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Er schnappte nach Luft. Der schnelle Lauf hatte ihn angestrengt. Es dauerte eine Weile, bis er Gunter die schlimme Nachricht mitteilen konnte. »Ziegler!« ächzte er. »Ziegler ist geflohen!« Augenblicklich erwachte Gunters Aufmerksamkeit. Er nahm den Kollegen bei den Schultern und schüttelte ihn. »Was sagst du da, Ziegler ist frei? Verdammt, wie konnte das geschehen?« Holger wurde blaß. Er kannte den harten Glanz in den Augen seines Gegenüber. Er wußte, daß mit Gunter nicht zu scherzen war. Ein falsches Wort, und er würde zum Berserker. »Ich… ich weiß es nicht«, stotterte Holger. »Es ist unglaublich, daß er es überhaupt geschafft hat… Ein riesiges Loch klaffte in der Wand des Meilers, und…« Gunters Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie waren eine einzige Drohung. »Was sagst du da? Weißt du überhaupt, was du da sagst?« Wieder schüttelte er ihn. »Ja!« schrie Holger. »Ich weiß es. Aber es stimmt trotzdem!« Gunter ließ von seinem Kumpel ab. Während Holger
sich langsam vor ihm zurückzog, drehte er sich um. Sein Blick richtete sich auf das dickwandige Bleiglas, durch das er die Wildnis um sich herum erkannte. Was würde Ramon Ziegler anrichten? * Michael Fleckenstein war guter Dinge. Pfeifend lenkte er den klapprigen Ford Taunus über die nahezu leere Fahrbahn. Der Grund seiner außerordentlichen Fröhlichkeit lag in dem Besuch, den er hinter sich hatte. Nach langer Zeit hatte er wieder mal eine alte Freundin überrascht. Er hatte gar nicht mehr gewußt, wie gut sie aussah. Michael war Amerikaner. So stand es in seinem Paß. Die Wirklichkeit sah so aus, daß er lange in den Vereinigten Staaten gelebt hatte und nun auf Wunsch seiner Eltern wieder in die Bundesrepublik zurückkehrte. Aber nicht alle Gepflogenheiten des american way of life ließen sich abschütteln. Sein ausgesprochener Hang zum Playboy war ihm geblieben. Seine Freundin hatte es zu spüren bekommen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Obendrein hatte sie ihn gefordert und in seinem Tun unterstützt – in einem Maß, wie es nur emanzipierten Frauen eigen war.
Er fuhr von der Fahrbahn ab und in gemäßigtem Tempo eine Nebenstrecke. Michael hatte es nicht nötig zu rasen und lieber genoß er die Fahrt. Außerdem hatte er Angst, daß der Motor seines Wagens den Belastungen einer höheren Umdrehungszahl nicht standhielt Astrid, dachte er. Mein Gott, was für ein Fest! Als er am Rand der Fahrbahn einen Anhalter winken sah, überlegte er nicht lange. Er schob seine sinnlichen Genüsse zurück und lenkte den Ford auf die rechte Fahrbahnseite. Langsam ließ er ihn ausrollen und brachte ihn in Höhe des Anhalters zum Stehen. »Hoppla!« reagierte er erstaunt. »Was ist denn das für ein Typ?« Am rechten Kotflügel seines Wagens stand eine zerlumpte Gestalt, die sich nur noch mühsam auf den Beinen zu halten schien. Ihr Haar war zerzaust, die Kleidung an vielen Stellen zerrissen. Michael Fleckenstein beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster hoch. »He, junger Mann!« rief er. »Wenn Sie mitkommen wollen, zeigen Sie keine Scheu. Steigen Sie ein!« Leicht schwankend bewegte sich die Gestalt Richtung Wagentür. Michael kamen Bedenken, ob er richtig handelte. Doch dann schalt er sich einen Narren. Wahrscheinlich hatte der Kerl nur zuviel über den Durst getrunken. Es war ja ein heißer Tag heute. Michael öffnete die Tür und wartete, bis der Anhalter sie von sich aus aufhielt. Dann rückte er wieder auf seinen Sitz. 4
»Kommen Sie!« ermunterte er den Unbekannten. Der Anhalter ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloß die Wagentür. Penetranter Geruch wehte Michael Fleckenstein entgegen und ließ ihn die Nase rümpfen. »Wo wollen Sie denn hin?« fragte er den Mann. Der Mann schüttelte den Kopf und blickte Michael ins Gesicht. Ein sonderbarer Schleier lag über seinen Augen. Fleckenstein bezweifelte, daß der Fremde alles um sich her genau erkannte. »Nach … Schwalbach …«, folgte nach einiger Zeit die Antwort. Die Stimme des Anhalters klang rauh. Michael hatte ab und zu Alkoholiker sprechen hören, im nüchternen wie im betrunkenen Zustand. Ihre Heiserkeit hatte kaum Ähnlichkeit mit der seines neuen Beifahrers. Er nickte. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er. »Sonst fallen wir den Grünen noch in die Pranken.« Er ließ den Motor aufheulen und reihte sich in den Strom der Fahrzeuge ein, die an ihm vorbeiglitten. »Mein Name ist Michael Fleckenstein. Manche nennen mich Mike«, erklärte er, »ein Überbleibsel aus meiner Zeit in den USA.« Er sah zur Seite. »Sie sehen nicht gerade aus, als kämen sie aus Ihrer Villa. Was, um Himmels willen, hat Sie denn so zugerichtet?« Verärgert registrierte Michael, daß ihm der Anhalter 5
nicht zuzuhören schien. Er starrte nur durch die Frontscheibe und fuhr dann und wann über sein stoppeliges Gesicht. Die Unsicherheit seines Gehabes, die Michael vorher aufgefallen war, hatte er jedoch abgelegt. »Ah – entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich habe etwas gefragt!« Michael wußte, daß die Art, in der er die Worte vorbrachte, alles andere als freundlich klang. Aber langsam begann es in ihm zu rumoren. Er hatte sich diesen Burschen nicht eingeladen, um dauernd seine ablehnende Überheblichkeit zu spüren. Plötzlich wandte der Anhalter seinen Kopf und sah Michael an. Fleckenstein überprüfte die Fahrbahn und wartete darauf, daß der Fremde reden würde. »Ich … ich hatte einen Unfall«, sagte der Mann. »Auf einer Parallelstraße. Mein Auto ist ganz schön verbeult. Glücklicherweise bin ich langsam gefahren. Sonst hätte ich wohl mehr abbekommen als nur einige Schrammen.« »Das tut mir leid«, erwiderte Michael. Die Antwort des Anhalters erklärte einiges und ließ den Aufzug des Mannes verständlich erscheinen. »Es hat mich durch die Windschutzscheibe geworfen!« sagte der Anhalter. »Als ich nachher die Ziehharmonika betrachtete, zu der mein Wagen geworden war, wunderte ich mich, wie ein Mensch das überlebte. Es ist aber auch eigenartig, daß sich hier weit und breit keine Polizei befindet.« »Ja«, sagte Michael. »Dabei sind die Grünen immer zur Stelle, wenn es darum geht, Verkehrssünder zu ertappen.« 6
Er lachte. . Irgend etwas an diesem Mann kam Michael sonderbar vor. Er steckte voller Widersprüche, doch Michael schob alles auf den Unfall, der ihm wohl mehr zugesetzt hatte, als er zuzugeben gewillt war. »Dort, ein Hinweisschild!« sagte Michael Fleckenstein. Er deutete mit der Hand auf die rechte Seite der Fahrbahn. »Frankfurt 34 km. Vielleicht sollten wir auf die Abfahrt zur nächsten Großstadt verzichten und gleich Frankfurt anvisieren. Alles übrige wäre doch nur Zeitverlust. Dann haben Sie es auch nicht mehr weit bis Schwalbach.« Als der Anhalter nicht antwortete, sah Michael Fleckenstein kurz zur Seite. Er war es nicht mehr gewohnt, daß dieser sich in Schweigen hüllte. Er hatte angenommen, daß das Eis gebrochen sei. Sollte er sich getäuscht haben? Michael zuckte zusammen, als er das Gesicht seines Beifahrers erkannte. Er schien die Gewalt über sein Muskelspiel verloren zu haben – es verlor sich in unkontrollierten Zuckungen! Mit Mühe brachte Michael soviel Konzentration zusammen, daß der Ford Taunus nicht ein weiteres Mal ausbrach. Während seine Hände das Steuer fest umklammerten, sah er aus den Augenwinkeln auf den Beifahrer. »Herr Doktor!« sagte er. Eine Scheu hatte ihn ergriffen, die es unmöglich machte, daß er die Worte laut aussprach. Aber auch so hätte sie der Mann neben ihm deutlich verstehen müssen. Der Fremde reagierte nicht. 7
Dafür verstärkten sich die konvulsivischen Zuckungen. Sie wurden heftiger und … Täuschte er sich oder… oder sprossen dort tatsächlich Haare aus dem Gesicht des Mannes? Michael Fleckenstein hätte schreien mögen. Aber wie ein bleierner Klotz lag etwas in seiner Kehle. Was ging hier vor? Was war das für ein Wesen? »Herr … Doktor!« hauchte Michael. Lautes Hupen ließ ihn zusammenfahren. Fleckensteins Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Fahrbahn. Zu seinem Schrecken erkannte er, daß der Wagen sich auf eine Baustelle zubewegte, die er zuvor nicht gesehen hatte. Ein Sattelschlepper hatte ihm den Blick verwehrt. Das Hupen riß nicht ab. Es galt als Warnung eines Mannes, der hinter Michael in einem silberblauen Peugeot saß. Fleckenstein reagierte. In letzter Sekunde riß er das Steuer herum und raste mit kreischenden Pneus zentimeternah an einer provisorischen Ampel vorbei. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das hätte schiefgehen können! Ein Grollen riß ihn in die Gegenwart zurück. Sein Kopf schleuderte herum. Nein!! Michael schloß schockiert die Augen, als er erkannte, daß der beschleunigte Haarwuchs noch immer kein Ende gefunden hatte. Auch die Zuckungen hatten nicht aufgehört. Dafür hatte der Mann nun auch noch begonnen, sich qualvoll im Sitz zu winden. Beide Hände hielt er fest 8
gegen den Magen gepreßt. Michael wußte nicht, was er tun sollte. Das Steuer hielt er so fest umkrampft, daß die Knöchel blutleer schienen. Wieder hörte er ein Grollen. Diesmal klang es weniger kläglich. Es hatte Inbrunst und zeugte von Gewalt. In seiner Furcht betätigte Michael die Hupe. Er mußte die Leute auf sich aufmerksam machen. Auf sich und das Untier, das sich bei ihm im Wagen befand. Doch es war schon zu spät. Die Bestie warf sich plötzlich auf ihn. Er spürte ihren heißen Atem in seinem Nacken und hatte Mühe, die Herrschaft über den Wagen nicht zu verlieren. Endlich tat er, was er schon lange hätte tun sollen: er bremste. Zumindest versuchte er es. Aber selbst für diese einfache Aufgabe brachte er nicht mehr genügend Konzentration auf. Der Wagen begann auf der Straße von einer Fahrspur zur anderen zu pendeln. »Nicht!« schrie Michael. »Nein!« Doch die Bestie zeigte kein Erbarmen. Ihre krallenbewehrten Klauen zuckten hoch und umklammerten seinen Hals, ihr fiebernder Körper war fest an den seinen geschmiegt und schien die Schauer der Angst, die ihn durchfuhren, zu genießen. Ein Sammelsurium von Geräuschen war plötzlich um Michael Fleckenstein. Er vernahm das abrupte Bremsen fremder Fahrzeuge, den tönenden Mißklang zahlreicher Hupen – und die ekelhaften Laute, die aus dem Mund des Untiers kamen. 9
»So helft mir doch! Helft!« rief er den anonymen Gesichtern hinter den Windschutzscheiben zu. Als eine der Klauen ihre blutige Spur auf seinem Gesicht hinterließ, wurde sein Schrei der Angst zu einem des puren Schmerzes. Unwillkürlich ließ er das Steuerrad los und focht seinen Kampf mit der Ausgeburt der Finsternis. Das grausige Knurren des Wesens kam öfter und immer drohender. Michael Fleckenstein hatte sich zur Seite geneigt und hämmerte mit beiden Fäusten gegen den Schädel des Mannes, den er mitgenommen hatte. Sein Blut, das bereits aus mehreren Wunden floß, behinderte die Sicht und ließ ihn sich blind wehren. Den Fuß hatte er schon lange nicht nur vom Gaspedal, sondern auch von der Bremse genommen. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Der Ford hatte freien Lauf, der ihn quer über die zwei Fahrspuren führte und an einem Hang mündete, wo er sein Ende in einer Schneise fand. Das Hupen und die quietschenden Reifen hatten für Michael nur sekundäre Bedeutung. Für ihn galt einzig und allein der Zweikampf, der sich entsponnen hatte. Er war seine Welt und das letzte, dem er Aufmerksamkeit schenkte. Kein Hilfeschrei kam über seine Lippen, als er die Leitplanken durchbrach und im Irrsinnstempo den Hang hinunterfuhr. Lange war der klapprige Wagen dieser Beanspruchung nicht gewachsen. Nach wenigen Metern bereits stürzte er um. 10
Als er zur Ruhe kam, war die Stille, die sich über das Land gelegt hatte, nahezu lähmend. Kaum ein Laut war zu hören, das Geräusch der fahrenden Autos über ihnen drang nicht bis zu ihm hinab. Es grenzte an ein Wunder, daß der Ford, obwohl bis zur Unkenntlichkeit demoliert, kein Feuer gefangen hatte … Lange Zeit regte sich nichts, doch dann bewegte sich ein Körper im Fahrzeuginnern. Es waren vorsichtige, tastende Bewegungen, die davon zeugten, wie bedacht ihr Urheber darauf war, den Wagen ungeschoren zu verlassen. Eine furchtbar anzusehende Gestalt trat ins Freie. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Körper, ohne daß äußere Verletzungen festzustellen gewesen wären. Der Mann schüttelte vorsichtig den Kopf. Als er die Hände gegen die Schläfen pressen wollte, erkannte er die dunkelrote Flüssigkeit. Unverständig starrte er darauf. Es war – Blut! * Die bedrückende Atmosphäre, die die Gemüter der Familie Ziegler erfaßt hatte, bestand schon seit Tagen. Genauer gesagt seit jenem Augenblick, da sie telefonisch erfahren hatte, daß man ihr Oberhaupt entführt hatte. Dr. Ramon Ziegler war 47 Jahre alt. Als Richter hatte er sich schon immer für die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen interessiert. Dieser Beruf gab ihm endlich die Gelegenheit, sich in größerem Rahmen besonderer 11
Probleme anzunehmen. Entsprechend hatte das Familienleben nicht viel anders ausgesehen als das jeder anderen Durchschnittsfamilie. Von dem Beruf des Mannes hatte man selten etwas gespürt. Bis zu jenem unseligen Augenblick; an dem Ramon Ziegler vergeblich zu Hause erwartet wurde. Eine Suchmeldung wurde gestartet, die über alle Kanäle ging. Doch umsonst. Ramon Ziegler blieb unauffindbar. Drei Tage vergingen, dann bestätigte ein Telefonanruf, daß der Mann nicht völlig vom Erdboden verschwunden und auch noch am Leben war. Allerdings in der Hand von Entführern, die ihn als Faustpfand für das gute Leben eines ihrer gefangenen Genossen sehen wollten. Man drohte damit, ihn Stück für Stück umzubringen, bis jener Häftling auf freiem Fuß wäre. Augenblicklich wurde die Familie uneins. Während die Frau des Entführten den Anweisungen der Entführer Folge leisten und die Polizei aus dem Spiel lassen wollte, drang der Sohn darauf, sie zu benachrichtigen. »Wir wären ihnen wehrlos ausgeliefert! Sie könnten mit uns machen, was sie wollen!« war sein Hauptargument. Und er hatte recht. Nach einiger Zeit gelang es, seine Forderung durchzubringen. Zwar noch skeptisch aber nichtsdestotrotz mußte die Frau dem Drängen ihres Sohnes weichen. Nicht zuletzt, da er von einer jüngeren Schwester Unterstützung erhielt. Diesem Ansturm war Frau Ziegler nicht mehr gewachsen. Nicht in ihrem derzeitigen Zustand. Wieder ging die Kripo ihrer Aufgabe nach, registrierte das Vorgefallene und recherchierte. Viel kam nicht dabei 12
heraus, außer daß es sich bei dem geforderten Strafgefangenen um einen Häftling namens Peter Gottschalk handelte. Selbstverständlich wurden alle geeigneten Maßnahmen getroffen. Abhörgeräte wurden installiert und Vorbereitungen getroffen, ein Gespräch zu seinem Ursprungsort zurückzuverfolgen. Denn jede Stunde erwartete man den Anruf der Entführer, die zwar ihre Forderung gestellt hatten, aber noch keine näheren Angaben machten. In dieser Situation verharrte die Familie des Dr. Ziegler, als die bedrückende Stimmung mit einem Mal eine Auflösung erhielt. Es klingelte. »Ich gehe schon«, sagte Walter. Mit einer Hand hielt er seine Mutter zurück, die gerade im Begriff war, sich zu erheben. Walter ging langsam zur Tür und überlegte, wer sie zu dieser späten Stunde wohl noch besuchte. Die Polizei konnte es nicht sein, da sie gerade erst gegangen war. Jemand anders erwarteten sie aber nicht. Es war einsam geworden in den Tagen, in denen sie um das Wohl und Wehe Ramon Zieglers bangten. Die Freunde hatten sich schneller wieder verlaufen, als man in kühnsten Träumen angenommen hatte. Der Sohn des Hauses schloß die Tür auf. Seit dem Vorgefallenen hatte alle Zieglers eine unterschwellige Furcht erfaßt, die sie veranlaßte, die Wohnung immer verschlossen zu halten. Walter machte darin keine Ausnahme. 13
Neugierig öffnete er … und taumelte zurück, als er erkannte, wer vor ihm stand: »Vater!« Eine Weile starrte er überrascht auf Ramon Ziegler. Sein Blick glitt vom Gesicht auf die zerschlissene Kleidung, die mal ein forscher Anzug gewesen war. So verwildert der Mann auch war, der vor ihm stand; unzweifelhaft war es sein Vater. »Komm doch herein!« sagte Walter. Schweigend folgte Dr. Ziegler der Aufforderung seines Sohnes. Hinter ihm schloß Walter die Tür. »Vater«, sagte er wieder. Er trat einen Schritt auf seinen Erzeuger zu. Der Blick, der ihn aus den Augen des Richters traf, war kaum zu definieren. Er glomm hintergründig und gefährlich wie eine Fackel und zeigte doch Freude darüber, zu seiner Familie heimgekehrt zu sein. »Walter!« sagte nun Ramon Ziegler. »Es tut mir so leid …« Die Tatsache, daß er nicht recht verstand, was sein Vater damit ausdrücken wollte, bekümmerte ihn nicht. Was für ihn zählte, war, daß sein Vater mit heiler Haut vor ihm stand. Eilig brachte er die letzten Schritte bis zu ihm hinter sich, dann umarmte er ihn. Ramon erwiderte die Umarmung. Kräftig, wie es seine Art war, drückte er den Sohn an sich. »Ich bin wieder da«, sagte er. »Ich bin wieder da.« 14
Walter sah nicht mehr, wie sich die Augen des Richters mit Tränen füllten. * Langsam schob sich das Schott zur Seite. Während Holger zurückblieb, betrat Gunter den Raum, der sich dahinter offenbarte. Auf einer Plattform, die nur durch vier dünne Stege Verbindung mit dem Boden hielt, lag ein Körper. Den Schädel umfaßte eine eiserne Spinne, deren Ausläufer in Elektroden mündeten, die in der Kopfhaut des Körpers verankert waren. »Professor?« rief Gunter. Unwohl sah er sich um. Obwohl er dazu gezwungen war, mit seltsamen Menschen zusammenzuarbeiten, hatte er stets ein nagendes Gefühl in der Magengegend, wenn er ihm gegenüberstand. »Professor?« rief er wieder. Aus einer der uneinsichtigen Nischen des gewaltigen Labors schlurfte eine grotesk anzusehende Gestalt. Sie war nur wenig über einen Meter groß und so hager, daß man in jeder Ecke die Knochen erkannte. Gunter schüttelte sich. »Moment noch, Moment«, reagierte der Professor. Gunter ließ sich nicht täuschen. Er wußte genau, in was für ein Untier sich der Weißbekittelte verwandeln konnte, sobald man etwas tat, was ihm nicht paßte. »Was willst du?« 15
Gunter entschuldigte sich für die Störung. Während er sprach, näherte sich ihm langsam der Professor. Gunter bemerkte den widerlichen Geruch, der dem Mann entströmte. »Ich sah es als notwendig an, Ihnen sofort Bescheid zu geben«, beendete er seine Ausführungen. »Der Gefangene ist entflohen und hat dazu noch einen unserer Männer umgebracht. Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr!« »Nichtsnutz!« schimpfte der Professor. »Seid ihr nicht mal in der Lage, einen Mann im Gewahrsam zu halten? Wozu habe ich euch denn?« Gunter trat einen Schritt zurück. »Uns trifft wirklich keine Schuld«, beteuerte er. »Ziegler muß plötzlich Titanenkräfte entwickelt haben. Wie anders ist es zu erklären, daß er durch die Wand des Meilers gebrochen ist!« »Pah!« machte der Professor. Er drehte sich halb um und deutete auf die Gestalt, die hinter ihm auf der Plattform lag. »Hier liegt er. Halb fertig. Dr. Ziegler sollte das Werk vollenden helfen – und nun ist er entflohen? So bald wie möglich werdet ihr mir Ersatz verschaffen. Es geht nicht an, daß meine Arbeit verzögert wird. Ich stehe kurz vor ihrem Ende. Sie darf keine Verzögerung erfahren!« »Aber…« Gunter schluckte. »… Herr Professor, mein … mein Bruder. Was soll nun aus ihm werden?« »Ihr habt eure Chance gehabt«, sagte der Weißbekittelte. Seine Stimme neigte zum Keifen. Dennoch wirkte sie hart und streng. »Ich habe einen Kompromiß mit euch ge16
schlossen. Wenn ihr nicht in der Lage seid, euer Teil zu erfüllen, dann sehe ich nicht ein, warum ich den meinen doppelt erfüllen soll! Eure Aufgabe ist es nun, einen Ersatz für Dr. Ziegler zu schaffen. Oder fangt ihn meinetwegen wieder ein. Dann können wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben »Herr Professor«, wagte ihn Gunter zu unterbrechen. »Wenn wir ihn aber nun nicht mehr einfangen können! Mein Bruder wäre dann verloren!« Der Mann im Weißkittel zuckte mit den Achseln. Wieder deutete er auf die Gestalt, die reglos auf der Plattform lag. Sie füllte nur ihre eine Seite, die andere hätte noch Platz genug für einen weiteren Körper gehabt. »Ich benötige das Gegenstück zu meinem Medium!« fuhr der Professor fort. »Und zwar bald! Beschafft es mir, der Kontakt geht allem anderen vor!« Gunter schwieg. Als er dem Professor entgegensah, steckte in seinen Augen ein zwielichtiges Funkeln. Sein Entschluß stand fest. Er würde versuchen, Ziegler wiederzugewinnen. Aber gab es dafür eine reelle Chance? Vielleicht sollte man gleichzeitig für Ersatz sorgen? Der Professor wandte sich von ihm ab und schlurfte auf die Plattform zu. Nach einem kurzen Blick auf die Anzeigetafeln begann er zu hantieren. Gunter fühlte, daß er entlassen war. In ihm schwelte ein unterdrückter Zorn, als er sich seinerseits abwendete und den Raum verließ. Irgendwann würde seine Stunde schlagen… 17
* »Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich Ihrem Bericht mit Mißtrauen begegne, Herr Doktor. Leider ist dies unumgänglich. Es ist ja auch wirklich zu abenteuerlich, was Sie uns da berichten!« Kommissar Becker saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Sessel und sog an seiner Pfeife. Er hatte aus Überzeugung gesprochen. Gleich nachdem der Richter auf so unglaubliche Art wieder erschienen war, hatte ihn die Familie des Entführten benachrichtigt. Er hatte sich ausgebeten, jede Neuigkeit schnellstens mitgeteilt zu bekommen. Und die Neuigkeiten, die er nun erfuhr, waren wohl in ihrer Art unschlagbar. »Sie müssen mir aber glauben«, sagte Dr. Ziegler. Obwohl seine Stimme eindringlich klang, fehlte es ihr an Überzeugungskraft. Becker hatte ständig das Gefühl, nur die halbe Wahrheit aufgetischt zu bekommen. »Herr Doktor …« Der Richter ließ den Kommissar nicht aussprechen. »Ich weiß«, fuhr er in seinen Erläuterungen fort, »daß es unglaublich klingt – aber kann es deshalb nicht doch wahr sein? Man hielt mich gefangen. In einem sonderbaren, kuppelförmigen Raum. Nur selten erhielt ich etwas zu essen und da stets das gleiche diffuse Hell herrschte, verlernte ich es bald, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Zumal mir jede Möglichkeit genommen 18
war, mich zeitlich zu orientieren. Mir wurde von Mal zu Mal heißer in diesem absonderlichen Gefängnis – und ab da setzt mein Gedächtnis aus. Ich … ich finde mich plötzlich vor meiner Wohnungstür wieder. Und … Walter, mein Sohn, öffnet sie mir. Mehr weiß ich nicht!« Wieder sog Kommissar Becker an seiner Pfeife. Eine Rauchwolke löste sich und schwebte empor. Unter dem Licht der Zimmerbeleuchtung war sie deutlich zu erkennen. Dasselbe Licht zauberte Schatteneffekte auf den dunklen Teint des Kommissars. Er war ein Erbstück seiner Mutter, einer Halbblut-Negerin. Lange sah Becker Dr. Ziegler in die Augen. Er versuchte, eine Lüge in ihnen zu entdecken, aber er suchte vergeblich. Seufzend stützte er sich an den Lehnen des Sessels und erhob sich. »Ich sehe, so kommen wir nicht weiter«, sagte er. »Es scheint nur eine Möglichkeit zu geben: zu warten. Momentan können Sie uns keine Auskunft über die Entführer oder die Entführung selbst geben, auch nicht über den Hergang ihrer Flucht. Wir müssen darauf hoffen, daß Ihnen später noch wesentliche Fakten einfallen, an die sie sich jetzt noch nicht entsinnen können.« Er wandte sich an Anke Ziegler. »Geben Sie gut auf Ihren Mann acht, Frau Doktor. Und melden Sie mir, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.« Er nickte den versammelten Menschen zu und verließ den Raum. Die Familie hörte noch, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde; dann war Schweigen. »Tja«, brach Ramon Ziegler in die lastende Stille. Er 19
legte den Arm um die Schultern seiner Frau und drückte sie an sich. »Seien wir froh, daß wir den Schrecken hinter uns haben. Ihr und ich!« Anke Ziegler lächelte. »Ja«, sagte sie erleichtert. »Das sollten wir wirklich sein.« Ziegler nickte. Er war derselben Meinung. Und doch: Tief in seinem Innern regte sich etwas … etwas abgrundtief Verwerfliches! * Grübelnd verließ Kommissar Becker die EinfamilienVilla. Sicheren Schrittes ging er durch den gepflegten Vorgarten und ließ die Zauntür hinter sich. Den Dienstwagen hatte er nur wenige Meter entfernt geparkt. Er stand unter dem Schatten eines weit ausladenden Ahorns, der ihn vor der sengenden Glut der mittäglichen Sonne schützte. Kaum hatte Becker ihn erreicht, zerrte er sich das Jackett vom Oberkörper und warf es auf den Rücksitz. Im Hemd hockte er schräg auf dem Fahrersitz und griff zum Funkgerät. »Astor Zentrale von Astor 22/240 kommen!« Er ließ den Funkhörer los und lauschte dem Rauschen, das aus dem Verstärker klang. »Hier Astor Zentrale«, kam nach einiger Zeit die Antwort. Kommissar Becker nahm den Hörer wieder auf und 20
