SCAN BY KEIMCHEN
Buch Als Professor Jones von einem sterbenden Arktisforscher eine Holzkiste mit einem Stein aus Isla...
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SCAN BY KEIMCHEN
Buch Als Professor Jones von einem sterbenden Arktisforscher eine Holzkiste mit einem Stein aus Island erhalt, sind unversehens Naziagenten hinter ihm her Der mysteriöse Stein verfugt offenbar über okkulte Kräfte und weist den Weg zum legendären Ultima Thule Bald stoßt Indy mit der dänischen Forscherin Ulla Tornaes auf eine uralte Zivilisation am Rand der Welt Doch das ist erst der Beginn einer unglaublichen Reise, denn von hier führt ein Weg ins unerforschte Innere der Erde. Autor Max McCoy, preisgekrönter Journalist und Autor mehrerer Romane, lebt in Pittsburg, Kansas Bereits erschienen Rob MacGregor Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (9678) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange (9722) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schiff der Götter (9723) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Gold von El Dorado (9725) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan (9726) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das verschwundene Volk (41028) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (41052) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Erbe von Avalon (41144) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Labyrinth des Horus (41145) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Orakel von Delphi (42328) • Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten (42329) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Herren der toten Stadt (42330) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah (42824) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns (43052) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) • Martin Caidin Indiana Jones und die Hyänen des Himmels (43163) • Martin Caidin Indiana Jones und die weiße Hexe (43534) • Max McCoy Indiana Jones und der Stein der Weisen (43535) • Max McCoy Indiana Jones und die Brut des Sauriers (35301) Indiana Jones Sammelbande Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan/Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (11608) - Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten/Indiana Jones und das Orakel von Delphi (13172) -Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange/Indiana Jones und das Gold von El Dorado (13194) Weitere Bande sind in Vorbereitung
Max McCoy
und das Geheimnis von Thule Roman
Ins Deutsche übertragen von Caspar Holz
BLANVALET
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Indiana Jones and Hollow Earth« bei Bantam Books, New York
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile.
Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung 4/2001 TM & © 1997 by Lucasfilm, Ltd. All rights reserved. Used under authorization. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Berteismann GmbH Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Copyright Promotions GmbH, Ismaning Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: F. Regös Satz: deutsch-türkischer Fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35371 Redaktion: Patricia Haas V. B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-35371-8 13579 10 8642
Das Eis öffnete sich plötzlich zur Rechten; auch zur Linken; und wir wirbelten wie betäubt, in immensen konzentrischen Kreisungen, rund und immer rund herum, in einem gigantischen Amphitheater, dessen Wändungen sich nach obenhin in Dunknis und Distanz verlieren. Die Kreise werden sehr rasch enger - wir strudeln wie irr, gepackt vom Wirbelpfuhl - und inmitten des Röhrens und Blökens und Donnerns, von Ozean und von Sturm, beginnt das Schiff zu vibrieren - oh Gott! und alles versinkt! Edgar Allan Poe, Manuskriptfund in einer Flasche
PROLOG Die Chimären der Erinnerung
Folgendes ist Indiana Jones im Gedächtnis geblieben: Die sterbende Ulla mit einem Arm umklammernd, richtet er den Webley mit der anderen Hand in den Tunnel. Er kann den Lärm der näher kommenden Nazis hören, das Trappeln ihrer Stiefel und das drängend geflüsterte »Schnell! Schnell!« ihres Anführers, doch einen sich ewig ziehenden Augenblick lang bleiben sie noch hinter der letzten Biegung des felsgesäumten Ganges verborgen. Indy ist am Ende seiner Kräfte, sein Arm ist kraftlos, und seine Hand zittert so sehr, dass man das, was er mit dem schweren Revolver versucht, kaum als Zielen bezeichnen kann. In der Trommel des Webley verbleiben nur noch zwei Patronen, zwei Schuss Munition, mit denen er sich bis zum Letzten gegen ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Schergen der SS verteidigen soll. Die Chancen sind überaus ungleich verteilt, aber Indy und seine Begleiter haben keine Wahl. Sie sind am Ende des Edda-Schachtes angelangt und stehen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand: einer breiten, glatten Wand aus grauem, fugenlosem Fels. Es gibt keine Verbindungsgänge mehr, die man einschlagen, keine Hinweise, die man noch entziffern könnte, nichts, das irgendeinen Weg aus dieser Situation wiese, die kaum auswegloser sein könnte.
Gunnar hat sein Hemd ausgezogen und macht sich bereit, mit bloßen Händen weiterzukämpfen, indem er sich selber ins Gesicht schlägt - so fest, dass ihm das Blut aus den Mundwinkeln rinnt. Auf seiner breiten Brust glänzt der Schweiß, und sein wallender roter Bart und seine grimmig blauen Augen beschwören Bilder seiner kriegerischen Vorfahren herauf. Sparks ist der Jüngste und Schmächtigste in der Gruppe, hat aber die meiste Ruhe bewahrt. Der siebzehnjährige Armeefunker sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf der Erde und ordnet einen Kreis aus Steinen immer wieder aufs Neue um. »Welche Farbe liegt im Spektrum zwischen Grün und Rot?«, fragt Sparks. »Gelb!«, schreit Indy. »Beeil dich! Sie sind fast da!« »Ich hab's fast geschafft«, antwortet Sparks. Doch Indy vermag sich nicht recht zu erinnern, wieso die Steine von Bedeutung sind, oder was das ist, das Sparks beinahe geschafft haben will. Dann ist da noch Ulla. Die dänische Höhlenforscherin ist von einem Querschläger der Nazis in die Brust getroffen worden. Ihre Khakibluse ist nass von Blut, und ihr glattes blondes Haar weist dort, wo es ihre Bluse gestreift hat, erdbeerfarbene Strähnen auf. Ihre Haut hat eine fischbauchähnliche Blässe angenommen, und ihre Lippen, ungeschminkt und normalerweise von gesunder Lachsfarbe, sind blau angelaufen. Ihr Atem geht unregelmäßig und wird von einem abscheulichen Rasseln unterlegt. »Jones«, haucht sie. »Versuchen Sie jetzt nicht zu sprechen, Schätzchen«, erwidert Indy, während er sich mit dem Rücken der Hand, in der er die Waffe hält, über die Augen wischt. »Schonen Sie Ihre Kräfte.« »Seien Sie ein Mann«, krächzt sie. »Und nennen Sie mich nicht Schätzchen.«
Es herrscht eine unerträgliche Hitze, und die dicke Luft fühlt sich in Indys brennenden Lungen wie Sirup an. Dann beginnen sich die Haare in seinem Nacken und an seinen Unterarmen zu sträuben. »Spüren Sie das auch?«, fragt Sparks. »Ja«, antwortet Indy über seine Schulter. »Was ist das?« »Statische Elektrizität. Die Luft hat sich übermäßig aufgeladen. Warum, weiß ich nicht.« Die Nazis haben sie fast erreicht. Der Rhythmus ihrer Stiefel und das Klirren ihrer Ausrüstung ist zu einem Missklang angeschwollen, der jeden Moment hinter der Ecke hervorbrechen kann. Gunnar brummt etwas. Dann schlägt Ulla die Augen auf und blickt über Indys Schulter hinweg auf die dahinter liegende leere Wand. Ihre Augen weiten sich, und sie benetzt ihre blutverschmierten Lippen. »Ich muss tot sein«, murmelt sie. »Die Walküren sind hier.« Und das ist auch schon das Letzte, an das Indy sich erinnern kann. Was geschah danach? Das ist ein nagendes, wenn auch unbedeutendes Rätsel, eines, das Indy noch immer bis in den hintersten Winkel seines Verstandes beschäftigt, in Wahrheit aber ohne große Bedeutung bleibt. Schließlich ist es nicht so, als ob das Geschick von Himmelskörpern auf sein Erinnerungsvermögen angewiesen wäre. Gewiss, über weite Strecken erinnert er sich an die gescheiterte Expedition hinunter in den Edda-Schacht, aus der sich schließlich die Entdeckung des unterirdischen Flusses und was danach folgte ergab - hier jedoch, an der Stelle, wo es nicht mehr weiterging, versagt ihm das Gedächtnis seinen Dienst. Mag sein, dass es die giftigen, vom überhitzten Gestein ausströmenden Dämpfe waren, verbunden mit Hunger und Erschöpfung, die diesen Erinnerungsverlust bewirkt haben. Vielleicht waren sie auch in eine Blase mit verbrauchter
Luft geraten, oder es lag an irgendeinem eines halben Dutzends anderer Gründe, die auch die Gedächtnislücke erklären würden. Nur ... Manchmal, im Schattenreich zwischen Wachsein und Traum, gelingt es Indy fast, sich zu erinnern und sich einen Reim darauf zu machen ,- oder auch während eines Gewitters, wenn ein Blitz ein wenig zu nah einschlägt, so dass ihm schwindlig wird, oder gar wenn er - seltsam! - beflügelte Chimären und Wasserspeier erblickt, die von den Traufen mittelalterlicher Gebäude hinunterspähen. Dann kehrt Indy ganz an den Anfang zurück, durchstöbert sein Gedächtnis nach Hinweisen und geht ihnen, geduldig wie ein umsichtiger Bibliothekar, bis ganz zum Ende nach. Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Schnee, und im Schnee wird sie auch enden ...
KAPITEL EINS Ein später Besucher
Princeton, New Jersey Anfang 1934 - Winter Der arktische Wind pfiff wie ein lebendes Wesen heulend um die Ecken seines Hauses, und es war dieses scheinbar einer anderen Welt entstammende Geräusch - das die Einbildung in etwas Beängstigendes und gleichzeitig Mitleiderregendes verwandelte das Indiana Jones zum ersten Mal seit dem Abendessen von seiner Lektüre aufblicken ließ. Er war aus Geschichten von Gold und Geistern in den Bergen New Mexicos gerissen worden, daher dauerte es einen Augenblick, bis er seine Gedanken gesammelt und die Quelle jenes unheimlichen Wehgeschreis richtig eingeordnet hatte. Er markierte die Stelle in Coronado's Children mit einem Streifen Papier, setzte seine Lesebrille ab, legte sie behutsam auf den Stapel aus anderen Büchern und verschiedenen Landkarten neben seinem Sessel und massierte seine müden Augen mit den Fingerspitzen. Seine Weste war aufgeknöpft, und seine Lieblingsfliege, ein Geschenk von Marcus Brody, baumelte schlaff um seinen Hals. Indy sah auf die Uhr auf dem Rauchfang des Kamins - über der aus Nachlässigkeit erkalteten Feuerstelle und brummte ungläubig, weil es bereits auf Mitternacht ging. In etwas weniger als sechs Stunden würde er in einem Zug nach New Mexico sitzen. Eigentlich hätte er bereits seit Stun -
den schlafen sollen, nur verspürte er einen gewissen Widerwillen, sich den Albträumen auszuliefern. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann genau sie eingesetzt hatten - möglicherweise reichten sie zurück bis zu jenem Sommer in Utah, als er dreizehn gewesen war -, es bestand jedoch nicht der geringste Zweifel, dass sie immer häufiger wurden. Und zunehmend erschreckender. Die Albträume folgten stets dem gleichen Muster: Gewöhnlich kam Indy im Innern einer engen, dunklen Kiste wieder zu sich. Seine Arme lagen fest an seinen Körper gepresst. Und gewöhnlich dämmerte ihm erst, wenn die Erde auf den Deckel prasselte, dass er im Innern eines Sarges lag und man diesen Sarg in ein Grab hinabgelassen hatte. Dann fing er an zu schreien und sich wie von Sinnen gegen den Sargdeckel zu stemmen, wenn auch ohne den geringsten Erfolg - er war bei lebendigem Leib begraben. Dann folgte das Klopfen. Es war ein leises, durch die verharschte Schneeschicht, die an seiner Eingangstür haftete, gedämpftes Klopfen, das im Getöse des winterlichen Sturms beinahe unterging, der die Landschaft New Jerseys in etwas Weißes und Exotisches verwandelte. Wäre Indy nicht durch das Heulen des Windes in das Hier und Jetzt zurückgeholt worden, er hätte es womöglich überhört; selbst jetzt war er nicht vollkommen sicher, ob er sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Indy entriegelte die Tür, öffnete sie ein paar Zentimeter weit, womit er einen Schwall aus wirbelnden und hin und her wehenden Schneeflocken in sein Wohnzimmer ließ, und kniff die Augen gegen die gefühllos machende Kälte zusammen. Am Fuß der Treppe stand eine Gestalt in einem dunklen Überzieher, den Hut tief in die Stirn gezogen. Ihre Rechte umklammerte das Geländer, unter ihrem linken Arm dagegen klemmte ein Paket von der ungefähren Größe einer Zigarrenkiste. »Dr. Jones?«, erkundigte sich der Mann mit heiserer Stimme. »Ja?«, erwiderte Indy.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie belästige -«, setzte der Mann an, brach dann aber keuchend mitten im Satz ab. Er schloss die Augen, so als habe er Schmerzen, und bat Indy mit erhobener Hand um einen Augenblick Geduld. Indy ergriff den Ellbogen des Mannes. »Im Warmen können wir uns bequemer unterhalten«, sagte er, während er den Mann mit sanfter Gewalt ins Haus hineinzog und die Tür hinter ihm schloss. Er geleitete ihn quer durchs Zimmer zu einem dick gepolsterten Sessel neben dem offenen Kamin. »Danke«, keuchte der Mann. Der Besucher nahm seinen Hut ab, zog seine Handschuhe aus und legte die Gegenstände auf der Armlehne seines Sessels ab. Die dunkle Holzkiste dagegen behielt er sicher im Schoß. Der Besucher war mindestens siebzig. Seine Haare und sein Bart hatten die Farbe schmutzigen Schnees, und die Haut auf seinen Handrücken schimmerte im Licht der elektrischen Lampen wie blau geädertes Alabaster. Der Rücken seiner rechten Hand wies eine hässliche Schramme auf, und obwohl die Kälte die Blutung gestillt zu haben schien, sah sie aus, als ob sie schmerzhaft sei. Für Indy schien die Prellung das Zickzackmuster eines Reifenabdrucks aufzuweisen. »Es tut mir Leid, dass ich Sie so überfalle«, sagte der Alte. »Das weist auf einen erschreckenden Mangel an Manieren hin. Aber Sie waren der Einzige, der mir zu dieser späten Stunde eingefallen ist.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erwiderte Indy, während er sich vorbeugte und in die ungewöhnlich wachen, stahlgrauen Augen des Mannes blickte. »Sind Sie verletzt? Oder krank? Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?« »Mir geht es ausgezeichnet«, erwiderte der alte Mann und winkte ab. »Haben Sie die Tür hinter mir zugesperrt?« »Nein, aber -«
»Bitte, tun Sie einem alten Mann den Gefallen«, bat ihn der Besucher flehend. »Schließen Sie die Tür ab.« »Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?« »Im Augenblick, ja. Sperren Sie die Tür ab.« »Ganz wie Sie wollen«, sagte Indy, bereits auf dem Weg zur Tür, wo er den Riegel vorschob. Neben der Tür stand, gepackt und reisefertig, sein Koffer. Auf dem Koffer lag sein Filzhut. »Sie wollen verreisen?«, fragte der alte Mann. »So ist es«, antwortete Indy. »Ich breche gleich morgen früh nach New Mexico auf, wo ich hoffe, in den Guadelupe-Bergen einige kleinere, aber möglicherweise sehr lohnende archäologische Arbeiten durchführen zu können.« »Schatzsuche«, sagte der alte Mann. »Mir ist ein wenig kalt, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie etwas Wärmendes zu trinken hätten. Einen Whiskey, vielleicht.« »Ich hab nichts im Haus. Aber ich könnte etwas Kaffee aufwärmen.« »Das wäre gut. Schwarz, mit reichlich Zucker.« Indy ging in die Küche, zündete eine Herdflamme an und setzte die Kanne mit drei Stunden altem Kaffee auf. Während der Kaffee aufgewärmt wurde, ging er vor dem Kamin in die Hocke und stocherte mit einem Schüreisen in der Asche. Kurz darauf hatte er einen Glutrest gefunden und machte, indem er es behutsam mit Papier und Anmachspänen fütterte, ein munter loderndes Feuer, um die Kälte aus dem Zimmer zu vertreiben. »Vorsicht«, warnte er ein paar Minuten später, als er dem Besucher einen dampfenden Becher reichte. »Verbrühen Sie sich nicht.« »Danke«, erwiderte der alte Mann, den Becher mit beiden Händen haltend. Dann musterte er Indy neugierig. »Sie erinnern sich nicht an mich, hab ich Recht?« »Nein«, antwortete Indy. »Das überrascht mich nicht.« Der alte Mann untersuchte seinen Hinterkopf behutsam mit den Fingerspitzen und
verzog schmerzhaft das Gesicht. »Es ist viele Jahre her. Sie waren Doktorand an der Universität Chicago, und ich war auf Vortragsreise, und eines Abends kreuzten sich unsere Wege, als Sie Abner Ravenwood in eine meiner Vorlesungen im alten städtischen Auditorium begleiteten. Mein Name ist Evelyn Briggs Baldwin.« »Natürlich!«, sagte Indy. »Sie hielten eine Vorlesung über Ihre Abenteuer mit Peary in der Arktis und Ihren eigenen Vorstoß zum Pol im Jahr 1902. Sie haben Fort McKinley gegründet, Graham Bell Island entdeckt und vertraten die Überzeugung, man könne das Nordlicht als dauerhafte Energiequelle für die Menschheit nutzbar machen ... Ich fand den Gedanken eigentlich ganz faszinierend.« »Es ist tröstlich zu wissen, dass sich nach all den Jahren noch ein Mensch an mich erinnert«, sagte Baldwin. »An Sie erinnere ich mich jedenfalls noch sehr gut. Sie waren nach der Vorlesung so voller Fragen, von einer so überschäumenden Begeisterung. Sie haben mich an jenem Abend sehr beeindruckt, und in der Folge machte ich es mir zum Prinzip, Ihren Werdegang in den Zeitungen zu verfolgen. Sie waren alles andere als ein Heiliger, Dr. Jones. Wie es scheint, sind Sie überdurchschnittlich oft in die, wie man das in einfacheren Zeiten nannte, Klemme geraten.« »Na ja ...« »Spielt keine Rolle«, fuhr Baldwin fort. »Das beweist nur Ihren Mut und dass Sie keine Angst davor haben, die üblichen Gepflogenheiten um eines höheren Zieles willen in Frage zu stellen. Das ist auch der Grund, weshalb ich heute Abend hergekommen bin. Ich habe mir Ihre Privatadresse verschafft, weil ich die Absicht hatte, Ihnen diese Kiste zuschicken.« Baldwin klopfte mit dem Zeigefinger auf das Kästchen. Es war aus einem dunklen exotischen Holz gemacht, besaß Messingscharniere und ein robustes Schnappschloss und glich einer winzigen Schatztruhe. Offenkundig hatte es ein medizinisches oder wissenschaftliches Instrument enthal-
ten, doch das musste lange her gewesen sein ; außen wies es zahlreiche Scharten und Schrammen auf, die Ecken waren abgenutzt, und der in Goldbuchstaben aufgedruckte Name des Herstellers, Burroughs Wellcome & Co., war arg rissig und verblasst. Das Kästchen war mit einem dicken Kordelstück umwickelt, um jeden Versuch, es zu öffnen, zu entmutigen. »Warum ich?«, fragte Indy. »Weil es sonst niemanden gibt, dem ich vertrauen kann«, schnaufte Baldwin. »Die Welt hat mich vergessen und dazu verdammt, alt zu werden und eine Reihe von bedeutungslosen Schreibtischjobs für verschiedene Abteilungen der Regierung anzunehmen. Ich war nie verheiratet. Von meinen Freunden lebt niemand mehr. Ich habe eine Nichte, die in Kansas lebt, aber wir stehen uns nicht sehr nah. Und das Geheimnis, das ich im Begriff bin, Ihnen anzuvertrauen, erfordert einen Menschen, der über Ihr Maß an Findigkeit verfügt.« Der alte Mann hielt inne. Das viele Sprechen hatte ihn sichtlich erschöpft, und er musste seine Kraft ein letztes Mal zusammennehmen. Er lehnte sich zurück, ließ den Kopf gegen die Sessellehne sinken und verschränkte die Hände über dem Kästchen auf seinem Schoß. In seinem rechten Ohr schimmerte matt ein Blutstropfen. »Ich werde einen Arzt anrufen«, sagte Indy. »Nein«, beharrte Baldwin. »Das war nicht als Frage gemeint.« »Aber da ist noch mehr, das Sie wissen müssen.« »Dann erzählen Sie mir davon, während der Arzt auf dem Weg hierher ist«, erwiderte Indy. Er lief zum Telefon, drückte ein paar Mal auf die Gabel, doch an sein Ohr drang nichts als Stille. »Das Telefon ist tot«, sagte er, als er den Hörer wieder auflegte. »Der Sturm muss die Leitungen umgerissen haben. Ich bin überrascht, dass wir noch immer Strom haben.«
»Nicht der Sturm«, meinte Baldwin. »Das ist die Schutzstaffel, sie sind mir bis hierher gefolgt. Besitzen Sie eine Waffe?« »Selbstverständlich«, antwortete Indy. Er sah zu seinem Koffer hinüber, in dem, eingebettet zwischen Socken und Unterwäsche, sein Webley-Revolver Kaliber 38 und eine Schachtel Patronen lagen. »Aber wer sind diese Leute, und wieso sollten wir gezwungen sein, uns zu verteidigen?« »Sie kennen Sie besser unter dem Namen SS«, sagte Baldwin. »Nazis«, entfuhr es Indy. »Sturmtruppen.« »Hier handelt es sich um eine Sonderabteilung«, erläuterte Baldwin. »Agenten der Strahlenden Loge des Vril, auch bekannt unter dem Namen Thule-Gesellschaft, jener Saat, aus der die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei hervorgegangen ist. Diese Horde von Fanatikern ist mir schon seit Monaten auf den Fersen. Heute Abend schließlich haben sie versucht, mich umzubringen und mir meine Geheimnisse zu entreißen, und mich mit einem Auto angefahren. Ich konnte nur entkommen, weil ein aufmerksamer Taxifahrer Zeuge wurde, wie ich zu Boden ging, und anhielt, um zu helfen ... Holen Sie Ihre Waffe.« »Sie sind im Fieberwahn«, sagte Indy, während er seinen Wintermantel vom Haken neben der Tür nahm. »Sie ruhen sich hier aus, und verhalten Sie sich still. Ich werde einen Arzt herholen.« »Nein«, meinte Baldwin. »Dafür ist keine Zeit.« »Sie haben Recht«, sagte Indy, während er seinen Mantel zuknöpfte und seine Taschen nach dem Schlüssel für sein Ford Coupe abklopfte. »Wir müssen Sie in ein Krankenhaus bringen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen ins Auto.« »Nein.« Der alte Forscher hielt Indy am Ärmel fest. »Ich flehe Sie an«, sagte er. »Hören Sie mich an.« Indy hielt inne. »Geben Sie mir fünf Minuten, dann komme ich mit.« Indy zögerte, schließlich nickte er.
»Also gut, Captain«, sagte er. »Fünf Minuten. Und dann auf schnellstem Weg ins Krankenhaus.« »Einverstanden.« Baldwin nickte. »Erinnern Sie sich noch an die eine ganz spezielle Frage, die Sie mir damals vor so langer Zeit in Chicago stellten, eine Frage, die mich verblüffte und die mir noch niemand zuvor gestellt hatte. Können Sie sich noch daran erinnern?« »Ja«, antwortete Indy. »Es war eine typische alberne Doktorandenfrage - ich wollte wissen, ob man in der äußersten Arktis jemals Artefakte einer hoch entwickelten alten Zivilisation gefunden hat. Natürlich haben Sie mit >Nein< geantwortet.« »Das war gelogen«, sagte Baldwin. Er drückte Indy das Kästchen in die Hand. »Ich kann sonst niemandem vertrauen«, ächzte Baldwin. »Es ist den Nazis schließlich doch gelungen, mich zu töten, aber die Beute, auf die sie aus waren, haben sie nicht bekommen. Beschützen Sie den Inhalt dieses Kästchens um jeden Preis ... Es gibt ein paar Dinge, für die die Menschheit noch nicht reif ist.« »Sie werden nicht sterben«, sagte Indy mit Nachdruck. »Wir müssen alle sterben«, entgegnete Baldwin. Er ließ den Kopf an die Rückenlehne des Sessels sinken. »Ich habe die mir auf Erden zuerkannte Zeit längst überschritten -ich habe das entschiedene Gefühl, dass ich allmählich in ein biblisches Alter komme. Es ist an der Zeit, einem anderen Platz zu machen, meinen Sie nicht auch?« »Nein«, erwiderte Indy. »Das meine ich nicht.« »Dr. Jones«, sagte Baldwin, »haben Sie je darüber nachgedacht, was sich unter unseren Füßen befindet?« »Als Archäologe denke ich über praktisch nichts anderes nach.« »Nein«, widersprach Baldwin. »Ich meinte nicht nur ein paar Meter weit. Ich meinte Kilometer tief unter unseren Füßen hunderte von Kilometern, um genau zu sein.« »Unterhalb der Erdkruste.«
»Die Erdoberfläche misst etwa fünfhundertzehn Millionen Quadratkilometer«, erklärte Baldwin, »und weniger als ein Drittel davon ist Land. Unterhalb der Oberfläche jedoch befinden sich über eine Billiarde Kubikkilometer, die nahezu gänzlich unerforscht sind.« »Wollen Sie etwa andeuten, die Erde sei innen hohl?«, fragte Indy. »Wenn dem so ist, dann kenne ich die Argumente bereits, und sie haben mich nicht überzeugen können.« »Nicht hohl, nicht so wie eine leere Kugel oder eine Art durch das All kreisende Geode«, erklärte Baldwin. »Sondern eher wie ein nahezu fester, von Adern und Rissen durchzogener Körper. Wenn nur ein Zehntelprozent des Erdvolumens auf diese bewohnbaren Hohlräume entfällt -und das ist eine vorsichtige Schätzung, die berücksichtigt, was wir über die Entstehung rotierender Himmelskörper wissen - dann würde dies bedeuten, dass die größten Entdeckungsreisen durch das Innere der Erde führen, und nicht über ihre Oberfläche.« »Bewohnbare Hohlräume«, wiederholte Indy. »Meinten Sie nicht begehbare Hohlräume?« »Nein, Dr. Jones, das meinte ich keineswegs«, erwiderte Baldwin. »Sie können doch nicht allen Ernstes behaupten wollen, dass es im Erdinnern Hohlräume gibt, die von Menschen bewohnt werden«, sagte Indy. »Eine der gesichertsten Lehrsätze der modernen Wissenschaft besagt, dass die Energie für alles Lebendige letzten Endes von unserer Sonne stammt. In den Tiefen des Erdinnern, ohne Zugang zu Wärme und Licht der Sonne, könnten nicht einmal primitivste Organismen überleben, ganz zu schweigen von komplexen Systemen, wie sie die Menschen darstellen.« Baldwin lächelte. »Ich sagte bewohnbar. Von Menschen habe ich nichts gesagt.« »Sie sind krank«, erwiderte Indy. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber -«
Baldwin hob schwach seine Hand. »Ich habe Dinge gesehen, die andere nur in ihrer Fantasie zu Gesicht bekommen - oder in ihren Albträumen«, erklärte er. »Eine fantastische Welt, die das Begriffsvermögen unserer noch in den Kinderschuhen steckenden Wissenschaft übersteigt. Man hat sie mit vielen Namen bedacht, aber in den alten, sehr alten Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit. Sind Sie mit der Sage vom Königreich Agartha vertraut?« »Dem sehr alten, buddhistischen Mythos über die Rasse von Übermenschen im Mittelpunkt der Erde.« Baldwin nickte. »Aber hinter was sind denn nun die Nazis her?«, wollte Indy wissen. »Hinter Vril!«, stieß Baldwin hervor. »Dem lebensspendenden Element dieser unterirdischen Welt. Sogar Materie lässt sich mit Hilfe dieser Kraft beeinflussen. Durch sie wird man gottähnlich alles, nur nicht unsterblich. Sie durchdringt massives Gestein, heilt Wunden, errichtet an einem einzigen Tag ganze Städte - oder zerstört sie. Vril zu besitzen bedeutet, unbesiegbar zu sein.« Indy schwieg. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie mir glauben«, fuhr Baldwin fort. »Aber das Kästchen, das Sie in Händen halten, enthält die Summe all meiner Erfahrungen, und das ist Vermächtnis genug. Ich hatte entsetzliche Angst vor den Verwicklungen, die entstünden, wenn ich dieses Material der Welt zugänglich machte, deshalb habe ich niemandem davon erzählt. Sie müssen schwören, diese Geheimnisse zu hüten, Dr. Jones. Und sollte der Verlust des Inhalts dieses Kästchens drohen, müssen Sie versprechen, es zu vernichten.« »Aber -« »Diskutieren Sie nicht, schwören Sie, verdammt.« »Captain -« »Schwören Sie!«
»Ich verspreche es«, gab Indy schließlich nach. »Gut«, meinte Baldwin ermattet. »Ich weiß, dass Sie ein Mann sind, der zu seinem Wort steht.« »Captain ...« Indy stellte das Kästchen zur Seite und ergriff ungestüm seine Hand. »Sie bleiben jetzt hier bei mir. Wir werden Hilfe für Sie holen.« »Dafür ist es zu spät, Dr. Jones. Man kann nichts mehr tun. Außerdem bin ich längst kein Kapitän mehr, nicht einmal mehr von diesem alten Wrack eines Körpers Baldwins Stimme wurde schleppend und verklang. Dann umwölkte sich sein Blick, und sein Kopf fiel auf die Seite. Die Hand in Indys Klammergriff erschlaffte. »Captain!«, rief Indy. Draußen erreichte der Wind einen Höhepunkt. Man hörte das ohrenbetäubende Krachen eines abbrechenden schweren Asts, gefolgt vom Summen und Knistern reißender Stromkabel. Das Licht flackerte und erlosch schließlich ganz. Im Schein des Kaminfeuers hievte er den alten Mann aus dem Sessel und warf ihn sich über die Schulter. Er vergaß jedoch nicht, das Kästchen mitzunehmen.
KAPITEL ZWEI Der Thule-Stein
Schweigend verfolgte Indy, wie der hölzerne Sarg mit den sterblichen Überresten von Evelyn Briggs Baldwin in den Gepäckwagen der Penn Eisenbahnlinie geladen wurde. Seine Hände steckten tief in den Taschen seiner Lederjacke, seinen Filzhut hatte er nach hinten auf den Kopf geschoben, und neben seinen Füßen stand sein Koffer. Das geheimnisvolle Kästchen vom Abend zuvor steckte sicher verstaut in der Mappe, die unter seinem Mantel über seiner Schulter hing. Neben Indy stand der Eisenbahnbedienstete mit einem Klemmbrett in der Hand und trat in dem vergeblichen Versuch, sich warm zu halten, von einem Fuß auf den anderen. »Sind Sie mit ihm verwandt?«, fragte der Bedienstete. »Nur im Geiste«, antwortete Indy. Die Gepäckträger setzten den Sarg mit einem derben, dumpfen Schlag auf dem Boden des Gepäckwagens ab, der Indy zusammenzucken ließ. Da das übrige Gepäck und die Fracht bereits verladen waren, schoben sie die Tür des Waggons zu. Der Außenriegel fiel mit einem scharfen, metallischen Klirren an seinen Platz. »Sie werden zwei Mal umsteigen müssen, aber wegen des Sarges können Sie ganz unbesorgt sein«, erklärte der Bedienstete, als er die Fahrkarten vom Klemmbrett abriss und sie Indy reichte. »Der wird automatisch umgeladen, und bis jetzt ist uns noch keiner verloren gegangen.«
»Beruhigend, das zu wissen«, bekannte Indy. »Und vielen Dank, dass Sie geholfen haben, die Reiseroute in allerletzter Minute noch zu ändern.« »Kein Problem, Dr. Jones«, meinte der Bedienstete. »Ich hatte Ihren Anruf sogar erwartet, denn kurz bevor Sie anriefen, hat sich jemand nach Ihrer Abfahrtszeit erkundigt.« »Tatsächlich?« »Ja«, sagte der Bedienstete. »Ein Herr von der Universität rief an und wollte wissen, ob Sie Ihre Pläne schon geändert hätten. Ich sagte nein. Ich fand es ziemlich merkwürdig - das heißt, bis Sie anriefen und es erklärten.« »Haben Sie diesem Herrn sonst noch etwas erzählt?« »Nein«, antwortete der Bedienstete. »Na ja, er wollte wissen, ob Sie immer noch ganz sicher morgen nach Chicago fahren würden. Ich stellte das richtig und erklärte ihm, Sie würden heute nach New Mexico abreisen.« »Hat dieser Herr seinen Namen angegeben?« »Nein«, sagte der Bedienstete. »Aber er sprach mit einem Akzent - Deutsch, wenn ich mich nicht irre -, und er schien Sie recht gut zu kennen. Sagt Ihnen das was?« »Allerdings«, sagte Indy. »Vielen Dank.« Dann hörte er jemand seinen Namen rufen, und als er sich umdrehte, sah er, wie ein winkender Marcus Brody versuchte, sich einen Weg durch das dichte Gedränge auf dem Bahnsteig der Princeton Station zu bahnen. Indy verabschiedete sich von dem Bediensteten, nahm seinen Koffer in die Hand und ging Brody auf halbem Weg entgegen. »Wo hast du bloß gesteckt, Indiana?«, rief Brody. »Ich habe fast eine geschlagene Stunde gewartet. Es ist so gar nicht deine Art, eine Verabredung zu versäumen, dass ich beschloss, nach dem Rechten zu sehen ... Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Bist du nicht ins Bett gekommen?« »Nein«, sagte Indy. »Dafür war in Anbetracht der Umstände keine Zeit. Tut mir Leid, dass ich unser Frühstück im Universitätsclub versäumt habe, aber ich hatte etwas Dringendes zu erledigen.«
»Geht es dir gut?«, fragte Brody. Sein Gesichtsausdruck und der Klang seiner Stimme verrieten deutlich seine Besorgnis. »Es geht mir ausgezeichnet«, beteuerte Indy, während sie sich zu einer halb besetzten Sitzbank begaben. »Aber ich fürchte, das lässt sich von dem Besucher, den ich gestern Abend hatte, nicht behaupten. Hast du die Zeitung schon gelesen, die in deiner Manteltasche steckt? Steht dort etwas über Evelyn Briggs Baldwin?« Als sie sich hinsetzten, senkte ein hoch gewachsener blonder Mann in schwarzem Wettermantel neben dem Zeitungsstand des Bahnsteigs die Saturday Evening Post, die er zu lesen vorgab, gerade so weit, dass er sah, wie Indy den Koffer unter die Bank schob, wo er den dicht gedrängten Passanten nicht im Weg sein würde. Indys Hand hatte den Koffer eben erst losgelassen, als der Mann im Wettermantel seinen Platz neben dem Zeitungsstand verließ und begann, sich durch die Menschenmenge bis zu jener Bank hindurchzuschlängeln, auf der Brody und Indy Platz genommen hatten. »Baldwin?« Brody nahm seine Lesebrille aus der Tasche und faltete die Morgenausgabe der New York Times auseinander. Nachdem er mehrere Seiten überblättert hatte, fand Brody, eingeklemmt zwischen einem Artikel über zweitausend simultan durchgeführte Hochzeiten zur Feier des zwölften Jahrestages des Faschismus in Italien und einem Funkbericht aus La Paz über neu entflammte Kämpfe um die Region Chaco, auf der letzten Seite des ersten Teils eine zwanzigzeilige Notiz.
E. B. BALDWIN BEI UNFALL MIT FAHRERFLUCHT UMGEKOMMEN 71-jähriger Forscher auf eisglatter Straße angefahren Exklusiv für die New York Times PRINCETON, N. J. - Der Polarforscher Evelyn Briggs Baldwin erlag heute Morgen einem Schädelbruch, nachdem er auf einer eisglatten Durchfahrtsstraße von einem Automobil angefahren worden war. Bei der Einlieferung ins Krankenhaus in einem Privatfahrzeug konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. In den Jahren 1893-94 begleitete Mr. Baldwin Robert E. Peary als Meteorologe auf dessen Nordgrönland-Expedition. 1898-99 war er stellvertretender Leiter der Polarexpedition von Walter Wellman in das Franz-Joseph-Land. Er gründete und benannte Fort McKinley, entdeckte und erforschte Graham-Bell-Land und leitete in den Jahren 1901-02 die Baldwin-Ziegler-Polarexpedition, die beinahe in einer Katastrophe endete. Seit der Entdeckung des Pols durch Peary im Jahr 1909 galt sein Lebensziel als gescheitert. »Hattest du etwas damit zu tun?«, fragte Brody und nahm seine Brille ab. »Ich habe ihn nicht mit dem Wagen überfahren, falls du das meinst«, sagte Indy und rieb seine Hände aneinander, um sie warm zu halten. »Er kam nach dem Unfall zu mir nach Hause, Marcus. Er behauptete, die Nazis steckten dahinter, und dass sie seit Monaten hinter ihm her seien, um ihm irgendein den Pol betreffendes Geheimnis zu stehlen.« »Was für ein Geheimnis?«, fragte Brody. »Es geht um etwas mit dem Namen Vril.«
»Nie davon gehört«, meinte Brody. »Kanntest du diesen Baldwin gut?« »Ich kannte ihn überhaupt nicht«, erwiderte Indy. »Wir sind uns ein einziges Mal begegnet, vor vielen Jahren. Damals war ich Doktorand, und er befand sich auf einer Vortragsreise, in deren Verlauf er einige seiner Filme vorführte, die er in der Arktis aufgenommen hatte. Aber seitdem haben sich unsere Wege nie wieder gekreuzt, jedenfalls nicht vor gestern Abend. Als die Polizei seine Sachen im Leichenschauhaus des Krankenhauses untersuchte, fanden sie in seiner Brieftasche einen gefalteten Zettel mit säuberlich getippten Anweisungen für seine Beerdigung. In seiner Heimatstadt in Kansas wartet eine Grabstelle mitsamt Stein auf ihn.« »Bemerkenswert«, staunte Brody. »Mag sein, dass er darüber hinaus ein Spinner war«, sagte Indy. »Oder aber er litt auf Grund seines Unfalls unter Wahnvorstellungen. Wie auch immer, gestern Abend hat er ein paar ziemlich fantastische Dinge von sich gegeben. Er sagte, seine Geheimnisse seien in diesem kleinen, hölzernen Kästchen enthalten, das er mir zur Aufbewahrung gab. Ich musste es ihm schwören.« Indy nahm das kleine, schatzkistenähnliche Kästchen aus der Büchermappe. Brody nahm es in die Hand, drehte es herum, während er es mit erfahrenem Blick musterte, dann fuhr er mit dem Finger über die goldene Inschrift. »Burroughs Wellcome«, las er. »Das ist ein Medizinkasten, wie ihn die Forscher um die Jahrhundertwende mit sich führten. Wenn ich mich recht erinnere, hatte Stanley eins von diesen Dingern in Afrika dabei. Es wäre nur logisch, wenn Baldwin es in der Arktis bei sich gehabt hätte.« Er machte sich an der Kordel zu schaffen. »Nicht«, warnte ihn Indy. »Warum nicht?«, fragte Brody. »Enthält es etwas Gefährliches?«
»Das ist es ja gerade, Marcus«, sagte Indy. »Ich habe keine Ahnung. Ich musste Baldwin schwören, zu beschützen, was immer sich darin befindet, nur er ist gestorben, bevor er mir verraten konnte, ob er wollte, dass ich es öffne oder nicht.« »Klingt ein bisschen wie ein Vexierrätsel«, murmelte Brody, als er das Kästchen zurückgab. »Hübsch gesagt«, meinte Indy, als er das Kästchen wieder in der Mappe verstaute. »Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Ich fühle mich verpflichtet, Baldwins Wünsche zu respektieren wenn ich nur wüsste, worin sie bestehen. Andererseits ist meine Neugier geweckt worden.« »Kann ich mir vorstellen«, sagte Brody. »Ich fürchte, ich an deiner Stelle hätte den Inhalt längst katalogisieren lassen. Aber du hast andere Methoden, Indy. Ich bin sicher, mit ein wenig Zeit wirst du herausfinden, wie du am besten vorgehst.« Der Mann im schwarzen Wettermantel, der, das Gesicht wieder hinter seiner Zeitung verborgen, mittlerweile hinter ihrer Bank stand, hakte einen Fuß hinter Indys Koffer und begann, ihn langsam fortzuziehen. Das Scharren des Koffers auf dem Boden ging im Lärm der Menschenmenge unter. Indy senkte die Stimme. »Es wäre mir eine große Hilfe, Marcus, wenn du einige deiner Freunde in Washington anrufen könntest. Bring in Erfahrung, was sie über eine Organisation namens Thule-Gesellschaft wissen«, sagte er. »Gut möglich, dass es lediglich das verwirrte Geschwätz eines erschöpften, alten Mannes ist, aber mein Instinkt sagt mir, dass mehr dahinter steckt.« »Angesichts der Umstände«, räumte Marcus ein, »wären solche Gefühle durchaus verständlich. Schließlich geschieht es nicht jeden Tag, dass man mit ansehen muss, wie einem ein Gast wegstirbt.« »Mag sein«, sagte Indy. »Aber ich könnte fast schwören,
dass ich seit Verlassen des Krankenhauses heute früh verfolgt werde.« »Ich werde ein paar Nachforschungen anstellen«, versprach Brody. Der Koffer stand jetzt nicht mehr unter der Bank, sondern ruhte neben dem rechten Fuß des Mannes im Wettermantel. Mit geübter Unbekümmertheit faltete er die Post zusammen, nahm den Koffer auf und tauchte in der Menge unter. »Nimm das besser an dich, bevor ich es vergesse«, sagte Brody und griff in seine Jackentasche. Er zog ein kleines, flaches, in braunes Packpapier eingeschlagenes und mit einer Kordel verschnürtes Päckchen hervor. »Schließlich ist es der Grund, weshalb ich eingewilligt habe, mich heute Morgen mit dir zu treffen.« »Ah«, meinte Indy, »du hast es also gefunden.« »Einfach war es nicht«, gestand Brody. »Es ist mir gelungen, es in einer Sammlung in Mexico City aufzutreiben, obwohl die Informationen, die du mir gegeben hast, äußerst dürftig waren. Dem Anschein nach handelt es sich um das Dokument, von dem du in Coronado's Children gelesen hast. Jenes Pergament, das man zuerst im Keller des Palastes in Santa Fé gefunden hatte. Darin ist von einem Capitán de Gavilán die Rede, der in den Guadelupe-Bergen auf ein reichhaltiges Goldvorkommen gestoßen ist. Das Dokument überstand den Pueblo-Aufstand von 1680, de Gavilán hingegen nicht, ebenso wenig wie all die anderen Spanier, die nicht aus New Mexico geflohen waren. Solltest du Gelegenheit finden, es zu untersuchen, wirst du feststellen, dass man eine plumpe Karte auf die Rückseite gezeichnet hat.« »Ich könnte dich küssen, Marcus.« »Ich würde es als persönliche Gefälligkeit betrachten, wenn du es bleiben ließest«, gab Brody zurück. »Und geh behutsam damit um, das Pergament ist in einem ziemlich schlechten Zustand. Ich habe dem Konservator des Muse-
ums versprochen, wir würden es ihm noch diesen Monat wieder zukommen lassen. Das werden wir doch, oder?« »Selbstverständlich«, sagte Indy, während er das zweihundertfünfzig Jahre alte Dokument in seiner Mappe verschwinden ließ. Als er daraufhin den besorgten Ausdruck auf Brodys Gesicht bemerkte, legte er seinem Freund eine Hand auf die Schulter und fragte: »Hast du je erlebt, dass ich etwas verloren hätte?« Brody lächelte matt. »Darum geht es nicht, Indy.« »Um was dann?« »Es ist diese plötzliche Vorliebe für Gold, die du entwickelt hast«, meinte Brody. »Es entspricht nicht deiner Art, nur um des Reichtums willen einem Schatz nachzujagen. Ich könnte mehr Verständnis dafür aufbringen, wenn du nach einem wichtigen Stück für das Museum suchen würdest, das einfach zufällig ein Vermögen wert ist.« »Glaub mir«, erwiderte Indy, »ich habe meine Gründe.« »Das Ganze hat etwas mit dem Kristallschädel zu tun, hab ich Recht?« Indy schwieg, doch seine Kiefermuskeln vibrierten leicht. »Sag es mir«, drängte Brody. »Vielleicht kann ich helfen.« »Es ist besser für dich, wenn du dich aus der Sache raushältst«, sagte Indy. »Es könnte unangenehm werden, und ich möchte nicht, dass du oder das Museum tiefer darin verstrickt werdet als ohnehin schon.« Brody wirkte gekränkt. Indy legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Trotzdem danke, Marcus. Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen.« »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte Brody. In diesem Augenblick rief der Schaffner: »Alles einsteigen.« "Tja, ich sollte jetzt besser gehen«, meinte Indy. »Danke für deine Hilfe. Ich werde mich bei dir melden, sobald ich Gelegenheit dazu habe.«
Brody war Konservator für Sondersammlungen im American Museum of Natural History in New York Im Laufe der Jahre hatte Indy zahlreiche hervorragende Stucke für das Museum erworben, und Brody hatte gelernt, ihn niemals allzu genau nach den dabei angewandten Methoden zu befragen Obwohl der Altere der beiden überzeugt war, dass Indy, vor eine ethische Wahl gestellt, stets die richtige Entscheidung treffen wurde - selbst wenn er gezwungen wäre, sich für die unbequemere Möglichkeit zu entscheiden -, konnten manche der von ihm für diesen Zweck eingesetzten Mittel dazu angetan sein, dass sich dem Konservator der Kopf drehte. »Du solltest dich beeilen«, meinte Brody »Sonst verpasst du noch deinen Zug « Sie gaben sich die Hand, dann griff Indy unter die Bank nach seinem Gepäck »Marcus«, sagte er mit verdutzter Miene, »Wo ist mein Koffer?« Als der Mann im schwarzen Wettermantel, Indys Koffer trage an seiner Seite schwingend, ohne Hast den Bahnsteig überquerte, regte sich ein Lächeln in den Winkeln seiner kalten blauen Augen Unter seinem gewöhnlich aussehenden dunklen Straßenanzug baumelte an einer festen Schnur um seinen Hals eine perforierte Zinkscheibe, die ihn als Oberleutnant - als Hauptsturmführer - in der Leibstandarte SS auswies, Hitlers persönlicher Leibwache. Die Scheibe enthielt noch weitere kodierte Informationen, wie seine Dienstnummer und Blutgruppe, Letzteres jedoch war im Grunde überflüssig die Blutgruppe - A - war auch unter seinen rechten Arm tätowiert. Der Mann war einsfünfündachtzig groß, die Mindestgroße für die Leibstandarte (allerdings fünf Zentimeter großer als für die gewöhnliche SS erforderlich) Seine Schritte besaßen die Kraft und Eleganz eines geborenen Athleten, und selbst jetzt, mit dreißig, konnte er sich rühmen, dass keine einzige Zahnfüllung seinen makellosen Körper verunzierte.
Das vernarbte Gewebe, das in Gestalt eines Blitzes über seine rechte Wange lief, betrachtete er nicht als Zeichen von Unvollkommenheit, sondern trug es, wie die jungen Weltkriegsoffiziere ihre Schmisse, wie ein Ehrenabzeichen. Er betrachtete die Wunde als Zeugnis seiner patriotischen Aktionen wahrend jener Reihe von Straßenprügeleien mit entartetem Gesindel, die im Reichstagsbrand und der Amtseinsetzung Hitlers als Reichskanzler Deutschlands ihren Höhepunkt fanden. Sein Name war Rudolf Reingold Sechs Monate zuvor war er von seinem jüngsten Auftrag abberufen worden, wo er als Berater für einige der grausameren Konstruktionsdetails einer neuen Art von Konzentrationslager m Dachau gewirkt hatte. Zurzeit hatte Reingold eine sogar noch wichtigere Aufgabe, eine, die ihm eines berauschenden Sonntagnachmittags in den Bergen im Adlerhorst übertragen worden war. Die Erinnerung an diesen sonnendurchfluteten Augenblick begleitete ihn an diesem trüben Wintertag in New Jersey. Wahrend der Schaffner fortfuhr, die Reisenden zum Einsteigen aufzufordern, suchte Reingold gemächlich die menschenleere Herrentoilette auf. Auf seinem Weg quer über den Bahnsteig hatten sich ihm drei ähnlich gekleidete Gefährten angeschlossen, die sich jetzt, als er den Koffer auf dem Waschtisch absetzte, um ihn scharten Wahrend einer der drei an der Tür Schmiere stand, entriegelte Reingold mit dem Daumen die Schnappschlösser. Erfolglos durchwühlte er Kleidungsstucke und Bucher, schließlich nahm er eine Rinderpeitsche zur Hand und betrachtete sie voller Geringschätzung. »Eigenartig«, sagte er, als er die Peitsche m den Koffer zurückwarf »Welche Begeisterung die Amerikaner doch für primitive Waffen aufbringen Leider ist das Kastchen, das Wir suchen, nicht hier Jones muss es am Körper tragen « »Herr Hauptsturmbannführer«, rief der Mann an der Tür bestürzt, ein SS-Meuchler mit Namen Jaeckel »Der Zug
fährt ab.« Seine Hand war bereits unter seiner Jacke, seine Fingerspitzen ertasteten den Griff seiner 9-Millimeter Lu ger Halbautomatik, die dort in einem Schulterhalfter steckte. »Gestern Abend haben wir noch gezögert, als wir Gelegenheit hatten, ihn umzubringen, aber jetzt könnten wir ihn erledigen.« »Das Offensichtliche festzustellen zeugt von Unüberlegtheit«, erwiderte Reingold, während er ein Unterhemd achtlos in den Papierkorb warf. »Wir brauchen eine bessere Idee. Und zwar sofort.« Die beiden anderen Männer - Mühlbach und Liebel - waren ein wenig jünger als der Meuchler, und beide verstummten ob dieser Rüge kläglich. »Kommen Sie, kommen Sie«, höhnte Reingold. »Uns bleiben nur wenige Sekunden, dann hat der Zug den Bahnhof verlassen und Jones ist außer Reichweite, wenigstens für eine Weile. Fällt Ihnen wirklich nichts ein?« Eine plötzliche Eingebung ließ Mühlbachs Gesicht erstrahlen. Er war der Jüngste der Gruppe und erinnerte, als er seine Brille auf den Nasenrücken schob, an einen Schuljungen, der bestrebt ist, seinen Lehrer zu beeindrucken. »Er wird seinen Koffer doch bestimmt vermissen, nicht?«, sagte Mühlbach auf Deutsch. »Wenn es so weit ist, geben Sie ihn zurück. Erklären Sie ihm, Sie hätten ihn aus Versehen an sich genommen. Entschuldigen Sie sich und bieten Sie an, ihn zum Essen einzuladen. Auf diese Weise kommen Sie ganz nah an ihn « »Ja, ja!«, erwiderte Reingold, während er hastig die Kleidungsstücke in den Koffer zurückstopfte und diesen verschloss. »Aber das ist eine Aufgabe für einen Einzelnen. Mehr würden nur Verdacht erregen.« »Sollen wir Ihnen folgen?«, wollte Jaeckel wissen. »Nicht unmittelbar«, antwortete Reingold, bereits auf dem Weg zur Tür. »Aber sollten Sie bis heute Abend nichts von mir hören, treffen wir uns in Kansas.« »Jawohl.«
Der Meuchler setzte zum Nazigruß an. »Nicht hier, Sie Idiot«, zischte Reingold. Den Koffer in der rechten Hand und mit der Linken den Hut auf seinem Kopf festhaltend, begann Reingold, dem nächsten Personenwagen hinterherzulaufen. Als er sich den Gleisen näherte, stieß er mit Marcus Brody zusammen, der, gemächlich rückwärts gehend, dem vom Bahnsteig abfahrenden Zug nachschaute. Brody landete auf dem Hinterteil. »Ich muss doch sehr bitten«, war die heftigste Entgegnung, zu der er sich aufraffen konnte. »Tut mir Leid, alter Knabe«, rief Reingold in nahezu akzentfreiem Englisch, aber ohne stehen zu bleiben. »Ich habe mich zu lange auf der Toilette aufgehalten und hätte um ein Haar meinen Zug verpasst.« Er packte die Haltestange mit seiner linken Hand und schwang sich geschmeidig auf die Stufen des Verbindungsstücks zwischen den Waggons. Anschließend wandte er sich zu Brody herum und bedachte ihn mit einem lässigen militärischen Gruß, indem er mit dem Zeigefinger gegen die Krempe seines Hutes tippte. »Ich bitte um Verzeihung«, erkundigte sich die angenehm klingende Stimme mit dem britischen Akzent, »ist dieser Platz besetzt?« Indy regte sich unter seinem Filzhut. Gleich nach Verlassen das Bahnhofs war er gegen das Fenster gesunken und hatte, froh darüber, dass auf dem Nachbarplatz niemand saß, der seinen Schlummer stören könnte, den Hut über die Augen gezogen. Die Frage war jedoch so höflich gestellt worden, dass er sich genötigt sah, sich aufzurichten und im gleichen Ton zu antworten. »Entschuldigung«, sagte Indy und räumte seinen Ledermantel und die Büchermappe von dem freien Sitzplatz. "Bitte, setzen Sie sich.« »Danke«, sagte Reingold und ließ sich auf den Platz gleiten. Er hatte einen schwarzen Wettermantel über einen
Koffer drapiert, den Indy sich gerne etwas näher angesehen hätte. »Ich bin heute geradezu vom Pech verfolgt.« »Tatsächlich?«, fragte Indy. »Aber ja«, meinte der groß gewachsene blonde Mann. »Offenbar habe ich heute Morgen auf dem Bahnsteig den Koffer eines anderen an mich genommen. Ich hatte meine Tasche kurz abgesetzt, um meine Zeitschrift umzublättern, und muss dann aus Versehen diesen hier mitgenommen haben.« »Dürfte ich einen Blick darauf werfen?«, fragte Indy. »Verzeihung?« »Auf den Koffer. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ihn mir ansehe?« »Aber bitte«, erwiderte Reingold und nahm den Wettermantel fort. Indy hob den Koffer an, drehte ihn auf seinem Schoß herum und lächelte. »Mein Glück scheint sich zum Besseren zu wenden«, meinte er. »Der Koffer gehört mir. Er ist mir heute Morgen auf dem Bahnsteig abhanden gekommen.« »Was Sie nicht sagen! Großartig!« »Welch ein Zufall«, meinte Indy verständnisvoll. »Sie haben nicht zufällig meine Tasche mitgenommen, oder?« »Tut mir Leid, nein«, antwortete Indy. »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe gar keine andere Tasche gesehen.« »Ähem«, erwiderte Reingold nervös, »ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich es erwähne, alter Junge, aber vielleicht ist das ein wenig zu viel des Zufalls. Außen auf dem Koffer steht kein Name. Das weiß ich, weil ich verzweifelt danach gesucht habe. Verraten Sie mir, woher ich wissen soll, dass er tatsächlich Ihnen gehört?« »Ich kann Ihnen den Inhalt beschreiben«, antwortete er. »Haben Sie ihn geöffnet?« »Nein.« »Also, oben auf meinen sauberen Hemden liegt eine sorgfältig zusammengerollte Rinderpeitsche, was Sie, könnte
ich mir vorstellen, vielleicht ein wenig seltsam finden werden«, erklärte Indy. »Außerdem befinden sich ein halbes Dutzend Bücher über die Geologie und Archäologie New Mexicos darin. Machen Sie ihn auf und überzeugen Sie sich selbst.« Der Mann war unschlüssig. »Tut mir Leid«, sagte er und wandte den Blick ab. »Ich möchte mich nicht an einer albernen Scharade beteiligen. Ich habe ihn doch geöffnet, allerdings nur, weil ich nach einem Hinweis auf den Eigentümer gesucht habe. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.« »Das ist verständlich«, erwiderte Indy, obwohl sein Tonfall etwas ganz anderes übermittelte. »Ich gebe zu, wir haben einen schlechten Start erwischt.« Der Mann nahm beim Sprechen seinen Mantel auf. »Vermutlich ist es das Beste, wenn ich mir einen anderen Platz suche.« Indy zögerte. »Warten Sie«, sagte er. »Es ist ja kein Schaden entstanden. Wenn Sie sagen, Sie hätten lediglich nach einem Hinweis gesucht, um den Koffer zurückzugeben, so will ich Ihnen das gerne glauben. Bitte, setzen Sie sich doch wieder hin.« »Sind Sie sicher?«, fragte der Mann. »Selbstverständlich«, erwiderte Indy. »Rudolph Hyde-Smith, ursprünglich aus London, derzeit in Boston ansässig«, sagte Reingold und reichte ihm die Hand. »Sie können mich Rudy nennen. Alle meine Freunde tun das. Vielleicht kann ich Sie zum Mittagessen einladen, um Sie für die entsetzlichen Unannehmlichkeiten zu entschädigen, die meine Unachtsamkeit Ihnen bereitet hat.« »Nicht nötig«, antwortete Indy, während sie sich die Hand schüttelten. »Mein Name ist Indiana Jones.« »Also, das ist ein Name!«, rief Reingold aus. »Ihr Amerikaner seid interessant. Ist Indiana Ihr Taufname oder nur ein Spitzname?« »Er ist einfach irgendwie an mir hängen geblieben«, erwi-
derte Indy zerstreut. »Das ist lange her. Ich habe den Namen von jemandem angenommen, der - nun, dem ich als Kind sehr nahe stand.« Reingold lächelte. Er zog ein glänzendes metallenes Zigarettenetui aus seiner Tasche, klappte es auf und hielt es Indy hin. »Ich rauche nicht«, sagte Indy. »Ganz wie Sie wollen.« Reingold nickte, nahm eine Zigarette aus dem Etui und klappte es wieder zu. Der Deckel war mit einer Inschrift versehen, er hatte das Etui jedoch zu schnell wieder eingesteckt, als dass Indy sie hätte entziffern können. Reingold klopfte mit dem Zigarettenende auf das Kristallglas seiner Armbanduhr und holte dann mit übertriebener Geste ein Sturmfeuerzeug hervor. Mit dem Daumen schnippte er eine Flamme an. Seine Wangen wurden hohl, als er die Flamme in die Zigarette sog. Er schloss das Feuerzeug, indem er es gegen seinen Schenkel schlug, lehnte sich in seinen Sitz zurück und schob es mit einer Miene der Zufriedenheit wieder in die Hosentasche. »Ausländisch?«, erkundigte sich Indy, dessen Nasenflügel in Erwartung des starken, muffigen Geruchs des Tabaks zu beben begannen. »Nicht für mich«, sagte Reingold. »Es stammt aus England.« »Natürlich«, erwiderte Indy. »Stört Sie der Rauch?«, erkundigte sich Reingold auf einmal besorgt. »Ich werde sie ausdrücken.« »Danke«, sagte Indy. Reingold drückte die Zigarette auf dem Absatz seines gut polierten Schuhs aus und warf den Stummel anschließend in den nächsten Aschenbecher. Indy wandte sein Gesicht der verschneiten Landschaft New Jerseys zu, die in gleichförmigem Tempo vorüberrollte. Er bedauerte seine Entscheidung, freundlich zu sein, bereits.
»Wundervoll, nicht wahr?«, bemerkte Reingold und deutete aus dem Fenster. »Hm«, brummte Indy. »Die Weite dieses Landes fasziniert mich stets aufs Neue«, fuhr Reingold fort. »Alles wirkt so frisch, so unverbraucht. Ein unberührtes Paradies. Kein Wunder, dass ihr Amerikaner einen solchen Sinn für Freiheit und Individualität besitzt.« »Ich bin nicht ganz sicher, ob das zurzeit unserer Gefühlslage entspricht«, widersprach Indy. »Die Schlangen der Menschen, die um Essen anstehen, lassen uns nicht so schnell vergessen, dass wir mit dem Rest der Menschheit im selben Boot sitzen.« »Da mögen Sie Recht haben«, erwiderte Reingold. »Es ist wirklich nicht einfach, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht wahr? Ich bin im Verkauf. Hister Industries. Wir stellen Küchengeräte her. Herde, größtenteils. Gas, nicht Holz. Wenn Sie meine Frage nicht stört, was genau tun Sie?« »Ich bin Professor an einer Universität«, erwiderte Indy. »Hervorragend«, befand Reingold. »Welches Fachgebiet?« »Ich gehöre der Abteilung Kunst und Archäologie in Princeton an.« »Das erklärt diese seriös aussehenden Bücher in Ihrem Koffer. Ihre Arbeit klingt faszinierend. Versunkene Schätze, untergegangene Städte und das alles. Ich nehme an, Sie haben schon jede Menge Abenteuer erlebt, was?« »Um die Wahrheit zu sagen, es kann ganz schön öde sein.« Indy lehnte sich zurück und verschränkte die Hände über dem Bauch. »Aber ab und zu erlaubt man mir, das Klassenzimmer zu verlassen.« Indy war froh über das Schweigen, das daraufhin entstand. Er schloss die Augen und ließ sich vom sanften Schaukeln des Wagens allmählich in den Schlaf wiegen. Er begann, sich trotz der durch das Fenster hereindringenden
Kälte am ganzen Körper wohlig warm zu fühlen, und die Anspannung des vergangenen Abends begann allmählich von ihm abzufallen. Schließlich fragte Reingold: »Aber was ist mit der Peitsche?« Indy richtete sich auf. »Was soll damit sein?«, fragte er verdrießlich. »Es erscheint mir eigenartig«, erwiderte Reingold, auf der Hut. Er wusste, er lief Gefahr, dass sich sein Opfer vorzeitig von ihm abwandte, konnte sich aber den Spaß nicht verkneifen, die Geduld dieses übertrieben entgegenkommenden Amerikaners auf die Probe zu stellen. »Ich versuche mir schon eine ganze Weile vorzustellen, welche Verwendung ein Archäologieprofessor für eine Rinderpeitsche haben könnte, komme aber mit meinen Überlegungen einfach auf keinen grünen Zweig. Zweifellos benutzen Sie sie nicht bei Ihren Studenten. Als ich ein junger Bursche war, machte der Direktor meines Internats des Öfteren von einer Reitpeitsche Gebrauch, was schmerzhafte Folgen hatte. Aber eine Peitsche von dieser Größe steht völlig außer Frage. Damit könnten Sie glatt jemanden umbringen.« Indy stöhnte. »Sie besitzen eine lebhafte Fantasie«, erwiderte er. »Die Peitsche gehört einfach zu meinen Werkzeugen, so wie Picke oder Schaufel. Ich finde sie praktischer als eine einfache Seilrolle, weil sie jederzeit zur - na ja - zu jeder nur denkbaren Gelegenheit einsatzbereit ist.« »Und doch stellt diese Peitsche eine fürchterliche Waffe dar, Dr. Jones«, hakte Reingold nach. »Kommen Sie, Sie haben es mit einem Freund zu tun. Wollen Sie mir etwa weismachen, sie hätte noch nie Menschenfleisch zu schmecken bekommen?« »Ausschließlich zur Selbstverteidigung.« »Ah, wusste ich es doch.« »Hören Sie«, sagte Indy, schob sich den Hut mit einer Hand aus dem Gesicht und drohte Reingold mit dem erho-
benem Zeigefinger seiner anderen. »Für einen einfachen Verkäufer von Küchengeräten sind Sie verdammt neugierig. Wenn Sie unbedingt glauben wollen, ich sei ein gottverdammtes peitscheschwingendes Ungeheuer, bitte. Aber lassen Sie mich in Ruhe. Ich will nichts weiter, als ein wenig die Augen zumachen.« »Ich wollte damit keinen Augenblick andeuten«, erwiderte Reingold reumütig, »dass Sie ein Ungeheuer sind, Dr. Jones. Aber ein ganz normaler Universitätsprofessor sind Sie doch wohl auch nicht, oder?« Indy versuchte, ihn zu ignorieren. »Wie ich mich nach Aufregung geradezu sehne«, fuhr Reingold unbeirrt fort. »Mein Leben ist so ... gewöhnlich. Es gibt so wenig Leidenschaft. Und im Vergleich dazu Sie, der draufgängerische Amerikaner mit dem interessanten Namen und einer Rinderpeitsche im Gepäck. Und was Sie in Ihrer Mappe bei sich tragen, die unter ihrem Mantel hängt, kann ich bestenfalls erraten. Können Sie meine Neugier verstehen? Können Sie einem ziemlich neidischen Mann ein paar Momente stellvertretenden Vergnügens verzeihen?« Indy wurde milder gestimmt. »Bitte, Mr. Smith -« »Hyde-Smith«, korrigierte Reingold. »Aber nennen Sie mich Rudy. Alle meine Freunde tun das.« Bevor Indy weitersprechen konnte, erschien der Schaffner in der Tür mit einem Locher in der Hand. Er verlangte ihre Fahrkarten. Reingold reichte ihm das Billett, das er geschickt aus der Westentasche eines Geschäftsmannes entwendet hatte, dem er gleich nach dem Einsteigen im Gang begegnet war. Der Schaffner warf einen Blick darauf, dann stanzte er ein rautenförmiges Loch hinein und gab es ihm zurück. Indy reichte dem Schaffner seine Fahrkarte. Nachdem er sie gelocht hatte, erklärte ihm der Schaffner, er müsse beim nächsten Halt, den sie in etwa einer Stunde erreichen wür-
den ; umsteigen. Indy sah auf seine Uhr. Er konnte kaum glauben, dass er sich mit diesem Mann, den er unter dem Namen HydeSmith kannte, so lange unterhalten hatte. »Rudy«, sagte Indy, nachdem der Schaffner gegangen war. »Ich bin schrecklich müde und werde jetzt ein Nickerchen machen, bis es für mich Zeit ist umzusteigen.« »Natürlich«, gab Rudy sich verständnisvoll. »Danke«, sagte Indy. »Schlafen Sie nur. Ich werde Sie wecken, kurz bevor Sie umsteigen müssen.« Indy musterte ihn argwöhnisch. »Macht Ihnen das wirklich nichts aus?« »Aber nein«, gab Reingold zurück. Er grub die zerlesene Ausgabe eines Freizeitmagazins aus, das ein früherer Fahrgast zwischen die Sitze geklemmt hatte. »Ich werde einfach hier sitzen und still lesen. Sie werden meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerken.« Der Zug kam unter dem Kreischen von Bremsen, dem Zischen von Dampf und nach einer Folge unvermittelter Stöße, die Indy wachrüttelten, zum Stehen. Er sah gähnend auf seine Uhr, dann wandte er sich herum, um den Mann, den er unter dem Namen Hyde-Smith kannte, zu fragen, wieso dieser ihn nicht vor Erreichen des Bahnhofes kurz angestoßen und geweckt hatte. Der Platz war, bis auf das Exemplar von Sports Afield, leer. Die Zeitschrift war bei einem Artikel über das Fangen des Silberfuchses mit der Schlinge aufgeschlagen. Indy erhob sich. Ungläubig musste er mit ansehen, wie der Lederriemen, mit dem seine Büchermappe sicher an seinem Körper gehalten wurde, schlängelnd zu Boden glitt. Die Riemenenden waren mit nahezu chirurgischer Präzision durchtrennt worden, und die Mappe war natürlich verschwunden. Indy presste das Gesicht ans Fenster. Draußen konnte er Reingold, die Mappe unter den Arm geklemmt, über den
Bahnsteig schlendern sehen. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette. Über seine Lippen spielte der Anflug eines Lächelns, das bis in die Winkel seiner blitzenden blauen Augen reichte. Indy wühlte die Peitsche aus seinem Koffer hervor, stürzte aus dem Abteil und durch den Gang bis zum Ende des Waggons. Er sprang die Stufen zum Bahnsteig hinunter, schlitterte wie ein betrunkener Eislauf er über eine zugefrorene Pfütze, fand sein Gleichgewicht wieder und rannte hinter Reingold her. »Nicht so hastig!«, rief der Schaffner vom anderen Ende des Waggons. Der Ruf alarmierte Reingold, der sich daraufhin umdrehte und sah, wie Indy durch die Menschenmenge auf ihn zugestürzt kam. Er gab vor, zum Ausgang zu wollen, rannte dann aber wieder Richtung Zug und tauchte unter dem Passagierwaggon hindurch. Während Indy ihm folgte, hörte er, wie der Schaffner ihnen hinterherrief, sie sollten stehen bleiben, und ihnen prophezeite, sie könnten leicht zu Schaden kommen - auf dem Rangiergelände herrsche reger Betrieb. Indy lag auf Händen und Knien unter dem verwirrenden Räderwerk an der Unterseite des Waggons und spürte, wie ihm der Schotter unter den Schienen in die Hände schnitt und sich in seine Knie bohrte. Unwillkürlich zuckte er zusammen, als der Zug beim Anhängen einer Kette zusätzlicher Waggons ruckte. Er stieß sich den Kopf an einem Kupplungsteil, das er, von seiner Position auf einer Härteskala abgesehen, nicht näher zuordnen konnte. Der Stoß erzeugte auf einer Seite seines Filzhuts eine ziemlich unelegante Delle, die, so hoffte er, sich nicht bis in den darunter liegenden Schädel fortsetzte. Als er auf der anderen Seite des Zuges wieder zum Vorschein kam, wäre er um ein Haar vor eine Rangierlok gelaufen, die emsig auf dem nächstgelegenen Gleis einherpaffte. Als die Lokomotive vorbei war, erspähte Indy Reingold, der
durch den Schnee stapfend auf einen hohen Maschendrahtzaun am anderen Ende des Rangierbahnhofes zuhielt. Je näher er dem Zaun kam, desto tiefer wurde die Schneeverwehung, und desto langsamer und staksender wurde zwangsläufig das schwerfällige Auf und Ab seiner Beine. Schließlich hakte Reingold seine Finger in den Zaun und zog sich hoch, aus dem Schnee heraus. Er begann, rasch hinaufzuklettern und hielt, als er rittlings auf dem Zaun balancierend die Mappe in seine rechte Hand hinüberwechselte, kurz inne. Mit seiner Linken, seiner Waffenhand, zog er eine 7.65 mm Walther, eine kleine, aber tödliche Waffe, die in seiner Jackentasche verborgen gewesen war. Indy war noch immer gut fünf Meter entfernt, hatte aber mittlerweile seine Peitsche ausgerollt. Als Reingold die Walther auf seine Brust richtete, schlug Indy mit der Peitsche zu. Deren Ende schnitt in Reingolds Handgelenk und wickelte sich wie ein lebendiges Wesen um seinen Arm. Er schrie auf und ließ die Walther fallen, die in einer Schneewehe versank. Dann zog Indy ruckartig an der Peitsche und holte Reingold von seinem Hochsitz herunter. »Wie gesagt, manchmal ist sie recht praktisch«, bemerkte Indy. Der blonde Huhne versank in der Schneewehe, bekam wieder Boden unter die Füße und schüttelte die Peitsche von seinem blutigen Unterarm ab. Während er wie von Sinnen den hüfthohen Schnee nach seiner Pistole durchwühlte, machte Indy einen Satz nach vorn und schnappte sich die Mappe, die Reingold bei seinem Sturz vom Zaun hatte fallen lassen. Dann bekam Reingold den Griff der Waffe mit seinen halb erfrorenen Fingern zu fassen, zog sie beidhändig aus dem Schnee und richtete sie auf Indy. Indy erstarrte. »An Ihrer Stelle würde ich nicht abdrücken«, meinte er. »Mund halten«, erwiderte Reingold. »Geben Sie mir die Mappe.« »Der Lauf ist voller Schnee«, gab Indy zu bedenken.
Reingold zögerte. »Wenn Sie schießen«, sagte Indy, »wird Ihnen Ihre hässliche kleine Pistole genau vor der Nase explodieren. Möglicherweise bohrt sich der Schlagbolzen genau zwischen Ihre blauen Augen.« »Vielleicht lügen Sie.« »Vielleicht«, sagte Indy, während er die Rinderpeitsche aufrollte. »Aber es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Schießen Sie auf mich.« Reingold war sehr bemüht, selbstsicher zu wirken, trotzdem fingen seine Hände fast unmerklich an zu zittern. Er umfasste den Griff der Walther fester. »Wer sind Sie?«, fragte Indy und hängte sich die Peitsche über seine Schulter. »Namen tun nichts zur Sache. Was zählt, ist, dass Sie mir das Kästchen geben, sonst töte ich Sie und nehme es mir selbst.« »Sie müssen zu dieser Bande gehören, die Baldwin zur Strecke gebracht hat«, sagte Indy. »Der arme Kerl war einundsiebzig Jahre alt. Warum tötet man einen alten Mann? Was kann dieses Kästchen nur so Wichtiges enthalten?« Indy öffnete die Mappe und langte hinein. Reingold erwartete, dass seine Hand mit dem Kästchen darin wieder zum Vorschein kommen würde, doch stattdessen hielt er den Webley in der Hand. »Zu dumm, dass Sie keine Gelegenheit hatten, einen Blick hineinzuwerfen«, meinte Indy. Reingold fluchte - auf Deutsch. »Sie da! Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Eine Dreiergruppe stämmiger Streckenarbeiter, angeführt von einem Detective mit einer Axt in der Hand, war zwischen zwei der Passagierwaggons hindurchgeklettert und hielt auf sie zu. Reingold zögerte. »Die Schießeisen runter«, rief der Detective der Bahnpolizei. Er drohte ihnen mit dem Axtgriff. »Der Schaffner meinte, es gäbe Ärger auf dem Rangiergelände. Wie ich sehe, hat er sich nicht geirrt.« »Zurück«, rief Reingold. »Oder ich bringe euch ebenfalls um.« Der Detective lachte.
»Wollen Sie mir etwa Angst einjagen?«, fragte er, noch immer näher kommend, den Axtgriff schlagbereit in der Hand. »Sie können vielleicht einen von uns töten, aber alle erwischen Sie niemals.« »Ach, nein?«, erwiderte Reingold. »Mein Magazin ist voll. Ich könnte euch alle im Handumdrehen töten und hätte noch immer genug Munition zum Scheibenschießen.« Die anderen Männer blieben stehen. Sie hatten das mittlere Gleis noch nicht ganz erreicht. »Was ist los mit euch?«, fragte der Detective. »Wollt ihr euch von so einem Würstchen mit einem Schießeisen in der Hand einschüchtern lassen?« »Mac«, meinte der Vormann der Streckenarbeiter, »du weißt, dass ich vor niemandem Angst habe. Aber eine Kugel, das ist etwas anderes. Ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich mich diesen Typen als Zielscheibe zur Verfügung stelle.« Am fernen Ende des Rangierbahnhofs setzte sich stampfend ein Güterzug in Bewegung und hielt mit ein paar kurzen Pfiffen und unter dem Geläute der Messingglocke auf der Lokomotive auf sie zu. Indy und Reingold zielten noch immer mit ihren Waffen aufeinander. »Also schön«, seufzte Reingold, »sieht ganz so aus, als hätten wir hier ein mexikanisches Unentschieden. Immer unter der Voraussetzung natürlich, dass das Ende meines Pistolenlaufs nicht mit Schnee verstopft ist. Das war nicht dumm geschauspielert, Dr. Jones. Meinen Glückwunsch.« »Aus Ihrem Mund«, gab Indy zurück, »ist das ein wahrlich großes Lob.« »Am besten hören Sie beide auf mit dem Geschwätz und
nehmen die Waffen runter«, sagte der Detective, »denn Sie werden jetzt beide ins Gefängnis wandern. Ich lasse nicht zu, dass irgendwelche Leute auf meinem Rangierbahnhof herumlaufen und versuchen, sich gegenseitig abzuknallen.« Der Güterzug hatte mittlerweile Fahrt aufgenommen. Als er näher kam, gingen die Streckenarbeiter aus dem Weg. Reingold rannte auf den fahrenden Zug zu. »Halt!«, rief Indy und richtete den Webley auf die fliehende Gestalt. Er spannte die Waffe und nahm einen Punkt auf Reingolds Rücken ins Visier, brachte es aber nicht fertig abzudrücken. Reingold packte die Sprosse einer Leiter an der Ecke eines Güterwaggons und zog sich hoch. Seine Stiefelspitzen hoben vom Gleiskörper ab und scharrten an der hölzernen Seiten wand des Güterwagens. Dann fand er einen Halt, lehnte sich von der Leiter fort und richtete einen knappen militärischen Gruß in Indys Richtung. Indy ließ den Revolver sinken. »Auf Wiedersehen, Dr. Jones!«, brüllte Reingold. »Ich wusste, dass Sie mir nicht in den Rücken schießen würden, jedenfalls nicht, wenn die Beute nicht mehr in Gefahr ist. Das, mein Freund, ist der Unterschied zwischen -« Der Rest seiner Worte ging im schrillen Pfeifen des Zugsignals unter. Zwei Tage und, wie es schien, ein Jahrhundert später, stieg Indy aus einem anderen Zug - an den eine Reihe von Passagierwaggons aus Missouri, Kansas und Texas angekoppelt waren - und betrat den Bahnhof von Oswego in Südkansas. Außer dem Zugpersonal befand sich nur eine einzige Person auf dem Bahnsteig: eine gut gekleidete junge Frau, deren Gesicht fast vollständig hinter einer Pelzmütze, einem Schal und einer qualmenden Zigarette in einem grotesk langen Zigarettenhalter verborgen war. Indy trat auf sie zu und stellte seinen Koffer ab. »Wenigstens liegt kein Schnee«, sagte er.
