dich und erzähl mir, was du erlebt hast. Na komm schon, setz dich!« Henry Gall blickte sich mißtrauisch um. Wieder klagte das Käuzchen. »Ist irgend etwas los?« fragte Brooks. »Da treibt sich jemand herum, Josuah!« flüsterte Gall. »Wo?« »Irgendwo.« »Ich habe niemanden gesehen.« »Aber ich.« »Wann?« »Vorhin.« »Wolltest du deshalb abhauen?« »Ja.« Josuah Brooks kicherte leise. 28 �
»Sieh einer an, mein tapferer Freund hat Schiß. Brauchst du aber jetzt nicht mehr zu haben. Nun sind wir zu zweit. Und wenn sich hier wirklich so'n fieser Typ herumtreibt, der es auf unsere leeren Geldbörsen abgesehen hat, dann schlagen wir ihm gemeinsam den Schädel ein. So schnell kann er gar nicht wieder abhauen, Kumpel.« Gall setzte sich wieder auf die Zeitungen. »Hast du wenigstens Bier mitgebracht?« Brooks schüttelte den dicken Kopf. »Die hätten mich heute beinahe erwischt. Mann, mußte ich rennen.« Gall zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. »Du und rennen.« »Wenn es um mein Leben geht, renne ich schneller als du.« »Also kein Bier.« »Tut mir leid, Henry.« »Müssen wir eben versuchen, das trockene Brot so hinunterzuwürgen.« Josuah Brooks setzte sich neben seinen Kumpel auf den Grabstein. Er grinste schelmisch und stieß Gall mit dem Ellenbogen leicht in die Seite. »Aber so ganz mit leeren Händen bin ich doch nicht gekommen, Henry.« Er brachte eine kleine Whiskyflasche zum Vorschein. Galls Augen leuchteten begeistert. »Josuah!« rief er überwältigt aus. »Das ist ja noch viel besser als Bier. Wo hast du die Pulle her?« Der dicke Strotter kicherte spitzbübisch. »Lief mir zu, Henry, lief mir einfach so zu. Und weil ich ein gutes Herz habe, nahm ich sie mit.« Sie lachten beide, dann packte jeder sein Essen aus. Plötzlich erstarrte Gall. Sein Gesicht spannte sich. Mit einem 29 �
ängstlichen Glitzern in den Augen versuchte er durch den Nebel zu schauen. »Was ist?« fragte Brooks irritiert. »Hörst du das nicht?« »Was? Ich höre nichts. Du weißt, daß ich mich auf meine Ohren nicht besonders verlassen kann.« Mit fahlem Gesicht flüsterte Gall: »Da kommt jemand, Josuah!« * Mary Teal war schreiend herumgefahren, weil sie hinter sich ein Geräusch vernommen hatte. Ihr flatternder Blick streifte ein junges Mädchen, das ohne Schick gekleidet war. Es hatte rotes Haar und die den Rothaarigen eigenen hellen Brauen, die mit einem eigenwilligen Knick über farblosen, rotgeweinten Augen lagen. »Wer sind Sie?« fragte Mary verwirrt. »Ich bin Nelly Hawk. Und wer sind Sie?« »Mary Teal. Was suchen Sie hier?« »Ich bin die Tochter von Arthur Hawk. Kennen Sie ihn?« »Nein.« »Dies hier ist sein Büro«, sagte Nelly. Sie war mager, ihre Knie bohrten sich eckig durch die dünnen Nylons. »Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe. Ist schon ein bißchen unheimlich, dieses Gebäude. Vor allem, wenn man zum ersten Mal hier ist. Ich möchte zu meinem Vater. Ist er nicht da?« Mary stand so in der Tür, daß Nelly kaum in das Büro schauen konnte. Sie schüttelte nun geistesgegenwärtig den Kopf, denn sie wollte dem Mädchen den grauenvollen Anblick ersparen, den ihr Vater bot. »Nein, Miss Hawk, Ihr Vater ist nicht da. Ich suche ihn auch.« Nelly lächelte verlegen. 30 �
»Eigentlich heiße ich nicht mehr Hawk, sondern Pamberten, Nelly Pamberten. Aber ich lasse mich scheiden, dann heiße ich wieder Hawk.« »Sie haben geweint, nicht wahr?« fragte Mary und versuchte Nelly von der Tür abzulenken und wegzudrängen. »Sieht man das?« fragte Nelly und kämpfte gegen einen neuerlichen Schub von Tränen an. »Ihre Augen sind gerötet. Kommen Sie, wir gehen nach draußen!« Nelly schüttelte energisch den Kopf. »Ich muß mit meinem Vater sprechen. Wissen Sie wirklich nicht, wo er ist?« Das Mädchen blickte Mary mißtrauisch an. »Sie sind doch nicht immer so bleich wie jetzt, Miss Teal. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich Sie so sehr erschreckt habe. Ihre Blässe muß einen anderen Grund haben. Ich glaube, Sie versuchen mir irgend etwas zu verheimlichen. Was ist es, Miss Teal? Ist mit meinem Vater… Ist mit Dad etwas nicht in Ordnung? Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen, Miss Teal. Was ist mit Vater? Wo ist er?« Mary holte tief Luft. »Er ist da drinnen«, antwortete sie und wies hinter sich. Gleichzeitig schob sie Nelly von der Tür weg. Doch das Mädchen riß sich aufgeregt los, rammte sie zur Seite und stürmte in das Büro hinein. Mary brachte es nicht übers Herz, sich umzudrehen. Sie hörte Nelly hinter sich einen markerschütternden Schrei ausstoßen. Dann brach das bedauernswerte Mädchen ohnmächtig zusammen. * Jederzeit gewärtig, aus dem dicken Nebel von dem Ghoul angefallen zu werden, durchstreifte ich den finsteren Friedhof. Ich � 31 �
stolperte über Grabhügel, strauchelte über Grabeinfassungen, die von tückischem Unkraut verdeckt waren. Die Nacht starrte mich mit tausend Augen an. Mehrmals wandte ich mich um. Ich hörte ein Käuzchen schreien. Es klang unheimlich, wie der Warnruf eines Toten, der mich vor großem Unheil bewahren wollte. Ich schlich an hohen Mausoleen vorbei, lauschte mit angehaltenem Atem, konnte jedoch nur das Klopfen meines aufgeregten Herzens hören. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke ans Umkehren. Ich dachte an Mary. Wie lange sollte sie noch im Wagen auf mich warten? Kühl strichen mir die Nebelgespenster mit ihren bleichen Händen über das Gesicht. Ich ging vorsichtig weiter. Ein Flüstern und Zischeln schwebte mir entgegen. Es war möglich, daß mich der Ghoul damit weiter in die Tiefe seines Reiches locken wollte. Obwohl ich mir der Gefahr bewußt war, in die ich mich begab, schaffte ich es nicht, einfach umzukehren. Man kann andere täuschen, aber nicht sich selbst. Deshalb ging ich weiter. Ich wollte nicht vor mir selbst ein Feigling sein. Immer mehr verkrampften sich meine Fäuste. Immer härter wurden meine Züge. Ich war zum Äußersten entschlossen. Das Anschwellen des gespenstischen Zischelns und Flüsterns zeigte mir, daß ich auf dem richtigen Weg war. Geduckt huschte ich durch die dichte Nebelbrühe. Kalter Schweiß hatte sich auf meiner Stirn gebildet. Zwei Schritte noch, da sah ich plötzlich eine Bewegung zwischen den Grabsteinen. Ich spannte die Muskeln und jagte auf die Stelle zu. Blitzschnell sauste ich durch den Nebel. Sie schnellten gleichzeitig hoch und stießen krächzende Schreie aus. Die Whiskyflasche fiel um und ging auf dem Grabstein kaputt. Mit furchtgeweiteten Augen starrten sie mich an. Sie 32 �
taten mir leid, denn sie zitterten und schlotterten gotterbärmlich. »Was wo-wollen Sie von uns?« preßte Josuah Brooks heiser hervor. »Wir sind zwei harmlose Gesellen, die auf diesem Friedhof die Nacht verbringen wollen. Bei uns ist nichts zu holen, Mister. Arm wie Kirchenmäuse sind wir.« »Ja, das ist wahr«, pflichtete Henry Gall seinem Kumpel bei. »Ich suche einen Mann, der sich hier irgendwo auf dem Friedhof herumtreibt«, sagte ich und trat näher. »Es treibt sich noch einer hier herum?« fragte Gall verwirrt. »Was ist denn bloß los?« »Habt ihr niemanden gesehen?« fragte ich. »Niemanden«, sagten sie beide gleichzeitig, und sie schüttelten auch alle beide den Kopf. »Ist irgend etwas passiert, Sir?« fragte Brooks. Ich nickte. »Was denn, Sir?« wollte Gall wissen. Ich sagte es ihnen nicht, denn mit dem, was ich zu bieten hatte, hätte ich sie in Angst und Schrecken versetzt. Statt dessen riet ich ihnen, schleunigst vom Friedhof zu verschwinden, das wäre kein Platz zum Übernachten für sie. Wenigstens diesmal nicht. Sie glaubten wohl, mir einen Gefallen zu tun, wenn sie ja zu allem sagten, was ich ihnen riet. Da ihre Whiskyflasche durch meine Schuld kaputtgegangen war, gab ich ihnen Geld, damit sie sich eine neue kaufen konnten. Von diesem Moment an betrachteten sie mich wie ihren besten Freund. Ich bat sie, auf sich aufzupassen, und Augen und Ohren offen zu halten. Sie nannten mir ihre Namen, und ich verriet ihnen den meinen. Und ich gab allen beiden eine Visitenkarte von mir. Sie sollten mich anrufen, wenn sie auf diesem Friedhof irgendwann mal in den nächsten Tagen einen Kerl herumschleichen sehen sollten. Sie versprachen es. 33 �
Ob sie dieses Versprechen auch halten würden, mußte die Zeit erweisen. Ich verließ den Friedhof und hoffte, daß die beiden meinem Beispiel folgen würden. * Als ich das Leichenschauhaus betrat, kam gerade Nelly Hawk zu sich. Mary und ich halfen ihr auf die Beine. Wir setzten sie auf einen Stuhl. Während sich Mary um die erschütterte Nelly kümmerte und ihr Wasser zu trinken gab, riß ich die Türen der beiden Schränke auf, die in Hawks Büro standen. Ich fand ein großes weißes Laken und breitete es über das, was von Arthur Hawk übrig geblieben war. Mary berichtete mir kurz. Ich klemmte mich sofort ans Telefon und rief Scotland Yard an. Als ich die angenehme Stimme der Telefonistin vernahm, sagte ich: »Bitte, geben Sie mir Detektiv-Inspektor Abel Brighton!« »Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen, Sir«, sagte das Mädchen freundlich. »Der Inspektor spricht gerade.« Wohl oder übel hatte ich mich zu gedulden. Eine seltsame Kälte füllte meinen Körper aus. Ich war ziemlich aufgeregt und wunderte mich über Marys Ruhe. Wie schaffte sie es bloß, stets dermaßen hoch über den Dingen zu stehen? Es war mir ein Rätsel. Nelly Hawk/Pamberten saß wie eine Statue auf dem Stuhl. Ihre Hände lagen gefaltet im Schoß, als würde sie ein stilles Gebet verrichten. Tränen flossen über ihre zarten Wangen. Ab und zu zuckten ihre zusammengepressten Lippen. Sie wirkte wie ein Denkmal großen Leids. Endlich hatte Inspektor Brighton Zeit für mich. Uns beide ver34 �
band eine Art Hassliebe. Er war mehr als doppelt so alt wie ich. Vielleicht glaubte er deshalb, bei jeder Gelegenheit mir gegenüber eine bösartige Arroganz an den Tag legen zu müssen. Wir waren schon oft hart aufeinander geprallt. Keiner schenkte dem anderen etwas. Und trotzdem hatten wir Achtung voreinander. »Inspektor Brighton!« meldete er sich. Ich wußte, daß mein Name ein rotes Tuch für ihn war. Vielleicht sprach ich ihn deshalb besonders scharf aus. »Lloyd!« stöhnte er sofort. »Was wollen Sie denn, Sie Quälgeist.« »Sie tragen mir immer noch die Sache mit dem Banknotenfälscher nach, wie?« fragte ich schnippisch. Diesen Fall hatte ich schneller aufgeklärt als er. So etwas ärgerte Brighton natürlich maßlos, denn wenn ein Zeitungsreporter schneller zu arbeiten vermochte als die Polizei, dann war die gesamte Institution Polizei dadurch in Frage gestellt. »Verdammt, ich trage Ihnen gar nichts nach«, polterte Abel Brighton. »Also doch«, bemerkte ich pulvertrocken. »Sagen Sie, was Sie wollen, Lloyd. Ich mag mich mit Ihnen nicht unterhalten.« »Das kann ich verstehen, Sir. Mir geht es nämlich genauso.« »Sie unverschämter…« »Arthur Hawk ist tot!« fiel ich ihm ins Wort. Das riß ihn vom Stuhl. »Hawk?« schrie er. »Aber…« »Er wurde von einem Ghoul getötet, Inspektor.« »Was wissen Sie denn davon, Lloyd?« »Sie machen einen großen Fehler, Inspektor. Sie lassen niemand anders neben sich gelten.« »Ich lasse nur Sie nicht gelten, Lloyd, und das mit Recht.« »Ich befinde mich im Leichenschauhaus, Sir. Sie sollten auch 35 �
kommen.« Mehr sagte ich nicht. Ich ließ den Hörer einfach auf die Gabel fallen. Nelly Hawk gefiel mir nicht. Mary meinte, daß ihr ein bißchen Schnaps über den Berg helfen würde. Ich begann zu suchen. In der untersten Schreibtischlade fand ich alles: Gläser, eine halbvolle Flaschen Ballantine's. Ich goss gleich drei Gläser voll. Wir konnten nämlich alle einen Schluck vertragen. Nelly wollte den Whisky nicht haben. Wir zwangen sie mit sanfter Gewalt, ihn zu schlucken. Und ich sorgte dafür, daß sie auch noch einen zweiten trank. Verflucht arm war sie. Da war nicht nur der Ärger mit ihrem Mann, von dem sie uns mit tränenerstickter Stimme erzählte. Es kam auch noch der gräßliche Tod ihres Vaters dazu. Ich schalt das Schicksal eine dreckige Nutte. Wie konnte sie dieses bedauernswerte Mädchen nur so schmerzhaft im Stich lassen. Brighton kam mit seiner ganzen Mannschaft. Für Nelly Hawk war das gut, denn Abel Brighton hatte auch einen Polizeiarzt mitgebracht, der ihr sofort eine Spritze gab. Danach ging es ihr ein wenig besser. Das Medikament bewirkte, daß ihr der Tod des Vaters gleichgültig war. Nicht ganz gleichgültig natürlich, aber die Geschichte ging nicht mehr so schmerzend in die Tiefe. Ich wollte mich mit Mary verdrücken, doch Abel Brighton gestattete es mir noch nicht. Seufzend blieb ich. Er hatte gesagt, er hätte noch einige Fragen an mich, aber er stellte sie nicht. Er ließ mich bewußt schmoren, dieser Fettsack. Alles andere machte er zuerst. Dann nahm er Mary und mich auf den Korridor hinaus. »Erzählen Sie, Lloyd!« verlangte er. 36 �
Ich berichtete von Anfang an. Und er unterbrach mich von Anfang an, wie das immer seine Art war. Seine erste Frage: »Wie kamen Sie in das Leichenschauhaus, Lloyd?« Ich wußte sofort, worauf er hinauswollte. Mit einem kecken Lächeln behauptete ich: »Es war offen.« »So, offen.« »Ja, offen.« »Mr. Hawk schloß immer ab, Lloyd. Wie erklären Sie sich, daß Sie einfach hier hereinstürmen konnten?« »Ich brauche mir nichts zu erklären, Inspektor. Mir genügt die Tatsache, daß ich es getan habe.« Brighton schaute Mary an. »Stimmt das, Miss Teal? Hat Ihr Freund nicht ein bißchen am Schloß herumgefummelt?« »Warum sollte er? Es war doch offen«, sagte Mary. Ich drückte ihr im Geist einen dankbaren Kuss auf die Stirn. Ob sie mich nun fummeln gesehen hatte oder nicht. Sie hätte sich auf jeden Fall auf meine Seite gestellt. Sie wußte eben, wo ihr Platz war. Brighton seufzte gereizt. »Okay, Lloyd, fahren Sie fort!« Er unterbrach mich noch gut ein Dutzend Mal, dann kam ich aber doch zum Ende. Von meinem Ausflug auf den Friedhof erzählte ich ihm nichts. Er wäre vielleicht noch auf die Idee gekommen, seine Leute hinzuschicken und die beiden Strotter festnehmen zu lassen. Abschließend nahm er mir mein Wort ab, daß ich keine Zeile über den grausigen Vorfall bringen würde. Ich konnte ihm dieses Versprechen leichten Herzens und ohne jeglichen Hintergedanken geben. Es war noch zu früh für einen guten Bericht. Was wußte ich denn schon? Daß ein Ghoul Arthur Hawk ermordet hatte. Und was noch? Kaum mehr. 37 �
Das war eben noch zuwenig. Wenn ich mich an die Schreibmaschine setzte, dann hatte ich die Absicht, einen Knüller zu fabrizieren, daß den Leuten beim Lesen die Haare zu Berge standen. Dazu war ich aber noch nicht tief genug in der Materie. Aber ich war sicher, daß ich darauf nicht mehr allzu lange zu warten brauchte. Die Geschichte faszinierte mich. Ich hatte die Absicht, sie weiterzuverfolgen, bis zur bitteren Neige. Ob das Brighton nun paßte oder nicht. Und Hongkong? Dafür hatte ich bereits eine Lösung gefunden. * »Was meinst du«, fragte der rundliche Brooks, »ob wir wirklich von hier verschwinden sollen?« Henry Gall zuckte die dünnen Achseln. »Wir könnten auf den Schrottplatz gehen.« »Da sind heute Harry und Piper. Die können wir doch nicht leiden.« »Willst du bleiben?« fragte Gall. Sie saßen wieder auf dem Grabstein, »Ich habe eine Idee«, sagte Brooks, »Wir schlagen uns erst mal den Wanst hier voll. Dann ist immer noch Zeit, wegzugehen.« Henry Gall seufzte. »Also gut. So machen wir's.« Er blickte sich mißtrauisch um. »Glaubst du wirklich, daß sich hier so 'ne miese Type herumtreibt, Josuah?« »Er wird uns nichts tun. Was kann so einer von uns schon wollen, eh?« »Na eben.« Gall kaute an seinem harten Brot, Ein Stück Käse mußte er in die Hälfte brechen, für Brooks. »Zwischendurch ein Schluck von der Pulle wäre verflixt nicht übel«, sagte er grinsend. 38 �
Auch der dicke Brooks grinste. »Die Kneipe wäre nicht mal weit, Henry.« »Gegenüber dem Friedhof ist sie.« »Soll ich uns was holen, Henry?« »Nun ja, ich hätte nichts dagegen. Aber versprich mir, daß du dich beeilst.« »Dieser Lloyd hat mir da einen verdammt lästigen Floh ins Ohr gesetzt, verstehst du. Noch nie hatte ich Angst auf diesem Friedhof. Und nun fürchte ich mich hier allein.« »Möchtest du mit mir gehen, Henry?« »Ach, wenn du dich beeilst, genügt das schon.« Josuah Brooks stand ächzend auf. »Bin gleich wieder da, Kumpel. Lauf inzwischen nicht weg.« »Bin ich meschugge? Du kommst doch mit 'ner Pulle wieder.« Brooks stapfte mit seinen festen Beinen in den Nebel hinein. Augenblicke später schloß sich die trübe Wand hinter ihm. Er war nicht mehr zu sehen. Fröstelnd rieb sich Gall die Oberarme. Wie eine Fahne schwebte der Hauch aus seinem Mund. Er zog den Schal fester um den Hals, hob die, Schultern und klemmte den Kopf dazwischen. Still und unbeweglich hockte er auf dem Grabstein. Seine Phantasie begann sich zu regen. Sie gaukelte ihm schlimme Bilder vor und machte ihm Angst, Er fühlte sich beobachtet und auf eine unheimliche Weise bedroht. Mit einemmal war es für ihn Tatsache, daß außer ihm noch jemand auf dem Friedhof war. Und zwar ganz in seiner Nähe. Er vernahm ein rasselndes Atmen, dachte an seinen Kumpel Brooks, versuchte sich einzureden, daß der Dicke schon wieder zurückgekommen war. »Josuah?« fragte er zaghaft. Da quirlte der Nebel vor ihm auf. Ein Fremder trat ihm entgegen. 39 �
Das muß der Kerl sein, den Lloyd gesucht hat, dachte Henry Gall sofort. Der Mann kam näher. Er war groß und muskulös. Er überragte Gall um vieles. Etwas Unheimliches ging von diesem Menschen aus. Sein Gesicht wirkte blaß. Seine Züge waren hart. Um die Lippen lag ein grausamer Ausdruck, der Gall zutiefst erschreckte. »Suchen Sie jemanden?« fragte Gall nervös. Er warf immer wieder einen gehetzten Blick über die Schulter. Brooks! Verdammt, wo nur Brooks blieb? »Ja«, sagte der Mann, und Gall bildete sich ein, die Stimme des Fremden wäre tief und hohl, als käme sie aus dem kühlen Grund eines Grabes. Schaudernd strich sich der dürre Strotter über die Augen, als wollte er den Fremden damit zum Verschwinden bringen, doch der blieb. Er kam auf ihn zu. »Wen suchen Sie?« fragte Gall bebend. »Dich!« fauchte der Mann. Und im selben Moment geschah das Unfassbare. Vor Galls entsetzt aufgerissenen Augen begann sich der Fremde zu verwandeln. Im Nu hatte er kein einziges Haar mehr auf dem Kopf. Er wurde zu einem schleimigen Etwas. In seinen Augen glomm ein mordgieriges Feuer. Er bekam Krallenhände und spitze, gebogene Zähne in einem grauenerregenden Maul. Knurrend stürzte sich das Monster auf sein Opfer. Gall glotzte das Ungeheuer gelähmt an. Der Ghoul schlug mit seinen Krallen nach ihm. Die Klauen rissen seinen Hals auf. Aus der Halsschlagader schoß eine Blutfontäne hoch. Ein gurgelnder Laut entrang sich der Kehle des unglücklichen Opfers. Zuckend fiel Henry Gall nach hinten. Sobald sein Körper den Friedhofsboden berührte, warf sich der hungrige Ghoul über 40 �
ihn, Solange noch ein Funken Leben in Galls ausgemergeltem Körper war, biss das Scheusal nicht zu. Erst als der Strotter tot war, begann das Monster sein grausames Werk. * Josuah Brooks betrat die vollgerauchte Kneipe. Auf dem Friedhof war dicker Nebel, und man konnte nur wenige Meter weit sehen, doch hier drinnen war es nicht viel besser. Nach fünf Schritten tauchte der Tresen aus den bläulichen Rauchschwaden auf, die wie schwere Säcke im Raum hingen. An den Tischen wurde gelacht, geschrien und geschimpft. Man stritt sich um des Kaisers Bart und beflegelte sich je nach Laune und Temperament. Und natürlich auch nach der Menge Alkohol, die man bereits konsumiert hatte. Brooks war eine willkommene Beute für Stänkerer. »Na, Eure Lordschaft, so spät noch auf einen Schluck unterwegs?« fragte ein Besoffener grinsend. Brooks trat einen Schritt zur Seite und wollte weitergehen. Aber der Betrunkene stellte sich ihm sofort mit streitlustigen Augen in den Weg. »Nix da, Eure Lordschaft! Erst wird Rede und Antwort gestanden.« »Lass mich doch durch«, forderte der Dicke brummig. »Sprichst wohl nicht mit jedem, was?« ärgerte sich der andere. Er war breit in den Schultern und hatte einen kantigen Schädel. Mit seinen Fäusten konnte er gewiß viel Unheil anrichten. Da er das wußte, wollte er es auch darauf anlegen. Seine Kraft lag schon viel zu lange brach. »Ich will Ruhe haben«, sagte Brooks. »Spendier mir 'nen Drink, dann hast du Ruhe«, sagte der 41 �
andere grinsend. »Ich bin verdammt blank«, erwiderte Brooks verzweifelt. »Wenn du mich zu 'nem Drink einlädst, bin ich dein Freund, Fetter.« »Ein andermal vielleicht«, murmelte Brooks und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ein andermal lebst du vielleicht nicht mehr. Du weißt doch, wie schnell so was gehen kann. Brauchst nur mal an den Falschen zu geraten bumms! Aus ist es.« Brooks war nahe daran, sich den Weg freizukaufen. Da rief der Wirt: »Verflucht, Abel, wenn du dich jetzt nicht sofort auf deinen Hintern setzt, haue ich dich aus der Jacke!« Der Betrunkene drehte sich zornig um. »Hör mal, so kannst du mit mir nicht reden!« brüllte er fäusteschwingend. Der Wirt kam hinter dem Tresen hervor. Ein wahrer Baum war er, größer und kräftiger als der Betrunkene. Und seine drohende Haltung ließ keinen Zweifel darüber offen, daß er den Betrunkenen ungespitzt in die Erde rammen würde, wenn er nicht augenblicklich die Friedensfahne hisste. »Ist ja schon gut«, maulte Abel mit einem verlegenen Grinsen. »Ist doch gut. Man wird sich doch noch mit 'nem alten Freund unterhalten dürfen. Nicht wahr, Freund?« Er klopfte Brooks versöhnlich auf den Schädel und zog sich in eine entfernte Ecke zurück. »Was darf's denn sein?« fragte der Wirt. Brooks verlangte eine Flasche Whisky. Da sein Äußeres vieles zu wünschen übrig ließ, winkte er sofort mit der Banknote, um zu beweisen, daß er auch wirklich bezahlen konnte. Dem Wirt war jede Kundschaft recht. Brooks bekam den Whisky und beeilte sich, gleich wieder aus der Kneipe zu kommen. Er überquerte die finstere Straße und 42 �
betrat Augenblicke später den Friedhof durch einen schmalen Durchlass. Mit sicherem Schritt fand er den Rückweg, obwohl der Nebel dichter geworden war. Damit Henry Gall sich nicht fürchtete, rief er dessen Namen schon von weitem mit unterdrückter Stimme. Henry gab jedoch keine Antwort. »Henry?« flüsterte Brooks besorgt in den Nebel hinein. »Henry!« Nichts. Ob er abgehauen ist? fragte sich Brooks. Unsinn. Er wollte doch auf meine Rückkehr warten. Wir wollten doch zusammen die Flaschen leeren. »Henry!« Abermals keine Antwort. Brooks ging nervös weiter und erreichte den umgestürzten Grabstein, auf dem sie gesessen hatten. Und plötzlich sah er, warum Henry Gall nicht geantwortet hatte. Würgende Angst krallte sich in seinen dicken Hals. Die Augen quollen weit aus ihren Höhlen. Starr vor Grauen blickte er auf das Skelett, das bleich und unheimlich zu seinen Füßen lag. Nachdem wir von Inspektor Abel Brighton die Erlaubnis hatten, das Leichenschauhaus zu verlassen, blieben wir keine Sekunde länger. Um Nelly Hawk kümmerte sich die Polizei. Ich brachte Mary nach Hause und fuhr ebenfalls heim. Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Idiotische Träume quälten mich. Ein Ghoul bildete den schrecklichen Kern aller Alpträume. Ich hatte wilde Kämpfe durchzustehen. Immer wieder gelang es dem Ghoul, mich zu besiegen. Eine Warnung? Wollte mich das Schicksal warnen, die Finger von der tödlichen Sache zu lassen? 43 �
Schweißüberströmt erwachte ich viel zu früh am Morgen. Da ich nicht mehr einschlafen konnte, kletterte ich aus den Federn. Mein Pyjama war zum Auswringen feucht. Ich zog ihn aus und stellte mich lange Zeit unter die Dusche. Als ich aus dem Bad kam, graute der Morgen. Da ich kein Frühaufsteher war, kam ich nicht oft in den Genuss jenes Schauspiels, das der erwachende Tag über die Bühne der Welt gehen ließ. Die Nebelschleier, die mein Haus umschwebten, wurden hell und durchsichtig. Sie bekamen Risse, und man konnte sehen, daß sie bald sterben würden. Wie glühende Lanzen bohrten sich die Strahlen der aufgehenden Sonne in das Grau des Nebels. Das helle Licht sog die Schleier auf. Bald waren sie nicht mehr zu sehen. Ich hatte genug Zeit, um mit einem ausgewogenen Gymnastikprogramm für neue Fitness zu sorgen. Hinterher futterte ich den halben Kühlschrank leer. Dann war es Zeit, in die Redaktion zu fahren. Ich holte meinen grünen MG aus der Garage und stürzte mich in den dichten Morgenverkehr. Früher als man es von mir gewohnt sein durfte, betrat ich die Räume der Redaktion. Ich schaute bei einigen Kollegen hinein, die es nicht fassen konnten, daß ich auch schon auf den Beinen war. Einige von ihnen wünschten mir einen guten Flug. Mir fiel wieder Hongkong ein. Ich ging in mein Büro, setzte mich nicht erst, sondern wählte gleich die Nummer meines Chefs. Während ich darauf wartete, daß seine Sekretärin abhob, sah ich mir die Fahnen an, die man mir auf den Tisch gelegt hatte. Da ich aus Erfahrung wußte, daß man den Setzern nicht blindlings vertrauen konnte, maß ich die Zeilenbreite der Spalten nach und stellte fest, daß man alle drei Spalten um einen Hauch zu schmal gesetzt hatte. Ich nahm mir vor, dem Setzereileiter auf die Zehen zu treten. Dann meldete sich Barbara Sheck44 �
ter, die hübsche Sekretärin vom Chef. »Lloyd hier«, sagte ich. »Oh, hallo, Perry! Schon auf?« »Ist das denn so verwunderlich?« »Sie wissen doch selbst, daß es das ist.« »Okay. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ist der Boss da?« »Für Sie immer, Perry.« »Fein. Ich komme gleich zu ihm hoch.« »Bringen Sie mir Blumen mit, Perry?« »Mach' ich, vorausgesetzt, ich komme durch eine Parkanlage. Sie schwärmen für Tulpen, nicht wahr?« »Ich nehme auch rote Rosen, Perry.« Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ich wußte, daß ich sie jederzeit hätte haben können. Aber ich hatte Mary Teal. Sie genügte mir. Vielleicht bin ich nicht ganz richtig, aber so bin ich nun mal. Ich fuhr mit dem Paternoster nach oben. Die Klimaanlage erzeugte herbstliche Temperaturen, obwohl wir Spätsommer hatten. Barbara war freundlich und hübsch wie immer. Ihr Lächeln war herzerwärmend, und für mich ließ sie es sogar ein wenig strahlen. Ihr Pulli saß gut, aber nicht ordinär knapp, schließlich war sie die Sekretärin des Chefs. Ihr Rock hatte die richtige Länge, um sie verflucht fraulich erscheinen zu lassen. Aber Mädchen, die es darauf anlegen, einen Jungen zu kapern, wissen sich selbst mit dieser Rocklänge genau ins richtige Licht zu setzen. Sie schob ihn ein bißchen nach oben. Beine hatte sie, da konnte sich Marlene Dietrich verstecken. Ich wußte, daß Barbara den Chef bereits dreimal hatte abblitzen lassen. Um so mehr fühlte ich mich geschmeichelt, daß sie jederzeit für mich abrufbereit gewesen wäre. »Kommen Sie ja nicht mit einer asiatischen Ehefrau zurück, 45 �
Perry!« sagte Barbara Sheckter lächelnd. Sie hatte kastanienbraunes Haar, und ihr Parfüm war eine Klasse für sich. Trotzdem war Mary Teal um ein Frauenhaar besser. »Das kann ich versprechen«, antwortete ich grinsend. »Ich werde mit gar nichts zurückkommen.« »Mit gar nichts?« »Weil man nur zurückkommen kann, wenn man zuvor abgeflogen ist.« »Soll das etwa heißen…« »Das soll es, Baby. Und nun verkünden Sie dem Boss, daß ich da bin!« Barbara drückte auf einen Sprechtastenknopf. Sie wechselte wenige Worte mit dem Boss, dann durfte ich passieren. Es dauerte nicht lange, bis ich den Mann mit den eisengrauen Haaren soweit hatte, daß er meiner Meinung war. Er hielt große Stücke auf mich, und wenn ich mit einem Vorschlag zu ihm kam, wußte er, daß er sich darauf verlassen konnte, daß dieser Vorschlag auch etwas taugte. Es war nicht nötig, daß er mir gegenüber den Boss hervorkehrte, und er tat dies auch schon seit Jahren nicht mehr. Wir begegneten einander mit dem geziemenden Respekt. Jeder wußte vom anderen, daß er tüchtig war und daß er für die Zeitung sein Bestes gab. Deshalb tranken wir auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit seinen teuren Kognak, der nur besonderen Gästen vorbehalten war. »Scheint wirklich eine zündende Story zu werden, Mr. Lloyd«, sagte der Chef anerkennend. »Es wird mehr sein als eine zündende Story, Chef«, erklärte ich zuversichtlich. »Es wird schlechthin die Sensation sein!« »Und wen soll ich nun nach Hongkong schicken?« »Darf ich das für Sie erledigen, Sir?« »An wen denken Sie, Perry?« »An Gerry Blake.« 46 �
»Der ist doch zu jung für diesen Job.« »Wenn er nie eine Chance bekommt, ist er eines Tages zu alt für solche Jobs, Sir.« »Sie sind also der Meinung, daß er die erforderliche Qualifikation schon mitbringt?« Ich schmunzelte. »Gerry ist fast so gut wie ich, Sir.« Damit waren die Würfel gefallen. Ich wußte, daß Gerry Blake mit Feuer im Hintern auf eine solche Chance wartete, und ich war sicher, daß er mich nicht enttäuschen würde. Außerdem konnte man Gerry mitten in der Nacht aufwecken und zum Nordpol schicken, er wäre sofort losgezischt. Ich verließ das Büro des Chefs und suchte das Büro von Gerry Blake auf. Er fiel mir vor Freude um den Hals, als ich ihm eröffnete, was auf ihn zukam. Tausendmal versicherte er mir, daß ich mit ihm zufrieden sein würde. Er würde mich nicht enttäuschen. Ich wußte, daß er der richtige Mann für diesen Job in Hongkong war. Er traf sofort seine Vorbereitungen. In zwei Stunden ging seine Maschine. Ich war sicher, daß er bereits dreißig Minuten vor Abflug in Heathrow sein würde. Ich kehrte in mein Büro zurück und ließ mir von einem hübschen Girl Tee bringen. Nachdem ich in aller Ruhe getrunken und geraucht hatte, nahm ich die Fahnen zur Hand und begab mich in die Setzerei. Der Mann, bei dem ich meine Beschwerde vorbrachte, war ein schlauer Fuchs. Natürlich war er das, sonst wäre er wohl kaum Setzereileiter geworden. Aber bei mir zogen seine faulen Ausreden nicht. Ich kannte seine Tricks und entkräftete sie bereits im Ansatz. Schließlich erklärte er sich bereit, die drei Spalten umsetzen zu lassen. Damit seinen Leuten die Arbeit nicht gar zu sauer vorkam, spendierte ich jedem ein Bier. Zurückgekehrt in mein Büro, setzte ich mich zu einer kurzen 47 �
Verschnaufpause an den Schreibtisch. Kaum saß ich, schlug das Telefon an. Ich hätte es am liebsten aus dem Fenster geworfen, denn ich wollte über den Ghoul nachdenken und darüber, wie ich nun weiter gegen ihn vorgehen sollte, wo ich ihn aufstöbern könnte, was ich gegen ihn auszurichten vermochte und vor allem, wie ich ihn besiegen konnte. »Lloyd!« meldete ich mich mit missmutiger Stimme. Vielleicht ließ sich der Anrufer dadurch abschrecken. »Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Lloyd«, sagte der Portier. »Mr. George Molton ist hier. Er möchte zu Ihnen raufkommen.« »Soll er doch«, erwiderte ich und legte auf. Kurz darauf klopfte mein ehemaliger Schulfreund dezent an die Tür. »Tritt ein, bring Glück herein!« rief ich. George beehrte mich mit seinem Bei such. Er war immer noch kleiner als ich. Früher hatte ich ihn, wie bereits erwähnt, immer verprügelt, und ich hätte es auch heute noch mühelos tun können, denn er hatte so gut wie keine Muskeln und wirkte so ungesund wie ein überarbeiteter Bürokrat. Sein Gesicht war schmal, die Augen waren glanzlos, die Nase hatte einen messerscharfen Rücken. Am Finger trug er einen Verlobungsring. Ich hatte mal ein Foto von seiner Braut gesehen. Sie war abschreckend hässlich, aber das ging mich nichts an. Er war verliebt in sie, und Liebe macht ja bekanntlich blind. Ich drückte seine Hand und bot ihm einen Scotch an, den er nicht ablehnte. Damit er nicht allein trinken mußte, füllte ich zwei Gläser. »Was gibt's?« fragte ich, nachdem wir von den Drinks genippt hatten. Er saß vor mir im Besuchersessel. Ich lehnte mit einer Backe auf der Kante meines Schreibtisches. »Die Sache mit dem Ghoul«, sagte George ernst. »Da läuft ein ganz großes Ding, Perry.« 48 �
Ich war seiner Meinung. »Hast du etwas Neues erfahren?« erkundigte ich mich. Er erzählte mir alles, von Anfang an. Natürlich kannte ich einen Teil seiner Geschichte schon, doch das störte mich nicht. Ich unterbrach ihn kein einziges Mal, denn ich wollte aus seinem Mund ein abgerundetes Bild skizziert bekommen. Es war erstaunlich, wie gut mein Freund informiert war. Immerhin arbeitete er nicht im Vorzimmer von Inspektor Brighton. Trotzdem wußte er Details, die mir bislang verborgen geblieben waren. Ich gab ihm noch einen Scotch, um ihn auf Touren zu halten. Er fragte: »Hat sich Inspektor Brighton schon bei dir gemeldet?« »Hat er das denn vor?« fragte ich unangenehm berührt. »Das wird sich nicht vermeiden lassen.« Ich schüttelte den Kopf. »Der alte Bock. Wenn er mich quälen kann, dann tut er es. Wieso wird es sich nicht vermeiden lassen?« »Gestern Nacht wurde ein Pennbruder auf 'nem Friedhof umgebracht.« Mir stieg eine unangenehme Hitze in den Kopf. »Vom Ghoul?« fragte ich erschrocken. George Molton nickte. »Und jetzt kommt es, Perry: Das Skelett hatte eine Visitenkarte von dir bei sich. Der Inspektor fragt sich natürlich, wie der Strotter in ihren Besitz kommt. Und weil er sich selbst darauf keine zufrieden stellende Antwort geben kann, wird er dich demnächst heimsuchen.« »Heimsuchen!« knurrte ich. »Das ist genau das richtige Wort.« Ich erzählte George, wie der Landstreicher zu meiner Karte gekommen war. Gleichzeitig fiel mir ein, daß ich dem Inspektor gegenüber meinen Ausflug auf den Friedhof gestern unerwähnt 49 �
gelassen hatte. Wenn ich ihm nun damit kam, würde er vermutlich aus der dicken Haut fahren. George wußte sogar den Namen des Opfers. Henry Gall hatte es erwischt, den Dünnen. Josuah Brooks hatte verdammtes Glück gehabt. Da ich kaum Wert darauf legte, mich mit Inspektor Brighton herumzustreifen, nahm ich die günstige Gelegenheit beim Schopf, noch vor Brightons Eintreffen die Redaktion zu verlassen. Ich drängte George, auszutrinken. Ich bat ihn, weiter für mich die Augen offen zu halten und schickte ihn zum Yard zurück. Als ich mich in meinen grünen Flitzer setzte, traf Brighton mit einem Sergeant vor dem Redaktionsgebäude ein. Die beiden kletterten aus dem Dienstwagen. Einer war behäbiger als der andere. Gemeinsam schnauften sie auf den Eingang zu. Als sie hinter der gerippten Glastür verschwunden waren, fuhr ich schmunzelnd los. * Josuah Brooks hatte gesprächsweise erwähnt, daß er sich tagsüber zumeist beim Piccadilly Circus herumtrieb. Ab und zu schenkte ihm ein Tourist ein paar Pennys. Dann kaufte er sich Hot Dogs, um nicht zu verhungern. Piccadilly Circus. Man kann diesen Platz als das Zentrum des nächtlichen Londons bezeichnen. Tausende Besucher, die tagsüber viele Meilen zurückgelegt haben, um Paläste, Festungen, den Zoo und Kunstausstellungen zu besichtigen, finden sich abends hier im West End ein wie von einem riesigen Magneten durch die farbprächtigen Lichtfluten angezogen. Bei Tag war das Spektakel wesentlich nüchterner. 50 �
Ich fand Brooks schnarchend in einer menschendurchfluteten Geschäftspassage. »Hallo, Josuah!« sagte ich in seinen leichten Schlaf hinein. Er riß den Kopf hoch und sah mich überrascht an. »Mr. Lloyd!« entfuhr es ihm. »Ich habe auf deinen Anruf gewartet«, sagte ich vorwurfsvoll. Er erhob sich gähnend. »Ich hätte angerufen, Sir, ehrlich. Aber ich habe keinen einzigen Penny in der Tasche.« »Möchtest du etwas zu essen haben?« »Man hört meinen Magen meilenweit knurren, nicht wahr?« »Er knurrt so laut wie der Motor eines Panzers«, gab ich lächelnd zurück. »Spendieren Sie mir auch einen Drink, Sir?« »Aber ja.« Ich führte ihn zu einem Kiosk, an den man ihn nicht herangelassen hätte, wenn er nicht in meiner Begleitung gewesen wäre. Mir machte es nichts aus, daß man mich schief anschaute. Irgendwo hinter dem dreckigen Unterhemd war Josuah Brooks schließlich auch ein Mensch. Er aß vier Hamburgers und drei Cheeseburgers: Dazu konsumierte er drei Dosen Löwenbräu-Bier. Hinterher war er zum Platzen voll. »Erzähle mir, was gestern Nacht passiert ist, Josuah!« verlangte ich. Er berichtete haarklein: Daß er Henry Gall allein zurück auf dem Friedhof gelassen hatte, daß er Whisky in der Kneipe gekauft hatte, daß er von einem Betrunkenen aufgehalten worden war. Und zuletzt sagte er mir zitternd, wie er seinen Kumpel vorgefunden hatte. Er war zu primitiv, um schon mal von einem Ghoul gehört zu haben. Ich erzählte ihm von diesem Scheusal und sah, wie sich abgrundtiefes Entsetzen in seine schwammi51 �
gen Züge grub. Da erst konnte er begreifen, in was für einer grauenvollen Lage sich sein Kumpel befunden hatte. Er schwor mit hochgehobener Hand, diesen Friedhof nie wieder zu betreten, auch bei Tag nicht. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich ihnen geraten hatte, schleunigst zu verschwinden. »Verdammt, Sir, wir nahmen die Sache nicht ernst genug. Wir wollten ja gehen nachher, nach dem Essen. Wir konnten doch nicht ahnen… Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß sich ein Ghoul auf dem Friedhof herumtreibt?« »Ich hatte keine Zeit, euch erst alles lang und breit zu erklären, was ein Ghoul ist. Es hätte euch genügen sollen, was ich sagte.« Josuah Brooks dachte an seinen Kumpel und nickte mit Tränen in den Augen. »Heute weiß ich, daß wir Ihren Rat hätten sofort befolgen sollen, Mr. Lloyd. Aber was nützt das noch Henry, meinem guten, alten Freund.« * Man sagte mir in der Redaktion, daß Inspektor Brighton dagewesen wäre. Ich tat erstaunt, als hätte ich keinen Schimmer davon. Da eine Zusammenkunft zwischen uns beiden unerlässlich war, beschloß ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ich erledigte meine Arbeit im Eilzugtempo, telefonierte wegen einiger Klischees, die ich dringend benötigte, mit dem Chef der Chemigraphie, stellte ihm zwei Boxkampfkarten in Aussicht, wenn er mich zu meiner Zufriedenheit bediente, und erhielt daraufhin prompt seine definitive Zusage, daß ich mich voll und ganz auf ihn verlassen könne. Wie immer wenn ich ihm Boxkampfkarten anbot. Nachdem ich alle Schwungräder angeworfen hatte, fuhr ich zu 52 �
jenem Gebäude, das zwischen Victoria Street, Broadway und Dacre Street liegt und den klangvollen, weltweit bekannten Namen New Scotland Yard trägt. Zweitausendsiebenhundert Personen sind in dieser Stahlbetonkonstruktion beschäftigt, deren Außenwände mit polierten grauen Granittafeln verkleidet sind. Zwei davon waren George Molton, mein Freund, und Inspektor Abel Brighton, mein Feind. Er war in seinem Büro und trank Tee. Ich sagte ihm kaltschnäuzig, daß ich einen mittrinken würde. Vielleicht hoffte ich insgeheim, daß er mich dafür gleich wieder hinauswerfen würde, dann wäre der Fall für mich erledigt gewesen. Doch ich bekam meinen Tee. Er ließ mir sogar Zeit, ihn in Ruhe zu trinken. Doch dann begann er mich zu quälen. Er fragte, fragte und fragte. Er machte mir Vorhaltungen, weil ich ihm etwas Wichtiges verheimlicht hätte. Er drohte mir mit allen möglichen Maßnahmen, die er gegen mich einzuleiten gedachte. Ich widersprach kein einziges Mal, obwohl mir das nicht leicht fiel. Ich gab lediglich knappe, präzise Antworten auf seine bissigen Fragen, ließ mich nicht aus der Fassung bringen und blieb selbst dann noch kalt, als er mir drohte, er würde sich an meinen Chef wenden, damit dieser mich ins Redaktionsarchiv verbannte. Ich wußte, daß er das niemals durchsetzen würde. Der Chef hielt große Stücke auf mich. Ich war sozusagen ein brauchbarer Finger an seiner Hand. Wer schneidet sich schon den Finger ab, wenn ein anderer es von ihm verlangt. Wir trennten uns in Feindschaft, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war. *
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Das Licht der 100-Watt-Birne strahlte aus der pilzförmigen Schreibtischlampe. Mary Teal saß an ihrer kleinen elektrischen Schreibmaschine und tippte mit vier Fingern ihre Arbeit über anämische Infarkte auf das Papier. Müde schloß sie kurz die Augen. Der Abend war noch jung, trotzdem sehnte sich Mary bereits nach dem Bett. Sie hatte den ganzen Tag über angestrengt gearbeitet. Nun mußte bald Schluß sein. Schließlich war sie keine Maschine. Sie brauchte auch mal Zeit, sich zu erholen. Seufzend las sie, was sie geschrieben hatte: »Da sich die Arterien in der Peripherie wie die Äste eines Baumes verzweigen, haben die Infarkte oft Keilform…« Dazu fielen ihr einige Gedanken ein, die sie später unterbringen wollte. Sie nahm ein Blatt zur Hand und schrieb mit dem schwarzen Nylonschreiber mehrere Schlagworte auf. Es dauerte nahezu dreißig Minuten, bis Mary Teal die Seite voll geschrieben hatte. Damit war ihr Arbeitspensum für diesen Tag nicht nur erfüllt, sondern sogar weit überzogen. Morgen wollte sie weitermachen. Für heute reichte es auf jeden Fall. Geistig ziemlich leergebrannt, stellte sie den Motor der Schreibmaschine ab. Sie brachte ein bißchen Ordnung auf den Schreibtisch, ohne die Sache auf eine Pedanteriespitze zu treiben. Dann nahm sie sich einen Sherry, den sie im weichen Sessel sitzend am Fenster genießen wollte. Mary wohnte im Erdgeschoß eines neu errichteten Hochhauses. Die Wohnung wies zwei kleine Zimmer, eine Kochnische und eine Diele auf, in der kaum zwei Menschen nebeneinander Platz hatten. Das Bad war ebenso klein. Da Mary die Wohnung aber nahezu immer allein benutzte, reichten ihr die wenigen Quadratmeter. Vor den Fenstern lag eine frisch angelegte Parkanlage mit fachmännisch gepflegten Büschen, jungen Akazienbäumen und zier54 �
lichen Föhren. Der Rasen wurde in regelmäßigen Abständen gemäht und wirkte weich wie eine gut präparierte Matte. Mary nippte am Drink und blickte in die Dunkelheit hinaus. Sie war so müde, daß sie im Sessel hätte einschlafen können. Es kostete sie einige Mühe, die Augen offen zu halten. Wenn du den Sherry ausgetrunken hast, gehst du zu Bett, sagte sie zu sich selbst. Sie setzte das modern geschwungene Glas an die vollen Lippen, und während sie trank, glaubte sie sich beobachtet. Irritiert stellte sie das Glas ab. Sie schaute nach draußen. Huschte da nicht eben jemand von Busch zu Busch? Auf ihr Fenster zu! Hastig löschte sie das Licht und kehrte zum Fenster zurück. Ein Mann huschte gerade hinter einen Strauch, Marys Herz schlug in kürzeren Abständen. Während sie erregt nach draußen starrte, fiel ihr der Tote im Leichenschauhaus ein. Arthur Hawks Skelett, verunstaltet von einer Bestie, die man Ghoul nannte. Hatte der Ghoul in Erfahrung gebracht, wo sie wohnte? War er gekommen, um seinen Hunger nun an ihr zu stillen? Im allgemeinen war Mary nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, doch heute war sie überarbeitet. Ihre Nerven waren angegriffen. Sie war müde. Und nun hatte sie auch Angst. Ein Ghoul war mit dem Teufel gleichzusetzen. Er war genauso grausam, genauso gefährlich und hatte ebenfalls übernatürliche Kräfte. Nervös blickte Mary nach draußen. Der Mann hatte sich zurückgezogen, kam nicht mehr zum Vorschein. Vielleicht sah er in der Nacht genauso gut wie am Tag. Dann konnte er Mary jetzt mit bleichem Gesicht am Fenster stehen sehen. Sie fragte sich, was sie zu ihrem Schutz unternehmen sollte. Vermutlich würde der Unbekannte dort draußen eine geraume Zeit verstreichen lassen. Er würde sie in Sicherheit wiegen, 55 �
würde warten, bis sie sich eingeredet hatte, sie hätte niemanden gesehen. Erst wenn sie vom Fenster weggegangen war, würde er seinen Weg fortsetzen. Er würde in die Wohnung kommen, Bestimmt stellte das für ihn kein Problem dar, Er würde hier hereinkommen und über sie herfallen. Noch einmal erschien vor Marys geistigem Auge Arthur Hawks Skelett. Ihr Herz krampfte sich erschrocken zusammen. Sie wollte nicht so enden wie dieser Mann. Schnell wandte sie sich vom Fenster ab. Hastig eilte sie zum Schreibtisch und nahm den Hörer vom Telefon ab. Sie brauchte nicht Licht zu machen, um die Nummer mit sicherem Griff wählen zu können. Während sie die Scheibe drehte, blickte sie mit furchtgeweiteten Augen zum Fenster, an dem sie ein fremdes, angsteinflößendes Gesicht erwartete. * Ich rauchte und machte mir Notizen. Es ist besser, sich so viel wie möglich aufzuschreiben, denn damit entlastet man seinen Kopf, in dem dann eine Menge anderer Dinge Platz findet. Hinter mir tickte die antike Pendeluhr. Ich kam mit meinen Aufzeichnungen zu einem Ende. Es war noch nicht viel, was ich über den Ghoul wußte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß ich niemals wieder eine bessere Story würde bringen können als diese. Ich stieß die Zigarette in den Aschenbecher. Das Telefon schlug an. Ich hob ab. »Lloyd!« »Entschuldige, daß ich dich störe, Perry«, sagte Mary aufgeregt. »Du weißt, daß du niemals störst«, erwiderte ich ehrlich. »Kommst du mit deiner Arbeit nicht zurande?« 56 �
»Damit bin ich fertig.« »Geht's dir gut, Mary?« fragte ich besorgt, denn die Aufregung des Mädchens gefiel mir nicht. Sie war doch sonst stets so beherrscht. »Stimmt irgend etwas nicht?« »Ich habe Angst, Perry«, gestand sie mir. � »Angst? Wovor?« »Da draußen…« � »Wo – draußen?« fragte ich schnell, weil ich erschrocken war. � »Vor meinem Fenster.« � »Was ist, Mary? Himmel, so rede doch!« � »Es ist jemand vor meinem Fenster, Perry. Ein Mann. Er hat � sich hinter den Büschen versteckt, aber ich habe ihn gesehen.« »Deutlich?« »Nur die Silhouette. Er beobachtet mich.« »Bist du sicher, daß er deinetwegen da ist?« »Ich fühle es, Perry. Ich kann ihn nicht sehen, weiß aber hundertprozentig, daß er andauernd mein Fenster beobachtet. Ich habe Angst, ins Bett zu gehen. Er wartet bestimmt nur darauf. Dann wird er das Fenster aufbrechen und in meine Wohnung kommen.« Ich hatte Mary noch nie so aufgeregt erlebt, deshalb war ich sicher, daß an der Sache etwas dran war. Mary war alles andere als hysterisch. Wenn sie sich mal vor etwas fürchtete, dann hatte das seinen triftigen Grund. »Gib mir einen Rat, Perry!« flehte sie mich an. Mir wurde kalt. »Was soll ich tun?« Ich sagte es ihr. »Du bestellst dir sofort ein Taxi und kommst auf der Stelle hierher! Du brauchst nur deine Zahnbürste mitzubringen. Wenn du in zwanzig Minuten noch nicht hier bist, komme ich dich holen.« Sie versprach, meinen Rat zu befolgen. � Für mich rieselten zwanzig quälende Minuten durch die Uhr. � 57 �
Dann hörte ich das Brummen eines Motors. Ehe Mary Teal geschellt hatte, war ich schon bei der Tür. Ich riß sie auf, und Mary warf sich mit einem erlösten Seufzer in meine Arme. Beinahe hätte ich sie erdrückt, so froh war ich, daß ich sie heil wiederhatte. Ich führte sie ins Wohnzimmer, vor dem offenen Kamin lag das schwarze Fell eines Baribalbären. Davor stand eine mobile Sitzgruppe aus Schweinsleder. Mary sank in einen der Sessel und sagte eine Weile kein Wort, »War er noch da, als du deine Wohnung verlassen hast?« erkundigte ich mich. Mary zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Aber ich habe ihn auch nicht gerade mit den Augen gesucht. Ich rannte auf das wartende Taxi zu, als würde meine Wohnung brennen. Erst als ich im Wagen saß, fiel die beklemmende Angst zumindest teilweise von mir ab.« »Kann er dir gefolgt sein?« Mary wiegte den Kopf. »Das wäre natürlich möglich.« Ich ging zum Fenster, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und streifte das mondhelle Grundstück mit meinen Blicken ab. Plötzlich fühlte ich dicke Hagelkörner durch meine Adern rollen. »Er ist dir gefolgt!« preßte ich heiser hervor. * Es war klar, daß in dieser Nacht nicht an Schlaf zu denken war. Wenn Mary sich zu Hause nicht ganz sicher gewesen wäre, dann wäre das Auftauchen des Schattens auf meinem Grundstück ein handfester Beweis für ihren Verdacht gewesen. 58 �
Mary gestand mir, daß sie schon wieder Angst hatte. Ich konnte sie verstehen. Mir ging es aber zum Glück nicht ebenso. Ich hatte kein bißchen Angst. Nur Wut und Hass nagten wie hungrige Ratten in meinen Eingeweiden. Ein Fremder auf meinem Grundstück, ein verfluchter Kerl, der hinter Mary her war. Vielleicht sogar der Ghoul, was jedoch noch nicht bewiesen war. Während Mary mit ihrer Furcht beschäftigt war, versuchte ich einen Plan auszuarbeiten, wie ich dieses Burschen habhaft werden konnte. Ich besaß eine alte Mauser und eine Schrotflinte, die ich noch nicht oft verwendet hatte. Zwischen diesen beiden Waffen wählte ich, und ich entschied mich für die Flinte, denn nachts war aufgrund der Schrotstreuung eine größere Treffsicherheit gewährleistet. Als ich das Gewehr aus dem Schrank holte, erschrak Mary. »Was hast du vor?« fragte sie mich mit brüchiger Stimme. »Ich gehe mal raus,« »Das darfst du nicht, Perry!« »Was heißt, ich darf das nicht? Auf meinem Grundstück treibt sich eine Ratte herum. Ich werde sie entweder verscheuchen oder erschießen.« Mary drängte mich von den Patronen weg. »Du kannst doch keinen Menschen erschießen, Perry.« »Bist du sicher, daß es sich bei dem da draußen um einen Menschen handelt?« »Du hast kein Recht, zu töten, Perry. Du bringst dich damit in Teufels Küche. Nimm doch mal an, das ist bloß einer, dem ich gefalle. Ein verrückter, verliebter Kater. Man kann ihn deshalb doch nicht einfach erschießen.« Ich schob Mary beiseite und lud die doppelläufige Waffe. »Warum machst du dir etwas vor?« fragte ich mein Mädchen 59 �
mit durchdringendem Blick. »Wir beide wissen, was für eine Kreatur sich da draußen herumtreibt. Sei ehrlich, hättest du dich vor einem aufdringlichen Verehrer jemals so sehr gefürchtet? Du hättest ihn vermutlich gar nicht beachtet. Bei dem Kerl da draußen ist deine Angst aber berechtigt. Dein Instinkt hat die Gefahr gewittert. Das ist kein harmloser, verliebter, kleiner Romeo, der deinetwegen nicht schlafen kann, Mary. Der Kerl auf meinem Grundstück ich fresse einen Besen, wenn mein Verdacht nicht richtig ist –, dieses Gespenst dort draußen ist der Ghoul. Er hat mit mir noch eine Rechnung zu begleichen. Sicherlich ärgert es ihn, daß es mir gelungen ist, ihn in die Flucht zu schlagen. Ich nehme an, er wollte sich an mir rächen, indem er sich an dich heranmachte. Er hätte dich getötet, weil er weiß, daß er mich damit am schlimmsten treffen kann. Nun ist er hier, um irgendwann in dieser Nacht zum vernichtenden Schlag auszuholen. Aber dazu wird es nicht kommen. Es ist ein alter Hut, daß Angriff die beste Verteidigung ist. Und ich werde nach diesem Motto vorgehen.« »Wenn der Mann dort draußen wirklich der Ghoul ist, wird er dich töten, Perry.« Ich fletschte zornig die Zähne. »Das soll er versuchen. Ich werde ihn in Stücke schießen.« Die Flinte war geladen. Nun stopfte ich meine Taschen mit Schrotpatronen voll. Mary versuchte alles, um mich am Verlassen des Hauses zu hindern. Ich hörte mir nicht mehr an, was sie sagte. Ihre Argumente waren zu weich. Sie prallten wirkungslos an meinem versteinerten Herzen ab. Bevor ich das Haus verließ, lugte ich noch einmal aus dem Fenster. Der unheimliche Kerl war nicht mehr zu sehen. Trotzdem glaubte ich, sicher sein zu können, daß er immer noch da war. * 60 �
Am Tag war es unleidlich schwül gewesen. Inzwischen hatte es sich spürbar abgekühlt. Der Mond hatte einen größeren Bauch bekommen. Sein silbriges Licht erhellte die Nacht, ohne die Dunkelheit aufzuheben. Ein kühler Wind fauchte mir ins Gesicht, als ich um die Ecke meines Hauses bog. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Ich befand mich in einer gefährlichen Verfassung, denn ich war so aufgeregt, daß ich auf alles geschossen hätte, was sich auf meinem Grundstück bewegte. Das konnte natürlich auch ins Auge gehen und mich eventuell für viele Jahre ins Gefängnis bringen. Schließlich war nicht absolut auszuschließen, was Mary über den hier herumstreunenden Mann gesagt hatte. Der kühle Wind jagte mir unangenehme Schauer über den Rücken. Ich umklammerte meine Flinte mit grimmiger Miene, während ich meine Schritte mit der nötigen Vorsicht setzte. Wenn der Mann noch hier war, dann hatte er mich längst gesehen. Ich fragte mich, wie er reagieren würde. Immerhin hatte ich eine Flinte bei mir. Würde er trotzdem angreifen? Was konnte ihm eine Schrotladung anhaben? Er war Mensch und Dämon zugleich. Möglich, daß er in Menschengestalt zu vernichten war, aber in der Gestalt des Ghouls nicht. Lautlos wie mein eigener Schatten strich ich ums Haus, blickte hinter jeden Baum und hinter jeden Busch. Stets vorsichtig, zu jeder Sekunde bereit, den bebenden Zeigefinger am Abzug zu krümmen. Ich kam am Swimming-pool vorbei. Der Mond schaukelte wie eine kleine Gondel auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Der Wind hatte einige welk gewordene Blätter in das Becken geblasen. Wie Nussschalen kreuzten sie auf dem Wasser. Immer noch keine Spur von dem Ghoul. 61 �
Ich fand die Stelle, wo er gestanden hatte. Deutlich sah ich, daß der Rasen dort niedergetreten war, deshalb suchte ich wesentlich intensiver. Wie ein Fährtenhund, der den Schweiß eines angeschossenen Wildes gerochen hat, verfolgte ich die Spuren, die auf mein Haus zuführten. Mir wurde angst und bange. War es dem Ghoul gelungen, hinter meinem Rücken' unbemerkt ins Haus zu gelangen? Dann war Mary jetzt in Lebensgefahr oder gar schon… Himmel, ich wagte diesen entsetzlichen Gedanken gar nicht fertigzudenken. Mit weiten Sätzen hastete ich zum Hauseingang zurück. Ich traf Mary im Wohnzimmer an allein, wohlbehalten, unversehrt. Ein mächtiger Stein fiel mir von der Brust. »Nichts«, sagte ich mißmutig und stellte das Gewehr weg. Aber nicht in den Schrank, denn es war nicht sicher, daß ich es nicht mehr brauchte. »Vielleicht hat er vor deiner Flinte Reißaus genommen«, sagte Mary. »Vielleicht«, brummte ich. Dann bettete ich meine faserigen Nerven in einen dreifachen Whisky. Egal, wohin sich der Ghoul zurückgezogen hatte, ich war entschlossen, in dieser Nacht kein Auge zu schließen. Ich schickte Mary zu Bett. Sie protestierte zwar, doch ich ließ mich auf keine Diskussion ein, sondern zwang ihr einfach meinen Willen auf. Sie war zu müde, um mir wirkungsvollen Widerstand leisten zu können. Es wurde eine lange Nacht. Die längste in meinem Leben. Obwohl ich die Rückkehr des Ghouls befürchtete, wünschte ich mir nichts so sehr als das. Ich fand es besser, wenn Entscheidungen fielen. Etwas Schlimmeres als diese quälende Ungewiss62 �
heit konnte es für mich nicht geben. Erst als das Tageslicht träge über unserer Stadt aufkeimte, wußte ich, daß ich umsonst gewartet hatte. Er hatte nur mal sondiert. Vielleicht hatte er uns auch nur mal ein wenig Angst machen wollen. Möglich, daß er versuchte, uns mit dieser Taktik langsam weichzumachen. Er brauchte nur jede Nacht wiederzukommen und um mein Haus herumzuschleichen. Vier Nächte ohne Schlaf hätten mich bestimmt geschafft. Danach wären wir reif für ihn gewesen. Ich legte mich auf das Bärenfell und schlief sofort ein. Aber es wurde kein erholsamer Schlaf, denn ich träumte von ihm. Und während ich schlief, fürchtete ich mich bereits vor der nächsten Nacht. Da legte sich etwas Kaltes auf mein Gesicht. Ich zuckte mit einem erschrockenen Schrei hoch und tappte benommen nach meinem Gewehr. Es war Marys Hand gewesen, die mich gestreichelt hatte. Sie sah mich besorgt an. Das Aroma von gutem Tee stieg mir in die Nase. Warmer Toast duftete. Ich setzte mich verwirrt auf. Mary hatte ein kräftigendes Frühstück zubereitet. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits elf. Der Schlaf hatte mir sehr gut getan. * Man kann sein Geld auf alle möglichen Arten verdienen. Die meisten sind reell. Dafür werfen sie aber auch den geringeren Profit ab. Mehr ist auf der anderen Seite des Gesetzes zu verdienen. Das wußten Paul Primus und John Parker bereits seit einigen Jahren. Trotz ihrer kriminellen Tätigkeit, die sie seit geraumer Zeit als Duo ausübten, war ihnen der große Wurf noch nicht geglückt. Wohl gab es da 63 �
einen Einbruch, dort einen unbedeutenden Raubüberfall wobei die Gefahr, erwischt zu werden meist den Gewinn bei weitem überwog. Das richtig große Ding war den beiden Ganoven bislang jedoch versagt geblieben. Daß dies nicht ewig so blieb, dafür waren sie eben im Begriff zu sorgen. Sie saßen schwitzend in ihrem weißen Ford Corsair. Seit Tagen beobachteten sie von morgens bis abends den Juwelierladen gegenüber. Sie versuchten herauszufinden, wann der günstigste Zeitpunkt für einen gewinnbringenden Überfall war. Der Laden war nicht sonderlich groß und deshalb besser auszurauben als die großen Juwelierläden, in denen man über ein verwirrendes Alarmsystem leicht stolpern konnte. Von einem solchen System konnte hier jedoch keine Rede sein. Lediglich die schmalen Auslagen waren gegen Bruch gesichert. Und drinnen gab es einen Safe, der bestimmt nicht leicht zu knacken war. Etwas in dieser Richtung hatten Primus und Parker aber gar nicht vor. Sie wollten sich an den Juwelier halten. Der Mann war klein, schmächtig und alt. Ihm konnten nur noch einige wenige Monate auf die Fünfundsechzig fehlen. Primus und Parker waren sicher, daß es genügte, ihm eine Pistole unter die Nase zu halten. Er würde sicherlich keine Schwierigkeiten machen. »Siehst du den da?« fragte Paul Primus den Freund. Er saß auf der Beifahrerseite. Gerade betrat ein elegant gekleideter Mann den Laden. Er trug einen unauffälligen schwarzen Attachekoffer. Sein Handgelenk war mit dem Koffer durch eine blitzende Stahlkette verbunden. John Parker nickte. »Ist der Diamantenbote«, sagte Primus. Parker grinste breit. 64 �
»Je größer die Lieferung ist, desto besser für uns.« »Wann werden wir die Nuss nun knacken, hm?« fragte Primus. Er war schlank, hatte dunkle Knopfaugen und Hände, die noch nie schwere Arbeit verrichtet hatten. Er legte Wert auf gutsitzende Anzüge und dekorative Krawatten. Sein Gesicht war Konfektionsware von Mutter Natur. John Parker wirkte männlicher als er. Seine Züge waren markant und ebenmäßig. Man hätte ihn für einen sympathischen Schauspieler halten können, der vorwiegend zu Liebhaberrollen herangezogen wurde. Auf Pauls Frage zuckte er nun die Schultern. »Wir werden uns heute abend in aller, Ruhe darüber unterhalten. Möglich, daß' wir schon morgen zuschlagen. Vielleicht ist es aber auch ratsam, noch einen Tag zu warten. Je besser die Vorbereitungen sind, um so glatter geht die Sache dann über die Bühne.« Primus kniff die Augen zusammen. »Mir wäre bedeutend lieber, wenn wir die Sache schon hinter uns hätten. Du kennst mich, ich tue gern was. Hier so herumzusitzen, das macht mich ganz krank.« Parker grinste. »Du wirst sehr bald sehr viel zu tun kriegen, Verlass dich drauf.« * Nachdem ich Mary zu einer Studienkollegin gebracht hatte, ließ ich meine Beziehungen spielen, um zu Silberkugeln zu kommen. Man verwies mich an einen Mann, bei dem man die verrücktesten Dinge kaufen konnte. »Sie sind wohl hinter einem Werwolf her, Mister«, sagte der Mann, als ich mir drei Magazine für meine Mauser von ihm fül65 �
len ließ. »Wieso?« fragte ich irritiert. Der Mann trug einen schmuddeligen Anzug und wohnte in einer dreckigen, kleinen, feuchten Kellerwohnung. Vielleicht war er ein Hexer. Damit wäre möglicherweise auch gleich erklärt gewesen, warum ihn dieses finstere Loch noch nicht umgebracht hatte. Sein Blick war stechend. Er hatte dicke Backen und schlechte Zähne. Nun grinste er seltsam. »Man tötet Werwölfe, indem man ihnen eine Silberkugel ins Herz schießt.« »Und wie tötet man einen Ghoul?« fragte ich geradeheraus. Er schien zu erschrecken. Sein Blick flatterte. Er war plötzlich mächtig aufgeregt. »Oh, verdammt, Mister! Sagen Sie bloß nicht, Sie möchten sich mit einem Ghoul anlegen?« Ich knirschte mit den Zähnen. »Leider ist es eher umgekehrt.« Daraufhin blickte mich dieser seltsame Kerl an, als hätte ich kaum noch bis zum nächsten Vollmond zu leben. »Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, Mister«, sagte er furchtsam. »Es ist geradezu unmöglich, einem Ghoul zu entkommen. Wenn er Sie haben will, wird er Sie kriegen.« »Ich werde mich wehren«, sagte ich trotzig. Der Mann zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte langsam den Kopf. »Womit wollen Sie sich wehren, Mister? Mit den Silberkugeln? Damit richten Sie nichts aus. Ich sagte doch schon: damit kann man nur Werwölfe töten. Und natürlich auch Menschen.« Er lachte, daß mich fröstelte. »Menschen kann man sehr leicht töten.« »Und wie bringt man einen Ghoul zur Strecke?« 66 �
»Tja«, erwiderte er leise, »wie? Ich weiß es nicht. Ich glaube, das weiß niemand. Jedenfalls hat noch keiner etwas mit Silberkugeln ausgerichtet. Möglich, daß das Silber eine bessere Wirkung erzielt als eine normale Kugel, aber töten, Mister, töten können Sie den Ghoul mit Silber nicht.« * In der Redaktion gab ich nur ein ganz kurzes Gastspiel. Was unbedingt aufzuarbeiten war, erledigte ich. Ich führte eine Menge kurzer Telefonate, nahm meine Post, die man mir auf den Schreibtisch gelegt hatte, mit nach Hause und vergaß sie da vorläufig. Nichts war mir im Augenblick so wichtig wie dieser verfluchte Ghoul, auf dessen makabrer Speisekarte Mary und ich zu stehen schienen. Es war vier, als das Telefon läutete. Ich war gerade im Begriff gewesen, mir die gekauften Silberkugeln anzusehen. Ehe ich abhob, drückte ich die Patronen wieder ins Magazin. Der Störenfried war George Molton. »Ich habe in der Redaktion angerufen. Man sagte mir, mit ein bißchen Glück könnte ich dich zu Hause erreichen.« »Du hattest dieses bißchen Glück«, gab ich trocken zurück. »Was gibt's denn?« »Ich will mit dir reden, Perry.« »Worüber?« »Na, worüber schon.« »Schieß los!« »Ich möchte zu dir kommen.« »Von mir aus.« »Dann bis gleich.« »Bis gleich« war eine Dreiviertelstunde später. Ich hatte mich gezwungen, inzwischen die Post durchzuackern. Nun hatte ich Zeit für George. Er hatte nichts gegen einen Scotch on the Rocks und ich auch nicht. Trinkend wartete ich darauf, daß er mir sagte, worüber er mit mir reden wollte. Vor allem interessierte mich, was ihn so 67 �
aufgekratzt hatte. Er sprach erst, nachdem er sein Glas geleert hatte. »Diese Ghoulgeschichte läßt mich nicht mehr los, Perry.« »Mich auch nicht«, konnte ich ihm ehrlich versichern. »Was hast du inzwischen unternommen, Perry?« Ich sagte es ihm und erzählte ihm auch von dem Erlebnis, das Mary und ich in der vergangenen Nacht gehabt hatten. Und ich erwähnte die Silberkugeln, in die ich einige Hoffnung gesetzt hatte, die mir von dem Mann, der sie mir verkauft hatte, aber größtenteils wieder zerstört worden waren. George war beeindruckt. »Lass mich dir helfen, Perry«, sagte er tatendurstig. »Du scheinst nicht zu kapieren, in was du dich da hineinzudrängen versuchst«, entgegnete ich ziemlich scharf. George war ein netter Junge. Der Gedanke, daß ihn der Ghoul fraß, war mir unerträglich. »Wir können zu zweit doch mehr ausrichten als einer allein, Perry.« »Hast du denn keine Angst vor dieser Bestie, George?« »Ich würde das Gefühl, das ich in mir habe, nicht als Angst bezeichnen. Es ist etwas anderes. Vielleicht Abenteuerlust, vielleicht… Ich weiß es nicht, Perry. Jedenfalls erregt es mich auf eine unerklärliche Weise.« »Lass die Finger davon, George!« riet ich ihm. »Ich meine es gut mit dir.« »Warum willst du dir nicht helfen lassen, Perry?« »Weil mir nicht zu helfen ist. Wenn es eine Möglichkeit gibt, den Ghoul fertigzumachen, finde ich sie allein heraus. Wenn es keine gibt, wird er mich umbringen. Was hätte es für einen Sinn, wenn du mit mir stirbst, George?« »Zwei Köpfe haben mehr Ideen als einer«, erklärte George Molton hartnäckig. 68 �
»Ich hätte ihn am liebsten hinausgeworfen, doch irgendwie imponierte mir sein Mut auch. Der Junge, den ich in der Schule nach Belieben verprügelt hatte, zeigte mir auf einmal, daß sich sein Mut mit dem meinen messen konnte. Ich seufzte. »Dann komm mir doch mal mit einer brauchbaren Idee. Wenn sie mir gefällt, werde ich deine Hilfe annehmen.« »Ich habe viel über diese Geschichte nachgedacht, Perry…« »Wer hat das nicht.« »Ich überlegte mir, daß der Ghoul doch irgendwo zu Hause sein muß. Es muß einen Winkel geben, wo er wohnt.« »Deine Überlegungen sind nicht gerade umwerfend gut, George.« Mein Freund ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er fuhr fort; »Ich nehme an, der Ghoul haust auf dem Friedhof, Perry.« Ich schüttelte sofort den Kopf. »Ausgeschlossen, George.« »Wieso ausgeschlossen? Ghouls sind Leichenfresser, und Leichen gibt es auf dem Friedhof.« »Erinnerst du dich noch an das, was vorgestern nacht passiert ist?« fragte ich George. »Der Ghoul war im Leichenschauhaus und hat…« »Und danach?« unterbrach ich meinen Freund, um ihn dahin zu bringen, wo ich ihn haben wollte. »Danach?« »Ja. Was passierte dann?« »Dann?« »Junge, stehst du vielleicht hart auf der Leitung. Er hat doch Henry Gall auf dem Friedhof umgebracht. Ist das richtig?« »Natürlich ist das richtig.« »Okay. Und jetzt spinn doch mal den Faden weiter. Inspektor Abel Brighton war mit seinen Mannen auf dem Friedhof. Richtig?« 69 �
»Ja.« »Ich bin überzeugt, daß sie jeden Toten aus dem Grab geholt haben, um zu sehen, ob sich dahinter nicht der Ghoul verkrochen hat. Wenn sich das Monster auf dem Friedhof befunden hätte, dann hätten es deine Kollegen aufgestöbert. Zumindest aber hätten sie seine Behausung gefunden. Haben sie das?« »Soviel mir bekannt ist, nicht.« »Na also. Deshalb wage ich zu behaupten, daß sich der Ghoul zwar hin und wieder auf dem Friedhof herumtreibt, aber er wohnt nicht da. Vergiß nicht, daß er die Möglichkeit hat, sich in einen harmlos wirkenden Menschen zu verwandeln. Hat er es da nötig, auf dem Friedhof zu wohnen? Er kann im vornehmsten Hotel absteigen, wenn er will.« »Fragt sich nur, ob er sich im vornehmsten Hotel so wohl fühlt wie auf dem Friedhof«, wandte George ein. »Gut, nehmen wir also einmal an, er wohnt woanders.« »Das tut er sicher.« »Okay, Perry. Lass mich mal weiterreden. Er wohnt nicht auf dem Friedhof, aber er hat Henry Call auf diesem Friedhof getötet. Das kann also bedeuten, daß er sich dort gern des Nachts herumtreibt.« »Ja, das kann es bedeuten«, sagte ich. »Aber er treibt sich neuerdings auch gern um mein Haus herum.« »Ich finde, man muß ihn aus der Reserve locken, Perry«, sagte George altklug. »Und wie macht man dieses?« fragte ich nicht ohne Spott. »Gehen wir heute Nacht auf diesen Friedhof, Perry. Legen wir uns da auf die Lauer.« »Und wenn er nicht kommt?« »Es war doch wenigstens den Versuch wert. Ich bin überzeugt, daß er dort auftauchen wird.« »Und wenn er Inzwischen hierher kommt?« ließ ich meinen 70 �
nächsten Einwand los. »Er wird vielleicht hierher kommen, wird aber auch auf den Friedhof kommen. Er ist ein Ghoul, Perry. Das darfst du nicht vergessen. Der Friedhof ist für ihn so etwas wie eine Heimat. Außerdem ist der Friedhof für ihn das gleiche wie für den Bauern der Acker. Der Friedhof ernährt ihn.« Mir lief es kalt über den Rücken. George hatte recht. Wenn der Ghoul keine Menschen umbrachte, mußte er sich an die Leichen halten. Vielleicht sollten wir die kommende Nacht wirklich auf dem Friedhof verbringen. Noch hatte ich mich zu keinem Entschluß durchgerungen, aber wenn wir auf den Friedhof gehen sollten, wäre es ratsam gewesen, dort nicht erst in der Dunkelheit aufzukreuzen. Wenn wir uns mit der Örtlichkeit vertraut machen wollten, mußten wir den Friedhof zunächst bei Tageslicht inspizieren. Warum machten wir das eigentlich nicht sofort? Ich erhob mich. Mein Entschluß war gefaßt. Da sich George nicht mehr abhängen ließ, nahm ich ihn mit. * Paul Primus wandte sich seinem Freund zu. »Ich finde es blöd, noch länger zu warten, John.« »Ich nicht«, gab Parker brummig zurück. »Wir wissen doch schon alles über den alten Herrn. Warum gehen wir nicht schon heute rüber und nehmen ihm die Klunkern ab?« »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß es für die Sache besser ist, wenn man lange genug abwartet. Es darf keine Panne geben, verstehst du?« »Hat es denn schon mal 'ne Panne bei uns gegeben?« fragte Pri71 �
mus gereizt. »Wir haben uns noch nie so etwas Großes vorgenommen.« »Ist doch kein Unterschied…« »Ich sage dir, wir warten noch!« stellte John Parker zornig fest. »Warten!« maulte Primus. »Warten! Worauf denn? Auf die nächste Eiszeit? Jetzt hör mir mal genau zu, John! Ich scheiße auf diese so genannten gut geplanten Coups. Hinterher werden die Banditen oft schneller geschnappt als andere, die aus heiterem Himmel zugeschlagen haben. Und ich kann dir auch verraten, weshalb. Weil nämlich nicht bloß lauter Idioten bei der Polente sind. Da gibt es einige kluge Köpfe, die sich in deinen Gedankengang genau hineindenken können. Und wenn sie das erst mal geschafft haben, brauchen sie zumeist nur noch ganz kurze Zeit, um dich auszuforschen und in den Knast zu schleudern. Bei 'ner Blitzaktion aber, bei der es aufs Improvisieren ankommt, gibt es keine nachspielbaren Schachzüge. Und ich will verdammt sein, wenn sich die Bullen dabei nicht die Mäuler eher einrennen.« John Parker winkte desinteressiert ab. »Quatsch!« brummte er nur. Doch Primus ließ nicht locker. »Quatsch sagst du, eh? Dann paß mal auf, was ich weiter spreche: Vorhin hat der Diamanten-Heini bei unserem Freund dort drüben hineingeschaut. Was schließt du daraus?« »Der Alte hat Diamanten gekauft.« »Genau«, sagte Primus eifrig. »Und jetzt kurble deinen Denkapparat mal ein bißchen an, John. Wozu kauft der Alte Diamanten?« »Blöde Frage«, brummte John Parker. »Um sie weiterzuverkaufen, natürlich. Ich glaube kaum, daß er sich selbst damit schmücken will.« »Das glaube ich auch nicht. Er wird die Dinger also verscher72 �
beln.« »Du sagst es.« Parker grinste. »Und wann wird er sie verkaufen? Hm? Wann denn? Ich behaupte, so bald wie möglich. Vielleicht schon morgen früh. Er legt sich die Steine doch nicht aufs Eis. Sie haben eine Menge Geld gekostet. Er hat sicherlich getrachtet, daß sein Geld so kurz wie möglich gebunden ist. Das heißt andersrum: wenn wir noch ein paar Tage warten, können wir die Diamanten auf jeden Fall abschreiben.« »Es ist noch genug anderes Zeug zu holen«, wandte Parker ein. »Verdammt, ich sehe nicht ein, warum wir auf die Diamanten verzichten sollen!« schrie Primus erzürnt. »Sollen wir die Sache deshalb überstürzen?« »Was heißt überstürzen? Es ist tausendmal abgesprochen, was wir tun werden. Warum tun wir es nicht endlich?« John Parker sah den Freund mit zusammengekniffenen Augen an. »Du kannst einem ganz gehörig auf den Wecker fallen, wenn du dich mal in eine Idee verrannt hast.« »Denkst du, du fällst mir mit deiner Übervorsichtigkeit nicht auf den Zeiger?« »Du willst es also heute machen.« »Genau. Morgen komme ich nicht noch mal her. Es geschieht entweder heute oder gar nicht.« Parker war wütend. Es kostete ihn einige Mühe, sich zu beherrschen. E kannte den hitzköpfigen Freund. Wenn der sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er davon nicht mehr abzubringen. Es ist unser letzter gemeinsamer Coup, dachte John Parker grimmig. Wenn das vorbei ist, soll er hingehen, wo der Pfeffer wächst. Danach will ich mit ihm nichts mehr zu tun haben. Er holte tief Luft und nickte. »Okay, Paul. Dann machen wir's eben heute. Aber heul mir ja 73 �
nicht die Hemdbrust voll, wenn die Sache schief geht.« Primus lachte erregt. »Wie kann sie das denn, wenn zwei Genies wie wir an der Arbeit sind.« * Wir erreichten den Friedhof. Am Tag sah er ganz anders aus als in der Nacht. Die Sonne strahlte freundlich und warm vom Himmel, dessen stahlblaue Farbe fast unnatürlich wirkte. Wenn ihn jemand so gemalt hätte, wäre das bestimmt als sehr kitschig empfunden worden. Obwohl ich schon einmal hier gewesen war, erkannte ich den Friedhof nicht wieder. Ich lernte ihn jetzt erst richtig kennen. George und ich prägten uns jedes Grabkreuz, jede Gruft und jeden Grabstein ein. Eine haargenaue Ortskenntnis konnte uns unter Umständen das Leben retten. Eine alte Frau, von Gram gebeugt, legte Blumen auf ein ärmliches Grab. Sie weinte, während sich ihre dünnen Lippen zu einem innigen Gebet bewegten. Sie beachtete uns nicht, und wir ließen sie in ihrer Andacht ungestört. Eigentlich fand ich den umgestürzten Grabstein, auf dem die beiden Landstreicher gesessen hatten, nur durch Zufall so schnell. Was sich hier an Grauenvollem ereignet hatte, war nicht mehr zu sehen. Man hatte gründlich aufgeräumt. Nur noch ein Stückchen vergilbter Zeitung erinnerte an Henry Gall. George Molton schaute sich um. »Was ist das doch für ein stilles, friedliches Fleckchen inmitten der pulsierenden Großstadt.« Er hatte recht. Von überallher strömte uns Ruhe entgegen. Es war kaum zu fassen, daß hier ein schrecklicher Dämon sein Unwesen trieb. 74 �
»Hast du dir alles genau eingeprägt, George?« fragte ich meinen Freund. »Ich denke schon.« »In der Nacht sieht es hier völlig anders aus. Dazu kommt noch der dichte Nebel, der sich hier so gern aufhält.« »Ich glaube, ich könnte den Friedhof mit geschlossenen Augen durchqueren, ohne ein einziges Mal auf die Nase zu fallen«, sagte George grinsend. »Dann ist es ja gut. Gehen wir?« »Wie du willst, Perry.« Wir gingen. Nahe dem Friedhofstor begegneten wir einem Mann, der einen wunderschön geschmückten Reisigkranz trug. Mit unendlich trauriger Miene ging er an uns vorbei. Sein Anblick brachte mir zum Bewußtsein, daß ich auf einem Friedhof eigentlich noch nie jemanden lachen gehört hatte. »Ich brachte George nach Hause. Wir vereinbarten, daß er um einundzwanzig Uhr zu mir kommen würde. Dann fuhr ich weiter und holte Mary von ihrer Studienkollegin ab. Sie war sehr schweigsam, bat mich nur, sie vor ihrer Wohnung abzusetzen, doch ich machte ihr klar, daß sie auf gar keinen Fall in dieser Wohnung bleiben dürfe. Zugegeben, ich hatte vor, sie in dieser Nacht allein zu lassen. Aber in meinem Haus war sie sicherer. Die Fenster waren mit kunstvoll gebogenem Schmiedeeisen vergittert, und die Türen waren dick. Es gab Riegel und Ketten zum Vorlegen. Jedenfalls konnte man meine kleine Burg nicht so leicht stürmen. Mary holte sich nur ein paar Sachen aus der Wohnung, dann fuhren wir zu mir. Sie kochte uns eine Kleinigkeit. Wir hatten beide keinen Appetit, aßen aber trotzdem, um bei Kräften zu bleiben. Langsam wurde es Abend. Ich konnte die Nacht kaum noch erwarten. 75 �
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»Sperrstunde«, sagte Paul Primus grinsend. »Das ist unsere Zeit, John. Komm, wir machen es!« Sie sprangen aus dem Wagen und überquerten die Straße. Den Motor ließen sie laufen. »Hast du daran gedacht, die Nummerntafeln abzudecken?« fragte Parker. »Habe ich schon mal an etwas nicht gedacht?« gab Primus nervös lachend zurück. Sie erreichten den Laden des Juweliers. Ehe sie eintraten, zogen sie Nylons über den Kopf. Ihre Nasen wurden flachgedrückt. Sie waren nicht mehr wieder zu erkennen. Primus zückte seine Luger. Auch Parker zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter. »Es wird aber nicht damit geschossen, verstanden?« zischte Parker. Er fand es nötig, darüber zu reden, denn Primus hatte einen verflucht leichtsinnigen Zeigefinger. »Geschossen wird nur im äußersten Notfall«, gab Primus zurück. Parker beruhigte diese Bemerkung keineswegs. Der äußerste Notfall lag bei Paul Primus bei einer wesentlich geringeren Grenze als bei ihm. Zweimal waren sie wegen Pauls ungestümem Leichtsinn in Schießereien verwickelt worden. Beide Male waren sie gerade noch glimpflich und unerkannt davongekommen. Doch es hatte sich gezeigt, daß Primus seither immer schneller zur Waffe griff. Er behauptete zwar, die besseren Nerven zu haben, und vielleicht hatte er sie auch wirklich. Was er jedoch nicht hatte, war ein klarer, analytischer Verstand, der es ihm möglich machte, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, zu erkennen, welche Maßnahme wann getroffen werden mußte. 76 �
Wenn das nur gut geht, dachte John Parker nervös. Dann traten sie ein. Der alte Juwelier war gerade dabei, seine wertvollen Schmuckstücke im Safe zu verstauen. Seit Jahren ging er nach einem bestimmten System vor. Oben kamen die Perlenketten und Perlenringe hin. Darunter Weißgoldgeschmeide und wiederum darunter Brillanten, Diamanten und so fort. Primus polterte durch die Tür in den Laden. Der alte Mann erschrak, als er die beiden Nylonmasken sah. Fast fünfundsechzig Jahre war er alt geworden. Noch nie hatte sich ein Verbrecher um seinen Laden gekümmert. Zitternd zog er die dünnen Arme, während sein faltiges Gesicht graue Flecken bekam. Primus warf ihm einen schwarzen Stoffsack zu. »Los, Opa, einräumen!« »Was?« fragte der Juwelier mit brüchiger Stimme. »Alles. Wir wollen alles haben.« »Warum tun Sie mir das an?« stöhnte der kleine Mann. »Warum haben Sie sich ausgerechnet mich ausgesucht?« Paul Primus lachte meckernd. »Diese Frage würde uns jeder andere auch stellen. Warum ausgerechnet ich! Weil wir zwei wie Wasser sind. Und Wasser geht bekanntlich den Weg des geringsten Widerstands. Und nun beweise mal, daß wir uns in dir nicht geirrt haben, sonst knalle ich dir die Ohren vom Schädel.« »Ich bin ein alter Mann.« »Na eben. Wer so alt ist wie du, braucht nicht mehr so viel Geld. Her mit den Klunkern, aber ein bißchen dalli! Du kannst verstehen, daß wir es eilig haben.« Zitternd begann der alte Mann seine Kostbarkeiten einzuräumen. Mit jedem Stück, das er in den schwarzen Sack steckte, ging ein Stück von seinem Herzen mit. Eine abgrundtiefe Ver77 �
zweiflung überschüttete sein Gesicht mit Anthrazitfarbe. Es fiel ihm unsagbar schwer, sich von seinem Lebenswerk zu trennen. All sein Geld, das er sich mit jahrelanger Entsagung erwirtschaftet hatte, steckte in diesen Juwelen. Nahm man sie ihm, so nahm man ihm gleichzeitig jenes Geld, mit dem er seinen sorglosen Lebensabend bestreiten wollte. Mehr und mehr füllte sich der schwarze Sack. »Klappt doch bestens«, sagte Paul Primus lachend zu seinem Freund. »Wir sind noch nicht weg«, sagte John Parker weniger optimistisch. Für ihn war der Coup erst gelaufen, wenn sie sich in ihrem Versteck befanden. Doch bis dahin war es noch weit. Und es war noch sehr viel Zeit zum Knieschlottern. »Los, los!« schrie Primus ungeduldig. »Nicht so lax, alter Herr! Ausruhen kannst du dich später, jetzt wird gearbeitet.« Die Fächer waren bald leer. Deprimierend leere Samtkissen und Schatullen lagen vor dem Safe auf dem Boden. »Und nun die Diamanten!« verlangte Primus abschließend. »Nein!« schrie der alte Mann verzweifelt auf. »Die müssen Sie mir lassen. Ich flehe Sie an! Lassen Sie mir wenigstens die Diamanten.« »Und warum gerade die?« fragte Primus eiskalt. »Weil sie nicht versichert sind. Für die anderen Dinge bekomme ich wenigstens einen Teil wieder. Ich bin unterversichert. Ich kriege nicht alles. Und die Diamanten… Ich habe sie doch heute erst bekommen.« »Her damit, Opa!« knurrte Primus mitleidlos. »Du hattest sie schon viel zu lange. Was kann ein alter Knacker wie du denn schon mit all dem Plunder anfangen.« »Ich gebe sie nicht her!« schrie der kleine Mann und schüttelte wild den Kopf. »Ich habe wohl nicht richtig gehört, Freund?« bellte Paul Pri78 �
mus ungehalten. »Von den Diamanten trenne ich mich nicht.« »Mach keine Zicken, verdammt, Opa!« »Ich gebe sie nicht her, eher lasse ich mich erschießen.« »Das kannst du haben!« schrie Primus und riß die Kanone hoch. »Paul!« brüllte John Parker entsetzt. Primus wirbelte gereizt herum. »Wir waren uns doch einig, daß keine Namen fallen, du Idiot!« Der alte Mann griff nach der kleinen schwarzen Kassette, in der sich sein Schatz befand. Er wollte damit in den angrenzenden Raum fliehen. Primus feuerte sofort. Der Juwelier stieß einen krächzenden Laut aus. Er spannte das Kreuz durch, denn die Kugel war ihm in den Rücken gefahren. Unendlich langsam drehte er sich herum. Vorwurfsvoll starrte er Primus an. Ungläubig schaute er den anderen an. So als wollte er fragen: was habt ihr nur getan? Mit einer traurigen Pirouette brach er zusammen. Er war sofort tot. Doch von seiner kleinen Kassette trennte er sich selbst dann nicht. Primus zwang seine verkrampften Finger auseinander und nahm die Kassette an sich. Den schwarzen Sack schubste er dem entsetzten Komplizen zu. Mord! dachte John Parker erschüttert. Raubmord! Das schlimmste aller Verbrechen. Und er war mit dabei. Er hatte befürchtet, daß es einmal dazu kommen würde. Die Schießwut Pauls hätte ihn vorzeitig abspringen lassen sollen. Nun hing, er mit drin, in dieser gottverfluchten Scheiße. * Detektiv-Inspektor Abel Brighton schlug dem um zehn Jahre � 79 �
jüngeren Interpol-Mann freundschaftlich auf die Schulter. »Freut mich, daß Sie bei mir hereingeschaut haben«, sagte er und verzog das Gesicht zu einem ehrlichen Lächeln. »Wie geht's denn so?« erkundigte sich der Beamte von Interpol. Er war groß, schlaksig, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und blinzelte ununterbrochen mit dem rechten Auge. Ein lästiges Nervenleiden, das er seit einem halben Jahr hatte und mit nichts mehr wegbrachte. »Es geht immer schlechter«, antwortete Abel Brighton seufzend, »Die Arbeit sie wächst mir manchmal schon über den Kopf. Ich bin leider nicht mehr der jüngste. In meinem Alter beginnt man jeden Monat zu spüren.« Er setzte sich zurück und fragte schmunzelnd: »Wissen Sie, wovon ich in letzter Zeit immer häufiger träume?« »Na?« »Von einer Bank im Park, in der Sonne. Tauben, die ich füttern kann.« »Sie werden eines Tages davon nicht mehr träumen müssen, Inspektor.« »Ich glaube, ich werde einen solchen Tag nicht erleben. Die Hektik bringt mich um.« Das Telefon schlug an. »Da, sehen Sie es selbst«, ächzte der geplagte Inspektor. Mit einer müden Geste fischte er den Hörer vom Apparat. Sein rundes Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Es fielen nicht viele Worte. Nachdem er aufgelegt hatte, erhob er sich schwerfällig. »Also, komme ich jemals zur Ruhe?« »Was ist passiert?« fragte der Mann von Interpol. »Raubmord an einem Juwelier. Jemand hat den Schuß gehört und den Polizeinotruf gewählt. Ein Zahnrad greift wie immer ins andere. Und am Ende drehe auch ich mich wieder rasend schnell mit.« 80 �
»Tja, dann werde ich mich wieder empfehlen«, sagte der Schlaksige und reichte dem kurzatmigen Inspektor die Hand. »Hat mich trotzdem sehr gefreut, daß Sie hereingeschaut haben«, betonte Abel Brighton. »Und ich wäre Ihnen verdammt böse, wenn Sie mich nächstens vergessen sollten, falls Sie wieder mal in London zu tun haben.« »Ich riskier's bestimmt wieder«, sagte der Mann von Interpol und ging. Arbeitsmüde trommelte Brighton seine Männer zusammen. Dann ging es ab zum Juweliergeschäft, und Brighton fragte sich, wieviel mehr man ihm noch aufzubürden gedachte. Irgendwann, dachte er, irgendwann mal bricht der ganze Karren, den man Abel Brighton nennt, einfach zusammen. Bin gespannt, was die dann unternehmen werden. * George Molton kam zur vereinbarten Zeit. Mary Teal wußte inzwischen, was er und ich vorhatten. Sie war selbstverständlich nicht damit einverstanden. Sie hatte Angst um mich. Ich konnte das begreifen, blieb aber bei meinem Entschluß. George hatte sich eine Pistole verschafft. Da er wußte, welches Kaliber er brauchte, damit er meine Silberkugeln verwenden konnte, hatte er die gleiche Mauser aufgetrieben, wie ich sie bei mir trug. Ich gab ihm ein Magazin. »Darüber hinaus habe ich noch etwas zu meinem persönlichen Schutz getan«, sagte er, »Was denn?« »Hoffentlich stört es dein Mädchen nicht, wenn ich mich jetzt entblöße.« Mein Freund grinste. »Tu dir keinen Zwang an«, gab ich lachend zurück. »Sie wird Kinderärztin. Kleiner kannst du doch auch nicht gebaut sein.« 81 �
George sah mich entrüstet an. »Wer redet denn davon? Also, Perry, ich muß schon sagen, du bist ja beinahe… Mensch, du solltest dich schämen.« Wir lachten. Es tat uns gut, denn wir wußten, daß wir in den nächsten Stunden keine Gelegenheit mehr dazu haben würden. George öffnete sein Jackett und knöpfte das Hemd auf. Etwas, das matt schimmerte, umspannte seine Brust. »Kugelschutz aus Nylon«, erklärte er. »Ich habe die Weste im Yard aufgetrieben. Für dich habe ich auch eine mitgebracht.« »Ich bedankte mich dafür, daß er an mich gedacht hatte, aber ich lehnte es ab, eine solche Weste anzuziehen. Meines Erachtens war sie mir höchstens hinderlich. Der Ghoul schoß nicht mit Kugeln auf uns. Also wozu sollte die Weste gut sein? Wenn er uns angriff, dann zerfleischte er uns mit seinen Klauen. Das konnte auch die Nylonweste nicht verhindern. So praktisch sie auch im Kampf gegen die Londoner Unterwelt sein mochte, hier war sie fehl am Platz. Doch ich behielt das für mich. Wenigstens George Molton sollte sich in seiner Weste sicher fühlen. »Ich meine, es ist Zeit, George«, sagte ich, als er seine Garderobe wieder in Ordnung gebracht hatte. Er hatte nichts dagegen, sofort aufzubrechen. Ich verabschiedete mich von Mary. In ihr ging vieles vor. Zum ersten Mal konnte ich alle ihre Gefühle erkennen. Sie war in großer Sorge um mich, befürchtete, daß ich nicht mehr wiederkommen würde. In ihren Augen schimmerte ein unausgesprochener Vorwurf und die Bitte, ich möge das Vorhaben doch um unsertwillen sein lassen. Ich hätte ihr diesen Gefallen getan, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre. Aber ich war ein Abenteurer. Jede Gefahr zog mich magisch an. Dagegen konnte ich mich nicht wehren. Selbst meine Liebe zu Mary Teal war nicht so stark wie der Drang, fortzugehen, zu kämpfen und zu siegen. 82 �
»Paß auf dich auf«, flüsterte sie an meinem Ohr. Vielleicht war sie verzweifelt. »Dasselbe gilt auch für dich, Mary«, sagte ich eindringlich. »Schließ hinter uns alle Türen und Fenster sorgfältig ab! Nimm eine Schlaftablette, geh nach oben und vergiß die Welt!« »Wie kann ich das, wenn ich nicht weiß, was inzwischen mit dir geschieht.« »Die Schlaftablette wird dir dabei helfen«, erwiderte ich sanft. Ich küsste sie, als ahnte ich, daß ich dazu nie wieder Gelegenheit haben würde. Sie hielt mich fest, und ich mußte sanfte Gewalt anwenden, um mich aus ihren verkrampften Armen zu befreien. Sie tat mir leid, wie sie so dastand unglücklich, ratlos und furchtsam. Aber da war George, der mit seiner bloßen Anwesenheit zum Aufbruch mahnte. Auch er verabschiedete sich von Mary. Dann gingen wir. Mein Mädchen sah mir voll Wehmut nach. Ich wäre geblieben, wenn ich gekonnt hätte. Doch der Ghoul schob sich mit seiner grauenerregenden Fratze zwischen uns beide, und diese Erscheinung bestärkte mich in meiner Entschlossenheit. Mir war klar, daß ich erst wieder Ruhe finden würde, wenn es zwischen mir und dieser verfluchten Bestie zur Entscheidung gekommen war. Entweder lebte er dann weiter oder ich. Für uns beide war kein Platz auf dieser Welt. * Die Männer der Spurensicherung arbeiteten mit gewohnter Routine. Der Polizeiarzt untersuchte den toten Juwelier. Der Polizeifotograf schoß seine tristen Aufnahmen von der Leiche. Alles � 83 �
ging seinen gewohnten, nüchternen Gang. Es war immer dasselbe. Und es war erstaunlich, daß diese Methode ausreichte, um immerhin neunzig Prozent aller Verbrechen aufzuklären. Man fand eine Menge Fingerabdrücke. In einem Geschäft war das keine Besonderheit. Den zuständigen Beamten von Scotland Yard oblag es dann, die Prints auszuwerten und womöglich herauszufinden, welche den beiden Mördern gehörten vorausgesetzt, daß sie hier drinnen etwas angefasst hatten. »Vergesst die Tür nicht!« sagte Inspektor Abel Brighton zu seinen Leuten. »Schließlich haben sie durch diese Tür ja den Laden betreten.« »Erfahrungsgemäß ist mit den an Türen sichergestellten Prints nicht viel anzufangen, Inspektor«, sagte ein junger Kerl, der die Polizeischule noch nicht lange hinter sich hatte. »Erfahrungsgemäß?« fragte Brighton spöttisch. »Auf wie viele Jahre Erfahrung können Sie denn schon zurückblicken?« »Auf ein halbes Jahr, Sir.« »Beachtlich, äußerst beachtlich.« »Immerhin habe ich in der Schule aufgepaßt, Sir«, erklärte der junge Mann trotzig. »An Türen sind die Prints sehr oft überlagert, weil Türen und Türengriffe vor allen Personen angefasst werden, die ein und aus gehen. Wir hatten einen Lehrer, der in Daktyloskopie äußerst bewandert war, Sir, das können Sie mir glauben.« Brighton zog die Brauen wütend zusammen. Er blickte auf eine jahrzehntelange Berufserfahrung zurück, und nun kam so ein Grünschnabel daher und wollte ihn, den alten Hasen, mit Schulweisheiten belehren. »Darf ich Sie trotzdem bitten, sich um die Tür zu kümmern«, knurrte er ganz hinten in der Kehle. »Oder möchten Sie ab morgen in unserer hübschen Zentralkartei Schimmel ansetzen?« Der junge Beamte hatte zum Glück genug Anekdoten über 84 �
Abel Brighton das Denkmal der Mordkommission gehört, um zu wissen, daß man solche Drohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Er ging sofort an die Arbeit. Ob das nun sinnvoll war oder nicht, war ihm gleichgültig. Der Inspektor hatte es befohlen, er hatte zu gehorchen. So funktionierte nun mal der Polizeiapparat. Brighton sprach mit dem Mann, der den Polizeinotruf gewählt hatte. Er redete auch mit anderen Leuten, die alle etwas gesehen haben wollten. Plötzlich waren einige Reporter da, die ein Feuerwerk von Blitzen losließen. Brighton verjagte sie, doch sie kamen wieder. Es war ihr Job, sich nicht abwimmeln zu lassen. Und es war ihr Job, so viele Fragen wie möglich zu stellen. Schließlich wollten die Leser informiert werden. Selbst unangenehme Fragen ließen sich nicht vermeiden. Schließlich resignierte Brighton. »Wenn ich es könnte, würde ich euch Lumpenpack zur Hölle fahren lassen!« brummte der dicke Inspektor gereizt. »Da ich dazu aber leider nicht die Macht habe, will ich Ihnen eröffnen, daß dieser Fall eben erst begonnen hat. Wenn Sie denken, ich könnte Ihnen bereits den oder die Mörder präsentieren, sind Sie auf dem Holzweg. Auch ein Inspektor von Scotland Yard darf, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, erst mal keine Ahnung haben. Ich bin aber überzeugt, daß es mir gelingen wird, diesen Raubmord aufzuklären. Dazu brauche ich vor allem Zeit, und ich bitte Sie hiermit, mir diese zuzugestehen. Auch Rom wurde nicht in einem Tag erbaut. Und selbst Sie, die Sie doch alles können, brauchen für Ihren Artikel, selbst wenn er noch so schlecht geschrieben ist, eine gewisse Zeit.« Er lächelte giftig in die Runde. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe zu arbeiten.« *
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John Parker stellte den Motor des Corsair ab und löschte die Lichter. Paul Primus saß mit versteinerter Miene neben ihm. Primus hatte Trotz in den Augen, während Parker in seiner Gesamtheit aus einem einzigen großen Vorwurf bestand. Obwohl sie beide an dasselbe dachten, redeten sie nicht darüber. Über ihren Köpfen knisterte die Aggression. Wenn sie darüber gesprochen hätten, wäre es zum unvermeidlichen Streit gekommen. Beide wußten das. Deshalb mieden sie dieses Thema. Sie wollten die Sache erst mal überschlafen. Am nächsten Tag würden sie einigen Abstand gewonnen haben. Vielleicht konnte man das Thema dann streifen morgen. Auf keinen Fall heute, denn heute wäre jedes Wort in dieser Richtung ein Funke ins Pulverfass gewesen. »Wir sind da«, brummte Parker überflüssigerweise. Sie hatten London verlassen und befanden sich nun am Rande von Romford. Paul Primus stieß die Tür auf seiner Seite auf. Grillen zirpten unermüdlich ihr schrilles Lied. Bleich ragten die Mauern einer aufgegebenen Hühnerfarm vor den beiden Männern auf. Es handelte sich um einen relativ großen Gebäudekomplex, in der Form eines Vierkanthofes angelegt. Parker und Primus hatten das Gebäude vor Monaten entdeckt. Es schien ihnen als Versteck bestens geeignet. Hierher kam wohl kaum noch jemand. Man konnte hier sicherlich ungestört einige Zeit wohnen. Das dunkelbraune Ziegeldach war an vielen Stellen leck. Wind und Wetter hatten den Putz von den Ziegeln gefressen und das Gemäuer brüchig gemacht. Trotzdem bestand keinerlei Einsturzgefahr, dessen hatten sich Parker und Primus schon während ihrer ersten Besuche versichert. In den Räumen gab es noch einige brauchbare Möbel. Aus altem Holz gezimmert, hatten sie eine erkleckliche Anzahl von 86 �
Jahren überdauert. Gewiß würde es für die beiden Verbrecher kein komfortables Wohnen sein, doch sie stellten keine hohen Ansprüche in dieser Beziehung. Für sie zählte vor allem, daß sie hier lange Zeit unentdeckt blieben. Man mußte nun Gras über die Sache wachsen lassen. Je kälter ihre Spur wurde, desto schwerer würde sie die Polizei verfolgen können. Primus holte die Beute aus dem Fond des Wagens. Schweigend stapften die Männer nebeneinander durch das hohe Gras auf das Haus zu. Sie kamen an einem breiten Kellerabgang vorbei. Man konnte den Keller auch über eine Treppe, die sich im Gebäude befand, erreichen. Weder Parker noch Primus waren jemals unten gewesen. Was hatten sie dort unten zu suchen? Es gab ja doch nur Ratten und Mäuse in den feuchten Gewölben. Vor Tagen schon hatten sie sich eine Schlafstelle hergerichtet. Gespenstisch knarrte die Tür, als sie sie nun öffneten. Der Bretterboden ächzte und seufzte unter ihren Schritten. Sie klemmten eine Decke ins Fenster und machten dann erst Licht. Primus legte den schwarzen Stoffsack, in dem sich die geraubten Juwelen befanden, in das breite Fach eines türlosen Schranks. Er mied es, John Parker anzusehen, um zu vermieden, daß ihm der Freund sofort mit lästigen Vorhaltungen kam. Völlig angekleidet legte er sich auf sein Sofa. Sie brauchten sich nicht erst jetzt darüber zu einigen, wer wo zu schlafen hatte. Das war bereits ausgeknobelt worden. Parker legte sich eine halbe Stunde später hin. »Und das Licht?« brummte Primus. Parker erhob sich und drehte die Petroleumlampe ab. Dann warf er sich wieder auf die hart gepolsterte Bank. Es war ihm lange Zeit nicht möglich, einzuschlafen. Jemand 87 �
hatte ein kurzes Stückchen Film für ihn zusammengeklebt, das wie ein Endlosband immer wieder durch den rasselnden Projektor wanderte. Er mußte sich ständig dieselbe Szene ansehen. Es war die erschütternde Szene vom Tod des Juweliers. * Stunde um Stunde verrann. Wie Pistolenhelden hatten wir den kleinen Friedhof durchstreift. Das schreiende Käuzchen war wieder da, und auch der Nebel hatte sich inzwischen eingefunden. George blieb dicht bei mir. Ich hatte den Eindruck, daß er nun nicht mehr so mutig war wie am Tag. Wir versteckten uns an vielen Stellen des Friedhofs, warteten mit angespannten Nerven, lauschten und versuchten die gespenstischen Nebelgestalten mit unseren Blicken zu durchbohren. »Wie spät ist es?« fragte mich George. Ich blickte auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr. »Viertel nach zwei. Warum siehst du nicht auf deine Uhr?« George lächelte verlegen. »Daran habe ich nicht gedacht. Entschuldige.« »Macht doch nichts. Jetzt weiß ich wenigstens auch, wie spät es ist.« Wir unterhielten uns flüsternd, während wir selbst wie Gespenster durch den Friedhof schritten. Unserer Aufmerksamkeit entging absolut nichts. Sogar das Rascheln, von einer kleinen Maus, die durch welkes Laub huschte, hervorgerufen, registrierten wir. Anfangs waren wir sehr nervös gewesen. Diese Spannung hatte sich nach und nach gelegt. Nun waren wir nicht mehr so verkrampft. 88 �
Wir erreichten den Grabstein, auf dem Brooks und Gall gesessen hatten. Auch wir ließen uns müde darauf nieder. Die Mauser mit den Silberkugeln im Magazin legten wir keinen Moment aus der Hand, obwohl wir immer weniger daran glaubten, daß der Ghoul heute noch auf diesen Friedhof kommen würde. »Ich glaube, mit diesem Friedhofsaufenthalt haben wir eine Niete gezogen, George«, flüsterte ich meinem Freund zu. »Meinst du?« »Denkst du im Ernst, er würde noch auftauchen?« »Ich weiß es nicht. Ich kann es nur hoffen.« Die Kälte ließ mich frösteln. Ich zog die Schultern mit gerümpfter Nase hoch. Das war nun schon die zweite Nacht, die ich durchwachte. Zum Glück hatte ich dazwischen lange genug geschlafen. »Wenn erst mal der Morgen graut, können wir abziehen«, sagte ich. »Wann graut er?« »Kann ich nicht so genau sagen. Aber es wird nicht mehr lange dauern.« Wir schwiegen eine Weile, während wir in die Dunkelheit hineinhorchten. Sosehr wir die Stille der Gräber am Tage geschätzt hatten, sosehr beunruhigte uns diese Stille nun. Ich scharrte nervös mit den Schuhen das Erdreich auf. »Woran denkst du, Perry?« fragte George. Ich wollte es nicht sagen, doch dann platzte es plötzlich aus mir heraus, als hätte man mir irgendein starkes Wahrheitsserum gespritzt. »Verdammt, ich denke an Mary. Sie ist allein in dem Haus. Gestern war der Ghoul da. Mich ängstigt der Gedanke immer mehr, daß er heute Nacht wiedergekommen ist. Das würde erklären, weshalb er nicht hierher kam. George, ich glaube, es war ein schrecklicher Fehler, hier auf den Ghoul zu warten. Er wird nicht kommen, George. Er ist bei Mary.« 89 �
*
Mary Teal hatte meinen Rat befolgt. Sie hatte eine Schlaftablette geschluckt, ehe sie zu Bett ging. Tief und fest und traumlos schlief sie. Und draußen schlich der Ghoul ums Haus. Das Monster näherte sich dem Eingang. Er war halb Mensch, halb Ghoul. Es machte ihm anscheinend Spaß, sich in rascher Aufeinanderfolge zu verwandeln. Nun war er ganz das hässliche Scheusal mit dem ekelhaften Maul, das gierig nach Leichen lechzte. In seinen tiefliegenden Augen züngelten die rotgelben Flammen. Ein heiserer Laut stieg aus seinem rauen Rachen. Er wollte ins das Haus. Seine krallenbewehrten Hände kratzten am Holz. Wild warf er sich mit der mächtigen Schulter gegen die Tür, doch Mary hatte den schweren Riegel vorgelegt, und dieser Riegel hielt dem donnernden Ansturm des grausamen Mörders im Moment noch stand. Wütend trat der Ghoul von der Tür zurück. Er riß den häßlichen Schädel hoch und blickte zu den Fenstern des Obergeschosses. Sie waren nicht vergittert. Aber die Fassade war glatt. Aufgeregt überlegte er, wie er eines dieser Fenster erreichen konnte. Schnaubend rannte er auf dem Grundstück herum. Er suchte eine Leiter, irgend etwas, worauf er steigen konnte. Voll aufgestauten Zorns kam er zum Haus zurück. Die Gier machte ihn ruhelos. Wieder warf er sich gegen die Tür, diesmal ungestümer. Der Riegel knackte Der Ghoul stieß ein triumphierendes Knurren aus. Sofort rammte er die schleimige Schulter wieder gegen die Tür. Aber der Riegel brach nicht. Geifernd stampfte das Monster vor der Tür auf und ab. Seine 90 �
furchtbaren Hände zuckten nervös. Er wollte Mary haben. Er wußte, daß sie sich in diesem Haus befand. Er wollte sie sich endlich holen. Wütend riß er am schmiedeeisernen Fensterschutz. Er strengte sich mächtig an. Sein Körper begann zu dampfen wie eine heißgelaufene Maschine. Stinkende Schwaden stiegen von ihm auf. Er ächzte und stöhnte, riß und zerrte am Eisen, versuchte es zu verbiegen oder zu brechen. Doch alle seine Anstrengungen waren vergebens. Wieder ruckte sein hässlicher Schädel nach oben. Die sekretierten Hautfetzen schienen zu schmoren. Seine harten, farblosen, weit zurückgezogenen Lippen bebten vor Wut, die er kaum noch unterdrücken konnte. Mit einem wilden, kraftvollen Sprung, schnellte er hoch. Seine Füße fanden im Schmiedeeisen Halt. Er kratzte mit seinen langen Krallen über die glatte Fassade. Ein Knirschen wir zu hören, das einem durch Mark und Bein ging. Mühsam streckte sich der Ghoul. Es fehlten nur wenige Zentimeter. Wenn es ihm gelang, diese zu überwinden, konnte er sich an das Fensterbrett im Obergeschoß krallen und mit einem kraftvollen Klimmzug hochziehen. Dann war er im Haus. Und Mary Teal gehörte ihm. * Mary hörte von all dem nichts. Sie schlief immer noch tief und fest und traumlos. Eine seltsame Kälte begann sich im Haus auszubreiten. Mary fröstelte im Schlaf. Tappend suchte sie nach der Decke, zog sie bis ans Kinn und schlief ohne Unterbrechung weiter. Der üble Geruch von Verwesung strömte hinter der Kälte her, 91 �
sickerte in alle Räume. Auch in das Schlafzimmer, in dem Mary schlummerte. Das Mädchen drehte sich im Bett um. Wie ein Engel sah Mary aus. Ein Engel, dem schreckliche Gefahr drohte. Denn der Ghoul hatte es bereits geschafft, in das Haus zu gelangen. Er hatte das Fensterbrett überwunden und durchquerte in diesem Augenblick den Raum, in den er gelangt war. Seine Krallenhand öffnete die Tür. Sie quietschte in den Angeln. Er hielt inne, doch Mary hörte das Geräusch nicht. Das Monster ließ eine kurze Weile verstreichen. Immer noch dampfte sein Körper. Es schien, als würde er sich in Rauch auflösen. Überall stieg von dieser schleimigen Masse ein übel riechender Dampf auf. Gierige Laute von sich gebend, huschte. er auf das Zimmer, zu, in dem Mary schlief. Seine grauenerregende Visage verzerrte sich zu einem teuflischen Grinsen. Mit einem jähen Ruck stieß er die Tür auf, aber er achtete darauf, daß sie nicht gegen die Wand knallte. Der Raum war nicht sonderlich groß. Es gab einen Spiegelschrank hier drinnen, eine Kommode und das weiche, breite Bett, in dem Mary ahnungslos schlief. Das Monster leckte sich gierig über die Lippen. Dampfend betrat es den Raum. Durch das halb offen stehende Fenster schien der Mond herein. Sein trübes Licht legte sich auf das hübsche Gesicht des Mädchens und machte seinen Teint bleich. Schon hatte der Ghoul das Fußende des Bettes erreicht. Er sah sein Spiegelbild in der Schranktür und stieß ein furchtbares, heiseres Lachen aus. Sein grauenerregendes Aussehen faszinierte und begeisterte ihn. Schnell verwandelte er sich in einen Menschen, doch so gefiel 92 �
er sich nicht. Er war ein Ghoul. Menschengestalt nahm er nur an, wenn es unbedingt sein mußte. Am Tag zum Beispiel. Doch die Nacht gehörte dem anderen, dem Ghoul. Als er wieder das scheußliche Monster war, ging er noch näher an Mary heran. Der friedliche, ahnungslose Schlummer und das fahle Mondlicht auf ihren stillen Zügen ließen sie wie tot erscheinen. Das begeisterte den Ghoul restlos. Nun riß er das Maul mit den spitzen schwarzgelben, gebogenen Zähnen auf. Ein übler Gestank strömte aus seinem Rachen. Marys Schlaf wurde unruhig. Sie schöpfte mehrmals tief Luft, als würde sie irgend etwas schwer beklemmen. Schließlich schlug sie, von der Schlaftablette benommen, verwirrt die Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr lahmer Geist begriff, welch grauenvollen Anblick ihr die starren Augen übermittelt hatten. Obwohl es dunkel war, war es doch gleichzeitig auch hell genug, um das Scheusal in seiner ganzen maßlosen Schrecklichkeit erkennen zu können. Der Ghoul stand hoch aufgerichtet über Mary. Seine schleimig schimmernden Wangen zuckten nervös. Die farblosen Lippen bebten vor verhaltener Gier. Stinkend, qualmend und dampfend stand er neben ihrem Bett. Mary schnellte kreischend hoch. Eine unbeschreibliche Panik erfasste sie. Ohne zu wissen, was sie tat, warf sie sich herum. Alle ihre Bewegungen waren Reflexe, die der Selbsterhaltungstrieb von ihrem Körper verlangte. Das entsetzte Mädchen flitzte aus dem Bett. Im hauchzarten Nachthemdchen wirbelte Mary durch das Schlafzimmer. Keuchend jagte sie auf die Tür zu, die sie jedoch nicht mehr erreichte, denn in diesem Moment handelte der Ghoul. Mit zwei weiten Sätzen hatte er sie eingeholt. Seine kräftigen Arme schnellten vorwärts. Noch einmal stieß Mary einen krei93 �
schenden Schrei aus, dann verlor sie das Gleichgewicht und sofort danach das Bewußtsein. * »Es wird langsam hell, George«, sagte ich und erhob mich mit steifen Gliedern. Schnell machte ich einige Kniebeugen. Sie kurbelten meinen Kreislauf an. Allmählich bekam mein Körper wieder Wärme. Ich schob meine Mauser in den Hosenbund. Auch George Molton steckte seine Waffe weg. »Nun wissen wir doch nicht, ob man ihn mit Silberkugeln fertigmachen kann«, sagte er matt. Wir hatten beide graue Ringe unter den Augen. Wie oft hatte ich schon gedacht, wie unnütz eigentlich die Nacht war, um wieviel mehr hätte ich arbeiten können, wenn der Tag nicht bloß aus zwölf Stunden bestanden hätte. Doch nun wurde mir an Georges Beispiel klar, wie sehr wir Menschen auf den Schlaf angewiesen sind und wie erschreckend wir aussehen, wenn wir ihn nicht konsumieren. Ich sah bestimmt nicht besser aus als George. Und ich war froh, daß es auf dem Friedhof keinen Spiegel gab. Als ich mir mit der Hand über das Kinn fuhr, knirschten die Bartstoppeln. Völlig verwahrlost kam ich mir vor. »Streichen wir die Segel?« fragte mich George. »Es wird wohl besser sein«, gab ich zurück und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. Da Gähnen ansteckend ist, gähnte auch George ziemlich herzhaft. Eigentlich hatte ich schon lange von hier fortgehen wollen, wegen meiner Angst um Mary. Ich hatte die fixe Idee, daß der Ghoul um mein Haus herumschlich, während wir hier auf dem Friedhof auf ihn warteten. Ich hatte die ganze Zeit um Mary gebangt, und ich wäre sofort aufgebrochen, wenn George mich 94 �
nicht zum Bleiben überredet hätte. Er hatte alle meine Zweifel mit vielen Worten zerstreut. Und ich hatte ihm geglaubt. Ich hatte ihm glauben wollen, den anders hätte ich es keine Minute länger auf diesem Friedhof ausgehalten. Nun meldete sich die Angst erneut. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß Mary etwas zugestoßen war. Vielleicht war es ein sechster Sinn. Manche Menschen verfügen darüber. Mir war noch niemals so recht zum Bewußtsein gekommen, daß auch ich zu diesen Menschen gehöre. Plötzlich konnte ich die gespenstische Stille des Friedhofes nicht mehr ertragen. Ich drängte zum Aufbruch. Wir beeilten uns, den vor dem Friedhof wartenden MG zu erreichen. Der Motor kam mit dem Umdrehen des Startschlüssels. Mit Tempo durchfuhren wir das träge erwachende London. Bestimmt schreckte das Dröhnen des frisierten MG-Motors so manchen Schlafenden auf. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Ich wollte George so schnell wie möglich loswerden und dann auf dem kürzesten Weg nach Hause brausen. Erst wenn Mary mir die Tür aufmachte, würde ich wieder Ruhe haben. Hoffentlich war sie dazu noch in der Lage. * Ich sah die Kratzer an der Eingangstür, und mir wurde beinahe schlecht vor Angst. »Mary!« brüllte ich erregt. »Mary!« Sie antwortete nicht. »Mary!« schrie ich noch einmal. Die Tür war nicht abgeschlossen. Mir fuhr ein eiskalter Schock durch die Glieder. Nicht abgeschlossen! Der Riegel war weggeschoben, die Kette war nicht dran, der Schlüssel war herumgedreht. »Mary!« rief ich verzweifelt, 95 �
Ich stürmte in mein Haus, verschwendete keinen Gedanken daran, wie es der verfluchte Ghoul geschafft hatte, ins Innere zu gelangen. Für mich stand nur fest, daß es ihm gelungen war. Und Mary antwortete nun nicht mehr. Mir sprossen graue Haare aus dem Kopf, während ich keuchend die Treppe hochhetzte. Noch wußte ich nicht, was geschehen war, Doch mich schüttelte bereits ein grauenvoller Alptraum. Ich sah Mary dort oben vor mir liegen tot, skelettiert, zugerichtet von diesem verfluchten Monster. »M-a-r-y-!« Brüllend erreichte ich das Obergeschoß. Wie von Sinnen raste ich auf die geschlossene Tür zu. »M-a-r-y-!« Ich schleuderte die Tür kraftvoll zur Seite, denn sie hinderte mich daran, in den Raum zu sehen, in dem ich mein Mädchen vorzufinden befürchtete. Unmöglich, daß sie immer noch schlief. Selbst das stärkste Schlafmittel hätte nicht gereicht, mein Gebrüll zu besiegen. Ich flog in den Raum hinein. Das Bett war zerwühlt. Die Decke lag auf dem Boden. Mary war nicht da. Ich warf mich auf den Bauch und starrte unter das Bett. Auch da war Mary nicht. Ich schaute hinter die Tür. Ebenfalls nichts. Ich riß die Spiegelschranktüren der Reihe nach auf. Auch hier hatte der Ghoul mein Mädchen oder das was von Mary noch übrig geblieben war nicht versteckt. Wo war sie? Wo? Wo? Wo? »M-a-r-y-!« schrie ich wieder, obwohl ich wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, sie zu rufen. Dicke Schweißperlen bedeckten meine Stirn. Die Aufregung schnürte mir die Kehle zu. Ich bekam kaum noch Luft. Meine Finger zitterten, die Knie ebenfalls. Benommen wankte ich aus dem Raum. 96 �
Der Ghoul war hier gewesen. Er war zu Mary hinaufgegangen. Er hatte sie sich geholt. Eine Menge Leichen fielen mir ein, die er sich geholt hatte. Verbissen suchte ich im ganzen Haus nach dem Mädchen. Und als ich Mary nicht gefunden hatte, stellte ich das Haus ein zweites Mal auf den Kopf. Selbst den Keller ließ ich nicht ungeschoren. Eine große Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Plötzlich konnte ich jene Menschen verstehen, die sich in solch einem depressiven Zustand die Pulsadern aufschneiden, sich aufhängen oder erschießen. Ich fühlte mit einemmal genau wie sie. Ich lud die ganze Schuld auf mich. Niemand durfte sie mir nehmen. Ich war schuld daran, daß das alles so gekommen war, nur ich. Alles wäre anders verlaufen, wenn ich hier geblieben wäre. Vielleicht hätte der Ghoul uns beide getötet. Uns beide! Nicht nur Mary. Wir hätten den Tod gemeinsam hingenommen, wenn es unvermeidbar gewesen wäre. Ja, gemeinsam. Aber, verflucht, ich war am Leben! So paradox das klingen mag, ich ärgerte mich darüber. * Ich kam nicht darüber hinweg. Mir war schlecht. Ich übergab mich mehrmals und trank dann so viel Whisky, daß ich kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Um mich herum drehte sich das Wohnzimmer. Ich hätte hinaufgehen und schlafen sollen, damit ich zu neuen Kräften kam, doch zum Teufel mit dem Schlaf. Zum Teufel mit den neuen Kräften. Ich brauchte sie nicht mehr. Ich hatte Mary verloren, und mit ihr hatte ich alles verloren, was ich je auf dieser miesen Welt besessen hatte. Ich wartete darauf, daß der Alkohol mir den Schmerz nahm, 97 �
doch er tat mir den Gefallen nicht. Alles andere war wie gelähmt. Mein Reaktionsvermögen war gleich Null, ich konnte kaum noch klar denken, ich sprach mit mir selbst und das mit schwerer Zunge und auch lallend. Trotzdem bohrte sich der Stachel des schmerzlichen Verlustes immer tiefer in meine kranke Seele hinein. Und ich stellte mir unaufhörlich dieselbe Frage: »Wo ist Mary?« Mühsam gelangte ich zum Telefon. Ich wählte George Moltons Nummer. Er meldete sich verschlafen. Ich sagte: »Scheiße! Verdammte, stinkende, dreckige Scheiße, George!« »Bist du das, Perry?« fragte er verblüfft. »Um Gottes willen, was ist denn mit dir los? Du bist ja besoffen.« »Anders könnte ich mich selbst nicht mehr ertragen.« »Was ist passiert, Perry?« »Er war hier, George.« »Ich werde verrückt.« »Ja, das kann man auch. Dieser verfluchte Hurensohn war hier, während wir uns die Nacht auf seinem Friedhof um die Ohren geschlagen haben. Er war hier in meinem Haus, George. Verstehst du? Hier! Er kam herein, zu Mary, George! Verstehst du? Verstehst du mich?« »Was ist mit Mary?« fragte mein Freund betroffen. »Sie ist weg.« »Weg?« »Ja, weg, nicht mehr im Haus. Auch ihr Skelett nicht. Nichts ist mehr hier von ihr, gar nichts. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist. Ich weiß nur, daß sie tot ist. Und ich trinke jetzt so lange, bis ich ebenfalls krepiere.« »Himmel, Perry, das darfst du nicht tun!« schrie George aufgeregt, 98 �
»Ich habe die Schnauze voll, George: Kannst du das denn nicht begreifen?« »Ich komme zu dir, Perry.« »Meinetwegen. Hast du Perry Lloyd schon mal Rotz und Wasser heulen gesehen? Nein? Dann komm und sieh ihn dir an. Wer hätte gedacht, daß er dazu fähig ist.« * George kam mit einem Arzt. Zu zweit rangen sie mich nieder. Ich machte es ihnen nicht leicht. Ich drosch George ein Ding auf die Nase, daß ihm das Blut aus den Löchern schoß. Und den Arzt biss ich ins Bein. Sie schlugen mich, und ich brüllte wie verrückt. Erst als es dem Arzt gelungen war, mir die Spritze zu verpassen, wurde ich ruhiger, und schließlich schlief ich sogar ein. Als ich die Augen aufschlug, war es Abend. Ich lag im Wohnzimmer. George war immer noch da. Ich fühlte mich elend. »Du brauchst nicht stolz darauf zu sein, was du getan hast, George«, sagte ich verächtlich. Ich wunderte mich darüber, wie klar ich sprach und wie klar ich denken konnte. Mein Geist und mein Körper waren wieder in Ordnung. Nur der Stachel in meiner Seele, der war immer noch da, und ich hatte das Gefühl, er schmerzte jetzt noch mehr als am Morgen. »Möchtest du etwas essen, Perry?« fragte er, ohne mir den geringsten Vorwurf zu machen. Zum ersten Mal begriff ich, was für einen Freund ich in ihm hatte. »Warum hast du mich nicht krepieren lassen?« »Du krepierst erst mit hundert, Perry, nicht früher.« »Ich hätte alle Schnapsflaschen ausgesoffen, die ich im Haus habe. Das haut den gesündesten Kreislauf zusammen. Jetzt wäre ich schon bei Mary.« 99 �
»Wer sagt dir, daß sie tot ist?« »So etwas fühlt man.« »Vielleicht lebt sie noch.« »Warum sollte der Ghoul ausgerechnet sie verschonen?« »Möchtest du mir nicht sagen, was du essen willst, Perry?« »Lass mich doch in Ruhe!« schnauzte ich ihn an. »Warum gehst du nicht nach Hause?« »Ich kann dich in dieser Verfassung doch unmöglich allein lassen.« Ich setzte mich auf und grinste, obwohl mir der Schädel zerplatzen wollte. »Ich habe einen Kater, das ist alles. Du kannst getrost gehen, George, ich brauche dich nicht mehr.« »Ich bleibe gern.« »Und deine Verlobte? Sie wird dich vermissen.« »Ich habe mich bei ihr abgemeldet. Und Scotland Yard hat mir ebenfalls einen Tag Urlaub gewährt. Was soll ich also zu Hause allein anfangen?« »Du könntest dich ausschlafen.« »Während du dich hier auf irgendeine verrückte Art von hier nach drüben zu bringen versuchst. Nach drüben, zu Mary, die vielleicht noch gar nicht drüben ist.« »Komm, George! Halt die Klappe, ja?« »Du bist doch sonst immer so stolz auf deinen Intelligenzquotienten, Perry.« Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Ich bin auf nichts mehr stolz. Am allerwenigsten auf mich. Warum läßt du mich nicht in Frieden, George? Was soll das Gequassel vom Intelligenzquotienten?« Er grinste. Ich hätte ihm meine Faust gern am liebsten noch einmal auf die Nase gesetzt. »Du hattest mal einen, erinnerst du dich noch?« 100 �
»Gib es auf, George, ich bin am Ende.« � »Am Ende ist man, wenn man fertig ist, Perry.« � »Verdammt noch mal, ich war noch nie so fertig. Wie fertig � muß man denn sein, um am Ende zu sein?« »Ich möchte, daß du mit mir eine Überlegung anstellst«, sagte George Molton, dieser lästige Kerl. »Erklärst du dich dazu bereit?« »Was versprichst du dir davon? Hau lieber ab, George.« � »Ich möchte dir beweisen, daß es noch Hoffnung gibt, Perry.« � »Hoffnung? Für wen? Für mich? Für Mary?« � »Für uns alle.« � »Du spinnst.« � »Hör mich an, Perry! Wie oft hat der Ghoul bereits getötet?« � »Oft genug. Zu oft.« � »Und was ist stets am Tatort zurückgeblieben?« � »Das Skelett der Opfer«, sagte ich. »Er hat ihre Knochen abgenagt…« »Hast du Marys Skelett gefunden, Perry?« »Du weißt, daß ich es nicht gefunden habe.« »Dann lebt sie also noch.« Himmel, ich wollte Georges Meinung teilen. Ich wäre froh gewesen, ein Fünkchen von seinem Optimismus als Geschenk zu erhalten. Ich brauchte den Optimismus so dringend, wenn ich weitermachen wollte wenn ich nach Mary suchen wollte. »Die Tatsache, daß ich Marys Skelett nirgends gefunden habe, beweist noch lange nicht, daß sie noch am Leben ist, George«, sagte der Pessimismus, dieses peinigende Scheusal, in mir. »Er kann das Skelett mitgenommen haben.« »Hat er das schon einmal getan?« � »Soviel mir bekannt ist nein.« � »Warum sollte er es dann gerade diesmal getan haben?« fragte � George, und ich merkte, wie ich mich an diesen Gedanken zu 101 �
klammern begann wie der Ertrinkende, der die Hand nach dem Strohhalm ausstreckt. Vielleicht hatte George recht. Vielleicht lebte Mary wirklich noch. Aber warum lebte sie noch? Was hatte der Ghoul mit ihr vor? Warum tötete er sie nicht, wie er alle seine Opfer getötet hatte? Ich fühlte mich plötzlich besser. Ich vermochte die schweren Depressionen abzuschütteln, die an meinen angegriffenen Nerven gezerrt hatten. Ich begann wieder zu hoffen. George erkannte das an meinen Augen. Er fragte lächelnd: »Sagst du mir jetzt, was du essen möchtest?« Ich sagte es ihm, denn ich hatte mit einemmal einen Mordskohldampf. * Inspektor Abel Brighton hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, daß die beiden Raubmörder in einem weißen Ford Corsair geflohen waren. Der Augenzeuge, der einen relativ verlässlichen Eindruck erweckt hatte, hatte dem Inspektor erzählt, daß die Nummerntafeln des Wagens abgedeckt gewesen waren. Andernfalls hätte er ihm das Kennzeichen nennen können, denn er wäre ziemlich nahe an dem Verbrecherfahrzeug vorbeigekommen. Doch der Mann war mit seiner Aussage deshalb noch nicht fertig. Er hatte zwar die Nummerntafel nicht lesen können, aber festgestellt, daß der rechte Kotflügel des Corsair erheblich eingedrückt war und daß sich, ebenfalls auf der rechten Seite, ein roter Lackkratzer über die ganze Länge der Wagenfront erstreckte. Nun sah die Sache schon ein wenig besser aus. Ford Corsairs 102 �
gibt es in London und Umgebung etwa so viele wie Volkswagen in München und Umgebung. Auch weiße Corsairs gibt es mehr, als man überprüfen konnte. Aber es gab bestimmt nur einen Corsair mit den beschriebenen Schäden. Nach diesem Fahrzeug kurbelte Brighton sogleich die Fahndung an. * Sie gingen einander den ganzen Tag aus dem Weg. Abends saßen sie schweigsam am Tisch und aßen Dauerwurst mit Vollkornbrot. Dazu tranken sie Bier aus der Dose. Immer noch schwebte die un vermeidliche Auseinandersetzung wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. John Parker nagte nervös an der Unterlippe. Er hatte nicht viel gegessen. Nun lehnte er sich mit flatterndem Blick zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, damit Paul Primus nicht sah, wie seine Hände zitterten. Der Tod des Juweliers quälte ihn. Er wollte von der Beute nichts mehr haben. Er wollte seinen inneren Frieden wieder finden, und er ahnte, daß es dafür nur eine einzige Möglichkeit gab. »Warum spuckst du nicht endlich aus, was du denkst, John?« fragte Paul Primus herausfordernd. Er war für klare Fronten. So konnte das auf die Dauer doch nicht weitergehen. »Du weißt, was ich mir denke, Paul«, knurrte Parker. »Die Sache ist vorbei und sollte vergessen werden.« »Verdammt, ich kann den alten Mann nicht vergessen!« stieß Parker wütend hervor. »Ich sehe ihn immer und immer wieder sterben. Sein Tod verfolgt mich. Warum bist du nur so verflucht schnell mit dem Ballermann.« 103 �
»Ich mußte ihn umlegen«, sagte Primus gefühlskalt. � »Wieso denn?« � »Du hast doch meinen Namen genannt«, sagte Primus � schmunzelnd. »Weißt du nicht mehr?« »Ich dachte, du würdest ihn erschießen, deshalb rief ich deinen Namen.« »Jedenfalls hat er ihn gehört.« »Das war kein Grund, ihn zu töten.« »Was ist denn plötzlich in dich gefahren?« fragte Primus spöttisch. »Du warst doch stets so übervorsichtig. Und plötzlich hätte es nichts ausgemacht, wenn der Alte den Bullen meinen Namen verraten hätte?« »Es war abgemacht, nur im äußersten Notfall von der Waffe Gebrauch zu machen«, erwiderte John Parker heiser. »Meines Erachtens war das ein solcher Notfall.« Primus biss herzhaft in die Dauerwurst. »So. Und nun schlage ich vor, wir fahren mit dem Schwamm über die Geschichte. Ist ja doch nicht mehr zu ändern. Der Alte ist hin. Und wir haben seine Klunkern. Junge, wir sind reich. Wenn wir das Zeug verscherbeln, kannst du dir ein Haus auf den Bahamas kaufen.« Parker schüttelte entschlossen den Kopf. � »Ich will davon nichts haben, Paul.« � »Mensch, du hast wohl einen Sprung in der Schüssel?« � »Es klebt Blut daran, Paul.« � »Na, wenn schon. Es ist doch nicht unser Blut.« � Parker starrte auf seine leere Bierdose. Beinahe tonlos sagte er: � »Vielleicht wäre mir wohler, wenn es unser Blut wäre, Paul.« Primus lachte schallend. »Junge, das ist doch pervers.« »Ich will von den Juwelen nichts haben, Paul. Sie gehören dir, dir ganz allein. Ich schenke dir meinen Anteil.« Primus grinste. 104 �
»Ich nehme an, du hast den Verstand verloren, Kumpel.« »Kann sein.« »Und was sind nun deine weiteren Pläne? Vermutlich willst du dich von mir trennen.« »Ja, das will ich.« »Und weiter, John?« »Ich werde keine weitere Nacht mehr hier mit dir verbringen, Paul. Ich haue ab.« »Und wohin? Man darf doch fragen«, entgegnete Primus mit einem nervösen Grinsen. Parker hob langsam den Blick. Er schaute dem anderen furchtlos in die Augen und sagte: »Ich werde mich stellen, Paul.« Primus spuckte den letzten Bissen auf den Boden, schnellte mit hochrotem Kopf hoch. In seinen Augen glühten Verständnislosigkeit und Zorn. »Sag das noch mal, John!« verlangte er mit heiserer Stimme. »Ich werde mich stellen«, wiederholte Parker. Die Art, wie er das sagte, ließ keinen Zweifel darüber offen, daß sein Entschluß unumstößlich war. Primus begann gereizt auf und ab zu rennen. Er überlegte, was er machen sollte. Ein solcher Entschluß konnte auch für ihn schwere Folgen haben. Während er wie ein Tiger in seinem Käfig hin und her lief, dachte er darüber nach, was es ihm schlimmstenfalls einbringen konnte, wenn er sich mit der Trennung einverstanden erklärte. Zornig erinnerte er sich an den Tag, wo sie diesen Coup geplant hatten. Sie waren zuversichtlich gewesen. Und sie hatten wie Pech und Schwefel zusammenhalten wollen. Egal, was kommen würde, hatten sie gesagt, sie würden immer füreinander da sein. Und nun wollte sich dieser elende Feigling aus dem Staub machen. Wegen eines alten Mannes, den vielleicht morgen ohnehin schon der Teufel geholt hätte. Primus war ein solcher Ent105 �
schluß unverständlich. Und er war nicht gewillt, Parkers Vorhaben zu akzeptieren. Mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen stellte er sich vor den Freund. Er schüttelte den Kopf. »Du wirst dich nicht stellen, John. Hörst du? Du wirst nicht zu den Bullen gehen. Ich verbiete es dir. Du wirst dieses Haus nicht ohne meine Erlaubnis verlassen.« Parker sprang mit bleichem Gesicht auf. »Du bist wohl größenwahnsinnig geworden, Paul?« brüllte er den anderen an. »Denkst du, ich lasse mir von dir Vorschriften machen?« »Es geschieht zu deinem Schutz«, antwortete Primus schwitzend. »Zu deinem Schutz, wolltest du sagen!« stieß Parker aufgeregt hervor. Er war nahe daran, dem anderen voll Verachtung ins Gesicht zu spucken. »Ich hätte wissen müssen, daß es mal zu so etwas kommt. Du bist kein Partner auf Dauer. Du bist zu kalt. Du hast kein Herz. Du hast keine Geduld, und du hast immer nur deinen Vorteil im Auge.« Primus fletschte die Zähne. Es sollte ein Grinsen sein. »Wer hat das denn nicht, John? Wenn du jetzt abhaust, denkst du doch auch nur an deinen Vorteil und nicht an meinen.« Parker trat einen Schritt näher an ihn heran. Nun berührten sich ihre Nasenspitzen beinahe. »Ich habe mein Leben lang geraubt und gestohlen. Ich will absolut nichts beschönigen, Paul. Wenn einer sagt, daß ich ein asoziales Schwein bin, dann hat er recht. Aber eines kann mir keiner vorwerfen: daß ich jemals einen Menschen umgebracht habe. Mord oder Beihilfe zum Mord war bei mir nicht drin, Paul. Bei Mord hört der Spaß für mich nämlich auf. Vielleicht habe ich einen Sprung in der Schüssel. Jedenfalls gibt es selbst für einen 106 �
so verkommenen Kerl wie mich noch etwas, das mir heilig ist nämlich das menschliche Leben. Ich weiß, daß du solche Gefühle und Gedanken nicht verstehen kannst. Deshalb ist es besser, wir trennen uns beizeiten. Ich werde dich nicht verraten, du brauchst keine Angst zu haben. Nimm die Juwelen und verschwinde aus England! Werde meinetwegen glücklich mit dem Geld, das du dafür kriegst. Mir genügt es, wenn ich dich nicht mehr wieder sehe.« Primus schüttelte mit gefletschten Zähnen den Kopf. Ganz schmal waren seine Augen. »Und wir beide waren mal die dicksten Freunde. Wenn mir das einer prophezeit hätte, hätte ich ihm bestimmt die Zähne eingeschlagen. Du willst also zu den Bullen gehen?« »Ja, Paul.« »Und wenn sie dich mit 'nem Wahrheitsserum präparieren, um aus dir was rauszubekommen?« »Du weißt so gut wie ich, daß sie das nicht tun dürfen. Sie tun das auch nicht.« »Natürlich nicht, weil sie auch andere Mittel haben, um ans Ziel zu gelangen. Du wirst singen wie 'ne Drossel, Freund.« »So schlecht kennst du mich?« Primus grinste bösartig. »Ich bin nur vorsichtig. Jetzt brauche ich nämlich nicht mehr für uns beide zu denken. Nun bin ich mir selbst der Nächste. Und ich habe begriffen, daß ich mich sogar vor dir und deiner hirnverbrannten Blödheit in acht nehmen muß.« Parker hob trotzig den Kopf, schob den Unterkiefer vor und blickte dem verlorenen Freund eiskalt in die stechenden Augen. »Ich werde jetzt gehen, Paul.« »Das wirst du bleiben lassen, John!« zischte Primus gefährlich. »Ich werde gehen, und du wirst mich nicht daran hindern!« »Doch, das werde ich.« 107 �
»Wenn du das versuchst, Paul, breche ich dir sämtliche Knochen im Leib.« Primus lachte hämisch. »Der Herr belieben große Worte gelassen auszusprechen.« Parker wandte sich mit einem jähen Ruck von ihm ab. Herausfordernd langsam ging er auf die Tür zu, die nach draußen führte. Er atmete schnell, seine Lippen waren fest zusammengepresst. Er ballte die Hände und erwartete jeden Moment den Angriff des anderen. Doch keine Hand legte sich kräftig auf seine Schulter. Niemand riß ihn brutal herum. Niemand hinderte ihn, die Tür zu erreichen. Parker öffnete die schwere Tür. Der kühle Abend floss herein. »John!« schrie plötzlich Primus mit blecherner Stimme. Parker wandte sich um und schaute mit entsetzens-starrem Blick in die schwarze Mündung von Pauls Pistole. »Wenn du noch einen Schritt weitergehst, drücke ich ab!« knirschte der Komplize. Sein Arm war ganz ruhig. Parker wußte, wie gut und schnell er schoß. Er schüttelte trotzdem verächtlich den Kopf. »Dazu bist du nicht fähig, Paul.« »Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen, John. Ich habe den Alten auch umgelegt, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Der alte Mann war dir fremd.« »Ich warne dich zum letzten Mal, John! Zwing mich nicht, zu schießen, ich würde es tun!« John Parker dachte, daß auch der Komplize irgendwo seine moralische Grenze haben mußte. Er verließ sich darauf, daß Paul es nicht fertig brachte, den Stecher durchzuziehen. Sie hatten Seite an Seite eine Menge gefährlicher Abenteuer bestritten. So etwas verbindet. Selbst in einer Situation wie dieser bleibt eine solche Bindung bestehen. Parker drehte sich eiskalt um. 108 �
Mit dem Krachen des Schusses wußte er, daß er sich in Paul Primus geirrt hatte. Selbst wenn es ein Band zwischen den beiden Männern gegeben hatte, so wurde es nun mit einer tödlichen Kugel für immer zerfetzt. Lebensgefährlich verletzt brach Parker zusammen. Ein blutroter Schleier legte sich auf seine trübe werdenden Augen. Durch diesen Schleier sah er Primus herankommen. Er wollte etwas sagen, wollte Paul verfluchen, doch er fand nicht mehr die Kraft, die Lippen zu bewegen. Er sah wie Primus sich zu ihm herabbeugte. Er erkannte, daß Primus die Waffe aus nächster Nähe auf seinen Kopf richtete. Dann blitzte es. Gleichzeitig zerriss ein Knall John Parkers Leben. * »Du selten dämlicher Trottel!« knurrte Primus kopfschüttelnd. »Warum hast du nicht auf mich gehört? Wir beide hätten noch so manches Ding zusammen drehen können, wenn du nicht plötzlich den Moralischen gekriegt hättest.« Er zuckte die Achseln, als wäre ihm der Tod des Freundes völlig egal. »Nun ja, sei's drum. Die Sache hat zum Glück auch noch eine gute Seite. Jetzt gehört mir die Sore allein. Diese Aussichten schleudern mich klarerweise mächtig vorwärts. Das gibt statt einem Haus auf den Bahamas gleich deren zwei, mit Swimming-pool und allem Drum und Dran.« Primus kehrte zum Tisch zurück. Er brauchte einen Schluck Bier. Die Sache hatte sich doch ein wenig auf seine Kehle geschlagen. Er hob die Dose und sagte sarkastisch: »Sollst leben, toter Freund.« Er trank die Dose leer. Dann machte er sich darüber Gedanken, was er mit Parkers Leichnam anstellen sollte. Vor der Tür konnte er ihn nicht gut liegen lassen. 109 �
Im Keller war bestimmt genug Platz für ihn. Dort würde ihn auch so leicht kein Mensch entdecken, davon war der Mörder überzeugt. Primus beeilte sich, den Freund fortzuschaffen. Er konnte dessen Anblick nicht ertragen. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber die Angelegenheit ging ihm doch irgendwie nahe. Schnell öffnete Paul Primus die Tür des Kellerabganges. Dann riß er den Toten ächzend hoch, warf ihn sich auf die Schulter und stampfte mit ihm auf die steile Treppe zu. Von oben fiel nur wenig Licht hinunter. Es mußte reichen. An der feuchten Wand zeichnete sich Pauls Schatten in unheimlicher Größe ab. Mit schweren Schritten erreichte er das Ende der ächzenden Kellertreppe. Er wandte sich nach rechts. Seine Augen gewöhnten sich sehr schnell an das Dunkel. Er stieß mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand. Das rief ein knöchernes Klappern hervor. Erstaunt senkte er den Blick. Da sah er das vollständige Skelett eines Menschen zu seinen Füßen liegen. Erschrocken ließ er den toten Komplizen fallen. Er stieg über das Skelett hinweg und entdeckte ein zweites und noch ein drittes. Der Anblick der bleichen, blanken Knochen jagte selbst ihm, dem Harten, eiskalte Schauer über den Rücken. Plötzlich gewahrte er eine Bewegung hinter sich. Mit einem Ruck schnellte er herum und starrte in ein rotgelb flackerndes Augenpaar, das ganz langsam auf ihn zukam. * Mary Teal lag gefesselt und geknebelt auf dem Boden des Kellers. Sie war gezwungen, den schrecklichen Mord von Anfang an zu verfolgen. Der Ghoul hatte sie hierher gebracht. Der Morgen hatte gegraut, als sie die verlassene Hühnerfarm in einem alten Auto 110 �
erreicht hatten. Hier war das Versteck des Monsters. Daß über dem Keller jemand wohnte, hatte Mary nicht gewußt. Erst als der Tag angebrochen war, hatte sie verschiedentlich Schrittgeräusche vernommen, die sie darauf schließen ließen. Sie hätte gern um Hilfe gerufen, doch der würgende Knebel ließ das nicht zu. Tief schnitten die dünnen Stricke in ihr Fleisch ein. Mary war gezwungen, mit einer permanenten Todesangst zu leben. Während des Tages hatte sich der Ghoul in einen Menschen verwandelt. Er hatte den Keller ungesehen verlassen und war erst vor etwa einer Stunde zurückgekehrt. Als er sie in der Nacht mit einem Schlag von den Beinen geholt hatte, hatte sie das Bewußtsein verloren. Vielleicht hatte ihr das das Leben gerettet. Sie war erst auf der Fahrt zu sich gekommen. Ein Tag voller Sorgen und Qualen war derweil verstrichen. Mary hatte den Streit gehört, den Primus und Parker gehabt hatten. Sie hatte zwar nicht alle Worte verstehen können, aber sie konnte sich trotzdem zusammenreimen, worum es dort oben gegangen war. Und dann war der Schuß gefallen. Der Ghoul hatte ein begeistertes Gelächter ausgestoßen. Für ihn war der Knall eines Schusses wohl eines der schönsten Geräusche, denn nach dem Schuß folgte sehr oft der Tod. Das Monster hatte sich hinter der Kellertreppe auf die Lauer gelegt. Dann war der zweite Schuß gefallen. Und später hatte sich dort oben die Tür geöffnet. Obwohl Mary wußte, daß der Mann, der nun in den Keller kam, ein Mörder war, wollte sie ihn doch vor dem Ghoul warnen. Verzweifelt zerrte sie wieder an ihren Fesseln. Sie versuchte mit angeschwollener Zunge den Knebel aus dem Mund zu stoßen, doch der Unheimliche hatte mit einem Tuch, das er um ihren Kopf gebunden hatte, dafür gesorgt, daß der Knebel an 111 �
seinem Platz blieb. � *
Mit von unsagbarem Grauen geweiteten Augen sah Mary Teal den Mann mit dem Toten herunterkommen. Das Licht der Petroleumlampe, das von oben heruntersickerte, ließ die Skelette, die über den Boden verstreut lagen, unheimlich schimmern. Der Mann ging mit schweren Schritten seinem unabwendbaren Ende entgegen. Mary riß an den Fesseln. Die Hand- und Fußgelenke schmerzten sie. Schweiß bedeckte ihre Stirn. Sie warf sich hin und her, versuchte wirklich alles, um sich zu befreien, doch der Ghoul hatte beim Anlegen der Fesseln genügend Sorgfalt walten lassen. Es war zwecklos, sich derart zu strapazieren. Je mehr sich das Mädchen abmühte, desto mehr schwollen Arme und Beine an. Der Erfolg: die Fesseln schnitten noch tiefer ins Fleisch. Gleich nachdem Paul Primus den toten Komplizen hatte fallen lassen, passierte es. Marys Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie sah alles mit peinigender Deutlichkeit. Die Dunkelheit spielte dieses grausame Spiel mit, indem sie sich scheinbar aufhellte, damit Mary noch besser sehen konnte. Der Verbrecher hatte auf die bleichen Skelette gestarrt. Nur Mary sah, wie sich der Ghoul ganz langsam an ihn heranmachte. Dann gewahrte Primus die Bewegung hinter sich und wirbelte erschrocken herum. Es war zu spät für ihn. Sein Leben war keinen Penny mehr wert. Das Untier stürzte sich mit einem grauenvollen Fauchen auf ihn. Primus stieß einen entsetzten Schrei aus und taumelte ver112 �
dattert zurück. Er hatte keinen Angriff hier unten erwartet, sondern geglaubt, allein in der uralten Hühnerfarm zu wohnen. Der Ghoul griff blitzschnell nach ihm. Primus stieß ihn brüllend zurück. Er schlug mit seinen Fäusten in panischer Hektik auf das widerwärtige Scheusal ein. Er schrie krächzend und markerschütternd. Sein Entsetzen kannte keine Grenzen. Der Ghoul wich vor seinen Schlägen nicht zurück. Klatschend landeten die Fäuste des Verbrechers auf dem schleimigen Schädel des Ungeheuers. Primus drosch nach den flackernden Augen. Er stieß dem Monster die Fäuste schnaufend in den Bauch. Er schlug ununterbrochen auf das Scheusal ein. Das kostete ihn ungeheuer viel Kraft. Ein Kräfteverfall war unvermeidlich. Die panische Angst verlangte seinem Körper zuviel ab. Bald kamen die Hiebe spärlicher. Die Anstrengungen waren nicht mehr dieselben wie zu Beginn. Und kurz darauf mußte Primus einsehen, daß er gegen diese Bestie auf verlorenem Posten kämpfte. Er mobilisierte, was noch in ihm war, um zu fliehen. Schrille Schreie ausstoßend, rannte er gegen das Monster an. Er rammte den Ghoul mit der Schulter zur Seite und stürmte mit weiten Sätzen auf die Kellertreppe zu. Doch der Ghoul schien Gehilfen zu haben. Paul Primus trat in einen skelettierten Brustkorb. Er stolperte und schlug lang hm. Verzweifelt rappelte er sich auf. Da war der Ghoul schon heran. Ein Hieb schleuderte ihn erneut zu Boden. Noch einmal kämpfte sich Primus schnaubend hoch. Er wollte nicht wahrhaben, daß sein Ende mit Riesenschritten auf ihn zuraste. Die scharfen Krallen des Monsters zerfetzten seine Kleider. Auch die Haut rissen sie auf. Blut schoß heraus. Primus brüllte, von wahnsinnigen Schmerzen gepeinigt, auf. Noch einmal versuchte er, sich über die Kellertreppe zu retten. 113 �
Es war das letzte Mal. Auch diesmal mußte sein Versuch scheitern. Er konnte kaum zwei Schritte machen. Angeschlagen wankte er. Der Ghoul packte ihn mit gnadenloser Härte am Hals und erwürgte ihn vor Mary Teals schreckensstarren Augen. Doch das Grauen war für Mary damit noch nicht zu Ende. Das Abscheulichste kam erst. Heißhungrig fetzte das Monster die Kleider von Paul Parkers Leichnam. Gleich darauf begann es mit gierigem Schmatzen an dem toten Körper zu fressen. Abgrundtiefer Ekel schüttelte das Mädchen, das so viel Schreckliches noch nie gesehen hatte. Der Ghoul fraß ungeheuer schnell. Immer wieder hackte er seine spitzen Zähne in das tote Fleisch. Die blankgelegten Knochen leckte er genießend ab, während aus seinem Rachen schreckliche Laute entwichen. Kaum war er mit Parker fertig, wandte er sich Paul Primus zu. Für Mary Teal konnte es keinen wahnsinnigeren Alptraum geben als diesen. * Mochte der Teufel wissen, warum, aber meine Kurve ging allmählich wieder nach oben. Ein neuer Tag war angebrochen. George Molton war nicht mehr da. Er hatte mir das Wort abgenommen, daß ich vernünftig bleiben würde, und ich hatte ihm dieses Wort mit ehrlichem Herzen gegeben: Ich hatte inzwischen einigen Abstand zu der schrecklichen Sache gewonnen. Und ich begann die Dinge wieder durch meine rosarote Brille zu sehen, die ich von Geburt an stets getragen und gestern für kurze Zeit verlegt hatte. George hatte während des gestrigen Tages per Telefon alles erledigt, was er für mich erledigen konnte. Man hatte also in der Redaktion Bescheid gewußt, daß ich nicht kommen würde. Wes114 �
wegen, darüber hatte sich George nicht so genau ausgelassen. Ich wäre indisponiert, hatte er behauptet. Heute erzählte ich meinen Kollegen, ich hätte einen Mordskater gehabt, was nicht einmal so sehr daneben geredet war. Ich hatte einen zweifachen Kater gehabt, einen moralischen und einen körperlichen. Beide waren inzwischen überwunden. Meine Spannkraft war wieder die alte. Auch der Optimismus hatte sich wieder hinter mich gestellt, um mich nach vorn, zu neuen Taten zu stoßen. Schwer schuftend durcheilte ich den Tag. Ich hatte mich nicht nur deshalb kopfüber in die Arbeit gestürzt, weil sie getan werden mußte, sondern weil ich durch die Arbeit meine alte Energie wiedererlangen wollte. Zweimal hatte ich bereits mit George telefoniert. Er hatte mir erzählt, daß Inspektor Brighton auch noch einen Juwelenraub am Hals hatte. Er trat nun zweifach auf der Stelle. Im Ghoul-Fall kam er nicht vom Fleck und die Raubmörder hatte er auch noch nicht gefaßt. Wir ahnten beide noch nicht, daß diese Fälle auf einen gemeinsamen Nenner eingeschwenkt waren und sich die Sache mit den Raubmördern auf eine grauenvolle Weise inzwischen bereits erledigt hatte. Wir sprachen über Mary, und zum ersten Mal gab es mir tief im Herzen einen heftigen Stich. Mir war klar, daß wir sie, wenn sie noch am Leben war, im Versteck des Ghouls finden würden. Doch sosehr ich mein Gehirn den ganzen Tag über zermartert hatte, mir war keine Idee gekommen, das Versteck des Ghouls ausfindig zu machen. Es fiel mir schwer, einfach abzuwarten, aber ich konnte wirklich nichts anderes als das tun. Als der Tag zu dämmern anfing, rief George Molton wieder an. Er war ziemlich aufgeregt. Ich wertete das als gutes Zeichen. 115 �
»Ich glaube, ich kann dir weiterhelfen, Perry.« »Hast du was über Mary in Erfahrung bringen können?« fragte ich sofort nicht minder aufgeregt. »Ja«, sagte mein Freund. »Bei uns hat sich ein V-Mann gemeldet. Der weiß, wo Mary versteckt ist.« »Wo?« schrie ich laut. »Er hat es mir nicht gesagt.« »George, was soll das?« »Der Mann nennt sich Joker. Er will das Versteck nur für Geld verraten.« »Er kann alles Geld haben, das ich besitze«, sagte ich ungeduldig. »Ich habe ihm gesagt, es wird jemand von uns zu ihm kommen. Aber ich finde es besser, wenn du die Sache in die Hand nimmst, schließlich handelt es sich um dein Mädchen.« Ich konnte auf einmal nicht mehr sitzen. Nervös sprang ich auf. Ich wollte schon wegrennen, wußte aber noch nicht, wohin. »Wo ist der Mann, George, wo?« »Regent's Park, Nordeingang.« »Wartet er da?« »Ja.« »Wann, George?« »Seit er mit mir telefoniert hat.« »Dann will ich ihn nicht länger warten lassen.« Ich schleuderte den Hörer in die Gabel und flitzte aus meinem Büro. Die Tür flog hinter mir zu. Mein Telefon begann wieder zu läuten. Ich scherte mich nicht mehr darum. Es gab Wichtigeres zu tun, als zu telefonieren. Mit vibrierenden Nerven warf ich mich in meinen MG. In mir machte sich ein Gefühl breit, als wäre ich Mary bereits ziemlich nahe. Ich fuhr wie der Teufel. Bestimmt ist das nicht richtig, und ich bin normalerweise ein recht disziplinierter Autofahrer, doch diesmal ging es um Mary. Ich brachte es einfach nicht fertig, in einer Autoschlange alt zu werden. 116 �
Bald tauchte der Regent's Park auf. Von seiner herrlichen Pracht bekam ich so gut wie gar nichts mit .Für mich bestand er aus Bäumen und Büschen, aus Rasen und dem Teich. Ich wäre auch zu einem Müllabladeplatz gekommen, wenn ich den VMann dort hätte treffen können, denn dieser Mann brachte mich zu Mary. Endlich! Ich war bereit, alles zu geben, um sie zu retten, auch mein Leben. Ich bremste meinen grünen Flitzer genau vor dem Nordeingang des Parks. Hier war Halteverbot, doch das war mir egal. Ich sprang aus dem Fahrzeug. Neben einem dunklen Busch erkannte ich die Silhouette eines großen Mannes. Ich lief auf ihn zu. »Sind Sie Joker?« fragte ich aufgeregt. � Der Mann nickte. � »Und wer sind Sie?« � »Perry Lloyd.« � »Von Scotland Yard?« � Ich zögerte kurz, dann sagte ich: »Ja.« � »Können Sie sich ausweisen?« � Ich grinste ihn keck an. � »Möchten Sie meinen Gesundheitspass auch sehen?« � Er nickte wieder. � »Sie haben recht, es ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß Sie � genügend Geld bei sich haben.« »Ich bin bereit, fünfhundert Pfund auszuspucken, Joker.« Der? Mann lachte. »Donnerwetter. Wie gut zahlt man denn plötzlich bei Scotland Yard? Sonst gibt es immer nur ein paar Shilling.« Ich war ungemein nervös. Jede Minute, die wir hier herumtrödelten, säbelte mit scharfer Klinge an meinen Nerven herum. 117 �
»Wo ist das Geld?« fragte Joker geschäftstüchtig. Ich ließ mich von ihm nicht aufs Kreuz legen. »Sie kriegen es, wenn ich Mary Teal gesehen habe.« Er nickte. »Okay, Mr. Lloyd. Also gehen wir.« »Wohin?« »Wir müssen durch den Park.« »Und wo ist Mary?« »Das zeige ich Ihnen.« Der Mann kam mir irgendwie bekannt vor. Mir war, als hätte ich ihn schon mal irgendwo gesehen, doch ich wußte nicht, wohin ich ihn tun sollte. Bei meinem Job hat man tagtäglich mit so vielen Leuten zu tun, daß man sich eine Kartei mit Fotos hätte anlegen müssen, um beim Erkennen sattelfest zu sein. Mir war nur klar, daß es noch nicht so lange her war, seit ich diesen Mann gesehen hatte. Sofort begann ich in meinem Gehirn nach mehr Anhaltspunkten zu graben. Wir gingen nebeneinander in die Dunkelheit des Parks hinein. Der Dämmerung war inzwischen ein früher Abend gefolgt. Die Dunkelheit ließ mich intensiver nachdenken. Nichts lenkte mich ab. Nichts, außer den Schritten von Joker. Allmählich begann es in mir zu dämmern. Mosaiksteine prasselten in meinen Schädel. In fliegender Eile setzte ich sie zusammen. Ich rief mir das Gespräch mit George Molton ins Gedächtnis zurück. Und plötzlich begriff ich, was für ein leichtgläubiger Ochse ich gewesen war. George arbeitete doch irgendwo in den Katakomben von Scotland Yard. Er hörte zwar alles, aber er hatte so gut wie gar nichts zu melden. Würde sich ein V-Mann mit einer wichtigen Information an ihn wenden? Gerade an ihn? Ich war mir auf einmal darüber im klaren, daß an der Sache irgend etwas faul war. Diese Vermutung vermochte ich mit einem anderen Faktum zu 118 �
erhärten. Mir war eingefallen, wo ich Joker schon mal gesehen hatte. Auf dem Friedhof! Ich sah ihn nun ganz deutlich wieder vor mir. Er trug einen wunderschön geschmückten Reisigkranz. Mit einer unendlich traurigen Miene ging er an uns vorbei. Ich war ihm also auf dem Friedhof begegnet. Auf dem Friedhof! Und der Anruf von George Molton hatte auch einen Haken. Mir schwante nichts Gutes. Ich musterte den Mann neben mir mißtrauisch. Der Kerl wollte mich in eine Falle locken. Oder noch besser: dieser Kerl war die Falle. Er war der Ghoul! Ich sah es an den Krallen, die sich gerade an seinen Händen bildeten. Ehe er sich verwandelt hatte, wirbelte ich herum und rannte, so schnell ich konnte, zu meinem Wagen zurück. Das Monster schnaufte mordgierig hinter mir her. Ich muß gestehen, er hatte die Sache geschickt eingefädelt. Sie hätte unter Umständen gelingen können. Er holte auf. Ich gab mein Letztes. Der Parkeingang schien sich mehr und mehr von mir zu entfernen. Mir war, als liefe ich nicht vorwärts, sondern zurück. Der Ghoul war mir schon gefährlich nahe. Ich hörte seinen schrecklich rasselnden Atem. Er wollte mich haben, um jeden Preis. Deshalb hatte er mich hierher gelockt. Er hasste mich, weil ich ihn mit meinem Gasfeuerzeug aus dem Leichenschauhaus vertrieben hatte. Und nun wollte er sich dafür rächen. Ich mußte den Ausgang erreichen. Wenn ich erst mal draußen war, konnte er mir nicht mehr folgen. Er würde zurückbleiben, würde das schützende Dunkel suchen, nicht das Licht, nicht die 119 �
Menschen. Schwitzend und keuchend rannte ich um mein Leben. Meine Seiten stachen schmerzhaft. Ich biss die Zähne zusammen. Weiter! hämmerte es in mir. Weiter! Seine vorschnellende Hand verfehlte mich haarscharf. Ich spürte, wie sie an meinem Hinterkopf vorbeiwischte. Ich warf mich nach vorn wie ein Sprinter, der das Zielband mit seiner Brust vor den anderen zu erreichen versucht. Ich sah drei Männer und ein Mädchen. Sie kamen in den Park. Sie waren meine Rettung. Fauchend und zischend zog sich der Ghoul in die Finsternis zwischen zwei Büschen zurück. Ich hetzte an den vier jungen Leuten vorbei und erreichte ausgeflippt meinen Wagen. Ziemlich ausgebrannt und schweißüberströmt, keuchend und nach Luft japsend saß ich dann hinter dem Lenkrad. Ich zitterte am ganzen Körper erbärmlich und hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Startschlüssel herumzudrehen. So knapp kann nur ein Glückskind am Tod vorbeigehen. Eine ganze Armee von Schutzengeln schien die Aufsicht über mein Leben übernommen zu haben. Ich lachte bitter. Der Spaßvogel hatte sich Joker genannt. Ich überlegte, ob es einen Sinn hatte, die Polizei zu alarmieren. Gewiß hatte sich dieser Satansbraten inzwischen wieder in einen harmlos wirkenden Menschen zurückverwandelt. Und zum zweiten war er vermutlich gerade im Begriff, irgendwo ungesehen den Regent's Park zu verlassen. Er war voller heimtückischer Tricks, dieser verfluchte Dämon, das hatte er gründlich bewiesen. Mir kamen wieder Zweifel, ob es mir je gelingen konnte, ihn zu besiegen. * 120 �
Mary Teal hatte schrecklichen Hunger. Der Ghoul hatte ihr bis jetzt nichts zu essen und nichts zu trinken gegeben. Und er hatte am späten Nachmittag den Keller verlassen. Grinsend hatte er dem Mädchen eröffnet, daß er Perry Lloyd nun in eine raffinierte Falle locken würde. Mary hatte den Kopf wild hin und her geworfen. Sie hatte um mein Leben flehen wollen, doch der Knebel hinderte sie daran. Lachend hatte das Monster in der Gestalt eines Menschen den Keller der Hühnerfarm verlassen. Furchtbar quälende Stunden vergingen. Mary stand schreckliche Ängste um mich aus. Und sie fürchtete auch um ihr eigenes Leben. Sie war bereits ziemlich kraftlos geworden. Die zahlreichen Anstrengungen, die Fesseln abzubekommen, und der Mangel an Speise' und Trank hatten sie sehr stark entkräftet. Weinend lehnte sie an der nasskalten Mauer, und sie fürchtete die Rückkehr des Ghouls, denn dann würde sie von meinem Tod erfahren. Eine böse Verzweiflung machte sie krank. Ihr leerer, tränenerfüllter Blick streifte durch das Dunkel des Kellers. Der Mond draußen war aufgegangen. Sein Licht sickerte durch irgendwelche Ritzen herein und machte aus den herumliegenden Skeletten grauenvoll fluoreszierende Gegenstände. Auf einer kleinen Werkbank lag eine Menge Werkzeug herum, das keiner mehr benötigte. Unter anderem lag da auch ein gebrochenes Sägeblatt. Mary Teal hatte schon mehrmals versucht, daran heranzukommen, doch jeder Versuch war an ihrer fortschreitenden Schwäche gescheitert. Plötzlich hörte sie Schritte. Sie wagte trotzdem nicht zu hoffen. Gleich darauf wußte sie, daß dazu wirklich kein Grund vorhanden war. Der Ghoul war zurückgekommen. Fluchend polterte er die Stu121 �
fen herunter. Wütend baute er sich in Menschengestalt vor Mary auf. Sie hing mit einem unsagbar verzweifelten Blick an seinem grausamen Gesicht. »Er ist mir entwischt!« fauchte der Mann zornig. Mary fiel ein schwerer Stein vom Herzen. »Er ist vorzeitig dahinter gekommen.« Mary schloß dankbar die Augen. Das entsetzliche Lachen des Ghouls machte ihr eine Gänsehaut. »Du freust dich, was?« knurrte das Monster verächtlich. »Dazu besteht absolut keine Veranlassung. Ich werde Perry Lloyd eine zweite Falle stellen. Und ich bin absolut sicher, daß er mir kein zweites Mal entkommen wird. Ihr beide werdet ein Festmahl für mich sein, du und er. Und ich werde dich zuerst drannehmen, während er mir dabei zusehen muß. Das wird ihn quälen und umbringen. Er muß leiden, oh, er muß sehr, sehr viel leiden. Niemand darf es wagen, sich mit mir anzulegen. Jeder, der das tut, muß diesen dummen Entschluß tausendfach vor seinem Tod bereuen.« * Selbstverständlich hatte George Molton von alldem keinen blassen Schimmer. Ich war noch mal zur Redaktion zurückgefahren und hatte ihn von meinem Büro aus angerufen. »Junge, diese Bestie ist heimtückischer, als ich es ihr zugetraut hätte«, rief George erschrocken aus, als ich mit meinem Bericht des Grauens fertig war. »Ich hatte diesmal mehr Glück als Verstand«, gab ich ehrlich zu. »Tüchtigkeit allein macht noch nicht die Größe eines Mannes aus. Er muß auch Glück haben«, sagte George. »Wenn es danach geht, bin ich der Größte«, ächzte ich. 122 �
»Das ist schon jemand anders«, gab George zurück. »Was hast du nun vor, Perry?« Ich schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Willst du mit Inspektor Brighton über dein Problem reden?« »Eher beiße ich mir die Zunge ab.« »Du könntest trotzdem herkommen, Perry.« »Wozu?« »Unser Zeichner könnte eine Skizze von dem Kerl anfertigen. Das würde meinen Kollegen eventuell weiterhelfen.« »Kannst du dich denn an den Mann nicht mehr erinnern?« Ich beschrieb ihn haargenau. Und plötzlich wußte auch George wieder, wie der Mann ausgesehen hatte. »Gut, Perry«, sagte mein Freund. »Dann wird der Zeichner den Burschen nach meinen Angaben skizzieren.« Ich wünschte ihm und dem Zeichner viel Glück und legte dann auf. Zwei Stunden hackte ich auf meiner Schreibmaschine herum, doch alles, was ich zu Papier brachte, war Mist. Von Wahnvorstellungen verfolgt und ziemlich erschöpft, verließ ich mein Büro und fuhr nach Hause. Ich hatte noch nicht mal den Fuß drinnen, da läutete schon das Telefon. »Perry! Hier ist George!« Mit mir nicht! dachte ich. Nicht schon wieder. »Wo bist du, George?« fragte ich vorsichtshalber. »Dumme Frage. Wo soll ich denn sein? Im Yard. Immer noch im Yard.« »Ich rufe zurück, George.« »Aber…« »Wenn du das nicht willst, dann fahr zur Hölle.« »Sag mal, was ist denn bloß in dich gef… Ach so, du meinst, 123 �
das wäre schon wieder ein Trick von unserem gemeinsamen Feind.« »Ist es denn kein Trick?« »Aber nein, Perry.« »Dann Lass mich zurückrufen.« »Okay, aber mach schnell. Das, was ich dir zu erzählen habe, brennt mir Löcher in die Zunge.« Wir legten gleichzeitig auf. Ich drehte die Nummer von New Scotland Yard in die Scheibe und nahm auch gleich die Durchwahl von George Moltons Klappe mit. Er war sofort wieder da. »Zufrieden?« fragte er. »Jetzt schon«, sagte ich erleichtert. »Schieß los!« »Ich glaube, die Ereignisse werden sich, demnächst mächtig überstürzen, Freund. Da kommt etwas ganz Großes ins Rollen, wenn ich richtig gelauscht habe.« »Mit dem Ghoul?« fragte ich. »Klar mit dem«, gab George Molton erregt zurück. »Erst noch eins: unser Zeichner hat die Skizze mit seinen Schablonen wunderbar hingekriegt. Das Gesicht sieht wie ein Foto aus, sage ich dir. Ich habe es gleich an Inspektor Brighton weitergeleitet. Und hiermit bin ich auch schon beim Kern der Sache angelangt.« Wenn der Kern Abel Brighton hieß, war er für meinen Geschmack auf jeden Fall ungenießbar. »Hat Brighton seinen Dienst quittiert?« fragte ich hoffnungsvoll. »Das wäre für dich das größte Ding, wie?« lachte George. »Aber soweit sind wir noch lange nicht.« Ich konnte ein »Schade« nicht unterdrücken. »Hör zu, Perry. Du weißt doch, daß Brighton in dem GhoulFall und in der Juwelensache bis zu den Ohren drinhängt.« »Sag mir nicht, was ich weiß, George. Sag mir, was ich nicht weiß.« 124 �
»Hier kommt, was du nicht weißt, Perry: man hat nach dem Wagen der beiden Raubmörder gefahndet. Es ist ein weißer Ford Corsair mit einer Delle und einer roten Schramme.« »Interessiert mich nicht, George.« »Wart's doch ab, verflucht noch mal! Ein Konstabler von Romford hat das weiße Vehikel entdeckt. Die Meldung ging wie ein Lauffeuer weiter und landete schließlich bei uns.« »Ja, und?« »Der Konstabler bitte unterbrich mich nicht immer hat den Ford in der Nähe einer verlassenen Hühnerfarm entdeckt. Zudem will ein Bauer, der an diesem alten Gebäude vorüberkam, gestern abend zwei Schüsse gehört haben. Er ging nicht sofort zur Polizei, kam erst heute vorbei, weil ihn seine Alte dazu gedrängt hatte. Egal, er hat die Wahrnehmung jedenfalls gemeldet. Das bedeutet, daß die Juwelenräuber in dieser verlassenen Hühnerfarm Unterschlupf gefunden haben.« »Vor zwei Wochen hätte ich dir noch stundenlang zuhören können, George«, sagte ich gereizt. »Vielleicht erinnerst du dich daran, daß in den letzten Tagen eine Menge scheußlicher Dinge passiert sind. Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich deiner Story nicht das geringste Interesse entgegenbringen kann.« »Ich schwenke schon auf deine Linie ein, Perry.« »Auf die Linie des Ghouls. Eine andere Linie gibt es im Augenblick nicht für mich.« »Wir sprachen von Romford, das liegt etwa fünfzehn Kilometer westlich von London.« »George, zur Sache!« drängte ich. »Komm doch bitte endlich zur Sache! Ich bin ein waschechter Londoner. Weshalb erklärst du mir, wo Romford liegt?« »Der Konstabler hat im Verlaufe seiner langen Meldung erwähnt, daß in Romford während der letzten Wochen drei junge Mädchen spurlos verschwunden sind, Perry.« 125 �
»Das passiert überall auf der Welt.« »Passiert es auch überall auf. der Welt, daß die Leute behaupten, hin und wieder eine scheußliche Gestalt auf dem Friedhof herumschleichen zu sehen?« fragte mich George bissig. Ich spritzte von dem Stuhl hoch, auf den ich mich gesetzt hatte. »Was sagst du da?« »Drei Mädchen verschwunden, Perry! Eine Spukgestalt auf dem Friedhof. Willst du noch mehr Parallelen?« »Was wird Inspektor Brighton unternehmen?« fragte ich schnell. »Er ist eben im Begriff, eine schlagkräftige Truppe auf die Beine zu stellen. In spätestens einer halben Stunde ist er mit seinen Männern nach Romford unterwegs. Er wird sich die beiden Gangster holen. Und natürlich auch die Juwelen, die sie geraubt haben. Ich ließ unvorsichtigerweise die Bemerkung fallen, daß die Hühnerfarm ein ausgezeichnetes Versteck für den Ghoul wäre. Er warf mich mit der Bemerkung hinaus, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern.« Mir wurde heiß. Vielleicht hatte der Ghoul mein Mädchen in dieser verdammten Hühnerfarm versteckt. »Wenn der Ghoul dort haust, leben die beiden Gangster bestimmt nicht mehr«, sagte ich hart. George war meiner Meinung. »Falls die Bestie dein Mädchen dort gefangen hält, wird es zu einem gefährlichen Konflikt kommen, wenn die Männer von Scotland Yard das Gebäude umstellen. Ich kenne die Methoden meiner Kollegen. Erst mal werden sie mit Megaphonen auf die Gangster einreden. Und wenn sie nicht herauskommen, werden sie das Gebäude stürmen. Was, so frage ich dich, wird in einem solchen Fall der Ghoul tun?« »Er wird auf jeden Fall Mary töten!« schrie ich erschrocken. »Wenn du sofort losfährst, hast du eine halbe Stunde Vor126 �
sprung vor Abel Brighton, Perry«, sagte George Molton. Ich wußte nicht, wie ich ihm für seine Hilfe danken sollte. In größter Hast legte ich auf. * Ich hatte aus der halben Stunde fünfundvierzig Minuten gemacht, indem ich mit meinem MG beinahe nach Romford geflogen war. George Moltons Angaben waren präzise gewesen. Ich fand die verlassene Hühnerfarm sofort. Da es sein konnte, daß der Ghoul sich in dem Gebäude aufhielt, konnte ich es auf keinen Fall wagen, nahe heranzufahren. Deshalb ließ ich meinen grünen Flitzer weit genug vom Vierkanthof entfernt stehen. Den langen Rest des steinigen Weges legte ich zu Fuß zurück. Als ich das Gebäude erreicht hatte, zog ich meine Mauser, die immer noch mit Silberkugeln geladen war, aus dem Hosenbund. Diesmal würde ich sie brauchen. Obwohl ich eine gewisse Furcht verspürte, hoffte ich doch, daß der Ghoul sich nicht auf einem seiner tödlichen Streifzüge befand, sondern da war. Zunächst umschlich ich den Vierkanthof, um mich zu orientieren. Ich entdeckte kein Lebenszeichen von den beiden Gangstern, die sich hier versteckt haben sollten. Für mich war sicher, daß sie sich der Ghoul geholt hatte. Schließlich waren sie eine leichte Beute für ihn gewesen. Während ich im schützenden Schatten des alten Gebäudes weiterhuschte, stellte ich einige wertvolle Überlegungen an. Ich nahm an, es stimmte, daß diese Hühnerfarm sowohl vom Ghoul als auch von den beiden Gangstern zum Versteck auserkoren worden war. Vermutlich hatten die Verbrecher keine Ahnung gehabt, in welchen Bannkreis sie hier eindrangen. Vielleicht hatten sie den Ghoul erst in der Stunde ihres Todes zu 127 �
Gesicht bekommen. Ich überlegte weiter, daß sich die Raubmörder wohl kaum im Kellergewölbe wohl gefühlt hätten, während sich der Ghoul eher dort unten versteckte. Da oben niemand mehr anzutreffen war, nahm ich an, daß ich hier nur noch den Ghoul vorfinden würde. Ihn und hoffentlich Mary. Und zwar im Keller. Auf meinem Rundgang hatte ich einen Abgang in den Keller entdeckt. Ich begab mich dahin zurück. Schwer lag die Mauser in meiner Hand. Ich war entschlossen, dem Monster alle acht Kugeln in den Leib zu jagen. Ich konnte diesen Augenblick kaum noch erwarten. Da war die Tür! Ich öffnete sie und zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen, weil sie mich mit einem lauten Knarren verraten hatte. Trotzdem gab es kein Zurück mehr für mich. Ich glaubte mit einemmal zu spüren, daß Mary dort unten war. Ich fühlte mich in ihrer Nähe. Und noch etwas fühlte ich. Es war zwischen uns, es machte mir Angst, denn es war eine tödliche Gefahr, die dort unten körperlich auf mich lauerte. Nichts und niemand hätte mich daran zu hindern vermocht, in den Keller hinunterzugehen. Ich wäre selbst dann die Treppe hinunter gestiegen, wenn ich gewußt hätte, daß mich am Ende der Satan erwartete. Selbst in die Hölle wäre ich gegangen, um dem Teufel mein Mädchen zu entreißen, und, sollte es mir nicht gelingen, war ich bereit, meinen Wagemut mit meinem Leben zu bezahlen. Die Dunkelheit hängte mir einen schwarzen Mantel um. Meine Augen gewöhnten sich sehr schnell daran. Ich hatte nur noch wenige Stufen vor mir. Fast alle hatten geächzt oder geknarrt. Wenn der Ghoul hier unten war, dann wußte er längst, daß Besuch für ihn gekommen war. 128 �
Wie ein harter Hammer klopfte mein Herz gegen die Rippen. Es wollte aus meiner Brust ausbrechen und fliehen, den es war wahnwitzig, was ich mir vorgenommen hatte. Außerdem war ich allein. Außer mir wäre wohl keiner so verrückt gewesen, dieses gefährliche Abenteuer allein bestehen zu wollen. Vielleicht wäre ich nicht so mutig vorgegangen, wenn sich Mary in Sicherheit befunden hätte. Aber sie war nicht in Sicherheit. Sie befand sich in den Klauen des Ghouls. Und ich konnte nur inständigst hoffen, daß sie noch lebte. Der Kellerboden war feucht, erdig und glitschig. Ich ging vorsichtig, um nicht auszurutschen. Das Gewölbe war mit Ziegeln gebaut worden. An manchen Stellen war die Decke leicht eingesunken. Ich erreichte einen Türrahmen, in dem sich keine Tür mehr befand. Mehrmals blickte ich zurück. Der Ghoul zeigte sich noch nicht. Vermutlich ließ er mich erst mal in die Tiefe stoßen, um mich zu einem Zeitpunkt anzugreifen, der für seine Zwecke am geeignetsten war. Nachdem ich den türlosen Rahmen durchschritten hatte, blieb ich stehen, um zu lauschen. Ich glaubte etwas zu hören, doch das Geräusch war so kurz und so leise gewesen, daß ich mich auch geirrt haben konnte. Trotzdem war ich von diesem Moment an noch mehr auf der Hut. Ich ging mit kleinen Schritten weiter. Mein Blick fiel auf ein Skelett. Daneben lag noch eines. Insgesamt entdeckte ich fünf Gerippe und dazwischen zerfetzte Kleider. Nun stand fest, daß ich hier richtig war. George hatte gesagt, daß drei Mädchen aus Romford verschwunden waren. Ihre Gebeine lagen in diesem Keller. Ich war absolut sicher, daß es ihre Gebeine waren. Und die beiden ande129 �
ren Skelette gehörten den beiden Raubmördern. Auch darüber gab es für mich keinen Zweifel. Aufgeregt ging ich weiter. Und plötzlich roch ich das Scheusal. Sein penetranter Verwesungsgeruch schwebte mir aus jeder Ecke dieses Kellers entgegen. Wieder hörte ich ein Geräusch, diesmal dicht vor mir. Ich machte einen zaghaften Schritt vorwärts, war bereit, zu schießen, da brach mir der kalte Schweiß aus allen Poren. »Mary!« schrie ich erfreut und entsetzt zugleich. Sie hockte mit schockgeweiteten Augen vor mir auf dem Boden gefesselt, geknebelt, eingefallen, elend. Ich begriff nicht sofort, was ihr solch schreckliche Angst machte. Vor mir brauchte sie sich doch nicht zu fürchten. Als ich verstand, war die Gefahr bereits nicht mehr abzuwenden. Mich traf ein gewaltiger Schlag an der Schulter. Mein Arm war wie gelähmt. Zum Glück war es der linke Arm. Die Mauser hielt ich in der Rechten. Ein wahnsinniger Schmerz durchraste die Linke. Blut quoll aus tiefen Risswunden. Die Wucht des Schlages ließ mich durch den Keller taumeln. Ich knallte mit Tempo gegen die nasse Ziegelwand. Meine Knie wollten ihren Dienst versagen. Ich riß mich mit zusammengebissenen Zähnen hoch. Mit glühenden Augen kam der Ghoul auf mich zu. Die Dunkelheit ließ ihn noch größer, noch gefährlicher erscheinen. Bläulicher Dunst kringelte sich über seiner schleimigen Haut. Er riß das grauenerregende Maul erschreckend weit auf. Mein halber Kopf hätte da hineingepasst. Obwohl mein linker Arm höllisch schmerzte, obwohl ich um mein Leben verdammt zu fürchten hatte, war ich glücklich. Jawohl, glücklich! Denn Mary lebte. Eine größere Freude hätte 130 �
es für mich nicht geben können. Zum Sprung geduckt, kam das Monster auf mich zu. Sein stinkender, rasselnder Atem legte sich beklemmend auf meine Lunge. Ich bekam kaum noch Luft. Ich wartete keine Sekunde länger. Nun würde sich erweisen, ob man gegen einen Ghoul mit Silber nichts auszurichten vermochte. Ich richtete meine Pistole auf ihn und drückte ab. Er stieß einen wütenden Schrei aus. Kein Tier hätte so gräßlich schreien können. Die Kugel drang in seinen ekelhaften Körper. Er wurde zurückgeschleudert und zu Boden geworfen. Doch er kam sofort wieder. Ich schoß zum zweiten Mal. Diesmal setzte ich ihm die Kugel in den Bauch. Knurrend und hechelnd krümmte er sich zusammen. Aus seiner Kehle kamen unbeschreibliche Laute, die mich zutiefst erschauern ließen. Sechs Kugeln setzte ich in kurzer Aufeinanderfolge in den scheußlichen Leib des gefährlichen Dämons. Er warf sich nach jedem Treffer gequält herum, brüllte auf, röhrte und heulte. Er brach nieder, kroch zwischen den Skeletten herum und kämpfte sich mühsam hoch. Ich kannte keine Gnade. Zu vieles hatte er Mary und mir angetan. Vor allem Mary. Dafür mußte er nun büßen. Wankend kam er auf die Beine. Sehleim troff aus seinem Leichenfressermaul. Mich ekelte. Er starrte mich in tödlichem Hass an. Das Flackern seiner Augen nahm zu. Ich hatte noch zwei Silberkugeln in der Mauer. Blitzschnell hob ich die Waffe. Er tappte mir mit schweren Schritten entgegen, streckte seine furchtbaren Krallen nach mir aus. Ich zielte auf sein rechtes Auge und drückte ab. Er stieß ein 131 �
markerschütterndes Gebrüll aus. Die Kugel schleuderte ihn weit zurück. Er fiel auf den Rücken, schrie wahnsinnig laut, daß das Gewölbe erzitterte, preßte die häßlichen Hände auf die Augenhöhle und wand sich unter unsäglichen Schmerzen. Als er aufs neue hochkam, wußte ich, daß ich ihn mit meinen Silberkugeln nicht töten konnte. Die Flamme in seinem rechten Auge war erloschen. Finster lag die eingesunkene Höhle in seinem grauenerregenden Gesicht. Rechts konnte er nichts mehr sehen. Wenn ich ihn schon nicht zu töten vermochte, so wollte ich doch wenigstens erreichen, daß er blind war. Meine letzte Kugel nahm ihm auch das linke Augenlicht. Er fühlte einen wilden Tanz auf, kreiselte brüllend herum, schlug mit aufeinander klappenden Zähnen zornig um sich und wollte mich mit seinen tödlichen Klauen vernichten. Ich flitzte durch den Kellerraum. Dabei trat ich auf eines der Skelett. Die Knochen klapperten. Der blinde Ghoul hörte das und wandte sich blitzschnell um. Mit unsicheren Schritten kam er auf mich zu. Mit bleichem Gesicht, schweißüberströmt starrte ich dem näher kommenden Monster entgegen. Noch einmal fiel mir unsere erste Begegnung ein. Ich hatte ihn mit der Flamme meines Gasfeuerzeuges verjagt. Feuer! Mit Feuer konnte man ihn vielleicht vernichten. Ich drehte mich um. Hier hatte ich doch eine alte Lötlampe gesehen. Da lag sie, verbeult und schäbig. Ich schüttelte sie und stellte erleichtert fest, daß noch Benzin darin war. Der Ghoul blieb stehen. Er lauschte, hörte mich hantieren und schien sich zu fragen, was ich nun vorhatte. Ich überbot in diesen furchtbaren Augenblicken meine eigene Schnelligkeit. 132 �
Schon sprang die Flamme an der Lötlampe auf. Fauchend schlug sie dem Ghoul entgegen. Mit einemmal begriff er. Er spürte die Hitze und stieß ein wahnsinniges Gebrüll aus. Schreiend riß er die Arme hoch und hielt sie sich vor die blinden Augen. Ich schnellte vorwärts und ließ die Flamme über seinen scheußlichen Körper lecken. Er hüpfte entsetzt herum. Die schleimige Masse seines Körpers fing Feuer. Im Nu brannte der verfluchte Ghoul lichterloh. Wie eine lebende Fackel raste er durch den Kellerraum, immer im Kreis, schreiend, daß einem angst und bange werden konnte. Nun hatte ich endlich Zeit für Mary. Ich riß mein Taschenmesser heraus und durchtrennte die Fesseln. Als ich ihr den Knebel aus dem Mund nahm, seufzte sie nur. Sie war zu schwach, um aufzustehen, deshalb hob ich sie hoch und trug sie. Brennend rannte der Ghoul gegen die Wand. Er fiel röchelnd um und wälzte sich zitternd und zuckend auf dem Boden zwischen den Skeletten. Doch die Flammen ließen nicht mehr von ihm ab. Er verbrannte vor unseren Augen. Und er hatte wahnsinnige Schmerzen zu ertragen, ehe es mit ihm vorbei war. Ich trug Mary über die Treppe hinauf, über die Paul Primus seinen toten Komplizen John Parker heruntergeschleppt hatte. Mühsam berichtete mir Mary, was sie wußte. Ich fand die Juwelen in dem türlosen Schrank. Mary behielt ich jedoch in meinen Armen. Ich wollte sie bis zu meinem Wagen tragen, wollte sie zu mir nach Hause fahren und da ins Bett legen. Dann wollte ich meinen Arzt anrufen und ihn zu mir bitten. Inzwischen würde ich mein Mädchen mit irgend etwas Kräftigendem aufzupäppeln versuchen. Mary sah schrecklich aus, obwohl sie das Glück, das sie empfand, lächeln ließ. »Nun hast du deine große Story, Perry«, hauchte sie an meinem Ohr. 133 �
»Es wird die beste Story, die ich jemals geschrieben habe«, sagte ich und ging auf die Tür zu. Plötzlich blieb ich stehen. Eine dröhnende Megaphonstimme es war unverkennbar die Stimme von Detektiv-Inspektor Abel Brighton rief: »Hallo! Hier ist die Polizei! Hier ist die Polizei! Das Gebäude ist umstellt! Jeder Widerstand ist zwecklos! Kommen Sie unbewaffnet und mit erhobenen Händen heraus!« Ich grinste Mary an. »Der schreckliche alte Abel Brighton. Er kommt doch überall um eine Nasenlänge zu spät.« Dann kam ich seiner Aufforderung teilweise nach. Unbewaffnet trat ich aus dem Haus, aber nicht mit erhobenen Händen, denn ich trug mein Mädchen… ENDE
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