drückte die Sprechtaste. Sein Blick haftete am Haus der Richterfamilie. »Wir benötigen Verstärkung«, sagte er. »Schicken Sie mir ein Beobachtungsteam, das seine Aufgabe zu meistern versteht. Ich möchte die Familie nicht unbeobachtet lassen. Ein vager Instinkt sagt mir, daß da etwas im Argen liegt. Wir halten die Stellung, bis das angeforderte Team eintrifft. Kommen!« »Verstanden«, hörte er die Antwort der Zentrale. Sie lag in Eschborn, und so würde es eine Weile dauern, bis die angeforderten Leute bei ihm eintrafen. Die Eschborner Station war zu klein, um diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Man hatte Verstärkung aus Frankfurt anzufordern. Nachdenklich hielt Kommissar Becker den Funkhörer noch eine Zeit in der Hand. Dann rastete er ihn wieder ein und machte es sich im Sitz des Wagens bequem. Eine Stunde etwa saß er bewegungslos im Auto und beobachtete die Villa der Zieglers. In der ganzen Zeit, in der seine Wachsamkeit nicht eine Minute nachließ, geschah nichts. Mehrere Male war er nahe daran einzuschlafen. Die Hitze, der er ausgesetzt war, ließ ihn schnell ermüden. Aber sein Verantwortungsbewußtsein hielt ihn wach. So verging die Stunde. Gerade zwei Minuten der folgenden waren verstrichen, als ein unauffälliger Wagen in den Alten Rückinger Weg einbog. Es war ein hellgrüner Ford Capri mit schwarzem Dach. Dicht hinter Beckers Wagen kam er im Schatten zum Stehen. 21
Eine Tür öffnete sich. Heraus trat ein Mann in geblümtem Sommerhemd. Er hatte auf eine dunkle Sonnenbrille verzichtet und stattdessen ein Hörgerät an seinem linken Ohr befestigt. Becker wußte, daß es nur eines zu sein vorgab. In Wirklichkeit handelte es sich um ein hochempfindliches Sprechgerät, das es dem Polizisten erlaubte, Kontakt mit dem Mann zu halten, der im Wagen blieb und in diesem Moment die Zeitung aufschlug, Kommissar Becker verließ seinen Dienstwagen und ging dem Polizisten entgegen. »Guten Tag«, sagte er leise, vermied es aber, seinem Gegenüber die Hand zu reichen. Man konnte nie wissen, ob sie nicht zufällig beobachtet wurden. Sein Kollege nickte. »War etwas Besonderes?« fragte er. Becker verneinte. »Es hat sich nichts gerührt. Vielleicht wird sich auch nichts rühren. Aber ich schlafe besser, wenn ich weiß, daß wir den Mann unter Kontrolle haben. Etwas an seiner Geschichte stimmt nicht. Wer verliert schon von einem Augenblick zum anderen Teile seines Gedächtnisses? Da steckt mehr dahinter.« Der Mann im Bunthemd zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »es geht mich auch nichts an. Meine Aufgabe ist es, jede Stunde eine Meldung an die Zentrale abzugeben. Die Auswertung bleibt Ihnen überlassen.« Kommissar Becker sah seinem Kollegen ins Gesicht. Deutlich erkannte er die Geringschätzung, die dieser ihm entgegenbrachte. Er kannte diese Gefühle, und langsam 22
machten sie ihm kaum mehr etwas aus. Er war ein Mischblut – das war der Hintergrund ihrer Worte. Trotz seiner Teilnahmslosigkeit verstand er diese Menschen nicht. »Gut«, sagte er. »Sie wissen Bescheid.« Er drehte sich um und ging zurück zu einem Wagen. Geschmeidig ließ er ich in den Sitz gleiten und schloß die Tür. Als er anfuhr, sah der Polizist ihm nach. Dann fiel sein Blick auf das Haus der Familie Ziegler. Es war alles ruhig. Er lehnte sich an den Stamm des Ahorns und schloß die Augen zu schmalen Schlitzen. Das Warten begann … * Ramon Ziegler spürte die eigenartige Verwandlung. Gerade war er noch – soweit es das Erlebte zuließ – ausgeglichen gewesen, und nun wurden seine Reaktionen hektischer und aggressiver. Eine unbegründete Wut ballte sich tief in seinem Innern und suchte nach einem Ventil. »Möchtest du noch etwas essen?« fragte seine Frau. Ziegler antwortete nicht. Er hatte den Kopf gesenkt und die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt. Die Handflächen waren gegen die Schläfen gepreßt, in denen rhythmisches Pulsieren von Sekunde zu Sekunde anschwoll. »Ramon?« Anke Ziegler versuchte die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu erreichen. Als er auch nach der zweiten Aufforderung keine Antwort gab, sah sie von der Salatschüssel auf… und erschrak. 23
»Ramon, was hast du?« Aufgeregt lief sie um den Eßtisch herum und gesellte sich zu ihrem Mann. Fürsorgend legte sie eine Hand auf seine Schulter. Ihr Griff war fest. »Ich … ich weiß nicht«, antwortete Ramon. Schwerfällig hob er den Kopf. Anke Ziegler zuckte zurück. Das Angesicht ihres Mannes hatte sich furchtbar verändert. Dicke Ränder waren um seine Augen, die so blutrot waren, daß sie befürchtete, es könne jeden Augenblick durch die Haut sickern. Die Wangen waren eingefallen, das ganze Gesicht machte einen fahlen Eindruck. Die Nasenflügel bebten. »Anke …«, ächzte er. »Was … was ist nur … mit mir?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Doch es wird wieder vergehen. Du wirst dich gleich wieder besser fühlen.« Sie wußte nicht, wie sie dazu kam, diese Worte auszusprechen. Sie glaubte selbst nicht an das, was sie sagte. Aber etwas in ihr hatte sie gedrängt, ihren Mann zu trösten. Gerade so, als stände ihm noch Furchtbares bevor? Der Körper unter ihrer Hand bäumte sich kurz auf. Anke schrie leise auf. Ihre Hand zuckte von der Schulter ihres Mannes, als habe sie heißes Eisen berührt. Kaum daß ihr das zu Bewußtsein gekommen war, trat sie wieder auf ihn zu. »Ramon«, flüsterte sie. Es war nur ein einziges Wort, aber es hatte nichts Tröstendes mehr an sich. Der Leib des Richters zitterte. Sein Schädel ruckte hin und her, blieb aber fest von den Händen umspannt. Wie ein 24
schützender Kokon lagen sie um ihm. »Ich … ich werde den Kommissar rufen«, stotterte Anke. »Es wird … besser sein.« Langsam wich sie vor ihrem Mann zurück. Sie ging rückwärts und hatte den Blick unverwandt auf die Gestalt gerichtet, die dort am Eßtisch saß. Ein Gefühl sagte ihr, daß es nicht mehr ihr Mann war. Es war etwas anderes, etwas … In diesem Moment kam Ruhe in den bebenden Körper Dr. Ramon Zieglers. Sekunden starrte er stumm vor sich hin, dann nahm er die Hände vom Kopf. In einer Gleitbewegung wandte er sich um. Anke Ziegler schrie auf. Sie hielt die Fäuste fest gegen den Mund gepreßt. Nun war es ihr Leib, der zitterte, und zwar so stark, wie er noch nie in ihrem Leben gezittert hatte. Die Angst war übermächtig. Wieder schrie sie. Ihr Blick fraß sich an der Gestalt fest, die vor ihr stand. Ziegler hatte eine gebeugte Haltung angenommen. Sein Haupthaar war lang und strähnig geworden, der Bartwuchs zeigte überdimensionale Ausmaße. Die eingefallenen Wangen waren nicht mehr zu erkennen. An ihrer Statt überzog sein Gesicht ein pelziger Bewuchs, der sich auch auf seinen Händen zeigte. Lange Krallen hatten die Plätze seiner Fingernägel angenommen. Die Schneidezähne hielten sich nicht mehr hinter den Lippen. Speichel troff von seiner linken Mundecke. »Raaamoon!« kreischte Anke. 25
Das Wesen vor ihr stieß ein wildes Grollen aus. Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit näherte es sich. Der Instinkt ließ es von der Seite her auf die Frau zutänzeln. Dann erfolgte der Sprung. Noch im Flug stieß es ein siegessicheres Heulen aus. Mit allen vieren landete es auf Anke Ziegler und warf die wehrlose Frau rücklings zu Boden. »Nein!« schrie sie. »Du … du Ungeheuer! « Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. »Wal… Waaalteeer!« Das Monstrum störte sich nicht an den verzweifelten Hilfeschreien der Gattin seines menschlichen Ichs. Gierig funkelten seine Augen, als er den bloßen Hals seines Opfers erkannte. Ein vampirhafter Trieb veranlaßte ihn dazu, ihm seinen Mund zu nähern … In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Der Kopf der Bestie ruckte hoch. Fassungslos stand Walter Ziegler im Rahmen der Tür und mühte sich ab, das Geschehen, das sich ihm offenbarte, in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. »Was … was ist denn das?« entfuhr es ihm. Der Anblick des nur entfernt menschenähnlichen Geschöpfes auf dem Leib seiner Mutter ließ ihn sämtliche Überlegungen zur Seite schieben. Zornig warf er sich auf das Untier. Das Schreckenswesen erwartete den Angriff völlig ruhig. Etwas in ihm sagte ihm, über welche Kräfte es verfügte. Und diese Kräfte nährten die Sicherheit in ihm, 26
daß kein Mensch ihm gewachsen sei. Noch auf dem Körper der Frau prallte Walter Ziegler gegen das Untier. Es wiederholte sich nicht das, was mit Anke Ziegler geschehen war, er wurde nicht umgeworfen. Statt dessen spannte das Ungeheuer seine Muskeln und begegnete seinem Sohn mit einem harten Schlag in die Magengrube. Wie ein Taschenmesser klappte Walter in sich zusammen. Der Schmerz, der in seinen Eingeweiden wühlte, war groß. Nur eines ließ ihn nicht nachgeben: das Wissen um seine Mutter, die dann verloren sein würde. Die Bestie hatte sich wieder der Frau zugewandt. Seine tückischen Augen offenbarten mörderische Absichten. Anke Ziegler hatte das Bewußtsein verloren. Die Erkenntnis um das Unausweichliche hatte sich so sehr in ihr Denken eingenistet, daß ein Kurzschluß-Effekt aufgetreten war. Eine ungesunde Blässe überzog ihr Gesicht. Zu einer Zeit, da das Monstrum nicht mehr im entferntesten mit Schwierigkeiten rechnete, raffte sich Walter Ziegler auf. Vergessen war der Schmerz, vergessen der Schrecken. Von hinten näherte er sich dem Untier. Das Wesen sog laut die Luft in sich ein … und Walter schlug zu mit der Kraft seiner Muskeln. »Aah!« kam es über die Lippen des Unwesens. Benommen erhob es sich und taumelte zur Seite. »Mutter!« schrie Walter und warf sich auf den Leib der Wehrlosen. Ein Blick traf das neben ihm stehende Geschöpf. 27
Kurz versicherte sich Walter Ziegler der körperlichen Gesundheit der Frau, dann erhob er sich. »Das wirst du büßen, du! Das läßt dir niemand durchgehen!« In den wenigen Minuten des Kampfes hatten sich abwehrende Gefühle in Walter gestaut, wie er sie noch nie in seinem Leben kennenlernte. Doch sein Gegner stand ihm in nichts nach. Seine sich wieder krümmende Gestalt und das dumpfe Grollen waren der beste Beweis hierfür. Neben ihm schlug Anke Ziegler wieder die Augen auf. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie erkannte, daß dieses scheinbare Trugbild ihres ausgemergelten Geistes noch immer kein Ende gefunden hatte. »Geh!« rief ihr Sohn. »Geh weg von hier!« Die Frau achtete nicht auf den harten Klang in Walters Stimme. Sie war viel zu aufgeregt, um sich daran stoßen zu können. Anke wandte ihren Blick von dem Monster und sah kurz zu ihrem Sohn hinüber. Er begegnete ihren Augen nicht, sondern starrte unentwegt auf seinen Widersacher. Sie raffte sich auf. Unter dem Eindruck des Schreckens taumelte sie zur Tür des Eßzimmers. »Walter!« sagte sie. »Was ist mit dir? Du kannst doch nicht Ihr Sohn antwortete nicht. Mit einem Mal verstand sie, daß er ihr die Chance gab, sich zu retten. Er würde kämpfen. Darum, daß sie Freiheit und Leben behielt – und die Möglichkeit bekam, ihrerseits Hilfe zu holen. Während sie laut um Hilfe rufend die benachbarten 28
Räume durcheilte, entschied sich im Eßraum Walter Zieglers Schicksal. * Georg Sommer horchte auf. Seine Augen, die für einen winzigen Augenblick auf einem herabtrudelnden Ahornblatt geruht hatten, wanderten wieder zu dem Haus der Richterfamilie. Hatte er von dort nicht ein Geräusch vernommen? Sommers Ohr war geschult darauf, Laute genau zu unterscheiden. Als Beobachtungsspezialist hatte man dieses Talent von Haus aus mitzubringen. In speziellen Kursen wurde es noch gesteigert. Kein Zweifel: etwas tat sich dort etwas, das sich eigentlich nicht ereignen durfte! »Sebastian«, murmelte er, während er die- Sonnenbrille abnahm. »Hörst du mich?«. Das kleine Gegensprechgerät in seinem Ohr, getarnt als mittelgroße Hörhilfe, nahm die Schallwellen auf und verwandelte sie in elektrische Impulse. Als unsichtbare Strahlung wanderten sie zu dem sich im Wagen befindlichen Empfänger und wurden dort dekodiert. Anschließend erreichten sie als akustische Frequenzstöße das Ohr des Kollegen. »Ich höre«, antwortete Lauer. »Ich habe verdächtige Geräusche gehört, Sebastian. Ich denke, daß ich mal nach dem Rechten sehe. Am besten, du …« 29
Abrupt unterbrach sich Sommer, als er laute Hilferufe aus Zieglers Haus vernahm. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und die Frau des Hauses rannte heraus. Sie war völlig aufgelöst. Sommer ließ Zeitung und Sonnenbrille fallen und spurtete Anke Ziegler entgegen. »Was ist geschehen?« fragte er, kaum daß er sie erreicht hatte. Weiter kam er nicht, denn schon ließ sich die Frau in seine Arme fallen. »Es ist furchtbar!« stammelte sie. »Einfach grauenhaft – ein Monster!« »Kommen Sie doch zu sich!« forderte Georg Sommer. Die Frau noch im Arm, winkte er seinem Kollegen im Ford. Augenblicklich öffnete dieser die Wagentür. Eine Sekunde später stand Lauer neben ihnen. »Du wartest hier und kümmerst dich um die Frau. Hast du bereits alles durchgegeben?« Sebastian Lauer nickte. »Gut. Dann halte inzwischen die Stellung, ich werde mich derweil in die Höhle des Löwen begeben und schauen, was sich überhaupt zugetragen hat.« Georg Sommer reichte Anke Ziegler an seinen Kollegen weiter. In seinen Armen war die Frau ohnmächtig geworden. Lauer zog seine Jacke aus und breitete sie auf dem mit Steinplatten belegten Pfad zum Haus aus. Vorsichtig bettete er die Ohnmächtige darauf. Dann sah er Georg Sommer nach. Der Spezialist hatte inzwischen die Haustür erreicht. 30
Er nahm einen kurzen Anlauf und warf sich mit aller Kraft dagegen. Eine eigentlich positive Überraschung wurde bei ihm zur negativen Erfahrung, als er feststellen mußte, daß die Tür nur angelehnt war. Sie gab Sommers Ansturm willig nach. Mit einem Fluch auf den Lippen erhob der Mann sich wieder, klopfte die Ärmel seiner Jacke ab und drang tiefer in das Haus ein. Die restlichen, weit aufgerissenen Türen, die Anke Ziegler während ihrer Flucht hinter sich gelassen hatte, waren eine wertvolle Hilfe. Ohne daß er viel denken mußte, wiesen sie ihm den direkten Weg zum Ort des grausigen Geschehens. Kaum daß er vor der letzten offenen Tür stand, traf ihn das, was er vor sich sah, wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte selbst nicht gewußt, was er zu sehen erwartet hatte. Vielleicht einen tobsüchtigen Ehemann oder einen Einbrecher. Möglicherweise auch einen Dieb, der auf frischer Tat erwischt worden war und sich gewehrt hatte. Nicht im Traum aber hatte er geglaubt, daß das, was Anke Ziegler unter Einwirkung des Schockes von sich gegeben hatte, wirklich zutraf. Ein Monster! Es dauerte eine Weile, bis Georg Sommer in der Lage war, das ganze Schreckensbild in sich aufzunehmen, das sich ihm bot. Denn das Monster war nicht allein in diesem Raum. Bei ihm war noch jemand, ein Mann – oder besser… Die blutigen Überreste eines Mannes! 31
Sommer spürte, wie Übelkeit in ihm hochstieg. Er hatte selten einen so abscheulichen Anblick genossen. Es war nicht der erste Tote, den er sah, aber keiner war annähernd so zugerichtet gewesen … Mit leichenblassem Gesicht sah Georg Sommer auf das Untier. Instinktiv tastete er nach seiner 38er. Gerade hatte er die Pistole angesetzt, als das Monster aufsah. Ein Blick traf ihn, der ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Etwas ließ ihn zögern. Der Finger um den Abzug der Pistole krümmte sich nicht. Diese Augen! Diese funkelnden Augen, in denen ein geheimnisvolles Glimmen war! Er senkte den Blick und drückte ab. Ein Schuß löste sich. Der Rückstoß wirbelte seine Hand in die Höhe. Unwillkürlich sah er wieder auf. Wie in Zeitlupe erkannte er das Zurasen der Pistolenkugel auf das Ungeheuer, das sich keinen Millimeter bewegte. Er erkannte den Aufprall und das Eindringen des Geschosses in die linke Brustseite. Doch auf eine Reaktion wartete er vergebens. Die Bestie schien zu zögern. Während in Georg Sommer eine dämonenalte Furcht vor dem Überirdischen aufstieg und mit seinem Pflichtbewußtsein um den Sieg kämpfte, stieg das Monstrum von der Leiche des jungen Mannes herunter. Das dumpfe Grollen, das es dabei ausstieß, war nicht mehr so lüstern wie zuvor. Endlich siegte in Sommer das Pflichtbewußtsein. Ein weiteres Mal hob er die Rechte und gab einen Schuß ab. Wieder zeigte sich keine Reaktion. 32
Fassungslos erkannte er, wie die Kugel im Leib des Schreckensgeschöpfes verschwand. Das ist nicht irdisch, durchzuckte es ihn. Nicht so etwas! Langsam, aber nichtsdestoweniger geschmeidig wie eine Raubkatze wandte sich die Bestie um. Ich muß ihr folgen, verlangte es in Georg Sommer. Es ist meine Pflicht, ihr zu folgen – meine Pflicht! Doch er konnte es nicht, wie gelähmt verharrte er auf der Stelle. Die Angst hatte ihn im Bann. Die nackte Angst um seine Existenz. Er sah, wie sich Walter Zieglers Mörder von ihm wegbewegte und erkannte, daß er sich dem geöffneten Fenster näherte und es zu durchsteigen begann. Auf demselben Weg, auf dem er scheinbar in das Zimmer gelangt war, verließ er es wieder. Und Georg Sommer konnte nichts tun. Ein verborgener Kampf spielte sich in dem Polizisten ab. Das Wissen um seinen Status drängte ihn danach, den Mörder dingfest zu machen, eine tief verwurzelte Angst jedoch sträubte sich dagegen. Sommer sank auf die Knie. Er war zwischen zwei Fronten und wußte nicht mehr, welche die seine war. Mit feuchten Augen sah er dem grausigen Untier nach, das in diesem Augenblick durch das Fenster schlüpfte. Gleich darauf war es verschwunden. Regungslos blieb Georg Sommer hocken. * 33
»Was?« Kommissar Becker kurbelte am Lenkrad seines Dienstwagens. Kurzerhand führte er seinen Wagen auf den Fußgängerweg und stieß in die Straße zurück. Mit Vollgas preschte er die Straße, die er eben entlanggefahren war, wieder zurück. Dann erst griff er nach dem Funkhörer, den er achtlos auf den Beifahrersitz geworfen hatte. »Astor Zentrale von Astor 22/240 kommen.« Die Reifen quietschten, als das Polizeifahrzeug in die Kurve ging. Links und rechts von ihm sprangen die Passanten auf dem Bürgersteig instinktiv zurück. Einige von ihnen zeigten einen Vogel, andere empörten sich über ihn mit geballter Faust. »Hier Astor Zentrale. Kommen!« »Habe verstanden. Befinde mich auf der Fahrt in den Alten Rückinger Weg. Sollte Verstärkung erforderlich sein, melde ich mich. Kommen!« Die Zentrale in Eschborn meldete · Verstanden.« »Hier Astor 22/240. Ende!« Ohne sich lange mit den Mühen des Einrastens aufzuhalten, warf Kommissar Becker den Hörer wieder auf den Beifahrersitz. Automatisch fast erhöhte er die Geschwindigkeit seines Dienstwagens. Er befand sich kurz vor seinem Ziel, als aus einer Nebenstraße ein Traktor ratterte. Augenblicklich begann der Kommissar zu hupen. 34
In stoischem Gleichmut bewegte sich der Fahrer des Traktors weiter auf der Straße voran. Er schien das Gehupe seines Hintermannes gar nicht wahrzunehmen. »Verdammte Pfeife!« fauchte Becker. »Ein Königreich für ein Alphorn!« Mit schier überschäumender Freude vermerkte er, daß der Traktor nach etwa hundert Metern in einen Bauhof einfuhr. Der Kommissar gab sich nicht lange seinem Zorn hin, sondern gab Gas. Noch zwei Querstraßen, und er würde das Haus der Richterfamilie erreicht haben. Manchmal wäre das, was seine amerikanischen Kollegen im Auto beherbergten, doch nicht vom Übel, dachte er. So ein Blinklicht zum Aufsetzen a la Kojak hätte hier zum Beispiel Wunder leisten können. Abermals mußte Becker hupen. Er fuhr mit solcher Geschwindigkeit, daß er stets mit einem anderen Wagen zusammenzuprallen drohte. Doch bald verringerte er sie. Er griff zum Funkhörer. »Astor 22/240 außerhalb!« Vor sich erkannte er den Zieglerschen Flachbau. Davor standen ein Mann und eine Frau. Soweit er erkennen konnte, handelte es sich bei der Frau um Anke Ziegler. Der Mann mußte wohl einer der Beobachter sein. Becker bremste hart ab. Der Wagen schwang noch, als er die Tür aufriß. Er stürmte hinaus und näherte sich den beiden mit Riesenschritten. Keuchend blieb er vor ihnen stehen. »Herr Kommissar! Gut, daß Sie da sind!« 35
Der Spezialist wandte sich von der Frau ab und stellte sich vor ihm auf. Unstet irrte sein Blick hin und her. Der Mann kam dem Kommissar bekannt vor. Wie war doch gleich sein Name? Lauer? »Was ist passiert?« fragte Becker. »Ich befand mich gerade auf der Heimfahrt, als ich über Funk erfuhr, daß sich hier etwas Besonderes ereignet haben soll. Was, das konnte man mir allerdings nicht sagen.« Lauer nickte heftig. »Das hat es allerdings. Diese Frau hier«, er schob sein Kinn in Richtung Anke Zieglers, »kam schreiend aus dem Haus gerannt. Mein Kollege hat sich gleich in die Villa begeben. Während ich hier die Frau betreute und den Einsatz abwarten sollte, wollte er der Sache auf den Grund gehen.« »Und?« fragte Becker. Lauer zuckte die Achseln. »Er hat sich bislang nicht mehr sehen lassen.« Kommissar Becker starrte ihn wild an. »Wann ist er im Haus verschwunden?« »Vor …« Der Spezialist sah auf seine Uhr. »Vor genau sechs Minuten.« »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« schrie Becker. Einen völlig konsternierten Polizeibeamten hinter sich lassend, stürzte er an Lauer vorbei auf das Zieglersche Anwesen zu. Die Tür war offen. Beckers Hand tastete nach der Waffe, die verborgen unter dem Jackett in einer gut gepolsterten Halfter ihrer 36
Benutzung harrte. Sich aufmerksam umsehend, zog er sie langsam aus dem Futteral. »Sommer?« rief er leise. Vorsichtig übertrat er die Schwelle. Jederzeit rechnete er mit einem Angriff, doch keiner fand statt. »Sommer?« rief er wieder. Zögernd begab er sich tiefer in das Haus. Es war von Vorteil, daß fast alle Türen offen standen. Becker vermutete, daß entweder Anke Ziegler sie bei ihrer Flucht aus dem Haus gedankenlos aufgerissen hatte, oder aber der Beobachtungsspezialist Sommer sie öffnete. Gleichgültig, aus welchem Grund sie offen standen, ihm ermöglichten sie ein leiseres und somit sicheres Suchen. In jeden Raum sah er zweimal. Ohne die Sicherung in seinem Rücken zu vergessen, beugte er sich in sie hinein und sezierte sie mit Blicken. Doch in keinem von ihnen fand sich eine Spur weder eines der Hausbewohner noch Georg Sommers. Erst als er nahezu alle Räume durchkämmt hatte, kam er in den Eßraum. Gerade wollte er auch ihn zu durchsuchen anfangen, als er die zusammengesunkene Gestalt des Beobachtungsspezialisten erkannte. »Sommer!« rief er. »Warum haben Sie »ich nicht gemeldet? « Mit einem Blick erkannte der Kommissar, daß Georg Sommer völlig unversehrt war. Er hatte keine Schramme abbekommen, obwohl sich in diesem Haus doch Schreckliches zugetragen haben sollte. »Sommer!« 37
Beckers Stimme klang hart. So anständig er zu seinen Untergebenen war, verlangte er von ihnen doch absolutes Pflichtbewußtsein. Georg schien dem nicht nachgekommen zu sein. Davon jedenfalls … Was war eigentlich los mit ihm? Er ließ die Waffe sinken und trat vor die hockende Gestalt des Beobachters. »Was haben Sie, Sommer?« fragte er leise. Becker ging in die Hocke. Sicherheitshalber behielt er die Pistole noch in der Rechten, als er seine Linke Sommers Gesicht näherte. Kurz bevor sie es erreichte, schob es sich in die Höhe. »Sommer«, flüsterte Becker. Der Polizeibeamte sah dem Kommissar aus rotumränderten Augen entgegen. Ein seltsamer Ausdruck lag in ihnen. Ein Ausdruck inneren Gespaltenseins. »Ich habe versagt!« lallte Sommer. »Versagt!« Becker sah seinem Untergebenen aufmerksam ins Gesicht. »Was reden Sie da?« »Versagt«, fuhr Georg Sommer fort. »Völlig … versagt.« In hilfloser Gebärde winkelte er die Arme ab und ließ sie wieder gegen den Körper schlagen. »Stehen Sie auf!« forderte Kommissar Becker. Sommer sah ihn verwirrt an. Erst nach vielen Sekunden erkannte er, daß Becker tatsächlich ihn angesprochen hatte. Taumelnd kam er auf die Beine. »Was ist hier geschehen?« fragte Becker. 38
Er verzichtete darauf, seine Stimme energisch klingen zu lassen. Irgendetwas Grauenhaftes mußte hier passiert sein. So grauenhaft, daß es das Fassungsvermögen des SpezialBeamten gesprengt hatte. »Ein … Mord«, raunte Sommer. Die Worte des Mannes klangen bereits wieder klarer. Becker vermutete, daß er auf dem besten Weg dazu war, sich wieder zu fangen. Er hoffte es. »Wer ist ermordet worden?« fragte er. »Und wo liegt die Leiche?« Georg Sommer sagte kein Wort. Noch wahrend er sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr, deutete er mit der anderen schräg hinter den Kommissar. Becker wandte sich um. Hinter einem Tisch lagen die sterblichen Überreste eines Menschen … Es traf ihn wie ein Schlag. »Wer konnte solches tun?« stammelte er. Er drehte den Kopf. »Wer?« fragte er Sommer. Der Spezialist antwortete nicht. Becker löste sich von ihm und trat zögernd näher an die Leiche heran. So nahe, bis sich ein Würgen in ihm einstellte. Er unterdrückte es. »Ein Wesen, das so etwas tut, kann kein Mensch sein«, flüsterte der Kommissar. »So etwas bringt ein Mensch einfach nicht fertig. Aber was war es dann?« »Ein Wolfsmensch!« sagte Georg Sommer.