»Wie bitte?«, murmelte die Frau. »Es liegt kein Schnee auf der Erde. Drüben im Osten liegt alles unter einer dichten Decke von diesem Zeug verborgen. Allerdings sieht der Himmel nach Regen aus ... Verzeihen Sie, aber ich nehme an, Sie sind Zoe Baldwin?« Er bot ihr seine Hand. »Mein Name ist Indiana Jones.« »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen nicht die Hand gebe«, antwortete sie. »Schon möglich, dass kein Schnee liegt, aber mir kommt es trotzdem elendig kalt vor, und ich würde es vorziehen, meine Handschuhe nicht auszuziehen. Du liebe Güte. Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?« »Sie meinen das hier?«, fragte Indy und rieb sich den violetten Bluterguss an der rechten Seite seines Kinns, wo der Detective, ein Linkshänder, ihn niedergeschlagen hatte, nachdem Reingold entkommen war. »Einem Detective der Bahnpolizei hat die Art, wie ich auf seinem Bahngelände meine Geschäfte abgewickelt habe, nicht gefallen.« »Oje«, meinte sie. »Tut mir Leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennen lernen müssen«, sagte Indy. »Muss es nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »So nah haben wir uns nicht gestanden. Ich finde es traurig, dass er nicht mehr da ist, aber ich habe meinen Onkel seit Jahren weder gesehen noch von ihm gehört. Er hat nie geheiratet, wissen Sie. Übrigens, wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu ihm?« »Von kurzer Dauer«, sagte Indy. »Von sehr kurzer Dauer.« »Hmm.« Zoe wechselte den Zigarettenhalter hinüber in den anderen Mundwinkel. »Ich nehme an, Sie sind mit der Arbeit Ihres Onkels nicht vertraut?« »Eigentlich nicht«, sagte sie. »Als ich auf der High School war, habe ich versucht, eines seiner Bücher zu lesen - Unter dem Stern des Nordens oder so ähnlich -, aber es hat mich zu Tode gelangweilt.«
»Tatsächlich?« Indy war überrascht. »Ich fand es eher faszinierend.« »Das ist alles lange her«, meinte Zoe, »und nichts davon ist jetzt noch von Bedeutung, hab ich Recht? Sagen Sie, ich möchte nicht voreilig erscheinen, aber mein Onkel hat wohl nichts hinterlassen, was einem Testament gleichkommt, oder?« »Ein Vermächtnis möglicherweise«, antwortete Indy. »Was bedeutet das?« »Könnten wir das vielleicht woanders besprechen?«, schlug Indy vor. »Hier draußen auf dem Bahnsteig ist es ein ganzes Stück kälter, als ich dachte.« Aus dem verspiegelten Glasfenster des Cafe Burgess - im Erdgeschoss des gleichnamigen Hotels gelegen - beobachtete Indy, wie ein eiskalter Regen über der Ortsmitte von Oswego niederging. Er genoss das Gefühl, in dem warmen, dunstigen Cafe zu sitzen, während das Wetter draußen sich von seiner schlimmsten Seite zeigte. Zoe Baldwin hatte ihre Pelzmütze, ihren Schal und ihre Handschuhe ausgezogen und diese Gegenstände sorgfältig auf ihren Mantel auf dem Stuhl neben sich gelegt. Ihr Auto, ein zehn Jahre alter, offener Zweisitzer, stand geparkt am Bordstein. Ihr dunkles Haar war auf eine Weise kurz geschnitten, die in den wilden Zwanzigern zu einiger Beliebtheit gelangt war. Sie war alles andere als unattraktiv, entschied Indy, allerdings machte sie einen verwöhnten Eindruck, und ihre Frisur wirkte bei einer Frau von Mitte zwanzig etwas veraltet. Sie sah aus wie ein Backfisch auf dem Weg zu einer Party, die längst vorüber war. Die Kellnerin brachte zwei dampfende Becher Kaffee, und nachdem Indy ein, zwei Schlucke von seinem getrunken hatte, fragte er: »Was tun Sie eigentlich?« Die Frage schien Zoe zu überraschen. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich schätze, Sie sind keine Hausfrau«, sagte Indy. »Nein, Dr. Jones, eine Hausfrau bin ich nicht.« Sie lächelte geziert. »Und ich arbeite auch nicht, jedenfalls nicht im üblichen Sinn des Wortes. Die meisten Menschen in dieser Stadt würden Ihnen auf Ihre Frage vermutlich erklären, dass ich von dem Rest des Geldes meiner Familie lebe und dies nicht mehr lange reichen wird. Ist Ihre Frage damit beantwortet?« »Ich hatte nicht die Absicht -« Sie hob abwehrend ihre Hand. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich langweile mich einfach, und das schon seit Jahren. Das ist nicht Ihre Schuld.« »Vielleicht sollten Sie sich ein Hobby zulegen?« »Ich habe Hobbys«, sagte sie. »Leider sind die meisten von ihnen verheiratet.« Indy hätte um ein Haar seinen Kaffee verschüttet. »Sie sagten, Sie hätten Ihren Onkel kaum gekannt ...«, setzte er an. »Nein. Er war bereits in der ganzen Welt unterwegs, als ich geboren wurde«, erzählte sie. »Sicher, ab und zu ließ er sich zu Hause blicken, aber er blieb nie lange. Dann wurden seine Besuche immer seltener, und schließlich kam er überhaupt nicht mehr zurück.« »Dann hat er in letzter Zeit also mit Ihnen über nichts gesprochen?« »Wie ich schon sagte, ich habe seit Jahren nichts von ihm gehört.« »Aber Sie sind seine nächste noch lebende Verwandte?« »Das ist richtig, was immer es mir nützen mag«, erwiderte sie. »Dann haben Sie also Ihren Onkel nie von seinen Erlebnissen in der Arktis oder von etwas mit dem Namen Vril oder sonst etwas, das Ihnen außergewöhnlich erschien, sprechen hören?« »Ich habe ihn überhaupt nie über seine Forschungen sprechen hören, außer, wenn er Vorlesungen darüber hielt«, sagte Zoe. »Sagen Sie, eben haben Sie mir doch erzählt, Sie hätten ihn nicht sehr gut gekannt. Wieso stellen Sie dann so viele Fragen?«
»Weil ich ein Rätsel zu lösen versuche, das Ihr Onkel mir hinterlassen hat«, antwortete Indy. Nach einer kurzen Schilderung der letzten Stunde in Baldwins Leben und dem Versprechen, das er Indy abgenommen hatte, das Geheimnis des Kästchens zu hüten, nahm er das Kästchen aus seiner Mappe und stellte es auf den Tisch. »Sie glauben also, das könnte der Grund dafür sein, dass man ihn ermordet hat?« »Das wäre durchaus möglich«, erwiderte Indy. Zoe nahm das dunkle Kästchen in die Hand. »Was befindet sich Ihrer Meinung nach darin?«, fragte sie. »Ich habe keine Ahnung. Aber was immer es ist, es hat ihm sehr viel bedeutet.« »Es ist hübsch«, meinte sie. »Sieht aus wie eine kleine Schatztruhe. Wie groß sind Ihrer Ansicht nach die Chancen, dass es Geld enthält?« »Gering«, antwortete Indy. »Mist.« Zoe stellte das Kästchen wieder auf den Tisch. »Tatsächlich handelt es sich um eine Arzneikiste«, klärte Indy sie auf. »Vermutlich hatte Baldwin sie auf seinen Forschungsreisen dabei.« »Warum haben Sie sie noch nicht geöffnet?« »Weil er mir diesbezüglich keine eindeutigen Anweisungen gegeben hat«, sagte Indy. »Er sagte nur, ich solle auf sie aufpassen. Außerdem wollte ich Ihren Rat einholen ... als seiner nächsten Anverwandten.« »Machen wir es auf«, schlug sie vor. »Was immer sich darin befindet, können Sie behalten, es sei denn, es handelt sich um etwas Wertvolles.« »Definieren Sie wertvoll.« »Etwas, das man schnell zu Geld machen kann«, lautete ihre prompte Antwort.
»Und das keinen historischen oder wissenschaftlichen Wert besitzt«, ergänzte Indy. »Abgemacht«, sagte sie. Indy öffnete den Knoten und entwirrte die um das Kästchen gewickelte Kordel. Dann stellte er das Kästchen genau vor sich auf den Tisch, öffnete die Schnappriegel mit den Daumen und hob den Deckel an. Es enthielt keine Arzneien, keine Bandagen. Stattdessen lag dort ein dickes Hauptbuch, dessen Pappeinband von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Neben dem Buch glitzerte ein Klumpen eines rauchig trüben Kristalls. An einem Ende war ein Lederriemen befestigt. »Ein Diamant!«, entfuhr es Zoe. Aller Augen im Cafe wandten sich um und sahen herüber. »Tut mir Leid«, meinte Indy mit verlegenen Grinsen. Dann sagte er an Zoe gewandt: »Das ist kein Edelstein, wenigstens kein wertvoller.« Er nahm den Stein in die Hand und hielt ihn ins Licht. »Islandspat, würde ich sagen, nach der doppelten Brechung zu urteilen. Wunderschön, aber ein bisschen gewöhnlich.« Indy gab ihn ihr. »Oh ...«, Zoe runzelte die Stirn und spähte durch den Kristall. »Warum sollte er so etwas aufheben? Und warum hängt er an einem Band? Was sollen wir damit anfangen?« »Das weiß ich nicht«, sagte Indy. »Vielleicht hing er aus irgendeinem Grund daran und hat ihn um den Hals getragen.« Indy entfernte das Gummiband und schlug das Buch auf. »Es ist Baldwins Tagebuch der Expedition aus dem Jahr 1902, oder zumindest ein Teil davon.« Er begann, die Seiten zu überfliegen. Manche der Einträge waren mit Skizzen versehen: Schlitten, Hunde, das Flaggschiff America. »Seite auf Seite tagtäglicher Logeintragungen. Position, Wetter, Vorräte.« »Wie entsetzlich langweilig«, bemerkte Zoe und warf
den Quarzklumpen in das Kästchen zurück. »Ganz offenkundig war der alte Herr ein wenig vertrottelt. Hier gibt es nichts, das irgendwie von Wert sein könnte, für wen auch immer. Warum, glauben Sie, hat er das all die Jahre mit sich herumgeschleppt?« »Ich bin sicher, er hatte einen Grund.« »Halt«, sagte Zoe. »Blättern Sie zurück. Die eine Zeichnung dort.« »Diese?«, fragte Indy. Es war die Skizze einer schlanken Gesteinssäule, die aus dem Schnee herausragte und mit eigenartigen Markierungen versehen war. Wegen der Größe der Skizze war es für Indy schwer zu erkennen, aber die Markierungen ähnelten nordischen Runen. Die Unterschrift unter der Zeichnung besagte schlicht: Der ThuleStein. »Ja«, meinte Zoe. »Das ist der Stein, den mein Onkel hierher hat schicken lassen, als ich noch ein Baby war.« »Tatsächlich?«, fragte Indy. »Wo befindet er sich jetzt?« »Dort, wo er immer war«, gab Zoe zurück. »Auf dem Friedhof, wo er darauf wartet, dass Onkel unter ihm begraben wird. Sie werden ihn morgen sehen, falls Sie die Absicht haben, bis zur Beerdigung zu bleiben.« »Eigentlich nicht«, meinte Indy ausweichend. »Mein Zug geht ziemlich früh am Morgen. Ich hoffe, Ihr Onkel hätte Verständnis dafür.« »Augenblick mal«, sagte Zoe. »Wieso interessieren Sie sich überhaupt für diesen alten Stein? Ist er etwa wertvoll?« Mit einigen Metern Zeitungspapier und einem Holzkohlestift bewaffnet, den er in einem am unteren Ende der Straße gelegenen Schreibwarengeschäft erstanden hatte, winkte Indy ein Taxi heran und machte sich auf den Weg zum Friedhof am Stadtrand. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hier warten könnten«, erklärte er dem Fahrer. »Es wird nicht allzu lange dauern.«
»Von mir aus«, meinte der Fahrer. »Es ist Ihr Geld.« Das Grab war nicht schwer zu finden: Es war die einzige Grabstätte, die von einer schlanken, dreiseitigen Steinsäule markiert wurde. Unmittelbar neben dem Stein hockte ein ungepflegter Mann in mittleren Jahren mit zerzaustem schwarzen Haar und blutunterlaufenen Augen. Trotz des stets aufs Neue einsetzenden eiskalten Regens war er damit beschäftigt, einen Stoß Feuerholz aufzuschichten, so beiläufig wie man dies bei einem Wohnzimmerkamin tun würde. Ein Kanister mit Benzin stand in Reichweite daneben. »Ich bin der Totengräber«, sagte der Mann. »Und wer sind Sie?« »Indiana Jones. Ich bin Archäologe.« »Ha!«, rief der Mann triumphierend. »Ich buddele sie ein, und Sie graben sie wieder aus.« Der Totengräber zog eine Halbliterflasche Whiskey aus seiner Gesäßtasche, pflückte eine unangezündete Zigarre aus seinem Mund und nahm einen langen Zug. Dann wischte er die Flasche mit einem schmutzigen Ärmel ab und bot Indy einen Schluck an. »Für mich nicht, danke«, erwiderte der. »Ein kluger Mann«, meinte der Totengräber. »Was wollen Sie eigentlich hier?« »Ich möchte einen Abdruck von diesem Stein nehmen, falls es Ihnen nichts ausmacht, noch ein paar Minuten mit dem Feuer zu warten«, erklärte Indy. »Baldwin hat ihn aus der Arktis hierher geschickt, er hat also eine gewisse historische Bedeutung.« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Der Totengräber zuckte die Achseln. »Aber Ihre Kollegen waren schon hier und haben Fotos von dem Ding gemacht.« »Kollegen?« »Ja, so ein paar große, gut aussehende Kerle mit einer von diesen neumodischen deutschen Kameras. Sie war klein, vielleicht so groß wie eine Zigarettenschachtel.«
»Großartig«, meinte Indy, während er das Papier auseinander rollte und sich an die Arbeit machte. Der Stein bestand aus rötlichem, feinkörnigem Granit, hatte an seinem Sockel einen Umfang von ungefähr dreißig Zentimetern und verjüngte sich zur Spitze hin auf etwa die Hälfte dessen. Alle drei Seiten waren geglättet worden, und die Runen waren groß, wenn auch von geübter Hand eingekerbt. Die Ausführung war vertraut, stammte aber aus einer Periode -offenkundig nordisch, vor 900 v. Ch. -, deren Entzifferung Indy Schwierigkeiten bereitete. Der Stein war stark verwittert, und einige der Buchstaben waren an den Kanten verschlissen. »Wissen Sie, früher mussten die Leute warten, bis es taute, wenn sie ihre Toten unter die Erde bringen wollten«, enthüllte der Totengräber, während er das Benzin in ausgiebigen Mengen über das Gewirr aus Ästen verteilte und anschließend auf der gefrorenen Grabstelle zur Betonung noch mit dem Fuß aufstampfte. »Die Toten haben es nicht eilig«, sagte Indy. »Das vielleicht nicht«, sagte der Totengräber. »Aber können Sie sich vorstellen, ein oder zwei Wochen zu warten, während Großvater steif wie ein Brett im Schuppen hinter dem Haus aufgebahrt liegt?« »Das wäre nicht schön.« »Ach, das ist nicht mal das Schlimmste«, fuhr der Totengräber fort, während er seine Taschen nach Streichhölzern durchwühlte. »In diesem Geschäft kriegen Sie alle möglichen grauenhaften Geschichten zu hören. Stellen Sie sich vor, drüben in Cherokee County haben sie die Wand eines Grabes zum Einsturz gebracht, als sie gleich daneben buddelten, und wissen Sie was? Der arme Teufel war bei lebendigem Leib begraben worden. Er hat so in seinem Sarg gelegen« - er verzerrte das Gesicht und krümmte seine Hände zu Krallen - »und versuchte, sich den Weg nach draußen zu graben.« »Vielleicht hat man bei der Leichenöffnung eine Erklä-
rung dafür gefunden«, schlug Indy vor. »Die natürlichen Einflüsse können Leichen manchmal in scheußlich beängstigende Körperhaltungen versetzen.« »Nee, nee«, meinte der Totengräber. »Denn wissen Sie, was sie in der Innenseite des Sargdeckels gefunden haben? Seine Fingernägel.« Ich hab schon Schlimmeres gesehen, dachte Indy. »Können Sie sich vorstellen, wie er sich gefühlt haben muss?« Indy hoffte, die Frage sei rhetorischer Natur. Er war mit der dritten und letzten Seite fertig. Er rollte das Papier ein und streifte ein Gummiband um die Rolle. »Danke«, sagte er. »Nicht der Rede wert.« Der Totengräber riss ein Streichholz an. Er hielt es einen Augenblick zwischen seine schützenden Hände, dann schmiss er es auf die benzingetränkten Äste, die mit einem dumpfen Knall und als orangefarbener Ball Feuer fingen. »Ich werde es den Rest des Vormittags brennen lassen, und dann die Asche verteilen«, erklärte er. »Heute Nachmittag ist es dann so weit, dass man hier graben kann.« »Diese Männer«, sagte Indy. »Haben sie eigentlich noch etwas anderes getan, als Fotos zu machen?« »Nein«, erwiderte der Totengräber. »Ach so, sie haben mir noch ein paar ziemlich merkwürdige Fragen gestellt. Sie schienen ein geradezu krankhaftes Interesse an Bald-wins Leichnam zu haben. Ob ich ihn gesehen hätte und so weiter. Und dann haben sie mich nach dem Weg zum Beerdigungsinstitut gefragt.«
KAPITEL DREI Lebendig begraben
Indy kehrte zum Hotel zurück und bezog ein Zimmer im ersten Stock. Er nahm den Koffer von dem Hotelpagen entgegen, drückte dem Jungen eine Zehncentmünze in die Hand, schloss die Tür hinter ihm ab und legte die Kette vor. Das Schloss war wie zu erwarten billig und die Kette gleichermaßen altersschwach, daher schnappte Indy sich den Stuhl mit der geraden Lehne vom Zimmerschreibtisch und klemmte ihn unter den Türknauf. Draußen glitzerte die Nachmittagssonne auf der vereisten Straße. Die gesamte Straße hinunter waren Ladenbesitzer damit beschäftigt, dicht zu machen. Gleich neben dem Hotel lag das NuDay-Theater, und dessen rings um das Vordach laufende Neonreklame - ungefähr auf Augenhöhe mit Indys Zimmer erwachte unvermittelt summend zum Leben. Lionel Barrymore spielte die Hauptrolle in Stronnger's Return, gefolgt von House on 56th Street mit Kay Francis. Als besondere Beigabe würde, direkt aus Harlem, Professor Rand's Vaudeville Hundezirkus auftreten, allerdings nur für einen Abend. Indy setzte sich auf die Bettkante und nahm den Quarzbrocken aus dem Kästchen. Er hielt ihn ein paar Sekunden in der Hand, prüfte sein Gewicht und sah sich im Zimmer nach einem Versteck für ihn um. Den vorgesehenen Verwendungszweck des Steins kannte er nicht, aber er hatte Professor Baldwin versprochen, auf ihn aufzupassen. Im
ganzen Zimmer schien es kein geeignetes Versteck zu geben, daher streifte er schließlich den Riemen über seinen Kopf und verbarg den Stein unter seinem Hemd. Indy schleuderte die Schuhe von den Fußen und schwang die Beine aufs Bett Er nahm Baldwins arktisches Logbuch aus der Mappe, die an einem Pfosten am Kopfende des Bettes hing. Den durchtrennten Riemen hatte er von einem Schuster flicken lassen, während er in Chicago auf seinen Anschlusszug gewartet hatte Er schlug das Logbuch auf und begann, die Eintrage zu überfliegen. 20. März 1902: Camp Ziegler, an der Küste des Franz-JosephLandes, zweiundachtzig Grad Nord. Der düstere arktische Winter ist vorbei, und endlich wird es Frühling, zumindest dem Kalender nach, auch wenn man dies aus den täglichen Wetterberichten nicht unbedingt schließen würde (mit zweiunddreißig Grad Fahrenheit unter Null lag die Durchschnittstemperatur viel niedriger als üblich, zurzeit jedoch beträgt sie minus vierundzwanzig Grad - beinahe so etwas wie eine Hitzewelle!) Gesundheit und Stimmung der zweiundvierzig Männer unter meinem Kommando sind nach wie vor gut, und unsere Kost ist durch Eisbärenfleisch aufgebessert worden Nahezu acht lange Monate sind vergangen, seit wir in Norwegen in See gestochen sind, und ich kann es kaum erwarten, dass es Sommer wird und ich die bevorstehende Aufgabe, den Vorstoß zum Pol, weiterführen kann! Eigenartig, dass ausgerechnet der Ausdruck Vorstoß zum Synonym für den Versuch, den Pol zu entdecken, geworden ist, man denkt dabei an ungestümes Voranhasten, dabei erfordert in Wahrheit kaum ein anderes Vorhaben auf der Welt eine vergleichbar sorgfältige Planung. Unsere Vorbereitungen waren so gründlich, wie dies Menschen möglich ist, und wir haben, entlang einer nordwärts führenden Route, drei Nachschublager als Ausgangspunkte für den abschließenden Vorstoß angelegt.
Längs der grönländischen Küste sind drei weitere solcher Proviantlager eingerichtet worden, um unsere Rückkehr zu
erleichtern. Ich bin voller Zuversicht, dass, sobald der Sommer einsetzt, das Sternenbanner als erste Flagge auf dem Dach der Welt wehen wird. 2. Mai 1902: Das Frühlingstauwetter hat nicht wie erwartet eingesetzt. Wir sind nach wie vor im Eis eingeschlossen, und ich fürchte, unser Flaggschiff, die America, hat einen irreparablen Schaden am Rumpf davongetragen. Aber die Stimmung unter den Männern ist nach wie vor gut, und unsere beiden kleineren Schiffe sowie die meisten unserer vierhundert Hunde haben überlebt - mit etwas Glück und dem erwarteten Versorgungsschiff sollten wir im Stande sein, den Pol unserer Zeitvorgabe entsprechend bis zum 4. Juli zu erreichen. 17. Mai 1902: Das Versorgungsschiff ist nicht gekommen. l. Juni 1902: Die Lage wird zunehmend ernst, und sämtliche Hoffnungen, den Pol doch noch in diesem Jahr zu erreichen, sind dahin. Die Hälfte unserer Hunde ist verendet, viele der Schlitten sind zu Bruch gegangen, und unsere Lebensmittel werden gefährlich knapp. Die Moral ist in Verfall geraten, und mehr als einmal ist es unter den Männern zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen. Das dringendste Problem jedoch ist unser rasch schwindender Kohlevorrat. Wir sind in der festen Überzeugung hier zurückgeblieben, dass ein Versorgungsschiff auf dem Weg hierher sein müsse, und daher mit dem Kohleverbrauch für das Kochen und Heizen recht freizügig umgegangen Mittlerweile ist der Vorrat nahezu erschöpft. Nicht nur, dass er nicht mehr ausreicht, um unsere Kessel auf der Rückfahrt zu befeuern, sondern wir werden, sollten wir tatsächlich hier bleiben, auch erfrieren. Heute werde ich einen Ballon aufsteigen lassen und eine Notration Kohlen anfordern.
25. Juni 1902: Bislang noch keine Reaktion auf einen jener fünfzehn Ballons, mit denen wir Notrationen angefordert haben. Ich war gezwungen, die letzten unserer Hunde unter bewaffnete Bewachung zu stellen, um nicht Gefahr zu laufen, dass sie vorzeitig aufgegessen werden... Hunger, Kalte und Verzweiflung sind unsere ständigen Begleiter... das Grauenhafte unserer Lage hat sich in Denken und Moral der Männer niedergeschlagen, die ihre Kräfte darauf verschwenden, unablässig miteinander zu streiten... 26. Juni 1902: Das Grauen. Beim Erwachen heute Morgen musste ich feststellen, dass über Nacht drei weitere Männer gestorben sind und wenigstens einer dieser armen Teufel teilweise ausgeschlachtet wurde. Ich werde eine an gemessene Strafe aussprechen, sollte ich den Mann ausfindig machen, der für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich ist. Heute wurde der letzte Hund gekocht und verspeist. 27. Juni 1902: Ich bin gezwungen, eine unangenehme Entscheidung zu fällen. Wir müssen uns eingestehen, dass ein Versorgungsschiff, selbst wenn es auf dem Weg hierher sein sollte, nicht rechtzeitig eintreffen wird, um den vierunddreißig hier verbliebenen Seelen noch zu helfen Ich werde daher mit einer kleinen Gruppe an Bord der Pluto aufbrechen, um Hilfe zu holen. Wir werden, wann immer dies möglich ist, Wind und Strömung ausnutzen, und alles Brennbare verheizen, wenn nicht. Eine weitere Gruppe wird sich mit der Prosperma auf den Weg machen, um unsere ziemlich geringen Chancen auf Erfolg zu verdoppeln Möge Gott unseren Seelen gnädig sein. Kurze Zeit darauf fröstelte Indy Es war kalt, und einen Moment lang wusste er nicht, ob er wach war oder nur träumte zu erfrieren. Er griff nach der Bettdecke, stellte verärgert fest, dass er auf ihr lag, und schlug die Augen auf. Er war,
bis auf seine Schuhe, vollständig angezogen, und Baldwins Logbuch lag aufgeschlagen quer über seiner Brust. Abgesehen von dem unnatürlichen Neonglanz der Theaterlichtreklame, die durch das offene Fenster fiel, war es im Zimmer dunkel. Indy schob das Logbuch zur Seite und setzte sich auf. Er rieb sich die Augen, wankte quer durchs Zimmer und schloss das Fenster mit einem lauten Knall. Dann gähnte er, kratzte sich das Kreuz, drehte sich wieder zum Bett herum und erstarrte - er hatte den Widerschein von Neonlicht auf einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge blinken sehen. »Sie sollten nicht so unvorsichtig sein, Dr. Jones«, ließ sich eine Stimme mit schwerem deutschem Akzent aus der Dunkelheit vernehmen. »Sie werden sich noch den Tod holen « »Rudy?« »Nein « Es entstand ein winziges Zögern, so als wäge der Sprecher die Chancen ab, ob Indy lange genug leben wurde, ihn bei den Behörden zu identifizieren »Mein Name ist Jaeckel. Meine Freunde nennen mich den Meuchler « »Und wie nennen Ihre Feinde Sie?« Indy konnte das Lächeln in der Dunkelheit geradezu spüren. »So weit lasse ich es niemals kommen«, erfolgte prompt die Antwort. »Nun, das lässt hoffen. « »Rechts von Ihnen steht eine Schreibtischlampe Schalten Sie sie ein, bitte. Aber langsam. « Vorsichtig streckte Indy seine rechte Hand vor, bis er die Lampe fand und endlich auch den Schalter. Er kniff die Augen gegen die plötzliche Helligkeit zusammen Jaeckel saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Stuhl. Das Messer war ein gefährlich aussehendes Springmesser mit Knochengriff. Indys Blick zuckte zu der am Bettpfosten hängenden Mappe.
»Lohnt sich nicht«, meinte Jaeckel. »Ich habe die Patronen aus Ihrem Revolver entfernt und sie säuberlich auf den Schreibtisch gelegt. Um ehrlich zu sein, ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen. Wieso schleppen Sie dieses unförmige Ding mit sich herum? Es ist viel zu schwer.« »Mag sein«, sagte Indy. »Aber es eignet sich gut als Wurfobjekt.« Jaeckel lachte. »Wie sind Sie hereingekommen?« »Ihr Zimmer liegt nicht sehr hoch, und eine einfache Drehung der Klinge -« Jaeckel vollführte eine elegante Bewegung mit dem Messer - »genügt, um den Fensterschnäpper zu entriegeln.« »Was wollen Sie?« »Sie wissen, weshalb ich hergekommen bin«, erwiderte Jaeckel. »Das Logbuch liegt auf dem Bett.« »Aber da ist noch etwas, hab ich Recht?«, fragte Jaeckel. »Der lapis exilis, ein rauchfarbener Stein. Er befand sich in dem Kästchen. Was haben Sie mit ihm gemacht?« »Da Sie so viel über ihn zu wissen scheinen«, gab Indy zurück, »suchen Sie ihn doch selbst.« »Wir würden gar nicht miteinander sprechen«, sagte Jaeckel, »wenn ich das Zimmer nicht längst durchsucht und nichts gefunden hätte. Sie könnten den Stein am Körper tragen, aber ich möchte nicht riskieren, Sie zu töten, ohne mich vorher davon überzeugt zu haben. Wenn Sie ihn woanders versteckt haben, muss ich Sie so lange leben lassen, bis Sie es mir verraten.« »Wie kommt es, dass Sie so viel über diesen Stein wissen?«, fragte Indy. »Spielen Sie nicht den Dummen«, fuhr Jaeckel ihn an. »Sie werden meine Fragen beantworten, nicht umgekehrt.« Der Meuchler erhob sich vom Stuhl und trat ans Bett, die ganze Zeit sorgfältig darauf bedacht, Indy nicht den Rücken zuzukehren. In der einen Hand hielt er lässig das Spring-
messer, mit der anderen hob er das Logbuch auf. Er schob das Logbuch unter seine Lederjacke. Dann zog Jaeckel ein Stück Seil aus seiner Tasche. »Setzen Sie sich bitte auf den Stuhl.« »Nein«, sagte Indy. »Werden Sie nicht lästig, Dr. Jones.« Jaeckel kam herbei und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie werden sich jetzt auf den Stuhl setzen.« Bevor Indy zurückzucken konnte, hatte Jaeckel Daumen einen Druckpunkt neben dem Schlüsselbein gefunden. Indy sackte auf die Knie, unfähig, auch nur einen Schrei auszustoßen. Die Schmerzwellen strahlten bis in seinen Arm. »Widerstand zu leisten hat keinen Sinn«, klärte Jaeckel ihn auf. »Ich habe alles in der Hand. Ich kann Sie zwingen, sich hierhin oder dorthin zu bewegen -« Gelenkt von Jaeckels Daumendruck, wankte Indy einer Marionette gleich erst nach rechts, dann wieder nach links. »Erstaunlich, nicht wahr? Das habe ich im Orient gelernt, und es hört niemals auf, meine Freunde zu begeistern und in Erstaunen zu versetzen.« Jaeckel bohrte ihm das Knie in den Solarplexus und ließ ihn danach los. Indy fiel hustend zu Boden und war ein paar quälende Augenblicke außer Stande, Luft zu holen. »Auf den Stuhl, bitte. Sie haben genug Zeit vergeudet.« Immer noch hustend, hielt Indy die Hände in die Höhe, um seine Unterwerfung zu signalisieren. Dann kroch er zum Stuhl hinüber, umklammerte den Sitz und zog sich hoch bis auf die Knie. Er stützte seine Unterarme auf dem Stuhl ab und sagte, weiter schaffe er es nicht. »Ich werde langsam ungeduldig«, fuhr Jaeckel ihn an. »Ich kann nicht -« »Los jetzt!" Jaeckel streckte die Hand aus und wollte Indy abermals am Schlüsselbein packen, war aber nicht vorbereitet, als Indy sich blitzschnell auf ihn stürzte, mitsamt Stuhl, der
in Stücke sprang, als er auf seinem Kopf und seinen Schultern niederging. Jaeckel ließ das Messer fallen, wankte zurück und riss instinktiv die Hände hoch, um seinen Kopf zu schützen. Indy trat das Messer unters Bett. »So, du sadistischer -«, rief Indy und versetzte Jaeckel einen Hieb mitten auf die Brust, der ihn rücklings ins Fenster beförderte. Die Glasscheibe ging zu Bruch, als Jaeckel durch das Fenster flog. Einen Augenblick lang konnte er sich noch, ein blutverschmiertes Grinsen im Gesicht und wegen seiner Lederjacke weitgehend unverletzt, im Fensterrahmen festhalten. »Nein!«, rief Indy, als ihm das Logbuch einfiel. Doch es war bereits zu spät. Jaeckel stürzte rücklings durch das Fenster, noch während Indy ihn zu packen versuchte. Indy schob den Kopf vorsichtig durch das zerbrochene Fenster. Der Möchtegernmeuchler war an der Regenrinne hängen geblieben und mühsam an einem schmalen Ziegelvorsprung entlang geklettert und zurzeit damit beschäftigt, sich auf das Vordach des Nu-Day-Theaters zu ziehen. Indy warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf seine Schuhe, stieß einen leisen Fluch aus, dann folgte er dem Meuchler durch das zersplitterte Fenster. Die Ziegel fühlten sich hart und kalt an unter seinen in Socken steckenden Füßen. Jaeckel war auf dem verandaähnlichen Vordach damit beschäftigt, eine Tür einzutreten. Er benötigte mehrere Tritte, um das Schnappschloss zu bezwingen, und Indy hatte ihn fast eingeholt, als er im Theatergebäude verschwand. Sie fanden sich in einem menschenleeren Projektionsraum wieder, doch das Theater war nicht etwa geschlossen. Von der Bühne konnten sie das Gekläff von Hunden hören, gefolgt vom Beifall des Publikums. Jaeckel trat ungestüm nach Indy und verfehlte ihn. Indy konterte mit einer klassischen Kombination, einer linken Geraden und einem rechten Haken, der den Nazi nach hinten taumeln ließ. Jaeckel stieß gegen den Projektor.
Der Apparat kippte scheppernd um, und bläulich weißes Licht blitzte auf, als die Stromzufuhr wegen eines Kurzschlusses unterbrochen wurde. Bevor das flackernde Licht endgültig erlosch, konnte Indy noch erkennen, dass das Logbuch aus der Tasche des Meuchlers gefallen war. Die letzte Spule von Stronnger's Return war vom Projektor gestoßen worden und balancierte jetzt, scheinbar den Gesetzen der Physik trotzend, wie durch ein Wunder auf dem Vorsprung des Projektionsfensters. Schließlich setzte sich die Schwerkraft doch noch durch, und die Spule fiel vom Fenster herunter, sprang über den Balkon und rollte unter das Geländer. Als sie nach unten fiel und durch den Mittelgang zur Bühne rollte, entstand hinter ihr ein dichtes Knäuel aus Filmmaterial. Jaeckel stürzte aus dem Projektionsraum. »He!«, rief ein Mann, der die Bühnenbeleuchtung bediente. Der Lichtkegel entfernte sich schlingernd von Professor Rand und seinem Hauptdarsteller, einem Dackel namens Toby, der mehr oder weniger die Melodie des Yankee Doodle jaulte. »Was geht hier vor?« Indy, der, nachdem er das Logbuch an sich genommen hatte, an der Tür zum Projektionsraum stehen geblieben war, konnte die Menge aufstöhnen hören. Das Theater war bis zum Bersten gefüllt, doch die Bühnenbeleuchtung war so grell, dass es schwer fiel, irgendetwas anderes zu erkennen. Jaeckel sprang auf das Balkongeländer. Einen Augenblick lang wankte er bedenklich, dann fand er sein Gleichgewicht wieder und richtete sich auf. Der Beleuchter richtete den Lichtstrahl instinktiv auf ihn. »Heil Hitler!«, grölte Jaeckel und reckte die Hand zum Hitlergruß. »Ich muss doch wohl bitten«, ließ sich eine energische, deutliche Frauenstimme von unten vernehmen, »wir sind hier in Amerika.« Und dann, noch während er dort stand und in das grelle
Licht des Punktscheinwerfers blinzelte, dämmerte ihm endlich, dass sämtliche nach oben gerichteten Gesichter schwarz waren. »Wir haben ihn von den Knochenklempnern untersuchen lassen. Bis auf ein paar Schnittwunden und blaue Flecken sowie einen Hundebiss an seinem Allerwertesten geht es ihm ausgezeichnet«, meinte der Sheriff. Er hielt das Logbuch in den Händen und ließ es abwägend von einer Hand in die andere gleiten. »Also, das muss wirklich weh getan haben. Aber zu uns hat er kein Sterbenswort gesagt. Sind Sie sicher, dass er überhaupt sprechen kann?« Der Sheriff zog die Achseln hoch und legte seine Stiefel auf die Ecke seines Schreibtisches. Roy Dickerson war ein hoch gewachsener Mann mit einer braunen Uniform und einem vollendet herablassenden Achselzucken. »Hören Sie, Sheriff«, meinte Indy. »Als er mich in meinem Hotelzimmer umzubringen versuchte, hat er eine ganze Menge gesprochen, und zwar auf Englisch.« »So lautete Ihre Aussage, ich weiß.« »Sie glauben mir nicht?« »Er hatte keinerlei Papiere bei sich«, erwiderte der Sheriff. »Kein Geld. Keine Waffen, nicht einmal ein Taschenmesser. Meiner Ansicht nach könnte es sich um einen Verrückten handeln, der aus einer Anstalt ausgebrochen ist. Wer sonst würde zum Hitlergruß aufspringen, noch dazu in einem Theater voller -« An dieser Stelle bediente sich der Sheriff einer leider sehr verbreiteten abfälligen Formulierung. »Ich mag dieses Wort nicht«, sagte Indy. »Verwenden Sie es nicht noch einmal.« Wieder das Achselzucken. »Sie haben das Messer gefunden«, sagte Indy. »Sie wissen, dass er mich angegriffen hat. Sie werden doch wohl Anzeige gegen ihn erheben, oder?« Abermals ein Achselzucken.
»Des Weiteren haben wir in Ihrem Zimmer eine Peitsche und einen Revolver gefunden«, gab der Sheriff zurück. »Vielleicht haben Sie ihn angegriffen. Oder wollen Sie mir etwa weismachen, Sie seien Löwenbändiger? Anschließend haben Sie ihn aus dem Zimmer gejagt und bis zum Theater verfolgt, wo Sie sich mit ihm weitergeprügelt haben.« »Ich habe Ihnen doch erklärt, wie es sich zugetragen hat.« »Stimmt«, sagte der Sheriff. »Er ist ein Naziauftragskiller, der in Ihr Zimmer eingebrochen ist, um Ihnen dieses dreißig Jahre alte Notizbuch zu stehlen, für das seine Kumpane bereits einen Mann namens Baldwin umgelegt haben, und das möglicherweise das Geheimnis einer untergegangenen Zivilisation in der Nähe des Nordpols birgt. Ist es das in etwa?« »Na ja, wenn Sie es so darstellen -« Der Sheriff richtete sich auf und beugte sich über den Schreibtisch, das Gesicht nur Zentimeter von Indys entfernt. Seine Wangen waren noch geröteter als zuvor. »Wissen Sie, was ich glaube, Jones? Ich glaube, Sie sind beide verrückt. Entlaufene Geisteskranke.« »Ich habe Ihnen erklärt, wer ich bin.« »Wie kommt es dann, dass ich noch nie von Ihnen gehört habe?« Indy tat überrascht. »Sie lesen keine Bücher?« »Halten Sie den Mund!« Der Sheriff klatschte das Logbuch auf den Tisch. »Bis ich den Anruf aus New York erhalten habe, rühren Sie sich nicht von der Stelle. Wer ist dieser Brody überhaupt? Ihr Anstaltsarzt?« Wie auf ein Stichwort klingelte das Telefon. Dickerson griff nach dem Hörer, wandte sich ab und blaffte ein paar Fragen. Dann beruhigte er sich allmählich, und nach einigen Minuten ununterbrochenen Zuhörens gab er den Hörer an Indy weiter. »Er will mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Vermutlich hat er ein neues Rezept für mich«, murmelte Indy.
»Indy?«, fragte Brody. Seine Stimme klang blechern und sehr weit weg. »Ich höre, du hattest Ärger. Geht es dir gut?« »Ausgezeichnet«, gab Indy zurück. »Bis auf ein paar Schnittwunden an den Füßen.« »Also, ich denke, ich konnte den Sheriff davon überzeugen, dass du normalerweise weder für dich selbst noch für andere eine Bedrohung darstellst«, erklärte Brody. »Glaubst du, der Kerl, der dich gestern Abend angegriffen hat, gehört dieser ThuleOrganisation an?« »Das wäre meine Vermutung«, gab Indy zurück. »Und eine berechtigte obendrein«, bemerkte Brody dazu. »Nimm dich in Acht. Ich habe mich mit meinen Freunden beim Nachrichtendienst der Armee in Verbindung gesetzt und mich dort nach dieser Thule-Organisation erkundigt.« »Und?« »Die Mitglieder der Thule-Gesellschaft, wie sie auf Deutsch genannt wird, neigen dazu, an Dinge wie rituelle Magie, Gedankenkontrolle und untergegangene Zivilisationen zu glauben. Sie wurde, wie könnte es anders sein, nach jener mythischen Insel im hohen Norden benannt, von der ihre Herrenrasse angeblich stammt. Ihre Weltanschauung ist ein buntes Sammelsurium aus nordischer Mythologie, Atlantistheorien und Spiritualismus aus dem neunzehnten Jahrhundert.« »Und wo besteht die Verbindung zu den Nazis?« »Nun, allem Anschein nach wurde die Gesellschaft kurz nach dem Weltkrieg von Angehörigen der bayerischen Oberschicht als eine Art okkulter Forschungszirkel ins Leben gerufen«, erklärte Brody. »Die Verehrung der Gruppe für die alten nordischen Mythen löste jedoch eine Spielart des Nationalismus aus, an dem bald ein größeres Publikum Gefallen fand. Nicht alle Mitglieder der ThuleGesellschaft waren Okkultisten, ganz sicher aber der harte Kern der Gründer, und in den zwanziger Jahren diente die Gruppe als eine Art Kristallisationspunkt, um den herum sich die Nazipartei bildete.«
»Der Meinung war auch Baldwin.« »Das ist noch nicht alles«, fuhr Brody fort. »Der Mann, von dem es heißt, er sei der geistige Wegbereiter der Nazis, war ein Experte für nordische Mythologie mit Namen Dietrich Eckehart. Er war darüber hinaus ein Satanist und drogenabhängig. Unklar ist, ob Eckehart tatsächlich Mitglied der Thule-Gesellschaft war oder nur beratende Funktion hatte, in jedem Fall jedoch stand er bei Hitler in hohem Ansehen - tatsächlich in so hohem Ansehen, dass Hitler sein Buch Mein Kampf mit einer Widmung an Eckehart schließt.« »Klingt, als hätte der Mann einen gewaltigen Einfluss besessen.« »Die Strahlende Loge des Vril ist ein Teil der Thule-Gruppe - die geheimste aller Geheimgesellschaften, wenn man so will. Den Anstoß dazu lieferte ein Buch, Die Rasse der Zukunft, in der von einer Gruppe von Übermenschen die Rede ist, die im Mittelpunkt der Erde in einer perfekt geordneten Gesellschaft leben -« »Wie war das?«, fragte Indy. »Warum sprichst du nicht weiter?« »Die Jungs beim Nachrichtendienst der Armee sind sich nicht ganz im Klaren darüber, was die Verbindung mit der Arktis zu bedeuten hat, Indy. Sie haben angefragt - da du bereits bis zum Hals in der Geschichte drinzustecken scheinst -, ob du daran interessiert wärst, ihnen zu helfen, den Deutschen auf der Spur zu bleiben.« »Ihnen zu helfen?«, fragte Indy. »Und wer hilft mir?« »Du scheinst ein Händchen dafür zu haben, dir selbst zu helfen«, erwiderte Brody. »Sie haben angeboten, dir ein Flugzeug sowie andere Hilfsmittel zu Verfügung zu stellen, falls du sie brauchen solltest.« »Marcus, erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als ich versucht habe, diesen Burschen aus der Klemme zu helfen? «, fragte Indy. »Damals wäre ich beinahe irgendwo über dem Atlantik aus einem Luftschiff geschmissen worden,
die Faschisten haben mich quer durch Europa als Zielscheibe benutzt, und um ein Haar wäre ich in der Wüste verschollen. Richte ihnen aus, ihr Angebot ehrt mich, trotzdem nein, danke.« »Du hast vollkommen Recht.« »Im Übrigen habe ich einen Zeitplan, den ich einzuhalten gedenke. New Mexico, schon vergessen?« »Natürlich«, erwiderte Brody. »Sag ihnen, meine Antwort lautet >nein<.« »Sicher.« »Gut«, beendete Indy die Diskussion. Nach einem kurz angebundenen Abschied hängte er ein. Der Sheriff fuhr auf, als Indy den Hörer auf die Gabel knallte. »Was starren Sie mich so an?«, knurrte Indy. »Nach der Hälfte des Gesprächs zu urteilen, die ich mitgehört habe«, sagte Dickerson, »bin ich da nicht ganz sicher. Hier sind Ihnen die Nazis auf den Fersen, und in Europa hätten Sie um ein Haar die Faschisten erwischt?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Darauf wette ich«, meinte Dickerson. Er hielt ihm das Logbuch hin, zog es aber wieder zurück, bevor Indy danach greifen konnte. »Hören Sie, Dr. Jones, ich werde Sie laufen lassen, aber versprechen Sie mir eins? Verschwinden Sie so schnell wie möglich aus meinem Bezirk.« »Mit größtem Vergnügen.« Dickerson händigte ihm das Logbuch aus. Indy verließ das Büro des Sheriffs und humpelte durch den Schnee zurück zum Hotel. Theater und Cafe waren mittlerweile dunkel. Als er am Empfang vorüberkam, winkte er dem Nachtportier zu, doch der war über der Sportseite der Abendausgabe des Kansas City Star eingenickt. Indy stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und entriegelte die Tür. Drinnen war es eisig kalt. Die Vorhänge wehten vor dem zersplitterten Fenster ins Zimmer, und der
Fußboden war schneebedeckt. Er schüttelte den Kopf, weil er vergessen hatte, dass das Fenster bei der Prügelei zu Bruch gegangen war. Er suchte seine Sachen zusammen, stieg die Treppe wieder hinunter und weckte den Nachtportier. »Ich benötige ein anderes Zimmer«, erklärte er. »Ha?« »Das Fenster ist zerbrochen.« »Aha«, meinte der Portier. »Also«, fragte Indy. »Haben Sie nun ein anderes Zimmer?« Der Portier schaute über seine Schulter auf die an der Wand hängenden Schlüsselreihen. Methodisch wählte er einen aus der untersten Reihe aus, vermerkte den Vorgang im Hotelregister und händigte ihn aus. »Danke«, sagte Indy. »Ach, vielleicht sollten Sie etwas wegen des Fensters unternehmen - da drinnen ist es kalt wie in einem Eisschrank.« »Aha«, sagte der Portier. Sofort nach Betreten seines neuen Zimmers verriegelte Indy die Tür und legte die Kette vor. Er fror noch immer, daher drehte er den Heizkörper hoch. Dann nahm er Baldwins Buch in die Hand und suchte, mitten im Zimmer stehend, nach einem geeigneten Versteck. An der Tür klopfte es. »Was ist?«, erkundigte sich Indy schroff. »Ich bin es«, ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. Er brauchte einen Augenblick, um die Stimme Zoe zuzuordnen. »Wie ich hörte, hatten Sie ein wenig Ärger. Der Portier meinte, Sie hätten das Zimmer gewechselt.« »Neuigkeiten machen hier offenbar schnell die Runde.« »Die Stadt ist klein, mein Lieber«, erwiderte Zoe. Indy warf das Logbuch auf den Schreibtisch, ging zur Tür und wollte nach der Kette greifen. Er zögerte. Er legte das Ohr ans Holz und versuchte zu erkunden, ob auf der anderen Seite außer Zoe noch jemand stand.
»Sind Sie allein?«, fragte er. »Selbstverständlich. Wieso?« »Ich möchte nur sichergehen«, erwiderte Indy, während er die Tür öffnete. »Also, Sie schlimmer Mensch«, meinte Zoe übertrieben gedehnt, als sie träge ins Zimmer schwebte, den Rauch ihrer Zigarette in der grotesken Spitze hinter sich herziehend. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, dieses Ding auszudrücken?«, fragte Indy. »Was ist damit?«, fragte sie, während sie ihren Mantel auf das Bett warf. »Es stinkt«, sagte Indy. »Außerdem brennt mir der Rauch in den Augen.« »Meinetwegen, wenn Sie sich unbedingt so anstellen wollen.« Zoe drückte die Zigarette im Aschenbecher auf dem Schreibtisch aus. Dann drehte sie sich um und schlang ihm die Arme um den Hals. »Was wollen Sie?«, fragte Indy. »Das dürfte doch unschwer zu erkennen sein«, erwiderte sie, »selbst für einen alten Totengräber wie Sie. Wollen Sie nicht mal einen Blick auf diese Knochen werfen? Und vielleicht Ihre professionelle Meinung dazu abgeben? Womöglich lernen Sie dabei etwas, das der ... gesamten Menschheit zugute kommt.« »Ich fühle mich geschmeichelt.« Indy schob sie fort. »Aber es ist sehr spät, und ich bin nicht bei Laune, selbst wenn ich damit dem Rosettastein der Romantik den Rücken kehren sollte.« Zoe runzelte die Stirn. »Ich wollte nur nachsehen, ob Sie verletzt sind.« »Bin ich nicht.« »Und ob Sie vielleicht etwas brauchen.« »Ich brauche nichts.« »Also, wenn Sie sich unbedingt so benehmen wollen -« »Will ich.« Sie sah ihn gekränkt an.
»Ich bin doch nicht zu alt, oder?«, fragte sie. »Selbstverständlich nicht«, gab Indy zurück. »Ich habe all diese Beachtung wirklich nicht verdient, Zoe. Es freut mich, dass Sie vorbeigeschaut haben, um nach mir zu sehen, aber es geht mir wirklich ausgezeichnet, und was ich brauche, ist nichts weiter als ein wenig Schlaf.« »Oh, na schön.« Sie seufzte und griff nach ihrem Mantel Indys Blick fiel auf das Logbuch, das auf dem Schreibtisch lag. »Zoe«, sagte er unvermittelt. »Da wäre doch etwas, das Sie für mich tun könnten.« »Was kann das wohl sein?«, fragte sie müde. »Soll ich aufhören zu atmen?« Indy hielt das Logbuch in die Höhe. »Sie wollen, dass ich es für Sie verstecke?«, fragte sie. »Ich weiß nicht recht«, meinte er. »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee.« »Was soll das nun wieder heißen?«, fragte sie und nahm das Buch an sich. »Ich kann das. Ich habe zu meiner Zeit eine Menge Zeug versteckt.« »Das ist es, wohinter diese Kerle heute Abend her waren«, erklärte Indy, »und ich würde mich sicherer fühlen, wenn es sich nicht im Hotel befände. Andererseits möchte ich mir lieber nicht ausmalen, was Ihnen zustoßen könnte wenn sie wüssten, dass Sie es haben.« »Ich dachte, es gäbe nur einen einzigen Schurken, und der säße hinter Gittern.« »Sie treten in Rudeln auf«, sagte Indy. »Wie Wölfe.« »Ich kann selbst auf mich aufpassen«, erklärte Zoe, während sie ihren Mantel anzog. »Ich sehe Sie morgen früh.« »He, warten Sie einen Augenblick«, rief Indy. »Wo wollen Sie denn hin -« Sie legte ihm einen Finger an die Lippen. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Entweder, Sie vertrauen mir oder nicht. Wenn Sie es zurück haben wollen, sagen Sie einfach Bescheid.«
»Also schön«, gab Indy sich geschlagen. »Ich bin zu müde, um zu widersprechen. Warten Sie. Da ist noch etwas.« Er nahm den Kristall von seinem Hals und gab ihn ihr. Sie streifte ihn über. »Heißt das, wir sind verlobt?«, fragte sie. »Seien Sie auf der Hut, Zoe.« Sie tat seine Befürchtung mit einer Handbewegung ab. »Kein Problem, Doc«, antwortete sie und schloss die Tür. Indy rieb sich die Augen und fragte sich, ob es richtig war, ihr das Logbuch und den Kristall anzuvertrauen. Sein Bauch sagte ihm jedoch, dass das Buch bei ihr besser aufgehoben war, wenigstens fürs Erste. Dann verschloss er die Tür und zog sich aus, wobei er seine Kleider ganz gegen seine Gewohnheit quer über den Fußboden verteilte. Er nahm ein paar lange Unterhosen aus seinem Koffer und zog sie an. Nachdem er unter die Bettdecke geschlüpft war, fiel ihm auf, dass er noch immer seinen Hut aufhatte. Er nahm seinen Filzhut ab und warf ihn über einen Bettpfosten. Eine Stunde darauf hatte Indy einen lebhaften Albtraum, in dem jemand ihn zu ersticken versuchte, indem er ihm eine Hand voll reifer Dattelpflaumen in den Rachen stopfte. Er wachte auf und stellte fest, dass Reingold ihm einen äthergetränkten Lappen über Nase und Mund hielt. Indy sträubte sich, doch seine Hände und Füße waren festgebunden. »Man hat Anästhesie«, hörte er Reingold sagen, »als einen Tod auf Raten beschrieben. Wie denken Sie darüber, Dr. Jones?« Indys Flüche klangen wegen des Lappens gedämpft. »Oh, Verzeihung«, sagte Reingold. »Wie unhöflich von mir.« Er entfernte den Lappen für einen Augenblick, doch statt zu schreien, musste Indy feststellen, dass er nur nach Luft schnappen konnte. Als er seine Lungen gefüllt hatte, drückte Reingold ihm den Lappen erneut aufs Gesicht. »Wir fühlen uns zusehends matt, nicht wahr?«, fragte der 72
Nazi. »Die Gegenstände verschwimmen? Es wird immer dunkler werden, wissen Sie, bis Sie schließlich ganz das Bewusstsein verlieren. Können Sie sich vorstellen, was wir dann mit Ihnen machen werden?« Indys Blick verengte sich trotzig. »Sie brauchen uns nur zu geben, was wir haben wollen«, fuhr Reingold fort. »Dann lassen wir Sie in Ruhe. So einfach ist das. Haben Sie verstanden?« Indy nickte. Mittlerweile war es sehr dunkel geworden. »Gut«, erwiderte Reingold. »Keine Tricks jetzt, sonst bin ich gezwungen, Sie zu erschießen.« Er entfernte den Lappen. Nickend schlang Indy gierig Luft in sich hinein, während Reingold gespannt über ihm lauerte. »In diesem Hotel steige ich nie wieder ab«, murmelte Indy. »Hören Sie auf, den Maulhelden zu spielen«, fuhr Reingold ihn an. »Wo ist das Tagebuch?« »Ich habe es nicht«, erklärte Indy. Reingold schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, das zu hören«, sagte er. Er zog ein Fläschchen aus seiner Tasche, entfernte den Stöpsel und tränkte den Lappen erneut. »Für den Fall, dass Sie uns enttäuschen, haben wir eine überaus unangenehme Überraschung für Sie. Und jetzt noch einmal: Wo ist das Tagebuch?« »Ich sagte es bereits«, gab Indy zurück, »ich habe es nicht.« »Können Sie uns verraten, wo wir es finden?« Indy schwieg. »Tja, ich hatte befürchtet, dass es so weit kommen würde«, meinte Reingold in gespielter Wehmut. »Dabei wäre es eine ungeheure Verschwendung, Dr. Jones. Warum wollen Sie für ein paar voll gekritzelte Seiten sterben?« Schweigen. »Das ist Ihre letzte Chance«, sagte Reingold. »Sobald ich
Ihnen die letzte Dosis verabreicht habe, werden Sie nicht mehr zu sich kommen - jedenfalls nicht, bevor Sie im Grab liegen.« Indy schluckte. »Vielleicht ließe sich eine Lösung finden«, schlug er vor. »Sprechen Sie weiter«, sagte Reingold. »Also gut«, erwiderte Indy rasch und versuchte, Zeit zu gewinnen. »Sagen wir, nur einmal angenommen, ich verrate Ihnen, wo sich Baldwins Tagebuch befindet.« »Ja?« »Woher weiß ich«, fuhr Indy fort, »dass Sie mich laufen lassen?« Reingold lachte. »Sie wissen es nicht«, meinte er. »Großartig«, sagte Indy. »Genug der Ausflüchte, Dr. Jones. Dies ist Ihre letzte Chance. Werden Sie mir jetzt verraten, wo ich das Tagebuch finde?« »Allerdings. Ich werde Ihnen sagen, wo Sie danach suchen können«, erwiderte Indy. »Sie können damit beginnen, indem Sie auf kürzestem Weg zur -« Indys Ausbruch wurde durch den Lappen auf seinem Mund unterbunden. »Übrigens«, säuselte sein Peiniger. »Mein Name ist Reingold. Ich dachte nur, es interessiert Sie vielleicht. Schade, dass Sie keine Gelegenheit haben werden, dieses Wissen mit jemandem zu teilen.« Zuerst glaubte Indy, er sei erblindet. Eine derartige, alles betäubende Dunkelheit hatte er sonst ausschließlich in Höhlen und anderen unterirdischen Orten erlebt. Oder in Träumen. Dann dachte er natürlich, der Albtraum sei zurückgekehrt. Wie üblich lag er in einer Art fest verschlossener Kiste, in der kaum Platz genug war, um die Schultern zu bewegen. Er konnte Stimmen hören sowie ein eintöniges Leiern,
das sich wie die Stimme eines Pfarrers anhörte, allerdings klangen seine Worte seltsam gedämpft. Das Merkwürdige war, dass ihn sein Kopf schmerzte. Außerdem war es kalt. Doch erst als er mit den Händen an der Innenseite des Deckels und den Seiten des Sarges entlang tastete und sich dabei einen Splitter in die Kuppe seines rechten Zeigefingers riss, dämmerte ihm, dass es sich nicht um einen Albtraum handelte. Man hatte ihn wahrhaftig bei lebendigem Leib begraben. Dann hörte er den Prediger ganz deutlich: »... Asche zu Asche und Staub zu Staub Eine Hand voll Erde rieselte mit der Sanftheit eines feinen Nieselregens auf den Sargdeckel herab. Indy versuchte zu schreien, doch seine Kehle war von der Narkose so ausgedörrt, dass er bis auf ein heiseres, schmerzhaftes Flüstern nichts zu Stande brachte. Er versuchte, mit den Fäusten gegen den Deckel zu trommeln, doch es gab nicht genügend Platz, um weit genug auszuholen. Falls jemand das sich daraus ergebende Geräusch hörte, so ließ er sich es nicht anmerken. Allmählich entfernten sich die Geräusche der Menschenmenge. Ein paar Minuten lang war es vollkommen still. Dann prasselte mit der Endgültigkeit eines Todesurteils die erste Schaufel Erde herab. Indy wand sich hin und her und krallte sich mit den Fingernägeln in den Deckel, doch auch das vermochte die darauf folgende Sturzflut aus Erde nicht zurückzuhalten. Er hörte, wie der Totengräber bei der Arbeit vor sich hin summte. Indy unterdrückte seine Panik. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, genügend Speichel für einen anhaltenden, lauten Schrei zu sammeln. »Hilfe!« Die Erdlawine brach ab. Indy konnte den Totengräber vor sich hin murmeln hören.
Die Schaufelspitze scharrte ein wenig Erde zur Seite und klopfte zwei Mal auf den Deckel. Indy erwiderte das Pochen. »Holen Sie mich hier raus«, flehte er heiser. »Ich will verdammt sein«, hörte er den Totengräber sagen, während der ins Grab hinunterkletterte. Auf Händen und Knien liegend, hielt er den Kopf dicht an den Sarg. »Leben Sie da drinnen etwa noch?« »Das will ich hoffen«, brachte Indy hervor. »Was soll denn das heißen?« »Das soll heißen, dass wir wohl kaum miteinander sprechen würden, wenn nicht«, gab Indy zurück. »Machen Sie schon, holen Sie mich hier raus.« Er vernahm eine Reihe anderer Stimmen, die den Totengräber ebenfalls bedrängten, ihn herauszuholen. Eine davon gehörte Zoe, die männliche dagegen konnte er nicht unterbringen. Ein paar Minuten darauf hatte der Totengräber den Sargdeckel aufgestemmt, und Indy kletterte hinaus auf die schneebedeckte Erde. Er legte sich mit dem Rücken in den Schnee und starrte auf den vom winterlichen Himmel eingerahmten Thule-Stein. Er trug noch immer seine roten langen Unterhosen. »Sie sind nicht mein Onkel«, meinte Zoe. Sie stand über ihm, die Arme verschränkt. Neben ihr stand ein Mann mittleren Alters in einem teuren Anzug. »Ich hätte nicht gedacht«, sagte Indy, »dass ich jemals so froh wäre, öffentlich in Unterwäsche gesehen zu werden.« Der Totengräber rieb sich den Nacken. Dann zog er die Halbliterflasche aus der Gesäßtasche seines Overalls, entkorkte sie und hielt sie zu einem Trinkspruch in die Höhe. »Jetzt habe ich alles gesehen«, verkündete er. Der Mann im Anzug reichte Indy die Hand. »Ich bin froh, dass ich noch geblieben bin, um mich auf meine Weise von Captain Baldwin zu verabschieden«, erklärte er.
»Nun, Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte Indy. »Er ist nicht zu Hause.« »Das habe ich bemerkt«, erwiderte der Mann. »Verzeihen Sie mein ungehobeltes Benehmen. Mein Name ist Lincoln Ellsworth.« »Amerikaner, Millionär und Arktisforscher«, sagte Indy. »Genau der«, bestätigte Ellsworth. »Und Sie müssen dieser berüchtigte Teufelskerl von einem Gelehrten sein, Indiana Jones. Eigentlich hatte ich sogar darauf gehofft, Sie hier zu treffen. Wenn ich auch gestehen muss, dass ich mit einem so dramatischen Auftritt nicht gerechnet habe.« Ellsworth zog seinen Mantel aus, legte ihn Indy um die Schultern und half ihm auf die Beine. »Danke«, sagte Indy. »Er ist auf dem besten Weg, sich hier in der Gegend einen Namen zu machen«, bemerkte Zoe. »Sie hätten sehen sollen, was er gestern Abend mit dem Kinosaal angestellt hat. Der Sheriff wird entzückt sein, wenn er hiervon erfährt.« »Sagen Sie«, meinte Ellsworth. »Dürfen wir annehmen, dass Captain Baldwins Leichnam verschwunden ist?« »Sie vermuten ganz richtig«, sagte Indy. »Das ist sein Sarg, in dem ich lag - das weiß ich, weil ich ihn selbst von Princeton hierher überführt habe - wo der alte Knabe sich gegenwärtig aufhält, weiß ich allerdings nicht. Man hat mich unter Drogen gesetzt, bevor ich im Beerdigungsinstitut in dieses Ding gelegt wurde.« »Glücklicherweise wurde die Beerdigung um zwei Stunden verschoben, da man mein Eintreffen abwarten wollte«, sagte Ellsworth, »sonst wären Sie mit sechs Fuß Erde über sich wieder zu sich gekommen. Aber wer wäre zu so etwas fähig?« »Dieselben Nazischurken, die versucht haben, Baldwins Tagebuch zu stehlen, seit ich New Jersey verlassen habe«, erklärte Indy. »Nazis in Kansas«, bemerkte Ellsworth. »Welch überaus seltsame Vorstellung.«
Indy wartete, dass Ellsworth fragte, weshalb sie hinter dem Tagebuch her wären. Als er es nicht tat, nahm er an, dass dieser die Antwort bereits kannte. Der Millionär streckte die Hand vor und legte sie ehrfurchtsvoll auf den Thule-Stein. »Dr. Jones«, sagte er. »Verzeihen Sie meine Taktlosigkeit, nach allem, was Sie durchgemacht haben, aber haben Sie das entziffern können?« »Streng genommen nicht«, musste Indy gestehen. »Lassen Sie mich Ihnen einen Hinweis geben«, sagte Ellsworth. »Der Stein erzählt die Geschichte von Ultima Thule, jenem legendären Land auf dem Dach der Welt, wo die Götter wohnen.« »Ein Märchen«, sagte Indy. »Eine Legende«, widersprach Ellsworth. »Und so manche Legende enthält einen Funken Wahrheit. Das erste Mal tauchte der Name bereits im Jahr 330 v. Chr. auf, als der Seefahrer Pytheas von Massalia den Auftrag erhielt, eine neue Handelsroute zu den Bernsteinmärkten in Nordeuropa zu suchen. Laut Pytheas, der den Ort entdeckte, nachdem er vom Kurs abgekommen war, lag Thule weit nördlich von Britannien - ein sonnenloses Land im Winter, wo unter Gletschern Vulkane ausbrachen, das Meer erstarrt war, und unter dem die Götter lebten. Der ehrwürdige Bede bezog den Namen auf Island, ich dagegen glaube, er befand sich im Irrtum »Das also hat Sie hierher geführt?«, fragte Indy, während er die Splitter aus seiner Handfläche entfernte. »Ich bin hergekommen, um Captain Baldwin die letzte Ehre zu erweisen«, versetzte Ellsworth empört. Dann fügte er etwas weniger abweisend hinzu: »Außerdem interessiere ich mich sehr für das Gebiet, in dem Baldwin 1902 verschollen war. Sie müssen wissen, dass es sich dabei um dasselbe Gebiet handelt, in dem mein Freund Roald Amundsen vor einigen Jahren während eines Motorfluges verschwand.«
»Amundsen befand sich auf einer Rettungsmission«, sagte Indy. »Das ist richtig«, erwiderte Ellsworth traurig. »Roald war sechsundfünfzig und hatte sich nach eigenem Bekunden bereits von der Polarforschung zurückgezogen. Wissen Sie, er hatte als Erster den Südpol erreicht und anschließend den Nordpol überflogen. Mir wurde das Privileg zuteil, ihn auf jener Expedition zu begleiten, und das war eine außerordentliche Erfahrung. 1928 unternahm er eine letzte Expedition aus der Luft, um nach seinem Kollegen Nobile und dem Luftschiff Italia zu suchen.« »Daran kann ich mich noch genau erinnern!«; rief der Totengräber und nahm einen weiteren kräftigen Schluck, während die anderen bemüht waren, ihn nicht zu beachten. »Nobile wurde schließlich noch lebend gefunden«, fuhr Ellsworth fort, »Amundsen jedoch - wie auch sein Wasserflugzeug und die prachtvolle Italia - blieben in der gefrorenen Ödnis unauffindbar.« Indy konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Dr. Jones«, sagte Ellsworth. »Befindet sich dexlapis exihs in Ihrem Besitz? Hat Baldwin den Stein Ihnen gegeben?« »Sie meinen dieses alte Ding hier?«, fragte Zoe. Sie griff in ihre Bluse und holte den trüben Kristall hervor. »Der Doktor sagte mir bereits, dass er nicht viel wert ist.« »Wertlos und dennoch unbezahlbar«, erklärte Ellsworth. »Wollen Sie ihn kaufen?«, fragte Zoe. Sie streifte den Riemen von ihrem Hals und hielt ihm den Stein hin. »Er ist unverkäuflich«, brummte Indy und nahm ihr den Stein aus der Hand. »He!«, protestierte sie. »Ich habe keinesfalls die Absicht, ihn käuflich zu erwerben«, erklärte Ellsworth. »So taktlos bin ich nicht. Mein Interesse liegt in der Verbindung dieses Steins mit Ultima Thule.«
»Dann wollen Sie den Stein also nicht kaufen?«, fragte Zoe. »Ich fürchte, nein, meine Liebe.« Zoe verdrehte die Augen. »Interessieren Sie sich vielleicht für etwas anderes, was ich besitze? Da wäre dieses Tagebuch -« »Zoe!«, fuhr Indy sie an. »Keine Sorge, Doc«, beruhigte sie ihn. »Es ist in Sicherheit. Ich habe es unter dem Vordersitz meines Autos versteckt.« »Und da liegt es immer noch?«, fragte Indy ungläubig. »Aber ja«, gab sie zurück. Dann fasste sie Ellsworth beim Arm. »Und falls Sie sich dafür auch nicht interessieren, könnte ich Ihnen vielleicht die Stadt zeigen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden sich ausgezeichnet amüsieren.« »Tut mir Leid«, erwiderte Ellsworth, während er sich mit einer eleganten Bewegung von ihr befreite. »So charmant Sie auch sind, ich fürchte, ich habe einfach keinerlei Bedarf an derlei Dingen an nichts dergleichen.« »Verraten Sie mir eins«, bat Indy, während er sich den Stein um den eigenen Hals band. »Wie kommt es, dass Sie so gut über Captain Baldwin und diese Geschichte von einem legendären Land im hohen Norden informiert sind?« »Nachdem sein Gönner ihn aufgegeben hatte, trat der gute Captain auf seiner Suche nach finanzieller Unterstützung an eine Reihe wohlhabender Männer heran«, sagte Ellsworth. »Er kam zu mir und behauptete, er sei im Besitz jenes Geheimnisses, das die Energie der Aurora Borealis, des Nordlichts, nutzbar machen und der Menschheit eine unerschöpfliche Energiequelle erschließen werde. Er weihte mich teilweise in die Geschichte ein, wie er 1902 in der Ödnis verscholl - gerade weit genug, wohlgemerkt, um mein Interesse zu wecken. Aber das klang damals einfach zu fantastisch, so dass ich es ablehnte, eine Expedition zu finanzieren. Ich dachte erst wieder daran, als mein Freund Amundsen in demselben Gebiet verschollen ist.«
Indys Zähne begannen zu klappern. »Mir ist eiskalt«, sagte er. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns an einen etwas wärmeren Ort begäben?« »Ich fürchte, ich muss aufbrechen«, meinte Ellsworth. »Geschäftliche Verpflichtungen, wissen Sie. Aber ich wäre sehr daran interessiert, zu verfolgen, wie Sie in dieser Angelegenheit weiter vorgehen.« Er holte eine Visitenkarte hervor und reichte sie Indy. »Bitte rufen Sie mich an, wann immer Sie wollen.« »Ich werde an Sie denken«, gab Indy zurück. Ellsworth wirkte unschlüssig. »Äh, Dr. Jones - es ist mir ein wenig unangenehm, aber könnte ich meinen Mantel wiederhaben?« Zoe setzte Indy in einer Gasse hinter dem Hotel ab. »Warten Sie«, sagte sie und gab ihm das Tagebuch. »Danke«, sagte Indy. »Bis dann, Doc«, meinte Zoe. »Viel Glück.« Indy schlüpfte durch den Lieferanteneingang ins Hotel. Ein leicht überraschtes Zimmermädchen ließ ihn wieder in sein Zimmer. Nach einem heißen Bad und nachdem er frische Sachen angezogen hatte, packte er seine Taschen und ging nach unten zum Empfang. »Dr. Jones«, sagte der Portier. »Ich bin überrascht, Sie noch hier zu sehen.« »Nicht so überrascht wie ich«, erwiderte Indy. »Hören Sie, ich habe heute früh meinen Zug nach New Mexico verpasst. Könnten Sie beim Bahnhof anrufen und sich erkundigen, wann der nächste geht?« »Selbstverständlich«, antwortete der Portier. »Es wird mir eine Freude sein, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Haben Sie irgendwelche besonderen Wünsche?« »Bahngesellschaft und Unterbringung sind mir vollkommen gleich. Im Übrigen genügt mir irgendein Ort im Südwesten von
New Mexico. Wenn es sein muss, fahre ich sogar auf einem Viehwaggon mit.«
»Das werden Sie womöglich müssen.« »Danke«, meinte Indy. »Was bin ich Ihnen für das Zimmer schuldig?« »Inklusive der Schäden?«, wollte der Portier wissen. »Das war ja wohl nicht meine Schuld.« »Stimmt, aber das Fenster und die zertrümmerten Möbel gehen auf Ihre Kappe.« Indy seufzte. Er zog seine Brieftasche und blätterte drei Zwanzigdollarscheine hin. Der Portier gab ein tiefes, kehliges Stöhnen von sich. Indy fügte dem Häuflein einen weiteren Schein hinzu. »Ah«, machte der Portier und strich das Geld ein. Indy betrachtete den Inhalt seiner Brieftasche. Er besaß kaum noch genügend Geld, um sich ein Mittagessen zu bestellen und seine Fahrkarte nach New Mexico zu bezahlen, und er hatte keine klare Vorstellung, wovon er seine Rückreise bezahlen sollte. Es widerstrebte ihm, Marcus Brody telegrafisch um Geld zu bitten. Offenbar wandte er sich stets an Brody, wenn der ihn aus irgendeiner Klemme holen sollte. »Das abenteuerliche Leben ist kostspielig.« Er seufzte. »Wie war das bitte?«, fragte die Kellnerin, als sie seine Tasse nachfüllte. Sie schien gerade erst die High School verlassen zu haben. Ihr braunes Haar war zu einem festen Knoten zurückgebunden, und ihre blauen Augen funkelten, sobald sie ihn ansah. »Entschuldigung«, meinte Indy. »Ich habe nur mit mir selbst gesprochen. Was ist Ihr billigstes Mittagsmenü?« »Das dürften Eier mit Schinken sein.« »Das ist ein Frühstück«, sagte Indy. »Aber billig«, entgegnete sie. Indy nickte. Während er auf sein Essen wartete, nahm er Baldwins Tagebuch heraus. Er überflog es, bis er die Stelle gefunden hatte, wo er am Tag zuvor abgebrochen hatte. Im letzten Eintrag, den er gelesen hatte, saßen Baldwin und seine Männer fest, den sicheren Tod vor Augen, denn das Versorgungs-
schiff war nicht bis zu ihrem Basislager durchgekommen. Also war Baldwin an Bord der Pluto aufgebrochen, um Hilfe zu holen. 28. Juni 1902: Das Wetter ist erbärmlich, die Seerau. Richtungsangaben des Kompasses sind so weit nördlich nahezu nutzlos, und vom Himmel war nicht genug zu sehen, um unsere Position zu bestimmen. Ich habe auf Grund von Schätzungen Kurs auf Ellesmere Island genommen, doch das sind nichts weiter als Vermutungen. Die Rationen gehen zur Neige. Ein heftiges Unwetter braut sich zusammen. 28. Juni Nachtrag: Der Sturm hat uns erreicht, und die Pluto hat entsetzliche Schäden erlitten. Der Mast ist abgerissen worden, und wir sind leck geschlagen. Zwei der Männer wurden über Bord gespült, so dass wir alle vier gezwungen sind, Wasser zu schöpfen - und zu beten. Reynolds, fürchte ich, hat den Verstand verloren. 29. Juni 1902: Verschollen auf hoher See. Wir haben unser kleines Boot nach bestem Vermögen zusammengeflickt, jetzt liegt unser Los zur Gänze in der Hand des Schicksals. Wir lassen uns mit der Strömung treiben. Reynolds, der arme Teufel, hat sich in einen sabbernden Idioten verwandelt. Wir waren gezwungen, ihn an Händen und Füßen zu fesseln, um zu verhindern, dass er sich selbst oder uns anderen Schaden zufügt. 1. Juli 1902: Eigenartigerweise hat die Strömungsgeschwindigkeit zugenommen. Wir haben eine Reihe von Eisfeldern passiert. Der Himmel hingegen ist noch immer nicht ausreichend aufgeklart, um unsere Position bestimmen zu können. Reynolds hat seine Fesseln durchgenagt, ist über Bord gegangen und hat sich ertränkt, bevor wir seine Befreiung bemerkt haben. Möge Gott seiner Seele gnädig sein.