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* Gebückt schlich die Bestie durch die Straßen von Schwalbach. Das Wesen, das mal ein Mensch in Amt und Würden gewesen war, gab sich keine Mühe, sich zu verbergen. Zwar bevorzugte es dunkle Ecken und andere schattige Stellen, sein Schritt aber war ohne Stocken. Im Nachhinein überdacht, mutete es wie ein Wunder an, daß es keiner lebenden Seele begegnete. Obgleich der Abend erst nahte. Tatsächlich war dies aber der Fall. Nur aus der Ferne erklang das gelegentliche Aufjaulen eines abendlichen Motorradfahrers. Das einzige Geschöpf, das ihm begegnete, war eine Katze. Doch kaum daß sie die sich nähernde Gestalt erkannte, fauchte sie auf und floh von dannen. Dabei zeigte der Wolfsmensch gar keine Gelüste mehr, einem Menschen oder einem anderen Tier den Garaus zu machen. Das Opfer, das er in seiner Wohnung geschlagen hatte, hatte all sein bestialisches Trachten erfahren müssen. Ein sonderbares Gefühl begann sich statt dessen in ihm auszubreiten. Der Zorn und alle Brutalität waren von ihm gewichen. Wie die Ebbe der Flut folgte, so waren diese Empfindungen wieder im Kern seiner selbst aufgegangen. Nur… Er verharrte. Das Werwesen sah zu Boden. Zögernd, wie im Widerstreit seiner Muskeln, hob es die Tatzen an den Kopf. 40
In ihm rumorte es. Schutz suchen, signalisierte der Instinkt. Aber es fehlte ihm an Kraft, der Vernunft nachzugeben. Etwas versteifte sich in ihm. Was ist geschehen? Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Übergangslos stand er plötzlich in seinem Gehirn. Doch: Wie kam er dazu, solches zu fragen? Der Wolfsmensch hob die Arme und sah in das schwächer werdende Licht der untergehenden Sonne. Zur späten Tagesstunde gesellte sich der schmutzverhangene Himmel, der das Licht noch schwächer, noch diffuser wirken ließ. Motorisch begann er zu gehen. Die gebückte Haltung, in der er sich fortbewegte, sagte nichts über seine Absichten aus. Sie war anatomisch begründet. Zwei Schritte hatte er erst hinter sich gebracht, als er plötzlich aufstöhnte. Noch mit dem Laut hielt: er im Gehen inne. Geradeso, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Wild knurrte er. Etwas zwang ihn, in die Knie zu gehen. Sein Körper schien in Schmerz gebadet zu sein. Von allen Seiten brandete es auf ihn ein. Instinktiv krümmte er sich zusammen. Was geschah mit ihm? Vor seinem geistigen Auge lief das Vergangene ab wie ein Film. Er sah sich am Eßtisch sitzen, erlebte seine Verwandlung mit und den Angriff, dem die Frau seiner originären Persönlichkeit fast zum Opfer gefallen wäre. 41
Zum zweiten Mal erfaßte er den wilden Kampf und die Rettung der Frau, an deren Stelle Walter Ziegler sein Leben lassen mußte. Ein weiteres Mal sah er in das Angesicht jenes Mannes, der ihn zu erschießen versuchte. Wieder floh er. Ein Funke Verstand in ihm sagte, daß alles großer Wahnsinn sei. daß das, was vorgefallen war, gar nicht vorgefallen sein dürfte. Aber über den bloßen Funken kam er nicht hinaus. Der spitze Schrei eines Mädchens zu seiner Linken lenkte ihn ab. Qualvoll langsam wandte er den Kopf. Eine Fünfzehnjährige blickte ihm schockiert entgegen. Ihr Gesicht war aschfahl. Eine Hand hielt sie in Höhe des schmallippigen Mundes, ohne sie jedoch dagegen zu pressen. Sie wirkte wie versteinert. Erschöpft schlug die Tatze durch die Luft. Erst danach wurde ihm bewußt, was er getan hatte. Während der jugendliche Körper des Mädchens die Lähmung überwand, fragte er sich, wie es zu dieser Reaktion hatte kommen können. Noch immer spürte er den schalen Geschmack auf seiner Zunge. Gleichzeitig aber auch den Speichel, der sich beim Anblick des Mädchens angesammelt hatte. Die Fünfzehnjährige zog sich langsam zurück, als ein schmerzhafter Stich die Gedanken des Wolfsmenschen durchbrach. Das Monster preßte die Hände fester gegen seinen Leib und schleppte sich weiter. Es fühlte das Vibrieren, das ihn erfaßt hatte und wie ein Fieber schüttelte. 42
Hinter einem Haus kam er zur Ruhe. Ermattet lehnte er sich an eine Mülltonne und schloß die Augen. Im Liegen waren die Wellen des Schmerzes, die ihn durchpulsten, leichter zu ertragen. Abermals wurde ihm das Geschehene bewußt. Das Ergebnis seiner Überlegungen war ein Unbehagen, das das Monster in dieser Form noch nie erlebt hatte. Von Minute zu Minute steigerte es sich… und plötzlich war alles vorbei. Ramon Ziegler rappelte sich auf und klopfte den Schmutz von der vielerorts zerrissenen Jacke. Festen Schrittes verließ er den Hinterhof und folgte der Straße. Er wußte nicht, wo sie enden würde. * Die Wolken waren schneller aufgezogen, als Karen Fleckenstein erwartet hatte. Von einem Augenblick zum anderen war der Himmel von einer drohenden Schicht bedeckt. Sie sah zum Ufer. Vor etwas über fünf Minuten hatte sie die Raketen gehört. Ihr Bersten hatte weithin gehallt und jedermann auf dem See davon in Kenntnis gesetzt, was folgen würde – Sturmwarnung. Es war für Karen nicht das erste Mal, daß sie auf dem Plattensee segelte. So hatte sie auch nicht damit gerechnet, bereits Minuten später das drohende Brodeln über sich zu sehen. 43
Sie hatte es gewagt, sich dem Ufer in einer weit ausholenden Kehre zu nähern. Wer hätte auch ahnen können, daß ihr nicht mal mehr dafür Zeit blieb? Nun verlangte es sie um so drängender ah den heimatlichen Steg. Doch schon hatte sich Nebel auf das Wasser gelegt, der ihr jede Sicht nahm.
Karen zwinkerte. In dieser Richtung, schätzte sie, mußte der Heimathafen liegen. In dieser Richtung hatte sie ihn zuletzt gesehen. Doch der aufkommende Sturm machte jede Orientierung zu einem bloßen Versuch. Mit Urgewalt, brach er los. Karen Fleckenstein hatte keine Gelegenheit mehr, die geschätzte Richtung zu finden. Nun galt es in erster Linie, die Kontrolle über den Segler zu behalten. Nichts war mehr geblieben von dem sonnigen, ruhigen See, auf den sie am Morgen hinausgesegelt war. Gleich Kieselsteinen fiel der Regen vom Himmel, nahezu waagerecht vom Wind gepeitscht. Nach kurzer Zeit spürte Karen bereits nicht mehr die Stellen, an denen die 44
Tropfen ihren Körper trafen. Der Schmerz machte teilnahmsloser Empfindungslosigkeit Platz. Mit klammen Fingern versuchte sie eine Richtung in das Rollen ihres Schiffes zu bringen. Schon lange hatte sie die Segel eingebracht und ließ sich treiben. Andernfalls wäre sie gekentert. »Verdammt!« Der Sturm riß ihr die Worte von den Lippen und hinter der Plane her, die sich von Bord des Seglers losgerissen hatte. Karen hatte so ein Unwetter noch nie erlebt. Sie war keine Anfängerin im Segelsport und hatte schon manche Unbill der Natur mitgemacht – aber gerade hier? Balaton, so hieß der See in der Landessprache. Und die Übersetzung aus dem Ungarischen hatte seine Richtigkeit: Plattensee. Ein See, dem an Flachheit kein See der Welt glich. Und hier ein Sturm solchen Ausmaßes? Karen schrie auf, als eine Woge das Boot anhob. Es schien, als wüchsen die Wellenberge mit der Fortdauer des Unwetters. Sie konnte sich nicht erklären, wie sich ausgerechnet auf diesem See solche Wellenberge aufbauten. War der Balaton doch so flach, daß es eigentlich nicht geschehen durfte! Karens Segelschiff fiel. Mühelos war es in ein Wellental beachtlichen Ausmaßes hinuntergeklettert. Die junge Frau hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob ihr Schiff nicht den Boden 45
schrammen und in der Folge leckschlagen würde. Doch es war nichts geschehen, und beinahe spielerisch erklomm es den nächsten Berg, immer höher, tanzte eine Zeitlang auf dem Kamm – und fiel. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit erfaßte Karen. Im nächsten Augenblick bereits wurde es von einem scharfen Schmerz abgelöst, der ihren Körper durchzuckte. Der Segler war wieder in sein Medium eingetreten. Und weiter ging die wilde Fahrt. Karen handelte, ohne zu überlegen. Ihre Griffe saßen und bewahrten das Schiff vor allzu großer Schräglage, das ihm zum Verderben gereicht hätte. So sicher ihr Tun war, so benebelt war ihr Geist. Sich dem Schrecken hinzugeben, dagegen hatte sie sich gesträubt. Doch langsam gruben sich Linien der Erschöpfung in ihr jugendliches Gesicht. »Ka … ren Zögernd hob sie den Kopf. Der Sturm peitschte das schulterlange Haar in ihr Gesicht, naß und strähnig. Dann blickte sie wieder auf den ungestümen See, in den sie gebettet war. »Ka … ren Abermals hob sie den Kopf. Trog sie ihr Gehörsinn oder hatte dort tatsächlich jemand ihren Namen gerufen? Sekunden, die für sie Ewigkeiten waren, sah sie auf das brodelnde Wasser. Um sie war nichts als schmutzigbraunes Naß, ein Hexenkessel, dessen Opfer sie sein sollte. Dann sah sie es! 46
Dicht vor dem Bug ihres Seglers erkannte sie nebulös die Gestalt ihres Bruders. Unbeweglich stand er inmitten der tosenden Wasser, die Arme hingen kraftlos an seinem hageren Körper. Er trug ausgewaschene Jeans und ein fahlgelbes T-shirt, auf dem in kursiven Lettern ein Slogan aufgebügelt war: For peace and freedom – make the mankind better. Und: Seine Kleidung war staubtrocken, ebenso wie seine Füße, die auf den Wellen wandelten … »Mike!« »Ka …ren …«, hörte sie wieder die Stimme ihres Bruders. »Mike!« rief sie. »Bist du es wirklich?« Sie achtete nicht mehr auf die Steuerung ihres Seglers. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte sie völlig in seinen Bann geschlagen. Aber auf wundersame Weise schien der See Einsicht zu üben. So stark das Unwetter auch tobte, schien sich Karens Boot nun immer an einem Ort aufzuhalten, der den wilden Turbulenzen nicht ausgesetzt war. Um sie herum gischtete und brodelte es, während der Segler fast ruhig auf- und niederrollte. Doch davon merkte Karen nichts. Unverwandt war ihr Blick auf die geisterhafte Gestalt gerichtet, die so täuschend ähnlich die Umrisse ihres Bruders aufzeigte. »Ich … bin … dein Bruder«, hörte sie eine leise Stimme. Also hatte sie sich nicht getauscht. Tatsächlich hatte man sie bei ihrem Namen gerufen. Und es war dieses Wesen gewesen, das es getan hatte. 47
Ihr Bruder? »Michael…«, hauchte sie. Sie streckte einen Arm aus und rückte näher an die wabernde Gestalt heran. Sie ließ es sich gefallen und machte keine Anstalten, sich zurückzuziehen. »Wie … was …«, stotterte Karen. Sie konnte nicht begreifen, warum ihr Bruder ihr erschien. Vielleicht war alles nur ein großer Traum? Vielleicht hatte sie während des Sturmes das Bewußtsein verloren und träumte nun den langen Traum des Todes? »Nicht du«, sagte Michaels ferne Stimme. »Meine Zeit ist abgelaufen, nicht die deine. Dies ist mein letzter Gruß, bevor ich gehe. Ich werde niemals wiederkehren.« Karen hielt inne. Sie konnte es nicht wagen, sich ihrem Bruder weiter zu nähern. Das Segelboot war zu klein, um solche unvorhergesehenen Manöver aushalten zu können. Sie würde kentern, wenn sie nicht vorsichtig war. »Was redest du da? Ich verstehe die Worte, aber nicht ihren Sinn. Du bist Zuhause, wohl behütet. Was kann dir dort schon passieren?« »Der Menschen Schicksal ist absonderlich«, sagte Michael. Karen Fleckenstein fiel auf, daß er dabei nicht mal den Mund bewegte. Die Worte entstanden direkt in ihrem Gehirn. »Die Wahl ist auf mich gefallen. Ich gehe ein in etwas Höheres. Ob es besser sein wird als das Irdische soll sich zeigen. Ich habe das Glück, es erfahren zu können.« »Du redest vom Tod!« ermahnte ihn Karen. »So darfst du nicht über ihn sprechen, das Recht dazu fehlt dir. Du bist jung, hast kaum ein Viertel deines Lebens hinter dich 48
gebracht. Wer gibt dir das Recht »Das Schicksal!« unterbrach Mike sie. »Und gegen das Schicksal kämpfen selbst Götter vergebens. Meine Zeit ist um, ich habe mir den Augenblick nicht ausgesucht. Leb wohl, meine Schwester! Ich werde im Garten Eden einen Baum für dich pflanzen. Leb wohl!« Karen sah, wie sich die diffuse Gestalt langsam verlor. Mit zum Gruß erhobener Hand schwebte sie vor ihr. Je mehr der Nebel verblich, desto größer wurde die Verzweiflung der Frau. «Mike, Mike! So darfst du nicht von uns gehen! Ist das alles, was mir an Erinnerung von dir bleiben soll? Was ist denn nur geschehen? Was war das Schicksal, von dem du sprachst?« Karen konnte das Geisteswesen, zu dem ihr Bruder geworden war, kaum mehr richtig erkennen. »Die Welt des Menschen ist voller Dinge, die der Mensch in seinem beschränkten Glauben nicht fassen kann. Auch ich war ein Mensch und konnte es nicht fassen. Ein Wolfsmensch wurde zu meinem Vollstrecker. Als Anhalter hatte ich ihn mitgenommen, er nannte sich Dr. Ziegler. Auf dem Beifahrersitz verwandelte er sich und gab sich seiner bestialischen Natur hin. Aber ich fluche ihm nicht, denn er ist gestraft genug. Gestrafter als ich, der ich in das unvergängliche Schattenreich eingehen werde. Doch nun leb wohl. Die Unsterblichkeit des Menschen ist die Erinnerung an ihn. Erinnert euch meiner Die letzten Worte ihres Bruders hatte Karen nur noch schwer verstanden. 49
»Mike«, schluchzte sie. Tränen rannen über ihre Wangen. Karen spürte, daß etwas Unwiderrufliches geschehen war. Haltlos sackte sie in sich zusammen. Im Schutz der angewinkelten Arme gab sie sich ihrem Kummer hin. Ebensowenig wie sie wußte, wie lange die Erscheinung gedauert hatte oder das Unwetter, konnte sie später sagen, wieviel Zeit während ihrer seelischen Verzweiflung vergangen war. Als sie den Kopf wieder hob, blickte sie direkt in das strahlende Antlitz der Sonne. So schnell der Sturm aufgezogen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Aber Karen wußte noch immer nicht, wie es zu diesem Naturwunder kam. Ein Sturm solchen Ausmaßes war auf dem Plattensee rundweg eine Unmöglichkeit. Aber war das die Erscheinung ihres Bruders nicht auch? Karen säuberte ihr Boot notdürftig von allem Unrat und hißte die Segel. Zwei Minuten später lief sie hart vor dem Wind und steuerte in Richtung des heimatlichen Stegs. Das Sonnenlicht brach sich schillernd im Wasser der träge schlagenden Wellen. Es schien, als habe das Unwetter nie stattgefunden. Selbst Karen kamen langsam Zweifel an der Realität des Erlebten. Aber etwas Bestimmtes, Unverrückbares tief in ihr ließ es nicht zu, daß sie alles als Einbildung von sich wies. Sie würde es erfahren. Als sie am Steg anlegte, ging gerade die Sonne unter. Kurz blickte Karen in das gleißende Hell und glaubte, darin ein Gesicht zu erkennen. 50
Es war das Gesicht ihres Bruders. Und es lächelte ihr zu … * Ramon Ziegler war verzweifelt. In einer Art und Weise freilich, die sonderbar anmutet. Der Fluch nämlich, der ihm zu Bewußtsein gekommen war, war zugleich seine Waffe. Insgeheim wunderte er sich darüber, wie schnell er sich mit den Tatsachen abfand. Er schob es dem Faktum zu, daß er sich seit seiner Flucht aus der Gewalt der Entführer unterbewußt bereits im klaren darüber gewesen war. daß etwas mit ihm geschehen war. So konnte es nur Erleichterung bringen, endlich zu wissen, was. Doch dann packte ihn wieder eisiger Schrecken, wenn er sich fragte, was er schon alles angestellt hatte. Denn das war das Grausame an seinen übernatürlichen Amokläufen: Er ahnte nie, was währenddem geschah. Regelmäßig verfiel er in geistige Umnachtung. Am meisten drängte es ihn, sich der Polizei zu stellen und von seinen werwölfischen Fähigkeiten zu berichten. Doch die Konsequenz daraus war furchtbar. Dann wohl würde man ihn für Dinge, die er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte beging, nicht bestrafen können, aber ein friedliches Leben würde er auch nie wieder führen. Entweder er kam in eine Spezialklinik (er fragte sich zu Recht, ob es für sein Leiden überhaupt eine gab) oder aber wurde zu wissenschaftlichen Studienzwecken »einbehalten«. Das eine war so übel wie das andere. 51
Doch die zweite Alternative war nicht besser. Sie besagte, daß er seine Mimikry-Fähigkeiten für sich behielt und sein Lebtag eine Doppelrolle spielte. Was für ein Spaß, dachte er sarkastisch. Hier eine Portion Fell, dort ein echt werwölfischer Eckzahn – fertig ist die Neuauflage von Jack the Ripper! Nur langsam beruhigte er sich wieder. Er sah sich um. Noch immer war kaum ein Mensch auf der Straße. Ist es der Instinkt des Menschen, spekulierte er. Ahnen sie unbewußt etwas von dem furchtbaren Geschöpf, das ruhelos ihre Straßen durchstreift? Besonders eines bedrückte Ziegler sehr. Es war einige Zeit vergangen, seit die Strahlung in ihm den Wandel vollzogen hatte. Wieviel Menschen waren ihm inzwischen zum Opfer gefallen? Und welche? Ramon Ziegler stöhnte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es ging nicht, so konnte er nicht leben! Unwillkürlich richtete sich sein Blick auf einen Hund, der am Saum der gegenübergelegenen Straßenseite entlangtrabte und hin und wieder stehenblieb, um zu schnuppern. Eine Ahnung ließ das Tier in seiner Beschäftigung innehalten. Sein dunkler Blick verschmolz mit dem Ramon Zieglers. Ein, zwei Sekunden standen sie starr. Dann lösten sie sich wieder voneinander. Der Hund zog die Rute ein und schlich von dannen. 52
Bin ich solch ein Ungeheuer, fragte sich Ziegler. Verrät der bloße Anblick meiner menschlichen Gestalt mein zweites Ich, das in mir schlummert? Er hob die Hände vor das Gesicht und krümmte die Finger. Schon beim Anblick des Tieres war er stehengeblieben. Nun starrte er durch sie hindurch ins Leere. Es kostete ihn Mühe, einen Entschluß zu fassen. Es ging um sein Leben. Gab er sich weiter seinem Trieb hin oder ließ er sich davon abhalten – wer wußte, welche Konsequenzen das mit sich brachte? Schließlich ging er weiter. Die Entscheidung war gefallen. Er war Richter. * Gunter gelangte durch einen langen spiegelnden Gang zu einem Schott. Nach kurzem Zögern drückte er die Taste des Gegensprechgeräts. Nichts tat sich. Drei weitere Male mußte er drücken, bevor ein Knacken verriet, daß am anderen Ende jemand abgehoben hatte. »Bitte?« ertönte eine brüske Stimme, deren hohe Frequenz sie etwas ins Lächerliche zog. »Gunter hier!« meldete sich der Anrufer. »Wir haben einen Mann gefunden, Herr Professor. Wenn Sie wünschen, können Sie ihn sich mal ansehen.« »Es wurde auch langsam Zeit. Zwar bin ich noch nicht 53
soweit, ihn augenblicklich benutzen zu können, aber er muß mir jederzeit verfügbar sein. Ich werde mich bei dir melden, sobald ich den Schlüssel brauche.« Im selben Moment hing der Professor bereits wieder ein. Eine Weile hielt Gunter noch den Hörer in der Hand und starrte gegen das Schott. Warum mußte ich durch eine Wand mit ihm reden, dachte er. Es hätte ihm keine Mühe bereitet, das Schott zu öffnen. Und warum hängt er einfach ein? Gunter entledigte sich seines Hörers und ging zurück in sein Zimmer. Das Bleiglasfenster wartete auf ihn. * »Tag, Armin, läßt du dich auch mal wieder hier blicken?« Der Angesprochene schloß die Tür des Büros und schlenderte auf den Kommissar zu. Als er dessen Schreibtisch erreicht hatte, hockte er sich auf die Kante und stützte einen Ellenbogen auf seinen Oberschenkel. »Klar«, sagte er, »man muß ja im Geschäft bleiben.« Kommissar Becker grinste und schloß die Akte, in der er geblättert hatte. »Tut mir leid, Freund, aber für dich läuft heute nichts. Du weißt, ich bin ansonsten nicht pressefeindlich, aber leider läßt sich diesmal nichts berichten.« »Aber Robert, ich bitte, dich. Unter Freunden Becker schüttelte den Kopf. 54
»Nehm's mir nicht übel, wenn ich dich heute etwas unsanft hinausbefördere, aber…« »Ein Wort nur«, drängte der Pressemann. »Oder zwei. Die reichen mir schon.« »Kein Kommentar«, wiederholte der Kommissar und erhob sich hinter dem Schreibtisch. »Verdammt!« fluchte der Journalist. »Dies habe ich nicht gemeint.« Langsam kam Becker um den Tisch herum. »Wirklich keines? Nicht eines? Ein wenig nur!« Als der Kommissar sich drohend vor ihn stellte, wich er einige Schritte zurück. »Ja, ist schon gut!« Mit erhobenen Händen näherte er sich rückwärtsgehend der Tür. Um sich tastend, fand er endlich die Klinke und zog sie zu sich heran. »Pressefreundlich, so, so«, machte er. »Aber das merke dir: Wenn meine Frau und meine beiden Töchter deiner Knauserigkeit wegen Hungers sterben, komme ich auf dich zurück!« Bevor ihm Kommissar Becker antworten konnte, schloß der Journalist die Tür. Kopfschüttelnd ging Becker zu seinem Tisch zurück. Er kannte diesen Mann, und er war einer der wenigen dieses Berufszweiges, den er schätzen gelernt hatte. Privat gesehen waren sie Freunde, was aber das Berufliche anging, so hatten seine Pflichten Vorrang. Das Telefon schrillte. Der Kommissar hob ab und meldete sich. »Gut, daß ich Sie antreffe, Herr Kommissar. Seit mehr als fünf Minuten versuche ich an die richtige Stelle zu 55
kommen, aber überall versucht man mich zu binden. Sie werden ja besser geschützt als ein Minister, meine Hochachtung!« »Verzeihen Sie, wenn ich so einfach unterbreche, aber wer spricht denn da?« »Hier ist Dr. Ziegler, Dr. Ramon Ziegler«, sagte die Stimme am Telefon. »Ich habe Ihnen etwas zu beichten, Herr Kommissar.« »Etwas in der Art dachte ich mir bereits, Herr Doktor!« »Ja, aber lassen Sic mich ausreden, ich…« »Wo sind Sie überhaupt?« »In einer Telefonzelle nahe am Stadtrand. Ich muß Ihnen etwas Lebenswichtiges mitteilen, bitte hören Sie mir zu!« Augenblicklich fuhr Beckers Hand unter den Schreibtisch und ließ eine Taste einrasten. Das Stichwort war gefallen. Ob Ziegler bereits wußte, was bei ihm Zuhause vorgefallen war? »Ich höre, Herr Doktor.« »Bezüglich meiner Entführung. Ich habe da etwas zurückbehalten, eine Kleinigkeit nur. Ich habe geträumt. Dort, wo man mich gefangenhielt. Ich träumte von einer haarigen Bestie, der Karikatur eines Affen, daß mir ein Schauer über den Rücken rann. Es war ein Untier, das über wehrlose Menschen herfiel und sie sinnlos tötete. Dieses Tier nun – bin ich!« Kommissar Becker sog die Luft zwischen die Zähne. Automatisch irrte sein Blick zu der Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Von einem Untier war die Rede. Von einem mysteriösen Lebewesen, das den Wolfsmenschen in 56
Gruselgeschichten verdächtig nahe kam. »Nein, unterbrechen Sie mich nicht! Ich kann nicht erklären, wie es geschieht, aber es geschieht tatsächlich. Von Zeit zu Zeit verwandele … verwandele ich mich von einem angesehenen Bürger in verantwortungsvoller Position in eine hirnlose Bestie. Seit meiner Flucht vor den Entführern geschieht das mit mir. Ich verliere dann die Kontrolle über mein Ich, etwas gänzlich anderes ergreift dann von mir Besitz. Dieses andere handelt ohne mein Zutun. Ich fühle mich wie die Karikatur eines Dr. Jekyll. Bei ihm war es eine Droge, die ihn zur Verwandlung animierte. Doch was ist es bei mir …?« Ramon Ziegler stöhnte. »Dr. Ziegler! Herr Doktor, sind Sie noch am Apparat? « »Ja… ja«, klang es müde aus dem Hörer. »Ich weiß nicht, was es ist«, wiederholte er, »ich weiß es wirklich nicht. Bitte, helfen Sie mir! Ich … kann es allein nicht durchstehen, ich »Dr. Ziegler!« »Schicken Sie jemand vorbei. Oder besser: Kommen Sie selbst! Aber bringen Sie genügend Personen mit. Man … man weiß nie »Wo sind Sie, Herr Doktor? Je genauere Angaben Sie uns machen, desto eher können wir bei Ihnen sein!« »Ich … ich sagte es Ihnen bereits. Hier, am Stadtrand von Schwalbach, in einer Telefonzelle. In der Nähe … der Nähe der Sachsenhäuser Straße, gegenüber dem Stadtwald. Ich … ich werde Sie … aarrgh!« »Herr Doktor? Herr Doktor!?« 57
Ramon Ziegler antwortete nicht mehr. * Mit rotgeränderten Augen verharrte Karen Fleckenstein still vor der Tür. Unstet irrte ihr Blick und verriet das Unwohlsein, das diese Umgebung bei ihr auslöste. Schließlich klopfte sie an. Ängstlich zuckte sie zusammen, als eine Maus zwischen ihren Beinen hindurchrannte. Das Klopfen mußte sie aufgeschreckt haben. Karen hatte den Kopf noch furchtsam suchend nach hinten gewendet, als sich die Tür knarrend öffnete. »Sie wünschen?« fragte eine tiefe Stimme. Sie gehörte einem kahlköpfigen, untersetzten Mann, der mit bloßem Oberkörper vor ihr stand. Sein linkes Augenlid zuckte nervös. Karen riß sich zusammen. »Sind Sie Hans Ullrichs?« »Der bin ich, und darf ich um Ihren Namen bitten?« Gleichzeitig hielt er die Hand mit einer einladenden Geste von sich gestreckt. Karen folgte ihr und betrat das Zimmer. Er roch nach Fisch und abgestandener Luft. »Karen Fleckenstein«, antwortete sie. »Ich kenne Sie nicht!« stellte Ullrichs fest. Karen nickte. »Ich war noch nie bei Ihnen«, bestätigte sie, »aber … 58
nun ist es notwendig geworden …" Hans Ullrichs schloß die Tür und grinste. »Es ist nötig geworden? Ich glaube kaum, daß Sie um des Kennenlernens willen zu mir gekommen sind; was wäre daran auch notwendig? Also wollen Sie meine Fähigkeiten in Anspruch nehmen!« Ullrichs führte seinen Besuch in einen kleinen Raum mit verschmierten Wänden und den Überresten abgefressener Tapeten. »Meine Freunde«, murmelte er und deutete auf die Fetzen. Karen schauderte. »Nun?« drang Ullrichs vor. Ohne länger auf ihren Widerwillen zu achten, ließ sich Karen in das nächste Möbel sinken. Es fiel ihr schwer, auf den Grund ihres Besuchs zu kommen. Schwerer noch als der Entschluß, sich hierher zu begeben. Gestern war sie nach Hause gekommen. Nachdem ihr die Erscheinung begegnet war, hatte sie nichts mehr in Ungarn gehalten. Kaum daß sie in Schwalbach angelangt war, hatte ihre Familie die Richtigkeit der bösen Vorahnung bestätigt. Ein entsprechendes Telegramm war bereits am Tag des Todes ihres Bruders an sie abgegangen, hatte sich aber mit ihrer überraschenden Rückreise gekreuzt und sie deshalb nicht erreicht. Etwas jedoch hätte ohnehin nicht in diesem Telegramm stehen können. Denn es vollzog sich kurz nach dessen Absendung: der Kummer über den Verlust ihres einzigen 59
Sohnes hatte die Mutter aufs Krankenbett verbannt, eine Besserung ihres Zustandes war bislang nicht abzusehen. So hatte es Karen Fleckenstein bei ihrem Eintreffen daheim gleich zweifach getroffen. Michael war tot und das Schicksal ihrer Mutter ungewiß. Es war durchaus möglich, daß sie an gebrochenem Herzen starb. Karen hatte sich nicht die Zeit genommen, sich ihrem Kummer hinzugeben. Sie wollte genau wissen, wie es zum Tod ihres Bruders kam. Doch die Polizei konnte ihr nichts Näheres sagen. Man vertröstete sie auf das Ende der Ermittlungen und versuchte so scheinbar die eigene Unfähigkeit zu vertuschen. Die einzige Alternative wäre, mit dem Betroffenen selbst über seinen Tod zu reden. Aber wie sollte das vor sich gehen? Tot ist schließlich tot! Die halbe Nacht hatte Karen Fleckenstein wach gelegen und über diesem Problem gegrübelt. Gegen Morgen hatte sie keine andere Möglichkeit mehr gesehen: Sie mußte sich an einen Spezialisten wenden. An … einen Jenseitsforscher! Sie hatte keine Kontakte zu solchen Leuten, überhaupt hatte sie sich nie für dieses Gebiet interessiert. Ein oder zwei Bücher über Parapsychologie und Okkultismus hatte sie flüchtig durchgeblättert, aber bald wieder das Interesse verloren. Karen war zu realitätsbezogen, um sich mit so etwas befassen zu können. Und doch war es nun ihr felsenfester Entschluß: Ein 60
Okkultist würde ihr den Weg zu ihrem Bruder ebnen, und wenn die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering war. Sie wußte selbst nicht, wie sie auf Hans Ullrichs gekommen war. Sie hatte früh morgens ihre halbe Bekanntschaft zu Rate gezogen und entsprechende Erkundigungen angestellt. Das Ergebnis ließ sich sehen. Ein Studienfreund hatte ihr die Adressen einer Handvoll Leute gegeben, die sich intensiv mit diesem Problem auseinandersetzten und auch schon praktische Erfahrung gesammelt hatten. Darunter: Hans Ullrichs. Wahrscheinlich, dachte Karen und blickte nervös in das kantige Gesicht des Mannes, war es die Entfernung gewesen, die sie ihn hatte wählen lassen. Bei den übrigen wäre eine längere Autofahrt nötig gewesen. Ullrichs wohnte in Offenbach, fast vor ihrer Haustür. Wer konnte ahnen, unter welchen Umständen er hier hauste? »Es … es geht um meinen Bruder. Genauer gesagt«, erklärte Karen, »um meinen verstorbenen Bruder.« In aller Ruhe erzählte sie ihre Geschichte. Der Jenseitsforscher unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Je länger sie redete, desto mehr schwand ihre Unsicherheit. Es kam der .Zeitpunkt, da es ihr nur mehr um die Sache ging und sie die äußeren Begleitumstände unbeachtet ließ. Sie war im Bann ihrer eigenen Erzählung. »Aber ich will genau wissen, wie es geschah!« endete sie. »Ich will wissen, ob mein Bruder Schmerzen erleiden mußte oder lächelnd starb. Ich will wissen, ob er wirklich 61
zu dem steht, was er mir in Ungarn zukommen ließ. Ich will einfach alles wissen.« Hans Ullrichs hatte sich rücklings auf einen Stuhl gesetzt und mit den Füßen zu wippen begonnen. Das nervöse Zucken seines Auges hatte einen Grad erreicht, wie Karen ihn nicht für möglich gehalten hätte. »Nun, das läßt sich vielleicht machen«, sagte Ullrichs. »Zumindest könnten wir es mal versuchen.« »Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Ullrichs.« »Lassen Sie das Herr weg!« brummte er. »Ich bin es nicht mehr gewohnt. Nennen Sie mich einfach Ullrichs! Haben Sie etwas mitgebracht, das mal das Eigentum Ihres Bruders gewesen oder wenigstens auf längere Zeit mit ihm in Verbindung war?« »Ja«, sagte Karen. Sie stand auf und zog ein Taschentuch aus ihrer Gesäßtasche. Es war rot-grün kariert und mit einem Monogramm bestickt: M. F. »Ja, das wird genügen. Ausgezeichnet!« Ullrichs erhob sich und schlenderte auf einen vernarbten Tisch zu, der in der Mitte des kleinen Raumes stand. Er war rund, und in etwa gleichen Abständen hatte man fünf Stühle um ihn plaziert. »Möchten Sie, daß wir das Experiment gleich jetzt durchführen, oder wollen wir noch warten? Ich möchte Sie allerdings darauf aufmerksam machen, daß es nicht immer funktioniert. Ich muß darauf eingestimmt sein, und heute wäre ein solcher Tag. Andernfalls würde ich sie irgendwann in den nächsten Wochen noch mal kurzfristig 62
benachrichtigen. Wann das aber wäre, könnte ich Ihnen vorher nicht sagen.« »Ich möchte, daß wir es jetzt durchführen«, sagte Karen fest. »Ich könnte es nicht so lange aushalten. Lassen Sie uns beginnen!« Alle Furcht war von ihr gewichen. Bestimmt ging sie zu dem Tisch und setzte sich in einen Stuhl. Fordernd sah sie auf Ullrichs. Als ihr Blick ihn traf, zögerte er nicht länger. Nun zog auch er einen Stuhl zu sich heran und rückte dichter an den Tisch. Er saß Karen Fleckenstein direkt gegenüber. »Wieviel?« fragte Karen. »Später. Ich brauche nicht bange zu sein, ich bekomme mein Geld. Noch jeder meiner Kunden ist zufriedengestellt worden. Ich betreibe keine Scharlatanerie.« »Gut.« Karin Fleckenstein nickte. Dann schluckte sie hart und reichte Ullrichs die Hände. »Sie haben Erfahrung«, sagte er. »Nein«, antwortete Karen. Plötzlich wurde das Licht im Raum dunkler. Karen hatte nicht gesehen, daß Ullrichs irgend einen Schalter berührt hätte. Und doch mußte er es getan haben. Es war so finster, daß sie gerade noch das Gesicht ihres Gegenübers erkennen konnte. Ein sanftes Glühen lag in der Luft. Ullrichs begann zu sprechen. »Geister der jenseitigen Welt, Schemen unsichtbarer 63
Ebenen, erhört mich. Hans Ullrichs will mit einem von euch sprechen, einen einzigen braucht er. Michael Fleckenstein, melde dich!« Karen glaubte das diffuse Glühen aufleuchten zu sehen. Doch es war eine Täuschung. Fest verkrampfte sie ihre Hände in die Hans Ullrichs! Nichts geschah … »Michael Fleckenstein! Wenn du mich hörst, so melde dich. Zeige dich uns! Das Diesseits ruft dich – deine Schwester!« Ullrichs saß unbeweglich. Starr vor Spannung hockte Karen auf ihrem Stuhl. Sie wagte kaum zu atmen. »Michael Fleckenstein, zeige dich uns! Deine Schwester erwartet dich. Enttäusche sie nicht, Michael Fleckenstein, sie erwartet dich!« Die Atmosphäre schien vor Spannung zu knistern. Karen hatte die Augen geschlossen und lauschte dem harten Schlag ihres Herzens. Komm, drängten ihre Gedanken. Komm, Mike, enttäusche mich nicht…! Ullrichs schwieg. Fest hielt er die Hände seiner Mandantin umkrampft, sein Blick war entrückt. Schweiß perlte von seiner Stirn. Den Mund hatte er weit geöffnet. Ein nebulöser Faden kräuselte sich heraus und verteilte sich hinter ihm. Karen horchte. Doch außer dem rhythmischen Schlagen in ihrer Brust kündete nichts von etwas Absonderlichem. Das Schweigen war gespenstisch und bedrückend. 64
Sie öffnete die Augen. Im selben Moment erkannte sie … Die Gestalt ihres Bruders! * Mit zornigem Knurren stieß die Bestie die Tür der Telefonzelle auf. Als der baumelnde Hörer von hinten gegen sie schlug, griff die Pranke nach ihm und riß ihn ab. Es war finster. Die dämmrige Dunkelheit war tintenfarbener Schwärze gewichen, die durch kein Licht erhellt wurde. Die Straßenbeleuchtung war bereits ausgeschaltet, kein Stern glimmte am wolkenverhangenen Firmament. Neumond herrschte. Der Wolfsmensch reckte den Kopf in die Höhe und ließ die träge Nachtluft durch seine Nüstern streichen. Sie war schwanger vom Geruch baldigen Regens. Zwei Minuten verharrte er regungslos in dieser Stellung, dann sank sein Kopf wieder herab. Gier lag in seinem Blick. In gewisser Weise war die Bestie jedoch gesättigt. In kurzer Zeit hatte sie drei Opfer geschlagen. Sie begann auszuwählen. Es war eine besondere Art und Weise der Wahl. Irgendwo tief in ihr hockte eingekerkert das Bewußtsein eines Menschen. Dieses Bewußtsein kannte nur einen Gedanken, der intensiv genug war, die Mauer der Bestialitäts-Diktatur zu durchbrechen: den Haß. Nun, da die Bestie befriedigt war, vermochte dieser Gedanke, der nicht viel mehr war als ein Impuls, in ihrem 65
primitiven Denken Fuß zu fassen. Der Wolfsmensch brauchte ein neues Ziel – es wurde ihm gegeben. Die Inkubationszeit währte nicht viel länger als eben diese zwei Minuten. Dann verfiel die Bestie in einen leichten Trab. Was dem Menschen niemals möglich gewesen wäre, war der Bestie gegeben. Ihr reichte der bloße Instinkt, um zu jenem Ort zurückzufinden, an dem er zu dem geworden war, was er nun darstellte. Ramon Ziegler hätte eine mühsame Suche beginnen müssen. Denn bewußt war er nicht aus den Fängen seiner Entführer entflohen. Dem Tier in ihm war es gelungen. Dieses Tier war es nun auch, das den Weg zurück finden würde. Es stand nicht unter der Kontrolle seines Geistes, weit gefehlt. Gegen soviel Bestialität kam sein zivilisiertes Denken nicht an. Es hatte nur den Anflug eines Impulses aufgeschnappt und bewahrt. Und ging ihm nun nach. Ein Teil dieses Hasses wurde zum eigenen. Aber es war noch immer der tierische Geist des Wolfsmenschen, der seinen verwandelten Körper leitete … * Fünf Minuten, nachdem Ramon Ziegler in verwandelter Form die Telefonzelle verlassen hatte, fand sich die Polizei am bewußten Ort ein. Von dem Anrufer war keine Spur mehr zu entdecken. Es 66
mutete sonderbar an, daß der Hörer der Telefonzelle, aus der Ziegler nachweislich mit Kommissar Becker gesprochen hatte, mitsamt Kabel mutwillig aus dem Gerät gerissen worden war. Man fand ihn zweieinhalb Meter vor der Telefonzelle am Boden liegen. Wie spätere Untersuchungen ergaben, mußte derjenige, der den Hörer in Händen gehalten hatte, über sonderbare Eigenschaften verfügen. Man fand ein Barthaar in solcher Stärke, wie es eigentlich allen Naturgesetzen zuwiderlief. Die Hände der Person hatten Fingerabdrücke hinterlassen, die es auf der Erde gar nicht gab. Nach eingehenden Untersuchungen stellte sich heraus, daß es sich in der Tat um die Zierden eines menschlichen Körpers handeln müsse. Das Haar war echt und auch der Abdruck. Handschuhe mit irreführenden Abdrücken konnte die Person nicht benutzt haben, da die chemische Zusammensetzung der Fettrückstande typisch menschlich war. Allerdings fanden sich auch andere Abdrücke auf dem Telefonhörer. Sie wurden teilweise von jenen rätselhaften überdeckt und gingen mancherorts –was für entsprechende Aufregung sorgte – sogar in sie über. Man entdeckte die Restspuren von Zwitterabdrücken. Kannte man jedoch die unirdischen Fingerabdrücke nicht, so doch dafür die des anderen nur zu gut. Es waren die des derzeit gesuchten Dr. Ramon Ziegler. Im Endeffekt wußte damit niemand etwas anzufangen. Es fehlte die Phantasie oder doch zumindest ein Hinweis auf diese oder jene Möglichkeit zur Lösung des Rätsels. 67
Nur einem sagte das Herausgefundene alles. Dieser Mann war Kommissar Becker. Doch ihm blieb momentan nichts anderes übrig als zu warten. Ziegler war verschwunden. Und auch ein monströs anzusehendes Wesen wurde bislang nirgendwo beobachtet. * »Michael…«, sagte Karen tonlos. Aber es war weniger Überraschung dabei, als noch während ihres Erlebnisses auf dem Plattensee. Das Geistwesen schwebte direkt hinter dem noch immer in tiefer Trance verharrenden Hans Ullrichs. Die Konsistenz seines Körpers waberte ständig hin und her. Seine Augen waren – soweit Karen es erkennen konnte – weit geöffnet und auf sie gerichtet. Eine feine Nabelschnur aus jenem rauchartigen Etwas verband den Mund Ullrichs mit dem Körper der sonderbaren Erscheinung. »Du hast mich nicht enttäuscht«, sagte Karen. Ihr Blick war unverwandt auf ihren Bruder gerichtet. »Nein«, hörte sie Michaels Stimme. »So ist es wahr? Du bist in das Geisterreich eingegangen? Ich träumte nicht, als ich dir in Ungarn gegenüberstand?« »Du träumtest nicht.« »Du bist schweigsam geworden, Mike!« bemerkte Karen. »Du bist nicht mehr der unentwegte Redner, als den deine Freunde dich kannten.« 68
»Das Jenseits ist ein Ort des Denkens«, entgegnete Michael. »Gedankengebäude werden errichtet wie im Diesseits Hochhäuser. Man lebt in sich und gleichzeitig doch für die anderen. Und in erster Linie für die, die nach uns kommen.« »Die nach euch kommen?« fragte Karen. »Warum für sie? Ist das Jenseits kein Paradies, in dem der Gedanke des einzelnen seine Geborgenheit ist?« »Es ist eine weit andere Art von Geborgenheit, als der Mensch sie kennt. Auch wir haben eine Aufgabe, eine gewaltige Aufgabe. Zum Wohl eben jener, die uns folgen werden. Doch es würde zu weit führen, es dir jetzt zu erklären.« »Erkläre es mir!« forderte Karen. »Auch ich werde dir eines Tages folgen.« »Nein«, beharrte Michael. »Wir haben keine Ewigkeit für unser Gespräch. Was ließ dich zu mir finden?« »Du bist kalt geworden, Mike. Du zeigst kein Gefühl für deine Schwester.« Das Geistwesen schwieg. Karen erkannte, daß sich das Wabern verstärkte. Gleichzeitig wurden die Konturen unschärfer. Schon befürchtete sie, daß sich die geistige Quintessenz ihres Bruders wieder verflüchtigen würde, als sich die Form bereits wieder stabilisierte. Karen hielt die Stille nicht länger aus. »Stimmte es, was du mir geschildert hast? Hast du wirklich keinen Schmerz empfunden, als du nach ›drüben‹ gehen mußtest? Hast du mir den Verlust meines Bruders 69
nicht nur leichter machen wollen? « Die Worte kamen farblos von ihren Lippen. Es stimmte, daß sie zu Anfang nur das eine Ziel gehabt hatte: sich über den Verbleib ihres Bruders klar zu werden. Doch ihre Frage war nur noch Farce. Michaels Erscheinen hatte einen Trigger-Effekt in ihr ausgelöst. Sie glaubte ihm. »Du täuschst dich selbst«, vernahm sie die unhörbare Stimme Michael Fleckensteins. »Du hast aus anderen Gründen hierher gefunden.« Stumm starrte Karen auf das Bild ihres Bruders. Stimmte das? »Ich … weiß nicht.« »Du weißt.« Karen senkte den Kopf. »Doch warum?« murmelte sie. »Es ist besser, du erfährst es nicht«, erklärte Mike. »Das Jenseits wird deinen Entschluß nutzen. – Komm' näher!« Karen sah wieder auf. Was war das? Die Umrisse der Erscheinung wurden immer stärker. Von Sekunde zu Sekunde vermochte sie ihren Bruder besser zu erkennen. Sie glaubte aufzustehen, doch sie stand nicht auf. Sie glaubte ihre Hände aus denen Hans Ullrichs zu nehmen, doch sie tat es nicht. Sie kam ihrem Bruder näher, ohne sich von ihrem Stuhl erhoben zu haben. Karen war nicht mal überrascht. Sie schrie nicht auf und zeigte nicht den kleinsten Schimmer von Entsetzen. Es war für sie alles völlig natürlich. Es war natürlich, daß sich ihr Geist von ihrem Körper 70
löste. Daß er auf den ihres Bruders zustrebte und mit ihm verschmolz. Daß er sich trotz ihrer Kopulation seiner selbst bewußt blieb. Und daß irgend etwas mit ihm geschah. Irgend etwas … * Als sie die Augen wieder aufschlug, hatte sie das Gefühl, über die Weisheit von Generationen zu verfügen. Unendliche Befriedigung füllte sie aus. Und ein Wissen, das ihr ein neues Ziel setzte. Sie blickte um sich. Nichts hatte sich verändert. Noch immer saß Hans Ullrichs in tiefer Trance. Ihre Hände waren ineinander verkrampft, als hätten sie sich nie voneinander gelöst. Und das hatten sie ja auch nicht. »Ich werde es tun.« Karen Fleckensteins Stimme war voller Bestimmtheit. »Du wirst nicht alles schaffen!« vernahm sie die mentale Stimme ihres Bruders. Regungslos schwebte er auch jetzt noch hinter dem Rücken des Okkultisten. »Niemand kann alles schaffen.« »Ich werde soviel schaffen, wie es mir möglich ist.« Karen sah fest auf den Ort, an dem sie die Augen des Geistwesens vermutete, Sein Wabern war wieder stärker geworden. Es kündete von seiner baldigen Rückkehr ins Reich der Toten. Michael Fleckenstein sprach nichts mehr. Fest begegnete 71
er dem Blick seiner Schwester, während er langsam zu verblassen begann. Auch Karen schwieg. Dann war der Augenblick da, an dem ihr Bruder verschwunden war. Er war heimgekehrt in die Geborgenheit seiner neuen Heimstätte. In das Paradies? Karen wußte nun, daß die Antwort nur nein lauten konnte. Leises Stöhnen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf gegenwärtige Fragen. Ein Zucken in den Fingern des Mannes, der ihr diese Reise erst ermöglicht hatte, kündete von seinem Erwachen. Die Starre wich aus Hans Ullrichs Blick. Zögernd schloß sich sein Mund. Seine Augen wurden wieder stechend und voller Leben. Mit leichtem Lächeln sah er Karen an. »Es ist gelungen«, sagte er. »So etwas spüre ich.« »An mir?« entgegnete Karen. »Oder an Ihnen selbst?« Ullrichs zuckte die Achseln. »Hat es Ihnen etwas gebracht?« Karen stand auf. Als Hans Ullrichs es ihr nachmachte, merkte sie erst, wie schweißgebadet der Mann war. Plötzlich gewann sie einen Eindruck von den Mühen, die er auf sich genommen hatte. »Hier«, sagte sie und hielt ihm einen Schein hin. Wortlos steckte der Okkultist ihn ein. Am liebsten hätte Karen gesagt: Ich danke Ihnen. Es ist nicht mit Geld zu bezahlen, was Sie für mich getan haben. 72
Aber sie scheute davor zurück. Nicht weil sie den Mann nicht kannte. Es klang ihr einfach zu schwülstig. Ullrichs fragte nicht mehr. Er wußte, daß er von der Frau nicht mehr erfahren würde. »Sie werden mich nicht noch mal aufsuchen«, stellte er fest. Es war sonderbar. Auf einmal ging eine Aura von dieser Frau aus, die er bei ihrem Eintritt an ihr gar nicht hatte feststellen können. Überhaupt wirkte sie wie verwandelt. Charakterlich. »Nein«, sagte Karen. »Nein, das werde ich nicht.« Dann ließ sie sich von ihm zur Wohnungstür begleiten. * Neben ihm war das Brausen vorüberrasender Wagen. Nur die Leitplanke trennte ihn von der Autobahn. Der Wolfsmensch existierte nicht immer. Nur sporadisch erhob er sich aus den geistigen Abgründen Ramon Zieglers und übermannte ihn mit seiner ganzen tierischen Gewalt. Dann war er die beherrschende Macht. Der Wolfsmensch achtete nicht auf Pfade und Stege. Er ging schnurstracks seines Weges, vom Instinkt geleitet. Irgendwo erwartete ihn ein Ort des Grauens. Vielleicht hätte Ramon Ziegler Furcht gezeigt, Furcht vor dem Unbekannten. Dem Wolfsmenschen war dieses Gefühl fremd. Nur eines saß fest in seinem Hirn: das Bild eines 73
hundertfach gesicherten Bauwerks Wänden. Und Bleiglasfenstern.