2. Juli 1902: Wir treiben mit einem Tempo in der Meeresströmung, das man geradezu als flott bezeichnen könnte, und stoßen immer häufiger auf Eis. Wir konnten unsere Nahrung mit ein wenig Fisch anreichern. Außerdem bekommen wir ab und zu ein, zwei Vögel zu Gesicht - möglicherweise Seemöwen - was in diesem Klima ausgesprochen ungewöhnlich ist. Bestimmt sichten wir bald Land, vorausgesetzt, unsere winzige Pluto hält durch. 3. Juli 1902: Wir treiben noch immer mit der Strömung. Am Horizont ist ein dunkler, verschwommener Streifen zu erkennen womöglich Festland oder eine Wolkenbank. Ohne direktes Sonnenlicht ist das unmöglich zu unterscheiden. Das Klima ist überraschend mild, auch wenn uns nach wie vor eine dichte Wolkenschicht den Blick auf den Himmel verwehrt. 4. Juli 1902: Unabhängigkeitstag. Wir nähern uns Land. Die eigenartige Strömung spült uns in eine von Vulkanfelsen geschützte Bucht. Es handelt sich um einen mir unbekannten Küstenstrich. Dies ist weder Ellesmere Island noch Franz-JosephLand. Man fühlt sich an die Felsenküste Islands erinnert, allerdings können wir in so kurzer Zeit unmöglich so weit vorangekommen sein. Und im Gegensatz zu den eigentlichen Polarregionen, die nichts weiter sind als gewaltige, auf einer nahezu gefrorenen See dahintreibende Eismassen, ist die Küste, die wir jetzt vor Augen haben, fest mit der Erdkruste verbunden. Könnte dies der Pol sein? Oder gar ein bislang unentdeckter wage ich, es auszusprechen - Kontinent! Bald werden wir Gelegenheit haben, diesen rätselhaften Landstrich aus der Nähe zu erkunden. Wir treiben unerbittlich auf die trügerisch aussehenden Felsen zu, von denen die Bucht umgeben ist. 5. Juli 1902: Unser Boot ist auf den Felsen zertrümmert worden, was den Verlust der gesamten Besatzung zur Folge hat-
te - bis auf mich. Wollte Gott, dass es nicht so wäre und ich stattdessen zusammen mit meiner Mannschaft umgekommen wäre. Das Schicksal jedoch war der Ansicht, dass ich noch ein wenig länger leiden müsste. Ich sitze abgeschnitten von der Außenwelt auf einem tristen, felsigen und unbekannten Gestade fest, das nichts gleicht, was mir in der Arktis je begegnet ist. Ich konnte aus dem Wrack ein Gewehr, eine halb volle Schachtel Patronen, einige Kleidungsstücke und ein Messer bergen. Mir bleibt keine andere Wahl, als diese öde Küste zu verlassen und mich auf der Suche nach etwas Essbarem landeinwärts durchzuschlagen. Ein Fluss mündet in die Bucht - beziehungsweise fließt, wie ich richtigerweise sagen sollte, von der Bucht aus landeinwärts - und wird mir, wie den Forschern aus alter Zeit, als Weg dienen. Nachtrag: Erster Beweis, dass ich nicht der Erste bin, der dieses Land betritt. Ich bin auf ein vergilbtes menschliches Skelett gestoßen, das zusammengesunken an einem eigentümlichen steinernen Obelisk lag. Dem Schild und der Axt, die unmittelbar neben den Überresten liegen, entnehme ich, dass dieser Forscher aus alter Zeit Wikinger war. An seinem Knochenhals fand ich, an einem verrotteten Stück Kordel hängend, einen Kristall aus Islandspat mit Doppelspitze. Ich habe diesen merkwürdigen Gegenstand an mich genommen. Der Obelisk selbst ist annähernd einen Meter hoch und trägt neben einer Beschreibung jenes mythischen Landes namens Thule in Runenschrift eine Warnung auf Altenglisch: Ich bin alle Farben und doch keine. Schließe mich verkehrt zum Kreis, und dein Schicksal ist besiegelt. Ich habe keine Ahnung, was diese Warnung bedeutet, aber könnte die Beschreibung Thules ein Anzeichen dafür sein, dass ich mich in einem entlegenen Teil Islands befinde? Ungeachtet der abergläubischen Vorstellungen der Wikinger, bleibt mir kaum eine andere Wahl, als meinen Weg landeinwärts fortzusetzen.
6. Juli 1902: Ein erster Erfolg! Habe heute einen Eisbären geschossen und blutige Stücke seines Fleisches roh verschlungen. Obwohl ich über Feuerzeug verfüge, gab es keinerlei Brennmaterial, um ein Feuer zu entzünden. Noch nie hat Beefsteak so gut geschmeckt. Man sagt, der Verzehr von Eisbärenfleisch sei für den zivilisierten Menschen gefährlich, aber ich ziehe das Risiko zu erkranken dem Verhungern vor. Das Erlegen des Bären hat allerdings noch mehr bewirkt, als nur meinen Magen zu füllen: Es hat meinen Verdacht bestätigt, dass ich nicht in Island, sondern irgendwo im hohen Norden gestrandet bin. 9. Juli 1902: Der Himmel ist aufgeklart, mit dramatischen Auswirkungen. Unvermittelt ist die Aurora Borealis mit allem Glanz eines Feuerwerks sichtbar geworden. Die Sterne sind deutlich zu erkennen, doch leider sind die für die Bestimmung meiner Position erforderlichen Geräte (der Sextant und die Sternenkarten) beim Schiffbruch der Pluto verloren gegangen. Als einziger Anhaltspunkt steht mir der Polarstern zur Verfügung, um den sich der übrige Himmel dreht. Ohne meine schmerzenden Glieder und die Blasen an meinen Händen würde ich ernsthaft glauben, aus dem Land der Lebenden geschieden zu sein. Wie ist es möglich, dass hier die Naturgesetze aufgehoben sind? Der rätselhafte Fluss fließt weiterhin landeinwärts durch die Höllenlandschaft und bringt mich dem auffälligsten Vulkan am Horizont immer näher, dessen Gipfel ein mattroter Glanz umgibt. Zu meinem Erstaunen habe ich herausgefunden, dass der Kristall, den ich meinem nordischen Vorgänger abgenommen habe, seltsam zu leuchten beginnt, wenn ich ihn in die Richtung des Gipfels halte. Die Kellnerin brachte Indy das Essen. Er bedankte sich, aß ein paar Bissen und schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien, und der Schnee verwandelte sich ganz allmählich in Matsch. Indy hörte das Kläffen von Hunden. Vor dem Theater
war Professor Rand damit beschäftigt, seine Künstler für die Fahrt zu ihrem nächsten Auftritt in den Bus zu scheuchen. Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Cafe, durchpflügte ein schwarzer Pontiac Matsch und Schnee und hielt vor der Bank. Als zwei Männer in dunklen Anzügen ausstiegen, fiel Indy auf, dass der Größere einen Mantel über seinen linken Arm gelegt hatte. Indy musste schmunzeln. Der große Mann fluchte, weil er in ein Loch getreten war und sich seine Schuhe mit Eiswasser gefüllt hatten. 15. Juli 1902: Entweder habe ich den Verstand verloren, oder ich werde Zeuge eines der größten Wunder der Natur. So unwahrscheinlich es klingt, jetzt scheint der Fluss bergauf zu fließen, auf den rauchenden Gipfel zu. Darüber hinaus hat es den Anschein, als würde die Aurora Borealis aus dem Himmel gesogen, ein glitzernder Himmelstrom, der ebenfalls im Trichter verschwindet. Was mag dieser erstaunliche Zustrom nur zu bedeuten haben? 17. Juli 1902: Nachdem ich den größten Teil der letzten achtundvierzig Stunden mit Klettern verbracht habe, fühle ich mich erschöpft und am ganzen Körper wie zerschlagen, dennoch habe ich den Gipfel fast erreicht. Der Wikingerkristall erstrahlt geradezu unter dem Einfluss irgendeiner Energie. Ich bin überzeugt, dass ich an diesem gottverlassenen und wunderschönen Ort zu Grunde gehen werde, doch meine Neugier treibt mich weiter. Ich will im Glanz dieser himmlischen Kaskade baden, bevor ich sterbe. 19. Juli: Das Dach der Welt. Innerhalb des Trichters befindet sich ein Mahlstrom aus umherwirbelndem Wasser und atmosphärischer Energie, der in das Innere der Erde führt. Blitze zucken und knistern in diesem Gewitter wie die Funken eines gewaltigen Feuerrads. Und was am erstaunlichsten ist, ein von Menschenhand geschaffener Pfad scheint hinab ins Zentrum des Mahlstroms zu führen.
»Ich würde zu gern wissen, was sich drüben auf der anderen Straßenseite abspielt«, meinte die Kellnerin. Sie hatte die Linke in die Hüfte gestemmt, und in der Rechten hielt sie eine dampfende Kaffeekanne. Indy sah widerwillig von der Lektüre des Tagebuchs auf. »Wie bitte?« »Vor der Bank«, meinte sie. »Der Kerl benimmt sich äußerst merkwürdig.« Indy sah über die Straße. Der größere der beiden Männer, die er aus dem Pontiac hatte aussteigen sehen, stand nervös auf der obersten Stufe der Bank, den Mantel noch immer über dem Arm. Ein Stück die Straße hinunter machte ein Streifenpolizist seine Runde. »Keine Ahnung«, erwiderte Indy. »Vielleicht rauben sie sie gerade aus«, meinte die Kellnerin im Scherz. »Ich hätte nichts dagegen, solange sie mir ein bisschen von dem Geld abgeben. Sagen Sie mal, junger Mann, ist irgendwas mit Ihrem Essen nicht in Ordnung?« »Wie bitte?« »Mit Ihrem Essen«, wiederholte die Bedienung. »Sie haben es kaum angerührt. Stimmt was nicht damit?« »Nein, nein«, versuchte Indy sie zu beschwichtigen. »Es ist ausgezeichnet.« »Wie wär's mit etwas Kaffee?«, fragte sie. »Soll ich nachschenken?« »Ja, gern«, sagte Indy in Gedanken. Meine Kräfte lassen nach, aber ich werde versuchen weiterzugehen. Welche Ironie, dass die wissenschaftliche Entdeckung des Jahrhunderts mit meinem Tod verloren gehen könnte. Der Lärm von Gewehrfeuer machte Indys Lektüre ein abruptes Ende. Der große Mann stand auf der obersten Stufe der Bank und hatte den Mantel zurückgeschlagen, unter dem ein ThompsonMaschinengewehr mit Trommelmagazin
zum Vorschein kam. Sein Begleiter war soeben aus der Bank gekommen, eine Tüte mit Bargeld in der einen und einen rauchenden Revolver in der anderen Hand. Die Kellnerin ließ die Kaffeekanne auf Indys Bein fallen. »Das ist heiß!«, rief Indy und stieß sich vom Tisch ab. »Ach du meine Güte«, kreischte die Bedienung. »Das ist Wilbur Underhill!« Der Streifenpolizist verkroch sich unter der Hinterachse eines Farmlastwagens. Der größere der beiden Gangster richtete das Thompson auf den Lastwagen, und das Gewehr begann zu rattern. Das Fahrzeug schwankte hin und her, als wäre es eine Art mechanisches, Glas und Chrom abschüttelndes Lebewesen. Eine Kugel prallte wie ein Stein vom Pflaster unter dem Lastwagen ab, wurde von einer Straßenlaterne abgelenkt und zertrümmerte das Fenster des Cafes. Eine große, spitze Scherbe blieb einen Augenblick am Oberrand des Fensterrahmens hängen, und fiel dann wie in Zeitlupe herunter. Indy konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf abwenden, um einer Enthauptung zu entgehen, jedoch nicht rasch genug, um zu verhindern, dass sein linkes Ohrläppchen angeritzt wurde. »Wer ist Wilbur Underhill?«, fragte er, während er die Kellnerin zu sich unter den Tisch zog. »Bloß der berüchtigtste Bankräuber aller Zeiten«, antwortete sie. »Wie kommt es dann, dass ich noch nie von ihm gehört habe?«, wollte Indy wissen. Er befühlte sein Ohr mit den Fingern und vergewisserte sich, dass es noch vorhanden und im Wesentlichen unversehrt war. »Sie sind nicht von hier, was?« Indy langte nach oben, um das Tagebuch vom Tisch zu ziehen, als eine verirrte Kugel den Serviettenspender durchbohrte, gefolgt von einem zweiten Querschläger, der mit einem kreissägeähnlichen Sirren in das Cafe geflogen kam und einen Stapel großer Teller auf dem hinteren Büffet zertrümmerte.
»Die Leute nennen ihn den Schrecken dreier Staaten.« »Offenbar wegen seiner Treffsicherheit«, meinte Indy, während er das Blut an seinen Fingerspitzen begutachtete. »Das ist aufregend, nicht?«, meinte sie. Bevor Indy etwas erwidern konnte, packte sie ihn am Revers seiner Jacke und küsste ihn voll auf die Lippen. Seine Augen traten überrascht hervor, und für einen Augenblick vergaß er das umherfliegende Blei über ihren Köpfen. Indy wich zurück und wischte sich den Lippenstift mit dem Ärmelaufschlag ab... »Sie kommen nicht viel unter Leute, oder?«, fragte er. Von draußen hörte man ein ohrenbetäubendes Krachen. Die Gangster hatten es bis zu ihrem Pontiac geschafft, waren bei ihrer überhasteten Flucht aber mit dem Bus zusammengestoßen, der Professor Rands Hundeshow und -zirkus, direkt aus Harlem und nur für einen einzigen Abend, beförderte. Der Bus hatte sich auf die Seite gelegt. Die vorderen Kotflügel des Pontiac waren so schlimm eingedrückt, dass sich die Vorderräder nicht drehen ließen. Der Gangster mit dem Revolver war über dem Lenkrad zusammengebrochen. Die Hupe des Pontiac lärmte. Professor Rand, verdattert, aber unverletzt, kletterte durch die zersplitterte Windschutzscheibe des Busses. Der große Mann mit dem Maschinengewehr trat die Beifahrertür des Pontiac auf und betrachtete den umgestürzten Bus voller Wut. Innen jaulten die verängstigten Hunde. »Sieh her, was ich von deinen dämlichen Kötern halte«, rief der Gangster. Er legte das Thompson an die Schulter und nahm den Bus aufs Korn. »Oh, nein«, rief die Kellnerin. »Jetzt erschießt er noch die Hunde.« »Mund halten«, brüllte der Gangster. Der Professor verbarg das Gesicht in den Händen. Man vernahm ein folgenloses Klicken, als der Gangster auf den Abzug drückte. Die Waffe hatte einen Aussetzer.
»Jetzt reicht's«, sagte Indy, kletterte unter dem Tisch hervor und sprang durch den leeren Fensterrahmen aufs Trottoir. »Oha«, machte die Kellnerin. Der Gangster betrachtete ungläubig das Thompson mit der Ladehemmung, während Indy mit großen Schritten die Straße überquerte und sich dabei die Glasscherben von den Kleidern bürstete. »Sind Sie 'n Bulle?«, fragte der Gangster. »Schlimmer«, gab Indy zurück. »Ich bin Hundeliebhaber.« Der Gangster packte das Gewehr am Lauf und schwang es wie einen Baseballschläger. Geschickt packte Indy das Thompson und riss es ihm aus der Hand. »Sie könnten jemanden damit verletzen«, bemerkte er dazu. Dann ließ er das Gewehr fallen und schlug den Gangster mit seinem besten Schwinger mitten aufs Kinn. Der Gangster fiel der Länge nach rücklings aufs Pflaster, bewusstlos. Die Kellnerin spendete vom Cafe aus Beifall. Dann kam sie herausgelaufen und musterte den Gangster von hinter Indys Schulter. »Das ist nicht Willbur Underhill«, meinte sie. »Ich hab's die ganze. Zeit gewusst. Willbur würde niemals ein Tier umbringen wollen, wissen Sie. Nur Leute.« »Ein wahrer Menschenfreund«, meinte Indy. »Aber wer ist dann dieser Kerl hier?« »Ach, das ist bloß Willburs Vetter. Wally Underhill.« Der Polizist, der sich unter dem Farmlastwagen versteckt hatte, war inzwischen hervorgekrochen und legte dem bewusstlosen Gangster, der hinter dem Lenkrad des Pontiac gesessen hatte, Handschellen an. Professor Rand hatte die Hunde aus dem Bus befreit und hockte, von ihnen umringt, mitten auf der Straße. »Sieht aus, als wäre es noch mal gut gegangen«, meinte die Kellnerin, als sie und Indy zum Cafe zurückgingen.
»Nicht ganz«, meinte Indy, als er den Tisch absuchte, an dem er gesessen hatte, als der Ärger losging. Baldwins Tagebuch war verschwunden.
KAPITEL VIER Das Gold der Apachen
Das Guadelupe-Gebirge An der Grenze zwischen New Mexico und Texas Im Zwielicht kurz vor dem Morgengrauen, unweit der am höchsten gelegenen Stelle des Guadelupe-Passes, kam der alte Bus ächzend vor dem Pine Springs Cafe zum Stehen. Die Tür wurde aufgestoßen. Der Fahrer, der die letzten siebzig Meilen unverbindlich vor sich hin gebrummelt hatte, während Indy um eine Unterhaltung bemüht gewesen war, gab das einzige Wort von sich, das ihm bislang unaufgefordert über die Lippen gekommen war. »Aussteigen.« Indy suchte seine Sachen zusammen und kletterte aus dem Bus, dann wandte er sich herum und tippte mit dem Finger gegen die Krempe seines Hutes. »War nett, mit Ihnen zu plaudern«, meinte er. »Ihr aus dem Osten redet zu viel«, erwiderte der Fahrer. Dann schloss er die Tür, und der Bus setzte sich erneut in Bewegung und holperte weiter über dieselbe ausgefahrene Spur, die schon die alte Butterfield-Postkutsche benutzt hatte, damals, vor dem Bürgerkrieg. Indys Füße schmerzten noch immer von seiner spätabendlichen Verfolgungsjagd, aber wenigstens hatte sein Ohr zu bluten aufgehört. Er schulterte sein Bündel und betrachtete das Cafe. Nach seinem rissigen Anstrich und dem
allgemein betagten Eindruck zu urteilen, mochte das Gebäude als einer der ursprünglichen Haltepunkte der Butterfield-Linie gedient haben. Das Fliegengitter vor der Tür gab beim Öffnen ein Geräusch wie eine sterbende Katze von sich. Unschlüssig, ob das Lokal geöffnet hatte, spähte Indy in die Dunkelheit drinnen. »Stehen Sie nicht einfach da wie ein Idiot«, blaffte eine Frau von innen. »Sonst lassen Sie noch die Biester rein.« »Verzeihung«, sagte Indy und schloss rasch hinter sich die Tür. »Ich wusste nicht, dass Sie hier Ärger mit Insekten haben.« »Du lieber Himmel, ich rede nicht von Ungeziefer«, meinte die Frau. »Ich meinte die Klapperschlangen. Wir haben hier oben ein paar verdammt große. Die Herpetologen behaupten, so was gäbe es nicht, aber ich habe mit eigenen Augen welche gesehen, die waren zehn und zwölf Fuß lang. Im Allgemeinen halten sie um diese Jahreszeit ihren Winterschlaf, allerdings kriechen sie gerne auf alles Warme drauf.« »Ich werde es mir merken«, gelobte Indy. Die Frau riss ein Streichholz an und zündete die Kerosinlampe auf der Theke an, dann stülpte sie den rußverschmierten Zylinder wieder darüber und drehte den Docht hoch. Im Schein des warmen Lichts wurde eine üppige Frau in den Fünfzigern sichtbar. »Sie sind früh auf den Beinen«, meinte sie. »Wollen Sie frühstücken?« Indy nickte. »Und ob Sie wollen«, meinte die Frau. »Hier essen Sie am besten in ganz Pine Springs. Ist übrigens auch der einzige Laden in Pine Springs.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und reichte ihm die Hand. »Mein Name ist Bertha. Und Ihrer, junger Mann?« »Jones.« »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Jones«, sagte Bertha.
»Was darf's denn sein? Wir hätten Eier, Eier und nochmals Eier.« »Rührei wäre gerade recht«, sagte Indy. »Was führt Sie hierher, mitten ins Nichts, Jones?« Bertha schenkte Indy eine Tasse Kaffee ein, bevor er darum bitten konnte, und ging anschließend daran, Eier in eine Schüssel zu schlagen. »Nun, ich -« »Hoffentlich sind Sie nicht einer von diesen Schatzsuchern, die hier immer wieder mal vorbeikommen. Diese Trottel. Wissen Sie, Geronimo hat gesagt, dass alles Gold, das die Apachen jemals besessen haben, aus diesen Bergen hier stammt - dabei habe ich noch kein einziges Nugget zu Gesicht bekommen.« »Genau genommen bin ich Archäologe.« »Das ist gut«, meinte sie. »Für Dummköpfe hab ich nicht viel übrig, und das genau sind diese Narren.« Sie gab noch ein wenig Milch und Zucker hinzu, dann ging sie daran, die Eier mit einem Besen zu schlagen. »Sie gehören bestimmt zu dieser Hobbyhöhlenforscherin aus Dänemark, die hier vor ein paar Tagen durchgekommen ist. Wie war gleich ihr Name? Klang irgendwie seltsam. Tornado oder so ähnlich.« »Ich bin allein.« Bertha schüttete die Eier in eine wartende Bratpfanne. Wasser, das vom Rand der Schüssel getropft war, spritzte und knackte im heißen Fett. »Eigentlich war sie ganz freundlich«, meinte Bertha. »Aber kalt, wissen Sie? Wie ein Mann. Was halten Sie von ihr?« »Kann ich wirklich nicht sagen. Ich kenne sie ja gar nicht.« »Na ja, wer will schon so einen kalten Fisch wie sie kennen?« Das Fliegengitter kreischte abermals. Ein Hilfssheriff betrat den Raum und nahm zwei Plätze von Indy entfernt auf
einem Hocker Platz. Der Hilfssheriff nahm seinen Cowboyhut ab, strich sein Haar mit der Hand glatt und legte den Hut auf den Hocker zwischen sich und Indy. »Frühstück?«, fragte Bertha. »Nein«, erwiderte der Hilfssheriff und rieb sich die Augen. »Nur Kaffee.« »Buster, du siehst fertig aus. Haben sie dich wieder die ganze Nacht auf Trab gehalten?« »Gestern Abend habe ich wieder einen gefunden«, antwortete Buster. »Westlich von hier, am Rand der Salzebene.« »Machst du Witze?«, fragte Bertha. »Schön war's«, erwiderte Buster. Bertha schenkte Kaffee ein, dann stützte sie ihre Ellbogen auf die Theke und beugte sich zum Hilfssheriff. »Hat man auch den Kopf gefunden?«, wollte sie wissen. »Nein.« »Genau wie bei all den anderen«, sagte Bertha ehrfurchtsvoll. Sie ging zu einer leeren Stelle unter dem Kalender an der Wand, nahm den Bleistiftstummel hinter ihrem Ohr hervor und fügte den dort bereits vorhandenen Strichen einen weiteren hinzu sowie das Datum. Indy kratzte sich am Kinn. »Hören Sie, Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mich einmische«, sagte er. »Aber was genau hat man gestern Abend gefunden?« »Eine Leiche«, antwortete der Hilfssheriff. »Die siebente in den fünf Jahren, seit Bertha mitzählt. Wir wissen weder, wer diese Leute sind, noch haben wir auch nur einen einzigen ihrer Schädel gefunden.« »Aber ihr wisst, wer dahinter steckt«, sagte Bertha. »Nein, das wissen wir nicht«, beeilte sich der Hilfssheriff hinzuzufügen. »Ach, natürlich wissen sie das«, erwiderte Bertha, an Indy gewandt. »Sie sind bloß zu dickschädelig es zuzugeben, weil sie nicht damit zurande kommen.«
»Womit nicht zurande kommen?«, hakte Indy nach. »Mit der Rache von John Seven Oaks«, sagte Bertha. »Beziehungsweise seinem Geist.« »Sei doch still«, meinte der Sheriff. »Sonst löst du noch eine Panik aus.« »Wie viele Menschen leben in Pine Springs, Buster?«, fragte sie. »Dreißig? Das ist keine Panik- das ist Besorgnis.« Der Hilfssheriff schüttelte den Kopf. Indy nippte an seinem Kaffee. »Erzählen Sie mir davon«, forderte Indy sie auf. »Worauf Sie Gift nehmen können«, sagte Bertha. »Alles fing damit an, dass man ein Baby -« »Moment, jetzt warte mal.« Buster hob eine Hand. »Für einen Fremden scheinen Sie sich ungemein für dieses grauenhafte Zeug zu interessieren. Wer sind Sie überhaupt?« »Mein Interesse ist rein akademischer Natur«, sagte Indy. »Ich unterrichte in Princeton. Jones ist mein Name.« Widerstrebend schüttelte Buster die ihm dargebotene Hand. »Princeton, ja? Sie sehen nicht gerade aus wie ein Universitätsprofessor. Ich hatte einen Bruder, der ein paar Semester lang das staatliche Lehrerkolleg oben in Kansas besucht hat. Er trug immer diese schäbige Waschbärenfelljacke.« »Das war damals der letzte Schrei.« »Im Ernst, Dr. Jones«, sagte der Hilfssheriff. »Ich hoffe, Sie messen dem, was Bertha zu erzählen hat, nicht allzu viel Bedeutung bei. Sie ist bei uns so was wie Klatschbase und Beichtmutter in einer Person.« Bertha tat seine Bemerkung mit einer verächtlichen Handbewegung ab. Sie drehte sich um, rührte in den Eiern und füllte Indys Kaffeetasse nach. »John Seven Oaks wurde ausgesetzt, als er noch ein Baby war«, erzählte sie. »Man fand ihn im Toilettenhäuschen, gleich hinter dem Cafe hier, das ist jetzt beinahe zwanzig Jahre her. Kein Mensch wusste, woher er stammte oder wie sein richtiger Name lautete. Unten in der Nähe von Juniper
Springs lebte damals ein altes Apachenehepaar, Juan und Martha Seven Oaks. Viele Jahre lang hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen, und irgendwann waren sie einfach zu alt und gaben es auf. Sie betrachteten den Fund des Kindes als ein Wunder und erklärten sich bereit, es bei sich aufzunehmen.« »Und gaben ihm den Namen John«, sagte Indy. »Die Seven Oaks waren ein etwas rätselhaftes Ehepaar«, sagte sie. »Sehr traditionell lebende Apachen. Sie kümmerten sich um ihren eigenen Kram und erwarteten, dass es die anderen ebenso machten.« »Hört sich nach guten Nachbarn an«, warf Indy ein. »Das müssen sie wohl auch gewesen sein«, sagte sie. »Nur behaupteten ein paar Leute, der alte Mann sei ein brujo, ein Zauberer oder eine Art Medizinmann, und dass er sich in eine Schlange verwandeln könne.« »Wieso überrascht mich das nicht?«, fragte Indy. »Sollte es aber«, meinte Bertha. »Diese Apachen haben etwas an sich, das wir nie begreifen werden.« »Und was wurde aus John?« »Er war ein wundervolles Kind. Er liebte seine Stiefeltern und fühlte sich in den Bergen ganz wie zu Hause. Mit Tieren schien er sich besonders gut zu verstehen. Stimmt das nicht, Buster?« »Das war vor meiner Zeit«, entgegnete Buster. »Aber das erzählt man sich.« »Nun, jedenfalls war die Seven-Oaks-Familie rundum glücklich«, fuhr Bertha fort. »Bis sich eines Tages, als John neun Jahre alt war, zwei Reiter dem Gehöft näherten. Es waren Cowboys einer nahen Ranch, und sie waren betrunken. Sie verlangten Whiskey, und als der alte Juan ihnen erklärte, dass er keinen habe, hat ihn einer der Cowboys erschossen - einfach so, genauso gedankenlos, wie Sie oder ich eine Schlange töten würden. Als Maria aus dem Haus kam und sah, was sie getan hatten, erschossen sie sie ebenfalls. Anschließend brannten sie die Hütte nieder.«
»Wer waren diese beiden Cowboys?«, fragte Indy. »Ihre Namen waren Jake und Jesse Cruz«, sagte der Hilfssheriff. »Sie waren Brüder.« »Was wurde aus John Seven Oaks? »Hier wird die Geschichte unheimlich«, sagte Bertha. »Obwohl alle überzeugt waren, dass man ihn ebenfalls ermordet und ins Feuer geworfen haben müsse, hat man seine Leiche nie gefunden.« »Erzählen Sie mir etwas über die Kugel im Hals. Und über das Kreuz.« »Richtig«, sagte sie. »Einer der beiden Cowboys erzählte seinem Kojennachbarn von dem Mord und behauptete, der andere habe den kleinen John in den Hals geschossen, als der auf sie losging, nachdem er gesehen hatte, was sie seinen Eltern angetan hatten. Er erzählte, sie hätten John in der Annahme, er sei tot, liegen gelassen.« »Und das Kreuz?«, fragte Indy. »Monate bevor diese schreckliche Geschichte passierte, hatte der Vater seinem Adoptivsohn ein kleines Kreuz aus Zedernholz geschnitzt. John trug es bei jeder Gelegenheit, also auch an dem Tag, als seine Eltern ermordet wurden.« Indy nickte. »Der Sheriff untersuchte den Mord an den Seven Oaks«, erzählte der Hilfssheriff. »Es gab zwar Gerede, die Brüder Cruz hätten etwas mit der Geschichte zu tun, man hatte aber einfach nicht genügend Beweismaterial, um Anklage zu erheben. Nur auf Grund von Klatsch kann man nicht vor Gericht gehen, wissen Sie.« »Ich werde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter der Geschichte steckt.« »Stimmt«, meinte Bertha. »Drei oder vier Jahre, nachdem das passierte, fand man die Leichen der Brüder Cruz in der Wüste. Ihre Köpfe fehlten.« Sie drehte sich um, tat die Eier auf und warf etwas Toast und ein paar Kartoffeln auf den Teller. »Man fand ihre völlig verschrumpelten und scheußlich
zugerichteten Leichen unten in der Nähe von Juniper Springs auf ein paar Zaunpfähle aufgespießt«, erzählte sie. Sie setzte Indy den Teller vor. »Wollen Sie etwas Ketschup, dazu?« »Lieber nicht«, sagte Indy. »Ab und zu schneit jemand herein und behauptet, er hätte einen nackten Wilden in den Bergen herumirren sehen«, meinte Bertha. »Das muss John Seven Oaks sein.« »Warum sind Sie so sicher?«, fragte Indy. »Weil er ein kleines Holzkreuz auf seiner nackten Brust trägt«, erklärte sie. »Und weil er diese entsetzliche Narbe am Hals hat. Wegen ihr kann er nicht sprechen.« »Und die jüngste Leiche?«, wollte Indy wissen. »Falls John Seven Oaks den Tod an seinen Eltern bereits gerächt hat, warum sollte er dann weitertöten?« Der Hilfssheriff zuckte die Achseln. »Wir wissen ja nicht, dass er es war«, meinte er. »Bislang haben wir nicht einmal das Opfer identifiziert. Alles, was wir wissen, ist, dass wir es mit den frischen Überresten eines unbekannten männlichen Toten zu tun haben, dem der Kopf fehlt. So weit wir wissen, kann der arme Kerl da draußen eines natürlichen Todes gestorben sein, und sein Kopf ist von Tieren fortgeschleppt worden.« »Das glaubst du doch selber nicht, Buster«, meinte Bertha. »Klingt jedenfalls vernünftiger als deine Geschichte«, schnaubte der Hilfssheriff höhnisch. »Ausgeschlossen.« »Dr. Jones hat Recht«, meinte er. »Warum sollte Seven Oaks weiter Menschen umbringen?« »Vielleicht läuft er da draußen rum, kümmert sich um seine Sippe und sorgt für Gerechtigkeit«, sagte Bertha. »Bertha«, meinte der Hilfssheriff, »du hörst zu viel Radio.« »Tun Sie mir einen Gefallen, Jones«, sagte Bertha. »Wenn Sie da draußen in der Wüste nach Steinen oder Tonscherben
herumstöbern, oder weswegen Sie sonst hierher gekommen sind, halten Sie nach einem nackten Wilden Ausschau. Wenn Sie ihn sehen, bitten Sie ihn, so lange still zu halten, bis Sie ein Foto gemacht haben. Ich werde es gleich da drüben neben meine Strichliste an die Wand pinnen.« »Ich werde die Augen offen halten«, versprach er. »Versprechen Sie sich nicht zu viel davon«, meinte Buster. »Es ist nichts weiter als eine Geschichte.« Indy schmunzelte. »Ich werde versuchen, nicht den Kopf darüber zu verlieren«, erwiderte er. Indy machte unter einer großen Agave am Rand eines steinigen Flussbetts Rast, damit seine Umrisse sich nicht allzu deutlich abzeichneten. Er nahm nicht an, dass er verfolgt wurde, andererseits war er nun schon seit Stunden mit dem unangenehmen Gefühl marschiert, dass ihn jemand beobachtete. Er pflückte einen Stachel vom Stängel der Agave und testete die Spitze mit dem Finger. Er zuckte zusammen. Die Apachen benutzten die Stacheln zum Nähen, und verschiedene andere Teile der Pflanze konnten entweder roh oder gekocht gegessen, zu Matten gewoben oder vergoren werden, um Tequila oder noch stärkere Schnäpse herzustellen. Indy selbst hatte mehr als einmal bei behelfsmäßigen Reparaturarbeiten auf die Agave zurückgegriffen und steckte den Stachel aus Gewohnheit in die Krempe seines Hutes. Indy ließ sich auf die Fersen niedersinken. Unterhalb von ihm befand sich eine Quelle, die einen kleinen Teich speiste. Jenseits des Teiches, hinter dem Rand des nächsten Hügelkamms, ragte El Capitán in die Höhe, jener Gipfel, dessen schroffe Silhouette die Wüste wie ein Bollwerk überragte. Hinter dem Gipfel hatte sich eine Bank aus Gewitterwolken über dem Horizont gebildet. Er legte sein Bündel ab und holte die Karte hervor, die Marcus Brody ihm gegeben hatte, bevor er in Princeton in
den Zug gestiegen war, und ließ das zerbrechliche Dokument aus seinem festen Umschlag gleiten. Dann kniff er die Augen fest zusammen. Schweiß war in sein rechtes Auge getropft. Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Lederjacke über die Stirn. Anschließend verglich er das Gelände vor sich mit den Markierungen, die vor so langer Zeit auf das Pergament gezeichnet worden waren. »Da ist die Quelle und dort der Berggipfel«, sagte er laut. »Dies muss die Stelle sein, obwohl das Kreuz den Punkt nicht exakt markiert.« Was die Stelle auf der Karte kennzeichnete, gefiel Indy überhaupt nicht: Es war eine eingerollte Schlange, was in der Folklore des Südwestens so viel bedeutete wie: »Grabe hier nach dem Schatz«. Im wirklichen Gelände bestand die Stelle aus einer seitlich des Flussbetts gelegenen Spalte auf der gegenüberliegenden Seite der Quelle, ein Spalt, der kaum breit genug schien, dass ein Mann sich hindurchzwängen konnte. Indy rieb sich das stoppelige Kinn, während er den Blick ein letztes Mal über das Gelände schweifen ließ und mit der Karte verglich. Es bestand kein Zweifel. Indy faltete die Karte zusammen, steckte sie in den Um schlag zurück und verstaute diesen wieder im Bündel. Anschließend band er eine kleine Schaufel von der Unterseite des Bündels los und begann, den Flusslauf hinunterzusteigen. Als er auf dem Grund des kleinen, geschützt zwischen niedrigen Hügeln liegenden Tals in der Nähe der Quelle auf die andere Seite hinüber wechselte, hatte er noch immer das Gefühl, beobachtet zu werden. Andererseits beschlich ihn dieses Gefühl immer, wenn er kurz vor einer Grabung stand. Der Felsspalt lag im Schatten verborgen. Von der darüber liegenden Steilwand waren Felsbrocken heruntergestürzt und hatten den Eingang mit einem klassischen Geröllhaufen verschüttet, einem Geröllhaufen, der aussah, als wäre
er seit Jahrzehnten, wenn nicht länger, nicht mehr angerührt worden. Am Fuß der Steilwand stehend, schaute Indy nach oben und schätzte die Distanz, aus der die Steine herabgestürzt waren. Er nahm seinen Hut ab, bohrte einen Stock in den Geröllhaufen und hängte den Filzhut an den behelfsmäßigen Hutständer. Anschließend setzte er den mitgebrachten Schutzhelm auf und schlang eine Seilrolle über seine Schulter. Als Indy daran ging, die losen Felsbrocken fortzuschaufeln, fiel ihm wieder ein, was Bertha unten im Cafe über die Größe der hiesigen Klapperschlangen gesagt hatte. Er hoffte, keine Gelegenheit zu bekommen, ihre Beobachtungen zu bestätigen. In der Ferne zuckte ein Blitz bis auf den Erdboden. Sekunden später folgte der Donner, der von den Felswänden der Steilwand widerhallte. Das Gewitter kam näher, und Indy wusste, dass es bald zu regnen anfangen würde. Er beschleunigte sein Arbeitstempo. In wenigen Minuten hatte Indy den Eingang immerhin so weit freigeräumt, dass er seine Schultern hineinzwängen und dabei eine Karbidlampe vor seinen Körper halten konnte. Der Felsspalt ging in einen schmalen Gang über, der tief in die Kalksteinwand hineinführte. »Scheint mir geradezu eine Brutstätte für Klapperschlangen zu sein«, murmelte Indy. Seinen Befürchtungen zum Trotz vermochte er keine einzige Klapperschlange zu sehen - oder, was wichtiger war -zu hören. Ächzend und stöhnend zwängte er seinen Oberkörper durch die Öffnung nach unten und ließ sich anschließend unbeholfen auf der anderen Seite den Geröllhaufen hinuntergleiten. Er klopfte sich den Staub ab, dann griff er hinter sich, um sein Bündel hereinzuziehen. Er hielt die Karbidlampe in die Höhe und untersuchte die Seitenwände des Ganges. Auf der rechten Seite war eine Schildkröte eingeritzt, deren Kopf in die Dunkelheit wies.
»Bitte«, murmelte Indy, »gib, dass dies ein einfacher Fall wird.« Es gab genügend Platz, um aufrecht zu stehen, doch der Gang wurde rasch enger, so dass Indy, noch bevor er die Länge eines Häuserblocks zurückgelegt hatte, bereits auf Händen und Knien lag und schließlich auf dem Bauch kroch. Der Boden war seltsam zerfurcht und schnitt ihm ins Fleisch. Die Rillen waren von Menschenhand gemacht, doch zu welchem Zweck, vermochte Indy nicht zu erraten. Während er sich über den Boden zog, scharrten seine Schuhe mit einem dumpfen Rattern über die Rillen. Indy schob die Karbidlampe vor sich her. Es gab nicht genügend Platz, um sich das Bündel umzuhängen, daher hatte er es um einen Knöchel geschlungen und zog es hinter sich her. Etwa alle zwanzig Meter stieß er auf ein weiteres Schildkrötensymbol, dessen Kopf immer tiefer in die Dunkelheit wies. Gerade als er glaubte, der Gang sei zu eng geworden, um weiterzukriechen, begann dieser sich zu weiten. Schon bald konnte er sich auf Hände und Knie erheben, dann ging er gebückt, und schließlich stand er aufrecht. In der Ferne hörte er fallendes Wasser. Mit jedem Atemzug kostete Indy den vertrauten metallischen Geschmack von Luft, die lange in der Erde gewesen war. Indy hängte sein Bündel über die Schulter und klemmte die Lampe an seinen Schutzhelm. Hier war der Boden glatt. Auf der rechten Seitenwand entdeckte er ein weiteres beruhigendes Schildkrötensymbol, auf der linken dagegen bemerkte er etwas Neues: ein Strichmännchen, das den Gang zum Eingang zurücklief. Nur hatte das Strichmännchen Augen, aus denen Schlangen hervortraten. »Großartig«, sagte Indy. Er setzte seinen Weg mit neu erweckter Vorsicht fort. Ein paar Meter weiter stieß er auf eine Gabelung des Ganges. An der linken Seitenwand befand sich das Schildkrötensymbol, während die rechte Seite unmarkiert war. Dem
Zeichen folgend, das sich bis dahin als durchaus verlässlich erwiesen hatte, nahm er die linke Abzweigung. Der Gang führte ein paar Meter weit bergauf und endete dann vor einer fugenlosen Wand. Unmittelbar neben der Wand lag, auf dem Boden zusammengesunken, ein Haufen Knochen und Lumpen sowie ein grinsender Schädel. Indy untersuchte das grausige Durcheinander im Schein der leise zischenden Karbidlampe. Der Leichnam war mit einer verrotteten Levi's und einem karierten Hemd bekleidet, und um die Hüfte trug er einen vom Alter rissigen und brüchigen Waffengürtel. Das Halfter war leer, und unmittelbar neben den spindeldürren Knochen seiner rechten Hand lag vor sich hin rostend ein 45er Colt Sechsschüsser. Eines der Beine des Skeletts war gebrochen, mehrere Rippen gesplittert, und in der Seite des Schädels klaffte ein sauberes, beinahe einen halben Zoll großes Loch. Indy nahm den Revolver in die Hand. Er versuchte, die Trommel herauszuklappen, doch die saß fest. Er klopfte mit der Waffe gegen die Felswand. Der Rost blätterte schuppenweise ab, und es gelang ihm, die Trommel mit Gewalt zu öffnen. Wie erwartet war die Waffe vollständig geladen, bis auf jene Kammer, die sich unter dem Hahn befunden hatte. »Die Kugel hast du dir selbst gegeben, hab ich Recht?«, fragte Indy. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es dir verdenke, so erledigt wie du warst. Ich wünschte, du könntest mir verraten, was dir zugestoßen ist, mein Freund.« Er legte die Waffe wieder in die Skeletthand und trat ein paar Schritte zurück, vorsichtig, da er nicht die Absicht hatte, herauszufinden, welche Fallgrube oder andere Falle den Cowboy zerschmettert und hier tot zurückgelassen hatte. Indy lief den Gang zurück bis zu der Gabelung und wählte die rechte Abzweigung, die bergab führte. Das Geräusch fallenden Wassers wurde deutlicher. Der
Pfad endete auf einem Felsvorsprung, der sich über einer gewaltigen Höhle erhob - zumindest glaubte Indy, dass sie gewaltig war, nach dem donnernden Echo des Wasserfalls zu schließen. Obwohl der Strahl der Karbidlampe die Dunkelheit nur ein paar Dutzend Meter weit zu durchdringen vermochte, konnte er tief unten das reflektierende Flackern des Lichts auf der Oberfläche eines mit Wasser gefüllten Beckens erkennen. Indy seufzte. Er nahm das Seil von der Schulter, zog einen Gesteinshammer aus dem Bündel und trieb einen Kletterhaken in den Felsvorsprung. Er fädelte das Seilende durch die Öse des Hakens, befestigte es und schleuderte die Seilrolle in die Dunkelheit. Er war nicht überrascht, als er das Klatschen hörte. Indy ließ sich am Seil herunter, um bestätigt zu bekommen, was er bereits vermutete: Im Bereich des Lichtkegels der Lampe gab es keinen festen Boden. Das Ende des Seils baumelte in einem unterirdischen See, der vermutlich aus derselben Quelle gespeist wurde wie der kleine Teich im Tal; wahrscheinlich befanden sich der unterirdische See und der Teich sogar auf gleicher Höhe, nur dass der See im Innern eines Berges verborgen lag. Indy wollte gerade wieder nach oben klettern, als er ein Knurren hörte und ein Rucken des Seils verspürte. Es folgte ein weiteres zorniges Fauchen, und das Seil ruckte nicht nur, sondern hüpfte auf und ab. Indy schaute hoch. Im flackernden Strahl der Lampe spiegelten sich die leuchtenden, sich verjüngenden Pupillen eines Berglöwen. Es waren die Augen der größten Katze, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Der Berglöwe knurrte abermals, langte mit einer Tatze über den Felssims und schlug mehrmals gegen das Seil. Indy hüpfte kräftig auf und ab. Amüsiert langte die Riesenkatze mit beiden Pfoten über die Kante und drosch ungestüm
auf das Seil ein - das nach einer Minute dieser Behandlung zu zerfasern begann. Indy zog den Webley aus dem Halfter. »Ein Puma«, murmelte Indy bei sich. »Das ist nicht weiter schlimm. Es ist bloß eine große Katze, und Katzen mag ich. Ich muss sie nur verscheuchen, bevor sie mich in den See f allen lässt.« Er richtete die Waffe gegen die Decke, dann besann er sich abermals. Womöglich prallte die Kugel in der Höhle ab und traf am Ende ihn. Daher richtete er die Waffe stattdessen nach unten, im rechten Winkel auf das Wasser. Dann schloss er die Augen was ihm irgendwie zu helfen schien, sich gegen das Geräusch zu wappen - und drückte ab. So laut der Revolverschuss war, er war nichts verglichen mit dem Getöse, das daraufhin losbrach. Der Puma stieß einen entsetzlichen Schrei aus und floh durch den Gang nach draußen. Gleichzeitig füllte sich die Höhle mit dem Geräusch von Fledermäusen. Tausende von ihnen erhoben sich, erschrocken kreischend, im selben Augenblick in die Luft. Mehrere flogen blindlings gegen Indy. Durch den Zusammenprall erlosch die Flamme der Karbidlampe, und Indy musste seinen Helm festhalten, um zu verhindern, dass er herunterfiel. In völliger Dunkelheit hängend, spürte er, wie ihm die ledrigen Flügel gelegentlich im Vorüberwimmeln gegen das Gesicht schlugen. »Fledermäuse«, murmelte er. »Auch das ist nicht weiter schlimm. Mit Fledermäusen werde ich fertig. Sie sind nichts anderes als Mäuse mit Flügeln. Vielleicht hätte ich den Puma nicht verscheuchen sollen.« Zehn Minuten später hatte sich die Unruhe in der Höhle so weit gelegt, dass er versuchen konnte, die Flamme der Karbidlampe wieder zu entzünden. Er löste die sperrige Messinglampe von seinem Helm, drehte den Feuerstein mit dem Daumen, und ein Funkenregen entzündete das Sauerstoff-Acetylen-Gemisch mit einem befriedigenden leisen Knall.
»Das hätten wir«, sagte Indy, als er die Lampe wieder an seinem Helm befestigte. Er kletterte das Seil hinauf, zog sich mühsam auf den Felsvorsprung und trennte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Silberlöwe tatsächlich verschwunden war, das Seil unterhalb der durchgescheuerten Stelle ab. Anschließend holte er das triefnasse Seil ein und musste, als er es über seine Schulter warf, feststellen, dass es nicht nur schwerer, sondern auch kälter war als zuvor. Er kehrte zur Gabelung des Ganges zurück und nahm abermals den linken Abzweig. Als er diesmal das sprichwörtliche ausweglose Ende erreichte, wo der Cowboy lag, unterzog er die Stelle einer sorgfältigeren Prüfung. Weder auf der glatten, weiten Fläche vor ihm noch an den beiden Seitenwänden waren Markierungen oder andere ungewöhnliche Merkmale zu erkennen. Der Boden glich exakt dem Rest des Pfades. Schließlich schaute er nach oben. Er stand unter einem engen Kamin, der nach oben in die Dunkelheit führte. »Mein Freund«, richtete Indy ein Wort des Trostes an den Cowboy, »du bist abgestürzt.« Indy drehte sein Bündel nach vorn, so dass es auf seiner Brust zu liegen kam, und brachte seine Seilrolle wieder in Stellung. Vorsichtig stellte er sich mit gespreizten Beinen über die Überreste des Cowboys. Er stemmte seinen Rücken gegen die eine Wand, seine Füße gegen die andere, und begann sich Zoll für Zoll den Kamin hinaufzudrücken. Die Wände waren völlig eben und stellenweise rutschig, daher war er gezwungen, mit äußerster Vorsicht vorzugehen. Was als recht gemütlicher und einfacher Aufstieg begonnen hatte, erwies sich bald als eine ungemütliche und gefährliche Geschicklichkeits- und Koordinationsprüfung. Eine einzige falsche Bewegung konnte einen sechs Meter tiefen Sturz zur Folge haben. Gerade als er dachte, die Wände seien zu weit auseinander, um weiterklettern zu können, entdeckte Indy einen
hinter ihm in den Felsen gemeißelten Haltegriff. Er suchte einen weiteren, höher gelegenen, und fand auch den. Vorsichtig drehte er sich, bohrte seine Finger in die Löcher und ging daran, noch höher hinaufzuklettern. Zwölf Meter oberhalb seines Ausgangspunkts endete der Kamin in einem weiteren waagerechten Gang. Indy warf das Bündel über die Kaminkante in den Gang und zog sich hoch. In den Fußboden war eine Schildkröte geritzt, deren Kopf noch tiefer in den Berg hineinzeigte. »Na schön«, sagte Indy, als er sich erhob und sich den Staub von seiner Hose und den Ellbogen seiner Jacke bürstete. »Bis hierhin hätte ich es geschafft. Und ich bin noch immer zu allen Schandtaten bereit.« Er hängte sich das Bündel an einem Trageriemen über die Schulter, doch als er zu seinem ersten Schritt ansetzen wollte, erstarrte er. Im Staub, der sich auf dem Boden des Ganges angesammelt hatte, erkannte er unmittelbar neben dem Schacht den nackten linken Fußabdruck eines Menschen. Die Zehen wiesen ihm entgegen. Indy drehte sich kurz zur Schachtöffnung um und blickte dann nach vorn in den Gang, in die lockende Dunkelheit. Er ging in die Hocke, stippte einen Finger in den Staub und zerrieb das rötliche, sandähnliche Material zwischen Daumen und Zeigefinger. »Er könnte tausend Jahre alt sein«, sagte er bei sich, »oder er könnte heute Morgen gemacht worden sein. Was ist nun richtig?« Er wischte sich die Finger ab und richtete sich auf. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, murmelte er. Als er tiefer in den Gang vordrang, gab es nur wenig Staub und keine Fußstapfen, und sein einziger Führer war das gelegentliche Schildkrötenzeichen, das ihn zum Weitergehen drängte. Er hatte die Schritte vom Rand des Schachts gezählt, und obwohl er weniger als die Länge eines Fußballplatzes zurückgelegt hatte, vermittelte ihm die erdrückende
Atmosphäre das Gefühl, bis in die Mitte des Berges vorgedrungen zu sein. Das Geräusch von Wasser wurde wieder lauter. Bei seinem siebenundneunzigsten Schritt blieb Indy stehen. Der Gang führte in eine kleine natürliche Höhle auf einen schimmernden Wasserfall zu, der nach oben zu stürzen schien. Der reißende Strom schien einem Geysir gleich aus einem Becken im Boden hervorzusprudeln und von der Höhlendecke verschluckt zu werden. Einen Augenblick lang verschlug es Indy die Sprache. Dann streckte er die Hand nach dem Wasser aus und stieß mit den Fingern gegen kalten, lichtdurchlässigen Kalkspat. Das Mineral war über Generationen dem Lauf des Wassers gefolgt und hatte die feinen Vertiefungen und Falten eines echten Wasserfalls nachgebildet. Jenseits seiner Fingerspitzen, unter der dünnen Schicht aus Kalkspat, floss weiterhin das Wasser, das aber wegen eines steten Stroms aus Luftbläschen aufwärts zu strömen schien. Das Wasser stürzte in die von der Schwerkraft vorgegebene Richtung, die im Wasser eingeschlossene Luft dagegen trieb den Gesetzen der Physik gehorchend nach oben. Indy vermutete, dass das Wasser durch so viele Schichten feinen, porösen Kalksteins gedrungen war, dass es sich, ganz ähnlich dem mechanisch umgewälzten Wasser eines Aquariums, mit Luft durchsetzt hatte. Indy suchte das Gebilde nach einem Weg ab, der hindurch oder um es herum führte, und seine Vermutung bewahrheitete sich, als er am Sockel hinter einer der Kalkspatfalten eine kleine Öffnung entdeckte. Er ging auf Hände und Knie hinunter und untersuchte die Öffnung, musste die Lampe aber in einem so ungünstigen Winkel halten, dass kaum etwas zu erkennen war. Er schob die Lampe vor sich her, zwängte Kopf und Schultern in die Öffnung und musste anschließend seine Hüfte drehen, um seine Beine abstützen zu können.
Die Seiten des Ganges waren kalt und feucht. Anfangs verlief er verhältnismäßig gerade, doch bald darauf begann er, sich in irrwitzigen Winkeln durch das Gestein zu winden. Bei der Überwindung einer besonders scharfen Biegung blieb Indys Bündel zwischen Rücken und Wand stecken und verklemmte sich bei dem Versuch, es herauszuziehen, noch fester. Indy brummte verärgert, veränderte die Position des Webley an seiner Hüfte und drehte sich mühsam um. Das Bündel kam frei, allerdings lag er jetzt auf dem Rücken. Er setzte seinen Weg noch ein paar Meter weit fort, dann hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen, und ihm wurde bewusst, dass sein Kopf auf einmal tiefer lag als seine Füße. Je weiter er sich vorwärts schob, desto steiler wurde der Neigungswinkel. Indy sackte der Magen nach unten - oder eher nach oben? - als er erkannte, dass eine Umkehr mittlerweile ausgeschlossen war. Er versuchte, sich wieder nach oben zu winden, doch der Winkel war zu steil, zudem kroch er in die falsche Richtung. Für einen kurzen Augenblick stellte sich eine Vision ein, wie die nächste Generation von Forschern sein Skelett eingeklemmt in dem engen Gang vorfand. Der intelligenteste der Höhlenforscher würde seine zerfallende Lederjacke, die verrostete Waffe und die ausgefranste Rinderpeitsche untersuchen, anschließend traurig den Kopf schütteln und sich mit der Bemerkung an die anderen richten: »Der arme Teufel hat zu spät gemerkt, dass er in Schwierigkeiten steckt.« Indy wand sich heftiger. Der Schutzhelm - mitsamt der daran befestigten Karbidlampe fiel ihm vom Kopf. Indy versuchte, danach zu greifen, bekam aber seine Arme nicht frei. Der Schutzhelm schlitterte den Gang hinunter und beleuchtete dabei, dem Scheinwerfer einer durch einen Tunnel fahrenden Lokomotive gleich, eine Reihe aufeinander folgender Abschnitte,
bevor er dreißig Meter weiter mit einem Aufflackern aus dem Blickfeld verschwand. Indy zwang sich, Ruhe zu bewahren. Er hatte keine andere Wahl, als weiter vorwärts zu krauchen. Zentimeter um Zentimeter schob er sich auf Ellbogen und Knien voran. Als der Winkel noch steiler wurde, begann er zu rutschen. Er stemmte seine Füße gegen die Seitenwände des Ganges, um sein Hinuntergleiten abzubremsen. Als er die Stelle erreichte, wo der Helm verschwunden war, wurde ihm mit einem Schlag klar, warum: Der Gang fiel senkrecht in die Tiefe und wurde zu einem weiteren Kamin, in den Indy kopfüber hineinrutschte. Er fing den Sturz mit den Unterarmen ab und landete unmittelbar neben dem Schutzhelm in einer Schicht aus rotem Lehm. Die Karbidlampe war auf die Seite gekippt, brannte aber noch, und was Indy in ihrem flackernden Schein sah, raubte ihm den Atem. Die Kammer war mit Gold gefüllt. Längs des parallel zur Wand verlaufenden Felsvorsprungs lagen Berge glänzender Nuggets, einige groß wie Walnüsse. Da und dort gab es Quarzhaufen, und selbst aus der Entfernung konnte Indy die mächtigen Goldadern erkennen, von denen die Kristalle durchzogen waren. Es gab auch Stapel mit Goldbarren, gegossen von den Eroberern kurz nach deren Ankunft in der Neuen Welt und ihrer Plünderung. Es gab stapelweise spanische Rüstungen, größtenteils Helme und Brustharnische, sowie einige schwere Schwerter. Es gab Transportkisten der Firma Wells Fargo, einen goldenen, mit Juwelen besetzten Abendmahlskelch sowie eine lange Kette aus güldenen Gliedern. In der Mitte der Kammer befand sich eine massive Kalkspatformation, die die Natur zu einem an einen Opferaltar erinnernden Gebilde geformt hatte. Auf dem Altar lag ein sorgfältig angeordneter Ring aus menschlichen Schädeln, der einen Haufen aus Schmuck und Goldmünzen umgab.
Aus der Mitte dieses Haufens reckte eine überlebensgroße Klapperschlange ihren rautenförmigen Kopf hervor - offensichtlich ausgestopft, wie Indy erleichtert feststellte. Schlange und Schädel glitzerten eigenartig im Licht. Sie waren mit Goldstaub besprenkelt worden. Er zählte dreizehn Totenschädel, und obwohl die meisten vom Alter vergilbt und zerbrechlich wirkten, waren einige von ihnen von einem Weiß, das einen erschauern ließ. Einer war weißer als alle anderen, und die dunkle Kruste auf ihm zweifellos getrocknetes Blut. Indy drehte sich langsam um, nahm den Raum, wie hypnotisiert vom Ausmaß des Reichtums, in sich auf, halb in der Erwartung, einen nackten Wilden zu sehen, der mit dem Schwert ausholte, um ihm den Schädel einzuschlagen. In der Kammer waren mehr Reichtümer versammelt, als das Guadelupe-Gebirge jemals hervorgebracht haben konnte. Sämtliche Perioden der letzten fünfhundert Jahre der Geschichte beider Amerikas war auf irgendeine Art vertreten. Indy fühlte sich benommen. Es war nicht der Wert der Gegenstände, der ihn schwindeln machte, sondern die ungezählten Geschichten, die dahintersteckten. Wie viele Menschenleben mochte der Kampf um diesen Reichtum gekostet haben, und wie viele Kapitel in den Geschichtsbüchern würden umgeschrieben werden müssen, um diesem einen prachtvollen Raum gerecht zu werden? Indy verspürte den Drang, Bleistift und Notizbuch hervorzuholen und eine rasche Bestandsaufnahme der Kammer vorzunehmen und den ersten Schritt auf dem langen Weg zum Verstehen zu machen, doch er wusste, das war verboten. Er war hier ein Eindringling, ein Söldner, ein Dieb; vielleicht ließe sich dieser Diebstahl rechtfertigen, aber Diebstahl blieb es trotzdem. Die Kammer musste fürs Erste geheim bleiben. Nicht nur, weil Indy keine Fragen zu dieser speziellen Expedition gestellt bekommen wollte, er wollte die Kammer darüber hinaus auch schüt-
zen. Vermutlich wurde sie von den Apachen noch immer als Lagerstätte benutzt - oder, nach den jüngsten Grabbeigaben auf dem Kalkspataltar zu schließen, noch immer aktiv bewacht. In kommenden Zeiten mochte die Kammer vielleicht der Geschichte angehören, gegenwärtig jedoch durfte sie niemand anderem gehören als den Apachen. Sein Preis für die Wahrung dieses Geheimnisses waren drei Barren Gold. Er nahm sie vom nächstgelegenen Stapel mit spanischen Goldblöcken. An ihren Kennzeichnungen sah Indy, dass sie ursprünglich sehr weit entfernt geprägt worden waren, weshalb ihre Spur schwer zu der Kammer in den Guadelupe-Bergen zurückzuverfolgen sein würde. Dann machte er sich auf die Suche nach einem Ausgang. Die Antwort lag natürlich in den Fußstapfen im Lehmboden. Sie stimmten mit jenem überein, den er zuvor auf dem Boden des Ganges entdeckt hatte. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Fundort des Schatzes und führten um den Kalkspataltar herum zu einem Durchgang auf der anderen Seite. Indy hielt inne, um einen letzten Blick auf die Goldkammer zu werfen, so als wollte er sie in sein Gedächtnis einprägen. Sein Blick war noch immer über die Schulter nach hinten gerichtet, als er durch den Durchgang trat. Im selben Augenblick, als er den Fuß auf das uralte, in den Fußboden eingelassene Holzbrett setzte und das widerwärtige Klicken seines einrastenden Mechanismus spürte, wurde ihm klar, dass er stattdessen hätte nach unten schauen sollen. Inmitten eines Schwalls aus Staub und Trümmern, der ihn zu ersticken drohte, stürzte Indy durch die Dunkelheit. Dann prallte er mit einem gewaltigen Klatschen auf die Oberfläche des unterirdischen Sees. Der Schock des kalten Wassers ließ Indy instinktiv Luft in seine Lungen saugen, bevor sein Kopf unter der Oberfläche verschwand. Die Goldbarren, schwer wie Bleigewichte, zogen ihn auf den Grund. Im Sinken kämpfte Indy mit den
Trageriemen, und der Schutzhelm mit der erloschenen Karbidlampe glitt ihm vom Kopf, doch er hatte andere Probleme, über die er sich den Kopf zerbrechen musste. Nachdem es ihm gelungen war, seine linke Schulter aus dem Riemen zu winden, spürte er, wie seine Knie den felsigen Grund berührten. Jetzt, da er nicht mehr blindlings in die Tiefe sank, wurde es einfacher, sich mit der womöglich tödlichen Last zu befassen. Er ließ das Bündel an seinem rechten Arm hinunter gleiten, überließ es aber nicht der Obhut des dunklen Wassers. Sich mit der rechten Hand an einem der Trageriemen festhaltend, ertastete er mit seiner Linken das Ende der Seilrolle. Er führte seine Hände zusammen, fädelte das Seil unter dem Riemen hindurch und band es fest. Seine Lungen fingen an zu schmerzen, aber Indy sagte sich, dass er bereits einen zu weiten Weg zurückgelegt hatte, um das Gold jetzt zurückzulassen. Er nahm sich Zeit, suchte das andere Seilende und schlang es um seinen Gürtel. Dann zog er den Webley aus seinem Halfter und stopfte ihn blind in das Bündel, bevor er mit einem kräftigen Beinschlag an die Oberfläche zu gelangen versuchte. Aus dem vergleichsweise geringen Wasserdruck auf seinen Ohren schloss Indy, dass der See weniger als sechs Meter tief war, doch da er gegen den Zug des Seils bis an die Oberfläche schwimmen musste, kamen sie ihm eher vor wie dreißig. Er durchbrach die Wasseroberfläche und warf den Kopf in den Nacken, um seine Augen vom Wasser zu befreien, doch ohne Licht war in der Höhle nichts zu erkennen. Indy entschied sich für eine Richtung und schwamm los, in der Hoffnung, dass er nicht den weitesten Weg quer über den See gewählt hatte. Kurz darauf schrammte er mit den Schienbeinen über felsigen Grund und stand in flachem Wasser. Tastend holte er das schwere Bündel ein und wickelte dabei das Seil auf. Er streifte Seil und Bündel über seine Schulter, dann griff er nach der Rinderpeitsche an seiner Hüfte. Sie war noch da. Er durchsuchte seine Taschen nach etwas, irgendetwas,
womit man Licht machen konnte. Doch Indy hatte nicht einmal ein Feuerzeug dabei - da er nicht rauchte, hatte er sich nie angewöhnt, eins einzustecken. Für die Karbidlampe brauchte er keins, weil die ihren eigenen Zündmechanismus besaß. Er hatte zwar einige Streichhölzer in sein Bündel gepackt, doch die waren selbstverständlich längst aufgeweicht. Außerdem, überlegte Indy, war dies wahrscheinlich nicht das Einzige, was dem Wasser zum Opfer gefallen war. »Verdammt«, entfuhr es Indy. Unter normalen Umständen hätte er sich eines deutlicheren Kraftausdrucks bedient, doch widrige Umstände ließen ihn stets eine etwas vorsichtigere Ausdrucksweise wählen, nur für den Fall, dass es eine Rolle spielte. Irgendetwas sagte Indy, dass dies der Fall war. »Wie soll ich das bloß Marcus erklären?«, fragte er sich laut. Und weiter: »Also gut, offenbar gehe ich davon aus, dass ich Gelegenheit erhalten werde, Marcus überhaupt noch etwas zu erklären. Wenn ich hier nicht rauskomme, brauche ich mir darüber auch nicht den Kopf zu zerbrechen, auch wenn die Methode etwas übertrieben scheint, um zu vermeiden, dass man einem Freund schlechte Neuigkeiten beibringen muss.« Indy hielt inne. Selbstgespräche waren eine Methode, Anspannung zu mindern. Außerdem waren sie geeignet, das Ausmaß der eigenen Angst einzuschätzen, denn er hatte gelernt, seine Ängste niemals zuzugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, erst recht nicht, wenn eine Situation entschlossenes Handeln statt Nachdenken erforderte. Er wusste, je länger er mit sich selber redete, desto größer wurde seine Besorgnis. Indy lief ein paar Schritte vorwärts, stolperte und fiel hin. Einen Augenblick lang blieb er im Wasser sitzen und sah sich zwanglos um. Noch war er nicht bereit, sich einzugestehen, dass seine Augen nutzlos waren.
Er rief: »He!« Der Klang seiner Stimme hallte ihm unangenehm hart aus einem Dutzend Richtungen entgegen, doch keine davon lieferte einen Hinweis darauf, welche er einschlagen sollte. Er lauschte angestrengter. Irgendwo, ganz am Rande seines Hörvermögens, nahm Indy das leise Flüstern fallenden Regens auf. Dann, deutlicher, das Grollen von Gewitterdonner. Er schloss die Augen, drehte den Kopf wie eine Eule von einer Seite auf die andere und versuchte dabei, die Quelle des vertrauten Geräuschs zu orten. Er konzentrierte sich so angespannt, dass das Geräusch mitten in seinem Kopf zu existieren schien, ein dreidimensionales Etwas, das sowohl Farbe als auch Form besaß: Der Regen war blau und nebelhaft, während der Donner aus orangefarbenen Lichtstreifen bestand. Sobald er seinen Kopf nach links drehte, wurde das Geräusch leiser, drehte er ihn aber in die entgegengesetzte Richtung, gewannen Geräusch und Farbe an Intensität, bis sie ihr Maximum erreichten, wenn seine Nase in einem Winkel von fünfundvierzig Grad nach rechts gerichtet war. Die Augen noch immer geschlossen, erhob sich Indy und begann, sich vorsichtig auf das Geräusch des Regens zuzubewegen. Er vermied jede Hast, aus Angst, über einen Felsen zu stolpern und sich das Bein zu brechen, und er prüfte jeden Schritt, bevor er den Fuß aufsetzte, aus Angst, in einen Abgrund und damit in den Tod zu stürzen. Doch das Bild des Regens hielt er deutlich vor seinem inneren Auge fest. Auf diese Weise bewegte sich Indy etwa weitere fünfzig Meter vorwärts, wobei er sich von Zeit zu Zeit das Schienbein an einem unsichtbaren Felsen auf stieß. Gewöhnlich blieb er dann einen Augenblick stehen, ließ den Schmerz abklingen und wartete, bis er die Orientierung wieder gefunden hatte. Obwohl es ein schmerzhafter und langsamer Prozess war, wurde das Geräusch des Regens am Ende eines jeden Zyklus deutlicher. Eine Stunde später stieß er gegen eine Wand. Indy war sicher,
dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte und das Hindernis keine zusammenhängende Fläche darstellte, sondern vielleicht eine Art Felssims. Allerdings konnte er den oberen Rand mit ausgestreckten Fingern nicht erreichen. Er rollte die Rinderpeitsche aus, schlug damit nach oben und prüfte so das Hindernis. Die Peitsche blieb einen Augenblick hängen, bevor ihr Eigengewicht sie träge nach unten zog und ihm in Schlaufen über Kopf und Schulter fiel. »Aha«, machte er zufrieden. Mit Hilfe einiger Übungsschläge spulte er die Peitsche der Länge nach hinter sich ab, dann holte er mit aller Kraft aus und ließ die Peitsche knallend hinauf in die Dunkelheit schnellen. Ihr Ende wickelte sich um den Sockel eines Stalagmiten. Mehrmals vergewisserte sich Indy, dass der behelfsmäßige Enterhaken sein Gewicht trug, bevor er sich Hand über Hand den drei Meter hohen Abhang hinaufzog. Die Lederpeitsche protestierte knarrend und ächzend, hielt aber stand. Als er schließlich auf den Felsvorsprung kletterte, wurde er mit dem Anblick eines stecknadelkopfgroßen Lichtpunkts am fernen Ende des Tunnels belohnt. Das Rauschen des Regens war hier lauter, und es war mehr als nur das Geräusch von Regen,- es war das Geräusch fließenden Wassers geworden. Indy zog die Rinderpeitsche hoch, ruhte sich einen Augenblick auf Knien aus und starrte auf den hellen Punkt. »Gut, dass es draußen noch taghell ist«, sagte er. Der winzige Lichtpunkt schien jedoch auf und ab zu tanzen, von einer Seite zur anderen zu schwingen, aufzusteigen und gleich darauf wieder abzusinken. Indy schüttelte den Kopf und sah abermals hin. Das Licht schien sich noch immer zu bewegen. »Autokinese«, redete Indy sich ein. »Ein optisches Phänomen, bei dem eine feste Lichtquelle sich aus eigenem Antrieb zu bewegen scheint. Das muss es sein.«
Indy sammelte seine Sachen zusammen, rappelte sich schwerfällig auf und begann, vorsichtig durch den Tunnel auf das Licht zuzugehen - das immer noch zu schwanken schien, so als handele es sich um eine Laterne, die jemand vor sich herträgt. »Hallo!«, hallte eine Stimme durch den Gang. »Mr. Jones? Sind Sie dort drinnen?« Indy blieb wie angewurzelt stehen. »Ja!«, rief er. »Ich bin hier!« »Sind Sie unverletzt?« »Ja!« »Dann kommen Sie schnell zu mir«, rief die Stimme. »Es besteht äußerste Gefahr.« »Ich habe kein Licht«, rief Indy zurück. »Die Zeit drängt. Geben Sie Ihr Bestes.« Indy machte sich rasch auf den Weg und tastete sich so gut es ging voran. Er hatte sich dem Licht so weit genähert, dass er in dessen Strahl den Boden und die Seitenwände des Tunnels sowie den undeutlichen Schatten einer Gestalt erkennen konnte, die an dessen Ende wartete. Dann stieß er sich an der niedrigen Decke den Kopf, verlor im selben Augenblick den Boden unter den Füßen und verschwand bis zu den Achseln in einem Bodenloch. Er versuchte sich herauszuziehen, doch sein rechter Arm war zu fest neben seinem Körper eingekeilt. »Ich hänge fest«, rief er. »Warten Sie«, antwortete die Stimme. Das Licht begann, hastig auf ihn zuzutanzen. Kurz darauf hatte die Gestalt die Laterne auf dem Boden abgestellt, und ein paar kräftige sonnengebräunte Arme langten nach unten und packten die Riemen seines Bündels. In einer einzigen Bewegung wurde Indy aus dem Loch befreit und auf die Beine gestellt. »Danke«, sagte er. Als daraufhin die Laterne aufgenommen wurde und ihr Lichtschein kurz auf seinen Retter fiel, erblickte Indy einen
blonden Haarschopf und einen Körper, der trotz Drillichhose und Flanellhemd unverkennbar einer Frau gehörte. »Sie sind eine Frau«, entfuhr es Indy. »Zum Reden ist jetzt keine Zeit«, erwiderte sie. Ein gewaltiges Rauschen und Grollen setzte ein, so als hätte jemand unvermittelt die Kette einer gigantischen Wasserspülung gezogen. Er hörte, wie hinter ihm Felsbrocken, getrieben von der Wucht des Wassers, krachend gegen die Seitenwände des Ganges geschleudert wurden. Die Frau fasste Indy an der Hand, und zusammen liefen sie zurück durch den Gang. An einer Stelle, die er kaum vom übrigen Gang unterscheiden konnte, fand sie eine höher gelegene Öffnung und zog ihn hinter sich hinauf. »Der Gang wird geflutet«, erklärte ihm die Frau. »Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte Indy. »Unsinn«, gab sie zurück und strich sich ein paar verirrte Strähnen aus ihren blauen Augen. »Sie haben sich selbst gerettet. Ich habe Ihnen nur den Weg gewiesen.« »Aber wer sind Sie?«, wollte Indy wissen. »Woher kennen Sie meinen Namen? Und woher wussten Sie überhaupt, dass ich hier bin?« »Ihr Amerikaner«, spöttelte sie. »Immer stellt ihr taktlose Fragen. Dabei haben wir das Schlimmste noch nicht mal überstanden, wie Ihre Landsleute sagen.« »Sie sind die dänische Hobbyhöhlenforscherin«, sagte Indy, der schließlich eins und eins zusammenzählte. »Bertha, unten im Cafe, hat Sie erwähnt.« »Bitte, ich ziehe es vor, als Wissenschaftlerin bezeichnet zu werden«, sagte sie. »Hobbyhöhlenforscherin hat einen etwas albernen Beiklang, finden Sie nicht auch? Als hätte ich nichts Besseres zu tun, als unter der Erde herumzukrauchen. Hier, ich glaube, das gehört Ihnen.« Sie zog seinen Filzhut hinter ihrem Gürtel hervor. Er war offensichtlich vom Regen durchnässt und von ihrem Gürtel erbarmungslos zerdrückt worden. »Ich habe ihn draußen an einem Stock gefunden«, erläuterte
sie. »Seitdem habe ich nach Ihnen gesucht. Mein Name ist Ulla Tornaes. Aus dem Namen in Ihrem Hut schließe ich, dass Sie Jones heißen. Das ist doch Ihr Familienname, oder?« »Ganz recht«, sagte Indy, während er den Hut auseinander faltete und versuchte, ihm wieder so etwas wie Form zu geben. Anschließend stülpte er ihn auf seinen Kopf. »Vielen Dank.« »Kommen Sie«, sagte sie und bückte sich, als der Gang niedriger wurde. »Uns steht noch eine schwere Prüfung bevor, bevor wir in Freiheit sind. Die Apachen behaupten, diese Höhlen würden von den zwischen den Felsen lebenden Klapperschlangen bewacht. Mittlerweile bin ich geneigt, mich ihrer Meinung anzuschließen. Wie viel haben Sie von dem Schatz eigentlich mitgenommen, Mr. Jones?« »Es heißt Dr. Jones«, meinte Indy verdrießlich. »Sie sind Arzt?« »Nein, Professor. Woher -« »Der Rucksack, den Sie bei sich tragen, erscheint mir ungewöhnlich schwer«, erklärte sie. »Außerdem wollten Sie sich nicht einmal dann von ihm trennen, als es um Ihr Leben ging. Bedeutet Ihnen Reichtum so viel?« »Nein«, erwiderte Indy. Er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. »Jedenfalls nicht Reichtum um des Reichtums willen. Ich habe mir nur genommen, was ich brauche.« »Dann muss Ihr Bedarf recht maßlos sein«, meinte sie. »Bei den Apachen heißt es, wenn Sie reinen Herzens sind, werden Sie die Prüfung bestehen. Sind Sie reinen Herzens, Mr. Jones?« Sie waren an der Stelle angelangt, wo die Rillen in den Boden des Ganges geritzt waren. Nur dass sie sich diesmal irgendwie eigenartig anfühlten, wie Indy fand - sie waren warm und trocken und schienen sich manchmal zu bewegen. »Leuchten Sie mit der Laterne kurz nach hinten«, bat Indy sie. »Hier stimmt was nicht.«
»Sie sollten besser nicht stehen bleiben, Mr. Jones«, gab sie zurück. »Wir müssen vorwärts gehen. Zurück können wir nicht mehr.« Indy krabbelte weiter. Als der Gang abermals breiter wurde und Indy sich aufrichtete, leuchtete die Frau mit der Laterne nach hinten. Dutzende von Reptilienaugen reflektierten das Licht, begleitet von einem Chor verräterischer Rasselgeräusche. »Schlangen«, hauchte Indy. Er brachte das Wort kaum über die Lippen. »Ich gratuliere«, meinte die Frau. »Sie haben die Prüfung bestanden. Ich war ziemlich sicher, Sie würden es nicht schaffen.« »Sie glauben an diese alten abergläubischen Vorstellungen?«, versuchte Indy tapfer zu erscheinen. Sie leuchtete ihm mit der Laterne ins Gesicht. »Erklären Sie es mir«, sagte sie. Daraufhin krabbelte sie den Geröllhaufen hinauf, zwängte sich durch die Öffnung und räkelte sich unter freiem Himmel wie eine Katze. Es regnete noch immer, doch die schlimmste Phase des Gewitters war vorbei. Aus dem Höhleninnern konnten sie ein Poltern und das Krachen von Felsbrocken hören. »Ich würde sagen, das ist das Ende der Schatzhöhle«, meinte die Frau. »Oder zumindest des von Ihnen entdeckten Eingangs.« »Spielt vermutlich auch keine Rolle«, seufzte Indy erschöpft. »Wenn ich nicht zufällig über Ihren Hut gestolpert wäre - und erkannt hätte, dass Sie törichterweise trotz drohenden Gewitters und Überflutung in das Höhlensystem eingestiegen sind -, säßen Sie womöglich immer noch da drinnen. Als Dauerbewohner sozusagen, wie die Skelette und die Schlangen.« Sie hielt inne und betrachtete ihn mit geübter Gleichgültigkeit und professioneller Objektivität.