mit
meterdicken
* Es war noch nicht spät, aber der Kripomann fühlte sich so müde wie selten sonst. Offiziell hatte er schon lange keinen Dienst mehr. Eine tiefe Verbundenheit mit dem Fall, den er bearbeitete, ließ ihn jedoch nicht zur Ruhe kommen. Etwas Besonders ging vor, und er war der einzige, der es bislang bemerkt hatte. Mit fliegenden Händen sortierte er das Gerät auf seinem Schreibtisch. Dann griff er nach seiner Aktentasche, verstaute, was es zu verstauen galt, und schlurfte in Richtung der Bürotür. Gerade wollte er die Klinke herunterdrücken, als er hinter sich eine Stimme vernahm. Sie kam aus dem Gegensprechgerät auf seinem Arbeitstisch, das ihn mit seiner Sekretärin im Vorzimmer verband. Er drückte die Klinke vollends auf und zog die Tür auf. »Ja?« fragte er. Die leicht mittelalterlich wirkende Frau zuckte zusammen und preßte den Sprechkopf noch fester in die Arretierung, als es ohnehin bereits ihre Angewohnheit war. Hinter Becker erscholl ein Knirschen, darauf herrschte Stille. »Sie machen auch alles kaputt, Fräulein Biber«, stellte er tadelnd fest.
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Becker schüttelte den Kopf und sah zu der Frau, die auf der anderen Seite des Vorzimmers Platz genommen hatte. Aufmerksam hatte sie das Zwischenspiel verfolgt. Er lächelte. »Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß Sie zu mir wollen?« fragte er. »Diese Dame...«, begann Fräulein Biber. Becker winkte ab. Er schob die Bürotür, auf deren Schwelle er noch immer stand, wieder auf und knipste das Licht wieder an. »Bitte.« Die Frau erhob sich und schritt selbstsicher an dem Kommissar vorüber. Becker sah ihr nach, pfiff lautlos einen Ton und schloß die Tür. Hinter ihm hob Fräulein Biber indigniert eine Braue. Entsagungsvoll seufzend begab sich Kommissar Becker wieder zu seinem Arbeitstisch und setzte sich. Nachdem sich auch die Besucherin gesetzt hatte, blickte er sie auffordernd an. »Mein Name ist Karen Fleckenstein«. begann sie. »Ich komme in einer recht persönlichen Angelegenheit zu Ihnen.« Kommissar Becker richtete sich auf und kniff die Augen fest zusammen. Als er sie wieder öffnete, war der von Müdigkeit herrührende Nebel verschwunden. »Fleckenstein«, sagte er leise. »Verzeihen Sie, Fräulein, aber ich glaube diesen Namen doch irgendwann schon mal gehört zu haben?« Er sah sie an. »Vielleicht im 75
Zusammenhang mit meinen Ermittlungen? Ich habe viele betrieben«, setzte er entschuldigend hinzu. Karen neigte den Kopf. Wäre Becker nicht so müde gewesen, hätte er sich an ihrem prachtvollen Schopf berauschen mögen. Er war nahezu ebenso prachtvoll wie der Rest ihres vollendeten Körpers. »Der Grund, warum ich hier bin«, fuhr sie fort, »ist mein Bruder –Michael Fleckenstein.« Kommissar Becker sah seinem Gegenüber stumm in die Augen. Plötzlich war er ernst geworden. Eine Weile blieb sein Blick auf ihr haften, dann kramte er wieder die Akte hervor, in der er Minuten zuvor noch gelesen hatte. »Ja, ich erinnere mich«, sagte er. »Das ist gut«, entgegnete Karen. Bedächtig breitete Kommissar Becker die Akte vor sich aus und begann darin zu blättern. Ziemlich weit vorn kam seine Hand zur Ruhe. Dort, zwischen den Seiten, lag ein kleiner Zettel, der wohl noch nachträglich eingeheftet worden war. »Bedauerlich«, sagte er. »Nehmen Sie meine Anteilnahme zur Kenntnis, Fräulein Fleckenstein! Es tut mir aufrichtig leid für Sie.« Karen ging darauf nicht ein. Das Zusammentreffen zwischen ihr und ihrem Bruder hatte sie härter werden lassen. Härter nicht unbedingt im negativen Sinn. »Wie ist er gestorben, Herr Kommissar? Das ist alles, was ich wissen möchte,« Beckers Blick ruhte auf den Zeilen, die mit Schreibmaschine auf den Zettel geschrieben worden waren. 76
Einige Worte sprangen ihm förmlich ins Augen: auf sonderbare Art, unter mysteriösen Umständen, unerklärlicherweise … Es war nicht das erste Mal, daß er dies las. »Warum kommen Sie erst heute?« fragte er. »Ihr Bruder starb bereits vor Tagen.« »Ich war verreist.« Der Kommissar nickte. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen«, gab er zu. »Noch laufen die Ermittlungen und ein endgültiges Resultat »Machen Sie sich nicht lächerlich! Ermittlungen mögen laufen, aber von einem Resultat sind Sie noch weit entfernt.« Becker starrte sie an. Hätte Karen die Worte weniger ruhig vorgebracht, wäre er ihr an den Hals gesprungen. Er wußte selbst, welche Schwierigkeiten er mit seinem Fall hatte, und dann kam diese Person und … Er beruhigte sich und sah wieder auf das Blatt. Zuerst hatten sie zwischen diesem mysteriösen Unfall und dem Problem des verschwundenen, beziehungsweise verwandelt wiedergekehrten Richters keinen Zusammenhang gesehen. Erst später hatte sich dieser herauskristallisiert. Als man das unheilvolle Wirken des Verwandelten erfaßte. »Sie wissen viel«, sagte er. Karen nickte. »Ich habe meine Quellen.« »Warum haben Sie die nicht nach dem Tod Ihres Bruders befragt, Fräulein Fleckenstein?« »Ich will genau wissen, was passiert ist. Verstehen Sie? 77
Genau! Und vor allen Dingen: wo derjenige ist, der ihn verursachte.« Kommissar Becker merkte auf. »Der ihn verursachte? Ihr Bruder selbst war es!« Natürlich wußte er, daß das nicht der Wahrheit entsprach. Die Wahrheit war der Familie, so wie sie sich nach den persönlichen Recherchen des Kommissars zugetragen haben mußte, verheimlicht worden. Wie kam jene Frau also dazu, nach dem Urheber des Unfalls zu fragen? Sie mußte mehr wissen, als sie zugab. Viel mehr! »Ich glaube«, sagte der Kommissar, »ich werde Ihnen nicht weiterhelfen können.« »Ich denke schon«, entgegnete die Besucherin. Selbstbewußt schlug sie die schlanken Beine übereinander und verschränkte die Arme auf den Knien. Doch Kommissar Becker kam nicht dazu, den Anblick zu genießen, der sich ihm bot. »Dr. Ramon Ziegler hat den Unfall verursacht«, sagte sie. »Nicht in seiner wirklichen Gestalt, sondern als Wolfsmensch!« * Anfangs hatten die Bäume des Waldes, durch den sich die Bestie fortbewegte, dicht an dicht gestanden. Dann hatte sich das Unterholz langsam zurückzubilden begonnen. Schließlich war der Baumwuchs lichter geworden. Der Wolfsmensch genoß die wärmenden Strahlen der 78
Sonne. Gierig reckte er seinen Schädel in die Höhe. Erst als ihm das Gestirn wieder vertraut geworden war und sich kein Tautropfen mehr auf seinem struppigen Fell fand, sah er sich um. Die Lichtung hatte ungefähr die Form eines Eies. Unterbrochen wurde sie nur von einer Anzahl kleinerer Schonungen, die zungenförmig in sie eingriffen. Auf diese Weise wurde das ohnehin schon reichhaltige Angebot der Pflanzen- und Kleintierwelt noch erhöht. Wohlig knurrte der Wolfsmensch. Dann setzte er seinen Weg fort. Er nahm nicht den kürzesten Weg über die Lichtung. Ein vager Instinkt, den er vergebens zu unterdrücken versuchte, ließ ihn einschwenken und zur Spitze des Eies pilgern. Zumindest hatte er vor, sich dorthin zu begeben. Hier hoffte er einen einfacher zu begehenden Weg durch den Wald zu finden. Er war auch erst wenige Schritte gegangen, als er vor sich einen deutlich ausgetrampelten Pfad erkannte. Anfangs schimmerte er nur undeutlich durch die Gräser an seinem Saum, doch je näher er ihm kam, desto besser war er zu erkennen. Der Wolfsmensch blieb stehen. Leises Knurren löste sich aus seiner Kehle. Dann sank er auf alle viere und beroch den Pfad. »He, hallo – Sie da!« hörte er eine Stimme. Die Bestie ging in die Hocke und spähte aufmerksam in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war. Die Ohren waren spitz gestellt. 79
»Was machen Sie da? Was haben Sie überhaupt hier zu suchen?« Der Wolfsmensch erkannte eine hagere Gestalt, die sich ihm winkend näherte. Unter einem breitkrempigen Hut kam ein kantiges Gesicht zum Vorschein, dessen äußeres Zeichen der Würde ein wulstiger Schnurrbart war. Er reichte dem Mann bis weit über die Wangenknochen. Langsam begann der Wolfsmensch sich rückwärts zu bewegen. Dabei ließ er den Mann keine Sekunde aus den Augen. »Verdammt! Was machen Sie auf meinem Gebiet?« Nun erkannte die Bestie auch, daß der sich Nähernde eine kleine Handsichel in der Rechten trug. Anscheinend war er gerade bei der Arbeit gewesen, als der Wolfsmensch ihn auf sich aufmerksam gemacht hatte. Die Bestie war verwirrt. Warum rannte der Mann nicht weg? Dem Wolfsmenschen war sonderbar zumute. Ohne daß er zu sagen gewußt hätte, aus welchem Grund, fuhr er in seinem Rückzug fort. »Halt, bleiben Sie stehen!« schrie der Mann und schwenkte seine Sichel. »Sie werden mir Rede und Antwort stehen. das sage ich Ihnen!« Der Wolfsmensch verstand nicht, wie der Mann so reagieren konnte. Das heißt: Ziegler hätte es vielleicht verstanden, aber nicht das Geschöpf, das er derzeit darstellte. In ihm drängte es aufzustehen, sich umzuwenden und schnell das Weite zu suchen. Nicht aus Angst, sondern um 80
des Friedens willen. Die andere gefährliche Hälfte seines Ichs aber versuchte ihn dazu zu animieren, dem Näherkommenden den Garaus zu machen. Unentschlossen und mit zitternden Flanken blieb der Wolfsmensch bewegungslos hocken. Der Fluchende hatte sich ihm inzwischen bis auf wenige Meter genähert. Seine Gesten waren kaum geringer geworden. Er hatte den Kopf schief gelegt, um den Eindringling genauer betrachten zu können. »Zeigen Sie sich, Sie Feigling!« rief er. Doch seine Worte waren lange nicht mehr so wirksam, wie noch kurze Zeit zuvor. Der Wolfsmensch wurde hin und her gerissen. Jeden Augenblick glaubte er zwischen den Mühlsteinen seines gespaltenen Ichs zugrunde zu gehen. Sekunden darauf fühlte er sich wieder gefestigt. Schließlich machte er seinem Gespaltensein ein Ende. Zögernd tat er ein, zwei Schritte nach hinten, gerade so, als wolle er flüchten. Im nächsten Augenblick jedoch schnellte er bereits in die Höhe und sprang den Mann brüllend an. Dieser hatte sich seinem Standort mittlerweile soweit genährt, daß er zumindest das Sichelschwingen einstellte. Auch sein Näherkommen hatte an Tempo verloren. Das langhaarige Wesen wurde ihm unheimlich. Der Mann schrie auf. In der Weite der Einsamkeit vermengte sich der Laut mit dem Gebrüll des Wolfsmenschen, dessen Natur den Sieg über den Körper davongetragen hatte. Kaum jemand vernahm die Geräusche des unerbittlichen 81
Kampfes. Kaum jemand, mit Ausnahme der Frau des egoistischen Grundstücksbesitzers und seines Kindes. Von den Schreien des Mannes angelockt, kamen sie aus einer der zungenförmigen Einbuchtungen. Schreckensbleich blieben sie stehen und starrten auf das furchtbare Schauspiel, das sich ihnen bot. »Argh … Hilfe, hiilffeee …!« klangen die Schreie des Mannes. »So … so helft mir doch!« Doch die Frau und das Kind waren wie gelähmt, standen nur da und konnten nicht fassen, was sich vor ihren Augen abspielte. Verzweifelt versuchte sich der Mann aus der Umklammerung der Bestie zu befreien. Sein ganzes Trachten war darauf gerichtet, die Kehle aus der Nähe der blitzenden Fänge des Untiers zu halten. Von seiner anfänglichen Courage war nicht mehr viel zu spüren. Der Wolfsmensch trat in Aktion. Seine Augen sprühten rotes Licht, das sich in der vor Schreck geweiteten Iris des Gegners spiegelte. »Nein, ich will nicht!« schrie der Mann. »Ich will nicht sterben!« Seine Muskeln erlahmten. Die schreckliche Gewißheit, daß er der Schwächere war, daß er unterliegen würde, machte sich breit. Im nächsten Moment schnappten die Zähne zu … *
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Der Professor kannte den Weg zu der Zelle, in der sie das neue Opfer gefangen hielten. Sie lag genau neben der, aus der es Tage zuvor Ramon Ziegler zu flüchten gelang. Gunter schwieg. Stumm schritt er hinter dem Zwerg her und verfluchte den Augenblick, da er sich ihm verpflichtet hatte. Der Himmel auf Erden war ihm versprochen worden, sämtliche Schätze des Universums. Bis jetzt hatte er nicht einen Bruchteil davon zu sehen bekommen. Ja, noch mehr. Er hatte immer geben müssen, aber nie empfangen. Geben sogar, was ihm als einziges auf der Welt etwas bedeutete – seinen Bruder Peter. Die Chancen, ihn den Klauen der Polizei zu entreißen, standen schlecht. Er hatte genug. Er mißtraute dem Professor. »Der Schlüssel!« forderte der Gnom. Vor einer kunststoffverkleideten Tür war er stehengeblieben. Er hatte sich umgedreht und die Hand zum Empfang ausgestreckt. Gunter fingerte an seinem Schlüsselbund. Es dauerte eine Weile, bis er ihn von seinem Gürtel zu lösen vermochte. Der ungeduldige Blick des Professors machte ihn nervös. »Hier«, sagte er endlich und reichte dem Gnom den gesamten Bund. Der Professor begann am Schloß der Zelle zu hantieren. Zwei Sekunden später sprang es klackend auf. »Seien Sie vorsichtig«, hörte Gunter sich gegen seinen Willen rufen. Trotz allem war er auf den Zwerg angewiesen. Der Professor achtete nicht auf seine Warnung. Er ließ den Schlüssel stecken und stieß die Tür vollends auf. 83
»Martin Habsler!« rief er in die Kammer. Es war ein strenger, bestimmender Ruf. Nichts geschah. Gunter sah den Professor von der Seite an. Dann trat er neben ihn. »Kommen Sie heraus, Habsler!« rief nun er in die Zelle. Er hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. Als Habsler auch dieses Mal nicht antwortete, zwängte er sich zwischen dem Gnom und dem Türrahmen in das Innere der Zelle, nicht ohne zuvor von außen das Licht einzuschalten. Kurze Zeit brauchten die Neonleuchten, bis sie reagierten. Das Licht sprang an und sandte seine kalte Strahlung in jede Ecke der nackt wirkenden Kammer. »Stehen Sie auf, Habsler!« Martin Habsler hatte sich in den hintersten Platz seiner Zelle gedrückt. Das Haar stand ihm vom Kopf, die Kleidung war zerschlissen. Angst sprach aus jedem Zug seines Gesichts. Er antwortete nicht. »Aufstehen, sage ich!« Gunter fühlte sich stark. Er hatte lange genug den Unterlegenen markiert. »Nein. Ich … will nicht«, murmelte der Gefangene. »Du willst!« bestimmte Gunter. Er ging auf Habsler zu und ergriff ihn. Habsler schien den Schmerz nicht zu spüren. »Warum habt ihr sie umgebracht?« flüsterte er. 84
»Sie war im Weg«, sagte Gunter. »Warum habt ihr sie umgebracht?« wiederholte Martin Habsler. Gunter schwieg und zerrte den Gefangenen am Hemdkragen in Richtung Tür. Nach wenigen Schritten bereits wurde es ihm zu mühselig, und er wechselte in dessen Rücken. Habsler drehte sich um. »Warum ihr sie umgebracht habt?« fragte er wieder. »Ich habe sie nicht umgebracht«, schrie Gunter. »Holger war es.« Warum hat Holger das getan, dachte Martin Habsler. Seine Gedanken kreisten nur um seine geliebte Freundin. »Ist er richtig für Ihr Experiment?« fragte Gunter den Professor. Dieser trat beiseite und ließ den Gefangenen aus der Zelle treten. Von seitwärts betrachtete er ihn genau, jeden Muskel, jedes Erscheinungsmerkmal. Dann nickte er. »Ziegler war besser«, sagte er. »Ja!« entgegnete Gunter bestimmt. »Das war er.« Aber er dachte dabei mehr an den Nutzen, den er für die Befreiung seines Bruders gehabt hätte. »Auf die psychische Situation kommt es jedoch nicht an«, stellte der Professor fest. »Es wird ohnehin ein anderer Geist durch ihn erwachen.« Aufmerksam lauschte Gunter den letzten Worten des 85
Zwergs. Bis jetzt wußte er nicht, welches die eigentlichen Ziele dieses Mannes waren. Der Gnom winkte. »Gehen wir!« Gunter versetzte Habsler einen Stoß in den Rücken. Gemeinsam folgten sie dem zügig voranschreitenden Professor. Den ganzen Weg über wurde kein Wort gesprochen. Martin Habsler schwieg, weil er der Realität immer mehr zu entfremden drohte, Gunter aus Nachdenklichkeit. Endlich hatten sie das Schott erreicht. Mit einer sparsamen Geste öffnete der Zwerg es. Leise summte es vor ihnen in die Höhe. Gunter kannte den Artblick bereits, der sich ihm bot, der Professor nicht minder. Nicht so der Gefangene. Abrupt wurde Martin Habsler aus seiner Traumwelt gerissen. Ein halb ersticktes Schluchzen kam aus seiner Kehle. »Bitte – bringt mich um«, flüsterte er. * Die Gestalt in den Armen des Wolfsmenschen erschlaffte. Hechelnd verharrte das Untier über dem leblosen Körper. Sein Blick, bis eben noch auf das Opfer gerichtet, begann gierig umherzuirren. Als er auf die beiden Frauen am Rande der Baumzunge 86
traf, erklang anhaltendes Kreischen. Ihre Anspannung löste sich in diesem Laut. Sie zitterten vor Angst. Der Wolfsmensch erhob sich. Kurz streiften seine Pranken die zerschlissene Kleidung und hinterließen ihre Spur, dann bewegte er sich langsam auf die beiden Frauen zu. Die Entfernung zwischen ihnen betrug mehr als hundert Meter. Dennoch glaubte die Frau des Ermordeten das tückische Glitzern in den Augen der Bestie erkennen zu können. Ihr gebeugter Gang verstärkte noch den Eindruck der sich nähernden Gefahr. Der Blick der Frau irrte zu jenem Ort ab, an dem eine Anzahl niedergedrückter Halme das Ende ihres Mannes offenbarte. Sie sah auf die Bestie, auf ihr Kind und zog es zu sich heran. Die Geborgenheit, die ihre Tochter in ihren Armen empfand, gab ihr Kraft. Mit übergroßer Willensanstrengung riß sie ihren Blick von dem des Wolfsmenschen los und schob ihre Tochter von sich. »Lauf, Gabi!« sagte sie. »Du mußt laufen, so schnell du kannst! Lauf ins nächste Dorf!« Eine Sekunde später drehte das Mädchen sich um und lief in den Wald. Die Frau sah ihm noch eine Weile nach, doch bald war der hellblonde Schopf zwischen den Bäumen verschwunden. Sie wandte sich um. Der Wolfsmensch hatte sie fast erreicht, und der hämmernde Schlag ihres Herzens verriet die Aufregung, der sie ausgesetzt war. 87
Die Bestie begann ihren Schritt zu verlangsamen. Sie schlich nicht mehr direkt auf ihr Opfer zu, sondern fing an, es im Halbkreis zu umrunden. Das Gesicht der Frau blieb immer in ihre Richtung gedreht. »Komm!« sagte sie heiser. »Komm doch! Du wirst doch vor mir nicht zurückschrecken?« Sie lachte. Ihr Blick fiel auf den Pelz, auf den mit dichten schwarzbraunen Haaren bedeckten Schädel und auf die Hände des Untiers. Auch auf die rote Färbung, die der Pelz an dieser Stelle aufwies. Blut, dachte sie emotionslos. Das Blut meines Mannes … Die Bestie blieb stehen, hob leicht den Kopf in die Höhe und öffnete den Rachen zu einem drohenden Knurren. Die Frau erkannte, wie der Blick des Wolfsmenschen ständig auf sie gerichtet blieb. Zögernd kam das Untier näher. Es war nur wenig kleiner als die Frau. Wäre die gekrümmte Haltung nicht gewesen, so hätte es sie um mindestens einen halben Kopf überragt. Die Bestie hob eine Pranke und führte sie zögernd in Richtung auf das Gesicht der Frau. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Trotzdem blieb sie regungslos stehen. Sie fühlte den rauhen Pelz auf ihrer Wange und wollte nicht glauben, was mit ihr geschah. Das gibt es nicht, pochte es in ihr. Alles ist nur ein Traum, ein nie endender Traum! Ein Alptraum? Der Wolfsmensch zuckte zurück, stieß ein kurzes Zischen aus, dessen Ursache die Frau nicht erkannte, dann wandte er sich um und rannte gebückt in die 88
entgegengesetzte Richtung. Sie wollte den Arm heben, um ihn aufzuhalten. Doch die Furcht in ihr war stärker. Der Mörder deines Mannes, hämmerte es in ihren Schläfen. Sein Mörder! »Aber …«, stammelte sie. Die Bestie war kaum mehr zu erkennen. Wie in panischer Angst schien sie aus der Nähe der Frau zu flüchten. Es dauerte nicht lange, und sie war am Horizont zwischen den Bäumen verschwunden. Die Frau machte sich auf den Weg. Noch im Gehen zog sie sich ihre weiße Strickjacke von den Schultern. Ihr Ziel war der Todesort ihres Mannes. * Kommissar Becker hielt unwillkürlich den Atem an. Langsam schob er seinen Oberkörper, der bis dahin zurückgelehnt im Sessel geruht hatte, nach vorn. Seine Müdigkeit war verflogen. »Ach – äh – Fräulein Fleckenstein«, er trug einen entsprechenden Gesichtsausdruck zur Schau, »könnten Sie das bitte noch mal wiederholen? Ich muß Sie mißverstanden haben.« »Ich glaube kaum«, erwiderte Karen. Ein leises Lächeln lag um ihre Mundwinkel. »Ein Wolfsmensch hat den Unfall verursacht, bei dem mein Bruder ums Leben kam. In seiner wirklichen Gestalt ist dieser Wolfsmensch eine anerkannte Persönlichkeit: Dr. Ramon Ziegler. Sie wissen das.« 89
»Nun. Es scheint, als hätte ich Ihre Quellen noch bei weitem unterschätzt«, bekannte er. »Sagen wir: Die Erfahrung lehrt es sie.« Kommissar Becker sah sie verwundert an. Wie nicht anders zu erwarten, wußte er mit dieser Antwort nichts anzufangen. Diese Frau war ein sonderbares Geschöpf. »Ich toleriere Ihr Wissen«, sagte Becker. »Trotz allem führt uns unser Gespräch immer wieder nur zu einem Punkt zurück: Warum kommen Sie zu mir? Der reine Drang nach Information kann es nicht sein. Sie sind ebenso gut, möglicherweise besser informiert als ich. Eine Unmöglichkeit an sich.« »Sie sagen es. Aber Sie haben recht. Wir sollten zum wesentlichen Punkt meines Besuchs kommen. Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen!« »Ein Angebot?« staunte Becker. »Ein Angebot kann nur auf der Basis gegenseitigen Vorteils von Nutzen sein. Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen von Nutzen sein könnte?« Karen Fleckenstein lächelte. Ruhig strich sie die Fussel von ihrem Rock und zog ihn wieder über die Knie. Dann sah sie den Kommissar an. »Doch«, sagte sie. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich muß Dr. Ramon Ziegler finden!« * »Das trifft sich gut«, erwiderte Becker grinsend. »Dasselbe Anliegen beschäftigt uns derzeit. Und wir finden einfach keine Anhaltspunkte, wo er sein könnte.« 90