»Sagen Sie«, wagte sie sich vor, »sind Sie nicht der berühmte Archäologe Indianapolis Jones?« »Nein«, sagte Indy. »Mein Name lautet -« »Ja, richtig«, sagte sie. »Verzeihen Sie. Sie sind ja bloß ein ganz gewöhnlicher Glücksritter.«
KAPITEL FÜNF Gespenstergeschichten
»Hören Sie«, sagte Indy. »Mein Name ist Indiana Jones, nicht Indianapolis.« »Selbstverständlich«, antwortete sie. »Und wie nennen Ihre Freunde Sie?« »Indy«, meinte er. »Aber Sie können mich Dr. Jones nennen.« »Das war mir lieber«, sagte sie im Weggehen. Über die Schulter rief sie: »Falls Sie, wie Sie behaupten, tatsächlich Doktor sind ... können Sie das irgendwie beweisen?« »Es ist nicht meine Gewohnheit, meine Diplome mit mir herumzutragen.« »Schade«, meinte sie. »In diesem Fall bleibt es bei Mister Jones.« Die Frau übernahm die Führung auf dem beschwerlichen, drei Meilen langen Fußmarsch über zerklüftetes Gelände zu einer Hochebene oberhalb des Bell Canyon. Als sie in dem bescheidenen Lager anlangten - das aus einem einzelnen Segeltuchzelt, ein paar Kochutensilien und einem Steinkreis für das Feuer bestand -, brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken, und die Landschaft glitzerte, als seien Diamanten statt Regentropfen über dem kleinen Tal niedergegangen. »Erstaunlich«, sagte die Frau, »wie schnell diese Gewitter vorüberziehen.« »Und wie sehr sie dabei alles durchnässen können«, ver-
setzte Indy, während er sich auf einem Felsen niederließ und seinen Filzhut begutachtete. Er knetete das unförmige Gebilde zwischen seinen Fingern. »Glauben Sie, er wird jemals wieder zu alter Form zurückfinden?« »Sie können von Glück reden, dass Sie noch leben«, meinte sie ungläubig, »und da sorgen Sie sich um Ihren Hut?« »Es war ein schöner Hut«, erwiderte Indy betrübt. Und dann: »Tut mir Leid. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie in dieses Loch hineingeklettert sind und mich am Kragen herausgezogen haben. Danke.« »Es war eine interessante Problemstellung«, sagte die Frau, während sie daranging, ihre Stiefel aufzuschnüren. »Ich hatte keine Ahnung, ob ich Sie rechtzeitig würde finden können.« Sie hielt inne. »Ich wollte sagen: Es war mir ein Vergnügen. Außerdem sah es, als ich Sie fand, ganz so aus, als wären Sie auf dem besten Weg, sich selber zu befreien.« Indy legte den Hut fort. »Woher kommen Sie?« »Aus Kopenhagen.« »Und was führt Sie in den Südwesten der Vereinigten Staaten?« »Der Karst«, antwortete sie und deutete mit einem Stiefel auf die zerklüftete Landschaft ringsum. »Dieser großartige frei liegende Karst bildet die Voraussetzung für ein Höhlensystem, das von hier bis nach Kentucky reicht.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Indy. Seine Schuljungenfrage nötigte ihr ein Lächeln ab. »Mr. Jones«, erwiderte sie tadelnd. »Wir markieren die Höhlenfische.« »Richtig«, sagte Indy. »Dann sind Sie also Wissenschaftlerin?« »Nein«, antwortete Ulla mit einem schiefen Lächeln. »Ich bin Abenteurerin, Mr. Jones. Eine Entdeckerin. Aber statt der vorhersagbaren Topografie der Erdoberfläche interessiert
mich das Unbekannte, der Boden unter unseren Füßen.« »Verstehe«, sagte Indy. »Das klingt, als glaubten Sie mir nicht.« »Es geschieht nicht oft, dass ich einer so ruppigen, energischen Frau begegne«, gestand Indy. »Ach?« Ulla strich sich das blonde Haar aus den Augen, dann zog sie eine durchnässte Socke mit einem satten Geräusch von den Füßen. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie überhaupt nur selten jemandem begegnen, egal ob männlich oder weiblich, der so stark, selbstsicher und kompetent ist wie ich.« »Nun, ja«, gab Indy zu. »Von bescheiden ganz zu schweigen.« »Fühlen Sie sich bedroht, Mr. Jones?« Indy lachte. »Schade«, sagte sie, während sie ihre Gürtelschnalle löste. »Ich hatte ein wenig gehofft, Sie würden sich bedroht fühlen. Schließlich behaupten meine Freunde in Dänemark ständig, mein offenkundiger Mangel an Bescheidenheit erinnere sie an den berühmten Archäologen Indiana Jones, über den wir in den Zeitungen lesen.« »Das heißt also, an mich«, sagte er, mit dem Daumen auf seine Brust deutend. »Indiana Jones.« Sie musterte ihn mit kalter Gleichgültigkeit. »Vermutlich sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen«, brummte Indy. »Sollten Sie jemals diesen glücklichen Gemütszustand erlangen«, sagte sie, »werde ich es Sie wissen lassen.« Sie nahm ihren Gürtel ab, woraufhin ihre schlammverschmierten Drillichhosen herunterglitten und man die Schöße ihres Männerflanellhemdes sah. »Was tun Sie da?«, fragte er. »Die nassen Kleider ausziehen, natürlich«, sagte sie und stieg aus den Jeans. »Ach, ich vergesse immer wieder, wie prüde ihr Amerikaner in diesen Dingen manchmal seid.«
»Verzeihung«, sagte Indy. Er schaute fort, konnte aber nicht umhin zu bemerken, wie sonnengebräunt und durchtrainiert ihre Beine waren. »Es ist nur so, ich -« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Seufzend schlang sie die nassen Jeans um ihren Körper und begab sich zum Zelt. An der Zeltklappe hielt sie inne. »Ich bin Nudistin, daher mache ich mir über diese Dinge keine besonderen Gedanken. Aber ich habe Verständnis dafür, dass es Sie in Verlegenheit bringen könnte, daher werde ich Ihrem spießigen Ansinnen Folge leisten. Wenn man in Rom ist..., wie man so sagt.« Die Zeltöffnung klappte zu. »Ich war auch schon in Rom«, merkte Indy an, »aber dort führt sich niemand auf wie Sie.« Die Zeltöffnung wurde erneut zurückgeschlagen. Ulla warf ihm eine Decke zu. »Statt Ihre Kräfte mit albernen Scherzen zu vergeuden«, sagte sie, »sollten Sie vielleicht ein paar Zweige suchen, um ein Feuer zu machen. Sie werden Ihre Kleider trocknen müssen, und ich hätte nichts gegen einen Kaffee. Alles, was Sie dafür brauchen, finden Sie beim Kochzeug.« Indy starrte sie an. »Sie wissen doch, wie man Kaffee kocht, oder?«, erkundigte sie sich kokett. Als die Sonne im Westen unterging, raffte Indy die Decke um seine Schultern und nippte Kaffee aus einer Blechtasse. Die bescheidene Mahlzeit aus Bohnen und luftgetrocknetem Fleisch hatte ihn ein wenig milder gestimmt, Ullas Weigerung zu glauben, dass er tatsächlich Indiana Jones war, wurmte ihn aber noch immer. Der echte Jones, behauptete sie, wäre niemals so dämlich, sich in einer Höhle zu verirren. Ulla saß ein paar Fuß entfernt, bürstete sich ihr blondes Haar und summte zufrieden vor sich hin. Sie hielt inne, dann deutete sie mit der Bürste auf den Horizont ringsum.
»All das hier«, erklärte sie, »lag einst unter Wasser.« »Ich weiß«, erwiderte Indy. »Während der jüngsten Periode unserer geologischen Vergangenheit war dieses Gebiet von einem ausgedehnten tropischen Meer bedeckt, und die Berge hier bildeten ein gewaltiges Kalksteinriff-System, nicht unähnlich den Florida Keys«, erklärte sie. »Dieser Canyon war einst eine Unterwasserschlucht, und die Gesteinsformationen, die wir hier sehen, wurden in Millionen von Jahren von den Wellen gebildet.« »Später«, nahm Indy den Faden der Geschichte auf, »zog sich das Wasser zurück, und die gesamte Ebene wurde von Erdbeben nach oben gedrückt. Ironischerweise entstanden die Wälder, die auf den höchsten Erhebungen der Guadelupe-Berge übrig blieben, während der Eiszeit im Pleistozän und sind größtenteils bis auf den heutigen Tag noch in ihrem damaligen Zustand erhalten.« »Welche Ironie«, meinte Ulla nachdenklich. »All dies ist Teil eines gewaltiges Puzzles, dessen Ränder wir jetzt erst im Begriff sind zu entdecken. Niemand kennt das wahre Ausmaß dieser ausgedehnten Höhlensysteme. Die Verbindung zwischen Orten wie den Guadelupe-Bergen und Kentucky sind vielleicht nur ein kleiner Teil davon. So weit wir wissen, könnte das gesamte Erdinnere von solchen miteinander verbundenen Gängen durchzogen sein.« Indy lächelte. »Sie halten mich für verrückt, hab ich Recht?« »Aber nein«, gab Indy zurück. »Ich halte Sie für eine Fantastin. « »Die Erde ist ein lebendiges Wesen, Mr. Jones.« Ulla beugte sich vor und legte ihre Handflächen auf den Erdboden. »Nur auf Grund unserer geringen Lebensdauer und unseres gleichermaßen begrenzten Vorstellungsvermögens erscheint uns das Gestein leblos. Aber hier unter meinen Händen regt sich Leben, auch wenn zwischen seinen Herzschlägen tausend Jahre liegen mögen. Der Regen, der uns
heute durchnässt hat, ist das Lebenselexier dieses Planeten. Der Kalkstein wird weiter vom Regenwasser aufgelöst, das auf seinem Weg durch die Erdatmosphäre leicht säurehaltig wird, den Karst zerfrisst und ganz allmählich neue Arterien und Venen erzeugt die wir als Höhlen und Doline bezeichnen. Sie sind aus einem bestimmten Grund so beschaffen, nämlich um das Wasser abfließen zu lassen, das der Boden nicht aufzunehmen vermag. Deshalb war es so gefährlich, dass Sie vor dem Gewitter in die Höhlen hineingestolpert sind.« »Ich dachte, ich könnte dem Gewitter zuvorkommen«, versuchte Indy sich zu rechtfertigen. »Hätte ich gewartet, hätte es Tage gedauert, bevor ich die Höhle wieder hätte betreten können wenn überhaupt.« »Was kann ein Tag oder auch eine Woche für einen Unterschied ausmachen?«, fragte sie. »Was das anbelangt, welchen Unterschied bedeutet ein Jahr? Haben Sie es so eilig, reich zu werden - oder zu sterben?« Indy zog den Rucksack zu sich heran und holte einen der Goldbarren heraus. Er hielt ihn in den Schein des Feuers und betrachtete die Prägezeichen. »Das war es wert, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben?«, fragte sie. »Nein«, gab Indy zurück. »Aber vielleicht das, wofür es steht.« »Und das wäre?« »Sehen Sie, hier.« Er zeigte auf die Reihe von Stempeln und Prägezeichen. »Sie nennen mich einen Dieb, dabei waren es die Spanier, die dieses Gold ursprünglich gestohlen haben, vermutlich von den Inkas in Peru. Möglicherweise haben die Inkas es eigenhändig aus der Erde gebuddelt, wahrscheinlicher jedoch ist, dass sie es anderen Stämmen abgenommen haben, sei es als Kriegsbeute oder in Form von Steuern. Gott allein weiß, wie viele unwiderbringliche Stücke präkolumbianischer Kunst eingeschmolzen werden mussten, um diesen einen Barren herzustellen. Diesem
Prägestempel hier können wir entnehmen, dass die Spanier die Barren im sechzehnten Jahrhundert in Mexico City gegossen haben. Hier steht der Name des Kommandanten, den man mit dem Transport des Goldes von Mexico nach Spanien beauftragt hat Don Pedro Juan Garcia. Irgendwo auf diesem langen Weg hat er versagt, entweder hat er seine Fracht an Banditen verloren, oder er hat sich selbst einen kleinen Teil der Beute unter den Nagel gerissen und sich aus dem Staub gemacht. Und hier befindet sich eine kleine von der Kirche beigefügte Mahnung, dass dieses Gold Eigentum von Gott und König sei und es niemand transportieren dürfe außer einem Katholiken, der erst kürzlich die Beichte abgelegt hat, und dass die Feuer der Hölle jedweden Heiden erwarten, dem es in die Hände fallen sollte.« »Sind Sie Heide?« »Nein.« »Verdammt«, sagte Ulla. »Ich hätte gedacht, Sie wären einer.« »Sind Sie Heidin?«, fragte Indy. »Selbstverständlich«, sagte Ulla. »Ich bete die Sonne an. Und an manchen Wochentagen die Aesir.« »Die Alten«, übersetzte Indy. »Die nordischen Götter.« »Genau. Ich glaube nicht wirklich, dass sie mich hören«, fuhr sie fort. »Aber für mich ist das alles genauso logisch und vernünftig, als wäre ich Protestantin, Katholikin oder Moslemin. Wenigstens laufe ich nicht herum und bringe Menschen um, die nicht derselben Überzeugung sind wie ich.« »Bis dahin wäre es kein weiter Schritt«, brummte Indy. »Erzählen Sie Ihre Geschichte weiter«, forderte sie ihn auf. »Wie ist das Gold hierher gelangt, in dieses Gebirge?« »Das weiß Gott allein«, meinte Indy. »Es wurde wieder und wieder gestohlen. Schließlich gelangte es in den Besitz der Apachen, die es hier aufbewahrten, um zu verhindern, dass es den Europäern in die Hände fiel.« »Und jetzt wurde es ein weiteres Mal gestohlen«, be-
merkte Ulla. »Und was beabsichtigen Sie mit Ihrem Reichtum anzustellen, Mr. Jones? Was ist Ihr sehnlichster Wunsch? Ein großes Haus? Vielleicht ein Landsitz? Mit Dutzenden von Dienern, die Ihnen Kaffee kochen und „Jawohl, Mr. Jones, sofort, Mr. Jones“ sagen?« »Was denn, verlangen Sie etwa einen Anteil?« »Auf gar keinen Fall.« Die Vorstellung allein schien sie zu schockieren. »Auf diesem Gold liegt ein Fluch, und damit will ich nichts zu schaffen haben. Nur ein Narr würde glauben, es könnte ihm Glück bringen.« »Dann bin ich ein Narr«, räumte Indy ein, »der versucht, an ein Wunder zu glauben.« »Wie meinen Sie das?« »Darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte Indy und legte den Barren in den Rucksack zurück. »Warum nicht?« »Ich bin Gefahren gewöhnt«, sagte Indy. »Meist geht es um ein leuchtendes Stück Geschichte, das ich in meinen Händen halten kann, um es anschließend in ein Museum zu stecken, damit andere das gleiche Gefühl von Ehrfurcht empfinden können wie ich, als ich es das erste Mal sah.« »Und was ist diesmal anders?« »Diesmal geht es um etwas Persönliches«, erklärte er. »Ich habe mich auf das Niveau der Belloqs dieser Welt begeben.« »Was ist ein Belloq?« »Ein ganz spezielle Art von kleinem Monster«, sagte Indy. »Nur dass ich das, was er für Geld tut, aus Liebe tue.« »Ich verstehe nicht.« »Ich sagte doch, ich möchte nicht darüber sprechen.« »Bitte!« »Das ist eine lange Geschichte, und ich bin nicht mal sicher, ob ich einem Freund davon erzählen würde. Sie scheinen mich nicht sonderlich zu mögen.« Sie rückte näher an ihn heran und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Ich weiß nicht, ob wir jemals Freunde werden können«, sagte sie, »aber jetzt, da ich Ihre Geschichte höre, hat meine Abneigung gegen Sie bereits ein wenig nachgelassen. Bitte, sollten Sie sich mir gegenüber zu ein wenig Dank verpflichtet fühlen, weil ich Sie aus diesem Loch herausgezogen habe, dann erzählen Sie mir den Rest Ihrer Geschichte. Die Welt kennt so wenige große Liebesgeschichten, dass Sie diese eine nicht im Verborgenen halten sollten.« Indy räusperte sich. »Woher wollen Sie wissen, dass sie groß ist?«, fragte er. »Liebe, wie gewonnen, so zerronnen - das ist eine eher alltägliche Geschichte, finden Sie nicht? Das geschieht Königen und armen Menschen mit derselben wenig bemerkenswerten Regelmäßigkeit.« »Vertrauen Sie mir«, sagte sie. »Und erzählen Sie weiter.« Indy schloss die Augen. Er fühlte sich, als sei er im Begriff, sein schlagendes Herz herauszureißen, um es Ulla zu zeigen. Er erzählte ihr, wie er, tief im Dschungel von British Honduras, in der versunkenen Stadt Cozán einen aus Quarzkristall hergestellten Schädel gefunden hatte. »Er war nach einem weiblichen Schädel modelliert worden und bestand aus reinstem Quarzgestein, wunderschön gearbeitet, ein Kultgegenstand, den irgendein untergegangenes Volk offenbar als gleichermaßen ermutigend und beängstigend verehrt hat. Aber wie bei solchen Schätzen üblich, lag ein Fluch darauf. In diesem Fall war er allerdings ein wenig teuflischer als die meisten: Der Finder des Schädels würde nicht etwa sterben, sondern er würde das töten, was er am meisten liebte.« »Und was lieben Sie am meisten?« »Nicht was, sondern wen«, korrigierte Indy. »Sie hieß Alecia Dunstin. Rotes Haar, blaue Augen. Eine Frau mit einer besonderen Beobachtungsgabe. Sie war die Schwester eines Alchemisten, den die Faschisten gefangen genommen hatten, weil sie hofften, er könne Blei m Gold verwandeln.«
»Sie kam ums Leben?« »Sie überlebte, doch das war nicht mein Verdienst«, sagte Indy. »Ich war schlecht für ihre Gesundheit.« »Sie wurde krank?« »Ich hätte um ein Haar ihren Tod verschuldet«, erklärte Indy. »Die merkwürdigsten Dinge geschahen, wenn wir zusammen waren. Gewöhnlich ging es darum, dass irgendjemand einen anderen umzubringen versuchte. Je vertrauter wir miteinander wurden, desto schlimmer wurde es. Am Ende scheiterte das Vorhaben, Blei in Gold zu verwandeln. Ihr Bruder kam ums Leben, wie so viele andere auch. Sie überlebte, wenn auch nur knapp. Es war zu viel, für uns beide. Ich habe sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.« »Wo ist sie jetzt?« »Das weiß ich nicht«, sagte Indy. »Vermutlich immer noch in England. Wir sprechen nicht mehr miteinander.« »Und der Schädel?«, fragte Ulla. »Verschwunden«, erwiderte Indy. »Nachdem man ihn mir gestohlen hatte, ging er durch mehrere Hände, bevor er an Bord eines U-Bootes der Nazis unterging. Allerdings befindet er sich in einem wasserdichten Kanister, der möglicherweise wieder an die Oberfläche gelangt ist und aufs offene Meer hinausgetrieben wurde.« »Niemand weiß, wo er sich befindet?« »Einer weiß es ganz bestimmt«, sagte Indy. »Und dieser eine, der zu wissen behauptet, wo er sich befindet, wird es Ihnen nur gegen ein entsprechendes Entgelt verraten«, vermutete Ulla. »Und das Gold soll dazu dienen, diese Information zu kaufen, damit Sie den Schädel ausfindig machen und in den Dschungel zurückbringen können, in der Hoffnung, den Fluch damit aufzuheben?« »Ja«, gestand Indy. »Aber wenn dieser Mensch weiß, wo sich der Schädel befindet, wieso bringt er ihn dann nicht selbst in seinen Besitz?«, fragte sie.
»Weil er damit die Nazis reinlegen würde, die ihn bereits einmal dafür bezahlt haben«, erklärte Indy. »Für ihn ist es sicherer, mir die Information zu verkaufen und mich anschließend Kopf und Kragen riskieren zu lassen.« Einen Augenblick lang erwiderte Ulla nichts. »Das klingt ziemlich unglaubhaft »Glauben Sie, was Sie wollen«, sagte Indy. Die Flammen des Lagerfeuers tanzten in Ullas Augen, während sie mit sich rang, ob sie Indys Geschichte glauben sollte. »Diese Engländerin«, sagte sie leise. »Haben Sie sich je...« »Ob wir uns je geliebt haben?«, unterbrach Indy sie. »Nein. Es mag sich unsinnig anhören, aber ich glaube, das war das Einzige, was sie am Leben erhalten hat.« »Das ist traurig«, meinte Ulla. »Aber Sie stehen mit Ihrem Problem nicht allein. Sexualität und Tod wurden sowohl in der Mythologie als auch bei Geisteskrankheiten schon oft miteinander in Verbindung gebracht.« »Sie halten mich für verrückt?« »Nein«, erwiderte sie vorsichtig, »allerdings haben zahlreiche Menschen mit ähnlichen Problemen bereits sehr gut auf eine Therapie angesprochen.« »Ich brauche keinen Psychiater«, sagte Indy. »Selbstverständlich nicht«, gab Ulla ihm Recht. »Und Sie haben auch kein Problem mit der Wirklichkeitswahrnehmung. Sie sind der berühmte Indiana Jones, der, wenn er nicht gerade untergegangene Städte entdeckt oder den Faschismus bekämpft, unter einem Fluch leidet, der seine einzig wahre Liebe umzubringen droht.« »Wenn Sie es so formulieren«, sagte Indy, »klingt es natürlich verrückt.« »Worauf wollen Sie also hinaus, Mr. Jones?« »Das Mindeste, was Sie tun könnten, ist mich mit Dr. Jones ansprechen!« »Genau das meinte ich.«
Indy sprang auf. »Mir reicht es«, sagte er, schlang die Decke um seine Hüfte und ging daran, seine noch immer feuchten Kleider einzusammeln, die auf der anderen Seite des Feuers an Stöcken hingen. »Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben, Schwester, aber wenn ich noch eine Minute länger hier bleibe, verliere ich wirklich den Verstand.« »Setzen Sie sich wieder hin«, sagte Ulla ruhig. »Ich denke nicht daran«, sagte Indy. »Das Maß ist voll.« »Setzen Sie sich hin, Mr. Jones«, wiederholte sie. »Sehen Sie nicht, dass wir nicht alleine sind?« Indy erstarrte. Am Rand des Feuerscheins stand ein Mann mit einem Gewehr. Der Mann war groß und breitschultrig, hatte wirres schwarzes Haar, und sein Gesicht war weitgehend hinter einem Bart verborgen, der so dicht und verfilzt war wie ein Brombeerdickicht. Bei dem Gewehr handelte es sich um eine alte einschüssige Flinte mit verschrammtem und rostigem Lauf, wie sie sich ein Farmer halten würde, um Kleingetier zu schießen. »Ein Streit unter Liebenden?«, knurrte der Mann. »Wie lang stehen Sie da schon?«, fuhr Indy ihn an. »Lange genug, um zu hören, was ich wissen muss«, krächzte der Mann. »Lange genug, um zu verstehen, dass Sie über Gold gesprochen haben. Und lassen Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann.« »Gold?«, fragte Indy. »Lügen Sie nicht«, sagte Ulla. »Das gehört sich nicht. Außerdem kennt er die Wahrheit offenbar. Mag sein, dass Sie bereit sind, für Ihr geliebtes Gold zu sterben, ich bin es jedenfalls nicht.« Indy ließ die Schultern hängen. »Lassen Sie sie oben«, warnte ihn der Mann. »Die Frau hat Recht. Gut möglich, dass ich Sie beide töte.« »Wer sind Sie, Mister?«, fragte Indy. »Sie sehen mir nicht so aus, als würden Sie jemanden umbringen.«
»Da täuschen Sie sich«, erwiderte der Mann geschwollen. »Ich habe eine Grenze in meinem Kopf überschritten, so als wäre ich kein Mensch mehr, sondern irgendein Tier. Das ist es doch, worum es im Leben geht, oder etwa nicht? Dreiundvierzig Jahre habe ich gebraucht, um zu kapieren, wie das Spiel heißt: „Fressen oder gefressen werden“.« »So schlimm kann es doch nicht stehen«, bemerkte Indy. »Bestimmt können wir uns irgendwie einigen.« »Ihr Typen aus der Stadt wollt immer einen Kuhhandel abschließen, was?«, fragte der Mann mit Ekel in der Stimme. »Ich bin nichts weiter als ein Mann, der seine Farm in den Sand gesetzt und an die Bank verloren hat. Meine Frau ist mit diesem Stadtmenschen durchgebrannt, der mir die Papiere zugestellt hat. Also hab ich gesagt, zum Teufel damit, ich gehe nach Westen. In Tulsa, bei einem Stadtmenschen, der schwor, die Kiste würde mich bis nach Kalifornien bringen, habe ich meinen letzten Zehner für eine armselige Klapperkiste von einem Auto ausgegeben. Drei Tage später, in New Mexico, hat es mich im Stich gelassen. Das Getriebe war mit Sägespänen gefüllt, damit die kaputte Schaltung keinen Lärm machte, bis ich den Staat verlassen hatte. Von da an habe ich mich treiben lassen, und in welcher Stadt ich auch lande, überall erzählt man mir, sie hätten dort Gesetze gegen Landstreicherei. Also ernähre ich mich seitdem von allem, was das Land so hergibt, und das ist nicht gerade die Sorte Land, die einen fett macht. Was für einen Kuhhandel wollen Sie mir also vorschlagen, Sie Stadtmensch?« »Ich gebe zu, Sie hatten eine Pechsträhne«, sagte Indy, noch immer mit erhobenen Händen. »Aber warum nehmen Sie nicht diese Rattenflinte runter, essen einen Happen, und wir besprechen die Situation?« »Ich diskutiere nicht im Sitzen«, gab der Mann zurück. Er senkte das Gewehr ein wenig und sah sich in der Dunkelheit um. »Außerdem macht mir der Ort hier eine Heidenangst«, sagte er beinahe flüsternd. »Hier wimmelt es
nur so von Klapperschlangen, Pantern und Gespenstern. Von Indianern auch, schätze ich. Wir haben hier in der Gegend eine Menge von ihnen umgebracht.« »Sind Sie ein religiöser Mensch?«, erkundigte sich Indy. »Was hat das damit zu tun?«, fuhr der Mann ihn an. »Dann kennen Sie sich also in der Bibel aus, nicht wahr?« »Klar hab ich die Bibel gelesen«, meinte er. »Dann kennen Sie die Geschichte über die Wildnis«, fuhr Indy fort. »Und wie Gott sie dazu benutzt, um den Mut der Menschen auf die Probe zu stellen. Und genau das tut er jetzt mit Ihnen, genau in diesem Augenblick. Dies ist Ihre Prüfung.« »Das ist keine Prüfung.« »Nein?«, fragte Indy. »In einem Punkt haben Sie Recht. Wir haben tatsächlich Gold. Es befindet sich dort drüben in dem Rucksack. Zeigen Sie es ihm, Ulla.« Ulla öffnete den Rucksack und nahm einen der Barren heraus. »Donnerwetter«, entfuhr es dem Mann. »So viel Gold hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Was rede ich da? Ich hab praktisch überhaupt noch kein Gold gesehen.« »Es würde Sie zu einem reichen Mann machen.« »Ich könnte wieder in einem richtigen Bett schlafen«, meinte der Mann versonnen. »Mit Laken. Und könnte morgens frühstücken, Steak mit Eiern. Und danach in ein Geschäft gehen und mir einen neuen Anzug kaufen.« »Das alles könnten Sie tun«, gab Indy ihm Recht. »Die Sache hat nur einen Haken.« »Und der wäre?« »Sie werden uns vorher töten müssen.« »Mr. Jones!«, sagte Ulla. »Sprechen Sie nur für sich.« »Sie hat Recht«, sagte Indy. »Sie brauchen nichts weiter zu tun, als mich zu töten.« »Ach was«, meinte der Mann. »Ich müsste Sie beide töten , damit es keine Zeugen gibt.«
»Also gut«, gab Indy ihm Recht. »In diesem Fall sollte es Ihnen nicht allzu schwer fallen, schließlich habe ich im Augenblick nichts weiter als ein Handtuch an. Ich habe kein Messer, keine Waffe. Ich trage nicht mal Schuhe. Sie zu töten könnte ein wenig schwieriger werden, denn möglicherweise läuft sie fort. Oder aber, das ist jetzt nur eine Vermutung, sie entscheidet sich zu kämpfen. Sie sollten im Stande sein, dieses Altertümchen recht schnell nachzuladen. Aber täuschen Sie sich nicht, Mister, das ist noch nicht der schwierige Teil.« »Nein?« »Nein«, sagte Indy. »Der schwierige Teil beginnt, wenn Sie in dem großen Bett schlafen, wenn Sie Ihr Steak mit Eiern essen und sich die neuen Kleider kaufen. Glauben Sie, Sie wären dazu fähig, wenn Sie wüssten, dass Sie ein Mörder sind?« Der Mann besann sich einen Augenblick. »Doch«, antwortete er. »Ich denke, das kriege ich schon hin.« Er zielte auf Indys Brust. »Ich hatte befürchtet, dass er das sagen würde«, meinte Ulla. »Was zum -« Plötzlich wurde der Lauf des Gewehrs nach oben gerissen, und das Gewehr feuerte in den Nachthimmel. Das Gewehr war dem Mann mit einem Eichenstab aus der Hand geschlagen worden, den ein Mann mit nacktem Oberkörper schwang, mit schulterlangen grauen Haaren und einem Holzkreuz um den Hals. Sein Blick war wild, und quer über seinem Hals befand sich eine schlecht verheilte Narbe von vor langer Zeit. Er warf den Stock zur Seite, zog ein gut gewetztes Messer aus dem Gürtel und warf sich auf den Möchtegernkiller. Mit einer Hand packte er dessen schwarzen Haarschopf, während er mit der anderen, bereit zum tödlichen Hieb, die Klinge hob. »John Seven Oaks«, sagte Indy.
Die Klinge zögerte. »Töten Sie ihn nicht«, bat Indy. Der Wilde schaute fragend über seine Schulter. Das genügte, um seinem Opfer zu erlauben, unter ihm hervorzukrabbeln. Der Mann rappelte sich stolpernd auf und stürzte, sein Gewehr zurücklassend, Hals über Kopf in die Dunkelheit. Der Wilde schüttelte den Kopf. Er erhob sich, das Messer noch immer fest mit seiner rechten Hand umklammert. Er zeigte auf den davonlaufenden Mann und machte eine stoßende Bewegung mit seinem Messer. »Ja, vermutlich hat er es verdient«, pflichtete Indy ihm bei. »Aber jetzt kann er wenigstens im Pine Springs Cafe Geschichten über Sie erzählen. Das ist doch besser, oder?« Der Wilde grinste. »Danke«, sagte Ulla. »Ich weiß nicht, was -« »Das wäre noch ein wenig verfrüht«, warnte Indy. »Außerdem kann er Ihnen nicht antworten.« »Wer ist dieser Kerl?« Indy sagte es ihr. John Seven Oaks ging hinüber zum Lagerfeuer und untersuchte den Goldbarren, der dort auf der Erde lag. Dann versetzte er dem Rucksack mit einer nackten Zehe einen Stoß, und sein Blick fiel auf die beiden anderen Barren. »Was hat er jetzt vor?«, fragte Ulla. »Will er sie sich selber unter den Nagel reißen?« »Er hat für Gold keine Verwendung, außer vielleicht, um es zu beschützen«, erklärte Indy. »Das weiß ich, weil ich seine Fußabdrücke in der Schatzhöhle gesehen habe.« Er hielt inne. »Nein, ich würde sagen, im Augenblick überlegt er, ob er uns die Köpfe abschneiden soll.« »Wirklich merkwürdig«, bemerkte Ulla. Seven Oaks wandte sich herum zu Indy, ballte seine freie Hand zur Faust und hielt sie sich vors Herz. Dann schleuderte er die Faust in Richtung Boden. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Ulla.
»Indianische Zeichensprache«, gab Indy zurück. »Er sagt, er sei sehr traurig - sein Herz läge am Boden.« »Woher wissen Sie das?«, fragte sie erstaunt. »Ich war als Junge bei den Pfadfindern.« Seven Oaks zeigte auf das Gold, dann hielt er die Hand in die Höhe, die Handfläche nach außen und die Finger gespreizt, und schwenkte sie ganz langsam hin und her. »Er möchte wissen, warum ich das Gold gestohlen habe«, übersetzte Indy. »Lassen Sie sich bloß etwas Vernünftiges einfallen«, tuschelte Ulla. »Wenn ich es schon nicht geglaubt habe, wie wollen Sie dann ihn dazu bringen, dass er es versteht?« »Er ist nicht taub«, sagte Indy. »Nur stumm. Er versteht, was Sie sagen. Also seien Sie einen Augenblick lang still, ja?« »Ich hätte Sie in der Höhle lassen sollen.« Ulla schüttelte angewidert den Kopf. »Hören Sie«, wandte sich Indy an Seven Oaks, »ich versuche einen Fehler wieder gutzumachen. Tut mir Leid, dass ich es nicht so erklären kann, dass Sie es verstehen, aber ich brauchte das Gold, um gegen ein Unheil anzukämpfen, das jemand in der Welt entfesselt hat, in der unsere Herzen wohnen.« Seven Oaks verschränkte die Arme und musterte Indy argwöhnisch, so als wollte er fragen, was er von jenem Ort wisse, wo die Herzen wohnen. »Alle Menschen«, fuhr Indy fort, »befinden sich auf derselben Reise. Sie hat viele Namen, aber es gibt nur einen Weg. Viele kommen von diesem Weg ab, viele beschreiten ihn in der falschen Richtung, und viele stolpern einfach mit geschlossenen Augen -« Während Indy sprach, war Ulla herangeschlichen, hatte ihre Füße fest auf den Boden gesetzt, mit der Faust ausgeholt und versetzte John Seven Oaks gekonnt einen Schlag auf einen Druckpunkt hinter seinem Ohr. Der Wilde sank bewusstlos in den Staub.
»Warum haben Sie das getan?«, fragte Indy. »Lieber würde ich sterben, als mir noch einmal Ihre Erklärung anzuhören«, versetzte sie, während sie das Messer aus Seven Oaks' ausgestreckter Hand befreite. »Wo haben Sie das gelernt?«, sprudelte Indy hervor. »Alle artigen Wikingermädchen lernen, wie man kämpft«, erklärte sie. »Nur vermeiden wir es, solange es nicht unbedingt erforderlich ist.« Dann ertastete sie den Puls seitlich am Hals des sonnengegerbten Mannes. »Es geht ihm ausgezeichnet«, erklärte sie. »Aber in ein paar Minuten wird er wieder zu sich kommen und wütend sein. Verschwinden wir von hier, solange wir noch dazu in der Lage sind.« Eine rote Staubwolke hinter sich herwirbelnd, verließ der altersschwache Viehlaster die Landstraße und hielt vor der Zufahrt des kleinen Landeplatzes am Stadtrand von El Paso. Der Lastwagen holperte durch ein besonders tiefes Schlagloch, schüttelte sich markerschütternd und hielt schließlich mit rutschenden Reifen vor dem Hangar an. Indiana Jones sprang von der mit Gittern versehenen Ladefläche das Lastwagens herunter und landete unsicher auf dem Boden. Der Rucksack hing über seiner Schulter. »Sind Sie noch ganz?«, rief der Cowboy vom Fahrersitz aus. »Mehr oder weniger«, antwortete Indy, während er die restlichen Taschen von der Ladefläche des Lasters herunterzerrte. Anschließend klopfte er sich mit seinem Hut Stroh und Staub von den Kleidern. Die Dungflecken auf seinem Hosenboden ließen sich allerdings nicht so leicht entfernen. »Sie sagten doch, Sie wären in Eile, Mister«, sagte der Cowboy. »Und wie ich schon erwähnte, ich fahre gern schnell und riskant.« »Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie gut Sie Ihre Sache machen würden, hätte das Ding noch so etwas wie eine
Federung«, erwiderte Indy. Er langte durch das Fenster auf der Fahrerseite und schüttelte dem Cowboy die Hand. »War mir ein Vergnügen«, meinte der Cowboy und deutete mit dem Daumen auf Ulla, die auf dem Sitz neben ihm saß. »Kommt nicht oft vor, dass ich ein so hübsches Kälbchen neben mir sitzen habe.« »Ich danke Ihnen«, sagte Ulla gequält lächelnd. »Glaube ich wenigstens.« »Das war ein ziemliches Kompliment«, klärte Indy sie auf. »Ich würde sagen, nach dem Gestank auf der Ladefläche zu urteilen, hat er schon jede Menge Rinder transportiert.« Ulla hielt dem Cowboy eine Fünfdollarnote hin. »Ich hoffe, das ist genug für Ihre Bemühungen«, sagte sie. »Stecken Sie Ihr Geld weg, Miss.« Der Cowboy zupfte an der Krempe seines zerschlissenen Strohhuts. »Damit kann ich nichts anfangen.« »Dann vielen Dank«, wiederholte Ulla und stieg aus. »Tja, ich muss los, Amigos. Der Boss zieht mir das Fell über die Ohren, wenn er erfährt, dass ich fünf Stunden unterwegs war«, sagte der Cowboy. »Adios!« Indy winkte, als der Lastwagen mit einem Ruck anfuhr. Der Fahrer stieß ein Rebellengeheul aus und raste die Zufahrt zur Landstraße hinunter. »Ein leidenschaftlicher junger Mann«, bemerkte Ulla. »Die Fahrt werde ich nicht so schnell vergessen.« »Ich auch nicht«, sagte Indy. »Jedes Mal, wenn ich schlucke, bekomme ich einen kleinen Vorgeschmack auf Texas.« »Wo sind wir hier eigentlich?« Ulla kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und erfasste mit einem Blick das festgestampfte Rollfeld und den Hangar mit dem abblätternden Farbanstrich, der in nicht allzu ferner Vergangenheit ganz offensichtlich noch ein Pferdestall gewesen war. Ein eindrucksvolles Schild über dem Eingang zum Büro verhieß in gold-roten Lettern: GEBRÜDER WARD LUFTFRACHT. Darunter befand sich ein handschriftlicher Zusatz: Wir stellen keine Fragen.
»Gibt es von hier aus eine regelmäßige Flugverbindung?«, wollte Ulla wissen. »Kann ich von hier eine Maschine an die Ostküste bekommen?« »Sehen Sie die rot-silberne Maschine da draußen auf dem Rollfeld?«, fragte Indy. »Ja.« »Das ist Ihr Flug zur Ostküste. Oder zur Westküste. Oder, was das anbelangt, nach Kanada oder Mexiko. Das hier ist eine Transportfirma, die von zwei Typen geführt wird, die in Erbie, Arkansas, aufgewachsen sind. Es ist keine Passagierlinie.« »Sie scherzen«, sagte Ulla. »Ich scherze nie, Schwester«, klärte Indy sie auf, als er vor der Tür zum Büro kurz stehen blieb. »Wenn Sie heute noch einen Flug von hier bekommen wollen, werden Sie mit mir zusammen fliegen müssen.« »Clarence!«, rief Indy, als er das Büro betrat. »Donny! Jemand zu Hause?« Auf dem mit Zeitungen übersäten Schreibtisch stand ein Einmachglas. Indy nahm es in die Hand, schwenkte die klare Flüssigkeit herum, die es enthielt, und schnupperte daran. »Puh«, machte er. »Kerosin?«, fragte Ulla. »Beinahe«, erwiderte Indy. »Schwarz gebrannter Fusel.« »Wie seltsam«, bemerkte Ulla. »Die Prohibition ist vorbei, aber alte Gewohnheiten sind nur schwer auszurotten.« Indy trat durch die offene Tür in den Hangar. Im Gegensatz zur Unordnung im Büro war der Hangar aufgeräumt wie ein OP. Schraubenschlüssel und anderes Werkzeug hingen säuberlich aufgereiht an Wandhaken. In der Mitte des Raumes hing ein Flugzeugsternmotor an einem Hebekran, und daneben stand ein Tisch, auf dem die dazugehörigen Kolben und Pleuelstangen aufgereiht lagen. »Sieht verlassen aus«, stellte Ulla fest.
»Nicht ganz«, korrigierte Indy. Er ging hinüber und trat gegen ein Stiefelpaar, das unter dem Arbeitstisch hervorlugte. »He!«, erfolgte die schläfrige Antwort. »Aufstehen«, kommandierte Indy. »Du hast Kundschaft.« Ein großer Kerl kam unter dem Tisch hervorgekrochen. Er war ungefähr im selben Alter wie Indy, und auf der Brusttasche seines Overalls stand der Name Bob. »Ach, du bist es«, sagte der Mann und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich hab bloß meinen Augen etwas Ruhe gegönnt und darüber nachgedacht, wie ich die Stifte in die Kolben einsetze.« »Klar, Clarence«, sagte Indy. »Ich habe an dem Krug im Büro gerochen, aus dem du deine Eingebungen beziehst.« »Also, ich bin nicht betrunken«, protestierte der Mann ein wenig zu genuschelt, um überzeugend zu wirken. »Ich hab das Zeug nur wegen der Schlangenbisse vorne. Du weißt doch, wie schnell es auf dem Rollfeld von den Biestern nur so wimmelt.« »Allerdings«, sagte Indy. »Sie heißen Clarence?«, fragte Ulla. »Aber auf Ihrem Namensschild ...« »Er heißt Clarence, egal, was auf dem Namensschild steht.« »Augenblick mal, Indy«, protestierte Clarence. »Du weißt, ich werde lieber Bob genannt. Deswegen hab ich es mir auf die Overalls gestickt.« »Sein zweiter Vorname ist Robert«, erklärte Indy. »Aus irgendeinem Grund mag er Clarence nicht. Wo steckt dein Bruder?« »Donny ist runter nach Juarez gefahren«, sagte er. »Den sehe ich frühestens in ein paar Tagen wieder.« Indy schüttelte Clarence die Hand. Dann nahm er den Rucksack von der Schulter und ließ ihn mit einem metallischen Klirren auf den Boden gleiten.
»Was hast du da drin?«, wollte Clarence wissen. »Ziegelsteine?« »Das braucht dich erst mal nicht zu kümmern«, sagte Indy. »Du musst mir einen Gefallen tun, alter Freund.« »Kommt nicht in Frage«, entfuhr es Clarence. »Wenn du um einen Gefallen bittest, gibt es meistens Ärger. Was ist es denn diesmal, Jones? Es wird dir nicht noch einmal gelingen, mich zu überreden, etwas aus Yucatán herauszufliegen. Das letzte Mal habe ich eine Woche gebraucht, um all die Einschusslöcher wieder zu flicken.« »Diesmal ist die Sache völlig harmlos«, erklärte Indy. »Du brauchst nichts weiter zu tun, als einen kleinen Flug für mich zu unternehmen.« »Für uns«, korrigierte Ulla. »Sie werden mich hier auf keinen Fall zurücklassen, Mr. Jones. Sie haben bereits meine Forschungsexpedition in das Guadelupe-Gebirge vereitelt, jedenfalls solange es dort Oakies und Wilde gibt.« »Wer ist hinter dir her?«, wollte Clarence wissen. »Niemand«, sagte Indy. »Jedenfalls nicht mehr, seit ich Kansas verlassen habe. Sie glauben, ich sei tot.« »Großartig«, sagte Clarence. »Hör doch, es ging lediglich um -« Clarence hob seine Hand. »Je weniger ich weiß, desto besser. Dann kann ich, wenn mir jemand die Finger brechen will, wenigstens behaupten, ich hätte keinen Schimmer, worum es überhaupt geht. Abgesehen davon kann ich auch gar nicht.« »Das heißt, du willst nicht«, sagte Indy. »Nein, ich kann nicht«, wiederholte Clarence und deutete auf das auf dem Rollfeld stehende Flugzeug. »Ich hab übermorgen einen Auftrag, ich muss Bohrgerät nach Mexico City fliegen, und die Kisten sind bereits in Missy dort draußen verladen worden.« »Das ist kein Problem«, sagte Indy. »Du bist rechtzeitig wieder hier.« »Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Clarence,
während er einen Kombischlüssel vom Tisch nahm und ihn mürrisch mit einem Lappen abzuwischen begann. »Seltsamerweise werden bei dir aus zwei Tagen schnell schon mal zwei Wochen.« »Das Ganze wird ein Kinderspiel«, erklärte Indy. »Du hast nicht das Geringste zu befürchten. Hast du hier irgendwo ein Telefon?« »Da drüben an der Wand hängt eins«, sagte Clarence und deutete mit dem Schraubenschlüssel darauf. »Großartig«, sagte Indy. »Lass es dir einfach durch den Kopf gehen. Es springt auch etwas für dich raus.« »Das kommt mir ebenfalls bekannt vor.« Mehrere Minuten und ein halbes Dutzend Fräuleins vom Amt später, wurde Indy mit Brodys Büro im American Museum of Natural History in New York verbunden. »Indy!«, rief Brody. »Du hast Glück, dass du mich erwischst. Ich wollte gerade das Büro verlassen. Ich muss gestehen, alter Junge, ich habe mir höllische Sorgen um dich gemacht. Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?« »Und sogar noch etwas mehr«, sagte Indy, sich zu Ulla umdrehend. »Hervorragend«, rief Brody. »Und die Karte?« »Ja, die Karte habe ich auch noch.« »Noch besser.« »Äh, da wäre nur ein kleines Problem«, sagte Indy. »Auf Grund gewisser Umstände, auf die ich keinen Einfluss hatte, hat sich die Karte m einen feuchten Klumpen von der Größe eines Tennisballs verwandelt.« Brody machte tief im Hals ein gurgelndes Geräusch. »Augenblick, Marcus«, kam Indy ihm zuvor. »Ich bin sicher, die Experten des Museums können sie wieder so zusammensetzen, dass sie wie neu ist. Ich habe die Karte feucht gehalten - das soll man doch, oder? -, außerdem sind deine Techniker die besten, die es gibt.« »Sicher«, stöhnte Brody. »Aber Wunder können auch sie nicht vollbringen. Wie schlimm ist es?«
»Na ja, ziemlich schlimm«, gestand Indy. »Indy«, sagte Brody tadelnd. »Oh, Indy.« »Es tut mir Leid, Marcus. Sollte die Karte nicht in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden können, erkläre ich mich bereit, sie zu bezahlen.« Was bei meinem Gehalt annähernd bis 1972 dauern dürfte, überlegte Indy. »Nun, es hat wenig Sinn, voreilige Schlüsse zu ziehen«, sagte Marcus. »Wir werden sehen, was die Jungs im ersten Stock ausrichten können. Viel wichtiger ist, Indy, geht es dir gut?« »Mir geht es ausgezeichnet«, erklärte Indy. »Danke der Nachfrage.« »Übrigens«, sagte Brody, »du hast ein Kabel hierher bekommen. Die Nachricht ist ziemlich rätselhaft, fürchte ich.« »Was steht drin?« »Einen Augenblick.« Brody durchwühlte seine Taschen erst nach seiner Brille, dann nach dem Telegramm. »Da ist es „An Indiana Jones, zu Händen Marcus Brody. Sind Sie interessiert, ja oder nein? Eine solche Gelegenheit bietet sich nicht oft, und Sie lassen sie verstreichen. Werde bis Dienstag auf der Straße warten, dann ist die Party vorbei“. Unterzeichnet ist es mit „Ein Sie bewundernder Kollege“. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn, Indy?« »Ich denke, ja«, sagte er. Indy schloss die Augen. Warum musste dieser arrogante - wie hieß er gleich - Spiele spielen? Wäre es zu viel verlangt gewesen, eine Adresse oder Telefonnummer anzugeben? »Indy, bist du noch dran?« »Ich bin hier. Welcher Tag ist heute, Marcus? Ich habe ein wenig den Überblick verloren.« »Dienstag, selbstverständlich.« »Fantastisch.« »Da ist noch etwas, Indy«, bemerkte Brody. »Die Jungs vom Nachrichtendienst der Armee haben noch einmal an-
gerufen. Sie sind ziemlich versessen darauf, sich mit dir in Verbindung zu setzen.« »Haben sie eine Nachricht hinterlassen?« »Eine Nummer.« »Gib sie mir«, sagte Indy. An einem Bindfaden an der Wand hing ein Bleistift, und diesen benutzte Indy, um sich die Nummer auf seinem Ärmel zu notieren. »Sie meinten, es sei ziemlich wichtig, dass sie sich mit dir in Verbindung setzen.« »Ich werde sie anrufen, sobald es geht«, versprach Indy. »Ich muss los, Marcus. Danke für alles.« »Indy«, fragte Brody. »Willst du mir nicht wenigstens verraten, wo du steckst?« Doch Indy hatte bereits aufgelegt. Er klatschte in die Hände und ging zurück zu der Stelle, wo Clarence und Ulla warteten. »Hast du es dir überlegt?« »Kommt darauf an«, sagte Clarence. »Wohin soll ich dich bringen?« »Nach New Orleans.« »New Orleans?«, kam es von Clarence und Ulla wie aus einem Mund. »Ich kann dich unmöglich so weit fliegen und meine Fracht rechtzeitig nach Mexico City bringen.« »Aber selbstverständlich kannst du das«, widersprach Indy. »Hör zu, du wärst doch schon so gut wie am Ziel -fehlt nur noch ein kleiner Sprung über den Golf.« »Du solltest mal einen Blick auf die Karte werfen«, sagte Clarence. »Ich will nicht nach New Orleans«, warf Ulla ein. »Ich dachte, Sie würden mich in irgendeine Stadt an der Ostküste bringen, von wo aus ich ein Schiff nach Hause nehmen könnte.« »Aber New Orleans ist eine Hafenstadt«, sagte Indy. »Außerdem liegt es fast am Atlantik.«
»Kommt nicht in Frage, Mr. Jones.« Ulla drohte ihm mit erhobenem Finger. »Mr. Jones?«, wunderte sich Clarence. »Wieso hast du die nette junge Frau angelogen? Hast du ihr nicht erklärt, wer du bist? Hast du ihr etwa versprochen, Sie nach Hause zu bringen? Was für eine Nummer willst du hier eigentlich abziehen, Indy?« »Ich will überhaupt nichts abziehen -« »Ich muss mich wirklich für dich schämen«, meinte Clarence tadelnd. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Ulla. »Wer sind Sie denn nun wirklich?« »Ich versuche schon die ganze Zeit -« »Wieso, das ist Indiana Jones«, sagte Clarence. »Tut mir Leid, Indy, aber ich werde einen Teufel tun und lügen. Ich stelle keine Fragen, aber das ist etwas anderes, als wenn man gebeten wird zu lügen.« »Soll das heißen, Sie sind tatsächlich Indianapolis Jones?«, sprudelte Ulla hervor. »Ihrem Hut konnte ich entnehmen, dass Sie Jones mit Familiennamen heißen, aber ich dachte, Sie wollten mich aufziehen mit dieser -« »Indiana«, unterbrach er sie. »Mein Name ist Indiana. Aber es stimmt, ich bin es wirklich.« »Er ist es«, sagte Clarence. »Er ist in allen achtundvierzig Staaten berühmt und teilweise sogar im Ausland. Ich habe eine ganze Wand voller Zeitungsausschnitte im Büro, wissen Sie. Es gibt dort Fotos, was Sie wollen. In einigen von ihnen taucht sogar mein Name auf. Aber meist nur in den Verhaftungsprotokollen.« »Mach ihr kein falsches Bild«, sagte Indy. Er wandte sich zu Ulla. »Ich bin nie verhaftet worden.« »Vergisst du jetzt nicht das eine Mal, als ich dich aus diesem kleinen Gefängnis in El Cedrál auf Cozumel herausgeholt habe?«, fragte Clarence. »Und dann war da noch diese Geschichte in Costa Rica -« »Das war etwas anderes«, sagte Indy. »Die Sache in El
Cedrál stand in Verbindung mit meiner Arbeit, außerdem haben sich die Beschuldigungen nicht aufrechterhalten lassen. Und das in Costa Rica war schlicht ein Missverständnis.« »Also gut«, sagte Ulla. Sie hatte die Arme verschränkt und tippte zornig mit ihrem rechten Fuß auf den Boden. »Es tut mir Leid. Ich schätze, ich hätte Ihnen glauben sollen.« »Hören Sie, wir haben jetzt keine Zeit, das alles zu besprechen«, meinte Indy. »Ich muss unbedingt nach New Orleans, und zwar auf schnellstem Weg.« »Es ist jetzt fast elf.« Clarence sah auf seine Uhr und ging hinüber zu einer an der Wand hängenden Nord- und Mittelamerikakarte. Mit Hilfe der Spanne zwischen Daumen und kleinem Finger maß er die Entfernung ab. »Bis nach New Orleans sind es eintausend Meilen, mehr oder weniger. Missys Reisegeschwindigkeit beträgt fast zweihundert Meilen in der Stunde. Wenn wir Glück haben, könnte ich dich gegen vier heute Nachmittag in Louisiana absetzen.« »Dann wirst du es also tun?«, fragte Indy. »Was springt dabei raus?«, fragte Clarence. »Schick mir eine Rechnung«, gab Indy zurück. »Du hast doch schon getankt, oder?« »Das kann man wohl sagen«, meinte Ulla kaum hörbar und dachte an das Einmachglas im Büro. »Klar, aber ich sollte dafür sorgen, dass die Tanks noch einmal nachgefüllt werden«, erwiderte Clarence. »New Orleans ist in etwa die weiteste Entfernung, die ich ohne Zwischenlandung schaffe. Geht ihr schon mal vor und klettert an Bord, ich schließe inzwischen ab.« Indy schulterte den schweren Rucksack. »Ulla hat noch ein paar Taschen draußen vor der Tür«, sagte er zu Clarence. »Ich werde sie holen. Geht einfach schon vor und steigt ins Flugzeug.« Indy und Ulla gingen hinaus auf das Rollfeld, wo die zweimotorige DC-2 wartete. Die silberne Verkleidung des
Flugzeuges machte sie in der Sonne nahezu blind. Die Schnauze war mit einer mattroten Farbschicht überzogen. Unter dem Fenster des Piloten stand in schwarzer Schrift der Name des Flugzeugs: Miss Adventure. »Wie kommen wir hinein?«, fragte Ulla. Indy öffnete die falltürähnliche Klappe unter dem Rumpf. »Wir klettern hoch«, sagte er. Indy kniete nieder und ließ Ulla auf seine Schultern treten, dann hievte er sie, trotz ihres Protestes, sie komme auch alleine gut zurecht, ins Innere der Maschine. Anschließend kletterte er hinterher. »Hier drinnen ist es wie in einem Backofen«, meinte sie. Indy kletterte nach vorne ins Cockpit und schob die Seitenfenster auf. Das half, wenn auch nicht sehr. In wenigen Minuten waren ihre Kleider schweißgetränkt. Ulla wischte sich mit dem Handrücken eine verklebte, schlaffe Strähne ihrer blonden Haare aus den Augen und musterte die Kisten im Laderaum. Die meisten von ihnen enthielten laut Beschriftung irgendwelche Maschinenteile und waren fest verschlossen, einige der Kisten jedoch waren offen und nur locker gefüllt. Sie waren voller Spielzeug - Puppen, Hemdchen, alles, was sich im örtlichen Kramladen finden ließ. »Wer verschickt denn Spielzeug zusammen mit dieser Fracht?«, fragte sie. »Niemand«, antwortete Indy. »Clarence kauft die Sachen selbst und verteilt sie an die Kinder in den Slums von Mexico City. Bei anderen Gelegenheiten bringt er ihnen Lebensmittel oder Kleidungsstücke mit.« »Erstaunlich«, sagte Ulla. Als Clarence mit der Überprüfung der Tanks fertig war, reichte er Indy die Taschen und die Bremsklötze durch die Luke. Dann zog er sich ins Innere des Flugzeugs und schloss die Luke hinter sich. »Während des Starts schnallt ihr euch beide besser an«, erklärte er ihnen, während er seinen massigen Körper auf
den Pilotensitz gleiten ließ. »Der ganze Regen in letzter Zeit hat das Rollfeld in das reinste Waschbrett verwandelt.« »Braucht man nicht zwei Personen, um dieses Ding zu fliegen?«, fragte Ulla. »Das wäre schön«, sagte Clarence, während er die Zündung des Steuerbordmotors einschaltete. Er startete in einer Wolke schwarzen Qualms und mit einem stotternden, wimmernden Geräusch. »Ist das normal?«, erkundigte sich Ulla nervös. »Mehr oder weniger«, erwiderte Clarence, als das Motorengeräusch sich zu einem beruhigenden, dröhnenden Röhren normalisierte. Anschließend schaute er aus dem Cockpit auf den anderen Motor, während er diesen ebenfalls zum Leben erweckte. Indy schnallte sich auf den Platz des Kopiloten. Ulla zog es vor, auf der Bank hinter der Kabinentrennwand sitzen zu bleiben. »Besser, ich sehe gar nicht hin«, murmelte sie. »Ein Mal habe ich zugesehen, wie Wurst gemacht wird, und es seitdem stets bereut.« Clarence steckte seinen Kopf zum Fenster hinaus und drehte das Steuerruder scharf nach rechts und links, um die Steuerklappen zu überprüfen. > »Schau mal eben auf deiner Seite raus, Kumpel«, brüllte er. »Höhen- und Seitenruder, und so weiter. Bewegen sie sich so wie sie sollen?« »Alles bestens.« Plötzlich rümpfte Clarence die Nase. »Was ist?«, fragte Indy. »Ich weiß auch nicht«, brüllte Clarence. »Von irgendwoher kommt so ein merkwürdiger Geruch. Ich könnte schwören, dass es sich um frischen Kuhfladen handelt, nur hatten wir keine Kühe mehr auf dem Rollfeld, seit Donny letztes Jahr eine angeflogen hat.«
KAPITEL SECHS Karnevalsdienstag
Selbst um halb fünf nachmittags herrschte auf der Bourbon Street eine Orgie von Ausgelassenheit und Chaos. Ulla an der Hand hinter sich herziehend, bahnte sich Indiana Jones einen Weg durch das Gedränge zur Zuflucht des alten Hotels St. Charles, das noch immer einige Häuserblocks entfernt lag. »Haben diese Menschen alle den Verstand verloren?«, fragte Ulla über das Getöse hinweg. »Ja«, erwiderte Indy, »aber nur vorübergehend. Das Ganze endet morgen - mit dem ersten Tag der Fastenzeit.« Er ließ ihre Hand los, damit sie zu beiden Seiten eines Mannes passieren konnten, der neben einem Laternenmast stand und Saxofon spielte. Ein zerbeulter Hut mit ein paar Münzen darin lag zu des Musikers Füßen. »Gibt es etwas Vergleichbares auch bei Ihnen in Kopenhagen?«, fragte Indy, der mit ausholenden Schritten vorwärts drängte und es eilig hatte, ins Hotel zu kommen. Als keine Antwort erfolgte, drehte er sich um und sah sich einem Meer von unbekannten Gesichtern gegenüber. »Ulla!«, rief er. »Wo zum Teufel stecken Sie?« Indy begab sich durch die Menschenmenge zurück zum Saxofonspieler, der sich mit einer mittelmäßigen Wiedergabe einer beliebten Melodie abmühte. »Verzeihung«, sagte Indy. Die Heiligen setzten ihren Einmarsch fort.
»Haben Sie eine große, blonde Frau gesehen?« Die Heiligen blieben stehen. »Jede Menge, Mann«, antwortete der Saxofonspieler und verdrehte die Augen. »Aber die, nach der Sie suchen, wurde in die grüne Tür dort hinter uns gezogen. Ich dachte mir schon, dass Sie nach ihr suchen würden.« »Danke«, sagte Indy. »He!«, brüllte der Saxofonspieler. »Tut mir Leid«, rief Indy zurück. »Kein Kleingeld.« Indy bahnte sich einen Weg hinüber zu der massiven Tür, auf die der Musiker gedeutet hatte. Als er nach dem Messingtürknauf griff, lehnte sich ein großer Kerl mit Glatze und Bart dagegen und knallte sie geräuschvoll zu. An seinen Fingern funkelten Ringe. »Was glaubst du eigentlich, wo du hinwillst?« »Ich bin auf der Suche nach einem Freund.« »Da drinnen hast du keine Freunde«, erklärte der Mann. »Dann bitte ich um Entschuldigung«, sagte Indy. Im Wegdrehen schnappte er sich eine Bierflasche vom Trottoir, wirbelte herum und schlug dem Kahlen damit auf den Kopf. Die Flasche ging zu Bruch, und das Gesicht des Mannes war blutüberströmt. »He, was soll denn das jetzt?«, fragte der Mann benommen, während er zu Boden sank. Indy lehnte ihn an das Gebäude, dann stürmte er durch die grüne Tür ins Haus. »Ulla?«, rief er. Aus dem Hintergrund war ein Schrei zu hören. Indy rannte auf das Geräusch zu, doch seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Er stolperte über einen Tisch mitsamt Stühlen. »Bleib auf der Stelle stehen, sonst machen wir sie kalt«, warnte ihn eine Stimme. »Lasst sie laufen«, rief Indy. »Soll das ein Witz sein?«, rief die Stimme zurück. »Hast du eine Ahnung, was ein Frauenzimmer wie dieses hier beim Mädchenhandel einbringt?«
»Sie macht mehr Ärger, als sie wert ist«, antwortete Indy. »Dann bringen wir sie eben um.« Indy griff in seine Lederjacke und holte seine Peitsche hervor. Dann tastete er sich behutsam in die Dunkelheit und bahnte sich einen Weg vorbei an den Tischen der geschlossenen Bar. Durch die verriegelten Fensterläden drang gerade so viel Licht, dass er sich quer durch den Raum schlängeln konnte. »Bleib, wo du bist.« Indy hörte, wie eine Waffe gespannt wurde. Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und bemerkte ein schwaches orangefarbenes Glühen, das sich in der Dunkelheit auf und ab bewegte. Er ließ die Peitsche vorschnellen. Sie gab einen ohrenbetäubenden scharfen Knall von sich, und die Zigarette fiel inmitten eines Ascheregens zu Boden. »Was zum Teufel war das?«, rief die Stimme. »Willst du noch eine Kostprobe?« »Vergiss es«, meinte eine andere Stimme. »Er kann sie haben.« Die Menschenräuber ergriffen die Flucht und ließen die grüne Tür hinter sich offen. Indy konnte lediglich einen Blick auf ihre Rücken erhaschen, während sie das Weite suchten. Licht flutete den Raum, und Indy erkannte Ulla, die auf der Bar saß. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, und jemand hatte ihr ein schmutziges Taschentuch in den Mund gestopft. »Man kann Sie keinen Moment aus den Augen lassen«, brummte Indy, während er ihre Hände und Füße befreite. »Sind Sie verletzt?« Ulla riss sich das Taschentuch aus dem Mund und spuckte auf den Boden. »Nein«, antwortete sie. »Es ging alles so schnell, ich hatte gar keine Zeit -« »Ich weiß.« Indy zog sie Richtung Tür, während er sprach. »Wir sollten machen, dass wir von hier verschwinden,
bevor sie ihren Mut für einen zweiten Versuch zusammennehmen.« Vor dem Hotel auf der St. Charles Street, zwischen Common und Garvier, führte er Ulla die eindrucksvolle Treppe zur großen Doppeltür hinauf. »Hier wohnen wir?«, fragte sie und blickte an der wuchtigen Fassade hoch. »Ich habe eine Schwäche für Geschichte«, erklärte Indy. »Zur Zeit des Sklavenhandels war dies das bedeutendste Hotel, es wurde 1837 errichtet. Es war das Lieblingshotel der wohlhabenden Pflanzer, und auf der im Hotel abgehaltenen Börse wurden Sklaven versteigert. Doch offenbar war Gott mit diesem Arrangement nicht einverstanden, denn 1851 brannte das Originalgebäude ab. Es wurde wieder aufgebaut und brannte ein zweites Mal ab. Was Sie hier sehen, ist seine dritte Wiedergeburt, die etwa um die Jahrhundertwende errichtet wurde.« Sie durchquerten die protzige Eingangshalle und gingen zum Empfang, wo ein kahlköpfiger Mann im Anzug ihr Näherkommen aus wachsamen Augen verfolgte. Er warf einen flüchtigen Blick auf die ungepflegte Kleidung des Pärchens und lachte stillvergnügt in sich hinein. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er von oben herab. »Wir benötigen ein Zimmer«, sagte Indy. Der Mann klappte das Gästebuch zu und stützte sich mit den Unterarmen noch zusätzlich darauf. »Tja, tut mir Leid«, meinte er. »Aber wir haben nichts frei.« »Sie haben keine Zimmer?«, fragte Indy. »Die Wand hinter Ihnen hängt voller Schlüssel.« »Zurzeit wird in den Zimmern sauber gemacht.« Der Mann rümpfte die Nase. »In allen sechshundert?« »Ich bedaure, aber wir haben nichts frei. Sie werden sich mit Ihrem - äh - Anliegen woandershin bemühen müssen.«
Ein weiteres Paar nahte dem Empfang. Sie waren älter, und ihre Kostüme wirkten etwas komischer, als den beiden lieb sein konnte. Der Mann stellte einen alternden Marcus Antonius dar, und die Frau gab, komplett mit dunkelhaariger Perücke, Cleopatra. Der Mann stellte ihr gemeinsames Gepäck ab und klopfte auf die Klingel auf der Empfangstheke. »Bedienung!«, rief er. »Sie müssen mich entschuldigen«, sagte der Portier, an Indy gewandt. Der Portier wechselte ein paar knappe Worte mit dem Ehepaar. Marcus Antonius trug sich ins Gästebuch ein und bekam gegen einen Barbetrag einen Schlüssel ausgehändigt, den der Portier von der Wand hinter sich nahm. Dann gingen die beiden, gefolgt von einem Hotelpagen mit ihrem Gepäck, nach oben, wobei das Schwert des Mannes klirrend gegen die Stufen schlug. »Hatten Sie nicht gesagt, Sie hätten keine Zimmer?«, sagte Indy mit zusammengebissenen Zähnen. »So ist es«, bestätigte der Portier. »Haben wir auch nicht.« »Kommen Sie«, sagte Ulla. »Gehen wir woanders hin.« »Ich möchte aber nicht woanders hingehen«, sagte Indy. »Ich möchte hier bleiben.« »Das ist leider völlig ausgeschlossen«, sagte der Portier. »Hinaus mit Ihnen, oder ich bin gezwungen, die Polizei zu rufen.« »Haben Sie hier einen Safe?«, fragte Indy. »Was? Selbstverständlich haben wir einen Safe«, erwiderte der Portier. »Dies ist ein erstklassiges Hotel.« »Gut.« Indy wuchtete den Rucksack auf die Empfangstheke. Er nahm die drei Goldbarren heraus und legte sie vor den Portier. »Hören Sie, wir sind auf Geschäftsreise und eben erst mit dem Flugzeug in der Stadt angekommen, und ich hatte noch keine Gelegenheit, das hier zur Bank zu bringen und gegen Bargeld einzutauschen.«
Der Portier streckte die Hand nach dem Gold aus, zog sie dann aber wieder zurück. »Sie erlauben?«, fragte er kleinlaut. »Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn Sie das für mich wegschließen könnten«, sagte Indy. »Danach möchte ich, dass Sie Ihren Geschäftsführer anrufen, damit ich die Angelegenheit mit ihm persönlich besprechen kann. Ich wohne immer im St. Charles, wenn ich in New Orleans bin.« »Der Geschäftsführer bin ich«, sagte der Mann. »Das heißt, ich bin der diensthabende Geschäftsführer. Der eigentliche Geschäftsführer ist mit seiner Karnevalsgesellschaft unterwegs.« »Dann würde ich gern den Eigentümer sprechen«, sagte Indy. »Ich glaube, sein Name lautet ... wie war gleich sein Name Dubois?« »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte der Portier beflissen lächelnd. »Sehen Sie, ich dachte, Sie meinten einfach nur ein Zimmer. Mir war nicht bewusst, dass Sie eine Suite wollten. Im Übrigen ist soeben die Pontalba Suite frei geworden, glaube ich, vorausgesetzt, das ist Ihnen genehm.« »Ist es«, sagte Indy, »vorausgesetzt, sie verfügt über getrennte Schlafzimmer. Und sagten Sie nicht, dies sei ein Hotel mit Rundumservice?« »Selbstverständlich.« »Dann möchte ich, dass Sie jemanden schicken, der uns etwas Vernünftiges zum Anziehen besorgt«, sagte Indy. »Wir benötigen eine vollständige Garderobe - Hemd, Hose, Socken, Gürtel, Schuhe. Boxershorts sowie ein Unterhemd. Und für die Dame ein Kleid.« »Nein, bitte«, unterbrach Ulla ihn. »Kein Kleid. Männerkleidung, bitte.« Der Portier suchte einen Zettel und begann, sich hektisch Notizen zu machen. »Selbstverständlich, wird erledigt«, sagte er. »Dürfte ich um Ihre Größen bitten?« Sie sagten sie ihm.
»Aus einem vernünftigen Geschäft«, wies Indy ihn an. »Nicht gerade aus dem teuersten, aber ganz gewiss auch nicht aus dem billigsten. Für Ihre Bemühungen können Sie zehn Prozent aufschlagen, aber nicht mehr.« »Sehr wohl«, sagte der Portier. »Vielen Dank, Sir.« »Des Weiteren fühlen wir uns ein wenig fehl am Platz«, fuhr Indy fort. »Wir benötigen noch zwei Kostüme.« »Aber, Sir«, stammelte der Portier. »Heute ist Mardi Gras, und -« »Ich bin sicher, Sie verfügen über die nötigen Verbindungen«, unterbrach ihn Indy. »Als was möchten Sie gehen?«, fragte er Ulla. »Nein, warten Sie. Erlauben Sie, dass ich etwas aussuche. Für die Dame etwas aus den Dramen Shakespeares. Keine Hofdame, wohlgemerkt, sondern eine Königin. Nein, warten Sie, ich hab's - eine dänische Königin. Ist Ihnen Hamlet ein Begriff? Gut.« »Bitte«, sagte Ulla. »Ich wäre lieber jemand anders als ausgerechnet Gertrud. Ophelia, vielleicht.« »Gut, das hätten wir also«, sagte Indy. »Und Sie werden als Hamlet gehen, Sir?«, erkundigte sich der Portier. »Nein«, entschied Indy. Der Portier zuckte innerlich zusammen. »Ich sehe mich eher als heldenhaften Typ. Fortinbras, was meinen Sie?« »Eine ausgezeichnete Wahl«, erwiderte der Portier. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte Indy. Der Portier stöhnte. »Die Banken sind vermutlich geschlossen?« »Zurzeit ja, Sir.« »Rufen Sie einen Bankier an, dem Sie vertrauen«, sagte Indy. »Zu Hause, wenn es nicht anders geht. Erklären Sie ihm, dass ich diese drei Goldbarren so schnell und mit so wenig Aufsehen wie möglich gegen Bargeld eintauschen möchte. Zurzeit gibt es ein Gesetz, das den Privatbesitz von Gold verbietet, müssen Sie wissen. Erklären Sie ihm, dass ich für prompten Service eine Prämie zahlen werde.«
»Sehr wohl, Sir. Mir ist ein Mr. James bekannt, der möglicherweise bereit wäre, Ihnen zu helfen.« »Gut«, sagte Indy. »Noch ein Letztes.« »Gütiger Gott.« Den Portier schauderte. »Entspannen Sie sich«, meinte Indy zu ihm. »Was jetzt kommt, ist nicht schwer. Ich möchte für heute Abend sieben Uhr auf dem Balkon des Restaurants im ersten Stock einen Tisch reservieren. Und zwar einen etwas abgelegenen, von dem aus man aber dennoch einen guten Blick auf die Straße hat. Und lassen Sie für drei Personen reservieren.« »Für drei?«, fragte Ulla. »Vertrauen Sie mir«, sagte Indy, während er sich im Gästebuch eintrug. Dann hob er den Kopf und sah den Portier an. »Wie heißen Sie?« »Edwards, Sir«, antwortete der Portier. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Edwards«, sagte Indy. »Im Übrigen betrachte ich Sie als persönlich für die Sicherheit dieser Gegenstände verantwortlich, bis diese eingetauscht werden können. Erledigen Sie alles zu meiner Zufriedenheit, werde ich bei Mr. Dubois ein gutes Wort für Sie einlegen. Verstanden?« »Ich fürchte, ja«, erwiderte Edwards nervös. Der Weinkellner öffnete eine Flasche Bordeaux und goss Indy etwas davon zusammen mit einigen Korkresten ins Glas. Indy sog das Aroma durch die Nase ein, nahm einen kleinen Schluck und nickte kurz. Der Kellner nahm das Glas, schüttete den Inhalt fort und schenkte sowohl Indy als auch Ulla fast volle Gläser ein. »Darf ich Sie beide zu Ihrer ausgezeichneten Kostümwahl beglückwünschen?«, sagte der Kellner, als er einen Schritt zurücktrat und einen Blick auf Ullas buntes Kleid und ihr zu Zöpfen geflochtenes Haar warf. »Vor allem die Dame. Überaus bezaubernd.« Indy lächelte, dann hob er sein Glas. »Ein Trinkspruch«, sagte er an Ulla gewandt. »Auf eine
lange und beständige Freundschaft. Auf dass wir uns nie wieder in der Dunkelheit verlaufen.« »Gegen Dunkelheit habe ich nichts«, setzte Ulla hinzu. Sie tranken. »Hm«, meinte Ulla und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Ich war so lange in der Wildnis, dass ich ganz vergessen hatte, welche Annehmlichkeiten die Zivilisation zu bieten hat.« »Da gibt es einige.« Indy seufzte. »Er hat übrigens Recht, was Ihr Kleid betrifft, wissen Sie. Sie sehen aus, als wären Sie dafür geschaffen.« »Tatsächlich?«, fragte Ulla. »Ich komme mir darin ein wenig nackt vor. Aber Ihr Kostüm ist wirklich elegant. Vielleicht hätte ich als Hamlet gehen sollen.« »Das Schwert ist etwas lästig, finden Sie nicht?« »Woher soll ich das wissen?«, meinte Ulla. »Außerdem ist es ein Degen.« »Also, ich ziehe meine Peitsche vor.« »Er wirkt ziemlich echt, falls das ein Trost ist«, sagte Ulla. »Vermutlich kann man das erwarten, wenn man die Anzahl der Fechtschulen in New Orleans bedenkt.« »Tatsächlich?«, fragte Indy. »Ja«, sagte sie. »Es ist tatsächlich der einzige Ort in der Neuen Welt, wo man diese alte Kunst erlernen und es darin zu einiger Fertigkeit bringen kann. Wahrscheinlich wegen der zahlreichen Duelle, die hier vor dem Weltkrieg ausgefochten wurden.« »Hoffentlich fordert mich heute Abend niemand heraus«, meinte Indy. »Seien Sie unbesorgt.« Ulla lächelte. »Ich würde mich Ihnen als Sekundantin zur Verfügung stellen.« Indy lachte. »Entspannt sind Sie ein völlig anderer Mensch«, bemerkte Ulla. »Sind wir das nicht alle?« »Wissen Sie, ich wusste wirklich nicht, was ich von Ihnen
halten soll«, fuhr sie fort. »Und ich bin immer noch kein bisschen klüger. Sie schienen so unnahbar, als wir uns kennen lernten, dazu all diese wüsten Geschichten und Hirngespinste, und jetzt kommen Sie mir so verlässlich vor wie der Sonnenaufgang. Sagen Sie, haben Sie bei dem Umtausch heute Nachmittag eigentlich bekommen, was Sie sich erhofft hatten?« »Ich habe das bekommen, was man erwarten konnte«, sagte Indy. »Wegen des historischen Wertes der Stücke habe ich eine ganze Menge mehr erhalten als strikt nach Gewicht. Andererseits habe ich mich genau genommen wie ein Krimineller verhalten, weil ich so viel Gold in meinem Besitz hatte. Von Rechts wegen hätte es der Regierung gemeldet werden müssen.« »Und das ist nicht geschehen?« »Nein«, sagte Indy. »Zumindest wird sich jetzt die Pelican Bank of New Orleans darum kümmern müssen. Und für die ist es wahrscheinlich überhaupt kein Problem.« »Gut.« Ulla nickte. »Die Regierung hätte ihren Anteil wahrscheinlich nur benutzt, um Gewehre und Bomben davon zu kaufen.« »Oder um Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen«, sagte Indy. »Wissen Sie, ohne die öffentliche Fürsorge und einige der anderen Programme ginge es den Menschen erheblich schlechter als ohnehin schon. Das ist es, was mir bei den Menschen Hoffnung macht, wissen Sie - ich glaube, vor die Wahl gestellt, würden die meisten es vorziehen, wohltätig zu sein.« »Ja, aber genau da liegt der Haken«, wandte Ulla ein. »Nicht viele Menschen haben diese Wahl.« »Gehören Sie zu den wenigen Glücklichen, die die Wahl haben?« »Sie wollen wissen, ob ich reich bin?« »Nun, offenbar verfügen Sie über kein, wie wir Amerikaner es nennen, ersichtliches Einkommen«, sagte Indy. »Ich weiß zu schätzen, dass Sie mir die Kleider heute ge-
schenkt haben«, sagte sie. »Aber ich hätte sie auch selbst bezahlen können. Meine Familie gehört zu den reichsten in ganz Dänemark. Mein Vater ist Schiffbauer.« »Segelboote?«, fragte Indy. »Vor langer Zeit baute meine Familie tatsächlich Holzboote«, sagte Ulla. »Segelschiffe waren allerdings schon damals eine Seltenheit. Jetzt bauen wir diese wunderbaren Frachter aus Stahl, die von Dieselmotoren angetrieben werden.« »Keine Boote mehr aus Holz?« »Gelegentlich kommt es vor«, sagte Ulla, »dass wir ein Holzboot alten Stils auflegen, für die Bärenjäger am Polarkreis. Holz verzeiht beinahe alles, es bewahrt seine Stabilität, wo ein Stahlschiff längst wie eine Sardinenbüchse zwischen den Eisschollen zerdrückt werden würde.« »Oh.« Indy zuckte innerlich zusammen. »Das klingt schmerzhaft.« In diesem Augenblick erschien der Kellner und fragte, ob sie zu bestellen wünschten. »Noch nicht«, sagte Indy. »Wir warten immer noch auf unseren Gast.« »Indy«, tuschelte Ulla. »Ich sterbe vor Hunger. Das Sandwich, das wir vorhin auf dem Zimmer gegessen haben, hat nicht vorgehalten, fürchte ich.« »Nur noch ein paar Minuten«, sagte Indy. Der Kellner machte eine Verbeugung und entfernte sich. »Auf wen warten wir?«, fragte Ulla. »Sie benehmen sich wegen dieser Geschichte so geheimnisvoll.« »Auf den Grund, weshalb ich nach New Orleans gekommen bin«, sagte Indy, dann sah er auf seine Uhr. »Er lässt uns wie üblich warten.« »Woher weiß er überhaupt, dass wir hier sind?« »Er weiß es«, sagte Indy. »New Orleans gehört zu den Städten, die er zu seiner Wahlheimat erkoren hat, und er hat seine Augen und Ohren überall. Außerdem weiß er, dass ich immer im St. Charles absteige, und unser auffälliger
Tisch mit dem unbesetzten dritten Platz ist für ihn so etwas wie eine Einladung, die er gar nicht übersehen kann.« »Wenn das so ist, werde ich noch etwas Wein trinken.« Ulla griff nach der Flasche »Möchten Sie auch noch etwas?« »Nein, danke«, erwiderte Indy. »Ich habe noch.« Unten auf der Straße war der Karneval in vollem Gang, eine scheinbar endlose Prozession marschierender Musikkapellen und Festwagen zog vorüber. Die Karnevalsgesellschaften - die Fördervereine, die die Festwagen bauten und mit ihnen durch die Straßen zogen - warfen Flitterwerk in die Menge, und ab und zu landete ein Exemplar dieses billigen Tands auf dem Balkon. Indy hob eine der Halsketten auf, die in der Nähe des Tisches landeten, und Ulla ließ sich das billige Perlengeschmeide von ihm um den Hals legen. »Danke«, sagte sie. »Ich werde sie als Andenken an unsere Freundschaft aufbewahren.« »Als ein billiges Ding, das man jederzeit wegwerfen kann?«, zog Indy sie auf. »Ach, was! Als etwas Unerwartetes und Bemerkenswertes«, sagte sie. »Nicht alles Wertvolle ist gleich von Beginn an aus Gold, Dr. Jones. Dazu wird es erst durch die Wärme unserer Herzen.« »Sie sind nicht nur Abenteurerin, Sie sind auch eine Poetin«, sagte Indy. »Alle Menschen haben eine poetische Ader«, sagte sie, »ob sie die nun offen zeigen können oder nicht. Selbst Sie, Dr. Jones, werden manchmal poetisch, wenn Sie von bestimmten Dingen sprechen zum Beispiel von wilden Tieren, die gebändigt werden müssen, um gewisse rothaarige Frauen vor dem sicheren Tod zu retten.« Unten auf der Straße glitt ein besonders großer, wie ein Piratenschiff gestalteter Festwagen vorüber. Während seine Kanonenbatterien Feuerwerk und Rauch ausspieen, drehte er unvermittelt zu jener Straßenseite ab, auf der das St. Charles lag. Die Menge teilte sich unter einigen spöttischen
Rufen und Beschimpfungen, doch der gut gelaunte Steuermann tat, als kämpfe er vergeblich mit dem Ruder. Die Takelage des Festwagens war so riesig, dass Indy sich plötzlich dem Ende einer Rahnock gegenübersah, an der sich ein mit dem Schädel und den gekreuzten Knochen geschmücktes Segel blähte. Plötzlich schwang sich ein Pirat am Ende eines Taus auf den Balkon hinüber, drehte sich um und entbot dem Steuermann einen militärischen Salut. Das Schiff schlingerte davon und schob sich Zoll um Zoll zurück zur Straßenmitte. Der Pirat, die Hände in die Hüften gestemmt, verharrte einen Augenblick lang, um Indy und Ulla zu betrachten. Er war untersetzt, schwarz gekleidet, und um seine Mundwinkel spielte ein schelmisches Lächeln. Schließlich zog er in einer ausladenden Bewegung seinen gefiederten Hut und machte eine tiefe Verbeugung. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, warf er den Hut auf den Boden, setzte sich auf den freien Stuhl und ging daran, seine Handschuhe abzustreifen. »Ostern liegt früh dieses Jahr, n´est-ce pas?.«, fragte er. »Tatsächlich?«, antwortete Indy. »Nach Ihrem Auftritt zu urteilen hätte ich gedacht, wir hätten Halloween. Ulla, ich möchte Ihnen Rene Belloq vorstellen.« »Au contraire«, sagte Belloq. »Meine Name ist Jean Lafitte, wenigstens für heute Abend. Lafitte war das schwarze Schaf meiner Familie, er hat New Orleans für die Amerikaner gerettet. Ein entsetzlicher Irrtum.« »Es fällt schwer zu glauben, dass es in Ihrer Familie ein schwarzes Schaf gegeben hat, Rene«, meinte Indy. »Sie besteht doch nur aus schwarzen Schafen, oder irre ich mich da?« »Zu Ihrem Glück habe ich Sinn für Humor«, erwiderte Belloq. »Also unterlassen Sie bitte Ihre lahmen Bemühungen, geistreich zu sein, und stellen Sie mich in gebührender Form Ihrer entzückenden Begleiterin vor.« Belloq ergriff Ullas Hand und küsste sie.