»Sie wissen es nicht?« fragte Karen. »Aber er ist doch wieder zurückgekehrt. Es ging durch sämtliche Medien, daß ihm die Flucht aus den Händen der Entführer gelungen sei.« »Stimmt! Aber noch bevor wir herausfinden konnten, welchem Fluch er unterliegt, wurde er zum Mörder. Seitdem befindet er sich auf der Flucht vor uns.« »Vor Ihnen?« »Nicht direkt vor uns. Eigentlich vor allem Menschlichen. Diesen Eindruck habe zumindest ich gewonnen. Er wird bestärkt durch einen Anruf, den ich kürzlich erhielt. Er bat mich um Hilfe. Er sagte, er hielte es nicht mehr aus, irgend etwas müsse geschehen. Da er sich gerade in einem seiner wenigen lichten Augenblicke befand, wollte er bei dieser Telefonzelle auf uns warten. Als wir dort ankamen, war er verschwunden.« »Sie haben keine Anhaltspunkte?« »Wenige«, bekannte Kommissar Becker verlegen. »Zu wenig.« Karen Fleckenstein war schweigsam geworden. Nach Beckers Eröffnung schien sie in sich gekehrt. Ein ganz anderer Wesenszug kam bei ihr zum Vorschein, der Kommissar nahm einen Kuli vom Schreibtisch und lehnte sich im Sessel zurück. Nachdenklich blickte er die Frau an. »Sie sind verdammt gut informiert!« sagte er endlich zum wiederholten Mal. Im gleichen Atemzug lächelte er entschuldigend. »Verzeihen Sie, aber eine Sache läßt mir keine Ruhe: Sie sprachen von einem Wolfsmenschen?!« Karen Fleckenstein sah auf. Ihr Blick war eine einzige 91
Aufforderung, den Grund seiner Feststellung zu erläutern. Becker tat ihr den Gefallen. »Auch einer meiner Kollegen sprach von einem solchen Wesen. Leider kann ich derzeit keinen großen Wert auf seine Aussage legen. Er steht unter extremer Schockeinwirkung. Kein Arzt der Welt vermag unter diesen Umständen herauszufinden, ob das, was er sagt, nicht von dem Zustand diktiert wird, in dem er sich befindet.« »Und Sie wollen von mir wissen, ob das stimmt, nicht wahr? Ob sich Dr. Ziegler tatsächlich in einen Wolfsmenschen verwandeln kann?« »Nein, nein«, beteuerte Kommissar Becker, »durchaus nicht. Alle unsere Ermittlungen laufen auf diese Tatsache hinaus – wenn im Augenblick auch ich noch der einzige bin, der das erkennt. Aber, wissen Sie, ich habe mich notgedrungen mit der Materie befassen müssen, auch wenn es etwas sonderbar anmutet für einen Polizisten, sich mit Okkultismus abzugeben. Und um einen Punkt kreisen meine Gedanken immerzu.« »Der wäre?« »Wir haben keinen Vollmond!« Karen Fleckenstein war die Aufmerksamkeit in Person. Die Art und Weise, in der Kommissar Becker auf einen bestimmten Punkt zusteuerte, ließ die Vermutung in ihr aufkommen, daß es sich um einen wesentlichen Tatbestand handele. Nun aber wußte sie mit seiner Feststellung nichts anzufangen. Verwundert schaute sie ihn an. 92
»Vollmond?« fragte sie. »Tut mir leid, Herr Kommissar, ich verstehe nicht, worauf...« »Nur unter dem Bann des Vollmonds«, unterbrach Becker sie, »verwandelt sich der infizierte Mensch in ein Wolfsgeschöpf. Einmal im Monat geschieht das, wenn das mitternächtliche Licht auf seinen Körper trifft. Ramon Ziegler hat sich jedoch binnen weniger Tage mehrmals in einen Wolfsmenschen und wieder zurück verwandelt – und das am hellen Tag!« Karen stockte der Atem. Sie wußte selbst nicht, was sie an diesen Worten schockierte. »Ich frage mich, woher Sie Ihr Wissen haben, Herr Kommissar. Sie stehen Werken über Okkultismus und Jenseitsforschung skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber – so sagten Sie selbst. Warum muß dann stimmen, was in diesen Schriften steht? Warum sollte sich ein Mensch denn nicht – sofern man den Begriff gebrauchen darf – willkürlich in einen Wolfsmenschen verwandeln können?« »Weil«, sagte Kommissar Becker und spielte fortwährend mit dem Bleistift, »der Kern der Wahrheit in einer Legende meist größer ist, als es scheint. Ein Gefühl sagt mir, daß das auch hier der Fall sein muß. Warum also, so frage ich Sie, verwandelt sich Dr. Ziegler am hellen Tag?« Karen starrte den Kommissar schweigend an. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, als wolle sie etwas sagen, und wußte doch keine Antwort. »Vielleicht…« Etwas in ihrem Innern dröhnte die Wahrheit hinaus. Jene Wahrheit, die der Kommissar eben 93
formuliert hatte. Michael? * Sie schoben den Gefangenen ins Labor. »Bitte«, stammelte Habsler. »Nicht das, nicht… Tötet mich lieber!« Sein irrer Blick war auf den Torso des Mannes gerichtet, der nackt auf der Plattform lag. Die Stelle, die normalerweise der Hals einnahm, wurde von einem Bündel Drähten in Anspruch genommen. Sie verbanden das Bruststück des Körpers mit dem Kinnansatz. Ein leises Rauschen und Stampfen lag in der Luft, das arhythmisch zum Schlag von Martins Herzen verlief. Mit aller Kraft warf er sich gegen Gunters festen Griff. Einzig seine körperliche Schwäche verhinderte, daß er sich befreien konnte. »Du wirst nicht sterben«, beruhigte ihn der Professor. »Auch der Körper auf der Liege ist nicht tot. Tot kann ich euch nicht gebrauchen.« Martins Widerstand erschöpfte sich. Seine Muskeln schmerzten von der Umklammerung. Sein Atem ging schnell und schwer. »Du wirst nichts spüren«, sagte der Professor und begab sich zu einem Schaltpult. Habsler schloß die Augen. Er mochte das Grauen vor sich nicht mehr sehen. Doch auch unter den geschlossenen Lidern verlor sich das Bild des Schreckens nicht. 94
»Wohin?« hörte er Gunter. Es war offensichtlich, daß dessen Frage an den Gnom gerichtet war, der sich hochtrabend Professor nennen ließ. Martin vernahm keine Antwort. Er spürte nur, wie sich der Griff Gunters um seine Oberarme verstärkte und er in eine bestimmte Richtung geschoben wurde. Als sein Magen gegen etwas Kaltes stieß, riß er schockiert die Augen auf. »Nicht!« Er befand sich direkt vor einer Liege, die ebenso aufgebaut war wie jene, auf der ein anderes Opfer ruhte. An ihrem Kopfende befand sich eine metallene Haube, deren Fühler gegen die Halterung gepreßt waren wie die Beine einer Spinne gegen ihren Faden. Martin zitterte. Er nahm kaum wahr, wie der Professor ihn von hinten anstieß. Erst als ihn Gunter herumzog, erkannte er das brodelnde Etwas, das dieser in einem Meßzylinder in der Hand hielt. Eine Flüssigkeit. Er starrte durch den Professor hindurch und ignorierte das Gebräu. Es war kein Willensakt, vielmehr das Tun eines Menschen, dessen Dasein sich immer mehr zum geistigen Wrack hin verlagerte. »Trink!« forderte der Professor ihn auf. Er hielt das Gefäß so weit in die Höhe, daß Martin gezwungen war, die Dämpfe einzuatmen. Seine Gedanken weilten bei der Gestalt auf der Liege, als er das Gefäß an die Lippen setzte und trank. Trotz des Bewußtseins um das Grauenvolle war er nicht in der Lage, sich dagegen zu stemmen. Die Flüssigkeit brannte heiß in seiner Kehle. 95
Als er ausgetrunken hatte, nahm Gunter ihm den Zylinder wieder ab. Er reichte ihn an den Professor weiter und wandte sich Martin zu, um ihn auf die Plattform zu legen. Willenlos ließ er es mit sich geschehen. Er kam nicht mehr auf den Gedanken, sich zu wehren … Nachdem Gunter ihn plaziert und die Gurte um den Leib geschnürt hatte, entfernte er sich wieder von der Liege. Verstohlen beobachtete er den Professor, der an seinem Pult Schaltungen vornahm. Martin wurde nicht mehr gewahr, daß sich das leise Rauschen und Stampfen um ein weiteres Geräusch bereicherte. Es war ein Sirren, dessen Frequenz immer höher stieg, bis sie im Ultraschallbereich verschwand. »Professor?« wagte Gunter zu fragen. Der Zwerg schien ihn nicht gehört zu haben. Weiter schaltete er an seinem Pult und warf hin und wieder einen Blick auf die zwei Liegen. »Professor, brauchen Sie mich noch?« Diesmal war Gunters Frage lauter gewesen. Der Gnom schnellte herum und starrte ihn aus fiebernden Augen an. »Stör mich nicht!« keifte er. »Du hast mich nicht von meiner Aufgabe abzuhalten! Verschwinde, der große Augenblick rückt näher – der große Augenblick!« Die letzten Worte schien er nur mehr für sich selbst gesprochen zu haben. Er wandte sich wieder um und fuhr in seiner Tätigkeit fort. Gunter begriff. Verärgert ging er auf das Schott zu und öffnete es mit einem Schlag gegen das Schloß. Kurz nur stockte sein Schritt. Es drängte ihn sich umzuwenden und 96
seinem Unwillen Ausdruck zu verleihen, doch die Vernunft gewann die Oberhand. Er konnte nichts gegen den Professor ausrichten. Es wäre sein Untergang – gerade jetzt, da dieser ihn nicht mehr zu benötigen schien. Während Gunter das Labor des Wahnsinnigen verließ, klappte die stählerne Spinne ihre Gliedmaßen aus und näherte sich langsam Martin Habslers Schädel… * Schwer atmend stand das Mädchen vor der Polizeistation. Hinter ihr rumpelte ein Peugeot über die vernarbte Teerdecke der Straße, das Röhren eines Motorrads erklang. Endlich überwand sie sich. Mit einem Blick zur Seite lief sie die vier Stufen hoch und schob die Tür zur Seite. »Hallo!« machte sie zögernd. Sie warf einen Blick in den Raum. Niemand war anwesend. »Hallo!« sagte sie erneut, diesmal bereits etwas mutiger. Sie drehte sich um. Ihr Blick fiel auf ein Schild, das in der Mitte der gegenüberliegenden Tür angebracht war. »Wachstube« stand dort. Das Mädchen ging darauf zu und klopfte an. »Ja?« erklang von innen eine Stimme. Gabi drückte die Klinke herunter und schob die Tür auf. Ein feistes Gesicht blickte ihr entgegen. Im rechten Mundwinkel saß eine Pfeife. Sie hatte dieselbe Farbe wie der struppige Bart, der sich gratartig um das Oval des 97
Gesichts zog. »Entschuldigen Sie…«, begann die Besucherin. Der Polizist schob die Anzeige weg, die er gerade bearbeitete, und stützte beide Ellenbogen auf einen schimmelweißen Aktendeckel. »Was willst du denn hier?« fragte er verwundert. Gabi stockte der Atem. »Mein … mein Vater«, stammelte sie, nachdem sie zweimal geschluckt hatte. »Und … Mama …« »Was ist mit deinen Eltern?« Er erhob sich hinter dem Tisch und trat um ihn herum auf das Mädchen zu. Dicht vor ihr hockte er sich hin und ergriff ihre Hände. Sie wich nicht zurück. »Was ist mit ihnen?« Plötzlich rannen Tränen über die Wangen des Mädchens. Gabi wischte sie mit dem Zeigefinger fort. »Ich …«, sagte sie stockend. »Irgend etwas … mein Vater kämpft mit etwas … mit einem Mann … ein Mann, überall voller Haare … und »Mutti… sie hat geschrien, sie hat Angst…« Die Aufmerksamkeit des Polizeibeamten verstärkte sich. Er beachtete seinen Kollegen nicht, als dieser mit einem Becher dampfenden Kaffees in die Wachstube trat. »Weiter!« drängte er das Mädchen. »Erzähl' uns ganz genau: Was hast du gesehen – und wo?« »Er kämpft, mein Vater … der andere brüllt so schrecklich »Wo, Mädchen, wo?« 98
»Bei uns«, sagte sie. »Auf unserem Grundstück.« Es verging kaum eine Minute, da hatten die Polizisten heraus, wo das Mädchen zu Hause war. Eine weitere Minute später hatten sie das Nötigste ergriffen und saßen im Polizeiwagen. »Es hört sich an wie eine ganz gewöhnliche Schlägerei zwischen einem Mann und einem Langhaarigen«, bemerkte einer von ihnen und strich Gabi über das kurzgeschnittene, blonde Haar. Er war der, den das Mädchen in der Wachstube angetroffen hatte. »Ich weiß nicht, Frank«, erwiderte sein Kollege. Er konzentrierte sich völlig auf die Straße, die sie in einem Wahnsinnstempo hinunterrasten. Die Stadt hatten sie vor einigen Minuten hinter sich gelassen. »Was weißt du nicht?« »Die Erzählung der Kleinen. Die klingt mir nicht… wie soll ich sagen? Normal wäre der falsche Ausdruck.« Frank schwieg. Ruhig betrachtete er das Mädchen, das zwischen ihnen saß und mit bleichem Gesicht an den Fingernägeln kaute. Als der Feldweg einen scharfen Knick machte, wurde der Wald, an dessen Saum sie bislang gefahren waren, wie von Geisterhand fortgezogen. »Dort! Dort ist es!« rief das Mädchen und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Haus, das in Sicht kam. Frank sah seinen Kollegen von der Seite an. Dieser reagierte jedoch nicht. Mit unbewegter Miene steuerte er darauf zu. Noch bevor sie das Haus erreicht hatten, nahm Frank 99
eine Gestalt wahr, die bewegungslos im Gras verharrte. Es war eine Frau. »Mutter!« rief Gabi. Der Wagen hielt. Frank mußte das Mädchen festhalten, damit es nicht aus dem Auto lief, um sich seiner Mutter in die Arme zu werfen. Es wehrte sich. »Du wartest hier!« bestimmte der Polizist mit aller Energie, die er aufzubringen vermochte. »Ja«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Ich denke auch, es ist besser, wenn du hier auf uns wartest.« Gabi gab nach. Es fiel ihr nicht leicht. Frank warf ihr noch einen strengen Blick zu, dann stiegen sie aus dem Wagen. Im Eilschritt gingen sie auf die Frau zu. Sie rührte sich nicht und hatte weder die Ankunft des Wagens bemerkt, noch jetzt die der Polizisten. Als die Beamten in der Nähe der Frau waren, erkannten sie einen leisen Schimmer. Er war von brauner Tönung und verriet, daß die Frau nicht allein sein konnte. Aber sie war so ruhig! Frank stockte der Atem, kaum daß er den Körper entdeckte. Lang ausgestreckt lag er vor der Frau. Eine weiße Strickjacke war über den Oberkörper gebreitet. Er blieb stehen. Unbewußt vermerkte er, wie sich sein Kollege der Frau weiter näherte. Jedoch war sein Schritt langsamer geworden, zögernder. Er umrundete die Frau halb und trat dann an ihre Seite. »Frau Tahmann«, flüsterte er. Frank faßte sich. Bedächtig und mit klopfendem Herzen stellte er sich hinter sie. 100
Sein Kollege verzichtete darauf, die Frau ein weiteres Mal anzusprechen. Stumm starrte er auf die Leiche. Mit ihm Frank. Das Gesicht der Frau hob sich. Trauer spiegelte sich in ihren Augen. Dann beugte sich Elisabeth Tahmann vor. Sie ergriff die Strickjacke und zerrte sie vom Leib ihres Mannes. Die beiden Polizisten erbleichten. Die Kehle des Toten war eine klaffende Wunde, als sei sie den Fängen eines Wolfs zum Opfer gefallen. Elisabeth Tahmann seufzte leise auf und fiel vornüber … * Kommissar Becker hatte einen Stuhl so plaziert, daß er seine Beine ausstrecken und sich zurücklehnen konnte. Karen Fleckenstein kauerte sich in ihrem Stuhl zusammen. Sie warteten. Beckers schläfriger Blick starrte nach vorn. In Gedanken fluchte er. Irgend etwas war mit dieser Frau, das nicht ins Schema paßte. Es schimmerte durch die Art,, in der sie sich gab. Becker war es müßig, darüber nachzusinnen. Was wollte sie von Ramon Ziegler? Der Kommissar erfaßte, daß er die Frau bislang noch gar nicht danach gefragt hatte. Bei jeder anderen Person hätte er es mit Sicherheit gemacht, doch bei ihr … 101
Er war nicht erst dazu gekommen. Dr. Ziegler – Karen Fleckenstein. In welchem Zusammenhang standen sie? Und dann war da noch – dieser Michael Fleckenstein, ihr Bruder … Das Telefon schrillte. Becker riß es fast aus dem Sessel. Rumpelnd fielen seine Beine vom Stuhl und stießen ihn weit von sich. Ein Hechtsprung brachte ihn in die Nähe des Hörers. Er griff nach ihm. »Kommissariat Becker?« Ohne es wirklich wahrzunehmen, sah er zu, wie Karen zusammenzuckte. Dann schlug sie die Augen auf, augenblicklich war sie gespannte Aufmerksamkeit. »Spreche ich mit Ihnen persönlich, Herr Kommissar?« sagte eine Stimme. Beckers Hand umkrampfte den Hörer. »Ja!« rief er. »Das ist gut. Man … man verwies mich von einer Stelle zur anderen »Ich habe Anweisung gegeben, sämtliche Nachrichten besonderer Art an mich weiterzuleiten. Wer sind Sie?« »Frank Opitz, Polizeibeamter in Mühlheim. Mein Kollege und ich haben eine solche Nachricht mitzuteilen.« »Sprechen Sie!« forderte Becker ihn auf. Er schaute Karen bezeichnend an. Während Opitz sprach, kritzelte Becker mit seinem Kuli auf einen Block. Er machte sich keine Notizen, die Kritzeleien waren Ausdruck seiner Nervosität. Was ist nur mit mir los, fragte er sich. Ich bin doch sonst 102
nicht so aufgeregt! Aber der Gedanke war nur flüchtig. Becker unterbrach den Polizisten nicht ein einziges Mal. Zwar sprach dieser nicht gerade fließend, doch der Kommissar war viel zu sehr im Bann der Ereignisse, als daran Anstoß zu nehmen oder gar Nachfragen zu stellen. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja, gut. In Kürze.« Dann legte er auf. »Und?« fragte Karen. Sie hatte sich erhoben und trat auf den Kommissar zu. Dicht am Tisch stehend, stützte sie beide Hände ab und reckte ihren Hals. »Nun sagen Sie schon!« Becker sah sie an. Sein Gesichtsausdruck war steinern und ließ vermuten, daß die Spuren, die man von Ziegler möglicherweise gefunden hatte, so brauchbar nicht waren. »Man hat ihn gesehen«, sagte er. Karen blieb stumm. Als die Zeit verstrichen war, daß sie etwas hätte sagen können, fuhr er fort: »Man hat ihn gesehen, als er ein neues Opfer schlug. Ein Mensch mehr ist zu beklagen. In Mühlheim, zwanzig Kilometer von hier, in Richtung Biblis.« Karen Fleckenstein senkte den Kopf. »Wir müssen ihn finden«, flüsterte sie. »Wir müssen!« Becker gingen die Gedanken durch den Kopf, die eben noch an ihm genagt hatten. Warum? Doch jetzt war nicht die Zeit zur Klärung dieser Frage. Er warf einen Blick auf seine Kritzeleien. Täuschte er sich oder konnte er aus den unordentlich hingeworfenen 103
Strichen ein Bild konstruieren? Ja – eine am Galgen baumelnde Gestalt! Gemeinsam mit Karen verließ er das Büro. Sie mußten auf dem schnellsten Weg nach Mühlheim. Ramon Ziegler wartete nicht. * Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn, sein Blick erschien irr. Die Hände, mit denen er die Schaltungen vornahm, fieberten erregt. Der Professor drehte sich um. »Keine Angst«, sagte er heiser vor Erregung. »Nur keine Angst. Es wird gleich vorbei sein.« Dann lachte er wild auf und betrachtete die metallenen Spinnen, die sich um die Schädel seiner Opfer krallten. »Bald wirst du mir dienen«, flüsterte er. »Bald schon!« Er wandte sich wieder ab. Mit einer Anzahl Schaltungen verstärkte er das Surren und Seufzen, das den Raum erfüllte. Man glaubte, die Geräusche selber wären es, die den Gnom zu immer stärkerer Leistung anstachelten. »Mehr, mehr«, schrie er. Die Körper Habslers und des Unbekannten erglühten in strahlendem Gelb. Wie weicher Flaum legte sich die Aura um sie. Das Gesicht des Professors zeigte den Ausdruck sich anbahnender Verzückung. Sein Hantieren war ein Fliegen 104
über Schalter und Hebel, über Arretierungen, auf deren Berührung Lampen aufleuchteten und verloschen. Plötzlich wurde es finster. Der Zwerg erstarrte zur Bewegungslosigkeit. »Was ist?« fragte er in die Dunkelheit hinein. Nur die Geräusche der Maschinen antworteten ihm, das Sirren und Seufzen. Vom Schaltpult her flackerte das Licht der Lampen. Zwei Minuten dauerte es, dann hatte sich der Professor an die Finsternis gewöhnt. Er suchte nicht ihre Ursachen, sondern sah sie als ein Zeichen, daß seine Machenschaften willkommen waren. »Ich eile«, rief er. Fast blind schaltete er weiter. Seine Hände waren wie ein Schatten. Der Großteil der Helligkeit, die verblieb, ballte sich um die Köpfe zusammen, die das Oberteil der Plattform zierten. Dort prägten sich immer mehr Farben aus. Rhythmisches Pulsieren zog durch den Raum. Der Professor nahm es nicht wahr. Noch immer schaltete er. Es schien, als wollte er sein Lebtag nichts anderes mehr tun. Endlich hielt er inne. Reglos verharrte er. Tief atmete er und lauschte den Maschinen. Ein neuer Ton war hinzugekommen. Fast konnte man auch ihn als einen Seufzer bezeichnen. Und doch hatte er noch mehr zum Inhalt. Weitaus mehr. Der Gnom drehte sich um und ging langsam auf seine 105
Liegen zu. Er überschritt die Ränder des Lichtkranzes. Nichts änderte sich. Nur das Funkeln in seinen Augen vermählte sich mit der Lichterflut. Er stellte sich so zwischen die beiden verkrüppelten Körper, daß jede Hand über, dem Kopf eines von ihnen zu ruhen kam. »Deine Zeit ist gekommen!« rief der Gnom. Seine Stimme wurde von den Farben aufgenommen und um ihn herumgetragen, einmal, zweimal, um dann in der Dunkelheit zu versinken. »Komm und sei mir zu Diensten! Mein Teil ist getan, tu nun den Deinen! Komm aus der Hölle ans Licht der Welt! Laß uns zu Herrschern werden, zu Göttern! Komm – Kaghaf!« * Der Wolfsmensch rannte. Allein der Instinkt regelte die Richtung, in die die Bestie lief. Wäre er nicht gewesen, so hätte sie ihr Ziel völlig aus dem Sinn verloren. Langsam kam das Wesen wieder zu sich. Die Furcht vor sich selbst legte sich. Besonnenheit kehrte zurück. Plötzlich blieb der Wolfsmensch stehen: Geduckt sah er sich um. Nur Wald war um ihn, soweit er auch schaute. Die Bestie schnupperte. Ein leichter Wind wehte, der den würzigen Duft des Waldes mit sich führte. 106
Und noch etwas! Ein bekannter Duft… Der Wolfsmensch knurrte und reckte seine Pranken. Kampflust erwachte in ihm. Doch diesmal war sie anders als sonst. Gepeinigt heulte er auf. Erinnerungen zogen an seinem geistigen Auge vorüber. Böse Erinnerungen an die Zeit, da er zu dem Monster wurde … Zwei Sekunden lang sprühten seine Augen ohnmächtigen Zorn, dann rannte er weiter. Äste knirschten unter seinen Sohlen, Laub flog davon. Sein Rennen hatte sich gewandelt. Es war erwartungsvoll geworden. Sehr erwartungsvoll … * Kommissar Becker und Karen Fleckenstein trafen nahezu gleichzeitig mit dem Notarztwagen am Tatort ein. Es hatte lange gedauert, bis dieser den Weg in den Außenbezirk von Mühlheim fand. Die Stadt lag zu abgelegen. Während sich die Sanitäter gemeinsam mit dem Arzt um Elisabeth Tahmann kümmerten, sah Becker auf die mit einer Leinendecke verhüllte Gestalt des Ermordeten. Neben ihm stand Karen. Sie verhielt sich mustergültig. Einzig ein gelber Teint in ihrem Gesicht verriet ihre wahren Gefühle. »Haben Sie von ihr erfahren können, wie es sich zugetragen hat?« fragte der Kommissar den Polizisten, der ihn benachrichtigt hatte. 107