»Miss Ulla Tornaes aus Kopenhagen, darf ich Sie mit Monsieur Belloq aus Marseiile bekannt machen?«, sagte Indy. »Und vergessen Sie nicht, ich habe Sie vorhin vor ihm gewarnt.« »Er ist das Monster, von dem Sie gesprochen haben?«, fragte Ulla. »Oh, aber ein zart fühlendes Monster, falls die Situation es erfordert«, sagte Belloq. »Schönheit zähmt die Bestie.« »Ich dachte, Schönheit hätte die Bestie getötet«, witzelte Indy. »Nur in amerikanischen Filmen«, versetzte Belloq. Dann nahm er eine der Weinflaschen in die Hand und betrachtete sie voller Geringschätzung. »Sie enttäuschen mich, Jones«, erklärte er. »Von Ihnen hätte ich ein wenig mehr Fantasie erwartet. Schließlich macht Stil den Reiz des Lebens aus.« »Haben Sie, was ich will?«, fragte Indy ungeduldig. »Nicht so vorschnell, Jones«, warnte Belloq. »Wir sind hier zivilisierte Menschen. Zuerst müssen wir essen. Das hatten Sie doch vor, oder?« »Ja«, meinte Ulla. »Essen wir.« Belloq schnippte mit den Fingern und rief den Kellner herbei, der ihnen eine Speisekarte reichen wollte. »Nein, nein«, sagte Belloq. »Ich weiß schon, was wir nehmen. Wenn Sie erlauben? Beginnen werden wir mit Scampi und Gumbo, dann gehen wir über zu cuisses de grenouille. Als Hauptgericht, schlage ich vor, sollten wir von der scharf angebratenen Brust probieren. Und als Dessert nehmen wir Pecankuchen und Kaffee.« Indy schnitt eine Grimasse. »Was ist, Jones? Sie mögen doch Pecankuchen, oder etwa nicht?« »Ich dachte eigentlich eher an die Froschschenkel.« »Ah, aber wir müssen doch von den hiesigen Genüssen probieren«, sagte Belloq. »Haben Sie je Gumbo gekostet,
meine Liebe? Sie ist fabelhaft. Es käme einer Todsünde gleich, in New Orleans zu sein und die Küche zu versäumen. Und, Kellner bringen Sie mir bitte einen Absinth. Und zwar den echten, nicht das Zeug, das Sie Touristen servieren. Leisten Sie mir Gesellschaft, Jones?« »Nein, danke«, sagte Indy. »Von dem Zeug zerfällt einem das Gehirn.« Der Kellner entfernte sich. »Wie ist es Ihnen ergangen, alter Freund?«, erkundigte sich Belloq. »Ich bin nicht Ihr Freund«, konterte Indy. »Jones fällt es einfach schwer zuzugeben, dass wir uns gegenseitig bewundern«, sagte er. »Tatsächlich sind wir uns recht ähnlich. Nur arbeiten wir mit etwas unterschiedlichen Methoden.« Der Absinth kam, und Belloq schwenkte die starke grüne Flüssigkeit im niedrigen Glas. Sogar von seinem Platz aus konnte Indy das kräftige Lakritzaroma riechen. »Ich habe etwas über Ihre Miss Dunstin in Erfahrung gebracht«, begann Belloq. »Ich hoffe doch, nichts allzu Diesseitiges«, erwiderte Indy mit einem zornigen Knurren. »Aber nein«, sagte er gut gelaunt. »Sie ist ganz entschieden nicht mein Typ. Die junge Dame dagegen, die heute Abend neben Ihnen sitzt - ich wäre nicht abgeneigt, mich mit Ihnen um ihre Gunst zu duellieren.« »Sie gehört Ihnen«, sagte Indy. »Sagen Sie mir endlich, was Sie wissen.« »Dr. Jones!«, rief Ulla empört. »Verzeihen Sie. Was ich damit sagen wollte, ist, dass Ulla und ich nur gute Freunde sind, allerdings sollten Sie sie mit Respekt behandeln, sonst verpasse ich Ihnen eine Abreibung mit der Reitpeitsche, wie Sie sie noch nicht erlebt haben. Und jetzt erzählen Sie mir von Alecia.« »Sie hat sich den Nazis angeschlossen.« »Das glaube ich nicht.«
»Oh, es ist aber die Wahrheit«, sagte Belloq. »Die näheren Umstände sind mir natürlich nicht bekannt - ich versichere Ihnen, dass ich nichts damit zu tun habe -, aber es scheint, als habe sie sich einverstanden erklärt, ihnen bei einer aussichtslosen Suche in der Arktis zu helfen, wenn sie ihr Leben verschonen.« »Sie lügen.« »Ich lüge keineswegs«, sagte Belloq. »Jedenfalls nicht, solange die Wahrheit mehr Profit verspricht.« »Glauben die Nazis etwa, Alecia könnte ihnen helfen, Ultima Thule zu finden?« »Richtig, so hieß der Ort«, sagte Belloq. »Ich habe mir ihren eigenartigen Namen dafür nie recht merken können. Wie auch immer, Alecia ist recht empfänglich für Übersinnliches, nicht wahr? Die Nazis arbeiten zurzeit an einer verrückten Sache, die sie Fernerkennung nennen - es geht um den Versuch, unbekanntes Gelände mit Hilfe von Telepathie zu kartografieren. Ah, da kommt der erste Gang unseres Menüs. Bon appetit.« Eine Stunde später, nachdem die Teller abgeräumt waren, schob Belloq seinen Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Nun, meine Liebe?«, fragte er. »Wie fanden Sie es?« »Es war wunderbar.« Ulla lächelte. »Der Anblick der Gumbo war allerdings ein wenig gewöhnungsbedürftig. All die Muscheln und was sonst noch darin schwamm.« Belloq lachte, dann nahm er einen Schluck seines Kaffees. »Können wir jetzt weitermachen?«, fragte Indy. »Selbstverständlich«, sagte Belloq. »Sie waren mehr als geduldig. Haben Sie das Geld?« Indy überreichte ihm eine Papiertüte mit fünf eingewickelten Bündeln, von denen jedes zwanzig Einhundertdollarnoten enthielt. Er stapelte sie vor Belloq auf den Tisch. »Sie brauchen es nicht zu zählen«, meinte Indy. »Es ist alles da.« »Haben Sie Nachsicht mit mir.« Belloq nahm ein Bündel
nach dem anderen in die Hand und blätterte die Papierstapel durch. »Ich an Ihrer Stelle wäre versucht, die innen liegenden Scheine gegen zurechtgeschnittenes Papier auszutauschen.« Nachdem Belloq sich davon überzeugt hatte, dass er tatsächlich zehntausend Dollar in bar in Händen hielt, griff er in die Schärpe seines Piratenkostüms und holte ein gefaltetes Blatt Fernschreiberpapier hervor. Er reichte Ulla das Blatt, die es an Indy weitergab. Indy holte tief Luft, dann faltete er es auseinander. Das Papier enthielt drei kurze Informationen: 14.350 58N32' 10" 5W 07' 14". »Was ist das?«, fragte Indy. »Die von Ihnen gewünschte Information«, erläuterte Belloq. »Die letzte Nummernfolge bezeichnet die Koordinaten in der Nordsee. Es handelt sich um die letzte bekannte Position jenes kleinen gelben Kanisters, hinter dem Sie her sind. Die erste Zahlenfolge hingegen ist der Schlüssel zu dem Ganzen.« »Vierzehn Punkt drei fünf null?«, fragte Indy. »Das ergibt für mich keinen Sinn.« »Wir leben in einer wundervollen Zeit«, meinte Belloq. »All diese technischen Wunderdinge, die uns zur Verfügung stehen. Erinnern Sie sich, wie ich den Schädel im Kanister verstaute, bevor ich ihn den Nazis an Bord des Unterseebootes in Marseiile übergab? Nun, ich habe eine kleine Beigabe hinzugefügt, die mir dabei helfen würde, den Schädel zu orten, sollte dem U-357 ein Unglück zustoßen.« »Ein Sender«, sagte Indy. »Ganz recht«, pflichtete Belloq ihm bei. »Allerdings einer, der nur dann aktiviert werden würde, wenn der Kanister mit Wasser in Berührung kommt. Diese Zahl bezeichnet die Frequenz, auf der der Sender alle dreißig Sekunden ein Signal aussendet. Ich fürchte jedoch, die Zeit wird knapp für Sie.« »Was soll das heißen?«
»Batterien haben nur eine gewisse Lebensdauer«, erläuterte Belloq. »Das Signal ist schwach geworden, mal hört man es, mal nicht. Nur noch wenige kurze Tage, und es könnte sein, dass man überhaupt kein Signal mehr empfängt. Darüber hinaus ist auch den Deutschen die Frequenz bekannt - ich fürchte, sie suchen ebenfalls danach.« Indy schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich hatte eigentlich etwas Handfesteres erwartet«, sagte Indy mit zusammengebissenen Zähnen. »Einen Ort, den ich aufsuchen und wo ich das verdammte Ding an mich nehmen kann und fertig. Jetzt soll ich die gesamte Nordsee absuchen und mir dabei noch die Nazis vom Hals halten?« »Nein. Ich vermute, dass er sich längst nicht mehr dort befindet«, sagte Belloq. »Wahrscheinlich ist er durch die Strömungen nach Norden oder weit hinaus in den Atlantik getrieben worden. Wer weiß?« Indy stand auf. »Sie mieser, hinterhältiger Schuft«, sagte er, seinen Degen halb aus der Scheide ziehend. »Ich sollte -« »Ja, durchaus.« Belloq zückte sein Entermesser. »Attackieren Sie, Jones.« Ulla sprang auf. »Hinsetzen, alle beide«, schrie sie. »Sie benehmen sich wie kleine Kinder.« »Ganz recht«, sagte Belloq. »Setzen Sie sich hin, Jones. Sie machen sich zum Narren. Sie verkennen den Wert dessen, was ich Ihnen gegeben habe.« »Was Sie mir verkauft haben«, stellte Indy richtig. »Sie haben es mir verkauft, Sie schleimiger, kleiner französischer Feigling.« »Indy!«, sagte Ulla. »Sie haben mich beleidigt, Sie haben meine Familie beleidigt, und jetzt auch noch mein Land«, erwiderte Belloq ruhig. »Ich bin ein Baron, wie ich Ihnen beweisen werde.« »Baron von was?«, spie Indy. »Des Intellekts? Oder der Moral?«
»Ich verlange Genugtuung, Dr. Jones«, erwiderte Belloq. »Im traditionellen Stil.« »Sie haben den Verstand verloren.« »Und wer ist jetzt der Feigling?«, lächelte Belloq. »Und der Dummkopf gleichermaßen? Ohne die von mir bereitgestellte Information - und das Risiko, das ich dadurch auf mich genommen habe, dass ich den Apparat überhaupt erst in den Kanister geschmuggelt habe -, hätten Sie nicht den Hauch einer Chance. Und das vergelten Sie mir, indem Sie mich beleidigen?« Indy knurrte etwas. »Im Morgengrauen, auf dem St.-Louis-Friedhof Nr. 2. Der Ort ist Ihnen selbstverständlich bekannt«, sagte Belloq. »Darüber hinaus muss ich Sie warnen, ich bin mit der Klinge überaus geschickt.« »Jetzt ist es schließlich doch noch interessant geworden«, sagte Ulla. »Aber das können Sie doch unmöglich ernst meinen? Oder etwa doch? Ist das wirklich Ihr Ernst?« »Oh, mir ist es ernst genug für uns beide«, sagte Indy. »Also dann im Morgengrauen. Aber ist üblicherweise nicht dem Herausforderer die Wahl der Waffen vorbehalten?« »Wie Sie wollen«, meinte Belloq achselzuckend. »Dann wähle ich Pistolen.« »Revolver?«, meinte Belloq empört. »Wie barbarisch!« »Einschüsser«, erwiderte Indy. »Frontlader. Ist Ihnen das traditionell genug? Es wäre mir ein Vergnügen, Ihre zu laden, falls Sie nicht wissen, wie das geht.« »Nicht nötig«, sagte Belloq. »Und wie man damit schießt, ist mir ebenfalls bekannt.« »Ich werde Indys Sekundantin sein«, sagte Ulla rasch. »Leider«, meinte Belloq, »werde ich als Sekundant auf meinen alten Freund Captain Dominique You zurückgreifen müssen. Ich glaube nicht, dass sein Geist etwas dagegen einzuwenden hat, schließlich findet das Duell ganz in seiner Nähe statt.« »Wen meint er?«, fragte Ulla.
»Einen Veteran der Schlacht um New Orleans«, erklärte Indy. »Er war einer von Lafittes Piraten und kam vor ungefähr einhundert Jahren ums Leben. Er liegt auf dem Friedhof begraben.« »Und die Waffen?«, fragte Indy. »Diese beizubringen ist Aufgabe Ihrer Sekundantin«, sagte Belloq. »Sie täten gut daran, sich rasch darum zu kümmern, meine Liebe. Mein Aufenthalt in New Orleans neigt sich dem Ende zu, trotzdem, denke ich, bleibt mir noch genügend Zeit, eine wunderschöne Besucherin aus Dänemark mit einigen der berühmten Sehenswürdigkeiten des Französischen Viertels bekannt zu machen und vielleicht auch noch mit einem Antiquitätenhändler, der Sie mit allem versorgt, was Sie benötigen.« »Muss ich mit Ihnen vom Balkon springen?«, wollte Ulla wissen. »Selbstverständlich nicht.« Belloq bot ihr den Arm. »Diesmal werde ich die Treppe benutzen.« Er hielt kurz inne, dann salutierte er mit dem Schwert vor Indy. »Adieu, Dr. Jones. Bis zum Morgengrauen. Übrigens, machen Sie sich nicht die Mühe, aufzubleiben und zu warten.« »Seien Sie unbesorgt«, versprach Indy und leerte seinen Kaffee. »Ach, und noch etwas, Dr. Jones«, setzte Belloq hinzu. »Heute ist der letzte Abend der Feierlichkeiten. Ich hoffe, Sie haben nicht gelobt, in der Fastenzeit auf etwas allzu Wertvolles zu verzichten - wie vielleicht auf Ihr Leben.« Indy schloss die Tür zur Pontalba Suite auf und schnallte seinen Degen ab, während er ins Zimmer trat. Er warf die Waffe auf das Sofa im Wohnzimmer, dann schlüpfte er aus dem Wams, faltete es zusammen und legte es daneben. Er saß einen Augenblick auf dem Sofa, den Kopf in den Händen. »Was habe ich nur angerichtet?«, murmelte er. Indy war müde. Er wusste, dass er dringend Schlaf
brauchte, aber auch, dass er gerade dafür keine Zeit hatte. Erschöpft erhob er sich, ging ins Schlafzimmer und suchte den Stapel alter Kleider, die er zuvor am selben Tag ausgezogen hatte. Sie waren gereinigt und gebügelt worden und lagen säuberlich gefaltet auf dem frisch gemachten Bett. Unmittelbar neben dem Stapel lag, frisch gesäubert und geformt, sein Filzhut. »Großartig«, murmelte Indy, während er den Knoten um das Bündel entwirrte. Er faltete das Hemd auseinander und hielt es ins Licht. Die Nummer, die er mit Bleistift darauf geschrieben hatte, war noch immer lesbar, wenn auch nur so eben gerade. Er griff zum Telefon, bekam die junge Frau von der Hotelvermittlung und gab ihr die Nummer. Sie versprach zurückzurufen, sobald sie die Verbindung hergestellt hätte. Indy ließ sich aufs Bett sinken und schloss die Augen. Wenige Minuten darauf weckte ihn das Telefon. »Jones?«, ließ sich eine forsche Stimme vernehmen. »Hier spricht Colonel William Markham. Wir haben bereits versucht, Sie zu erreichen. Was zum Donnerwetter führt Sie nach New Orleans?« »Geschäfte«, erwiderte Indy. »Kommen Sie zur Sache.« »Nach meinen Informationen sind Sie in der Lage, uns zu helfen«, sagte Markham. »Sie sind doch Experte für diesen Unfug, an den die Nazis glauben. Richtig?« »Ich bin Archäologe«, erklärte Indy müde. »Manchmal jedoch werden in meinen Forschungen alte Überzeugungen berücksichtigt, die uns heute ziemlich befremdlich erscheinen. « »Also, gegenwärtig überfliegen die Deutschen mit einem ihrer Luftschiffe die Arktis«, fuhr Markham fort. »Sie scheinen nach einer Art untergegangener Zivilisation zu suchen. Andererseits lassen die von uns abgefangenen Telegramme vermuten, dass sie nach etwas von eher militärischer als historischer Bedeutung suchen.« »Sprechen Sie weiter«, sagte Indy.
»Immer wieder ist darin die Rede von einer geheimnisvollen Energiequelle namens Vril. Wissen Sie etwas darüber? Handelt es sich dabei um eine Art Erz oder was?« »Das weiß ich nicht genau«, sagte Indy. »Nun, ihre Telegramme nach Berlin deuten darauf hin, dass dieses Zeug die Fähigkeit besitzt, Materie zu manipulieren, sie auf irgendeine Weise umzuwandeln oder zu kontrollieren. Falls sie es finden, wäre dies die Erfüllung ihres Traumes, eine Rasse von Übermenschen zu werden.« »Hören Sie«, sagte Indy. »Sie scheinen genauso viel darüber zu wissen wie ich. Mehr kann ich Ihnen dazu wirklich nicht sagen. In meinen Ohren klingt das alles wie ein Märchen, bis auf -« »Bis auf was, Dr. Jones?« »Nun ja, es gibt einige Leute, die inbrünstig an diese Legende glauben. Vermutlich ist das eine Frage des Nationalstolzes. Ich bin einige Male mit diesen Leuten aneinander geraten, und selbst wenn es sich bei der Geschichte um eine Legende handeln sollte, nehmen diese Leute sie für bare Münze. Sie sind bereit, für ihre Überzeugungen zu töten, selbst wenn Vril nicht auf Tatsachen beruhen sollte.« »Der Ansicht bin ich auch«, sagte Markham. »Wieso fragen Sie mich dann danach?« »Weil wir möchten, dass Sie die Leitung einer amerikanischen Expedition in ebenjenes Gebiet übernehmen, wo die Nazis suchen«, erklärte Markham. »Warum gerade ich?« »Weil Sie über einige einzigartige Fähigkeiten verfügen, an denen es anderen Gelehrten mangelt«, antwortete Markham. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Nazis dort oben etwas finden, das in unseren Händen besser aufgehoben wäre, würden wir gern davon erfahren.« »Sie meinen also, ich soll sie ausspionieren.« »Spionieren ist ein hässliches Wort«, sagte Markham. »Sie sollen ihnen einfach auf den Fersen bleiben. Betrachten Sie es als Forschungsauftrag, wenn Ihnen das lieber ist.
Schließlich ist ein großer Teil des Gebietes noch unerforscht, und es wäre nicht das erste Mal, dass eine wissenschaftliche Expedition einen militärischen Aspekt hätte.« »Ich bin nicht bereit, die Leitung einer Expedition zu übernehmen, die zu Lande in die Arktis vordringt«, erklärte Indy. »Dafür fehlt mir die Erfahrung. Das wäre glatter Selbstmord.« »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, Dr. Jones«, sagte Markham. »Wer hat denn von Hundeschlitten und abgefrorenen Zehen gesprochen? Wir dachten an einen Flug über den Pol. Wir haben den Prototypen eines neuen Bombers, die Douglas B-18, die wir Ihnen zur Verfügung stellen würden. Zwei Motoren, sechs Mann Besatzung und mehr als zwölfhundert Meilen Reichweite. Von Ihrem Basislager auf Grönland oder Spitzbergen aus könnten Sie das Gebiet vergleichsweise bequem absuchen.« »Das Fliegen über dem Pol macht mir Angst«, sagte Indy. »Zu viele sind nicht zurückgekommen.« »Wie Amundsen?«, fragte Markham. »Nun, das liegt Jahre zurück. Die Fliegerei, selbst über der Arktis, ist so sicher geworden, als würden Sie in Ihrem Auto kurz zum Laden an der Ecke fahren.« »Wie kommt es, dass ich das nicht glaube?«, fragte Indy. »Mag sein, dass ich ein wenig übertreibe«, meinte Markham, »Tatsache bleibt jedoch, dass dies die bislang sicherste Expedition in dieses Gebiet sein wird. Wie lautet Ihre Antwort, Dr. Jones?« »Es klingt verrückt«, sagte Indy. »Da ist noch etwas«, fuhr Markham fort. »Es ist der eigentliche Grund, weshalb ich Sie so verzweifelt zu erreichen versucht habe. Ich erwähne es nur ungern, weil ich stets davor zurückschrecke, mich auf emotionale Aspekte zu berufen ...» »Mir ist bereits bekannt, dass Alecia Dunstin sich an Bord des Zeppelins befindet«, sagte Indy. »Und ja, das ist der Grund, weshalb ich die Leitung Ihrer höllischen Expedition
übernehmen werde, denn die Vorstellung, dass diese Bastarde sie tot liegen lassen oder auf einer Eisscholle aussetzen könnten, sobald sie mit ihr fertig sind, wäre für mich unerträglich.« »Ich hatte den Eindruck«, sagte Markham, »dass Sie es, vor die Wahl gestellt, vorziehen würden, im Stande zu sein, ihr zu helfen, statt tatenlos zusehen zu müssen.« »Ich stelle einige Bedingungen, Colonel.« »Ich höre«, sagte Markham. »Schießen Sie los.« »Ich will die völlige Kontrolle über das, was Sie so vage als mein Forschungsvorhaben bezeichnet haben. Außerdem möchte ich einen Freund von mir als Piloten mitnehmen. Oder wenigstens als Kopiloten. Ich habe vollstes Vertrauen in ihn.« »Einverstanden«, sagte Markham. »Darüber hinaus benötige ich den besten Funker, den die Armee hat«, sagte Indy. »Er muss über die neueste Peiltechnologie verfügen, und er muss im Krisenfall improvisieren können. Furchtlosigkeit könnte auch nicht schaden. Haben Sie jemanden, der diesen Anforderungen entspricht?« »Selbstverständlich«, sagte Markham. »Ich werde Ihnen meinen eigenen Funker aus der Dekodierungsabteilung mitgeben. Er ist bei allem, was elektrisch ist, in jeder Hinsicht ein Genie, und dass er furchtlos ist, weiß ich auch.« »Woher wissen Sie das?« »Er ist siebzehn«, sagte Markham. »Alle Teenager halten sich für unsterblich. Und dass er sich mit Freuden freiwillig melden wird, weiß ich auch, denn die tägliche Routine hier bei uns langweilt ihn zu Tode. Was noch?« »Alles, was wir dort finden oder den Nazis abnehmen können, steht zu Ihrer freien Verfügung - ich bezweifele allerdings, ob wir überhaupt etwas finden. Aber ich möchte, dass über meine Teilnahme an der Expedition Stillschweigen bewahrt wird. Schließlich habe ich einen akademischen Ruf zu wahren.« »Manch einer würde sagen, dafür ist es längst zu spät«,
erwiderte Markham. »Aber gut, von mir aus. Ich bin mit allen Bedingungen einverstanden. Und schlafen Sie ein wenig. Das Flugzeug steht um Punkt 0900 auf dem Rollfeld des Shushan Flugplatzes.« Eine Stunde nachdem Indy eingehängt hatte, ging das Licht im Zimmer an. Ulla war von ihrem Streifzug durch das Französische Viertel zurück und trug eine große Holzkiste sowie ein Buch unter dem Arm. Indy lag auf dem Sofa, den Filzhut über den Augen. Er war mit seinen Khakis bekleidet und hatte seine Lederjacke an. »Haben Sie sich gut amüsiert?«, erkundigte er sich. »Rene ist überaus charmant«, meinte Ulla. »Das sind Monster oft«, sagte Indy. »Sehen Sie, was ich gefunden habe.« Sie stellte die Holzkiste auf den Beistelltisch und schlug den Deckel zurück. »Ein identisches Paar, 45er Kaliber, echte Museumsstücke, um 1840. Rene kannte den Besitzer eines drolligen kleinen Antiquitätengeschäfts auf der Rampart Street, der extra für uns geöffnet hat.« Indy nahm eine der Pistolen in die Hand und untersuchte den Lauf, der mit einer fleckigen braunen Patina aus Rost und Waffenöl überzogen war. »Sind Sie sicher, dass sie uns nicht vor der Nase explodieren werden?«, fragte Indy. »Völlig sicher«, sagte Ulla. »Ich habe darauf bestanden, dass der Besitzer sie beide erst zur Probe abfeuerte. Bei all dem Lärm und dem Feuerwerk heute Abend hat sich bei den Schüssen kein Mensch etwas gedacht. Außerdem besaß er eine Ausgabe dieses herrlichen kleinen Buches - dem Code Duello.« »Großartig«, meinte Indy halbherzig. »Wieso sind Sie noch angezogen?«, fragte Ulla. »Sie brauchen Ihren Schlaf. Nur noch ein paar Stunden, dann wird es hell. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten, mich aufs Ohr zu hauen, wie ihr Amerikaner sagt.« »Ich war beschäftigt«, sagte Indy.
»Womit in aller Welt?« »Mit Vorbereitungen für eine Reise zu Zielen im hohen Norden«, sagte Indy. »Wie es aussieht, werde ich eine Flugzeugexpedition in die Arktis unternehmen, deren Ziel es ist, nach einem Naziluftschiff mit Alecia an Bord zu suchen.« »Sie reisen also ab, einfach so«, stellte Ulla fest. »Nun, vorher werde ich noch Belloq töten«, sagte Indy. »Was wollen Sie von mir hören?« Er legte die Pistole in die Kiste zurück. »Ich möchte, dass Sie mich bitten, Sie zu begleiten.« »Was?« »Sie brauchen mich.« Ulla verschränkte die Arme. »Sie wissen es nur noch nicht. Die Nazis sind hinter Thule her, und das werden sie aus der Luft nicht finden. Und auch nicht auf der Erdoberfläche. Früher oder später werden die Nazis Sie unter die Erde führen, und dafür brauchen Sie mich.« Indy zögerte. »Das war es, was in Baldwins Tagebuch stand, nicht wahr?« »Das weiß ich nicht«, stammelte Indy. »Es wurde gestohlen, bevor ich Gelegenheit hatte -« »Aber er war im Begriff, in den Schlund eines Vulkankraters hinabzusteigen«, sagte Ulla. »Das haben Sie mir selbst erzählt. Was glauben Sie, wie tief er hinabgestiegen ist?« »Die Nazis werden nicht einmal den richtigen -« »Sie sind im Besitz des Tagebuches«, unterbrach ihn Ulla. »Nicht Sie. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, sie aufzuspüren und ihnen zu folgen, wo immer sie Sie hinführen. Hätten Sie auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, wäre Ihnen klar geworden, dass dies tief unter die Erdoberfläche bedeutet.« Indy fuhr sich mit der Hand über die Stoppeln auf seinem Kinn. »Also gut«, sagte er. »Aber eins müssen wir klarstellen.
Ich bin der Leiter dieser Expedition. Ich werde mir Ihren Rat anhören, aber Sie dürfen mir nicht widersprechen. Das wäre zu gefährlich.« Ulla nickte. »Und noch etwas«, sagte Indy. »Ich pfeife auf Ultima Thule. Mein Hauptanliegen ist es, Alecia lebend zurückzubekommen. Dann, und nur dann, werden wir uns mit diesem Nazihirngespinst befassen.« »Großartig«, sagte Ulla. »Das ist die Chance unseres Lebens.« »Ja«, sagte Indy. »Oder eine einmalige Chance, unser Leben zu verlieren.« »Was zerbrechen Sie sich eigentlich den Kopf?«, fragte Ulla. »Womöglich tötet Belloq Sie, noch bevor Sie Gelegenheit haben, in das Flugzeug zu steigen.«
KAPITEL SIEBEN Das Silberschiff
Der Nebel schien unmittelbar aus den Gräbern aufzusteigen, als Indiana Jones und Ulla sich einen Weg vorbei an den schmalen, von Grabmalen gesäumten, baumbestandenen Pfaden des St.Louis-Friedhofs Nr. 2 bahnten. Der Himmel war bedeckt und nahm im Osten bereits die Farbe glänzenden Messings an. Ein feiner Nieselregen fiel, als sie auf eine kleine Fläche in der Friedhofsmitte hinaustraten, die von einer riesigen Eiche beherrscht wurde. »Der Ort macht mir eine Hühnerhaut«, sagte Ulla, als sie die in der Kiste verpackten Pistolen auf einem niedrigen Grabstein ablegte. »Früher haben hier die Sklaven ihre Voodoorituale abgehalten«, erläuterte Indy. »Im Übrigen heißt es Gänsehaut.« »Hühnerhaut, Gänsehaut«, meinte Ulla, und plötzlich wurde ihr dänischer Akzent schwerer. »Jedenfalls kriege ich hier das kalte Grausen.« »Bonjour«, begrüßte sie Belloq, was Ulla hochfahren ließ. Der klein gewachsene Franzose saß, bekleidet mit einem schwarzen Gehrock, auf dem unbeschrifteten Betongrab von Marie Laveau und schlürfte eine Tasse Zichorienkaffee. Rings um das Grab der Voodookönigin lagen Grabbeigaben aus Lebensmitteln und Glückspfennigen - eigenartige Kombinationen aus zwei oder elf Eincentmünzen - sowie ungefähr ein Dutzend Kerzen, die bis auf Pfützen bunten Wachses vollständig heruntergebrannt waren.
Belloq zog eine rote Kerze aus seinem Rock, riss ein Streichholz unter seiner Schuhsohle an und entzündete behutsam den Docht, bevor er sie auf den Grabsockel stellte und mit einer roten Tonscherbe ein Kreuz auf den Beton kratzte. »Das soll mir Glück bringen«, erklärte er. »Sie werden mehr benötigen als nur Glück«, meinte Indy. »Sieh an, Dr. Jones, freut mich zu sehen, dass Ihr Mut Sie nicht verlassen hat.« Belloq lachte. »Wenigstens noch nicht. Möchten Sie einen Schluck Kaffee?« »Nein, danke«, sagte Ulla und öffnete die Kiste. »Ich habe mir erlaubt, die Waffen bereits im Hotel zu laden. Jede enthält vierzig Gran Pulver, eine umwickelte Kugel sowie frische Feuersteine. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinn.« »Selbstverständlich, Verehrteste«, erwiderte Belloq. »Außerdem habe ich einen Erste-Hilfe-Kasten dabei, falls er gebraucht werden sollte.« »Wohl kaum«, meinte Belloq. »Wenn ich schieße, dann um zu töten.« Er sprang von dem Grabstein herunter, ging über den schlammigen Boden bis zu der Stelle, wo Ulla mit den Pistolen stand, und wählte eine aus. »Wirklich prachtvolle Stücke«, meinte er. »Den Regeln entsprechend«, sagte Ulla, in den Seiten blätternd, »versuchen die Sekundanten an diesem Punkt eine gütliche Beilegung des Streites zu erzielen. Da ich die einzige Sekundantin bin, werde ich beginnen, indem ich den Teufelsadvokat für Rene spiele.« »Das haben Sie wirklich hübsch gesagt«, bemerkte Indy. »Des Weiteren«, fuhr sie fort, »ist es meine Pflicht, Sie beide darauf hinzuweisen, dass Duelle in Louisiana ungesetzlich sind.« »Ein Kapitalverbrechen, um genau zu sein«, ergänzte Belloq. »Ganz recht«, fuhr Ulla fort. »Das bedeutet, falls wir erwischt werden, müssen wir alle mit einer strafrechtlichen
Verfolgung und womöglich mit Gefängnis rechnen. Die Anklagepunkte würden in Ihrem Fall, als den unmittelbar Beteiligten, natürlich schwerer wiegen, aber ich glaube, auch ich mache mich eindeutig der Beihilfe und des Vorschubs zu diesem Verbrechen schuldig.« »Und wie gut Sie das machen.« Belloq verneigte sich schwungvoll. »Sollten Sie dessen, was Sie - nun was immer Sie gerade tun - jemals überdrüssig werden, Miss Tornaes, in meiner Organisation in Marseille wird stets ein Platz für Sie frei sein.« »Andererseits«, fuhr sie fort, »ließe sich anführen, dass hier ein höheres Gesetz auf dem Spiel steht, nämlich das der persönlichen Ehre, und dass der Bruch der Gesetze des Staates Louisiana schlicht eine unglückliche, allerdings unvermeidbare Begleiterscheinung dessen darstellt. Da ich die Unrechtmäßigkeit Ihres Vorhabens lediglich als Ordnungswidrigkeit betrachte, werde ich nun zum eigentlichen Streitpunkt kommen.« »Beeilen Sie sich bitte«, sagte Belloq. »Es wird gleich hell, und die Vorstellung, bei helllichtem Tage von der hiesigen Polizei auf dem Friedhof erwischt zu werden, ist noch unangenehmer, als sich im Schutz der Dunkelheit hierher zu schleichen.« Sie nickte. »Dr. Jones. Wären Sie bereit, sich bei Rene Belloq dafür zu entschuldigen, dass Sie seinen Charakter, seine Familie und sein Land unberechtigterweise in den Schmutz gezogen haben? Wären Sie bereit, einen gewissen Zweifel an seiner Schuld einzuräumen, was seine Beweggründe beim Verkauf der Information an Sie betrifft?« »Weder dafür«, sagte Indy, »noch für eintausend andere Beleidigungen, nein.« »Monsieur Belloq«, verkündete Ulla. »Wären Sie bereit, Ihre Herausforderung noch einmal zu überdenken? Stimmt der Gedanke an Ihre Verbindung mit Dr. Jones Ihr Herz nicht milde? Ist Vergebung völlig ausgeschlossen?« »Ist sie«, antwortete Belloq.
»Also gut«, schloss Ulla. »Bringen wir die Angelegenheit zum Abschluss. Wie ich sehe, haben die Gentlemen ihre Waffen bereits gewählt. Die Regeln des Gefechts lauten wie folgt: Sie werden Rücken an Rücken unter der Eiche Aufstellung nehmen und anschließend auf mein Zählen zehn Schritte abmessen. Zwanzig wären angemessener, wir haben jedoch nur Platz für zehn. Nach Ausführung des zehnten Schritts drehen Sie sich um und legen an. Gefeuert wird gleichzeitig. Haben Sie das verstanden?« »Klar und deutlich«, sagte Indy. »Vollkommen.« Belloq lächelte. »Sollte nach der ersten Runde noch keine Genugtuung erzielt worden sein, dürfen Sie sich darauf einigen nachzuladen. Gentlemen, nehmen Sie Ihre Positionen ein, und machen Sie Ihre Waffen schussbereit.« Sie schritten zur Mitte der Lichtung und legten, die Waffen in die Luft gerichtet, ihre Rücken aneinander. Der Regen war mittlerweile etwas stärker geworden. Er tropfte von Indys Hutkrempe herab und klebte Belloqs Haar an dessen Schädel. »Eins«, zählte Ulla. Den Rücken durchgedrückt, die Augen geradeaus, entfernten sich die beiden einen Schritt voneinander. Ulla zählte weiter bis fünf. Belloq spannte den Hahn mit dem Daumen, ein unangenehmes, präzises Geräusch, das die Zündpfanne freilegte. Indy registrierte das Geräusch, tat aber so, als habe er es nicht gehört. »Sechs«, zählte Ulla. Ein weiterer Schritt vorwärts. Schlamm klebte an Indys Stiefeln und verschmutzte seine Hosenaufschläge. »Sieben.« Immer noch vorwärts. Indy legte seinen Daumen um den Zapfen des Hahns, bereit, die Waffe kurz vor dem Feuern zu spannen. Tat man dies vorzeitig, fürchtete er, bestand die Gefahr, dass das Zündhütchen im Regen feucht wurde.
»Acht.« Während Indy einen großen Schritt nach vorne machte, wirbelte Belloq so blitzschnell herum, dass seine Rockschöße wehten. Im Nu stand er seitwärts vor Indy, die Linke hinter dem Rücken, die Hand mit der Pistole ausgestreckt, und zielte auf den Punkt zwischen Indys Schulterblättern. »Foul!«, rief Ulla. Belloq drückte auf den Abzug, als Indy sich ebenfalls umdrehte. Wie in Zeitlupe verfolgte Jones, wie sich der Hahn senkte und an der Halterung vorbeischrammte und der darin eingeklemmte Feuerstein einen Funkenregen in die Zündpfanne regnen ließ. Mit angehaltenem Atem erwartete Indy die Explosion aus Feuer und Blei, die zweifellos den Bruchteil einer Sekunde später folgen würde, doch nichts geschah. Stattdessen verbrannte das Pulver in der Pfanne mit einem kaum hörbaren Zischen. Belloqs Pulver war feucht geworden. Belloq, fassungslos, hielt die Waffe noch immer auf Armeslänge von sich. Plötzlich fand die Glut einen trockenen Pulvereinschluss, explodierte in einer grellen Stichflamme, und einen Lidschlag später spie die Pistole Feuer, Rauch und Blei in Indys Richtung. Die Kugel durchbohrte den rechten Oberarm seiner Lederjacke, zog eine Furche durch sein Fleisch und trat auf der Rückseite seiner Jacke wieder aus, um sirrend zwischen den Bäumen, die den Friedhof säumten, zu verschwinden. Sein Arm fing an zu bluten, es rann hinunter bis auf sein Handgelenk und tropfte dampfend auf den kalten Boden. »Dr. Jones«, verkündete Ulla. »Es steht Ihnen jetzt frei, Ihrerseits zu feuern, wann immer es Ihnen beliebt.« Indy richtete die Pistole senkrecht in die Luft, spannte den Hahn, dann senkte er sie, bis der schwere Lauf leicht zitternd auf Belloqs Herz zielte. Belloq schloss die Augen, und seine Lippen wurden schmal. Dann verriss Indy die Pistole nach rechts,
feuerte und jagte die Kugel mit einem dumpfen Aufprall seitlich in das nächste Grab. »Wünschen Sie eine zweite Runde?«, erkundigte sich Ulla. »Nein«, meinte Indy. »Ich habe Genugtuung erhalten. Ich habe bewiesen, dass Belloq ein Lügner ist, ein Feigling und ein unwürdiger Gegner. Durch seinen Tod wäre nichts gewonnen.« »Merci«, bedankte Belloq sich linkisch und wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel seines Gehrocks aus der Stirn. »Dann ist die Angelegenheit also ausgestanden.« »Sie ist ausgestanden«, bestätigte Indy. »Ich habe den Überblick verloren ...«, beharrte Belloq, als er die noch rauchende Pistole in die Kiste zurücklegte. »Ich war der Meinung, wir sollten uns bei acht umdrehen und nicht bei zehn. Es war schlicht ein Irrtum. Meine Güte, ich hoffe, Sie sind nicht ernsthaft verletzt.« »Sie bluten ziemlich stark, Dr. Jones«, stellte Ulla fest. »Wir sollten besser mal einen Blick darauf werfen.« Indy hob eine Hand. »Nicht hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schüsse in der Stille heute früh unbemerkt geblieben sind.« »Es klang tatsächlich wie Kanonenfeuer«, räumte Ulla ein. »Verschwinden wir von hier, bevor wir noch im Crescent-CityGefängnis landen«, schlug Indy vor. »Abgesehen davon müssen wir schon bald unser Flugzeug bekommen.« Belloq stolperte über die Grabstätten Richtung Friedhofsmauer, blieb dann kurz stehen und schickte einen militärischen Gruß in Indys Richtung. »Au revoir, Dr. Jones«, rief er. »Eine ausweglose Situation hat ein glückliches Ende genommen. Ich hoffe, Ihre Wunden verheilen schnell ... damit wir uns auf dem Feld der Ehre erneut gegenübertreten können.« »Diese Ratte«, bemerkte Indy, während er und Ulla hastig den Friedhof verließen. »Wie kann er es wagen, das Wort
Ehre in den Mund zu nehmen? Er hat versucht, mich hinterrücks zu erschießen.« »Stimmt...« Ulla neigte ihren Kopf zur Seite. »Andererseits hat er stillgehalten und Sie auf ihn schießen lassen, nachdem sein Betrugsversuch gescheitert war. Ebenso leicht hätte er einfach weglaufen können.« »Wahrscheinlich ist er nur aus Angst wie angewurzelt stehen geblieben.« »Ich glaube, das war für Rene Belloq nie ein Problem«, sagte Ulla. »Nein, er hat eine merkwürdige Vorstellung von Ehre - sie ist vielleicht ein wenig verdreht, trotzdem gibt es so etwas wie einen geheimen Ehrenkodex, an den er sich hält. Es war ganz richtig von Ihnen, ihn nicht zu töten.« »Es wäre einfach viel zu kompliziert gewesen«, sagte Indy. »Zu viele Erklärungen, zu viele Polizisten und Anwälte, und wie Sie ganz richtig sagten, ich hätte im Gefängnis enden können.« »Stimmt«, sagte Ulla. »Außerdem hätten Sie den einzigen Menschen getötet, der, ganz gleich, was Sie da eben gesagt haben, in Ihren Augen ein ebenbürtiger Gegner für Sie ist. Sie sind ein überaus altmodischer Mann, Dr. Jones. Sie haben etwas Ritterliches an sich. Ich finde, Sie wurden in das falsche Jahrhundert hineingeboren.« In den Bäumen erwachten bereits die ersten Vögel, und aus der Wolkendecke war ein Sonnenstrahl hervorgebrochen, so als wollte er ihren Aufbruch vom Friedhof in ein feierliches Licht tauchen. Zwei Häuserblocks später winkten sie ein Taxi heran, und als sie vom Bordstein losfuhren, kamen ihnen zwei Funkeinsatzwagen entgegengerast, Richtung Friedhof. »Wie geht es Ihrem Arm?« Indy streifte seine Lederjacke ab und ließ ihn von ihr untersuchen. »Knochen sind nicht gebrochen«, stellte sie fest, als sie das Hemd aufschnitt. »Außerdem ist die Wunde wirklich nicht tief. Die Kugel ist glatt durchgegangen, unmittelbar
unter der Haut. Allerdings bluten Sie wie ein angestochenes Schwein.« »Das liegt bei uns in der Familie«, meinte Indy. Ulla reinigte die Wunde mit einem Antiseptikum. »Autsch«, meinte er. »Das tut ja mehr weh, als angeschossen zu werden.« Der Taxifahrer warf einen argwöhnischen Blick in den Rückspiegel. »Könnte ich mir jedenfalls vorstellen«, beeilte sich Indy lächelnd hinzuzufügen. »Die Frau ist übrigens Krankenschwester, und ich bin Arzt.« »Sicher, Kumpel«, meinte der kreolische Taxifahrer. »Wenn du meinst.« Ulla verband den Arm, anschließend streifte Indy seine Jacke wieder über. »Danke«, sagte Indy. »Fühlt sich schon viel schlimmer an.« Ulla legte Indy die Kiste mit den Pistolen in den Schoß. »Was werden Sie mit ihnen machen?«, fragte sie. »Ich könnte mir vorstellen, dass ich sie an die Wand meines Büros in Princeton hänge. Über Kreuz, versteht sich. Damit sie mich an eine Begegnung mit einem Mann erinnern, der mich heute Morgen, hätte es nicht geregnet, getötet hätte.« Am Shushan-Flughafen, der zwanzig Minuten von der Innenstadt New Orleans´ entfernt auf einer künstlichen Halbinsel errichtet worden war, regnete es noch immer. Der Taxifahrer hielt unter dem Vordach des Abfertigungsgebäudes und drehte sich zu seinen Fahrgästen um. »Da wären wir«, meinte er in seinem eintönig leiernden Akzent. »Aber ich glaube, die planmäßigen Frühmaschinen sind alle schon gestartet. Wollen Sie, dass ich warte, während Sie sich erkundigen?« »Nicht nötig.« Indy drückte dem Taxifahrer ein paar Geldscheine in die Hand. »Eine Maschine geht auf jeden Fall noch, da bin ich ganz sicher.«
»Hoffentlich«, meinte der Taxifahrer. »Ziemlich trüber Tag heute, was?« »Ein trüber Tag, allerdings«, gab Indy ihm Recht. Indy reiste mit leichtem Gepäck und hatte lediglich seine Mappe über der Schulter hängen, und Ulla transportierte ihre Sachen in dem Rucksack, der zuvor Indys Reichtümer enthalten hatte. Indy sah dem Taxifahrer hinterher, der winkend im Regen davonfuhr. »Geht mit Gott«, rief der Taxifahrer aus dem heruntergekurbelten Fenster. »Und lassen Sie nicht noch einmal auf sich schießen.« Die beiden betraten hastig das neue Abfertigungsgebäude, das vom Amt für bezuschusste Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im neoklassizistischen Stil errichtet worden war. Das Gebäude breitete sich zu beiden Seiten des zentral gelegenen Towers fächerförmig aus wie eine Pyramide. Ein junger Mann in einer frisch gebügelten Armeeuniform begrüßte sie unmittelbar hinter der Eingangstür. »Dr. Jones?«, fragte er. »Mein Name ist Lieutenant Goodwin. Ich soll auf dieser Expedition die Rolle Ihres Verbindungsoffiziers übernehmen.« »Ausgezeichnet«, sagte Indy. »Haben Sie meinen Kopiloten schon gefunden?« »Ja, Sir«, meinte Goodwin. »Ich war gezwungen, die Hilfe einer Militärpolizeieinheit von der Versorgungsbasis der Armee auf der Dauphine Street in Anspruch zu nehmen, aber am Ende ist es uns gelungen, Mr. Ward im Französischen Viertel ausfindig zu machen.« »In welcher Bar hat er gesteckt?«, wollte Indy wissen. »In einer Austern-Bar, Sir«, antwortete Goodwin. »Und ich muss Sie warnen, er riecht stark nach Tabasco, Austern und Bier.« »Danke«, sagte Indy. »Verzeihen Sie, Sir, aber Ihr Arm. Ihre Jacke scheint ein Einschussloch aufzuweisen und frisches Blut. Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein, es geht mir ausgezeichnet.« Goodwin sah Ulla fragend an. »Verzeihen Sie mein ungehobeltes Benehmen«, sagte Indy. »Dies ist Dr. Ulla Tornaes, vom dänischen speläologischen Vermessungsinstitut. Sie ist nicht nur die Spezialistin auf dieser Expedition, sondern wird auch als meine persönliche Assistentin fungieren.« »Im Bordmanifest steht nichts von einer Zivilistin«, sagte Goodwin, von seinem Klemmbrett aufsehend. »Und schon gar nichts von einer ausländischen Staatsbürgerin. Ich wurde nicht darüber informiert, dass -« »Ich bin soeben im Begriff, das nachzuholen, Lieutenant«, schnitt Indy ihm das Wort ab. »Also, Sir, ich weiß nicht.« »Hat Markham Sie nicht darüber aufgeklärt, dass ich hier die Leitung habe und Sie meinen Wünschen nach bestem Vermögen nachzukommen haben?« »Selbstverständlich, Sir.« »Dann tragen Sie sie ein, Soldat«, sagte Indy. »Gleich hier auf dem Bordmanifest. Mit Bleistift.« »Jawohl, Sir«, sagte Goodwin. »Und ist Mr. Ward in Ihrem Verzeichnis aufgeführt?« »Aber ja, er ist bereits versorgt.« »Was ist mit meinem Funker?«, erkundigte sich Indy. »Sparks?« Goodwin lächelte. »Er befindet sich bereits an Bord.« »Sehr gut«, sagte Indy und setzte sich auf eine der Flughafenbänke. »Und jetzt gehen Sie mit mir den Rest der Mannschaft durch, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.« »Also gut«, sagte Goodwin. »Mal sehen. Da wäre erst einmal ich selbst. Jones, der Kommandant. B. Blessant, der Pilot-« »Ich möchte die vollen Namen wissen, den Dienstgrad, und woher die Leute stammen«, sagte Indy. »Und, falls Sie es wissen, wie sie so sind.«
Goodwin fing an zu zittern. »Ganz ruhig, Sie machen Ihre Sache ausgezeichnet«, beruhigte ihn Indy. »Wie lange sind Sie schon Offizier, Lieutenant?« »Einen Monat«, sagte er. »Gut, also geben Sie mir kurz die wichtigsten Fakten, so wie Sie es einem Ihrer Kameraden in der Kaserne bei der Grundausbildung erklären würden« / schlug Indy vor. »Also gut«, willigte Goodwin ein. »Da wären selbstverständlich erst einmal Sie und Miss Tornaes, dann ich - ich bin Ihr Navigator und Meteorologe. Dann hätten wir C. R. Ward, einen zivilen Kopiloten, den Sie offenbar bereits kennen. Das wären so weit vier.« »Sprechen Sie weiter«, versuchte Indy ihm gut zuzureden. »Wen kenne ich nicht?« »Der Pilot ist Captain Buck Blessant. Er ist ungefähr dreißig, hat oben in New Jersey Frau und ein Kind und ist einer der besten Testpiloten des Fliegerkorps der Armee. Ihr Funker ist ein junger Bursche namens Nicholas Swan, der aber von allen Sparks genannt wird. Er ist ganz versessen auf alles, was mit Technik zu hat. Er ist übrigens Unteroffizier. Und dann haben wir einen Besatzungschef, der uns auf dem Flug begleiten wird, einen Sergeant Dan Bruce. Bruce kann praktisch alles mit ein wenig Spucke und Kaugummi reparieren.« »Gut.« Indy schien zufrieden. »Das wären sieben. War es das?« »Ja, Sir. Die B-18 hat normalerweise eine sechsköpfige Besatzung.« »Und jetzt setzen Sie mich über die Vorräte ins Bild«, sagte Indy. »Ich nehme an, das Flugzeug wurde mit Überlebensgerät für die Arktis vollgeladen?« »Äh, nein«, musste Goodwin gestehen. »Wir haben nicht die Absicht zu landen. Wir verfügen lediglich über die übliche Notausrüstung. Aufblasbare Rettungsinseln, Notrationen und Ähnliches.«
»Und das Flugzeug selbst?« »Es handelt sich um einen Kaltwetter-Prototypen jener B-18, die dieses Jahr an die Armee ausgeliefert werden wird«, berichtete Goodwin. »Angetrieben wird sie von zwei Wright-CycloneNeunzylinder-Sternmotoren, von denen jeder eintausend Pferdestärken entwickelt. Sie wurden für den Einsatz bei kalten Temperaturen abgewandelt, was einen Antivereisungsmechanismus in den Vergasern sowie entlang der Tragflächen einschließt. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 226 Meilen in der Stunde bei einer Flughöhe von 10000 Fuß, und die maximale Flughöhe beträgt 27 150 Fuß. Die Reichweite beläuft sich normalerweise auf 1200 Meilen, wir haben aber einige Tanks unter den Tragflächen hinzugefügt, wodurch sie sich auf 1800 Meilen erhöht.« »Und welche Art von Gelände benötigt die Maschine zum Starten und Landen?« »Nun ...« Goodwin hantierte mit den Blättern auf seinem Klemmbrett. »Eine Landebahn wäre wünschenswert, allerdings ist dieser Prototyp zusätzlich mit Kufen für Landungen auf einer festen Schneedecke ausgerüstet.« »Wie sieht es mit Landungen auf dem Wasser aus?« »Schlecht, Sir«, sagte Goodwin. »Im Falle einer Notwasserung werden wir schwimmen müssen, fürchte ich.« »Fantastisch. Wie steht es mit Fallschirmen?« »Äh, es befinden sich sechs Stück an Bord.« »Beschaffen Sie noch einen zusätzlichen«, ordnete Indy an. »Wird umgehend erledigt«, sagte Goodwin. »Und wie sieht es mit der Bewaffnung aus?« »Wir verfügen über drei Maschinengewehre, eines davon ist im Plexiglasbug montiert, die beiden anderen sind Rumpfgeschütze. Außerdem können wir eine Bombenlast von dreitausendzweihunderfünfzig Kilo an Bord nehmen, aber da es sich um eine wissenschaftliche Expedition handelt, werden die Bombenschächte, wie man mir mitgeteilt
hat, unbeladen sein. Außerdem wird der größte Teil der zur Verfügung stehenden Bombennutzlast von Proviant und zusätzlichem Treibstoff in Anspruch genommen.« »Wen haben wir, der diese Geschütze auch bedienen kann?« »Sergeant Bruce, natürlich. Des Weiteren Sparks und, falls erforderlich, mich.« »Wie sieht es mit kleineren Waffen aus?« »Da gibt es praktisch überhaupt nichts, Sir«, meinte Goodwin. »Handfeuerwaffen, aber das ist auch schon alles.« Indy zuckte zusammen. »Das wird nachgebessert werden müssen«, meinte er. »Ich könnte problemlos ein paar Springfields auftreiben.« »Keine Bolzengewehre«, sagte Indy. »Wir brauchen automatische Waffen. Irgendetwas, das sich leicht tragen lässt, mit kurzem Schaft und Lauf. Ist Ihnen bekannt, womit ein Teil der Nazielitetruppen bewaffnet ist?« »Nein, Sir.« »Aber Sie haben doch schon Gangsterfilme gesehen, oder?« »Selbstverständlich, Sir.« »Genau das will ich haben. Tommy-Schnellfeuergewehre, und was es sonst noch so gibt.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Goodwin leicht verwirrt. »Verzeihen Sie, Sir, aber glauben Sie, dass wir es dort oben mit Kampfhandlungen zu tun bekommen werden?« »Man hat Sie nicht sonderlich gut eingewiesen, hab ich Recht?« »Nein, Sir«, gab Goodwin zu. »Vermutlich nicht. Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir werden in der Marinefliegerstation auf Long Island einen kurzen Zwischenstopp zum Auftanken einlegen. Die Marines sollten etwas dort haben, das ich mir bei ihnen organisieren kann.« »Guter Mann«, sagte Indy. »Und jetzt gehen wir Clarence holen und werfen einen Blick auf unser Flugzeug.«
»Er befindet sich dort drinnen.« Goodwin übernahm die Führung bis zur Herrentoilette. Er öffnete die Tür einen Spalt weit und rief: »Mr. Ward? Hier sind ein paar Leute, die Sie gerne sprechen würden.« »Schick sie fort«, antwortete eine mitgenommene Stimme. »Komm schon, mach auf«, drängte Indy. »Wieso hast du nicht gesagt, dass du es bist?«, fragte Clarence. »Was in aller Welt geht hier eigentlich vor? Ein ganzer Trupp Militärpolizei hat mich aufgegriffen, als ich gerade nach Mexico City starten wollte. Ich dachte schon, ich sei wegen irgendeiner Geschichte aufgeflogen, und nahm an, es hätte etwas mit dir zu tun. Wenn mir deinetwegen dieser Mexiko-Auftrag durch die Lappen geht, verpasse ich dir eins zwischen die Zähne.« »Vergiss den Flug nach Mexiko«, sagte Indy. »Keiner von uns steckt in Schwierigkeiten. Ich weiß, du warst in einer Austern-Bar und im Begriff, mit einem kreolischen Mädchen anzubändeln, also verschone mich mit dieser traurigen Geschichte. Was zählt, ist, dass ich dich brauche und dass du für deine Dienste gut bezahlt werden wirst.« »Das hab ich schon einmal gehört«, sagte Clarence, während er sich mit einer Hand durchs Gesicht fuhr. »Für diesen Trip habe ich auch noch kein Geld gesehen.« »Hast du keine anderen Sorgen?«, fragte Indy. »Also, was meinst du, kannst du eine B-18 fliegen, wenn du wieder nüchtern bist?« »Verdammt, sie werden beide bei Douglas hergestellt. Die 18 ist nichts anderes als die Militärversion meiner alten DC-2, außer, dass sie Zähne hat und man die Ladung durch den Bauch abwerfen kann«, sagte Clarence. »Wo soll´s denn hingehen?« »In die Arktis«, sagte Indy. »Zum Nordpol?«, fragte Clarence. »Ganz in die Nähe«, antwortete Indy. »Die Kälte liegt mir nicht«, beklagte sich Clarence, während
er sich seine Pilotenmütze wieder auf den Kopf schob. »Was werden wir dort bombardieren?« »Wir werden dort überhaupt nichts bombardieren«, sagte Indy. »Ich wollte immer schon mal was bombardieren«, meinte Clarence. »Wir werden auch auf nichts schießen«, erklärte Indy. »Es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Es wird trotzdem ein ziemlich schwieriger Flug werden. Glaubst du, du schaffst das?« Clarence setzte ein linkisches Grinsen auf. »Glaubst du, ich hätte den Mund so voll genommen, wenn ich es nicht schaffen würde?« »Also gut«, meinte Indy. »Ich muss Donny in Juarez ein Telegramm schicken«, sagte Clarence. »Er wird, wie üblich, in Ma Crosbys Laden stecken, Steak Tampico verzehren und dieses grauenvolle mexikanische Bier in sich hineinschütten, das er so gerne mag. Von der Senorita, hinter der er her ist, ganz zu schweigen. Ich werde ihn bitten, herzukommen, Missy abzuholen und sie nach Mexico City zu fliegen. Dann kommt die Sendung ein paar Tage später an, aber da unten passiert sowieso nie etwas, wann es soll.« Unter Goodwins Führung verließen Indy und die anderen das Abfertigungsgebäude und traten hinaus auf die regennasse Schotterlandebahn. Die B-18P (P stand für Polar) erwartete sie, das Heck auf dem Boden, den Bug in die Luft gereckt. In ihrer silbernen Außenhaut spiegelte sich der sturmgepeitschte Himmel. Die Motorverkleidungen waren, wie auch der Bug, leuchtend rot lackiert. Im Gegensatz zur vergleichsweise langweiligen Karosserie ihrer zivilen Schwester, der DC-2, strotzte der Rumpf der B-18 nur so vor Schießöffnungen aus Plexiglas, Sichtfenstern und Antennen. Außerdem wanden sich Heizleitungen, die ihre Wärme von den Auspuffrohren der Motoren bezogen, über die Seitenwand des Flugzeugs, und zwei unmittelbar hinter
dem Cockpit am Rumpf befestigte Schutzschilde sollten möglicherweise tödliche, von den Propellern herumgeschleuderte Eispartikel abfangen. Eine große, unmittelbar achtern des Cockpits angebrachte Schleifenantenne war mit der Peilausrüstung verbunden. »Donnerwetter«, meinte Ulla. »Die Maschine sieht so modern aus, so tödlich. Wie aus einem Albtraum.« »Das ist noch gar nichts«, meinte Goodwin. »Douglas hat fünfundvierzig dieser normalen Modelle an die Armee ausgeliefert, dabei sind sie in einem oder zwei Jahren, wenn die B-17 in die Produktion geht, bereits veraltet. Der Bomber hat vier Motoren und verfügt über die doppelte Feuerkraft.« »Toll«, meinte Ulla. »Ich wette, die Menschheit kann es kaum erwarten.«
KAPITEL ACHT Auf dem Dach der Welt
Nach abermaliger Proviantaufnahme auf Long Island nahm die B18P - die Clarence, zum großen Entsetzen von Captain Blessant, unverzüglich und ganz zwanglos in Pinguin umgetauft hatte Kurs auf Island. Den größten Teil der achtundvierzigstündigen Flugzeit auf dieser ersten Etappe der Reise verbrachte Indy damit, eingehüllt in seine schaffellgefütterte Fliegerjacke Schlaf nachzuholen, während Ulla ihn gelegentlich weckte, um nach dem Verband an seinem rechten Arm zu sehen. In Goose Bay auf Neufundland stand Indy auf, vertrat sich auf dem kalten Rollfeld kurz die Beine und sah zu, wie die Pinguin aufgetankt wurde. Anschließend ging es quer über den Ozean nach Gothaab, auf der Südspitze Grönlands, und schließlich weiter über eine aufgewühlte See. Indy kämpfte sich durch bis nach vorn und beugte sich ins Cockpit. »Wie läuft sie?« »Schnurrt wie ein Kätzchen«, antwortete Blessant. »Ein Magnet hat sich ein wenig unangenehm bemerkbar gemacht. Bruce kann ihn sich ansehen, sobald wir gelandet sind. Eigentlich habe ich nur ein einziges Problem, und das ist mein Kopilot, der unaufhörlich redet.« »Ich versuche lediglich, mich ein wenig zu unterhalten«, sagte Clarence. »Ich dachte, vielleicht interessiert es ihn, wie es war, in Erbie, Arkansas, aufzuwachsen.«
»Das glaube ich allmählich fast selbst«, versetzte Blessant. »Hab ich Ihnen schon erzählt, dass ich im großen Krieg eine Jenny geflogen bin?« »Ungefähr einhundert Mal.« »Hast du den Bogen allmählich raus?«, fragte Indy Clarence. »Der Vogel ist noch nicht gebaut worden, den ich nicht fliegen kann«, prahlte Clarence. »Im Übrigen steuert man dieses Ding einfach in die Richtung, in die man fliegen möchte.« »So einfach?«, fragte Indy. »Nicht ganz, eher ist es so, als würde man ein Boot steuern«, sagte Clarence. »Die Steuerung ist so verdammt schwammig, und wir sind so beladen, dass wir anstelle der Steuerseile ebenso gut eine Ruderpinne haben könnten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn wir diese Skier erst unter die Räder geschnallt haben.« Clarence wandte sich zu Blessant. »Sie haben sie damit doch schon Probe geflogen, oder?« Blessant schüttelte den Kopf. »Das gibt Vertrauen«, murmelte Indy. »Sei unbesorgt«, meinte Clarence. »Alles läuft bestens. Ich sage dir Bescheid, sobald du dir Sorgen machen musst.« Indy gab Clarence einen Klaps auf die Schulter und ging nach hinten. »Sparks«, sagte Indy. »Haben wir schon Nachricht von Markham bezüglich der Position des »Graf Zeppeline?« »Nein, Sir.« Sparks hockte, einen Kopfhörer auf die Ohren gepresst, auf seinem Platz hinter dem Cockpit und spielte an der beträchtlichen Anzahl von Skalen und Schaltern seiner Ausrüstung, die die gesamte Trennwand einnahm. Er strich sich eine Strähne seiner wirren braunen Haare aus den Augen, bevor er antwortete. »Kein Sterbenswort. Möchten Sie, dass ich etwas sende?« »Wir haben keinerlei Veranlassung, die Nazis über unser
Kommen zu unterrichten«, sagte Indy. »Hattest du schon Glück auf der Frequenz, die ich dir gegeben habe?« »Auf zwanzig Meter?« Sparks langte nach oben und drehte an dem Rad, mit dem man die Schleifenantenne oben auf dem Flugzeug verstellen konnte. »Noch nicht. Wissen Sie, worauf genau ich achten soll? Auf einen Signalton, auf ein Morsezeichen?« Indy schüttelte den Kopf. »Ich würde mir deswegen nicht den Kopf zerbrechen, Sir«, meinte Sparks. »Wenn es dort draußen ein Ziel gibt, das man finden kann, dann finden wir es auch. Bei dieser Flughöhe haben wir einen Vorteil, den wir am Boden nicht hätten, denn unsere Reichweite ist ungleich größer. Außerdem verfügen wir über das absolut beste Gerät, das es derzeit gibt - das weiß ich, denn ich habe es selbst gebaut.« »Du hast das alles gebaut?« »Und entworfen«, klärte Sparks ihn auf. »Sehen Sie, ich verwende den von Armstrong entwickelten Standard-Zwischenfrequenzempfänger, aber ich habe ihn mit dem Schwingungserzeuger gekoppelt, etwa so.« Der Teenager skizzierte einen Blockschaltplan auf seinem Klemmbrett, der nicht anders aussah, als eine von Kinderhand gezeichnete Lokomotive mit einer Kette von Waggons. »Ich glaube dir aufs Wort«, meinte Indy. »Sir, ich kann Ihnen eine ungefähre Peilung geben, indem ich die Schleifenantenne drehe und mit dem Signal der festen Radialantenne am Heck vergleiche, aber um eine Position zu erhalten, müssten wir eine Dreiecksnavigation vornehmen - so wie man Kompasspeilungen von zwei bekannten Punkten trianguliert, um einen unbekannten dritten auf der Karte zu bestimmen.« »Das Prinzip ist mir bekannt«, sagte Indy. »Sobald wir das Signal geortet haben, benötigen wir eine Referenzpeilung von einer zusätzlichen Quelle. Ein Schiff vielleicht, oder eine feste Station auf einem Berggipfel. Eine andere Möglichkeit wäre, den am höchsten gelegenen Platz
für ein Basislager ausfindig zu machen und dort eine behelfsmäßige Funkstation einzurichten.« »Gute Idee.« »Das einzige Problem ist, jemand müsste zurückbleiben und das Funkgerät bedienen.« »Ich weiß nicht, ob wir dafür jemanden aus der Mannschaft entbehren können«, sagte Indy. »Nun, die Alternative wäre, diejenige Peilung ausfindig zu machen, wo das Signal am stärksten ist, und von dort aus eine Linie abzustecken. Das Problem ist, wir wüssten nicht, wie weit wir fliegen müssen, bevor wir das Ziel erfassen. Es könnte außerhalb unserer Reichweite liegen.« »Ich sehe das Problem«, sagte Indy. »Wir werden unser Bestes geben. Hör die Frequenz weiter ab, und sag mir Bescheid, wenn du etwas empfängst.« »Sir?«, fragte Sparks. »Was gibt´s?«. »Wir hatten bisher kaum Gelegenheit, miteinander zu sprechen, und ich wollte nur -« Die Sommersprossen auf seinen Wangen verschwanden gänzlich hinter einem Hauch von Rosa. »Na ja, ich wollte mich einfach bei Ihnen bedanken, weil Sie erlaubt haben, dass ich mit von der Partie sein kann. Mein Vater ist tot, deswegen müsste meine Mutter zu Hause in Iowa die Papiere unterschreiben, damit ich in die Armee eintreten konnte. Ich bin nämlich noch keine achtzehn.« »Aus welcher Stadt in Iowa?« Indy zog eine Kiste heran und setzte sich. »Sie haben wahrscheinlich noch nie davon gehört«, meinte Sparks. »Es ist ein kleines Nest mit Namen Payne Junction.« »Den Ort kenne ich«, sagte Indy. »Er liegt am Missouri. Ganz in der Nähe gibt es ein paar indianische Grabhügel, die ich einmal aufgesucht habe.« »Genau!«, stieß Sparks hervor. »Mein Vater hatte dort eine kleine Tankstelle, bis ein Lastwagenreifen, den er gerade
flickte, explodiert ist. Die Felge hat ihn genau an der Stirn erwischt. Vermutlich hat er mich deshalb niemals Reifen flicken lassen.« »Das tut mir Leid«, sagte Indy. »Es ist hart, ein Elternteil zu verlieren. Meine Mutter starb an Scharlach, als ich zwölf war. Ich vermisse sie noch immer.« »Das ist schlimm«, meinte Sparks. Dann fügte er hinzu: »Ich vermisse meinen Vater auch noch immer. Er war ein prima Kerl. Er hat mir immer erzählt, alles sei möglich, wenn man einfach hart genug dafür arbeitet - und genügend Fantasie besitzt.« »Hört sich an, als sei er ein prima Kerl gewesen«, sagte Indy. »Er war so etwas wie ein Wissenschaftsnarr, und als ich klein war, fing ich an, all diese Zeitschriften zu lesen, die er in der Werkstatt herumliegen hatte - Sie wissen schon, Zeugs wie Erstaunliche Geschichten. Sie werden von einem Kerl namens Hugo Gernsback herausgegeben, und ich nehme an, er wollte, dass alle sich für Technik und was die Zukunft bringen wird begeistern. Dadurch bin ich geradezu süchtig nach Elektronik geworden. Ich lese sie übrigens noch immer.« »Dein Dad hat dir eine Menge mitgegeben«, sagte Indy. »Stimmt.« Sparks lächelte. »Meine Mutter hat allerdings noch immer kein Verständnis dafür. Sie kann diese Zeitschriften nicht ausstehen, hauptsächlich wegen der Roboter mit den nackten Mädchen auf der Titelseite. Ich bin zur Armee gegangen, weil ich es leid war, Elektronikbaukästen zusammenzusetzen, und weil ich wusste, dass ich nirgendwo sonst Geräte wie diese in die Hände bekommen würde. Natürlich auch, um meine Mutter zu unterstützen. Nach Vaters Tod mussten wir die Tankstelle verkaufen, und das hat sie ziemlich hart getroffen.« »Die Depression hat alle ziemlich hart getroffen.« »Sie erklärte mir, wenn man Soldat ist, muss man damit rechnen, dass auf einen geschossen wird. Aber haben wir
deswegen nicht im Großen Krieg gekämpft?«, fragte Sparks. »Ich meine, damit auf niemand mehr geschossen wird?« Indy schluckte und wandte den Blick ab. »Das war die Absicht, Sparks«, sagte er. »Aber manchmal entwickeln sich die Dinge nicht ganz so wie erhofft. Es gibt immer noch eine Menge Böses in der Welt, und ich fürchte, wir werden auf dieser Reise einen Teil davon zu sehen bekommen. Gut möglich, dass man sogar auf uns schießt.« »Ich weiß«, erwiderte Sparks. »Ich hab keine Angst. Ich wünschte nur, alle könnten die Zukunft so sehen wie mein Dad.« »Jeder bekommt es manchmal mit der Angst«, erklärte Indy ihm. »Das ist nichts, weswegen man sich schämen muss. Aber sollte die Lage hier brenzlig werden, dann möchte ich, dass du so nah wie möglich bei mir bleibst. So, und jetzt muss ich nach der übrigen Mannschaft sehen. Halt die Ohren offen, okay?« »Verstanden«, sagte Sparks. »Clarence.« Indy tippte dem Piloten auf die Schulter. Clarence nahm seine Kopfhörer ab, und sie steckten die Köpfe zusammen, damit sie sich im Schutz des Motorenlärms unter vier Augen unterhalten konnten. »Eins musst du mir versprechen«, sagte Indy. »Für den Fall, dass mir etwas passiert, möchte ich, dass du dich persönlich um unseren Funker kümmerst. Sparks ist ein heller Junge, und ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustößt.« »Sicher«, scherzte Clarence. »Nur, wer kümmert sich um mich, wenn dir etwas zustößt?« Indy lachte und versetzte ihm einen Klaps aufs Bein, als er durch das Cockpit und hinunter in den Bug kletterte, wo Goodwin in der Plexiglaskanzel des Bomberschützen am Pult des Navigators saß. Gerade war er dabei, sich eine Tasse Kaffee aus einer Thermoskanne einzuschenken und ihre Position auf der Karte mit einem Fettstift auf den neuesten Stand zu bringen.
»Donnerwetter«, entfuhr es Indy, als er die Wolken und den unter ihnen vorüberrauschenden Ozean sah. »Macht dieser Ausblick Sie nicht ein bisschen nervös?« »Nein«, meinte Goodwin. »Große Höhen machen mir keine sonderliche Angst.« »Das dachte ich auch, aber diese Aussicht könnte meine Meinung ändern«, sagte Indy. »Läuft alles nach Plan?« »Bislang wie ein Uhrwerk.« Goodwin sah auf seine Uhr. »In ungefähr zwanzig Minuten werden wir in Reykjavik landen und abermals auftanken. Haben Sie schon eine Vorstellung, wo wir das Basislager einrichten werden?« »Nein«, sagte Indy. »Dafür habe ich noch nicht genügend Informationen. Ich benötige einen Hinweis, wo sich der >Graf Zeppelin« befindet. Ohne könnte es passieren, dass wir das Lager eintausend Meilen in der falschen Richtung aufschlagen.« »Allerdings.« Goodwin hob einen Finger und presste den Kopfhörer an sein rechtes Ohr. »Der Captain sagt, Sparks hat eine Nachricht«, sagte er. »Vielleicht handelt es sich um den großen Blechballon, den wir suchen.« »Danke.« Indy begab sich zurück durch die Kabine. »Was gibt's, Sparks?« »Ich habe eine verschlüsselte Nachricht von Markham empfangen«, sagte der Junge, während er die Buchstaben auf seinem Klemmbrett mit einem vervielfältigten Kodierungsschlüssel verglich. »Ich hab's gleich. Hier. Was bedeutet LZ127?« »Das ist der „Graf Zeppelin“«, sagte Indy. »LZ-127 vor Südkap Insel Spitzbergen um 0930 Uhr von norwegischen Fischern gesichtet«, las Sparks vor. »Flugrichtung NNO. Höhe fünfhundert Fuß, Geschwindigkeit unbekannt. Bestätigen.« »Wo zum Teufel -« »Das ist hier«, sagte Goodwin und rollte eine Karte aus. Er war aus dem Bug nach oben gekommen und hatte mitgehört, als Sparks die Nachricht dechiffrierte. »Am Rand
des arktischen Packeises. Eine zu Norwegen gehörende und offiziell unter dem Namen Svalbarden bekannte Inselgruppe, die jedoch gewöhnlich nach dem Namen der größten Insel, Spitzbergen, benannt wird.« »In welche Richtung fliegt der „Graf“?«, fragte Indy. »Richtung Nord-Nordost, das wird ihn am Rand der Inselgruppe vorbei und möglicherweise bis mitten ins eigentliche Packeis führen«, erklärte Goodwin. »Was machen sie so weit südlich?«, fragte Ulla. »Entweder wollen sie sich zur Treibstoff auf nähme mit einem Tanker treffen«, erläuterte Indy, »oder sie suchen etwas im Wasser. Ich tippe auf Letzteres. Wie weit sind wir zurzeit entfernt?« Goodwin stellte die Entfernung mit Hilfe eines Winkelmessers fest. »Ungefähr fünfzehnhundert Meilen«, sagte er. »Gut«, sagte Indy. »Und die Höchstgeschwindigkeit des „Graf Zeppelin“ beläuft sich auf ungefähr achtzig Meilen in der Stunde.« »Aber der Sichtung zufolge scheint er erheblich langsamer zu fliegen«, meinte Goodwin. »Angenommen, er findet, wonach er sucht, und kehrt auf der Stelle um. Wie schnell könnten wir ihn theoretisch eingeholt haben? Könnte mir jemand dabei zur Hand gehen?« Sparks stellte einige hektische Berechnungen an. »Sechseinhalb Stunden brauchen wir, um Spitzbergen zu erreichen, wo wir auftanken«, erklärte er. »Dadurch erhält der Zeppelin einen Vorsprung von ungefähr fünfhundert-dreißig Meilen, den wir in weiteren zwei Stunden und zwanzig Minuten aufgeholt haben können. Bis dahin wird sich der Zeppelin jedoch ungefähr weitere sechzig Meilen von uns entfernt haben. Das Ganze läuft letzten Endes auf einen Treffpunkt etwa zweitausendeinhundert Meilen von hier hinaus - bleibt es bei diesem einen Tankstopp, sind das weniger als zehn Stunden. Von Reykjavik aus gerechnet, versteht sich.«
»Angenommen, sie halten direkt darauf zu, aus welcher Richtung auch immer«, sagte Goodwin. Er nahm einen Kompass aus seinem Overall und zeichnete einen Kreis, der einen Sechshundertmeilenradius um die Insel Spitzbergen legte. Der mit Bleistift gezogene Kreis schnitt die Nordostküste Grönlands, führte mehrere tausend Meilen weit über offenes Meer, bis er knapp die norwegische Küste streifte, um anschließend die Barents-See bis ungefähr einhundert Meilen vor dem Nordpol zu durchmessen. »Ganz gleich, in welche Richtung sie abdrehen«, fuhr Goodwin fort, »wir können sie in zehn Stunden eingeholt haben. Nicht nur das, sondern wir werden auch noch genug Treibstoff übrig haben, um problemlos nach Spitzbergen zurückzukehren.« »Woher werden wir wissen, ob sie ihren Kurs ändern?«, fragte Indy. »Dort, wo sie hinfliegen, wird es keine norwegischen Fischer geben.« »Je näher wir ihnen kommen«, sagte Sparks, »desto günstiger stehen die Chancen, dass wir ihren Funkverkehr mit Berlin abfangen.« »Das ist richtig«, bestätigte Goodwin. »Es sei denn, sie bewahren Funkstille«, gab Indy zu bedenken. »Noch fünf Minuten bis zur Landung in Reykjavik, Commander«, verkündete Blessant über die Gegensprechanlage. »Ich schlage vor, dass alle jetzt ihre Kaltwetterkleidung anlegen, sofern Sie das nicht längst getan haben.« » „Commander!“ « Ulla versetzte Indy einen Rippenstoß, ein wenig härter, als Ausgelassenheit dies erlauben würde. »Das gefällt mir besser als „Doctor“.« »Wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen«, sagte Goodwin. »Oder wir verschwenden auf dem Boden nur unsere Zeit.« »Augenblick mal«, sagte Indy. »Nehmen wir uns eine Minute Zeit und ziehen wir die Nachteile dieses Plans in
Betracht. Erstens sind wir bereits seit nahezu zwanzig Stunden in der Luft. Sergeant Bruce, wie hält sich unsere Pinguin?" »Der besagte Magnet ist ausgefallen«, erklärte Bruce, mit seinem pelzgefütterten Overall kämpfend, »und es wird wenigstens eine Stunde dauern, ihn auszuwechseln. Wenn wir weiterfliegen, werden wir uns auf die Redundanzsysteme verlassen müssen. Vermutlich bedeutet das kein wirkliches Risiko. Davon abgesehen, scheint sich die Fing - ich meine, die B-18P - recht ordentlich zu halten. Alle Systeme funktionieren einwandfrei.« »Also gut«, sagte Indy. »Wie ist es mit dem Wetter?« »Klar und beständig. Barometer gleich bleibend.« »Gut. Also, wie stehen die Chancen für ein Basislager?« »Wir haben keine Zeit, eins einzurichten«, meinte Goodwin. »Vielleicht doch.« Indy hielt inne. »Sergeant, wie lange wird das Auftanken in Spitzbergen dauern?« »Zwanzig Minuten, höchstens«, antwortete Bruce. »Also gut«, sagte Indy. »Das reicht, um die Ausrüstung für das Lager auszuladen und eine Person zurückzulassen, die es aufschlägt und das Funkgerät bedient.« »Aber wer von uns sollte das sein?«, fragte Goodwin. Indy setzte eine reumütige Miene auf. »Sie, fürchte ich.« »Ich bestimmt nicht«, erwiderte er. »Ich bin der Navigationsoffizier. Außerdem darf ich die blöde Maschine nicht verlassen, weil Markham mir den gesamten Papierkram anvertraut hat.« »Nun, Sergeant Bruce brauche ich für den Fall, dass etwas schief geht«, sagte Indy. »Blessant wird aus offensichtlichen Gründen gebraucht, und Sparks ist unverzichtbar. Bleiben Ulla und Clarence.« »Die Zivilistin wäre unbestreitbar die richtige Wahl«, schlug Goodwin vor. »Genau genommen nicht«, widersprach Indy. »Und verlangen Sie nicht, dass ich das erkläre. Sie werden es verste-
hen, sobald es so weit ist. Goodwin, können Sie dieses Flugzeug fliegen?« »Es fliegen?«, wiederholte er. »Nein, Sir.« »Sehen Sie.« Indy zuckte die Achseln. »Clarence bleibt ebenfalls. Sie gehen in Spitzbergen von Bord und richten dort die Funkstation und das Basislager ein. Den Papierkram können Sie an Sparks übergeben.« »Aber Colonel Markham -« »Colonel Markham hat mir die Leitung dieser Expedition übertragen, und zwar bis zur letzten Niete dieses Flugzeugs«, fiel Indy ihm ins Wort. »Ich habe nicht die Zeit, Ihnen gegenüber meine Stellung zu rechtfertigen. Abgesehen davon sind Sie außer Sparks der Einzige, der im Stande ist, Funkpositionen auf eine Karte zu triangulieren, richtig?« »Vermutlich ...« Goodwin wirkte alles andere als glücklich. »Dann ziehen Sie jetzt Ihre Kaltwetterkleidung über«, sagte Indy. »Ulla und ich werden Ihnen helfen, das Material so schnell wie möglich auszuladen, während die anderen die Maschine startklar machen. Ziehen Sie nicht so ein verdrießliches Gesicht, Lieutenant, Sie haben sich soeben das ungefährlichste Kommando auf dieser Expedition gesichert.« »Ja, Commander«, erwiderte Goodwin steif. »Ach, und denken Sie daran«, wandte sich Indy an Goodwin. »Sollten Sie auf diesem Funkgerät irgendeine interessante Peilung auffangen, tun Sie so, als seien Sie eine entlegene Beobachtungsstation, die zu unserer in Reykjavik auf dem Boden festsitzenden Maschine zurückfunkt, klar?« »Klar.« »Sir«, warf Sparks ein. »Colonel Markham wartet auf Antwort. Was soll ich ihm funken?« »Sag ihm Folgendes: „Nachricht erhalten. Abfangen wegen technischer Schwierigkeiten unmöglich. Landen wegen Reparaturarbeiten in Reykjavik. Erbitten Rat. Ende.“«
»Aber, Sir!«, protestierte Sparks. »Das ist gegen die Vorschriften.« »Wie stehen deiner Ansicht nach die Chancen, dass die Nazis uns abhören und unsere Codes ebenso mühelos knacken wie wir ihre?« »Ziemlich gut«, meinte Sparks. »Warum sollten wir den Kerlen also verraten, dass wir ihnen auf den Fersen sind?«, fragte Indy. »Sollen sie - und Markham - ruhig denken, dass wir eine Panne haben. Bislang waren sie über jeden meiner Schachzüge informiert. Verwirren wir sie also diesmal, indem wir etwas Unerwartetes tun.« Sparks nickte anerkennend. »Aber, Dr. Jones«, sagte er. »Wenn wir unsere eigenen Leute über unseren Standort genauso täuschen wie die Deutschen und uns weigern, unsere Koordinaten an Goodwin im Basislager auf Spitzbergen zurückzumelden, wer soll dann wissen, wo man uns finden kann, falls wir gezwungen sind, auf dem Eis notzulanden?« Auf diese Frage wusste Indy auch keine Antwort. Die Räder waren kaum zum Stillstand gekommen, als die Besatzung der Pinguin bereits an die Arbeit ging. Während Clarence das Flugzeug auftankte, arbeiteten Blessant und Bruce daran, die eigenartig aussehenden Skier am Fahrgestell des Flugzeugs zu befestigen. Die Räder selbst passten durch den Mittelteil der Skier. Während des Flugs würde das Fahrgestell nicht vollständig eingezogen werden können, allerdings konnte man es, wie die Beine eines plumpen Vogels, unter das Flugzeug klappen. »Hoffentlich ist das Rollfeld eben«, brüllte Blessant in Richtung Bruce, während er rasch die Bolzen an den Skiern festzog. »Zwischen den Skiern und dem unteren Rand der Reifen liegen nicht einmal sechs Zoll.« Dreiundzwanzig Minuten später waren die Ladeluken der Pinguin verriegelt, und die Motoren wurden angelassen.
«Wie ist der Barometerdruck?«, erkundigte sich Blessant bei Sparks über die Gegensprechanlage. »Achtundzwanzig-fünf«, antwortete der. »Höhe über Meeresspiegel achthundertzwanzig Fuß.« Blessant glich den Höhenmesser an. »Ich würde den berühmten Vulkan, den sie hier haben, nur äußerst ungern rammen«, witzelte Blessant. Dann überprüfte er bei beiden Motoren den Druck in den Ansaugstutzen und die Öltemperatur. »Alles angeschnallt?«, erkundigte er sich per Gegensprechanlage. »Wir hier hinten sind startbereit«, antwortete Sparks. Bruce saß neben ihm, er war von der Anstrengung noch immer schweißgebadet. »Wir sind ebenfalls startklar«, gab Indy durch. Ulla hockte auf dem Platz des Navigationsoffiziers, und Indy saß, die Rollbahn unmittelbar unter seinen Füßen, angeschnallt auf dem des vorderen Bordschützen. »Vollgas«, sagte Blessant. »Clarence, Sie werden mir helfen müssen, die Maschine auf der Startbahn stabil zu halten. Es geht ein tückischer Seitenwind. Führen Sie das Ruder mit leichter Hand, aber halten Sie sie gerade.« »Verstanden«, sagte Clarence. Als die Motoren aufdrehten, bis ihr Dröhnen den Höhepunkt erreichte, und Blessant seine Fersen von der Bremse nahm, rollte die Pinguin vorwärts und begann zu beschleunigen. Das Steuerbordrad traf auf ein Schlagloch und rutschte aus der Gleitkufe, wodurch das Flugzeug sich um seine Längsachse zu drehen und von der Rollbahn zu schlingern drohte. »Halten Sie sie gerade«, brüllte Blessant. »Tu ich, sofern es Ihnen gelingt, den Schlaglöchern auszuweichen«, nörgelte Clarence. Bei fünfzig Meilen in der Stunde verschwamm das Rollfeld unter Indys Füßen zu einem grauen Schlier, trotzdem schien die Maschine nicht recht abheben zu wollen. Er sah
das Ende des Rollfeldes näher kommen und dahinter einen Haufen des schwarzen Vulkangesteins. Indy schloss die Augen. »Erinnern Sie mich daran, dass ich mich nie wieder hier unten hinsetze«, rief er nach hinten zu Ulla. Blessant schob die Gashebel abermals nach vorn, und bei fünfundsechzig Meilen in der Stunde hoben die Räder vom Boden ab. Das Heck löste sich vom Boden, und einen Augenblick lang schwebte das Flugzeug dank des Bodeneffekts, zögerte jedoch höher zu steigen. »Klappenruder!«, gellte Blessant, und Clarence regulierte das radähnliche Gerät zwischen den Sitzen des Cockpits. Jetzt hob das Flugzeug endgültig ab, und Blessant schob die Gashebel fast bis zum Anschlag. Die Motoren dröhnten, und die Pinguin gewann langsam an Höhe, während sie in einem weiten Schwenk nach Nordosten abdrehte. »Ich muss mir unbedingt merken, dass die Klappenruder beim Start steiler gestellt werden müssen, wenn man die Gleitkufen benutzt«, meinte Blessant ruhig. »Ja«, meinte Clarence. »Und ich muss mir unbedingt merken, ein Paar Unterhosen zum Wechseln mitzunehmen. Junge, ich wette, die Landung wird ein Heuler.« Die Landung auf Spitzbergen wurde nicht ganz der „Heuler“, den Clarence vorhergesagt hatte. Die Pinguin setzte sanft auf und kam auf einer schneebedeckten Hochebene zum Stehen, die der angrenzenden Wetterstation als Rollfeld diente. Indy half Goodwin beim Auspacken des Basislagers, während die anderen nach kurzem Feilschen und Bitten um die Notwendigkeit zusätzlichen Treibstoffs -Fünfziggallonenfässer Flugbenzin ins Freie rollten. Als die Pinguin über das Eis rollte und schließlich abermals über die Startbahn aus verharschtem Schnee dröhnte, stand Goodwin tapfer winkend inmitten seiner neuen norwegischen Gefährten. Die Sonne in ihrem Rücken war hinter dem Horizont verschwunden und verwandelte den westlichen Himmel in ein feurig orangefarbenes Farbenspiel.
»Ich empfange ein Signal«, rief Sparks eine Stunde darauf. »Bist du sicher?« ; fragte Indy. Sparks schloss die Augen und legte seine Hände schützend über die Kopfhörer, bemüht, den Motorenlärm zu dämpfen. Dann streckte er seine rechte Hand vor und tippte ganz leicht gegen die Frequenzanzeige. »Ja, bin ich«, sagte er. »Es ist schwach und wobbelt ein wenig, aber es befindet sich auf vierzehn Punkt drei-fünf-null. Es ist ein Signalton, alle dreißig Sekunden.« »Lass mich mal hören«, sagte Indy. Sparks reichte ihm die Kopfhörer. Einige Sekunden lang vernahm Indy nichts als atmosphärische Störungen, dann erfolgte ein seltsam abgehacktes Fiepen. Er gab Sparks die Kopfhörer zurück, der sie wieder über seine Mütze klemmte. »Kannst du eine Peilung bekommen?« »Ich werde es versuchen«, sagte er und tippte auf seine Gegensprechanlage. »Sir, könnten Sie die Maschine ein paar Augenblicke lang so stabil wie möglich halten? Ich glaube, ich habe ein Zielobjekt. Wie lautet Ihr gegenwärtiger Kurs? Gut, halten Sie ihn bei, und ich sage Ihnen Bescheid.« Sparks schloss die Augen und drehte das Antennenrad mal hierhin, mal dorthin, dann justierte er einige Schalter. Er drehte abermals an dem Rad und entschied sich dann für eine Position, auf der das Signal am lautesten schien. Er schaute zum Ziffernblatt des Antennenkompasses hoch und notierte die Peilung rasch auf seinem Klemmbrett. »Captain Blessant?«, fragte er. »Ich glaube, wir haben es. Wenn wir Ihren derzeitigen Kurs, wie immer der lauten mag, als Null bezeichnen, müssen Sie siebenunddreißig Grad nach Backbord abdrehen.« Das Flugzeug legte sich langsam in die Kurve und richtete sich wenige Augenblicke später wieder aus. »Jetzt lassen Sie mich nachsehen.« Sparks drehte die Antenne nach links und stoppte. »Ein oder zwei Grad zurück.« Diesmal erfolgte der Kurswechsel beinahe unmerklich.
»Gut, das war´s. Das Signal befindet sich genau vor unserem Bug.« Sparks notierte Kurs und Zeit auf seinem Klemmbrett. Indy ging ans Kabinenfenster, das stark vereist war. Er versuchte, das Eis mit dem Ärmel abzuwischen, es befand sich jedoch an der Außenseite. »Es ist noch dunkel«, meinte Sparks. »Sie würden ohnehin nichts erkennen. Die Sonne geht frühestens in ein paar Stunden auf.« »So schnell?« »Land der Mitternachtssonne«, meinte Sparks. »Mittlerweile befinden wir uns ein gutes Stück jenseits des Polarkreises. Die Nächte werden immer kürzer, bis die Sonne am einundzwanzigsten Juni schließlich gar nicht mehr untergeht.« »Wohin führt uns dieser Kurs?«, fragte er. »Im Augenblick fliegen wir fast genau nach Osten«, sagte Sparks mit einem Blick auf die Karte. »Dort draußen gibt es nichts als offenes Meer und Eisberge.« »Glaubst du, das Signal wird anhalten?« »Schwer zu sagen«, meinte Sparks. »Es scheint in seiner Intensität zu schwanken und ist sicher nicht so stark, dass Goodwin es in Island empfangen kann. Wir befinden uns auf einer Höhe von zehntausend Fuß und sind zweihundert Meilen näher dran.« »Also können wir seine Position nicht triangulieren«, stellte Indy fest. »Nein, Sir. Wir können nichts weiter tun, als ihm zu folgen, und hoffen, dass es anhält.« Sparks nahm seine Kappe und die Kopfhörer ab und fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. Seine Ohren schmerzten vom pausenlosen angestrengten Lauschen. »Das ist nicht dasselbe Ziel wie dieser Blechballon, hab ich Recht?«, fragte Sparks. Eine Dampfwolke seines Atems hing zwischen ihnen. »Wenn es Sie nicht stört, dass ich frage, Sir, aber was ist das für ein Ding?«
»Es ist ein Kanister«, antwortete Indy. »Der wahrscheinlich auf den Wellen tanzt. Die Strömung des Nordatlantiks hat ihn bis in den Polarkreis getrieben.« »Was befindet sich darin?« »Das ist geheim.« Indy war zu müde für Erklärungen, außerdem nahm er nicht an, dass Sparks ihm glauben würde. »Was ist mit dem Zeppelin, Sir?«, wollte Sparks wissen. »Möchten Sie, dass ich weiter versuche, ihn zu orten?« »Nicht, wenn das bedeutet, dass wir dieses Signal verlieren«, antwortete Indy. »Ich denke, ich kann beides schaffen.« Sparks setzte Kappe und Kopfhörer wieder auf. »Aber was ist, wenn sich der Zeppelin und Ihr Zielobjekt in verschiedene Richtungen bewegen?« »Das wird nicht passieren«, erwiderte Indy. Sparks drückte auf die Taste der Gegensprechanlage. »Hallo, Captain. Es ist kalt hier hinten. Funktionieren diese Heizleitungen eigentlich? ... Ja, das dachte ich mir, dass Sie das sagen.« »Und was hat er gesagt?« »Er rät mir, mehr Kaffee zu trinken«, klärte Sparks ihn auf. »Dabei trinke ich gar keinen Kaffee, aber vielleicht ist jetzt der richtige Augenblick, damit anzufangen.« Dreißig Minuten später war das Signal schwächer geworden. »Ich fürchte, wir sind im Begriff, es zu verlieren, Dr. Jones«, sagte Sparks. »Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, aber es wird einfach immer schwächer.« »Höher wäre besser, hast du gesagt, richtig?« »Das ist richtig«, sagte Sparks. »Aber wir fliegen bereits hoch genug. Eine noch größere Flughöhe würde nur die Entfernung zwischen uns und dem Zielobjekt vergrößern.« Er hielt inne, um das Empfangsgerät einzustellen. »Da, jetzt ist das Signal verschwunden. Ich kann es nicht mehr finden.« »Aber das Meer ist ziemlich rau da unten«, sagte Indy. »Angenommen, die Wellenkämme unterbrechen das Funk-
feuer, oder irgendwelche Eisberge oder was weiß ich sind im Weg. Würde eine größere Flughöhe da keine Abhilfe schaffen?« »Schon«, gab Sparks ihm Recht, »aber dann hätten wir ein anderes Problem.« »Und das wäre?« »Die Schleifenantenne befindet sich oben auf dem Rumpf des Flugzeugs«, sagte er. »Je höher wir steigen, desto stumpfer wird der Winkel zur Erdoberfläche, und nach einer Weile würde der Flugzeugrumpf das Signal behindern. Normalerweise hat das nicht viel zu bedeuten, aber bei einem so schwachen Zielobjekt könnte es den Unterschied ausmachen zwischen Finden und Nichtfinden.« »Wieso hast du die Antenne nicht unter dem Flugzeug angebracht?«, fragte Indy. »Ehrlich, Sir, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, antwortete Sparks. »Tatsächlich ist die Antenne für die Ortung von oberhalb des Decks befindlichen, signalstarken Zielen ausgelegt und nicht für irgendwelche Gegenstände, die auf offener See umhertreiben und vielleicht ein oder zwei Watt Leistung abgeben.« »Und wenn wir sehr hoch und verkehrt herum fliegen würden?« »Dieser Eimer lässt sich nicht einfach umdrehen«, sagte er. »Ehrlich, Sir. Das ist kein Jagdbomber. Die Flügel würden glatt abreißen.« »War nur so ein Gedanke«, meinte Indy. »Aber vielleicht ist an Ihrer Idee doch etwas dran«, überlegte Sparks. »Angenommen, wir gehen auf maximale Flughöhe und anschließend im Sturzflug wieder runter auf Reiseflughöhe, dadurch würde der Bug nach unten gekippt und die Antenne mehr oder weniger im rechten Winkel auf das Ziel gerichtet werden. Das wäre machbar.« »Großartig«, meinte Indy. Sparks rief Blessant an und erläuterte ihm den Plan, woraufhin der Pilot ihn über die Gegensprechanlage bekannt
gab. Daraufhin griff Sparks neben seinen Sitz und holte eine Sauerstoffflasche mitsamt Maske hervor. »Was tust du?«, wollte Ulla wissen. »Auf siebenundzwanzigtausend Fuß können Sie nicht atmen«, erklärte Sparks. »Sie würden das Bewusstsein verlieren.« Während die Pinguin höher kletterte, schnallten Ulla und Indy ihre Masken um und erbrachen die Ventile der Sauerstoffflaschen. Einige Minuten später flog die Maschine hoch genug, um die Strahlen der Sonne einzufangen, die eben im Begriff war, über dem Horizont aufzugehen. Dann kippte die Maschine über den Bug nach vorn und setzte zu einem immer steiler werdenden Sturzflug an. Das Geräusch der über die Tragflächen pfeifenden Luft übertönte das der Motoren, und das Flugzeug begann zu vibrieren. Sparks atmete durch die Maske, lauschte über Kopfhörer und drehte wild an irgendwelchen Knöpfen. Einige Sekunden darauf wandte er sich um, sah Indy an und nickte. »In Ordnung«, sagte er zu Blessant. »Ich hab es wieder gefunden. Gehen Sie wieder auf Geradeausflug.« »Guter Rat, Junge«, feuerte Blessant zurück. »Das habe ich längst versucht, aber das Flugzeug weigert sich mitzuspielen. « Der Wind schwoll an zu einem Kreischen, und das Flugzeug begann so heftig zu vibrieren, dass Indy befürchtete, die Nieten könnten herausgesprengt werden. Ulla fasste seinen Arm - den mit der Schussverletzung - und drückte zu. Indy zuckte zusammen, ließ ihre Hand aber, wo sie war. »Hören Sie auf, am Steuerrad herumzuzerren«, rief Clarence Blessant zu. »Was soll ich Ihrer Meinung nach stattdessen tun?«, fauchte der Pilot. »Überlassen Sie es mir«, sagte Clarence. »Es gehört Ihnen.« Clarence schob das Ruderjoch behutsam eine Stufe nach vorn. Das Vibrieren hörte auf, aber die Maschine war jetzt
noch stärker nach unten geneigt. Plötzlich spürte Indy, wie er aus dem Sitz gehoben wurde, als die Schwerkraft im Innern des Flugzeugs ihren Einfluss verlor. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, begann zu schweben: Kaffeetassen, Bleistifte, die Papiere auf der Konsole des Funkgeräts. »Das ist nicht normal«, stellte Ulla fest. »Clarence«, brüllte Indy, während er sich die Sauerstoffmaske herunterriss. »Was tust du?« »Er wird uns alle umbringen«, rief Blessant über die Gegensprechanlage. »Ach, was«, meinte Clarence, dem die Maske vom Gesicht baumelte. »Erst einmal müssen Sie die Wogen glätten, indem Sie sich vornüber in den Sturzflug fallen lassen, und dann ziehen Sie sie wieder raus.« »Das ist keine Jenny!«, kreischte Blessant. »Was bilden Sie sich ein, dass dies eine Flugschau ist? Hier kommen Sie nicht wieder raus!« »Zu Hause mache ich das laufend mit meinem dicken, alten Flieger«, sagte Clarence, während er verfolgte, wie ihnen das Meer entgegenflog. »Der Trick besteht darin, das Steuerruder ganz leicht nach hinten zu ziehen und dann langsam nach einer Seite hin abzudrehen -« Die Schwerkraft setzte mit überraschender Heftigkeit wieder ein, als der Bug sich aufrichtete. Eine Kaffeetasse zerschellte auf dem Boden zwischen Indys Füßen, während er in den Sitz zurückgeschleudert wurde. Als die Pinguin endlich wieder waagerecht flog, glitten sie dicht über den Wellenkämmen dahin. Sparks nahm seine Sauerstoffmaske ab. »Puh«, sagte er. »Erinnern Sie mich daran, dass ich die verdammte Richtantenne beim nächsten Mal auf der Unterseite anbringe. Wollte sagen, die verflixte Richtantenne, Sir.« »Schon gut«, sagte Indy. »Hast du eine Peilung bekommen? « »Und ob«, erwiderte Sparks aufgeregt. »Zweiundneunzig
Grad, ein ziemlich starkes Signal diesmal. Ich vermute, Ihr Zielobjekt muss mit der Strömung treiben.« »Zweiundneunzig?«, wiederholte Blessant ungläubig. »Bist du sicher?« »Nein, ich meinte, neunundzwanzig Grad«, verbesserte sich Sparks. »Entschuldigung. Wenn ich unter Druck stehe, neige ich dazu, Zahlen zu vertauschen oder sonst irgendwas zu verdrehen.« Clarence überließ das Ruder wieder Blessant, der eine Kurskorrektur vornahm und das Flugzeug trimmte. »Haben Sie etwas gespürt, bei etwa zehntausend Fuß?«, fragte Clarence. »Ja, das Ende der Welt«, gab Blessant zurück. »Mein Sitz hat so sehr gewackelt, dass ich nicht mehr wusste, was eigentlich passiert. Mein Hintern fühlt sich an, als hätte man mich auf ein Maultier aus Missouri geschnallt.« Dreieinhalb Stunden nach Verlassen Islands, über den Weiten der Barents-See, rief Sparks Indy zu sich und reichte ihm die Kopfhörer. »Was gibt´s?«, fragte Indy. »Hören Sie ein paar Minuten zu.« Das Signal war klar und deutlich, ohne Wobbeln, allerdings schien der Ton mit jedem Fiepen niedriger zu werden. Außerdem wurde das Signal mit jedem Mal ein wenig leiser, so als drehte jemand die Lautstärke an einem Radiogerät herunter. »Was bedeutet das?«, fragte Indy. »Wir haben es soeben überflogen«, erklärte Sparks. »Vor etwa sechs Minuten, glaube ich. Ich habe es im Log vermerkt.« »Dann kehren wir um«, wies Indy ihn an und kletterte hinauf ins Cockpit. »Wie kannst du durch diese Fenster überhaupt etwas erkennen?«, fragte er. Obwohl die Heizleitungen funktionierten, war das Blickfeld auf beiden Seiten zu einem Loch von der Größe eines Basketballs geschrumpft.
»Leicht ist es nicht«, meinte Clarence. »Hör zu, Sparks sagte gerade, seiner Ansicht nach hätten wir das Ziel soeben überflogen, vor etwa zwanzig Meilen. Wir müssen umdrehen und zurückfliegen.« »Kein Problem.« Blessant begann, die Maschine zu wenden. »Aber dort unten hat sich ein ziemliches Unwetter zusammengebraut. Wir werden sehr genau auf dem Posten sein müssen, wenn wir etwas erkennen wollen.« »Dann geben Sie Ihr Bestes«, sagte Indy. »Dr. Jones?«, rief Sparks. »Ich habe das Signal verloren. Vollkommen. Es ist absolut nichts mehr zu hören.« Vier Minuten später war die Pinguin inmitten von Wolken und Nebel auf fünfhundert Fuß heruntergegangen. In dieser geringeren Höhe war die Luft wärmer, und das Eis hatte sich größtenteils von den Fenstern gelöst. »Das hat keinen Zweck«, meinte Clarence. »Ich kann immer noch nichts erkennen.« »Dann gehen wir eben noch tiefer«, sagte Blessant. Auf einhundert Fuß befanden sie sich noch immer inmitten dichten Nebels. »Das hat keinen Zweck«, wiederholte Clarence. »Wir fliegen praktisch blind. Ich kann nicht einmal das Wasser sehen, Sie vielleicht?« »Nein«, antwortete der Pilot. »Ich klettere hinunter in den Bug«, verkündete Indy. »Vielleicht kann ich von dort ein wenig besser sehen.« Ulla folgte ihm nach unten und nahm am Tisch des Navigationsoffiziers Platz, während Indy sich auf den Platz des Bordschützen setzte. Das Eis war so weit vom Plexiglas heruntergeschmolzen, dass Indy einen ausgezeichneten Blick hatte - auf nichts als Wolkendunst. Die Sonne stand mittlerweile ein gutes Stück über dem Horizont, und der Dunst schien zu glühen. »Das müsste die Stelle sein«, sagte Indy. »Was immer uns das nützt. Von hier unten kann ich nicht das Geringste erkennen. So nahe dran zu sein und trotzdem -«
»Was ist mit der Sonne passiert?«, fragte Ulla. Der Nebel vor dem Flugzeug hatte sich verdunkelt. Unmittelbar darauf war der Wolkendunst plötzlich aufgerissen, und Indy hatte einen gestochen scharfen Blick auf das Meer - sowie auf den Bug des „Graf Zeppelin“, der über ihnen schwebte, die Sonne verdeckte und den Nebel in einem Bereich von der Größe eines Fußballfeldes durch den Sog seiner Motoren verscheuchte. In seinem Ausguck im Bug der Pinguin war Indy so nah am Geschehen, dass er den überraschten Ausdruck auf den Gesichtern von Passagieren und Besatzungsmitgliedern in der mit Glasfenstern versehenen Steuerkabine erkennen konnte, die wie ein gewaltiges Doppelkinn unter dem Bug des Luftschiffs hing. »Mein Gott!«, brüllte Indy in sein Mikrofon. »Hochziehen! Stopp. Nein, warten Sie, ziehen Sie nicht hoch!« Die Pinguin tauchte ab und nahm das Gas zurück, passierte die Unterseite der Steuerkabine aber immer noch so nahe, dass Indy die Befestigungsklampen für die Taue und die für die ausländischen Vertäuungsmannschaften auf Englisch und Portugiesisch abgefassten Hinweisschilder erkennen konnte. Dann hatten sie die Kabine passiert und segelten langsam unter dem Bauch des Leviathans hindurch, und Indy bemerkte, dass an einer trapezförmigen Konstruktion mittschiffs eine Art Jagdbomber befestigt war, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. »Ich schätze, den Zeppelin haben wir gefunden«, meinte Blessant ruhig über die Gegensprechanlage, während er die Pinguin bis auf wenige Meter über der Wasseroberfläche nach unten drückte. Indy starrte offenen Mundes nach oben. Die hintere Ladeluke im Bauch des „Grafen“ stand offen, und aus ihr baumelte an einem schlanken Drahtseil ein gelber Kanister. Der Kanister befand sich einige Meter über einer aufblasbaren Rettungsinsel mit einigen Männern an Bord und war offenkundig eben erst gefunden worden. In der Zeit, die Indy benötigte, um zu erkennen, was er vor
sich sah, hatte die Pinguin die Rettungsinsel bereits passiert. »Jetzt wird es spannend«, sagte Ulla, als sie die Knie anzog und sich für den Aufprall wappnete. Als sie sich dem zweimotorigen Bomber gegenübersahen, der auf sie zugerast kam, sprangen die Männer über Bord ins Meer. Blessant zog die Maschine hoch und versuchte abzudrehen, doch die Steuerbordflügelspitze verfing sich im Seil, und der gelbe Kanister wurde in die Luft gerissen. Durch den Zug des Seils rollte die Pinguin nach Steuerbord, während der Kanister im selben Augenblick auf die Flügelspitze zuschoss, als das Seil unter Spannung geriet. Der Kanister klemmte sich mit einem widerlichen Knirschen zwischen Tragfläche und Hängetanks. Dann riss das Drahtseil, und das Flugzeug schien durch die Luft zu schlingern. Aus dem beschädigten Tank begann Treibstoff ins Meer zu fließen. Das Steuerruder wurde nach hinten in Blessants Hände geschlagen. »Vollgas!«, rief er Clarence zu, während er bemüht war, das Ruder nach vorn zu drücken. »Wir brauchen eine gewisse Eigengeschwindigkeit, sonst sacken wir durch.« Clarence stieß beide Gashebel nach vorn. Der Backbordmotor röhrte auf, der Motor auf der Steuerbordtragfläche dagegen hatte eine Fehlzündung und begann zu stottern. Der Bug richtete sich auf, als die Pinguin sich mühsam in die Luft hineinfraß und zu einer Übelkeit erregenden Spirale ansetzte. »Bringen Sie sie in die Waagerechte«, kommandierte Blessant. »Versuche ich ja«, rief Clarence, während er die Treibstoffmischung regulierte. Der Steuerbordmotor hustete, als wollte er sich räuspern, und begann schließlich gleichmäßiger zu laufen. Wenige Sekunden darauf lief er wieder auf vollen Touren. Blessant drückte das Steuerruder nach vorn, und die Maschine
streifte das Meer mit der Spitze seiner Steuerbordtragfläche, bevor sie sich wieder in die Lüfte erhob. Sie befanden sich jedoch noch immer unter dem Heck des Zeppelins. Indy sah die Leitkante einer der Stabilisatorflossen des Luftschiffs wie ein Messer auf sie zurasen. An der Seite der Flosse befand sich ein riesiges schwarzes Hakenkreuz in einem roten Kreis. »Seid ihr blind?«, schrie Indy. »Ein Hakenkreuz von der Größe eines Hauses rast genau auf uns zu!« Die Pinguin schlingerte hart nach links, verfehlte knapp das riesige Leitwerk und wippte zurück in die Horizontale. Als Blessant einen Augenblick später feststellte, dass die Pinguin noch immer in der Luft war, fragte er kopfschüttelnd: »Haben wir die Maschine noch unter Kontrolle?« »Ich denke, ja«, sagte Clarence. »Eine Flügelspitze ist ziemlich mitgenommen, aber die Klappruder und die anderen Dinger scheinen noch zu funktionieren.« »Dinger?«, fragte Blessant. »Sie wissen schon«, meinte Clarence. »Die Querruder.« »Wir verlieren aus dem Steuerbordmotor eimerweise Benzin«, sagte Blessant. »Schalten Sie ihn ab, damit er nicht den Rest des Flügels leer saugt.« »Verstanden«, sagte Clarence. Als Indy seinen Kopf aus der Bugkanzel steckte, war der „Graf Zeppelin“ ein weit hinter ihnen liegender Schatten. »Ich werde mich nie wieder dort unten in den Bug setzen«, zeterte Indy. »Was wollt ihr mir eigentlich antun? Clarence, diesen letzten Schwenk hast du absichtlich gemacht. Warte nur, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen haben, dann werde ich -« »Immer mit der Ruhe, Kumpel«, erwiderte Clarence. »Niemand hat hier irgendetwas absichtlich getan. Das war das reinste Beispiel von Glück, das ich je erlebt habe. Mitten im Nirgendwo stoßen wir beinahe genau mit dem berühmtesten Luftschiff der Welt zusammen, was sowohl uns als auch die dreißig oder vierzig Personen dort an Bord
das Leben gekostet hätte. Wahrscheinlich wäre darüber sogar auch noch ein Krieg ausgebrochen. Wie die Dinge liegen, haben wir ziemliches Glück gehabt - möglicherweise haben wir uns bloß selber umgebracht.« »Was soll das heißen?« »Sieh doch mal aus dem Fenster hier«, drängte ihn Clarence. »Siehst du das Ding, das dort unter unserer Flügelspitze klemmt, und das Zeug, das aus dem Tank ausläuft? Das ist unsere Treibstoffreserve.« »Der Kanister«, entfuhr es Indy. »Er wird doch nicht runterfallen, oder?« »Du setzt ziemlich merkwürdige Prioritäten, Jones«, meinte Clarence. »Jetzt klettere wieder in den Bug und pflanz deinen Hintern auf den Platz des Bordschützen.« »Dort unten setze ich mich ums Verrecken nicht mehr hm.« »Sollten Sie aber«, meinte Blessant. »Der „Graf Zeppelin“ hat soeben ein Jagdflugzeug auf uns angesetzt. Sparks und Sergeant Bruce werden die mittleren Bordgeschütze übernehmen müssen.« »Ich werde eines der Geschütze übernehmen«, erbot sich Ulla, während sie durchs Cockpit kletterte und nach achtern ging. Ihr Englisch ließ vor lauter Aufregung zusehends nach. »Lassen Sie Sparks am Funk. Außerdem schieße ich doch gut, oder?« »Ich habe ein wirklich merkwürdiges Gefühl«, sagte Indy, als er sich widerstrebend in den Bug hinunterließ. Seine Begleiter konnten jedoch unmöglich ermessen, was für ein Gefühl das war es war dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er die Bibliothek des British Museum betreten und zum allerersten Mal in die hypnotisierenden Augen von Alecia Dunstin geblickt hatte: eine seltsame Mischung aus Angst und Faszination. An Bord des »Graf Zeppelin« presste Alecia Dunstin ihre Hände gegen die kalten Scheiben des Aussichtsfensters auf
der Steuerbordseite des Speisesaals und beobachtete, wie der angeschlagene amerikanische Bomber zum offenen Meer hin abdrehte. »Indy«, flüsterte sie. Reingold riss sie so grob vom Fenster fort, dass ihr die roten Haare über die Augen fielen. Sie trug die schwarze Uniformjacke eines Offiziers, allerdings ohne jedes Abzeichen, bis auf den Doppelblitz am Revers und die rote und graue Paspelierung, die sie als Sachverständige auswies. Auf dem schwarzen Samtband ihrer Mütze befand sich ein grinsender Totenschädel mit gekreuzten Knochen, der Totenkopf der SS. Die düstere Uniform ließ ihre Augen und Haut noch blasser erscheinen. »Machen Sie sich nur keine falschen Hoffnungen«, sagte er. »Wieso nicht?«, erwiderte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Weil Sie jetzt auf der anderen Seite stehen«, sagte Reingold. »Aus welchen Gründen auch immer, es war die richtige Entscheidung. Es ist die Seite, auf der Gott höchstpersönlich steht.« Alecia verschränkte die Arme. »Warten Sie nur, bis Sie Indy in die Finger fallen«, entgeg-nete sie. »Ihre Begabung ist in der Tat bemerkenswert«, meinte Reingold. »Ich selbst war unsicher, ob Jones sich an Bord dieses Flugzeugs befindet, Ihre Reaktion lässt daran allerdings kaum Zweifel, finden Sie nicht?« »Das war nichts als eine Vermutung«, gab sie zurück. »Keine Weissagung.« »Dafür kenne ich Sie zu gut«, meinte Reingold. »Sie raten niemals. Ihr Fähigkeiten dürften sich in der bevorstehenden Auseinandersetzung als ziemlich nützlich erweisen.« »Diese Abmachung hat ihre Gültigkeit verloren«, erwiderte sie. »Wenn man mit uns eine Übereinkunft trifft«, sagte Reingold, »gibt es kein Zurück. Es ist wie in einer Ehe - bis dass der Tod uns scheidet.«
Er streckte die Hand aus und rieb eine Strähne ihres Haares zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie schlug seine Hand fort. »Wir sind fast am Ziel«, sagte Reingold. »Wirklich bedauerlich, dass Jones nicht zugegen sein wird, um an unserem Triumph teilzuhaben.« »Sie haben versprochen, ihm nichts anzutun.« »Wir haben versprochen, ihn in Frieden zu lassen«, erwiderte Reingold. »Aber jetzt, da er gekommen ist, um uns zu suchen nun, dadurch verändert sich alles. Im Übrigen dachten wir, er sei tot.« »Sie dachten -«, stammelte Alecia. »Soll das heißen, Sie haben sich bereit erklärt, ihn in Frieden zu lassen, weil Sie dachten, er sei längst tot?« Reingold nahm eine Zigarette aus seinem silbernen Etui, klopfte sie auf das Kristallglas seiner Armbanduhr und steckte sie sich in den Mund - ohne sie jedoch anzuzünden. Dann deutete er auf das Panoramafenster, hinter dem das Jagdflugzeug des Luftschiffs über die Wellen donnerte, dem Bomber hinterher. »Wir können unmöglich zulassen, dass dieser amerikanische Gangster unsere wohl durchdachten Pläne gefährdet«, sagte er, »oder, was das betrifft, mit dem Kanister entkommt. Ich denke, es war ein genialer Einfall, als unser Kapitän beschloss, für diese Expedition ein Begleitflugzeug unter den Rumpf zu hängen, meinen Sie nicht?«
KAPITEL NEUN Verirrt!
Bei dem Jagdflugzeug handelte es sich um eine eigens entwickelte Versuchsmaschine der Firma Messerschmitt, leicht genug, um von einem Luftschiff abgeworfen zu werden, aber - dank eines brummenden Zwölfzylindermotors -auch schnell genug, um jeder denkbaren Bedrohung ihres Mutterschiffes entgegenzuwirken. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 342 Meilen, ihre maximale Flughöhe 34 450 Fuß, sie besaß zwei Maschinengewehre sowie ein 20-mm-Bordgeschütz. Kurz, sie war der Pinguin in jeder Hinsicht überlegen. Weil aber Deutschland die Wiederbewaffnung nach wie vor untersagt war, wusste nur die Führungsebene der Nazis sowie die eben erst neu geschaffene Luftwaffe von der Existenz des Prototyps Messerschmitt Bf.l07a. Und nun war die Besatzung der Pinguin im Begriff, sich in den Kreis der Eingeweihten einzureihen, und zwar auf recht spektakuläre Weise. Innerhalb weniger Minuten hatte die Messerschmitt die Pinguin überholt, und als sie über ihnen vorbeischoss, murmelte Clarence: »Was in aller Welt war das? Die muss mindestens dreihundert Meilen in der Stunde geflogen sein.« Blessant tippte auf die Gegensprechanlage. »Bewahren wir einen Augenblick lang einen kühlen Kopf«, erklärte er der Mannschaft. »Und eröffnet nicht übereilt das Feuer. Lasst uns erst einmal herausfinden, was sie überhaupt vorhaben.«
Die Messerschmitt wurde langsamer, um die Pinguin herankommen zu lassen. Dann drehte sie bei und nahm eine Position neben der Spitze der Steuerbordtragfläche des Bombers ein, und Indy konnte beobachten, wie der Pilot den Schaden an der Pinguin einschätzte und diese Information über Funk an das Luftschiff durchgab. Indy vermutete, dass das Gespräch zumindest teilweise um den Zustand des unterhalb der Flügelspitze eingeklemmten gelben Kanisters kreiste. Als Nebel und Wolken dichter wurden, schob sich die Messerschmitt sogar noch näher an den Bomber heran. »Ich könnte ihn auf seinem Sitz glatt aus dem Himmel pusten«, bemerkte Sergeant Bruce, als er das Cockpit in das Visier des Fünfziger-Kalibers nahm. »Warten Sie noch mit dem Feuern«, sagte Blessant. »Sparks, können Sie seine Funkfrequenz feststellen?« »Sicher«, erwiderte Sparks und suchte die Skala des Zehnmeterbandes ab. »Aber was soll uns das nützen? Ich spreche kein Deutsch.« »Aber ich«, rief Ulla vom Backbordgeschütz aus. »Gleich ist es so weit«, rief Sparks. »Jetzt hab ich ihn.« Sparks leitete den Funkverkehr um auf den Bordlautsprecher. »Er gibt durch, dass wir Treibstoff verlieren und eine unserer Landekufen beschädigt ist«, übersetzte Ulla. »Das war mir neu«, meinte Blessant. »Das muss der Knall gewesen sein, den Sie während des Sturzfluges gehört haben«, meinte Clarence. »Er fragt nach, ob er uns abschießen soll«, sagte Ulla. »Jetzt kommt die Antwort, nein, nicht über dem Wasser. Sie befürchten, wir könnten den Kanister verlieren. Sie wollen, dass er uns über das Eis geleitet und dann abschießt.« »Kann ich ihn jetzt in die Luft jagen?«, fragte Sergeant Bruce. »Nein, noch nicht«, gab Blessant zurück. »Commander, jetzt sind Sie gefragt.«
Indy schluckte und drückte auf die Taste der Gegensprechanlage. »Was sind unsere Alternativen?«, erkundigte er sich. »Viele sind es nicht«, gab Blessant zurück. »Wir haben nicht genügend Treibstoff, um einen geeigneten Landeplatz zu erreichen. Tatsächlich hat sich das Ventil verzogen, wodurch der Rest unseres Treibstoffes aus diesem Flügel abfließt. Wir könnten dieses teutonische Wiesel gleich hier an Ort und Stelle abschießen, aber das würde uns auch nicht weiterbringen.« »Wenn wir abstürzen«, meinte Bruce, »sollten wir diesen Witzbold wenigstens mit nach unten nehmen.« »Es sind schon wegen geringfügigeren Anlässen Kriege vom Zaun gebrochen worden.« »Was interessiert das uns?«, fragte Bruce. »Das erleben wir ohnehin nicht mehr.« »Jetzt halten Sie mal die Luft an, Sergeant«, meinte Indy. »Noch ist niemand tot. Und es wird auch niemand sterben, jedenfalls nicht, solange wir vernünftig überlegen. Sergeant, verwenden wir die gleiche Sorte Treibstoff wie unser Richthofen hier?« »Aber ja.« »Angenommen, es gelingt uns, sicher auf dem Eis zu landen, könnten Sie dann das undichte Ventil reparieren?« »Darauf würde ich wetten.« »Also schön, wir müssen diesen Witzbold irgendwie dazu bringen, dass er mit uns zusammen über dem Eis runtergeht«, sagte Indy. »Ulla, ich möchte, dass Sie mit ihm sprechen.« »Ich?«, fragte sie. »Ganz richtig«, sagte Indy. »Sparks, ich will, dass du dich als Erster meldest. Tu so, als würdest du nach der richtigen Frequenz suchen, so dass wir nicht wissen können, wie sein eigentlicher Auftrag lautet. Wenn du ihn hast, tu so, als seist du ehrlich erleichtert und übergib das Mikro dann an Ulla.«
»Und was soll ich sagen?«, fragte sie. »Erkläre ihm, der Beinahezusammenstoß tue uns Leid und dass wir aufrichtig froh seien, ihn zu sehen. Trag richtig dick auf. Frag ihn, ob er so freundlich wäre, uns bis über das Eis zu folgen, wo wir landen und Reparaturarbeiten vornehmen wollten.« Ulla nickte. »Mayday, hier spricht die zweimotorige Douglas neben Ihrer Steuerbordtragfläche«, sagte Sparks und stellte die Frequenz ein. »Mayday, ich wiederhole, hier spricht die amerikanische -« »Was?«, kam die verblüffte Antwort. »Mann, was sind wir froh, Sie zu sehen!« »Wie bitte! Ich spreche kein Englisch.« »Sie sprechen kein Amerikanisch, meinten Sie das?«, fragte Sparks. »Bleiben Sie dran, Partner.« Er tauschte mit Ulla die Plätze. »Hallo!«, sagte Ulla. »Guten Tag.« Keine Antwort. »Es freut mich, Sie zu sehen«, fuhr sie auf Deutsch fort. »Das Durcheinander eben tut uns schrecklich Leid, und es ist schrecklich nett von dem „Graf Zeppelin“, dass er Sie geschickt hat, um nach uns zu sehen.« »Ja?« »Wie Sie sehen, haben wir beträchtlichen Schaden erlitten und verlieren mit alarmierender Geschwindigkeit Treibstoff. Wir müssen so schnell wie möglich Reparaturarbeiten vornehmen. Würden Sie so freundlich sein, uns bis über das Eis zu folgen? Wir haben die Absicht, dort zu landen und zu versuchen, das Auslaufen des Benzins zu stoppen.« Ulla wartete. »Er hat auf eine andere Frequenz geschaltet, um mit dem „Graf Zeppelin“ zu sprechen«, sagte sie, an Sparks gewandt. »Er weiß, dass man das Gespräch dort mitgehört hat und möchte alleine keine Entscheidung treffen.«
Kurz darauf war der Pilot der Messerschmitt wieder zurück. Er sagte, es sei ihm ein großes Vergnügen, ihnen bis über das Packeis zu folgen, das sich nur etwa einhundert Kilometer in nördlicher Richtung befinde. Übrigens, fragte er, würde es dem amerikanischen Bomber etwas ausmachen, sich zu erkennen zu geben? »Hier spricht die Skidoo«, antwortete Ulla achselzu ckend. »Wir sind eine amerikanische wissenschaftliche Expedition mit dem Auftrag, die Gesetzmäßigkeiten des Wetters im hohen Norden zu erforschen: Wir haben mehrere Wetterballons ausgesetzt und waren gerade im Begriff, einen davon wieder einzuholen, als sich unsere Wege kreuzten.« »Wie viele Personen befinden sich an Bord?«, fragte er. »Sechs«, antwortete Ulla. Es entstand eine Pause. »Befindet sich unter ihnen der amerikanische Wissenschaftler Indiana Jones?« »Nein!«, rief Indy aus dem Bug. »Nein", antwortete Ulla. Wer dann das Kommando habe? »Ich, selbstverständlich«, antwortete Ulla und hielt dann inne. »Tatsächlich sind wir eine dänisch-amerikanische Gemeinschaftsexpedition. Mein Name ist Ulla Tornaes. Wie lautet Ihr Name?« Der Name des Piloten war Dieter. Ulla ging aus dem Funk. Zwanzig Minuten später, die Messerschmitt unverändert nah neben ihrer Steuerbordtragfläche und bei zunehmend aufklarendem Himmel, erspähte Blessant unter ihnen das Eis. »Also gut, Professor«, setzte er an. »Jetzt wird es interessant. Wird er uns landen lassen, um uns anschließend mit den Bordgeschützen im Tiefflug zum Teufel zu jagen, oder wird er versuchen, uns in der Luft zu erwischen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Indy, an seinen Knöcheln nagend. »Jedenfalls muss seine Maschine unbedingt
mit uns zusammen heil auf dem Eis landen. Ulla, gehen Sie zurück ans Mikrofon und machen Sie sich seine Angst zu Nutze, der Kanister könnte zerstört werden.« »In Ordnung.« Ulla griff abermals zum Mikro. »Dieter«, begann sie auf Deutsch, »dieses gelbe Ding, das sich unter unserer Tragflächenspitze verklemmt hat - ist das etwas, das der „Graf“ wiederhaben möchte?« »Ja, unbedingt.« »Warum landen Sie dann nicht gemeinsam mit uns, damit wir es Ihnen übergeben können?« Dieter sagte, Landungen auf dem Eis seien gewagt, und er habe Angst, es zu riskieren. »Dieser Lügner«, sagte Bruce. »Er hat die Absicht, in zehn Minuten über unsere Leichen zu gehen. Sehen Sie sich die übergroßen Reifen an diesem Ding an. Er könnte überall landen.« Die Messerschmitt ließ sich zurückfallen. »Er bereitet sich auf seinen entscheidenden Schachzug vor«, vermutete Blessant. »Sobald wir gelandet sind, wird er von hinten auf uns feuern. Auf diese Weise können Sie sicher sein, dass der Kanister nicht verloren geht - selbst wenn wir in die Luft fliegen, ist er an der Spitze der Tragfläche verhältnismäßig sicher.« »Wird er sich genau hinter uns befinden?«, erkundigte sich Indy. »Nicht über uns?« »Nicht viel«, erwiderte Blessant. »Wie lautet unsere Höhe?«, fragte Indy. »Schwer zu sagen«, antwortete Blessant. »Der Höhenmesser spielt auf einmal verrückt. Er zeigt an, dass wir uns unter Meereshöhe befinden, aber das ist nicht möglich.« »Es sei denn, wir befinden uns über einer Senke oder etwas Ähnlichem«, gab Sparks zu bedenken. »Was für eine Art Senke ließe sich über Eis finden, das auf offenem Meer treibt?«, fragte Blessant. »Fangen Sie an, nach einem schönen ebenen Landeplatz zu suchen«, sagte Indy.
»Bist du verrückt?«, fragte Clarence. »Wir wären ihm vollkommen hilflos ausgeliefert. Wir hätten kein klares Ziel. Was ist außerdem mit dem Fahrwerk?« »Wir brauchen seine Maschine in unbeschädigtem Zustand«, sagte Indy. »Können Sie den Bombenschacht öffnen?« »Sicher, aber wozu?«, wollte Blessant wissen. »Für Erklärungen habe ich keine Zeit«, meinte Indy. »Vor uns liegt eine geeignete Eisfläche. Schön eben. Halten Sie darauf zu, und gehen Sie allmählich tiefer. Öffnen Sie die Luken, sobald ich es Ihnen sage.« »In Ordnung«, sagte Blessant. »Ich brauche die Fallschirme.« Indy wurde zusehends ungeduldig. »Alle?«, fragte Bruce. »Tun Sie mir einen Gefallen und holen Sie sie einfach, ja?« »Ich glaube, jetzt weiß ich, worauf Sie hinauswollen«, sagte Bruce, während er Indy half, die Fallschirme zusammenzutragen. »Gut«, sagte Indy. »Sobald die Luke aufgeht, reißen Sie Ihre drei Schirme auf und schmeißen sie hinaus, und ich werfe meine über Bord. Versuchen Sie eine so große Fläche wie möglich abzudecken.« »Wir nähern uns dem Boden«, verkündete Blessant. »Unser Freund ist auf Position gegangen und schließt auf. Da kommt er schon.« Man hörte das Rattern eines in kurzen Stößen abgefeuerten Maschinengewehrs, gefolgt von einem metallischen Klicken, als die Kugeln im oberen Teil des Hecks ihr Ziel fanden. »Unsere Entfernung kennt er jetzt«, rief Blessant. »Die nächsten werden im Rumpf einschlagen.« »Öffnen Sie die Luken«, kommandierte Indy. Ein Schwall aus eisiger Luft und Schnee füllte die Kabine des Bombers, während Kisten mit Vorräten und diversem
Gerät von ihren Plätzen kippten, wo man sie rings um den Schacht gestapelt hatte. Unter ihnen schoss das Eis vorbei. Die Motoren wurden fast bis zum Leerlauf gedrosselt. Die Messerschmitt eröffnete abermals das Feuer, und diesmal umsirrten die Kugeln die Pinguin wie das Spritzwasser aus einem Gartenschlauch. Durch den offenen Bombenschacht konnte Indy sehen, wie Leuchtspurgeschosse über dem Eis niedergingen. Jetzt!«, brüllte er und riss die Leine des ersten Fallschirms. »Vollgas, Captain!« Dem Fallschirm flogen ein zweiter und ein dritter hinterher, schließlich folgten, inmitten eines Kugelhagels, der sich in das Heck des Bombers zu fressen begann, sämtliche Schirme von Bruce. Die Fallschirme blähten sich im Luftstrom des Bombers, und für den Piloten der Messerschmitt musste es so aussehen, als sähe er sich plötzlich einem Wald aus riesigen Seidenpilzen gegenüber. Er zog hoch, verfehlte die ersten beiden Fallschirme, der Dritte jedoch verhedderte sich in seinem Fahrwerk. Der nächste blieb am Cockpit der Messerschmitt hängen, wurde dann vom Wind fortgerissen, während die beiden nächsten ihr Ziel vollends verfehlten. Indy packte den siebten und letzten Fallschirm, zog die Reißleine und schleuderte ihn mit voller Wucht nach unten. Er blähte sich auf und legte sich um den Bug der Messerschmitt, und während die Propeller vergeblich versuchten, sich durch den Seidenstoff zu fressen, wickelten sich die Leinen um die Nabe. Die Messerschmitt verlor an Schwung und prallte krachend auf das Eis, wobei ihr Fahrwerk zu Bruch ging. Sie wirbelte völlig unkontrolliert auf ihrem Bauch herum, während die Maschinengewehre weiterratterten und in einem Umkreis von einhundert Metern kleine Schneewolken hochschleuderten. Ihr Propeller schlug sich selbst in Stücke, und Teile des Rotors wurden wie Schrapnell in die Luft gewirbelt. Über Funk konnten sie Dieters letzte Meldung mithören
- einen anhaltenden Schrei, durchsetzt vom Geräusch zerreißenden Metalls und splitternden Glases. Dann brach die Übertragung unvermittelt ab, als das letzte und größte Bruchstück des dreiflügeligen Propellers sich in die Vorderseite der Pilotenkanzel fräste. Nachdem sie eine lange Furche ins Eis gezogen hatte, kam die Messerschmitt schließlich knarzend zum Stehen, und die Bordwaffen verstummten. »Volltreffer!«, jubelte Sparks. »Schließen Sie die Luken«, befahl Indy. »Dann umkreisen Sie sie und landen im Rücken der Bordgeschütze.« »Was ist mit unserem Fahrwerk?«, fragte Clarence. »Flieg du dieses Ding«, sagte Indy und wischte sich den Schnee von den Schultern. »Deswegen habe ich dich schließlich mitgenommen.« »Beim nächsten Mal«, murrte Clarence, »kannst du mich ruhig zu Hause lassen.« Die Pinguin legte eine etwas unbeholfene, aber aufrechte Landung auf dem Eis hin, bei der das Backbordfahrwerk ächzend einknickte, aber in halb eingerasteter Stellung standhielt. Die Motoren waren noch nicht ganz ausgelaufen, als Indy bereits seinen Webley zog und über das Eis auf das Heck der abgestürzten Messerschmitt zurannte. Er kletterte auf eine Tragfläche, warf einen Blick in die zertrümmerte Pilotenkanzel und schob den Webley zurück ins Halfter. Dieter war tot, er war enthauptet worden. Die Propellerkante hatte sich tief in die Sitzlehne gebohrt. Dieters tote Hände hielten den Steuerknüppel starr umklammert, während sein rechter Zeigefinger noch immer auf den Abzug drückte. »Was ist mit ihm?«, erkundigte sich Ulla, als Indy zum Bomber zurückgeschlendert kam. »Er ist erledigt«, antwortete Indy. Sergeant Bruce ließ sich aus der Luke aufs Eis fallen, gefolgt von Sparks. »Achten Sie darauf, dass Ihre Parkas fest geschlossen
sind«, riet Indy ihnen zu. »Von jetzt an ist die Kälte unser unmittelbarster Feind.« Um seinen Mund hatte sich bereits das erste Eis gebildet. Bruce winkte den Bomber näher an den abgestürzten Jagdflieger heran, um das Umfüllen des Treibstoffes zu erleichtern. Indy kniff die Augen fest gegen die gleißendweiße Landschaft ringsum zusammen, dann merkte er, dass seine Augen schmerzten. Er zog eine dunkle Schutzbrille aus der Tasche seines Parkas und setzte sie auf. Als der Schatten der Steuerbordtragfläche auf die Überreste der Messerschmitt fiel, schaltete Blessant die Motoren ab. Dann ließen er und Clarence sich aus der Luke fallen, um Bruce mit den Schläuchen und Handpumpen zu helfen. »Wir sollten uns beeilen, wenn wir vor Eintreffen des >Graf Zeppeline wieder in der Luft sein wollen«, meinte Indy. »Sparks, hast du eine Ahnung, wo wir uns befinden?« »Nein, Sir«, antwortete Sparks. »So weit nördlich sind Kompassangaben so gut wie nutzlos. Ich könnte versuchen, die Höhe der Sonne zu messen.« »Tu das, solange wir sie noch sehen«, sagte Indy. »Wie es aussieht, werden die Wolken uns in Kürze verschlucken.« Indy kletterte auf die Tragfläche der Messerschmitt, wo Clarence die Treibstoffklappe aufgebrochen hatte und damit beschäftigt war, einen an einer der Handpumpen angeschlossenen Schlauch einzuführen. »Musstest du unbedingt alle Fallschirme nehmen?«, beschwerte sich Clarence. »Hätte ich es nicht getan, sähst du jetzt aus wie unser armer Dieter hier«, erwiderte Indy. »Du hättest ruhig ein wenig genauer zielen können«, murrte Clarence. »Wieso konntest du ihn nicht mit dem ersten Fallschirm erwischen statt mit dem letzten?« »Du würdest dich auch noch beklagen, wenn du soeben eine Million Dollar gewonnen hättest«, sagte Indy. »Reich mir mal das Brecheisen, und halt den Mund.«
Auf der Tragfläche der Messerschmitt stand Indy gerade hoch genug, um das Brecheisen, wenn er die Arme über den Kopf reckte, hinter den gelben Kanister schieben zu können. Er zerrte ein paar Mal daran, dann setzte er sein volles Körpergewicht ein, indem er sich an das Brecheisen hängte. Der Kanister löste sich, streifte Indys verletzten Arm, prallte von der Tragfläche der Messerschmitt ab und landete im Schnee. Indy hielt sich den Arm und sprang hinterher. Der Kanister war stark verbeult und bis auf die blank gescheuerten Stellen, wo er sich am Flugzeug verkeilt hatte, völlig verrostet. Das Warnsymbol des Schädels mit den gekreuzten Knochen war allerdings noch immer zu entziffern. »He«, rief Clarence. »Das Ding sieht aus wie die Giftgaskanister aus dem Großen Krieg.« »Ja, genauso sieht er aus«, gab Indy ihm Recht, während er das Brecheisen herauszog und damit so fest es ging auf den Boden des Kanisters einschlug. Clarence ging in Deckung, als der Deckel absprang, der Kanister fortrollte und seinen Inhalt dabei im Schnee verteilte. Inmitten von Drähten und Vakuumröhren des zerstörten Peilsenders lag der Kristallschädel, der aus der Innenhülle des Verpackungsmaterials gefallen war und aufrecht auf einem Stück schwarzen Stoffes ruhte. Ein hypnotisierender, faszinierender Regenbogen aus arktischem Licht umgab ihn mit einem schwachen Schimmern. Indy seufzte und nahm seine Schneebrille ab. »Sind Sie jetzt zufrieden?«, fragte Ulla ihn. Genau in diesem Augenblick ließ ein tiefes Rumpeln das Eis erzittern, dem sich ein mahlendes Geräusch anschloss. Es folgte ein Beben, während dessen alle Mühe hatten, sich auf den Beinen zu halten. »Was war das?«, fragte Clarence. »Das ist das Eis«, sagte Ulla. »Ich glaube, es bricht auseinander.« »Wo steckt Sparks?«, fragte Blessant.
»Nicholas ist dort drüben.« Ulla zeigte auf eine ungefähr zweihundert Meter entfernte Eiskante, an der Sparks stand, den Sextanten in der Hand. »Er versucht gerade, die Position der Sonne zu vermessen.« Indy ließ sich im Schnee auf die Knie fallen und wickelte den Schädel rasch in das schwarze Tuch. Dann warf er ihn Clarence zu. »Was soll ich damit tun?«, fragte Clarence. »Verstau ihn an einem sicheren Ort«, sagte Indy. »Irgendwo im Flugzeug.« »Wo willst du hin?« »Sparks zurückholen«, rief Indy, während er, gefolgt von Ulla, über das Eis rannte. Als sie den Teenager endlich erreicht hatten, atmeten beide schwer. »Komm mit«, sagte Ulla und packte Sparks am Arm. »Wir müssen zurück zum Flugzeug.« »Warum denn das?«, wollte er wissen. »Ich bin fast mit der Messung des Sonnenstands fertig, und Sie werden nicht glauben, was ich -« »Dafür ist jetzt keine Zeit«, unterbrach ihn Indy. »Das Packeis bricht auseinander.« Man hörte abermals ein Rumpeln, gefolgt vom Kreischen des sich verziehenden Eises und einem Knallen, das sich anhörte wie Kanonenschüsse. Eine Wolke aus Weiß schoss am fernen Ende des Eisfeldes in die Höhe und markierte die Stelle, wo das Eis auseinander brach, und dieser Riss streckte seine schartigen Finger nach ihnen aus. »Beeilt euch!«, rief Indy. »Rennt!« Die Bruchstelle kreuzte zwanzig Meter vor ihnen ihren Weg, bewegte sich rasch quer über das Feld und schnitt sie von der Pinguin und der übrigen Besatzung ab. Das Eis wurde mit solcher Heftigkeit angehoben, dass die drei zu Boden geworfen wurden. Als es ihnen gelang, sich wieder aufzurappeln, stellten sie fest, dass eine zwanzig Fuß breite Spalte mit Meerwasser auf dem Grund sie von ihren Gefährten trennte.