»Einigermaßen«, erwiderte dieser. »Allerdings kam die Frau selbst erst später hinzu. So wußte sie nur zu berichten, wie sich der Kampf zutrug und was nach dem Ende geschah. Den Anfang vermag sie uns nicht zu schildern.« »Vielleicht ist das auch nicht so wichtig«, sagte Becker. Er warf seinem Gegenüber einen auffordernden Blick zu. Frank Opitz begann zu erzählen. Immer wieder schweifte der Blick des Kommissars zur Leiche und der Frau, um die sich die Sanitäter bemühten. Sie war von einem Schock gezeichnet. »Er hat sie nicht ebenfalls angegriffen?« fragte Karen, als der Polizist seine Ausführungen beendete. »Nein!« mischte sich sein Kollege ein. »Wir verstehen das auch nicht. Den Worten der Frau zufolge muß er grausam vorgegangen sein. Die Frage erhebt sich, warum er vor Elisabeth Tahmann halt machte?« Kommissar Becker wandte sich ab und ging auf die Frau zu. Man hatte sie im Innern des Notarztwagens auf eine Liege gebettet. Ihre Beine lagen etwas höher als ihr Kopf. So war gewährleistet, daß trotz der erweiterten Gefäße als Folge des Schocks das Gehirn ausreichend versorgt wurde. »Frau Tahmann?« sprach er sie an. Als einer der Sanitäter ihn mit entschuldigendem Blick zur Seite drängen wollte, stemmte er sich dagegen. Er wußte, daß es falsch war, was er machte. Eigentlich hätte er mit der Kranken nicht über den Tod ihres Mannes sprechen dürfen. Die Gefahr, daß sich der Schock vertiefte, war zu groß. Doch alles in ihm schrie danach. Er mußte es wissen. 108
»Das Wesen war vor Ihnen, Frau Tahmann, es sah sie an. Nur Sie können uns sagen, was es dazu bewog zu flüchten.« Seine Stimme klang flehend. »Was haben Sie in seinen Augen gesehen, Frau Tahmann, was?« Schweiß stand auf der Stirn der Frau. Ihre weit geöffneten Augen starrten ins Leere. Doch Becker wußte, daß sie ihn verstanden hatte. Wie abwesend wandte sie den Kopf. Ein Hauch von Leben kehrte in ihre Augen zurück. »Einsamkeit«, antwortete sie, »unendliche Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe – eine Sehnsucht, die ewig unerfüllt bleiben wird Elisabeth Tahmann hatte die Worte klar und deutlich gesprochen. Sie waren so voller Ausdruck gewesen, daß den Kommissar unwillkürlich fröstelte. »Kommen Sie!« hörte er hinter sich die energische Stimme des Arztes. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und zog ihn von der Liege zurück. Als sich Becker umdrehte, traf ihn der unwillige Blick des Arztes. Schnell schob sich Kommissar Becker an dem Mediziner vorbei und verließ den Notarztwagen. Gedankenverloren bewegte er sich auf die kleine Gruppe der zwei Polizisten und Karen zu. »Es ist wirklich sonderbar«, hörte er schon von weitem Frank Opitz' Stimme, »daß ausgerechnet die Frau verschont blieb. Noch sonderbarer aber ist, was sich überhaupt zugetragen hat. Das Geschehen zeugt von soviel Unmenschlichkeit, daß man sich unwillkürlich fragt, was 109
das für ein Geschöpf war, das hier seine Spuren hinterließ.« »Richtig«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Es geht weit über das hinaus, was man noch als Schlägerei mit unglücklichen Folgen bezeichnen kann. Ich weiß mir keinen Rat.« Karen Fleckenstein schwieg zu den Worten der beiden Polizeibeamten. Es war deutlich, daß sie sich erst jetzt jeden Kommentars enthielt und bis eben noch ihre Meinung kundgetan hatte. Als sie erkannte, daß sich der Kommissar wieder der Gruppe näherte, wandte sie sich ihm zu. »Haben Sie sie sprechen können?« fragte sie. Kommissar Becker schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht schlau aus dem, was sie sagte. Es paßt einfach nicht in das Bild, das wir uns bisher von dem Wolfsmenschen machten.« »Wolfsmenschen?« bemerkte Opitz verwundert. »Wovon sprechen Sie?« Becker ignorierte ihn. »Die Frau sprach von Einsamkeit, die sie in seinen Augen hätte lesen können. Und von einer unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. Das klingt nicht nach dem Wesen, das wir suchen.« Karen Fleckenstein dachte nach. Falten zeigten sich auf ihrer Stirn. »Warum eigentlich nicht?« sagte sie dann. »Sie selbst sagten mir noch in ihrem Büro, daß Ziegler völlig aus dem 110
Rahmen fällt. Wolfsmenschen verwandeln sich nur nachts, wenn der silberne Schein des Vollmonds auf sie fällt. Ziegler bildet eine Ausnahme. Warum soll er nur in dieser Beziehung eine bilden?« »Weil«, sagte Becker, »es zu menschlich wäre. Ein Wolfsmensch ist einfach nicht menschlich!« »Wer sagt das?« Becker antwortete nicht auf ihre Frage. Sinnend betrachtete er das nußbraune Haar Karens. »Ja«, murmelte er. »Wer eigentlich?« * Ein wohliger Schauer durchfuhr den Professor. Mit geschlossenen Augen, durch die kaum ein Schimmer der Lichtkompositionen fiel, die um die Liegen waberten, erwartete er das Zeichen des Dämons. »Kaghaf!« rief er heiser. »Erhöre mich, Prinz der Finsternis, der ich dich erlöse!« Der Gnom riß die Augen auf. Im gleichen Augenblick änderte sich die Zusammensetzung der Farben und wurde zu einem düsteren Rot, das jeden Winkel des Labors ausfüllte. Der Hauch von etwas unsagbar Fremdartigem lag plötzlich im Raum. Die Aura des Bösen! »Hier bin ich, Mensch – du riefst nach mir?« Die Stimme hallte laut wider. Sie erinnerte an das Toben eines näherkommenden Gewitters. 111
Der Professor sah sich um. Noch immer ruhten seine Hände in Höhe der Köpfe seiner Opfer. Nirgendwo war jenes Geschöpf zu erspähen, von dem die Stimme herrührte. »Wo … wo bist du?« »Ich bin überall und nirgends«, sagte der Finstere. »Dank dir ist es mir gelungen, dem Kerker meiner selbst zu entrinnen, in den mein Zeuger mich befahl. Ich danke dir!« Brüllendes Lachen klang durch den Raum. Der Gnom fuhr erschreckt zusammen. »Ich habe dich erlöst«, stellte er fest. Das Lachen erklang. »Du weißt viel, Menschenwurm! Woher hast du dein Wissen?« Unsicher sah der Professor sich um. Es gab ihm ein Gefühl von Nichtigkeit, daß sein Gesprächspartner, der nur dank ihm wieder ans Licht der Erde gelangte, nirgendwo zu sehen war. Das rote Wabern schien ihn zu erdrücken. »Ich habe studiert«, sagte er eifrig. »Jedes Buch durchgearbeitet, jedes Pergament, das mir Aufschluß über dich und deinesgleichen geben konnte. Ich erhielt einen Einblick in das Wirken der Finsternis und erfuhr, auf welch schmachvolle Weise man dich vom Angesicht der Welt durch die finsterste Pforte gejagt hat!« »Schweig!« donnerte Kaghafs Stimme. »Ich sehe, du weißt wirklich viel.« »Ja, und ich weiß auch, daß du Satans Sohn bist, sein Erstgezeugter!« 112
Das Wabern wurde zu einem Pulsieren. Blutrot gefärbtes Licht schmiegte sich an den kleinen Mann wie eine zweite Haut. Es wirkte wie eine Drohung. »Warum schweigst du?« schrie der Gnom in einer jähen Aufwallung von Hysterie. »Warum zeigst du dich deinem Erlöser nicht, dem du es verdankst, der Hölle entrinnen zu können?« »Wer spricht von entrinnen wollen«, schmetterte der Dämon. »Wer spricht davon, daß es mir nicht selbst gelungen wäre, hätte ich es versucht!« Am liebsten hätte der Professor gesagt, was er wußte: daß Kaghaf der Bann seines Zeugers getroffen hatte; daß ihm das Wirken außerhalb der Unwelt verboten worden war; daß er es wirklich einzig und allein ihm verdankte, daß ihm der Weg zurück ans Licht geebnet worden war … »Verzeih mir, Prinz«, sagte der Gnom. »Du wolltest mich sehen, so seh mich nun!« hörte er die Stimme des Dämons. Sie strömte nicht mehr von allen Seiten auf ihn ein, sondern kam nun von vorn. Der Professor starrte auf das blutrote Wabern und versuchte etwas zu erkennen, das an die Einlösung des Versprechens zu erinnern vermochte. »Sieh nur, sieh!« donnerte es durch den Raum. »Sieh mich an!« Und wirklich! Etwas tat sich dort. Langsam verdichtete sich das blutrote Licht. Es schien, als würde es von allen Seiten angesogen werden, um sich an einer Stelle zu vereinigen. Es dauerte nicht lange, und 113
kein rotes Fluidum er füllte mehr das Labor. Der Professor stand in völliger Schwärze, regungslos, vor sich ein kugelförmiges Gebilde von intensiver roter Färbung. »Ich … ich sehe dich!« flüsterte der Gnom und erbleichte. »Ist das deine Gestalt?« Protuberanzen zuckten von der Oberfläche der Kugel. Je länger sie wurden, desto schneller verblaßten sie wieder. »Auch dies ist meine Gestalt«, hallte die Stimme. »Ich habe viele Gestalten, und niemand kennt sie alle. Meine wahre wird mein Geheimnis bleiben. Kein Menschenauge könnte ihren Anblick ertragen!« Der Gnom zitterte. Das Aussehen der Kugel hatte sich gewandelt. Die Leuchtfinger waren unsichtbar geworden, untergegangen in der dunkleren Tönung, die sich dem Dämon auferlegt hatte. Erst war es ein schillerndes Blau gewesen, dann Grau. Nun war er schwarz wie die Nacht – und strahlte seine Finsternis hinaus … »Dies jedoch«, fuhr Kaghaf fort, »ist das Aussehen, das ich am liebsten annehme. Nur ist es nicht immer am idealsten, denn es ist das reine Sein – die Projektion puren Geistes!« Dunkel, dachte der Gnom. Sein Geist ist finster! »Ich kann keine fleischliche Gestalt annehmen, da ich nicht über die Kraft der Umwandlung geistiger Energie in materielle verfüge – noch nicht! Noch bin ich auf die Hilfe meiner Jüngerschaft angewiesen, zu der auch du zählst. Die meisten würden sich mir willig hingeben, ohne eigentlich zu begreifen, was sie opfern! Sie träumen von einem 114
Leben, das noch fern liegt, in dem sie das Absolute erreicht haben – was auch immer sich der einzelne darunter vorstellt. Du gehörst nicht zu denen, doch du hast mich geschaut!« »Prinz!« schrie der Professor in wilder Furcht. »Ich verstehe nicht! Habe ich dich nicht erlöst, bist du mir nicht Dankbarkeit schuldig …?« Grauenhaftes Gelächter unterbrach die angstdurchsetzten Worte des Gnoms. »Ein Finsterer kennt keine Dankbarkeit! Erst recht nicht Satans Sohn! Ihm sind alle zum Nutzen, die ihm helfen – du hast mir geholfen!« Abermaliges Lachen. Der Professor hatte sich kaum mehr unter Kontrolle. Er zitterte wie noch nie in seinem Leben. Eine grauenhafte Ahnung stieg in ihm empor. »Ich«, stotterte er, »ich bin dir zum Nutzen? Du willst mich … gebrauchen?« »Die Höllenwelt ist der wahre Herrscher, dem das Reich der Lebenden auf unbestimmte Zeit entzogen wurde! Du bist ein Stück davon, und ich werde den Nutzen aus dir ziehen – als Herrschersohn!« Der Professor hatte die Hände von den Köpfen seiner beiden Medien genommen, aber noch immer stand er zwischen den Liegen. Jetzt zog er sich langsam zurück. »Ich! Ich habe dich erlöst!« kreischte er. »Sei gebannt! Ich banne dich, ich …« Mit mäßiger Geschwindigkeit bewegte sich die Sonne der Finsternis auf ihn zu. Erst jetzt bemerkte er, wie klein sie in Wirklichkeit war. 115
Immer weiter wich er zurück. Dann konnte er nicht mehr. Den Rücken fest gegen die Wand gepreßt, erwartete er mit vor Verzweiflung weit aufgerissenen Augen das Unfaßbare, das nun kam. Schon befand sich die Unsonne zwischen den beiden Liegen, dann hatte sie sie passiert. Nur zwei Handbreit trennte sie noch von dem Professor, in dessen Blick ein irrer Ausdruck getreten war. »Jedes Wesen existiert zu einem bestimmten Zweck!« donnerte Kaghaf. »Wenn dieser erfüllt ist, gibt es keinen Grund mehr, warum es weiterexistieren sollte – und es vergeht!« Der Gnom antwortete nicht. Er stand fest an der Wand und schüttelte wild den Kopf. Wahnsinnslaute kamen über seine Lippen. »Vergehe also, du Ich eines Menschen!« Die finstere Sonne verschmolz mit der Stirn des Professors und tauchte langsam in sie ein. Bald war sie nur noch zur Hälfte zu sehen, dann gar nicht mehr. Die Bewegungen des Gnoms erlahmten. Der Wahn verflog aus seinem Blick und machte einem gefährlichen Funkeln Platz. * Kommissar Becker sah zu den beiden Polizisten, die nur wenige Meter von Karen und ihm entfernt standen. Verwirrt schauten sie zu ihnen hinüber. Becker dachte nicht daran, sie aufzuklären. Das 116
Unterfangen wäre zu kompliziert gewesen. Mochten sie ruhig denken, daß ihr Vorgesetzter den Verstand verloren hatte. Das war ein Opfer, das der Kommissar bringen konnte. Es fehlte an Zeit, die beiden darüber aufzuklären, daß es so etwas wie Wolfsmenschen tatsächlich gab. »Sie haben sich am intensivsten mit Frau Tahmann beschäftigt«, sprach er sie an. »Hat sie Ihnen sagen können, welche Richtung das Wesen genommen hat? Es wäre wichtig, das zu wissen – möglicherweise lebenswichtig.« Frank Opitz sah seinen Kollegen an und ging dann die fünf Schritte zum Kommissar. »Ich glaube …«, begann er. »Nein, sie hat eigentlich nichts Besonderes dazu ausgesagt. Nur daß das Geschöpf dann in dieser Richtung verschwunden sei.« Er wies zum nahen Wald. »Sonst nichts?« »Sonst nichts.« Kommissar Becker verzichtete auf Worte des Dankes und widmete sich statt dessen wieder seinem weiblichen Begleiter. »Nach Westen«, sagte er, »weiter nach Westen. Was könnte das bedeuten?« »Ja«, bemerkte Karen. »Wohin will er? Er muß ein Ziel haben.« Nachdenklich sah der Kommissar auf den Notarztwagen, dessen hintere Tür gerade geschlossen wurde. Der Arzt und ein Sanitäter stiegen in den Versorgungsraum des Fahrzeugs, während sich der andere in die Fahrerkabine begab. Er schaltete die Rundumbeleuchtung und das 117
Blinklicht an und stieß zurück. Eine Minute später verschwand der Wagen in mäßigem Tempo. »Wiederholen wir«, sagte Becker. »Ziegler ist, nachdem er sich in einen Wolfsmenschen verwandelt hat, aus Schwalbach geflohen. Aus einer Telefonzelle im westlichen Randsektor des Ortes benachrichtigte er mich, ich möchte ihn doch unbedingt festhalten. Als wir dort ankommen, ist er verschwunden – es geht ans Warten. Schließlich erhalten wir eine Nachricht, daß er sich westlich von Schwalbach, in Mühlheim, aufhält und hier ein weiteres Opfer geschlagen hat. Er flüchtete, nach Aussagen der Frau des Ermordeten, nach Westen »Das ist es!« schrie Karen Fleckenstein und schnippte mit den Fingern. »Genau das! Erkennen Sie nicht das Stichwort: es heißt ›nach Westen‹.« Becker sah sie aus schmalen Augen an. Er ließ sich die Worte seiner Begleiterin durch den Kopf gehen, fand jedoch nichts, was an Ermittlungen gegen sie sprach. »Sie haben recht«, sagte er endlich. »Nach Westen. Seine Flucht führt beständig nach Westen. Aber: was will er dort? Es muß doch einen Grund haben, daß es ihn dorthin zieht?« Er erbleichte. »Oder… Aber das kann doch nicht sein, das darf es nicht…« »Was meinen Sie?« drängte Karen. »Westlich von hier … liegt Biblis.« Jetzt erbleichte auch sie. Ihre Augen wurden groß und zeigten den Ausdruck nackten Grauens. »Das ist doch nicht möglich«, sagte sie. Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Und doch trifft es alles haargenau. 118
Die Sonderbarkeit, daß sich Ramon Ziegler auch tagsüber verwandeln kann, daß er nicht des Vollmonds bedarf, um dem Fluch Geltung zu verschaffen, daß er trotz allem nicht die personifizierte Bosheit ist, als die der Wolfsmensch in jeder Quelle dargestellt wird – all das klärt sich dadurch auf.« »Ja«, sagte Kommissar Becker. »Und ich bin mir sicher, daß ihn der Haß dorthin zurücktreibt – an jenen Ort, an dem er zu dem wurde, was er ist. Dort dürften auch seine Entführer verborgen sein. Wenn er auf sie trifft, dann … gnade ihnen Gott!« Becker nahm seine Begleiterin am Arm und zog sie auf den Wagen zu. »Beeilen –wir uns«, sagte er. »Vielleicht können wir noch etwas tun – für die eine oder die andere Seite – oder für beide. Wer hätte das gedacht? Ein stillgelegtes Kernkraftwerk bringt Monster wie Ramon Ziegler hervor! Wie mag das nur geschehen sein?« Er schlug die Tür zu und wartete kaum, bis sich Karen Fleckenstein gesetzt hatte. Er legte den Rückwärtsgang ein und wendete, daß die Reifen zu quietschen begannen. * Mit unbewegtem Gesicht starrte Gunter durch das dicke Bleiglas. Dank des perfekten Schliffs erkannte er die Bäume des nahen Waldes, als stände er direkt vor ihnen. Ich werde dir helfen, Peter, das habe ich dir versprochen, pochte es immerzu in seinem Schädel. Dieser Gnom! Doch was kann ich schon gegen ihn ausrichten – was macht ihn 119
nur so überlegen? Seine Selbstsicherheit? Es war nicht das erste Mal, daß er aus diesem Fenster sah. Er konnte nicht ahnen, daß es das letzte Mal war … Da! Was war das? Von dem menschlichen Wesen, das er schemenhaft durch das Glas erkannte, konnte er sich nur wenig Vorstellungen machen. Es war noch zu weit weg, um genauere Unterscheidungen zu treffen. Doch etwas an ihm störte Gunter. Er ging dazu über, es nur als menschenähnlich zu bezeichnen. Kaum daß sich das Wesen dem Kernkraftwerk in ausreichendem Maß näherte, durchfuhr es Gunter siedendheiß. »Holger!« schrie er. »Holger, komm sofort her!« Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die Tür öffnete. In seinem typisch watschelnden Gang näherte sich der Kollege. Gunter drehte sich nicht um. Unentwegt beobachtete er die Gestalt. Inzwischen glaubte er erkennen zu können, daß Kopf und Hände mit Pelz bewachsen waren. Die Kleidung, die den Rest des Körpers bedeckte, war nur noch in spärlichen Überresten vorhanden. »Hast du Dr. Ziegler erkannt, als er floh?« fragte er Holger. Eine dumpfe Ahnung stieg ihn ihm auf. »Nein«, antwortete Holger. »Du weißt nicht, wie er ausgesehen hat, nachdem er sich aus dem Meiler befreien konnte?« Holger schwieg. 120
»Weißt du es?« schrie Gunter. Er hatte nicht mehr die Geduld, auf das kranke Wesen einzugehen. »Ich weiß nur, was Friedrich mir gesagt hat«, murmelte er. »Er sagte, daß Ziegler sich furchtbar verwandelt habe und nun mit dichtem Pelz überzogen sei. Daß er ein grauenhaftes Gebiß erhalten habe und nur dank seiner erwachten Titanenkräfte die Wand des Meilers habe durchbrechen können. Er flüsterte etwas von einem Wolfsmenschen, bevor er starb.« »Du, Narr!« brüllte Gunter und schnellte herum. »Warum hast du mir davon nicht, früher berichtet? Warum hast du mir nicht mitgeteilt, daß Ziegler sich verwandelt hat?« Blinder Zorn funkelte in Gunters Augen. Sich fürchtend trat Holger einige Schritte zurück. »Ich … ich …«, stotterte er. »Du hättest mich ausgelacht… Ich wollte nicht, daß … du mich auslachst…« Gunter ballte die Hände zu Fäusten und sah wieder durch das Bleiglasfenster. Das Wesen, in dem er mit Sicherheit den verwandelten Ziegler vermutete, hatte sich dem Kraftwerk bis auf wenige hundert Meter genähert. »Er wird hier eindringen«, stellte er fest. »Er wird sich durch nichts aufhalten lassen. Ramon Ziegler ist zurückgekehrt und wird Rache an uns nehmen.« Aus angstgeweiteten Augen sah Holger auf Gunter. Noch immer starrte dieser aus dem dickwandigen Fenster. Er rührte sich nicht. Fast schien es, als wolle Gunter das Unheil, das sich ihnen allen näherte, offenen Armes empfangen. Holger fröstelte. 121
Wenn Gunter nun recht hatte! Ein Wolfsmensch? Holger preßte sich fest gegen die Tür. Leise zog er sie auf und schlüpfte durch den entstandenen Spalt. Er verstand nicht, warum Gunter so ruhig blieb. Wenn eintrat, was er und nun auch Holger befürchteten, konnte es zu einer schweren Auseinandersetzung kommen, deren Ende unbestimmt war. Sie mußten gewappnet sein. Und vor allem der Professor! Er mußte benachrichtigt werden … * Während der Fahrt unterhielten sie sich kaum. Sowohl für Kommissar Becker als auch für Karen Fleckenstein war ihr weiteres Vorgehen klar. Sie hatten den erfolgversprechendsten Anhaltspunkt, den sie bislang gehabt hatten. Wenn ihnen das Glück hold war, konnte der Fall in Kürze abgeschlossen werden. So dachte der Polizist Becker. Ähnlich dachte auch Karen. Doch sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die anderer Natur war. Ihr verstorbener Bruder hatte sie ihr aufgetragen. Es ging um Ramon Ziegler … * Die Absperrung zu überwinden, war für den Wolfsmenschen kein Problem. Das Netzgeflecht war ohnehin schon so morsch gewesen, daß einige wenige 122
Schläge gereicht hatten, eine Bresche zu schlagen. Das Hauptgebäude des Kernkraftwerks befand sich direkt vor der Bestie. Es war jene Kuppel, in der man Ramon Ziegler gefangen gehalten hatte. Dort hatte sich sein schrecklicher Wandel vollzogen. Er schritt weiter. Die Arme waren abgewinkelt, die Finger gespreizt. Er würde jederzeit auf einen Angriff reagieren können. Wieder hatte er es nur seinem Instinkt zu verdanken, daß er augenblicklich die Stelle fand, an der er in das Kraftwerk eindringen konnte. Es war eine dickwandige Metalltür, auf der in großen Lettern die Aufschrift »Danger!« geprägt war. Ihre Unscheinbarkeit stand in krassem Gegensatz zu ihrer Wichtigkeit. Sie war der zweite Ausweg aus diesem Giganten aus Beton und Blei: der Notausgang. Der Anblick der Gebäude intensivierte das kalte Empfinden, das sich im Leib des Monstrums ausbreitete wie eine träge Öllache. Hier hatte man ihn gezeichnet! Er stieß einen wilden Urlaut aus und schmetterte seinen buckligen Körper gegen die Tür. Sie hielt stand. Zweimal, dreimal warf er sich gegen sie. Beim vierten Versuch gab sie nach. Gemeinsam mit der zurückschwingenden Metallplatte wurde er in das Innere der Kuppel gedrängt. Er stolperte leicht, hielt sich jedoch aufrecht. Kaum daß er zum Stehen gekommen war, sah er sich aus dämonisch blitzenden Augen um. 123
Eine Halle! Er sah mehrere Gerüste, auf denen im Betriebsfall Menschen gingen. Sie boten Einblick in riesige Bottiche, die sich links und rechts von ihm erhoben. Zwischen ihnen war noch so viel Platz, daß bequem zwei Personenwagen hindurch konnten. Der Blick der Bestie wanderte wieder zu den Bottichen. Jetzt hörte er es nicht, vor Wochen aber hatte er das Plätschern des Wassers vernommen, das in ihnen war. Große Zangen hielten die Transportbehälter, die mit abgebrannten Brennelementen gefüllt waren. Zur Wiederaufbereitung wurden sie unter Wasser entladen. Nichts rührte sich mehr. Alles schien mitten in der Bewegung erstarrt. Das Kernkraftwerk war stillgelegt worden. Eigentlich hätte sich hier niemand mehr aufhalten sollen. Es war verboten, sich nur innerhalb der Absperrung des Geländes zu bewegen. Doch der Wolfsmensch wußte, daß er nicht der einzige war, der sich in diesem Kuppelbau befand. Es waren noch viele andere… Seine Entführer! Er wandte sich von dem Bild ab, das sich ihm bot, lenkte seine Schritte nach links. Zwischen zwei Aufbereitungsanlagen hindurch steuerte er auf einen Fahrstuhl zu, der sich in wenigen Metern Entfernung befand. Er schlich in die Kabine und drückte die Taste. Dann begann sein Warten. Es war von Unruhe durchsetzt. Die wilde Natur des 124