»Das ist schlimm«, bemerkte Indy. »Was machen wir jetzt?« »He!«, brüllte Indy. »Werft uns ein Seil zu, irgendwas!« Clarence kletterte auf allen vieren mit einer Taurolle die Flanke einer Vertiefung hoch, doch der sich unablässig weitende Riss klaffte mittlerweile vierzig Fuß weit auseinander. Das Tau maß gerade mal deren dreißig. »Großartig«, meinte Indy. »Unser Teil der Scholle treibt aufs offene Meer hinaus.« »Dann werft uns ein paar Vorräte rüber«, brüllte Ulla. »Lebensmittel. Was ihr gerade finden könnt.« Clarence und die anderen sammelten von den auf dem Eis verstreuten Vorräten zusammen, was sie zu fassen bekamen, und wuchteten sie über den Abgrund, doch nur ein Bruchteil der Wurfgeschosse kam auf der gegenüberliegenden Seite an. Die meisten klatschten in das eisige Wasser zwischen ihnen. »Das reicht«, rief Indy. »Wir verschwenden nur unsere Ausrüstung.« »Was sollen wir tun, Boss?«, fragte Clarence. »Seht zu, dass ihr die Pinguin in die Luft kriegt«, rief Indy. »Dann fliegt so schnell ihr könnt zum nächsten Stützpunkt und schickt uns einen Rettungstrupp. Ein paar Stunden können wir überleben.« »In Ordnung«, rief Clarence. »Viel Glück!« Während die gewaltige Eisscholle davontrieb, konnten sie beobachten, wie die Silhouetten von Clarence, Blessant und Bruce, denen es widerstrebte, ihren davontreibenden Gefährten den Rücken zuzukehren, ihnen hinterher winkten. »Also gut«, begann Ulla. »Zunächst einmal müssen wir uns auf die neue Situation einstellen. Wir verfügen jeder über die geeignete Kleidung, ja? Behaltet Handschuhe, Kapuzen und Stiefel jederzeit an. Setzt dem Wetter so wenig unbedeckte Haut wie möglich aus.«
»Ich wette, hier oben kann man sich eine mörderische Erkältung holen«, sagte Sparks. »Erkältungen gibt es hier nicht«, sagte Ulla. »Es ist zu kalt, als dass die Erreger, durch die sich die gewöhnliche Erkältung ausbreitet, überleben könnten. Das sollte dir eine Vorstellung davon geben, wie wirklich rau die Bedingungen sind.« »Dann müssen wir eine Bestandsaufnahme unserer Vorräte vornehmen. Zuerst legen wir sie zu Stapeln zusammen - Lebensund Arzneimittel, Waffen, Material für ein Lager. Einverstanden? Sparks, du stellst die Lebens- und Arzneimittel zusammen, Indy wird sich um die Waffen kümmern, und ich werde festlegen, was sich für ein Lager verwenden lässt.« Wenige Minuten darauf sagte Indy: »Wir haben keine Waffen, bis auf diese zwei Jagdmesser sowie meinen Revolver und meine Peitsche.« »Wo sind die automatischen Gewehre und das Übrige?«, fragte Ulla. »Ich glaube, die haben wir aus dem Bauch des Flugzeugs fallen lassen, als wir uns gegen diesen Dieter zur Wehr gesetzt haben.« »Welch eine Verschwendung.« Ulla schüttelte den Kopf. »Wie viel Munition haben Sie?« »Fünf Schuss«, antwortete Indy. Ulla nickte, während sie sich eines der Jagdmesser umschnallte und das andere Sparks reichte. »Nun, die werden wir uns für einen Notfall aufsparen müssen. Wie steht es mit Lebensmitteln und Medizin?« »Wir haben fünf Büchsen Bohnen«, zählte Sparks auf, »allerdings sind sie hart gefroren. Zwei von ihnen sind aufgeplatzt. Außerdem verfügen wir über ein Fass Schmalz, eine Büchse Sardinen und zwei Hershey-Schokoladenriegel. Dazu eine Standard-CampingApotheke, nichts Besonderes.« »Nicht schlecht, in Anbetracht der Umstände«, meinte
Ulla. »Jetzt zu meinem Bericht. Wir haben zwei Schlafsäcke, eine Wolldecke, einen Gaskocher mit einem kleinen Brennstoffkanister, eine Schachtel Streichhölzer sowie eine kleine amerikanische Flagge.« »Kein Zelt?«, fragte Sparks. »Kein Zelt«, antwortete Ulla. »Aber wir können stattdessen Iglus bauen. Wie, werde ich euch beibringen. Es ist ein hartes Stück Arbeit, aber es lohnt sich, wenn man sich ein wenig vor den Naturgewalten schützen will.« »Es hätte schlimmer kommen können«, meinte Indy. »Haben Sie eine Ahnung, Ulla, wie groß diese Eisscholle sein könnte?« »Das ist schwer zu sagen«, meinte Ulla. »Aber ich würde vermuten, dass sie wenigstens eine Viertelmeile misst. Sobald wir unser Lager eingerichtet haben, sollte einer von uns vorsichtig ihren äußeren Rand abschreiten, um das festzustellen.« »Hast du unsere Position bestimmen können, Sparks?« »Das wollte ich Ihnen ja gerade erklären, als das Eis zu brechen anfing«, sagte er. »Die Peilung, die ich von der Sonne bekommen habe, ergibt überhaupt keinen Sinn. Und sehen Sie sich die Sonne an - sehen Sie, wie rot und seltsam sie aussieht. Sie steht noch immer hoch über dem Horizont, dabei ist es, als ob man sie bei Sonnenuntergang betrachtet, durch mehrere Atmosphäreschichten.« »Die Position«, wiederholte Indy. »Nach der Peilung, die ich erhalten habe, und nach meinen Karten, müssten wir uns weit südlich des Polarkreises befinden also etwa an der norwegischen Küste. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.« »Hast du eine Erklärung dafür?« »Nein«, meinte Sparks. »Aber es ist, als befänden wir uns auf dem Ausläufer eines - eines riesigen Etwas - das sich in das Innere der Erde zurückkrümmt. Ich weiß, das ist unmöglich.« »Nimm in ein paar Stunden noch eine weitere Standort-
bestimmung vor«, wies Indy ihn an. »Vielleicht ist dir in der Aufregung nach der Landung einfach ein Fehler mit den Karten unterlaufen.« »Ich bitte um Entschuldigung, Dr. Jones«, erwiderte Sparks. »Aber mir unterlaufen bei Berechnungen keine Fehler. Um ehrlich zu sein, ich empfinde sie als überaus beruhigend. « »Versuch es trotzdem noch mal«, wies Indy ihn an. »Ohne Funk«, erwiderte Sparks, »und auf einem treibenden Eisklotz - wie soll man uns da jemals wiederfinden?« »An die Arbeit!«, rief Ulla. »Macht eure Messer bereit oder was immer ihr zum Graben auftreiben könnt. Wir werden einen geeigneten Schutz errichten.« Sechs Stunden später lag Indy erschöpft im Innern des kuppelförmigen Iglus aus Schnee und Eis, während Sparks eine Büchse Bohnen über dem kleinen Kocher warm machte. Als Indy nach der Sardinenbüchse griff und sie öffnen wollte, riss Ulla sie ihm aus der Hand. »Ich hatte die Absicht zu teilen.« Indy wirkte leicht gekränkt. »Als Köder werden sie uns von größerem Nutzen sein«, erklärte Ulla. »Ich kann einen Haken zurechtbiegen, und wir haben ein Stück Kordel hier, das wir als Schnur verwenden können. Vielleicht gelingt es uns, einen Fisch zu fangen, der uns für einen ganzen Tag mit Nahrung versorgt, statt nur für eine einzige Stunde.« »Sie haben so etwas schon einmal gemacht, hab ich Recht?«, fragte Sparks. »Nicht unter genau den gleichen Bedingungen«, sagte Ulla. »Aber es stimmt, an verschiedenen Orten auf der Welt hing mein Überleben bereits davon ab, ob ich zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen treffe.« »Wo ist die amerikanische Flagge?«, fragte Indy, dem Ullas Rüge noch immer ein wenig zu schaffen machte. »Wieso?« »Ich werde sie auf dem Dach des Iglus anbringen, um denen,
die nach uns suchen, wer immer das sein mag, die Arbeit zu erleichtern«, sagte er. »Ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen, wissen Sie.« Nachdem Indy mitsamt Flagge nach draußen gekrabbelt war, beugte Ulla sich zu Sparks. »Männer!«, spottete sie. »Man muss sich davor hüten, ihr Ego übermäßig zu verletzen. Ich wollte die Flagge selbst anbringen, aber das überlassen wir besser Indy. Danach wird er sich besser fühlen.« »Au Mann«, entfuhr es Sparks. »Wissen Sie auch was, wonach ich mich besser fühle?« Ulla legte den Arm um ihn und zog ihn an sich. »Keine Sorge, Nicholas«, tröstete sie ihn. »Falls du ein bisschen weinen möchtest, wenn das hilft, nur zu. Aber wir werden bestimmt wieder hier rauskommen. Wir dürfen nur nicht aufhören, nachzudenken und daran zu arbeiten, und vor allem dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren.« Drei Tage später waren die Lebensmittel nahezu aufgebraucht, und Ulla hatte mit den Sardinen aus der Dose gerade mal einen einzigen Fisch gefangen. Indy hatte das Gelände von ihrem Lager aus eine Viertelmeile weit in jeder Richtung erkundet, aber kein Ende des gewaltigen Eisblocks ausmachen können. »Es wird Zeit, dass wir aufbrechen«, sagte er bei seiner Rückkehr. »Ich glaube, wir täten besser daran, hier zu bleiben«, meinte Sparks. »Hier gibt es nichts mehr«, erwiderte Indy. »Die Lebensmittel sind ausgegangen. Wir müssen auf Nahrungssuche gehen. Ich habe meinen Revolver, und du kannst dein Messer an der Fahnenstange befestigen, um einen Speer daraus zumachen.« »Aber sollten wir nicht hier warten, damit man uns findet?« »Nicholas ...«, seufzte Ulla. »Zweiundsiebzig Stunden sind verstrichen, und wir haben kein Geräusch, kein einziges
Flugzeug am Himmel gehört. Falls es der Pinguin tatsächlich gelungen sein sollte, vom Eis abzuheben und ein Rettungsflugzeug zurückzuschicken, dann wissen diese Leute offenbar nicht, wo sie suchen sollen. Jetzt ist der richtige Augenblick, um weiterzuziehen.« Sparks nickte und ging daran, seine Sachen zusammenzupacken. Sie brachen Richtung Süden auf und bekamen die nächsten zwölf entmutigenden Stunden nichts als Schnee und Eis zu sehen. Gelegentlich unterbrachen gefährliche Gletscherspalten von glitzerndem Blau die Eintönigkeit der leeren Ebenen, manchmal mit grünem Meerwasser auf dem Grund. »Habt ihr etwas Seltsames bemerkt?«, fragte Indy. »Die Sonne ist nicht untergegangen. Ich weiß, hier oben dauert der Tag ungefähr zwanzig Stunden, aber in den drei oder vier Tagen, die wir hier sind, ist es noch nicht dunkel geworden.« »Ist dies nicht das Land der Mitternachtssonne?«, fragte Sparks. »Das schon«, antwortete Ulla, »aber erst nach der Sommersonnenwende am einundzwanzigsten Juni bleibt es den ganzen Tag hell. So lange sind wir noch nicht hier oben im Norden.« Sie setzten ihren Marsch fort und ermüdeten dabei mit jedem Schritt mehr. Nach drei weiteren Stunden dieser strapaziösen Plackerei setzte Sparks sich entmutigt in den Schnee. »Wir haben uns verirrt«, stöhnte er, das Kinn in die behandschuhten Hände gestützt. »Mag sein, dass wir uns verirrt haben, aber wir sind noch nicht tot«, ermahnte ihn Indy. »Komm schon, gehen wir weiter. Du kannst dich nicht einfach hinsetzen, du wirst erfrieren. Wir müssen in Bewegung bleiben. Nur noch eine kleine Weile, einverstanden?« »Na schön, von mir aus«, fiel Sparks ihm ins Wort. »Sie klingen wie mein Vater.«
Indy und Ulla hielten inne. »Das nehme ich als Kompliment«, meinte Indy. Die drei schleppten sich weiter. Zwei Stunden darauf erspähten sie eine Ansammlung dunkler Erhebungen auf dem Eis, und die Hoffnung verlieh ihnen neue Kräfte. Beim Näherkommen jedoch sank ihr Mut aufs Neue. Es war ein Lagerplatz. Ein halbes Dutzend Leichen sowie die Kadaver von noch mehr Hunden lagen verstreut umher, einige noch immer in ihre Schlitten eingespannt. Die meisten Leichen waren mit einer Schicht aus Schnee und Eis bedeckt, zwei der Männer jedoch lagen noch in ihren verrottenden Zelten. Ihre Köpfe, Füße und Hände waren mit Lumpen umwickelt. Sie sahen aus, als hätten sie sich einfach zum Schlafen niedergelegt - bis man ihre Nasen sah, die schwarz geworden und abgefallen waren. »Wieso sind sie keine Skelette?«, fragte Sparks. »Die Verwesung wird durch im Körper enthaltene Mikroben verursacht«, erklärte Indy, während er niederkniete, um einen von ihnen zu untersuchen. »Wegen der Kälte sind sie zu Untätigkeit verurteilt. Tja, wir haben hier ein Messer und ein Gewehr - das aber, fürchte ich, unbrauchbar ist. Scheinbar hat selbst die Kälte den Rost nicht aufhalten können.« »Sie spielen doch nicht ernsthaft mit dem Gedanken, ihre Leichen auszurauben?«, stieß Sparks entsetzt hervor. »Ich bin sicher, wenn sie sprechen könnten, würden sie sagen, es steht uns frei, zu nehmen, was immer wir gebrauchen können«, versuchte Ulla eine rationale Begründung zu finden, während sie daranging, einen der Schlitten zu durchstöbern. »Wer mag das sein?«, fragte Sparks. Indy kniete nieder und untersuchte einen der Verunglückten. Der Revolver in seinem Gürtel gehörte zur Bauart der Schlagbolzenrevolver, und die Kleidungsstücke unter seinem schweren Mantel waren zweifellos viktorianisch. An einem der Schlitten war eine große Fahne befestigt,
und obwohl sie schwer von Eis war, konnte Indy das Muster des Union Jack darunter erkennen. »Es sind Engländer, vermutlich aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts«, erklärte Indy. »Ich würde sagen, sie haben versucht, die Nord-West-Passage zu finden. Wahrscheinlich handelt es sich um die Lord-Dwydon-Expedition.« »Soll das heißen, die Männer hier sind fast einhundert Jahre alt?«, ereiferte sich Sparks. »Der Gentleman mit den Koteletten dort drüben ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Lord Dwydon selbst«, sagte Indy. »Sparks, warum zeichnest du nicht eben einen Plan des Lagers und versuchst, ausgehend von der Stelle, wo wir die Pinguin verlassen haben, mittels einer Schätzung seine ungefähre Position zu ermitteln? Dies ist historisch von Bedeutung. « »Na schön«, meinte Sparks, leicht ergriffen. Er zog sein Notizbuch hervor, dann zögerte er. »Wie wollen Sie -« »Vermerk den Fundort jedes einzelnen Leichnams sowie von den Schlitten und den Hunden. Wenn du dich dem gewachsen fühlst, kannst du die Leichen durchsuchen und nachsehen, ob du von jedem einen Namen in Erfahrung bringen kannst. Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihre Familien in Großbritannien zu benachrichtigen.« »Sie meinen ihre Nachfahren«, sagte Sparks. »Sieht aus, als wären sie alle ungefähr zur gleichen Zeit gestorben. Ist das nicht ein bisschen seltsam? Glauben Sie, eine Krankheit war schuld daran, oder eher etwas anderes?« »Eher etwas anderes«, sagte Indy. »Ich würde sagen, sie sind an Vitamin-A-Vergiftung gestorben.« »Woraus schließen Sie das?«, fragte Ulla. »Es ist eine logische Schlussfolgerung«, erläuterte Indy. »In den Anfängen der Erforschung der Arktis pflegten die Menschen sobald ihre Schlitten leichter wurden und sie nicht mehr so viele Hunde benötigten - die überzähligen zu verspeisen.«
»Igitt!«, machte Sparks entsetzt. »Sie verwendeten Huskys, um diese Schlitten zu ziehen, aber sie wussten nicht, dass ein Husky unglaubliche Mengen von Vitamin A in seiner Leber speichert«, sagte Indy. »Die Leber galt als besonders schmackhafter und nahrhafter Teil des Hundes. Nach ein paar Dutzend Husky-Mahlzeiten haben sie sich schließlich eine Vitamin-A-Vergiftung zugezogen und sind gestorben.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Ulla. »Ich mag Hunde«, erwiderte Indy. »Ich habe über sie gelesen. Schließlich habe ich sogar meinen Namen von einem Hund.« »Jetzt wollen Sie uns aber alle gleichzeitig auf den Arm nehmen«, sagte Ulla. »Keineswegs.« Indy schüttelte den Kopf. »Ich habe mir meinen Spitznamen selber ausgesucht. Es hat meinen Vater rasend gemacht.« »Und wie heißen Sie nun richtig?«, wollte Sparks wissen. »Sollten wir hier heil herauskommen«, sagte Indy, »dann werde ich es dir verraten, das verspreche ich.« »Dann sollte ich wohl besser nicht damit rechnen, es jemals zu erfahren«, meinte Sparks. Seine Mutlosigkeit war zurückgekehrt. »Ich fürchte, wir werden genauso enden wie diese Burschen hier, und in einhundert Jahren kommt jemand vorbei und sagt: »Was für ein Jammer - sie wussten nicht, dass die Verbindung von Hershey-Schokoladenriegeln mit Sardinen bei arktischen Temperaturen tödlich ist.« »Dann war es ja nur gut, dass ich sie als Köder benutzt habe«, meinte Ulla. »Sparks ist nicht einmal dann auf den Mund gefallen, wenn er jammert«, bemerkte Indy. »Haben Sie etwas Verwertbares gefunden?«, fragte Ulla. »Vielleicht«, erwiderte Indy. »Jede Menge Bärenfelle. Die meisten sind in einem ziemlich üblen Zustand, aber ein paar können wir noch gebrauchen. Kerzen. Einen halben Krug Whisky.«
Indy entkorkte den Whisky und schnupperte daran. »Bah«, machte er. »Keine Ahnung, in was er sich verwandelt hat, trinken kann man ihn jedenfalls nicht mehr.« »Gut, nehmen Sie die Kerzen mit. Falls nötig, können wir den Talg essen. Und ich denke, der Schlitten hier ist in ziemlich gutem Zustand«, sagte Ulla. »Die Kufen sind in Ordnung, das Geschirr ist noch heil, und das Holz scheint ausreichend stabil. Zwei von uns können ihn ziehen, während der Dritte aufsitzt. Wir können uns abwechseln.« »Gute Idee.« Indy schleppte die Bärenfelle herbei und stapelte sie auf den Schlitten. »Sparks, vorhin sagte ich, du wirst dich bald ausruhen können. Sir, hiermit überreiche ich Ihnen Ihren Thron, zumindest bis zum nächsten Wechsel.« »Prima«, meinte Sparks, ließ sich auf den Schlitten fallen und deckte sich mit den Fellen zu. »Gibt es noch etwas, wofür wir Verwendung haben?«, wollte Ulla wissen. Indy dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube nicht. Das meiste von dem Zeug ist ziemlich hinüber. Aber ich habe die Zeltstangen mitgenommen, ich dachte, wir könnten sie als Speere benutzen oder um mit Hilfe der Felle selber ein Zelt aufzuschlagen.« Ulla nahm die eine Seite des Geschirrs auf und warf die andere Hälfte Indy zu. »Auf geht's«, verkündetete sie. »Augenblick«, meinte Sparks. »Finden Sie nicht, wir sollten ein paar Worte sprechen? So was wie ein Gebet vielleicht?« Indy hielt inne. »Sparks hat Recht«, meinte er. »Darf ich?«, fragte Ulla. »Bitte, nur zu.« Ulla zog das Messer aus ihrem Gürtel und hielt die Klinge in die Höhe. »Wir bedanken uns bei den Alten, denn sie haben uns die
Gier nach Leben mitgegeben und es uns ermöglicht, noch einen weiteren Tag in vollen Zügen zu genießen! Wir bedanken uns bei den Toten, die so freundlich waren, ihren Besitz mit uns zu teilen, um uns die Reise zu erleichtern! Wir bedanken uns bei dieser endlosen und unwirtlichen Welt für die Gelegenheit, uns selber zu erproben und uns besser kennen zu lernen als die Zaghaften, die in ihren Heimen vor dem Feuer kauern! Und schließlich bedanken wir uns bei unseren Feinden, denn ohne sie würden unsere Schwerter nicht so strahlend glänzen und unsere Herzen nicht so kraftvoll schlagen!« »Donnerwetter!«, entfuhr es Sparks. »Ich hatte eigentlich an ein Vaterunser gedacht, aber das war trotzdem voll in Ordnung. Das muss ich mir merken, damit ich es meinem Pastor in Iowa erzählen kann.« »Sind wir so weit?«, fragte Indy. »Los geht's!«, rief Sparks. »Aber meine Peitsche kriegst du nicht«, meinte Indy. Mit dem Schlitten kamen sie schneller voran, aber für die beiden »Schlittenhunde« war es eine mühselige Schinderei. Es dauerte nicht lange, und Indys Rücken und Waden fingen an zu schmerzen, aber da Ulla sich nicht beklagte, war auch er nicht bereit, es zu erwähnen. Sechs Stunden später, als die Schmerzen unerträglich wurden, setzte er sich neben dem Schlitten in den Schnee und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Ich dachte, Sie würden überhaupt nicht mehr anhalten«, keuchte Ulla. »Komm schon, Junge«, sagte er und rüttelte Sparks wach. Seine Lippen waren so aufgeplatzt, dass ihm das Sprechen schwer fiel. »Jetzt bist du an der Reihe, den Schlittenhund zu spielen. Lass Ulla sich eine Weile ausruhen.« »Mir geht es ausgezeichnet«, meinte Ulla gequält. Ihre Wangen waren von Sonne und Wind verbrannt, und ihre Lippen waren sogar noch schlimmer aufgeplatzt als Indys. »Ich weiß, dass Sie genauso müde sind wie ich« , erwiderte
Indy. »Einer von uns muss sich als Erster ausruhen. Also, warum dann nicht Sie?« »Na gut«, brummte Ulla, während sie das Geschirr abstreifte und stattdessen Sparks' Platz auf dem Schlitten einnahm. »Riechen Sie das Meer?«, fragte der Teenager. »Den Eindruck hatte ich schon während der gesamten letzten halben Stunde«, antwortete Indy. »Aber meine Nase ist so eingefroren, dass ich mir nicht sicher war.« »Es ist ganz bestimmt das Meer«, sagte Sparks, während er sich in das Geschirr hineinzwängte. »Außerdem ist das Gelände ein wenig hügeliger geworden. So ähnlich wie Sanddünen, nur aus Schnee.« »Stimmt«, gab Indy ihm Recht. »Das macht es einerseits ein wenig schwerer, den Schlitten hochzuziehen, aber auf der anderen Seite können wir praktisch hinuntergleiten.« Nach zwanzig Minuten Ziehen fühlten sich Indys Beine an wie Gummi, und Sparks schwitzte ausgiebig. »Gönnen wir uns eine Pause«, schlug Indy vor. »Vergiss nicht, dir den Schweiß von den Wimpern zu wischen, sonst frieren dir die Augen zu. Mir ist das bereits ein paar Mal passiert. Außerdem glaube ich, ist meine Nase im Begriff abzufrieren.« Sparks nickte und lehnte sich gegen den Schlitten. Plötzlich richtete Ulla sich auf. »Was ist?«, fragte Indy. »Hören Sie das Geräusch?« »Was denn für ein Geräusch?« »Pssst.« Sie legte einen Finger an die Lippen. »Rühren Sie sich nicht, und sagen Sie kein Wort.« Kaum vernehmbar drang das Geräusch eines Wesens an ihre Ohren, das sich hinter ihnen über das Eis bewegte. Es lief ein paar Schritte, schnaubte, lief wieder ein paar Schritte. Es hörte sich an wie ein Elch oder ein anderes großes Tier. Dann knurrte es, ein tiefes, Furcht erregendes Geräusch, und alle Zweifel waren ausgeräumt.
»Ein Eisbär«, sagte Ulla leise. »Indy, Sie täten gut daran, Ihren Revolver zu ziehen.« »Sie machen Witze«, erwiderte er. »Nein, das tue ich keineswegs«, versetzte Ulla. »Ich hatte schon während ungefähr der letzten halben Meile das Gefühl, dass er unseren Spuren folgt, war mir aber nicht sicher. Sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn, und wenn sie hungrig sind, fressen sie so ziemlich alles.« Indy zog den Webley. »Vielleicht ist es ein kleines Tier«, sagte Ulla. »Dann bekämen wir etwas Frisches zu essen.« »Und wenn es ein ausgewachsenes Tier ist?«, wollte Sparks wissen. »Die Pistole wird ihn nicht aufhalten«, stellte Ulla fest. »Und weglaufen können wir ihm auch nicht. Er schafft ungefähr fünfunddreißig Meilen in der Stunde, und das praktisch endlos lange.« Hinter der Düne erschien der weiße Kopf des Bären. Witternd sog das Tier die Luft durch die Nase ein. Sein zottiges Fell war verfilzt, und seine Schnauze war fleckig vom getrockneten Blut seiner letzten Mahlzeit. »Er war auf Robbenjagd«, sagte Ulla. »Aber er sieht noch immer hungrig aus. Er wird uns in wenigen Sekunden angreifen. Indy, versuchen Sie, so viele Treffer wie möglich zu landen.« »Wohin soll ich zielen?«, fragte er. »Der Schädel ist zu dick für Ihre kleine Waffe«, erwiderte sie. »Meine kleine Waffe?«, fragte er erstaunt und hielt den Webley in die Höhe. »Ein Achtunddreißiger wird wenig mehr bewirken, als ihn zornig zu machen«, meinte Ulla. »Aber ich nehme an, das ist alles, was wir haben. Mit ein wenig Glück wird sich der Bär aufrichten gewöhnlich tun sie das kurz vor dem Angreifen, damit sie ihre vorderen Tatzen benutzen können, um einen in Stücke zu reißen. Schießen Sie dann genau
so, wie Sie auf einen Menschen schießen würden, den Sie töten wollen - auf Herz oder Lungen. Aber tiefer, zwischen die Schultern.« Der Bär erklomm den Kamm der Düne und reckte seinen langen Hals in ihre Richtung. Er bleckte seine Zähne., schüttelte den Kopf und knurrte abermals. Dann hielt er inne, offenkundig unschlüssig über seinen nächsten Schritt. »Mein Gott, der wiegt ja mindestens eintausend Pfund.« »Mehr«, sagte Ulla. »Manche sagen, ein Eisbär kann noch größer werden als ein Kodiak.« »Vielleicht verzieht er sich wieder«, sagte Indy. »Ganz bestimmt nicht.« Ulla hatte ihr Messer in der Hand. »Sparks, mach dich bereit, deinen Speer zu benutzen, falls er dich angreift. Greift er Indy oder mich an, läufst du einfach so schnell wie möglich weg.« Der Bär kam die Düne hinunter auf sie zugetrabt, knurrend, das Haupt gesenkt. Sein gewaltiger Leib schlingerte beim Gehen von einer Seite auf die andere. Er hatte die Reißzähne gebleckt, und die Krallen an seinen vorderen Tatzen glänzten wie schwarze Rasiermesser. Indy nahm Maß, den Webley mit beiden Händen haltend. »Noch nicht«, sagte Ulla leise. »Warten Sie.« Der Bär brüllte, dann stellte er sich auf die Hinterbeine. Er war fast doppelt so groß wie ein Mann. Er war dreißig Meter entfernt, und Indy nahm ein imaginäres Ziel von der Größe eines Kuchentellers in der Mitte seines Brustkorbes aufs Korn. Er feuerte zwei Mal in rascher Folge. Der Bär ließ sich, vor Wut brüllend, im Schnee auf die Seite fallen. »Sie haben ihn erwischt«, rief Sparks. Dann kam der Bär wieder hoch und ging direkt auf sie los. Es gelang Indy, noch einen weiteren Schuss abzufeuern, der den Bär in der Schädelmitte traf, aber ohne Wirkung blieb. Indy hatte noch zwei Patronen übrig, die er aufheben wollte, bis der Bär ihn
zwischen seinen Pranken hatte und er ihm den Webley ins Maul stopfen und auf den Abzug drücken konnte.
In diesem Augenblick hallte ein Knall wie ein Kanonenschuss über den Schnee, und der Bär wurde, zehn Meter entfernt vom Schlitten, aus der Bahn geworfen. Es folgte ein weiterer Schuss, als der Bär sich erneut aufzurichten versuchte, und diesmal spritzten Teile seines Schädels und Gehirns über den Schnee. Der Bär bedachte sie mit einem letzten trotzigen Blick, dann brach er zusammen. »Woher kam denn das?«, fragte Indy. Ulla deutete auf den Kamm einer Düne zweihundert Meter hinter ihnen. Darauf stand ein Jäger, ein schweres Gewehr in den Händen. »Was hat der da, eine Haubitze?«, staunte Indy. »Einen Bärentöter«, erklärte Ulla. »Kaliber fünfzig oder größer.« »Sagte ich doch, eine Kanone.« Der Jäger schulterte seine Waffe und kam die Düne hinuntergestapft. Der Mann war groß, hatte eine Brust wie ein Fass und war ganz in Bärenfelle gehüllt - sogar sein Hut war aus Bärenfellen -, und er hatte wild-zerzaustes Haar und einen ergrauenden Vollbart. »Einer Ihrer Wikinger-Vorfahren?«, fragte Indy. Der Mann lächelte und deutete mit lebhaften Gebärden auf den gestürzten Bären, während er mit Ulla plauderte. »Er möchte mir die Ehre für den Abschuss überlassen«, erläuterte Ulla. Sie nahm ihr Messer und schnitt dem Bären ein Ohr ab. »Ein Kenner«, bemerkte Indy. Sparks kniff die Augen zu und ließ sich dann, sich übergebend, in den Schnee fallen. Es kam nicht viel mehr als Wasser heraus. Indy zog ihn auf die Beine. »Gentlemen«, sagte Ulla, »ich möchte Ihnen unseren Retter vorstellen, Kapitän Gunnar Erickson. Er sagt, er sei dem Bär schon fast den ganzen Tag lang auf der Spur gewesen, und froh, weil er um ein Haar beschlossen hätte, aufzugeben und zu seinem Boot zurückzukehren - was den
Verlust seiner Trophäe bedeutet und uns das Leben gekostet hätte.« »Zu seinem Boot?«, fragte Sparks aufgeregt. »Er hat ein Boot?« Ulla wechselte ein paar Worte auf Dänisch mit dem Mann, dann lächelte sie. »Ja, es liegt nur etwa eine Meile von hier«, sagte sie. »Das Boot ist eines der von der Firma meines Vaters gebauten Schiffe für die Bärenjagd. Gunnar sagt, wir sind herzlich eingeladen, die Gastfreundschaft der Berserker kennen zu lernen, auch wenn es ein kleines Schiff ist und die Quartiere sehr beengt sein werden. Er hätte Verständnis dafür, falls wir es vorzögen, unserer eigenen Wege zu gehen.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte Sparks. »Er versucht nur, höflich zu sein«, erklärte Ulla. »Er weiß, dass wir es uns nicht leisten können, sein Angebot auszuschlagen, möchte uns aber auch nicht wie Bettler behandeln.« »Bedeutet berserk nicht verrückt?«, fragte Sparks. »Nein«, erwiderte Ulla. »Es bezeichnet jemanden, der das Kleid des Bären trägt und mit dem Mut des Bären in den Kampf zieht. Der Begriff wurde jahrhundertelang missverstanden.« »Sagen Sie Gunnar, dass wir ihn mit Vergnügen begleiten werden«, sagte Indy. »Und bitte gratulieren Sie ihm zu seiner Treffsicherheit.« Ulla tat wie geheißen. Dann antwortete Gunnar etwas, und sie runzelte die Stirn. »Der Kapitän sagt, es tue ihm Leid, dass er kein Englisch spricht, um sich von Mann zu Mann unterhalten zu können, und er stattdessen darauf angewiesen ist, sich mit Hilfe einer reizbaren und womöglich unpräzisen Frau zu besprechen.« Indy musste ein Lachen unterdrücken. »Freut mich, dass Sie das amüsant finden«, sagte Ulla. »Ach, übrigens - es gibt ein Problem.«
»Und das wäre?« »Gunnar hat sich verirrt«, erklärte Ulla. »Er ist auf der Suche nach Bären immer weiter nach Norden gesegelt und dabei einer felsigen, trostlosen Küste gefolgt, vor der die Strömungen keinen Sinn ergeben.« »Das kommt mir bekannt vor«, meinte Indy. »Hat er ein Funkgerät?«, wollte Sparks wissen. »Nein«, übersetzte sie. »Er misstraut den körperlosen Stimmen. Er sagt, wenn er alleine ist, hört er ohnehin genug davon.« Gunnar versorgte seine Beute notdürftig und lud sie auf den Schlitten, und alle zusammen zogen sie etwa eine Viertelmeile weit bis zu einer Stelle, wo ein ins Trockene gezogenes Beiboot umgedreht auf dem Eis lag. Indy und Sparks halfen Gunnar, das Boot vom Eis ins Wasser zu lassen, und als es vollständig beladen war, ließen sie den Schlitten zurück und Gunnar begann, durch den wallenden Nebel zu rudern. »Hoffentlich weiß er, wohin er fährt«, meinte Sparks. »Selbstverständlich weiß er das«, sagte Ulla zu ihm. »Sieh.« Sie zeigte auf ein grünes Licht, das durch den Nebel schimmerte. Die Berserker war ein Zweimastschoner, an dessen Bug ein verblichener Bärenschädel genagelt war. Der Rumpf bestand aus beschlagenen, drei Zoll starken Planken der südamerikanischen immergrünen Eiche, und das gesamte Schiff war gerundet und hatte einen flachen Kiel, so dass es vom Eis angehoben und nicht zerquetscht wurde. Deck und Seiten waren mit Kork und Rentierhaar versiegelt, so dass das Innere warm und trocken blieb, und in Zeiten, in denen kein üppiger Wind herrschte, sorgte ein Sechszylinderbenzinmotor im hinteren Laderaum für Antrieb. »Das Schiff wurde nach dem Vorbild der Fram entworfen«, erklärte Ulla, als Indy ihr über die Reling und auf das mit Eis verkrustete Deck half. »In den neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts versuchte Nansen, den Pol zu erreichen, indem er ein eigens dafür entworfenes Schiff, die Fram, mit dem Eis treiben ließ. Er kam seinem Ziel sehr nahe, schaffte es aber nicht ganz. Immerhin kehrten er und sein Schiff unversehrt zurück. Dieses Schiff ist natürlich nur ungefähr halb so groß wie das von Nansen, aber das Prinzip ist dasselbe.« »Es ist fantastisch«, bestätigte Indy. »Was ist es, ein Zwanzigmeterboot?« »Ein bisschen weniger«, sagte Ulla. »Und in der Breite misst es knapp sechs.« Sie kletterten unter Deck, und Gunnar ging daran, Kaffeewasser aufzusetzen. Sparks zog Handschuhe und Parka aus, dann versuchte er, die Stiefel abzustreifen. Sie glichen hart gefrorenen Eisklötzen, und er musste sie an den Ofen halten, bis sie so weit aufgetaut waren, dass er die Schnürsenkel aufknoten konnte. Schließlich bekam er sie herunter und pellte die nassen Socken von den Füßen, woraufhin das Gefühl von Ameisen in seinen Füßen rasch in einen Schmerz ausartete, der eher an Feuer denken ließ. »Autsch«, schrie Sparks, »was passiert denn jetzt?« »Das ist dein Blutkreislauf.« Ulla setzte sich neben ihn und untersuchte den einen Fuß, während Indy sich des anderen annahm. Sparks' Füße hatten eine zornigrote Farbe, und an den Spitzen der meisten seiner Zehen sowie unter seinen Sohlen befanden sich weiße Flecken. »Ich fürchte, du hast Erfrierungen«, meinte Indy. »Werde ich meine Zehen verlieren?« »Nein«, antwortete Indy. »Nicht, solange kein Brand einsetzt. Aber so schlimm sieht es nicht aus. Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Es kann allerdings sein, dass sich ein wenig Haut und Fleisch ablöst.« »Wird es nachwachsen?« »Das hoffe ich doch«, meinte Indy. »Ulla, könnten Sie uns einen Topf mit warmem Wasser holen? Nicht heiß, nur warm.
»Ein kleiner Preis fürs Überleben«, meinte Sparks. »Du wirst immer abgehärteter«, meinte Ulla, während sie das Wasser abzapfte. »Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich mit Leuten wie Ihnen umherziehe?«, versetzte Sparks. Sie brachte den Topf, und Sparks stellte seine Füße hinein. »Ich werde nachsehen, ob Gunnar etwas gegen die Schmerzen hat«, sagte sie. »Danach sollten Indy und ich uns um unsere eigenen Füße kümmern. Ich bin überzeugt, sie sehen nicht viel besser aus.« Gunnar ging zum Vitrinenschrank und bot ihnen Whisky oder Aspirin an. Ulla nahm das Aspirin, und Gunnar genehmigte sich einen kleinen Schluck Whisky, bevor er ihn wieder zurückstellte. »Gunnar sagt, zum Abendessen könnten wir gern ein wenig Bärensteak probieren«, erklärte Ulla den anderen. »Seiner Meinung nach wäre es allerdings unklug, zu viel auf einmal davon zu essen - man muss sich an das eigenartige tranige Fleisch des Eisbären erst gewöhnen. Im Übrigen, fügte er noch hinzu, sei Bärensteak alles, was er hat.« »Dann also Bärenfleisch.« Indy reichte Sparks das Aspirin und eine Tasse Kaffee. »Bah«, machte Sparks. »Schon wieder Kaffee.« »Trink ihn«, drängte ihn Indy. »Er ist heiß.« Sparks nahm einen Schluck. »Da fehlt ungefähr eine Tonne Zucker«, beschwerte er sich. Indy wandte sich zu Ulla. »Fragen Sie Gunnar nach der Küste.« Ulla tat wie verlangt. »Gunnar sagt, Sie werden noch genug davon zu sehen bekommen«, meinte sie. »Wie sich herausstellt, ist ihm zurzeit das Benzin für den Motor ausgegangen, die Segel sind an den Masten festgefroren, und die Berserker treibt hilflos der Strömung ausgeliefert
KAPITEL ZEHN Der Mahlstrom
Indiana Jones lehnte sich über die eisverkrustete Reling und starrte unverwandt auf die dunkle, nebelverhangene Küste. Die Finger seiner rechten Hand glitten unter seinen Parka und ertasteten den Stein, der an dem Riemen um seinen Hals hing, und er musste an Baldwin denken. »Es wird wärmer«, stellte Ulla fest. »Das dachte ich auch gerade«, sagte Indy. »Noch ein paar Grad mehr, und wir können vielleicht die Segel von den Masten lösen.« »Und was dann?«, fragte Ulla. »Dem Anschein nach befinden wir uns inmitten einer völligen Flaute. Gunnar steht nicht einmal mehr am Ruder, er lässt das Schiff einfach mit der Strömung treiben. Davon abgesehen, woher sollen wir wissen, welche Richtung wir einschlagen müssen, solange wir die Sterne nicht zu Gesicht bekommen?« Indy zuckte die Schultern. »Wie geht es Sparks?«, erkundigte er sich. »Er schläft noch«, antwortete Ulla. »Gut. Das kann er gebrauchen.« In diesem Augenblick näherte sich Gunnar mit schweren Schritten übers Deck. Er kam herbei und lehnte sich zwischen Indy und Ulla an die Reling. In der einen Hand hatte er ein Messer und in der anderen ein nahezu rohes Stück Fleisch, das er den beiden anbot. »Nein, danke«, sagte Indy.
Ulla nahm das Stück Fleisch und fing an zu kauen. Es war zäh wie Stiefelleder. Gunnar begann eine leise Unterhaltung mit Ulla. »Was sagt er?« »Gunnar erklärt mir gerade, für eine Frau hätte ich zu viel Mut, und dass den Göttern ein Fehler unterlaufen sein müsse.« Sie lächelte. »Er meint, dass ich, wenn die Walküren kommen, um die Auserwählten zu holen, zu denen gehören werde, die den Altvorderen bei ihrem letzten Kampf gegen das Chaos zu Seite stehen werden.« »Ragnarok«, sagte Gunnar. »Das Jüngste Gericht der Götter«, meinte Indy. »Wenn die Bifrost-Brücke erscheint und die Sterne vom Himmel fallen.« »Dann kennen Sie also die Geschichte?«, fragte Ulla. »Ich habe die isländischen Eddas gelesen«, sagte Indy. »Und die Volsungs. Wenn die Trompete erschallt, um den Tag des Jüngsten Gerichts zu verkünden, wird die nach Asgar, der Heimat der Götter, führende Regenbogenbrücke erscheinen. Dann findet die letzte Schlacht gegen das Böse statt, und anschließend fallen die Sterne vom Himmel, und die Erde versinkt im Meer.« »Eine interessante Vorstellung.« Ulla lächelte wieder. »Vielleicht werde ich dabei sein - als einzige Frau inmitten einer gewaltigen Schar von Männern, den tapfersten Söhnen der Erde. Ich weiß gar nicht, welcher der traditionellen Waffen ich den Vorzug geben würde. Schwert oder Axt kommen für mich nicht in Frage. Ich denke, meine Waffe wäre die Poesie.« »Poesie?« Indy machte ein überraschtes Gesicht. »Ich würde jeden Mann registrieren, der fällt und einen Vers für ihn komponieren«, erklärte sie. Dann hob sie zu singen an: »Reichtum vergeht, die Blutsverwandten vergehen, und ebenso vergeht auch der Mensch selbst. Doch eins kenne ich, dass nie vergeht - das Todesurteil über jeden gefallenen Mann.«
»Und jede gefallene Frau?«, fragte Indy. Sie nickte. »In meiner Version jedenfalls.« »Stört es Sie eigentlich, dass man Sie ständig mit Männern vergleicht?«, wollte Indy wissen. »Schließlich ist sogar in Ihrer Religion ausschließlich für Männer Platz. Frauen kommen entweder als Harpyien vor, die die Schlachtfelder durchstöbern, oder als Schankmädchen der Götter.« »Einige der mächtigsten Götter sind Frauen«, widersprach Ulla. »Es ist ein vielschichtiges Glaubenssystem. Am meisten stört mich die Art, wie die Menschen mich in diesem Leben behandeln, nämlich als eine Art Missgeburt.« »Ich habe Sie nie so betrachtet.« Ulla zuckte die Achseln. »Das Leben ist hart. Die Macht der Götter währt nicht ewig, Dr. Jones. Sie ist endlich, so wie alle Dinge endlich sind. Ragnarok ist in Wahrheit ein Vorbote des Jüngsten Gerichts.« »Daran glauben Sie?« »Woran glauben Sie denn?«, fragte Ulla. »Ich denke, dass alle diese alten Geschichten einen Funken Wahrheit enthalten«, sagte Indy. »Die meisten Zivilisationen kennen eine Schöpfungsgeschichte, und erstaunlicherweise gleichen sie sich alle. Es gab Heilande, die gestorben und wiederauferstanden sind, lange bevor das Christentum diese Vorstellung übernommen hat. Der junge Gott Odin brachte sich mit seinem Speer eine Wunde bei und hing neun Tage lang im Baum des Wehs und wurde wiedergeboren. Dabei wurde er zum Herrn der Runen, des Lesens und des Schreibens.« »Richtig«, sagte Ulla, »aber die Unterschiede liegen im Leben nach dem Tod. Im Christentum erlöst der Heiland die Welt, wohingegen in meinem Glaubenssystem die Welt unrettbar verloren ist. Es ist dem Bösen bestimmt, die letzte Schlacht zu gewinnen. Was zählt, ist nicht der Glaube, sondern die Tapferkeit im Angesicht der sicheren Niederlage. Und danach Vergessenheit.«
»Eine deprimierende Aussicht.« »Eigentlich nicht.« Ulla sah ihn an, ihre Augen leuchteten. »Wie durch ein Wunder konzentriert sich der Geist dadurch ganz auf den Augenblick, statt um eine Chance im nächsten Leben zu feilschen. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, mich als Abenteurerin zu sehen, als eine Frau der Tat und nicht der frommen Betrachtung.« Indy lächelte. Ulla schlug ihre Kapuze herunter und sah ihn an. »Sie sind ein gut aussehender Mann«, sagte sie. »Das will etwas heißen, weil ich mich normalerweise nicht zu Männern hingezogen fühle. Und die Art, wie Sie mich manchmal anschauen, verrät mir, dass Sie mich ebenfalls nicht für unattraktiv halten.« »Wie sollte ich?«, sagte Indy. »Sie sind nicht nur klug und stark, sondern auch wunderschön. Das sieht man selten alles in einem einzigen Menschen vereint.« »Vielleicht sollten wir dann diesen Augenblick nicht einfach ungenutzt verstreichen lassen«, schlug Ulla vor und fasste seinen Arm. »Sparks schläft, und Gunnar schert es nicht, was wir treiben, solange wir nicht sein Schiff versenken.« Sie küsste ihn, behutsam, denn ihre Lippen waren noch immer aufgeplatzt. »Ulla.« Indy berührte ihr Gesicht. »Ich mag Sie, aber so, wie ich auch meine anderen Freunde mag. Ihr Vorschlag ist verlockend, aber unsere Freundschaft würde sich dadurch auf eine Weise ändern, auf die keiner von uns beiden vorbereitet ist.« »Ich wollte Ihnen lediglich eine Stunde Vergnügen vorschlagen«, brummte sie verdrießlich und schob ihn fort. »Warum auch nicht, wenn wir schon in dieses Etwas hineingezogen werden sollen, das uns hier erwartet, wie ihr alter Freund behauptet. Ich hätte nichts dagegen. Ich habe schließlich nicht darum gebeten, ein Kind von Ihnen zu bekommen. Schon der Gedanke ist abscheulich.«
»Na ja, wissen Sie, ich bin -« »Ich weiß, verliebt, und zwar in diese rothaarige Hexe an Bord des „Graf Zeppelin“«, sagte Ulla und verzog das Gesicht. »Sie sind sehr aufrichtig, Jones. Offenbar macht Sex Ihnen eine Höllenangst.« »Ungefähr so sehr wie Schlangen«, fauchte er sie an. »Vor Schlangen fürchten Sie sich auch? Ha! Und das soll keinen sexuellen Beiklang haben? Ein Psychoanalytiker hätte seinen Heidenspaß mit Ihrem Schädel. Ich wette, Sie können sich nicht mal überwinden, einen Apfel zu essen.« »Ich mag Äpfel durchaus«, versetzte Indy. »Und zwar reif, rot und saftig. Manchmal esse ich sogar zwei oder drei am Tag davon.« Gunnar, ein Stück weiter die Reling hinunter, musste lachen. »Ich dachte, er spricht kein Englisch.« Indy war sichtlich verärgert. »Tut er auch nicht«, gab Ulla zurück. »Er hat einfach seinen Spaß an unserem Streit. Vielleicht sollten wir ihn in die Diskussion einweihen, damit er merkt, wie pikant sie in Wahrheit ist.« Indy sah auf. »Psst«, sagte er. »Was?« »Motorengeräusch.« »Versuchen Sie nicht abzulenken.« »Tu ich nicht«, beharrte Indy. »Ich höre etwas, und wenn Sie ein oder zwei Sekunden den Mund halten und die Ohren aufsperren würden, würden Sie es ebenfalls hören.« Ulla suchte den bewölkten Himmel ab. »Ist es die Pinguin?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Nein«, gab Indy zurück. »Es kommt von dort drüben, an Backbord voraus. Ein großer Schatten in den Wolken.« »Der „Graf Zeppelin“«, sagte Ulla. »Sie suchen etwas.« »Vielleicht nehmen sie uns an Bord.«
»Sie können uns nicht einmal sehen«, sagte Indy. »Der Himmel ist zu bewölkt. Und selbst wenn sie uns an Bord nehmen würden, würden sie uns wahrscheinlich erst foltern, dann erschießen und anschließend über Bord werfen.« »Immer noch besser, als mit Ihnen zusammen auf diesem kleinen Boot zu hocken«, beendete Ulla das Gespräch und ging in ihre Kabine. Gunnar lachte abermals und gab Indy einen Klaps auf die Schulter, als dieser ihr nach unten folgte. Die Strömung wurde jetzt schneller, und die Berserker wurde unerbittlich in die zerklüftete Bucht hineingezogen, wo der Rumpf gegen Dutzende von Felsen stieß und an ihnen vorüberschrammte. Gunnar und seine Passagiere schafften es jedes Mal, ihn mit Stangen und Rudern wieder freizubekommen, doch obwohl es ihnen gelang, das Schiff zu retten, vermochten sie dessen ungestüme Schussfahrt in die Mündung des Flusses an der geheimnisvollen Küste nicht zu verhindern. Der Fluss wälzte sich dunkel und breit landeinwärts, und während sie dahintrieben, wurde das Wetter zusehends wärmer, bis sich das letzte Eis von Decks und Masten löste. An einer Stelle machte Gunnar die Segel los und versuchte, ihrem Vorwärtsschießen entgegenzuwirken, doch es ging kein Wind, und der Versuch bewirkte lediglich, dass das kleine Boot sich mitten auf dem Wasser gefährlich drehte. Auch das Wetter wurde immer schlechter. Die Wolken verdunkelten sich zusehends und verdeckten die Sonne. Zum ersten Mal seit Tagen wurde es für sie Nacht. Weiter vorn konnten sie schwach die Umrisse eines rauchenden roten Gipfels erkennen, doch zu keinem Zeitpunkt bekamen sie ihr Ziel klar zu Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte eine vernünftige Ausrüstung«, beschwerte sich Sparks. »Ein Funkgerät oder einen funktionierenden Kompass oder am besten einen Theodolit. Ich schaue immerzu auf das Barometer in der Kabine, aber das fällt nur mit dem Gewitter.«
»Es gibt keine Möglichkeit, unsere Position zu bestimmen?«, fragte Indy. »Nicht ohne Sonne oder Sterne«, erwiderte Sparks. »Wenn sich unter dem arktischen Eis kein Festland befindet, wo sind wir dann? Es gibt keine Flüsse, die über das Eis fließen, und so weit ich das Gelände überblicken kann, besteht es aus massivem Fels. Vielleicht haben wir uns in einen Fjord in Norwegen verirrt.« »Das glaube ich kaum, Sparks.« Indy gab dem Jungen einen Klaps auf die Schulter. Als sie sich dem rauchenden Gipfel näherten, wurde die Strömung des Flusses schneller, und die Wolken senkten sich auf sie herab. Regen peitschte über das Deck, und ringsum zuckten Blitze, die gelegentlich an der Küste einschlugen und einen Findling in rauchende Trümmer verwandelten. Um die Mastspitzen tanzte und hüpfte das gespenstisch blaue Licht des Elmsfeuers. »Das ist mir zu unheimlich«, erklärte Sparks und klammerte sich verzweifelt an die Reling. »Meine Mutter hatte Recht. Ich hätte niemals in die Armee eintreten dürfen. Das ist die dreiundzwanzig Dollar im Monat nicht wert.« Gunnar sah ihn an und nickte. Er verstand die Gefühlsregung des Jungen intuitiv, wenn auch nicht die Worte selbst. Der Kapitän stopfte seine Pfeife, zündete sie an und murmelte etwas auf Dänisch. »Was hat er gesagt?«, fragte Indy. »Fragen Sie mich besser nicht danach«, gab Ulla zurück. »Kommen Sie, verraten Sie es uns.« »Nun, unser Kapitän ist der Überzeugung, wir seien alle tot«, erklärte sie. »Seiner Ansicht nach ist es passiert, als er uns nach dem Abschuss des Eisbären aufgelesen hat - wie genau, weiß er nicht, er nimmt aber an, dass das Boot untergegangen ist und wir alle ertrunken sind, da wir noch zusammen sind - und dass wir ins Jenseits eingegangen sind.« »Mit anderen Worten«, sagte Indy, »er glaubt, wir befänden uns in der Hölle.«
»Sie haben es erfasst.« Während sie miteinander sprachen, begann Gunnar, Stricke an jeden von ihnen zu verteilen. »Wozu soll das gut sein?«, fragte Indy. »Er sagt, wir sollen uns an die Masten binden«, erklärte Ulla. »Der Fluss fließt zu schnell, und seiner Meinung nach sind wir dazu verdammt, entweder auf den Felsen am Fuß des Berges zu zerschellen oder von einem Blitz in Stücke geschlagen zu werden. Er sagt, wir drei könnten uns entscheiden, über Bord zu springen, falls es das ist, was wir wollen, er dagegen habe keine Wahl. Er sei der Kapitän und daher entschlossen, mit seinem Schiff unterzugehen.« »Über Bord zu springen wäre glatter Selbstmord«, bemerkte Sparks. »Schätze, das kommt auf den Blickwinkel an«, meinte Ulla. »Es macht keinen großen Unterschied, es sei denn, du bist überzeugt, dass wir noch leben.« »Ich stimme dafür, dass wir noch leben«, meinte Indy. »Außerdem bin ich noch immer der Leiter dieser Expedition, deshalb werdet ihr euch ebenso entscheiden.« »Sie haben bislang verdammt gute Arbeit geleistet, Commander«, sagte Ulla. »Welchen Mast wollen Sie?« Indy und Ulla banden sich an den vorderen Mast, während Sparks sich am hinteren festmachte. Gunnar zurrte sich, in dem vergeblichen Versuch, die Kontrolle über sein Schiff zu behalten, am Rudersockel fest. Der Fluss hatte sich in ein Band aus weißen Gischtkronen verwandelt. Das Boot gewann immer mehr an Fahrt, bis der durch die Takelage peitschende Wind zu einem schrillen Pfeifen anschwoll. Der glühende Berggipfel befand sich jetzt genau über ihnen, und sie erwarteten, dass die Berserker jeden Augenblick gegen die Felsen geworfen würde. Indy schloss die Augen gegen die über den Bug spritzende Gischt, während Ulla, von einer unguten Vorahnung gequält, an den Seilen zerrte. Sparks begann ein Vaterunser
aufzusagen, während Gunnar mit zusammengebissenen Zähnen das Mundstück seiner längst erkalteten Pfeife zerkaute. Dann kippte das Schiff nach vorn, als sollte es an der Bergflanke zerschmettert werden, doch stattdessen wurde es in einen Tunnel hineingerissen, der wegen des Unwetters draußen nicht zu erkennen war. Die Mastspitzen knickten am Oberrand der Felsengrotte ab wie Bleistifte, und Taue sowie Spieren stürzten krachend auf das Deck. Einen Augenblick lang schienen sie in der Luft zu stehen, so als befänden sie sich am Rand eines Wasserfalls, dann stürzte die Berserker, gefolgt von ihren Wrackteilen, hinab in die Finsternis. Im Schacht herrschte völlige Dunkelheit, und alle hatten das Gefühl, einen gigantischen Abfluss hinabgespült zu werden. Sparks schrie. Auf dem Grund des Schachtes klatschte das Schiff mit solcher Wucht auf einen unterirdischen See, dass es ein gutes Stück unter Wasser gedrückt wurde. Das Wasser überspülte die Decks mit einer explosiven Heftigkeit, die Indy fast das Bewusstsein raubte. Mit den Händen am Mast festgebunden, spürte er, wie sich sein Körper hilflos im Wasser wand. Dank ihres wasserdichten Rumpfes schnellte die Berserker wie ein Korken zurück an die Oberfläche. Indy rang nach Atem. Auf diesem bislang unbekannten Wasserbecken herrschte absolute Stille. Mit seinem Taschenmesser schnitt er sich vom Mast los, anschließend befreite er Ulla. »Mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er. Sie würgte und erbrach ein wenig Wasser. »Ich nehme an, das heißt ja«, sagte er. Dann schleppte Indy sich zum Achterdeck, wo er Sparks bewusstlos, aber lebend vorfand. Er und Gunnar banden ihn los und legten ihn auf das stark nach Backbord krängende Deck. »Wie geht es Ihnen, Captain?«, erkundigte sich Indy.
Lächelnd zeigte Gunnar ihm sein Handgelenk, das er sich offenbar bei dem Versuch, das Ruder unter Kontrolle zu halten, gebrochen hatte. Die Knochen ragten durch die Haut nach außen. »Ulla«, rief Indy. »Gunnar ist verletzt. Wir müssen uns augenblicklich darum kümmern.« Ulla wankte nach achtern zum Steuerruder. »Wird sich dieses Ding über Wasser halten können?«, fragte sie. »Keine Ahnung«, meinte Indy. »Es sieht ziemlich mitgenommen aus.« »Warten Sie, bis ich meinen Vater treffe und ihm von der minderwertigen Machart seiner Bärenjagdboote erzähle«, ereiferte sich Ulla. »Ist ein gerades Deck vielleicht zu viel verlangt?« Damit ging sie den Whisky aus der Kabine holen, den sie über Gunnars Wunde goss. Anschließend drückte sie, während Indy ein um Gunnars rechte Hand geschlungenes Seil festhielt und daran zog, die Unterarmknochen behutsam wieder unter die Haut zurück. Gunnar stöhnte und zerbiss das Mundstück seiner Pfeife. »Wir sind noch nicht ganz fertig.« Ulla lächelte. »Ich muss noch ein wenig herumtasten, um sicherzugehen, dass die Enden aufeinander passen. Indy, diesmal benötige ich etwas Druck, gerade so viel, dass - na bitte, schon erledigt.« Gunnars Lider flatterten. »Indy, hol mir ein paar Laken von unten, damit wir seinen Arm verbinden können. Es wird keine besonders gute Schiene werden, aber mehr können wir im Augenblick nicht tun.« Dann nahm Ulla den Whisky und wandte sich Sparks zu. Sie stützte seinen Kopf und flößte ihm einige Tropfen der Flüssigkeit ein. Er hustete und spuckte aus. »Wie geht es dir?«, erkundigte sich Ulla.
»Ich weiß nur eins, dass ich nicht tot bin«, meinte der Junge. »Dafür sind die Schmerzen viel zu groß. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich einen Schlag mit dem Baseballschläger abbekommen.« »Du hast eine ziemliche Beule an der Stirn«, bestätigte Ulla. »Wahrscheinlich hat dich eine der Spieren beim Herunterfallen gestreift.« Als Indy aus der Kabine wieder an Deck kam, forderte Sparks ihn auf, nach oben zu schauen. Dort, eingerahmt vom Vulkankrater des Berges, der vor Lavatupfern zu glühen schien, sah man einen Himmel voller Sterne. Und inmitten dieser Sterne schwebte friedlich der zigarrenförmige Schatten des >Graf Zeppelin*. »Ich begreife das nicht.« Sparks verzog das Gesicht. »Wenn die Sonne hier niemals untergeht, wie ist es dann möglich, dass wir die Sterne sehen? Vielleicht verhält es sich so wie auf dem Grund eines Brunnens. Angeblich kann man dort zur Mittagszeit die Sterne erkennen.« »Das denke ich nicht«, meinte Indy. »Diese Brunnengeschichte ist ein Märchen. Vielleicht erleben wir gerade jene zwei Stunden Dunkelheit, die es hier jeden Tag gibt. Der eine Stern dort oben muss der Polarstern sein. Siehst du ihn, fast genau über uns?« »Das vereinfacht die Berechnungen«, sagte Sparks. »Breite neunzig Grad. So fantastisch es klingt, wir müssen genau am Nordpol sein - oder jedenfalls verdammt nah dran.« »Nein, wir sind nicht am Pol«, widersprach Indy. »Wir befinden uns darunter.« Sparks stieß einen Pfiff aus. »Na, großartig«, sagte er. »Und wie, glauben Sie, ist der Zeppelin durch das Unwetter gelangt?« »Gar nicht«, erwiderte Indy. »Sie haben es überflogen. Den beschwerlichen Weg haben wir genommen.« »Und den haben sie die ganze Zeit gesucht?« Indy nickte. »Dieser Eingang führt irgendwohin«, meinte
er. »Wohin, vermag ich nicht genau zu sagen, aber irgendwohin führt er.« Plötzlich sträubten sich ihm die Haare an Hals und Armen. »He, spürst du das auch?«, fragte er. »Klar«, meinte Sparks. »Fühlt sich an wie eine Art elektrische Entladung.« Am Nachthimmel über ihnen nahm ein verwaschenes, regenbogenähnliches Farbenspiel Gestalt an. Dann begann das Farbenspiel zu rotieren, bis es schließlich herabstürzte und das Innere des Vulkans in einem festlichen, himmlischen Licht erstrahlen ließ. Die vier Reisenden wurden in ein Gemisch aus Blau, Grün und Rosa getaucht. Das Farbenspiel stürzte weiter hinab in die Tiefe und schien irgendwo jenseits des Ufers des unterirdischen Sees zu verschwinden. »Das Nordlicht«, sagte Indy. »Wenigstens können wir jetzt wieder etwas sehen«, bemerkte Ulla. Die Berserker trieb zum Seeufer hinüber, wo sie sie an einer Felsensäule festmachten. Indy sprang auf den kiesigen Strand, dann stand er, die Hände in die Hüften gestemmt, drehte sich und betrachtete das Innere des Kraters. In einer Wand, ungefähr auf halber Höhe, lag ein Flugzeugwrack. »Was halten Sie davon?«, fragte Ulla. »Ich weiß nicht«, meinte Indy. »Es muss mindestens eine halbe Meile entfernt sein. Glauben Sie, wir schaffen es bis dort oben?« Ulla musterte die Gesteinsformationen. »Ich denke, ja, problemlos«, entschied sie. »An der Innenwand des Kraters scheint sich eine Art natürliche Treppe hinauf zu winden.« »Dann müssen wir es uns ansehen gehen«, entschied Indy. »Möglicherweise ist es die Pinguin. Gunnar, Sie bleiben hier und versorgen Ihren Arm. Sparks, hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?« »Mir brummt zwar der Schädel, aber ich denke, das schaffe ich«, antwortete der Junge. »Die Vorstellung, Clarence
und die anderen könnten dort oben verwundet liegen, behagt mir überhaupt nicht.« »Das sehe ich genauso«, meinte Indy zu ihm. »Machen wir uns auf den Weg.« Die drei benötigten über zwei Stunden, um bis zu den Flugzeugtrümmern hinaufzuklettern, und als sie das Plateau erreichten, auf dem sie lagen, wurde deutlich, dass es sich weder um die Pinguin noch um einen anderen Typ eines zweimotorigen Flugzeuges handelte. Diese Maschine war kleiner, und obwohl sie offenkundig ein gutes Stück sich überschlagend den Hang hinuntergestürzt war, war der rot-weiß lackierte Rumpf weitgehend unbeschädigt. Es war ein Wasserflugzeug, dem einer seiner Pontons fehlte. Auf dem Bug des Flugzeugs stand, deutlich lesbar, ein Name: THE LATHAM. Darunter hatte jemand mit weißer Kreide folgende Nachricht geschrieben: BESATZUNG TOT. VERSUCHE PONTON ALS KANU ZU BENUTZEN. AMUNDSEN, 26. JUNI 1928. »Tja, jetzt wissen wir endlich, was aus Amundsen geworden ist«, folgerte Sparks. »Nein, wir wissen lediglich, was aus seinem Flugzeug geworden ist«, korrigierte Indy. »Offenbar hat er den Absturz unbeschadet überstanden. Gar nicht dumm, den Ponton als Kanu zu benutzen. Aber dass er gegen diese Strömung angekommen und nach draußen gelangt ist, ist völlig ausgeschlossen.« »Vielleicht ist er gar nicht nach draußen gefahren?«, gab Ulla zu bedenken. Sparks kletterte in den zerbeulten Rumpf. »Wo sind die Leichen der Besatzung?«, fragte er. »Amundsen hat sie begraben«, sagte Indy. »Unter den Steinhaufen an der Felswand hier. Sieh, auf dem jeweils größten Stein steht mit Kreide ein Name geschrieben.« »Gut«, meinte Sparks. »Ich hab was gegen Leichen.« Indy drang tiefer in das Wrack vor. Ein paar Minuten darauf kam er sichtlich enttäuscht wieder zum Vorschein.
»Das Funkgerät ist völlig zerstört«, berichtete er. »Die Batterien sind nach sechs Jahren jedenfalls leer. Außerdem sieht es so aus, als hätte Amundsen alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war, darunter auch das Logbuch.« »Eins muss man dem alten Herrn lassen, gründlich war er«, sagte Ulla. Sparks trat aus dem Flugzeugwrack. »So ein langer Aufstieg für nichts und wieder nichts«, meinte er. »Das würde ich nicht sagen«, ließ sich eine Stimme über ihnen vernehmen. »Wenigstens mussten wir dadurch nicht ganz bis unten klettern, um Sie umzubringen, hab ich Recht?« »Reingold«, knurrte Indy. Auf dem Felsvorsprung über dem Wrack erschien Reingold, gefolgt von seinen Leuten. Sie befanden sich drei Meter oberhalb von Indy und den anderen, und die Soldaten gingen daran, umständlich herunterzuklettern. »Zu Ihren Diensten«, sagte der SS-Offizier, die gezogene Walther in der Hand. »Ich glaube, einige der anderen aus meiner Einheit haben Sie bereits kennen gelernt, insbesondere die Scharführer Mühlbach und Liebel.« Die genannten Offiziere sprangen, ihre Maschinenpistolen auf das Trio gerichtet, auf eines der Hügelgräber. Ein halbes Dutzend ebenso bewaffneter Soldaten folgte ihnen. »Ach, und selbstverständlich dürfen wir das jüngste Mitglied der Thule-Gesellschaft nicht vergessen, was?«, fügte Reingold mit triumphierendem Feixen hinzu. »Dr. Jones, darf ich Ihnen die SSSachverständige Alecia Dunstin vorstellen? Ich vermute, Sie beide haben einander einmal etwas bedeutet, auch wenn man sagen könnte, dass diese Affäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.« Er zog Alecia nach vorn, damit Indy sie sehen konnte. »Sie sieht recht elegant aus in ihrer Uniform, finden Sie nicht auch?«, spottete Reingold. »Und ich muss gestehen,
sie hat sie sich verdient. Das Tagebuch konnte uns eine Menge Informationen liefern, aber es waren Alecias hellseherische Fähigkeiten, die uns geholfen haben, haargenau die richtige Stelle zu finden. Viele Menschen, fürchte ich, glauben nicht an diese Dinge - bis sie einen Brunnen graben oder eine untergegangene Zivilisation finden müssen.« »Nicht!«, sagte Alecia. »Mühlbach! Liebel!«, rief Reingold. »Helfen Sie uns hier runter. Die anderen halten die drei derweil in Schach.« Reingold strich seine Uniformjacke glatt, als er unten angekommen war. Alecia blickte zu Boden. »Sachverständige Dunstin, sehen Sie her!«, kommandierte Reingold. »Es scheint, als hätte Dr. Jones' Leidenschaft für Sie nicht lange vorgehalten. Wie es aussieht, hat er keine Zeit verloren, sich eine Blondine als Ersatz für Sie zu suchen.« »Glauben Sie ihm kein Wort«, wandte sich Ulla an Alecia. »Indy ist überhaupt nicht mein Typ.« »Bringt dieses entartete Weib zum Schweigen«, fauchte Reingold. Mühlbach legte seine Waffe an und zielte. »Nicht so, Sie Idiot«, fuhr Reingold ihn an. Mühlbach ging hinüber und rammte Ulla seinen Gewehrschaft in den Bauch. Das raubte ihr den Atem, sie konnte sich aber noch auf den Beinen halten. »Sie bringen uns Nordländer in Verruf«, stieß Ulla keuchend hervor. »Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte Indy. »Sie hat nichts damit zu tun. Ich bin es, den Sie in den Magen boxen sollten.« »Alles zu seiner Zeit«, versicherte ihm Reingold. »Warum fangen wir nicht damit an, dass wir uns nach dem kostbaren gelben Kanister erkundigen, den Sie uns gestohlen haben? Reichsführer Himmler war überaus betrübt, als er von seinem Diebstahl erfuhr. Sein Astrologe hat ihm versichert, er sei von unschätzbarer Bedeutung für die Zukunft.« »Sagen Sie Himmler, er soll zur -«
»Vorsicht, Dr. Jones«, warnte Reingold. »Diese Worte nehmen Sie besser nicht in den Mund.« »Nein, aber denken darf ich sie«, fauchte Indy. »Hören Sie, ich werde Ihnen alles verraten, wenn Sie Ulla und den Jungen laufen lassen.« »Ich habe Sie alle in meiner Gewalt«, erwiderte Reingold. »Warum sollte ich jemanden laufen lassen?« »Vielleicht, weil ich Sie umbringen werde, wenn nicht«, versetzte Indy. »Greifen Sie nach dem Revolver unter Ihrer Jacke«, erwiderte Reingold, »und meine Männer werden Sie in Stücke reißen. Sie sind nicht in der Position, jemandem zu drohen. Oder, was das betrifft, zu verhandeln.« »Captain«, sagte Alecia. »Nein, meine Liebe. Auf Deutsch.« »Hauptsturmführer.« »Ganz passabel, aber Sie werden noch an Ihrem Akzent arbeiten müssen«, sagte Reingold. »Sie klingen wie eine Londoner Straßendirne.« »Dürfte ich kurz mit Dr. Jones sprechen?«, fragte sie, sich ihre Tränen abwischend. »Ich glaube, ich könnte ihn vielleicht überreden.« Alecia ging zu ihm, und jetzt war es an Indy, auf den Boden zu starren. »Schöne Stiefel«, sagte er. »Willst du mich nicht ansehen?« »Nein«, erwiderte er. »Dann machst du nur wieder diesen Trick mit deinen Augen und zwingst mich, allem zuzustimmen.« Indy hielt inne, sein Körper starr. »Kannst du mir erklären, warum du mich verraten hast? Und dich selbst auch?« »Ich habe dich nicht verraten«, entgegnete Alecia trotzig. »Wenn überhaupt, dann habe ich versucht, dir das Leben zu retten. Du weißt, wozu diese Kerle im Stande sind.« »Nur schade, dass ich nicht wusste, zu was du fähig bist.«
»Komm bloß nicht auf die Idee, dich bei mir zu bedanken«, sagte Alecia und verschränkte die Arme. »Weder jetzt noch später.« »Zwischen uns ist alles entsetzlich schief gelaufen, Indy«, sagte sie und berührte ihn sacht am Arm. »Außerdem hatte ich ständig diese immer gleichen Albträume -genau genommen sind es eher Visionen - von sterbenden Menschen, noch mehr als im Großen Krieg. Tote zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Tod, der aus dem Himmel auf die Zivilbevölkerung in ganz Europa und Asien herabregnet. Städte, die in Schutt und Asche gelegt werden durch nicht mehr als eine einzige Bombe.« »Hirngespinste«, spottete Ulla. »Du weißt nicht, was das in mir ausgelöst hat«, flehte Alecia ihn an. »Meine Lebensgeister waren wie gelähmt, mein Verstand fiel in eine Art Dämmerzustand. Ich konnte weder essen noch schlafen. Und was mir am meisten zugesetzt hat, war, dass ich dich habe sterben sehen. Ich habe gesehen, was mit dir geschehen wird, Indy - eingesperrt in ein grauenhaftes Grabmal irgendwo in der Wüste, zusammen mit tausenden von Schlangen.« Indy schluckte trocken. »Schlangen?« »Und dann wird das Grabmal hermetisch verschlossen, und das war's.« »Tausende von Schlangen?« Er musste abermals schlucken. »Millionen von Menschen werden sterben, Indy, und du bist einer von ihnen.« Tränen liefen ihr die Wange hinunter und tropften auf die SSRune an ihrem Revers. »Eine Stadt, von einer einzigen Bombe zerstört?«, fragte Ulla. »Offenkundig sind Sie eine an Selbsttäuschungen leidende Betrügerin, die ihre eigene Wichtigkeit rechtfertigen muss.« »Ich glaube ihr«, meinte Sparks. »Auf diese Weise kann niemand wirklich gewinnen«, fuhr
Alecia fort. »Ich glaubte, etwas tun zu müssen, um den Tod so vieler Menschen zu verhindern. Ist es nicht besser, wenn eine Seite einen schnellen Sieg davonträgt, als dass Millionen in einer Art Hölle auf Erden ums Leben kommen?« »Nicht, wenn sie es sind, die gewinnen«, sagte Indy. »Das ist das Seltsame am Leben - es gibt Dinge, für die es sich zu sterben lohnt, und es gibt Dinge, für die es sich nicht lohnt, und sobald man die Fähigkeit verliert, diese Unterscheidung zu treffen, ist man kein richtiger Mensch mehr.« Alecia nahm ihre Offiziersmütze ab und betrachtete sie mit einem schiefen Lächeln, während sie mit dem Daumen über das Aluminiumabzeichen auf dem schwarzen Samtband strich. Dann schleuderte sie die Mütze in den Abgrund und begann, ihre Uniformjacke aufzuknöpfen. »Was tun Sie da?«, herrschte Reingold sie an. »Ich kündige«, antwortete sie. Sie bewegte die Schultern hin und her und ließ die schwarze Uniformjacke zu Boden gleiten. Ihr Haar fiel über die Schultern ihrer weißen Bluse. »Niemand verlässt die SS«, drohte Reingold. »Sehen Sie her«, sagte sie und machte einen Schritt nach vorn. Sie nahm Indys Gesicht in die Hände und küsste ihn leidenschaftlich. Indy erwiderte den Kuss und legte die Arme schützend um sie. »Zurück«, befahl Reingold. Er ging auf sie zu, die Walther fest mit seiner linken Hand umklammert. »Mir war selbstverständlich bewusst, dass es eines Tages so weit kommen würde. Glauben Sie im Ernst, wir würden einer Frau erlauben, in die SS einzutreten? Solange sie Bestand hatte, war es allerdings eine nette Posse, finden Sie nicht auch?« »Ich liebe dich«, sagte Alecia und küsste Indy abermals. Indy sah, wie sich Reingolds Finger um den Abzug spannte. Er und Alecia standen unmittelbar nebeneinander, und einen Augenblick lang war er nicht ganz sicher, auf wen der Nazihauptsturmführer zielte. Als er Alecia schließlich hinter
sich schieben wollte, erfolgte der Versuch zu spät - und in der falschen Richtung. Als Reingold feuerte, verfehlte die Kugel Indys seitlich verdrehten Oberkörper um einen knappen Zoll. Sie traf Alecia zwischen die Rippen, unterhalb des rechten Arms, der immer noch um Indys Hals geschlungen war. Ihr Mund lag immer noch auf seinen Lippen. Alecia erstarrte in Indys Armen, während der kupfrige Geschmack von Blut von ihrem Mund auf seinen überging. Die Kugel war in ihrer rechten Lunge stecken geblieben. Als Indy mit ihr zu Boden sank, schaute Alecia ihm lächelnd in die Augen. »Es gibt Dinge, für die es sich zu sterben lohnt«, sagte sie leise. »Mein Gott, nein!«, schrie Indy. Reingold feuerte abermals, diesmal platzierte er die Kugel in ihr Herz. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht, dann entspannten sich ihre Züge, und ihre blauen Augen wurden trüb. Kein einziges Wort wurde gesprochen. Niemand rührte sich. Dann zog Indy seinen Webley und zielte auf Reingolds Brust. Schweiß trat ihm auf Stirn und Oberlippe, und sein Mund war hassverzerrt. Er drückte ab. Der Hahn klickte, doch nichts geschah. Die Patrone war so feucht, dass sie sich nicht abfeuern ließ. Ulla schnappte sich den am nächsten stehenden Soldaten und packte ihn hinten am Kragen, während sie ihm die Beine unterm Körper wegtrat. Als er auf den Boden aufschlug, hatte ihr Stiefel ihn bereits hart am Kinn getroffen und seinen Kopf in einem unnatürlichen Winkel herumgerissen. Sie wand ihm die kurze MP-40-Maschinenpistole aus den leblosen Händen und richtete sie auf die übrigen Soldaten. Der erste Soldat, der seine Waffe hob, wurde von einem Feuerstoß getroffen, den Ulla aus der Hüfte abgab. Er fiel
über den Rand, stürzte Hals über Kopf in den Schlund des Vulkankraters, prallte gegen Felsen und landete schließlich in einer glühend heißen Lavapfütze. Die anderen Soldaten senkten ihre Waffen. »Tötet ihn!«, knurrte Reingold. »Tötet Jones!« »Ich lasse Ihnen den Vortritt.« Mühlbach machte mit der einen Hand eine höfliche Geste, während er sich mit der anderen die Brille auf den Nasenrücken schob. Reingold zielte auf Indys Kopf. »An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun«, sagte Ulla über den Lauf der MP-40 hinweg. Reingold zuckte mit den Schultern, dann schleuderte er die Walther in den Abgrund. »Machen wir, dass wir von hier verschwinden«, sagte Ulla. Sie langte nach unten und erleichterte den toten Soldaten um drei Munitionstaschen. »Ich nehme das hier«, sagte Sparks. Er packte den Lauf der Maschinenpistole des am nächsten stehenden Soldaten und wand sie ihm mit einer Drehung aus der Hand. »Ich kann sie unmöglich hier liegen lassen«, sagte Indy. »Tut mir Leid.« Ulla sah ihn traurig an. »Aber sie ist tot. Wir können sie nicht wieder lebendig machen, aber wir können uns retten.« Indy vermied es, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen. »Was hat das noch für einen Sinn?«, fragte er. Den Lauf ihrer Waffe noch immer auf die Soldaten gerichtet, ging Ulla hinüber zu Indy und zog an seinem Arm. Aus seinem Griff befreit, rollte Alecias Kopf zur Seite, doch ihre Augen starrten ihn noch immer an. Ulla kniete nieder und schloss Alecia die Augen. »Wollen Sie, dass sie umsonst gestorben ist?«, schrie Ulla ihn an. »Mit ihrem Tod hat sie bewiesen, dass sie Sie geliebt hat - dass ihr nichts auf dieser Welt gleich wichtig war und sie ihre Fehler bereute. Es war eine absolut bewundernswerte und mutige Tat, und ich werde nicht zulassen, dass Sie sie zu Bedeutungslosigkeit verkommen lassen.«
Indy knirschte mit den Zähnen und fixierte Reingold mit einem starren Blick, der dem Hauptsturmführer der SS das Blut gefrieren ließ. »Das habt ihr Widerlinge ihr angetan.« Er spie die Worte hervor. »Ihr habt euch eine freundliche und sanftmütige Frau gesucht, habt sie zerstört und ihre Angst, andere zu verletzen, ausgenutzt, damit sie euch zu Willen war. Und als sie schließlich wieder zu sich fand, habt ihr sie umgebracht.« Indy steckte den Webley in das Halfter, streckte seine Hand in Sparks Richtung und beschwor ihn mit den Fingern, ihm irgendein Schießeisen zu geben. Sparks warf ihm die Maschinenpistole zu. »Aber ihr habt nicht bedacht, dass Liebe ewig währt«, sagte Indy, während er sich mit der Maschinenpistole in der Hand rückwärts entfernte, ihren Leichnam hinter sich herziehend. »Ihr wisst nicht, wie mächtig Liebe ist, weil ihr nichts anderes kennt als Hass, und dieser Hass hat eure Herzen in Stein verwandelt. Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihren Leichnam schändet - oder die Erinnerung an sie.« Er kniete nieder, warf Alecias leblosen Körper über eine Schulter und richtete sich auf. In seiner anderen Hand hielt er noch immer die Maschinenpistole. »Was haben Sie vor?«, fragte Ulla. »Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann«, erwiderte Indy. »Sie begraben.« Er schob den Wahlhebel des Feuermechanismus der MP-40 auf Automatik, und als das scharfe Klicken von den Steinwänden widerhallte, sprangen Reingold und die Soldaten in Deckung. »Verzeih mir«, sagte Indy leise, dann hievte er Alecias Leichnam über den Felsenrand. Sie schien mit ausgebreiteten Armen und Beinen durch die Luft zu schweben, gefolgt vom leuchtenden Rot ihrer Haare. Dann schlug ihr Körper auf das Lavabecken und ging in Flammen auf. Die ineinander verschlungene Säule der Nordlichter loderte
auf zu gleißender Helligkeit. Einen Augenblick lang hielten alle wie gebannt inne, als Alecias Gesicht aus dem übernatürlichen Leuchten auf sie hinunterblickte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob Indy Alecias Mütze vom Boden auf und stopfte sie in seine Jacke. »Worauf wartet ihr?«, kreischte Reingold. »Greift sie euch!« Indy ging hinter dem nächsten Felsen in Deckung, während seine Waffe Feuer und Blei spie und genügend Feuerschutz gab, dass Ulla und Sparks ihm folgen konnten. Die Nazis erwiderten das Feuer, doch die drei waren, geschützt durch die überhängende Felskante, längst ein gutes Stück die steinigen Stufen hinuntergesprungen. Unter den beißenden Geruch von Pulverrauch mischte sich der Gestank verbrannten Fleisches.
KAPITEL ELF Ultima Thule
Indy und Ulla sprangen auf das Deck der Berserker, anschließend zogen sie gemeinsam Sparks an Bord, der unsicher schwankend auf der Reling balancierte. Ulla hockte sich hinter das Schanzdeck und gab beim Anblick der ersten Naziuniform auf dem Pfad einen Feuerstoß ab. »Geh unter Deck«, wies Indy Sparks an. »In der Kabine steht mir das Wasser bis zu den Knöcheln«, protestierte er. »Und wenn du oben bleibst, wird dir das heiße Blei gleich bis zum Kragen stehen«, sagte Indy, während er sich ein abgebrochenes Spierenstück schnappte und versuchte, das Schiff vom Ufer abzustoßen. Gunnar fragte, ob der Teufel hinter ihnen her sei. »So könnte man es nennen«, erwiderte Ulla auf Dänisch. Gunnars rechte Hand hing in einer Schlinge, trotzdem packte er mit seiner linken ein Ruder und half Indy, das Boot auf den See hinauszudrücken, indem er sich mit seiner breiten Brust gegen den Griff stemmte. Die Berserker lag tief im Wasser. »Stakt weiter!«, rief Ulla, während sie einen weiteren Feuerstoß abgab, um ihre Verfolger in Schach zu halten. Mühlbach hielt seine Waffe über einen Felsen und bestrich das Areal, mit dem einzigen Erfolg, dass er seine Munition vergeudete und die Wasseroberfläche durchsiebte. Bald war der See so tief, dass Indy den Grund mit der
Spiere nicht mehr erreichen konnte, allerdings wurde das Boot jetzt von der Strömung erfasst und fortgetrieben. Ulla leerte den Rest ihres Magazins in Richtung Ufer, schob dann einen frischen Ladestreifen ein, entriegelte den Bolzen und wartete. »Bleibt unten«, rief sie leise. Das Boot näherte sich langsam dem Geräusch in die Tiefe stürzenden Wassers. »Wir werden doch nicht schon wieder durch einen Abflusskanal fahren, oder?«, fragte Indy. »Das wäre jedenfalls besser als das, was uns hier blüht«, erwiderte sie. Die Strömung wurde schneller, und bald darauf trieb das Boot auf eine flache Stromschnelle zu, die aus dem See mündete. Am Rand der Stromschnelle lief der Kiel auf Grund, doch nachdem Indy mit einigen Stößen seiner Spiere nachgeholfen hatte, glitt das Boot über die Felsen hinweg und gelangte in die Mündung eines verborgenen Flusses. Kurz darauf waren sie vom Ufer aus nicht mehr zu sehen, konnten aber noch Reingolds Flüche hören, der seine Leute antrieb, ihnen nachzusetzen. »Wohin fahren wir?«, fragte Sparks und steckte den Kopf zur Kabinentür heraus. »Abwärts«, antwortete Indy. Ein lumineszierender, von den Farbtönen des Nordlichts durchzogener Dunst hing über dem sich in Serpentinen in die Tiefen der Erde hineinwindenden Fluss und spendete den Passagieren des schlingernden Boots gerade genug Licht, dass sie einen vagen Eindruck von ihrer Umgebung bekamen. Auf einigen Abschnitten ihres Weges hinab in die Tiefe nahmen die Felsen ein majestätisches Aussehen an, so als schwebten sie durch eine finstere Kathedrale voller bunter Bleiverglasungen in Form von Quarz und Amethyst. Dann wieder schienen samtene Vorhänge, glitzernde Wandbehänge aus Diamanten oder die Turmalinröhren einer gigantischen Pfeifenorgel
das Fahrwasser zu begrenzen. Gelegentlich erhaschten sie einen Blick auf Adern im Gestein, die Silber sein mussten und an einer anderen Stelle Gold. Der Anblick rief in Gunnars Augen ein gieriges Leuchten hervor. Auf diesen Streckenabschnitten lief meist ein schmaler Fußpfad parallel zum Fluss, manchmal aber, wenn der Fluss hohe Klippen oder einen Überhang passierte, schlug der Pfad eine andere Richtung ein. Allerdings tauchte er stets wieder auf, so verlässlich wie die Eisenbahngleise neben einer durch die Wüste führenden Autostraße. Ulla schätzte, dass ihre Geschwindigkeit gerade eben ausreichte, um, wenn auch nur knapp, den Vorsprung vor den sie verfolgenden Nazis zu halten. Ihre Vermutung bestätigte sich auf den seltenen geraden Strecken, wenn ab und zu unmittelbar neben ihnen im Wasser eine Fontäne hochspritzte, unmittelbar darauf gefolgt vom Knall eines Gewehrs. Stunde um Stunde trieb die Berserker tiefer in dieses verbotene Reich hinein. Ulla harrte auf dem Heck des Bootes aus, ständig auf der Hut vor dem Aufblitzen eines Gewehrlaufs hinter ihnen, Indy dagegen ertappte sich dabei, wie er in die vor dem Boot liegende Dunkelheit starrte, wobei er Alecias unglaublich schwarze Uniformmütze in den Händen hielt - und von Dingen träumte, die jetzt nie mehr in Erfüllung gehen würden. Während Ulla Ausschau hielt und Indy seinen düsteren Gedanken nachhing, sank die Berserker immer tiefer, bis das Wasser überhaupt keinen Raum mehr in der Kabine ließ. Gunnar hatte ein paar Lebensmittel und eine Kaffeekanne retten können, bevor er das Unterdeck endgültig aufgab, und machte aus den Trümmern des zerstörten Schiffes ein kleines Feuer, mit der Absicht, ein bescheidenes Mahl zu bereiten, um sie wieder etwas aufzumuntern. Es schien ewig zu dauern, bis das Wasser kochte, und als es schließlich so weit war, war es so unerträglich heiß, dass die Porzellantassen rissig wurden.