Wesens ließ sich nicht zügeln. Er war nahe daran, sich seinen Weg zu bahnen, als die Kabine hielt und die Schiebetüren sich summend öffneten. Untergeschoß I. Die Flanken des Wolfsmenschen begannen zu zittern. Deutlich spürte er, wie nahe er seinem Ziel war. Voller Gier bewegte er sich durch den bunkergleichen Gang, von dem immer wieder Türen und Korridore abzweigten. Schließlich stieß er auf eine Tür, die ihn stoppen ließ. Langsam wandte er sich um. Seine Klaue hob sich und wurde vorsichtig in Richtung der Tür geschoben. Eine Witterung war zu vernehmen, die Zieglers Blut in Wallung brachte. … rrrr«, machte er. Leise fletschte er mit den Zähnen. Das bißchen Vernunft in ihm ließ ihn die Entscheidung fällen. Er stellte sich knapp vor die Tür und drückte die Klinke. Ohne jedes Geräusch betrat er den Raum. Vor ihm stand eine Gestalt, reglos aus dem Fenster starrend. Der Haß, der den Wolfsmenschen beherrschte, brachte ihn fast um den Verstand. Seine Klaue zuckte vor, und ein drohendes Fauchen drang aus seiner Kehle. Der vor ihm Stehende drehte sich langsam um. Seine Augen lösten sich nur mühsam von der Naturlandschaft. Etwas Gequältes lag in seinem Blick. Erneut fauchte der Wolfsmensch. Er duckte sich und ging zwei Schritte vor. »Sie sind es, Dr. Ziegler, nicht wahr?« 125
Die Bestie hörte nicht auf Gunters Worte. Ihr Gesicht war zur Fratze verzerrt, die alles Bisherige in den Schatten stellte. »Sie verstehen mich nicht mehr, Ziegler. Ich wußte es, ich vermutete es. Wir haben Ihnen das. angetan, ich weiß. Doch das hatten wir nicht ahnen können. Ich will nicht sagen, daß es mich reut. Mich reut es nicht. Aber mich fröstelt. Trotzdem habe ich kaum Angst – sonderbar, finden Sie nicht?« Der Wolfsmensch hielt es nicht mehr aus. In einem Sprung überwand er die wenigen Meter, die ihn noch von Gunter trennten, und riß ihn nieder. In den folgenden Minuten entlud sich sein Haß und machte Gunter zu einem Zerrbild seiner selbst… * Wie ein bleierner Klotz fiel der Fuß des Kommissars aufs Bremspedal. Ruckhaft blieb der Wagen stehen. »Ist es hier?« fragte Karen und blickte sich um. »Nein«, erklärte Becker. »Wir sind noch etwas außerhalb. Das Kraftwerk dürfte meinen Informationen nach gleich hinter jener Biegung dort liegen.« Er streckte seinen Arm aus und deutete auf die Kurve, deren weiterer Verlauf durch den dichten Waldwuchs uneinsichtig war. »Ich denke, diese Straße führt direkt dorthin. Es wird jedoch besser sein, wenn wir die letzten paar Meter zu Fuß gehen.« 126
Karen nickte. Kommissar Becker löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Seine Begleiterin folgte ihm. »Was wird uns erwarten?« bemerkte Karen Fleckenstein. »Ziegler ist uns um Stunden voraus.« »Aber er ist zu Fuß.« Becker blickte Karen ins Gesicht. Skepsis war darin zu lesen. Und gleichzeitig der Wunsch, daß der Kommissar recht behalten möge. »Kommen Sie!« sagte er. Ohne auf Karen zu achten, wendete er sich vom Wagen ab und schritt auf den Rand der Straße zu. »Wären wir mit dem Auto nicht eher dort?« »Es ist zu unsicher«, entgegnete Becker. »Ich möchte jedes Risiko ausschalten.« Karen beeilte sich, den Anschluß nicht zu verlieren. Bis zu den Bäumen, die ihnen die Sicht genommen hatten, war es nur ein paar Minuten. Becker und die Frau waren nur kurze Zeit gelaufen, als der Wagen hinter ihnen verschwand. Gleichzeitig öffnete sich ihnen der Blick auf eine Senke, in deren Mittelpunkt nahe dem Fluß einige Gebäude standen. »Das Kraftwerk!« Becker sah von den Kuppeln zu Karen, die den Ruf vorgereckt hatte. Er nickte leicht. »Ja«, sagte er, während seine Augen nach auffälligen Merkmalen suchten, die ihnen verraten konnten, ob sie dem Wolfsmenschen zuvorgekommen waren … 127
Der Kommissar schritt aus. Automatisch folgte ihm Karen. Auch ihr Blick brannte auf den beiden Kuppeln und dem Gerüst, das an einer von ihnen angebracht war. Sie zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ist es nicht – geschlossen?« fragte sie. »Sicher!« antwortete Becker. Er hatte seine Pistole gezogen und prüfte im Gehen das Magazin. »Was glaubten denn Sie? In einem Kernkraftwerk, das sich in Betrieb befindet, dürfte die Chance gleich Null sein, daß man sich dort einnisten kann.« »Wozu die Waffe?« sagte sie. »Glauben Sie damit etwas auszurichten?« »Es fragt sich bei wem, wertes Fräulein Fleckenstein. Ich habe gewiß nicht vor, blindwütig in der Gegend herumzuballern!« Karen sah ihn verächtlich von der Seite an. Ihre Hand fuhr an den Hals und spielte mit dem Schmuckstück, das dort an einer silbernen Kette hing. Er wird wenig ausrichten, dachte sie bei sich. Zumindest bei Ramon Ziegler – es sei denn, seine Pistole ist mit Silberkugeln geladen … »Zu spät!« rief Becker. Karen zuckte zusammen. »Dort, sehen Sie!« Ein mannsgroßes Loch klaffte in dem Maschendraht, der das Kernkraftwerk vom übrigen Gebiet trennte. Der Wolfsmensch war ihnen zuvorgekommen …
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* Im Eiltempo war Holger zum Labor des Professors gerannt. Nicht Gunters Worte, sondern etwas anderes brachte ihm die Überzeugung, daß mit dem Erscheinen des verwandelten Ziegler der Untergang über sie alle hereinbrach. Immerzu betätigte er den Summer des Gegensprechgeräts. Niemand meldete sich. »Professor!« rief er krächzend ins Mikrophon. Trotz seiner großen Furcht hatte er den Respekt vor dem Gnom nicht verloren. »Melden Sie sich, Herr Professor!« rief er und drückte wieder den Knopf. Sichernd sah er sich dabei um. Er hatte ein ungutes Gefühl. Jeden Augenblick glaubte er von dem Wolfsmenschen angesprungen zu werden, zu dem Ramon Ziegler geworden sein sollte. Hatte Friedrich es nicht erzählt? Und hatte er nicht wirklich grausam ausgesehen – als hätten ihn die Klauen eines solchen Untiers wie Dreschflegel bearbeitet? Holger gab auf. Seine eigene Angst wurde übermächtig. Sollte doch der Professor machen, was er wollte. Wenn er sich nicht warnen ließ, so war das nicht seine Schuld. Holger wandte sich vom Schott ab und rannte den Gang entlang, bis er auf eine kunststoffverkleidete Tür traf. Dahinter, so wußte er, befand sich der defekte Meiler, in dem man Ziegler gefangen gehalten hatte. Er selbst hatte die Reste der herausgebrochenen Meilerwand zur Seite geräumt. 129
Gerade versuchte er zu entscheiden, welchem der beiden Korridore er nun folgte, als er hinter sich ein leises Schleifen vernahm. Holger wirbelte herum … * Der Wolfsmensch kauerte über der Leiche Gunter Gottschalks. Seine Augen blitzten, und sezierten jeden Quadratzentimeter des bleiverkleideten Raumes. Eine Woge wilder Befriedigung durchpulste ihn. Er hatte dem Leben eines seiner Peiniger ein Ende gemacht. Er erhob sich. Unstet huschte sein Blick über die karge Einrichtung des Zimmers, in dem Gunter gelebt hatte. Viel mehr als ein Tisch und zwei hölzerne Stühle befanden sich nicht darin. Nur noch ein riesiges Fenster, das die ganze der Tür gegenüberliegende Seite einnahm. Die Bestie wandte sich ab. So sehr sie der Mord auch befriedigt hatte, so wenig hatte er ihre Rachegelüste eingedämmt. Nach wie vor drängte es sie, Vergeltung zu üben. Zwei Namen waren noch in ihrem Bewußtsein eingebrannt: Holger und der … Professor! Zornig schlug die Bestie mit der Pranke gegen den Rahmen der Tür. Der Belag blätterte ab. Sie achtete nicht auf den ziehenden Schmerz, den sie sich selbst damit beibrachte, sondern schritt nach draußen. 130
Der Wolfsmensch stand auf dem Gang. Wieder fehlte ihm das Bewußtsein. Es war Sache des Instinktes, den Weg zu finden. Er gab sich ihm völlig hin. Kaum daß er ihm einige Minuten gefolgt war, bis zum Bersten durchsetzt von Haß, da traf er auf ihn … * »Herr Professor!« rief er erschrocken. Holger erstarrte zu Stein. Ohne daß er einen Grund hätte angeben können, spürte er, wie sich die Angst in seine Eingeweide fraß. »Was … machen denn Sie hier?« Der Zwerg betrachtete ihn. Er trug einen solchen Gesichtsausdruck zur Schau, daß es Holger kalt den Rücken hinunterrann. »Du bist Holger«, sagte der Professor. Holger zuckte zusammen. Es war nicht mehr dieselbe helle, keifende Stimme, die er von dem Zwerg zu hören gewohnt war. Sie war tief und hallend. »Wo kommen Sie so plötzlich her?« Unter normalen Umständen hätte Holger das nie zu fragen gewagt. Zu unberechenbar war das Gemüt des Professors. Jetzt aber kam sie unwillkürlich über seine Lippen, und er hatte kaum Einfluß darauf. Der Professor ignorierte Holgers Frage. »Ich bin auf der Suche nach Jüngern!« sagte er. 131
Verwirrt starrte Holger ihn an. »Jünger?« fragte er. »Ich habe viele Jünger. Nur ist es nicht die Norm, daß ein Außenstehender mich beschwört. Der Professor war ein solcher, und so bin ich auf der Suche nach Jüngern der Finsternis, die ich auch hier zu meinen Handlangern machen kann. Sie sind meine Macht! Und so groß wie ihre Zahl, so groß ist mein Reich!« Holger fröstelte. Unsicher blickte er sich um. Sollte er fliehen? Hatte er überhaupt die Möglichkeit dazu? Was erzählte der Gnom? War er nun völlig verrückt geworden? »Aber … Herr Professor – ich … ich verstehe nicht…« »Das brauchst du auch nicht. Niemand versteht einen Prinzen der Finsternis!« »Wer…« Holger hielt es nicht mehr aus. Seine Anspannung löste sich in einem Schrei: »Wer bist du?« Der Professor lachte. Holger hörte ihn in längeres Gelächter ausbrechen, wie er es ihm nie zugemutet hätte. Es war von einer Tiefe, daß es ihm in den Ohren schmerzte. Und: es war teuflisch! Es stimmte also. Der Professor war nicht mehr er selbst. Aber wer war er dann? »Ich bin Kaghaf!« beantwortete der Dämon Holgers unausgesprochene Frage. »Jener, dem du von nun an ergeben sein wirst wie keinem anderen zuvor!« Holger schlug schützend die Arme vors Gesicht. Sein Geist war überfordert. 132
»Was …«, stotterte er. »Ich … verstehe wirklich nicht… Ich …« Hilflos begann er zu weinen. Mit blitzenden Augen näherte sich Kaghaf. Holger war nicht in der Verfassung zu fliehen. Ihm kam nicht mal der Gedanke. Geschlossenen Auges spürte er, wie das Fremde auf ihn zukam. Plötzlich empfand er etwas Kaltes an seinen Schläfen. Wie ein Schraubstock schlossen sich die Hände um Holgers Schädel. Der Schrei, der über seine Lippen hätte kommen sollen, blieb aus. Zögernd hoben sich seine Lider. * »Da! Was war das?« Kommissar Becker verharrte und brachte mit einer Hand auch seine Begleiterin zum Stehen. Er legte den Kopf schief und lauschte dem Laut, den er eben vernommen hatte. Karen Fleckenstein sah ihn aufmerksam an. »Haben Sie etwas gehört?« fragte sie nach einer halben Minute. Ihrer eigenen Nervosität wegen wurde sie gar nicht gewahr, daß sie eine völlig überflüssige Frage stellte. Auch Becker achtete nicht darauf. Er nickte. »Haben Sie es nicht mitbekommen? Es war ein Schrei. Er hatte eine merkwürdige Melodie, wahrscheinlich … Ja – wahrscheinlich war es ein geschriener Satz!« »Was für ein Satz?« fragte Karen. 133
Der Kommissar zuckte mit den Achseln. Er wog seine Pistole in der Rechten und tastete nach seiner Begleiterin. »Kommen Sie!« sagte er. »Der Schrei kam aus dieser Richtung. Vielleicht gelingt es uns, noch den einen oder anderen vor einem Unglück zu bewahren.« Im Laufschritt eilten sie den Korridor entlang. Er war breit genug, um außer ihnen noch zwei weitere nebeneinander rennende Personen aufzunehmen. Bald verbreiterte er sich zu einem Kreuzungspunkt, von dem aus verschiedenen Treppenreihen ins Untergeschoß führten. Becker zögerte. Gespannt sah Karen ihn an. »Dort?« nickte sie. Der Kommissar bejahte. Gemeinsam liefen sie auf eine Wendeltreppe zu, die direkt gegenüber dem Gang lag, durch den sie den Kreuzungspunkt erreicht hatten. Sie war nicht lang. Sekundenlang hallten ihre Schritte auf den metallenen Stufen wider, dann traten sie auf verkratzten Linoleumboden. Vor ihnen tauchten zwei Gestalten auf. Eine von ihnen war nur wenig über einen Meter fünfzig groß. Sie trug einen weißen Kittel. * Der Wolfsmensch stürmte los. Sein Bewußtsein war völlig ausgelöscht, Ramon Ziegler existierte nicht mehr. Wie ein Schemen wurde ihm der Meiler bewußt, an dem er vorbeistürmte. Ein riesiges, 134
ausgezacktes Loch klaffte in ihm, das seine Wut nur noch mehr anstachelte. Nun, durch die blutgetränkten Schleier vor seinen Augen erkannte er, daß es nicht nur einer seiner Peiniger war, auf den er zuraste. Gerade hinter ihm befand sich der zweite … Holger. Für einen Moment schienen sie starr zu stehen, dann kam Leben in sie. * Regungslos stand Holger an der Seite seines Herrschers und starrte dem Wolfsmenschen entgegen. Furcht kannte er nicht mehr. Er wartete auf ein Zeichen Kaghafs. Der Dämon reagierte. Sich duckend unterlief er den Angriff des Wolfsmenschen. Die Bestie stürzte ins Leere und knurrte enttäuscht. Ein Blick des Professors ließ Holger eingreifen. Die Bestie war noch dabei, erneut anzugreifen, als sich Holger von der Seite her auf sie warf und zu würgen begann. Wild schüttelte sie sich. Kaghaf achtete nicht auf die beiden Menschen, die am Ende des Ganges standen und verständnislos den Verlauf des Kampfes beobachteten. Sein Problem war das Wesen, das so plötzlich über ihn gekommen war. Wo kam die Bestie eigentlich her? Kaghaf konzentrierte sich und schritt langsam auf 135
Holger und das Untier zu. Sein Jünger bot ungeheure Reserven an Kraft und Geschicklichkeit auf, um die schnappenden Kiefer der Bestie fernzuhalten. Zornig versuchte sie ihn mit ihren Pranken zu erreichen. »Ziegler!« keuchte Holger. »Du … hättest nicht zurückkehren dürfen. Du… bringst nur Unglück über uns …« In Sekundenschnelle assoziierte der Dämon den Namen des Wolfsmenschen mit dem Wissen, das er dem Gedächtnisinhalt des Professors entnommen hatte. Das also war Ramon Ziegler! Zum Wolfsmenschen geworden! Warum? Es war unwichtig. Kaghaf erhöhte seine Konzentration. Eine flirrende Aura bildete sich um ihn, die mit jedem Schritt, den er sich seinem Widersacher näherte, dunkler wurde. Bald glich er nur mehr einem schwarzen Phantom, das besitzergreifend die Hände in seine Richtung ausstreckte. »Aaahhg…!« machte Holger. Der Würgegriff um den Hals des Wolfsmenschen lockerte sich. Blut troff aus einer langen Hiebwunde an Holgers Hüfte. Verbissen kniff der Jünger die Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Ein völlig fremder Wesenszug an ihm kam zum Vorschein: Entschlossenheit! Es war die Taufe Kaghafs, die den Wandel in ihm ausgelöst hatte. Der Wolfsmensch tänzelte von einem Bein auf das andere. Unwillig und voller Zorn versuchte er Holgers Griff zu entkommen. Seine Augen blitzten vor Haß und waren starr auf das Schemen des Professors gerichtet, das sich ihm langsam näherte. 136
Schließlich wurde seine Wut übermächtig. Sie steigerte sich so, daß man sie kaum mehr als hassend bezeichnen konnte. Er schlenderte herum und warf sich in plötzlichem Entschluß gegen die metallverkleidete Wand des Ganges. Holger kam gar nicht mehr dazu aufzuschreien. Die bestialische Gewalt des Wolfsmenschen schmetterte ihn mit solcher Kraft dagegen, daß das Geräusch in Mitleidenschaft gezogener Knochen laut durch den Gang hallte. Zur Unkenntlichkeit entstellt, sank der Jünger zu Boden. Die Bestie wandte sich ab und bückte mit gebleckten Zähnen dem Prinzen der Finsternis entgegen. Laut knurrte sie. »Weiche!« befahl Kaghaf. »Werde mein Jünger oder weiche! Oder stirb!« Die Bestie ignorierte die Worte. Sie kamen in tiefem Ton und waren von Drohungen geschwängert, nicht nur in textlicher Hinsicht. Kaghaf verharrte. »Entscheide dich!« forderte er. »Du hast die Wahl zwischen Leben und Tod – besinne dich!« Der Wolfsmensch begriff den Sinn der Worte. Doch er sparte sich jeden Anflug von Überlegung. Ohnehin wäre ihm das schwer gefallen. Der bohrende Haß tat ein übriges. Seine Augen sprühten ihn von sich. Dann sprang er direkt in die Finsternis hinein. * 137
Weder der Kommissar noch Karen begriffen, was vor ihnen geschah. Sie vermeinten zu träumen, und sehnsüchtig wünschten sie ihr Erwachen herbei. Doch Karen verstand zumindest einen Teil der Geschehnisse. Ihr Bruder hatte sie eingeweiht. Bald würde ihre Stunde schlagen. * Diesmal wich Kaghaf ihm nicht aus. Er veränderte seine Haltung nicht im geringsten, noch immer waren die Hände ausgestreckt. Die Kälte, die der Dämon ausstrahlte, traf den Wolfsmenschen wie ein Schock. Zentimeterweit drangen seine Klauen in das weiche, nachgiebige Dunkel ein, um sogleich wieder zurückzuzucken. Kaghaf lachte dröhnend. »Glaubst du, einen Prinzen der Finsternis besiegen zu können?« Die Bestie gab nicht auf. Kurze Zeit nur starrte sie auf die angefrorenen Pranken, dann sah sie auf Kaghaf. Speichel troff über ihre Lefzen. Die Blutäderchen der Augäpfel waren so prall gefüllt, daß sie gänzlich rot erschienen. Und wieder sprang sie. Diesmal wußte sie um das, was sie erwartete. Ihre Klauen fuhren tiefer in die Masse aus Düsternis, bis sie auf einen harten Kern stießen, der nicht wich. Der halbe Leib der Bestie war in die schwarze Aura getaucht. 138
Das hatte Kaghaf nicht erwartet. Gequält schrie er auf. Das wilde Knurren des Wolfsmenschen bildete das Echo. Er löste sich wieder von der Aura und tauchte aufs neue ein, immer wieder und von verschiedener Seite. Mit aller Kraft zerrte er an dem massigen Kern, versuchte ihn niederzuzwingen und sich über ihn zu stülpen. Triumphierend erkannte er, wie sich die zuvor starre Masse zu verformen begann. Noch immer schrie der gepeinigte Dämon. Endlich schlug er zurück. Finger schwarzen Lichts bildeten sich. Zitternd näherten sie sich der haarigen Bestie. Während sie kein Halten fand, tasteten diese sich langsam an ihrem Körper empor und erreichten schließlich den Schädel. Von Stockungen unterbrochen, drangen sie langsam in ihn ein. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es die Bestie. Sie gab ihre Bemühungen auf und kam torkelnd hoch. Ihre Klauen rissen an ihrem Kopf und versuchten Einflüsse von dort fernzuhalten, die materiell nicht existierten. Als der Wolfsmensch das erfaßte, stürzte er sich von neuern auf das flimmernde Dunkel vor ihm. Auf Anhieb drang er bis zum Kern vor und vervielfachte seine Bemühungen. Der Druck in seinem Schädel nahm zu. Er hatte das Gefühl, daß ihm jederzeit die Gehirnsubstanz aus Augen und Ohren quoll. Aber er kämpfte noch lange, und der Finstere wehrte sich nach Möglichkeit. Schließlich gab Kaghaf auf. »Ich… verdamme dich…«, hörte die Bestie eine leise 139
Stimme. Sie war von so hoher Frequenz, daß es in den Ohren schmerzte. »Einen Finsteren besiegt man nicht ungestraft. Ich … banne dich. Verflucht seist du!« Der Wolfsmensch erkannte, wie sich der massige Kern unter seinem Körper langsam aufzulösen begann. Gleichzeitig verlor das tiefe Schwarz an Intensität und wurde in atemberaubender Schnelligkeit heller, zu fahlem Schwarz, zu Grau – und verschwand. Doch auch an der Bestie war der Kampf nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatte ihn nur noch wenige Augenblicke von der eigenen Niederlage getrennt. Sie war geschwächt von den zahlreichen Wunden, die der finstere Prinz ihr geschlagen hatte. Erschöpft und doch befriedigt sank sie zu Boden. Schwer atmend lag sie da und wartete auf das Ende. Ihr Haß war verloschen. Sie zuckte zusammen, als sie Schritte hörte, die sich ihr näherten … * Ohne ein Wort der gegenseitigen Verständigung gingen sie vorsichtig auf den Wolfsmenschen zu. Sein Kampf war ausgekämpft. Es war offensichtlich, daß sein Ende nahte. Behutsam knieten sie neben ihm nieder. In ihnen war die Erkenntnis gewachsen, daß er keine Bestie war. Er war ein armes Geschöpf, das von Verzweiflung und Haß regiert worden war. Karen sah in die blutunterlaufenen Augen des 140
Wolfsmenschen. Bei ihrem Näherkommen war der Funke des Lebens in ihnen wieder größer geworden. Doch sein Ende stand fest. »Ich bin Karen Fleckenstein«, sagte die junge Frau. Sie glaubte nicht, daß er sie verstand, aber sie mußte es loswerden. »Michael Fleckenstein war mein Bruder. Ich habe einen Auftrag von ihm, aus dem Totenreich.« Der Wolfsmensch bewegte sich. Leicht hob sich sein Oberkörper, sackte jedoch gleich wieder zu Boden. Die Augen funkelten wild. Noch immer ist die Vernunft nicht in ihn zurückgekehrt, dachte sie und sagte: »Er verzeiht dir. Er sagt, dein Schicksal sei ungleich grausamer als das Seine. Ich soll dich erlösen.« Unter dem aufmerksamen Blick des Kommissars nahm Karen ihre Silberkette vom Hals und ließ sie über der Stirn des Wolfsmenschen pendeln. Leises Winseln kam über dessen Lippen. Angstvoll verdrehte er die Augen. »Hab keine Furcht!« sagte Karen. »Es muß sein, damit deine Seele gerettet werden kann.« Mit letzter Kraft schnellte der Wolfsmensch seinen Kopf in die Höhe und schnappte nach Karens Hand, die das Kettchen mit dem Kreuz hielt. Er riß ihr eine blutige Spur quer über das rechte Handgelenk. Geistesgegenwärtig versuchte Kommissar Becker, dem Angriff des Wolfsmenschen zu begegnen. Aber seine Begleiterin hielt ihn mit erhobener Hand zurück. Sie achtete nicht auf den Schmerz, den das Wesen ihr zugefügt hatte. 141
»Du brauchst dich nicht zu ängstigen«, redete sie auf es ein. »Bald ist alles vorbei.« Und wirklich wurde die Furcht der Bestie vor der Silberkette geringer. Ruhig blieb sie liegen und schloß die Lider. Ungehindert konnte die Ausstrahlung des silbernen Kreuzes ihr Heil tun. Karen hatte die Kette ungefähr eine Minute gehalten, als der Wolfsmensch sich zu verändern begann. Der Pelzbewuchs wurde weniger, die mißgestaltete Skelettform richtete sich. Aus der Bestie wurde wieder Ramon Ziegler. Er öffnete die Augen. Ein zuerst suchender, schließlich verstehender Ausdruck stand in ihnen geschrieben. Sein Blick fiel auf Karen und den Kommissar. »Danke«, hauchte er. Dann schlossen sich seine Augen für immer. ENDE
Red. Hinweis: Der heutigen in der Schweiz verbreiteten Auflage ist ein interessanter Prospekt des Instituts Mössinger, Fernschule in Zürich, beigelegt, den wir der Aufmerksamkeit unserer Leser empfehlen. 142
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