Gunnar fragte Ulla, was dies zu bedeuten habe. »Das liegt am Luftdruck«, meinte Sparks, und Ulla wiederholte die Antwort auf Dänisch. »Die Luft verdichtet sich, und der Siedepunkt des Wassers steigt, genau wie im Kühler eines Automobils.« »Bist du sicher?«, fragte Ulla. »Normalerweise beträgt der Luftdruck auf Meereshöhe 1013 Millibar«, erläuterte Sparks, so als zitiere er einen Abschnitt aus einem Lehrbuch. »Gegenwärtig muss er mindestens doppelt so hoch liegen.« »Behältst du eigentlich alles, was du liest?«, wollte Indy wissen. »Solange es sich um Ziffern handelt«, meinte er. »Manchmal kann ich abends nicht einschlafen, weil mir all diese Zahlen durch den Kopf gehen - Gleichungen, Telefonnummern und sogar Sportergebnisse.« »Das muss entsetzlich sein«, meinte Ulla. »Nein, es ist eigentlich ganz angenehm«, erklärte Sparks ihr. »Wie tief sind wir deiner Meinung nach?«, fragte Ulla. Sparks zuckte die Achseln. »Wir befinden uns am unteren Ende einer Säule aus Luftmolekülen, die in ihrer dünnsten Erscheinungsform bis zu eintausend Meilen weit ins All hineinreicht«, erläuterte er. »Luft verdichtet sich nicht wie Wasser, dessen Dichte sich etwa alle zehn Meter verdoppelt. Andererseits hat der Kaffee drei oder vier Mal länger als gewöhnlich gebraucht, bis er kochte, richtig? Meiner Schätzung nach befinden wir uns zurzeit wenigstens einhundert Meilen tief unter der Erdoberfläche, und der Druck hier ist doppelt, vielleicht drei Mal so hoch wie normal. Die genaue Tiefe kann ich natürlich nicht wissen, ohne die exakte Wassertemperatur zu kennen.« »Was ist mit dem Schiffsbarometer?«, fragte Ulla. »Könnte das uns nicht einen ungefähren Anhaltspunkt liefern?«
»Das ist geborsten«, sagte Sparks. »Genau wie das Thermometer. Sehr wahrscheinlich wird alles implodieren, worin Luft eingeschlossen ist.« Ulla übersetzte für Gunnar. »Aber wir haben doch auch Luft in unseren Körpern?«, fragte Ulla. »Wieso platzen wir nicht?« »Weil unser Körper größtenteils aus Wasser besteht, und nicht aus Gas«, erklärte Sparks. »Wasser lässt sich nicht komprimieren. Außerdem sind die Hohlräume für die Luft in unserem Körper nicht geschlossen - unsere Lungen, zum Beispiel, atmen Luft ein, die denselben Druck aufweist wie außen, es entsteht also eine Art Druckausgleich. Die einzige Stelle, wo Sie vielleicht Druck verspüren, sind Ihre Nebenhöhlen, vorausgesetzt, Sie haben eine Kopfgrippe. Davon abgesehen fühlen Sie sich ausgezeichnet.« »Besteht das Risiko der Caissonkrankheit?«, fragte sie »Tiefseetaucher sind einem sehr viel höheren Druck ausgesetzt«, sagte Sparks. »Würden wir den gegenwärtigen Druck unter Wasser verspüren, befänden wir uns wahrscheinlich nur in einer Tiefe irgendwo zwischen sechzig und neunzig Fuß. Außerdem wird die Taucherkrankheit durch zu schnelles Auftauchen und nicht durch Abtauchen hervorgerufen.« »Einhundert Meilen«, wiederholte Ulla ehrfürchtig. »Das ist tiefer, als je ein menschliches Wesen ins Erdinnere vorgedrungen ist, und zwar mindestens um fünfundneunzig Meilen.« »Möglicherweise sind wir nicht die Ersten«, gab Indy zu bedenken. »Baldwin, falls Sie sich erinnern.« Ulla runzelte die Stirn. »Na ja, wir sind die Ersten, bei denen dies verbürgt ist«, sagte sie. »Wie Kolumbus. Im Übrigen geben Entdecker ihren Entdeckungen einen Namen, habe ich Recht?« »Und wie wollen Sie diesen Ort nennen?«, fragte Indy. »Den Edda-Schacht.« Sie übersetzte für Gunnar, der daraufhin nickte.
»Und was heißt das?«, wollte Sparks wissen. »Frei übersetzt«, erklärte ihm Indy, »der Schacht der poetischen Legende.« »Ich bin beeindruckt«, erklärte Ulla. »Dann haben Sie die isländischen Heldenerzählungen also tatsächlich gelesen? « Mittlerweile schwappten die ersten Wellen übers Deck. »Sieht aus, als würden wir auseinander brechen«, stellte Ulla fest. »Dabei gilt dieses Schiff angeblich als unsinkbar.« »Das liegt am Kork«, sagte Sparks. »Der Kork versagt, weil der Luftdruck die mikroskopisch kleinen Lufteinschlüsse darin zerdrückt. Er hat seinen Auftrieb eingebüßt.« »Also, aus welchem Grund auch immer, es wird Zeit, das Schiff aufzugeben«, sagte Indy. »Hier können doch alle schwimmen, oder?« »Wieso sehen Sie mich dabei so an?«, fragte Sparks. »Ich weiß, wie es geht, theoretisch jedenfalls.« Innerhalb von Minuten sank ihnen die Berserker einfach unter den Füßen weg und zwang sie, sich schwimmend zu retten. Ulla hängte sich die Maschinenpistolen um den Hals und begann mit kräftigem Beinschlag Richtung Ufer zu schwimmen. Einen Augenblick lang glaubte Indy, Gunnar sei mit seinem Schiff untergegangen, dann sah er, wie er an die Oberfläche kam und sich mit einer Hand über Wasser zu halten versuchte. Indy packte ihn am Kragen und zog ihn hinter sich her. Aber es war Sparks, der als Erster das Ufer erreichte, obwohl er mehrmals Wasser schluckte und sich mit einer Mischung aus den rudernden Bewegungen eines Hundes und dem Beinschlag eines Froschs fortbewegte. »Donnerwetter«, meinte Sparks hustend, als er triefend auf die Felsen krabbelte. »Bei diesen Luftmengen sollte man meinen, dass wir ein wenig mehr Auftrieb hätten. Manchmal ist Wissenschaft einfach nicht logisch.« »Augenblick mal«, rief Indy, nachdem er sich vergewissert
hatte, dass Gunnar wohlauf war. »Wie würde sich diese dichte Atmosphäre auf eine Kugel auswirken?« »Sie meinen auf die Flugbahn?«, fragte Sparks nach. »Sie würde sie verzögern, aber nicht so sehr, dass man einen Unterschied spürt.« »Nein«, meinte Indy. »Ich meinte in Bezug auf das Pulver. « »Hmmm.« Sparks blieb stehen und überlegte. »Ein interessanter Gedanke. Wir befinden uns jetzt so tief, dass ich mich an Ihrer Stelle hüten würde, eine Waffe abzufeuern.« »Warum?« »Aus zwei Gründen. Zum einen sorgt der überhöhte Druck dafür, dass das Pulver bei höheren, explosiveren Temperaturen verbrennt.« »Wie der Kaffee«, stellte Indy fest. »Genau.« »Und zweitens?« »An diesem Punkt wird es interessant«, meinte Sparks. »Und zwar wegen des Pulverüberschusses und der dichteren und daher leichter entzündlichen Gase im Lauf einer Feuerwaffe.« »Und was heißt das jetzt?«, wollte Ulla wissen. »Die Waffe könnte Ihnen in der Hand explodieren«, schloss Sparks. »Verschluss und Lauf sind nicht für Drücke von zweioder dreifacher Stärke des Normalen ausgerichtet, und im winzigen Augenblick des Abfeuerns findet im Lauf kein Druckausgleich statt.« »Besteht eine Möglichkeit, die Waffen benutzbar zu machen?«, fragte sie. »Ja«, meinte Sparks. »Nehmen Sie die Patronen auseinander und verringern Sie den Pulvergehalt um wenigstens die Hälfte - oder um zwei Drittel, um ganz sicher zu gehen.« Das Geräusch von Stiefeln hallte hinter ihnen durch den Gang. »Bist du ganz sicher?«, fragte Indy.
»Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit.« »Also gut, wir werden deine Theorie in Kürze auf die Probe stellen«, sagte er. »Ihr drei geht weiter in den Gang hinein. Ich werde noch einen Augenblick hier bleiben und mich ihnen als Zielscheibe zur Verfügung stellen.« »Indy!«, entfuhr es Ulla. »Nein, geht schon vor«, rief er. »Und probieren Sie das Ding, das Sie da in der Hand halten, erst aus, wenn wir ganz sicher sind.« Die drei anderen eilten den Pfad entlang, fort von den Deutschen, während Indy sich hinter einem Findling versteckte und wartete. Als das Geräusch der Stiefel fast auf seiner Höhe war, sprang er hervor. »Dies ist eure Chance!«, brüllte er. Mühlbach hatte die Führung und hatte seine Maschinenpistole im Nu hochgerissen. Er war ungefähr dreißig Meter von Indy entfernt. »Feuer eröffnen!", schrie Reingold von hinten. »Eröffnet das Feuer.« Indy machte auf dem Absatz kehrt und ergriff die Flucht. Mühlbach nahm Indys Rücken ins Visier und drückte auf den Abzug. Die Waffe explodierte mit einem Lichtblitz und einem ohrenbetäubenden, dumpfen Knall in seinen Händen, gleichzeitig löste die Explosion die noch verbliebenen zwanzig Schuss im Magazin der Waffe aus. Während Mühlbachs Oberkörper sich in eine rötliche Qualmwolke verwandelte, wurden Teile der Waffe als Querschläger von den Felswänden zurückgeworfen und durchbohrten Schrapnellsplittern gleich zwei der neben ihm stehenden Kameraden. Ein glühend heißes Stück des Laufes streifte Indy an der Wade und ließ ihn stolpernd stürzen. Er rappelte sich wieder auf und rannte weiter, jetzt allerdings hinkend. »Drei auf einen Schlag«, keuchte er, als er bei seinen Gefährten anlangte und sich auf den Boden niederließ. »Damit wären es noch acht, glaube ich.« Er zog sein Hosenbein hoch und untersuchte sein Wade,
die überraschenderweise überhaupt nicht blutete. »Aber jetzt kommt ein wichtiger Punkt, den Sparks zu erwähnen vergaß - die Waffen explodieren wie Splitterbomben, und die Einzelteile werden in sämtliche Richtungen gestreut.« Ulla inspizierte den hässlichen roten Striemen. »Lebenswichtige Teile wurden nicht getroffen«, erklärte sie. »Außerdem war das Metall so heiß, dass es die Wunde ausgebrannt hat. Sie werden allerdings eine prächtige Narbe zurückbehalten.« »Eine prächtige Narbe?«, fragte Indy. »Es tut weh. Etwas, das sich so anfühlt, kann man wohl kaum als prächtig bezeichnen.« »Sie sollten froh sein.« Ulla verschränkte die Arme, die Lippen aufeinander gepresst. »Es hätte Sie in den Hinterkopf treffen können.« Indy erhob sich, immer noch hinkend. »Gehen wir weiter«, sagte er. »Suchen wir uns eine Stelle, wo wir uns eine Weile ausruhen und die Patronen herrichten können, wie Sparks vorgeschlagen hat.« »Sie werden auf denselben Gedanken kommen«, warnte Ulla. »Das schon«, erwiderte Indy stolz, »aber wir waren schneller.« Zwei Stunden später verließ der Pfad den Fluss offenbar endgültig. Als er in eine großzügige Felsenkammer führte, ließ Indy Rast machen, und während sie saßen, entfernten sie die Bleikugeln mit den Zähnen aus den Patronen und schütteten den größten Teil des Pulvers aus. »Wird das ihre Geschwindigkeit nicht beeinträchtigen?«, fragte Ulla. »Ach was«, meinte Sparks. »Waffen funktionieren über die Kompression von Gasen. Das müsste sich in etwa ausgleichen.« »Müsste«, meinte Indy. »Das Wort macht mir ein wenig Angst.«
»Was meinen Sie, wohin uns dieser Gang führt?«, fragte Sparks nervös. »Glauben Sie, dass er jemals wieder ansteigen wird?« »Keine Ahnung«, meinte Indy. »Aber ich habe die Absicht, es herauszufinden.« Indy nahm die beiden unbrauchbar gewordenen Patronen aus dem Webley, zog die Kugeln mit den Zähnen heraus und benutzte anschließend einen kleinen Teil des Pulvers, das Ulla aus ihrer Munition entfernt hatte. »Wieder einsatzbereit«, sagte er, während er den Webley in das Halfter schob. »Gehen wir.« »Ich werde furchtbar müde«, meinte Ulla. »Gunnar und Sparks sehen auch nicht besser aus. Können wir uns nicht noch etwas ausruhen?« »Glauben Sie vielleicht, die ruhen sich aus?« »Nein«, erwiderte sie traurig, während sie das Magazin zurück in die MP-40 schob. »Was denken Sie, wie lange kann das noch so weitergehen?« »Bis zum bitteren Ende«, sagte Indy. Ulla erhob sich. Plötzlich stolperten die Nazis, sich nicht bewusst, dass Indy und die anderen dort rasteten, in die Felsenkammer. Die Soldaten griffen hektisch nach ihren Waffen, und bevor Ulla ihre Waffe herumreißen konnte, hatten zwei von ihnen das Feuer eröffnet. Schlagartig war die Luft erfüllt von kreuz und quer fliegenden Abprallern. »In Deckung!«, rief Indy. Ulla machte einen Schritt auf Indy und die anderen zu, wurde dann, als eines der platt gedrückten Geschosse sie in die Brust traf, wie eine Puppe nach hinten geworfen. Sie machte ein völlig überraschtes Gesicht, als sie auf Hinterteil und Ellbogen landete, während die Maschinenpistole nutzlos am Riemen um ihren Hals baumelte. Sie blickte hinunter auf den schnell wachsenden, dunkelroten Fleck, dann, mit der Bitte um Vergebung in den Augen, hinüber zu Indy.
»Tut mir Leid«, stieß sie hervor. Indy lief zu ihr. Er schnappte sich die MP-40 und feuerte blindlings auf die Nazis, während er Ulla fortzog. Gunnar und Sparks waren unverletzt und bereits auf der Flucht. Zwei der Nazis sanken, von Indys Sperrfeuer tödlich getroffen, zu Boden, und ein dritter fasste sich an den Arm, bevor die Waffe eine Ladehemmung hatte und sich weigerte, eine der mit zu wenig Pulver gefüllten Patronenhülsen auszuwerfen. Indy ließ die Waffe fallen und eilte mitsamt Ulla durch den Gang. Die Nazis, mittlerweile ebenso erschöpft und benommen wie ihre Opfer, blieben einen Augenblick zurück und zählten ihre Verluste. »Sparks!«, rief Indy. »Hilf mir!« Sparks schob sich unter Ullas Schulter, und gemeinsam rannten sie mit ihr den gewundenen Gang hinunter, wobei ihre Füße über den Boden schleiften und Blutsprenkel ihren Weg markierten. Zweihundert Meter weiter wurde der Durchgang schmaler und öffnete sich gleich darauf abermals - diesmal, um den Blick freizugeben auf eine kathedralenähnliche Felsenkammer mit einer glatten Wand auf der gegenüberliegenden Seite. »Nur das nicht«, meinte Indy. Sie legten Ulla auf den Boden, und Indy knöpfte ihr Hemd auf und untersuchte sie. Aus einer Schusswunde links neben ihrem Brustbein strömte Blut. Ulla schaute aus halb geschlossenen Augen zu ihm hoch. »Dann war es also gelogen, als Sie meinten, Sie fühlten sich nicht zu mir hingezogen«, witzelte sie. »Ganz ruhig«, sagte Indy. »Versuchen Sie nicht zu sprechen.« Gunnar nahm seine Armschlinge ab und riss sie in Streifen, die er in dem verzweifelten Versuch, die Blutung zu stillen, unter Ullas Hemd stopfte. Dann zog er sein Bärenfellhemd aus, rollte es zu einem Knäuel zusammen und schob es ihr unter den Kopf.
»In was für einer Kammer sind wir hier?«, fragte Ulla. »Hier drinnen ist es so hell. Und an der Felswand sind überall Menschen.« Indy sah sich um. Der Schein des Nordlichts war in dieser Felsenkammer heller, und die Felswände waren mit Schatten übersät, die vage an die Fratzen von Wasserspeiern erinnerten. »Indy«, rief Sparks. »Nicht jetzt«, fuhr Indy ihn an. »Hier auf dem Boden ist ein Kreis aus Steinen.« Gunnar ergriff Ullas Hand, dann deutete er mit einem Nicken auf die Stelle, wo Sparks kniete. »Ich bin gleich wieder da«, sagte Indy. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle.« Fünf Kristalle lagen dort in einem Kreis von etwa einem Fuß Durchmesser, es gab jedoch Vertiefungen für sechs Steine. Die fünf Steine in den Mulden waren gelb, violett, blau, rot und grün. Der Stein am oberen Rand des Kreises fehlte. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sparks. Indy griff nach dem Stück Islandspat an dem Lederriemen unter seinem Hemd. Er zog heftig daran, zerriss den Riemen und hielt den Stein in die Höhe. Seine ursprünglich rauchige Färbung war in ein milchiges Weiß übergegangen. Indy fügte den Stein an der freien Stelle ein. Nichts geschah. »Was soll denn das bewirken?«, fragte Sparks. »Weiß ich auch nicht«, meinte Indy ungeduldig. »Aber irgendetwas muss es bewirken. Eine Tür öffnen, einen weiteren Gang freigeben, irgendwas.« Sparks biss sich auf die Unterlippe. »Vielleicht hat es etwas mit der Anordnung der Steine zu tun«, sagte er und ließ sich mit übereinander geschlagenen Beinen vor den Steinen nieder. »Die Botschaft auf dem Thule-Stein«, besann sich Indy.
»Dort stand: »Ich bin alle Farben und doch keine. Schließe mich verkehrt zum Kreis, und dein Schicksal ist besiegelt.« Fällt dir dazu irgendetwas ein?« »Sollte es das?«, fragte Sparks. »Spar dir die Bemerkungen«, fuhr Indy ihn an. »Denk nach!« »Sie machen mich nervös.« »Und du machst uns den Garaus«, erwiderte Indy. Sparks griff nach den Steinen. »Vielleicht, wenn man sie einfach in beliebiger -« »Nicht.« Indy fiel ihm in die Hand. »Du musst dir ganz sicher sein. Wenn du sie verkehrt anordnest, wird das schlimme Folgen haben.« »Was meinen Sie damit?« »Damit meine ich wirklich schlimme Folgen«, sagte Indy. »Diese Art von Warnungen nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Also, der weiße Kristall befindet sich offensichtlich an der richtigen Stelle, denn dieser Platz war unbesetzt. Was machen wir mit den übrigen fünf?« Gunnar rief etwas. Indy hörte das Geräusch von Stiefeln näher kommen. »Du hast ungefähr dreißig Sekunden Zeit«, meinte Indy zu Sparks. »Ich lasse dich jetzt alleine. Fang an.« Indy kehrte zurück zu Ulla und wog sie in den Armen. »Jetzt weiß ich, was es ist«, rief Sparks. »Das Lichtspektrum! Man arrangiert die Steine in der Reihenfolge ihrer sichtbaren Lichtfrequenz. Durchsichtig kommt ganz nach oben, weil in weißem Licht alle Farben enthalten sind.« »Gut!«, rief Indy. »Mach weiter.« Sparks ging daran, die Steine umzusetzen. Gunnar hatte sich erhoben und bereitete sich auf den Kampf vor, indem er sich selber ins Gesicht schlug. Den Schmerzen in seinem gebrochenen Arm schenkte er keinerlei Beachtung. In seinen Mundwinkeln glänzte Blut. Indy hörte, wie Reingold seine Soldaten anschrie, sie sollten sich beeilen. Sie hatten fast die letzte Biegung des Ganges
erreicht. Indy richtete den Webley in den Gang und wartete, allerdings zitterten seine Hände stark. »Du darfst nicht sterben«, flüsterte er Ulla zu. »Bitte, halt durch.« Ihr blondes Haar hatte dort, wo die Spitzen ihr Hemd streiften, die Farbe von Erdbeeren angenommen, und die Haarfarbe erinnerte Indy auf gespenstische Weise an die Alecias. Ihre Haut war aschfahl, und ihre Lippen waren blau angelaufen. Ihr Atem ging unregelmäßig und wurde von einem scheußlichen Rasseln begleitet. »Jones«, flüsterte sie. »Versuchen Sie nicht zu sprechen«, sagte Indy und wischte sich mit der Hand, in der er die Waffe hielt, über die Augen. »Schonen Sie Ihre Kräfte.« »Seien Sie ein Mann«, schnarrte sie. Indy musste kräftig blinzeln. »Welche Farbe liegt im Spektrum zwischen Rot und Grün?«, fragte Sparks ruhig. »Gelb!«, rief Indy. »Beeil dich! Sie sind fast hier!« »Ich hab es Ihnen schon mal gesagt«, meinte Sparks. »Machen Sie mich nicht nervös!« »Du machst das ganz ausgezeichnet«, versuchte Indy ihn zu bestärken. Er hörte, wie Sparks sich daran machte, die Steine umzuarrangieren, jedes Mal begleitet von einem scharfen Klicken, wenn ein Stein auf seinen Platz fiel. »Mal sehen. Weiß kommt ganz oben hin. Dann - im Uhrzeigersinn, richtig? - Rot, Gelb, Grün, Blau und Violett.« Plötzlich wurde es heiß in der Kammer, unerträglich heiß, und die Luft fühlte sich in Indys Lungen an wie Sirup. Dann sträubten sich die Haare in seinem Nacken. »Spüren Sie das?«, fragte Sparks. »Statische Elektrizität. Die Luft hat sich aufgeladen. Keine Ahnung, warum.« Die Nazis hatten sie fast erreicht. Ulla schlug die Augen auf und blickte über Indys Schulter auf die dahinter liegende Felswand. Ihre Augen weiteten sich, und sie benetzte ihre blutverschmierten Lippen.
In diesem Augenblick stürzten die Nazis in die Felsenkammer und verteilten sich, die Waffen auf Indy gerichtet. Gunnar warf sich auf den nächstbesten Soldaten und rang ihn, die Hände um seine Kehle geschlungen, nieder. Zwei andere packten Gunnar bei den Armen und versuchten ihn zurückzureißen, doch er schleuderte sie fort wie Lumpenpuppen. Reingold kam herbei und drückte Sparks die Mündung seiner Walther ins Genick. »Lass den Unfug«, kommandierte er. Gunnar stellte das Kämpfen ein, aber Indy hielt seine Waffe noch immer auf Reingold gerichtet. »Nehmen Sie Ihre Waffe runter«, befahl Reingold. »Fahren Sie zur Hölle«, stieß Indy hinter dem zitternden Lauf seiner Waffe hervor. »Wie es aussieht, sind wir bereits dort«, entgegnete Reingold und lockerte seinen Kragen. Mittlerweile durchflutete ein tiefrotes Leuchten die Felsenkammer, und die Hitze war erdrückend. Ein tiefes Rumpeln ließ den Erdboden erzittern, und sie hörten, wie hinter ihnen Steine krachend auf den Boden des schmalen Durchgangs polterten. Die Schatten an den Wänden, wie Indy jetzt erkannte, waren nicht bloß Schatten - es handelte sich um Flachreliefs von Wasserspeiermonstern und Skeletten, die allesamt den Eindruck erweckten, als wollten sie jeden Augenblick aus der Wand heraustreten. »Allmählich wird es ein wenig eng hier drinnen«, meinte Sparks ängstlich. Die Skelette lösten sich mit langsamen, aber entschlossenen Bewegungen, Schwerter und Äxte schwingend, aus der Wand. Einer der skelettartigen Krieger trug einen Helm aus dem alten Griechenland, während ein anderer einen römischen Brustpanzer mitsamt Schwert sein Eigen nannte. Eine Kreatur mit Landserhelm und einem gefährlich aussehendem Bajonett aus Stein, offensichtlich noch versessener auf ein Scharmützel als alle anderen, sprang herunter, während
sein Unterkiefer rhythmisch klackend die Worte »Hunnen! Hunnen! Hunnen!«, wiederholte. Ein anderer hinkte, seinen Kavalleriesäbel als Gehstock benutzend, quer über den Höhlenboden. Ihm fehlte der linke Fuß. Auf seinem Schädel saß in verwegenem Winkel ein Käppi aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Hinter ihm folgte, eine doppelklingige Steinaxt schwingend, das Skelett eines Wikingers. Wieder andere Krieger entstammten Perioden, die Indy gänzlich unbekannt waren und die er noch viel weniger zu bestimmen vermochte, darunter auch ein Skelett, das eine Handwaffe in Gestalt eines fünfzackigen Sterns durch die Finger wirbeln ließ. Nachdem sich alle Krieger aus der Felswand gelöst hatten, erwachten Wasserspeiermonster und Chimären zum Leben und flatterten zähneknirschend mit ihren grauen Flügeln. »Lasst euch nicht beirren!«, rief Reingold seinen Männern zu. »Diese Kreaturen können unmöglich echt sein. Das ist irgendein Trick. Behauptet eure Stellung!« Rottenführer Liebel kreischte auf, als eine Knochenhand ihn an der Schulter packte. Er leerte das Magazin seiner Maschinenpistole auf den Brustkorb der Erscheinung, wenn auch ohne Wirkung. Der Skelettkrieger schleifte ihn über den Fußboden und verschmolz wieder mit der Felswand, den glücklosen Liebel mit sich ziehend. Unter den entsetzten Blicken der anderen wurden Uniform und Haut des Soldaten zu Stein. Er war, mitsamt Stahlhelm und Maschinenpistole, zu einem Teil des Reliefs geworden. »Das meinte ich mit wirklich schlimm, Sparks«, rief Indy. Der Wikingerkrieger hatte Sparks bei den Füßen gepackt und begann, ihn von den Steinen fortzuschleifen. »Ich hab sie verkehrt herum eingesetzt, Indy«, rief der Junge, während er versuchte, die Kristalle nicht zu verlieren. »Ich hätte es andersherum versuchen sollen.« Inzwischen hatten die vier verbliebenen Nazisoldaten
ihre Waffen fallen gelassen und rannten Richtung Durchgang, mussten jedoch feststellen, dass ein gewaltiger Felsbrocken ihn versperrte. Wasserspeiermonster und Skelette rückten weiter vor, und jeder Einzelne der Nazis wurde gepackt und zur Felswand hinübergeschleift. Reingold wich vor einer besonders abscheulich aussehenden Kreatur zurück, einem Skelett, das in der einen Hand ein Samuraischwert hielt und in der anderen den eigenen Kopf. Er feuerte blindlings mit der Walther, während die Kreatur ihn mit vorgehaltener Schwertspitze zur nächsten Wand hinüberdrängte. Dann spürte Indy, wie die krallenartigen Finger eines Wasserspeiermonsters nach seiner Schulter griffen. Er schlug mit dem Knauf seiner Waffe auf das Ungeheuer ein, allerdings ohne Erfolg. »Es ist, als würde man auf ein Stück Felsen schlagen«, kreischte er. Gunnar befreite sich von dem Wasserspeiermonster, das ihn festhielt, und rang mit dem an Sparks Füßen hängenden Skelett, während der Teenager verzweifelt versuchte, die Steine neu zu ordnen und so die Farbenfolge rings um den Kreis umzukehren. Er war fast damit fertig, als das Skelett sie beide zu fassen bekam und sowohl Gunnar als auch den Jungen zur Wand zu schleifen begann. Die vier Nazisoldaten waren bereits Teil des abscheulichen Tableaus geworden, und Reingold war bis zur Hüfte mit der Wand verschmolzen. »Indy!«, brüllte Sparks. Er hielt den roten Stein noch immer in der Hand. »Tun Sie was!« »Wirf mir den Stein zu!« Indy lag auf dem Boden, über sich das steinerne Wasserspeiermonster, und dieses Wesen war so schwer, dass er kaum Luft bekam. Schließlich gelang es ihm, seine Knie anzuziehen und den Albtraum zurückzustoßen. Sparks warf Indy den Stein zu. Das Wasserspeiermonster bleckte fauchend die Reißer,
dann griff es an. Instinktiv schwang Indy den an beiden Enden zugespitzten Kristall wie ein Messer und erwischte die Kreatur im Gesicht, wobei er ihr einige der granitharten Zähne ausschlug. Auf allen vieren kroch Indy zum Kreis hinüber und stellte den roten Stein auf den freien Platz. Das Leuchten in der Felsenkammer wechselte von Rot zu Blau. Auf den Klang einer Trompete hin hielten sämtliche Monster inne. Die Skelette ließen zögernd von ihren Opfern ab und kehrten auf ihre ursprüngliche Position in den Felswänden zurück, während die Wasserspeiermonster noch einen Augenblick fauchend um sich schnappten, bevor sie sich zurückzogen. Selbst in der Wand noch wiederholte der Landser unablässig »Hunnen! Hunnen! Hunnen!«, doch auch er erlahmte allmählich und verstummte starr mit offenem Mund. »Helfen Sie mir!«, flehte Reingold. Das Skelett mit dem Samuraischwert, mittlerweile in die Felswand zurückgekehrt, hatte ihn, bis zur Hüfte mit der Wand verschmolzen, zurückgelassen. Indy und Gunnar packten jeder einen Arm und versuchten, den Hauptsturmführer der SS aus der Wand zu ziehen, vermochten ihn jedoch kein Stück von der Stelle zu bewegen. »Diese Schmerzen!«, jammerte er. »Lassen Sie mich nicht so zurück!« »Wir können nicht das Geringste tun«, sagte Indy. »Töten Sie mich«, flehte der sich windende Reingold. Gunnar klemmte Reingolds Kopf unter seinen linken Arm, drehte ihn mit einem heftigen Ruck und brach ihm das Genick. Sparks wandte den Kopf ab. Reingolds Körper wand sich in Zuckungen. Dann verdrehte er die Augen, seine Arme erschlafften, und sein Kopf sackte nach vorn. Aus seiner Uniformjacke fiel Reingolds Zigarettenetui. Indy hob es auf und betrachtete die Inschrift, das Motto der SS: Meine Ehre heißt Treue.
Indy übersetzte es für die anderen. Gunnar blickte Indy achselzuckend an. Indy erwiderte das Achselzucken. Dann kehrte er zu Ulla zurück und kniete neben ihr nieder. Ihre Lider öffneten sich flatternd. »Ich muss gestorben sein«, keuchte sie. »Die Walküren sind hier. Mein Gott, sind sie nicht wunderschön?« Indy sah über seine Schulter. Jenseits des Steinkreises hatte sich in der vormals fugenlosen Wand ein Durchgang aufgetan. Eine angenehme Brise wehte durch die Öffnung herein. Ein Trio leuchtender Wesen aus reinem Licht schwebte in den Raum. Sie tanzten wie Schmetterlinge umeinander, und als sie über Ulla in der Luft stehen blieben, gleißten sie so hell, dass man kaum hinsehen konnte. Ulla streckte die Hand nach ihnen aus. In diesem Augenblick erschien im Durchgang ein großer, athletisch aussehender Mann von Mitte fünfzig. Er hatte eine lange, schmale Nase, sein Haar war kurz geschoren und sein Bart säuberlich gestutzt. Er trug einen Rollkragenpullover und erweckte den Eindruck, die Dinge im Griff zu haben. Zu beiden Seiten des hoch gewachsenen Mannes standen zwei dem Anschein nach tibetanische Mönche in fließenden gelben Gewändern. »Bringt sie nach drinnen«, kommandierte der Mann auf Englisch. Die Mönche hoben Ulla auf und trugen sie durch die Öffnung in die dahinter liegende Helligkeit. Der hoch gewachsene Mann blieb mit verschränkten Armen im Durchgang stehen und wartete. »Also, kommen Sie nun oder nicht?«, fragte er. »Ja, Sir«, sagte Sparks und begab sich hastig zum Durchgang. Gunnar folgte ihm, und als Indy an dem Kreis aus Steinen vorüberkam, nahm er das Stück Islandspat mit.
»Den lapis exilis«, befahl der hoch gewachsene Mann, »werde ich an mich nehmen.« »Roald Amundsen, nehme ich an?«, fragte Indy, als er den Stein übergab. »Ebender«, antwortete der Mann. Der Durchgang schloss sich hinter ihnen, derweil die vorangehenden Mönche Ulla zu einer schwarzen, sargähnlichen Wanne hinübertrugen. Sie legten sie behutsam hinein. Sie befanden sich auf einem gewaltigen, von Säulen getragenen Balkon, der ein nebelverhangenes Meer überblickte, und als er über das Geländer schaute, konnte Indy sehen, dass der Balkon lediglich Teil eines riesigen Gebäudekomplexes war, dessen Architektur entfernt an die Ägyptens erinnerte. Hoch oben im Himmel stand eine Kugel aus Licht, in der sich die Farben des Nordlichts abwechselten. Jenseits des Meeres erblickte man eine Insel, und Indy konnte einen Wald aus juwelenbesetzten Türmen erkennen, die aus dem Nebel ragten. »Willkommen in Ultima Thule«, begrüßte sie Amundsen. »Oder Agartha?«, fragte Indy. »Wie immer man es nennen möchte«, antwortete Amundsen. »Früher einmal existierte ein Vorposten auf der Abrisskante des Vulkangipfels, durch den Sie hinabgestiegen sind, aber ich fürchte, für dergleichen ist die Welt mittlerweile zu klein geworden.« Die Mönche hatten inzwischen fieberhaft zu arbeiten begonnen und leerten Krüge einer leuchtenden Flüssigkeit in die schwarze Wanne. Indy ging hinüber und warf einen Blick in Ullas Gesicht, doch sie schien tatsächlich tot zu sein. Er wollte die Hand in die Flüssigkeit tauchen, hielt dann aber inne. »Darf ich?«, fragte er. Die leuchtende grüne Flüssigkeit fühlte sich anders an als alles, was Indy je zuvor erlebt hatte. Als er eine kleine
Menge mit der Hand herausschöpfte und in die Höhe hielt, um sie in Augenschein zu nehmen, sickerte die Flüssigkeit glatt durch seine Hand hindurch und tröpfelte zurück in die Wanne. Indy bewegte seine Finger. Es war, als hätte etwas seiner Hand neue Kraft verliehen. Inzwischen kehrte in der Wanne die Farbe auf Ullas Gesicht zurück. »Das ist also Vril?«, fragte Indy. Amundsen nickte. »Ein merkwürdiges Zeug, nicht wahr?«, meinte der hoch gewachsene Mann. »Sie können praktisch alles damit machen Städte errichten oder sie zerstören. Technisch gesehen handelt es sich um den vierten Aggregatzustand von Materie - Plasma. Es handelt sich um eine vor Äonen im Innern der Sterne entstandene Gasart. Es treibt durchs All, bis es vom Magnetfeld der Erde angezogen wird, anschließend gelangt es mit Hilfe des Nordlichts nach hier unten, wo die Aesir es sammeln.« »Die schimmernden Wesen, die wir gesehen haben?« »So ist es«, bestätigte Amundsen. »Der Name, den sie sich selber geben, lässt sich in keine menschliche Sprache übertragen, es handelt sich daher um den Namen, den ich persönlich verwende. Es ist der Sammelbegriff für die alten nordischen Gottheiten. Auf der Erdoberfläche könnten sie nicht existieren, wissen Sie - die Luft ist dort viel zu dünn. Sie würden nicht überleben.« »Befinden sich noch andere Menschen hier?«, fragte Indy. »Selbstverständlich«, sagte Amundsen. »Wenn auch nicht viele. Meist handelt es sich um die, denen die Aesir vertrauen, wie den Mönchen oder Leuten wie mir, die hier durch Zufall hineingeraten sind. Ich muss gestehen, sie hatten keine gute Meinung von Ihnen. Sie befürchteten, Sie seien ebenso schlecht wie all die anderen, die durch die Gegend ziehen, Tiere abknallen und sich am Tod ihrer Feinde ergötzen. Ihre unübersehbare Zuneigung für die tote Frau und den Jungen hat sie gerührt, aber ebenso glücklich wären
sie gewesen, wenn Sie dort draußen zu einem Teil der Felswand geworden wären.« »Ist dies ein Traum?«, fragte Indy. »Ach wo, es ist durchaus real, Dr. Jones«, erwiderte Amundsen. Er hob abwehrend die Hand. »Ja, mir sind alle Ihre Namen bekannt. Und ich weiß auch um den beklagenswerten Zustand der Welt dort oben, Sie brauchen mich daher nicht über die letzten sieben Jahre auf den neuesten Stand zu bringen. Die Welt ist so, wie sie immer war, sie bereitet sich auf einen Krieg vor.« »Besitzen Sie irgendwelche technischen Unterlagen über das alles hier?«, wollte Sparks wissen. »Vor allem über Vril, und wie das Magnetfeld der Erde es sammelt?« »Technische Unterlagen?«, wiederholte Amundsen und musste lachen. »Ich fürchte, nein. Aber seien Sie unbesorgt. Sie werden sich an nichts von alldem erinnern, sobald Sie wieder an die Erdoberfläche gelangen, fürchte ich.« »Wieso nicht?«, fragte Sparks. »Nun, Sie haben die Wahl«, erklärte Amundsen. »Sie können hier in Frieden und Harmonie verweilen und erhalten Einblick in die Geheimnisse des Kosmos, oder Sie kehren in die Welt dort oben zurück. Falls Sie jedoch zurückkehren, werden Sie sich an nichts erinnern, dessen Zeuge Sie hier geworden sind. Es wird sein wie ein Traum, den Sie vor langer Zeit hatten. Wie werden Sie sich entscheiden?« »Wir erhalten keine Gelegenheit, es uns zu überlegen?«, fragte Sparks. »Nein«, erwiderte Amundsen. »Je mehr Erinnerungen Sie anhäufen, desto schwieriger wird es, Sie zurückzuschicken. Bleiben Sie länger als eine Stunde, haben wir keine andere Wahl, als Sie hier zu behalten.« Ulla richtete sich in der Wanne auf. Sie strich sich das von der leuchtenden Materie glühende Haar aus dem Gesicht, dann versuchte sie, die Schusswunde unter ihrem Hemd zu ertasten. Sie war verschwunden.
»Ist dies Walhalla?«, fragte sie. »Nein, meine Liebe.« Amundsen lächelte gütig. »Sie befinden sich noch immer unter Sterblichen, fürchte ich, auch wenn es Ihnen um ein Haar gelungen wäre, auf die andere Seite hinüberzuwechseln.« »Wenn ein Mensch gestorben ist, ist es also nicht möglich, ihn zurückzuholen?«, fragte Indy. »Nein«, antwortete Amundsen. »Tut mir Leid.« Indy nickte traurig. »Es ist wundervoll hier unten«, sagte er, während er über das Geländer auf die Stadt jenseits des Meeres hinunterblickte. »Wer hätte sich das träumen lassen?« »Unser Vorstellungsvermögen ist in Wahrheit recht beschränkt und kreist stets um das, was wir bereits kennen«, erklärte Amundsen. »Sie bringen Ihren Studenten bei, dass die menschliche Zivilisation wie weit zurückreicht, fünftausend Jahre? Dass ich nicht lache. Wenigstens einhundert größere menschliche Zivilisationen sind in den vergangen zwanzigtausend Jahren entstanden und wieder untergegangen, und darin sind die Gesellschaften nichtmenschlicher Intelligenz noch gar nicht enthalten. Eines Tages wird Ihnen dies alles klar werden - aber nicht heute. Ihre Zeit hier ist so kurz bemessen, dass es Sie nur verwirren würde.« Die Mönche bedeuteten Gunnar, mit seinem gebrochenen Arm zur Wanne hinüberzukommen. Ulla beruhigte ihn auf Dänisch, woraufhin er zögernd näher trat und ihn in das Plasma tauchte. »Gibt es ein Leben nach dem Tod?«, fragte Indy. »Wie soll ich das wissen?«, meinte Amundsen. »Noch bin ich nicht gestorben. Ich weiß allerdings, was die Aesir mir erzählen dass alles im Universum miteinander verbunden ist, alles gleichzeitig geschieht, und dass das Verstreichen der Zeit eine Illusion des menschlichen Bewusstseins ist.« »Dann währt Liebe also ewig?« Indy musste an Alecia denken.
»Liebe, Freundschaft, Mitgefühl, Freude - was ist der Tod im Vergleich mit diesen Dingen?«, fragte Amundsen. »Ich bin jetzt gezwungen, jeden von Ihnen um eine Antwort zu bitten. Bleiben Sie oder gehen Sie fort?« Gunnar hob den Kopf. Er war damit beschäftigt gewesen, seinen frisch verheilten Arm zu untersuchen, erkannte aber den Tonfall der Frage. Ulla übersetzte für ihn. Er deutete mit dem Daumen nach oben. »Ich schließe mich Gunnar an«, meinte Ulla. »Es gibt dort oben noch einiges zu vollbringen.« »Dr. Jones?« »Ich gehe zurück«, antwortete Indy entschieden. »Nicholas?«, fragte Ulla. Sparks besann sich einen Augenblick. »Donnerwetter«, meinte er, »Was für eine Entscheidung. Aber ich denke, ich kann meine Mutter dort oben nicht allein lassen. Trotzdem, danke für alles - Sie waren prima.« »Das stimmt«, pflichtete Indy ihm bei. »Vor allem, weil Sie uns Ulla zurückgegeben haben.« »Sie hatte es verdient«, sagte Amundsen. »Hat man mir zumindest erzählt.« »Vielen Dank.« Ulla beugte sich vor und küsste Amundsen auf die Wange. »Sie sind mein Held, seit ich ein kleines Mädchen war. In meiner Heimatstadt sind Sie so etwas wie ein Wikingergott, und ich finde es überaus bedauerlich, dass ich den Menschen dort nicht berichten kann, dass Sie sich bester Gesundheit erfreuen.« »Ich vermisse Skandinavien«, meinte Amundsen. »Und all die unbewohnten Gegenden auf der Erdoberfläche. Ganz allmählich komme ich dahinter, dass die Welt tatsächlich grenzenlos ist, wie es in der Bibel heißt.« »Sagen Sie«, warf Indy ein. »Wissen Sie ganz genau, dass wir uns an nichts von alldem erinnern werden?« »Sie werden sich bis an jenen Punkt zurückerinnern, als Sie durch das Tor traten«, sagte Amundsen. »Aber an nichts, was sich danach zugetragen hat.«
»He, Sparks«, rief Indy. »Weißt du noch, wie ich dir für den Fall, dass wir heil aus dieser Sache herauskommen, versprochen habe, dir meinen richtigen Namen zu verraten? Nun, jetzt ist es so weit. Er lautet Henry, aber mein Dad nannte mich immer Junior.« »Dr. Jones«, erwiderte Sparks. »Sie sind ein Schuft.« »Und nun«, sagte Amundsen, »wird es Zeit, dass Sie aufbrechen. Bitte folgen Sie den Mönchen. Und leben Sie wohl.« »Auf Wiedersehen«, sagte Indy und schüttelte Amundsen die Hand. Sie folgten den Mönchen über den Balkon bis zu einem zwischen zwei hohen Säulen stehenden Altar. Das sternförmige Gebilde, auf das eine Reihe von Stufen hinaufführte, bestand aus einem durchscheinenden blauen Material. Die Strahlen des Nordlichts ergossen sich aus einem Schacht weit oberhalb von ihnen über den Altar und plätscherten wie Wasser über eine Anzahl von Marmorstufen in das vielfarbige Meer darunter. »Wirklich schade, dass wir uns an nichts von alldem erinnern werden«, meinte Sparks nachdenklich. »In unseren Träumen schon, Nicholas«, sagte Ulla. »Nur in den Träumen.« Die Mönche forderten sie mit einem Wink auf, auf den Altar hinaufzusteigen. Ulla ging als Erste. Vertrauensvoll kletterte sie hinauf und breitete die Arme aus. Ihr Haar umwehte sie, als treibe sie in einem Wasserbecken, dann fing ihr Körper an zu glitzern. Gunnar folgte als Nächster, ein wenig unschlüssig. Dann forderte Indy Sparks auf. »Bitte«, meinte Sparks. »Ich würde gern als Letzter gehen, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Aber du kommst doch nach?«, fragte Indy. »Versprochen.« Indy trat auf den Altar. Zuerst spürte er überhaupt nichts,
dann überkam ihn ein Gefühl wie in einem Traum, und schließlich stellte sich ein Gefühl des Schwebens ein. Er spürte, wie sein glitzernder Körper den Altar verließ. Er stieg auf und passierte mühelos und ohne jedes Gefühl der Angst Meile um Meile felsigen Gesteins, der wärmenden Sonne entgegen.
EPILOG
Indiana Jones wachte mit dem Rücken im Schnee liegend auf. Ein Husky stand über ihm und schleckte ihm das Gesicht. »Was zum -« Er richtete sich auf. Dann rüttelte er Gunnar und Sparks, die neben ihm schliefen. Ulla war bereits wach. Sie saß im Schnee und tätschelte lachend den Hund. Rings um sie waren keinerlei Fußstapfen zu erkennen, nicht einmal ihre eigenen. Sie befanden sich auf einem Hang, von dem aus man auf eine aus einem Dutzend Häusern bestehende Stadt mit einer glitzernd blauen Bucht dahinter blickte. Auf dem ihnen zugewandten Stadtrand gab es ein Rollfeld. Sie konnten die Pinguin in der Sonne glitzern sehen. »Wo sind wir?«, fragte Indy. »In Ny Alesund, auf der Insel Spitzbergen«, antwortete Ulla. »Der am weitesten nördlich gelegenen Stadt der Welt.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Das steht auf dem Schild oben auf dem Dach des Hangars«, sagte Ulla. Sie halfen Gunnar und Sparks auf die Beine, dann liefen alle vier den Hang hinunter, während der Hund fröhlich neben ihnen hertrabte. Die Sonne strahlte, und trotz der Kälte fühlte Indy sich unglaublich erfrischt und lebendig.
Als sie sich dem Rollfeld näherten, lief der Hund bellend voraus. Der Lärm lockte Clarence an die Tür des Hangars. Er war gerade dabei, ein Schinkensandwich zu verspeisen, und öffnete die Tür, um dem Husky einen Klaps zu versetzen und ihm einen Bissen abzugeben. Dann hob er den Kopf und sah Indy und die anderen das Rollfeld aus festgetretenem Schnee überqueren. Clarence schoss aus der Tür, sprintete über das Rollfeld wie ein Aschenbahnprofi, packte Indy und schloss ihn in beide Arme. »Junge, ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, nachdem wir gestartet waren und euch nirgends finden konnten. Dabei haben wir gesucht, das schwöre ich.« »Schon gut«, sagte Indy. »Lass mich wieder runter.« Clarence trat einen Schritt zurück und schüttelte verwundert den Kopf. »Wie seid ihr hierher gekommen?«, fragte er. Indy sah die anderen an, die seinen leeren Blick erwiderten. »Tja«, antwortete er. »Das wissen wir selber nicht so genau.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass wir es nicht wissen«, sagte Indy. »Wir können uns nicht erinnern.« »In den Klamotten seid ihr jedenfalls nicht weit gekommen«, meinte Clarence. »Jemand muss euch mitgenommen haben. Aber wenn du es mir nicht verraten willst, dafür habe ich Verständnis. Wahrscheinlich hat euch dieser große Kerl, wer immer er ist, irgendwo aufgegriffen.« »Das ist Gunnar«, stellte Indy ihn vor. »Er hat uns auf dem Eis gerettet.« »Na siehst du.« »Nein, danach ist noch eine ganze Menge mehr passiert«,
sagte Indy. »Ich erinnere mich bruchstückhaft an die letzten paar Tage, aber nicht an alles. Reingold und sein Trupp sind tot, so viel weiß ich.« »Ich kann mich auch nicht an viel erinnern«, meinte Sparks. »Was ist mit deiner Freundin an Bord des Zeppelins?«, fragte Clarence. Indy sah Clarence an und kniff die Augen halb zusammen. »Alecia ist tot«, sagte er. »Reingold hat sie erschossen.« »Das tut mir Leid.« »Mir auch«, sagte Indy. »Also, kommt schon rein und wärmt euch auf«, sagte Clarence. »Captain Blessant und Sergeant Bruce sind in der Handelsstation, aber sie werden sich freuen, euch bei ihrer Rückkehr zu sehen. Und Marcus Brody hat uns mit seiner Fragerei, was dir zugestoßen ist, beinahe in den Wahnsinn getrieben.« »Hast du den Schädel noch?« »Ja«, sagte Clarence. »Und bei dem Ding überläuft es mich eiskalt. Ich habe es schließlich in einen Pappkarton gepackt, weil der Lappen, in den du ihn gewickelt hattest, irgendwie immer herunterrutschte.« »Zeig ihn mir«, sagte Indy. Sie betraten den Hangar, und Clarence brachte ihm die Schachtel. Indy warf einen Blick hinein, um sich zu vergewissern, dass der Schädel noch dort war, nahm ihn aber nicht heraus. »Was wirst du damit machen?«, fragte Clarence. »Ihn dorthin zurückbringen, wo ich ihn gefunden habe«, erklärte Indy. »Bevor er Gelegenheit hat, einem anderen das Leben schwer zu machen.« Indy setzte die Schachtel ab. »Was werden wir Major Markham berichten?«, überlegte Indy laut. »Was soll ich Brody erzählen? Ich vermag nicht
genau zu unterscheiden, welche Teile meiner Erinnerung einem Traum entstammen und welche nicht.« »Der Edda-Schacht war kein Traum«, sagte Ulla. »Glauben Sie«, fragte Indy, »dass Sie ihn wieder finden würden?« »Nein«, antwortete Ulla. »Ich auch nicht.« »In diesem Fall«, meinte Ulla traurig, »ist er nichts weiter als eine Geschichte.« »Aber wissen Sie was«, meinte Sparks, »ich habe das Gefühl, dass wir etwas Wichtiges vollbracht haben, zürn Beispiel, indem wir dieser letzten Schlacht aus dem Weg gegangen sind, von der Ulla und Gunnar sprachen.« »Ragnarok?« Ulla lächelte. Nacheinander betrachtete sie die inzwischen vertrauten Gesichter, die sie umgaben, bis ihr Blick auf Indy zur Ruhe kam. Er spürte, wie ihre eisblauen Augen durch ihn hindurch auf etwas blickten, das jenseits lag. »Dieser Schlacht kann man nicht aus dem Weg gehen«, sagte sie. »Sie lässt sich bestenfalls hinauszögern.«
NACHWORT Die Eroberung des Erdinnern
So fantastisch uns die Hohlwelttheorien heutzutage erscheinen mögen, einst waren sie Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Diskussionen. Vielleicht haben sich deshalb so viele dieser Spekulationen als völlig falsch erwiesen, weil sich das Innere des Planeten als so unzugänglich - und was schwerer wiegt - als so unbeobachtbar herausgestellt hat. Im Gegensatz zum Nachthimmel, der mittels der exakten Bewegungen von Sternen und Planeten Hinweise über die Spanne von Zeit und Raum hinweg liefert, widersteht der Erdboden allen Versuchen, seine Geheimnisse mit Hilfe der menschlichen Sinne zu ergründen. Erst mit der Erfindung des Seismografen im Jahr 1897 und der sich daran anschließenden Erforschung von Geschwindigkeit und Ausbreitung von Erdbebenschockwellen, aufgezeichnet von einem Netz seismografischer Stationen rund um den Erdball, kamen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Erde massiv sei. Diese Unzugänglichkeit machte die Erde zu einer ebenso großen, wenn nicht gar zu einer noch größeren entdeckerischen Herausforderung als die erdnahen Bereiche des Weltalls. 1969 legten Menschen eine Viertelmillion Meilen im unwirtlichen Weltraum zurück, um auf der Oberfläche des Mondes umherzuspazieren; jetzt, mehr als drei Jahrzehnte später, sind wir, durch ein Bohrloch auf der Halbinsel Kola in Russland, noch
immer nicht tiefer als siebeneinhalb Meilen in die Erdkruste vorgedrungen. Dank intensiver theoretischer Forschungen glauben die Wissenschaftler mittlerweile eine recht gute Vorstellung von der Zusammensetzung des Erdinnern zu haben: Die Dicke der Kruste schwankt zwischen drei und zehn Kilometern, darauf folgt eine knapp dreitausend Kilometer dicke Gesteinshülle, die einen Kern aus geschmolzenem Metall umschließt, in dem der Druck 3,6 Millionen Mal höher ist als auf der Oberfläche. Das Erdinnere, dessen seit der Entstehung des Universums währender Abkühlungsprozess noch immer nicht abgeschlossen ist, gibt Wärme in Form von Konvektionsströmungen ab, die Vulkane und Erdbeben hervorrufen und die Kontinente langsam auseinander treiben lassen. Welten innerhalb der Welten Hohlwelttheorien waren stets auf merkwürdige Weise mit der Geschichte der Polarforschung verknüpft. Von der Entdeckung des antarktischen Kontinents bis hin zur Kontroverse um Admiral Byrds rätselhafte Bemerkungen im Anschluss an eine Überfliegung des Nordpols, weigern sich diese Theorien auszusterben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass beide Regionen so lange unzugänglich blieben und unsere Fantasie uns stets zu jenen Orten vorauseilt, die wir nicht erreichen können; oder es liegt an einer gewissen Abneigung, Kraft und Zauber des Glaubens zu Gunsten der für Träume oftmals so zerstörerischen Rationalität der Wissenschaft aufzugeben. Schließlich macht es mehr Spaß, von untergegangenen Welten unter unseren Füßen zu träumen als von Begriffen wie Kruste, Hülle oder Kern. Zudem die Träume weitaus länger unsere Begleiter waren.
So wie manche unserer Vorfahren in den Himmel blickten und sich Erklärungen für die Vielzahl von Lichtern ausdachten, haben andere sich Gedanken über die Erde gemacht und zu erklären versucht, was sich unter ihnen befand. Obwohl die westlichen Traditionen dafür bekannt sind, den unteren Regionen eher unangenehme Eigenschaften zuzuschreiben - die Griechen stellten sich den Hades als einen traurigen, von freudlosen Toten bevölkerten Ort vor, und die Hölle der Christen, traditionell unterirdisch angesiedelt, gilt als Ort ewigen Leidens für die Verdammten -, konnte der Boden unter den Füßen in der östlichen Vorstellung durchaus Utopia beherbergen. Unter den Buddhisten Zentralasiens zum Beispiel erzählt man sich vom alten Königreich Agartha (oder Agharta), einer Zuflucht für die Überlebenden untergegangener Kontinente. Hauptstadt dieses unterirdischen Paradieses ist Shamballa, wo ein gütiger Weltkönig mittels seines magischen Spiegels über die Geschicke der Menschheit wacht. In einem Netz labyrinthartiger, mit tibetanischen Klöstern verbundener Tunnels verkehren Mönche, die seine geheimen Botschaften in die Oberwelt tragen. 1692 erklärte der Astronom Edmond Halley (berühmt geworden durch den von ihm entdeckten Kometen) gegenüber der Royal Society of London, es gebe nicht weniger als drei innere Welten, allesamt bewohnt und der Größe nach dem Merkur, der Venus und dem Mars entsprechend. Das Nordlicht, behauptete er, sei die leuchtende Atmosphäre dieser inneren Welten, die durch die dünne Kruste über dem Nordpol nach außen dringe. Der Betreiber einer Handelsstation in St. Louis, John Cleves Symmes, erklärte im Jahr 1818, es gebe nicht nur fünf konzentrische Kugeln im Erdinnern, sondern darüber hinaus auch gewaltige Öffnungen an den Polen. In einem „Brief an die Welt“ behauptete Symmes, diese Pforten führten in ein warmes und reiches Land, und forderte einhundert Abenteurer auf, ihn auf eine Expedition von Sibirien aus nach Norden zu begleiten.
Trotz weit verbreiteten Spottes gelang es Symmes, einige Menschen zu seiner Theorie zu bekehren, darunter den Zeitungsund Magazinautor Jeremiah N. Reynolds. 1828 bewilligte der Kongress eine Polarexpedition, die nach dem Zugang zu Symmes Innenwelt suchen sollte, die Expedition stieß jedoch jahrzehntelang auf politischen Widerstand. Symmes verstarb 1829, und Reynolds, des Wartens auf die offizielle Expedition überdrüssig, schloss sich einer Robbenjagd-Expedition in die Südsee an. Bei seiner Rückkehr berichtete er vom lukrativen Walgeschäft in der Nähe der südlichen Antipoden, und dieser Hinweis auf den Handel war es schließlich, der den Kongress 1836 veranlasste, die lang ersehnte Suche zu finanzieren. Während der Wilkes-Expedition der Jahre 1838-42, so benannt nach ihrem Anführer Charles Wilkes, wurden zum ersten Mal zivile Wissenschaftler mit einer der Marine entstammenden Besatzung zu einer Mannschaft vereint. Obwohl die Expedition keine Pforte entdeckte, machte sie eine Anzahl wichtiger wissenschaftlicher Entdeckungen und vermaß ein ausreichend langes Küstenstück, um zu beweisen, dass es sich bei der Antarktis tatsächlich um den siebenten Kontinent handelte. Cyrus Read Teed, Veteran des Amerikanischen Bürgerkriegs und Kräuterdoktor, steuerte sowohl zu den Kultreligionen als auch zu den PseudoWissenschaften eine einzigartige Verschrobenheit bei, und zwar mit einem Buch, das er unter dem Pseudonym Koresh hebräisch für Cyrus -verfasste und in dem er behauptete, wir lebten auf der Innenseite einer Hohlkugel. Eine Sonne in deren Mittelpunkt unterteilte diese zu gleichen Teilen in dunkle und helle Gebiete und vermittelte die Illusion des Auf- und Untergehens. Außerhalb dieser Kugel, so Teed, herrsche nichts als gewaltige Leere. Teed, überzeugt, dass dieses vereinfachende Bild des Universums auf nicht weniger als eine religiöse Offenbarung hinauslaufe, begründete darauf eine neue Religion mit Namen
Koreshanity und ernannte sich eigenmächtig zum Erlöser. Er stiftete eine Kirche und eine Hochschule und gründete 1894 in der Nähe von Fort Meyers, Florida, eine Glaubensgemeinschaft. Als Teed im Jahr 1908 starb, harrten seine Anhänger vergeblich seiner (selbst)verkündeten Wiederauferstehung. Sein Grab wurde 1921 von einem Wirbelsturm fortgerissen, und 1960 wurde die Gemeinde zur Koreshan State Historic Site umfunktioniert. Zu den anderen Dingen, die sich begünstigend auf die Vorstellungen der Hohlwelttheoretiker auswirkten, gehörte ein felltragendes Mammut, farbiger Schnee und - wie könnte es anders sein - weitere fantastische Erzählungen. 1846 entdeckte man, eingefroren im Eis Sibiriens, ein felltragendes Mammut eine Spezies, die als ausgestorben galt. Das Tier befand sich in einem derart frühen Stadium der Verwesung, dass man aus seinem Mageninhalt auf seine letzte Mahlzeit schließen konnte. Jahrzehntelang rief diese Entdeckung Widerspruch hervor, und viele behaupteten, das Tier sei nicht etwa bereits seit Jahrtausenden tot, sondern lediglich im Erdinnern - wo es Mammuts im Überfluss gebe - verendet und auf einer Eisscholle in die Außenwelt getrieben. Einige Arktisreisende berichteten, Schnee in unterschiedlichen Schattierungen von Rot, Grün und sogar Schwarz gesehen zu haben. Theoretiker nahmen dies schnell als Beweis dafür, dass Pollen aus einer grünen Innenwelt herangeweht wurden und den Schnee rings um die Pforten färbten. Aufregender jedoch war 1908 die Veröffentlichung eines Buches von Willis George Emerson mit dem Titel The Smoking God, or, A Voyage to the Inner World. Es handelte sich um die Geschichte eines fünfundneunzigjährigen norwegischen Seemanns, Olaf Jansen, der behauptete, er sei als kleiner Junge mit seinem Vater auf der Suche nach Elfenbeinstoßzähnen in das Franz-JosephLand gesegelt - und habe sich, durch einen fürchterlichen Sturm vom Kurs abgekommen, in einer von einer dunstigen Sonne beleuchte-
ten Innenwelt wiedergefunden. Die beiden lebten über zwei Jahre bei einem Volk von Riesen, das in goldenen Städten wohnte und ein Leben wie die Götter führte. Bedauerlicherweise zerschellte ihre Schaluppe bei ihrer Rückkehr durch die Südpolaröffnung an einem Eisberg. Der Vater ertrank, und der Sohn wurde von einem des Weges kommenden Walfänger gerettet. Warum aber wartete Jansen mit seiner Geschichte bis kurz vor seinem Tod? Jansen selbst ließ dazu verlauten, man habe ihn, als er zum ersten Mal die Wunder der Innenwelt beschrieb, für achtundzwanzig Jahre in eine Irrenanstalt gesperrt. Emerson war nicht der einzige Schriftsteller, der sich von der Wunschvorstellung einer hohlen Erde inspirieren ließ. Edgar Allan Poe war so beeindruckt von Symmes Theorie -und ihrer Verfechtung durch Reynolds -, dass er eine Kurzgeschichte über ein Schiffe verschlingendes Loch am Südpol schrieb: „MS found in a Bottle“. Später, in seinem längsten fiktionalen Werk, The Narrative of Arthur Gordon Pym, wählte er einen anderen Ansatz für dasselbe Thema. Eigenartigerweise verlangte Poe auf dem Sterbebett in einem Baltimorer Krankenhaus im Delirium wiederholt nach einem gewissen Reynolds. Einige Gelehrte sind zwar der Ansicht, er habe einen Freund der Familie verlangt, andere dagegen sind überzeugt, er habe den Südseeforscher sehen wollen. Jules Verne, der prophetische französische Schriftsteller, wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Symmes und anderen Theoretikern des 19. Jahrhunderts beeinflusst, und die Folge war einer seiner populärsten Romane, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde, der 1864 erschien. Darin steigen der Erzähler und sein Onkel, ein exzentrischer Professor, in den Trichter eines Vulkans und folgen einer Spur von Hinweisen, die ihnen ihr furchtloser Vorgänger, ein Alchemist aus dem sechzehnten Jahrhundert namens Arne Saknussemm, hinterlassen hat. Unterwegs stoßen sie auf einen ausgedehnten Ozean, prähistorische Monster und die Gebeine
eines Riesenvolkes. Leider erfüllt ihr Abenteuer die Verheißung von Vernes Titel nicht: Die unerschrockenen, allerdings fiktiven Reisenden steigen weniger als einhundert Meilen in die Erde hinab. Edward Bulwer-Lytton, viktorianischer Romancier und Mitglied des Parlaments, imaginierte in dem 1873 posthum veröffentlichten The Corning Race eine unterirdische Zivilisation von Übermenschen. Lord Lytton, als dessen bekanntestes Werk der historische Roman The Last Days of Pompeii gilt, beschreibt darin unbestreitbar ein Utopia, bevölkert von einem Volk von Riesen, das gelernt hat, eine flüssige Substanz mit Namen Vril zu beherrschen, die sie zum Herrscher über alle Formen der Materie macht. Der Wahlspruch dieser Gesellschaft der Übermenschen lautet: „Kein Glück ohne Ordnung, keine Ordnung ohne Macht, keine Macht ohne Einheit“. Obwohl es sich bei dem Roman eindeutig um eine Erzählung mit mahnendem Charakter handelt - der Erzähler erkennt das wahre Wesen der Utopie und flieht, um die Welt vor ihr zu warnen -, fühlten sich einige Gruppierungen durch die darin beschriebene Vision einer fortgeschrittenen autoritären Gesellschaft ermutigt. Der Roman wurde Bestandteil des inoffiziellen Kanons okkulter Folkore um die Jahrhundertwende. 1933 legten James Hilton (und später der Regisseur Frank Capra) mit Lost Horizon eine Variation des Shamballa-Mythos vor, wo von einem Paradies ewiger Jugend und einer Zuflucht vor dem Krieg mit Namen Shangri-La, irgendwo in einem verborgenen Tal des Himalaya, die Rede ist. In den Jahren 1925 bis 1928 leitete ein russischer Künstler namens Nicholas Roerich eine Expedition, die auf der Suche nach dem wahren (und angeblich unterirdischen) Agartha Tibet durchstreifte. Zwar entdeckte Roerich keinen physischen Zugang in das verborgene Königreich, offenbar gelang es ihm aber, einen spirituellen zu finden, über den er in seinem Buch von 1930, Shamballah: In Search of the New Era
schrieb. Darüber hinaus schuf Roerich eine Reihe eindrucksvoller, von seinem tibetanischen Abenteuer inspirierte Gemälde, wurde zu einem führenden Friedensaktivisten und kehrte 1935 nach Tibet zurück, um seine Suche wieder aufzunehmen. Die Nazis und das Okkulte Im Gegensatz zur populären Kultur werden wir vermutlich niemals mit Sicherheit wissen, in welchem Ausmaß Adolf Hitler und die Nationalsozialistische Partei von den okkulten Wissenschaften beeinflusst waren. Vieles ist Auslegungssache, und was dem einen als berechtigtes Interesse an Folklore erscheint - eine heidnische Zeremonie zur Feier nordischer Vorfahren, zum Beispiel -, mag anderen als krankhaftes Interesse an Magie aufstoßen. Allerdings existierte sowohl eine Thule-Gesellschaft als auch eine Strahlende Loge des Vril, ganz so wie in Indiana Jones und das Geheimnis von Thule beschrieben. Aus der Thule-Gesellschaft ging die Deutsche Arbeiterpartei hervor, die Hitler zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei umgestaltete. Die Thule-Gruppe war nach einer legendären Insel im Nordatlantik benannt, die in der Folklore den Mittelpunkt einer an Atlantis erinnernden untergegangenen Zivilisation bildete. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Thule-Gesellschaft zu einer antikommunistischen, antisemitischen, national orientierten Forschungsgruppe. Einige ihrer Mitglieder waren zudem tief in die okkultistische Bewegung verstrickt, die sich von England kommend um die Jahrhundertwende aus der Theosophischen Gesellschaft entwickelte. Oft wird berichtet, Hitler und andere führende Persönlichkeiten der Nazis hätten sowohl Hohlwelttheorien als auch Berichte von geheimen unterirdischen Königreichen
ernst genommen. Hitler, so heißt es dort, habe auf der Suche nach dem Zugang zu Agartha Truppen in die tiefsten Minen Europas und des Himalaya entsandt und zu einem Punkt während des Zweiten Weltkrieges die Koreshianischen Theorien einer konkaven Erde von führenden deutschen Wissenschaftlern prüfen lassen. Solche Geschichten wurden zu den Apokryphen des Zweiten Weltkriegs, die nur zu gern ein populärer Autor an den nächsten weitergab. Selbst wenn sie stimmen sollten, die Schichten von Zweithandinformationen, die sie umgeben, würden jeden Versuch, sie zu erhärten, wahnsinnig erschweren. Ebenfalls ungewiss ist, ob Hitler Mitglied der Thule-Gruppe war, oder was er in Bezug auf die okkulten Wissenschaften tatsächlich glaubte - von einigen der führenden Nazis jedoch, wie zum Beispiel seinem Stellvertreter, Rudolf Hess, ist die Mitgliedschaft bezeugt. Hess war darüber hinaus ein eifriger Anhänger der Astrologie, allerdings bestand der wirkungsvollste Beitrag der Astrologie zum Zweiten Weltkrieg nicht etwa in der Vorhersage der Zukunft, sondern in der Überzeugung der Menschen, dass sie dazu fähig sei. Sowohl die Achsenmächte als auch die Alliierten benutzten fingierte Vorhersagen, um die öffentliche Meinung daheim und im Ausland zu manipulieren. Heinrich Himmler, Chef der Geheimpolizei Hitlers, versuchte die SS mit einer mystisch-heidnischen Tradition zu durchdringen, die besser dem Mittelalter als dem zwanzigsten Jahrhundert angestanden hätte. Selbst wenn Himmler keine schwarze Magie praktizierte, wie manche behaupten, so können seine Untaten kaum als weniger teuflisch angesehen werden: Als Chefvollstrecker des Systems der Konzentrationslager war er entscheidend für die Hinrichtung von elf Millionen Menschen verantwortlich. Auch sollte man nicht vergessen, dass nicht alle - nicht einmal die meisten - Deutschen während dieser Zeit Nazis waren. Die Nazis bestanden bereits seit Jahren als Minderheitenpartei, bevor sie durch eine Folge von Ereignissen
an die Macht gelangten, und selbst auf dem Gipfel ihrer Macht schafften sie es nicht, auch nur die Hälfte der Stimmen des Volkes zu gewinnen. Da es Menschen, die unter einer Diktatur leben, an verfügbaren Nachrichten und Informationen mangelt, war vielen Deutschen das wahre Ausmaß des durch vielfältige Nazimethoden hervorgerufenen menschlichen Leids überhaupt nicht bekannt. E. B. Baldwin Evelyn Briggs Baldwin wurde 1862 während des Bürgerkriegs geboren und wuchs in der Nähe von Edna im Südosten von Kansas auf. Nachdem er 1885 seinen Abschluss auf dem NorthWestern College in Naperville, Illinois, gemacht hatte, reiste er mit dem Fahrrad quer durch Europa und kehrte zwei Jahre darauf nach Kansas zurück, um dort Direktor der Oswego High School zu werden. Es widerstrebte jedoch seinem Abenteuergeist, sich lange zu binden. Einem damaligen Bericht des Oswego Independant zufolge unternahm Baldwin 1891 eine Besteigung des Pike's Peak bei Nacht - und während eines Gewitters. 1892 wurde er Beobachter für den US-Wetterdienst, und ein Jahr darauf trug ihm sein Geschick mit meteorologischen Instrumenten einen Platz in der Nord-Grönland-Expedition von Robert E. Peary ein. Nachdem ihm seitens Peary wegen seiner Ausdauer und seines Einfallsreichtums eine eindrucksvolle Bestätigung zuteil wurde, ging Baldwin dazu über, Vorlesungen über die Arktis zu halten. Sein Ziel war es, genügend Geldmittel aufzutreiben, um seine eigene Expedition zum Nordpol zusammenstellen zu können. Das arktische Fieber hatte so sehr von Baldwin Besitz ergriffen, dass er 1897 nach Spitzbergen eilte, in der Hoffnung, Salomon Andree überzeugen zu können, ihm einen Posten auf einem beabsichtigten Erkundungsflug über den Pol zu geben. Zu Baldwins Glück traf er verspätet ein, weder der Ballon noch Andree wurden
in den folgenden dreiunddreißig Jahren wiedergesehen. Man fand Andrees Leichnam sowie die seiner beiden Begleiter erst 1930. 1898 war Baldwin stellvertretender Kommandeur der WellmannExpedition, während der er Fort McKinley in Franz-Joseph-Land gründete. Auf derselben Expedition entdeckte er Graham-BellIsland. Baldwin hatte die Erfüllung seines Traums von einer eigenen Expedition zum Pol der Großzügigkeit William Zieglers zu verdanken, einem pensionierten Geschäftsmann aus Brooklyn, der mit Backpulver und Immobilien ein Vermögen gemacht hatte. 1901 verkündete Ziegler, er sei entschlossen, die amerikanische Flagge am Nordpol zu hissen. Er unterstrich seine kühne Ankündigung mit der Bereitstellung einer Viertelmillion Dollar für eine Expedition, die von Baldwin geleitet werden sollte. Berichten zufolge war die Baldwin-Ziegler-Unternehmung mit zweiundvierzig Mann, fünfzehn sibirischen Ponys sowie vierhundert Schlittenhunden eine der am großzügigsten ausgestatteten Expeditionen, die man je aufgestellt hatte. Trotz sorgfältiger Planung scheiterte sie, als ein Versorgungsschiff nicht rechtzeitig eintraf und Baldwins Vorräte zu schwinden begannen. Eine der Ballonbotschaften, die Baldwin im Juni 1902 abschickte, wurde 1949 von russischen Fischern gefunden. Dort hieß es: »Noch fünf Ponys und 150 Hunde übrig. Benötigen dringend Heu, Fisch sowie dreißig Schlitten.« Statt das Schicksal herauszufordern, kehrte Baldwin nach Norwegen zurück - und brachte bei dieser Gelegenheit die ersten in der Arktis aufgenommenen bewegten Bilder mit. Enttäuscht über das Scheitern der Expedition, so weit sie das Erreichen des Pols betraf, und über die Differenzen, die Baldwin mit dem Navigator der Expedition hatte, weigerte sich Ziegler, Baldwin ein zweites Mal Geld zur Verfügung zu stellen. Trotzdem finanzierte er 1903 eine von einem der Untergebenen Baldwins, Anthony Fiala, geleitete Expedition.
Ziegler starb 1905, bevor ihn die Kunde erreichte, dass auch Fiala gescheitert war. Baldwin setzte sowohl seine Vorlesungen als auch Bemühungen um Geldmittel fort und versuchte, wenigstens einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als er behauptete, das Nordlicht könne genutzt werden, um die Welt mit einem nie versiegenden Vorrat an elektrischer Energie zu versorgen. Doch falls er hinter das Geheimnis dieses (oder irgendeines anderen) arktischen Rätsels kam, so behielt er es für sich. Baldwin kam nie wieder zu den für eine weitere Expedition erforderlichen Geldmitteln. Seinem Ehrgeiz wurde endgültig ein Riegel vorgeschoben, als sein ehemaliger Kommandeur, Robert E. Peary, 1909 den Pol erreichte. Von da an verbannte die Geschichte den schillernden Abenteurer und Selbstanpreiser in die Vergessenheit. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Baldwin eine Reihe von Regierungsaufträgen, bis er schließlich während des New Deal seinen letzten Posten verlor. Mittellos und auf die Großzügigkeit von Freunden angewiesen, starb er im Oktober 1933 an einem Schädelbruch, nachdem ihn ein Automobil auf einer belebten Straße in Washington D.C. angefahren hatte. Baldwin hatte nie geheiratet. Seine engste überlebende Verwandte, eine Nichte mit Namen Geraldine Pinsor, starb in den achtziger Jahren in Oswegeo. Man sollte sie nicht mit der völlig fiktiven Nichte, Zoe Baldwin, verwechseln. Und im Gegensatz zur Schilderung der Geschehnisse in Indiana Jones und das Geheimnis von Thule vermutete man hinter dem Autounfall, der zum Tod des Entdeckers führte, zu keinem Zeitpunkt ein Verbrechen. Solche Freiheiten wird man hoffentlich um des Abenteuers willen verzeihen.